Eine freie Initiative von Menschen bei anthrowiki.at, anthro.world, biodyn.wiki und steiner.wiki mit online Lesekreisen, Übungsgruppen, Vorträgen ... |
GA 260a
VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS ZUR ZWEITEN AUFLAGE
#G260a-1987-SE007 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS
ZUR ZWEITEN AUFLAGE
#TX
Als sich Rudolf Steiner zu Beginn des 20. Jahrhunderts entschlossen hatte, für eine öffentliche Verbreitung übersinnlicher Erkenntnisse einzutreten, tat er dies als völlig selbständiger Geistesforscher im Strom der abendländisch-christlichen Esoterik, aber doch im Rahmen einer bereits bestehenden Organisation, der darnaligen Theosophischen Gesellschaft. Zusammen mit Marie von Sivers (später Marie Steiner) baute er aus kleinsten Anfängen heraus die mit ihm als Generalsekretär und Marie von Sivers als Sekretär begründete deutsche Sektion zu einer immer weiterreichenden mitteleuropäischen Bewegung auf.
Gegen Ende dieser ersten zehnjährigen Aufbauarbeit kam es mit Annie Besant, der damaligen Präsidentin der Theosophischen Gesellschaft, zu tiefgehenden geistigen Differenzen, die schließlich dazu führten, daß die deutsche Sektion im März 1913 offiziell aus der Theosophischen Gesellschaft ausgeschlossen wurde. Da dies zu erwarten gewesen war, wurde an Weihnachten 1912 die Anthroposophische Gesellschaft gegründet, der sich Theosophen aus aller Welt anschlossen. Rudolf Steiner wollte nunmehr keine Verwaltungsfunktion mehr ausüben, weil, wie er später rückblickend äußerte, es schwierig sei, das, was in der heutigen Zeit ein äußeres Amt verlangt, mit den okkulten Pflichten gegenüber den Offenbarungen der geistigen Welt zu vereinigen (S.354 und 370*). Die Anthroposophische Gesellschaft sollte sich daher ganz auf sich selbst gestellt verwalten und Rudolf Steiner sich aus-schließlich dem geistigen Forschen und Lehren widmen können (S.490). Er habe das in den verschiedensten in Betracht gekommenen Belangen streng durchgeführt (S.382) und sei damals nicht einmal Mitglied der Gesellschaft gewesen (S.178).
Nachdem im Herbst 1913 auf dem Dornacher Hügel bei Basel mit der Errichtung eines Zentralbaues begonnen worden war, durch den die Anthroposophie stärker als vorher ins Bewußtsein der Offentlichkeit trat, wuchs auch dementsprechend ihre Gegnerschaft. Diese wurde immer heftiger, als während und insbesondere unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, in den Jahren 1918/19 bis 1922/23, aktive Mitglieder sich mit aller Kraft dafür einsetzten, die Anthroposophie als das von ihnen als brennend notwendig erkannte Element für eine Kulturerneuerung in verschiedenen Lebenszweigen zu realisieren, was zur Bewegung für eine Dreigliederung des sozialen Organismus und daraus hervorgegangenen verschiedenen praktischen Gründungen geführt hatte (Freie Waldorfschule in Stuttgart, klinisch-therapeutische Institute in Arlesheim/Schweiz und in Stuttgart, assoziative Wirtschaftsunternehmen «Der Kommende Tag AG» in Stuttgart und «Futurum AG» in der Schweiz). Rudolf Steiner mußte damals feststellen, daß die Anthroposophische Gesellschaft der Gegnerschaft nicht in dem von ihm als notwendig erachteten Maße gewachsen war. Damals äußerte er schon manchesmal zu Marie Steiner: «Wer weiß, ob es nicht besser wäre, die [anthroposophische] Bewegung ohne Gesellschaft weiterzuführen.
- - -
* Seitenverweise ohne weitere Angaben beziehen sich auf den Band «Die Konstitution
1. und 2. Auflage.
#SE260a-008
Für alle Fehler der Gesellschaft werde ich verantwortlich gemacht, und darunter leidet die Bewegung.«1) Eine Reorganisierung der Gesellschaft erwies sich von Tag zu Tag als dringlicher.
Bei einem Aufenthalt in Stuttgart, wohin 1921 der Sitz der Anthroposophischen Gesellschaft verlegt worden war, ließ er am 10. Dezember 1922 dem Zentralvorstand seine Aufforderung übermitteln, entsprechende Vorschläge zur Konsolidierung der Gesellschaft zu machen. Drei Wochen später wurde das erste, ganz in Holz erbaute Goetheanum ein Raub der Flammen. Dieser schwere Schicksalsschlag machte die Neuordnung der Gesellschaft zum Hauptproblem des ganzen Jahres 1923. In kleineren und größeren Gesellschaftskreisen sprach Rudolf Steiner in eindringlicher Weise von der Notwendigkeit, ein erhöhtes Verantwortungs- und ein wahrhaft anthroposophisches Gemeinschaftsbewußtsein zu entwickeln.2)
#TI
Die Vorbereitung zur Neubildung der Anthroposophischen
Gesellschaft hei der Weihnachtstagung 1923/24
#TX
Der erste Schritt war die Ordnung der deutschen Gesellschaftsverhältnisse. Bei der Delegiertenversammlung Ende Februar 1923 in Stuttgart erfolgte die Auflösung des bisherigen Zentralvorstandes und die Begründung einer deutschen Landesgesellschaft («Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland«) sowie einer «Freien Anthroposophischen Gesellschaft« für die Bedürfnisse der damaligen anthroposophischen Jugend. In den darauffolgenden Monaten wurden auch in anderen Ländern autonome Landesgesellschaften begründet (siehe Register der Institutionen, S. 712ff.).
Anfang Juni 1923 riefen englische Freunde mit Rundschreiben vom 8. Juni 1923 «an die Zweige aller Länder« dazu auf, eine internationale Delegiertenversammlung einzuberufen. Daraufhin beschloß die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz an ihrer Generalversammlung am 10. Juni 1923, zu einer solchen Versammlung in Dornach (20. bis 23. Juli 1923) einzuladen. Als eine Art Vorbereitung dazu, als eine «Anregung zur Selbstbesinnung«, wie er es selbst nannte, hielt Rudolf Steiner vom 10. bis zum 17. Juni 1923 acht Vorträge über «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft« (GA 258). Hierin stellte er u. a. fest, daß die Gesellschaft in bezug auf die Bildung eines Gemeinschaftskörpers, eines Gesellschafts-Ichs, noch nicht einmal in den Anfängen stecke und aus dem äußerlich Gesellschaftsmäßigen in das wirkliche Geist-Reale hineinfinden müsse, denn eine «anthroposophische Bewegung kann nur in einer anthroposophischen Gesellschaft leben, die eine Realität ist«. Darunter wollte er vor allem verstanden wissen, daß Anthroposophie selbst «wie ein lebendiges, übersinnliches, unsichtbares Wesen« als unter den Anthroposophen wandelnd angesehen werde. In jedem Augenblicke seines Lebens sollte ein Anthroposoph
1) Marie Steiner in ihrem Vorwort zur 1. Auflage der Vorträge «Die karmischen Zusammenhänge der anthroposophischen Bewegung«, Dornach 1926, wieder abgedruckt in «Nach. richten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung» Nr.23, Weihnachten 1968.
2) Siehe «Anthroposophische-Gemeinschaftsbildung», GA 257, sowie «Rudolf Steiner und die Zivilisationsaufgaben der Anthroposophie. Ein Rückblick auf das Jahr 1923«, Dornach 1943 (Neuauflage in Vorbereitung).
#SE260a-009
fühlen, wie man mit der unsichtbaren Wesenheit der Anthroposophie verbunden und ihr verantwortlich sei (Dornach, 17. Juni 1923).
Bei der internationalen Delegiertenversammlung vom 20. bis 23. Juli wurden zwei entscheidende Beschlüsse gefaßt: der Wiederaufbau des Goetheanums (nachdem am 15. Juni die Brandversicherungssumme ausbezahlt worden war), sowie die Einberufung einer Versammlung zu Weihnachten 1923 in Dornach, um eine «Internationale Anthroposophische Gesellschaft« mit Sitz am Goetheanum zu begründen, in welcher die einzelnen autonomen Landesgesellschaften ihr Zentrum erblicken sollten. Entsprechende Statutenvorschläge und Vorschläge für den dafür zu wählenden Generalsekretär sollten bis dahin vorbereitet werden.
Letzteres wurde hinfällig, als Rudolf Steiner sich entschloß, selbst die Leitung der neu zu begründenden Gesellschaft zu übernehmen. Zu diesem Entschluß muß er sich unmittelbar vor seiner am 12./13. November 1923 angetretenen Vortragsreise nach Holland, wo am 18. November noch die letzte in Frage kommende Landesgesellschaft gegründet werden sollte, vielleicht auch erst nach seiner Ankunft, durchgerungen haben. Dies ergibt sich aus folgenden Vorgängen.
Am 9. November 1923 hatte in München Hitlers Marsch auf die Feldherrnhalle stattgefunden. Als Rudolf Steiner die Zeitungsmeldung darüber, die am Schwarzen Brett in der Schreinerei des Goetheanum angeschlagen war, zur Kenntnis nahm, zufällig zusammen mit der gerade in Dornach weilenden Berliner Mitarbeiterin Anna Samweber, äußerte er zu dieser: «Wenn diese Herren an die Regierung kommen, kann mein Fuß deutschen Boden nicht mehr betreten.« Am gleichen Tage noch bat er sie, sofort nach Berlin zurückzukehren, um seinen Auftrag, die dortigen Mietverträge zu kündigen, zu übermitteln.1) Demnach hatte er sich auf dieses Ereignis hin sofort entschlossen, seinen und Marie Steiners Berliner Wohnsitz aufzugeben und den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag von Berlin nach Dornach zu verlegen. Mit Marie Steiner muß er damals verabredet haben, daß sie von Holland aus direkt nach Berlin weiterreisen und den Umzug veranlassen solle, während er selbst nach Dornach zurückkehren werde, um die Weihnachtstagung vorzubereiten.2) Auch müssen sie - entweder noch in Dornach oder eventuell erst in Holland - über die Besetzung des künftigen Vorstandes der Gesellschaft miteinander beraten haben. Wie Marie Steiner überlieferte, wollte Rudolf Steiner, daß sie den zweiten Vorsitz übernehmen solle. Sie habe jedoch eingewendet, daß ihre gesundheitlichen Kräfte wohl nicht ausreichen würden, um zu ihrer künstlerischen Arbeit noch diese neue große Aufgabe zu übernehmen. Außerdem schiene es ihr der Außenwelt gegenüber nicht gut, wenn die neue Weltgesellschaft von einem Ehepaar repräsentiert werden würde. Letzteren Einwand habe Rudolf Steiner akzeptiert, und als sie ihm daraufhin vorschlug, an ihrer Stelle den Dichter und Redakteur der Wochenschrift «Das Goetheanum«, Albert Steffen, zu berufen, war er einverstanden unter der Voraussetzung, daß sie mit diesem gemeinsam den zweiten Vorsitz übernehme. Auch die Ärztin Dr. Ita Wegman habe sie ihm vorgeschlagen.3) Weitere jüngere, in Dornach lebende
1) Laut persönlicher Mitteilung Anna Samwebers an Hella Wiesberger.
2) Siehe Vorwort Marie Steiners in «Die Weihnachtstagung ...», GA 260.
3) Siehe «Eine Erinnerung an Marie Steiner aus dem Jahre 1947, niedergelegt durch Lidia Gentilli-Baratto», Freiburg i. Br. o.J., 2. Auflage 1966.
#SE260a-010
Persönlichkeiten sollten hinzukommen, solche, welche ihr Leben «in restloser Weise der anthroposophischen Sache gewidmet haben; äußerlich und innerlich» (Dornach,
24. Dezember 1923).1)
Die «Fragealternative«, vor der Rudolf Steiner in den letzten Wochen vor der Weihnachtstagung gestanden habe, charakterisierte er im Eröffnungsvortrag (Dornach, 24. Dezember 1923) wie folgt:
«Nun, heute stehen die Dinge so, daß in den letzten Wochen, nach schwerem innerem Überwinden, eben in mir die Erkenntnis aufgestiegen ist: Es würde mir unmöglich sein, die anthroposophische Bewegung innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft weiterzuführen, wenn diese Weihnachtstagung nicht zustimmen würde darin, daß ich nun wiederum selber in aller Form die Leitung bzw. den Vorsitz der hier in Dornach am Goetheanum zu begründenden Anthroposophischen Gesellschaft übernehme.« Schon früher hatte er sich mehrmals in diesem Sinne geäußert, zum Beispiel im November in Holland. Darüber berichtet F.W. Zeylmans van Emmichoven wie folgt: «Wie schwer diese Sorgen [um den neuen Stil der Gesellschaftsführung] auf Rudolf Steiners Seele lasteten, geht hervor aus einem Gespräch am 17. November 1923, am Vorabend der Bildung der Anthroposophischen Gesellschaft in Holland, als er seine Zweifel darüber äußerte, ob ein Weitergehen mit der Gesellschaft als solcher überhaupt noch möglich sei. Er beklagte sich darüber, daß man nirgends zu verstehen scheine, was er überhaupt wolle und daß es vielleicht nötig sein würde, mit nur ganz wenigen Menschen innerhalb eines strengen Zusammenschlusses weiter zu arbeiten. Auf die Wenigen, die bei diesem Gespräch anwesend waren, machte es einen fast unerträglich schmerzlichen Eindruck.»2) Vielleicht war es damals, daß Marie Steiner ihn bat, die Gesellschaft, die ohne ihn nicht existieren könne, doch nicht zu verlassen.3) Dies schien ihm offensichtlich nur möglich zu sein, wenn sie von ihm persönlich geleitet würde, da vor der Welt deutlich werden müsse, wie er die Anthroposophie durch die Gesellschaft vertreten haben möchte. Denn bisher, insbesondere seit 1918, sei dem, was er selbst wollte, durch die Gesellschaft fortwährend die «impulsierende Kraft« genommen worden; in Zukunft sollte nun Anthroposophie nicht mehr bloß gelehrt und als Substanz aufgenommen werden, sondern auch in allen äußeren Maßnahmen, bis in die kleinsten Einzelheiten hinein, getan werden (S.105, 383, 489).
Von Holland nach Dornach zurückgekehrt, berichtete Rudolf Steiner bei dem nächsten Mitgliedervortrag am 23. November 1923 über die holländischen Veranstaltungen und begann mit seiner Vortragsreihe «Mysteriengestaltungen« (GA 232) auf die Weihnachtstagung vorzubereiten. Doch bis zu dem Tag, an dem in der Wochenschrift «Das Goetheanum« in Nr.19 vom 16. Dezember 1923 die von der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz ergangene offizielle «Einladung zur Gründungsversammlung der Internationalen Anthroposophischen Gesellschaft,
1) Eröffnungsvortrag in »Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthro posophischen Gesellschaft 1923/24«, GA 260.
2) F. W. Zeylmans van Emmichoven «Entwickelung und Geisteskampf 1923 - 1935», aus dem Holländischen ins Deutsche übersetzt von Elisabeth Vreede, 1935, Seite 10.
3) Persönliche Mitteilung Marie Steiners an Febe Arenson-Baratto und von dieser an Hella Wiesberger weitergegeben.
#SE260a-011
Dornach Weihnachten 1923»I) erschien, war außer Marie Steiner niemandem bekannt, daß Rudolf Steiner entschlossen war, selbst die Leitung zu übernehmen, ob-wohl er mit Albert Steffen als dem Redakteur der Wochenschrift «Das Goetheanum« über die Gestaltung der Einladung und des Progr'ammes sicherlich mindestens eine Woche vorher gesprochen haben muß. Offenbar erst nachdem er wußte, daß Marie Steiner ihre Aufgabe in Berlin beendigt hatte und in der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember nach Stuttgart reisen würde, forderte er am Sonntag, den 16. Dezember 1923, Frau Dr. Wegman, Albert Steffen und Dr. Guenther Wachsmuth zu einer Besprechung auf. Albert Steffen berichtete hiervon, laut Protokoll der außerordentlichen Generalversammlung vom Dezember 1930, wie folgt:
«Im Dezember vor der Weihnachtstagung, am 16. Dezember 1923. fand eine Sitzung statt, eine Vorsitzung. Herr Dr. Steiner rief heran Frau Dr. Weg-man, Dr. Wachsmuth und mich und sprach damals so, daß ich es hörte zum erstenmal, wie er sich den Vorstand zusammengesetzt denkt, und da sagte er -das habe ich aufgeschrieben -:
1) »Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923/24«, GA 260, S. 28/29, 4. Auflage 1985.
2) Auf die Gründe, aus denen heraus Rudolf Steiner Guenther Wachsmuth in den Vorstand aufnahm, fällt ein Licht durch einen Bericht Albert Steffens an Marie Steiner in seinem Brief an sie vom 8. August 1943, in dem es heißt: «... Es war am 22. April 1923, als Herr Storrer demissionserte und ich einen Helfer im Auftrag der Delegiertenversammlung [der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz, deren Generalsekretär er war) für die Tätigkeit im Sekretariat vorzuschlagen hatte. Ich hatte diesen Vorschlag mit Herrn Dr. Steiner beraten und schlug demgemäß Herrn Dr. Wachsmuth vor. Diese Wahl wurde in dem Beisein von Herrn Dr. Steiner von allen Delegierten einstimmig angenommen. Dr. Wachsmuth erklärte, die Tätigkeit im Seliretariat zur Unterstützung von Herrn Steffen sehr gern und unentgeltlich übernehmen zu wollen.« - Dr. Wachsmuth selbst berichtete in der Generalversammlung vom Jahre 1943 (gemäß Protokoll) folgendes: »Man denkt zurück an die Zeit des Brandes, wo wir das erste Goetheanum durch Feuer verloren, an das Jahr vor der Weihnachtitagung; es werden sich noch viele erinnern, daß damals die Dinge alle noch vom Sekretariat der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz verwaltet wurden im Hause Friedwart. Aus jener Zeit entsinne ich mich auf stundenlange Sitzungen im Hause Friedwart, die damit zusammenliingen, daß die Kasse ein mächtiges Defizit hatte, ein mächtiges Loch war in der Kasse. Und so geschah es, daß Dr. Steiner zu mir sagte: Wollen Sie nicht diese Finanzverwaltung einmal übernehmen, diese Verwaltung der Schatzmeisterei? Ich tat es, ich muß gestehen, mit einer gewissen Beklemmung; aber alles, was Dr. Steiner sagte, tat man auch wiederum gern. Und als das Jahr vorbei war, hatte es sich zum erstenmal gefügt, daß kein Defizit war, sondern ein kleiner Überschuß. Und es ist mir noch in lebendiger Erinnerung, wie gütig strahlend Dr. Steiner dieses entlastende Ergebnis entgegennahm.«
3) Nach Elisabeth Vreede hatte Rudolf Steiner ihr gegenüber aber schon in einem Gespräch am 10. Dezember eine Bemerkung gemacht, «in der im Grunde genommen enthalten war, daß er erwäge, mich in den Vorstand zu nehmen». (E. Vreede, «Zur Geschichte der An-throposophischen Gesellschaft seit der Weihnachtstagung 1923«, Arlesheim 1935.)
4) Abdruck mit Genehmigung der Albert Steffen Stiftung, Dornach.
#SE260a-012
16. Dezember 1) in der Villa Hansi (Frau Dr. Wegman, Dr. Wachsmuth, ich). Dr. Steiner liest die Statuten vor und sagt dann, wie er sich den Vorstand denke. Er: Präsident. Frau Dr. Steiner und ich Vicepräsident. Frau Wegman Protokollführerin. Wachsmuth Kassier (Wachsmuth schlägt vor Schatzmeister, wozu Dr. Steiner lachend sagt: Der Name tut nichts zur Sache.) Dann Vorsteher der einzelnen Fächer. Dr. Steiner der ganzen Hochschule. Ich belles lettres. Wachsmuth Nationalökonomie. Er möchte lieber Naturwissenschaften. Aber Dr. Steiner sagt, es sei schade, daß er kein Mathematiker wäre.«
Tags darauf, am 17. Dezember 1923, reiste Rudolf Steiner nach Stuttgart, um sich dort mit Marie Steiner zu treffen und dann gemeinsam mit ihr nach Dornach zurückzukehren. In Stuttgart - es kann nur am 18. oder 19. Dezember gewesen sein -orientierte Rudolf Steiner nun im Beisein von Marie Steiner die Vorstände der beiden deutschen Gesellschaften über seine Absichten in bezug auf die neue Gesellschaftsbildung: «Da erfuhren wir, daß er vorhabe, eine neue Gesellschaft zu begründen und zwar unter seinem Vorsitz. Dazu würden eine Anzahl (uns da noch nicht genannte) Persönlichkeiten kommen, die mit ihm zusammen deren Vorstand bilden würden. Wir erfuhren ferner von der Neueröffnung einer esoterischen Schule als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft> und von einigen Grundzügen ihrer Einrichtung. Den Mitgliedern stünde es frei, seinen Vorschlag anzunehmen, aber wenn dies einmal geschehen sei, dann wären die von diesem Vorstand ausgehenden Handlungen für die Mitgliedschaft bindend.«2)
Nachdem Rudolf Steiner und Marie Steiner am 19. oder 20. Dezember nach Dornach zurückgekehrt waren, richtete Rudolf Steiner beim Abendvortrag vom 22. Dezember 1923, zwei Tage vor Beginn der Weihnachtstagung - es waren schon viele der Tagungsgäste eingetroffen - im Hinblick auf die Tagung an die Anwesenden folgende Worte:
»Es wird ja diese Delegiertenversammlung die Anthroposophische Gesellschaft zu gestalten haben, und diese Gestaltung wird jetzt schon eine solche werden mussen, meine lieben Freunde, daß nun diese Anthroposophische Gesellschaft die Bedingungen erfüllt, die eben einfach sich aus den heutigen Verhältnissen heraus ergeben. Und da muß ich sagen, es muß diese Weihnachtsversammlung so ablaufen, daß man sich von ihr versprechen kann: nun wird eine arbeitsfähige Anthroposophische Gesellschaft entstehen. Ich muß schon sagen, wenn diese Aussicht nicht vorhanden sein sollte, so würde ich doch nun einmal jene Konsequenzen ziehen müssen, von denen ich wiederholt gesprochen habe. Daher betrachte ich dasjenige, was während
1) Anmerkung zum Datum von Dr. Heinz Matile (Albert Steffen Stiftung):
1 Die Eintragung zum 16. Dezember befindet sich im Tagebuch nach rückschauenden Eintragungen zum 19./20.12., 18 ./19./12., 17./18.12., 17.12. (in dieser Reihenfolge). Die nächstfolgende datierte Eintragung (im folgenden Tagebuch) bezieht sich auf den 20./21.12. 1923. Daraus könnte sich erklären, warum Steffen an der Generalversammlung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am 27. März 1934, als er sich auf diese Tagebucheintragung bezog, den 19. Dezember 1923 als Datum der Besprechung nannte. (Vgl.Protokoll der GV im Nachrichtenblatt vom 22.4.1934, S. 63.)
2) Ernst Lehrs, «Gelebte Erwartung», Stuttgart 1979, S. 250f.
#SE260a-013
und durch diese Weihnachtsveranstaltung zu geschehen hat für die Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft, der vorangegangen ist die der Ländergesellschaf ten, als etwas außerordentlich Seriöses und etwas außerordentlich Bedeutungsvolles. So daß tatsächlich hier in Dornach wird etwas geschaffen werden müssen, was dann einfach durch seinen Bestand selber real ist. Über das Eigentliche werde ich ja zu sprechen haben bei der Eroffnungsversammlung die ja stattfindet am nachsten Montag. Aber was heute schon gesagt werden muß weil auch schon der ich moch te sagen, Urbeginn so geschehen muß, daß man sieht, es wird jetzt aus anderem Grundtone heraus gehen in der Anthroposophischen Gesellschaft die da begrundet wird -, was ich eben heute schon sagen muß, das ist das daß zunachst schon und zwar von dem morgigen Tag ab, wo ja die meisten der Freunde die mitbegrunden wollen diese Gesellschaft, da sein werden ein Probevorstand, der aber im Laufe der allernächsten Tage der definitive Vorstand werden muß,da se da sei, der als solcher wirklich arbeiten kann. Und wirklich, meine lieben Freunde, ich habe mich mit der Frage, wie nun die Gesellschaft zu gestalten ist, wahrhaftig in der letzten Zeit viel, viel beschäftigt. Ich habe ja auch manche Begründungen von Ländergesellschaften mitgemacht, mancherlei erfahren, was jetzt unter den Mitgliedern lebt und so weiter, und ich habe mich recht gründlich beschäftigt mit dem, was unmittelbar in der nächsten Zeit notwendig ist. Und da möchte ich heute zunächst eben meine Vorschläge vorbringen, präliminarisch zunächst, weil einfach die Sache schon da sein muß, bevor man beginnt.
Sehen Sie, es kann nicht anders sein, dem Ernste der Sache wird nicht Rechnung getragen, wenn die Bedingungen zum Fortbestande, das heißt eigentlich zur Neubegründung der Gesellschaft - von denen ich am Montag sprechen werde -, wenn diese Bedingungen nicht erfüllt werden. Aber um diese Bedingungen zu erfüllen, muß ich eben selber gewisse, vielleicht zunächst manchem radikal anmutende Bedingungen stellen. Es sind aber diejenigen Bedingungen, die eigentlich so sind, daß ich sage:
Ich sehe nur die Möglichkeit, weiter zu arbeiten mit der Gesellschaft auf anthroposophischem Boden, wenn diese Bedingungen erfüllt werden. Und so möchte ich denn meinerseits den Vorschlag machen - damit Sie sich mit dem Gedanken vertraut machen können -, meinerseits den Vorschlag machen zur Konstituierung des Vorstandes, der einfach dadurch, daß ich Ihnen den Vorschlag heute mache, zunächst provisorisch funktionieren wird, und ich hoffe, er wird ein definitiver Vorstand werden.
Dieser Vorstand muß so sein, daß er tatsächlich Dornach in den Miuelpunkt der Anthroposophischen Gesellschaft stellen kann. Wie gesagt, ich habe mich viel mit der Frage, wie nun die Gesellschaft zu konstituieren ist, beschäftigt, und Sie dürfen mir glauben, gründlich. Und nach dieser gründlichen Beschäftigung kann ich keinen anderen Vorschlag machen, meine lieben Freunde, als den, daß Sie zum Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, die begründet wird, und zwar zum ganz offiziellen Vorsitzenden, mich selber wählen. Ich muß also aus den Erlebnissen der letzten Jahre einfach die Konsequenz ziehen, daß ich eigentlich nur mitarbeiten kann, wenn ich selber zum wirklichen Vorsitzenden - ich will auf alles verzichten von Ehrenvorsitzendem undso weiter, darauf gehe ich nicht mehr ein, auf alle diejenigen Dinge, wo man sozusagen nur hinter den Kulissen zu stehen und brav zu sein
#SE260a-014
hat für dasjenige, was die anderen tun - ich werde also tatsächlich nur fortarbeiten können, wenn ich selber zum wirklichen Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, die hier begründet werden soll, gewählt werde. Selbstverständlich ist ja dann notwendig, daß, da ich die Arbeit selber in die Hand nehmen werde, mir dann zur Seite stehen werden diejenigen Menschen, die nun schon durch die Bedingungen in der Arbeit, die sich vorbereitet hat, die nächsten sind, die nun hier mit mir im Zentrum arbeiten können. Und so werde ich meinerseits vorschlagen - also wenn ich gewählt werde zum Vorsitzenden, sonst würde ich ja gar nicht mitmachen - zum zweiten Vorsitzenden, also Vorsitzenden-Stellvertreter, Herrn Steffen; als drittes Vorstandsmitglied Frau Dr. Steiner; als viertes Vorstandsmitglied Frau Dr. Wegman als Schriftführerin. Als fünftes Vorstandsmitglied schlage ich meinerseits vor Fräulein Dr. Vreede, als sechstes Vorstandsmitglied Herrn Dr. Guenther Wachsmuth, der dann das Amt des Sekretärs und Schatzmeisters zu versehen hätte.
Ich werde am Montag die Gründe auseinandersetzen, warum ich Vorschläge mache für den eigentlichen Zentralvorstand nur von solchen Persönlichkeiten, die unmittelbar hier in Dornach am Orte ansäßig sind. Ein Vorstand, der überall in der Welt zusammenzusuchen ist, der wird niemals ordentlich arbeiten können und kann nicht eigentlich arbeiten. Also es mussen in Dornach etablierte Menschen sein. Und diejenigen, die ich jetzt vorgeschlagen habe, wie gesagt, mich selbst, Herrn Steffen als Stellvertreter, Frau Dr. Steiner, Frau Dr. Wegman als Schriftführer, Fräulein Dr. Vreede, und Dr. Wachsmuth als Sekretär und Schatzmeister, das würde dann der Vorstand sein, der von hier aus zu arbeiten hätte.
Nun aber fasse ich ja, wie ich einigen Freunden schon neulich im Haag gezeigt habe, die Vorstandschaft so auf, daß sie tatsächlich nicht nur auf dem Papiere steht, sondern daß sie mit aller Verantwortlichkeit auf dem Vorstandsplatze steht und die Gesellschaft repräsentiert. Deshalb werde ich bitten, daß von morgen ab sich dieser provisorische Vorstand bei jeder Gelegenheit eben hier den übrigen Freunden gegenüber als Vorstand auch tatsächlich repräsentativ plaziert, so daß die Sache wirklich so ist, wie ich ja den Freunden im Haag klar gemacht habe: es kann nicht ohne eine gewisse Form in einer ordentlichen Gesellschaft, die funktionieren soll, abgehen. Form muß vom Anfange an da sein. Ich bitte also, daß das berücksichtigt wird, daß tatsächlich hier so viele als zunächst provisorische Vorstandsmitglieder sind, Stühle stehen und diese Vorstandsmitglieder mit den Gesichtern gegen die übrigen Mitglieder da sind, so daß man fortwährend vor Augen hat, daß das eben der Vorstand ist. Wenn einer da sitzt, der andere dort, so kann man sie nienials zusammenkriegen, wenn man sie braucht. Also es handelt sich darum, daß nunmehr wirklich die Dinge als Wirklichkeiten aufgenommen werden. Wie gesagt, es ist das bloß, weil ich haben wollte, daß wir von morgen ab schon einen Vorstand haben, deshalb habe ich diesen provisorischen Vorstand genannt. Die Begründungen für die Dinge, die schon in dem liegen, was ich ja damit gesagt habe, die werde ich dann am Montag bei der Eröffnungsrede ja noch bringen. Ebenso werde ich am Montag selber einen Statutenvorschlag machen - ich hoffe, die Statuten sind dann gedruckt -, der aus den jetzigen Bedingungen heraus der Konstitution der Gesellschaft zu Grunde liegen soll.
Nun, meine lieben Freunde, damit habe ich nun zunächst dasjenige gesagt, was mein Anliegen war beim Ausgangspunkte unserer Weihnachtstagung hier.«
#SE260a-015
Auch vor dem Abendvortrag am nächsten Tag, dem 23. Dezember 1923, kam er nochmals darauf zu sprechen:
«Dann habe ich noch aus der Fülle desjenigen, was morgen wird verhandelt werden müssen, nochmal mitzuteilen - was ich gestern am Schlusse mitteilte, weil ja das zusammenhängt mit dem ganzen Arrangement unserer Delegiertenversammlung, das ja schon vorbereitet werden mußte, und das auch sozusagen vor dem Beginne schon verwaltet werden muß -, ich habe noch zu erwähnen, daß ich ja in der letzten Zeit wirklich recht gründlich überlegt habe, wie nun eigentlich die Anthroposophische Gesellschaft, wenn sie ihre Aufgabe erreichen soll, in der Zukunft gestaltet werden muß.
Ich habe an einzelnen Orten immer wieder betont: die Anthroposophische Gesellschaft soll zu Weihnachten hier eine bestimmte Gestalt erlangen, die ja entstehen kann auf Grundlage desjenigen, was in den einzelnen Ländergesellschaften zustande gekommen ist. Ich habe nie gedacht, meine lieben Freunde, an eine bloß synthetische Zusammenfassung der Ländergesellschaften. Da würden wir wiederum zu einem Abstraktum kommen. Wir müssen hier, wenn es überhaupt noch zu etwas kommen soll mit dieser Anthroposophischen Gesellschaft, wir müssen hier tatsächlich eine ihre Existenzkräfte in sich selbst tragende Gesellschaft formen. Nach den verschiedenen Erfahrungen, die ich da gemacht habe, nach all dem, was ich kennengelernt habe, habe ich mich entschlossen, nun an der Formung der Gesellschaft nicht nur so mitzuarbeiten, wie das in früheren Zeiten geschehen ist, sondern tatsächlich intensiv und zentral an der Formierung dieser Gesellschaft mitzuarbeiten. Ich werde daher morgen den Freunden einen Statutenentwurf vorlegen, der aus dem engsten Kreise meiner Mitarbeiter in Dornach hier hervorgegangen ist, und ich möchte eben schon heute ankündigen, wie ich es ja gestern auch getan habe, daß ich, so schweren Herzens ich das auch tue, dennoch gegenüber dem Verlauf, den die anthroposophischen Gesellschaftsangelegenheiten genommen haben, nicht anders kann, als Ihnen eben den Vorschlag zu machen, künftig die Leitung der Gesellschaft so zu bilden, daß ich selber diese Leitung als Vorsitzender der Gesellschaft, die hier in Dornach gebildet wird, daß ich selber diese Leitung habe. Und dann wird es schon notwendig sein, daß eben gerade diejenigen Mitarbeiter mir hier im engsten Kreise zur Seite stehen, die schon bisher eigentlich in der Weise, wie ich es morgen charakterisieren werde, an der Dornacher Arbeit so teilgenommen haben, daß ich mir gerade von der Fortsetzung dieser Arbeit die richtige Entwickelung der anthroposophischen Arbeit versprechen kann.
Und so habe ich selber den Vorschlag zu machen, daß eben ich selber ausübe den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft, die hier begründet wird, daß dann Herr Steffen mir zur Seite steht als Vorsitzender-Stellvertreteri. Dann würde weiter in diesem Vorstande sein Frau Dr. Steiner, dann weiter Frau Dr. Wegman als Schriftführer. Weiter würden drinnen sein in diesem engsten Arbeitsvorstand - es soll eben ein Arbeitsvorstand sein - Fräulein Dr. Vreede und Dr. Guenther Wachsmuth. Damit würden wir den Arbeitsvorstand haben, und es würde dann morgen von mir in dem Eröffnungsvortrag zu rechtfertigen sein, warum gerade in dieser Weise von mir gedacht werden muß über die Begründung und über den Fortgang der Anthroposophischen Gesellschaft.
#SE260a-016
Es ist schon so, daß gegenwärtig die Dinge sehr, sehr ernst, bitterernst genommen werden müssen. Sonst müßte eigentlich dennoch dasjenige eintreten, wovon ich ja oftmals gesprochen habe, daß ich mich von der Anthroposophischen Gesellschaft zurückziehen müßte.«
Diese Vorschläge Rudolf Steiners wurden anderntags bei der Eröffnung der Weihnachtstagung voll akzeptiert. Damit war die wichtigste Entscheidung für die neue Anthroposophische Gesellschaft getroffen, die Rudolf Steiner nunmehr ausdrücklich als allgemeine und nicht als internationale Gesellschaft verstanden wissen wollte (siehe Eröffnungsvortrag der Weihnachtstagung Dornach, 24. Dezember 1923, in GA 260, S. 41).
#TI
Die mit dem Weihnachtstagungs-Entschluß Rudolf Steiners
verhundenen ideellen Ziele
#TX
Die wichtigsten ideellen Ziele, die durch die Neubildung der Anthroposophischen Gesellschaft verwirklicht werden sollten, damit die Anthroposophie ihre wahre Kulturaufgabe - dem durch die materielle Kultur geschaffenen Weltkörper die ihm notwendige Seele zu bilden (S.491) - erfüllen könne, charakterisierte Rudolf Steiner in seinen verschiedenen Ausführungen (in diesem Band) dahingehend:
Volle Öffentlichkeit für Gesellschaft und esoterische Schule als «Freie Hochschule für Geisteswissenschaft» unter gleichzeitiger Wahrung der für das Esoterische notwendigen Lebensbedingungen.
Volle Öffentlichkeit der Publikationen.
Mit allem Vereinsmäßigen zu brechen und alles auf das rein Menschliche zu stellen.
Ein Gemeinschaftsbewußtsein als notwendige Tragekraft für umfassende Geist-Erkenntnisse, insbesondere auf dem Gebiet von Reinkarnation und Karma, zu entwickeln.
Durch die volle Öffentlichkeit sollte die Gesellschaft zur modernsten esoterischen Gesellschaft der Welt werden und der esoterische Impuls bis in die ganze Verfassung hinein in Erscheinung treten (S.209). Darum wurde die Gesellschaft nunmehr als völlig öffentlich konstituiert, und die vordem nur für Mitglieder erhältlich gewesenen Manuskriptdrucke von Rudolf Steiners Vortragszyklen wurden freigegeben. Auch die neue esoterische Schule als »Freie Hochschule für Geisteswissenschaft» mit ihren drei Klassen und den verschiedenen wissenschaftlichen und künstlerischen Sektionen sollte in keiner Weise »den Charakter einer Geheimgesellschaft tragen», denn »Geheimgesellschaften sind heute nicht möglich, die heutige Zeit verlangt etwas anderes» (S.127). Nicht nur, daß sie als »Zentrum des Wirkens« in den Statuten der Gesellschaft (§ 5) verankert und den Mitgliedern das Recht zuerkannt wurde, sich um Aufnahme bewerben zu können, sondern Rudolf Steiner wollte auch dafür sorgen, »daß man immer wissen wird, im weitesten Umfange, was sie tut« (S. 127f.). Ein erster Schritt in diese Richtung war, daß Rudolf Steiner über den Inhalt von Vorträgen,
#SE260a-017
die er für den «allgemein anthroposophischen Teil der Freien Hochschule» innerhalb deren erster Klasse gehalten hatte, im allgemeinen Nachrichtenblatt für die Mitglieder berichtete (S. 202) und dazu bemerkte: «In diesen Andeutungen soll zunächst das esoterische Wirken der Freien Hochschule charakterisiert werden. (...) Was hier exoterisch gesagt ist, das wird in der Schule esoterisch entweickelt.» Andererseits wurde denen, die in die «Freie Hochschule für Geisteswissenschaft« eintreten wollten, dringlich ans Herz gelegt, zu bedenken, daß von ihnen verlangt werden müsse, daß sie, wo sie auch im Leben stehen, wirkliche Repräsentanten der anthroposophischen Sache sein müßten. Dies sei keine Beschränkung der Freiheit. Die Leitung der Schule müsse ebenso frei sein können, an wen sie ihre Arbeiten mitteilen will, wie diejenigen frei sein müssen, die diese Arbeiten empfangen. Der Hinweis auf die in der kurzen Zeit ihres Bestehens erfolgten neunzehn Ausschließungen sollte zeigen, wie ernst Rudolf Steiner die Forderungen dieses freien Vertragsverhältnisses genommen wissen wollte (S. 374f.).
#TI
Die Ausweirkungen von Rudolf Steiners Weihnachtstagungs-Entschluß
auf ihn persönlich
#TX
Die schweren Hindernisse, die sich Rudolf Steiners Zukunftswillen entgegenstellten, begannen noch während der Weihnachtstagung, die zwar von der gesamten Mitgliedschaft mit größter Begeisterung getragen wurde, doch zugleich, wie Marie Steiner schreibt, mit »einer unendlichen Tragik« verbunden war, denn «am letzten jener Tage, dem i. Januar 1924, erkrankte er schwer und ganz plötzlich. Es war wie ein Schwerthieb, der sein Leben traf bei jener geselligen Zusammenkunft, die verbunden war mit einer Teebewirtung und dazugehörigen Zutaten, auf dem Programm als verzeichnet.» (Vorwort zu »Die Weihnachtstagung ...», GA 260).
Diese von Marie Steiner mehrfach dokumentierte Vergiftungsattacke (S. 589) muß wohl zu dem Risiko gerechnet werden, das Rudolf Steiner mit seinem Entschluß eingegangen war, anthroposophische Bewegung und Gesellschaft miteinander zu vereinen, dadurch, daß er selbst die Leitung der neuen Gesellschaft übernommen hatte. Uberall, wo er von der Weihnachtstagung an bis zu seiner schweren Erkrankung im September 1924 Vorträge für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gehalten hat, bezeichnete er diesen Entschluß nicht nur als den «denkbar schwierigsten» (S. 382), sondern sogar als ein «Wagnis«, insbesondere auch gegenüber der geistigen Welt (S. 236). Denn er habe nicht gewußt, wie jene geistigen Mächte, die in der geistigen Welt die anthroposophische Bewegung lenken und denen es «einzig und allein obliegt, zu entscheiden darüber, in welcher Weise die anthroposophische Bewegung geführt werden soll« (S. 364), sich zu seinem Entschluß stellen würden. Es hätte durchaus sein können, daß dadurch diese geistigen Mächte ihre Hände abgezogen hätten, so daß der Fortgang der geistigen Offenbarungen in Frage gestellt gewesen wäre. Jedoch sei das Gegenteil eingetreten: die geistigen Offenbarungen, «auf die wir doch durchaus angewiesen sind, wenn es sich um Verbreitung der Anthroposophie handelt«, seien sogar noch stärker geworden. Es liege aber auch «ein Versprechen« gegenüber der geistigen Welt vor, das «in unverbrüchlicher Weise« erfüllt werde. Man werde sehen, daß «in der Zukunft die Dinge geschehen
#SE260a-018
werden, wie sie der geistigen Welt gegenüber versprochen wurden» (S. 236, 325,371, 382). Die für ihn daraus folgenden Konsequenzen hat er einmal dahingehend angedeutet, daß er dasjenige, was im Zusammenhang mit der Leitung geschieht, hinauftragen muß in die geistige Welt, «um nicht nur eine Verantwortung zu erfüllen innerhalb von irgend etwas, was hier auf dem physischen Plane ist, sondern eine Verantwortung, die durchaus hinaufgeht in die geistigen Welten». Darum sollte bedacht werden, welche Schwierigkeiten ihm erwachsen müssen, wenn er «zuweilen mitzubringen hat mit dem, was er zu verantworten hat, das, was aus den persönlichen Aspirationen der teilnehmenden Menschen kommt«, denn das bewirke die «schauderhaftesten Rückschläge» (Dornach, 3. Mai 1924, siehe Beilage S. 18). Wenige Wochen später fiel noch die Äußerung, daß «sehr starke gegnerische, dämonische Mächte gegen die anthroposophische Bewegung anstürmen», daß aber doch zu hoffen sei, daß durch die «Kräfte des Bündnisses», das durch die Weihnachtstagung mit den guten geistigen Kräften geschlossen werden durfte, diese gegnerischen Kräfte auf geistigem Gebiete, die sich, um ihre Wirkungen zu erzielen, «doch der Menschen auf Erden bedienen«, aus dem Felde geschlagen werden können (Paris, 23. Mai 1924, siehe S. 236).
Dies gehört wohl zu den Hintergründen von Marie Steiners Wort, daß Rudolf Steiner durch seinen Weihnachtstagungsentschluß das Karma der Gesellschaft auf sich genommen habe, was seinen frühen Tod bewirkte:
«Er nahm ihr Karma auf sich. Er hat keine weitere Weihnachtstagung mehr leiten können. Nach einem Jahr und drei Monaten war er von uns gegangen.
Inzwischen aber hat er uns das gegeben, was, wenn es richtig verstanden und gelebt wird, weltumwandelnd, seelenneuschaffend, geistschöpferisch wirken kann. Wenn es richtig gelebt wird, mit dem Ernst, um den er bat und mit dem reinen Herzen. Er hat von uns gehen müssen. Was aus der Gesellschaft wird, liegt in deren Gruppenseelenerkenntnis. Die Gesamtheit wird den Ausschlag geben. Eines wird sie geleistet haben, wie es auch ausgehen mag, ob aufwärts oder abwärts: sie ist die Brücke gewesen, die sich, der grünen Schlange im Märchen gleich 1), über den Abgrund geworfen hat, in dem die Menschheit zu versinken drohte; die Menschheit wird über sie hinwegschreiten können zum jenseitigen Ufer. Sie wird dort in Empfang nehmen das, was Rudolf Steiner als Vermächtnis zurückgelassen hat. Auch die Fehler der Gesellschaft werden gesühnt sein durch seinen Tod. Er durfte ihr so viel geben, weil er für sie und für die Menschheit hat sterben wollen, damit er es geben könne.«2)
#TI
Die konstitutionellen Auswirkungen von Rudolf Steiners
Weihnachtstagungs-Entschluß
#TX
Nach Abschluß der Weihnachtstagung ging Rudolf Steiner daran, die Verwaltung der Anthroposophischen Gesellschaft und der bestehenden Institutionen neu zu gestalten, immer in dem Sinne, daß er nunmehr für alles persönlich die Verantwortung tragen wolle. Eindeutig bringt er dies noch auf seinem Krankenlager in seinem Brief
1) Gemeint ist das Goethesche «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie«.
2) Marie Steiner in ihrem Vorwort zur i. Auflage der Vorträge «Die karmischen Zusammen-hänge der anthroposophischen Bewegung», Dornach 1926, wieder abgedruckt in «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung» Nr.23, Weihnachten 1968.
#SE260a-019
vom 31. Dezember 1924 an Felix Heinemann zum Ausdruck: «Das ganze Gefüge der Goetheanum-Verwaltung muß nun einmal so bleiben, wie es jetzt ist ... Insbesondere muß die finanzielle Verwaltung ganz dieselbe Gestalt behalten, das heißt, durch mich allein besorgt werden. Anders könnte ich nicht arbeiten» (S. 567). Und in seinem Vortrag am 12. April 1924 in Dornach hatte er gesagt: «Denn natürlich muß ja die Anthroposophische Gesellschaft etwas ganz anderes sein, wenn sie von mir geleitet wird oder wenn sie von jemandem anderem geleitet wird.» An allen Orten, wo er über die Bedingungen der Weihnachtstagung sprach (siehe S. 163ff.), wies er auch auf die Tatsache hin, wie nur dadurch, daß er persönlich den ersten Vorsitz übernommen hat, die spirituelle Strömung «anthroposophische Bewegung» mit der Anthroposophischen Gesellschaft verbunden ist. So sagte er zum Beispiel in England (Torquay, 12. August 1924): «Ich habe es ja oftmals, bevor diese Weihnachtstagung am Goetheanum war, betonen müssen, daß man zu unterscheiden habe zwischen der anthroposophischen Bewegung, die eine spirituelle Stiömung in ihrer Spiegelung auf Erden darlebt, und zwischen der Anthroposophischen Gesellschaft, die eben eine Gesellschaft ist, die in einer äußerlichen Weise verwaltet wurde, indem man ihre Funktionäre wählte oder auf eine andere Weise bestimmte. Seit Weihnachten muß das Gegenteil gesagt werden. Nicht mehr kann man unterscheiden die anthroposophische Bewegung von der Anthroposophischen Gesellschaft. Sie sind beide eins: Denn damit, daß ich selber Vorsitzender der Gesellschaft geworden bin, ist die anthroposophische Bewegung eins geworden mit der Anthroposophischen Gesellschaft.«
Schritt für Schritt erfolgte nun auch die Ordnung der Verwaltung des Goetheanum-Gefüges, die bei dem schon bald eingetretenen Tod Rudolf Steiners aber durchaus noch nicht abgeschlossen war. Die wesentlichste Form der bis dahin geschaffenen neuen Organisation, die nur durch seinen Tod zu einer endgültigen geworden ist, wurde von ihm bei der 3. außerordentlichen Generalversammlung des «Vereins des Goetheanum« am 29. Juni1924 festgelegt. Dieser Verein hatte zur Erfüllung seiner Aufgabe eine statuarisch festgesetzte, kleine Anzahl «ordentlicher» Mitglieder, welche allein stimmberechtigt waren. Dieser Zusammenkunft war vorausgegangen, daß im April das Bauprojekt des neuen Goetheanums von der Gemeinde Dornach angenommen und am 21. Mai von Rudolf Steiner persönlich dem Baudepartement in Solothurn eingereicht worden war. Nach seinen sich unmittelbar hieran anschließenden Aufenthalten in Paris, Koberwitz und Breslau wurde in der Wochenschrift «Das Goetheanum» und im «Nachrichtenblatt« vom 22. Juni 1924 zur 3. außerordentlichen Generalversammlung des «Vereins des Goetheanum« eingeladen. In dieser Versammlung, die am Sonntag, dem 29. Juni, stattgefunden hat, wies nun Rudolf Steiner darauf hin, daß sich aufgrund der ganzen Entwicklung die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, die noch als Verein einzutragen ist, in die folgenden vier Unterabteilungen gliedern soll:
1. Anthroposophische Gesellschaft im engeren Sinne
2. Philosophisch-Anthroposophischer Verlag
3. Verein des Goetheanum
4. Klinisch-Therapeutisches Institut.
#SE260a-020
Im Verlauf dieser Versammlung wurde durch Rudolf Steiner zunächst der Vorstand des «Vereins des Goetheanum» so umgebildet, daß er auch in ihm den ersten Vorsitz übernahm und Dr. Emil Grosheintz, der bisherige erste Vorsitzende, den zweiten Vorsitz. Gleichzeitig wurden die übrigen fünf Vorstandsmitglieder des an der Weihnachtstagung gebildeten Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft sowie die bisherigen Vorstandsmitglieder des «Vereins des Goetheanum« in diesen Vorstand aufgenommen. Die Statuten wurden abgeändert, weil nunmehr die Eintragung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft in das Handelsregister erfolgen sollte. Hierfür kamen nicht die Statuten der Weihnachtstagung in Betracht, die dann später laut Dr. Guenther Wachsmuth «auf ausdrückliche Angabe Dr. Steiners die Bezeichnung erhielten» (Nachrichtenblatt 1935, Nr.20). Ein erster Entwurf von Statuten für das Handelsregister trägt das Datum vom 3. August 1924. Er liegt in der Handschrift der Schriftführerin Dr. Ita Wegman vor mit handschriftlichen Korrekturen bzw. Ergänzungen Rudolf Steiners (S. 548f.). Laut zwei Entwürfen Rudolf Steiners vom 2. August für eine Bevollmächtigung von Dr. Ita Wegman war eine «Gründungsversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft« für diesen 3. August vorgesehen (Beilage S. 30). Wie der Rechnung von Amtsschreiber Altermatt vom 3. März 1925 (Beilage S. 31) zu entnehmen ist, hat am 3. August 1924 offensichtlich eine «Generalversammlung» stattgefunden, an der dieser als Urkundsperson und Protokollführer teilgenommen hat. Uber den Verlauf und etwaige Beschlüsse dieser Versammlung liegen jedoch keinerlei Unterlagen vor; auch das Handelsregister weist keine Eintragungen auf (Beilage S. 58 f.).
Standen die Beschlüsse vom 29. Juni 1924 noch ganz im Zeichen einer Neukonstituierung des «Vereins des Goetheanum, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach» als Unterabteilung der noch in das Handelsregister einzutragenden Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, so ging es im Statutenentwurf vom 3. August 1924 um diese selbst. Was Rudolf Steiner in seinen einführenden Worten am 29. Juni ausgeführt hatte, nämlich «daß aus dem ganzen Geist der Anthroposophischen Gesellschaft heraus, wie sie jetzt besteht, diese Anthroposophische Gesellschaft als der eigentlich eingetragene, handelsregisterlich eingetragene Verein fungiert» (S. 503), sollte nun in eine rechtlich verbindliche Form gebracht werden (S. 548 f.). In § 2 des Statutenentwurfs vom 3. August werden jene vier Unterabteilungen aufgeführt, von denen Rudolf Steiner am 29. Juni gesprochen hat. Auch die für die Unterabteilung «Verein des Goetheanum« getroffene Unterscheidung zwischen ordentlichen und außerordentlichen Mitgliedern findet Eingang in den Entwurf vom 3. August (vgl. § 4). In gleicher Weise verhält es sich hinsichtlich der Berufung der ordentlichen Mitglieder, die, so § 5, durch den Vorstand erfolgt.
Daß es am 3. August 1924 zu keinerlei Beschlußfassung und auch nicht zur beabsichtigten Eintragung in das Handelsregister gekommen war, hängt möglicherweise damit zusammen, daß sich inzwischen herausgestellt hat, daß das Vorhaben, den «Verein des Goetheanum« - der ja noch der rechtmäßige Vermögensträger war - als Unterabteilung der noch einzutragenden Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft zu führen, nicht realisierbar war, da eine Übertragung der hohen Vermögenswerte dieses Vereins auf den Verein Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft mit hohen Handänderungskosten verbunden gewesen wäre (so auch überliefert
#SE260a-021
durch den Architekten Ernst Aisenpreis). Offensichtlich ist, daß es zu einer Lösung der Probleme im Sommer und Frühherbst 1924 nicht mehr gekommen ist, da Rudoll Steiner wenige Tage später nach England reiste und nach seiner Rückkehr, Anfang September, aufgrund mehrerer zum Teil parallellaufender Fachkurse aufs höchste beansprucht war. Der Beginn seines Krankenlagers, Ende September, machte weitere Schritte zunächst unmöglich.
Wie einer Notiz Rudolf Steiners (siehe Beilage S. 43) zu entnehmen ist, hatte er zwischenzeitlich einen Brief von Amtsschreiber Altermatt erhalten, in dem dieser um ein Gespräch über die «Gründung der Anthroposophischen Gesellschaft» nachsuchte. Es müssen wohl einige Monate vergangen sein, ehe die Verhandlungen wieder aufgenommen worden waren. So berichtete Guenther Wachsmuth auf den Generalversammlungen der Jahre 1934 und 1935 über die mit der Eintragung der Statuten verbundenen Umstände (lt. Protokoll) folgendes:
«1925, als Dr. Steiner schon krank darniederlag, da mußte ich die Eintragung behördlicherseits besorgen. Innert Jahresfrist mußte die Eintragung ins Handelsregister möglichst erfolgt sein. Damals bin ich hinuntergegangen zu einem Amtsschreiber in Dornach. Es war nicht sehr leicht, mit ihm die Statuten einer Anthroposophischen Gesellschaft zu besprechen. Nicht, daß er nicht außerordentlich willig gewesen wäre, aber es war nicht sehr einfach, ihm die Gesichtspunkte klar zu machen. Aber da er nicht mehr unter den Lebenden weilt, möchte ich da nicht weiter darüber sprechen. Aber diese Statuten, wie sie dann entstanden, kamen dabei so unvollkommen und unadäquat zu den Prinzipien heraus, daß Dr. Steiner sagte: Ja, diese Statuten sind eben nicht das, was wir wollen; man wird sie eben langsam ändern müssen, und für uns sind eben die Prinzipien das Maßgebende.»
Und 1935 führte er darüber folgendes aus:
«Als die Statuten eingetragen werden sollten, war Dr. Steiner bereits krank. Er beauftragte Dr. Wachsmuth, die Verhandlungen mit dem Registerbeamten zu führen. Dr. Wachsmuth legte Änderungsvorscliläge des Registerbeamten Dr. Steiner vor. Mit einigen Punkten in der Art der Formulierung war Dr. Steiner noch nicht einverstanden. Er veranlaßte aber dennoch die Eintragung mit der Bemerkung, daß man von Zeit zu Zeit die Möglichkeit habe, änderungen vorzunehmen.« (Nachrichtenblatt 1935, Nr.20).
Am 8. Februar 1925 war es schließlich so weit, daß auf der 4. außerordentlichen .Generalversammlung des «Vereins des Goetheanum«, die ohne Rudolf Steiner stattfinden mußte, die neuen Statuten verabschiedet werden konnten. Diese spiegeln einerseits wider, was bereits am 29. Juni und im Entwurf vom 3. August 1924 Gegenstand der Verhandlungen war bzw. werden sollte. Andererseits enthalten sie grundlegende Neuerungen: So erscheint die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft in § 1 als Rechtsnachfolgerin des «Vereins des Goetheanum». Ferner wurde die im Statutenentwurf vom 3. August festgehaltene Unterscheidung in «leitende (ordentliche)» und «teilnehmende (außerordentliche)« Mitglieder abgeändert in «ordentliche» und «beitragende« Mitglieder. Während vormals die ordentlichen Mitglieder, die ja eine leitende Funktion innehatten, allein durch den Vorstand berufen wurden, kann jetzt die Mitgliedschaft auf eine schriftliche Anmeldung hin erworben werden. Auch der Gesichtspunkt, daß in den
#SE260a-022
Statuten vom 29. Juni (§ 10) nur die ordentlichen Mitglieder stimmberechtigt waren, fiel nun weg.
Mit den Beschlüssen vom 8. Februar 1925, insbesondere durch die Veränderungen gegenüber den Statuten vom 29. Juni und dem Statutenentwurf vom 3. August 1924, war eine Situation geschaffen, die tiefgreifende Veränderungen des gesamten Gesellschaftsgefüges zur Folge hatte. Mögliche, weiterreichende Konsequenzen, die aus den Vorgängen vom S. Februar abgeleitet werden können, hat Albert Steffen am 9. Fe bruar in seinem Tagebuch so festgehalten: «Am 8. Februar war die Eintragung ins Handelsregister. Jedes Mitglied hat jetzt Stimmrecht. Die Gesellschaft kann sagen: Kein Bau! Keine Klinik. Ein anderer Vorstand etc.»1)
Am 3. März 1925 erfolgte die Eintragung in das Handelsregister und am 7. und ii. März die Publikation im «Schweizerischen Handelsamtsblatt». Der im Handelsregister eingetragene Wortlaut entspricht dem der von Amtsschreiber Altermatt verfaßten «Anmeldung für das Handelsregister» (S. 564ff.). Entgegen dem Wortlaut des Protokolls der Versammlung vom 8. Februar, wo es unter § 1 der Statuten heißt: «Unter dem Namen Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft besteht als Rechtsnachfolgerin des Vereins des Goetheanums, der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach, ein Verein ...», heißt es im Handelsregister «Der Name des Vereins wird abgeändert in . ...» Mit dieser Namensänderung sollte offensichtlich das mit den hohen Handänderungskosten verbundene Problem gelöst werden.
Im «Nachrichtenblatt» vom 22. März 1925 erschien unter der Überschrift «Mitteilungen des Vorstandes» ein Bericht über die Versammlung vom 8. Februar, in dem die Mitglieder von den dort getroffenen Beschlüssen Unterrichtet wurden. Hier wird nun erstmals näher charakterisiert, wer zu den «ordentlichen« Mitgliedern zu zählen ist. Wörtlich heißt es: «Es werden in Zukunft die Mitglieder der sein: a) (dies sind alle Mitglieder der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft)» (S. 570).
Um nun auch auf der neuen Grundlage die Kontinuität in der Goetheanumbau-Verwaltung aufrechtzuerhalten, wandte sich Rudolf Steiner in einem Brief vom 19. März 1925, also wenige Tage vor seinem Tode, an sieben Schweizer Mitglieder, von denen fünf zu den bisherigen «ordentlichen» Mitgliedern des «Vereins des Goetheanum» gehörten, um sie «in die Leitung der Administration des Goetheanum-Baues», der 3. Unterabteilung, welche die Aufgaben des bisherigen «Vereins des Goetheanum» übernehmen sollte, zu berufen. Obgleich diese bereit waren, im Sinne der Intentionen Rudolf Steiners tätig zu werden, konnten sie ihr Amt nicht ausüben, da die ihnen zugedachten Aufgaben nach dem Tod Rudolf Steiners vom Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft im Zusammenhang mit einem Schatzkomitee übernommen wurden.
Die Frage, welche weiteren oder gar endgültigen Formen für die Arbeit der All-gemeinen Anthroposophischen Gesellschaft noch entwickelt worden wären, insbesondere da ja Rudolf Steiner die innere und äußere Leitung ganz auf seine Person abgestellt hatte, muß offenbleiben. Entsprechende Anweisungen für die Zeit nach seinem Tode hat er bewußt nicht gegeben (S. 694). Eine lückenlose Rekonstruktion
1) Wiedergabe mit Genehmigung der Albert Steffen Stiftung.
#SE260a-023
der Vorgänge seit der Weihnachtstagung bis zum März 1925 ist heute, obwohl seit der ersten Auflage des vorliegenden Bandes im Jahre 1966 verschiedene neue Dokumente aufgefunden wurden, noch nicht möglich. Denn es fehlen einerseits immer noch wichtige Unterlagen (zum Beispiel das Protokoll vom 3. August, der Brief von Altermatt und weitere Korrespondenzen zu den mit der handelsregisterlichen Eintragung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft verbundenen Problemen), andererseits liegen von den damals unmittelbar Beteiligten keine entsprechend aussagekräftigen Verlautbarungen, Dokumente usw. vor.
***
Die neu aufgefundenen Dokumente, von denen einige freundlicherweise vom Goetheanum zur Verfügung gestellt wurden, beziehen sich auf die Neuordnung des Verhältnisses der verschiedenen in Frage kommenden Institutionen zueinander (Anthroposophische Gesellschaft, Philosophisch-Anthroposophischer Verlag, Verein des Goetheanum, Klinisch-Therapeutisches Institut) und sind in der «Beilage» zur zweiten Auflage abgedruckt. In den Hinweisen zu dieser Beilage wird ihr inhaltlicher und zeitlicher Bezug mit den im Band wiedergegebenen Ausführungen Rudolf Steiners hergestellt. Im Band selbst ist an den jeweils in Frage kommenden Stellen auf ihre chronologische Einordnung hingewiesen.
Ergänzend zur geschichtlichen Entwicklung der Jahre 1924/25 ist noch anzufügen, daß die Immobilien des Klinisch-Therapeutischen Instituts mit Kaufvertrag vom S. September 1924, auf der Basis der Verträge vom 29. und 30. Juni 1924, durch den «Verein des Goetheanum» erworben und somit dem Verein Allgemeine .Anthroposophische Gesellschaft eingegliedert wurden (siehe Beilage S. 34ff.). 1931 wurden sie an den Klinik-Verein zurückverkauft.
Den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag übertrug Marie Steiner, als dessen Eigentümerin, nach dem Tode Rudolf Steiners durch Vertrag vom 16. Dezember 1925 auf die Allgemeine Anthioposophische Gesellschaft in der Form, daß sie sich bis zu ihrem Tode die unbeschränkte Leitung und volle Nutznießung vorbehielt und die Kaufsumme erst nach ihrem Tode fällig stellte.
Die Ordnung der nicht zum engeren Goetheanum-Gefüge gehörigen Institutionen, also der Futurum AG Dornach, der Internationalen Laboratorien AG (Weleda) Arlesheim, und der Kommende Tag AG Stuttgart, erfolgte in der Art, wie dies aus den Protokollen vom 24. und 25. März sowie vom 15. Juli 1924 mit den entsprechenden Verträgen ersichtlich ist.
Der vorliegende Band umfaßt somit alle vorliegenden schriftlichen und mündlichen Ausführungen Rudolf Steiners über die durch die Weihnachtstagung 1923/24 eingeleiteten Intentionen und Maßnahmen zur Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft. Durch die «Chronik 1924 - 1925» (S. 587 - 698) werden diese Dokumente mit dem ganzen Strom seiner übrigen immensen bis zu seinem Tod währenden anthroposophischen Tätigkeit verbunden.
Hella Wiesberger
I
Die Neugestaltung
der Anthroposophischen Gesellschaft
durch die Weihnachtstagung 1923
Zu Rudolf Steiners Sthreibt
Für die 2. Auflage von 1987 wurden die von Rudolf Steiner verfaßten Texte, die im «Nachrichtenblatt» abgedruckt und als Vorlage für den Druck in der Gesamtausgabe gedient hatten, mit den vorhandenen handschriftlichen Manuskripten verglichen (im Inhalt mit bezeichnet).
Rudolf Steiner verwendete im allgemeinen in den Titeln die Schreibweise (Allgemeine) Anthroposophische Gesellschaft, im laufenden Text (allgemeine) anthroposophische Gesellschaft.
Die Schreibweisen im «Nachrichtenblatt» folgen nicht immer der in den handschriftlichen Manuskripten verwendeten, obwohl zu erkennen ist, daß Rudolf Steiner seine Artikel vor dem Druck selbst durchgelesen und korrigiert haben muß, weil an vielen Stellen noch stilistische und sachliche Korrekturen vorgenommen wurden.
Auch die Vorstandsmitteilungen im «Nachrichtenblatt» 1924 verwendeten keine einheitliche Schreibweise:
AG 20.1. / 23.3. / 4., 25.5. / 8.6./ 17.8.
a G 3., 17., 24.2. / 9.3.
AAG 24.2.130.11.
aAG 13.1. / 24.2.
Zu bemerken ist ferner, daß die fünf von Rudolf Steiner konzipierten offiziellen Schriftstücke der Gesellschaft: i. Mitgliedskarte (Beilage S. 9), 2. Kopf für das «Nachrichtenblatt» (Beilage S. 10/11), 3. Aufnahme-Antrags-Formular (Beilage S. 12), 4. Statuten (Beilage S. 13), s. Briefkopf (Band S. 495) alle auf «Anthroposophische Gesellschaft» lauten.
Aus diesen Gründen wurde auf eine Korrektur der bestehenden Schreibweise im Band verzichtet.
Nachrichtenblatt, 13. Januar 1924 DIE BILDUNG DER ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT DURCH DIE WEIHNACHTSTAGUNG 1923
#G260a-1987-SE027 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
Nachrichtenblatt, 13. Januar 1924
DIE BILDUNG DER ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN
GESELLSCHAFT DURCH DIE WEIHNACHTSTAGUNG 1923
#TX
Der Anthroposophischen Gesellschaft eine Form zu geben, wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht, das war mit der eben beendeten Weihnachtstagung am Goetheanum beabsichtigt. Eine solche Gesellschaft kann nicht abstrakte Richtlinien oder Statuten haben. Denn ihre Grundlage ist gegeben in den Einsichten in die geistige Welt, die als Anthroposophie vorliegen. In diesen findet schon bis heute eine große Zahl von Menschen eine sie befriedigende Anregung für ihre geistigen Ideale. Und in dem Gesellschaftszusammenhange mit andern in dieser Richtung gleichgesinnten Menschen liegt, was die Seelen brauchen. Denn im gegenseitigen Geben und Nehmen auf geistigem Gebiete entwickelt sich das wahre Wesen des Menschenlebens. Deshalb ist es naturgemäß, daß Menschen, die Anthroposophie in ihren Lebens-inhalt aufnehmen wollen, sie durch eine Gesellschaft pflegen möchten.
Aber wenn auch Anthroposophie zunächst ihre Wurzeln in den sdton gewonnenen Einsichten in die geistige Welt hat, so sind das doch nur ihre Wurzeln. Ihre Zweige, ihre Blätter, Blüten und Früchte wachsen hinein in alle Felder des menschlichen Lebens und Tuns. Sie ruft mit den Gedanken, die Wesen und Gesetze des geistigen Daseins offenbaren, in die Tiefen der schaffenden Menschenseele hinein: und deren künstlerische Kräfte werden durch den Ruf hervorgelockt. Die Kunst erhält allseitige Anregungen. - Sie läßt die Wärme, die von der Auf-schau zum Geistigen ausströmt, in die Herzen fließen: und der religiöse Sinn erwacht in wahrer Hingabe an das Göttliche in der Welt. Die Religion erhält eine tiefe Verinnerlichung. - Sie öffnet ihre Quellen, und der liebegetragene Menschenwille kann aus ihnen schöpfen. Sie macht die Menschenliebe lebendig und wird damit schaffend in Impulsen des sittlichen Handelns und der echten sozialen Lebenspraxis. -Sie befruchtet den Blick in die Natur durch die treibenden Samen der Geistesschau und macht dadurch aus dem bloßen Naturwissen wahre Naturerkenntnis.
#SE260a-028
Durch all das erzeugt die Anthroposophie eine Fülle von Lebensaufgaben. In die weiteren Kreise des Menschenlebens können diese Aufgaben nur gelangen, wenn sie von der Pflege in einer Gesellschaft ihren Ausgangspunkt nehmen.
Die Leitung des Goetheanums in Dornach hat an diejenigen Persönlichkeiten, die der Meinung sind, daß die an diesem Goetheanum gepflegte Anthroposophie den charakterisierten Aufgaben zu entsprechen sucht, den Ruf gerichtet, in einer Weihnachtstagung die schon seit lange bestehenden Versuche zur Bildung von anthroposophischen Gesellschaften in einer befriedigenden Weise zum Abschluß zu bringen.
Der Ruf ist in einer gar nicht zu erwartenden Weise erhört worden. Sieben- bis achthundert Menschen erschienen zur «Grundsteinlegung» der «allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft». Was sie getan haben, soll in dieser Beilage zum «Goetheanum» nach und nach geschildert werden.
Die Eröffnung und Leitung der Versammlungen oblag mir. - Und sie wurde meinem Herzen leicht - diese Eröffnung. Neben mir saß der Schweizer Dichter Albert Steffen. Die versammelten Anthroposophen sahen mit dankerfüllter Seele zu ihm hin. Auf Schweizer Boden hatten sie sich zur Bildung der Anthroposophischen Gesellschaft versammelt. Der Schweiz verdanken sie in Albert Steffen seit langer Zeit ein führendes Mitglied, zu dem sie mit wahrer Begeisterung aufschauen. Ich hatte in ihm die Schweiz in einem ihrer edelsten Söhne vor mir; ihm und unseren schweizerischen Freunden herzlichsten Gruß zu sagen, war mein erstes Wort - und das zweite die Aufforderung an ihn, der Versammlung den Anfang zu gehen.
Es war ein tiefergreifender Anfang. Albert Steffen, der wunderbare Maler in Worten, der dichterische Bildgestalter sprach. Man hörte ihn und sah seelengewaltige Bilder wie Visionen vor sich.
Die Grundsteinlegung des Goetheanums von 1913 stand da vor dem Seelenauge. Ich kann nicht Worte finden, zu sagen, wie es mir um die Seele war, als ich diesen Vorgang, bei dem ich vor zehn Jahren wirken durfte, in dem Steffenschen Gemälde wieder vor mir sah.
Die Arbeit am Goetheanum, in der sich hunderte von hingebungsvollen Händen regten, und bei der hunderte von begeisterten Herzen
#SE260a-029
schlugen, zauberten künstlerisch vollendet geprägte Worte vor den Geist.
Und - der Brand des Goetheanums: die ganze Tragik, der Schmerz Tausender, sie erzitterten, als Albert Steffen zu uns sprach.
Und dann - im Vordergrunde eines weiteren Bildes: das Wesen der Anthroposophie selbst in der Verklärung durch die Dichterseele Albert Steffens - im Hintergrunde deren Feinde, nicht getadelt, aber mit gestaltender Kraft einfach hingestellt.
«Zehn Jahre Goetheanum»; Albert Steffens Worte darüber drangen tief - man empfand es - in die Herzen der Versammelten.
Nach diesem so würdigen Auftakt kam es mir zu, von der Form zu sprechen, die nunmehr die Anthroposophische Gesellschaft wird annehmen müssen.
Was an die Stelle eines gewöhnlichen Statuts zu treten habe, war zu sagen. Eine Beschreibung dessen, was Menschen in einem rein menschlichen Lebenszusammenhang - als Anthroposophische Gesellschaft -vollbringen möditen, solle an die Stelle eines solchen «Statuts» treten. Am Goetheanum, das seit dem Brande nur aus Holz notdürftig hergerichtete Räume hat, wird Anthroposophie gepflegt. Was die Leiter des Goetheanums unter dieser Pflege verstehen und welche Wirkung für die menschliche Zivilisation sie sich davon versprechen, solle gesagt werden. Dann, wie sie sich diese Pflege in einer Freien Hochschule für Geisteswissenschaft denken. Nicht Grundsätze, zu denen man sich bekennen solle, dürfen aufgestellt werden; sondern eine Realität in ihrer Eigenart solle geschildert werden. Dann solle gesagt werden, wer seine Mitwirkung zu dem, was am Goetheanum geschieht, geben wolle, könne Mitglied werden.
Als «Statut», das aber kein «Statut», sondern die Darstellung dessen sein soll, was sich aus einem solchen rein menschlich-lebensvollen Gesellschaftsverhältnis er geben kann, wird nur dieses vorgeschlagen:
1 . Die Anthroposophische Gesellschaft soll eine Vereinigung von Menschen sein, die das seelische Leben im einzelnen Menschen und in der menschlichen Gesellschaft auf der Grundlage einer wahren Erkenntnis der geistigen Welt pflegen wollen.
#SE260a-030
2. Den Grundstock dieser Gesellschaft bilden die in der Weihnachtszeit 1923 am Goetheanum in Dornach versammelten Persönlichkeiten, sowohl die Einzelnen wie auch die Gruppen, die sich vertreten ließen. Sie sind von der Anschauung durchdrungen, daß es gegenwärtig eine wirkliche, seit vielen Jahren erarbeitete und in wichtigen Teilen auch schon veröffentlichte Wissenschaft von der geistigen Welt schon gibt und daß der heutigen Zivilisation die Pflege einer solchen Wissenschaft fehlt. Die Anthroposophische Gesellschaft soll diese Pflege zu ihrer Aufgabe haben. Sie wird diese Aufgabe so zu lösen versuchen, daß sie die im Goetheanum zu Dornach gepflegte anthroposophische Geisteswissenschaft mit ihren Ergebnissen für die Brüderlichkeit im menschlichen Zusammenleben, für das moralische und religiöse sowie für das künstlerische und allgemein geistige Leben im Menschenwesen zum Mittelpunkte ihrer Bestrebungen macht*.
3. Die als Grundstock der Gesellschaft in Dornach versammelten Persönlichkeiten erkennen zustimmend die Anschauung der durch den bei der Gründungs-Versammlung gebildeten Vorstand vertretenen Goetheanum-Leitung in bezug auf das Folgende an: «Die im Goetheanum gepflegte Anthroposophie führt zu Ergebnissen, die jedem Menschen ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion als Anregung für das geistige Leben dienen können. Sie können zu einem wirklich auf brüderliche Liebe aufgebauten sozialen Leben führen. Ihre Aneignung als Lebensgrundlage ist nicht an einen wissenschaftlichen Bildungsgrad gebunden, sondern nur an das unbefangene Menschenwesen. Ihre Forschung und die sachgemäße Beurteilung ihrer Forschungsergebnisse unterliegt aber der geisteswissenschaftlichen Schulung, die stufenweise zu erlangen ist. Diese Ergebnisse sind auf ihre Art so exakt wie die Ergebnisse der wahren Naturwissenschaft. Wenn sie in derselben Art wie diese zur allgemeinen Anerkennung gelangen, werden sie auf allen Lebensgebieten einen gleichen Fortschritt wie diese bringen, nicht nur auf geistigem, sondern auch auf praktischem Gebiete.»
- - -
* Die Anthroposophische Gesellschaft knüpft an die im Jahre 1912 gegründete Anthroposophische Gesellschaft an, möchte aber für die damals festgestellten Ziele einen selbständigen, dem wahren Geiste der Gegenwart entsprechenden Ausgangspunkt schaffen.
#SE260a-031
4. Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend.
5. Die Anthroposophische Gesellschaft sieht ein Zentrum ihres Wirkens in der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach. Diese wird in drei Klassen bestehen. In dieselbe werden auf ihre Bewerbung hin aufgenommen die Mitglieder der Gesellschaft, nachdem sie eine durch die Leitung des Goetheanums zu bestimmende Zeit die Mitgliedschaft innehatten. Sie gelangen dadurch in die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Die Aufnahme in die zweite, beziehungsweise in die dritte Klasse erfolgt, wenn die um dieselbe Ansuchenden von der Leitung des Goetheanums als geeignet befunden werden.
6. Jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft hat das Recht, an allen von ihr veranstalteten Vorträgen, sonstigen Darbietungen und Versammlungen unter den von dem Vorstande bekanntzugebenden Bedingungen teilzunehmen.
7. Die Einrichtung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft obliegt zunächst Rudolf Steiner, der seine Mitarbeiter und seinen eventuellen Nachfolger zu ernennen hat.
8. Alle Publikationen der Gesellschaft werden öffentlich in der Art wie diejenigen anderer öffentlicher Gesellschaften sein*. Von dieser Öffentlichkeit werden auch die Publikationen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft keine Ausnahme machen; doch nimmt die Leitung der Schule für sich in Anspruch, daß sie von vorneherein jedem Urteile über diese Schriften die Berechtigung bestreitet, das nicht auf
- - -
* Öffentlich sind auch die Bedingungen, unter denen man zur Schulung kommt, geschildert worden und werden auch weiter veröffentlicht werden.
#SE260a-032
die Schulung gestützt ist, aus der sie hervorgegangen sind. Sie wird in diesem Sinne keinem Urteil Berechtigung zuerkennen, das nicht auf entsprechende Vorstudien gestutzt ist, wie das ja auch sonst in der anerkannten wissenschaftlichen Welt üblich ist. Deshalb werden die Schriften der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft den folgenden Vermerk tragen: «Als Manuskript für die Angehörigen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, Goetheanum Klasse ... gedruckt. Es wird niemand für diese Schriften ein kompetentes Urteil zugestanden, der nicht die von dieser Schule geltend gemachte Vor-Erkenntnis durch sie oder auf eine von ihr selbst als gleichbedeutend erkannte Weise erworben hat. Andere Beurteilungen werden insofern abgelehnt, als die Verfasser der entsprechenden Schriften sich in keine Diskussion über dieselben einlassen.»
9. Das Ziel der Anthroposophischen Gesellschaft wird die Förderung der Forschung auf geistigem Gebiete, das der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft diese Forschung selbst sein. Eine Dogmatik auf irgendeinem Gebiete soll von der Anthroposophischen Gesellschaft ausgeschlossen sein.
10. Die Anthroposophische Gesellschaft hält jedes Jahr im Goetheanum eine ordentliche Jahresversammlung ab, in der von dem Vorstande ein vollständiger Rechenschaftsbericht gegeben wird. Die Tagesordnung zu dieser Versammlung wird mit der Einladung an alle Mitglieder sechs Wochen vor der Tagung von dem Vorstande bekanntgegeben. Außerordentliche Versammlungen kann der Vorstand berufen und für sie die Tagesordnung festsetzen. Er soll drei Wochen vorher die Einladungen an die Mitglieder versenden. Anträge von einzelnen Mitgliedern oder Gruppen von solchen sind eine Woche vor der Tagung einzusenden.
11. Die Mitglieder können sich auf jedem örtlichen oder sachlichen Felde zu kleineren oder größeren Gruppen zusammenschließen. Die Anthroposophische Gesellschaft hat ihren Sitz am Goetheanum Der Vorstand hat von da aus das an die Mitglieder oder Mitgliedergruppen zu bringen, was er als die Aufgabe der Gesellschaft ansieht. Er tritt in
#SE260a-033
Verkehr mit den Funktionären, die von den einzelnen Gruppen gewählt oder ernannt werden. Die einzelnen Gruppen besorgen die Aufnahme der Mitglieder; doch sollen die Aufnahmebestätigungen dem Vorstand in Dornach vorgelegt und von diesem im Vertrauen zu den Gruppenfunktionären unterzeichnet werden. Im allgemeinen soll sich jedes Mitglied einer Gruppe anschließen; nur wem es ganz unmöglich ist, die Aufnahme bei einer Gruppe zu finden, sollte sich in Dornach selbst als Mitglied aufnehmen lassen.
12. Der Mitgliedsbeitrag wird durch die einzelnen Gruppen bestimmt; doch hat jede Gruppe für jedes ihrer Mitglieder i 5 Franken an die zentrale Leitung am Goetheanum zu entrichten.
13. Jede Arbeitsgruppe bildet ihre eigenen Statuten; nur sollen diese den Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft nicht widersprechen.
14. Gesellschaftsorgan ist die Wochenschrift «Goetheanum», die zu diesem Ziele mit einer Beilage versehen wird, die die offiziellen Mitteilungen der Gesellschaft enthalten soll. Diese vergrößerte Ausgabe des «Goetheanum» wird nur an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft abgegeben*
Im engsten Zusammenhang mit der Eröffnungsversammlung vom Vormittag des 25.. Dezember stand die Festlichkeit am Morgen des 25.., die den Namen trug: «Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.»
Es konnte sich dabei nur um eine ideell-geistige Grundsteinlegung handeln. Der Boden, in den der «Grundstein» gelegt wurde, konnten nur die Herzen und Seelen der in der Gesellschaft vereinigten Persönlichkeiten sein, und der Grundstein selbst muß die aus der anthroposophischen Lebensgestaltung quellende Gesinnung sein. Diese Gesinnung bildet in der Art, wie sie von den Zeichen der gegenwärtigen Zeit gefordert wird, der Wille, durch menschliche Seelenvertiefung den Weg
- - -
* Der Einzelbezug der Mitteilungen ist den Mitgliedern möglich. Die Bedingungen dafür finden sich am Kopfe dieser ersten Nummer. Alles, was sich auf die Aus-führung der Statuten im einzelnen bezieht, wird in einer besonderen «Geschäfts-Ordnung» gegeben werden. Diese wird in einer der nächsten Nummern der Mittei-lungen enthalten sein.
#SE260a-034
zum Anschauen des Geistes und zum Lehen aus dem Geiste zu finden. Ich möchte zunächst hieher setzen, womit ich in Spruchform den «Grundstein» zu gestalten versuchte und die weitere Schilderung der Eröffnungsversammlung in der nächsten Nummer dieses Mitteilungs-blattes geben.
Menschenseele!
Du lebest in den Gliedern,
Die dich durch die Raumeswelt
In das Geistesmeereswesen tragen:
Übe Geist-Erinnern
In Seelentiefen,
Wo in waltendem
Weltenschöpfer-Sein
Das eigne Ich
Im Gottes-Ich
Erweset;
Und du wirst wahrhaft leben
Im Menschen-Welten-Wesen.
Denn es waltet der Vater-Geist der Höhen
In den Weltentiefen Sein-erzeugend:
Ihr Kräfte-Geister
Lasset aus den Höhen erklingen,
Was in den Tiefen das Echo findet;
Dieses spricht:
Aus dem Göttlichen weset die Menschheit.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
Menschenseele!
Du lebest in dem Herzens-Lungen-Schlage,
Der dich durch den Zeitenrhythmus
In's eigne Seelenwesensfühlen leitet:
Übe Geist-Besinnen
Im Seelengleichgewichte,
#SE260a-035
Wo die wogenden
Welten-Werde-Taten
Das eigne Ich
Dem Welten-Ich
Vereinen;
Und du wirst wahrhaft fühlen
Im Menschen-Seelen-Wirken.
Denn es waltet der Christus-Wille im Umkreis
In den Weltenrhythmen Seelen-begnadend;
Ihr Lichtes-Geister
Lasset vom Osten befeuern,
Was durch den Westen sich formet;
Dieses spricht:
In dem Christus wird Leben der Tod.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
Menschenseele!
Du lehest im ruhenden Haupte,
Das dir aus Ewigkeitsgründen
Die Weltgedanken erschließet:
Übe Geist-Erschauen
In Gedanken-Ruhe,
Wo die ew'gen Götterziele
Welten-Wesens-Licht
Dem eignen Ich
Zu freiem Wollen
Schenken;
Und du wirst wahrhaft denken
In Menschen-Geistes-Gründen.
Denn es walten des Geistes-Weltgedanken
Im Weltenwesen Licht-erflehend:
Ihr Seelen-Geister
Lasset aus den Tiefen erbitten,
#SE260a-036
Was in den Höhen erhöret wird:
Dieses spricht:
In des Geistes Weitgedanken erwachet die Seele.
Das hören die Geister in Ost, West, Nord, Süd:
Menschen mögen es hören.
In der Zeiten Wende
Trat das Welten-Geistes-Licht
In den irdischen Wesensstrom;
Nacht-Dunkel
Hatte ausgewaltet;
Taghelles Licht
Erstrahlte in Menschenseelen;
Licht,
Das erwärmet
Die armen Hirtenherzen;
Licht,
Das erleuchtet
Die weisen Königshäupter.
Göttliches Licht,
Christus-Sonne
Erwärme
Unsere Herzen;
Erleuchte
Unsere Häupter;
Daß gut werde,
Was wir
Aus Herzen gründen,
Was wir
Aus Häuptern führen
Wollen.
#SE260a-037
#TI
DER VORSTAND DER
ALLGEMEINEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
#TX
Der Vorstand wurde auf der Weihnachtstagung aus Persönlichkeiten gebildet, die durch die Art ihres Verbundenseins mit dem anthroposophischen Leben in der Lage sein werden, von dem Goetheanum aus mit Initiative dasjenige zu tun, was in der Richtung des auf diesen Spalten Ausgesprochenen liegt. Es müssen dies Persönlichkeiten sein, die am Goetheanum selbst ihre Tätigkeit haben. Über die Art, wie >sie sich zu den andern Funktionären der Gesellschaft stellen, soll in der nächsten Nummer dieser Mitteilungen gesprochen werden. Vorläufig sollen hier nur ihre Namen genannt werden: 1. Vorsitzender: Dr. Rudolf Steiner. 2. Vorsitzender: Albert Steffen. Schriftführer: Frau Dr. Ita Wegman. Beisitzer: Frau Marie Steiner, Fräulein Lili [Elisabeth] Vreede. Sekretär und Schatzmeister: Dr. Guenther Wachsmuth. Dieser Vorstand wird in Paragraph 15 des «Statuts» als Gründungsvorstand genannt.
Im Inhalt des nächsten Mitteilungsblattes wird vorkommen:
I . Aufruf an die Mitglieder durch Rudolf Steiner
2. Fortsetzung der Mitteilungen über die Weihnachtstagung
3. Konstitution der Gesellschaft
4. Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.
Es wird wünschenswert sein, dieses Mitteilungsblatt für Mitglieder der einzelnen Länder in Übersetzung erscheinen zu lassen. Wir bitten die verehrten Generalsekretäre oder Vorstände der einzelnen Gesellschaften und Gruppen, uns über diese Übersetzungen Vorschläge zu machen.
#SE260a-038
Nachrichtenblatt, 20. Januar 1924
#TI
An die Mitglieder!
I.
#TX
Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft kann ihren Inhalt nicht allein in dem haben, was die während ihrer Dauer am Goetheanum versammelten Mitglieder erlebt haben. Nur wenn man überall, wo man Anthroposophie liebt, in der Zukunft empfinden wird: es ist durch die Ausführung dessen, was durch >diese Tagung angeregt worden ist, neues anthroposophisches Leben gekommen, wird dieser Inhalt wirklich da sein. Wenn dies nicht sein würde, hätte diese Tagung ihre Aufgabe nicht erfüllt. So sprachen wohl auch die Gefühle derjenigen, die Teilnehmer waren.
Mehr als zwei Jahrzehnte ist das anthroposophische Leben gepflegt worden. Diejenigen Persönlichkeiten, die sich in den bisher bestehenden Formen zu diesem Leben zusammengeschlossen haben, werden, wenn sie ihre Erfahrungen sprechen lassen, verstehen, warum vom Goetheanum aus versucht worden ist, einen neuen Impuls zu geben.
Aus kleinen Anfängen ist das anthroposophische Streben heraus gewachsen. Wenige Menschen haben sich innerhalb des Rahmens der Theosophischen Gesellschaft zur Teilnahme an >dem zusammengefunden, was in der besonderen Gestalt der Anthroposophie vor sie hintrat. Kennen lernen wollten sie zunächst diese Anthroposophie und für das Leben fruchtbar sein lassen. In kleinen Kreisen und in kleinen öffentlichen Veranstaltungen wurde über die geistige Welt, über das Wesen des Menschen und über die Art, wie man zur Erkenntnis von beiden kommt, gesprochen. Kaum kümmerte sich jemand, der nicht an den Veranstaltungen teilgenommen hat, um das, was da vorgebracht wurde. Und von denjenigen, die teilnahmen, fanden viele, was ihre Seelen aus tiefster Sehnsucht suchten. Dann wurden sie entweder treue, stille Anteilnehmer oder mehr oder weniger enthusiastische Mitarbeiter. Andere fanden es nicht und blieben, als sie dies bemerkten, weg. Alles ging in Ruhe und ohne Störung von außen vor sich.
Viele Jahre hindurch ist es so gewesen. Es wurden die grundlegenden
#SE260a-039
Geistes- und Seelen-Einsichten gepflegt. Man konnte in dieser Pflege sehr weit gehen. Für Persönlichkeiten, die längere Zeit mit der Anthro-posophie sich beschäftigt hatten, konnte eine Gelegenheit geschaffen werden, durch die sie von den grundlegenden zu den höheren Wahrheiten aufsteigen konnten. Dadurch wurde als Anthroposophie etwas begründet, das nicht nur ein geisteswissenschaftliches Erkenntnissystem, sondern etwas Lebendiges in den Herzen vieler Menschen war.
Doch Anthroposophie geht bis an die Wurzel des Menschendaseins. Und sie findet sich in dieser Wurzel zusammen mit allem, was im Erleben und Schaffen der Menschen erwächst. Deshalb war es naturgemäß, daß sie ihre Betätigung nach und nach über die mannigfaltigsten Gebiete des Erlebens und Schaffens ausdehnte.
Ein Anfang wurde mit dem Künstlerischen gemacht. In Mysterienaufführungen wurde künstlerisch gestaltet, was die geistgemäße Anschauung von Welt und Menschen offenbarte. Zahlreichen Mitgliedern war es befriedigend, im künstlerischen Bilde wieder zu empfangen, was sie vorher ohne äußeres Bild, nur im Gemüte, aufgenommen hatten.
Auch dies konnte geschehen, ohne daß sich andere Menschen als die unmittelbar Beteiligten viel darum kümmerten.
Da wurde von enthusiastischen und opferwilligen Anteilnehmern an der Anthroposophie der Plan gefaßt, dieser eine >eigene Heimstätte zu schaffen. 1913 konnte der Grundstein zu dieser, die später Goetheanum genannt wurde, gelegt werden. In den darauffolgenden Jahren wurde sie gebaut.
Ein anderes kam hinzu. In der Anthroposophischen Gesellschaft hatten sich allmählich Persönlichkeiten eingefunden, deren Lebensaufgabe die Pflege des einen oder des andern wissenschaftlichen Gebietes war. Gewiß, der ursprüngliche Beweggrund ihres Anschlusses an die Gesellschaft war auch für diese Persönlichkeiten das allgemeine menschliche Seelen- und Herzensbedürfnis. Sie wollten in ihrer Seele die Wege finden, die diese an das Licht des Geistes heranführen. -Aber ihr wissenschaftlicher Entwickelungsgang hatte sie auch dazu geführt, einzusehen, daß die herrschenden Anschauungen überall, wo entscheidende Erkenntnisse zu einem brennenden Bedürfnis des Menschen werden, versagen, weil sie an tote Punkte kommen. Sie mußten
#SE260a-040
erfahren, daß man die Wissenschaften überall da fortsetzen könne, wo sie nach den bisherigen Methoden in das Nichtige auslaufen, wenn man sie durch Anthroposophie befruchtet. - Und so entstand anthroposophische Arbeit auf den mannigfaltigsten wissenschaftlichen Gebieten.
Durch das Goetheanum und durch die wissenschaftliche Arbeit war die Anthroposophische Gesellschaft so vor die Welt hingestellt, daß deren vorherige ruhige und störungsfreie Entwickelung aufhörte. Man wurde auf Anthroposophie aufmerksam. Man fing außerhalb ihrer eigenen Kreise an, zu fragen, was an ihr richtig und heilsam ist. Es konnte nicht ausbleiben, daß sich Menschen fanden, welche mit ihrem Urteile an anderem hingen, als was Anthroposophie zeigte, oder die ihr Leben mit etwas verbunden hatten, das im Lichte der Anthroposophie nicht so erschien, wie sie es haben wollten. Diese fingen nun an, Anthroposophie von ihren Gesichtspunkten und Lebensinhalten aus zu beurteilen.
Was nun daraus in ganz kurzer Zeit entstand, darauf war die Anthroposophische Gesellschaft nicht vorbereitet. In ihr ist ruhig gearbeitet worden. Und in der ruhigen Arbeit fanden weitaus die meisten der Mitglieder ihre volle Befriedigung. Es war alles, was sie glaubten leisten zu sollen, neben den Aufgaben, die ihnen ihr Platz im äußeren Leben zugewiesen hatte.
Und wer könnte diesen Mitgliedern auch nur im geringsten unrecht geben, wenn sie in dieser Art denken? Menschen, die unbefriedigt sich von anderem abwenden und zur Anthroposophie kommen, wollen naturgemäß in ihr das Positive der Geist-Erkenntnis und des geistigen Lebens finden. Sie fühlen sich in ihrem Suchen gestört, wenn sie von allen Seiten von Kämpfen gegen die Anthroposophie berührt werden.
Es ist schon so, daß die ernste Frage für die Anthroposophische Gesellschaft entstanden ist: wie ist in der Art, die für wahre Pflege des Geisteslebens notwendig ist, diese Pflege weiterzuführen, trotzdem die Zeit vorüber ist, in der sich um Anthroposophie niemand außer den Anteilnehmenden kümmerte? Vor der Leitung des Goetheanums gestaltete sich eine der Fragen, die für sie in Betracht kommen, so: Ist vielleicht nötig, sich zu gestehen, daß von der Anthroposophischen
#SE260a-041
Gesellschaft noch mehr Anthroposophie erarbeitet werde, als bisher geschehen ist? Und wie kann dies geschehen?
Von diesen Fragen ausgehend, möchte ich in der folgenden Nummer dieses Nachrichtenblattes meine «Ansprache an die Mitglieder» fortsetzen.
#TI
Nachrichtenblatt, 27. Januar 1924
An die Mitglieder!
II.
DAS RECHTE VERHÄLTNIS DER GESELLSCHAFT
ZUR ANTHROPOSOPHIE
#TX
Für Menschen soll Anthroposophie da sein, die in ihrer Seele die Wege zum geistigen Erleben suchen. Und wenn die Anthroposophische Gesellschaft ihre Aufgabe erfüllen will, dann muß sie den suchenden Seelen dienen können. Sie muß als Gesellschaft selbst das rechte Verhältnis zur Anthroposophie finden.
Anthroposophie kann nur als etwas Lebendiges gedeihen. Denn der Grundzug ihres Wesens ist Leben. Sie ist aus dem Geiste fließendes Leben. Deshalb will sie von der lebendigen Seele, von dem warmen Herzen gepflegt sein.
Die Urform, in der sie unter Menschen auftreten kann, ist die Idee; und das erste Tor, an das sie sich bei Menschen wendet, ist die Einsicht. Wäre das nicht so, sie hätte keinen Inhalt. Sie wäre bloße Gefühls-schwärmerei. Aber der wahre Geist schwärmt nicht; er spricht eine deutliche, inhaltvolle Sprache.
Aber diese Sprache ist eine solche, die nicht allein den Verstand, sondern den ganzen Menschen ergreift. Wer nur mit dem Verstande Anthroposophie aufnimmt, der tötet sie in seinem Aufnehmen. Er findet dann vielleicht, daß sie «kalte Wissenschaft» sei. Aber er bemerkt nicht, daß sie erst durch den Empfang, den er ihr in seiner >Seele bereitet hat, ihr warmes Leben verloren hat.
#SE260a-042
Anthroposophie muß sich, wenn sie in unserer Gegenwart ein Dasein haben will, der Mittel der gegenwärtigen Zivilisation bedienen. Sie muß in Büchern und im Vortrage ihren Weg zu den Menschen finden. Allein sie ist, ihrem Wesen nach, keine Sache für Bibliotheken. Sie muß jedesmal neu erstehen, wenn das Menschenherz sich an das Buch wendet, um von ihr zu erfahren. Das wird nur sein können, wenn das Buch so geschrieben ist, daß der Mensch beim Schreiben in die Herzen der Mitmenschen geschaut hat, um wissen zu können, was er ihnen zu sagen hat. Das wipd aber auch nur sein können, wenn der Mensch beim Schreiben von dem Leben des Geistes berührt ist, und wenn er dadurch in die Lage kommt, dem toten Schreibworte anzuvertrauen, was die nach dem Geistigen suchende Seele des Lesers als ein Wiedererstehen des Geistes aus dem Worte empfinden kann. Nur Bücher, die im lesen-den Menschen lebendig werden können, sind anthroposophische Bücher.
Noch weniger als das tote Buch selbst verträgt die Anthroposophie das in der Menschenrede zum Scheinleben gewordene Buch. Unsere Gegenwartszivilisation ist in vielen Gebieten so, daß Lesen eines Buches oder Aufsatzes und Anhören eines Menschen als etwas Gleichartiges erscheinen. Man lernt, indem man einem Menschen zuhört, nicht den Menschen kennen, sondern das, was er gedacht hat und was ebensogut geschrieben sein kann.
Anthroposophie verträgt nicht, daß sie restlos von dieser Art auf-gesogen werde. Wer Anthroposophie von einem Menschen hört, der I will den Menschen in all seinem ursprünglichen Wesen vor s>ich haben, nicht einen gesprochenen Aufsatz.
Deshalb kann Anthroposophie, wenn sie auch als Literatur notwendig leben muß, jedesmal wie neu geboren werden, wenn sie in einer Gruppe von Menschen im Worte den Weg zu den Seelen sucht. Aber sie wird da nur neu geboren werden, wenn der Mensch zum Menschen spricht, nicht der aufgenommene Gedanke.
Anthroposophie kann deshalb ihre Wege auch nicht durch ein gewöhnliches Agitieren finden, wenn dieses auch mit gutem Willen getrieben wird. Agitation tötet die wahre Anthroposophie. Diese muß auftreten, weil sie vom Geiste zu ihrem Auftreten geführt wird. Sie muß ihr Leben erweisen, weil alles Leben nur im Dasein sich offenbaren
#SE260a-043
kann. Aber sie darf mit ihrem Dasein niemanden bedrängen. Sie muß warten, ob jemand kommt, der sie aufnehmen will. Einen Zwang auch nur durch Überredung gegenüber den Menschen darf sie nicht kennen.
Solche Gesinnung, das möchte ich als etwas, das aus der Weihnachts-tagung hervorgehen muß, den Mitgliedern als etwas besonders Notwendiges hinstellen. Wir sind mit vielem auf Widerstand gestoßen, weil solche Gesinnung nicht immer rein in den Herzen gelebt hat. Oft, auch wenn wir uns solcher Gesinnung befleißigten, konnten wir sie in der Prägung der Worte nicht festhalten. Und schon in unseren Worten muß tönen, was nicht agitatorisch überreden, sondern was allein dem Geiste Ausdruck verleihen will.
Von solcher Gesinnung getragene Anthroposophie wird mehr sein, als was bisher in unseren Gruppen oft von Anthroposophie gelebt hat. Das Goetheanum möchte allein aus dieser Gesinnung heraus wirken. Es hat sich den uns entrissenen Bau in solchen künstlerischen Formen errichtet, die schon für sich diese >Gesinnung offenbarten. Wenn sich in das untergegangene Goetheanum ein Wort verirrte, das agitatorisch tönte, so gab es einen schrillen Mißklang zwischen ihm und den Bau-formen. Wenn das Goetheanum neu ersteht, so wird es nur dann eine Wahrheit sein, wenn die Anthroposophische Gesellschaft überall ein lebendiger Zeuge seiner Wahrheit wird sein wollen.
Man darf gerade auf dem Boden der Anthroposophie nicht glauben, daß wirksam nur das sein kann, dem man die Wirksamkeit künstlich aufprägt. Was aus dem Wesen seines eigenen Geistes heraus lebt, das kann warten, bis die Welt seine Wirksamkeit aufnehmen will.
Wenn in jeder Gruppe der Anthroposophischen Gesellschaft diese Gesinnung lebt, »dann wird der Geist der Anthroposophie auch hinaus-wirken dahin, wo es unsere Pflicht ist, vor die Welt Anthroposophie hinzutragen. Wir dürfen nicht uns mit dem Flitter der Geheimnistuerei umgeben. Die Gegenwart verträgt solch>en Flitter nicht. Sie will wirken in voller Öffentlichkeit. Das «Geheimnis» liegt nicht in der Geheimnistuerei, sondern in dem innerlichen Ernste, mit dem in jedem Herzen Anthroposophie neu erlebt werden muß. Sie kann nicht auf äußerliche Art übertragen werden. Sie kann nur in innerem Erleben von der Seele erfaßt werden. Dadurch wird sie zum «Geheimnis», das jedesmal im
#SE260a-044
Verständiiis neu entsiegelt werden muß. Begreift man diese Art von «Geheimnis», so wird man auch die rechte «esoterische» Gesinnung in seiner Seele tragen.
#TI
Nachrichtenblatt, 3. Februar 1924
An die Mitglieder!
III.
ANTHROPOSOPHISCHE MITGLIEDERVERSAMMLUNGEN
#TX
Es ist in nicht wenigen Fällen vorgekommen, daß Persönlichikeiten die Mitgliedschaft der Anthroposophischen Gesellschaft nur aus dem Grun>de erworben haben, weil sie dadurch die Schriften kaufen konnten, die außerhalb der Gesellschaft bisher unverkäuflich waren. Um das Leben in den Gruppen der Gesellschaft haben sich diese Mitglieder dann wenig gekümmert. Sie gingen ja wohl zunächst zu Mitgliederzusammenkünften, blieben aber nach kurzer Zeit weg und sagten: was da getrieben wird, fördert mich nicht. Ich komme besser zur Anthroposbphie, wenn ich mich für mich allein mit ihr beschäftige.
Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß die Vorwürfe, die solche Persönlichkeiten den Mitgliederversammlungen machten, nicht immer begründet waren. Es lag nicht immer an diesen Versammlungen, sondern oft an den unmöglich zu befriedigenden Ansprüchen derer, die kein Verhältnis zu ihnen finden konnten.
Es ist eben leicht, zu sagen: dies oder jenes befriedigt mich nicht. Schwieriger ist es, dieses Nicht-Befriedigende in Ruhe zu bemerken und dann die nötigen Anstrengungen machen, um von sich aus zur Besserung beizutragen.
Aber andererseits ist kein Grund dazu vorhanden, die Tatsache zu verbergen, daß in den Mitgliederzusammenkünften manches anders sein sollte, als es ist.
Gerade bei solchen Zusammenkünften könnte sich eine bedeutsame Wahrheit bewähren. Wenn Menschen zusammen das Geistige in innerer
#SE260a-045
Ehrlichkeit suchen, dann finden sie auch die Wege zueinander, von Seele zu Seele.
Diese Wege zu finden, ist gegenwärtig einer unbegrenzt großen Anzahl von Menschen ein tiefes Herzensbedürfnis. Sie sagen: wenn die Anthroposophie die rechte Lebensanschauung ist, dann muß bei denen, die sich Anthroposophen nennen, dieses Herzensbedürfnis vorhanden sein. Dann aber müssen sie sehen, wie viele, die in den Mitgliedergruppen Anthroposophie als ihre theoretische Überzeugung vertreten, dieses Herzensbedürfnis nicht zeigen.
Anthroposophische Mitgliederversammlungen müssen es sich natürlich zur Aufgabe machen, den Inhalt der anthroposophischen Weltanschauung zu pflegen. Man liest und hört an dasjenige, was durch Anthroposophie an Erkenntnissen gewonnen ist. Wer das nicht einsieht, hat gewiß unrecht. Denn um bloß über allerlei Meinungen zu debattieren, die man auch ohne Anthroposophie hat, dazu braucht man eben keine Anthroposophische Gesellschaft. Aber wenn es beim bloßen Vorlesen der anthroposophischen Schriften bleibt, oder auch, wenn Anthroposophie als bloße Lehre vorgetragen wird, dann ist es richtig, daß man dasselbe, was die Zusammenkünfte bringen, auch in aller Einsamkeit durch die Lektüre erreichen kann.
Jeder, >der zu anthroposophischen Zusammenkünften geht, sollte das Gefühl haben, er finde da mehr, als wenn er bloß in Einsamkeit Anthroposophie treibt. Er sollte >dahin gehen können, weil er da Menschen findet, mit denen zusammen er gerne Anthroposophie treiben will. In den Schriften über Anthroposophie findet man eine Weltanschauung. In den anthroposophischen Zusammenkünften sollte der Mensch den Menschen finden.
Auch wer noch so eifrig Anthroposophisches liest, der >sollte ein freudiges, gehobenes Gefühl haben können, in eine Zusammenkunft von Anthroposophen zu gehen, weil er sich auf die Menschen freut, die er da findet. Er sollte sich auch dann freuen können, wenn er voraus-setzen muß, daß er nichts anderes hört, als was er längst schon in sich aufgenommen hat.
Findet man in einer anthroposophischen Gruppe ein neu eingetretenes Mitglied, so sollte man es als altes Mitglied nicht bei der Befriedigung
#SE260a-046
bewenden lassen, daß die Anthroposophie wieder einen neuen «Anhänger» gewonnen habe. Man sollte nicht bloß den Gedanken haben: jetzt ist wieder einer da, in den man Anthroposophie hinein-gießen kann; sondern man sollte eine Empfindung für das Menschliche haben, das mit dem neuen Mitgliede in die anthroposophische Gruppe hereinkommt.
In der Anthroposophie kommt es auf die Wahrheiten an, die durch sie offenbar werden können; in der Anthroposophischen Gesellschaft kommt es auf das Leben an, das in ihr gepflegt wird.
Es wäre von größtem Übel, wenn in berechtigter Art die Meinung aufkommen könnte: Anthroposophie mag noch so wertvoll sein, wenn ich aber Menschen näherkommen will, dann gehe ich lieber anderswo hin, als wo Anthroposophen in Selbstzufriedenheit fanatisch mir nur ihre theoretischen Gedanken an den Kopf werfen wollen und sagen:
wenn du nicht denkst wie ich, so bist du höchstens ein halber Mensch.
Viel aber kann zum berechtigten Aufkommen einer solchen Meinung beitragen: auf der einen Seite das kalte, nüchterne Belehrenwollen, in das man leicht verfällt, wenn man die Wahrheit der Anthroposophie eingesehen hat. Auf der andern Seite aber steht das Esoterik-Spielen, das manchen neu Eintretenden so stark abstößt, wenn er an die anthroposophischen Zusammenkünfte herantritt. Ein solcher findet Menschen, die geheimnisvoll damit tun, daß sie vieles wissen, was man denen, die «dazu noch nicht reif sind, nicht sagen kann». Aber über der ganzen Rederei schwebt etwas Spielerisches. Esoterisches verträgt eben nur Lebensernst, nicht die eitle Befriedigung, die man an dem Beschwätzen hoher Wahrheiten haben kann. Deshalb muß noch lange nicht die Sentimentalität, die sich vor der Freude und der Begeisterung fürchtet, das Lebenselement im Zusammenleben der Anthroposophen sein. Aber das spielerische Sich-Zurückziehen vor dem «profanen Leben», um «wahre Esoterik» zu treiben, das verträgt die Anthroposophische Gesellschaft nicht. Das Leben enthält an allen Orten viel mehr Esoterisches, als sich oft diejenigen träumen lassen, die da sagen: da oder dort kann man nicht Esoterik treiben; man muß das in diesem oder jenem abgesonderten Zirkel tun. Gewiß sind solche Zirkel oft notwendig. Aber sie können spielerisches Wesen nicht vertragen. Sie müssen Stätten sein,
#SE260a-047
von denen aus das Leben wirklich befruchtet werden kann. «Esoterische» Zirkel, die nur entstehen, um durch den mangelnden Ernst bald wieder zu verschwinden, können nur zerstörende Kräfte in die Anthroposophische Gesellschaft tragen. Sie gehen nur allzu oft aus Cliquenbedürfnis hervor, und dieses bewirkt nicht, daß viel, sondern daß wenig anthroposophisches Leben in der Gesellschaft ist. Wenn es gelingt, dem innerlich Unwahren, das in vielem Reden über «Esoterik» bisher vorhanden war, entgegenzuwirken, so wird die wahre Esoterik in der Anthroposophischen Gesellschaft eine rechte Stätte finden können.
#TI
Nachrichtenblatt, 10. Februar 1924
An die Mitglieder!
IV.
DIE STELLUNG DER MITGLIEDER ZUR GESELLSCHAFT
#TX
Es ist begreiflich, daß unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft eine verschiedene Auffassung herrscht über ihre Stellung zu dieser Gesellschaft. Wer in diese eintritt, kann die Auffassung haben, in ihr zu finden, was er aus den innersten Bedürfnissen seiner Seele heraus sucht. Und in diesem Suchen und dem Finden dessen, was ihm die Gesellschaft geben kann, findet dann ein solches Mitglied den Sinn seiner Mitgliedschaft. Ich habe schon angedeutet, daß gegen eine solche Auffassung im Grunde nichts eingewendet werden kann.
Denn die Gesellschaft kann wegen des Wesens der Anthroposophie nicht die Aufgabe haben, einen Kreis von Menschen zu vereinigen, denen sie bei ihrem Eintritte Pflichten auferlegt, die sie nicht schon vorher anerkannt haben, sondern nur um der Gesellschaft willen ausüben sollen. Pflichten kann im eigentlichen Sinne nur die Gesellschaft gegenüber den Mitgliedern haben.
Aber gerade dieses Selbstverständliche bewirkt ein anderes, das nicht immer in der richtigen Art angesehen, oft überhaupt nicht einmal bedacht wird.
#SE260a-048
Es erwächst nämlich sogleich für dasjenige Mitglied, das in irgendeiner Art tätig in der Gesellschaft für diese wird, eine große Verantwortlichkeit und ein ernster Pflichtenkreis Wer zu einer solchen Tätigkeit nicht überzugehen die Absicht hat, dem sollte man seine stillen Kreise nicht stören. Wer aber in der Gesellschaft irgend etwas tun will, der darf nicht außer acht lassen, daß er die Angelegenheiten der Gesellschaft zu seinen eigenen machen muß.
Will jemand ein stilles Mitglied sein, dann muß es an ihm begreiflich sein, wenn er zum Beispiel sagt: ich kann mich nicht darum bekümmern, was die Gegner der Gesellschaft über diese sagen. Das hört sogleich auf, wenn er über den Kreis der stillen Anteilnahme hinausgeht. Dann erwächst ihm sogleich die Aufgabe, auf die Gegnerschaft hinzusehen und an der Anthroposophie und Gesellschaft das zu verteidigen, was an ihr in berechtigter Art zu verteidigen ist.
Daß dieser ganz notwendigen Tatsache nicht immer Rechnung getragen worden ist, war der Gesellschaft nicht förderlich. Es muß die Mitglieder, die von der Gesellschaft mit allem guten Recht fordern können, daß sie ihnen zunächst gibt, was sie ihnen verspricht, sonderbar berühren, wenn man sogleich von ihnen denselben Pflichtenkreis verlangt, den diejenigen sich auferlegen müssen, welche diese Versprechungen machen.
Wenn man von Pflichten der Mitglieder im Hinblick auf die Gesellschaft redet, so kann sich dieses also nur auf die tätig sein wollenden Mitglieder beziehen. Das soll natürlich nicht verwechselt werden mit dem Sprechen von Verpflichtungen der Menschen als solchen, das aus der Anthroposophie selbst heraus sich ergibt. Diese Dinge werden aber immer den ganz allgemeinen menschlichen Charakter tragen und nur den Anschauungskreis darüber so erweitern, wie sich das aus der Einsicht in die geistige Welt ergibt. Redet die Anthroposophie von solchen Verpflichtungen, so kann sie damit nie meinen, daß man damit etwas nur für die Anthroposophische Gesellschaft Verbindliches sagt, sondern etwas, das sich aus der recht verstandenen Menschenwesenheit als solcher ergibt.
Aber gerade deswegen, weil aus dem Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft für die in ihr tätigen Mitglieder der Pflichtenkreis erwächst,
#SE260a-049
sollte dieser so ernst wie möglich genommen werden. Wer zum Beispiele als Mitglied der Gesellschaft anderen die Einsichten der Anthroposophie überliefern will, dem erwachsen sogleich diese Pflichten, wenn er über den allerengsten stillen Kreis einer solchen Belehrung hinausgeht. Ein solcher wird sich klar sein müssen über die allgemeine geistige Lage der Menschen in der gegenwärtigen Zeit. Er wird von der Aufgabe der Anthroposophie eine deutliche Vorstellung haben müssen. Er wird, soviel ihm dies auch nur möglich ist, sich in Zusammenhang halten müssen mit den andern tätigen Mitgliedern der Gesellschaft. Eine solche Persönlichkeit wird weit davon entfernt sein müssen, zu sagen: es erregt mein Interesse nicht, wenn die Anthroposophie und ihre Träger von Gegnern in einem falschen Lichte dargestellt oder sogar verleumdet werden.
Der Vorstand, der bei der Weihnachtstagung gebildet worden ist, faßt seine Aufgabe so auf, daß er dem hier Ausgesprochenen innerhalb der Gesellschaft zur Verwirklichung verhelfen will. Und er kann nicht anders, als alle tätig sein wollenden Mitglieder darum zu bitten, sich zu Mithelfern dieser seiner Absichten zu machen.
Nur dadurch kann erreicht werden, daß die Gesellschaft ihrer gesamten Mitgliedschaft und damit auch der Welt das halten kann, was sie verspricht.
Es ist zum Beispiel wirklich betrüblich, wenn man die folgende Erfahrung macht: Es kommt innerhalb der Gesellschaft vor, daß sich an einem Orte tätig sein wollende Mitglieder von Zeit zu Zeit über die Angelegenheiten der Gesellschaft besprechen. Sie halten zu diesem Zwecke Versammlungen ab. Wenn man dann mit den einzelnen Persönlichkeiten, die bei diesen Versammlungen sitzen, spricht, so bemerkt man, daß sie in Wirklichkeit übereinander, über ihre Tätigkeiten für die Gesellschaft und so weiter Ansichten haben, die bei den Versammlungen gar nicht zur Sprache kommen. Man kann erfahren, daß irgend jemand gar keine Ahnung hat, wie die oft mit ihm Vereinten über seine Tätigkeit denken. Dergleichen in bessere Bahnen zu bringen, müßte ganz unbedingt aus dem Impuls folgen, den die Weihnachtstagung gegeben hat. Die tätig sein wollenden Mitglieder vor allen müßten diesen Impuls zu verstehen versuchen.
#SE260a-050
Man hört von solchen tätig sein wollenden Mitgliedern gar oft sagen:
ich habe ja den guten Willen; aber ich weiß eben nicht, was das Richtige ist. Man sollte über diesen «guten Willen» doch nicht eine allzu bequeme Ansicht haben. Man sollte sich doch immer wieder fragen: habe ich denn auch wirklich alle Wege gesucht, die sich in der Gesellschaft bieten, um das «Richtige» in der gutwilligen Zusammenarbeit mit andern zu finden?
#TI
Nachrichtenblatt, 17. Februar 1924
An die Mitglieder!
V.
ANTHROPOSOPHISCHE LEITSÄTZE
#TX
Man soll an dieser Stelle in der Zukunft eine Art anthroposophischer Leitsätze finden. Sie sind so aufzufassen, >daß sie Ratschläge enthalten über die Richtung, welche die Vorträge und Besprechungeii in den einzelnen Gruppen der Gesellschaft durch die führenden Mitglieder nehmen können. Es wird dabei nur an eine Anregung gedacht, die vom Goetheanum aus der gesamten Gesellschaft gegeben werden möchte. Die Selbständigkeit im Wirken der einzelnen führenden Mitglieder soll damit nicht angetastet werden. Es ist gut, wenn die Gesellschaft sich so entfaltet, daß in völlig freier Art in den einzelnen Gruppen zur Geltung kommt, was die führenden Mitglieder zu sagen haben. Dadurch wird das Leben der Gesellschaft bereichert und in sich mannigfaltig gestaltet werden.
Aber es sollte ein einheitliches Bewußtsein in der Gesellschaft entstehen können. Das kann geschehen, wenn man von den Anregungen, die an den einzelnen Orten gegeben werden, überall weiß. Deshalb werden hier in kurzen Sätzen solche Darstellungen zusammengefaßt werden, die von mir am Goetheanum für >die Gesellschaft in Vorträgen gegeben werden. Ich denke mir, daß dann von denjenigen Persönlichkeiten, die in den Gruppen (Zweigen) Vorträge halten oder die Besprechungen
#SE260a-051
leiten, dabei das Gegebene als Richtlinien genommen werde, um in freier Art daran anzuknüpfen. Es kann dadurch zu einer einheitlichen Gestaltung im Wirken der Gesellschaft etwas beigetragen werden, ohne daß an einen Zwang in irgendeiner Art gedacht wird.
Fruchtbar für die ganze Gesellschaft kann die Sache werden, wenn der Vorgang auch die entsprechende Gegenliebe findet, wenn die führenden Mitglieder über Inhalt und Art ihrer Vorträge und Anregungen auch den Vorstand am Goetheanum unterrichten. Wir werden dadurch erst aus einem Chaos verschiedener Gruppen zu einer Gesellschaft mit einem geistigen Inhalt.
Die Leitlinien, die hier gegeben werden, sollen gewissermaßen Themen anschlagen. Man wird dann in der anthroposophischen Bücher-und Zyklenliteratur an den verschiedensten Stellen die Anhaltspunkte finden, um> das im Thema Angeschlagene so auszugestalten, daß es den Inhalt der Gruppenbesprechungen bilden kann.
Auch dann, wenn neue Ideen von den leitenden Mitgliedern in den einzelnen Gruppen zutage treten, können sie ja an dasjenige angeknüpft werden, was in der geschilderten Art vom Goetheanum aus als ein Rahmen für das geistige Wirken der Gesellschaft angeregt werden soll.
Es ist ganz gewiß eine Wahrheit, gegen die nicht gesündigt werden darf, daß geistiges Wirken nur aus der freien Entfaltung der wirkenden Persönlichikeiten hervorgehen kann. Allein, es braucht dagegen nicht gesündigt zu werden, wenn in rechter Art innerhalb der Gesellschaft der eine mit dem andern im Einklange handelt. Wenn das nicht sein könnte, so müßte die Zugehörigkeit des Einzelnen oder der Gruppen zur Gesellschaft immer etwas Äußerliches bleiben. Diese Zugehörigkeit soll aber etwas sein, das man als Innerliches empfindet.
Es kann doch eben nicht so sein, daß das Vorhandensein der Anthroposophischen Gesellschaft von dieser oder jener Persönlichkeit nur als Gelegenheit benützt wird, um das zu sagen, was man aus dieser oder jener Absicht heraus persönlich sagen will, sondern die Gesellschaft muß die Pflegestätte dessen sein, was Anthroposophie ist. Alles andere kann ja auch außerhalb ihres Rahmens gepflegt werden. Sie kann nicht dafür da sein.
Es ist in den letzten Jahren nicht zum Vorteil der Gesellschaft gewesen,
#SE260a-052
daß in sie einzelne Mitglieder ihre Eigenwünsche hineingetragen haben, bloß weil sie mit deren Vergrößerung für diese Eigenwünsche ein Wirkungsfeld zu finden glaubten. Man kann sagen: warum ist dem nidit in der gebührenden Art entgegengetreten worden? - Wäre das geschehen, >so würde heute überall die Meinung zu horen sein: ja, wenn man >damals die Anregungen von dieser oder jener Seite aufgenommen hätte, wo wären wir gegenwärtig? Nun, man hat vieles aufgenommen, was kläglich gescheitert ist, was uns zurückgeworfen hat
Aber nun ist es genug. Die Probe auf das Exempel, das einzelne Experimentatoren in der Gesellschaft geben wollten, ist gemacht. Man braucht dergleichen nicht ins Endlose zu wiederholen. Der Vorstand am Goetheanum soll ein Körper sein, der Anthroposophie pflegen will, und die >Gesellschaft sollte eine Verbindung von Menschen sein, die sich mit ihm über ihre Pflege der Anthroposophie lebendig verständigen wollen.
Man soll nicht denken, daß, was angestrebt werden soll, von heute auf morgen erreicht werden kann. Man wird Zeit brauchen. Und es wird Geduld nötig sein. Wenn geglaubt wird, in ein paar Wochen könne verwirklicht da sein, was in den Absichten der Weihnachtstagung liegt, so wird das wieder von Schaden sein.
#TI
Nachrichtenblatt, 24. Februar 1924
An die Mitglieder!
VI.
ERKENNTNISSTREBEN UND WILLE ZUR SELBSTZUCHT
#TX
In der Anthroposophischen Gesellschaft treten die Menschen einander näher, als sie dies tun würden, wenn sie sich auf einem andern Lebens-felde >begegnen würden. Das gemeinsame Interesse für das geistige Weltwesen schließt die Seelen auf. Es erscheint für den einen bedeutsam, was der andere in seinem Streben nach dem Geistigen innerlich erlebt. Der Mensch wird mitteilsam, wenn er weiß, er steht einem
#SE260a-053
Mitmenschen gegenüber, der für das Innerste, das die Seele bewegt, ein aufmerksames Gehör hat.
Dadurch bildet es sich wie von selbst, daß die Mitglieder der Gesellschaft anderes und dieses andere auch anders aneinander beobachten als andere Menschen. Das aber schließt zugleich eine Gefahr in sich. Man lernt einander schätzen, indem man sich trifft. Man hat die innigste Freude an der Seelenäußerung des andern. Alle edlen Wirkungen des freundschaftlichen Zusammenseins können sich rasch entfalten. Es liegt nahe, daß diese Wirkungen sich rasch zur Schwärmerei steigern können. Man sollte einer solchen Schwärmerei, trotzdem sie ihre Schattenseiten hat, nicht nur das kalte, nüchterne Philisterherz oder die überlegene Weltmenschenbaltung entgegenbringen. Schwärmerei, die sich zur harmonischen Seelenhaltung durchgerungen hat, ist geist erschließender als ein Gleichmaß, das an allen bedeutsamen Lebensoffenbarungen mit starrer Haltung vorbeigeht.
Es können aber leicht Menschen, die einander rasch nahe kommen, sich ebenso rasch wieder voneinander entfernen. Hat man den andern genau kennen gelernt, weil er sich voll aufgeschlossen hat, so bemerkt man auch bald seine Schwächen. Und dann kann die - negative Schwärmerei auftreten. Und diese Gefahr ist in der Anthroposophischen Gesellschaft eine überall herumschleichende. Gegen sie zu wirken, gehört zu den Aufgaben der Gesellschaft. Innere Toleranz gegen den andern sollte daher jeder im Tiefsten seiner Seele anstreben, der rechtes Mitglied der Gesellschaft sein will. Den andern verstehen lernen auch da, wo er Dinge denkt und tut, die man nicht selber denken und tun möchte, das sollte ein Ideal darstellen.
Es braucht dies nicht gleichbedeutend zu sein mit der Urteilslosigkeit gegenüber Schwächen und Fehlern. Verstehen ist etwas anderes als Sich-blind-machen. Man kann zu einem Menschen, den man liebt, von dessen Verfehlungen reden: er wird in vielen Fällen darin den schönsten Freundschaftsdienst sehen. Man kann aber auch mit der Empfindung des gleichgültigen Richters den andern abkanzeln: er prallt zurück vor der Verständnislosigkeit und tröstet sich mit dem Haßgefühle, das in ihm gegenüber dem Kritiker aufdämmert.
Es kann in vieler Beziehung in der Anthroposophischen Gesellschaft
#SE260a-054
verhängnisvoll werden, wenn die Intoleranz und Verständnislosigkeit gegenüber andern Menschen in sie in der Form hineingetragen werden, in der sie gegenwärtig in weitem Umfange das Leben beherrschen. Denn durch das Nahe-Stehen der Menschen steigern sie sich innerhalb der Gesellschaft.
Das sind Dinge, die stark darauf hinweisen, wie das lebendigere Erkenntnisstreben in der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig begleitet sein muß von dem Ringen nach einer Veredelung des Gefühls-und Empfindungslebens. Das verstärkte Erkenntnisstreben vertieft das Seelenleben nach der Region hin, wo Hochnut, Seibstuberschätzung, Teilnahrnslosigkeit mit andern Menschen und noch vieles andere lauern. Ein minderes Erkenntnisstreben greift auch nur schwach in diese Region -ein. Es läßt sie in den Tiefen der Seele schlafen. Ein regsames Erkenntnisleben stört sie aus ihrem Schlafe auf. Gewohnheiten, die sie niedergehalten haben, verlieren ihre Kraft. Das Ideal, das auf Geistiges sich richtet, kann Seeleneigenschaften erwecken, die ohne dieses Ideal nicht offenbar geworden wären. Die Anthroposophische Gesellschaft sollte dazu da sein, durch die Pflege edlen Gefühls- und Empfindungslebens Gefahren entgegenzuwirken, die da lauern. Es gibt Instinkte in der Menschennatur, die zur Furcht vor der Erkenntnis treiben, weil sie solche Zusammenhange wittern. Wer aber sein Erkenntnisstreben des-halb schlummern läßt, weil durch dessen Pflege seine häßlichen Gefühle aufgerührt werden, der verzichtet auch darauf, den vollen Umfang des wahren Menschen in sich zu entwickeln. Es ist menschenunwärdig, die Einsicht zu lähmen, weil man sich vor der Charakterschwäche fürchtet. Es kann allein menschenwürdig sein, mit dem Erkenntnisstreben auch das nach dem Willen zur Selbstzucht zu verbinden.
Und durch die Anthroposophie kann man das. Man muß nur auf die Lebendigkeit ihrer Gedanken kommen. Diese Lebendigkeit macht, daß sie auch Kraft im Willen, Wärme in Gefühl und Empfindung erzeugen können. Es liegt durchaus an dem Menschen, ob er die Anthroposophie bloß vorstellt> oder ob er sie erlebt.
Und es wird an den tätig auftretenden Mitgliedern der Gesellschaft liegen, ob durch die Art, wie sie Anthroposophie entwickeln, nur Gedanken angeregt werden können, oder ob Leben entzündet wird.
#SE260a-055
#TI
Nachrichtenblatt. 2. März 1924
An die Mitglieder!
VII.
DIE ARBEIT IN DER GESELLSCHAFT
#TX
In meinen Vorträgen für die Anthroposophische Gesellschaft, die ich gegenwärtig am Goetheanum halte, suche ich die Grundfragen des menschlichen Seelenlebens zur Darstellung zu bringen. In den fünf «Leitsätzen», die bisher in diesem Mitteilungsblatte enthalten waren, ist der Gesichtspunkt gekennzeichnet, von dem aus die Darstellung gegeben wird. Ich wollte der Grundforderung eines anthroposophischen Vortrages entsprechen. Der Zuhörer soll die Empfindung haben, daß Anthroposophie von dem spricht, was er bei voller Selbstbesinnung als ureigene Angelegenheit seiner Seele empfindet. Kann man für eine solche Darstellung die rechte Art finden, dann wird sich unter den Mitgliedern das Bewußtsein entwickeln: In der Anthroposophischen Gesellschafl wird der Mensch wirklich verstanden.
Man trifft damit auf dasjenige, was für die Menschen, die Mitglieder werden, der treibende Impuls ist. Sie wollen eine Stätte finden, an der Menschenverständnis seine rechte Pflege findet.
Man ist eigentlich schon auf dem Wege zur Anerkennung des Geistes-wesens der Welt, wenn man ernstlich Menschenverständnis sucht. Denn man wird in diesem Suchen gewahr, daß die Naturerkenntnis in bezug auf den Menschen keine Aufschlüsse gibt, sondern nur Fragen erzeugt.
In den anthroposophischen Darstellungen kommt nur Verwirrung zustande, wenn man die Seele von der Liebe zur Natur hinwegführen will. Nicht in der Geringschätzung dessen, was die Natur den Menschen offenbart, kann der Ausgangspunkt der anthroposophischen Betrachtung liegen. Naturverachtung, Abkehr von der Wahrheit, die in den Erscheinungen des Lebens und der Welt dem Menschen entgegenstrahlt, von der Schönheit, die in diesen Erscheinungen waltet, von den Auf-gaben, die sie dem Menschenstreben stellen, kann nur zu einem Zerr-bilde vom Geisteswesen führen.
#SE260a-056
Ein solches Zerrbild wird immer einen persönlichen Charakter haben. Es wird, auch wenn es nicht bloß aus Träumen gewoben ist, doch wie das Träumen erlebt werden. Wenn der Mensch im wachen Dasein mit Menschen lebt, dann muß sein Streben auf Verständigung über Gemeinsames ausgehen. Was der eine behauptet, muß Bedeutung für den andern haben; was der eine erarbeitet, muß für den andern einen gewissen Wert haben. Die Menschen, die miteinander leben, müssen das Gefühl haben, daß sie in einer gemeinsamen Welt sind. Wenn der Mensch in seinen Träumen webt, dann löst er sich aus dieser gemeinsamen Welt heraus. Ein anderer Mensch in. seiner unmittelbaren Nähe kann ganz andere Träume haben. Im Wachen haben die Menschen eine gemeinsame Welt; im Träumen hat ein jeder seine eigene.
Anthroposophie sollte nicht aus dem Wachen in das Träumen, sondern in ein stärkeres Erwachen hineinführen. Im afltäglichen I»eben ist zwar Gemeinsamkeit vorhanden; aber diese wird doch in engen Grenzen erlebt. Man ist da in ein Stück Dasein hineingebannt; man trägt die Sehnsucht nach dem vol!en Leben nur im Herzen. Man fühlt, die Gemeinsamkeit des menschlichen Erlebens geht weiter als der Umkreis des alltäglichen Lebens. Und wie man von der Erde weg zur Sonne blicken muß, wenn man die allem Irdischen gemeinsame Quelle des Lichtes gewahr werden will, so muß man von der Sinnenwelt hinweg zum Geistes-Inhalt sich wenden, wenn man finden will, was aus dem echt Menschlichen heraus die Seele zur befriedigenden Menschengemein-schaft, zum vollen Erleben dieser Gemeinschaft führen karin.
Da ist es denn leicht möglich, daß man sich vom Leben abwendet, statt in einem intensiveren Maße in dasselbe einzutreten.
Und dieser Gefahr unterliegt der Naturverächter. Er wird in die Einsamkeit der Seele hineingetrieben, für die das natürliche Träumen ein Vorbild ist. Für menschliche Wahrheit, die zugleich Weltwahrheit ist, entwickelt man am besten den Sinn, wenn man diesen heranerzieht an derjenigen Wahrheit, die aus der Natur derMenschenseele entgegen-leuchtet. Wer aber Naturwahrheit mit offenem, freiem Sinn in sich erlebt, der wird durch sie zur Geisteswahrheit hingeführt. Wer sich von der Schönheit, Größe und Erhabenheit der Natur durchdringt, in dem werden diese zur Quelle der Geistempfindung. Und wer sein Herz
#SE260a-057
der stummen Naturgebärde öffnet, die jenseits von Gut und Böse in ewißer Unschuld sich offenbart, dem erschließt sidt der Blick für die geistige Welt, die in die stumme Gebä rde das lebendige Wort tönen läßt, das den Unterschied von Gut und Böse offenbart.
Geistanschauung, die durch die Liebe zur Naturanschauung hin-durchgegangen ist, bereichert das Leben um die wahren Schätze der Seele; Geistesträumen, das im Widerspruch mit der Naturanschauung
sich entwickelt, verarmt das Menschenherz. .
Wer Anthroposophie im tiefsten Wesen durchdringt, wird, was in diesen Sätzen angedeutet ist, als den Gesichtspunkt empfinden, von dem in den anthroposophischen Darstellungen ausgegangen werden muß. Man wird durch solche Ausgangspunkte dasjenige berühren, von dem ein jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft sich sagt:
darin liegt, was den wahren Grund meines Eintrittes in die Gesellschaft gebildet hat.
Bei den Mitgliedern, die in der Gesellschaft tätig sein wollen, wird es nicht genügen, daß sie von dem hier Angedeuteten theoretisch überzeugt sind. Es wird das rechte Leben in ihre Überzeugung erst kommen, wenn sie ein warmes Interesse fur alles entfalten, was in der Gesellschaft vor geht. Durch das Erfahren dessen, was von den Persönlichkeiten, die in der Gesellschaft sind, erdacht und erlebt wird, werden sie die Wärme empfangen, die sie für ihre Arbeit in der Gesellschaft brauchen. Man muß viel Interesse für die andern Menschen haben, wenn man ihnen auf anthroposophische Art gegenübertreten will. Das Studium dessen, «was in der Gesellschaft vorgeht», muß die Unterlage für das Wirken in der Gesellschaft werden. Gerade diejenigen Mitglieder brauchen dieses Studium, die in der Gesellschaft tätig sein wollen.
Nachrichtenblatt, 9. März 1924 DIE ARBEIT IN DER GESELLSCHAFT
#G260a-1987-SE058 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
Nachrichtenblatt, 9. März 1924
An die Mitglieder!
VIII.
DIE ARBEIT IN DER GESELLSCHAFT
#TX
Man wird sidl erinnern, daß ich in meinen öffentlichen Vorträgen, die ich im Dienste der Anthroposophischen Gesellschaft gehalten habe, nach Möglichkeit versuchte, überall einzufügen, was an entsprechenden Erkenntnissen im gegenwärtigen Zeitalter vorhanden ist. Ich tat dieses, weil Anthroposophie nicht dastehen darf wie eine willkürlich ersonnene Sektenmeinung. Sie muß zum Ausdrucke bringen, was sie in Wahrheit ist: die von unserer Zeit selbst geforderte Weltanschauung und Lebenspraxis.
Es erscheint mir ganz verfehlt, wenn der Anthroposoph nur abweist, was außer seinem Gebiete von dem geistigen Leben der Gegenwart hervorgebracht wird. Tut er dies sogar in einer solchen Weise, daß der Kundige sogleich bemerkt, er weist ab, was er gar nicht genügend kennt, so wird Anthroposophie niemals etwas ausrichten können.
Die in den Zweigen tätigen Mitglieder werden dies beachten müssen. Man wird aber nicht erreichen, was erstrebenswert ist, wenn man neben den anthroposophischen Darlegungen auch solche veranstaltet, die aus den verschiedensten Wissensgebieten der Gegenwart die Dinge so bringen, wie dies außerhalb der anthroposophischen Bewegung geschieht. Dadurch wird nur eine für die zuhörenden Mitglieder peinigende Kluft geschaffen zwischen dem heute üblichen Erkennen und demjenigen, von dem Anthroposophie sprechen muß.
Es ist vom Übel, wenn ein Thema aufgeworfen wird und von vorne-herein der Eindruck entsteht, es werde nur die Gelegenheit ergriffen, um Kritik an irgendwelchen Gegenwarts-Vorstellungen zu üben. Es sollte erst überall sorgfältig geprüft werden, inwiefern in einer solchen Vorstellung ein gesunder Ausgangspunkt gegeben ist. Die Sache liegt zumeist so, daß in der Gegenwart überall solche bedeutsame Ausgangspunkte vorliegen. Man wird deshalb nicht mit der Kritik zurückhalten
#SE260a-059
müssen. Aber man sollte nur kritisieren, was man zuerst auch in seiner Eigenart auseinandergesetzt hat.
Würde das beachtet, so könnte in der Anthroposophischen Gesellschaft etwas hinwegfallen, was in der letzten Zeit Schwierigkeiten gemacht hat. Es haben die Wissenschafter bei uns eine Wirksamkeit entwickelt, über die man nur tief befriedigt sein kann. Und doch ist in vielen Mitgliedern das Gefühl entstanden, daß diese Wissenschafter zu «wenig anthroposophisch» wirken.
Ein Seitenstück dazu ist dadurch entstanden, daß anthroposophische Haltung versucht worden ist als Lebenspraxis auf verschiedenen Gebieten auszubilden. Auch da ist in vielen Mitgliedern das Gefühl entstanden, es gehe in solchen «Unternehmungen» gar nicht anthroposophisch zu.
Die Kritik, die hier einsetzt, ist gewiß nur zum Teil berechtigt. Denn der Kritiker sieht oft nicht, wie schwierig derartige Versuche in der Gegenwart sind, und wie alles Zeit braucht, um in entsprechender Art verwirklicht zu werden.
Aber eine gesunde Grundlage hat doch die Empfindung vieler Mitglieder. Man hat als Anthroposoph zunächst die Aufgabe, durch Anthroposophie das Seelenauge zu schärfen, um dasjenige im rechten Lichte zu sehen, was unsere Zeitkultur hervorbringt. Denn diese hat ja das Eigentümliche, daß sie unendlich viel Fruchtbares findet, aber des Bodens ermangelt, in dem sie in richtiger Art dieses Fruchtbare einpflanzen kann. Sicherlich muß man oft gerade dann mit der herbsten Kritik schließen, wenn man sich positiv und nicht negativ zu den Zeiterscheinungen der Gegenwart stellt.
Wenn man die positive Orientierung außer acht läßt, wird man der Gefahr nicht entrinnen, zurückzuzucken vor dem Sprechen in der wirklichen anthroposophischen Art. Wie oft hört man gerade von Wissenschaftern in der Anthroposophischen Gesellschaft sagen: wir schrecken die Nicht-Anthroposophen ab, wenn wir ihnen so ohne weiteres vom Äther- oder Astralleib reden. Aber wir bleiben unfruchtbar, wenn wir die Nicht-Anthroposophen auf ihrem Felde kritisieren und dabei uns nur derjenigen Urteile bedienen, die auch auf diesem Felde selbst wachsen können. Man kann von Äther- und Astralleib sprechen, wenn man sagt, warum man dieses tut.
#SE260a-060
Bestrebt man sich aber, von dem eigentlich Anthroposophischen so zu sprechen, daß man überall das von Anthroposophie geschärfte Seelenauge walten läßt, dann wird auch unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft das Gefühl verschwinden, unsere Wissenschafter reden in einer Art, die nicht anthroposophisch genug ist, und die Praktiker handeln so, wie man es von Mitgliedern der Gesellschaft nicht erwarten sollte.
Man wird die Gesinnung in dieser Richtung orientieren müssen, wenn unsere Weihnachtstagung nicht eine Summe frommer Wünsche bleiben soll, sondern wenn ihre Absichten der Verwirklichung entgegengehen sollen.
#TI
Nachrichtenblatt, 16. März 1914
An die Mitglieder!
IX.
DIE INDIVIDUELLE GESTALTUNG
ANTHROPOSOPHISCHER WAHRHEITEN
#TX
Die vorangehenden Betrachtungen habe ich an die Mitglieder gerichtet in der Hoffnung, dadurch einiges dazu beizutragen, daß Sie den Gegenstand von Erwägungen an den verschiedenen Orten bilden, an denen Anthroposophen sind. Es erschiene mir gut, wenn die in der Gesellschaft tätigen Mitglieder sie zum Ausgangspunkte nehmen wollten, um an sie anknüpfend die gesamte Mitgliedschaft zu einem gemeinsamen Bewußtsein von dem Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft zu erheben.
Es ist gewiß richtig, daß in unseren Zweigversammlungen das Besprechen der anthroposophischen Weltanschauung und deren Einführung in das Leben den Hauptteil der Tätigkeit ausmachen muß. Aber es kann in so mancher Zweigversammlung doch auch ein - wenn auch noch so geringer - Teil der Zeit dazu verwendet werden, um solche Dinge zu besprechen, wie sie in diesen Betrachtungen angedeutet werden. Gerade dadurch wird manches Mitglied in rechter Art angeregt
#SE260a-061
werden, auch der nicht-anthroposophischen Außenwelt gegenüber ein Repräsentant der Gesellschaft zu sein.
Über die Anthroposophische Gesellschaft wird man nicht so denken können, als ob ihr Wesen und ihre Aufgabe mit ein paar Statutenparagraphen erschöpft wären. Dadurch, daß Anthroposophie tief in das Denken, Fühlen und Wollen des Menschen Impulse bringt, wird sie auch wieder von dem Seelenleben der Menschen stark beeinflußt. Man kann ihren Inhalt in allgemeine Sätze fassen, wie man das auf den verschiedensten Gebieten des Geisteslebens tut. Allein, so notwendig dieses ist, man sollte dabei nicht stehenbleiben. Die allgemeinen Sätze werden lebensvolle Färbungen dadurch erhalten können, daß sie ein jeglicher, der sie in seinem Gemüte trägt, aus seinen eigenen Lebens-erfahrungen heraus ausspricht. Und mit jeder solchen individuellen Gestaltung kann etwas Wertvolles für das Verständnis der anthroposophischen Wahrheiten gewonnen sein.
Legt man dieser Tatsache Gewicht bei, so wird man die Entdeckung machen, daß man in dem Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft immer wieder neue Seiten gewahr wird.
Jedes in der Gesellschaft tätige Mitglied wird oft genug in der Lage sein, über dieses oder jenes gefragt zu werden. Der Fragende sucht Belehrung durch die Antworten, die er erhält; der Gefragte kann Belehrung suchen durch die Art, wie die Fragen gestellt werden. Man sollte an dieser Belehrung nicht unaufmerksam vorbeigehen. Man lernt vor allem an den Fragen das Leben kennen. Es tritt oft der Anlaß zutage, aus dem heraus gefragt wird. Der Gefragte sollte dankbar sein, wenn Fragende so zu ihm sprechen. Er wird durch ihre Hilfe imstande sein, immer besser in seinen Antworten sich verhalten zu können. Was insbesondere sich bessern wird, ist der Gefühlston, der durch die Antworten hindurchklingt. Und dieser Gefühlston ist ein Wesentliches im Mitteilen anthroposophischer Wahrheiten. Es kommt dabei durchaus nicht bloß darauf an, was man sagt, sondern vor allem, wie man es sagt.
Anthroposophische Wahrheiten sind doch, von einem gewissen Gesichtspunkte aus, das Wichtigste, was Menschen sich mitteilen können. Solche Mitteilungen einem andern ohne tiefen innern Anteil an dem Mitgeteilten zu machen, ist eigentlich schon eine Entstellung derselben.
#SE260a-062
Aber diese Anteilnahme wird dadurch vertieft, daß man bei den verschiedensten Menschen fühlt, aus welchem Lebensuntergrnnde sie die Fragen stellen. Man braucht jedoch nicht zum Examinator oder seelischen Vivisektor des andern zu werden. Man kann ganz zufrieden sein mit dem, was er ganz von sich aus in sein Fragen legt. Befriedigt damit sein, auf alle Fragen nach einem zurechtgelegten Schema zu antworten, sollte kein tätiges Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.
Man betont - mit Recht - oft, Anthroposophie müsse Leben im Menschen werden, nicht bloße Lehre bleiben. Aber Leben kann nur etwas werden, das fortdauernd vom Leben angeregt wird.
Durch die Pflege eines solchen Verhaltens in der Anthroposophie wird diese zum Antrieb der Menschenliebe. Und in diese sollte alles Wirken auf anthroposophischem Gebiete getaucht sein. Wer sich viel in der Anthroposophischen Gesellschaft umgesehen hat, der kann wissen, daß viele Persönlichkeiten in sie kommen, weil ihnen an andern Orten die Lebenswahrheiten so entgegentreten, daß sie des Grundtones der Liebe entbehren. Diesen Ton hört die Menschenseele aus dem Gespro-chenen mit feiner Empfindlichkeit heraus. Und er bildet im höchsten Grade einen Vermittler des Verständnisses.
Man wird vielleicht sagen: wie soll man Liebe in eine Darstellung der Erdenentwickelung bringen? Hat man sich ein Verständnis dafür angeeignet, daß die Erd- und Weltentwickelung nur die andere Seite der Menschheitsentwickelung ist, so wird man nicht zweifeln, daß gerade für solche Wahrheiten die Liebe das Seelenvolle in ihnen bildet.
#TI
Nachrichtenblatt, 23. März 1924
An die Mitglieder!
X.
DIE DARSTELLUNG ANTHROPOSOPHISCHER WAHRHEITEN
#TX
In der Darstellung anthroposophischer Wahrheiten wird um so mehr Leben sein können, je mehr das Dargestellte in der mannigfaltigsten Art von den verschiedensten Gesichtspunkten betrachtet auftritt. Man
#SE260a-063
sollte deshalb sich nicht scheuen, als tätiges Mitglied in der Gesellschaft, denselben Gegenstand in den Zweigversammlungen immer wieder zu behandeln. Aber man wird dabei nötig haben, an ihn von den verschiedensten Seiten heranzutreten. Durch die Art, sich zu den Fragen Seiner Mitmenschen so zu verhalten, wie das in meinem letzten Briefe geschildert worden ist, wird man zu einer solchen Betrachtung wie von selbst hingeführt. Man lernt dabei die Lebendigkeit der anthroposophischen Einsichten erst recht kennen. Man fühlt, wie jedes Gedankenbild, in das man diese Einsichten gebracht hat, ein unvollkommenes sein muß. Man empfindet, daß, was man in der Seele trägt, unermeßlich viel reicher ist als dasjenige, was man im Gedanken aussprechen kann. Wird man dies mit immer größerer Deutlichkeit gewahr, dann steigert sich in der Seele die Ehrfurcht vor dem geistigen Leben. Und diese Ehrfurcht muß in aller anthroposophischen Darstellung walten. Sie muß einer der Grundtöne sein, welche diese Darstellung durchziehen. Wo diese Ehrfurcht fehlt, da ist in dem Besprechen anthroposophischer Wahrheiten keine Kraft.
Man sollte diese Kraft nicht auf eine äußerliche Art in das Sprechen über Anthroposophie bringen wollen. Man sollte ihre Entwickelung dem lebendigen Gefühl überlassen, in dem man zu den Wahrheiten dadurch steht, daß man das Bewußtsein hat, man nähert sich mit ihrem Ergreifen in der Seele der wirklichen geistigen Welt. - Das gibt der Seele eine gewisse Stimmung. Sie fühlt sich für Augenblicke ganz hingegeben an die Gedanken von der geistigen Welt. In dieser Hingabe stellt sich die Ehrfurcht vor dem Geistigen auf ganz selbstverständliche Art ein.
In der Entwickelung einer solchen Stimmung liegt der Anfang aller wahren Meditation. Wer eine solche Stimmung der Seele nicht lieben kann, der wird vergeblich die Regeln anwenden für die Erlangung von Erkenntnissen einer «geistigen Welt». Denn in dieser Stimmung wird das Geistige, das in den Tiefen der Menschenseele liegt, vor das Bewußtsein gerufen. Der Mensch vereinigt sich dadurch mit seiner eigenen Geisthaftigkeit Und nur in dieser Vereinigung kann er das Geistige in der Welt finden. Nur der Geist im Menschen kann an den Geist der Welt herantreten.
#SE260a-064
Nun werden die tätigen Mitglieder der Gesellschaft, bei denen andere Rat suchen, durch das Erwerben dieser Stimmungsmomente ihre Wahrnehmungsfähigkeit für dasjenige steigern, was der andere eigentlich will. Es wird dem Menschen oft schwer, sich über das deutlich auszusprechen, was seine Seele am allertiefsten bewegt. Deshalb wird der Gefragte nur allzuleicht an dem eigentlichen Bedürfnisse des Fragenden vorbeihören. Dann stellt sich bei diesem das berechtigte Gefühl ein, daß er über das Gewollte doch keine Antwort erhalten habe. Steht aber der Gefragte vor dem Fragenden in einer Seelenverfassung, die errungen ist durch innere Stimmungen von der beschriebenen Art, dann wird er dem Fragenden die Zunge lösen können. Dieser wird jenes wahre, intime Vertrauen zu dem Gefragten entwickeln, das der Mitteilung anthroposophischer Wahrheiten rechtes Leben gibt. Es wird sich in diese Mitteilung etwas hineinversetzen, das den, der die Antwort erhalten hat, von dieser aus dann selbständig seinen Weg in dem Verfolgen seiner geistigen Bedürfnisse gehen läßt. Er wird vielleicht das Gefühl haben, wenn auch die Antwort nicht alles enthalten hat, was er suchte, so werde er jetzt imstande sein, sich weiter zu helfen. Ein inneres Kraftgefühl wird sich in der Seele statt eines vorher vorhandenen Ohnmachtsgefühles einstellen. Und dieses Kraftgefühl hat der Fragende in Wahrheit gesucht.
Man sollte nicht glauben, daß man ohne Gedanken, in bloßen Gefühlen die Antworten auf brennende Seelenfragen finden kann. Aber ein Gedanke, der sich in kalter Abgeschlossenheit gegenüber den Gefühlen entwickelt, findet nicht den Weg zu dem menschlichen Herzen. Man soll jedoch auch nicht die Furcht davor haben, daß das Gefühl der Objektivität des Gedankens schaden müsse. Das wird nur der Fall sein, wenn es n£cht durch die beschriebene Stimmung den Weg zu der Geisthaftigkeit des Menschen gefunden hat.
#SE260a-065
#TI
Nachrichtenblatt, 30. März 1924
An die Mitglieder!
VOM ANTHROPOSOPHISCHEN LEHREN
#TX
Die Anregung, sich mit Anthroposophie zu beschäftigen, wird in den meisten Fällen davon herkommen, daß dem Menschen der Blick in die außermenschliche Welt zu einem Quell der Unbefriedigung wird, und er dadurch veranlaßt wird, die Betrachtung auf das eigene Menschen-wesen zu lenken. Er ahnt, daß die Rätsel, welche das Leben aufgibt, nicht durch Hinausschauen in das Weltgetriebe, sondern durch Hinein-blicken in das menschliche Innensein zur Aufhellung kommen. Das Streben nach Welterkenntnis verwandelt sich ihm in dasjenige nach Selbsterkenntnis.
Die in der Anthroposophischen Gesellschaft tätig sein wollenden Mitglieder werden auf dieses zu achten haben. Dann werden sie auf der einen Seite ihre Aufgabe in der rechten Art empfinden lernen. Sie werden aber auch die Gefahren erkennen lernen, die mit dieser Aufgabe verbunden sind.
Streben nach Selbsterkenntnis treibt nur allzu oft, wenn sie irre-geleitet ist, zu einer besonderen Form des Egoismus. Der Mensch kann sich selbst zu wichtig nehmen und dadurch das Interesse für alles verlieren, was sich außer ihm abspielt. Jedes rechte Streben kann eben, wenn es in Einseitigkeit verfällt, in die Irre gehen.
Man kommt überhaupt zu keiner Weltanschauung, wenn man diese nicht durch eine Menschen-Anschauung sucht. Denn die uralte Wahrheit, daß der Mensch ein Mikrokosmos, eine wahre «kleine Welt» ist, wird sich immer auch als die allerneueste erweisen. Der Mensch birgt in seinem eigenen Wesen alle Rätsel und Geheimnisse der «großen Welt», des Makrokosmos.
Erfaßt man dieses in rechter Art, so wird jeder Blick in das Menschen-Innere die Aufmerksamkeit auf die außermenschliche Welt lenken. Und Selbsterkenntnis wird das Tor zur Welterkenntnis werden. Erfaßt man es in irriger Art, so wird man sich mit der Selbstbetrachtung
#SE260a-066
in das eigene Wesen einsperren und die Anteilnahme für die Welt verlieren.
Das letztere darf durch die Anthroposophie nicht geschehen. Sonst wird die Klage nicht verstummen, die man von vielen in die Anthroposophische Gesellschaft Neu-Eintretenden hören kann: ach, wie egoistisch denken doch die Anthroposophen.
Wer sich selbst kennen lernen will, der sollte durch das, was er in dieser Selbsterkenntnis erwirbt, den Blick schärfen können zunächst dafür, wie alles, was an ihm ist, ihm auch in dem andern Menschen entgegentritt. Man empfindet, was der Mitmensch erlebt, wenn man ein ähnliches in sich selbst erlebt hat. Solange dieses Selbst-Erleben fehlt, geht man an dem Erleben des andern vorüber, ohne es in der richtigen Weise zu sehen. Aber es kann das Fühlen auch durch das eigene Erleben so gefesselt werden, daß es für den andern nichts mehr übrig behält.
Die in der Gesellschaft tätigen Mitglieder werden ihr Wirken nach dieser Richtung zu einem förderlichen machen, wenn sie nur acht geben wollen auf die Gefahren, die da lauern. Sie werden dann verhindern, daß Selbsterkenntnis in Selbstliebe ausartet. Sie werden vielmehr ihrem Wirken den Ton verleihen, der die Selbst-Erkenntnis in die Menschen-Liebe hinüberleitet. Und wer Interesse für den andern Menschen entwickelt, der wird es auch an Interesse für die Welt im allgemeinen nicht fehlen lassen.
Ich habe Freunden, die von mir zu irgendeiner Gelegenheit einen Gedenkspruch forderten, oft den folgenden gegeben:
Willst du das eigene Wesen erkennen,
Sieh dich in der Welt nach allen Seiten um.
Willst du die Welt wahrhaft durchschauen,
Blick in die Tiefen der eignen Seele
In der Orientierung, welche dieser Spruch gibt, muß der Vortrag anthroposophischer Erkenntnisse sich halten. Dann wird vermieden werden, daß durch das Besprechen des menschlichen Innenwesens das egoistische Sich-Hineinspinnen in das eigene Wesen zu stark angefacht wird.
#SE260a-067
Es wirkt in der Tat abstoßend, wenn der Neu-Eintretende an den Anthroposophen nur bemerken kann, wie sich diese nur mit sich selbst beschäftigen wollen. Man wird gewahr, wie Menschen, die eine Zeitlang Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gewesen sind, bei jeder Gelegenheit darüber jammern, daß ihnen das Leben keine Zeit läßt, sich in die Anthroposophie recht zu vertiefen. Besonders häufig findet man das bei solchen Menschen, die ihr Tätigkeitsfeld innerhalb der anthroposophischen Bewegung selbst gefunden haben. Ihnen wird leicht die Arbeit zuviel, weil sie meinen, sie werden durch sie von der Meditation, von dem Lesen anthroposophischer Schriften und so weiter abgehalten. Aber durch die Liebe zur anthroposophischen Erkenntnis darf nicht die freudige Hingabe an die Notwendigkeiten des Lebens gestört werden. Ist das der Fall, so wird die Beschäftigung mit der Anthroposophie auch nicht die rechte Wärme haben können; sie wird zum kalten Egoismus ausarten.
Sich stark mit dieser Erkenntnis zu durchdringen, wird eine Aufgabe für die in der Gesellschaft tätig sein wollenden Mitglieder sein müssen. Dann werden sie den Ton für ihr Wirken finden können, der Gefahren aus dem Felde schlägt, die sich leicht einstellen können.
#TI
Nachrichtenblatt 6. April 1924
An die Mitglieder!
ÜBER DIE GESTALTUNG DER ZWEIGABENDE
#TX
Es wird seit einiger Zeit innerhalb der Mitgliedschaft viel darüber verhandelt, ob in den Zweigversammlungen es Regel sein soll, die vorhandene anthroposophische Literatur durch Vorlesen und Besprechen zur allgemeinen Kenntnis innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft zu bringen, oder ob der freie Vortrag über dasjenige, was einzelne tätig sein wollende Mitglieder zu sagen haben, zu bevorzugen sei.
Wer sich auf die Bedingungen der anthroposophischen Arbeit besinnt, dem sollte ohne weiteres klar sein, daß nicht einseitig die eine oder die andere dieser Tätigkeitsrichtungen, sondern nach den vorhandenen
#SE260a-068
Möglichkeiten beide gepflegt werden müssen. In der anthroposophischen Literatur liegt dasjenige vor, was die Menschen in die Gesellschaft hereinführt. Sie ist dazu bestimmt, die Grundlage im Wirken der Gesell-schaft zu bilden. Sie wird, wenn sie durch die Zweigversammlungen zur Kenntnis der Mitglieder gebracht wird, den einheitlichen Zug bilden, den wir brauchen, wenn unsere Gesellschaft einen rechten Inhalt haben soll.
Man sollte nicht den Einwand machen: was gedruckt ist, kann ich ja zu Hause selber lesen; das braucht mir in den Zweigversammlungen nicht vorgeführt zu werden. Es ist in diesem Mitteilungsblatte schon auf das Irrtümliche dieser Meinung hingewiesen worden. Man sollte einen Sinn darinnen sehen, mit den in der Gesellschaft vereinigten Persönlichkeiten zusammen das anthroposophische Geistesgut an sich herankommen zu lassen. In diesem Gefühl, Zusammen Zu sein, und im Zusammensein das Geistige aufzunehmen, sollte man nicht ein Wesenloses sehen.
Auch ist es nötig, daß die tätig sein wollenden Mitglieder ein Interesse daran haben, die vorhandene Literatur allmählich wirklich zum geistigen Eigentum der Mitgliederschaft zu machen. Es geht nicht an, daß viele Mitglieder, die jahrelang in der Gesellschaft sind, in den Zweigversammlungen nichts zu hören bekommen über Dinge, von denen bestimmte Erkenntnisse in der vorhandenen Literatur vorliegen.
Auf der andern Seite ist zu sagen: es würde das Leben in der Gesellschaft ernsten Schaden leiden, wenn nicht möglichst viele tätige Mitglieder innerhalb derselben vorbringen würden, was sie aus Eigenem heraus zu sagen haben. Man kann doch dieses Tätigkeitsfeld ganz gut mit dem andern in harmonischen Einklang bringen. Man sollte doch bedenken, daß Anthroposophie nur das werden kann, was sie werden soll, wenn immer mehr Menschen an ihrer Ausbildung teilnehmen. Es sollte Freude darüber, nicht Ablehnung herrschen, wenn tatige Mitglieder in den Zweigversammlungen das zur Kenntnis bringen, was sie sich erarbeitet haben.
Wenn nun oft gesagt wird: das, was von mancher Persönlichkeit vorgebracht wird, sei nicht Anthroposophie, so kann ein solcher Aus-spruch gewiß in einzelnen Fällen seine Berechtigung haben. Aber wohin
#SE260a-069
kämen wir, wenn wir uns gegen die Wahrheit versündigten, daß in der Anthroposophischen Gesellschaft alles leben sollte, Was zum Geistesgute der Menschheit gehört. Das eine wird aus dem Grunde vorgebracht werden sollen, weil es die Grundlage zum Aufbau anthroposophischer Darstellung bilden kann. Das andere wird mitzuteilen sein, weil es von anthroposophischen Gesichtspunkten nachher zu beleuchten ist. Wenn nur der anthroposophische Grundcharakter in dem Wirken der Gesell-schaft gewahrt wird, so sollte dem, was die einzelnen tätigen Mitglieder bringen, nicht in engherziger Art eine Grenze gezogen werden.
Nicht in dem Ausschließen des einen oder des andern sollte gesucht Werden, was die Zweigversammlungen tun sollen, sondern in der harmonischen Vereinigung der Pflege der vorhandenen Literatur und dem vorbringen dessen, was die einzelnen tätigen Mitglieder von sich aus zu sagen haben.
Durch Mannigfaltigkeit, nicht durch Einförmigkeit des Wirkens werden wir die Ziele der Anthroposophischen Gesellschaft erreichen. Wir haben innerhalb der Gesellschaft soviele Mitglieder, die aus Eigenem zu geben haben daß wir über diese Tatsache herzlich froh sein können. Wir sollten uns nach dieser Richtung angewöhnen können, Anerkennung solchen Mitgliedern entgegenzubringen. Nur wenn die Leistungen innerhalb der Gesellschaft recht gewürdigt werden, kann wahres Leben in ihr sein. Engherzige Ablehnung sollte unter den Untugenden innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft die allerseltenste sein. Man sollte vielmehr einen Enthusiasmus dafür entwickeln, möglichst viel von dem kennen zu lernen, was der eine oder der andere in der Gemeinschaft der Anthroposophen zu sagen hat.
#SE260a-070
#TI
Nachrichtenblatt, 18. Mai 1924
An die Mitglieder!
DIE BILDNATUR DES MENSCHEN
#TX
Es kommt viel darauf an, daß durch die Anthroposophie begriffen werde, wie die Vorstellungen, die der Mensch im Anblicke der äußeren Natur gewinnt, vor der Menschenbetrachtung Halt machen müssen. Gegen diese Forderung sündigt die Denkungsart, die durch die geistige Entwickelung der letzten Jahrhunderte in die Menschengemüter eingezogen ist. Durch sie gewöhnt man sich, Naturgesetze ZU denken; und durch diese Naturgesetze erklärt man sich die Naturerscheinungen, die man mit den Sinnen wahrnimmt. Man sieht nun nach dem menschlichen Organismus hin und betrachtet auch diesen so, wie wenn seine Einrichtung begriffen werden könnte, wenn man die Naturgesetze auf ihn anwendet.
Das ist nun gerade so, als ob man das Bild, das ein Maler geschaffen hat, betrachtete nach der Substanz der Farben, nach der Kraft, mit der die Farben an der Leinwand haften, nach der Art, wie sich diese Farben auf die Leinwand streichen lassen, und nach ähnlichen Gesichtspunkten. Aber mit alledem trifft man nicht, was sich in dem Bilde offenbart. In dieser Offenbarung, die durch das Bild da ist, leben ganz andere Gesetzmäßigkeiten als diejenigen, die aus den angegebenen Gesichtspunkten gewonnen werden können.
Es kommt nun darauf an, sich darüber klar zu werden, daß sich auch in der menschlichen Wesenheit etwas offenbart, das von den Gesichtspunkten, von denen aus die Gesetze der äußeren Natur gewonnen werden, nicht zu ergreifen ist. Hat man diese Vorstellung in der rechten Art sich zu eigen gemacht, dann wird man in der Lage sein, den Menschen als Bild zu begreifen. Ein Mineral ist in diesem Sinne nicht Bild. Es offenbart nur dasjenige, was unmittelbar die Sinne wahrnehmen können.
Beim Bilde richtet sich die Anschauung gewissermaßen durch das sinnlich Angeschaute hinduroh auf einen Inhalt, der im Geiste erfaßt
#SE260a-071
wird. Und so ist es auch bei der Betrachtung des Menschenwesens. Erfaßt man dieses in rechter Art mit den Naturgesetzen, so fühlt man sich im Vorstellen dieser Naturgesetze nicht dem wirklichen Menschen nahe, sondern nur demjenigen, durch das sich dieser wirkliche Mensch offen-bart.
Man muß es im Geiste erleben, daß man mit den Naturgesetzen so vor dem Menschen steht, wie man vor einem Bilde stünde, wenn man nur wüßte, da ist Blau, da ist Rot, und man nicht imstande wäre, in einer inneren Seelentätigkeit das Blau und Rot auf etwas zu beziehen, das sich durch diese Farben offenbart.
Man muß eben eine andere Empfindung haben, wenn man mit den Naturgesetzen einem Mineralischen, und eine andere, wenn man dem Menschen gegenübersteht. Beim Mineralischen ist es für die geistige Auffassung so, als wenn man das Wahrgenommene unmittelbar er-tastete; beim Menschen ist es so, als ob man ihm mit den Naturgesetzen so ferne stünde, wie man einem Bilde ferne steht, das man nicht mit Seelenaugen anblickt, sondern nur betastet.
Hat man erst in der Anschauung des Menschen begriffen, daß dieser Bild von etwas ist, dann wird man in der rechten Seelenstimmung auch zu dem fortschreiten, was sich in diesem Bilde darstellt.
Und im Menschen offenbart sich die Bildnatur nicht auf eine eindeutige Weise. Ein Sinnesorgan ist in seinem Wesen am wenigsten Bild, am meisten eine Art Offenbarung seiner selbst wie das Mineral. Man kann gerade an die Sinnesorgane mit den Naturgesetzen am nächsten heran. Man betrachte nur die wundervolle Einrichtung des menschlichen Auges. Man erfaßt durch Naturgesetze annähernd diese Einrichtung. Und bei den andern Sinnesorganen ist es ähnlich, wenn auch die Sache nicht so offen zutage tritt wie beim Auge. Es kommt dies daher, daß die Sinnesorgane in ihrer Bildung eine gewisse Abgeschlossenheit zeigen. Sie sind als fertige Bildungen dem Organismus eingegliedert, und als solche vermitteln sie die Wahrnehmungen der Außenwelt.
So aber ist es nicht mit den rhythmischen Vorgängen, die sich im Organismus abspielen. Sie stellen sich nicht als etwas Fertiges dar. In ihnen vollzieht sich ein fortwährendes Entstehen und Vergehen des Organismus. Wären die Sinnesorgane so wie das rhythmische System,
#SE260a-072
so würde der Mensch die Außenwelt in der Art wahrnehmen, daß diese in einem fortwährenden Werden sidi befände.
Die Sinnesorgane stellen sich dar wie ein Bild, das an der Wand hängt. Das rhythmische System steht vor uns wie das Geschehen, das sich entfaltet, wenn Leinwand und Maler im Entstehen des Bildes von uns betrachtet werden. Das Bild ist noch nicht da; aber es ist immer mehr da. In dieser Betrachtung hat man es nur mit einem Entstehen zu tun. Was entstanden ist, bleibt zunächst bestehen. In der Betrachtung des menschlichen rhythmischen Systems schließt sich das Vergehen, der Abbau, sogleich an das Entstehen, an den Aufbau an. Im rhythmischen System offenbart sich ein werdendes Bild.
Die Tätigkeit, welche die Seele verrichtet, indem sie sich einem ihr Gegenüberstehenden wahrnehmend hingibt, das fertiges Bild ist, kann als Imagination bezeichnet werden. Das Erleben, das entfaltet werden muß, um ein werdendes Bild Zu erfassen, ist dem gegenüber Inspiration.
Noch anders liegt die Sache, wenn man das Stoffwechsel und das Bewegungssystern des menschlichen Organismus betrachtet. Da ist es, als ob man vor der noch ganz leeren Leinwand, den Farbentöpfen und dem noch nicht malenden Künstler stünde. Will man dem Stoffwechsel-und dem Gliedmaßensystem gegenüber zum Begreifen kommen, so muß man ein Wahrnehmen entwickeln, das mit dem Wahrnehmen dessen, was die Sinne erfassen, nicht mehr Zu tun hat als der Anblick von Farbentöpfen, leerer Leinwand und Maler mit dem, was später als Bild des Malers vor unsere Augen tritt. Und die Tätigkeit, in der die Seele rein geistig den Menschen aus dem Stoffwechsel und aus seinen Bewegungen heraus erlebt, ist so, wie wenn man im Anblicke vom Maler, leerer Leinwand und Farbentöpfen das später gemalte Bild erlebte. Dem Stoffwechsel- und Gliedmaßensystem gegenüber muß in der Seele die Intuition walten, wenn es zijm Begreifen kommen soll.
Es ist nötig, daß die tatig wirkenden Mitglieder der Anthroposophisehen Gesellschaft in solcher Art auf die Wesenheit hindeuten, die dem anthroposophischen Betrachten zugrunde liegt. Denn nicht nur soll eingesehen werden, was durch Anthroposophie an Erkenntnisihalt gewonnen wird, sondern auch, wie man zum Erleben dieses Erkenntnisinhaltes gelangt.
#SE260a-073
#TI
Nachrichtenblatt, 25. Mai 1924
An die Mitglieder!
ETWAS VON DER STIMMUNG,
DIE IN DEN ZWEIGVERSAMMLUNGEN SEIN SOLLTE
#TX
Die Betrachtungsart gegenüber dem Menschen, von der das letzte Mal hier gesprochen worden ist, führt zu einer sachgemäßen Anerkennung von der Wirksamkeit des Geistig-Seelischen in der physischen und ätherischen Menschenwesenheit. Hat man begriffen, daß das sinnen-fällig Anschauliche am Menschen Bild ist, so erfaßt man auch leicht, daß in dem Bilde anderes wirkt als dasjenige, was in ihm an Stoffartigem enthalten ist. Man wird sich aber auch mit einer ganz anderen Seelen-Einstellung dem gegenüber verhalten, dessen Bildwesenheit man anerkennt, als einem solchen gegenüber, das man nur in seiner eigenen stoffartigen Beschaffenheit ins Auge faßt.
Und in dieser anderen Seelen-Einstellung liegt etwas Aufweckendes. Empfindet man ganz lebhaft, wie man sich in einer solchen Einstellung innerlich verhält, wie man gestimmt ist, so fühlt man das Aufwachen von Seelenkräften, die im gewöhnlichen Leben schlummern. Und darauf kommt viel an, daß derjenige, der Anthroposophie aufnimmt, an diesem Aufnehmen schon empfindet: in der Menschenseele schlummern noch andere Erkenntuiskräfte, als die sind, die er vor seinem Heran-treten an die Anthroposophie anerkannt hat.
Weiß man, man hat ein Bild vor sich, so stellt man das Erkennen auf das Nicht-Sinnenfällige ein. Man wird dadurch von diesem NichtSinnenfälligen ergriffen, wie man im Wahruehmungsleben von dem Sinnenfälligen ergriffen wird.
Wenn die vortragend tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in den Zweigversammlungen die Aufmerksamkeit für solche Dinge wachrufen, so wird dadurch zu dem anthroposophischen Lehren anthroposophische Stimmung kommen.
Und diese sachgemäß hervorgerufene Stimmung wird erst den Zweigversammlungen den Geist geben, der in ihnen walten soll. Der Teilnehmer wird dann fühlen, daß Anthroposophie nicht bloß eine
#SE260a-074
theoretische Mitteilung über das Geistige enthält, sondern daß sie ein in sich Kraftvolles, Wesenhaftes ist, das zum Erleben des Geistigen hinüberführt.
In jeder sachgemäßen Art sollte von den tätigen Mitgliedern bedacht werden, wie dieses Erleben des Geistigen in der anthroposophischen Arbeit erreicht werden kann.
Denn nur auf diese Art kann in denen, die Anthroposophie aufnehmen, ohne selbst im Geistigen forschen zu können, das Gefühl überwunden werden, daß sie nur theoretisch sich mitteilen lassen, was andere, die es zum Forschen gebracht haben, erleben. In der rechten Mitteilung des im Geiste Erlebten liegt ein Mit-Erleben-Lassen des Mitgeteilten.
Herrscht dieser Geist des Mit-Erleben-Lassens in den Zweigversammlungen, so vertreibt er alles auf unberechtigtes Autoritätsgefühl gebaute Wesen. Die Gegner der Anthroposophie wenden gegen diese fortwährend ein, daß sich die Anthroposophen zu dem, was ihnen mitgeteilt wird, nur auf dieses Autoritätsgefühl hin bekennen. Wenn in der Gesellschaft Anthroposophie im rechten Geiste getrieben wird, so verliert diese Einwendung jeden Sinn. Denn die Teilnehmer an unsern Versammlungen fühlen dann gar nicht so, daß sie sagen können, sie erkennen dieses oder jenes an, weil dieser oder jener es gesagt hat; denn sie lernen wissen, daß in dem eigenen Innern die Zustimmung nicht erzwungen wird, sondern daß sich diese im selbstverständlichen Erleben einstellt.
Man erlebt doch auch, wenn man einem gutgesinnten Menschen gegenübertritt, dessen innere Gütigkeit nicht deshalb, weil eine Autorität dazu anleitet, die Gütigkeit als wohltuend zu empfinden, sondern weil sich die Seele unmittelbar von der gütigen Art wohltuend berührt fühlt. So kann man die Wahrheit der Anthroposophie an der Art ihres Mitteilens, an ihrem eigenen Wesen gewahr werden.
Daß die Anthroposophie so wirken kann, dazu sollten die Zweig-leiter das Notwendige tun. Nicht durch die Hervorrufung des Gefühles:
da werden Dinge vorgebracht, die geheimnisvoll sind, soll der esoterische Charakter der anthroposophischen Versammlungen bedingt sein. Esoterik beruht auf dem charakterisierten Verinnerlichen in der Mitteilung
#SE260a-075
von Wahrheiten. Man sollte in dieser Verinnerlichung etwas von dem Impuls sehen, den die Weihnachtstagung in die Anthroposophische Gesellschaft hat bringen wollen. In dem unaufhörlichen WachErhalten dieser Absicht und dieses Wollens von der Weihnachtstagung her wird der Segen liegen können, den diese Tagung gehabt hat und den sie weiter wird über die anthroposophische Bewegung ausgießen können.
#TI
Nachrichtenblatt, I. Juni 1924
An die Mitglieder!
NOCH ETWAS VON DER DEN ZWEIGVERSAMMLUNGEN
NOTWENDIGEN STIMMUNG
#TX
Anthroposophische Betrachtungen sollten nicht zu einer Unterschätzung des äußeren Lebens führen. Es wird ja bei vielen Menschen so sein, daß entweder schwere Schicksalsschläge oder die Wahrnehmung der Widersprüche im äußeren Leben diejenige Vertiefung des Empfindens hervorruft, welche sich in dem Hinneigen zu einer geistgemäßen Auffassung des Daseins ausdrückt.
Aber wie die physische Wesenheit des Menschen des Schlafes bedarf, um im Wachen tüchtig zu sein, so hat ein richtiges Drinnenstehen in der geistigen Welt den Sinn für das physische Erleben nötig, um Festigkeit und Sicherheit der Seele zu entwickeln. - Denn die Erfüllung des menschlichen Inneren mit Erkenntnissen vom Geistigen ist ein Aufwachen aus dem Leben in der sinnenfälligen Wirklichkeit und aus den Impulsen, die der Wille aus dieser Wirklichkeit schöpfen kann.
Deshalb sollten die in der Anthroposophischen Gesellschaft tätig wirkenden Mitglieder stets darauf bedacht sein, daß solchen Persönlichkeiten, die aus einer Unterschätzung des äußeren Lebens das innere zu ergreifen suchen, die Kraft dieses Inneren zwar in aller nur möglichen Stärke gegeben werde, daß aber mit diesem ihnen die Schätzung des Äußeren und die Tüchtigkeit für dieses erstehe.
Man sollte stets bedenken, daß das menschliche Erdenleben innerhalb
#SE260a-076
des Gesamtdaseins des Menschen, das durdi Geburten und Tode geht, eine Bedeutung hat. In diesssn Erdenleben ist der Menschengeist in dem materiellen Sein verkörpert. Er ist an dieses materielle Sein hingegeben. Was er in dieser Hingebung erleben kann, das kann ihm in keiner Daseinsform zukommen, in der er als Geist im Geistigen sich selbst gegeben ist.
Das Leben im materiellen Dasein ist für den Menschen diejenige Daseinsstufe, auf der er das Geistige außerhalb von dessen Wirklichkeit im Bilde wahrnehmen kann. Und ein Wesen, das den Geist nicht auch im Bilde erlebt, kann kein freies, aus der eigenen Wesenheit entspringendes Hinneigen zum Geiste entfalten. Auch diejenigen Wesenheiten, die sich nicht nach Menschenart im materiellen Dasein verkörpern, machen Lebensstufen durch, in denen sie ihr eigenes Wesen an ein anderes Daseins-Element hinzugeben haben.
In dieser Hingabe liegt die Grundlage für die Entwickelung des Liebes-Impulses im Leben. Ein Wesen, das niemals in eine Entfremdung von dem eigenen Selbdst eingeht, kann nicht diejenige Hinneigung zu einem andern in sich erbilden, die sich in der Liebe offenbart. Und das Erfassen des Geistigen durch den Menschen kann leicht in Lieblosigkeit verhärten, wenn es in Einseitigkeit mit einer Verachtung des in der äußeren Welt sich Offenbarenden sich verbindet.
Wahre Anthroposophie sucht nicht den Geist, weil sie die Natur geistlos findet und deshalb der Verachtung wert, sondern deshalb, weil sie :n der Natur den Geist suchen will und ihn nur auf anthroposophische Art darinnen finden kann.
Wenn eine in dieser Richtung wirkende Gesinnung dasjenige durch-waltet, was in unseren Zweigversammlungen getan wird, so werden diese den Mitgliedern ein Erleben bringen, das mit den Anforderungen, die des Menschen Gesamtdasein an diesen stellt, im Einklange sich befindet. Und die Weltfremdheit, die so leicht wie eine ungesunde Atrnosphäre anthroposophischer Arbeit sich ergeben kann, wird vertrieben werden.
Auch dieses gehört zu den Elementen, die die rechte Stimmung in der Arbeit unserer Gesellschaft bewirken sollen. Die Mitglieder werden ihre Besuche in den Zweigversammlungen nicht in der wünschenswerten
#SE260a-077
Art verbracht haben, wenn sich ihnen ein Abgrund auftut zwischen dem, was sie durch Anthroposophie vernehmen und dem, was sie im äußeren Leben erfahren müssen. Der Geist, der in den Zweigversammlungen waltet, muß zum Lichte werden, das fortleuchtet, wenn das Mitglied den äußeren Anforderungen des Tages hingegeben ist. Waltet solcher Geist nicht, so wird das Mitglied durch Anthroposophie für das Leben, das doch seine Rechte hat, nicht tüchtiger, sondern untüchtiger. Dann aber wären manche Vorwürfe, die von Außenstehenden der Anthroposophischen Gesellschaft gemacht werden, berechtigt. Und die Anthroposophische GeseIlsdiaft würde Anthroposophie nicht fördern, sondern schädigen.
#TI
Nachrichtenblatt, 6. Juli 1914
An die Mitglieder!
NOCH ETWAS ÜBER
DIE AUSWIRKUNGEN DER WEIHNACHTSTAGUNG
#TX
Zu den Auswirkungen der weihnachtstagung sollte auch gehören, daß durch die tätig sein wollenden Mitglieder immer klarer vor die Welt hingestellt würde, was Anthroposophie ihrem Wesen nach ist und nicht ist. Solange immer noch die Meinung diskutiert werden kann: Sollte man nicht das oder jenes auf anthroposophischem Boden Gewonnene da oder dort «einfließen» lassen, ohne die Leute dadurch abzuschrecken, daß man ihnen sagt, das sei Anthroposophie, solange wird innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft vieles nicht in Ordnung kommen.
Nun handelt es sich darum, nach dieser Richtung wirklich nach Klarheit zu streben. Es ist ein Unterschied zwischen dem sektiererischen Eintreten für irgend etwas, das man sich als dogmatische Anthroposophie zurechtgelegt hat, und dem geradsinnigen, offenen, unversteckten und unverbrämten Eintreten für dasjenige, was durch Anthroposophie an Erkenntnis über die geistige Welt so zutage tritt, daß der Mensch ein menschenwürdiges Verhä ltnis zu dieser Welt gewinnen kann.
In der letzteren Art restlos das Arbeiten für Anthroposophie aufzufassen,
#SE260a-078
ist die Aufgabe des Vorstandes am Goetheanum; und dieser wird von den tätig sein wollenden Mitgliedern in dieser seiner besonderen Eigenart auch recht verstanden werden müssen. Durch die Weihnachtstagung soll bewirkt werden, daß Anthroposophie und Anthroposophische Gesellschaft immer mehr zusammenwachsen. Das kann nicht geschehen, wenn die Saat weiter blüht, die dadurch ausgestreut worden ist. daß man immer wieder zwischen «Rechtgläubigkeit» und «Ketzerei» innerhalb des Kreises derer unterschied, die sich in der Anthroposophischen Gesellschaft Zusammengefunden haben.
Man muß vor allem wissen, was in dieser Richtung Anthroposophie als geistige Haltung möglich macht. Sie besteht nicht in einer Summe von Meinungen, welche die «Anthroposophen» haben müssen. Es sollte unter den Anthroposophen gar nicht das Wort aufkommen: «Wir glauben dies; wir weisen jenes zurück.» So etwas kann sich als die naturgemäße Folge des anthroposophischen Wirkens ,ergeben; als Programm darf es nirgends zur Geltung gebracht werden. Es kann nur das Urteil geben: «Anthroposophie ist da; sie ist erarbeitet worden; ich trete dafür ein, daß in der Welt das Erarbeitete bekannt werde.» Daß ein Unterschied wie zwischen Tag und Nacht zwischen den beiden hier angeführten Urteilen besteht, das wird in Anthroposophenkrejsen noch viel zu wenig empfunden. Sonst könnte man nicht immer wieder sogar den grotesken Ausspruch hören: «Die Anthroposophische Gesellschaft glaubt dies oder jenes.» Ein solcher Ausspruch hat in Wirklichkeit gar keinen Inhalt. Daß man dieses empfinde, darauf kommt es an.
Wollte man etwa herumfragen, um über Anthroposophie klar zu werden: was für eine Meinung oder Lebenshaltung hat der oder jener, der in der Anthroposophischen Gesellschaft als Mitglied eingeschrieben ist, so würde man einen ganz falschen Weg einschlagen, um zu dem Wesen der Anthroposophie zu kommen. Dennoch wirken viele tätig sein wollende Mitglieder so, daß diese Frage immer wieder auftauchen muß. Es sollte aber nur die Meinung entstehen: Da gibt es in der Welt Anthroposophie; die Anthroposophische Gesellschaft gibt Gelegenheit, sie kennen zu lernen.
Jeder, der neu in diese Gesellschaft eintritt, sollte das Gefühl haben: ich trete ein, lediglich um Anthroposophie kennen zu lernen. Daß solch
#SE260a-079
ein Gefühl in rechter Art entstehe, kann durch die Haltung der tätig sein wollenden Mitglieder bewirkt werden. Heute aber wird vielfach etwas ganz anderes bewirkt. Die Leute haben Angst davor, der Gesellschaft beizutreten, weil sie aus der Haltung tätig sein wollender Mitglieder den Eindruck empfangen: sie müßten sich mit dem innersten Wesen ihrer Seele gewissen Dogmen verschreiben. Davor schrecken sie natürlich zurück.
Es muß der gute Wille dazu da sein, diesen Eindruck immer mehr zum Verlöschen zu bringen. Viele tätig sein wollende Mitglieder meinen, ja, wenn man die Leute bloß deshalb aufnimmt, damit sie in der Gesellschaft die Anthroposophie kennen lernen, dann treten sie eben wieder aus, wenn sie dieses Kennen-Lernen besorgt haben. Und wir haben nie eine in sich geschlossene Gesellschaft.
So kann es aber nicht kommen, wenn die Anthroposophische Gesellschaft von ihren tätig sein wollenden Mitgliedern in der rechten Art aufgefaßt wird. Es wird aber immer so kommen, wenn man die Zugehörigkeit zur Gesellschaft von dem Bekenntnis zu dem auch nur kleinsten Dogma abhängig machen will. Und ein Dogma ist auch jeglicher Programmpunkt.
Wenn aber die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft daraufhin orientiert sind, die Anthroposophie durch die Mitgliedschaft kennen zu lernen, dann wird es von etwas ganz anderem abhängen, ob sie drinnen bleiben oder nicht. Dann wird dies nämlich davon abhängen, ob sie Hoffnungen haben können, in der Gesellschaft immer weiter etwas kennen lernen zu können.
Das aber wieder wird darauf zurückgehen, ob der Kern der Gesellschaft wirklich lebt oder ob er tot ist; und ob im Umkreis der Gesellschaft die Bedingungen dazu vorhanden sind, daß der lebendige Kern nicht ersterbe, wenn er in die Gesellschaft hineinwachsen will. Daß der Kern lebendig sei, das ist die Sorge des Vorstandes am Goetheanum. Der verwaltet nicht Dogmen; er fühlt sich nur als Träger eines Geistesgutes, dessen Wert ihm bekannt ist; und er arbeitet an der Verbreitung dieses Geistesgutes. Er ist über jeden Menschen befriedigt, der da kommt und sagt: ich will Anteil nehmen an dem, was ihr da macht. Das ergibt die lebendige Gestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft. Und diese
#SE260a-080
wird lebendig erhalten, wenn sich alle tätig sein wollenden Mitglieder der Gesinnung und Wirkensweise nach einig halten tnit dem Vorstande am Goetheanum.
Alles, was man «Vertrauen» innerhalb der Gesellschaft zu nennen berechtigt ist, kann nur auf einer solchen Grundlage erwachsen. Ist diese Grundlage vorhanden, dann wird es nicht immer wieder vor-kommen, daß die Anthroposophische Gesellschaft vor der Welt als etwas ganz anderes erscheint, als sie ist.
Ich kenne nun die Urteile ganz gut, die bei vielen tätig sein wollenden Mitgliedern der Gesellschaft aufkommen, wenn sie das Vorangehende lesen. Sie werden sagen: Das können wir nicht verstehen; jetzt wissen wir erst recht nicht, was da eigentlich gewollt wird. Aber gerade dies ist das schlimmste Vorurteil. Man lese nur einmal die Sache genau; und man wird sie nicht unbestimmt und vieldeutig finden, sondern nur so, daß, um sie in die Gesinnung aufzunehmen, ein gewisses Zartgefühl im Verstehen gehört. Aber dieses sollte doch da sein bei denjenigen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft tätig sein wollen.
#TI
Nachrichtenblatt 13. Juli 1914
An die Mitglieder!
ETWAS VOM GEIST-VERSTEHEN UND
SCHICKSALS-ERLEBEN
#TX
In die Mitteilungen und Betrachtungen, die an dieser Stelle an die Mitglieder gerichtet werden, soll diesmal einiges einfließen, das geeignet sein kann, den Gedanken über die Leitsätze eine weitere Richtung zu geben.
Das Verständnis des anthroposophischen Erkennens kann gefördert werden, wenn die menschliche Seele immer wieder auf das Verhältnis von Mensch und Welt hingelenkt wird.
Richtet der Mensch die Aufmerksamkeit auf die Welt, in die er hineingeboren wird und aus der er herausstirbt, so bat er Zunächst die
#SE260a-081
Fülle seiner Sinneseindrücke um sich. Er macht sich Gedanken über diese Sinneseindrücke.
Indem er dieses sich zum Bewußtsein bringt: «Ich mache mir Gedanken über das, was mir meine Sinne als Welt offenbaren», kann er schon mit der Selbstbetrachtung einsetzen. Er kann sich sagen: in meinen Gedanken lebe «Ich». Die Welt gibt mir Veranlassung, in Gedanken mich zu erleben. Ich finde mich in meinen Gedanken, indem ich die Welt betrachte.
So fortfahrend im Nachsinnen verliert der Mensch die Welt aus dem Bewußtsein; und das Ich tritt in dieses ein. Er hört auf, die Welt vor-zustellen; er fängt an, das Selbst zu erleben.
Wird umgekehrt die Aufmerksarnkeit auf das Innere gerichtet, in dem die Welt sich spiegelt, so tauchen im Bewußtsein die Lebensschicksalsereignisse auf, in denen das menschliche Selbst von dem Zeitpunkte an, bis zu dem man sich zurückerinnert, dahingeflossen ist. Man erlebt das eigene Dasein in der Folge dieser Schicksals-Erlebrisse.
Indem man sich dieses zum Bewußtsein bringt: «Ich habe mit meinem Selbst ein Schicksal erlebt», kann man mit der Weltbetrachtung einsetzen. Man kann sich sagen: In meinem Schicksal war ich nicht allein; da hat die Welt in mein Erleben eingegriffen. Ich habe dieses oder jenes gewollt; in mein Wollen ist die Welt hereingeflutet. Ich finde die Welt in meinem Wollen, indem ich dieses Wollen selbstbetrachtend erlebe.
So fortfahrend, sich in das eigene Selbst einlebend, verliert der Mensch das Selbst aus dem Bewußtsein; die Welt tritt in dieses ein. Er hört auf, das Selbst zu erleben; er fängt an, die Welt im Erfühlen gewahr zu werden.
Ich denke hinaus in die Welt; da finde ich mich; ich versenke mich in mich selbst, da finde ich die Welt. Wenn der Mensch dieses stark genug empfindet, steht er in den Welt- und Menschenrätseln drinnen. .
Denn fühlen: man müht sich im Denken ab, um die Welt zu ergreifen, und man steckt in diesem Denken doch nur selbst darinnen, das gibt das erste Welträtsel auf.
Vom Schicksal in seinem Selbst sich geformt fühlen und in diesem Formen das Fluten des Weitgeschehens empfinden; das drängt zum zweiten Welträtsel hin.
#SE260a-082
In dem Erleben dieses Welt- und Menschenrätseis erkeimt die Seelen-verfassung, in der der Mensch der Anthroposophie So begegnen kann, daß er in seinem Innern von ihr einen Eindruck erhält, der seine Aufmerksamkeit erregt.
Denn Anthroposophie macht nun dieses geltend: Es gibt ein geistiges Erleben, das nicht im Denken die Welt verliert. Man kann audi im Denken noch leben. Sie gibt im Meditieren ein inneres Erleben an, in dem man nicht denkend die Sinneswelt verliert, sondern die Geistwelt gewinnt. Statt in das Ich einzudringen, in dem man die Sinnen-Welt versinken fühlt. dringt man in die Geist-Welt ein, in der man das Ich erfestigt fühlt.
Anthroposophie Zeigt im weiteren: Es gibt ein Erleben des Schicksals, in dem man nicht das Selbst verliert. Man kann auch im Schicksal noch sich selbst als wirksam erleben. Sie gibt in dem unegnistischen Betrachten des Menschenschicksals ein Erleben an, in dem man nicht nur das eigene Dasein, sondern die Welt lieben lernt. Statt in die Welt hineinzustarren, die in Glück und Unglück das Ich auf ihren Wellen trägt, findet man das Ich, das wollend das eigene Schicksal gestaltet. Statt an die Welt zu stoßen, an der das Ich zerschellt, dringt man in das Selbst ein, das sich mit dem Weltgeschehen verbunden fühlt.
Das Schicksal des Menschen wird ihm von der Welt bereitet, die ihm seine Sinne offenbaren. Findet er die eigene Wirksamkeit in dem Schicksalswalten, so steigt ihm sein Selbst wesenhaft nicht nur aus dem eigenen Innern, sondern es steigt ihm aus der Sinneswelt auf.
Kann man auch nur leise empfinden, wie im Selbst die Welt als Geistiges erscheint und wie in der Sinneswelt das Selbst sich als wirksam erweist, so ist man schon im sicheren Verstehen der Anthroposophie darinnen.
Denn man wird dann einen Sinn dafür entwickeln, daß in der Anthroposophie die Geist-Welt beschrieben werden darf, die vom Selbst erfaßt wird. Und dieser Sinn wird auch Verständnis dafür entwickeln, daß in der Sinneswelt das Selbst auch noch anders als durch Versenken in das Innere gefunden werden kann. Anthroposophie findet das Selbst, indem sie zeigt, wie aus der Sinnesweit für den Menschen nicht nur sinnliche Wahrnehmungen sich offenbaren, sondern auch die Nachwirkungen
#SE260a-083
aus seinem vorirdischen Dasein und aus den vorigen Erdenleben. Der Mensch kann nun in die Welt der Sinne hinausblicken und sagen:
da ist ja nicht nur Farbe, Ton, Wärme; da wirken auch die Erlebnisse der Seelen, die diese Seelen vor ihrem gegenwärtigen Erdendasein durchgemacht haben. Und er kann in sich hineinblicken und sagen: da ist nicht nur mein Ich, da offenbart sich eine geistige Welt.
In einem solchen Verständnisse kann der von den Welt- und Men-schenrätseln berührte Mensch sich mit dem Eingeweiliten züsammenfinden, der, nach seinen Einsichten, von der äußeren Sinneswelt so reden muß, als ob aus derselben nicht nur sinnliche Wahrnehmungen sich kundgäben, sondern die Eindrücke von dem, was Menschenseelen im vorirdischen Dasein und in verflossenen Erdenleben gewirkt haben; und der von der inneren Selbst-Welt aussagen muß, daß sie Geist-zusammenhänge offenbart, so eindrucks- und wirkungsvoll, wie die Wahrnehmungen der Sinneswelt sind.
Bewußt sollten sich die tätig sein wollenden Mitglieder zu Vermittlern dessen machen, was die fragende Menschenseele als Welt- und Menschenrätsel fühlt, mit dem, was die Eingeweihten-Erkenntnis zu sagen hat, wenn sie aus Menschen-Schicksalen eine vergangene Welt heraufholt, und wenn sie aus seelischer Erkraftung die Wahrnehmung einer Geist-Welt erschließt.
So kann im Arbeiten der tätig sein wollenden Mitglieder die Anthroposophische Gesellschaft zu einer echten Vorschule der Eingeweihten-Schule werden. Auf dieses wollte die Weihnachtstagung kräftig hinweisen; und wer diese Tagung richtig versteht, wird mit diesem Hinweisen fortfahren, bis ein genügendes Verständnis dafür der Gesellschaft wieder neue Aufgaben bringen kann.
#SE260a-084
#TI
Nachrichtenblatt, 10. August 1924
An die Mitglieder!
WIE DIE LEITSÄTZE ANZUWENDEN SIND
#TX
In den Leitsätzen, die vom Goetheanum ausgegeben werden, soll die Anregung für die tätig sein wollenden Mitglieder gegeben sein, den Inhalt des anthroposophischen Wirkens einheitlich zu gestalten. Man wird finden, wenn man an diese Sätze jede Woche herantritt, daß sie eine Anleitung dazu geben, sich in den vorhandenen Stoff der Zyklen zu vertiefen und diesen in einer gewissen Anordnung in den Zweigversammlungen vorzubringen.
Es wäre ja gewiß wünschenswerter, wenn jede Woche sogleich die Vorträge, die in Dornach gehalten werden, in allen Richtungen an die einzelnen Zweige gebracht werden könnten. Allein man sollte auch bedenken, welch komplizierte technische Einrichtungen dazu nötig sind. Es wird gewiß von Seite des Vorstandes am Goetheanum nach dieser Richtung alles Mögliche angestrebt und noch getan werden. Aber man muß mit den vorhandenen Möglichkeiten rechnen. Die Absichten, die auf der Weihnachtstagung geäußert worden sind, werden verwirklicht werden. Aber wir brauchen Zeit.
Vorläufig sind diejenigen Zweige im Vorteil, welche Mitglieder in sich haben, die das Goetheanum besuchen, da die Vorträge hören und deren Inhalt in den Zweigversammlungen vorbringen können. Und es sollte von den Zweigen erkannt werden, daß die Entsendung solcher Mitglieder an das Goetheanum eine Wohltat ist. Aber man sollte auch nicht die Arbeit, die in der Anthroposophischen Gesellschaft schon geleistet ist und die in den gedruckten Zyklen und Vorträgen vorliegt, allzu sehr unterschätzen. Wer diese Zyklen vornimmt, sich nach den Titeln erinnert, welcher Stoff in diesem oder jenem enthalten ist, und dann an die Leitsätze herantritt, der wird finden, daß er in dem einen Zyklus das eine und in dem anderen ein anderes findet, das den Leitsatz weiter ausführt. Aus dem Zusammenlesen dessen, was in den einzelnen Zyklen getrennt steht, können die Gesichtspunkte gefunden werden,
#SE260a-085
von denen aus in Anlehnung an die Leitsätze gesprochen werden kann.
Wir wirken in der Anthroposophischen Gesellschaft wie rechte Ver-schwender, wenn wir die gedruckten Zyklen ganz unbenützt lassen und immer nur «das Neueste» vom Goetheanum empfangen wollen. Es ist doch auch leicht begreiflich, daß allmählich jede Möglichkeit, die Zyklen zu drucken, aufhören müßte, wenn diese nicht ausgiebig benützt würden.
Es kommt noch ein anderer Gesichtspunkt in Frage. Bei der Verbreitung des Inhaltes der Anthroposophie ist Gewissenhaftigkeit und Verantwortlichkeitsgefühl in allererster Linie notwendig. Man muß das, was über die geistige Welt gesagt wird, in eine Form bringen, daß die Bilder der geistigen Tatsachen und Wesenheiten, die gegeben werden, nicht Mißverständnissen ausgesetzt werden. Wer am Goetheanum einen Vortrag hört, kann einen unmittelbaren Eindruck haben. Wenn er dessen Inhalt wiedergibt, so kann bei ihm dieser Eindruck nachklingen, und er ist imstande, die Dinge so zu formulieren, daß sie richtig verstanden werden können. Wird aber ein Zweiter, Dritter der Vermittler, so wird die Wahrscheinlichkeit immer größer, daß sich Ungenauigkeiten einschleichen. Alle diese Dinge sollten bedacht werden.
Und ein weiterer Gesichtspunkt ist ja wohl der allerwichtigste. Es handelt sich ja nicht darum, daß der anthroposophische Inhalt nur äußerlich angehört oder gelesen werde, sondern daß er in das lebendige Seelenwesen aufgenommen werde. Im Fortdenken und Fortfühlen des Aufgenommenen liegt ein Wesentliches. Das aber soll mit Bezug auf die schon vorliegenden gedruckten Zyklen gerade durch die Leitsätze angeregt werden. Wird dieser Gesichtspunkt zu wenig berücksichtigt, so wird es fortdauernd daran fehlen, daß das Wesen der Anthropo-sophie durch die Anthroposophische Gesellschaft sich offenbaren könne. Man sagt nur mit scheinbarem Recht: was nützt es mir, noch soviel von geistigen Welten zu hören, wenn ich nicht selbst in solche Welten hineinschauen kann. Man berücksichtigt dabei nicht, daß dieses Hinein-schauen gefördert wird, wenn über die Verarbeitung des anthroposophischen Inhaltes so gedacht wird, wie es hier angedeutet ist. Die Vorträge am Goetheanum sind so gehalten, daß ihr Inhalt lebendig und frei in den Gemütern der Zuhörer fortwirken kann. Und so ist
#SE260a-086
auch der Inhalt der Zyklen. Da ist keiri totes Material zur bloßeti äußeren Mitteilung; da ist Stoff, der unter verschiedene Gesichtspunkte gerückt das Schauen in geistige Welten anregt. Man sollte nicht glauben:
den Inhalt der Vorträge höre ich an; die Erkenntnis der geistigen Welt eigne ich mir durch Meditation an. so wird man nie im wahren Sinne weiterkommen. Beides muß in der Seele zusammenwirken. Und das Forsdenken und Fortfühlen des anthroposophischen Inhaltes ist auch Seelenübung. Man lebt sich in die geistige Welt schauend hinein, wenn man so, wie es hier gesagt ist, mit diesem Inhalt verfährt.
Es wird eben doch in der Anthroposophischen Gesellschaft viel zu wenig darauf gesehen, daß Anthroposophie nicht graue Theorie, sondern wahres Leben sein soll. Wahres Leben, das ist ihr Wesen; und wird sie zur grauen Theorie gemacht, dann ist sie oft gar nicht eine bessere, sondern eine schlechtere Theorie als andere. Aber sie wird eben erst Theorie, wenn man sie dazu macht, wenn man sie tötet. Das wird noch viel zu wenig gesehen, daß Anthroposophie nicht nur eine andere Weltanschauung ist als andere, sondern daß sie auch anders aufgenom-men werden muß. Man erkennt und erlebt ihr Wesen erst in dieser anderen Art des Aufnehmens.
Das Goetheanum sollte als der notwendige Mittelpunkt des anthroposophischen Arbeitens und Wirkens angesehen werden; aber man sollte nicht aus dem Auge verlieren, daß in den Zweigen der anthro-posophische Stoff, der erarbeitet worden ist, auch zur Geltung komme. Was am Geetheanum gewirkt wird, das kann im vollen lebendigen Sinne die ganze Anthroposophische Gesellschaft nach und nach haben, wenn möglichst viele Mitglieder aus dem Leben der Zweige heraus an das Goetheanum selbst herankommen und, soviel ihnen möglich ist, an seinem lebendigen Wirken teilnehmen. Das alles aber muß mit Innerlichkeit gestaltet werden; mit dem äußerlichen «Mitteilen» des Inhaltes von jeder Woche geht es nicht. Der Vorstand am Goetheanum wird Zeit brauchen und bei den Mitgliedern Verständnis finden müssen. Dann wird er im Sinne der Weihnachtstagung wirken können.
Die Konstitution der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft Ihre Gliederung in Sektionen
#G260a-1987-SE090 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
II
Die Konstitution
der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft
Ihre Gliederung in Sektionen
Zu den Veröffentlichungen
aus dem Vortragswerk von Rudo(f Steiner
#TX
Die Grundlage der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft bilden die von Rudolf Steiner (1861 - 1925) geschriebenen und veröffentlichten Werke. Daneben hielt er in den Jahren 1900 bis 1924 zahlreiche Vorträge und Kurse, sowohl öffentlich wie auch für die Mitgheder der Theosophischen, später Anthroposophischen Gesellschaft. Er selbst wollte ursprünglich, daß seine durchwegs frei gehaltenen Vorträge nicht schriftlich festgehalten wurden, da sie als «mündliche, nicht zum Druck bestimmte Mitteilungen» gedacht waren. Nachdem aber zunehmend unvollständige und fehlerhafte Hörernachschriften angefertigt und verbreitet wurden, sah er sich veranlaßt, das Nachschreiben zu regeln Mit dieser Aufgabe betraute er Marie Steiner-von Sivers. Ihr oblag die Bestimmung der Stenographierenden, die Verwaltung der Nachschriften und die für die Herausgabe notwendige Durchsicht der Texte. Da Rudolf Steiner aus Zeitmangel nur in ganz wenigen Fällen die Nachschriften selbst korrigieren konnte, muß gegenüber allen Vortragsveröffentlichungen sein Vorbehalt berücksichtigt werden: «Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet.»
Über das Verhältnis der Mitgliedervorträge, welche zunächst nur als interne Manuskriptdrucke zugänglich waren, zu seinen öffentlichen Schriften äußert sich Rudolf Steiner in seiner Selbstbiographie «Mein Lebensgang» (35. Kapitel). Der entsprechende Wortlaut ist am Schluß dieses Bandes wiedergegeben. Das dort Gesagte gilt gleicher-maßen auch für die Kurse zu einzelnen Fachgebieten, welche sich an einen begrenzten, mit den Grundlagen der Geisteswissenschaft vertrauten Teilnehmerkreis richteten.
Nach dem Tode von Marie Steiner (1867 - 1948) wurde gemäß ihren Richtlinien mit der Herausgabe einer Rudolf Steiner Gesamtausgabe begonnen. Der vorliegende Band bildet einen Bestandteil dieser Gesamtausgabe. Soweit erforderlich, finden sich nähere Angaben zu den Textunterlagen am Beginn der Hinweise.
#SE260a-089
#TI
VORBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS
#TX
Die Aufgabe, die Rudolf Steiner sich selbst stellte bei der Übernahme des Generalsekretariats der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, charakterisierte er im Brief an Wilhelm Hübbe-Schleiden vom 16. August 1902 mit den Worten:
«Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, auf die Bahn der Entwickelung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen Deshalb möchte ich in allem positiv sein.»
Für diese Aufgabe entstand im Zusammenhang mit der Deutschen Sektion eine eigene Jnstitution, die sogenannte Esoterische Schule. Mit deren Aufbau begann Rudolf Steiner nach seinem Aufenthalt in London, Mitte Mai 1904, bei welchem er von Annie Besant als Leiterin dieser von H.P. Blavatsky gegründeten Esoterischen Schule autorisiert wurde, innerhalb Deutschlands, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz selbständig wirken zu können. Er hatte jedoch schon vor Einrichtung dieser Esoterischen Schule einzelnen, die ihn darum baten, Ratschläge für ihre innere Entwicklung gegeben, was verschiedene Briefe aus dieser Zeit bezeugen.
Diese Esoterische Schule Rudolf Steiners bestand von 1904 bis 1914. Bis Mai 1907 war sie äuß . . Teil der von Annie Besant geführten Esoterischen Schule, bis beim Münchner Kongreß - Pfingsten 1907 - auf Grund persönlicher Übereinkunft mit Annie Besant dieser Zusammenhang gelöst wurde. Annie Besant schrieb darüber am 7. Juni 1907 an Wilhelm Hübbe-Schleiden: «Dr. Steiners okkulte Schulung ist von der unsrigen sehr verschieden.. . Er lehrt den christlich-rosenkreuzerischen Weg, der für manche Menschen eine Hilfe, aber von unserem verschieden ist. Er hat seine eigene Schule und trägt auch selbst die Verantwortung dafür.» Mit Ausbruch des ersten Weltkrieges im Sommer 1914 wollte Dr. Steiner die Schule nicht mehr weiterführen.
Erst mit der Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft als Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft durch die Weihnachtstagung 1923 konstituierte Rudolf Steiner auch eine neue esoterische Schule in Form von drei Klassen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Wie aus Gründen der Kontinuität an das historisch bereits Bestehende in der Theosophical Society angeknüpft wurde so knüpfte Rudolf Steiner auch bei der Weihnachtstagung 1923 an das ,früher Bestandene an. Im Eröffnungsvortrag der Weihnachtstagung, am 24. Dezember 1923, sagte er bei Verlesung des Statutenpunktes 5: «Bitte erschrecken Sie nicht vor diesen drei Klassen, meine lieben Freunde! Die drei Klassen waren ursprünglich in der Anthroposophischen Gesellschaft schon da, nur in einer andern Form, bis zum Jahre 1914.»
#SE260a-090
Symbolisch wurde diese Anknüpfung vollzogen durdi drei feierlidie Hammerschläge bei der Grundsteinlegung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am Morgen des 25. Dezember 1923. Adolf Arenson als Angehöriger der drei Klassen der Esoterischen Schule von 1904 bis 1914, bezeugt dies in seinem Brief an Albert Steffen vom 24. Dezember 1926:
Rudolf Steiner eröffnete die Weihnachtstagung nicht mit Worten, sondern mit symbolischen Schlägen, und damit brachte er das Gesetz der Kontinuität zur Auswirkung. Denn jedem, der zu der Institution gehört, die Rudolf Steiner im 36. Kapitel seines schildert, sagten diese Schläge:
Auch hier ist jedes Deuteln ausgeschlossen für denjenigen, der diese Eröffnungsschläge kennt. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß dieses Anknüpfen an das Frühere die Möglichkeit in sich schließt, ein völlig Neues, ja sogar ein sprunghaft Neues zu bringen, wie ja auch bei der Pflanze die Blüte an die Blattbildung anknüpft und doch ein völlig Neues ist.»
Von den geplanten drei Klassen der neuen Esoterischen Schule konnte durch den Tod Rudolf Steiners nur die erste vorläufig eingerichtet werden. Einen Nachfolger hat Rudolf Steiner nicht bestimmt.
#SE260a-091
#TI
DER ORGANISCHE VERDEGANG
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
UND IHRE ZUKUNFTSAUFGABEN
Dornach, 18. Januar 1924
#TX
Im zweiten Mitteilungsblatt - Sie wissen ja, daß dieses Mitteilungsblatt den Titel trägt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» - finden Sie zunächst eine Ansprache, die ich an die Mitglieder gerichtet habe, und ich möchte einen ganz besonderen Wert darauf legen, daß die ersten, Sätze dieser Ansprache an die Mitglieder ganz besonders ernst genommen werden. Ich darf gerade diese ersten Sätze vielleicht anführen:
«Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft kann ihren Inhalt nicht allein in dem haben, was die während ihrer Dauer am Goetheanum versammelten Mitglieder erlebt haben. Nur wenn man überall, wo man Anthroposophie liebt, in der Zukunft empfinden wird: es ist durch die Ausführung dessen, was durch diese Tagung angeregt worden ist, neues anthroposophisches Leben gekommen, wird dieser Inhalt wirklich da sein. Wenn dies nicht sein würde, hätte diese Tagung ihre Aufgabe nicht erfüllt.»
Es ist ja zweifellos, meine lieben Freunde, daß die Anthroposophische Gesellschaft neues Leben braucht. Und dasjenige, was zu Weihnachten hier geschehen ist, muß eigentlich so aufgefaßt werden, daß es zunächst lange nicht fertig ist, lange nicht abgeschlossen ist, daß eigentlich das Wenigste von dem, was zu Weihnachten hier geschehen ist, als ein Abgeschlossenes gelten kann, sondern daß fortwahrend in diese Weihnachtstagung Inhalt hineinfließen muß durch dasjenige, was weiter in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht. Es ist ja bisher im Grunde jede solche Tagung eigentlich so aufgefaßt worden, daß man sie in die Grenzen eingeschlossen hat, zwischen denen sie angefangen und aufgehört hat. Und man hat sich höchstens erinnert an ein Erlebnis, das da gewesen ist.
Diese Weihnachtstagung hatte aber einen Charakter, der von vornherein zeigte, daß sie so nicht aufgefaßt werden kann. Sie kann nicht aufgefaßt werden als eine vorübergehende Tagung. Da würde der
#SE260a-092
Inhalt einer ganz besonderen Eigenschaft unterliegen. Sehen Sie, meine lieben Freunde, wenn Sie zurückdenken an diese Weihnachtstagung, so werden Sie sich sagen müssen: Es ist da etwas gewesen, was aus der geistigen Welt heraus selber kam. Es ist der Versuch gemacht worden, mit alldem, was Vereinswesen ist, zu brechen und das Geistige durchscheinen zu lassen durch jede einzelne Handlung, die geschah. Aber das Geistige hat einmal - ich habe das öfter erwähnt - seine eigenen Gesetze. Das Geistige hat andere Gesetze, als diejenigen sind, welche in der physischen Welt herrschen. Nehmen wir dasjenige, was durch den geistigen Hintergrund in der Weihnachtstagung da war: Setzen wir es einmal als solches an und denken wir uns dann: die einzelnen Verrichtungen, die einzelnen Taten der Anthroposophischen Gesellschaft schließen sich an diese Weihnachtstagung an.
Wenn diese Weihnachtstagung nur so genommen wird, wie man so gern frühere Tagungen nahm, dann verduftet sie allmählich, dann verliert sie ihren Inhalt, und es wäre besser gewesen, man hätte sich nicht versammelt. Denn das Geistige hat einmal die Eigenschaft, daß es, wenn es nicht festgehalten wird, verschwindet, nicht verschwindet selbstverständlich im Kosmos, aber verschwindet für den Ort, wo es eben nicht weiter gepflegt wird. Es sucht sich eben dann andere Orte im Kosmos. Und für so etwas, wie unsere Weihnachtstagung, ist man ja nicht angewiesen auf dasjenige, was innerhalb des Erdenbereiches geschieht. Sie dürfen sich also nicht vorstellen, es müßte dasjenige, was zur Weihnachtstagung [veranlagt wurde, wenn es] durch die Nicht-Ausführung der Impulse verduftet, irgendwo anders auf der Erde erscheinen. Das ist nicht nötig. Es kann in ganz anderen Welten seinen weiteren Zufluchtsort suchen. - Alles also hängt davon ab, daß man die Möglichkeit findet, sich um diese Weihnachtstagung stark zu bekümmern, wirklich ihren Inhalt aufzunehmen. Dafür soll gesorgt werden durch das Nachrichtenblatt für die Mitglieder.
Die ersten Nummern dieses Nachrichtenblattes für Mitglieder, sie werden im wesentlichen ein Bild nicht nur von dem geben, was bei der Weihnachtstagung hier war, sondern auch von dem, was als Wille in dieser Weihnachtstagung lebte. Und das namentlich soll gegeben werden, was als Wille lebte in dieser Ansprache an die Mitglieder. Sie ist
#SE260a-093
in diesem zweiten Mitteilungsblatt in ihrem ersten Teile enthalten, und wird eben in den nächsten Nummern fortgesetzt werden. Zunächst mußte ja betont werden, daß man auf der einen Seite jetzt zurücksehen müsse auf dasjenige, was in der Anthroposophischen Gesellschaft war, und dann nach vorwärts sehen müsse, nach demjenigen, was in der Anthroposophischen Gesellschaft sein soll in der Zukunft.
Es wird daher ganz gut sein, wenn wir einmal gerade von diesem Gesichtspunkte aus, ich möchte sagen, um die Weihnachtstagung in einen entsprechenden Rahmen für uns einzufassen, ein wenig zurücksehen.
Die Anthroposophische Gesellschaft hat ja in sehr, sehr kleiner Form begonnen, und diese kleine Form war dazumal im Beginne des Jahrhunderts in der Theosophischen Gesellschaft enthalten. Wie war es denn? Wir können ganz absehen von der Theosophischen Gesellschaft, denn was sich als Anthroposophische Gesellschaft entwickelt hat, das hat einen organischen Werdegang durchgemacht, hat sich sozusagen aus dem eigenen Quell, dem eigenen Keim entwickelt. Diejenigen, die dann die Anthroposophische Gesellschaft als den Grundstock gebildet haben, waren ja im Anfange recht wenige. Man hat sich versammelt in sehr kleinen Kreisen an mehreren Orten. Und auch die öffentlichen Veranstaltungen waren in sehr kleinem Rahmen anfangs gepflegt worden. Und im Grunde genommen hat sich in diesen Anfängen um die anthroposophische Bewegung niemand gekümmert als derjenige, der dabeigewesen ist, der in irgendeiner Weise unmittelbaren Anteil genommen hat. Es war wirklich, man möchte sagen, ein wunderbarer Friede, denn die Welt hat keine Notiz genommen von der Anthroposophie. Nur diejenigen haben Notiz genommen, die sich eben in den anthroposophischen Kreisen versammelt haben.
Darunter waren solche, welche die tiefsten Bedürfnisse ihrer Seele verbinden konnten mit demjenigen, was als Anthroposophie aus der geistigen Welt herausfloß. Diese schlossen sich in immer größerer und größerer Zahl zu jenem Kreise zusammen, der dann die Anthroposophische Gesellschaft wurde.
Diejenigen, welche die Bedürfnisse ihrer Seele nicht damit verbinden konnten, blieben weg. Aber es waren zunächst jene, die wegblieben,
#SE260a-094
einfach Menschen, die sich uninteressiert verhielten, die nicht m eine besondere Wut kamen, sondern die einfach sich sagten: Das, was da geboten wird, das ist für mich nichts. - Und sie blieben wieder weg. Man konnte, indem so gearbeitet wurde, wirklich in Ruhe und Frieden arbeiten, und man konnte tatsächlich diejenigen, welche nach höheren Wahrheiten suchten, durch die engeren Kreise an diese höheren Wahrheiten heranführen.
Nur in äußerer Weise hat eigentlich die Kriegszeit eine Beeinträchtigung dieses anfänglichen Zustandes gebracht. Gewiß, der Verkehr zwischen den einzelnen Ländern war nicht in derselben Weise möglich wie vorher. Man konnte sich nicht in engeren Kreisen verbinden, weil eben eine furchtbare Welttyrannis während des Krieges geübt worden ist. Aber dasjenige, was die eigentliche geistige Strömung war, die durch die Anthroposophische Gesellschaft rann und rinnt, die blieb vorhanden.
Nun lag es aber in der Anthroposophie, nicht nur den einzelnen Menschen in bezug auf seine zentralen Seelenbedürfnisse zu ergreifen, sondern tatsächlich das ganze menschliche Leben. Überall, wo aus den Quellen des Menschlichen heraus das Schöpferische wirksam werden will, da kann sich dieses Schöpferisch-Wirksame mit dem Quell der Anthroposophie verbinden. Denn die Anthroposophie geht auf das Allgemein-Menschliche. Und so konnten wir, zunächst in München, mit einer künstlerischen Betätigung anfangen.
Diese künstlerische Betätigung, die in der Aufführung von Mysterien bestand, brachte manchem denn doch einen Fortschritt für sein eigenes Seelenleben. Er sah im Bilde dasjenige, was er vorher durch die Ideen, in welche das geistige Leben gegossen worden ist, aufgenommen hat.
Im Grunde genommen störte auch den vorhergehenden ruhigen Gang diese Aufführung der Mysterien in München noch nicht. Daß die Welt Notiz nahm von dem, was als Anthroposophie sich ausbreitete, das begann - obwohl vorher da und dort sich in einzelnen Typen schon die feindlichen Bestrebungen geltend machten, aber so, daß man sie nicht hätte zu berücksichtigen gebraucht, denn im Okkulten arbeitet man am besten positiv nur aus den unmittelbaren Impulsen heraus -, das eigentliche Notiznehmen begann, als die Absicht in Ausführung trat, das Goetheanum hier zu bauen, zu dem wir ja 1913 den Grundstein
#SE260a-095
gelegt haben. Jetzt war vor die Augen sichtbarlich etwas hingestellt. Jetzt sahen die Menschen etwas, und zwar etwas, was sie nicht verstanden. Und damit begann das Notiznehmen der Anthroposophie von seiten der Welt.
Nun ging es aber auch Stück für Stück, obwohl auch während der Kriegszeit, ich möchte sagen, die alten Usancen von unserer Seite fortdauerten. Jetzt begann es Stück für Stück. Wissenschafter, die sich zunächst auch nur der anthroposophischen Bewegung angeschlossen hatten aus den innersten zentralen Bedürfnissen ihrer Seele heraus, fanden, daß nicht nur diese zentralsten Bedürfnisse der Seele von der Anthroposophie aus befriedigt werden können, sondern sie fanden, daß eine jegliche Wissenschaft heute an einen toten Punkt kommt. Dieser tote Punkt liegt gerade da, wo die eigentlichen Erkenntnisbedürfnisse beginnen. Man muß sich nur den wissenschaftlichen Bestand von heute in der rechten Weise vorstellen. Er ist ja so, meine lieben Freunde: Der junge Mensch studiert. Was ihm dargeboten wird, das überliefert ihm eine Summe von Kenntnissen. Diese Summe von Kenntnissen, die hat ganz besondere Eigenschaften. Und es wird nirgends so recht ausgesprochen, was diese Summe von Kenntnissen, die heute der junge Mensch an den Schulen findet - eigentlich schon an den untersten Schulen, dann in besonderem Maße an den höheren Schulen -, was diese Kenntnisse in ihrer Summe für besondere Eigenschaffen haben. Sie sind durchweg von materialistischem Denken durchdrungen. Und wenn heute von manchen Seiten gesagt wird, daß der Materialismus abgewirtschaftet hat, daß die Wissenschaft wiederum zum Geistigen zurückkehre, so ist das wirklich die reine Rederei, denn es ist nur eine Illusion. Man redet vom Geistigen, hat aber nicht den geringsten Begriff vom Geistigen.
Also die Kenntnisse, die da geboten werden, sie sind im Grunde genommen eine Summe von materialistisch gedachten Kenntnissen. Aber indem sie der junge Mensch empfängt, ergießen sie sich über ihn, ohne daß er irgendeine Orientierung darinnen hat. Die einzige Orientierung ist ja diese: daß er weiß, er muß Examen machen. Das stellt ihn in einer gewissen Weise in die Welt hinein. Aber im Grunde genommen weiß er mit der ganzen Breite des wissenschaftlichen Lebens nicht sonderlich
#SE260a-096
viel anzufangen. Es ergießt sich über ihn. Er bekommt nun eigentlich gar keinen anderen Eindruck, als wie jemand, der in einen furchtbaren Platzregen gekommen ist und ganz naß wird. Er wird sozusagen ganz und gar durchweicht, oder eigentlich verhärtet von dem, was ihm da geboten wird. Man kann nicht sagen, daß diese Kenntnisse, diese Notizen, die da geboten werden, an sich wertlos sind. Das sind sie gar nicht, sie sind zuweilen von dem höchsten Werte. Aber derjenige, der sie lernen muß, der weiß nichts von diesen Werten. Sie werden an ihn in einer Weise herangebracht, daß er nichts weiß von diesen Werten.
Und so kann man sagen: Wenn auch die heutigen Kenntnisse den höchsten Wert hätten, dieser Wert würde denjenigen, die nun diese Kenntnisse in sich aufnehmen müssen, gar nicht irgendwie zum Bewußtsein komrnen können.
Vielleicht darf ich in ganz bescheidener Weise da auf dasjenige, was schon erschienen ist und noch erscheinen wird von meinem Lebensgange, hinweisen. Sie werden da eine eigentümliche Erscheinung sehen. Sie werden allerdings nicht mit Worten geschildert finden, wie ich gelernt habe; im Grunde genommen blieb dasjenige, was durch die Schule an mich herankam, ganz äußerlich. Dasjenige, was ich durch die Schule gewonnen habe, das habe ich gewonnen durch einzelne Persönlichkeiten, die als Persönlichkeiten auf mich einen gewissen Eindruck gemacht haben.
Ich habe im jetzt erschienenen «Goetheanum» darauf aufmerksam gemacht, wie ich in der Mittelschule an die Chemie herangekommen bin. Chemie ist heute etwas in gewissem Sinne ja Bewundernswürdiges. Aber so wie es dasteht als eine Wissenschaft, ist nichts zusammengehalten in ihr. Man wird wirklich von Erkenntnissen wie von Regen überschauert.
Nun war derjenige, der in unserer Mittelschule Chemie vortrug, ein ausgezeichneter Chemiker. Und er sprach eigentlich außerordentlich wenig. Er experimentierte uns vor, machte fortwährend nur Experimente, sprach ein paar Worte, um die Experimente zu verbinden. Und das ging wochenlang fort, bis einmal Zensuren gegeben wurden. Ich habe besondere Intimitäten dort nicht erzählt. Aber wenn dann Zensuren
#SE260a-097
in der Nähe waren, wußten das die Schüler. Und da wußten sie: der Gilm, der wird jetzt auch etwas fragen, denn er hat uns nie gefragt, er hat vor uns experimentiert, er hat uns nie gefragt, wochenlang nicht. Dann faßte sich einer Mut, ging hinaus zu ihm und sagte: Herr Doktor, wird nächstens experimentiert oder examiniert? - Und da sagte er: Nun, das nächste Mal werd' ich euch examinieren. - Und da wurde in zwei oder drei Stunden durchexaminiert. Es war etwas Ausgezeichnetes an sich, doch ohne die Möglichkeit, daß man hineinkam.
Aber der Mann, er war der Bruder des sinnigen tirolischen Dichters Herman von Gilm. Hugo von Gilm hieß der Lehrer. Und tatsächlich, wer Sinn für so etwas hat und jemals in die Augen dieses Hugo von Gilm geschaut hat, der hat durch dieses Schauen in die Augen tatsächlich, ich möchte sagen, mehr Chemisches erhalten als durch die Mitteilungen systematischer Chemie, obwohl man da sehr viel erhalten hat. Denn diese Augen sind etwas ganz Besonderes gewesen. Sie schauten so in die Welt, daß man ihnen ansah: der sieht jedes Ding in der Natur so an, daß es ihm durch den Blick hineingeht. Es geht ihm in den Blick hinein, und der Blick strahlte es wiederum von sich heraus. Er hatte es immer da drinnen. Und deshalb hatten wir Buben alle dahs Gefühl: der Mann steht eigentlich anders als alle anderen Lehrer zu seiner Wissenschaft. Wir sagten zu allen anderen Lehrern «Herr Professor». Der war geradeso Professor wie die anderen, aber zu ihm sagten wir «Herr Doktor», weil man voraussetzte, der steht ganz anders zu seiner Wissenschaft als die anderen.
Sehen Sie, das war die Persönlichkeit! Sie werden aus anderen Beispielen, die ich anführe, auch sehen: Es waren die Persönlichkeiten! Diese Persönlichkeiten hatten etwas, für mich wenigstens, außerordentlich Weckendes. Und so kam es eben, daß man - daß ich wenigstens die Schule richtig verschlafen konnte und die wachen Dinge mir selber suchte.
Es war schon so in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert, daß eigentlich niemand etwas lernen konnte, der nicht aktiv suchte, der sich nicht seinen Weg tastend suchte. Dann ging das Lernen so nebenher. Und eigentlich muß ich sagen, cum grano salis:
ich wundere mich fast, daß ich ein guter Schüler gewesen bin. Denn,
#SE260a-098
nicht wahr, zensiert wird man für dasjenige, was man in der Schule ternt. Da habe ich aber eigentlich nichts gelernt. Also ich wundere mich, daß ich im Grunde genommen überall ein guter Schüler gewesen bin.
So meine ich, ist es wichtig, daß man In der Art, wie die heutige Zivilisation die Kenntnisse an den Menschen heranbringt, das eigentlich Verderbliche sieht. Und das sahen oder fühlten wenigstens eine ganze Anzahl von Persönlichkeiten, wissenschaftliche Persönlichkeiten, die hereinkamen in unsere Anthroposophische Gesellschaft. Sie fühlten: Der wissenschaftliche Betrieb von heute endet in jeder einzelnen Wissenschaft an einem toten Punkte, gerade da, wo die Seele anfangen will, dasjenige, was diese Wissenschaft bietet, zu einer wirklichen Erkenntnis zu machen. Es gibt aber nichts, meine lieben Freunde, was irgendwie uninteressant sein könnte im menschlichen Wissen, wenn es in der richtigen Weise an den Menschen herangebracht und in der richtigen Weise gehört wird, es gibt nichts, was uninteressant sein könnte. Und dennoch, wieviel wird als uninteressant von den heutigen Schülern und Studenten empfunden!
So zeigte es sich denn, daß eine ganze Anzahl von Wissenschaftern in die Anthroposophische Gesellschaft hereingekommen war und nun von der Anthroposophie aus die einzelnen Wissenschaften befruchten wollte.
Jetzt entstand etwas, was die Leute furchtbar irritierte. Denn jetzt wurden sie nicht nur durch das Goetheanum, sondern jetzt wurden sie durch dasjenige, was als anthroposophische Wissenschaftlichkeit auftrat, aufgerüttelt. Man sah, Anthroposophie gibt den Dingen ein Gepräge, das man nicht haben will.
Man muß ja im Grunde genommen nur einsichtig sein. Wirklich, es ist schon so, wie ich einmal in einer anthroposophischen Versammlung gesagt habe: Es gehen fortwährend Feinde durch die anthroposophischen Tagungen, und ein feindliches Wesen ist die jüngere Persönlichkeit der Naivität, und diese Naivität ist eben unter unseren Mitgliedern vielfach vorhanden. Man denkt, man kann den Pastor oder den Professor oder den Arzt so ohne weiteres überzeugen. Man kann es nicht. Denn es kommt ja nicht darauf an bei den meisten Menschen der Gegenwart, daß sie überzeugt werden etwa in ihrem Kopfe oder in ihrem
#SE260a-099
Herzen, sondern es kommt darauf an, daß sie in einer Lebenssteilung drinnen sind. Da können sie unbewußt nicht heraus. Also man muß einsichtig sein in dieser Richtung. Wo können denn viele Leute, die in einer Lebenssteilung drinnen sind, aus dieser Lebensstellung heute heraus? Nun, daraus entstand vielfach - es vergeht ja keine Woche, ohne daß nicht irgendeine Broschüre oder ein Buch erscheint gegen Anthroposophie - dasjenige, was dann, natürlich genährt durch unredliche Leute, als Gegnerschaft aufgetreten ist.
Durch alle diese Dinge - ich brauche ja nicht dasjenige, was in Deutschland aus der Dreigliederungsbewegung folgte und so weiter, auch aufzuzähien, es genügt, wenn ich mich hier mit dem Qualitativen beschäftige -, durch alle diese Dinge kam es, daß die alte Ruhe und der alte Friede, die vorhanden waren, weil die Welt sich nicht um Anthroposophie kümmerte, aufhörten, und daß jetzt Anthroposophie getrieben werden muß, indem man sie gleichzeitig von allen Seiten nicht nur bekämpft, sondern verleumdet. Da entstand dann die Frage, die hier in den letzten November- und in den ersten Dezembertagen eine so große Rolle gespielt hat unter denjenigen, die dann zur Leitung der anthroposophischen Bewegung sich bereit erklärt hatten, da entstand die große Frage, wie man in der Zukunft mehr Anthroposophie treiben kann. Denn das Eigentliche der Anthroposophie ist ja fortdauernd so getrieben worden und kann eigentlich auch gar nicht anders getrieben werden, wie es getrieben wurde während der Ruhe und des Friedens. Aber die Ruhe und den Frieden haben wir eben nicht mehr. Und so müssen die Mittel und Wege gefunden werden, um mehr Anthroposophie zu treiben, das heißt, Anthroposophie so vor die Welt hinzustellen, daß ihr durch ihre eigene Qualität die gegnerischen Verleumdungen nicht schaden können. Das heißt, es müssen Mittel und Wege gefunden werden, um gerade dasjenige fortzusetzen, was mit Anthroposophie von allem Anfange an gemeint war.
Das hat denn dazu geführt, daß diese Weihnachtstagung, die nun verflossen ist, eben gerade den Charakter angenommen hat, den sie eben hatte. Und wirklich, diese Weihnachtstagung darf nicht so genommen werden, wie vieles in der Anthroposophischen Gesellschaft hingenommen worden ist. Es muß von dieser Weihnachtstagung etwas
#SE260a-100
Neues ausgehen, das aber eigentlich nur ein vermehrtes Altes ist. Und das hat denn dazu geführt, daß die Konstitution der Gesellschaft dasjenige enthalten wird, was ich nun in diesem zweiten Mitteilungsblatt unter dem Titel bringe: «Die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft.»
In dieser Beziehung, meine lieben Freunde, sind ja tatsächlich in der Zelt, in welcher der Faden des eigentlichen anthroposophischen Lebens abgerissen worden ist, mit der Freien Hochschule für Geisteswissen-schaft Fehler gemacht worden. Und ich habe schon bei der Besprechung des uns entrissenen Goetheanums darauf hingewiesen, wie wenig eigentlich das, was als Hochschulkurse in diesem Goetheanum gehalten worden ist, zu dem ganzen künstlerischen Stil des Goetheanums gepaßt hat. Es kontrastierte damit. Und das kam ja davon her, daß man zu stark in unsere Reihen hereintragen wollte dasjenige, was die Hochschulen draußen haben. Aber das braucht man ja nicht. Das würden wir ja erst in dem Augenblicke brauchen, wenn wir irgendein Berechtigungswesen für die Freie Hochschule haben könnten. Wir brauchen zunächst gerade diejenige Stätte, die das gibt, was sonst nirgends gegeben wird: nämlich das, was den Menschen in die geistige Welt hineinführt. Und das soll nun Im strengsten Sinne des Wortes der Inhalt der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft werden.
Es war ja immer in den Schulen, die in das geistige Leben hineinführten, so, daß zunächst ein exoterischer Kreis war, und daß man aus diesem Exoterischen Kreise in das Esoterische einrückte. Nun möchte die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft also diesen wirklich in der Natur der Geist-Erkenntnis liegenden Tatsachen voll Rechnung tragen. Das heißt, es wird in der Zukunft - ich habe das im zweiten Artikel über die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft zu schildern begonnen, auch das wird nächstens fortgesetzt werden -, es wird eben nunmehr da sein: die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, in die man unter den Bedingungen eintreten wird, die ja in den sogenannten Statuten während der Weihnachtstagung besprochen worden sind. Man wird eine Zeitlang in dieser Anthroposophischen Gesellschaft sein. Man wird vielleicht auch sich voll befriedigt finden von dem, was in dieser Anthroposophischen Gesellschaft über Geist-Erkenntnisse mitgeteilt wird. Und eigentlich sollte jeder das ganz genau lesen, was in
#SE260a-101
diesem zweiten Mitteilungsblatt enthalten ist, dann wird er sich sagen:
Ja, es ist ganz gut, daß zunächst in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft an diejenigen, die da eintreten, die Geist-Erkenntnisse mitgetelit werden, denn das ist die Grundlage für einen jeglichen Weg in die geistige Welt hinein.
Gewiß muß es zunächst Leute gehen, welche die geistigen Erkenntnisse auch erforschen können, damit sie mitgeteilt werden können. Aber das erfordert ja ein besonderes Karma, daß jemand an die geistigen Schauungen unmittelbar herantritt, ohne vorher sorgfältig gelernt zu haben; was von den geistigen Forschungen in Ideen behandelt worden ist. Es ist eben so, daß der Mensch im allgemeinen ja ganz gut, ohne daß er sich auf Autorität stützt, dasjenige einsehen kann, was von den Geist-Erkenntnissen und Ideen gebracht wird. Und so sollte man als Angehöriger der Anthroposophischen Gesellschaft zunächst Anthroposophie treiben mit allen Konsequenzen für das Leben, mit allen Konsequenzen für die einzelnen Zweige des Lebens. Und dann sollte man an das Esoterische daran gehen. Und die drei Klassen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, die sich nun anschließen an die allgemeine Gesellschaft, werden ja durchaus das Esoterische darzubieten haben, nuanciert nach den Sektionen, wie ich sie dargestellt habe bei der Weihnachtstagung, aber das Esoterische darzubieten haben.
Nun liegt ja heute die Sache gewiß so, daß in der Anthroposophischen Gesellschaft sehr viele Freunde sind, die es seit langem sind. Derjenige, der heute eintritt, dem würde man am besten empfehlen, er solle zwei Jahre in der Anthroposophischen Gesellschaft bleiben und sich dann meiden zur Aufnahme in die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Das kann natürlich nicht für diejenigen gelten, die Schon - ja, wie nennt man es draußen? - bemooste Häupter geworden sind in der Anthroposophischen Gesellschaft.
Deshalb wird unmittelbar die erste Klasse errichtet werden, und es ist ja auch schon mitgeteilt worden, daß man sich melden soll für diese erste Klasse. Es sind auch schon zahlreiche Meldungen an mich herangekommen. Und es wird sich nun darum handeln, daß man in der nächsten Zeit zunächst die erste Klasse errichtet, daß die älteren Mitglieder auch Mitglieder dieser ersten Klasse werden. Natürlich werden
#SE260a-102
wir dabei nicht pedantisch sein. Reife jüngere Mitglieder, die den vollen Enthusiasmus für Anthroposophie haben, werden selbstverständlich auch in dieser ersten Klasse sein können. Es wird sich überall mehr um das Innere handeln als um hdas Äußere.
Aber damit wird doch zunächst etwas Äußerliches verknüpft sein müssen. Sehen Sie, meine lieben Freunde, ich habe ja lange gemerkt, daß eigentlich die drei Vorträge in der Woche für die Art und Weise, wie die Vorträge aufgenommen werden, insbesondere in der letzten Zeit, zu viel gewesen sind. Es war zu viel! Es waren wirklich zu viele Vorträge. Sie müssen mir das nicht übelnehmen, wenn ich das sage. Daher werde ich nun beginnen - die Dinge werden sich von Stufe zu Stufe ändern - zunächst immer am Samstag und Sonntag zu sprechen für die Anthroposophische Gesellschaft, und immer am Freitag zu sprechen für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft.
Wir werden in der Zukunft dann die allgemeinen Mitgliedskarten haben für die Anthroposophische Gesellschaft - das alles wird in der allernächsten Zeit eingerichtet -, und wir werden außerdem die Mitgliedskarten ausgeben für die erste Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. So daß also hier an Freitagen erscheinen werden die Mitglieder der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, an Samstagen und Sonntagen alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft. Und ich setze zunächst voraus, daß auch die Mitglieder der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft an Samstagen und Sonntagen erscheinen werden, denn ich möchte nun die Dinge so einrichten, daß man wirklich hier in Dornach sieht:
von der Weihnachtstagung geht etwas aus.
Nicht wahr, wir sind ja hier in Dornach von dem ersten Vortrage an, den ich vor vielen Jahren auf diesem Hügel über das Akanthusblatt gehalten habe, allmählich dahin gekommen, wirklich immer esoteri-schere und esoterischere Wahrheiten hier gesagt zu finden. Aber damit kommen wirklich diejenigen Mitglieder, die nachkommen, nicht zurecht. Und es muß hier gerade gezeigt werden, wie es eigentlich gemacht werden soll. Man muß zukünftig in Dornach sehen können, nicht bloß wohin man gelangt in der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern wie es gemacht wird. Und das wird dadurch am besten erzielt werden,
#SE260a-103
daß ich zunächst in der ersten Klasse an allen Freitagen fortfahren werde mit dem, was bis zum letzten Vortrage am letzten Sonntag hier getrieben worden ist, auch auf die inneren Entwickelungen eingehen werde, kurz, das Esoterische pflegen werde. Das soll an den Freitagen geschehen. An den Samstagen und Sonntagen soll nun in der nächsten Zukunft dasjenige gegeben werden, was eigentlich in die Anthroposophie einführt, das Anfängliche der Anthroposophie. Ich werde selbst-verständlich nicht vorlesen oder wiederholen mein Buch «Theosophie» oder «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», aber ich werde doch versuchen, aus den Fundamenten heraus Anthroposophie darzustellen, und setze voraus, daß der gute Wille, teilzunehmen am anthroposophischen Leben, nicht darinnen bestehen wird, daß die Mitglieder der ersten Klasse hier in Dornach sagen werden: Nun gehen wir nurrnehr am Freitage hin, denn das andere wissen wir ohnedies schon alles -, sondern ich hoffe, daß bei den allgemeinen Vorträgen gerade die Mitglieder der ersten Klasse um so höher interessiert sein werden. Denn da wird man ja tatsächlich manches in sich aufnehmen können, was bisher eigentlich vernachlässigt worden ist. So daß man also in der Zukunft hier wird sehen können, wie eigentlich Anthroposophie aus deni Fundamente heraus getrieben werden soll, und den-noch auch den esoterischen Inhalt der ersten Klasse wird aufnehmen können, wenn man in diese erste Klasse eben sich gemeldet hat und die Meldung angenommen worden ist.
Es handelt sich schon darum, daß diese Konstitution der Anthroposophischen Gesellschaft in die Zukunft hinein verstanden werde. Ich hoffe, daß ich bis Sonntag einen Modus finde, um schon am Freitag der nächsten Woche mit dem beginnen zu können, was ich nun für die drei Abende projektiere. Mit der Darstellung der Anthroposophie aus den Fundamenten heraus werde ich dagegen schon morgen beginnen.
Und so wird es möglich sein, gerade hier in Dornach Impulse zu gewinnen, welche sich an die Weihnachtstagung anschließen. Wenn man sozusagen diesen Gesichtspunkt, den ich eben erörtert habe, ins Auge fassen wird, dann wird man schon dadurch dies «mehr Anthroposophie» wirklich entsprechend in seinem Herzen berücksichtigen.
Anthroposophie kann weder eine Theorie sein, noch kann sie dasjenige
#SE260a-104
ganz entbehren, was im Gedanken lebt. Wir leben ja heute in einer Zeit, in der im Grunde genommen Anthroposophie dann für unzählige Menschen auf der Erde eine brennende Frage werden müßte, wenn einmal es der Anthroposophischen Gesellschaft gelänge, wirklich so zu arbeiten, daß die Bedürfnisse der Menschen an dem, was ihnen als Anthroposophie entgegentritt, Feuer fangen könnten.
Es handelt sich um folgendes. Ich will einen konkreten Fall Ihnen als Beispiel hinstellen. Es ist jetzt wiederum ein wunderbares Lebens-buch erschienen, eine Art Autobiographie, eine Art Selbst-Lebensbeschreibung von Ford. Man muß sagen, das ist etwas außerordentlich Charakteristisches, was dieser Automobilkönig als seine Lebensbeschreibung vor die Welt hinstellt. Es hat etwas Entzückendes, etwas eigentlich Großartiges. Und ich möchte sagen: Was dieser Automobilkönig hinstellt als das, was er im Geistigen und Materiellen während seines Lebens ersehnt hat, es macht auf mich folgenden Eindruck. Denken Sie sich, jemand steht vor einem Tor und hat dringende Bedürfnisse geistiger Art. Also in diesem Falle: Dringendes will er, Berechtigtes will er, aber es reicht seine Stimme gar nicht aus, um zu sagen, was er Berechtigtes will. Er möchte es laut, laut in die Welt hinausschreien, was er Berechtigtes will, aber das erscheint ihm nicht laut genug, und so pocht er an die Tür und erfindet sich alle möglichen Mittel, um in donnerndem Poltern das zum Ausdrucke zu bringen, was er eigentlich will.
Ja, fast ist es mir so, wenn ich das Buch von Ford lese, wie wenn ich selber die Tür wäre. Aber es ist trotzdem entzückend; man bekommt seelisch blaue Flecken, aber man liebt diese blauen Flecken, denn es ist unsäglich vernünftig. Und hinter der Tür ist die Anthroposophie. Aber sie ist bisher in einer Gesellschaft so konstituiert, daß es dem, was vor der Türe pocht, ganz unmöglich ist, an das heranzukommen, was hinter der Türe ist. Es ist nicht möglich. Wir brauchen dazu etwas ganz anderes.
Nicht wahr, Ford ist eben ein repräsentativer Mensch. Aber das, was er im großen Stile ist, wirklich im allergrößten Stile der Gegenwart, was er da ist, das sind zahlreiche Menschen der Gegenwart. Das, um was es sich handelt, ist, daß in der Zukunft tatsächlich ein Bewußtsein
#SE260a-105
auch vorhanden sei, nicht nur von dem, wie man ein guter lernender Anthroposoph ist. Meine lieben Freunde, fassen Sie das, was ich gesagt habe, nicht so auf, als ob ich im geringsten etwas einwenden wollte gegen den, der ein lernender Anthroposoph ist. Das sind Menschen, die als solche in ihren Bestrebungen absolut gerechtfertigt sind. Sie sind der Anthroposophie beigetreten; ihre beste Zeit haben sie gehabt in der Epoche, als Friede und so weiter herrschte und man sich ganz langsam ausbreitete. Dagegen, daß man lernen will, ist überhaupt nichts zu sagen. Also das ist eine Sache für sich. Im Gegenteil, dies soll viel intensiver gepflegt werden in der Zukunft, als es in den Jahren seit 191 3 geschehen ist, wo man allerlei Hochschulallüren in die anthroposophische Bewegung hat hineinbringen wollen, und noch andere Allüren. Dasjenige aber, was zu dem hinzukommen soll, was ja auch immer angestrebt worden ist: Anthroposophie vor der Welt zu vertreten, das, nicht wahr, fordert eben einen durchaus anderen Stil. Und das hat mich ja auch bewogen, den Vorsitz zu übernehmen. Denn dadurch wird es mir noch möglich sein, mehr vor der Welt zu zeigen, wie ich Anthroposophie durch die Gesellschaft vertreten haben möchte. Als 1912, 1913 - dazumal in guter Meinung - die Anschauung realisiert wurde, daß ich mich [als Vorsitzender] zurückzog und das bloße Lehramt hatte, da kam eben die Zeit, nun ja, in der sich das nach und nach als unmöglich erwies. Da wurde dasjenige, was ich eigentlich will, fortwährend durch die Gesellschaft abgestumpft. Es wurde ihm die impulsive Kraft genommen, insbesondere stark seit 1918.
Und nun soll hier in Dornach eben durch diese besondere Einrichtung, auf die ich hier hingewiesen habe - aber das ist ja nur ein Anfang, es wird schon weitergehen -, es soll durch diese besondere Einrichtung an Dornach gesehen werden können, wie Anthroposophie vertreten werden soll, wie Anthroposophie vor die Welt getragen werden soll. Und damit wird sie schon am besten auch in die Herzen der Mitglieder hineingetragen werden. Von den beiden Seiten wird diejenige, die zur Geltung gekommen ist in Ruhe und Frieden, noch mehr zur Geltung kommen. Dagegen wird man wirklich sehen, gerade indem diese in der richtigen Weise wiederum gepflegt wird, wie dadurch tatsächlich schon gefunden werden könnte - falls verstanden wird in der nächsten Zeit,
#SE260a-106
was von der Leitung aus impulsiert wird - die Möglichkeit, wenn vor der Tür gepoltert wird, zu sagen: Hinter der Tür ist die Anthroposophie. - Aber jetzt kann es noch so stark poltern: die Tür geht nicht auf! Doch könnte die Möglichkeit gefunden werden, daß sie von innen durch die Anthroposophie aufgeschlossen würde. Dann aber muß eben die Möglichkeit vorhanden sein, daß die Dinge nun auch so vor die Welt hintreten, daß Menschen, die aus der heutigen Zivilisation heraus in einem solchen Wissensformat herauswachsen wie sder Automobil-könig Ford, sich sagen: Da habe ich wiederum geschrieben, die heutige Wissenschaft sei eigentlich auch nur etwas, das auf die Vergangenheit hinweist, der Mensch kann aber doch nicht bloß in der Vergangenheit leben, es muß das Leben eigentlich für die Zukunft garantiert werden; man kann doch nicht bloß Kenntnisse aufnehmen, man muß doch etwas Lebendiges haben. Ich habe das nun so hingeschrieben - lesen Sie zum Beispiel das vorletzte Kapitel in dem außerordentlich interessanten Buch von Ford - und nun weiß ich, da fehlt etwas: da hinein gehört die Anthroposophie.
Es wäre eine Möglichkeit, daß die Leute so sagen, wenn wir verstehen würden, was in der Weihnachtstagung gewollt worden ist, wirklich ernst zu nehmen, wenn die Weihnachtstagung nicht immer weniger, sondern immer mehr Inhalt bekäme.
Das wollte ich heute als eine Einleitung sozusagen zum weiteren Wirken hier in Dornach vor Ihnen vortragen, meine lieben Freunde. Morgen werde ich schon langsam damit beginnen, möchte ich sagen, nun die Anthroposophische Gesellschaft so zu betrachten, wie sie eben als Anthroposophische Gesellschaft gedacht werden muß, indem sie als solche Anthroposophie aufnimmt.
Ich habe noch zu verkündigen, daß dann am Sonntag um fünf Uhr eine Eurythmievorstellung sein wird. Samstag und Sonntag werden die entsprechenden Vorträge um acht Uhr sein.
#SE260a-107
#TI
Nachrichtenblatt, 20. Januar 1924
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
I.
#TX
Die Anthroposophische Gesellschaft wird, wenn die Absichten der Weihnachtstagung zur Ausführung kommen, in Zukunft den esoterischen Bestrebungen ihrer Mitglieder nach Möglichkeit Erfüllung bringen müssen. Nach dieser Erfüllung soll dadurch getrachtet werden, daß der allgemeinen Gesellschaft drei Klassen einer Schule eingegliedert werden.
Es liegt im Wesen der Geist-Erkenntnis, daß sie sich zunächst mit solchen Ergebnissen an Menschen wendet, die von Persönlichkeiten gefunden sind, welche die Wege zum geistigen Anschauen kennen. Es ist ein Vorurteil, wenn man meint, daß solche Ergebnisse nur der aner-kennen kann, dem es möglich ist, sie selbst zu finden. Dieses Vorurteil ruft dann das andere hervor, daß Menschen, die eine solche Anerkenntnis haben, sich einem blinden Autoritätsglauben hingeben. Indem man dieses Vorurteil geltend macht, klagt man eine solche Gesellschaft, wie die anthroposophische, an, sie bestehe aus urteilsiosen Anbetern führender Persönlichkeiten.
Aber geradeso wie man nicht Maler zu sein braucht, um die Schönheit eines Bildes zu empfinden, braucht man nicht Geistesforscher zu sein, um ein weites Gebiet von dem zu verstehen, was der Geistesforscher zu sagen hat. Dieser tritt durch die in ihm vorhandenen Fähigkeiten vor die Welten hin, in denen geistige Wesen leben und geistige Vor-gange geschehen. Er schaut diese geistigen Wesen und Vorgänge, und er schaut auch, wie die Wesen und Vorgänge der physischen Welt aus dem Geistigen hervorkommen.
Er hat dann die weitere Aufgabe, gewisse Gebiete seiner Schanungen in Ideen zu gestalten, die nicht von besonderen Fähigkeiten abhängen, sondern die dem gewöhnlichen Bewußtsein zugänglich sind. Diese Ideen sind für jeden, der sie in seiner Seele lebendig macht, in sich selbst begründet. Man kann solche Ideen nicht aus der bloßen Gedanken-fähigkeit gestalten; man kann sie nur bilden, wenn man die geistigen
#SE260a-108
Schauungen in sie umprägt. Sind sie aber durch den Geistesforscher ein-mal da, so kann sie jeder in sich aufnehmen und aus ihnen selbst ihre Begründung finden. Es hat niemand nötig, sie auf einen bloßen blinden Glauben hin anzunehmen. Wenn viele doch glauben, daß das von dem Geistesforscher in der Ideenform Vorgebrachte nicht ½aus sich verständlich sei, so rührt das nur davon her, daß sie sich den Weg zu einem solchen Verständnis verlegt haben. Sie haben sich daran gewöhnt. nur für bewiesen zu halten, was auf sinnliche Anschauung gestützt ist und haben keinen Sinn dafür, daß Ideen für sich sich gegenseitig beweisend sein können. Sie gleichen einem Menschen, der alle schweren Gegenstände auf der Erde gestützt weiß und der deshalb glaubt, die Erde selbst müsse im Weltraum auch gestützt sein.
Nun muß aber eine Persönlichkeit, welche zum Schauen im Geiste gelangt, ohne die Ergebnisse sdes Schauens vorher in Ideenform zu erhalten, vom Schicksal dazu besonders vorbestimmt sein. Für alle andern ist das Verstehen des Ideen-Inhaltes desjenigen Gebietes der geistigen Welt, der in diese Form gebracht werden kann, die notwendige Vorstufe, um zum eigenen Schauen zu gelangen.
Es liegt wieder nur ein Vorurteil vor, wenn jemand glaubt, man suggeriere sich das Schauen einer geistigen Welt, nachdem man zuerst das Bild einer solchen in Ideenform empfangen hat. So wenig jemand von Suggestion sprechen kann, wenn man einen Menschen sieht, von dem man vorher nur gehört hat, so wenig kann das jemand, wenn man die Wirkung der mit allen Eigenschaften der Realität auftretenden Geisteswelt vernimmt, nachdem man sie zuerst in Ideen verstanden hat.
Es wird daher im allgemeinen so sein müssen, daß der Mensch die geistige Welt zuerst in der Ideenform kennenlernt. In dieser Art wird die Geisteswissenschaft in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft gepflegt.
Es wird aber Persönlichkeiten geben, die teilnehmen wollen an den Darstellungen der geistigen Welt, die von der Ideenform aufsteigen zu Ausdrucksarten, die der geistigen Welt selbst entlehnt sind. Und auch solche werden sich finden, welche die Wege in die geistige Welt kennen-lernen wollen, um sie mit der eigenen Seele zu gehen.
Für solche Persönlichkeiten werden die drei Klassen der «Schule> da
#SE260a-109
sein. Da werden die Arbeiten aufsteigend einen immer höheren Grad der Esoterik erreichen. Die «Schule> wird den Teilnehmer hinaufleiten in die Gebiete der geistigen Welt, die nicht durch die Ideenform geoffenbart werden können. Bei ihnen tritt die Notwendigkeit ein, Ausdrucksmittel für Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen zu finden.
Da werden dann auch die Gebiete des künstlerischen, pädagogischen, ethischen Lebens und so weiter bis in die Gebiete geführt werden, in denen sie von der Esoterik ihre Beleuchtung und die Impulse zum Schaffen empfangen können.
Über die Konstitution der «Schule> und ihre Gliederung in Sektionen soll in der nächsten Nummer des Mitteilungsblattes gesprochen werden.
#TI
Nachrichtenblatt, 27. Januar 1924
II.
#TX
Wir können nicht überall, wo Seelen nach Anthroposophie verlangen, Zweiganstalten des Goetheanums begründen. Denn wir sind eine arme Gesellschaft.
Wir werden diejenigen Persönlichkeiten, welche entfernt vom Goetheanum sind, nur dadurch an dessen Arbeiten teilnehmen lassen können, daß wir in dem schriftlichen Verkehre fortsetzen, was am Goetheanum selbst geschieht. Über die Einrichtung dieses schriftlichen Verkehrs wird noch zu sprechen sein. Durch ihn werden Teilnehmer der Klassen am Goetheanum auch solche Persönlichkeiten sein können, welche nicht eine gewisse Zeit an demselben zubringen können. Außerdem wird dieser Verkehr ja durch die Besuche vermittelt werden können, die überall, wo es möglich ist, die Leiter des Lebens am Goetheanum oder mit ihnen in enger Verbindung Stehende an verschiedenen Orten machen.
Aber all dieses muß, wenn die «Hochschule> mit ihrem esoterischen Leben gedeihen soll, zusammengehalten werden von dem echten anthroposophischen Geiste.
Die Leitung des Goetheanums wird bestrebt sein müssen, sich in
#SE260a-110
keiner Art von dem Geistesleben der Gegenwart abzukapseln, sondern mit vollem Anteil nach allem auszuschauen, was in diesem Geistesleben sich für die wahre Fortentwickelung der Menschheit offenbart.
Deshalb wird die Leitung so geschehen, daß einzelne Persönlichkeiten die Verwaltung einzelner Sektionen übernehmen werden, die jetzt schon möglich sind und die hoffentlich in immer regerer Arbeit erblühen werden.
Es wird im Mittelpunkte stehen die allgemeine anthroposophische Sektion, der vorläufig die pädagogische eingegliedert werden soll. Die Leitung dieser Sektion wird mir selbst obliegen. Eine medizinische Sektion wird dafür sorgen, daß Anthroposophie die Heilkunst befruchten kann. Die Leitung wird Frau Dr. Ita Wegman in Händen haben. Die Heilkunde stand von alters her in innigem geistigem Zusammenhang mit den Zentralaufgaben der Menschenerkenntnis. Anthroposophie soll ihre Lebenskraft dadurch erweisen, daß sie diesen Zusammenhang wieder herstellt. In dem Klinisch-therapeutischen Institut Dr. Ita Wegmans ist eine Musteranstalt für dieses Bestreben und seine praktische Auswirkung geschaffen.
Das künstlerische Leben muß der Anthroposophie besonders auf dem Herzen liegen. Wir haben in der Pflege der Eurythmie seit einer Reihe von Jahren, in der Deklamations- und Rezitationskunst ein neu auf-keimendes künstlerisches Leben. Das Musikalische steht damit in engster Verbindung. Die Pflege dieses Lebens wird in einer seigenen Sektion stattfinden. Frau Marie Steiner hat in der hingebendsten Art ihr Wirken mit diesem Leben verbunden. Sie ist von der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft selbst zur Leitung dieser Sektion ernannt.
Die bildende Kunst stand im Lichte des Goetheanumaufbaus. An den zentralen Arbeiten, die auf diesem Boden sich entwickelten, hat sich ein Stil entfaltet, der gewiß heute noch naturgemäß viele Gegner finden muß. Er kann ja selbstverständlich gegenwärtig nur erst unvollkommen zum Ausdruck bringen, was er will. Aber man wird ihn besser verstehen, wenn man der Anthroposophie im allgemeinen näherkommen wird. Miß E. Maryon hat mir in der Ausbildung dieses Stiles in einer Art geholfen, die sie zur Leiterin der Sektion für plastische Kunst machen muß.
#SE260a-111
Es gab früher eine Vorstellung «schöne Wissenschaften>. Sie schlugen die Brücke zwischen der eigentlichen Wissenschaft und den Werken der menschlichen schöpferischen Phantasie. Die Ansicht, die eine neuere Zeit von der «Wissenschaft» ausgebildet hat, drängte die «schönen Wissenschaften> ganz in den Hintergrund. Es wird von mir im «Goetheanum> demnächst über «schöne Wissenschaften> gesprochen werden. Wir in der Anthroposophischen Gesellschaft haben das Glück, einen herrlichen Repräsentanten der «schönen Wissenschaften> unter uns zu haben: Albert Steffen. Er ist dazu berufen, nicht nur der Leiter der Sektion für «schöne Wissenschaften> zu sein, sondern diesen zum Unheil der Zivilisation in die Ecke gestellten Zweig menschlichen Schaffens wieder aufleben zu lassen.
Außerdem gestatten es uns die Verhältnisse, durch die unter uns arbeitenden Persönlichkeiten eine Sektion für mathematische und astronomische Anschauungen zu bilden, sderen Leiter Dr. L. Vreede, und eine naturwissenschaftliche, deren Leiter Dr. Guenther Wachsmuth sein werden. Das astronomische Gebiet ist der Anthroposophie besonders wichtig, und durch die naturwissenschaftliche Sektion soll erwiesen werden, wie echte Naturerkenntnis nicht in Widerspruch, sondern in vollem Einklange mit Anthroposophie steht. Mit dem demnächst von ihm erscheinenden Buche hat Dr. G. Wachsmuth sich als den rechten Leiter dieser Sektion erwiesen.
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESVISSENSCHAFT INNERHALB DER KONSTITUTION DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT. IHRE GLIEDERUNG IN SEKTIONEN Dornach, 30. Januar 1924
#G260a-1987-SE112 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESVISSENSCHAFT
INNERHALB DER KONSTITUTION DER ANTHROPOSOPHISCHEN
GESELLSCHAFT. IHRE GLIEDERUNG IN SEKTIONEN
Dornach, 30. Januar 1924
#TX
Es muß nunmehr nadi und nadi dazu kommen, daß wir hier in Dornach gewissermaßen als in einem Musterbeispiel dasjenige einrichten, was ferner in der Anthroposophischen Gesellschaft sein muß. Das kann aber nur geschehen, wenn wirklich hier in Dornach auch ein durchdringendes allgemeines Verständnis von dem vorhanden ist, wie in der Zukunft die Gliederung der Gesellschaft und ihre allgemeine Konstitution gedacht ist.
Ich habe nun aus den Briefen, die ich mit Meldungen für die Klasse bekommen habe, gesehen, daß ein solches Verständnis keineswegs schon überall vorhanden ist. Daher werde ich, bevor wir zur Einrichtung kommen desjenigen, was eben eingerichtet werden soll, einiges hier noch sprechen müssen über das, was zu geschehen hat, und werde daher die nächsten drei Vorträge - Freitag, Samstag und Sonntag - noch ganz als allgelneine Vorträge für alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft halten, und mit der Gliederung der Vorträge für die verschiedenen Klassen dann in der nächsten Woche beginnen, wenn voll-ständig klar sein wird, wer sich der ersten zunächst einzurichtenden Klasse zuwendet.
Es muß zum Beispiel einiges noch schwinden, was in einzelnen Briefen so stark hervorgetreten ist. Es gab Briefe, in denen einfach gesagt worden ist, man bitte darum, nicht nur die Vorträge am Samstag und Sonntag, sondern auch die Vorträge am Freitag hören zu können. Nun, sehen Sie, daraus geht ja hervor, daß dasjenige, was mit der Gliederung der Gesellschaft als solcher und den in ihr zu errichtenden Klassen gemeint ist, eben noch nicht in durchgreifender Weise verstanden ist. Und darüber möchte ich heute einiges sprechen.
Es wird ja ganz gleichgültig sein, an welchem Tage in der nächsten Zeit für die Mitglieder der ersten Klasse gesprochen werden wird. Es könnte ja auch so sein, daß man die Einteilung trifft, daß am Freitag und Samstag für die allgemeine Gesellschaft gesprochen wird, und am
#SE260a-113
Sonntag für die Mitglieder der ersten Klasse. Also nicht wahr, so leicht darf eben diese Sache nicht genommen werden. Daß sie nicht leicht genommen werden darf, das könnte ja hervorgehen aus der strengen Art, in der die Dinge in den Statuten ausgesprochen worden sind. Es handelt sich wirklich darum, jetzt einzusehen, was die Anthroposophische Gesellschaft werden soll.
Von der Anthroposophischen Gesellschaft soll zunächst wirklich jeder Mensch, der von ihr hört, wissen können, daß sie nichts zu tun hat mit irgendwelcher Geheimnistuerei; daß sie durchgreifend, wie andere Gesellschaften, eine öffentliche Gesellschaft ist. Ich hätte sehr gern erlebt, daß von dem Zeitpunkt an, wo die Anthroposophische Gesellschaft eingerichtet worden ist, 19 IZ, 1913, dies sogleich verstanden worden wäre. Dann wäre manches leichter gewesen, als es jetzt ist. Denn dazumal habe ich, weil das ein integrierender Bestandteil der Maßnahmen war, eben dies vollzogen, daß ich mich selber von der eigentlichen Verwaltung der Anthroposophischen Gesellschaft zurück-gezogen habe und nichts anderes sein wollte, als derjenige, der das Erkenntnisgut oder die Impulse, die in die Anthroposophische Gesellschaft fließen sollen, hereinträgt. So daß also die Möglichkeit gegeben gewesen wäre, daß die Anthroposophische Gesellschaft - gerade weil nicht derjenige, der die Impulse hereinträgt und die Leitung in einer Person vereinigt sind -, daß die Anthroposophische Gesellschaft leicht in der Welt hätte wirken können zur Fixierung des Urteiles über die anthroposophische Sache.
Das ist, was nicht geschehen ist, und weswegen eben jetzt dieser Zustand eintreten mußte, daß ich zu gleicher Zeit die Impulse hinein-zutragen habe und den Vorsitz der Gesellschaft übernehmen mußte, was gerade dazumal eben vermieden werden sollte.
Das war wirklich ein außerordentlich schwerer Entschluß, weil dadurch im Grunde genommen alles anders werden muß, und es sehr schwierig sein wird nach manchen Gebräuchen, die eingerissen sind im Laufe der Jahre, eben dies oder jenes nun gründlich anders zu machen.
Die Anthroposophische Gesellschaft muß wirklich nach zwei Seiten hin ihre Lage ganz genau erkennen. Das erste ist eben, daß sie sich bewußt sein muß, daß sie für jeden Menschen in der Welt da sein muß,
#SE260a-114
der in seiner Seele die Wege zum Geistigen sucht, daß sie also in dieser Beziehung eine völlig öffentliche Gesellschaft, eine Gesellschaft, die nach außen hin ganz unabhängig ist, sein muß. So daß man innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft wirklich nicht wird engherzig sein dürfen in bezug auf die Aufnahme.
Ist dies genügend bekannt, dann wird auch die Anwesenheit dieser oder jener Persönlichkeit, die vielleicht sich nicht sehr gut eignet für die anthroposophische Sache, in der Anthroposophischen Gesellschaft ja keine Schwierigkeiten zu machen brauchen. Nur so lange, als man die Anthroposophische Gesellschaft verantwortlich macht für jede einzelne Persönlichkeit, die drinnen ist, entstehen natürlich Schwierig-keiten. Die Anthroposophische Gesellschaft als solche sollte unbegrenzte Möglichkeiten haben, jedem Menschen das zu geben, was er nach der eben angedeuteten Richtung sucht.
Zweitens aber sollte die Anthroposophische Gesellschaft sich klar sein darüber, daß sie nicht aus irgendeiner unbekannten oder unbestimmten Intention heraus gebildet ist. Darüber hätte sie sich schon klar sein können 1912, 1913, denn dazumal war schon ein größerer Teil des Lehrgutes da, und waren auch schon gewisse Impulse da, die darauf hingingen, das, was die geistige Welt uns in der Gegenwart sagen will, hier in der physischen Welt zu verwirklichen. Man hätte sich also vorstellen müssen, daß dazumal schon die Anthroposophische Gesellschaft nicht auf abstrakte Grundsätze gerichtet war, man solle dies oder jenes zu seinem Ideal machen, sondern daß sie begründet worden war auf das, was real vorhanden ist, was vorliegt, was erarbeitet worden ist im Laufe der langen Zeit. Und die Pflege dieses Erarbeiteten mit all den Konsequenzen für das künstlerische, für das religiöse, für das soziale Leben, kurz, für alle Zweige des menschlichen Lebens, diese Konsequenzen auszuarbeiten, das ist das, was dann ferner der Anthroposophischen Gesellschaft obliegt.
Nun, wenn man dies in rechtem Sinne faßt, dann unterscheidet sich heute eigentlich die Anthroposophische Gesellschaft von allen übrigen Gesellschaften in der Welt, denn die werden nicht begründet auf ein Reales, sondern sie werden begründet auf allerlei menschliche Absichten.
#SE260a-115
Deshalb ist es so stark in den sogenannten Statuten zum Ausdrücke gekommen, daß die Anthroposophische Gesellschaft diejenigen Persönlichkeiten umfaßt, die in dem, was vom Goetheanum ausgeht an Geistesleben, etwas Berechtigtes sehen. Also es ist nicht gesagt, man soll diese oder jene Prinzipien einhalten, sondern es ist alles begründet auf das, was unter Menschen schon da ist, oder wenigstens unter Menschen da sein kann.
Das ist dasjenige, was außerordentlich wichtig ist. Und man kann sogar sagen: Wenn die Anthroposophische Gesellschaft ein Zeitbewußt-sein in sich entwickeln will, so kann sie das nicht, ohne Rücksicht auf das zu nehmen, was ich eben gesagt habe. Denn unsere Zeit, unsere Gegenwart ist einmal - bitte das Wort recht ernst zu nehmen -, unsere Gegenwart ist einmal die Zeit der großen Entscheidungen. Vieles, Ungeheures entscheidet sich in der Gegenwart für die Menschheit. Diese Gegenwart wird ja natürlich lange dauern, aber vieles, unermeßlich vieles entscheidet sich in der Gegenwart für die Menschheit. Viele Menschen haben eben nicht ein Bewußtsein davon, wie stark die Gegen-wart die Zeit der großen Entscheidungen ist. Und vor allen Dingen muß in der Anthroposophischen Gesellschaft ein starkes Bewußtsein für diese Entscheidungen entwickelt werden.
So daß man auf der einen Seite sagen muß: Die Anthroposophische Gesellschaft darf nicht etwa den Grundsatz aufstellen, ich wähle mir Vertrauensleute, und die können dann entscheiden nach ihren Sympathien und Antipathien, wen sie aufnehmen wollen und wen sie nicht aufnehmen wollen. Dadurch, daß dies in ziemlich umfassender Weise geschehen ist, dadurch ist allmählich das gekommen, daß so viele Menschen, wenn sie eintreten wollen, sich abgestoßen fühlen von der Anthroposophischen Gesellschaft. Immer wieder hört man das Urteil: Die Anthroposophie ist schon recht, aber mit den Anthroposophen ist es ja nicht auszuhalten. - Es treten einem fast alle Tage die praktischen Konsequenzen einer solchen Sache entgegen.
Es würde außerordentlich schwierig sein, die Dinge, die geschehen müssen zur Pflege der Anthroposophie, durch die Anthroposophische Gesellschaft zu pflegen, wenn die Anthroposophische Gesellschaft nicht Verständnis zeigen würde für möglichste Weitherzigkeit, aber auch
#SE260a-116
für möglichsten Eifer. Engherzigkeit und Lässigkeit verträgt eben die anthroposophische Sache als solche nicht.
Nun können Sie heute überall sehen, wie diejenigen menschlichen Zusammenhänge, die geistige Substanz in sich haben, energisch an der Pflege dieses Zusammenhanges, den sie durch diese geistige Substanz erreicht haben, wirklich arbeiten. Wir sehen ja heute, wie überall diese Menschengruppen - große, weltumspannende Menschengruppen - beginnen, in der allerregsten Weise wiederum zu arbeiten, weil eben heute die Zeit der großen Entscheidungen in den Menschenherzen ist.
Die Anthroposophische Gesellschaft kann nun wirklich etwas werden, was mitzureden hat in der Gegenwart, wenn die angedeuteten Intentionen aufgenommen werden von den Mitgliedern dieser Anthroposophischen Gesellschaft.
Nun muß vor allen Dingen inimer mehr und mehr feststehen, wie sich das Verhältnis des einzelnen Mitgliedes zur Anthroposophischen Gesellschaft denken läßt. Sehen Sie, das, was man Lehrgut, was man die Impulse der Anthroposophischen Gesellschaft nennen kann, das ist ja von jedem einzusehen - ich habe das unzählige Male gesagt -, der nur seinen allgemeinen Menschenverstand gebrauchen will. Es handelt sich wirklich gar nicht darum, daß man zum Einsehen, zum Verstehen desjenigen, was als Anthroposophie vor die Welt hintritt, irgendwie eine Initiation schon oder dergleichen braucht, sondern dasjenige, was vor die Welt hintritt, kann, wenn man nur vorurteilslos genug ist dazu, verstanden werden.
Ja, wenn man nur vorurteilslos genug ist dazu! Gewiß, diese Vorurteilslosigkeit ist schwer in unserer Zeit, denn die Menschheit hat fast ganz den Zusammenhang mit der geistigen Welt verloren. Und wo man heute hinschaut, kommen einem Urteile entgegen wie dieses, was ich nun nennen will. Da wird einem gesagt: Ja, gewiß, es gibt eine geistige Welt, aber die geistige Welt ist eben das Geheimnis. Der menschliche Verstand ist nicht geeignet, irgendwie etwas von der geistigen Welt einzusehen. - Und es wird geradezu als eine Eigenschaft eines richtigen Hinschauens auf die geistige Welt angesehen, daß diese geistige Welt als etwas Geheininisvolles auftreten soll. Was man nicht wissen kann, wovon man nur eine Ahnung haben kann, was man möglichst
#SE260a-117
nur fühlen soll und dergleichen, das wird als das wirkliche Geistige angesehen. Und es ist den Leuten unangenehm, zuzugeben, daß das Geistige wirklich auch eingesehen werden soll. Die meisten Menschen haben dazu gar nicht den Mut. Die meisten Menschen finden es außerordentlich bequem zu sagen: Das Geistige ist das, was man eben ahnen muß, was man nicht einsehen kann, was das Geheimnis ist. Nun besteht alle Geisteswissenschaft darinnen, daß das Geheimnis eben enthüllt werde, daß das Geheimnis wirklich vor die Welt hintrete.
Man kann sagen, die einzige große Institution, obwohl das selbst von Angehörigen dieser Institution nicht immer richtig eingesehen wird, die wirklich darauf ausgeht, das Geheimnis vor die Welt hinzustellen, es zu offenbaren das ist die katholische Kirche. Die katholische Kirche wird, wenn sie richtig verstanden wird, kein Verständnis dafür haben, zu sagen: Dasjenige, was Inhalt der geistigen Welt ist, darf nicht in Ideen, in Begriffen ausgedrückt werden. - Denn es beruht gerade das Wesen der katholischen Kirche darauf, daß ausgedrückt werde in Begriffen das, was Geheimnis, was also zunächst vor der Sinnenwelt verhüllt ist. So daß man die ganze Stimmung, die ich jetzt charakterisiert habe, eigentlich erst in den allerletzten Jahrhunderten hatte. Sie muß aber heute wiederum dahinschwinden. Man muß wiederum einsehen, daß eben die Aufgabe der Menschheit gerade darinnen besteht, zur Enthüllung des Geheimnisvollen zu kommen.
Als ich in den achtziger Jahren zunächst in Wien viele der damaligen Mitglieder der sogenannten meosophischen Gesellschaft traf - es waren zum Teil Mitglieder, die den intimsten Kreisen der Theosophischen Gesellschaft, der Theosophical Society angehörten -, da konnte man eine Redensart immer wiederum hören: «Abgrundartig uief.> Es waren manchmal von den Leuten die einfachsten Sätze angeführt, die einfachsten Dinge, aber es wurde bemerkt, daß diese einfachsten Dinge die Menschen doch nicht verstehen können, weil sie abgrundartig tief sind. Und wenn man dann so einen fragte, wie er nun die Sache auffaßt, dann sagte er, das könne er eben nicht sagen, weil sie abgrundartig tief ist. - Ja nun, mit dem Herumreden um das Geheimnis und nur immer darauf aufmerksam machen, daß es geheimnisvoll ist, mit dem darf eben die Anthroposophische Gesellschaft nicht arbeiten. Es sollte gerade
#SE260a-118
die Anthroposophische Gesellschaft darauf kommen, daß sich jeder einzelne, der darinnen ist - sonst hat es ja keinen Zweck, daß er in sie eintritt -, wirklich mit demjenigen bekanntmacht, was über die Geist-welt von der Anthroposophie gegeben werden kann. Er sollte sich zu-nächst bemühen, das, was da gegeben werden kann, zu seinem Verständnis zu bringen. Es ist wirklich nicht zuviel verlangt. Wie gesagt, in nichts soll Pedantismus herrschen, es wird sich nicht darum handeln, daß man in pedantischer Weise die Richtlinien, die ich jetzt sagen werde, auch unbedingt befolgt. Ausnahmen muß es überall geben, und es werden zahlreiche Ausnahmen nötig sein, nach der einen und nach der anderen Richtung hin. Aber es ist tatsächlich so, daß man wirklich zwei Jahre eigentlich braucht, um sich innerhalb desjenigen zu orientieren, was die Anthroposophische Gesellschaft jetzt schon, da ihr Lehrgut und ihre Impulse durch Jahre ausgearbeitet worden sind, in sich hat. Wer nicht zwei Jahre in der Anthroposophischen Gesellschaft ist, tut ja nicht besonders gut, gleich in eine Klasse einzutreten. Es ist das zu seinem eigenen Guten, wenn er gar nicht daran denkt, sondern wenn er zunächst daran denkt, wirklich dasjenige zu pflegen - und dessen ist ja genug da -, was als Anthroposophie vorhanden ist.
Und dabei komme ich gleich auf das Wesentliche der Anthroposophischen Gesellschaft. Ich habe es in der dritten Abteilung der Ansprachen an die Mitglieder auch kurz angedeutet als das Wesentliche der Gesellschaft.
Wenn man die Dinge von außen anschaut, kann man sagen: Was die Anthroposophie gibt, ist in Büchern, ist in öffentlichen Vorträgen enthalten, das kann ich für mich kennenlernen. - Das kann auch jeder, und es ist im Grunde genommen gar nichts einzuwenden, wenn jemand so etwas sagt. Und es schadet nicht, im Gegenteil, es wird sehr gut sein, wenn möglichst viele Menschen in der Welt sind, die auch bei diesem Standpunkte bleiben, daß sie sagen: Ich brauche keine Gesellschaft, ich beschäftige mich mit dem, was in der Literatur gegeben ist oder was sonst von Anthroposophie in die Öffentlichkeit dringt. - Die Anthroposophische Gesellschaft ist gerade dazu da, Anthroposophie lebendig zu machen. Und da tritt doch nun dasjenige auf, was auch die Gesellschaft berechtigt erscheinen läßt, trotzdem die Anthroposophie da ist.
#SE260a-119
Anthroposophie soll unter Menschen leben. Und es handelt sich denn doch darum, daß, wenn Anthroposophie unter Menschen lebt, man wirklich berücksichtigt, was es heißt, mit Menschen zwammen ein gemeinsames Geistesziel zu verfolgen. Das heißt nämlich sehr viel.
Ich kann in einen Zweig der Anthroposophischen Gesellschaft gehen, dort kann in mehr oder weniger geschickter oder ungeschickter Weise meinetwillen irgend etwas vorgebracht werden, was derjenige, der da hingeht, längst kennt, weil er es da oder dort gelesen hat. Es ist unter allen Umständen etwas nicht richtig in der Gesellschaft, wenn dann der Betreffende weggeht mit dem Urteil: Ich hätte ja nicht hinzugehen gebraucht, denn das, was vorgebracht ist, habe ich ja schon gewußt. -Es muß schon die Möglichkeit sein, daß auf anthroposophischem Gesellschaftsboden Realempfindungen als Urteile sich geltend machen.
Wenn die Menschen essen, so sagen sie in der Regel nicht: Ich brauchte jetzt nicht ein Huhn zu essen, denn ich weiß ja schon, wie das Huhn schmeckt. Ich kenne das Huhn in seinem Verhalten zu meinem Gaumen, auf meiner Zunge. Was brauche ich denn das Huhn zu essen, da ich es doch schon ganz gut kenne in seiner Wirkung auf mich. - Nicht wahr, das ist ein Nonsens, ein Unsinn.
Und ebenso sollte es gar nicht möglich sein, daß dieses Urteil aufkommt: Ich brauche ja nicht in die anthroposophische Mitgliederversammlung zu gehen, denn ich weiß schon dasjenige, was da geboten wird. - Dann aber, wenn solch eine Empfindung in berechtigter Weise entstehen soll, dann ist es notwendig, daß man eben in die Gesellschaft als solche oder in ihre einzelnen Zweige nicht deshalb bloß geht, um das zu erfahren, was dort gesagt werden kann, oder gar was dort debattiert werden kann, sondern daß man hingeht, weil dort Menschen sind. Man muß um der Menschen willen hingehen können.
Und das ist es gerade, was einmal gründlich erfaßt werden muß, daß man in die Anthroposophische Gesellschaft geht, nicht bloß, um belehrt zu werden, sondern um mit den Menschen zusammenzusein, die in der Anthroposophischen Gesellschaft oder in ihren einzelnen Zweigen sind. Ob die Anthroposophische Gesellschaft gedeihen wird oder nicht, hängt davon ab, daß man ein Gefühl hat für das Leben der Anthroposophie in Menschenseelen; nicht bloß in der eigenen Seele,
#SE260a-120
sondern in Menschenseelen. Sonst wird es immer so gehen, daß die Menschen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft sind, da hin-gehen, um etwas zu erfahren. Wenn sie aber Menschen finden wollen, dann gehen sie da hin, wo die Menschen sich näherkommen: zu Fiveo'clock-Teas oder anderen Dingen, die ich jetzt nicht nennen will. Also ich meine, der Mensch braucht den Menschen. Aber es darf nicht so sein innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, daß man nicht um der Menschen willen hingeht, und es muß dafür gesorgt werden, daß man um der Menschen willen, in denen Anthroposophie lebt, in die Anthroposophische Gesellschaft geht. Damit kommt ein ganz neues Element in das Leben der Anthroposophie innerhalb der Gesellschaft hinein, ein Element, das aber drinnen sein muß. Es kommt das Moment des rein Menschlichen hinein. Das sind die Dinge, die in der Gegenwart wirklich im eminentesten Sinne verlangt werden.
Sie wissen, wir haben während der Weihnachtstagung gebeten, daß gewisse Persönlichkeiten uns ihre Erfahrungen über das geistige Leben der Gegenwart draußen in der Welt schreiben, daß sie an Herrn Steffen schreiben, als dem Redaktor des «Nachrichtenblattes» und des «Goetheanum», ihre Erfahrungen über das geistige Leben in der Gesellschaft und auch außer der Gesellschaft. Und ich habe ja über die Bedeutung dieser Sache im letzten Nachrichtenblatt mich ausgesprochen.
Nun, dadurch, daß zum Teil dies schon befolgt worden ist, haben sich wirklich allerlei interessante Dinge, die man aber im Grunde schon wußte, wiederum eingestellt, so zum Beispiel das Folgende: Da hat die religiöse Gemeinschaft für christliche Erneuerung, von der Sie ja wissen, daß sie von der anthroposophischen Sache aus ihre Impulse bekommen hat - sie arbeitet als selbständige Gemeinschaft, hat aber von der anthroposophischen Sache ihre Impulse bekommen -, vor ganz kurzer Zeit eine Versammlung abgehalten in Kassel. Diese Versammlung in Kassel hat zunächst das Eigentümliche geboten - was sehr charakteristisch ist für die Gegenwart -, daß sie aus Teilnehmern bestanden hat, die entweder ziemlich jung waren, oder die schon bejahrt waren. Der Berichterstatter sagt, daß zumeist Leute da waren, so bis zu den Zwanzige4ahren hin, dann wiederum Leute vom fünfunddreißigsten oder achtunddreißigsten Jahre an ins höhere Alter, daß aber gerade das
#SE260a-121
mittlere Alter, die mittlere Menschheit, die in den Zwanziger-, Dreißigerjahren gestanden hätte, bei dieser Versammlung gefehlt hat. Das ist sehr charakteristisch. Denn das ist das Bedeutsame - man kann das, wenn man die Augen offen gehalten hat, überall beobachten -, daß bei allen wichtigen Angelegenheiten und Entscheidungen der Welt in der letzten Zeit die Leute gefehlt haben, auf die es gerade ankommt, die zwischen dem zwanzigsten, zweiundzwanzigsten Jahre und dem achtunddreißigsten Jahre und so weiter stehen, auf die es ganz besonders ankommt. Ich sage nicht, daß es auf die anderen nicht ankommt für die Sache, aber es kommt darauf an, daß man diese Menschen auch hat, dann können auch die anderen etwas machen, die jünger und älter sind. Aber wenn man gerade diejenigen Menschen nicht hat, die in diesem wichtigen Lebensalter stehen, die Wichtigkeit dieses Lebensalters können Sie aus manchen anthroposophischen Andeutungen ersehen, dann ist es außerordentlich schwierig.
Aber trotzdem, bei dieser Versammlung in Kassel hat sich allerlei ergeben. Sie war ja durchaus veranstaltet von der Christengemeinschaft. Da waren die Leute zunächst eingeführt worden in Kreisen, aufzusteigen zu den höheren Wahrheiten, eingeführt worden in dasjenige, was eben vom freien religiösen Standpunkte die Christengemeinschaft zu sagen hat. Dann wurde angeschlossen das, was ja die Christen-gemeinschaft auch hat: die Kultushandlung. So war die Woche vergangen, ich glaube vom Mittwoch bis zum Sonntag, am Sonntag hat sich die Kultushandlung darangeschlossen. Dann gab es noch zwei bis drei Tage für Debatten, wo die Leute untereinander reden konnten. Da zeigte sich, wie diese Menschen, aus einem wirklich in der Gegenwart ganz energischen Bedürfnisse des Menschenherzens, mit voller Seele aufgestiegen sind durch diese Tage bis zu der Kultushandlung hin, und wie sie dann nachher alle gefragt haben: Es muß doch nun noch etwas sein, wozu man kommen muß? Das alles kann ja nur eine Vorbereitung sein. Es muß etwas sein, wozu man kommen muß.
Und da hat sich denn herausgestellt, daß das, was die Leute verlangen, Anthroposophie ist. Und wahrscheinlich wird gerade aus dieser Jugendtagung in Kassel manches Schöne hervorgehen, zum Beispiel, daß man, ebenso wie die Christengemeinschaft an religiöse Erneuerung
#SE260a-122
gedacht hat, denken wird an pädagogische Erneuerung. Und wenn mit all der Kraft, die da ist, nun wirklich einmal gearbeitet wird auch an der pädagogischen Erneuerung, dann kann schon auch etwas entstehen.
Ich führe den Fall aus dem Grunde an, weil ja daraus ersichtlich ist, daß Anthroposophie wahrhaffig nicht aus irgendeinem Eigensinn hervorgeht, sondern aus dem, wonach die menschliche Seele heute verlangt. Und wird sie zunächst durch das Gefühlsmäßige vorbereitet, dann kommt sie notwendigerweise darauf, nicht mehr nur das Geheimnis verschwimmen und verschwebeln zu lassen, sondern tatsächlich auch das enthüllte Geheimnis in der Anthroposophie gerade zu ergreifen. Es darf nun eben nicht weiter die Anthroposophische Gesellschaft ein Hindernis sein für dieses in die Welt Hinaustragen dessen, was die Welt verlangt, was zahlreiche Herzen, zahlreiche Seelen verlangen. Und das ist auch dem zugrunde liegend, daß durch die Weihnachts-tagung die Anthroposophische Gesellschaft als eine völlig öffentliche ausgearbeitet worden ist.
Aber all das, was da zunächst begründet werden kann, ist einzusehen - teils muß es verstandesmäßig, teils eben empflndungsgemäß eingesehen werden -, wenn es einfach da ist, wenn es einfach auftritt. Es kann doch sowohl unsere Anthroposophie, wie ihr pädagogisches Element, einfach von dem vorurteilslosen Menschen eingesehen werden. Er hat gar nicht nötig, etwas anderes als seinen gesunden Menschen-verstand anzuwenden, wenn er nur seinen gesunden Menschenverstand nicht einschnüren läßt durch die Vorurteile, die in der Gegenwart vorhanden sind. So daß man sagen kann: Anthroposophische Gesellschaft muß begründet sein durchaus auf Einsicht, auf nichts anderes als auf Einsicht. Und von niemandem, der bloß in der Anthroposophischen Gesellschaft ist, ist es natürlich zu verlangen, daß er sich zum Träger oder positiv Arbeitenden der Anthroposophie macht. Es ist vollberechtigt, daß das einzelne Mitglied sich einfach so verhält, daß es erstens Anthroposophie sucht, zweitens anthroposophische Menschen innerhalb der Gesellschaft. Und einen Anspruch an ein Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, daß das betreffende Mitglied auch etwas zur Verbreitung tut, hat man eigentlich unmittelbar nicht.
Denn auch das muß durchaus wahr sein, was ich in einem der Kapitel
#SE260a-123
meines Briefes an die Mitglieder in dem Nachrichtenblatte gesagt habe: Agitieren im gewöhnlichen Sinne des Wortes kann die anthroposophische Sache nicht. Alles Agitieren ist vom Übel. - Man hat auch nicht nötig, auf anthroposophischem Boden zu agitieren, denn man hat nur nötig, das den Menschen zu gehen, wonach sie ohnedies verlangen, wenn man nur die Wege findet, daß die Menschen einem ihr Verlangen eben äußern. Sie äußern es am wenigsten, wenn man mit der Miene des Hochgelehrten auftritt und ihnen erklärt: Das, was meine Überzeugung geworden ist, das mußt du glauben, sonst bist du ein Dummkopf, und jeder ist ein Dummkopf, der nicht das glaubt, was ich glaube. -Das ist sehr wichtig, daß wir uns die Gesinnung aneignen, daß es nicht so ist, als ob wir ein Recht hätten, den Menschen etwas anderes zu geben, als wonach sie verlangen, als ob wir ein Recht hätten, uns über die Menschen zu stellen, denen wir was bringen wollen. Wir müssen uns abgewöhnen, in gewöhnlich lehrhafter Weise oder in agitatorischer Weise aufzutreten, so daß man wirklich auch wahr machen kann: Einsicht muß das Grundelement des Lebens in der Anthroposophischen Gesellschaft sein.
Aber die Anthroposophische Gesellschaft muß ja auch verwaltet werden, das heißt, das Lehrgut muß verwaltet werden, und dazu braucht man Menschen. Und an diese Verwaltung des Lehrgutes mußte nun auch gedacht werden gerade durch die Weihnachtstagung. Und die Träger dieser Verwaltung des Lehrgutes müssen im Anschlusse an den gewählten Vorstand und im Anschlusse an die Leitung des Goetheanums diejenigen sein, die sich nun zu den. Klassen hinwenden. Denn sehen Sie, um Anthroposophie zu verstehen, braucht man kein Vertrauen. Um Anthroposophie zu verwalten, gehört natürlich das vollste Vertrauen zu dem, der da als Mensch innerhalb der Verwaltung arbeitet. Also da, wo die Klassengliederung beginnt, da beginnt die Atmosphäre des Vertrauens, da muß man wirklich auf Vertrauen bauen. Und ich habe es ja, solange es eine Anthroposophische Gesellschaft gibt, immer wieder gesagt: Das ist kein Widerspruch, daß man Anthroposophie nicht auf Autorität hin, nicht auf Vertrauen hin annimmt, sondern auf die Einsicht annimmt, daß man aber die Verwaltung der anthroposo-phischen Sache nur auf Vertrauen bauen kann.
#SE260a-124
Diejenigen Persönlichkeiten, die irgend etwas unternehmen, die irgend etwas zu versorgen haben, die irgend etwas zu pflegen haben, denen gegenüber ist es notwendig, daß menschliches Vertrauen herrscht, daß also tatsächlich diese Vertrauensfrage innerhalb der Klasse ebenso ernst genommen wird, wie auf der anderen Seite weitherzig genommen werden muß das, was Anthroposophische Gesellschaft ist.
Schon aus diesem Grunde ist es notwendig, daß jeder, der zu den Klassen gehören will, sich auch frägt, ob er denn nun wirklich eine Persönlichkeit werden will, die von vornherein die anthroposophische Sache vor der Welt nicht nur vertreten, sondern repräsentieren will, mit allem Mut und in aller Weise.
Es ist ja tatsächlich so, daß jene esoterische Vertiefung, von der Sie so viel lesen können in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», von der aber auch so viel gesprochen wird, nunmehr durch die drei Klassen eintreten soll.
Das wird nicht der Fall sein können, wenn nicht die Angehörigen dieser Klassen sich als wirkliche Repräsentanten der anthroposophischen Sache fühlen, wenn sie sich nicht fragen, ob sie nun auch wirklich das auf sich nehmen wollen, die anthroposophische Sache vor der Welt auf irgendeine Weise zu repräsentieren. Selbstverständlich kann sie nicht jeder in ihrer Totalität repräsentieren - das ist auch nicht notwendig, nicht einmal nützlich -, aber in irgendeinem Gebiete kann er es. Dann muß er aber tatsächlich eine Persönlichkeit sein, die sich vol] auf den Boden, ich sage jetzt nicht des Vertrauens, das zur Anthroposophie nötig ist, aber des Vertrauens, das zur Verwaltung der anthroposophischen Sache notwendig ist, stellt. Da muß insbesondere unter uns aufhören - wiederum habe ich in dem dritten Kapitel meines Briefes an die Mitglieder, der diese Woche erscheinen wird, darauf hinge-deutet-, was so vielfach sich aus Früherem in der Anthroposophischen Gesellschaft ergeben hat: Ich nenne es in diesem dritten Kapitel meines Briefes an die Mitglieder «das Esoterikspielen». Man kann das schon auffassen als Esoterikspielen im weitesten Umfange. Esoterik ist wirklich sowohl gegenüber der eigenen Seele, wie gegenüber dem Menschen und gegenüber unserer Zeit eine außerordentlich ernste Sache. Damit sage ich nicht, daß der Ernst dadurch zustande kommt, daß man ein
#SE260a-125
langes Gesicht macht und möglichst sentimental ist und wichtig tut, sondern es muß der innere Ernst, der sogar mit ganz gutem Humor vereinbar ist, vorhanden sein. Es darf zum Beispiel nicht der Usus herrschen: Ich weiß etwas, das kann ich dir aber nicht sagen, weil du noch nicht reif bist dazu. - Und nun erregt man die sonderbarsten Gefühle dadurch. Vor allen Dingen macht man sich ungeheuer wichtig, und man merkt es nicht, daß man sich wichtig macht.
Gewiß, es gibt Dinge, die im engsten Kreise gepflogen werden müssen, aber die nicht so behandelt werden dürfen. Auf der anderen Seite sind esoterische Dinge nicht diejenigen, die man in der oftmals gepflogenen Weise beschwätzt, so daß sie nur herumgeschwätzt werden. Diese Dinge sind sogar sehr schwer zu beschreiben, weil sie auf Lebenshaltun-gen beruhen. Aber man wird da oder dort schon verstehen, was ich meine. Um bloß reden zu können, daß dies oder jenes ein Geheimnis der Mysterien war, oder daß diese oder jene Inkarnation existiere, dazu sind diese Dinge nicht da. Sie müssen mit dem denkbar größten Ernste behandelt werden. Sie müssen mit einer gewissen Einsicht in das Folgende behandelt werden.
Wie leicht hört man die Redensart: Ach, das sind Leute, die treiben das oder jenes, mit denen kann man ja esoterisch doch nichts machen; machen wir unter uns Esoterik, unter uns würdigen Leuten. - Das ist an sich schon etwas, was ungeheuer zur Zerstörung der Anthroposophischen Gesellschaft beiträgt. Erstens ist es ja zumeist nichts anderes als die maskierte Cliquenbefriedigung, Cliquenbedürfnisbefriedigung, zweitens ahnt man nicht, wenn man so etwas sagt, wieviel Esoterisches das Leben auf jedem seiner Gebiete bietet. Das Leben ist ja ganz esoterisch. Und Sie glauben ja gar nicht, wieviel Esoterik in einem Universitätslaboratorium lebt, nur daß die Professoren und die Adjunkten nichts davon wissen, aber sie lebt trotzdem da. Das Esoterische besteht ja nicht darinnen, daß man irgend etwas verachtet, um nun dasjenige zu pflegen, was einem gerade gefällt, sondern das Esoterische besteht darinnen, daß man gerade sich in der energischesten Weise mit dem Leben und seinen Tiefen auseinandersetzen kann.
Das ist eben dasjenige, was ich meine mit dem Spielen mit Esoterik. Solche Dinge verduften ja auch sehr bald. Man begründet irgendeinen
#SE260a-126
Zirkel aus einem maskierten Cliquenbedürfnis heraus, aber er verduftet sehr bald. Man findet es zu schwer, sich mit der realen Esoterik des Lebens auseinanderzusetzen und findet es bequem, Esoterik zu beschwätzen. Ja, wo Esoterik geht von Mund zu Mund, wenn es audi noch so salbungsvoll geschieht, da ist sie eben ein esoterisch Schwätzen. Und das ist das, was wirklich unendliches beiträgt zum Zerstören der Anthroposophischen Gesellschaft und sogar unmittelbar zum Zerstören der anthroposophischen Sache. Daher wird es schon so sein, daß tatsächlich innerhalb der Klassen die Vertrauensfrage in der Zukunft im allereminentesten Sinne ernst genommen werden muß.
Das wird nicht gelten, daß man einfach sagt: Ich habe Anspruch darauf, wenn ich zwei Jahre in der Gesellschaft bin, in eine Klasse aufgenommen zu werden. In eine Klasse aufgenommen zu werden heißt, daß die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft arbeiten muß mit dem Betreffenden. Die Leiter können nicht versklavt werden. Sie können nicht gezwungen werden, mit denjenigen zu arbeiten, mit denen sie nicht arbeiten wollen, weil sie es nicht können. Daher muß schon die Möglichkeit bestehen, und das ist, worauf auch jetzt hingewiesen werden muß, daß die Weihnachtstagung in vollem Ernst genommen werden muß. Es muß die Möglichkeit bestehen, daß die Leitung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft denjenigen, die nicht sich hineinfinden Repräsentanten der anthroposophischen Sache zu sein, sagt: Du bist in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft selbstverständlich sehr willkommen, aber Mitglied der Klasse kannst du leider nicht sein. - Das muß in der Zukunft die Möglichkeit sein. Dies muß im allereminentesten Sinne ernst genommen werden.
Selbstverständlich werden diese Dinge niemals aus irgendwelchen Sympathien und Antipathien heraus so sein, sie werden nicht mit Unernst gemacht werden, aber sie müssen durchaus verstanden werden. So daß also tatsächlich, wenn von Mitgliedern der Schule einfach gegen die Leitung gehandelt wird, das wird eintreten müssen, was ich eben angedeutet habe. Nicht wahr, jeder Mensch hat seine Sonderwünsche, der eine will das, der andere will jenes. Kein Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft im allgemeinen kann natürlich verhindert werden, seine Sonderwünsche zu haben. Dadurch würde man eben die
#SE260a-127
Anthroposophische Gesellschaft zu dem machen, was sie ganz und gar nicht sein soll: zu einer Sekte oder zu einer Geheimgesellschaft. Das darf sie nicht sein.
Nun werden die Klassen auch ganz und gar nicht irgendwie den Charakter einer Geheimgesellschaft tragen. Geheimgesellschaften sind heute nicht möglich, die heutige Zeit verlangt etwas anderes. Aber das niuß möglich sein, daß die Leitung nur mit denen zusammenarbeitet, mit denen sie zusammenarbeiten kann. Daher wird schon in der Zukunft von denjenigen, die irgendeiner Klasse angehören wollen, ver-langt werden müssen, daß sie in bezug auf alles, was anthroposophische Sache ist, sich mit dem Vorstand auseinandersetzen, wenn sie irgend etwas von sich aus tun. Dadurch allein wird es möglich sein, daß der Vorstand sich verantwortlich fühlen kann für die ganze Anthroposophische Gesellschaft. Und er will sich verantwortlich fühlen, und er will für die anthroposophische Sache einstehen.
Also, es geht nicht, daß man in der Zukunft kommt und sagt: Ach, da machen wir Dinge, die den Vorstand nichts angehen. - Selbstverständlich kann man sie machen, aber dann kann man nicht den Klassen angehören. Es wird schon notwendig sein, daß auch dieses Prinzip des Zusammenhaltens in der Gesinnung ebenso wesentlich ist in unserer Schule, wie es immer wesentlich war in allen Mysterien. Sonst bleibt unser ganzes anthroposophisches Wesen etwas, was doch nicht zu seinem Ziele kommen kann, denn das sind einfach gesetzmäßige Anforderungen der Sache.
Man kann ja sagen: Ich will die anthroposophische Sache zerstören. Gut, das steht natürlich jedem frei. Aber man kann nicht zumuten, daß diejenigen, welche die anthroposophische Sache leiten wollen, zugeben, daß nicht die Bedingungen erfüllt werden, die zum Bestande der anthroposophischen Sache notwendig sind.
Ob es nun die Einrichtung einer Gruppe ist, ob es irgend etwas anderes ist, es wird sich darum handeln, daß dies wirklich von den Angehörigen der Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft im Einkknge mit der Leitung gemacht wird, so daß die Leitung tat-sächlich zentralisiert hat diese Seite der anthroposophischen Sache.
Wer also bloß aus Neugierde, um vielleicht in den Klassen noch
#SE260a-128
etwas anderes zu hören als in der Anthroposophischen Gesellschaft, eintreten will, der sollte sich wirklich überlegen, es lieber nicht zu tun. Denn es war keine Redensart auf der Weihnaditstagtmg, daß gesagt worden ist: Es muß ein neuer Impuls in das Leben der Anthroposophischen Gesellschaft hineinkommen. Nicht wahr, es wird sich nicht daruin handeln, daß man etwa geheim tut mit dem großen Wissen der Klasse, sondern daß die Menschen - und in einer je höheren Klasse sie sind, desto mehr muß das der Fall sein - tatsächlich die Repräsentanten der anthroposophischen Sache werden. Und die muß eine reale sein, die ist nicht irgend etwas, was im Wolkenkuckucksheim herumsegeln kann. Das muß etwas Reales sein. Und dann darf nicht hinter dem Rücken des Vorstandes allerlei angezettelt werden. So daß also die Verwaltung der anthroposophischen Sache in der Zukunft durchaus in den Händen der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft liegen wird.
Auch die wird keine Geheimgesellschaft sein. Sie wird dafür sorgen, daß man immer wissen wird im weitesten Umfange, was sie tut. Aber ihr Angehöriger zu sein, wird, ebenso wie in der Anthroposophischen Gesellschaft selber, nur sich auf das gründen, was einen Sinn hat: daß man rn ihr Anthroposophie pflegen will mit anderen Menschen zusammen. Ebenso wird die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ihren Mitgliedern immer mehr und mehr die strengsten Verpflichtungen auferlegen. Anders wird sie nicht bestehen können, und anders wird sie keinen Sinn haben. Es wird zum Beispiel durchaus zu diesen Verpflichtungen gehören, daß dasjenige nicht fortdauert, was ja schon in einer unglaublichen Weise vielfach eingerissen ist: daß man diejenigen Menschen, die verantwortungsvolle Stellungen in unserer Anthroposophischen Gesellschaft versorgen müssen durch ihre Qualitäten, nach allen Seiten hin durchkritisiert. Es ist wirklich leicht zu kritisieren; etwas zu schaffen ist unendlich schwieriger. Wenn man bequem bei seinem täglichen Leben ist, das in der Versorgung der nur unmittelbar eigenen Angelegenheiten besteht, so kann man leicht den kritisieren, der seinen Tag dazu verwenden muß, um Dinge zu tun, die innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft eben doch geschehen müssen. So also wird tatsächlich eine Gesinnung auch nach dieser Richtung Platz greifen müssen, die darin wird bestehen müssen, daß man vor allen Dingen
#SE260a-129
darüber nachdenkt, was wirklich getan wird in der Anthroposophischen Gesellschaft. Die Frage muß abgelehnt werden, was einem nicht recht ist. Jetzt wird vorzugsweise darüber geredet, was einem nicht recht ist. Aber das ist die Hauptsache, daß man aufmerksam wird auf das, was getan wird, was wirklich geschieht. Das sollte eigentlich in das Bewußt-sein der Mitglieder der Gesellschaft hineinkommen, was wirklich geschieht. Und wenn auch durchaus nicht etwa falsches autoritatives Prinzip für die Leitung in Anspruch genommen werden soll, in einer gewissen Beziehung ist es schon richtig, daß die Leitung nicht zurecht kommen kann mit ihrer Aufgabe, wenn jeder, der gar nicht sich kümmert darum, wie die Dinge zustande kommen, nun auch diese Leitung nach allen Richtungen abkanzelt.
Das sind die Dinge, auf die ich zunächst heute einmal habe aufmerksam machen wollen, weil ich ja gesehen habe, daß zum Beispiel nach dem, was bisher vernommen worden ist, manche geglaubt haben, es handele sich wirklich nur darum, daß man sich nun auch zu den Freitagsvorträgen melde, um auch diese hören zu können neben den Samstags- und Sonntagsvorträgen. Es wäre natürlich eine bequeme Sache. Aber die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft soll aus Menschen bestehen, die durchaus sich als die Repräsentanten der anthroposophischen Sache fühlen. Daher möchte ich bitten, daß dies vor allen Dingen bei dem Entschluß zum Eintritte in die zunächst zu errichtende Klasse wirklich ins Auge gefaßt werde. Und in diesem Sinne werden wir dann im Anschlusse an die Freitag-, Samstag- und Sonntagvorträge den Versuch machen, die erste Klasse zu bilden. Die nächsten Vorträge werden also solche sein, die noch für alle Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gehalten werden. Und in dem, was dann in der nächsten Woche an Vorträgen gehalten wird, in dem wird schon die erste Klasse dann eine Rolle spielen.
Die zweite Klasse wird ja erst nach einiger Zeit errichtet werden können.
Das ist das, was ich zunächst heute Ihnen mitteilen wollte. Ich habe diese Stunde angesetzt, weil mich das Lesen jenes Buches, das ich zusammengestellt habe aus den Briefen, die bis zu einem gewissen Zeitpunkte eingelaufen waren, dazu veranlaßt hat. Es ist schon ein ziemlich dickes
#SE260a-130
Buch geworden, es wird aber noch viel dicker werden, es werden Bände werden. Und das Lesen dieses Buches hat mich gelehrt, daß es nötig war zu sagen, was ich mir erlaubt habe heute zu sagen.
Ich möchte durchaus bitten, auch von jedem, der aufgenommen sein will in die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, erfahren zu können, wie lange er schon in der Gesellschaft ist, denn das muß gewußt werden, und ob er geneigt ist, nun wirklich auch in bezug auf das, was ich heute über die Vertrauensfrage gesagt habe, sich in irgendeiner Weise zu engagieren, sich also auch wirklich Verpflichtungen aufzu-erlegen als Mitglied der Klasse. Diese Dinge müßten schon in den Meldungen enthalten sein.
Nun wird es sich ja vielleicht darum handeln, daß man diejenigen Freunde, die auf die Aufnahme reflektieren, dann noch um das wird fragen können, was man von ihnen wissen will, außer dem, was in dem Briefe steht. Aber sehen Sie, wenn einem jemand schreibt, er will die Freitagsvorträge hören, so ist selbst die Frage schwer zu beantworten, weil es sich gar nicht darum handelt, daß er die Freitagsvortrge hören will - denn die können vielleicht am Sonntag sein -, sondern ob er ein Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft sein will. Darum handelt es sich.
Das ist also das, was die Mitglieder angeht. Die Einteilung in Sektionen wird Sache der Leitung sein. Und es wird von der Leitung aus so gearbeitet werden, daß wirklich die Abteilungen, die vertreten werden sollen, auch vertreten werden können. Aber das wird ja in jeder Klasse geschehen. Und jeder wird nach entsprechender Übereinkunfl mit der Leitung seiner Sektion auch für seine Bedürfnisse Befriedigung finden können, wie er für die ganz allgemeinen Bedürfnisse als Mensch in bezug auf das Geistige in der Allgemeinen Sektion der Anthroposophischen Gesellschaft seine Befriedigung finden wird. Also, der allgemein menschlichen anthroposophischen Sektion wird ja jeder, der irgendeiner anderen Sektion angehört, auch angehören müssen, denn die wird ja die Grundlage sein müssen für alles übrige.
Das ist also das, was zu berücksichtigen sein wird.
#SE260a-131
#TI
Nachrichtenblatt, 3. Februar 1924
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
III.
#TX
Die Einrichtung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft wird so sein, daß derjenige, der an ihren Bestrebungen teilnehmen will, dies der Leitung anzeigt. Zunächst wird es sich um die Einrichtung der ersten Klasse handeln. Die beiden nächsten werden nach einiger Zeit dazu kommen. Den Teilnehmern gegenüber kommt nur die Gliederung in Klassen in Betracht. Die Sektionen werden errichtet, damit die Leitung in jeder einzelnen Klasse den besonderen Bestrebungen der Mitglieder dieser Klassen entgegenkommen kann. Man wird also nicht Mitglied irgendeiner Sektion, sondern einer Klasse. Aber derjenige, der eine esoterische Vertiefung zum Beispiel in der Medizin sucht, wird sie stufenweise finden können dadurch, daß die Leitung der medizinischen Sektion dafür Einrichtungen trifft. Und so die Leitungen der verschiedenen künstlerischen und wissenschaftlichen Sektionen. Wie man als Angehöriger einer Klasse durch eine bestimmte Sektion zu seinen besonderen Zielen gelangt, das wird durch Übereinkunft mit dem Leiter der Gesamtschule (Rudolf Steiner) und mit den Leitern der Sektion festgelegt. Die allgemeine anthroposophische Sektion wird ja für alle Mitglieder der Schule da sein müssen. Schon deshalb kann die Aufnahme nicht in eine Sektion, sondern nur in eine Klasse erfolgen.
Da die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft nicht eine Hochschule sein kann wie die gewöhnlichen, so wird sie auch nicht anstreben, mit diesen in irgendeine Konkurrenz zu treten, oder für sie ein Ersatz zu sein. Man wird aber dasjenige, was man an den gewöhnlichen Hochschulen nicht findet, die esoterische Vertiefung, am Goetheanum finden können. Man wird da gerade das erhalten, was die Seele in ihrem Erkenntnisstreben sucht. Dies Erkenntnisstreben kann das ganz allgemein-menschliche sein. Für denjenigen, welcher nur dieses allgemein-menschliche Bedürfnis hat, die Wege der Seele zur geistigen Welt hin zu finden, wird die allgemeine Sektion da sein. Sie wird für ihn eine
#SE260a-132
«Esoterische Schule» bilden. Für denjenigen, der sein Leben in einei speziellen wissenschaftlichen, künstlerischen und so weiter Art wipd orientieren wollen, werden die andern Sektionen äbemüht sein, die Wege zu zeigen. So soll jeder suchende Mensch an der «Hodirchule am Goetheanum» dasjenige finden, wonach er nach den besonderen Bedingungen seines Lebens streben will. Eine rein wissenschaftliche Einrichtung soll also die Freie Hochschule nicht sein, sondern eine rein-menschliche; sie soll aber auch den esoterischen Bedürfnissen des Wissenschafters und Künstlers voll entgegenkommen können.
#TI
BEDINGUNGEN FÜR DIE AUFNAHME
IN DIE ERSTE KLASSE DER FREIEN HOCHSCHULE
Dornach, 3. Februar 1924
#TX
Im Anschluß an den Vortrag sprach Dr. Steiner noch zu denjenigen, die sich für die erste Klasse gemeldet hatten:
Die heutige Versammlung ist selbstverständlich noch nicht etwas Bindendes, sondern es wird sich darum handeln, daß ja auch von den Freunden, die jetzt dageblieben sind, alle mit sich erst voll zu Rate gehen müssen, um in sich selber zu erforschen, ob sie die Pflichten eines Mitgliedes der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft wirklich auf sich nehmen wollen. Denn es muß dasjenige, was oftmals gesagt worden ist als die andere Bedingung für eine solche Vereinigung von Menschen, wie sie hier gemeint ist, von jetzt ab mit vollem Ernst genommen werden. Man hat in vielen Kreisen dasjenige, was mit diesem Ernst gemeint ist, eigentlich bis jetzt doch nicht cinnaal recht, ich möchte sagen, begonnen zu verstehen.
Wir haben ja die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft, die dem Menschen der Gegenwart eben die Erkenntnisse des Geistes vermittelt. In der kann man sein, wenn man nicht Verpflichtungen auf sich nehmen will. Es ist also wirklich keine besondere Veranlassung dazu da, ohne daß man den Willen hat, wirkliche, ernstliche Verpflichtungen
#SE260a-133
auf sich zu nehmen, über die Anthroposophische Gesellschaft hinauszugehen.
Aber wir brauchen eben einfach einen Kreis von Menschen, der aus dem Exoterischen in das Esoterische hineingeht. Und hineingehen kann man nicht, ohne Verpflichtungen auf sich zu nehmen. Denn gäbe es niemanden, der solche Verpflichtungen auf sich nimmt, dann würde Anthroposophie eben nicht bestehen können. Es handelt sich bei dem, was ich zunächst als die erste Klasse konstituieren möchte, darum, daß das Verhältnis der Leitung zu den einzelnen Mitgliedern gewissermaßen als ein freies Vertragsverhältnis vorgestellt werden muß, aber als ein freies Vertragsverhältnis, das man eben wirklich eingeht. So daß die Leitung eben in keinem Augenblicke sich gebunden fühlen kann, irgendwie dasjenige, was in der ersten Klasse getrieben werden soll, mit einem Mitgliede zu treiben, wenn das Mitglied eben nicht die Gegenverpflichtung übernimmt.
Also es handelt sich wirklich um ein freies Vertragsverhältnis. Aber das muß man auch ganz ernsthaftig erfassen, daß es sich um ein freies Vertragsverhältnis handelt. Und nur so werden wir zunächst in die wirkliche Esoterik allmählich hineinkommen können. Vor allen Dingen handelt es sich darum, daß alle Angehörigen der Klasse wirklich auch sich bereit erklären, Repräsentanten sein zu wollen für die Pflege der Anthroposophie in der Welt.
Sehen Sie, der Unterschied desjenigen, was entstanden ist seit Weihnachten, gegenüber dem, was früher da war, der ist ja der, daß früher im Grunde genommen die Anthroposophische Gesellschaft eine Art Verwaltungsgesellschaft war, welche die Anthroposophie aufgenommen hat, der es darauf ankam, einen Rahmen abzugeben für Anthroposophie. Dasjenige, was jetzt sein muß, ist, daß tatsächlich die Institution, die hier von Dornach ausgeht und vor die Welt sich hinstellt, selber in einer gewissen Weise als eine esoterische Angelegenheit genommen wird. So daß der Vorstand, der zu Weihnachten gebildet worden ist, von den Mitgliedern der ersten Klasse anzusehen ist als eine Körperschaft, die unter voller Verantwortlichkeit für die Anthroposophie in der Welt eintritt, daß alles Anthroposophische diesen Vorstand als solchen angeht.
Wenn Sie das in seiner vollen Tiefe nehmen, so werden Sie es eben
#SE260a-134
auch begreiflich finden, daß in der Zukunft für die Dinge, die eigentlich das Leben des Anthroposophischen ausmachen sollen, nicht dasjenige in irgendeiner Weise auftreten darf, was auch wiederum seit Weihnachten schon da oder dort aufgetreten ist. Zum Beispiel konnte man hören, wie Menschen doch wiederum das Wort gefunden haben: Ach, wir machen da etwas für uns, damit gehen wir nicht an den Vorstand heran. Warum sollen wir uns da erst um den Vorstand kümmern! - Ja, die Mitglieder der ersten Klasse müssen dann in der Zukunft erleben, daß, wenn irgend jemand etwas Anthroposophisches machen will ohne den Vorstand, dann der Vorstand auch seine Sachen ohne sie wird machen wollen.
Das ist natürlich etwas, was ich nicht aussprechen würde in der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. Aber das ist eben dasjenige, was in jenem freien Vertragsverhältm.s liegt, das zwischen den Mitgliedern der ersten Klasse und dem Vorstande bestehen muß. Der Vor-stand muß also durchaus, wenn irgend jemand für irgendeine Angelegenheit, die er vertreten will vor der Welt, Anthroposophie repräsentieren will, ohne sich mit dem Vorstand in Verbindung zu setzen, auch seinerseits sagen: also wird auch er seine Angelegenheiten ohne den Betreffenden formen wollen.
Nicht wahr, es ist dies ja eine besondere Form. Man kann diese Form, die ich da in diese Worte kleide, auch noch anders zum Ausdruck bringen. Aber es ist nur auf diese Weise zu erreichen, daß wirklich ein einheitliches Leben gerade in all das hineinkommt, was die Schule betrifft. Dadurch werden wir dazu kommen, wirklich für Anthroposophie den nötigen Ernst allmählich zu gewinnen. Und wir werden einen Grundstock von Menschen dann haben können, die sich wirklich mitverantwortlich fühlen für dasjenige, was durch Anthroposophie geschehen soll. Wir werden vor allen Dingen dadurch die Möglichkeit haben, keine Cliquen mehr unter uns zu haben. Denn dasjenige, was uns ungeheuer geschadet hat, das ist ehen das Cliquenbedürfnis, das Entstehen von Cliquen. Wir werden auch keine Eigenbröteleien haben können. Die werden, wenn sie sich schon durchaus geltend machen wollen, in der Anthroposophischen Gesellschaft sich geltend machen können. Aber bei denjenigen, die den Klassen angehören, wird das eben
#SE260a-135
unmöglich sein, weil sie dann, wenn sie irgendwie so handeln, eben nicht mehr der Klasse angehören werden.
Das sind die Dinge, die nun wirklich in allem Ernste einmal hedacht werden müssen. So daß gerade dadurch, daß einmal die Dinge bei uns wenigstens so ernst genommen werden, wie sie da oder dort in der Welt ernst genommen werden - für nicht ähnliches, wie es die Anthroposophie ist, aber für manche andere Dinge -, dadurch einmal das auch bei uns wirklich eintritt. Ohne das hätte eigentlich die ganze Neubegründung der Gesellschaft, wie sie zu Weihnachten vorgenommen worden ist, gar keinen Sinn. Denn es ist ja für viele Dinge so Usus gewesen, auch in jenem Teile der Gesellschaft, der unmittelbar Dornach umgibt, daß man für manche Dinge gesagt hat, nun ja, man wolle mich nicht belasten, man wolle mich nicht fragen um alle Einzelheiten. - Man hat mich meistens just um dasjenige nicht gefragt, bei dem es einem nicht gepaßt hat! Das ist aber, was dazu geführt hat, daß eine ganze Reihe von Angelegenheiten an mich in einem Stadium herangetreten sind, wo sie eben schon im Gange waren, wo man sie in einer andern Weise dann lösen mußte, als sie gelöst worden wären, wenn sie vom Anfange an an mich herangetreten wären. Ich will damit durchaus sagen, daß alles, was den Inhalt der Anthroposophie betrifft, eine einheitliche Sache werden muß.
Gewiß, es wird Schwierigkeiten geben, die geringe Anzahl der Vorstandsmitglieder, die hier sind, werden überlastet sein. Allein wir wollen die Geschichte sich entwickeln lassen, wir wollen sie zunächst so nehmen, wie sie sich aus der Sache selbst heraus ergibt. Aber wir wollen nicht wiederum in den Fehler verfallen, daß wir bei verhältnismäßig unwichtigen Dingen den Vorstand zu Rate ziehen, bei den allerwichtigsten Dingen aber sagen: Wir müssen selber weiterkommen - weil einem das besser gefällt -, wir dürfen den Vorstand nicht behelligen. Nicht wahr, man kann davon sprechen, wenn man rein im Formalen stecken bleibt: Ja, wo soll denn da die Freiheit sein! - Gewiß, jeder kann ja seine Freiheit haben, indem er eben nicht mitzutun braucht. Aber der Vorstand muß doch auch seine Freiheit haben. Ihm muß es doch auch freistehen, nicht dasjenige tun zu müssen, was er nicht tun kann unter seiner Verantwortlichkeit.
#SE260a-136
Wenn guter Wille vorhanden ist, so wird man schon die Notwen-digkeit solcher Dinge einsehen, und es wird aus dem, was ich jetzt sage, eben zunächst eine genaue Prüfung, Selbstprüfung der hier Versammelten stattfinden, ob sie vor allen Dingen diejenige Verpflichtung auf sich nehmen wollen, für alles Anthroposophische sich vom Anfange an mit dem Vorstand voll in Einklang zu setzen. Sonst ist es notwendig, daß der Vorstand eben seinerseits erklärt: er erkennt die Sache nicht als Anthroposophisches an. Dann erklärt er aber natürlich auch, nicht zusammenzuarbeiten mit denjenigen, die eine extra Anthroposophie irgendwo begründen. Die Dinge sind wirklich zu ernst, und wir mussen sie von jetzt ab in aller Ernsthaftigkeit auffassen.
Was ist alles wiederum geschwätzt worden über die Öffentlichmachung unserer Gesellschaft, namentlich über die Tatsache, daß die Zyklen öffentlich sein sollen. Das ist eine Tatsache, die nicht ernst genug aufgefaßt werden kann! Denn, ich möchte sagen, es fliegen einem die Dinge so in die Hand herein, die Beweise, wie notwendig eine solche Maßregel ist. Sehen Sie, heute morgen hat mir Dr. Unger eine neue Publikation von Hans Leisegang gebracht: «Die Geheim-wissenschaften», erschienen in einer Sammlung: Perthes' Bildungs-bücherei, Verlag von Friedrich Andreas Perthes AG, Gotha-Stuttgart; einer der angesehensten Verlage, die es gibt.
Nunmehr können Sie wissen, was die Leisegangsche Denunziation eigentlich bedeutet. Sie erscheint heute in einem der angesehensten Verlage. Es handelt sich also wirklich darum, daß man solche Dinge vor allem mit Ernst aufzufassen in der Lage ist. Dem Büchelchen liegt ein Zettel bei. Unter der Ägide des Herrn von Leisegang vollzieht sich folgendes:
«Eine geistige Revolte gegen die bisher unbekannten Zyklen Rudolf Steiners! Hans Leisegang, Die Geheimwissenschaften. Die Schrift - eine wichtige Neuerscheinung von Perthes Bildungsbücherei - gibt einen mit reichlichen, zum weiteren Studium anleitenden Literaturnachweisen ausgestatteten Überblick über die Entwicklung und den gegenwartigen Stand der Forschungen auf dem Gebiete des Okkultismus. Der Verfasser unterscheidet scharf den wissenschaftlichen, nicht mit der Geisterhypothese arbeitenden Okkultismus von den sich als Geheimwissenschaft
#SE260a-137
gebenden okkulten Erkenntnissen der Spiritisten, Theosophen und Anthroposophen.»
Es ist ganz selbstverständlich, daß, wenn es nicht schon geschehen Ware, einer solchen Unternehmung gegenüber, die sich nennt: «Eine geistige Revolte gegen die bisher unbekannten Zyklen Rudolf Steiners», sofort die Zyklen für «öffentlich» erklärt werden müßten. Nun ist es schon im vorhinein geschehen. Denn ganz eingehend, tumultuarisch, radikal befassen sich die Gegner auch mit den neuesten Zyklen. Kaum ist einer erschienen, so haben ihn die Gegner und reden darüber. Unter den Gegnern wird eben viel mehr geredet über die Zyklen, als unter den Anthroposophen. Demgegenüber ist natürlich irgendein weiteres Geheimhalten der Zyklen geradezu eine Paradoxie, geradezu ein Sich-Ausliefern an die Gegner.
Nicht wahr, man hat vieles seit der Weihnachtstagung über das Öffentlichwerden der Zyklen hören können. Aber was man bei alledem vermißt hat in bezug auf die Tatsache, daß so etwas hat geschehen müssen, ist der Ernst, mit dem eine solche Sache aufgefaßt werden muß. Und ich möchte sagen: Eine Gesellschaft des anthroposophischen Ernstes muß die Reihe der Mitglieder der ersten Klasse sein.
Vieles ist noch nicht zum Bewußtsein gekommen von dem, was die Weihnachtstagung gebracht hat. Nun werden wir sehen, ob eben die Möglichkeit besteht, in aller Sachlichkeit diese erste Klasse einzurichten. Deshalb möchte ich Sie noch eininal bitten - jetzt nur, damit eine zusammenhängende Übersicht da ist für diejenigen verehrten Freunde, die in Dornach hier zunächst an der Schule teilnehmen wollen, bitte ich Sie noch einmal -, aber nur einmal Ihren Namen auf die Bogen zu schreiben, die ich hier verteilen werde, und dann mir hier auf den Tisch wiederum zurückzubringen. Ich werde nach je zwei Stuhlreihen die Bogen verteilen, und bitte immer zwei Stuhlreihen lang die Namen daraufzuschreiben. Ich bitte, nur die Namen einzuschreiben. Dasjenige, Was ich dazu brauche, steht ja wohl in den Briefen, die geschrieben worden sind. Wer nicht schon in seinem Briefe geschrieben hat, wie lange er Mitglied ist, den bitte ich, auch dies auf die Liste zu schreiben.
Ich werde dann am nächsten Freitag den Modus zu verkündigen haben, durch welchen den Aufgenommenen die Mitgliedskarte übergeben
#SE260a-138
wird. Ich werde mich nun mit den Anmeldungen zu befassen haben, und wir werden dann die Mitgliedskarten auf eine Weise, die hoffentlich für den einzelnen etwas bequemer sein wird als das Sammeln der Briefe, die nicht gerade in einheitlicher Weise mir übergeben worden sind, sondern irgendwo, wo man mich gerade getroffen hat, so bei Gelegenheit, in die linke oder in die rechte Hand gedrückt worden sind, ohne zu berücksichtigen, daß es dann außerordentlich schwierig ist für den, der sehr beschäftigt ist, diese Dinge alle zusammenzuhalten. Der eine hat seinen Brief dahingetragen, der andere dorthin, ich hoffe aber, daß in einer etwas einheitlicheren Weise die Sache wird gehalten werden können.
#TI
NÄHERES ÜBER DIE ENTSTEHUNG DER ZYKLEN
Ein Bericht von Marie Steiner aus dem Jahre 1944
#TX
Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, wie die Veröffentlichung der Vorträge als Zyklen für die Mitglieder zustande kam. Sie geschah gegen den ursprünglichen Wunsch Dr. Steiners; er wurde durch die Verhältnisse dazu gezwungen und mußte sich zu diesem Schritt entschließen, um Schlimmeres zu verhüten. Zunächst arbeiteten fleißige Zuhörer an Hand von Nachschriften, die ja nur als Notizen bewertet werden konnten, in kleinen Kreisen; dann schickte man solche Nachschriften jenen, welche die Vorträge selbst nicht hatten hören können. Es gab dabei natürlich viel Ungenaues, leider aber auch manchmal Verkehrtes, das durch wiederholtes Abschreiben sich vermehrte. Das Unterscheidungs-vermögen in bezug auf das Geeignetsein gewisser Nachschreiber für diese Aufgabe fehlte. Zwei besonders krasse Fälle ereigneten sich, in denen wirklicher Nonsens verabreicht wurde. Dagegen mußte nun ein-geschritten werden. Die Verbreitung solcher Nachschriften war aber manchen bereits zur Gewohnheit geworden; es hatten sich auch schon zu diesem Zweck kleine Zentren gebildet, wo alles gesammelt wurde. So blieb denn nichts anderes übrig, als die Sache bestmöglich zu sanieren;
#SE260a-139
das konnte nur durch eine gewisse Kontrolle geschehen. Wir mußten die Sache selbst in die Hand nehmen und die Verbreitung der Verviel-fältigungen von unbefugter Seite her untersagen. Die von uns bestätigten, in Betracht kommenden Stenographen mußten sich natürlich auch erst allmählich einüben, um einem langen Vortrage nachzukommen. Versuche, die mit Berufsstenographen, auch parlamentarischen, gemacht wurden, erwiesen sich als durchaus ungenügend. Der ihnen fremde Stoff verwirrte sie, und es kamen merkwürdige Verballhornungen zustande; auch waren jene Persönlichkeiten gewöhnt, öfter miteinander beim Schreiben abzuwechseln. Allmählich arbeiteten sich unsere Stenographen immer mehr ein. Aber ein sorgsames Korrigieren ist immer notwendig, denn das gesprochene Wort gibt durch den Tonfall des Sprechers Möglichkeiten der Satzbildung, der Gedankenverbindungen, die im geschriebenen Wort erst durch eine geschickte Umstellung der einzelnen Satzglieder ihren Sinn voll enthüllen. Besonders gefährlich bei den Übertragungen der Stenogramme ist Verwirrung durch falsche Interpunktion desjenigen, der das Diktat entgegennimmt: es werden da manchmal miteinander zusammenhängende Sätze auseinandergerissen, wodurch arge Verstümmelungen entstehen. Und so gibt es noch mancherlei. Leider sind in den Zeiten, wo ich auf Reisen war, viele Vortragsnachschriften ganz unkorrigiert in die Zeitschriften hereingenommen worden. Soweit als möglich sind sie mit aus diesem Grunde srhoti im Neudruck erschienen: um mit den nötigen Korrekturen versehen zu werden; es soll ünser Bestreben sein, nach Kräften dies weiter zu ermöglichen. Wir wissen, daß auch dann noch manches verbesserungsbedürftig bleiben wird. Es ist eben keine leichte Arbeit, den Wortkut durchaus zu respektieren und ihn doch von Entstellungen zu befreien. Es gehört Mut dazu und Zeit. Die Zeit dazu hat ja Dr. Steiner selbst durchaus gefehlt. Einige Male versuchte er es anfänglich auf meine Bitte hin. Doch gab er die Blätter zurück mit der Erklärung, es würde ihm weniger Zeit nehmen, die ganze Sache neu Zu schreiben, als das gesprochene Wort für die Schrift umzusetzen.
Was aber war die Folge des durch die Verhältnisse notwendig gewordenen Schrittes für Dr. Steiner? Er hatte für die Öffentlichkeit nur seine geschriebenen Werke bestimmt. Mit diesen hätten die Gelehrten
#SE260a-140
uI:d sonstigen Kritiker sich auseinanderzusetzen gehabt. Da war nichts, was Gelegenheit gegeben hatte, m gehässiger Weise gegen sogenannte Phantastik vorzugehen. Vor der Nachwelt hätte der Ruf Dr. Steiners als Gelehrter und Wissenschafter ungetrübt dastehen können. Das, was in den Zyklen die gegenwärtige materialistische Denkungsart als un-vorstellbar und sensationell berühren mußte, wäre nicht preisgegeben worden. Für die Mitgliedsshaft aber war der Inhalt der Zyklen die Wegzehrung, das Lebensbrot, nach dem sie verlangte. Sie hat davon gelebt, besonders seit der Zeit, da er nicht mehr unter uns weilte. Und nicht nur die aus ihrem Herzensbedürfnis und intuitivem Sinn heraus suchenden Seelen, sondern auch jene Akademiker, die das abtötend Mechanische der heutigen Denkformen und Wissenschaftlichkeit überwinden wollten, sie brauchten diese geistigen Inhalte, um sich mit dem dort gespendeten Lebenselement zu durchdringen.
Aber der Duktus der Zyklen hing zum Teil zusammen mit der da-maIs gegebenen Situation, mit den Bedürfnissen und Fragestellungen der Zuhörer - er hing auch zusammen mit dem, was in früheren Zyklen gegeben worden war und erst nach deren Verarbeitung gründlich verstanden werden konnte. Allmähliche Schulung im geistigen Denken führt zum Verständnis kosmischer Zusammenhänge. Und in immer aufsteigender Linie bewegte sich das offenbarte Geistesgut. Die Vor-aussetzungen für das intellektuelle Verständnis müssen vom Laien ja erst erworben werden.
Die Geheimwissenschaft als solche, wie sie Dr. Steiner in seinen ge-schriebenen Werken darstellte, nicht nur seine erkenntnistheoretischen Werke, wäre von der Gelehrtenwelt und zünftigen Kritik mehr respektiert worden, sie stünde heute unanfechtbarer da, wenn der Hunger der suchenden Seelen nicht gerade die Geisteskost besonders verlangt hätte, die zunächst in internen, für ihre Aufnahme vorbereiteten Kreisen gereicht worden war - oder wenn wenigstens die Nachschriften von diesen gut gehütet worden wären. Die Mahnungen und Warnungen Dr. Steiners nach dieser Richtung hin wurden durch menschliche Wünsche und Illusionen übertönt. Tatsachen wurden geschalfen, mit denen man nun rechnen mußte, die nicht übersehen werden konnten. Sie verlangten von Dr. Steiner ein anderes Vorgehen als dasjenige, was ursprünglich
#SE260a-141
in seiner Absicht gelegen hatte. So kam es, daß er auch dieses Opfer bringen mußte: er gab die Zyklen für die Mitglieder frei - zunächst im privatdruck als Manuskript. Doch wurde nach ihnen Jagd gemacht von seiten der Gegner, die sie mißbrauchten und ihren Inhalt, den eigenen Zwecken entsprechend, zerstückelten und auseinanderrissen. So gab es bald keinen anderen Schutz für die Zyklen als denjenigen, den Dr. Steiner den «moralischen» nannte und der sich im Vermerk ausdrückt, der ihnen nun beigegeben ist. Er sah sich gezwungen, sie, wenn auch nicht für den Buchhandel, so doch für die Öffentlichkeit, falls sie darnach verlangen würde, freizugeben. So brach er mit dem alten Grund-satz des Geheimhaltens esoterischer Schriften, das sich mit den For-derungen der heutigen Zeit nicht mehr verbinden läßt.
#TI
Nachrichtenblatt, 10. Februar 1924
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
IV.
#TX
Wer dieser Hochschule als Mitglied beitritt, der ist in einer ganz an-deren Lage als derjenige, der in die Anthroposophische Gesellschaft eintritt. Man wird Mitglied dieser Schule, nachdem man eine genügend lange Zeit Mitglied der Gesellschaft gewesen ist. Man hat kennen ge-lernt, was Anthroposophie will, was sie in Wahrheit ist. Man hat sich ein Urteil darüber bilden können, was sie einem selbst wert sein kann. Damit aber ist gegeben, daß die Absicht, der Schule beizutreten, verbunden sein kann mit der Übernahme eines Pflichtenkreises und des Bewußtseins, daß man ein Repräsentant des anthroposophischen Wirkens sein will.
Gegenüber der Art, wie Anthroposophie innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft vorgebracht wird, ist es doch zum Beispiele nicht nur absurd, sondern ganz abgeschmackt, wenn von gegnerischer Seite immer wieder die Verleumdung auftaucht, Anthroposophie wolle auf irgend jemand suggestiv einwirken. Jeder, der in der Anthroposophie ist, weiß dies ganz gut, oder kann es wenigstens wissen. Wenn Mitglieder,
#SE260a-142
die von der Gesellschaft ausgeschieden sind, dies doch behaupten, so wissen sie zumeist selbst, daß, was sie behaupten, objektiv unwahr ist. In der Gesellschaft wird niemand mit verbundenen Augen zur Anthroposophie geführt. Deshalb kann er auch nicht Mitglied der Sdiule werden, ohne mit voller Einsicht in dem Kreise dessen zu stehen, was Anthroposophie als ihre Aufgabe ansieht.
Es sollte jeder selbst beurteilen, ob er Schulmitglied werden will nach dem, was er als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft kennen gelernt hat. Wenn dann die Leitung der Schule von Pflichten spricht, die deren Mitglieder übernehmen, so können sich diese völlig klar darüber sein, wie dies gemeint ist. Es soll damit nichts anderes gesagt sein, als daß die Leitung der Schule ihre Aufgaben nicht erfüllen kann, wenn solche Pflichten nicht übernommen werden. Das Verhältnis jedes Mitgliedes der Schule zur Leitung bleibt ein völlig freies, auch wenn solche Pflichten übernommen werden. Denn auch die Leitung der Schule muß die Freiheit genießen, im Sinne der naturgemäßen Bedingungen ihrer Arbeit handeln zu können. Diese Freiheit hätte sie nicht, wenn sie nicht demjenigen, dem es ja freisteht, der Schule beizutreten oder nicht, sagen dürfte: Wenn ich mit dir zusammenarbeiten soll, dann mußt du eben die Verpflichtung übernehmen, diese oder jene Bedingung zu erfüllen.
Dies sollte eigentlich als etwas Selbstverständliches nicht nötig sein auszusprechen. Es muß aber doch geschehen, weil man gar zu oft hört:
wer also der Schule beitritt, der müsse von seinen «menschlichen Freiheiten» etwas dahingeben. Wenn das von Mitgliedern der Gesellschaft gesagt wird, dann ist es nicht verwunderlich, wenn übelwollende Gegner die Verleumdung bringen, Anthroposophie mache ihre Bekenner nach und nach zu willenlosen Werkzeugen dessen, was einige Menschen mit nicht guten Absichten wollen. Jeder, der eine genügend lange Zeit in der Gesellschaft Anteil an ihrem Wirken genommen hat, der kann wissen, daß Anthroposophie in dem Augenblicke allen Sinn verlöre, in dem sie in irgendeiner Weise gegen den selbständigen, besonnenen, emsichtsvollen Willen ihrer Mitglieder etwas unternähme. Mit willenlosen Werkzeugen kann Anthroposophie wahrhaftig nicht ihre Ziele erreichen. Denn, um wirklich zu ihr zu kommen, bedarf es gerade des freien Willens der Mitwirkenden.
#SE260a-143
#TI
Nachrichtenblatt, 17. Februar 1924
V.
#TX
Die Mitglieder der Schule werden, wenn die dargestellten Bedingungen von ihnen angenommen werden, die Anthroposophische Gesellschaft zu dem machen, was ihr allein Daseinsberechtigung geben kann. Der Ausgangspunkt des Wirkens der Schule wird ja das Goetheanum sein müssen. Hier werden zunächst die Arbeiten verrichtet werden müssen, die von der Schule zu leisten sind. Aber es werden auch die Mittel und Wege gefunden werden zur vollen Teilnahme der in der Welt zerstreuten Mitglieder der Schule. Das wird nicht dadurch erreicht werden, daß nun ein Sturm losgeht, um auf jede mögliche Art Nachschriften dessen zu erhalten, was am Goetheanum gesagt wird. Die Entfaltung eines solchen Sturmes haben wir erlebt, als vor etwa einem Jahre das Schlagwort ausgegeben worden war, es müsse neues Leben in die Gesellschaft kommen.
Durch Ungestüm auf diese Art kommen wir nicht vorwärts. Ich werde am Freitag, dem 15. Februar, meinen ersten Vortrag am Goetheanum für die Freie Hochschule halten. Da werden zunächst diejenigen Mitglieder versammelt sein, denen der Vorstand vorläufig die Aufnahme in die Schule anzeigen konnte. Wer die Aufnahme angesucht hat . und augenblicklich noch keine Anzeige hat, der braucht sich noch nicht
als nicht angenommen zu betrachten. Die ganze Einrichtung der Schule, auch die Mitgliederzugehörigkeit, wird sich ja erst nach und nach ergeben.
Aber im Fortgange des Arbeitens der Schule wird sich auch zeigen, wie man vom Goetheanum aus selbst sorgen muß, daß die Verbreitung des Arbeitens möglich werde. Die Mittel und Wege werden da auch gesucht werden, wo für die Schule der Mittelpunkt geschaffen werden soll. Man wird sich dann an diejenigen Einzelpersönlichkeiten und Gruppen in einer möglichen Art wenden, die bekannt geben, daß sie die Mitgliedschaft erstreben. Aber man soll bedenken, daß wir hier am Goetheanum dann nicht zurecht kommen können, wenn schon bestehende Institutionen einfach sagen: wir sind da und wir wollen uns
#SE260a-144
jetzt an das Goetheanum und seine Freie Hochschule anlchließen. Diese Erklärung als solche ist natürlich gut, und alles, was nach dieser Rich-tung geschieht, wird von dem Vorstande am Goetheanum freudig begrüßt werden. Aber sie darf nicht den Sinn haben: wir kommen in diesem Augenblicke zu euch, wandelt uns so um, daß wir Glieder der Freien Hochschule sind. Das könnte dann dazu führen, daß ein jeder weiter tut, was er bisher getan hat, nur daß er es auf den Namen dieser Hochschule tauft.
Es kann nur allmählich das in die einzelnen Institutionen einfließen, was am Goetheanum durch die Tätigkeit des Vorstandes erstrebt wird. Dieser Vorstand kann seine Aufgabe nicht darin sehen, zu «organisieren», sondern zu arbeiten. Dann wird es seine Aufgabe sein, die Ergebnisse seiner Arbeit an diejenigen in einer ihm möglichen Art zu bringen, die sie haben wollen. Man kann noch so schön «organisieren»; für eine Gesellschaft wie die anthroposophische ist damit eigentlich gar nichts geschehen. Sie lebt nur durch das, was in ihr gearbeitet wird. In der Teilnahme an der Arbeit am Goetheanum durch die gesamte Mitgliederschaft wird die beste Gewähr für das Gedeihen der Gesellschaft liegen. Und der Vorstand wird bestrebt sein, alles, was durch die Mitglieder geschieht, zum Inhalt der Gesellschaft zu machen.
#TI
Naichrichtenblatt, 24. Februar 1924
VI.
#TX
Zu den schon genannten Sektionen, nach deren Errichtung der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum strebt, sollte noch eine weitere hinzukommen. Sie wird möglich sein, wenn das Wollen dieses Vorstandes auf entsprechender Seite Entgegenkommen findet. Die Jugend stand in jedem Zeitalter in einem gewissen Gegensatz zum Alter. Mit dieser Zigeunerwahrheit tröstet sich gar mancher über die Lebenserscheinungen innerhalb der heutigen Jugend hinweg.
Aber dieser Trost könnte leicht zum Unheil werden.
Man sollte die gegenwärtige Jugend aus dem «Geiste der Gegen-wart» heraus sowohl in ihren bedenklichen Verirrungen wie in ihrem
#SE260a-145
nur allzu berechtigten Streben nach anderem, als was die Alten ihnen geben, verstehen.
Da ist zunächst die Jugend, die durch die Lebenszusammenhänge in die akademische Laufbahn hinein gedrängt wird. Ihr wird «Wissenschaft» entgegengebracht. Gediegene, sichere, für das äußere Leben fruchtbare Wissenschaft. Unsinn wäre es, nach der Art vieler Laien, über diese Wissenschaft zu zetern. Aber die Jugend erfriert doch seelisch an dieser Wissenschaft, ehe sie dazu kommt, ihre Gediegenheit, ihre Sicherheit, ihre Fruchtbarkeit für das äußere Leben einzusehen.
Die Wissenschaft verdankt ihre Größe einer starken Opposition, die sie von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an getrieben hat. Damals wurde man gewahr, wie der Mensch leicht in die Unsicherheit der Erkenntnis hineinsegelt, wenn er sich aus den Niederungen des Forschens in die Höhen einer Weltanschauung erhebt. Man glaubte, abschreckende Beispiele eines solchen Erhebens erlebt zu haben.
Und so wollte man denn die «Wissenschaft» befreien von der Weltanschauung. Sie sollte an die «Tatsachen» in den Tälern der Natur sich halten und die Höhenwege des Geistes meiden.
Man hatte, als man die Opposition gegen die Weltanschauung trieb, am Opponieren eine gewisse Seelenbefriedigung. Die WeltanschauungBekämpfer von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts waren in ihrer Kampfesstimmung beglückt.
Die gegenwärtige Jugend kann diese Beglückung nicht mehr mitmachen. Sie kann befriedigende Gefühle in der Seele nicht mehr aufrühren, indem sie den Kampf gegen die «Unsicherheit» und «Schwarmgeisterei» der Weltanschauung miterlebt.
Denn es gibt heute eben nichts mehr, gegen das man kämpfen kann. Es ist unmöglich, dafür einzutreten, die «Wissenschaft» von der «Welt-anschauung» zu befreien. Denn die Weltanschauung ist mittlerweile erstorben.
Dagegen aber hat das Fühlen der Jugend eine Entdeckung gemacht. Durchaus nicht eine Entdeckung des Verstandes, sondern eine solche, die aus der ganzen, ungeteilten Menschennatur kommt.
Die Jugend hat entdeckt, daß sich ohne Weltanschauung nicht menschenwürdig leben läßt. Viele Alte haben die «Beweise» gegen die
#SE260a-146
Weltanschauung vernommen. Sie haben sich der Kraft der Beweise gefügt. Die Jugend kümmert sich verstandesmäßig nidit mehr um diese Kraft der Beweise; aber sie empfindet instinktiv die Ohnmacht alles Verstandes-Beweisens da, wo das Menschenherz aus einem unbesieglichen Drang spricht.
Die Wissenschaft tritt der Jugend gediegen entgegen; aber ihre Gediegenheit verdankt sie der Weltanschauungslosigkeit. Die Jugend verlangt nach Weltanschauung. Die Wissenschaft bedarf aber doch der Jugend.
Am Goetheanum möchte man die Jugend so verstehen, daß man mit ihr die Wege zur Weltanschauung sucht. Und man hat die Hoffnung, daß im Lichte der Weltanschauung die wahre Liebe zur Wissenschaft erzeugt werde. Man möchte da Wissenschaft nicht in Weltanschauungsträumerei verlieren, sondern in wachendem Geist-Erleben erst recht gewinnen.
Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft fragt die Jugend, ob sie auch ihn verstehen möchte. Findet er dieses Verständnis, dann kann aus der «Sektion für das Geistesstreben der Jugend» etwas Lebenskräftiges werden.
#TI
Nachrichtenblatt, 9. März 1924
VON DER JUGENDSEKTION
DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
I. Was ich den älteren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe
#TX
Die Ankündigung der «Sektion für das Geistesstreben der Jugend» am Goetheanum hat erfreuende Antworten aus den Kreisen der Jugend hervorgebracht. Vertreter der «Freien Anthroposophischen Gesellschaft» und die jüngeren Mitglieder, die am Goetheanum leben, haben dem Vorstande der Anthroposophischen Gesellschaft zum Ausdrucke gebracht, daß sie mit vollem Herzen bereit sind, teilzunehmen an dem, was er beabsichtigt.
#SE260a-147
Ich sehe in den beiden Kundgebungen wertvolle Ausgangspunkte für einen schönen Teil der Arbeit unserer Gesellschaft. Kann diese die Brücke schlagen zwischen älteren und jüngeren Menschen unseres Zeit-alters, dann wird sie ein Wichtiges vollbringen.
Was zwischen den Zeile der beide Zuschriften zu lesen ist, kann in die Worte gefaßt werden: unsere Jugend spricht in einem Tone, dessen Klangfarbe in der Entwickelung der Menschheit neu ist. Man fühlt, das Seelenauge ist nicht auf die Fortsetzung dessen gerichtet, was ererbt aus der vorangegangenen Zeit und vermehrt in der Gegenwart werden kann. Es ist nach dem Hereinbrechen eines neuen Lebens aus den Gebieten hin gewendet, in denen nicht die Zeit entwickelt, sondern das Ewige offenbart.
Will der ältere Mensch heute von der Jugend verstanden werden, so muß er in seinem Verhalten zum Zeitlichen das Ewige als treibende Kraft walten lasse. - Und er muß dies auf eine Art tun, welche die Jugend versteht.
Man sagt, die Jugend wolle nicht eingehe auf das Alter, wolle nichts annehmen von dessen errungener Einsicht, von dessen gereifter Erfahrung. - Aus seinem Unmut über das Verhalten der Jugend spricht das heute der ältere Mensch aus.
Wahr ist es: die Jugend sondert sich von dem Alter ab; sie will unter sich sein. Sie will nicht hinhorchen auf das, was von dem Alter kommt.
Man kann besorgt werden über diese Tatsache. Denn diese Jugend wird einmal alt werden. Sie wird ihr Verhalte nicht bis in das Alter fortsetzen können. Sie will richtig jung sein. Sie frägt, wie man «richtig jung» sein kann. Das wird sie nicht mehr können, wenn sie selbst in das Alter eingetreten sein wird.
Deshalb, so meint der ältere Mensch, müßte die Jugend ihre Anmaßung ablegen und wieder zum Alter emporblicken, um da das Ziel zu sehen, nach dem ihr Geistesauge gerichtet sein müsse.
Indem man dies ausspricht, denkt man, es liege an der Jugend, daß sie von dem älteren Menschen nicht angezogen wird.
Aber die Jugend könnte gar nicht anders, als auf den älteren Menschen hinschauen und ihn sich zum Vorbild nehmen, wenn er wirklich «alt» wäre. Denn die menschliche Seele, und ganz besonders die junge
#SE260a-148
Seele, ist so geartet, daß sie sich zu dem wendet, was ihr fremd ist, urn es mit sich zu vereinigen.
Nun sieht jedoch die heutige Jugend an dem älteren Menschen nicht etwas, das ihr als Menschliches fremd zugleich und aneignungswert erscheint. Denn der gegenwartig ältere Mensch ist nicht wirklich «alt». Er hat den Inhalt von vielem aufgenommen, er kann von vielem reden. Aber er hat das Viele nicht zur menschlichen Reife gebracht. Er ist an Jahren älter geworden; aber er ist in seiner Seele nicht mit seinen Jahren mitgekommen. Er spricht aus dem altgewordenen Gehirn noch so, wie er aus dem jungen gesprochen hat. Das fühlt die Jugend. Sie empfindet nicht «Reife», wenn sie mit den älteren Menschen zusammen ist, sondern die eigene junge Seelenverfassung in den altgewordenen Körpern. Und da wendet sie sich ab, weil ihr das nicht als Wahrheit erscheint.
Die älteren Menschen haben durch Jahrzehnte auf dem Gebiete der Erkenntnis die Meinung ausgebildet, daß man über das Geistige in den Dingen und Vorgängen der Welt «nichts wissen könne». Wenn die Jugend das hört, so muß sie das Gefühl bekommen, daß der ältere Mensch ihr nichts zu sagen habe, denn das «Nichtwissen» kann sie sich ja doch selbst besorgen; auf den Alten wird sie nur hinhorchen, wenn von ihm das «Wissen» kommt. Vom «Nichtwissen» zu reden, das ist erträglich, wenn es mit Frische, mit Jugendfrische, geschieht. Vom «Niditwissen» aber zu hören> wenn die Rede von dem altgewordenen Gehirn kommt, das verödet die Seele, besonders die junge Seele.
Die Jugend wendet sich heute von den älter gewordenen Menschen nicht deshalb ab, weil diese «alt» geworden sind, sondern weil sie «jung» geblieben sind, weil sie nicht verstanden haben, in rechter Art «alt» zu werden. Dieser Selbsterkenntnis bedürfen heute die älteren Menschen.
Man kann aber nur in rechter Art «alt» werden, wenn man den Geist in der Seele zur Entfaltung kommen läßt. Geschielit dies, so hat man in einem altgewordenen Körper dasjenige, was mit diesem zusammen-stimmt. Dann wird man der Jugend nicht nur das entgegenbringen können, was die Zeit an dem Körper entwickelt hat, sondern was das Ewige aus dem Geist heraus offenbart.
#SE260a-149
Wo ernstlich nach dem Geist-Erlebnis gesucht wird, da kann sich das Gebiet finden, auf dem die Jugend sich wieder mit den älteren Menschen zusammenfindet. Es ist eine inhaltlose Phrase, wenn gesagt wird:
mit der Jugend muß man «jung» sein. Nein, man muß unter der Jugend als älterer Mensch in der rechten Art verstehen, «alt» zu sein.
Die Jugend kritisiert gerne das, was von älteren Menschen kommt. Das ist ihr gutes Recht. Denn sie muß dereinst das tragen, wozu es im Fortschritt der Menschheit die Alten noch nicht gebracht haben. Aber man ist kein rechter älterer Mensch, wenn man bloß mitkritisiert. Das läßt sich wohl die Jugend eine Zeitlang gefallen, weil sie sich nicht am Widerspruch zu ärgern braucht; aber zuletzt wird sie der «alten Jun-gen» ü.berdrüssig, weil deren Stimme zu rauh ist, und das Kritisieren in jugendlichen Stimmen mehr Leben hat.
Die Anthroposophie möchte im Suchen nach dem Geiste ein Feld finden, auf dem junge mit älteren Menschen sich gerne zusammenfinden. Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft darf erfreut darüber sein, daß seine Ankündigung in der Art von der Jugend aufgenommen wird, wie es geschehen ist. Aber auch die tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden den Vorstand nicht im Stiche lassen dürfen. Denn zugleich mit der Zustimmung von der einen Seite erhalte ich von der andern ein Schreiben, in dem Worte stehen, auf die hinhören muß, wer mit seinem Herzen der Anthroposophischen Gesellschaft angehört. «Es könnte der Tag kommen, WO wir uns vön der AnthropOsophischen Gesellschaft lösen müssen, so wie Sie sich einstmals innerlich von der Theosophischen lösen mußten.»
Dieser Tag würde kommen, wenn wir in der Anthroposophischen Gesellschaft in der nächsten Zeit nicht verwirklichen könnten, was mit der Ankündigung einer «Jugend~Sektion» gemeint ist. Hoffentlich gehen die tätigen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in der Richtung des Vorstandes am Goetheanum, auf daß der Tag komme, an dem von den «Jungen» gesagt werden kann: wir müssen uns immer inniger mit der Anthroposophie zusammenschließen.
Ich habe diesmal zu den älteren Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft über die «Jugend» gesprochen; in der nächsten Nummer möchte ich der Jugend sagen, was mir auf dem Herzen liegt.
#SE260a-150
#TI
Nachrichtenblatt, 16. März 1924
II. Was ich den jüngeren Mitgliedern in dieser Sache zu sagen habe
#TX
In dem Briefe, den das Komitee der Freien Anthroposophischen Gesell-schaft auf meine Ankündigung einer Jugendsektion an die Mitglieder dieser Gesellschaft richtet, findet sich der Hinweis darauf, daß ich «die Angelegenheit» des «Jung-Seins für so wichtig» halte, «daß sie Gegenstand einer eigenen geisteswissenschaftlichen Disziplin werden kann» .
Ich halte diese Angelegenheit wirklich für so wichtig. Wer die Schilderung meines Lebensganges in der Wochenschrift «Goetheanum» liest, wird begreifen, warum ich so denke. Als ich selber so jung war wie diejenigen, die in diesem Briefe sprechen, fühlte ich mich einsam mit der Seelenverfassung, die ich heute in weiten Kreisen der Jugend lebendig finde. Meine damaligen Jugendgenossen empfanden anders als ich. Das Zivilisationsleben, von dem in diesem Briefe gesagt wird, daß es die Jugend «durch keinen Beruf mehr zu einer Weltanschauung kommen» lasse, und daß die Jugend durch ihr «Streben nach einer Weltanschauung» zu «keinem Berufe mehr geführt werden» könne, war in jener Zeit im Aufstieg. Es wurde von der Jugend als Blüte der neuesten Stufe in der Menschheitsentwickelung empfunden. Man fühlte sich «befreit» von den Verstiegenheiten des Weltanschauungsstrebens und geborgen in der Aussicht auf Berufe, die aus den «sicheren» Grund-festen der «Wissenschaft» sich heraushoben.
Auch ich sah das «Blühen» dieser Zivilisation. Aber ich mußte empfinden, daß aus dieser Blüte keine echte Menschheitsfrucht werde entstehen können. Meine Jugendgenossen empfanden das nicht. Sie waren in dem Erleben des «Blühens» mitgerissen. Sie entbehrten noch nicht die Frucht, weil sie ihre Begeisterung im Anblicke der unfruchtbaren Blüte verschwendeten.
Jetzt ist alles anders geworden. Die Blüte ist verwelkt. Statt der Frucht ist ein lebensfremdes Gebilde zum Vorschein gekommen, das im Menschen das Meuschtum erfrieren läßt. Die Jugend empfindet die Kälte der weltanschauungslosen Zivilisation.
In meinen Jugendgenossen lebte eine Oberschichte des Bewußtseins.
#SE260a-151
Die konnte sich freuen über die fruchtlose Blüte, weil sich ihre Fruchtlosigkeit noch nicht gezeigt hatte. Und die Blüte war «als Blüte» glänzend. Die Freude am Glanz deckte die tieferen Schichten des Bewußt-seins zu; die Schichten, in denen unversiegbar im Menschen die Sehnsucht nach wahrem Menschtum lebt. An der verwelkten Blüte kann die Jugend der Gegenwart keine Freude mehr haben. Die Oberschichte des Bewußtseins ist öde geworden, und die tieferen Schichten sind bloß-gelegt; die Sehnsucht nach einer Weltanschauung ist in den Herzen offenbar, und sie droht, das seelische Leben zu verwunden.
Ich möchte der Jugend heute sagen: scheltet die «Alten» nicht zu stark, die mit mir vor vierzig Jahren jung waren. Gewiß, es gibt unter ihnen oberflächlinge, die auch heute noch ihre Leerheit als Überlegenheit eitel zur Schau tragen. Aber es sind unter ihnen auch solche, die in Resignation ihr Schicksal tragen, das ihnen das lebendige Erfahren ihres wahren Menschtums versagt hat.
Dieses Schicksal stellte sie in die letzte Phase des «finstern» Zeitalters, durch die im Erleben der Materie das Grab des Geistes geschaufeit ward.
Die Jugend aber ist an das Grab gestellt. Und das Grab ist leer. Der Geist stirbt nicht und kann nicht begraben werden.
Das Jung-Sein ist für diejenigen, die es heute erleben, zum Rätsel geworden. Den im Jung-Sein ist die Sehnsucht nach dem Geist bloßgelegt. - Das «lichte» Zeitalter ist aber angebrochen. Es wird nur noch nicht empfunden, weil die meisten Menschen noch in ihren Seelen die Nachwirkung der alten Finsternis tragen. Wer aber Sinn für Geisteswesen hat, der kann wissen daß es «licht» geworden ist.
Und das Licht wird erst ,wahrnehmbar werden, wenn die Rätsel des Daseins in neuer Form wieder geboren sein werden.
Jung-Sein ist eines der ersten dieser Rätsel. Wie erlebt man das Jung-Sein in einer Welt, die im Altwerden erstarrt iSt? Das ist die Gefühlsfrage, die in den jungen Menschen der Gegenwart lebt.
Weil das Jung-Sein so zum Menschenrätsel geworden ist, kann es seinen lebendigen Lösungsversuch nur in «einer eigenen geisteswissenschaftlichen Disziplin» finden.
Es wird in einer solchen Disziplin nicht in leeren Phrasen von dem
#SE260a-152
Jung-Sein gesprochen werden, sondern es wird in ihr das Licht gesucht wer'den, welches auf das Jung-Sein fallen muß, damit es sich selber in seinem Menschtum wahrnehmen kann.
Das heutige Jung-Sein will Weltanschauung, die den Lebensberuf mit Wärme erfüllen kann. Es fürchtet die Berufe, die eine weltanschau~ ungslose Zivilisation geschaffen hat. Es möchte den Beruf aus dein Menschtum erwachsen sehen, nicht das Menschtum von dem Beruf er tötet wissen. Sich in der Welt zurechtfinden,. ohne im Suchen den Men~ schen zu verlieren, dazu gehört lebendiges Seelenverhältnis zur Welt. Das aber erwacht nur im Erleben der Weltanschauung. In einer solchen Gesinnung ist die Ankündigung des Vorstandes der Anthroposophi-schen Gesellschaft erfolgt. In einer solchen Gesinnung rnöchte dieser die jungen Anthroposophen zur Erarbeitung eines Lebens in wahrem Menschtum in einer Jugendsektion vereinen.
Aber noch Eines möchte ich den jüngeren Mitgliedern sagen. Wenn es gelingt, der Jugendsektion den rechten Inhalt zu geben, so werden diejenigen, die im anthroposophischen Leben verstanden haben, in der richtigen Art «alt» zu werden, mit der Jugend gemeinsame Sache machen wollen. Es möge dann die Jugend nicht sagen: wir setzen uns mit den «Alten» nicht an einen gemeinsamen Tisch. Denn Anthroposophie soll kein Alter haben; sie lebt im Ewigen, das alle Menschen zusammenführt. Die Jugend möge in der Anthroposophischen Gesellschaft ein Feld finden, auf dem sie jung sein kann. Aber die «Alten» werden, wenn sie Anthroposophie in ihr ganzes Wesen lebendig auf-nehmen, den Zug zur Jugend verspüren. Sie werden finden, daß, was sie durch das Alter sich erobert haben, sich am besten der Jugend mitteilen läßt. Die Jugend wird ja vergeblich nach dem wahren Menschtum ringen, wenn sie dasjenige Menschtum flieht, in das sie doch einmal auch eintreten muß. Im Weltenlauf muß sich das Alte immer wie-der verjüngen, wenn es nicht dem Wesenlosen anheimfallen will. Und die Jugend wird bei den echten «alten» Anthroposophen finden können, was sie braucht, wenn sie nicht eines Tages an einem eigenen Alter anlangen will, vor dem sie entfliehen möchte, aber es nicht kann.
#SE260a-153
#TI
Nachrichtenblatt, 23. März 1924
IIII. Was ich Weiteres den jüngeren Mitgliedern zu sagen habe
#TX
Wo immer heute die «Jugendbewegung» auftritt, da offenbart sie, daß sie aus einem Entbehren heraus lebt. Was «entbehrt» der junge Mensch, dem sein Jung-Sein zum Bewußtsein kommt? Man kann doch innerhalb der heutigen Zivilisation so viel «lernen». Sie enthält nicht nur eine Fülle des Wissenswerten, sondern eine Überfülle.
Es liegt nahe, zu glauben, daß wegen dieser Überfülle die Jugend verwirrt werde, daß sie den Inhalt der Überfülle nicht «verstehen» könne. Aber die Erfahrung zeigt, daß dieser Glaube falsch ist. Der junge Mensch «versteht» ganz gut, was ihm die Zivilisation entgegenbringt. Verstehen kann man, was sich im Denken ergreifen läßt. Und unsere heutige Zivilisation ist trotz ihrer Überfülle fast ganz in Gedanken zu fassen.
Der junge Mensch wird gewahr, wenn er beginnt, zur Zivilisation ein Verhältnis zu gewinnen, daß er versteht. Und ein richtiger Instinkt sagt ihm, daß dieses Verstehen, dieses denkende Ergreifen auch sein ferneres Schicksal sein soll. Allein mit dem «Verstehen» läßt sich nicht jung sein. Man kann nur jung sein, wenn man mit vollem Herzen, mit ganzer Seele erlebt, was auf das Verstehen wartet. Und man ahnt als junger Mensch, daß man alt wird, wenn man das Erlebte allmählich in das Verstandene hinüberführt.
Die Jugend von heute nimmt aus der Zivilisation etwas auf, womit man alt werden, aber nicht etwas, womit man jung sein kann. Diese Zivilisation hat dem ersten Lebensalter fast gar nichts zu geben. Man müßte heute mit zwanzig Jahren die Erde betreten, dann könnte man sich mit dem Inhalt der Zivilisation durchdringen.
Diese Zivilisation hat den Geist verloren. Sie bringt nur die Materie in Gedanken. Diese Gedanken lassen sich nicht erleben; sie lassen sich nur verstehen. Und hat man sie verstanden, dann liegen sie wandlungsunfähig, steinhart in der Seele. Sie sind bei ihrem Entstehen schon völlig reif; sie können deswegen nicht wachsen. Der junge Mensch aber
#SE260a-154
muß wachsen; und er will, daß, was er in seine Seele aufnimmt, mit ihrn wachsen kann.
Eine wirklithe Geisteswissenschaft kann auch nur in Gedanken sich offenbaren. Allein diese Gedanken sind anschaubar, erlebbar; sie können von niemand mit einem höheren Grad von Reife aufgenommen werden, als er selbst hat. Aber sie sind dem Wesen des Menschen verwandt. Sie wachsen und reifen mit ihm. Gibt mir als Achtzehnjährigen jemand Gedanken aus dem Materiellen, dann nehme ich sie so auf, wie ich das auch tun würde, wenn ich vierzig oder fünfzig Jahre alt wäre. Läßt mich jemand Gedanken, die aus dem Geiste quellen, an seiner Menschheitsentfaltung erleben, so mag er siebenzig Jahre alt sein; wenn ich selbst nur achtzehn Jahre zähle, so vereinigen sie sich harmonisch mit meiner athtzehnjährigen Seelenverfassung und wachsen heran, wie ich selber wachse.
Die materialistische Denkungsart und Anschauung fordert von der Jugend, daß sie sich innerlich mit «Altem» fülle. Die Jugend aber will ihr Jung-Sein erleben. Deshalb wird das «Alter Erleben» der Jugend zur Entbehrung. Die Jugendsektion am Goetheanum möchte der Jugend eine Erkenntnis geben, die lebt, und mit deren Leben man das Jung-Sein lebendig in sich ergreifen kann. Die Zivilisation von heute hat keine Gedanken, mit denen man das «Jung-Sein» erleben kann. Eine wirkliche Geisteswissenschaft wird solche Gedanken haben.
Hört man als älterer Mensch heute die Jugend sprechen, so hat man oft das Gefühl: ach, wie alt klingen doch die Reden, die aus dem Jugendmunde kommen! Das aber sind die Reden, die der junge Mensch bei den «Alten» heute findet. Er nimmt sie auf; aber er vereinigt sie nicht mit sich. Indem er sie erleben will, fühlt er sich unwahr. Er redet, was in ihm keine Wahrheit haben kann; und er trägt seine Wahrheit in sich, ohne daß er sie vor sich selber offenbaren kann. Sie würgt ihn; sie wird ihm zu einem von innen kommenden Alpdruck.
Atmungs freiheit im lebendigen Geistesleben will die Jugend, damit der Alpdruck verschwinde. Erwachen in gesunder Geistesanschauung will sie, damit das Bewußtsein sich mit dem Erleben des Jung-Seins erfüllen kann.
Die Jugend möchte im Jung-Sein wachen; allein die Gedanken der
#SE260a-155
materialistischen Zivilisation lassen sie nur davon träumen. Aber man kann nur träumen, wenn man das Bewußtsein abgedämpft hat. So muß das Jugendbewußtsein abgedämpft durch die mechanische Wirklichkeit wandeln. Deren Hammerschläge, deren elektrische Wellen stoßen hinein in die Träume. Aber sie können nicht das Erwachen bewirken. Denn sie sind nicht menschlich; sie sind außermenschlich.
Geisteswissenschaft kann für Seelen sein, die erwachen wollen. Sie will dem Menschen nicht bloß Wissen vermitteln, sondern das Leben nahe bringen. Dann wird es seiner Freiheit gegeben sein, das Leben in Wissen zu wandeln.
Menschen, die da glauben, Poeten zu sein, die aber doch nur Philister sind, wenden ein: nehmet der Jugend die Träume, bringt sie zum Erwachen, und ihr nehmet ihr das Beste von ihrem Jung-Sein weg. Wer so spricht, der weiß nicht, daß Träume ihren vollen Wert erst erlangen, wenn sie von dem Lichte des Wachens bestrahlt werden. Die mechanistische Zivilisation bringt die Jugendträume nicht in ihrem freudigen Leuchten zur Offenbarung, sondern sie zermürbt sie schon im Entstehen, so daß sie drückend, lastend werden.
Nur in solchen Bildern kann hier gesagt werden, was die Jugend-sektion wirken will. Sie wird kein «Programm» veröffentlichen; sie wird keine Erklärung des «Wesens der Jugend» geben. Sie wird versuchen, Leben werden zu lassen, was ihre Begründer selbst an den Entbehrungen der jungen Menschen von heute erleben können. Das wird eine «Jugendweisheit» geben, die im Leben sich täglich neu entfalten kann.
Junge Menschen, die am Goetheanum leben, haben sogleich nach dem Ankündigen der Jugendsektion und seither fortdauernd ihren Willen kundgegeben, innerhalb dieser Sektion arbeiten zu wollen. Enthusiasmus spricht aus diesen Kundgebungen. Ich habe im ersten Aufruf gesagt, die Jugendsektion wird wirken können, wenn ver-standen wird, was mit ihr gemeint ist. Ich glaube wirklich, daß der Enthusiasmus das richtige «Verstehen» herbeiführen kann. Nicht jenes «Verstehen», von dem ich hier gesprochen habe und durch das die Jugend entbehrt, sondern jenes Verstehen, das zwar mit demselben Worte bezeichnet wird, das aber doch ein ganz anderes ist. Ein Verstehen,
#SE260a-156
das nicht aus dem Verstande, sondern aus dem ganzen Menschen kommt.
Die Sehnsucht des Vorstandes der Anthroposophischen Gesellschaff kann nur sein, sich vor einem empfänglichen Enthusiasmus zu fühlen Dann darf er hoffen, daß die Lebenskraft der Geisteswissenschaft hin-reiche, um diesem Enthusiasmus zu geben, was er gerne tragen möchte. Mit der Jugend so leben, daß sie ihr Jung~Sein in wahrer Menschlichkeit dem Alter entgegenführen kann, das möchte dieser Vorstand, weil er glaubt, daß er damit gerade das trifft, was die Jugend entbehrt und wonach sie sehnenden Herzens verlangt.
#TI
Nachrichtenblatt, 30. März 1914
VON DER JUGENDSEKTION
DER FREIEN HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#TX
Noch einmal möchte ich mich namentlich an die jüngeren Freunde in der Anthroposophischen Gesellschaft wegen der Begründung der Jugendsektion wenden. Es scheinen sich innerhalb der Kreise unserer Jugend zwei Meinungen gegenüberzustehen. Die eine empfindet das Jung-Sein als etwas, das suchen muß. Sie fühlt einen Zug zur Anthroposophie hin, weil sie da Befriedigung für ihr Suchen zu finden hofft. Sie ist gewahr geworden, daß dieses Suchen nach den Tiefen der Seele gehen muß, und daß die zeitgenössische Zivilisation nach diesen Tiefen nicht führen kann. Es gibt eine Jugend, die so nach Esoterik sucht, weil sie ahnend entdeckt hat, daß in der Esoterik der wahre Inhalt des Menschen erst erlebt werden kann.
Diese Jugend wird den Weg zu dem leicht finden, was der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft mit der Jugendsektion anstrebt. Und dieser Vorstand wird niemand in seinem selbständigen Streben beeinträchtigen. Er wird ein Herz haben für diese Selbständigkeit. Aber er wird auch eingedenk der Tatsache sein, daß die Pflege des esoterischen Lebens ihm als seine Aufgabe zugewachsen ist. Ihm wird diese Sorge die erste sein. Er wird die Jugendsektion so leiten, daß in ihr der
#SE260a-157
Esoterik ihr Recht zukomtnt, und er glaubt, aus der wahren Esoterik auch die wahre «Jugend-Weisheit» finden zu können.
Aber es gibt noch eine andere Jugendmeinung. Diese wird leicht ver-sucht, das Jung-Sein in einem so absoluten Sinne zu nehmen, daß ihr auch schon das Streben nach Esoterik wie das Aufnehmen eines Fremd-körpers erscheint. Sie möchte vor alletn, unbeirrt von allem, was von außen kommt, sich in das eigene Jung-Sein vertiefen, und sich dieses zum Verständnis bringen.
In der Anthroposophischen Gesellschaft hofft wohl auch die Jugend, die dieser Meinung ist, etwas zu finden. Sonst wäre sie gar nicht dar-innen. Aber sie glaubt, der Anthroposophie erst den rechten Geist durch die Betätigung ihres Jung-Seins bringen zu müssen. Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft wird weit davon entfernt sein, diesem Teile der Jugend mit einer philiströsen Kritik zu begegnen. Aber es könnte leicht geschehen, daß seine Absichten von manchem jungen Menschen in einem falschen Lichte gesehen werden. Denn er kann von seiner gewonnenen Einsicht nicht abweichen, daß in der durch die Anthroposophische Gesellschaft versuchten Esoterik der Ewigkeitsstrom fließt, nach dem die Jugend hinstrebt. Er kann nicht in den Irrtum verfallen, daß die Esoterik durch das Jung-Sein erst ihre wahre Gestalt erhalten müsse, da er doch weiß, in der Esoterik wird die Jugend die rechten Wege finden, um im wahren Sinne «jung» sein zu können.
Ich spreche dieses aus, nicht weil ich auf einen Gegensatz zwischen einem Teile der Jugend und dem Vorstande hinweisen will. Einen solchen sehe ich nicht; und es kann vor einer praktischen Weltauffassung einen solchen gar nicht geben. Denn der Vorstand ist sich bewußt, daß ihm seine Aufgaben aus der geistigen Welt kommen; und er wird in allem die Wege zu gehen haben, die ihm von da gewiesen werden. Einen «Gegensatz» dazu im Felde seines Wirkens kann es für ihn nicht geben.
Aber es wäre doch möglich, daß die Jugend selbst in Gegensätze hineintriebe, wenn der eine Teil sein Streben einseitig gegenüber dem andern betonte. Und das könnte der anthroposophischen Jugendbe-Wegung unermeßlichen Schaden bringen. Es wird dies aber nicht geschehen,
#SE260a-158
wenn die Jugend etwas, das sie von der «allzualt» gewordenen Zivilisation gelernt hat, schärfer beachten würde, als sie dies oft tut. Es ist ein gewisser Hang zur Abstraktion, zum Reden in bloßen Begriffen. Ich habe es in der vorangehenden Betrachtung ausgesprochen, wie wenig gut dies Abstrahieren der Jugend bekommt. In Wahrheit will das auch niemand in der Jugendbewegung. Aber im Reden über Jung-Sein, über die Ideale der Jugend ist es doch da. Es ist sogar ein bedenkliches Stück «Alter» in der heutigen Jugend. Besinnt sich dem-gegenüber die Jugend auf ihre wahren Erlebnisse, so wird sie finden, daß diese wie Fragestellungen sind, und daß die Esoterik der Anthroposophischen Gesellschaft ihr wenigstens Versuche von Antworten entgegenbringt.
Auf der Grundlage einer solchen praktischen Einsicht wird gewiß eine Verständigung zwischen einzelnen verschiedenen Meinungen in unserer Jugendbewegung erwachsen.
Der Verkehr mit der Esoterik kann der Jugend selbst zum Erlebnis werden. Geschieht dieses, so wird die Jugend eben einsehen, daß sie gerade durch diesen Verkehr verwirklichen kann, was sie oft in unbestimmter Art sich ideell vor die Augen rückt. Geschieht es nicht, so könnte es leicht sein, daß ein Teil der Jugend nicht aus angeborenem, aber äußerlich aufgenommenem «Alt-Reden» sich einen theoretischen Vorhang schiebt vor das angedeutete Erlebnis.
Wird die Jugend sich verstehen, so wird sie auch den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft verstehen.
Nachrichtenblatt, 6. April 1924 DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT In der Freien Hochschule soll das unmittelbar Menschliche zur Geltung kommen
#G260a-1987-SE159 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
Nachrichtenblatt, 6. April 1924
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
In der Freien Hochschule soll das unmittelbar Menschliche
zur Geltung kommen
#TX
Diese Institution kann nicht aus abstrakten Überlegungen von «oben her» zustande kommen. Sie muß aus den Bedürfnissen unserer Mitgliedschaft von So muß es auch für die anderen Sektionen werden. Dazu aber ist notwendig, daß die Bedürfnisse, welche innerhalb unserer Mitglieder-schaft zutage treten, auch wirklich durch die ganze Gesellschaft fließen und zuletzt sich in dem vereinigen, was man vom Vorstand am Goetheanum erwartet. Man sollte sich deshalb immer mehr zum Bewußtsein bringen, daß der Sinn der Weihnachtstagung nicht der war, einen bloßen «Verwaltungsvorstand» zu bilden. Gewiß, die «Verwaltung» tnuß da sein, und es soll nicht vergessen werden, daß sie notwendig ist und daß sie Sorgfalt und Genauigkeit zu entwidteln hat. Aber die Hauptsache wird sein, daß durch die Gesinnung in der Mitgliederschaft der Vorstand am Goetheanum wirklich in den Mittelpunkt der geistigen Interessen der Gesellschaft gestellt wird. In ihm sollte zusam-menfiießen, was an solchen geistigen Interessen vorhanden ist.
Diesem Vorstand soll es ferne liegen, die Initiative in den einzelnen Teilen der Gesellschaft zu dem oder jenem in irgendeiner Art beschränken zu wollen. Aber man sollte es immer mehr als eine Notwendigkeit ansehen, daß alles, was in der Gesellschaft auftaucht, zum Wissen dieses Vorstandes gebracht werde. Er kann dann, was an dem einen Orte, oder von der einen Menschengruppe gewollt ist, in Einklang bringen mit dem, was von anderer Seite beabsichtigt wird. Dieser Vorstand
#SE260a-160
wird nicht in einseitiger Art wie eine Behörde «von oben» wirken wollen; er wird es sich zur Aufgabe machen, offenes Herz und verständnisvollen Sinn zu haben für alles, was aus der Mitgliedschaft heraus nach Verwirklichung strebt. Er möchte in dieser Beziehung nur auch auf Verständnis nach der Richtung hin rechnen dürfen, daß man ihm entgegenkommt, tätig entgegenkommt, wo er aus seiner Initiative, aus den Zielen der anthroposophischen Bewegung heraus, etwas durchführen möchte. In diesem Sinne habe ich bei der Weihnachtitagung gesagt:
dieser Vorstand soll ein Initiativ-Vorstand sein.
Wenn man immer mehr diesen Vorstand in solcher Art wird an-sehen wollen, dann wird er in rechter Art der Berater werden können in allen Angelegenheiten der Gesellschaft. Und ein «Berater» möchte er sein; da er wohl weiß, daß es dem Geiste der Anthroposophisdien Gesellschaft gründlich widerspräche, wenn er ein «Verfüger» sein wollte. Er wird bei seinen Ratschlägen an nichts anderes appellieren als an die freie Einsicht der Mitglieder; aber er wird auch nur rechter «Berater» sein können, wenn in rechter Gesinnung an seinen Platz gebracht wird, was in den Absichten, in den Bestrebungen der Mitglieder liegt.
Der Vorstand am Goetheanum möchte, daß so ferne wie möglich läge, in Paragraphen und Programmen eine Verbindung mit dem Wirken in der Gesellschaft herzustellen; er möchte, daß das unmittelbar Menschliche, das in jeder Einzelheit auch individuell wirken kann, zur ganz allgemeinen Geltung innerhalb der Gesellschaft komme. Und er möchte das vor allem bei alle dem erreichen, was für die Freie Hoch-schule für Geisteswissenschaft getan werden soll.
#TI
III
Aus der Arbeit für eine
Allgemeine Anthroposophisclie Gesellschaft
und für eine Freie Hochschule
für Geisteswissenschaft
Die Führung des Nachrichtenblattes
#SE260a-163
Nachrichtenblatt, 27. Januar 1924
ÜBER DIE FÜHRUNG DIESES NACHRICHTENBLATTES
UND DEN ANTEIL DER MITGLIEDER DARAN
#TX
Dieses Nachrichtenblatt trägt den Titel «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht». Dieser Titel ist ihm gegeben worden, um anzudeuten, daß in der Zukunft die einzelnen Mitglieder geistig in reger Art teilnehmen sollten an allem, was in der Gesellschaft vorgeht. Das wird nur dadurch geschehen können, daß diese Mitglieder in Briefen an den Leiter des Nachrichtenblattes, Albert Steffen, all das mit-teilen, wovon sie glauben, daß es nicht nur das einzelne Mitglied, son-dern die ganze Gesellschaft wissen soll. Und diese soll wissen, wo an Anthroposophie gearbeitet wird, wie das geschieht, wie die Arbeit aufgenommen wird und so weiter. Das Leben, das sich in den einzelnen Gruppen abspielt, soll vor dem Bewußtsein der ganzen Gesellschaft aufleben können. Briefe, in denen für das Leben der Gruppen mit Interesse erfüllte Mitglieder an die Redaktion sich mit ihren Mitteilungen wenden, werden dann durch diese verarbeitet werden. Es wird dadurch für die Entstehung eines gemeinsamen Bewußtseins in der Gesellschaft gewirkt werden können. Nur wenn die Mitglieder in Neuseeknd erfahren können, was in einer Gruppe in Wien vorgeht, wird solch ein gemeinsames Bewußtsein möglich sein.
Aber dies soll nicht das einzige sein. Auch was im geistigen Leben der Gegenwart außerhalb der Gesellschaft vorgeht, soll in das gemein-same Bewußtsein aufgenommen werden. Um jede Gruppe der Getellschaft herum ist ja geistiges Leben. Diese oder jene Anschauung über Welt und Leben wird geäußert, diese oder jene große oder kleine künstlerische, wissenschaftliche, soziale, pädagogische und so weiter Leistung tritt zutage. Vieles andere wird geschehen, was geistig strebende Menschen interessieren muß. All das kann nach seinen Bedingungen, nach seinem Wesen, nach seiner Tragweite aus der Nähe besser beurteilt werden als aus der Ferne. Die Mitglieder der Gruppen sollten in ihren Briefen von dem sprechen, was sie von dieser Art in der Nähe ihrer Gruppen wahrnehmen können. Mitglieder, die ihr Beruf in der Welt
#SE260a-164
durch Reisen herumführt, sollten mit offenen Augen hinsehen auf das, «was in der Welt vorgeht». Sie sollten dieses dann der Redaktion des Nachrichtenblattes mitteilen. Dann kann auf diese Art das, «was in der Welt vorgeht», zu etwas werden, «was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht». Und wir brauchen die Weite des Gesichtskreises. Wir brauchen das rege Interesse für alle Erscheinungen des Lebens in der Welt. Wir brauchen in der Gesellschaft ein gesundes Urteil über diese Erscheinungen.
In dieser Beziehung müssen wir anders denken lernen in der Gesellschaft, als bisher gedacht worden ist. Anthroposophie verträgt durch ihr Wesen keine Sektiererei, die sich engherzig abschließt gegen alles, was andre denken und wollen. Anthroposophie verträgt nur ein weites Herz für alles menschliche Streben und Leben. Und sie kann nur die rechte Form erhalten durch ein offenes Auge für alles, was in der Welt gedacht, gewollt, getan wird.
Das Nachrichtenblatt sollte ein Spiegelbild werden von dieser Art des Denkens in der Gesellschaft. Es sollte durch sein Dasein eine Aufforderung an jedes einzelne Mitglied bedeuten, sich immer wieder die Frage vorzulegen, wie kann ich zu dem gemeinsamen Denken in der Gesellschaft beitragen? Wenn das Nachrichtenblatt so von den Mitgliedern angesehen wird, kann es der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft zu dem machen, was es nach den Absichten der Weihnachtstagung werden sollte.
#TI
Nachrichtenblatt, 2. März 1924
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESVISSENSCHAFT
#TX
Die erste Veranstaltung der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft fand noch während der Weihnachtstagung und im unmittelbaren An-schlusse an diese statt. Sie ging aus der Sektion hervor, deren Leiter Dr. med. Ita Wegman ist. Diese Veranstaltung zerfiel in zwei Teile. In den letzten Tagen der Weihnachtsversammlung vereinigten sich die praktizierenden Xrzte, die als Mitglieder der Gesellschaft anwesend waren,
#SE260a-165
und es wurden aus ihrem Kreise sie interessierende Fragen formuliert, die ich zum Gegenstande entsprechender Auseinandersetzungen machte. Die Leitung der Freien Hochschule wird versuchen, eine Fortsetzung dessen, was damit eingeleitet worden ist, nach den Möglichkeiten zu finden, die ihr gegeben sind. Sie wird, sobald sie dazu in der Lage sein wird, in einem Schreiben an die Interessenten die Art angeben, in der sie das ihr Mögliche bewerkstelligen möchte.
Im Anschlusse an die Weihnachtstagung fand im Bereiche derselben Sektion ein Kursus für jüngere Ärzte und Medizinstudierende statt. Hier wurde namentlich über die innere Orientierung in der Seele dessen gesprochen, der sich dem Medizinischen widmen will. Aus den an das Goetheanum herankommenden geistigen Bedürfnissen von Medizin-studierenden ist dieser Kursus gegeben worden. Er wollte eine andeutende Darstellung dessen geben, was der im medizinischen Beruf Stehende von Welt und Mensch zu wissen erstrebt, aber er wollte ebenso die Quellen des wahren ärztlichen Ethos, der «medizinischen Gesinnung» aufdecken. Bei der Kürze der Veranstaltung war nur möglich, Andeutungen für eine Wegleitung zu geben. Aber es darf die Hoffnung leben, daß auch, was damit eingeleitet worden ist, seine Fortsetzung in dem oben angegebenen Sinne finden werde.
Die Versammlungen der ersten Klasse der Freien Hochschule haben für die allgemeine anthroposophische Sektion begonnen.
Es lag nun eine innere Notwendigkeit vor, in der Sektion für die redenden und musikalischen Künste, deren Leiter Frau Marie Steiner ist, einen Kursus über Ton-Eurythmie zu veranstalten. Die in Dornach lebenden ausübenden Künstler und Lehrer der Eurythmie und die jenigen von auswärts, denen dieses möglich war, ferner die Vorstandsmitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und einige für Musik und Eurythmie sich interessierende Persönlichkeiten haben daran teil-genommen.
Der Inhalt wird in entsprechender Weise, sobald dies möglich ist, auf geeignete Art bekanntgemacht werden. Hier soll nur in einigen Sätzen über Absicht und Haltung gesprochen werden. Die eurythmische Kunst hat bisher die Laut-Eurythmie in einem bestimmten Maße ausgebildet. Wir sind selbst unsere strengsten Kritiker und wissen, daß auf diesem
#SE260a-166
Gebiete alles, was schon jetzt geleistet werden kann, nur em Anfang ist. Aber das Angefangene muß eben weiter entwickelt werden.
Für die Ton-Eurythmie, den «sichtbaren Gesang», waren wir bisher nicht so weit gekommen wie für die Laut-Eurythmie, das «sichtbare Wort». Wenn die Anfänge, die wir bisher hatten, auf dem rechten Wege fortgeleitet werden sollen, so mußte gerade jetzt - in dem Stadium, in dem die Ton-Eurythmie praktiziert worden ist - eine Weiterbildung stattfinden. Das sollte durdi diesen Kursus geschehen. Dabei mußte aber auch auf das Wesen des Musikalischen selbst hingewiesen werden. Denn in der Eurythmie wird Musik sichtbar; und man muß ein Gefühl dafür haben, wo diese ihre wahre Quelle in der Menschen-natur hat, wenn man ihr Grundwesen sichtbar machen will.
In der Ton-Eurythmie wird anschaulich, was in der Musik im Unanschaulich-Hörbaren lebt. Es ist gerade da die größte Gefahr vorhanden, unmusikalisch zu werden. Ich hoffe, in den Vorträgen dieses Kursus den Beweis erbracht zu haben, daß dann, wenn Musik in Bewegung überströmt, das Bedürfnis entsteht, alles Unmusikalische in der «Musik» abzustoßen und nur «reine Musik» in das Reich des Sichtbaren hinüberzutragen. Wer allerdings der Ansicht ist, daß mit dem Hinüber-tragen des Hörbaren in die sichtbare Bewegung und Form das Musikalische aufhöre, der wird gegen die ganze Ton-Eurythmie seine Bedenken haben. Allein eine solche Anschauung ist doch wohl nicht im tiefsten Wesen eine künstlerische. Denn wer Kunst in sich erlebt, der muß Freude an jeder Erweiterung der künstlerischen Quellen und Formen haben. Und es ist nun einmal so, daß Musik wie jede wahre Kunst aus dem Innersten des Menschen hervorquillt. Und dieses kann sein Leben auf die mannigfaltigste Art offenbaren. Was im Menschen singen will, das will sich auch in Bewegungsformen darstellen; und nur, was als Bewegungsmöglichkeiten in dem menschlichen Organismus liegt, wird in Laut- und Ton-Eurythmie aus ihm herausgeholt. Es ist der Mensch selbst, der sein Wesen da offenbart. Die menschliche Gestalt ist nur als festgehaltene Bewegung verständlich; und die Be wegung des Menschen offenbart erst den Sinn seiner Gestalt. Man darf sagen: wer die Berechtigung von Ton- und Laut-Eurythmie bestreitet, der lehnt damit ab, den ganzen vollen Menschen zur Erscheinung kommen
#SE260a-167
zu lassen. Nun, der Materialismus lehnt es ab, in der menschlichen Erkenntnis den Geist zur Erscheinung kommen zu lassen; die Ablehnung der Eurythmie als einer neben den andern Künsten und in Verbindung mit ihnen berechtigten Kunst wird wohl in einer ähnlichen Gesinnung ihren Ursprung haben.
Es steht zu hoffen daß die Eurythmiker einige Anregung durch diesen Kursus empfan gen haben und daß damit zur Weiterbildung unserer eurythmischen Kunst einiges hat beigetragen werden können*.
- - -
* Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß Dr. Steiner auf das von mir geäußerte Bedenken hin nicht die nötige Eignung für die Leitung des musikalischen Teiles unserer Sektion zu haben, mich ausdrüdtlidi auf Herrn Jan Stuten als meinen Mitarbeiter hinwies. Er solle im Zusammenwirken mit mir die Führung auf diesem
Gebiete haben. (Marie Steiner, 1944)
#SE260a-168
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE VEIHNACHTSTAGUNG
IM VEIHNACHTSKURSUS FÜR JÜNGERE ÄRZTE UND
MEDIZINSTUDIERENDE
DER MEDIZINISCHEN SEKTION
Dornach, 6. Januar 1924
#TX
... Ich habe schon gesagt, daß wirklich aus esoterischen Quellen heraus in Zukunft die Impulse gegeben werden. Denn es ist schon notwendig, daß die Dinge berücksichtigt werden, die einfach als Realitäten da sind und mit denen eben stark gerechnet worden ist bei der Weihnachts-tagung in der Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Ge-sellschaft. Und das ist für das Gebiet des Medizinischen dieses: Es handelt sich darum, daß in einem noch viel tieferen Sinne als ich gestern gesagt habe, ich in bezug auf die Heilmittel keine Angst habe, wenn andere sie nachbilden. Wenn man nur in Zukunft richtig versteht, daß in einem noch viel tieferen Sinne das medizinische esoterische Studium im Zusammenhang mit Dornach betrieben werden sollte. Dazu wird notwendig sein, daß das medizinische Studium in der Zukunft eigentlich ebenso wie die andern Zweige des Dornacher geistigen Lebens getrieben wird. Sehet Ihr, es war immer so im Leben der Anthroposophischen Gesellschaft, daß von all den Persönlichkeiten, die in der Anthroposophischen Gesellschaft haben Esoteriker werden wollen, die Bedingungen des esoterischen Lebens, einfach die innerlichen Bedingungen des esoterischen Lebens nicht gründlich genug beachtet worden sind. Und so haben wir es innerhalb der anthroposophischen Bewegung nur auf zwei Gebieten im Laufe der Jahre zu dem bringen können, was notwendig ist: nämlich auf dem Gebiete der allgemeinen Anthropo-sophie und auf dem Gebiete der eurythmischen und der Redekunst. Aber was auf diesen Gebieten als innere Betätigung, als selbständige innere Betätigung sich herausgebildet hat, das muß sich für alle Sektionen, die nun eingerichtet werden sollen, wirklich herausbilden. Und dazu ist notwendig, daß man sich den Bedingungen, die von hier aus geschaffen werden, auch wirklich vertrauensvoll unterwirft. Zu diesen Bedingungen gehört, daß ich alle diejenigen Dinge, die auf medizinischem
#SE260a-169
Felde liegen, zunächst werde zu besorgen haben im Verein mit Frau Dr. Wegman, die sich im Verlauf der ganzen anthroposophischen Bewegung für die Medizin vorbereitet hat, und nun so darinnensteht in dieser medizinischen Strömung, daß sie diese medizinische Strömung mit mir zusammen wird zu leiten haben. Und so wird nur derjenige, der sich im Vertrauen an Frau Dr. Wegman anschließt, seinen Weg von Dornach aus finden können. Daher wird in nächster Zeit die Einrichtung getroffen werden müssen, daß diejenigen, die in nächster Zeit in dauernder Verbindung bleiben wollen mit der Sektion für das Wieder-beleben der Medizin, sich wenden - in der Form, über die noch weiter gesprochen werden kann - mit ihren Anliegen an Frau Dr. Wegman in vollständigem, restlosem Vertrauen. Wir werden periodenweise, etwa von Monat zu Monat, in einem Rundbrief die entsprechenden Fragen für diejenigen, die sich am Ende dieses Kurses sozusagen dadurch als Schüler ergeben haben vom Dornacher Goetheanum, diese Fragen beantworten. So wird es in dieser und so auch in andern Sektionen sein. Diese Rundbriefe werden antworten auf die Fragen, die der einzelne stellt, und alle diejenigen, die an der entsprechenden Sektion teilnehmen, werden die Antworten empfangen.
#TI
EINLEITENDE WORTE ÜBER DIE VEIHNACHTSTAGUNG
ZU BEGINN DER VORTRÄGE «ANTHROPOSOPHIE,
EINE ZUSAMMENFASSUNG NACH 21 JAHREN»
Dornach, 19. Januar 1924
#TX
Wenn ich nun versuchen werde, eine Art von Einführung in die Anthroposophie selbst zu geben, so soll das so geschehen, daß darinnen womöglich eine Anleitung zugleich gegeben ist für die Art, wie man vor der Welt Anthroposophie heute vertreten kann. Aber ich will eben doch einige einleitende Worte der Sache noch vorausschicken. Es wird gewöhnlich nicht genügend berücksichtigt, daß ja das Geistige ein Lebendiges ist, und dasjenige, was lebt, muß auch im vollen Leben erfaßt
#SE260a-170
werden. Wir dürfen einfach nicht, indem wir uns als die Träger der anthroposophischen Bewegung in der Anthroposophischen Gesellschaft fühlen, die Hypothese voraussetzen, jeden Tag beginne die anthrop-sophische Bewegung. Sie ist eben mehr als zwei Jahrzehnte da, und die Welt hat Stellung zu ihr genommen. Daher muß bei jeder Art, sich im anthroposophischen Sinne zur Welt zu verhalten, dies Gefühl stehen, daß man es zu tun hat mit etwas, wozu die Welt Stellung genommen hat; es muß im Hintergrunde stehen dieses Gefühl. Hat man dieses Gefühl nicht und denkt, man vertritt einfach da im absoluten Sinne, wie man es auch vor zwei Jahrzehnten hätte machen können, Anthroposophie, dann wird man immer weiter und weiter darinnen fort-fahren, diese Anthroposophie vor der Welt in ein schiefes Licht zu bringen. Und das ist ja gerade genug geschehen. Es sollte eben dem ein Ende gemacht werden auf der einen Seite, und es sollte auf der andern Seite dem gegenüber ein Anfang gegeben werden durch unsere Weihnachtstagung. Diese darf nicht ohne Auswirkung bleiben, wie ich schon gestern* nach den verschiedensten Richtungen hin angedeutet habe.
Gewiß, es kann nicht jedem Mitgliede der Anthroposophischen Gesellschaft zugemutet werden, irgendwie sozusagen nun sich neue Impulse zu geben, wenn ihm das nicht seiner Seelenverfassung nach gegeben ist. Jeder hat das Recht, weiter, ich möchte sagen, ein teilnahmsvolles Mitglied zu sein, das die Dinge aufnimmt und das sich damit begnügt, die Dinge aufzunehmen. Wer aber teilnehmen will an der Vertretung der Anthroposophie vor der Welt in irgendeiner Form, der kann nicht vor übergehen an dem, was ich gestern* auseinandergesetzt habe. In dieser Beziehung muß in die Zukunft hinein nicht nur in Worten, sondern im Tun die vollste Wahrheit herrschen.
- - -
* Vgl. Seite 91 ff.
#SE260a-171
#TI
AUSFUHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IM BERNER ZWEIG
Bern, 25. Januar 1924
#TX
... Daß dieses, was in solcher Weise als eine wirklich esoterische Anschauung in unsere Herzen, in unsere Gemüter einziehen kann, in der Zukunft noch in wirksamerer Weise leben könne in der Welt, dazu haben wir mit der Weihnachtstagung am Goetheanum die Impulse zu geben versucht. Und ich hoffe, daß, was auf dieser Weihnachtstagung sich abgespielt hat, immer mehr und mehr ins Bewußtsein unserer Freunde, unserer lieben Mitglieder einziehen wird. Und ich möchte nach dieser Richtung besonders darauf aufmerksam machen, daß ja jetzt zu Händen eines jeden Mitgliedes jenes Nachrichtenblatt kommen kann, das den Titel trägt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» und das seit unserer Weihnachtstagung jede Woche erscheint. Durch dieses Nachrichtenblatt und durch vieles andere, was sich in der Anthroposophischen Gesellschaft entwickelt, soll nun in der Zukunft wirklich diese Anthroposophische Gesellschaft jenes lebendigen Lebens teilhaftig sein, das aus der Anthroposophie kommen kann. Die Isoliertheit unserer Zweige soll etwas aufhören. Dadurch wird die Anthroposophische Gesellschaft erst ein Ganzes, daß derjenige, der in einem anthroposophischen Zweige in Neuseeland ist, weiß, was in einem anthroposophischen Zweige in Bern oder in Wien vorgeht; derjenige, der in einem anthroposophischen Zweige in Bern ist, weiß, was in Neu-seeland oder in New York oder in Wien vorgeht. Dafür wird eine Möglichkeit da sein. Und unter den vielen Dingen, die wir schaffen, oder wenigstens unter den mannigfaltigen Dingen, die wir schaffen wollen im Anschluß an diese Weihnachtstagung, wird eben dieses sein, daß in diesem Nachrichtenblatt tatsächlich ein Vermittlerorgan da sein wird für alles, was in der Welt anthroposophisch vorgeht. Es wird nur nötig sein, ein wenig Einsicht zu nehmen von diesem Nachrichtenblatt, dann wird man ja auch wissen, was man nun wiederum zum Gedeihen dieses Nachrichtenblattes tun soll.
Während ich hier spreche, wird ja eben drüben in Dornach die dritte
#SE260a-172
Nummer dieses Nachrichtenblattes ausgegeben, in dem ich ausgeführt habe, wie jedes einzelne Mitglied wirken kann dazu, daß dieses Nachrichtenblatt wirklich in entsprechender Weise ein Spiegelbild des anthroposophischen Schaffens in der anthroposophischen Bewegung ist. Nur weil ich glaube, daß das Leben in der Anthroposophischen Gesellschaft reger werden muß, als es gewesen ist, nur weil ich glaube, daß dazu notwendig ist, daß wirklich mehr Anthroposophie in der Anthroposophischen Gesellschaft gepflegt wird, als es bisher geschehen ist
- ich meine nicht mehr an Stoff, sondern mehr an Intensität und an Enthusiasmus und Liebe-, deshalb habe ich mich entschlossen, während ich ja nach den sonstigen Usancen in der Welt reichlich ein Recht dazu hätte, mich pensionieren zu lassen - es ist ja so das Lebensalter, in dem man das tut -, nur weil ich das meine, habe ich mich dazu entschlossen, nachdem ich ja schon 1912 die persönliche Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft abgegeben hatte, wieder anzufangen und mir einzubilden, ich wäre wieder jung und könnte eben durchaus wirken. Und ich möchte, daß auch wirklich in diesem Sinne, meine lieben Freunde, verstanden wird, daß ein gewisses regeres Interesse kommen möchte für ein regeres Leben in der Anthroposophischen Gesellschaft. Das ist dasjenige, wovon ich möchte - Sie können es ja im «Goetheanum» und Nachrichtenblatt lesen, soweit Sie nicht in Dornach waren -, daß aus dem, was in der Weihnachtstagung geschehen ist, als geistiges Wort wirklich zu jedem einzelnen Mitgliede etwas dringen möge. Und da-durch wird das erreicht werden, daß wieder wirkliches esoterisches Leben einzieht. Denn dazu ist die Hochschule für Geisteswissenschaft zu Weihnachten gegründet worden: daß wiederum esoterisches Leben einziehen möge in unsere Anthroposophische Gesellschaft. Das wird kommen können.
Ich wollte die Worte, die ich heute zu Ihnen gesprochen habe, meine lieben Freunde, eben so gesprochen haben, daß sie zu gleicher Zeit aus-drücken soll: Es möge wiederum solches esoterisches Leben unter uns einziehen, in der Weise, wie es zu Ihnen ilulner mehr und mehr wird gesagt werden, und wie es dann wird verwirklicht werden können durch dasjenige, was in der Zukunft von Dornach als dem Orte der allgemeinen, zu Weihnachten gegründeten Gesellschaft ausgehen kann
#SE260a-173
Möge die liebe Mitgliedschaft dieses Berner Zweiges recht viel beitragen können zu dem, was wir gern von Dornach aus für die anthroposophische Bewegung leisten möchten nach den Kräften, die wir eben haben.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IM ZÜRCHER ZWEIG
Zürich, 28. Januar 1924
#TX
... Auf diese lebenswichtige Seite der Anthroposophie, diese Seite, die Lebenswerte liefert, wollte unsere Weihnachtstagung, die die Anthroposophische Gesellschaft neu begründet hat, in besonderem Maße hin-weisen. Da sollte gesagt werden und ist gesagt worden, daß wiederum Esoterik im wahren Sinne des Wortes unter uns leben soll. Daher sollte diese Weihnachtstagung nicht etwa eine Festlichkeit sein, an der sich eine Anzahl Anthroposophen getroffen haben, sie sollte fortdauern in ihrer Wirksamkeit und in ihren Impulsen. Es wird die neue Einrichtung eines Mitteilungsblattes geplant - sie ist schon da und die ersten drei Nummern sind bereits erschienen. Ein Mitteilungsblatt zunächst über die Vorgänge in der ganzen Anthroposophischen Gesellschaft, über das, was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Sie muß in dieser Weise etwas werden wie ein lebendig-geistiger Organismus. Mir ist immer wieder auf meinen Reisen entgegengetreten, daß zum Beispiel die Leute in Den Haag gesagt haben: Ja, wir wissen ja nicht, was mit den Leuten in Wien vorgeht, und wir gehören doch zu einer Anthroposophischen Gesellschaft! - Wie viele könnte ich hier fragen, die mir sagen könnten, was zum Beispiel im anthroposophischen Zweig in Leipzig oder in Hamburg vorgeht? Aber das muß in Zukunft der Fall sein. Es muß so weit gehen, daß derjenige, der Mitglied des Zweiges Neuseeland ist, wirklich eine Vorstellung davon hat, was in Wien vor-geht. Es werden die Mitglieder gut tun, dasjenige, was sie innerhalb und außerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft erleben, der Redaktion des Mitteilungsblattes mitzuteilen. Das wird dann verarbeitet
#SE260a-174
und man wird immer lesen, was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Ich habe vor, in der Zukunft in jeder Nummer kleine, kurze Aphorismen zu bringen, welche wichtige Lebensinhalte kurz zusammenfassen, so daß man solche Aphorismen wird verwenden können in den Zweigen oder bei andern Gelegenheiten.
Durch alles das soll wirkliches Leben, pulsierendes Leben in die Anthroposophische Gesellschaft hineinkommen. Das wollte unsere Weihnachtstagung. Dessen sollte sich jedes einzelne Mitglied bewußt werden. Und nur, weil das so sein soll und eigentlich so sein muß, wenn Anthroposophie selbst in der richtigen Weise ihre Vergangenheit und Zukunft haben soll, habe ich es unternommen, nachdem ich mich jahre-lang zurückgezogen hatte, Verwaltung und Vorsitz selbst zu übernehmen, mit einem Vorstand, von dem ich weiß, daß er vom Goetheanum aus fruchtbar arbeiten wird. Ich hätte wahrhaftig in meinem Alter mir nicht vorgenommen, wiederum so zu tun, wie man als ganz junger Kerl getan hat, wieder neu anzufangen, wenn nicht die absolute Notwendigkeit dagewesen wäre. Zu gleicher Zeit möchte ich an jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft appellieren, mitzuhelfen, daß diese Weihnachtstagung im Herzen unserer Mitglieder den Grundstein des anthroposophischen Lebens legen möge und nicht aufhöre, wirklich als ein Lebenskeim sich immer weiter und weiter zu entwickeln, so daß ein immer regeres und regeres Leben in der Anthroposophischen Gesellschaft eintritt. Dann wird die Anthroposophische Gesellschaft auch hinauswirken in die Welt.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN STUTTGART
Stuttgart, 6. Februar 1924
#TX
... Sehen Sie, daß der Mensch so mit der Welt zusammenwächst, das ist auch eine der Aufgaben, welche Anthroposophie in ihrem Wirken sich stellt. Und ich hoffe, daß wir, die wir ja gerade in diesen Zweigen so zahlreich versammelt sind, gerade durch solche Betrachtungen mit
#SE260a-175
dieser Aufgabe der Anthroposophie, den Menschen nicht nur die Gedanken, sondern die Empfindungen, das Herz zu vertiefen, immer mehr und mehr zusammenwachsen. Und daß dies immer besser und immer intensiver geschehen könne, dazu war eben die Weihnachtstagung da. Diese Weihnachtstagung hat hingewiesen darauf, daß, wenn die Anthroposophische Gesellschaft im weiteren ihre Wirksamkeit richtig entfalten soll, sie die Wege, die sie in den letzten zehn Jahren beschritten hat, verlassen muß; sie muß aus dem äußeren Gesell schaftsmäßigen in das innere Geistige hineingreifen. Sie muß im ganzen einen esoterischen Charakter annehmen. Dasjenige, was als Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach in der Zukunft bestehen wird, muß eine Art esoterischen Charakters tragen, und die ganze Institution der Gesellsthaft muß einen esoterischen Charakter tragen. Damit wird die Gesellschaft ihr spirituelles Leben erhalten können, das sie braucht. Sie darf sich nicht veräußerlichen, und die Veräußerlichung drohte ihr in den letzten zehn Jahren.
Was haben wir erlebt in den zehn Jahren und schon vorher? Nehmen Sie als Beispiel nur die Tatsache, daß eine sehr wirksame Gegner-schaft, die gerade jetzt sich sehr wirksam entfaltet, davon herrührt, daß diese Gegnerschaft hinweisen kann auf nicht öffentlich erhaltbare Zyklen, Nachschriften von Vorträgen. Nicht wahr, man wünschte, daß es solche Zyklen, solche nachgeschriebene Vorträge gäbe. Wie sehr mußte man sich bisher solchen Wünschen fügen, trotzdem man wissen konnte: Gerade dadurch wird für die Gegnerschaft das Eminenteste, was sie braucht, gezimmert. Wir leben eben in einer Zeit, in der solche Dinge unmöglich sind. Deshalb mußte bei der Weihnachtstagung die volle Öffentlichkeit für die Gesellschaft in Anspruch genommen werden. Das wird durchaus nicht widersprechen der Tatsache, daß sie auf der anderen Seite um so mehr esoterisch wird. Aber es muß ein intensiveres Bewußtsein in die ganze Führung der Gesellschaft hineinkommen, es muß sozusagen die Gesellschaft in anthroposophischer Art geführt werden. Deshalb ist bei dem, was man auch Statuten nennen könnte, bei der Weihnachtstagung ganz anders vorgegangen worden als beim sonstigen Schaffen von Statuten. Beim sonstigen Schaffen von Statuten sagt man: Man bekennt sich zu diesen oder jenen Grundsätzen.
#SE260a-176
Wir haben ja auch früher in der Theosophischen Gesellschaft solche Grundsätze gehabt. Erster Grundsatz: Bildung einer allgemeinen Bruderschaft der Menschheit, zweiter Grundsatz: Einheit in den Re-ligionen aufzeigen und so weiter. Ich habe öfter darauf hingewiesen, daß gerade hier einsetzen muß dasjenige, was die Anthroposophische Gesellschaft eigentlich erst als Realität begründen kann. Dann ist in der Weihnachtstagung tatsächlich diese Realität geltend gemacht worden. Es wurde nicht von Grundsätzen gesprochen, sondern es wurde darauf hingewiesen: In Dornach lebt etwas, da ist etwas lebendig. Und wer in dem Lebendigen, das in Dornach lebt, etwas Berechtigtes sieht, schließt sich der Gesellschaft an. Es wird nicht auf abstrakte Grundsätze hin-gewiesen, sondern auf etwas Lebendiges, auf etwas, was da ist. Und es wird nicht das Leben der Gesellschaft in Form von Abstraktionen gefordert in diesen sogenannten Statuten, die eigentlich keine Statuten sind, sondern eine Erzählung desjenigen, was in Dornach besteht und was man von dort aus tun will. Erzählung sind diese, [nicht] Grundsätze, nicht Statuten. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Gesellschaft einen Vorstand haben soll, der tut, der im Tun, in seiner Initiative dasjenige sieht, was ihn macht, was ihn bildet. So ist versucht worden, in alles an die Stelle der Abstraktionen das rein Menschliche, das unmittelbar Menschliche schon im «Statut» zu bringen. Und so kann einzig und allein eine Gesellschaft leben, welche ein Organismus sein soll für ein Geistiges, das hereinfließt in die Welt.
Sehen Sie, ich möchte sagen: Dieser Vorstand, der in Dornach zu Weihnachten gebildet worden ist, der beruht auf einer Art hypothetischen Urteils. Wenn die Gesellschaft aufnehmen will das, was er tut, dann wird er der Vorstand sein; wenn sie es nicht aufnehmen will, dann wird er überhaupt nichts sein. Aber man wird ihn auch nur so nehmen können als, ich möchte sagen, das Zentrum eines lebendigen Wirkens. Damit kann ich nur andeuten - denn ich sagte ja, ich möchte nur wenige Worte sprechen, alles übrige wird ja in den «Mitteilungen» deutlich ausgesprochen -, daß tatsächlich durch die Weihnachtstagung versucht worden ist, einen neuen Geist in die Gesellschaft hineinzuführen. Aber es ist wünschenswert, daß man verstehe, welcher Art dieser neue Geist ist: daß er ein Geist der Lebendigkeit gegenüber dem
#SE260a-177
Geiste der Abstraktionen ist, daß er ein Geist ist, der nicht zum Kopf, sondern der zu den Herzen sprechen möchte. Daher kommt es, daß eigentlich diese Weihnachtstagung entweder für die anthroposophische Sache nichts oder alles ist. Sie wird nichts sein, wenn sie keine Fortsetzung findet, wenn sie eine Festlichkeit war, bei der man sich so ein bißchen gefreut hat; nachher vergißt man das Ganze und lebt im alten Trott weiter. Dann hat sie keinen Inhalt, es strahlt nichts zurück auf sie. Sie bekommt erst ihren Inhalt von dem Leben auf den verschiedenen Gebieten der Gesellschaft, sie ist erst eine Wirklichkeit durch das, was durch sie geschieht, was fortwährend im Leben der Anthroposophischen Gesellschaft durch sie geschieht. Die Weihnachtstagung wird erst real durch das, was aus ihr weiter wird. Hinschauen auf die Weihnachtstagung bedingt schon eine gewisse Verantwortlichkeit in der Seele, sie wirklich zu machen, während sie sich sonst zurückzieht von dem Erdendasein, dieselbe Richtung gehen wird, die ich heute von dem Mondenwesen beschrieben habe. Sie war natürlich in einem gewissen Sinne in der Welt da. Ob sie als Weihnachtstagung für das Leben wirksam sein wird, hängt davon ab, ob sie fortgesetzt wird.
Sehen Sie, wir haben das ja recht deutlich zum Ausdruck gebracht. In das Herz jedes Teilnehmers wurde versenkt der spirituelle Grundstein für die Anthroposophische Gesellschaft. Wir haben zwar formell geschlossen, aber eigentlich sollte diese Weihnachtstagung nie geschlossen sein, sondern immer fortwähren in dem Leben der Anthroposophischen Gesellschaft. Daher möchte ich Sie bitten, dasjenige, was da ist durch das Mitteilungsblatt, in vollem Ernste zu nehmen, wirklich das, was da nach und nach nicht nur in der Beschreibung, sondern als Realität an Sie herankommen wird, wirklich mit allem Ernste zu betrachten. Nicht wahr, nicht alles kann jetzt übers Knie gebrochen werden, fortwährend kommt man zunächst damit: Wie soll das und das gemacht werden? - Natürlich kann nicht alles in einem Tag geschehen. Sie werden als eine der nächsten Einrichtungen sehen, daß in dem Mitteilungsblatt «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht» Sie jede Woche Richtlinien finden werden - wenn ich mich abstrakt ausdrücke - in einer Form von Thesen. Da wird in kurzen Sätzen jede Woche stehen etwas von anthroposophischen Wahrheiten
#SE260a-178
in bezug auf den Menschen - Menschenleben, Religion, Kunst und sc weiter -, was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Und da wird man Gelegenheit haben, in den verschiedenen anthroposophischen Zweigen zu sagen: Von Dornach wird dieser oder jener Gedanke uns geschickt als Richtlinie: reden wir in den Zweigen neben dem andern vor allen Dingen jede Woche über das, was man uns von Dornach schickt als den Gedanken, der in den Mitteilungsblättern zum Ausdruck kommt.
Dadurch wird eine Einheit hineinkommen in die verschiedenen Gebiete des anthroposophischen Lebens in der Gesellschaft. Und so werden auf diese Weise viele Dinge nach und nach entstehen, die wie ein Blut die Anthroposophische Gesellschaft tatsächlich durchziehen, nicht nur damit man von Einheit spricht, sondern damit ihr etwas zugeführt wird, was sie mit einheitlichem geistigem Blut durchströmen kann. Auf das wollte hingewiesen sein bei der Weihnachtstagung. Damals hat man es fühlen können - man wird es des weiteren sehen.
Aber das ist hier insbesondere in Deutschland notwendig. Man steht ja in Deutschland in der Tat in einer ganz andern Weise innerhalb des anthroposophischen Lebens als sonst. Sonst ist die Gegnerschaft nicht in der Weise ausgebildet wie hier. Man kann ja sehen, daß, wo sie sonst auftritt, sie vielfach von hier importiert wird, wenn auch eine gewisse Art von Gegnerschaft überall, insbesondere um Dornach selber herum, vorhanden ist. Aber wiederum eine ganz besondere Art von Gegner-schaft ist ja die, der man gegenübersteht in Deutschland, ich möchte sagen: die ganz robuste Gegnerschaft, die systematisch, voll bewußt, Organisiert arbeitet. Da war es schon ein schwerer Entschluß, in der Anthroposophischen Gesellschaft nun das Unterste zuoberst zu kehren. Denn so ist es in den Tatsachen geschehen. Als die Anthroposophische Gesellschaft begründet wurde 1912/1913 - ja, Sie brauchen nur zu bedenken: ich war weder mit irgendeinem Amt in der Anthroposophischen Gesellschaft begabt, noch war ich überhaupt Mitglied. Ich war nicht Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft seit ihrer Begründung, ich habe das öfter betont, man hat nur nicht richtig auf die Bedeutung hingehört, denn ich wollte, daß die Anthroposophische Gesellschaft mich nur als Lehrenden hat, als denjenigen, der zu den
#SE260a-179
Quellen des anthroposophischen Lebens führt und so weiter. Und es mußte zunächst der Versuch gemacht werden damit, zu sehen, was auf diese Art geschehen kann.
Nun sehen Sie, es ist eben so gekommen, daß ich in einem Lebensalter, wo man sich gewöhnlich schon pensionieren läßt, erst anfangen muß, denn in der Tat, ich betrachte das, was mit der Weihnachtstagung in Dornach geschehen ist, als einen Anfang, als einen richtigen Lebens-anfang. Und ich möchte, daß man fühlt, daß wir vor einem Anfange stehen. Und wenn man richtig fühlt, daß man vor einem Anfange steht, so kann eben schon, da dieser Anfang manches in sich trägt, aus diesem Anfange etwas werden. Wie gesagt, eben nur aus der Notwendigkeit heraus bin ich Mitglied, bin ich sogar Vorsitzender geworden dieser Anthroposophischen Gesellschaft, und ich möchte gern, daß man den ganzen Ernst desjenigen wirklich einsieht, was mit der Weihnachts-tagung zusammenhängt.
Wird man es einsehen, dann wird eben doch vielleicht durch diesen Versuch es möglich sein, daß im Zusammenarbeiten von allen Orten mit demjenigen, was von Dornach ausgehen soll, echtes anthroposophisches Leben durch die Anthroposophische Gesellschaft fließen wird. Mit dieser Gesinnung - und auf diese Gesinnung wird es vorzugsweise ankommen in der Anthroposophischen Gesellschaft -, mit dieser Ge-sinnung möchte ich in herzlichster Weise antworten auf die Begrüßung, die nach der Weihnachtstagung mir heute durch Dr. Kolisko geworden ist, nachdem ich das erste Mal wieder unter Ihnen bin, möchte antworten mit einem ebenso herzlichen Gruß, so daß Gruß dem Gruße sagt, Herz dem Herzen sagt: Wir wollen mit dem Geiste, der mit der Weihnachtstagung gemeint war, so zusammenwirken, daß der wirkende Impuls dieser Weihnachtstagung unter Anthroposophen, welche die Bedingungen des anthroposophischen Lebens richtig zu erkennen sich bestreben, niemals aufhören möge; daß durch dieses anthroposophische Bestreben die Dornacher Tagung immer mehr und mehr ihren wirklichen Inhalt erhalte; daß diese Dornacher Tagung durch. dasjenige, was die Anthroposophen überall in der Weit aus ihr machen, eigentlich niemals aufhöre; daß der Geist, den anzurufen dort versucht wurde, daß dieser Geist immer da sei durch den guten Willen, durch
#SE260a-180
die Hingabe, durch das eindringende Verständnis der Mitgliedschaft für Anthroposophie und anthroposophisches Leben.
So wollen wir zusammenwirken, so wollen wir aber auch die Dornacher Tagung wirklich als etwas Berechtigtes, als etwas Ernstes betrachten, nicht auf sie hinschauen als auf etwas, was uns gleichgültig sein kann, sondern hinschauen auf sie als etwas, was uns in der Tat tief, tief ins Herz, ins Gemüt, ins Gewissen selbst eindringt. Dann werden wir in der richtigen Weise in der Weihnachtstagung nicht bloß eine Festwoche gehabt haben, sondern etwas Weltwirkendes, Men schengeschick Bezwingendes. Und alles Weltwirkende und Menschen-geschick Bezwingende kann der richtige Impuls für anthroposophische Arbeit, antliroposophisches Wirken, anthroposophisches Leben sein.
#TI
ÜBER EINE JUGENDVERSAMMLUNG
Mitteilung vor dem Vortrag in Dornach, 2. März 1924
#TX
Unsere jüngeren Freunde hier um das Goetheanum herum haben eine Versammlung abgehalten, in der sie gewissermaßen eine Antwort be-schlossen haben auf dasjenige, was in unserem anthroposophischen Mitteilungsblatte von mir als eine Art Appell an die anthroposophische Jugend ausgesprochen worden ist. Damit und mit einer Zuschrift aus dem weiteren Kreise der jüngeren anthroposophischen Freunde, welche die Namen trägt: Dr. Lehrs, Dr. Röschl und Wilhelm Rath, ist gewissermaßen gezeigt worden, wie Ernst gemacht werden soll aus demjenigen, was ich mit jenem Appell an die anthroposophische Jugend anregen wollte.
Wir werden im Vorstande der Anthroposophischen Gesellschaft, nachdem wir nun haben sehen können, daß die Sache ein Echo findet, uns demnächst ganz eindringlich mit all demjenigen beschäftigen, was sozusagen unser zweiter Schritt sein kann. Und ich hoffe, daß die Sache ihren guten Fortgang nimmt und zu einer wirklichen Realität führt. Es kann das natürlich nur dann geschehen, wenn nicht nur Sympathieaussprüche
#SE260a-181
von seiten der anthroposophischen jüngeren Freunde kommen, sondern wenn tatsächlich der Wille entwickelt wird zu einem tätigen Mitarbeiten im Sinne desjenigen, was mit unserer Weihnachtstagung bei der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft gewollt worden ist.
Nur in diesen Worten möchte ich zunächst dasjenige, was aber seinen lebhaffen Fortgang finden soll demnächst, nur mit diesen wenigen Worten möchte ich über dasjenige, was von diesen zwei charakterisierten Seiten her auf diesen Appell an die Jugend geschehen ist, meine tiefste Befriedigung zunächst zum Ausdrucke bringen und eben darauf aufmerksam machen, daß der Vorstand daran arbeiten wird, die Sache so real als möglich zu machen.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN PRAG
Prag, 29. März 1924
#TX
Lassen Sie mich zuerst herzlich danken für die lieben Worte, die mir soeben entgegengesprochen worden sind. Ich darf sie wohl dahin erwidern, daß ich Ihnen sage, daß es mir ja seit vielen Jahren eine herzliche Befriedigung gewährt hat, hier in Prag zu anthroposophischen Freunden über die Angelegenheiten unserer Anthroposophischen Gesellschaft und anthroposophischen Bewegung sprechen zu können. Und wie ich es jedesmal mit inniger Freude begrüße, wenn das wiederum der Fall sein kann, so auch diesmal. Sie können überzeugt sein, daß der Gruß, den ich Ihnen hiermit entgegenbringe, durchaus so warm ist wie derjenige, der soeben aus einem so guten Herzen im Auftrage Ihrer aller mir entgegengebracht worden ist.
Als erstes möchte ich über zwei Punkte einige einleitende Worte der ersten Mitgliederversammlung heute voraussenden. Ich darf zum ersten Male zu Ihnen sprechen, nachdem wir die Dornacher Weihnachts-tagung zur Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft gehabt
#SE260a-182
haben. Ich möchte über die Sache kurz sein, denn all dasjenige, was mit der Dornacher Tagung zu Weihnachten zusammenhängt, ist in der verschiedensten Wejse ausgesprochen worden, teils von denen, die an dieser Tagung teilgenommen haben, teils ist es zu Ihnen gekommen durch die Berichte und Ausführungen, die in den dem «Goetheanum» heigegebenen Mitteilungsblättern stehen und die eigentlich so gedacht sind, daß sie in den Zweigversammlungen zur Kenntnis aller Mitglie-der von Zeit zu Zeit gebracht werden, Gerade durch diese Mitteilungen soll ein einheitlicher Geist in die ganze Anthroposophische Gesellschaft hineinkommen. Und das ist nur der Grundimpuls gewesen der Dornacher Weihnachtstagung, die allerdings noch weitergehende Ziele hat, die nach und nach zum Vorschein kommen werden.
In wenige Worte möchte ich zusammenfassen, was mit dieser Dornacher Tagung eigentlich gemeint ist. In der Tat ist wirklich eine Reorganisation der anthroposophischen Bewegung in der Gesellschaft gemeint. Und man sollte eigentlich, wenn man die Dornacher Tagung zu Weihnachten richtig verstehen will, in allertiefstem Ernste verstehen, wie mit ihrem Wirken ein wichtigster Schritt in der Entwickelung der anthroposophischen Sache geschehen sollte. Die vielleicht etwas zu radikale Art, dies auszusprechen, möchte die folgende sein. Bisher ist es mehr oder weniger in ganz begreiflicher und selbstverständlicher Weise so, daß die Anthroposophische Gesellschaft eine Gesellschaft zur Pflege des anthroposophischen Geistesgutes war. Sie war eine Art Verwaltungsgesellschaft und hat ja auch als solche für die Anthroposophie gelebt. Mit der Dornacher Tagung ist etwas ganz anderes gekommen. Damit sollte das Wirken in der Anthroposophischen Gesellschaft selber anthroposophisch sein, ein Teil der anthroposophischen Bewegung werden, so daß jede einzelne Maßnahme, jedes Tun, das in der Anthroposophischen Gesellschaft vor sich geht, selber den anthroposophischen Charakter an sich trägt, aus dem Anthroposophischen selber heraus unmittelbar folgt.
Man sollte sich zum Bewußtsein bringen, daß damit die Anthroposophische Gesellschaft eigentlich einen esoterischen Charakter bekommen hat; nicht mehr eigentlich eine Vereinigung wie andere ist, sondern etwas ist, was selber Anthroposophie wirken will. Das wird sie
#SE260a-183
nur können, wenn dieses wirklich überall verstanden wird. Denn Anthroposophie kann wirklich nur in voller Freiheit wirken, wenn dieses Wirken überall immer auf Verständnis auftrifft. Anthroposophisches Wirken kann kein Wirken von oben herein sein, obwohl es ein Wirken sein muß, das von Initiative abhängig ist. Deshalb haben wir bei der Dornacher Tagung so stark betont daß der dort gebildete Vorstand ein Initiativvorstand, und nicht ein Verwaltungsvorstand sein will. Man wird deshalb auf dasjenige sehen müssen, was er tut, weil ihm etwas einfällt, weil er Gedanken und Ideen hat zum Wirken, weil er ein Initiativvorstand ist. Und als solchen wird man ihn anzusehen haben als eine Art wirklichen esoterischen Mittelpunkt der anthroposophischen Bewegung. In viel höherem Grade als das bisher der Fall war, wird man anthroposophische Bewegung und AnthropOSophische Geseflschaft zu identifizieren haben. Sie werden eins sein. Nur unter diesen Bedingungen konnte ich mich selber entschließen, den Vorsitz zu übernehmen und diese Gesellschaft bei der Dornacher Weihnachtstagung zu ersuchen, denjenigen Vorstand mir an die Seite zu stellen, mit dem ich glauben kann, daß ich meine Intentionen durchführen kann.
Natürlich wird es so sein daß man auf manches wird warten müssen. Man kann ja nicht den' fünften Schritt vor dem dritten tun, und noch viel weniger den zehnten vor dem ersten. Wir werden versuchen, Schritt für Schritt vorzugehen. Sie werden ja gesehen haben, daß wir in unserem Mitteilungsblatt durchaus schon die ersten Schritte zur Verwirklichung der Dornacher Weihnachtsideen genommen haben.
Eine wichtige Maßregel ist auch diejenige, die ein bisher Äußeres zu einem Inneren gemacht hat. Es sieht etwas paradox aus, wenn ich das ausspreche. Allein manches, was ein Paradoxon ist auf dem Gebiete des gewöhnlichen äußeren Lebens, ist eine Selbstverständlichkeit in einer Vereinigung, die auf okkulten Grundlagen aufgebaut ist. Bisher war in einer gewissen äußerlichen Weise die Möglichkeit vorhanden, daß nur Mitglieder unsere Zyklen beziehen. Ich habe auf der Dornacher Tagung aus gewichtigen Gründen verkündet, daß in Zukunft das nicht mehr der Fall sein soll, daß jeder Mensch in der Welt, der es will, zu den Zyklen gelangen kann. Es war schon eine gewisse Zeit notwendig, die
#SE260a-184
Zyklen in einem engeren Kreise zu halten, allein mehr aus äußeren als aus innerlichen Gründen, weil idl nicht Zeit gehabt habe, selber die Korrekturen dieser Zyklen zu besorgen und diese nach Nachschriften erschienen sind, für die ich keine Garantie übernehmen konnte. Nun aber hat sich dieser wichtige Grund erledigt durch die Tatsachen, Denn gerade in der Geschichte des Zyklenverkaufes hat sich etwas Wichtiges vom Schicksal der anthroposophischen Bewegung gezeigt. Die Zyklen sind, trotzdem sie nur unter Mitgliedern verkauft werden konnten, in der neuesten Zeit ganz restlos an alle diejenigen Menschen gekommen, die sie haben wollten. Jeder, auch außerhalb der Gesellschaft, der sie haben wollte, konnte sie haben; der sie zum Beispiel nur haben wollte, um in feindlicher Weise gegen Anthroposophie vorzugehen. Ich will nicht darüber sprechen, welche Wege sich eröffnet haben, um diese Zyklen haben zu können. Aber ich möchte nur darauf aufmerksam machen, daß gerade an der Begierde der Gegner, die Zyklen zu haben, gesehen werden konnte, daß der Anthroposophie in den letzten Jahren eine außerordentlich große Bedeutung beigemessen worden ist.
Wir haben in der Geschichte der anthroposophischen Bewegung auch die Zeit durchgemacht, in der wir uns über unsere Sache im engeren Kreise unterhalten konnten. Die Welt hat sich nicht viel um Anthroposophie gekümmert, Das ist in den letzten Jahren anders geworden. Die Welt kümmert sich sehr viel um Anthroposophie, Wir haben die Tatsache, daß gerade innerhalb der Gesellschaft unsere Freunde mit vollem Herzen und mit innigem Sinne der Anthroposophie zugetan sind und sich aus diesem inneren Grunde heraus tief interessieren für alles dasjenige, was in den Zyklen, also im engeren Kreise, erscheint. Es soll nicht im allergeringsten eine Kritik geübt werden an diesem Interesse, es ist schon vorhanden, aber nicht in der richtigen rein menschlichen Weise. Viele unserer Mitglieder, weitaus die meisten, betrachten die Sache so, daß sie vom anthroposophischen Weisheitsgut Kenntnis nehmen für ihr Herz, für ihre Seelen und es sich auch damit genügen lassen. Das ist selbstverständlich das Recht jedes einzelnen Mitgliedes, und niemandem soll ein Vorwurf gemacht werden, wenn er mit seinem Interesse nicht weiter als bis dahin geht. Aber die Gegner, die sich in den Besitz der Zyklen gesetzt haben, haben ein viel weiteres Interesse.
#SE260a-185
Sie verschlingen förmlich heute diese Zyklen und machen ein Welt-interesse daraus. Anthroposophie ist in den letzten Jahren viel mehr bekanntgeworden durch die Gegner als durch die Anhänger. Denn die Gegner haben in jeder möglichen Weise dasjenige, was keinen Sinn hat, wenn man es aus dem Zusammenhang herausreißt, aus dem Zusammenhang herausgerissen und gegnerische Kommentare dazu ge-schrieben. Drei Wochen nach dem Erscheinen eines Zyklus war schon eine Gegnerschrift da, die diesen Zyklus im gegnerischen Sinne ausgeschrotet hat. So schnell sind die Dinge gegangen. Man kann daraus ersehen, daß Anthroposophie in der neuesten Zeit etwas ist, was außerordentlich wichtig genommen wird. Denken Sie nur, was das beeleutet, meine lieben Freunde. Wir sind ja trotz einer Mitgliedschaft von zwölftausend ein kleines Häuflein gegenüber allen andern Menschen auf der Welt, auch gegenüber dem, was heute mehr oder weniger feindlich diesem Häuflein gegenübersteht. Und man sollte eigentlich glauben, daß die Vertreter mächtiger Bewegungen, an Zahl mächtiger Bewegungen in der Welt, sich sagen würden: Was haben wir nötig, uns um dieses kleine Häuflein der Anthroposophen zu bekümmern? - Aber das machen die Gegner nicht; sie sagen nicht: eine Sekte wie jede andere, nicht wichtig. Nein, sie nehmen es ungeheuer wichtig, weil ihnen heute klar geworden ist, daß es gar nicht auf die Zahl ankommt, sondern auf die innere Substanz. Nicht die Zahl ist maßgebend, sondern die innere Substanz der Anthroposophie, die sie absolut nicht haben wollen, wovon sie aber glauben, daß es etwas ist, was durch seine innere Qualitat eine rasche Ausbreitung gewinnen muß. Daher werden alle möglichen Hindernisse und Hemmungen der Anthroposophie entgegengesetzt. Und die Kämpfe gegen Anthroposophie haben, wie Sie vielleicht auch gehört haben, in verschiedenen Gegenden geradezu einen recht brutalen Charakter angenommen.
Sehen Sie, so liegen die Dinge, daß wir heute das Interesse an der Anthroposophie schon an dem Verhalten der Gegner ermessen können. Manchmal ist uns dieses Verhalten sehr günstig. So darf ich Ihnen anvertrauen, daß sehr viel, und zwar in einem sehr günstigen Sinne, beigetragen haben die Jesuiten. Ich will diese Literatur nicht propagieren. Aber nach der jesuitischen Methode wird sehr viel zitiert, und es sind
#SE260a-186
nicht wenige Menschen, die diese Schriften und die Zitate darin lesen, und die dami sagen: Was die Jesuiten geschrieben haben, hat uns gar nicht interessiert, aber die Zitate, und deshalb kaufen wir uns die anthroposophischen Bücher. Es ist eine historische Tatsache, daß die Leute starke Anregungen aus den jesuitischen Gegnerschriften gefunden haben, weil sie zitieren.
Und nun wirkt einfach des Faktum, daß gesagt werden konnte von uns: Die haben Geheimschriffen. - Deshalb war es notwendig, daß wir in Zukunft sagen können: Wir geben die Zyklen frei, jeder kann die Zyklen haben. - Man wird sie vielleicht nicht gleich beim Buchhändler kaufen können, sondern wird sie beim Philosophisch-Anthroposophischen Verlag bestellen müssen, und nicht gleich alle, das wäre technisch unmöglich. Wir wollen das Selbstverständlich nicht propagieren, sondern wir warten, bis die Leute sie verlangen. Aber wenn sie sie wollen, werden wir sie ihnen geben.
Diesen Sinn hat die Sache, und ich habe vielmehr ein Esoterisches auf diesem Gebiet einzuführen gesucht. Erstens ist die Sache mit den Zyklen an sich schon esoterisch. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, es ist schon sehr viel esoterisch in der Welt, trotzdem man es gar nicht als esoterisch behandelt. Ich kann Sie versichern, die Hegeischen philosophischen Schriften sind sehr esoterisch. Sie können sie überall kaufen, aber sie sind sehr esoterisch. Die Leute, die sie verstehen, sind nur ein geringes Häuflein. Also es kommt gar nicht darauf an, ob man irgend jemand die Schriften gibt, oder nicht gibt: Wenn sie esoterisch bleiben sollen, bleiben sie es. Es handelt sich beim Esoterischen vielmehr darum, ob man auch das nötige Herzensverständnis aufbringt oder nicht, zu den Schriften ein Verhältnis zu gewinnen. Deshalb wird dennoch das, was es sein soll, in der Anthroposophischen Gesellschaft esoterisch bleiben können.
Ich habe vielmehr diese Form gewählt, daß nun den Zyklen aufgedruckt wird, daß wir uns auch betrachten als jemand, der Anspruch darauf hat, ernst genommen zu werden. Wenn der Mathematiker, der über Integration und Differentialgleichungen schreibt, von jemand kri-tisiert wurde, der gar nichts davon versteht, der nur die vier Rechnungs-arten kennt, so würde er sich nichts daraus machen. Und wir wollen
#SE260a-187
uns auch in Zukunft, wenn wir von Leuten, die nichts davon verstehen, kritisiert werden, auch wenn sie einen noch so hohen Titel haben, nichts daraus machen. Deshalb wird den Zyklen in Zukunft aufgedruckt werden, daß wir uns auf Einwände oder in eine Diskussion nur einlassen mit denjenigen, die wir als berechtigt ansehen, Kritik zu üben.
Wir haben ja gleichzeitig die Hochschule begründet, zuerst nur die erste Klasse, später sollen noch die zweite und dritte folgen. Die Zyklen werden ausgegeben und wir werden überall den Vermerk anbringen, daß wir uns in eine Diskussion über die Zyklen der ersten Klasse überhaupt nur mit denjenigen einlassen, die entweder Angehörige der ersten Klasse sind, ader eine ähnliche oder gleichwertige Bildung haben; für die Zyklen der zweiten Klasse mit denjenigen, die Angehörige dieser Klasse sind und so weiter. So werden wir allmählich jenen Usus, der für die Universitätsprofessoren ganz selbstverständlich ist, bei uns einführen. So wird es möglich sein, daß wir über törichte Einwände - und die meisten die gemacht werden, sind ja töricht - mit gutem Gewissen werden hinweggehen können. Denn es ist natürlich eine Illusion, daß man Gegner, die auf diesem oder jenem Standpunkt stehen, bekehren kann. Das hat keinen Wert gehabt. Solche Schriften haben eigentlich immer nur neue Gegner hervorgerufen. Unser Freund Werbeck hat ein geniales Werk geschrieben: Sehen Sie sich einmal an, wie die gegnerische Literatur angeschwollen ist. Jedesmal, wenn Werbeck mich nach einiger Zeit besucht, hat er einen Koffer mit und ich bin immer wieder erstaunt, was dieser Koffer an gegnerischen Schriften alles enthält. Aber zum großen Teil ist die Gegnerliteratur durch unsere Erwiderungsschriften geweckt worden. Die äußere Maßregel hat ver-sagt, so daß es eine Notwendigkeit war, es mehr innerlich aufzufassen.
Das ist eine solch einschneidende Maßregel, die die Zyklen betrifft; es wird noch manche andere kommen. Das alles weist darauf hin, daß seit Weihnachten die anthroposophische Sache ganz anders aufzufassen ist, als sie vorher aufgefaßt worden ist. Man wird den größten Ernst entgegenbringen müssen dem, was ich so formulieren möchte: Die Anthroposophische Gesellschaft soll nunmehr nicht eine Verwaltungs-gesellschaft sein zur Pflege von Anthroposophie, sondern eine wirkliche
#SE260a-188
anthroposophische Gesellschaft, die Anthroposophie nicht bloß verbreitet mit den gewöhnlichen Mitteln, sondern die Anthroposophie tut. in allen ihren einzelnen Maßregeln Anthroposophie tut. Und je mehr man dies verstehen wird, desto mehr werden wir uns hineinfinden in den Ernst, der gemeint war mit der Dornacher Weihnachtstagung. Wir werden versuchen, im Sinne der Weihnachtstagung nicht ein Verwaltungsvorstand zu sein, Sondern ein Initiativvorstand, der Anregungen geben will, und der auf das Menschlich-Persönliche den Hauptwert legt, selbst in Kleinigkeiten. Es ist wirklich unsere Absicht, den Bürokratismus bis in die letzten Ausläufer in der Anthroposophischen Ge-sellschaft auszumerzen, nichts Bürokratisches in ihr zu haben. Daher habe ich mich auch entschlossen, obwohl es bürokratisch aussehen kann, jedes einzelne Zertifikat selber zu unterschreiben. Rechnen Sie sich aus, was das bei zwölftausend Mitgliedern bedeutet! Dennodi sehe ich darin etwas Bedeutsames, jedes einzelne Zertifikat in der Hand gehabt zu haben, das Auge gehabt zu haben auf dem Namen jedes einzelnen Mitgliedes und ein geistig-persönliches Band mit jedem einzelnen Mitgliede zu haben. Wir dürfen nicht bloß predigen: Gedanken sind Realitäten -wir müssen das tun als Realität.
Wenn ich den Namen jedes einzelnen Mitgliedes denke: es ist eine Realität! Und so wollen wir in der Zukunft in Realitäten schaffen und nicht in Formalitäten Die Formalitäten wollen wir überwinden. So ist es mir realer, wenn ich meinen Namen zu unterschreiben habe, ihn selber geschrieben zu haben, als wenn ich ihn mit einem Stempel auf-setze. Zum Stempeln braucht man nämlich ebensolange. Und wenn ich so viele Mitgliedskarten unterschreibe, lerne ich auch besser, meinen Namen zu schreiben.
Dann habe ich noch zu sagen, daß ja nach den Aufforderungen von einer großen Anzahl Freunde Briefe eingelaufen sind mit der Bitte um Aufnahme in die erste Klasse und dem Wunsche, die Zertifikate aus-gestellt zu haben. Da ich vorhabe, für die erste Klasse zu sprechen, ist es zwar notwendig, die Zertifikate auszustellen, aber es war nicht möglich, das vor unserer Abreise zu tun. Ich habe die Briefe erhalten und auch gelesen. Ich werde daher bitten, daß morgen hier von dem Sekretär des Vorstandes, Dr. Wachsmuth, Bogen aufgelegt werden,
#SE260a-189
worin sich alle die Freunde einschreiben, die die Aufnahme in die erste Klasse anstreben, damit sie im Besitze der Zertifikate sind, während ich die Vorträge im Laufe der nächsten Woche halte. Notwendig ist, daß man zwei Jahre wenigstens richtiges Mitglied in Dornach beziehungs-weise in Stuttgart erst wa m in die erste Klasse aufgenommen zu werden. Wir werden dann die Zertifikate ausstellen und können nächste Woche die Klassenstunden hier haben. _ .
Es ist dann allerdings dazu zu sagen, daß die Zugeh rigkeit zur Freien Hochschule für Geisteswissenschaft schon etwas anderes noch bedeutet, als das allgemeine Darinnenstehen in der Anthroposophischen Gesellschaft. Die AnthropoSophische Gesellschaft muß darauf begründet sein, daß man zu ihr in kein anderes Verhältnis tritt, als aus dem Willen heraus, Anthroposophie zu hören, kennenzulernen. Wer dagegen Mitglied der Hochschule für Geisteswissenschaft wird, dem wird schon zugemutet, daß er sich als ein Repräsentant der anthroposophischen Bewegung fühlt und daß er auch anerkennt, daß die Leitung der Hochschule schon die Freiheit hat, diejenigen Mitglieder nicht mehr als ihr angehörig zu betrachten, die nicht den Willen haben, Repräsentanten der anthroposophiSchen Sache vor der Welt zu sein. Man gehört ihr zu, wie man andern Gemeinschaften zugehört, die in einer WeLse gehalten sind, wie zum Beispiel in einzelnen Ländern, in denen sich das noch erhalten hat, die Zugehörigkeit zu einer Hochschule, wo alle, die an einer Hochschule Doktor geworden sind, das Recht haben, Vorträge an ihr zu halten. Dieses geistige Band das bestehen soll zwischen jedem einzelnen Angehörigen der Hochschule und dieser selbst, muß man schon fühlen, wenn man ihr Mitglied werden will. Diese Bedingungen sind ja bekanntgegeben worden und zahlreiche Freunde haben sich gemeldet. Wir werden also diese Sache in dieser Weise hier inaugurieren.
#SE260a-190
#TI
ABSCHIEDSWORTE IN PRAG
Prag, 5. April 1924
#TX
. . . Damit es nicht an uns liegt, meine lieben Freunde, nicht die nötige Kraft angewendet zu haben, um die geistige Vertiefung herbeizuführen, war ,die Weihnachtstagung da, die einen Markstein enthalten soll für die Weiterentwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Art, wie ich es schon auseinandergesetzt habe. Sie soll vor allen Dingen eine Epoche der anthroposophischen Bewegung einleiten, in der ohne Scheu von den konkreten Tatsachen des geistigen Lebens gesprochen werden soll, wie wir es heute und in den vorangehenden Vorträgen wieder getan haben. Es ist eben eine stärkere Stoßkraft nötig, als früher angewendet worden ist, wenn der Geist, dessen die Menschheit bedarf, einziehen soll.
Deshalb war es mir wirklich zur tiefsten Befriedigung, daß ich in diesen elf Vorträgen, die ich öffentlich oder in mehr oder weniger engem Kreise halten durfte, ein wenig in die Tiefen des geistigen Lebens hineinführen durfte. Aus dieser innigen Befriedigung heraus lassen Sie mich meinen herzlichsten Dank aussprechen für die warmen, innigen Worte, die Herr Professor Hauffen heute im Beginn dieser Stunde hier gesprochen hat. Ich ,danke herzlich für Ihren Empfang, danke herzlich für alles, was Ihre Seelen mir entgegengebracht haben bei dieser meiner Anwesenheit. Und Sie können überzeugt sein, daß ich die schönen Worte, die Herr Professor Hauffen gesprochen hat, in der Seele mittragen werde, daß aus ihnen quellen werden die Gedanken, die ich Ihnen immer zusenden werde und die, wenn sie ihr Ziel erreichen, unter Ihnen weilen werden, wenn Sie hier arbeiten. Wir sind ja als Anthroposophen, auch wenn wir voneinander räumlich entfernt sind, im Gemüt doch beisammen, und wir sollen dessen eingedenk sein und es wissen, daß wir beisammen sind. Es war mir ja viele Jahre vergönnt, hier in Prag zu sprechen aus den mannigfaltigsten Gestaltungen des geistigen Lebens heraus, und es hatte mir zur herzlichen Befriedigung gereicht. Und diesmal ganz besonders, weil ja an Ihre Herzen und Seelen Anforderungen gestellt wurden, die verhältnismäßig neu
#SE260a-191
sind, weil Sie mit einer noch größeren Vorurteilslosigkeit demjenigen entgegenkommen mußten, was ich diesmal ich möchte sagen in geistigesn Auftrage - zu Ihnen zu sprechen hatte. Wenn ich sage, in geistigem Auftrage, so legen wir das Wort dahin aus, daß wir uns sagen: Im Geiste bleiben wir beieinander. Der Vorstand, der in Dorn-ach gebildet worden ist, ist nur klein; es sind nur diejenigen Leute darin, die innig mit mir verbunden sein können, um aus dieser Initiative heraus dasjenige wirken zu können, was gewirkt werden soll. Allein, es wird dasjenige, was gewirkt werden soll, nur gewirkt werden, wenn alle lieben Freunde aus vollem Herzen zusammenarbeiten, vor allem im geistigen anthroposophischen Zusammendenken, Zusammenempfin-den, Zusammenwollen.
Dieses nehmen Sie nebst meinem Danke als einen herzlichen Abschiedsgruß, der aber anders sein will, nicht eine Trennung sein soll, sondern die Einleitung eines geistigen Zusammenseins. Dieses Zusammensein, ,es soll im Grunde dasjenige bleiben, was aus jedem unserer Worte hervorgeht. Alle Worte, die unter uns gesprochen werden, sollen ja dazu dienen, uns immer enger und enger zusammenzuführen. In diesem Sinne lassen Sie mich, meine lieben Freunde, bewegten Herzens Ihnen versprechen, daß ich mit Ihnen zusammensein werde, daß meine Gedanken unter Ihnen weilen werden, daß sie suchen werden unter Ihnen eine der Stätten, in denen wirken soll in rechter Art anthroposophisches Wollen, anthroposophische Geistesströmung. Gehen wir in diesem Sinne leiblich nur auseinander, bleiben wir in diesem Sinne herzinniglich geistig zusammen!
#SE260a-192
#TI
BERICHT ÜBER PRAG
Vor dem Vortrag in Dornach, 6. April 1924
#TX
Gestern abend habe ich in Prag meinen letzten Vortrag gehalten. Die Reiseverbindungen sind jetzt etwas schwieriger als früher, daher bin ich um ein paar Minuten später in Dornach eingetroffen. Die Prager anthroposophische Veranstaltung hat sich in einer, ich darf wohl sagen, recht schönen Weise abgespielt, und es ist mir eine tiefe Befriedigung, zu sehen, wie das, was durch die Weihnachtstagung an einer andern Stimmung, an einem andern Grundton und auch an einem ganz andern esoterischen Leben in die anthroposophische Bewegung hineingebracht worden ist, immerhin ein Echo findet - wie man ganz objektiv sagen kann -, daß dasjenige, was jetzt den Menschen entgegentönt, eben doch in einer andern, wesentlich andern Stimmung und mit einer wesentlich gesteigerten Empfänglichkeit entgegengenommen wird.
Es hat sich in Prag darum gehandelt, daß ich eine Anzahl öffentlicher Vorträge zu halten hatte, eine Anzahl von Vorträgen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, zwei Vorträge der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, und dann schlossen sich an diese Veranstaltungen die entsprechenden Eurythmieaufführungen an. Am 28. März war der erste öffentliche Vortrag: «Die Erforschung der geistigen Welt aus Anthroposophie.> Das war am Freitag. Am darauffolgenden Samstag war dann der erste Mitgliedervortrag, dem am Sonntag der zweite Mitgliedervortrag folgte. Am Sonntag war außerdem eine Versammlung der Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in der Tschechoslowakei. Bei dieser Versammlung der Mitglieder handelte es sich darum, etwas wie ein Statut für die Landes-gesellschaft der Tschechoslowakei auszuarbeiten. Die Verhältnisse in der Tschechoslowakei sind ja wirklich recht sehr verschieden von den Verhältnissen, die mehr im Westen von Europa bekannt sind.
Wir betrachten es hier gewissermaßen als eine Selbstverständlichkeit, daß in bezug auf das Sprachliche einem jeden entgegengekommen werde, daß eben jeder so spricht, wie er nun sprechen kann oder auch nicht kann, daß übersetzt werde dasjenige, was gesagt wird, wenn ein
#SE260a-193
Bedürfnis darnach ist: kurz, wir im Westen sehen nicht das sprachliche Element als etwas besonders Schwieriges an . Das wird sofort anders, wenn solche Verhältnisse vorliegen, wie sie in der Tschechoslowakei sind. Da stehen sich zunächst im ehemaligen österreichischen Kronlayd Böhmen, Deutsche und Tschechen gegenüber. So entstand denn natur-lich auch die Frage: Wie soll die Versammlungssprache sein in einer Gesellschaft, die sein sollte die Tschechoslowakische Anthroposophische Gesellschaft, in der also beide Nationalitäten, wie es ja natürlich ist innerhalb der AnthrOposophiSchen Gesellschaft, zusammenwirken.
Nun war zunächst, als wir hinkamen im Statut der Passus: Die Versammlungssprache ist gleichmäßig die deutsche und die tschechische. Man wendete mit Recht ein das sei eine Beeinträchtigung der Rechte der Slowakei, denn die versteht nicht tschechisch und auch nicht deuts . Und so konnte denn auch wirklich in der Tschechoslowakei kein an-derer Ausweg gefunden werden, als der, möglichst sich zu richten nach dem allgemeinen, ich möchte sagen, von anthropoSophischer Gesinnung geforderten Usus. Es ist dann auf meinen Vorschlag der Passus etwa so angenommen worden: Jeder spricht in derjenigen Sprache, die er be-herrschen kann oder die ihm gebräuchlich ist, die nach osedi~~erslGowewakoisch~ heit ihm liegt - ob das nun tschechisch oder deutsch d oder französisch oder englisch ist, das ist eben nicht ausgedrückt - un je nach Bedürfnis wird das Betreffende übersetzt.
Sehen Sie, etwas, was hier selbstverständlich ist, mußte dort schon in einen Paragraphen geschmiedet werden Aber es war dann gut so. Und manches andere war noch zu ordnen zwischen den beiden Nationali-täten. Nun glaube ich aber, daß alles das, was nach dieser Richtung festzulegen war, wirklich zur allgemeinen Befriedigung unserer deut-.schen Freunde, wie auch der tschechischen und siowakischen Freunde in der Tschechoslowakei hat geordnet werden können. . .
Am Dienstag war dann der zweite öffentliche Vortrag: «Sittliche Lebensgestaltung durch Anthroposophie.» - Am Mittwoch hatte ich einen Vortrag über eurythmische Kunst zu ha1ten, in welchen Proben eurythmischer Darstellung zur Illustration eingeschaltet waren. Am Donnerstag hatte ich wiederum einen öffentlichen Vortrag' zu halten: Die Wissenschaft der Gegenwart und die Anthroposophie. Diesem Vortrag
#SE260a-194
ging voraus eine Stunde der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Am Freitag hatte ich dann zu sprechen über Erziehung und Unterricht auf Grundlage wirklicher Menschenerkennt-nis. Am Samstag, gestern, hatte ich zuerst eine Stunde der ersten Klasse der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu halten, und dann den letzten Mitgliedervortrag vor unseren tschechoslowakischen Freunden. An all das schloß sich dann das Eurythmische an. Am Sonntag, den 30. März, war die erste Eurythmie-Matinée; am Mittwoch, wie gesagt, waren eurythmische Einschaltungen in meinen Vortrag über euryth-mische Kunst, und heute, wo ich nicht mehr dabei war, weil ich wenigstens heute abend hier sein wollte, heute war dann im tschechischen Nationairheater mit einem internationalen Programm eine zweite Eurythmieaufführung.
Es ist mir also doch gelungen, meine lieben Freunde, in den neun Tagen, die ich in Prag zugebracht habe, elf Vorträge zu halten. Aber nicht das ist es, was ich eigentlich besonders erwähnen möchte, sondern erwähnen möchte ich, daß ein allgemeiner Eindruck der war, daß gegenüber den Veranstaltungen im vorigen Jahr alles, was in diese elf Vorträge hineingeschoben war, wirklich mit empfänglicherem Gemüte
aufgenommen worden ist.
Hoffen wir, meine lieben Freunde, daß das so weitergehen kann, daß tatsächlich dasjenige, was an innerem Impuls in die anthroposophische Bewegung seit der Dornacher Tagung zu Weihnachten hineinkommen konnte, auch wirklich weiterwirken kann und verspürt wird, empfunden wird, indem es weiterwirkt.
#SE260a-195
#TI
Nachrichtenblatt, 13. April 1924
An die Mitglieder!
UBER EINE REIHE ANTHROPOSOPHISCHER VERANSTALTUNGEN
IN PRAG
#TX
Mit großer Befriedigung bin ich soeben yon der Arbeit zurückgekehrt, die ich im Dienste der Anthroposophie in Prag verrichten durfte. Ein schöner $trom ernster Begeisterung und eifriger Hingabe an die anthroposophische Sache von seiten unserer Prager Freunde kam m&iner Auf-gabe für die Tage vom z8 März bis zum 5. April entgegen. - Die Aus-führung der Weihnachtstagung am Gortheanum fordert, daß ich die esoterische Grundlage der Anthroposophie nunmehr eindringlicher durch das tönen lasse, was ich mitzuteilen habe. Und dieser Ton hat bei unsern Freunden einen herzlichen Widerhall gefunden. Im Namen der AnthroposOphischen Gesellschaft und in Vertretung des mir zur Seite stehenden Vorstandes am Goetheanum sei den tätigen Mitgliedern der Tschechoslowakischen Gesellschaft der wärmste Dank ausgesprochen. Die lieben Abschledsworte, die am Ende der letzten Mitgliederversammlung von dem hochgeschätzten Gelehrten, der eine Zierde der Gesellschaft ist, und dann von dem langjährigen treuen, für unsere Sache aufopferungsvoll tätigen Mitgliede des Zentralvorstandes der
Tschechoslowakischen Landesgesellschaft ausgesprochen worden sin , tönen mir noch nach in den Ohren.
Ich konnte am 28. März über die «Erforschung der geistigen Welt als Anthroposophie» in einem ersten öffentlichen Vortrage sprechen. Es war da meine Aufgab echen wie sich' die geistige Welt dem Seelenauge zeigt, das siech des übersinnlichen Schauens bewußt wird. Ich suchte im Verlaufe des Vortrages die Notwendigkeit anzudeuten, die Initiation, die in den alten Mysterienstätten im Charakter der fr üheren Entwickelungsstufen der Menschheit einen Einschlag in die Zivilisation gebildet hat, im Geiste der neuen Zeit gewandelt, wieder zu einem solchen zu machen. - In den Mitgliedervorträgen vom 29., 30., 31. März und vom 5. April sprach ich einleitend von der Umgestaltung der Anthroposophischen
#SE260a-196
Gesellschaft durch die Weihnachtstagung am Goetheanum und dann über die Gestaltung der karmischen Zusammenhänge durch die aufeinanderfolgenden Erdenleben, über die Formung des Karmas durch das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dann über die Auswirkung des Karmas in dem irdischen Lebenswandel des Menschen, ferner über einzelne Menschenschicksale, vor allem solche, die Persönlichkeiten betreffen, die in die geschichtliche Entwickelung der Menschheit eingegriffen haben. - Am x. April hielt ich einen öffentlichen Vortrag über «Sittliche Lebensgestaltung durch Anthroposophie». Ich war bestrebt, zu zeigen, wie den anthroposophischen Erkenntnissen etwas moralisch Wirksames deshalb anhaftet, weil ihre Erwerbung an die Ausbildung der moralischen Qualitäten gebunden ist. Die sittliche Lebensgestaltung eines Menschen hängt ab von seiner sittlichen Einsicht, von dem sittlichen Verständnis für andere Menschen und von der sittlichen Kraft. Nun kann die imaginative Anschauung nicht anders als auf der Grundlage sittlicher Einsicht, die Empfänglichkeit für die Inspiration nur durch Übung im sittlichen Verständnis und die Intuition nur durch Pflege von sittlicher Kraft entwickelt werden. Daher kommt es, daß mitgeteilte Imaginationen bei dem sie Aufnehmenden zu sittlicher Einsicht, Inspirationen zu sittlichem Verständnis, Intuitionen zur Auslösung sittlicher Kraft anregen. In der Mitteilung solcher Einsichten wird also an den Quell des Moralischen im Menschen-Innern herangetreten. - Am 2. April konnte ich «Über eurythmische Kunst» sprechen. Ich charakterisierte die Eurythmie als sichtbaren Ge-sang und sichtbare Sprache, indem ich das Musikalische als die Offenbarung des Menschenwesens darstellte, insoferne dieses abgesondert von den anderen Reichen der Natur sich auslebt, das Sprachliche, insofern als es die Eingliederung in die irdische Umgebung sucht. Die eurythmischen Bewegungsformen für das Musikalische einerseits, für das Sprachliche andrerseits ergeben sich aus dieser Stellung des Men schenwesens in der Welt. - Am 3. April oblag es mir, in dem öffentlichen Vortrag über «Die Wissenschaft der Gegenwart und die Anthroposophie» zu zeigen, wie Anthroposophie der wahren Wissenschaft nicht oppositionell gegenübersteht, sondern treu deren Ergebnisse hin-nimmt, um, von ihnen ausgehend, das in der Sinneswelt Wirksame
#SE260a-197
sowohl für die Natur- wie für die Kulturwissenschaft mit den in ihm treibenden geistigen Kräften im Zusammenhange darzustellen. Ich fjjhrte aus, wie gerade dadurch, daß man es mit den wissenschaftlichen Ergebnissen recht genau nimmt, die auf geisteswissenschaftlichem Wege errungenen Einsichten durch diese Ergebnisse selbst ihre Rechtfertigung erfahren. Ich bemühte mich, dies bemerklich zu machen durch die geisteswissenschaftlichen Anschauungen über das menschliche Nervensystem, über Herztätigkeit und Blutzirkulation, über die Dreigliederung der menschlichen Wesenheit in das Sinnes-Nerven-, das rhythmische, das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, sowie auf kulturwissenschaftlichem Gebiete durch die Erkenntnis davon, wie sich die Men schenwesenheit im Laufe des geschichtlichen Werdens gewandelt hat. -Am 4. April sprach ich über «Erziehung und Unterricht auf Grundlage wirklicher Menschenerkenntnis». Ich wies auf die Anforderungen hin, welche der Pädagogik und Didaktik dadurch gestellt sind, daß die Menschenwesenheit die Epochen von der Geburt bis zum Zahnwechsel, von diesem bis zur Geschlechtsreife mit ganz bestimmten Anforderungen an das Erleben durchmacht. Mein Dank sei an unser Mitglied vom Zentralvorstand der Tschechoslowakischen Landesgesellschaft gerichtet, das die große Mühe auf sich genommen hat, meinen Vortrag in drei Absätzen in die böhmische Sprache zu übertragen. - In einer Mitgliederversammlung, die am 30. März abgehalten worden ist, konstituierten unsere Freunde die Landesgesellschaft in der Tschechoslowakei, indem sie das Statut festlegten, mit dem sich diese Gesellschaft zu den Arbeits-ergebnissen des Goetheanums bekennt und mit dem sie der eigenen Arbeit die Wege weisen will.
Einen integrierenden Teil der Veranstaltung bildeten die Eurythmie-Aufführungen am 30. März und am 6. April, sowie die in meinen Vortrag vom 2. April eingeschlossenen Proben eurythmischer Kunst. Frau Marie Steiner, welche bei allen drei Veranstaltungen die Rezitation gab, hatte in sorgfältiger Art die Programme der Eurythmiedarbietungen so gestaltet, daß die gegenwärtige Entwickelungsstufe der Eurythmie von den Zuschauern empfunden werden konnte. Diese Eurythmievorstellungen verliefen so, daß Mitwirkende und Veranstalter das Gefühl davontrugen: es war eine wohltuende Stimmung und
#SE260a-198
Empfänglichikeit im Theater am 30. März und 6. April, und im Konzertsaale (am 2. April) vorhanden.
#TI
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#TX
Während der oben dargestellten Prager anthroposophischen Veranstaltungen konnte die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft zum ersten Male außerhalb des Bereiches des Goetheanum ihre Tätigkeit entfalten. Ich hatte in zwei Veranstaltungen der ersten Klasse der allgemeinen anthroposophischen Sektion die ersten Schritte des übersinnlichen Erkenntnisstrebens vor die Seelen derjenigen Persönlichkeiten zu stellen, die sich für die Mitgliedschaft dieser Klasse entschieden haben. Diese Veranstaltungen mit esoterischem Charakter fanden am 3. und am 5 . April statt. Was in den ersten derartigen Veranstaltungen am Goetheanum lebte, war damit auch vor die Mitglieder der Schule in der Tschechoslowakei gebracht.
Die Zahl derjenigen Persönlichkeiten, denen auf ihre diesbezügliche Erklärung hin die Mitgliedschaft zuerkannt werden durfte, war über hundert. Es zeigte sich daran die Tatsache, daß die Gesellschaft in der Tschechoslowakei einen Stamm von treuen Mitgliedern hat, die im Laufe von vielen Jahren Anthroposophie zu der orientierenden Kraft ihres Seelenlebens gemacht haben. Tief befriedigend war es mir, in diesen Stunden den Blick auf Seelen richten zu können, denen ich seit langem bei den Prager Veranstaltungen gegenübergestanden habe. In den Augen vieler war das innige Zusammengeschlossensein mit dem anthroposophischen Lebensgehalt zu lesen. Ich wurde vieler aufgeschlossener Herzen gewahr. Die sind für die Pflege esoterischen Lebens notwendig. Denn da ist der Verstand ohnmächtig, wenn ihm nicht Kraft von dem verstehenden Herzen zuströmt. Dieses Herzensverständnis ist wahrhaftig nicht weniger «logisch» als das des Kopfes. Es wird nur deshalb im gewöhnlichen Leben nicht so angesehen, weil es in diesem Leben die innerliche Kraft einer übersinnlichen «Logik» nicht zu entfalten braucht. Da tritt für die Logik eben der Verstand ein; und das Herz mag seine von der Logik unberührten Wege gehen, weil es
#SE260a-199
von dem Verstande korrigiert werden kann. Die Angst vor der Her-zenslogik, die sich oft einstellt hat ihren Ursprung in dem Glauben, daß bei ihrem Eintritt das H'erz die Wärme verliert, die ihm sonst eigen ist. Diese Angst hat man aber nur so lange, als man nicht begriffen hat, welche Wärme die Seele dann erlebt, wenn sie begreifen'd den Ideen einer geistigen Welt gegenübersteht. Wer diese Wärme nicht emp-findet, der lebt nicht in den Ideen des Geistes; er denkt nur die erst in seiner Seele ertöteten Ideen die er mit den Worten hört, in die einmal ein in die Geisteswelt Schauender seine geist-wirklichen Erlebnisse gegossen hat.
#TI
Nachrichtenblatt, 20. April 1924
An die Mitglieder!
EINE ERZIEHUNGSTAGUNG DER WALDORFSCHULE IN STUTTGART
#TX
Vom 7. bis i 3. April konnten wir eine zahlreiche Besucherschaft in Stuttgart vereinigen. Der Vorstand am Goetheanum und das Lehrer-kollegium der Waldorfschule hatten eine Einladung ergehen lassen zur Behandlung der Fragen über «Die Stellung der Erziehung im personlichen und im Kulturleben der Gegenwart». Das Thema schien uns wichtig. Denn die Zeit bed gt Selbstbesinnung darüber, wie die Kul-tur der Gegenwart, die Hervorragendes nur auf dem Gebiete des Naturerkennens und der Naturbeherrschung geleistet hat, wieder so in das Innere des Menschen dringen könne, daß die Sprache der Seele erkling'en kann, die für den Erziehenden und Lehrenden notwendig ist. Mit der Naturerkenntnis erfaßt man in Wirklichkeit nur, was außerhalb des Menschen liegt Man glaubt wohl in der Hochblüte der natur-wissenschaftlichen Weltauffassung daß man mit deren Methoden den Menschen erforschen und auch bilden könne; aber in Wahrheit bleibt der Mensch für den Menschen ein unbekanntes Gebiet, wenn es keine
#SE260a-200
Einsicht gibt, daß innerhalb des Menschen etwas ganz anderes waltet als außerhalb desselben. Wahre Menschen-Erkenntnis, die so sicher auf Grundlagen ruht wie die Naturerkenntnis, die aber nicht bloß Men schen-Erkenntnis dadurch sein will, daß sie den Menschen wie ein Naturwesen behandelt, ist notwendig, um der Erziehung und dein Unterricht das Leben zuzuführen, das so viele in ihnen heute vermissen, ohne daß sie von den Wegen etwas wissen wollen, auf denen ein solches zu erlangen ist. Wahre Menschen-Erkenntnis muß den Menschen nach Leib, Seele und Geist erforschen. Denn der Menschenleib ist ein Werk des Geistes und eine Offenbarung der Seele. Will der Erzieher den Leib bilden, so muß er sich an die Kräfte des Geistes wenden, um fortzusetzen, was dieser aus dem vorirdischen Leben in diesen Leib an Bilde-kräften hereinschickt und im irdischen noch weiter fortwirken läßt. Will er die Seele bilden, so muß er den Leib kennen, um zu verstehen, wie das Seelische, das der Geist in diesen Leib verborgen hat, aus demselben herausgeholt werden kann. Körperliche Erziehung bloß durch Einfluß auf den Körper leisten zu wollen, ist ein Unding. Denn, was im kindlichen Alter in die Seele aufgenommen wird, das erscheint im Erwachsenen als gesunde oder kranke Körperverfassung. Man verbilde im Kinde das Seelische, so wird diese Verbildung in die körperliche Beschaffenheit überspringen. Denn im Kinde überträgt sich jeder seelische Impuls in gesunde oder kranke Atmung, in gesunde oder kranke Zirkulation, in gesunde Oder kranke Verdauungstätigkeit. Was da Krankes entsteht, fällt oft am Kinde noch nicht auf. Es ist erst keim-haft vorhanden. Aber der Keim wächst mit dem Menschen heran. Und manche chronische Krankheit der Vierziger Jahre des Menschen ist das Ergebnis der Seelenverbildung im ersten oder zweiten Leben sjahrzehnt.
Die Denkart, die sich seit dem fünfzehnten Jahrhundert entwickelt und die in unserer Zeit ihren Höhepunkt erreicht hat, kann sich in die angedeuteten Wahrheiten so wenig finden, daß diese ihr sogar absurd erscheinen können. Deshalb dringt diese Denkart nicht durch zu einer lebendigen, den ganzen Menschen und das ganze Menschenleben, von der Geburt bis zum Tode, erfassenden pädagogischen Kunst.
Wie in der Gegenwart die Menschheit innerlich nach den Grundlagen unbewußt verlangt, die sie äußerlich bewußt ablehnen möchte, das
#SE260a-201
sollte auf unserer Erzielmungstagung dargestellt werden. Daß viele Menschen heute das Bedürfnis empfinden, sich auf die Stellung der Erziehung im Kulturleben zu besinnen, das zeigt sich wohl darin, daß wir die Besucher der Vorträge in dem immerhin nicht kleinen Sieglehaus kaum unterbringen konnten Daß die Art, wie da über diese Stellung gesprochen wurde, manchetn einleuchtet, ging aus der Stimmung der Zuhörerschaft hervor. Und auch das andere erwies diese Stimmung, daß gefühlt wurde, wie die anthroposophiSche Pädagogik der Erziehung und dem Lehren eine Stellung zum Leben des Menschen gibt, die dem von der Menschennatur selbst geforderten entspricht.
Es war mir Sehr schmetzlich, daß ich selbst nur für die Zeit meiner Vorträge, vom Dienstag abend bis Freitag früh bei der Tagting semn konnte; und auch während dieser Zeit konnte ich, da anderes mir oblag, nicht teilnehmen an den Vorträgen unserer hingebungsvollen, opferwilligen, unermüdlichen Lehrerschaft. Aber ich konnte aus Be-richten entnehmen, wie schöne Früchte diese Hingabe , opferwilligkeit und Unermüdlichkeit auch bei dieser Tagung in der öffentlichen Vertretung der Waldorfschulpädagogik gezeitigt haben.
Außer den Vorträgen fanden Führungen durch die Räume der Wa -dorf schule Statt, bei den en die Leistungen der Schüler veranschaulicht werden sollten. Man hatte Eurythmieaufführungen der Kinder, und künstlerische Eurythmiedarbietungen; die das Wesen und den pädagogisch-didaktischen Wert der Eurythmie offenbaren sollten.
In Diskussionen und Aussprachen war eine Erweiterung und Verdeutlichung des Gehörten und Gesehenen angestrebt.
Unsere jungen Anthroposophen hielten eine Jugendversammlung
ab, bei der besprochen wurde, was Anthroposophie dem jungen Menschen der Gegenwart für sein Suchen werden kann. An den Gesichtern dieser jungen Freunde konnte man lesen, wie bei ihnen Jugendempfin-dung mit Gefühl für die Anthroposophie zusammenfällt. Mit tiefster Befriedigung schaue ich auf diesen Teil der Erziehungstagung zurück.
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#G260a-1987-SE202 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#TX
In den Vorträgen, die jetzt für den allgemein-anthroposophischen Teil der Freien Hochschule gehalten werden, soll ein Ausblick gegeben werden über das Erlebnis der «Schwelle» zwischen sinnlicher und übersinnlicher Welt. Es ist für denjenigen, der wirklich nach Erkenntnis des Menschen sucht, notwendig, daß er durchschaue, wie alles, was die «Natur» an Schönem, Großem, Erhabenem offenbart, nicht zum Menschen führen kann. Denn der innere, im Äußern schaffende Mensch hat seinen Quell nicht in der natürlichen, sondern in der geistigen Welt. In diese können aber nicht die Sinne und nicht der an das Gehirn gebundene Verstand eindringen. Diese müssen erst aufhören zu wirken, wenn der Mensch der Welt seines Ursprungs gegenübertreten will. Da aber, wo diese Wirkung aufhört, steht der Mensch zunächst vor dem Unvermögen, überhaupt etwas wahrzunehmen. Er schaut in die Umgebung, und wie wenn sie das «Nichts» wäre, erscheint ihm die Finsternis, die wegen des Unvermögens wahrzunehmen, da ist. Dieses Unvermögen kann nur geistschauenden Fähigkeiten dadurch weichen, daß der Mensch in sich höhere Kräfte gewahr wird, die «Sinne des Geistes» so erbilden, wie die physischen Kräfte des Organismus die Sinne des Körpers erbilden. Das setzt eine völlige Umwandlung des inneren Menschen aus einer Daseinsform in die andere voraus. Es darf nun bei dieser Umwandlung der Mensch die eine Daseinsform nicht verlieren, bevor er die andere gewinnt. Das richtige Verwandeln ist das Ergebnis des richtigen Erlebnisses an der «Schwelle». Erkenntnis des Menschen in seiner wahren Wesenheit ist nur möglich von einem Gesichtspunkte jenseits der Schwelle. Wer Mitteilungen eines Erkennenden, die von dem Felde jenseits der Schwelle kommen, mit dem gesunden Menschenverstande aufnehmen will, der muß auch eine Vorstellung von dem haben, was der Erkennende an der Schwelle erlebt hat. Denn nur dadurch kommt er in die Lage, das Übersinnliche richtig zu beurteilen, daß er auch von den Bedingungen weiß, unter denen die Erkenntnis dieses Übersinnlichen gewonnen wird.
Man wird den Worten, mit denen das übersinnliche Anschauungsergebnis ausgesprochen wird, erst einen Inhalt geben können, wenn
#SE260a-203
man versteht, was der Schauende durchgemacht hat, bevor er die Macht hat, solche Worte zu prägen. Versteht man das nicht, so scheint es, als ob die Worte nicht Übersinnliches, sondern Sinnliches bedeuteten. Dadurch aber tritt Verwirrung ein. Die Worte werden trügerisch; statt Erkenntnis tritt Illusion ein.
In diesen Andeutungen soll zunächst hier das esoterische Wirken der Freien Hochschule charakterisiert werden. Den Inhalt werden die auswärtigen Mitglieder in einer geeigneten Form erhalten, sobald unsere durch die Weihnachtstagung am Goetheanum bedingte Arbeit so weit ist, daß ein entsprechender Schritt sich ermöglichen läßt. - Was hier exoterisch gesagt ist, das wird in der Schule esoterisch entwickelt.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
FUR DIE ZUR OSTERVERANSTALTUNG ANS GOETHEANUM
GEKOMMENEN FREUNDE
Dornach, 12. April 1924
#TX
Es ist etwas schwierig, die Fortsetzung desjenigen, was in den letzten anthroposophischen Vorträgen hier gegeben worden ist, heute zu gestalten, da so viele Freunde erschienen sind, die eben die vorangehenden Betrachtungen nicht mitgemacht haben. Aber auf der andern Seite ist es nicht gut möglich, gerade heute, wo manches zu ergänzen ist zu den früheren Vorträgen, mit etwas Neuem anzufangen, so daß also die jetzt angekommenen Freunde schon es werden hinnehmen müssen, daß mancherlei von den Betrachtungen, die an voriges innerlich, nicht äußerlich, anknüpfen, vielleicht dem Verständnis Schwierigkeiten bereiten werde. Der geschlossene Vortragszyklus soll ja eben zu Ostern abgehalten werden, und der wird aus sich selber dann verständlich sein. Heute aber muß ich die Fortsetzung desjenigen geben, was vorangegangen ist. Es ist ja auch durchaus nicht vorauszusehen gewesen, daß so viele Freunde schon heute erscheinen, was auf der andern Seite ja durchaus befriedigend ist.
#SE260a-204
Es handelte sich nämlich in unseren letzten Betrachtungen hier uni die Besprechung konkreter karmischer Zusammenhänge, die immer angestellt worden sind, nicht um irgend etwas Sensationelles in bezug auf aufeinanderfolgende Erdenleben zu sagen, sondern um nach und nach zu einem wirklichen konkreten Verständnis der Schicksalszusammenhänge im Menschenleben zu kommen. Und ich habe aufeinanderfolgende Erdenleben einfach geschildert, so geschildert, wie sie zunächst an mehr historischen Persönlichkeiten beobachtet werden können, um einen Begriff davon hervorzurufen - was ja nicht besonders leicht ist -, wie das eine Erdenleben in das andere hineinwirkt. Man muß dabei immer wiederum im Auge behalten, daß ja seit der Dornacher Weihnachtstagung ein neuer Zug in die anthroposophische Bewegung hineingekommen ist. Und über diesen Zug möchte ich nur ganz kurz einleitend ein paar Worte sagen.
Sie wissen ja, meine lieben Freunde, es gab nach dem Jahre 1918 allerlei Bestrebungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Diese Bestrebungen hatten einen ganz bestimmten Ursprung. Als die Anthroposophische Gesellschaft 1913 begründet worden ist, hat es sich darum gehandelt, einmal wirklich aus einem okkulten Grundimpuls heraus die Frage zu stellen: Wird diese Anthroposophische Gesellschaft sich weiter entwickeln durch die Kraft, die sie bis dahin in ihren Mitgliedern gewonnen hatte? Und das konnte nur dadurch auserprobt werden, daß ich selber, der ich ja bis dahin als Generalsekretär die Leitung der Deutschen Sektion hatte, als welche die anthroposophische Bewegung in der Theosophischen Gesellschaft drinnen war, daß ich selber dazumal nicht weiter die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft in die Hand nahm, sondern zusehen wollte, wie diese Anthroposophische Gesellschaft sich nun aus ihrer eigenen Kraft entwickelt.
Sehen Sie, meine lieben Freunde, das ist etwas anderes, als es gewesen wäre, wenn ich etwa dazumal geradeso wie bei der Weihnachtstagung gesagt hätte, ich wolle selbst die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft übernehmen. Denn natürlich muß ja die Anthroposophische Gesellschaft etwas ganz anderes sein, wenn sie von mir geleitet wird, oder wenn sie von jemandem andern geleitet wird. Und aus gewissen Untergründen heraus hätte die Anthroposophische Gesellschaft, ohne
#SE260a-205
daß ich selber sozusagen die Verwaltungsleitung gehabt hätte, um so besser geleitet werden können. Es hätten, wenn die Herzen gesprochen hätten, manche Dinge geschehen können, die eben dann unterblieben sind in Wirklichkeit, die nicht getan worden sind, ja, die sogar, unter dem Widerstand der Anthroposophen, von auswärts getan worden sind.
Und so ist es denn gekommen, daß - während des Krieges war natürlich nicht sehr viel Möglichkeit vorhanden, nach allen Seiten die Kräfte zu entfalten - nach dem Jahre 1918, ich möchte fast sagen, der Zustand, der da war, benützt worden ist von allen möglichen Seiten, um das oder jenes zu tun. Hätte ich dazumal gesagt, das soll nicht geschehen, dann würde heute natürlich die Rede dahin gehen, daß man sagt: Nun, hätte man das geschehen lassen, so hätte man heute florierende Unternehmungen nach allen Seiten.
Deshalb war es auch immer zu allen Zeiten Sitte, möchte ich sagen, daß die Leiter einer okkulten Bewegung sozusagen von denen, die etwas tun wollten, erproben ließen, wie das wird, damit durch die Tatsachen Überzeugungen hervorgerufen werden können. Das ist ja die einzig mögliche Art, Überzeugungen hervorzurufen. Und das mußte auch schon in diesem Falle geschehen.
Und das alles hat dazu geführt, daß dann gerade seit dem Jahre 1918 die Gegnerschaft in der Weise herangewachsen ist, wie sie nun einmal geworden ist, Wie sie heute dasteht. Denn im Jahre 1918 hatten wir ja diese Gegnerschaft noch nicht. Wir hatten selbstverständlich einzelne Gegner. Um die kümmerte man sich nicht und brauchte sich nicht zu kümmern. Aber eigentlich sind die Gegner erst seit dem Jahre 1918 ins Kraut geschossen. Und das hat jenen heutigen Zustand hervorgerufen, unter dessen Einfluß es mir zum Beispiel unmöglich ist, öffentliche Vorträge innerhalb des Gebietes von Deutschland zu halten.
Das alles sollte gerade in der Gegenwart der anthroposophischen Bewegung nicht verhehlt werden. Darauf sollte man mit aller Klarheit schauen, denn man kommt nicht vorwärts, wenn man mit Unklarheiten arbeitet.
Nun ist aber ja auch verschiedenes experimentiert worden. Denken Sie nur einmal, was alles für Experimente gemacht worden sind, um
#SE260a-206
immerzu, sagen wir, «wissenschaftlich» zu sein, ganz begreiflicherweise gewiß aus den Charakteren der Menschen heraus. Warum sollte es denn nicht dazu kommen, daß Wissenschafter, die ja auch teilnehmen an unserer Gesellschaft, wissenschaftlich sein wollen? Aber das ärgert ja die Gegner gerade. Denn dann, wenn man ihnen sagt das oder jenes kann man beweisen als wissenschaftlich, dann treten sie mit ihren Aspirationen auf, die sie wissenschaftlich nennen, und dann werden sie natürlich wütend. Darüber muß man sich ganz klar sein. Nichts hat die Gegner mehr geärgert, als daß man über dieselben Themen, über die sie selber reden, in derselben Weise reden wollte, nur, wie man Immer sagte, mit etwas «Einströmenlassen» von Anthroposophie. Dieses Einströmenlassen, das ist gerade das, was die Gegner in so großen Scharen herbeigerufen hat.
Und wenn man erst der Illusion sich hingibt, daß man etwa, sagen wir, die Menschen verschiedener Religionsgesellschaften dadurch irgendwie für Anthroposophie gewinnen könne, daß man dasselbe oder ähnliches sagt, was sie sagen, nur indem man wiederum Anthroposophie «einströmen» läßt, wenn man sich dieser Illusion hingibt, dann sündigt man ganz stark gegen die Lebensbedingungen der Anthroposophie.
Nun, in all das, was auf anthroposophischem Felde geschehen ist, muß eben seit der Weihnachtstagung ein ganz neuer Zug kommen. Und diejenigen, die bemerkt haben die Art, wie jetzt Anthroposophie hier vertreten wird, wie sie in Prag vertreten worden ist, wie sie jetzt wiederum in Stuttgart vertreten worden ist, werden ja gesehen haben, daß nunmehr Impulse da sind, die auch in bezug auf die Gegner etwas ganz Neues hervorrufen. Denn wenn man wissenschaftlich sein will im gewöhnlichen Sinne des Wortes, wie es leider viele haben sein wollen, dann setzt man sozusagen voraus, es ließe sich mit den Gegnern diskutieren. Aber wenn Sie nun die Vorträge nehmen, die hier gehalten worden sind, die Vorträge, die in Prag gehalten worden sind, den Vortrag, der in Stuttgart gehalten worden ist Können Sie da einen Augenblick noch glauben, daß es sich nur darum handeln kann, mit dem Gegner zu diskutieren? Selbstverständlich kann man nicht mit Gegnern diskutieren, wenn man von diesen Dingen spricht, denn wie soll man mit irgend jemandem von der heutigen Zivilisation darüber diskutieren,
#SE260a-207
daß die Seele des Muawija in der Seele des Woodrow Wilson wiedererschienen ist!
Also es lebt jetzt in der ganzen anthroposophischen Bewegung ein Zug, der gar nicht auf etwas anderes hinausgehen kann als darauf, daß nun endlich einmal Ernst gemacht werde mit diesem Nichtdiskutieren mit den Gegnern. Wenn es sich um Argumente handelt, da kommt man ja ohnedies nicht zurecht. Und es wird doch endlich einmal eingesehen werden, daß es sich in bezug auf die Gegner nur handeln kann um das Zurückweisen von Verleumdungen und Unwahrheiten und Lügen. Man wird sich nicht der Illusion hingeben dürfen, daß man über solche Sachen diskutieren kann. Die müssen sich durch ihre eigene Macht und Gewalt verbreiten. Die lassen sich nicht durch Dialektik entscheiden.
Das ist dasjenige, was vielleicht jetzt gerade durch die Haltung der anthroposophischen Bewegung, wie sie seit Weihnachten ist, immer mehr und mehr auch in unserer Mitgliederschaft eingesehen werden wird.> Und deshalb ist es schon so, daß nunmehr die anthroposophische Bewegung so gestaltet wird, daß sie auf nichts mehr Rücksicht nimmt als auf das, was die geistige Welt von ihr haben will.>
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IM BERNER ZWEIG
Bern, 16. April 1924
#TX
Es ist schon einmal hier in den Kreisen unserer Berner anthroposophischen Freunde ausgesprochen worden, wie die Weihnachtstagung am Goetheanum dazu bestimmt war, einen neuen Zug in die anthroposophische Bewegung hineinzubringen.>* Es kann das Bewußtsein von diesem neuen Zug nicht oft genug eingeschärft werden. Denn es handelt sich ja darum, daß vor dieser Weihnachtstagung - wenigstens in der Praxis, wenn vielleicht auch nicht überall - die Auffassung so war, daß
- - -
* Vgl. Seite 171 f.
#SE260a-208
die Anthroposophische Gesellschaft eine Art Verwaltungsgesellschaft für das darstellte, was Anthroposophie als Inhalt und als Lebensimpuls hat. Das hat sich ja im wesentlichen so herausgestellt, seit die Anthroposophische Gesellschaft sich aus der Theosophischen Gesellschaft heraus verselbständigt hat.
Und die Entwickelung dieser Anthroposophischen Gesellschaft ist ja nicht so gegangen, wie sie gerade hätte gehen können unter der Voraussetzung, daß ich selbst nicht irgendeine Vorstandsstelle oder dergleichen inne hatte, sondern gewissermaßen in einer völlig freien Position innerhalb der Gesellschaft stand. Dennoch hat man eigentlich wenig Notiz genommen von alldem, was unter dieser Voraussetzung sich hätte entwickeln können. Und so ist es denn gekommen, daß etwa vom Jahre 1919 ab - nachdem ja während der Kriegsjahre die Führung der Anthroposophischen Gesellschaft schwierig war - allerlei Bestrebungen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft aufgetreten sind, Bestrebungen, hervorgegangen aus den und jenen Ambitionen innerhalb des Mitgliederkreises, welche im Grunde der eigentlichen anthroposophischen Sache gegenüber abträglich gewirkt haben, abträglich in dem Sinne, daß dadurch gerade, ich möchte sagen, die Feindseligkeit der Außenwelt in besonderem Maße hervorgetreten ist. Es ist ja ganz naturgemäß, meine lieben Freunde, daß, wenn solche Bestrebungen innerhalb einer Gesellschaft auftreten, die auf einem okkulten Boden steht, man zuletzt - aus der Esoterik heraus - diese Dinge entstehen lassen muß. Denn denken Sie sich: wenn all dasjenige, was da sich bilden wollte, von Anfang an von mir verwehrt worden wäre, so würden heute die meisten der Beteiligten sagen: Ja, wenn das oder jenes nur geschehen wäre, würde es zu etwas Günstigem geführt haben! - Nun kann man schon sagen: die Stellung der anthroposophischen Bewegung wurde in der Welt dadurch immer schwieriger und schwieriger.
Einzelheiten will ich nicht erwähnen, sondern auf das Positive mehr hinarbeiten, will nur sagen, daß eben notwendig geworden ist, all dem Negativen, das in der Gesellschaft nach und nach aufgetreten ist, das Positive gegenüberzusetzen. Eine solche positive Gründung - ich mußte das oftmals vor der Weihnachtstagung am Goetheanum erwähnen - wie die anthroposophische Bewegung, die eigentlich eine geistige Strömung
#SE260a-209
ist, geleitet von geistigen Mächten und geistigen Kräften aus der übersinnlichen Welt, die ihre Erscheinung nur haben hier in der physischen Welt, durfte nicht zusammengeworfen werden mit der Anthroposophischen Gesellschaft, die eben eine Verwaltungsgesellschaft ist - soweit sie das vermag -, zur Pflege des anthroposophischen Impulses.
Nun, seit der Weihnachtstagung am Goetheanum ist das durchaus anders geworden. Und nur unter dem Gesichtspunkte des Anderswerdens hatte es einen Sinn, daß ich selber - mit einem Vorstande zusammen, mit dem als einem einheitlichen Organismus ganz intensiv für die anthroposophische Bewegung gearbeitet werden kann und muß - den Vorsitz übernahm. Diese Voraussetzung ist diejenige, daß nunmehr die anthroposophische Bewegung eins werde mit der Anthroposophischen Gesellschaft. Was also nicht wahr war vor der Weihnachtstagung, ist gründlich verändert seit der Weihnachtstagung Es muß nunmehr zusammenfallen die Anthroposophische Gesellschaft mit der anthroposophischen Bewegung, wie sie sich in der Welt darstellt. Dadurch aber ist notwendig geworden, daß der esoterische Impuls, welcher durch die anthroposophische Bewegung fließt, auch wirklich in der ganzen Verfassung der Anthroposophischen Gesellschaft zum Vorschein kommt. Daher muß seit dieser Weihnachtstagung in Dornach unbedingt anerkannt werden, daß die Einsetzung des Dornacher Vorstandes selber ein Esoterisches ist, daß es sich darum handelt, daß wahre esoterische Strömung durch die Gesellschaft geht und daß die Einsetzung des Vorstandes als esoterische Tat anzusehen ist. Unter dieser Voraussetzung ist der Vorstand gebildet worden.
Ferner muß festgehalten werden, daß nunmehr die Anthroposophische Gesellschaft nicht bloß als Verwaltungsgesellschaft für die Anthroposophie da sein kann, sondern daß nunmehr Anthroposophie selber getan werden muß in alldem, was in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht. Das Tun selber muß anthroposophisch sein. Das ist dasjenige, was, wie es scheint, recht schwer sich in das Bewußtsein einlebt. Aber es müßte sich nach und nach diese gründliche Umwandlung in das Bewußtsein unserer lieben Freunde einleben.
Und zunächst ist ja versucht worden, in dem dem «Goetheanum»
#SE260a-210
beigegebenen «Mitteilungsblatt» das in die Gesellschaft hineinzubringen, was dieser Gesellschaft eine einheitliche Substanz geben kann, was sozusagen einen einheitlichen Gedankenzug bringen kann, der dem Strömen des Geistigen durch die Bewegung dienen kann; was einen einheitlichen Gedankenzug möglich macht, insbesondere durch die wöchentliche Formulierung von Leitsätzen, die sozusagen der Grundkeim sein sollen für das, was in den einzelnen Zweigen geschieht. Es ist ja merkwürdig, wie verkannt noch wird, was mit der anthroposophischen Bewegung da ist.
Ich bekam vor einiger Zeit einen Brief von einem jüngeren Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft. Dieser Brief verbreitete sich über die Eingliederung - für hier, für die Schweiz, hat das keine Bedeutung, aber ich erwähne es als Beispiel -, über die Eingliederung der Gemeinschaft für christliche Erneuerung in die Anthroposophische Gesellschaft. Ich habe nun in einem gewissen Zeitpunkt vom Goetheanum in Dornach aus betont, wie diese Gemeinschaft für christliche Erneuerung aufzufassen ist im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft. Ich habe dazumal betont, daß ich nicht aus der Anthroposophischen Gesellschaft heraus irgendwie als Begründer der Christengemeinschaft aufgefaßt werden kann, sondern daß diese Christengemeinschaft neben der Anthroposophischen Gesellschaft durch mich - ich brauchte dazumal den Ausdruck «als Privatmann» - gebildet worden ist. An diesen Ausdruck «Privatmann» knüpft nun dieser Brief an, nachdem gesagt wird, daß eine religiöse Erneuerung nicht durch einen Menschen geschehen könne, sondern einzig und allein dadurch, daß ein geistiger Impuls aus den oberen Sphären in die Erdenimpulse wieder einfließt:
Nur von göttlich-geistigen Mächten selber kann eine religiöse Erneuerung erhofft werden. - Das ist ganz richtig. Aber eines wird dabei vielleicht vergessen - und notwendig ist, daß dieses eine vollständig begriffen werde in der Anthroposophischen Gesellschaft. Was begriffen werden muß, ist dieses: daß die anthroposophische Bewegung als solche - und in ihr liegen auch die Quellen für die christliche Erneuerungsbewegung - ja nicht einem bloß menschlichen Impulse ihren Ursprung verdankt, sondern daß sie eben gerade dasjenige ist, was unter dem Einflusse und aus dem Impuls von geistig-göttlichen Mächten heraus in
#SE260a-211
die Welt gesetzt ist. Wenn man in der Anthroposophie selber ein geistig Eingesetztes sieht, das esoterisch durch die Zivilisation fließt, dann nur wird man auch, wenn aus den Quellen der Anthroposophie etwas anderes entsteht, die richtige Ansicht haben können, und ein solcher Einwand wie der in dem Brief kann sich nicht ergeben. Das Bewußtsein muß da sein, daß fernerhin vom Goetheanum aus die Anthroposophische Gesellschaft esoterisch geleitet wird.
Damit steht in Verbindung, daß ein völlig neuer Zug durch alles dasjenige geht, was nunmehr als anthroposophische Bewegung aufgefaßt wird. Deshalb ist es, daß Sie auch bemerken werden, meine lieben Freunde, wie anders seit jener Zeit gesprochen werden kann, als das vorher der Fall war. Es kommt in der Zukunft auf gar nichts weiteres an, als daß bei allen Maßnahmen der anthroposophischen Bewegung, die identisch ist mit der Anthroposophischen Gesellschaft, künftighin eben die Verantwortlichkeit vorliegt gegenüber den geistigen Mächten selber. Aber das muß richtig verstanden werden. Und so muß namentlich aufgefaßt werden, daß schon die Überschrift «allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» nicht gebraucht werden darf für irgendeine Veranstaltung, ohne daß man sich mit dem Dornacher Vorstand erst verständigt; daß nicht irgend etwas, was von Dornach inauguriert wird, irgend weiter verwendet werden kann, ohne sich mit dem Dornacher Vorstand in entsprechendes Verhältnis zu setzen. Ich muß das erwähnen, weil immer solche Dinge vorgehen, daß zum Beispiel Vorträge gehalten werden unter dem Titel der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, ohne daß in Dornach angefragt wird. Es werden Dinge, die esoterischen Grundzug haben, wie Formeln und dergleichen, verwendet, ohne das durch eine Verständigung mit dem Vorstand zu begründen, was durchaus notwendig ist, denn wir haben es mit Realitäten zu tun, nicht mit irgendwelchen Verwaltungsmaßnahmen oder Formalien. So ist also für alle diese und ähnliche Dinge eine Verständigung zu suchen oder eine Anfrage zu richten an den Schriftführer des Dornacher Vorstandes. Wenn die Verständigung nicht vorliegt, wird die betreffende Veranstaltung als nicht von der anthroposophischen Bewegung ausgehend angesehen. Das würde in irgendeiner Weise zutage treten müssen.
#SE260a-212
Es ist nun so, daß alles irgend Bürokratische, formal Verwaltungsmäßige aus der Anthroposophischen Gesellschaft in Zukunft ausscheiden muß. Das Verhältnis, das besteht innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, ist ein rein menschliches, alles auf das Menschliche abstellendes. Vielleicht darf ich auch hier erwähnen, daß dieses schon dadurch zutage tritt, daß nunmehr alle die zwölftausend Mitgliederzertifikate, die ausgestellt werden, von mir persönlich unterschrieben werden. Ich habe auch den Rat bekommen, ich solle einen Stempel machen lassen und aufdrücken. Ich tue das nicht. Es ist nur eine kleine Maßregel, aber es ist etwas anderes, wenn ich mein Auge habe ruhen lassen auf dem Namen eines Mitgliedes und dadurch das, wenn auch abstrakte, so doch immerhin persönliche Verhältnis eingetreten ist. Wenn es auch eine Äußerlichkeit ist, so soll es doch anzeigen, daß in Zukunft angestrebt wird, die Verhältnisse zu persönlichen, zu menschlichen zu machen. Daher mußte zum Beispiel neulich in Prag, als gefragt wurde, ob die böhmische Landesgesellschaft Mitglied werden könne der Anthroposophischen Gesellschaft, dahingehend entschieden werden, daß sie das nicht könne: es können nur einzelne Menschen Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft werden; die können sich dann zusammenschließen zu irgendwelchen Gruppen. Aber als einzelne Menschen werden sie Mitglieder und tragen das Zertifikat als einzelne Menschen. Juristische Personen, also nichtmenschliche Persönlichkeiten, werden das nicht haben. Ebenso sind die Statuten nicht Feststellungen, sondern eine einfache Erzählung desjenigen, was der im esoterischen Sinne aufzufassende Vorstand in Dornach aus seiner Initiative heraus für die anthroposophische Bewegung tun will. Alle diese Dinge müssen in der Zukunft mit dem höchsten Ernste genommen werden; nur dadurch wird es möglich sein, in der Anthroposophischen Gesellschaft dasjenige zu schaffen, ohne dessen Schöpfung es mir unmöglich gewesen wäre, die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft selber zu übernehmen.
Nun soll auch durchaus in all unser Wirken und Schaffen durch die Weihnachtstagung ein neuer Zug kommen. Und deshalb wird in der Zukunft ganz aus dem Geistigen heraus auch gesprochen werden, gesprochen werden so, daß Dinge, wie sie sich zugetragen haben, durch
#SE260a-213
dasjenige, was eben in der letzten Zeit geschehen ist, sich nicht mehr zutragen können. Sehen Sie, ein großer Teil der Feindseligkeiten ist zum Beispiel entstanden durch manches, was provozierend war in der Gesellschaft. Gewiß, dazu kommen alle möglichen unlauteren Dinge, aber in Zukunft wird man gar nicht mehr so zu den Feindseligkeiten sich stellen können wie in der Vergangenheit. Denn die Zyklen sind so, daß sie für jeden zu haben sind, daß sie vom Philosophisch-Anthroposophischen Verlag zu beziehen sind. Wir werden sie nicht im Buchhandel anpreisen lassen, die Freigabe ist auch nicht so aufzufassen, daß sie dem Buchhandel eingefügt werden, aber sie werden jedem zugänglich sein. Schon dadurch ist die Behauptung weggeschafft, daß die Anthroposophische Gesellschaft eine Geheimgesellschaft sei mit Geheimschriften. Aber es wird in Zukunft gar manches durch die anthroposophische Bewegung fließen, demgegenüber man gar kein Verhältnis zu irgendeiner feindlichen Außenwelt gewinnen kann. Vieles von dem, was in die Lehren der Anthroposophischen Gesellschaft in Zukunft einfließen wird, wird so sein, daß es die selbstverständliche Feindseligkeit hervorrufen wird derjenigen, die draußen stehen, aber eine Feindseligkeit, um die man sich nicht kümmern wird, weil sie eine selbstverständliche ist.
So möchte ich aus diesem Geiste heraus einiges zu Ihnen sprechen, möchte namentlich darüber sprechen, wie das Begreifen der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit ein ganz anderes Licht bekommt, wenn man Ernst macht mit der Betrachtung der Karmaverhältnisse im Weltenwerden.
Sehen Sie, ich habe bei der allerersten Versammlung, die in Berlin zur Begründung der damaligen Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war, für einen Vortrag, den ich damals halten wollte, einen bestimmten Titel gewählt. Der Titel hieß «Praktische Karma-Übungen». Ich wollte damals dasjenige einleiten, was jetzt geschehen soll. Ich will Ernst machen mit der Betrachtung des Karma.
Dazumal waren in der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft einzelne ältere Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft; die fingen an, förmlich zu beben davor, daß ich die Absicht hätte, in einer so esoterischen Weise anzufangen. Und in der Tat war keine
#SE260a-214
Stimmung dazu da. Man konnte konstatieren, wie wenig vorbereitet die Seelen für so etwas waren. Es konnte in der Form, wie es damals beabsichtigt war, das Thema «Praktische Karma-Übungen» überhaupt nicht zur Geltung kommen. Die Verhältnisse machten es dazumal not-wendig, daß eigentlich in einer viel exoterischeren Weise gesprochen wurde, als es damals beabsichtigt war. Aber es muß einmal mit dem wirklichen Esoterischen begonnen werden, nachdem mehr als zwei Jahrzehnte vorbereitender Arbeit geschehen ist. So konnte die Weihnachtstagung in Dornach stattfinden, wo das Esoterische in die Gesellschaft hineinkam, und so kann eigentlich jetzt dort angeknüpft werden, wo damals beabsichtigt war, diesen esoterischen Zug in die Gesellschaft hineinzutragen.
#SE260a-215
#TI
EINLEITENDE WORTE
ZUR OSTER-EURYTHMIEAUFFÜHRUNG FÜR MITGLIEDER
Dornach, 20. April 1924, vormittags 11 Uhr
#TX
Wir Wollen nunmehr eine eurythmische Darstellung geben, welche denjenigen Gefühlen und Empfindungen entsprechen soll, die Sie vielleicht der ersten größeren Veranstaltung entgegenbringen, die nach der Weihnachtstagung am Goetheanum hier stattfindet.
Das Wesentliche im inneren Verlauf unserer anthroposophischen Bewegung muß in der Zukunft darinnen bestehen, daß sich die Dinge wirklich entwickeln. So daß nicht, wie es vorher der Fall war, der Fortgang immer wieder abbricht, daß man sozusagen nur in Stücken arbeitet, sondern es muß sich, wie es auch in einem Lebendigen ist, das Spätere aus dem Früheren heraus entwickeln. Dafür muß ein Verständnis aber vorhanden sein innerhalb der Mitgliederschaft. Und wir möchten mit der heutigen Eurythmievorstellung eben etwas geben, was in gewissem Sinne eine Fortsetzung desjenigen genannt werden kann, was mit der Weihnachtstagung inauguriert war. Deshalb mußte auch abgetrennt werden diese Morgen-Eurythmievorstellung von demjenigen, was mit der Öffentlichkeit verbunden, an den zwei Tagen, Ostersonntag und Ostermontag als Eurythmievorstellungen am Nachmittag gegeben wird. Diese heutige Eurythmievorstellung ist im eminentesten Sinne etwas in die anthroposophische Bewegung selbst Eingereihtes.
Und so sollen zunächst im Beginne die Weisheitsworte, die dazumal unsere seelisch-herzliche Grundsteinlegung für die Anthroposophische Gesellschaft begleitet haben, diese Weisheitsworte sollen heute zum erstenmal eurythmisch wirken.
Solche Dinge müssen nur immer in der rechten Art verstanden werden. Alle Dinge dieser Art sind bisher viel zu sehr im theoretischen Sinne genommen worden, viel zu sehr so genommen worden, daß man dabei nicht gesehen hat, wie es einfach etwas bedeutet, nicht bloß, daß solche Dinge, wie die Weisheitsworte, existieren, sondern daß sie als lebendige Kraft laufen durch die anthroposophische Bewegung und sie tatsächlich impulsieren. Dann aber, wenn das stattfinden soll, darf man
#SE260a-216
nicht nur schauen auf den Inhalt solcher Worte, sondern auf die reale Tatsache, wie solche Worte durch die anthroposophische Bewegung laufen. So daß also für das Goetheanum zunächst heute der zweite Entwickelungsschritt ist im Wirken dieser Worte.
Das ist dasjenige, was ich heute der in die diesmaligen Veranstaltungen besonders eingereihten Eurythmievorstellung als eine Art Begrüßung der anthroposophischen Freunde, die heute erschienen sind, vorausschicken wollte.
#TI
EINLEITENDE WORTE ZUR
WIEDERHOLUNG DER EURYTHMIEAUFFÜHRUNG
VOM 20. APRIL 1924
Dornach, 22. April 1924
#TX
Die heutige Eurythmievorstellung ist in dem Sinne gedacht, daß die wesentlichen Veranstaltungen innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung seit der Weihnachtstagung am Goetheanum wiederum einen neuen Zug bekommen sollen. Und ein Impuls sollte gegeben werden, der nicht bloß ein einmal Vorübergehendes ist, sondern der sich fortsetzt und fortentwickelt. Nur dadurch werden wir ja in der anthroposophischen Bewegung vorwärtskommen, daß nicht wie bisher immer wieder und wiederum neue Ansätze gemacht werden, sondern daß dasjenige, was einmal inauguriert ist, wirklich auch seinen sachgemäßen Fortgang findet.
Deshalb werden Sie hier dasjenige sehen, was während der Weihnachtstagung zum erstenmal vor Sie hingetreten ist. Sie werden die Worte Vernehmen, die bei der Weihnachtstagung in unsere Herzen sich senken sollten, um in diesen Herzen den Grundstein für die neugestaltete Anthroposophische Gesellschaft zu legen. Heute werden Sie, in Eurythmie umgesetzt, diese Worte schauen, und damit wird dasjenige, was damals zu Weihnachten begonnen hat, einen Schritt weiter gebracht werden.
#SE260a-217
Daran werden sich dann schließen eurythmische Darstellungen von Dichtungen, die ja in ganz außerordentlichem Sinne dem Osterfeste geweiht sein können. Und so soll, wie wir versuchten, bei der Weihnachtstagung etwas zu geben, was dazumal ein Anfang war, mit solchen Dingen eine Fortsetzung gemeint sein. Und es steht zu hoffen, daß wenn immer mehr und mehr in die Herzen der lieben Freunde der Anthroposophischen Gesellschaft das Bewußtsein von der Bedeutung, der fort-wirkenden Bedeutung der Weihnachtstagung einzieht, daß wir auf dieser Bahn weiterschreiten können, so daß tatsächlich unsere anthroposophische Bewegung nicht bloß sein wird eine Art Pe4enschnur, bei welcher Perlen, eine nach der andern, aufgereiht sind, sondern etwas, was wächst, sprießt, sproßt, und sich im Wachsen, Sprießen und Sprossen weiter entwickelt.
#TI
SCHLUSSWORTE
BEI DER OSTERVERANSTALTUNG AM GOETHEANUM
Dornach, 23. April 1924
#TX
... Wir müssen in der Zukunft mutig und kühn nach der Betrachtung der großen geistigen Verhältnisse hingehen, müssen uns hinstellen da, wo die geistigen Zusammenhänge wirklich betrachtet werden. Dazu brauchen wir vor allen Dingen Ernst, Ernst in unserem Zusammenleben mit der anthroposophischen Sache.
Und dieser Ernst wird in die Anthroposophische Gesellschaft einziehen, wenn immer mehr und mehr von denen, die in ihr etwas tun wollen, berücksichtigt werden wird, was jetzt jede Woche hinausgeht in die Kreise aller unserer Anthroposophen, was die dem «Goetheanum» beigelegten «Mitteilungen» enthalten. Die schildern ja, wie man sich im Sinne der Weihnachtstagung Vorstellen möchte, daß in den Zweigen, in den Mitgliederversammlungen gearbeitet, gelehrt, getan werde, und die bringen auch dasjenige zur Darstellung, was geschieht. Sie heißen ja: «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht.» Und diese
#SE260a-218
Mitteilungen wollen ein gemeinsames Denken über die ganze Anthroposophische Gesellschaft ausgießen, eine gemeinsame Atmosphäre über die Tausende von Anthroposophen hinwehen. Wenn man in einer solchen gemeinsamen Atmosphäre leben wird, wenn man verstehen wird, was das heißt, daß die «Leitsätze» Gedankenanreger sein sollen, und wenn man versteht, daß dadurch in der Tat real, konkret das Goetheanum in den Mittelpunkt gestellt werden soll durch die Initiative des esoterischen Vorstandes - das ist ja von mir immer wieder zu betonen, daß wir es jetzt mit einem Vorstand zu tun haben, der sein Wirken als ein Inaugurieren von Esoterischem auffaßt -, wenn wir das richtig verstehen werden, dann wird schon das, was nun durch die anthroposophische Bewegung fließen soll, in der richtigen Weise durch sie weiter-getragen werden. Denn anthroposophische Bewegung und Anthroposophische Gesellschaft müssen eins werden. Die Anthroposophische Gesellschaft muß ganz und gar die anthroposophische Sache zu der ihrigen machen.
Und man kann schon sagen: Wenn nun dieses Gemeinsame da sein soll, was als gemeinsames Denken wirkt, dann kann das imstande sein, auch wirklich geistig umfassende und umspannende Erkenntnisse zu tragen. Dann aber wird in der Anthroposophischen Gesellschaft eine Kraft leben, die eigentlich in ihr leben sollte, weil die neuere Zivilisationsentwickelung, wenn sie nicht vollständig dem Niedergang verfallen will, einen mächtigen Aufschwung braucht.
Erscheine es immerhin paradox, was gesagt werden muß über aufeinanderfolgende Erdenleben von dem oder jenem, wer genauer zusieht, wer hinsieht bis auf die Schritte, die die Menschen machen, von denen in bezug auf solche wiederholte Erdenleben gesprochen wird, der wird schon sehen, wie real begründet es ist, was in dieser Beziehung vorgebracht wird, und wie man in die Wirklichkeit des Webens und Lebens von Göttern und Menschen hineinschauen kann, wenn man versucht, in dieser Weise die Geisteskräfte mit einem geistigen Blicke zu umspannen.
Das, meine lieben Freunde, möchte ich auf Ihre Seele legen, möchte ich in Ihr Herz versenken und möchte, daß Sie es als eine Empfindung mitnehmen auch von dieser Ostertagung hier. Dann wird diese Ostertagung
#SE260a-219
etwas wie eine Auffrischung der Weihnachtstagung werden. Wenn diese Weihnachtstagung in der richtigen Weise wirken soll, so muß sie immer wiederum, als ob sie gegenwärtig wäre, aufgefrischt werden durch alles das, was sich aus ihr herausentwickelt.
Möge sich vieles aus dieser Weihnachtstagung in immer weiterer Erneuerung herausentwickeln. Und möge es sich vor allem herausent-wickeln durch richtige, herzhafte, im Leben mit der Vertretung der anthroposophischen Sache stehende mutige Seelen, mutige Anthroposophen-Seelen. Wenn immer mehr und mehr durch unsere Veranstaltungen der Mut in den Seelen, in den Herzen unserer anthroposophischen Freunde wächst, dann wird endlich auch das heranwachsen, was man in der Anthroposophischen Gesellschaft - als dem Leib - braucht für die anthroposophische Seele: ein mutiges Hineintragen desjenigen in die Welt, was aus den Offenbarungen des Geistes im angebrochenen lichten Zeitalter, das auf den Ablauf des Kali Yuga folgt, für die weitere Entwickelung der Menschen notwendig ist. Fühlt man sich in diesem Bewußtsein, so wird man aus ihm heraus auch mutig wirken. Und möge jede unserer Veranstaltungen eine Energisierung eines solchen Mutes sein. Möge sie es sein dadurch, daß wir wirklich im Ernste aufzufassen vermögen, was paradox, töricht denjenigen erscheint, die heute vielfach noch den Ton angeben. Aber was in einer Zeit den Ton angegeben hat, das wurde vielfach bald ersetzt durch das, was unterdrückt war. Möge aus einer Anerkenntnis der Geschichte, verbunden mit dem Fortwirken der menschlichen Leben, eben der Mut des anthroposophischen Wirkens sich ergeben, der notwendig ist für den weiteren Fortschritt der Menschheitszivilisation.
#SE260a-220
#TI
Nachrichtenblatt, 27. April 1924
An die Mitglieder!
EINE PÄDAGOGISCHE VERANSTALTUNG IN BERN
#TX
Mit großer Befriedigung sehe ich zurück auf die Veranstaltung, die auf Wunsch Von Berner Lehrern und Lehrerinnen in der Zeit vom 13. bis 17. April in Bern stattgefunden hat. Im Verein mit einigen Lehrkräften der Stuttgarter Waldorfschule durfte ich im Sinne der aus anthroposophischer Menschen-Erkenntnis hervorgehenden pädagogischen Kunst wirken. Mein Thema war: «Anthroposophische Pädagogik und ihre Voraussetzungen». - Fräulein Emma Ramser eröffnete am Sonntag, dem 13. April abends, die Veranstaltungen, die im Groß ratssaale statt-fanden, mit herzlichen Worten, die in schöner Art auf die Aufgaben hinwiesen, welche aus dem Gesichtspunkte der Anthroposophie heraus der Erziehungskunst erwachsen. Die Wärme, die von diesen Worten ausging, bedeutete für die Arbeit der folgenden Tage einen schönen Anfang.
Mir war es ein lieber Gedanke, an der Stätte, von der aus ich durch eine lange Reihe von Jahren oft über Anthroposophie sprechen durfte, nun auch die Grundlagen unserer pädagogischen Bestrebungen auseinandersetzen zu dürfen. Und die Vorstände der Anthroposophischen Gesellschaft sowie der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz dürfen befriedigt sein über das Gelingen des von ihnen mit dieser Veranstaltung Beabsichtigten. Den großen Bemühungen unserer Berner Freunde Verdanken wir dieses.
Es war mein Bestreben, in den Vorträgen, die ich halten durfte, zu zeigen, wie das kindliche Menschenwesen selbst in den drei ersten Epochen seiner Entwickelung der Erziehung und dem Unterrichte ihre Aufgaben stellt. Immer wieder muß man bei solchen Gelegenheiten betonen, daß es durchaus den Vertretern der anthroposophischen Sache ferne liegt, in die Schule Anthroposophie als ein Bekenntnis hineinzutragen. Es kann sich nur darum handeln, die Menschen-Erkenntnis, die durch Anthroposophie zu gewinnen ist, zur Voraussetzung des Methodischen
#SE260a-221
und Didaktischen zu machen. Alles sektiererische Wirken wird dabei ganz ausgeschlossen. Das Allgemein-Menschliche kommt allein in Betracht. In welchem Zusammenhange eine Schule auch steht, in der Art, wie das Erziehen und Unterrichten gestaltet wird, kann die Grundlage, auf der wir aufbauen, zur Geltung kommen. Es wird eben ein-fach gefragt: wie entfaltet sich der Mensch in seinen ersten Lebens-epochen; und was kann man für die Gestaltung des Erziehens und Unterrichtens von dem Wesen dieser Entfaltung selbst ablesen? In diesem von anthroposophischem Geiste getragenen Ablesen entwickelt sich eine Pädagogik, die in dem Lehrenden und Erziehenden nicht bloß eine intellektuelle Richtschnur seines Handelns, sondern das seelische Lebens-blut seines ganzen Menschen werden kann, so daß dieser ganze Mensch sich im erzieherischen Wirken darzuleben in der Lage ist. Das in klarem Anschauen der Menschennatur entwickelte pädagogische Erkennen wird kindliebende Hingabe des Erziehergemütes, wird sachgemäße Lenkung des erzieherischen Wollens. In der Art, wie anthroposophische Pädagogik den Erzieher-Enthusiasmus in der Seele des Erziehenden aufleben läßt, so daß in ganz selbstverständlicher Weise das Wissen vom Erziehen zum Können wird, das von der Liebe im Wirken getragen ist: darinnen liegt, was gesucht wird. Und eine pädagogische Kunst, die in dieser Richtung zu wirken beabsichtigt, darf den Mut haben, ihre Grundlagen zu vertreten in einem Lande, in dem Pestalozzi so Segensreiches für die Erziehung des Menschenwesens getan hat. Die schöne Teilnahme der Zuhörerschaft ist ein Beweis dafür, daß dem Gewollten, wenn auch noch von einem kleinen Kreis, so doch von diesem echtes Verständnis entgegengebracht wird. Daß auch Nicht-Lehrer bei der Veranstaltung erschienen sind, zeigt, wie die Sache als etwas empfunden wird, das in rder Richtung eines allgemeinen menschlichen Bedürfnisses liegt. Und die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, die in so erfreulicher Weise anwesend waren, haben gezeigt, was aus den Bestrebungen, die aus Anthroposophie hervorgehen, werden kann, wenn sie von der hingebungsvollen Liebe unserer Mitgliederschaft getragen werden.
Am Montag nachmittag fand eine «Vorführung pädagogischer Eurythmie» durch die Schülerinnen der Fortbildungsschule am Goetheanum
#SE260a-222
im Schänzlitheater statt. Es war die Aufgabe dieser Vorführung, darzulegen, wie die Eurythmie als erzieherisches Mittel durch die Offenbarung einer Bewegungskunst wirken kann, die aus der ganzen menschlichen Wesenheit herausgeholt ist. Man konnte eine ungeteilte Freude an der Aufnahme haben, die dieser Vorführung zuteil geworden ist.
Fräulein Dr. von Heydebrand sprach am Dienstag über die «Erziehung jüngerer Kinder» in ihrer von gründlicher Einsicht und edler Kindesliebe getragenen Art. Diese Lehrkraft der Waldorfschule hat reiche Erfahrungen durch mehrere Jahre im Erziehen und Unterrichten älterer Kinder gesammelt; sie hat dann ihr Wirken bei diesem vertauscht mit dem bei eben in die Schule aufgenommenen. Dadurch hat sie sich den Blick für eine feinsinnige Beobachtung des dem Pädagogen Notwendigen angeeignet. Was auf diesem Wege gewonnen werden kann, sprach in eindringlicher Art aus dem, was sie darlegte.
Dr. Stein von der Stuttgarter Waldorfschule sprach in seiner herz-haften Weise über die Stellung der Geschichte im Dasein des Menschen und im Kulturleben. Seine Absicht war, zu zeigen, wie der Ausblick auf die Impulse des geschichtlichen Lebens der Pädagogik ihre wirkungverheißende Kraft geben kann.
Andere Verpflichtungen verhinderten mich zu meinem großen Be-dauern, dem Vortrage Dr. von Baravalles über «Belebungskräfte für den Elementarunterricht in den Naturwissenschaften» beizuwohnen.
Der Beschluß der ganzen Veranstaltung wurde mit einem Vortrage Dr. Koliskos von der Waidorfschule über «Pädagogik und Medizin» gegeben. In einer umsichtig-sachgemäßen Art versuchte Dr. Kolisko zu zeigen, wie die Behandlung des Kindes in physischer Beziehung geleitet werden kann, wenn Menschen-Erkenntnis auf Leib, Seele und Geist zugleich geht. Er stellte dar, wie eine solche Behandlung von medizinischen Gesichtspunkten aus sich in die pädagogische Kunst einfügen kann.
Die zwischen den Vorträgen veranstalteten Diskussionen konnten ein befriedigenrdes Bild davon geben, daß ein recht orientiertes Verständnis der Teilnehmerschaft die geistige Atmosphäre abgab, in der diese Veranstaltung ihre Arbeit vollzogen hat.
#SE260a-223
#TI
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#TX
Es konnten innerhalb der pädagogischen Veranstaltung in Bern sowohl ein Mitgliedervortrag wie auch eine Klassenstunde der allgemein pädagogischen Sektion der Freien Hochschule abgehalten werden. Und auch während des anthroposophischen Kurses, der in der Osterwoche am Goetheanum stattfand, wurden die Mitglieder der ersten Klasse zu zwei solchen Klassenstunden vereinigt. Von der medizinischen Sektion wurden anschließend an diesen Kurs zwei Vortragsreihen veranstaltet, die eine für jüngere Mediziner und Medizin-Studierende, die andere für praktizierende Ärzte. Über deren Verlauf - wir stehen noch mitten in diesen Veranstaltungen darinnen - wird noch weiter zu berichten sein. Schon jetzt aber darf eine tiefe Befriedigung darüber ausgesprochen werden, wie stark sich bei den Teilnehmern das Bedürfnis zeigt, die Fachbildung mit einer geistgemäßen Anschauung von dem ganzen Menschenwesen und die Heilkunst mit einem geistgetragenen, von wahrem Menschenverständnis durchzogenen Heilwillen zu befruchten.
In einer Eurythmieaufführung für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft wollten wir zeigen, wie die Impulse, die in der Weihnachtstagung am Goetheanum gelegen haben, sich mit einer gewissen Notwendigkeit weiter entwickeln können. Der neue Zug, der mit dieser Tagung in die anthroposophische Arbeit hat einziehen wollen, muß sich ja auch dadurch zur Geltung bringen, daß in unseren Veranstaltungen nicht bloß lebt, was dem Augenblicke entsprungen sein kann, sondern daß früher Erarbeitetes sich in folgenden Veranstaltungen weiter entfaltet. Die Spruchworte, mit denen bei der Weihnachtstagung der geistige Grundstein in die Herzen der Mitgliederschaft der Anthroposophischen Gesellschaft gelegt worden ist, erstanden in eurythmischer Kunstdarstellung bei dieser Ostertagung wieder. In Verbindung mit ihnen wurden geistgetragene, gemütinnige, seelenwarme Dichtungen Albert Steffens eurythmisiert, die eine Weihestimmung über rdiese Tagung ausgossen. Weiteres rankte sich, der Osterstimmung Rechnung tragend, um diesen Inhalt der eurythmischen Vorführung. Wir hatten so eine Osterfeier, in die unsere für die Gesellschaft bedentungsvolle Weihnachtstagung voll hineintönte.
#SE260a-224
Trotz der Schwierigkeiten, die sich durch die Zeitverhältnisse ftir viele Mitglieder ergeben, war unsere Ostertagung stark besucht. Die nicht gerade bequeme Art, in der die Zuhörer an den Veranstaltungen durch unsere so mangelhaften Räume teilnehmen müssen, löst wohl den Wunsch aus, daß uns das Schicksal bald gönnen möge, wieder ein Goetheanum an der Stätte desjenigen, das uns genommen worden ist, zu haben.
Dornach, 3. Mai 1924, Ausführung gen über die Weihngachtstagung (siehe Beilage S. 17)
#TI
Nachrichtenblatt, 4. Mai 1924
An die Mitglieder!
DIE OSTERVERANSTALTUNG AM GOETHEANUM
#TX
An die Veranstaltung in Bern schloß sich unmittelbar diejenige, die am Goetheanum selbst stattfand. Mein Thema war: Das Osterfest, ein Stück Mysteriengeschichte. Ich versuchte zu zeigen, wie die Wurzeln des Osterfestes in den Mysterien liegen. Wie, durch die Mysterien veranlaßt, in alten Zeiten Feste gefeiert wurden, bei denen das Bildnis des Gottes der Lebenskraft und der Schönheit unter Traueräußerungen in das Meer - oder in anderer Art - versenkt und nach ungefähr drei Tagen wieder an das Tageslicht, unter Freudenstimmung, gezogen wurde. Solche Feste stellten nicht etwas abseits vom Menschenwesen Liegendes im Sinnbild dar, sondern sie brachten vor den Teilnehmern die Tatsache zur Darstellung, daß der Mensch, nachdem er durch die Pforte des Todes gegangen ist, nach wenigen Tagen ein neues - geistiges - Leben beginnt. Es war die Kultuszeremonie dazu bestimmt, dem Menschen vor das sinnliche Auge zu stellen, was er übersinnlich unmittelbar nach detn Tode erlebt. In den ältesten Zeiten hatte dieses Dargestellte noch nicht einen Bezug auf die wiedererwachende Natur im Frühling. Es war lediglich etwas dargestellt, was der Mensch als über die Natur hinausragendes Wesen erlebt.
Erst später, als die in einem älteren instinktiven geistigen Schauen
#SE260a-225
vorhandenen Vorstellungen verblaßt waren, vollzog sich die Anlehnung an das Naturgeschehen. Man sah in die materiellen Vorgänge, die sich in dem Auferstehen des Lebens im Frühling abspielen, um in ihnen Bilder zu haben für die Auferstehung des geistigen Menschen nach dem physischen Tode.
Durch das Mysterium von Golgatha ist geschichtliches Ereignis geworden, was vorher nur im Bilde vor der menschlichen Wahrnehmung gezeigt werden konnte. Mit diesem Bilde ist der Blick der Menschen in den Kosmos, also in den Raum gelenkt worden. Und hinter dieser Hinlenkung standen die Erlebnisse der Initiierten in den Mysterien. Diese machten durch an geistigen Übungen, was ihre Seele befähigte, in die geistige Welt zu schauen. In diejenige geistige Welt, für die Sterne und Sternbewegungen die äußere Offenbarung sind. Da wurden sie gewahr, wie die Gestaltung derjenigen Wesenheit im Menschen, die dieser mit der Geburt - oder Empfängnis - in das physische Erdendasein trägt, unter dem Einflusse der Kräfte steht, die den geistigen Teil des Mondes bilden. Aber sie erkrannten auch, wie der geistige Teil der Sonne während des Erdenlebens so in den Menschen eingreift, rdaß dieser das in der Geburt Gestaltete umwandeln kann. Sie fühlten rsich durch ihre Initiation mit rder Seele auf die Sonne versetzt.
Was sie so durch dieses Versetzen auf die Sonne gewannen, das konnten die Menschen seit dem Mysterium von Golgatha durch die Hinlenkung des Seelenblickes auf dieses Mysterium gewinnen. Vorher wurde dieser Blick in den räumlichen Kosmos gelenkt; seit der Begründung des Christentums tritt die Zeit an die Stelle des Raumes. Der Seelenblick kann hingelenkt werden auf dasjenige, was auf Golgatha geschehen ist. Was man vorher außerhalb der Erde suchen mußte, konnte man nun im Erdgeschehen selbst finden. Die alten Mysterien verlieren ihren Sonnenglanz vor dem strahlenden Gestirn von Golgatha. Sie finden in demselben ihre Erfüllung.
In das weltgeschichtliche Schicksal der alten Mysterien schauen, heißt dem Osterfeste, das für den gegenwärtigen Menschen deren Untergang und neuen Aufgang darstellen kann, den Sinn des Osterfestes vertiefen. Indem die Anthroposophie diese Vertiefung anstrebt, wird sie selbst von dem Gedanken der Auferstehung durchdrungen, ist sie eine Botschaft
#SE260a-226
von dieser Auferstehung. Als solche wird sie aus einer Ideensache zu einer Herzenssache. So wollte die Oster-Veranstaltung des Goetheanums den Impuls der Weihnachtstagung zur weiteren Entwickelung bringen.
Wir hatten die große Befriedigung, daß trotz der Ungunst der Zeit-verhältnisse diese Veranstaltung zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft am Goetheanum vereinigen konnte. Möge sich daran die weitere Befriedigung schließen, die davon wird kommen können, daß die Besucher unserer Osterfeier das am Goetheanum damit Gewollte in die heimatlichen Zweige der Anthroposophischen Gesellschaft tragen. Es wird dadurch der einheitliche Geist in die Gesellschaft kommen, den diese braucht und den die Weihnachtstagung in den Herzen der Mitglieder anregen wollte.
#TI
DIE FREIE HOCHSCHULE FÜR GEISTESWISSENSCHAFT
#TX
In dem wegen der Unmöglichkeit für die Teilnehmer, länger am Goetheanum zu bleiben, leider nur kurzen Kurse für praktizierende Ärzte konnte unter anderem die wichtige Frage nach dem Verhältnisse der Diagnose zu den therapeutischen Maßregeln im Sinne einer wirklich rationellen Medizin behandelt und an zwei Krankengeschichten aus dem unter der Leitung von Dr. med. I. Wegman stehenden Klinisch-therapeutischen Institut erläutert werden. Es konnte anschaulich werden, wie eine solche rationelle Medizin nur möglich ist, wenn man Ernst macht mit der Anschauung, daß die physische Menschenorganisation von dem seelisch-geistigen Menschenwesen gestaltet und durchdrungen ist, und demgemäß darnach strebt, auch die einzelnen Organe nicht nur als physische Bildungen, sondern als geistige Kraftgestaltungen zu erkennen.
In dem Kursus für jüngere Mediziner und Medizin-Studierende wurde diesmal die innere Entwickelung des Arztes besonders ins Auge gefaßt. Man kann, wenn man die entsprechenden geistigen Fähigkeiten ausbildet, dazu kommen, in der Anschauung unmittelbar das Wesen des kranken Menschen und dasjenige der Heilmethoden als ein Ganzes
#SE260a-227
zu verbinden. Dadurch aber entwickelt sich der Heil-Wille als die besondere Seelenstimmung die der Arzt braucht. So wie in diesem Kurse die Entwickelung dieses Heil-Willens dargestellt Worden ist, erscheint derselbe nicht als eine abgesonderte -abstrakte - menschliche Fähigkeit, sondern er tritt immer, ganz individualisiert, entsprechen der sachgemäßen Anschauung der Krankheit auf; er identifiziert sich mit dein Wissen vom Heilen in dem individuellen Fall. So wird durch Anthroposophie in das medizinische Konnen nicht ein mystisches Nebel gebilde hineingetragen, sondern das Gegenteil ein exaktes Erfassen der Krankheit und ein daraus hervorgehendes exaktes therapeutisches Handeln. Die Innigkeit, mit der von den Teilnehmern das hier Gewollte ergriffen worden ist, wird eine Gewahr dafur bieten daß von emigen Menschen in der nächsten Zeit wirklich fur die Heilkunst die Vertiefung und Erweiterung gesucht werden, die so sehr notwendig sind.
#TI
Nachrichtenblatt, 11. Mai 1924
An die Mitglieder!
TOTENFEIERN
I.
#TX
Von dem Hinscheiden treuer Mitarbeiter der anthroposophischen Bewegung mußte ich am 3. Mai am Goetheanum sprechen. Frau Ferreri, die langjährige Leiterin des Zweiges in Mailand ist vor kurzem gestorben. Ihre Seele war ganz hingegeben den Geist-Erkenntnissen, die durch die Anthroposophie an den Menschen herantreten. Mit einer vollkom-menen, empfindenden Sicherheit lebte ihr allem Edlen zugewandtes Innere in den Wahrheiten dieser Erkenntnis. Oft durften wir Frau Ferreri als eine liebe Besucherin an den Orten sehen, an denen anthro-posophische veranstaltungen waren. Das Goetheanum konnte bei allen wichtigeren Gelegenheiten Frau Ferreri als Teilnehmerin an solchen Veranstaltungen begrüßen. Für alles, was innerhalb der Bewegung
#SE260a-228
opfervoller Hingabe bedurfte, war sie mit vollem Herzen dabei. Vieles hat nur geschehen können, weil sie diesen schönen Opfersinn entfaltete. Seit langem war sie leidend; doch die Bürde der Krankheit ihres physischen Leibes hemmte nicht den Aufschwung ihres Geistes. Das Leiden, das sie aus dem physischen Dasein hinwegführte, veranlaßte rsie an die Leiterin des Klinisch-Therapeutischen Institutes, Frau Dr. Ita Wegman, wenige Tage vor ihrem Hinscheiden die Worte gelangen zu lassen: sie müsse in dieses Institut kommen, denn nur da, in dem Umkreis des Goetheanums, könne sie die Kraft zur Erholung wieder finden. Sie konnte die Reise nicht mehr machen. - In der Goethezeit nannte man Menschen, die in ihrem Leben das Geistige in unmittelbarer Gemüts-offenbarung auf edle Art darstellten, «schöne Seelen». Frau Ferreri darf in diesem Sinne als eine «schöne Seele» bezeichnet werden. Für die anthroposophische Lebensansicht hat sie in ihrem stillen, treuen Wirken unbegrenzt viel getan. Die Arbeit in Mailand war ganz von ihrem Wirken beseelt. Der Zweig in Honolulu war ihr Werk, und er fand an ihr die liebevollste Pflegerin. Frau Ferreri wird in der anthroposophischen Bewegurng fortleben als Seele, die rsich in vorbildlicher Art mit ihr verbunden hat.
#TI
II.
#TX
Am i. Mai hat uns der Tod die treue Mitarbeiterin am Goetheanum und innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft Edith Maryon aus der physischen Welt hinweggenommen. Ein seit Jahren in restlosem Opfersinn mit uns arbeitender Mensch ist uns in der Dahingegangenen für das physische Dasein entrissen.
Vor mehr als zehn Jahren kam Edith Maryon zu uns. Sie kam als eine Persönlichkeit, die schon in esoterischem Streben mit voller Seele darin stand. Ihr inneres Leben war ganz erfüllt von diesem Streben. In der anthroposophischen Bewegung suchte sie die weitere Entfaltung dieses Strebens. Mit entschiedener innerer Sicherheit verband sie sich mit dieser Bewegung. Sie versicherte später öfters, daß sie ihren Beitritt wie einen selbstverständlichen Schritt auf ihrem Lebenswege empfand.
Als wir das Goetheanum zu bauen begannen, war sie eine der ersten
#SE260a-229
persönlichkeiten, die ihre Kraft diesem Werke in liebevollster Hingabe schenkten. - Sie war Bildhauerin. Eine in ihrer Art vollendete Künstlerin, die manches geleistet hatte, was Erfolg gehabt hat. Geistige Inhalte in gemessen-schönen Formen zum Ausdruck zu bringen, war ihr besonderes Feld. rDas Technische ihrer Kunst beherrschte sie in vollendeter Weise.
Sie stellte dieses künstlerische Wirken ganz in den Dienst des Goetheanums. In der Arbeit für dieses ist sie in ihrem letzten Lebensjahrzehnt ganz aufgegangen. Sie verstand den Sinn, in dem dieses Aufgehen allein möglich ist. Die künstlerirschen Impulse, die durch das Goetheanum gegeben werden sollen, können nur wirken, wenn ihnen kein künstlerischer Selbstsinn derer gegenübersteht, die mit echtem Können an die Arbeit gehen. Maryon machte diesen Selbstsinn niemals geltend Ich mußte die Impulse, die von anthroposophischer Art ausgehen, in die Arbeit strömen lassen. Dabei ist es oft schwierig, über Widersprüche hjnwegzukommen, die sich ergeben, wenn das künstlerisch Gewohnte und das neu Gewollte zusammenstoßen. Mit Maryon konnte ich bildhauerisch zusammenarbeiten, ohne daß dieses Zusammenstoßen etwas bedeutete. Denn über allem was sich an künstlerischen Meinungen ergeben konnte, stand vor ihr' die frei empfundene Notwendigkeit, daß die Arbeit zustande kommen müsse. Und getragen von einer solchen Empfindung ließ Maryon alles ihr künstlerisch Gewohnte in die neuen Impulse in stiller, energischer Art einströmen.
Mein Zusammenarbeiten mit ihr auf dem Gebiete der bildenden Kunst ward von eineln deutlichen karmischen Symptom eingeleitet. Ich arbeitete, als die plastische Mittelpunktsgruppe für das Goetheanum noch im Anfange ihres Werdens war, in dem vorderen Bildhaueratelier mit ihr auf dem Gerüste das um das große Plastilin-Modell er4chtet war. Ich glitt durch einen Spalt im Gerüst in die Tiefe und hätte auf einen spitzen Pfeiler auffallen müssen, wenn Maryon meinen Fall nicht aufgefangen hätte. Wenn ich in den folgenden Jahren noch etwas leisten konnte für die anthroposophische Sache, so ist es, weil Maryon mich damals vor einer schweren Verletzung bewahrt hat.
Durchseelt war das künstlerische Wirken Maryons von ihretn Suchen nach der geistigen Entfaltung der Seele. Die esoterische Vertiefung war
#SE260a-230
das selbstverständliche Lebenselement dieser Seele. Ernst in dieser Vertiefung war die Signatur ihres Inneren. Und sie stand vor mancher bedeutsamen Erfahrung auf dem Geistgebiet.
Dieser Ernst drückte sich auch in ihrem Äußeren aus. Ihr ganzes Wesen offenbarte einen Menschen, der von der Freude im Leben nicht verwöhnt, von manchem aber im Schicksaislauf schwer geprüft worden ist.
Zwei Eigenschaften waren Edith Maryon eigen, die ihr ganzes Wesen durchzogen. Eine Zuverlässigkeit im Reden und Arbeiten, die dem mit ihr Zusammenwirkenden das Gefühl voller Sicherheit gab; und ein praktischer Sinn, der im Arbeiten überall anzugreifen geneigt war, und dem das Vorgenommene gelingt, weil er die innere Breweglichkeit des Schaffens entfaltet. Für manchen Idealisten, dessen Absichten vor der Wirklichkeit stocken, könnte Maryons Art vorbildlich sein, deren schöner Idealismus stets den Widerstand der Wirklichkeit rhesiegte, weil bei ihr das Wünschen stets als Wollen sich erbildete.
Maryons Arbeit blieb nicht im Künstlerischen begrenzt. Sie wirkte in ihrer stillen Art an vielen Stellen der anthroposophischen Arbeit mit. Ihrem Wirken ist es zuzuschreiben, daß durch ihre Freundin, Prof. Mackenzie, zu Weihnacht 1921 sich eine größere Anzahl Lehrer und Lehrerinnen aus England am Goetheanum einfanden, denen ich eine Reihe pädagogischer Vorträge halten durfte. Und in der Fortsetzung dieses ihres Wirkens liegen die Vorträge und eurythmischen Aufführungen, die in Stratford und in Oxford stattfinden konnten. Von ihr gingen die Anregungen aus, die dazu führten, die eurythmischen Bewegungsformen in bemalten Holzfiguren festzuhalten. Sie hat mit eigener Hand bis in die Zeit ihres Krankenlagers hinein diese Figuren gearbeitet.
Die Brandnacht, die uns das Goetheanum genommen hat, legte in ihren durch vorangegangene Krankheiten geschwächten Körper den Keim, der zu dem mehr als ein Jahr währenden Leiden sich entwickelte. Ende Januar 1923 ward Maryon auf das Krankenlager geworfen; nur in ganz kurzen Unterbrechungen im vorigen Sommer konnte sie das-selbe verlassen; seit dem Herbste 1923 nicht mehr. Sie hat, insbesondere in der letzten Zeit, Unsägliches gelitten. Die innere Energie ihres Lebens
#SE260a-231
im Geiste verblieb ihr ung schwächt auch auf dem Krankenlager. Sie hat auch so in regster Weise an allem teilgenommen, was am Goetheanum vorging. Der geistige Inhalt der Weihnachtstagung und der Klassenstunden der Freien Hochschule des Goetheanums, die ihr gebracht werden konnten, bildeten auf dem Hintergrunde des schweren Leidens den Inhalt ihrer letzten Erden-Lebenswochen. Auf der Weih-nachtstagung wurde sie zur Leitung der Sektion für bildende Kunst am Goetheanum bestimmt Viele Gedanken wendete sie bis in ihre letzten Tage hinein dem Ziele zu, wie diese Sektion einmal in rechter Art zur Wirksamkeit kommen solle
In bewundernswerter Sanftmut hat Maryon ihr schweres Leiden ertragen. In der Nacht vom I zum 2. Mai ist sie an der Seite der befreundeten, sie treu pflegenden Ärztin Dr. Ita Wegman in der vollsten Gedankenklarheit durch die Pforte des Todes in die geistige Welt ge-führt worden.
Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft blicken der Dahingegangenen in vollster Dankbarkeit nach. Maryons Wirken für diese Gesellschaft wird stets als ein ernst-hingebungsvolles empfunden werden.
Nachrichtenblatt, 8. Juni 1924 An die Mitglieder! DIE STELLUNG DER EURYTHMIE IN DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
#G260a-1987-SE232 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
Nachrichtenblatt, 8. Juni 1924
An die Mitglieder!
DIE STELLUNG DER EURYTHMIE
IN DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
#TX
In der Zeit von Mitte Mai bis Mitte Juni absolviert Frau Marje Steiner mit den Eurvthmisten des Goetheanums eine Eurythmiereise durdi die Städte Ulm, Nürnberg, Eisenadi, Erfurt, Naumburg, Hildesheim, Hannover, Halle, Breslau. Die Nachrichten, die idi hierher ins Goetheanum von dieser Reise erhalte, sprechen von einem tiefgehenden Interesse, das eine verhältnismäßig große Zuschauerschaft an der aus der anthroposophischen Bewegung hervorgegangenen Kunst nimmt. Daß da und dort ein paar Radaumacher Mißklänge in die so befriedigende Aufnahme hineinbringen, kann den nicht befremden, der weiß, gegen welche Widerstände auf allen Lebensgebieten stets dasjenige zu kämpfen hat, das dem Gewohnten als etwas Neues entgegentritt.
Von der Anthroposophischen Gesellschaft möchte man erwarten, daß sie den Bestrebungen, die in der eurythmischen Kunst wirken, volle Teilnahme entgegenbringt. Denn nur in einer solchen Teilnahme kann die Wärme unterhalten werden, die für diejenigen notwendig ist, die sich solchen Bestrebungen widmen.
Man weiß nicht überall innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, auf welchen Grundlagen sich solche Bestrebungen aufbauen. Am Goetheanum wird, unter der Leitung von Marie Steiner, in den Zeiten, in denen die Eurythmisten nicht auf Reisen sind, unausgesetzt gearbeitet, um die Vorübungen für die Vorstellungen zu absolvieren. Bei diesen Arbeiten ist eine große Hingabe aller derer unerläßlich, die daran beteiligt sind. Und es ist von außen nicht immer ersichtlich, wie mühevoll es ist, für Künstlerisches ermüdende Reisen von Stadt zu Stadt zu machen, wie aufreibend, die künstlerische Stimmung zu entfalten innerhalb der ermüdenden Reisen. Um unter den nun einmal gegebenen Verhältnissen mit solchen Bestrebungen durdizukommen, ist eben viel Hingabe und eine reine Begeisterung für die Sache notwendig.
#SE260a-233
Die Eurythmie als Kunst ist eine Frucht der in der anthroposophi-schen Bewegung wirkenden geistigen Impulse. Was in der menschlichen Organisation als Seele und Geist lebt, kommt durch sie zur wahrnehmbaren Offenbarung. Ihre Wirkung bei den Zuschauern beruht auf der Emplindung, (,aß in den äußerlich sichtbaren Bewegungen von Menschen und Menschengruppen Seele und Geist sich in unmittelbarer Anschauung entfaltet. Man hat gewissermaßen das Menschen-Seelen-wesen vor Augen.
Und in dieses augenfällige Offenbaren des Menschen-Seelenwesens tönen die rezitatorische und die musikalische Kunst hinein. Man kann sagen, die rezitatorische Kunst erlebt an den eurythmischen Bestrebungen die Bedingungen ihres Wesens. Sie ist ja zunächst an das Wort gebunden. Aber das Wort unterliegt leicht der Versuchung, vom Künstlerischen abzuirren. Es will Ausdrudt des Verstandes- und Gefühls-Inhaltes sein. Künstlerisch wirksam kann aber nur die Gestaltung dieses Inhaltes sein. Wenn nun die Rezitation an die Seite der eurythmischen Bewegungskunst tritt, muß sie ihren gestaltenden Charakter in aller Reinheit entfalten. Sie muß zur Offenbarung bringen, was durch die Sprache bildnerisch und musikalisch wirken kann. Es war daher für die Eurvthmie die Entwickelung der rezitatorischen Kunst in der Art notwendig, wie sie durch die Hingabe Marie Steiners für diesen Teil der anthroposophischen Bewegung ermöglicht worden ist. Man sollte innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft verfolgen, was seit dem Zeitpunkte, da 1914 in Berlin Marie Steiner mit einigen Eurvthmistinnen die Arbeit begann, entstanden ist. Eurythmie konnte sich als sichtbare Sprachkunst nur entfalten an der Seite der künstlerisch erfaßten, hörbaren Sprachkunst. Nur wer die künstlerische Erfassung dessen, was im hörbaren Wort liegt, hat, kann den rechten Sinn dafür entfalten, wie sich das Hörbare in der Eurythinie zum Sichtbaren umgestaltet. Vor der Öffentlichkeit kann ja nur von Inter-esse sein, was zuletzt an künstlerischetn Werte zutage tritt. Bei den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft kommt die intime Anteilnahme an dem Werden einer solchen Bestrebung in Betracht. Denn diese ist ein Teil des anthroposophischen Lebens.
In einer solchen Anteilnahme wird sich edelstes Menschentum entwickeln
#SE260a-234
können. Und in dessen Entwickelung liegt doch eine der vornehmsten Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft.
Unsere Musiker, die ihre künstlerischen Begabungen in den Dienst der Eurythmie stellen, bringen, nach meiner Überzeugung, durch die Art, wie sie dies tun, und durch den großen Enthusiasmus, der sie beseelt, gerade itn Zusammenwirken mit der verwandten Kunst die Musik in einer ganz eigenartigen Richtung vorwärts. Ich glaube, daß der musikalische Sinn, der in ihnen lebt, gerade seine wahre Befreiung in dem Hineinstellen in den Zusammenhang findet. Jedenfalls lebt in der Betätigung unserer Musiker im Rahmen des earrthmischen Wirkens eine tief befriedigende Ausweitung des Musikalischen in das allgemein Künstlerische. Und die zeigt ihre Fruchtbarkeit wieder an dem schönen Zurückwirken auf das spezifisch Musikalische.
Marie Steiners Bestrebungen für das Eurrthmische ist das Eurythmeum in Stuttgart entsprungen. Der Gedanke eines eurvthmischen Konservatoriums liegt zugrunde. Eurythmie in allen ihren Verzweigungen wird gelehrt. Die Hilfsfächer, Poetik, Asthetik, Kunstgeschichtliches, Musikwissenschaftliches und so weiter werden vorgetragen. Alles das in künstlerischer Auffassung in dem Lichte, in dem Eurythmie stehen muß. Was in dieser Art in Stuttgart entstanden ist, trägt in sich viele Möglichkeiten eines weiteren Ausbaues.
Alle solchen Bestrebungen kämpfen bei uns mit den schwersten äußern Existenzmöglichkeiten. Denn wir sind eine recht arme Gesellschaft. Man hat oft die Empfindung, was alles könnte noch getan werden, wenn wir nach dieser Richtung nicht so hart zu kämpfen hätten?
Wir hatten vor kurzem eine Konferenz zur Besprechung des Lehr-planes des Stuttgarter Eurythmeums. Künstlerische Möglichkeiten von weittragender Bedeutung traten den Teilnehmern an dieser Konferenz vor die Seele.
Es ist tiefbefriedigend, zu sehen, wie aus dem Schoße unserer Gesellschaft viele Mitglieder mit wärmster Anteilnahme sich der Förderung der eurythmischen Bestrebungen widmen. Diese Anteilnahme ist in einem erfreulichen Wachstum begriffen. Es ist dadurch in unsere Bewegung ein Zug hineingekommen, der durchaus zu ihren Lebens-bedingungen gehört. Denn die Kunst steht mitten zwischen den Offenbarungen
#SE260a-235
der Sinnenwelt und der geistigen Wirklichkeit. Anthroposophie will vor den Menschen die geistige Welt hinstellen. Kunst ist der Abglanz des Geistes in der Sinneswelt. Lebte sie auf anthroposophischem Boden nicht, so könnte dies nur von einem Mangel dieses Bodens selbst herrühren. Man hat in der letzten Zeit in anthroposophischen Kreisen dieses immer mehr eingesehen; hoffentlich reifen solche Einsichten auch weiterhin.
#TI
AÜSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN PARIS
Vor dem Vortrag in Paris, 23. Mai 1924
#TX
Das letzte Mal, als ich wenigstens zu einer gewissen Anzahl von Ihnen sprechen durfte, war es, als unser Goetheanum in Dornach noch bestand. Es bereitete mir damals eine große Befriedigung, vor einer Anzahl französischer Freunde sprechen zu dürfen. Diese Befriedigung wird wiederholt dadurch, daß ich auf Einladung unserer französischen Freunde nun auch hier über Gegenstände unserer Anthroposophie sprechen darf. Ich danke diesen Freunden für ihre so liebe Einladung, insbesondere Mademoiselle Sauerwein, und spreche auch meine Befriedigung darüber aus, daß Dr. Sauerwein, der dazumal in einer so schönen, entgegenkommenden Weise die Vorträge in Dornach übersetzt hat, auch in Paris sich bereit erklärt hat, diese Arbeit zu übernehmen. Ich bin ihm ganz besonders dafür dankbar.
In der anthroposophischen Bewegung hat sich ja einiges dadurch verändert, daß wir in einer verhältnismäßig kurzen Zeit, nachdem uns das Unglück des Brandes getroffen hat, unter großer Teilnahme der anthroposophischen Freunde die Weihnachtstagung abhalten durften, die der anthroposophischen Bewegung, wie ich glaube, doch einen neuen Impuls gegeben hat, insbesondere einen neuen Impuls in bezug auf den Inhalt des anthroposophischen Wirkens selbst. Das Neue in der anthroposophischen Bewegung besteht ja auch darinnen, daß ich selber die Präsidentschaft nun übernehmen mußte, während sie bisher von andern
#SE260a-236
ausgeübt wurde und ich mich nur als Lehrer betrachtete. Nun, meine lieben Freunde, es war ein ganz bedeutender Entschluß, auch gegenüber der geistigen Welt, den ich damals fassen mußte. Denn es war ein Wagnis. Ein Wagnis aus dem Grunde; weil mit der Übernahme der äußeren Führung ebensogut es hätte sein können, daß die Offenbarungen Von seiten geistiger Wesenheiten, auf die wir doch durchaus angewiesen sind, wenn es sich um Verbreitung der Anthroposophie handelt, daß diese Offenbarungen geistiger Wesenheiten hätten weniger werden können dadurch, daß ich mich in Anspruch nehmen ließ von der äußeren Verwaltung der Gesellschaft. Ich darf heute schon auf die außerordentlich bedeutsame Tatsache hinblicken, daß dies nicht der Fall ist, sondern daß im Gegenteil seit der Weihnachtstagung der geistige Impuls, der aus den spirituellen Welten herunterkommen muß, wenn die anthroposophische Bewegung ihren richtigen Fortgang nehmen soll, durchaus gewachsen ist, so daß unsere anthroposophische Bewegung seit unserer Weihnachtstagung immer esoterischer und esoterischer werden konnte und es weiter werden wird. Es ist damit verbunden, daß allerdings auch - ich meine von der geistigen Seite her - sehr starke gegnerische Mächte, dämonische Mächte gegen die anthroposophische Bewegung anstürmen. Aber es steht durchaus zu hoffen, daß die Kräfte des Bündnisses, das wir durch die Weihnachtstagung mit guten geistigen Mächten schließen durften, in der Zukunft imstande sein werden, alle diejenigen gegnerischen Mächte auf geistigem Gebiete, die sich doch der Menschen auf Erden bedienen, um ihre Wirkungen zu erzielen, alle diese gegnerischen Mächte aus dem Felde zu schlagen.
#TI
BERICHT ÜBER PARIS IN DORNACH
Vor dem Vortrag in Dornach, 29. Mai 1924
#TX
Eigentlich kommt der heutige Vortrag durch eine merkwürdige Schicksalsverkettung zustande. Er war für morgen bestimmt, aber in dem Telegramm, das ich sandte, ist das «vendredi» ausgeblieben, und dadurch
#SE260a-237
bezogen sich die folgenden Worte auf das «jeudi», das bloß für die Ankunft gemeint war, nicht für den ersten Vortrag. Da aber im Telegramm das «vendredi» ausgeblieben ist, so wurde das mit vollem Recht dann aus dem verstümmelten Wortlaute des Telegramms so aufgefaßt, als wenn heute der erste Vortrag wäre. Und so ist er eben auch.
Nun, meine lieben Freunde, wir kommen ja eben aus Paris zurück, und ich möchte nur kurz berichten, daß die Vortragsreihe und die ganze Zusammenkunft mit den anthroposophischen Freunden dort in einer außerordentlich befriedigenden Weise verlaufen ist.
In allererster Linie habe ich mitzuteilen, daß Mademoiselle Sauerwein in einer außerordentlich hingebungsvollen, energischen, aufopfernden Weise nicht nur an der Gestaltung der französischen anthroposophischen Gesellschaft arbeitet, sondern eben auch diese Zusammenkunft in einer solchen Weise veranstaltet hat, daß in der schönsten Weise verlaufen konnten drei Zweigvorträge, drei Mitgliedervorträge also, zwei Klassenstunden, eine Generalversammlung und ein eigentlich mehr oder weniger öffentlicher Vortrag, der nur nicht öffentlich angekündigt war, aber vor einem durchaus eben nicht anthroposophischen, eingeladenen Publikum gehalten worden ist. Und es darf wohl als eine gelungene Sache aus mehrfachen Gründen bezeichnet werden.
Erstens darf auch für die Arbeit unter den französischen Freunden mit großer Befriedigung hervorgehoben werden, daß der Zug, der durch die Weihnachtstagung in die anthroposophische Bewegung hereingekommen ist, und der diese Bewegung zu einer heute schon recht esoterischen macht, auch dort durchaus innerlich sympathisch gefühlt wird. Und es wird aus solchen Dingen doch geschlossen werden dürfen, daß, wenn immer mehr und mehr dieser esoterische Zug der anthroposophischen Bewegung zum Vorschein kommen wird, dann auch die anthroposophische Bewegung vielleicht erst in das ganz richtige Fahrwasser kommen wird. Gerade in Paris ist ja von altersher viel in Okkultismus gestrebt worden, und daher stößt man, wenn auch nicht überall, auf Verständnis für das, was aus Anthroposophie heraus zu sagen ist, so doch aber auf für das Spirituelle empfängliche Gemüter. Und das ist das zweite, was hervorzuheben ist, denn immerhin war der öffentliche Vortrag von mehr als vierhundert Personen besucht. Es ist
#SE260a-238
doch schon nicht ganz ohne Bedeutung, daß sozusagen jene Erinnerung, von der ich seit zehn Jahren immer und immer wiederum gesprochen habe, daß es möglich war, am 26. Mai des Jahres 1914 in Paris in deutscher Sprache mit Übersetzung einen Vortrag zu halten auf anthroposophischem Gebiete, daß jene Erinnerung sozusagen nun ausgelaufen ist in die andere Tatsache, daß wiederum am 26. Mai 1924, also auf den Tag hin nach zehn Jahren, ein deutscher Vortrag gehalten werden konnte, der diesmal übersetzt worden ist, wie die andern Vorträge alle, von Dr. Jules Sauerwein. Also immerhin ein Tatsachenzusammenhang, der von einer gewissen Seite her bezeugen wird, daß wenn irgend etwas zum Zusammenhalt der internationalen Empfindungen wirklich wirken kann, es doch schon die Anthroposophie Sein wird. Denn es wäre kaum möglich, ein Publikum in Paris zu einer solchen Veranstaltung auf einem andern Gebiete zusammenzubringen, ein Publikum, das immerhin mehr als vierhundert Menschen umfaßt. Die Anthroposophische Gesellschaft füllte nicht etwa den Saal, denn die Anthroposophische Gesellschaft ist in Frankreich - so erfreulich sie ist - sehr klein, so daß sie natürlich nur einen verschwindenden Teil bildete bei der Füllung des Saales bei dem öffentlichen Vortrag.
Dann konnte auch noch am letzten Tage eine medizinische Zusammenkunft stattfinden bei dem ja mit uns arbeitenden Dr. Auzimour. Und wenn wir auf alle diese Dinge zurückblicken, so ergab sich etwas außerordentlich Befriedigendes.
Nun, meine lieben Freunde, da der heutige Vortrag eigentlich mehr aus dem Karma als aus dem freien Willen kommt - auch das, was sonst an Vorträgen gehalten wird, kommt ja aus dem Karma -, aber weil der heutige Vortrag, ich möchte sagen, mehr aus dem äußeren Karma kommt, so gestatten Sie mir, daß ich zwar in Anknüpfung an dasjenige, womit ich das letzte Mal geschlossen habe, aber hereinführend in das, was im wesentlichen auch gipfelte in dem dritten Vortrage in Paris, etwas vor Ihnen vorbringe.
#SE260a-239
#TI
Nachrichtenblatt, 15. Juni 1924
An die Mitglieder!
DER BESUCH DER
ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN FRANKREICH
#TX
Vom 23. bis zum 27. Mai hatte ich Vorträge in Paris für die französischen Freunde der Anthroposophie zu halten. Fräulein Alice Sauerwein, die von mir zur Leiterin der Anthroposophischen Gesellschaft in Frankreich ernannt worden ist, hat in der hingebendsten, opferwilligsten und umsichtigsten Art diesen Besuch vorbereitet. Und dank dieser Vorbereitungen ist die Veranstaltung auch in der allerbefriedigendsten Weise verlaufen. Vom Vorstande am Goetheanum waren Frau Dr. Ita Wegman, die Schriftführerin, und Fräulein Dr. Vreede mitgekommen.
Sie begann mit einem Mitgliedervortrage am 23. Mai, den ich in der Art hielt, die durch die Weihnachtstagung am Goetheanum bedingt ist. Ich muß besonders dankbar unserem Freunde Dr. Jules Sauerwein sein, der schon während des Französischen Kurses (1922) am Goetheanum sich der Mühe unterzogen hatte, meine deutsch gehaltenen Vorträge zu übersetzen, und der auch diesmal diese Aufgabe für meine sämtlichen Pariser Vorträge übernommen hat. Es war zu bemerken, ein wie schöner Widerhall in den Herzen der Freunde sich zeigte gegenüber dem Ton, der durch die Weihnachtstagung in die Mitteilungen aus dem Geistgebiete gekommen ist. Das Ablegen aller Reserven und die ganz unmittelbare Darstellung dessen, was aus den Offenbarungen der geistigen Welt sich ergibt, kommt dem entgegen, was die Seelen von Anthroposophie erwarten. Man darf wohl ganz im allgemeinen sagen:
seit Weihnachten gelingt es, die Seelenwärme, die zur Mitteilung anthroposophischer Anschauungen eine so große Wohltat ist, wirklich in den Vortragsräumen zu haben.
Für diese Veranstaltung innerhalb der französischen Anthroposo-phischen Gesellschaft ist noch das besonders hervorzuheben, daß diese Seelenwärme durch die ausgezeichnete Übersetzungsart Dr. Sauerweins
#SE260a-240
hindurch sich voll erhielt, so daß im ganzen mir, dem Vortragenden, die schönste Stimmung aus dem Mitgliederkreise entgegenkam.
Dieser Mitgliedervortrag wurde durch zwei weitere, am 24. und 25. Mai fortgesetzt. Inhalt dieser Vorträge war die Schicksals-(Karma) Frage. Die Art, wie das Schicksal im Erdenleben des Menschen drinnen steht, wie in seinem Wirken eine ganz andere Gesetzmäßigkeit als in den Naturvorgängen sich offenbart, wurde auseinandergesetzt. Die Schicksalsbildung in dem Menschendasein zwischen Tod und neuer Geburt führt in der Schilderung dann zu den geistigen Welten, denen der Mensch angehört und die er in diesem Dasein durchwandert. Von besonderer Wichtigkeit erscheint auch die Darstellung, wie durch die Menschen selbst in ihren aufeinanderfolgenden Erdenleben die Kräfte der einen Geschiditsepoche in die andere hinübergetragen werden. Beispiele, die ich jetzt ganz rückhaltlos für dieses Gebiet gebe, scheinen mir den esoterischen Zug zu erhöhen. Das Wesen des Christus inner-halb aller dieser Tatsachenkomplexe wurde entsprechend charakterisiert.
Am 25. Mai fand die Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in Frankreich statt. Ich durfte Fräulein Sauerwein die vollste Anerkennung ihres so energischen Wirkens durch den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum zum Ausdruck bringen. Dann setzte ich die Bedeutung der Impulse der Weihnachts-tagung für das weitere Wirken der Anthroposophischen Gesellschaft auseinander und erinnerte daran, wie ich genau vor zehn Jahren in Paris einen Vortrag über Anthroposophie vor einer begrenzten Öffentlichkeit halten konnte.
Und einen ebensolchen öffentlichen Vortrag vor einem eingeladenen Publikum konnte ich auch diesmal am 26. Mai halten. Er behandelte das Thema «Wie gewinnt man Erkenntnisse der geistigen Welten?». Ich glaube, man wird sagen können, der esoterische Zug, der seit der Weihnachtstagung in der anthroposophischen Bewegung waltet, lebte auch in diesem öffentlichen Vortrag. Und auch hier konnte man bemerken, wie sich die Seelen öffnen, wenn man ohne alle Reserve von der Wahrheit der geistigen Welt spricht. Es waren über vierhundert Zuhörer da, und auch hier ergab die Notwendigkeit des Übersetzens keine Beeinträchtigung der Stimmung.
#SE260a-241
Fräulein Rihouët führte uns Besuchern vorn Goetheanum die Kinder der von ihr so hingebungs- und einsichtsvoll geleiteten Eurythmie-schule vor. Wir konnten nur unsere vollste Befriedigung über die schönen Brfolge, die Fräulein Rihouët erzielt hat, aussprechen. Es ist mir auch Herzensbedürfnis hier zu sagen, daß ich innige Freude empfinde über das Wirken Frä'ulein Rihouëts innerhalb der französischen Gesellschaft. Das von ihr redigierte, unter großen Opfern heraus-gegebene Journal «Science spirituelle» muß die besten Früchte zeitigen, denn es ist vorzüglich gestaltet und vertritt ganz energisch die anthroposophische Sache.
Es konnten auch zwei esoterische Stunden der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am 26. und 27. Mai gehalten und auch damit ganz unmittelbar im Geiste des Goetheanums gewirkt werden.
Am 27. Mai konnte ich mit meiner lieben Mitarbeiterin, Frau Dr. Ita Wegman, zusammen einen medizinischen Abend veranstalten. Dr. Auzimour, der ausgezeichnete Arzt, gab uns dazu die Möglichkeit, indem er in außerordentlich liebenswürdigem Entgegenkommen sein Heim zu diesem Abend zur Verfügung stellte und ihm befreundete Ärzte zu diesem Vortrage einlud Ich setzte die Prinzipien der Pathologie und Therapie auseinander, die von der Anthroposophie her die Medizin bereichern können. Ich machte darauf aufmerksam, wie es der Anthroposophie ganz ferne liegt, in dilettantischer oder laienhafter Art die wissenschaftliche Medizin zu unters chätzen, wie es ihr vielmehr darauf ankäme, diese voll anzuerkennen und nur zu ihr hinzuzufügen, was aus einer wirklich wissenschaftlichen Geist-Erkenntnis für das Erfassen des Erkrankungs- und Heilungsvorganges erfaßt werden könne. - Ich erwähnte, wie die alten Mysterien stets im innigen Vereine dasErringen geistiger Erkenntnisse mit dem Heilen behandelten, und daß durch die ähnliche innige Verbindung des in Ariesheim unmittelbar mit dem Goetheanum verbundenen, von Frau Dr. Wegman so sachgemäß ge-leiteten Klinisch-Therapeutischen Institutes, der Anfang zu einer Erneuerung des Mysterienwesens auch auf diesem Gebiete gemacht werden soll. Es ist aber selbstverständlich, daß nicht die seelisch-instinktive Art der alten Mysterien wieder aufleben kann, sondern eine solche, die dem voll-entwickelten, aber zum Spirituellen gehobenen
#SE260a-242
modernen Bewußtsein entspricht, angestrebt werden muß. Wir müssen Dr. Auzimour für Sein freundschaftliches Entgegenkommen und für seine Förderung unserer Sache den allerwärmsten Dank aussprechen.
#TI
EINLEITENDE WORTE ZUM LANDWIRTSCHAFTLICHEN KURSUS
Koberwitz, 7. Juni 1924
#TX
Mit tiefem Danke sehe ich auf die Worte zurück, die eben der Herr Graf Keyserlingk gesprochen hat. Denn es ist ja durchaus nicht bloß die Empfindung des Dankes derjenigen, die aus der Anthroposophie etwas entgegennehmen können, berechtigt, sondern es ist sozusagen auch wirklich der Dank der anthroposophischen Sache, der in unserer heutigen schwierigen Zeit allen Teilnehmern an anthroposophischen Interessen gezollt werden muß, ein solcher, den man tief empfinden kann. Und so möchte ich gerade aus dem Geiste anthroposophischer Gesinnung heraus in allerherzlichster Weise danken für die eben aus-gesprochenen Worte.
Es ist ja eine tiefbefriedigende Tatsache, daß es möglich ist, diesen landwirtschaftlichen Kursus gerade hier im Hause des Grafen und der Gräfin Keyserlingk abhalten zu können. Aus meinen früheren Besuchen weiß ich, welch wunderschön wirkende Atmosphäre, ich meine vor allem auch die geistig-seelische Atmosphäre, es hier in Koberwitz gibt, und wie gerade dasjenige, was hier an geistig-seelischer Atmosphäre lebt, ja die schönste Vorbedingung ist für dasjenige, was inner-halb dieses Kurses gesprochen werden soll.
Wenn der Graf darauf aufmerksam gemacht hat, daß es für den einen oder den andern - in diesem Falle waren es die Eurythmiedamen, es können ja auch andere Besucher von auswärts davon betroffen sein -vielleicht manches Unannehmliche geben kann, so muß auf der andern Seite in bezug auf das, was uns eigentlich zusammengebracht hat, doch gesagt werden: Ich glaube, wir könnten für diesen landwirtschaftlichen Kursus kaum irgendwo besser untergebracht sein als gerade inmitten
#SE260a-243
eier so ausgezeichneten und so musterhaft betriebenen Landwirtschaft. Zu allem, was auf anthroposophischem Felde zutage tritt, gehört ja das, daß man auch sozusagen in der nötigen Empfindungsumgebung drinnen stecken kann. Und das wird für die Landwirtschaft ganz sicher hier der Fall sein können.
Nun, das alles veranlaßt mich, dem Hause des Grafen Keyserlingk den allertiefgefühltesten Dank auszusprechen, dem ja gewiß auch Frau Dr. Steiner beistimmen wird dafür, daß wir diese Festes-, ich denke, es werden auch Arbeitstage sein, gerade hier werden verleben können. Ich muß ja dabei bedenken, daß, ich möchte sagen, gerade dadurch, daß wir hier in Koberwitz sind, ein schon mit der anthroposophischen Bewegung verbundener landwirtschaftlicher Geist in diesen Festes-tagen walten wird. War es doch der Graf Keyserlingk, der von Anfang den Bestrehungen, die wir, ausgehend vom «Kommenden Tag», für die Landwirtschaft in Stuttgart entwickelten, mit Rat und Tat und aufopferungsvoller Arbeit zur Seite stand, der ja seinen aus einem so gründlichen Zusammengewachsensein mit der Landwirtschaft herangezogenen Geist in dem walten ließ, was wir in bezug auf die Land-wirtschaft tun konnten. Es war schon, ich möchte sagen, aus dem Innersten unserer Bewegung dadurch etwas an Kräften waltend, die wie mit einer gewissen Selbstverständlichkeit uns hierher zogen nach Koberwitz in dem Augenblicke, wo uns der Graf hier haben wollte. Deshalb kann ich auch versichern, daß ich glauben kann, daß jeder eigentlich gerne hier nach Koberwitz für die Abhaltung dieses Kursus gegangen ist. Das begründet, daß wir, die wir gekommen sind, ebenso tief unseren Dank dafür auszusprechen haben, ihn sehr gerne aussprechen dafür, daß das Haus Keyserlingk sich bereit erklärt hat, uns mit diesen Bestrebungen in diesen Tagen aufzunehmen.
Was mich betriffl, so ist dieser Dank allerherzlichst gefühlt, und ich bitte das Haus Keyserlingk, ihn von mir ganz besonders entgegen-zunehmen. Ich weiß, was es heißt, durch längere Tage hindurch in einer solchen Weise, wie ich es fühle, daß es geschehen wird, so viele Besucher aufzunehmen, und kann, glaube ich, daher auch in diesen Dank die nötige Nuance legen, und bitte auch, diese durchaus so aufzunehmen, daß ich auch die Schwierigkeiten durchaus bedenken kann,
#SE260a-244
die der Abhaltung einer solchen Veranstaltung in einem Hause, das weit abliegt von der Stadt, entgegenstehen. Ich bin überzeugt davon, daß, wie auch jene Unannehmlichkeiten, von denen Graf Keyserlingk als in diesem Fall Vertreter selbstverständlich nicht der inneren, sondern der auswartigen Politik der hiesigen Vortragsveranstaltungen gesprochen hat, sich ausnehmen werden, unter allen Umständen jeder von uns befriedigt hinweggehen wird, was anbetrifft die Bewirtung und die Aufnahme hier.
Nun, ob Sie ebenso befriedigt hinweggehen können von dem Kursus selber, das ist natürlich durchaus die Frage, die wahrscheinlich immer diskutabler werden wird, trotzdem wir ja alles tun wollen, um uns auch in den späteren Tagen in allerlei Diskussionen über das Gesagte zu verständigen. Denn Sie müssen bedenken, es ist ja, obzwar von vielen Seiten ein langgehegter Wunsch nach einem solchen Kursus bestand, zum erstenmal, daß ich aus dem Schoß des anthroposophischen Strebens heraus einen solchen Kursus übernehme. Ein solcher Kursus erfordert gar mancherlei, denn er wird uns selber zeigen, wie die Interessen der Landwirtschaft nach allen Seiten hin mit dem größten Um-kreise des menschlichen Lebens verwachsen sind und wie eigentlich es kaum ein Gebiet des Lebens gibt, das nicht zu der Landwirtschaft gehört.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN BRESLAU
Vor dem Vortrag in Breslau, 7. Juni 1924
#TX
Die so außerordentlich lieben Worte Ihres Vorsitzenden gehen ja ganz tief in das Gemüt und in das Herz, und Sie dürfen mir es glauben, daß ich nicht nur außerordentlich dankbaren Herzens entgegennehmen will eine so liebevolle Begrüßung, sondern daß es mich auch mit tiefinnerlichster Befriedigung erfüllt, wiederum nach langen Jahren hier in der Mitte unserer im Osten wohnenden Freunde sprechen, wirken zu
#SE260a-245
können. Es ist ja noch nicht lange her, da handelte es sich bei unserer Weihnachtstagung in Dornach um einen ernsten Augenblick in der Entwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft. Und weil dieser Ort, an dem ich nunmehr unter ihnen durch mehrere Tage hindurch sprechen darf, sozusagen doch noch zu den ersten gehört, an denen ich nach unserer denkwürdigen Weihnachtstagung am Goetheanum wirken darf, so ist die Befriedigung, von der ich hier spreche, noch eine um so größere.
Wir mußten ja in den schwierigen Jahren, die wir durchgemacht haben seit 1919, durchgehen durch eine so unsachliche Bekämpfung der anthroposophischen Bewegung, der Anthroposophischen Gesellschaft. Wir mußten ja immer wieder und wiederum hören, wie unter unseren Untaten auch sozusagen eine schlesische Untat aufgeführt wurde, von welcher der Ausgangspunkt zu übler Bekämpfung genommen worden ist! Und so mußten wir oftmals überall draußen, wo anthroposophische Freunde sind, an unsere Freunde in Schlesien denken. So war es denn oftmals ein wirklich tiefbewegender Gedanke - der an unsere schlesischen Freunde. Und da gab es immer diesem Gedanken gegenüber eines, was uns wiederum erfüllte mit einer gewissen starken Zuversicht, gerade dann erfüllte mit einer starken Zuversicht, wenn wir hierbei nicht nur der Arbeit hier im Osten gedachten, sondern überhaupt der Arbeit in der anthroposophischen Bewegung. Und das war der Gedanke an Ihren lieben verehrten Vorsitzenden, Herrn Bartsch, der so schöne, liebevolle Worte an mich gerichtet hat, der in einer so eifrigen Weise auf den ernsten Augenblick auch innerhalb der anthroposophischen Bewegung hingewiesen hat. Die Art und Weise, wie unser lieber Freund Bartsch seit vielen Jahren in so verständnis-hingebungsvoller Art für die anthroposophische Bewegung wirkt, ist wirklich vorbild lich, und er gehört tatsächlich, ich darf es mit tiefster Befriedigung sagen, zu den starken Stützen, die wir innerhalb der anthroposophischen Bewegung haben. Das macht den Gedanken an unsere schlesischen Freunde immer zu einem solchen, der auch zuversichtlich ist. Daher sind auch so liebevolle, so herzliche Worte, wie sie eben von Herrn Bartsch gesprochen worden sind, um so tiefer befriedigend.
Es darf gesagt werden, daß die mancherlei Sorgen um die anthroposophische
#SE260a-246
Bewegung nicht gerade unsachlich von unserem Freunde charakterisiert worden sind. Allerdings, er scheint gefühlt zu haben, daß man sich schon selbst väterlich alt fühlen muß innerhalb der anthroposophischen Bewegung, wenn man alles dasjenige, was an sie herangetreten ist, mit einem gewissen Gleichmut hinnehmen will. Aber dennoch, es ist so, daß das ganze Wesen der anthroposophischen Bewegung, wie es sich dargelebt hat in den letzten Jahren, dazu geführt hat, daß zweierlei Dinge kommen mußten, die zu diesem Altväterlichen, das ich an mir trage, nicht gerade gut stimmen. Das eine ist, daß tat-sächlich durch die Weihnachtstagung am Goetheanum in Dornach beabsichtigt ist, in die ganze anthroposophische Bewegung einen völlig neuen Zug hineinzubringen, sie aus den Fundamenten heraus neu zu begründen. Und das wurde bei dieser Weihnachtstagung recht eindringlich zur Geltung gebracht. Wenn man also, wie es bei mir der Fall ist, gewissermaßen frisch noch einmal anfängt, dann stimmt das wenig zu den altväterlichen Gefühlen. Auf der andern Seite ist in erfreulicher Art etwas anderes hervorgetreten, was auch wenig dazu stimmt. Das ist: Es ist aus den Gemütern unserer jüngsten Freunde, derjenigen Freunde, die das «Jung-Sein», wie es ja im Mitteilungsblatte zur «Goetheanum»-Zeitschrift zum Ausdruck gekommen ist, als ihr besonderes Charakteristikum auffassen, es ist wirklich durch diese anthroposophische Jugendbewegung ein ganz neuer Geist eingezogen in unsere Anthroposophische Gesellschaft. Und es werden schon manche unter Ihnen erfahren haben, daß der Boden dieser Jugendbewegung nicht ganz dazu stimmt, um in altväterlicher Weise an sie heranzugehen. Da muß man schon die Gabe entwickeln, sich um einige Jahrzehnte zurückzuschrauben. Nun, ich kann nicht sagen, wie mir das gelingt, aber ich will mich jedenfalls im Sinne dessen, was unser lieber Freund Bartsch gesagt hat, anstrengen, die Altväterlichkeit nun auch mit der Führung der Jugendsektion in entsprechender Weise zu verbinden. Wir wollen sehen, wie es dem alten Vater gelingen kann, nach diesen zwei Seiten hin ein Jugendliches wiederum zu entwickeln.
Aber einiges möchte ich doch am ersten Tage meines Hierseins einleitend gerade über den Sinn und über den Geist unserer Weihnachtstagung sagen. Es ist nicht zu leugnen; daß uns in den letzten Jahren
#SE260a-247
von all dem, was angestrebt worden ist aus starken Impulsen heraus - aus durchaus berechtigten Impulsen heraus, aus Impulsen, die durchaus begründen die Aussage, daß die Dinge haben geschehen müssen, daß man sie nicht hätte unterlassen können -, daß durchaus von dem, was da aus den besten Intentionen, auch aus richtigen Intentionen hervorgegangen ist, manches nicht gelungen ist! Ich brauche nicht Einzelheiten zu erwähnen, ich kann im großen ganzen sagen, daß die der Welt wirklich so notwendige Dreigliederungsbewegung als eine gelungene nicht bezeichnet werden darf. Und sie war so veranlagt, daß sie entweder einen starken Eindruck hat machen sollen, den sie nicht gemacht hat, oder daß sie überhaupt keine große Bedeutung haben konnte. Das hängt aber zusammen mit mancherlei, was unsere anthroposophische Bewegung heute noch schwierig macht. Und all diese Dinge haben dazu geführt, daß vor der Weihnachtstagung, durch die beabsichtigt wurde, in ganz bestimmter Weise einen neuen Zug in die anthroposophische Bewegung hineinzubringen, die Frage auftrat, ob es denn möglich wäre, daß ich selber nun den Vorsitz für die Anthroposophische Gesellschaft übernähme.
Dabei ist so mancherlei ins Auge zu fassen, was vielleicht heute gar nicht voll bedacht wird. Es trat mir eigentlich kurz vor meiner Abreise wiederum in aller Lebendigkeit vor das Auge. Es wurde uns nach Dornach geschickt der Korrekturabzug eines Aufsatzes über die anthroposophische Bewegung, der von einem unserer Freunde in einem größeren Sammelwerk erscheinen soll. In diesem Aufsatz, der noch vor der Weihnachtstagung geschrieben ist und von dem uns jetzt der Korrekturabzug zugeschickt worden ist, steht das Folgende: «Dr. Steiner ist überhaupt nicht der Anthroposophischen Gesellschaft beigetreten und ist bis heute noch kein Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft.» - Das war bis zur Weihnachtstagung noch durchaus richtig, denn ich hatte in der Anthroposophischen Gesellschaft keine Funktionen. Ich stand in ihr nur als Lehrer darinnen, dessen Lehren man entgegennehmen wollte, und die Verwaltung wurde ganz unabhängig von mir in der verschiedensten Weise besorgt. Nun, es trat einem da, ich möchte sagen, der so schnell zustande gekommene Anachronismus besonders stark entgegen. Seit der Weihnachtstagung bin ich nicht nur
#SE260a-248
Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern deren Vorsitzender. Also seit der Weihnachtstagung ist mancherlei geschehen.
Und damit hat sich ein anderes vollzogen. Damit, daß ich selber mich entschließen mußte, Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft zu werden, damit ist sozusagen etwas, was ich immer betont habe, rein auf den Kopf gestellt. Ich habe immer betont: Auf der einen Seite steht die anthroposophische Bewegung. Diese anthroposophische Bewegung war ja aufzufassen als die äußere Ausgestaltung dessen, was aus dem Inhalte der geistigen Anschauung hervorging, die zustande kommen konnte in der Weise, wie es Ihnen bekannt ist. Das war die anthroposophische Bewegung. Dann gab es eine Anthroposophische Gesellschaft. Die war begründet, um in ihrer Art dasjenige, was von Anthroposophie kommt, sozusagen zu verwirklichen. Man mußte unterscheiden zwischen der anthroposophischen Bewegung und der Anthroposophischen Gesellschaft. Das ist seit der Weihnachtstagung nicht mehr so. Seit der Weihnachtstagung sind anthroposophische Bewegung und Anthroposophische Gesellschaft ein und dasselbe, sind durchaus identisch geworden. So daß seit der Weihnachtstagung gesagt werden muß: Früher war die anthroposophische Lehre da, die durch die anthroposophische Bewegung gepflegt wurde. Seit der Weihnachtstagung ist die Anthroposophische Gesellschaft einfach durch das, was sie da geworden ist, selber eine anthroposophische, ja sogar esoterische Sache. Seit der Weihnachtstagung haben wir die Anthroposophische Gesellschaft so aufzufassen, daß in ihr nicht nur Anthroposophie gelehrt wird, sondern daß alles, was getan wird, Anthroposophie ist. Anthroposophisches Tun ist seit der Weihnachtstagung dasjenige, was nicht mehr zu trennen ist von der Anthroposophischen Gesellschaft.
Dazu ist der Ihnen ja bekannte, heute auch in einer Anzahl von Freunden hier vertretene esoterische Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum berufen. Dazu ist er berufen, überzuführen dasjenige, was anthroposophische Lehre ist, in anthroposophisches Tun in jeder Einzelheit. Dieser anthroposophisch-esoterische Vorstand will kein Verwaltungsvorstand sein, er will ein Initiativvorstand sein, der die Anregungen gibt in demjenigen, was als Wesen durch die Anthroposophische Gesellschaft fließen soll. Selbstverständlich kann
#SE260a-249
das nur langsam und allmählich geschehen. Aber ein gutes Stück ist dennoch schon geschehen durch das unserer Zeitschrift beigegebene Mitteilungsblatt mit seinen Leitsätzen und Betrachtungen, und indem versucht worden ist, solche positiven Initiativanregungen zu geben, wie sie von dem esoterischen Vorstande ausgehen sollen.
Selbstverständlich ist das Allerwenigste bisher geschehen. Aber man muß auch da den fünften Schritt nicht vor dem dritten machen wollen, sondern man muß durchaus sich klar sein, daß alles nur langsam und allmählich gehen kann. Wie also die Anregungen, die notwendig sind, auch immer mehr und mehr zu geben sind, dazu ist vor allen Dingen das erforderlich, daß verstanden werde, wie unsere Verwaltung sich unterscheiden muß von jeglicher andern Verwaltung in der Welt. Sie muß so fern wie möglich jeder Bürokratie sein, muß rein auf das Menschliche aufgebaut sein. Die menschlichen Verhältnisse, welche überall von Seele zu Seele sich schlingen sollen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, die sollen dasjenige sein, was eigentlich die Anthroposophische Gesellschaft bewegt, trägt als das menschliche Sein.
Dieses Menschliche kann sich in Kleinigkeiten und in Großigkeiten zum Ausdruck bringen. Ich möchte nur eine winzige Kleinigkeit nennen, damit Sie genau sehen, was ich meine. Wir hatten, um markante Züge zu bezeichnen, die für die anthroposophische Tagung in den Weihnachtstagen in Betracht kamen, alle Mitgliedszertifikate zu erneuern. Da hatten wir ja zwölftausend solcher Zertifikate zu unterschreiben. Ich brauchte früher kein einziges zu unterschreiben. Nun haben mir manche geraten, für diese zwölftausend Unterschriften einen Stempel zu benutzen. Ich konnte doch nicht eingehen auf diesen Vorschlag aus dem einfachen Grunde, weil es ein Untersdiied ist in bezug auf eine wirklichkeitsgemäße Weltanschauung, ob jedes Mitgliedszertifikat mit dem Namen jedes Mitglieds einmal vor mir gelegen hat, ich den Namen gesehen, mit den Augen darauf geruht habe und meinen Namen mit mein er eigenen Feder daruntergesetzt habe. Es ist die winzigste persönliche Beziehung, aber es ist eine persönliche Beziehung. Und diese persönlichen Beziehungen, die müssen immer mehr und mehr von Seele zu Seele gepflogen werden. Man muß verstehen, was damit gemeint ist, daß es uns nicht darauf ankommt, diese oder
#SE260a-250
jene Botschaft in die Welt zu schicken und dieses oder jenes Mitglied zu erreichen, Sondern daß es uns darauf ankommen würde, durchaus da: Allermenschlichste zu betonen. Nun wird das natürlich eine Zeitlang dauern. Durchgreifend verstanden werden muß dieser neue Zug, der in der Weihnachtstagung in die Anthroposophische Gesellschaft hineingekommen ist. Aber es darf schon bemerkt werden, daß ja auch ein allmählich immer mehr und mehr ins Esoterische hineingehender Geist durch das geistige Leben gehen wird, welches durch die Anthroposophische Gesellschaft fließen soll. Und vielleicht wird es mir gerade während dieser Tagung, an der ich unter Ihnen sein darf, gelingen, Ihnen ein wenig die Überzeugung beizubringen, daß dieser neue Zug da ist.
Ich spreche diese Einleitungsworte aus dem Grunde, weil wirklich das Gelingen dessen, was nun gelingen soll, abhängt davon, daß in weitesten Kreisen unserer Anthroposophen ein Verständnis geweckt werde für dasjenige, was durch die Weihnachtstagung gewollt wurde. Es hängt doch alles davon ab, welche Auffassung von dem, was gewollt wird, im Herzen unserer Freunde ist. Ich hin auch davon wieder überzeugt, daß durch die ausgezeichnete Führung, die gerade hier in Schlesien, wie ich schon erwähnt habe, vorhanden ist, dieser Geist gerade hier sehr bald in der richtigen Weise unter unseren Freunden leben werde.
Lassen Sie mich nach diesen begrüßenden Worten mit einer Art von Einleitung beginnen, mit einer Einleitung, welche den Grundton dessen abgeben soll, was den Inhalt dieser unserer Mitgliederversammlungen bilden soll.
#SE260a-251
#TI
JUGENDANSPRACHE UND FRAGENBEANTWORTUNG
WÄHREND DER BRESLAU-KOBERWITZER TAGUNG
UBER WESEN UND ZIEL DER JUGENDBEWEGUNG
Breslau, 9. Juni1924
#TX
Aus der Begrüßungsansprache des Versammlungsleiters: Dank an Herrn Dr. Steiner, Frau Dr. Steiner und die übrigen Vorstandsmitglieder. Wir möchten versuchen, im Bewußtsein zu haben, welch ungeheure ßedeutung es hat, daß Herr Dr. Steiner, der Weltaufgaben zu erfüllen hat, in unserem Kreise erscheint. Dieses wird uns die nötige Ehrfurcht geben, das anzuhören, was er zu uns zu sprechen hat. Wir wollen ihn begrüßen als einen, der jugendlich zu sein versteht, jugendlicher, als wir selbst sein können. Was wir Herrn Dr. Steiner entgegenbringen, ist lediglich ein Suchen, und mehr kann man von uns nicht erwarten. Wir sind nicht nur Akademiker, sondern auch Kaufleute, Beamte, und zumeist nicht Mitglieder der Anthroposophischen Gesell-schaften.
Eine Teilnehmerin: Wenn wir Blumen, wenn wir Steine, wenn wir Sterne anschauen, wenn wir die Welt anschauen, werden wir in dem Welt-Anschauen vorzeitig alt. Wir finden nicht die Art der Welt-anschauung, die uns jugendlich sein läßt. Daher lassen viele das Welt-Anschauen und versuchen nur, in sich die Jugendlichkeit zu erleben. Um richtig in der Welt zu stehen, suchen wir nach einer Weltanschauung, die uns jugendlich sein läßt, und in diesem Suchen wollen wir vor Herrn Dr. Steiner hintreten.
Rudolf Steiner: Ich danke Ihnen herzlich für die liebevollen Begrüßungsworte, die ausgesprochen worden sind, und darf wohl sagen, daß ich Sie in ebenso herzlicher Weise begrüße, weil seit vielen Jahren vor meiner Seele gerade das als etwas außerordentlich Wichtiges und Bedeutungsvolles für die Gegenwart steht, was in Ihren Herzen, Ihren Seelen, Ihren Gemütern vorgeht. Daß man die Jugendbewegung von heute, wenn man unbefangen in der Welt drinnensteht, in höchstem Maße ernst nimmt, davon können Sie durchaus überzeugt sein. Wenn
#SE260a-252
es auch so aussieht für Sie, wenn Sie herumschauen, nicht unter Ihren Altersgenossen, sondern unter den älteren Menschen der Gegenwart, als ob man die Jugendbewegung nicht ernst nimmt, sie wird ganz gewiß von derjenigen Seite ernst genommen, die heute geistigen Bestrebungen nachgeht
Es sind jetzt schon mehrere Jahre verflossen, seit ein kleiner Kreis jugendlicher Menschen hereingekommen ist in die Anthroposophische Gesellschaft und nicht bloß als Zuhörer teilnehmen wollte an dem, was die Anthroposophische Gesellschaft gibt, sondern auftrat mit denjeni-gen Gedanken, Empfindungen und Gefühlen, die der heutige junge Mensch eben in seinem Jung-Sein zusammenfaßt. Und gewissermaßen das tat eigentlich jener kleine Kreis, der sich vor Jahren in Stuttgart einfand und an die anthroposophische Bewegung die Frage stellte: Wie könnt Ihr uns einen Platz innerhalb dieser anthroposophischen Bewegung geben? Ich glaube, daß von meiner Seite aus diese damalige Frage wirklich verstanden worden ist. Es ist ja nicht immer leicht, und dar-über werden wir uns vielleicht heute oder in diesen Tagen überhaupt unterhalten können, es ist nicht immer leicht, die Frage zu verstehen, die der wirklich suchende Mensch heute an die Zeit richtet, und der junge Mensch hat schon eine Anzahl von Fragen mit vollem Rechte, die nicht mit voller Klarheit gestellt werden können.
Sehen Sie, damals, als zum ersten Male Jugendbewegung und anthroposophische Bewegung sich berührten, da kam es mir wirklich vor, wie wenn die beiden durch eine Art von Schicksal, Karma, geradezu zusammengeführt würden, und ich muß eigentlich bis heute daran festhalten, daß es so ist, daß Jugendbewegung und anthroposophische Bewegung wirklich durch ein Inneres Schicksal aufeinander hingewiesen werden. Wenn ich das zu Hilfe nehme, was ich selber durch viele Jahrzehnte erlebt habe im Streben nach einer Gemeinschaft von Menschen, die nach dem Geiste suchen wollen, und wenn ich das zusammenhalte mit demjenigen, was etwa seit der Wende des Jahrhunderts als Jugend-bewegung aufgetreten ist, so muß ich sagen, dasjenige, was ganz wenige fühlten vor vierzig Jahren schon, und was damals, weil es eben ganz wenige fühlten, kaum bemerkt worden ist, das ist heute gefühlt innerhalb der immer allgemeiner werdenden Jugendbewegung. Es ist in den
#SE260a-253
eben gesprochenen Begrüßungsworten ganz schön zum Ausdruck gekommen, wie schwer es dem jungen Menschen heute eigentlich wird, zu leben.
Wenn es auch zu allen Zeiten eine Art Jugendbewegung gegeben hat, war es immerhin zu andern Zeiten anders, als es in unserer Zeit ist. Ältere Menschen, wenn man mit ihnen über die Jugendbewegung spricht, antworten einem heute sogar sehr häufig damit, daß sie sagen:
Ach Gott, die Jugend hat eben immer anders gefühlt als das Alter, hat immer etwas anderes gewollt. Das hat sich dann abgeschliffen, hat sich ausgeglichen.. In der Jugendbewegung von heute braucht nian auch nichts anderes zu sehen als das, was die jüngere Generation gegenüber den älteren Generationen in jeder Zeit gewollt hat. - Ich wenigstens habe diese Antwort auf die brennende Frage der heutigen Jugendbewegung von sehr vielen Seiten gehört. Und dennoch, diese Antwort ist schon ganz falsch, diese Antwort ist schon ganz unrichtig. Und gerade darin liegt eine ungeheure Schwierigkeit. Es war zu allen Zeiten bei jüngeren Leuten, selbst wenn sie ganz radikal in einer Jugendbewegung aufgetreten sind, immer doch etwas von dem, was man so nennen kann: Es wurde das, was das Alter ringsherum gegründet hat an Institutionen, an allerlei Einrichtungen, bis zu einem gewissen Grade doch von den jungen Leuten anerkannt und konnte anerkannt werden. Die jungen Leute konnten ein Ideal darin erblicken, in das Alte nach und nach hineinzuwachsen. Heute ist es nicht mehr so. Ob er Akademiker ist oder nicht, darauf kommt es nicht mehr an, sondern darauf, daß der junge Mensch, wenn er überhaupt leben will, in die Einrichtungen ja hineinwachsen muß, die die Alten zustande gebracht haben, und daß die jungen Menschen sich darin durchaus fremd fühlen, daß der junge Mensch das, was ihm da entgegenkommt, wie eine Art von Tod des Menschen empfindet, ja, daß er innerhalb dieser Einrichtungen die ganze Art, wie sich die älteren Menschen innerhalb dieser Einrichtungen benehmen und verhalten, als etwas Maskenhaftes fühlt. Der junge Mensch fühlt seine eigenen inneren Menschenformen, die findet er lebendig, und das, was um ihn herum ist, findet er wie lauter Maskenantlitze. Das ist das, was den Menschen heute, wenn er jung ist, zur Verzweiflung bringen kann, daß er unter den Älteren nicht
#SE260a-254
Menschen, sondern zumeist Masken findet. Es ist wirklich so, daß ein em die Menschen entgegentreten wie Abdrücke, Siegelabdrücke irgend-welcher Menschenklassen, irgendwelcher Berufe oder selbst irgend-welcher Ideale, daß sie einem aber nicht entgegentreten als innerlidi lebendige, volle Menschen.
Nun sehen Sie, da möchte ich sagen, wenn es vielleicht auch etwas abstrakt aussieht, allein es lebt im Gefühl gar sehr, wir stehen heute eben sehr stark an einem Wendepunkt der Zeiten, wie die Menschheit wenigstens in historischen Zeiten und auch zu einem großen Teil in vorhistorischen Zeiten nie gestanden hat. Ich liebe es gar nicht, immer von Übergangszeiten zu sprechen. Übergangszeiten sind ja alle von vorher zu nachher. Es handelt sich nur darum, was übergeht. Aber in unserer Zeit ist es schon so, daß die Menschheit an einem Wendepunkte steht, wie sie vor einem gleichen in historischer und vorhistorischer Zeit nie gestanden hat. Das hängt damit zusammen, daß in den Untergründen der menschlichen Seele, weniger sogar irn Bewußtsein als in den Untergründen der menschlichen Seele, schon bedeutsame Dinge vorgehen, welche eigentlich Vorgänge der geistigen Welt sind, die nicht bloß auf die physische Welt sich beschränken. Man spricht davon, daß mit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert das sogenannte finstere Zeitalter abgelaufen ist, und daß ein neues, lichtvolles Zeitalter im Beginn ist. Ganz gewiß, wer in die geistige Welt hineinschauen kann, der weiß, daß es so ist. Daß jetzt nicht viel Licht zum Vorschein kommt, spricht nicht dagegen. Die Menschen sind an die alte Finsternis gewöhnt, und gerade so wie eine Kugel, der man einen Stoß gegeben hat, fortrollt, so rollt das eine Zeitlang fort, rollt durch Trägheit fort. Unsere Zivilisation ist heute durchaus eine solche, die in Trägheit fort-rollt, und wenn wir hinschauen auf das, was um uns herum in Trägheit rollt, dann müssen wir sagen: Eines ist schon da, was das, was um uns ist, gemeinschaftlich hat. Man will heute alles, was überhaupt vorhanden ist - es ist schwer, ein lebendiges Wort zu finden, weil die Dinge tot sind -, man will alles bestätigt haben. Es ist eigentlich alles nur berechtigt für das, was schließlich als Zivilisation sich ergeben hat, was bestätigt ist. Bestätigt muß jede wissenschaftliche Wahrheit sein, bestätigt muß alles das sein, was irgendein Mensch behauptete, bestätigt muß
#SE260a-255
aber der Mensch selber sein. Wenn er in irgendeinen Beruf eintritt, muß er irgendwie bestätigt werden, von außen her muß der Mensch bestätigt werden. Wenn man im wissenschaftlichen Leben drinnenlebt, so nennt man das: es muß bewiesen werden. Was nicht bewiesen ist, gilt nicht, das kann man nicht verstehen.
Nun, ich könnte noch viel reden über dieses Bestätigtwerden, über dieses Bewiesen werden. Es tritt einem ja mandimal in grotesker Weise entgegen. Sehen Sie, ich war auch einmal jung, nicht mehr ganz jung, da habe ich - ich will das kleine Erlebnis erzählen, weil es nicht ganz ohne Zusammenhang steht mit dem, was ich sagen will - eine Zeitung redigiert und hatte einen Prozeß, bei dem es sich um eine Kleinigkeit handelte. Es handelte sich nicht um vieles. Ich bin selber hingegangen und habe in der ersten Instanz gewonnen. Der Prozessor war nicht zufrieden, er hat an die zweite Instanz appelliert. Ich ging wieder hin, da kam der gegnerische Advokat und sagte: Ja, Sie brauchen wir gar nicht, wir brauchen nur Ihren Rechtsanwalt, wo ist denn der? - Da sagte ich, ich habe gar keinen mitgebracht, ich habe gedacht, das geht mich an. Da half nichts. Ich mußte mit aller Schlauheit, die man aufwenden konnte, es dahin bringen, daß der Prozeß vertagt wurde und mir bedeutet wurde, daß ich das nächstemal da nichts zu suchen hätte, daß ich einen Rechtsanwalt zu schicken hätte, denn in der zweiten Instanz sei das nicht üblich, daß ein Mensch seine Sachen selbst vertritt. Ich ging erheitert weg. Die Sache kam mir aus dem Gedächtnis, und sie fiel mir gerade an dem Tag ein, wo am nächsten Tag der Prozeß sein sollte. Ich ging in die Stadt und dachte, ich kann mir das doch morgen nicht mehr sagen lassen, daß ich unnötig bin. Da ging ich dann die Straße entlang, traf eine Tafel von einem Rechtsanwalt und ging hinauf. Ich kannte ihn gar nicht, wußte nichts von ihm. Der sagte: Wer hat mich denn Ihnen empfohlen? - Ich sagte: Gar niemand. - Ich dachte, ein anderer wird es auch nicht besser machen, und nahm den nächsten, der mir entgegentrat. - Da sagte er: Schreiben Sie mir auf einen Zettel auf, was ich morgen sagen soll. - Ich schrieb es ihm auf und blieb, weil es so Usus ist, eben weg. Nach einigen Tagen schrieb er mir, daß der Prozeß gewonnen ist. - Nun sehen Sie, so könnte ich aus meinem eigenen Leben tatsächlich Hunderte von Sachen erzählen. Es
#SE260a-256
handelt sich überall gar nicht darum, daß man irgendwo als Mensch dabei ist, sondern daß die Dinge laufen, wie sie von Menschen einge-richtet sind. Das fühlt der junge Mensch. Er will nicht, daß alles bestätigt wird, er will etwas anderes. Er will an die Stelle der Bestätigung, des Beweises das Erleben setzen. Dieses Wort «Erleben» verstehen die alten Menschen ganz und gar nicht. Es steht nicht in ihrem Konversationslexikon darinnen. Sehen Sie, welch ein Greuel ist das Wort «Erleben»! Weil Sie sprechen von geistigem Erleben, ist es ein Greuel für sehr viele Leute. Und das ist, was einem beim Übergang vom finsteren Zeitalter ins lichte Zeitalter entgegentritt. Es ist eine radikale Wende einer Zeit da.
Nun ist es auch wiederum natürlich, daß ja dieser Übergang in zwei Strömungen sozusagen aufgetreten ist. Deshalb sind in einer gewissen Weise anthroposophische Bewegung und Jugendbewegung schicksals-mäßig schon miteinander verbunden. Denn die anthroposophische Bewegung vereinigt die Leute jeglichen Standes, Berufes und Alters, die an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert gefühlt haben, daß der Mensch sich in einer ganz andern Weise in das gesamte Weltall hineinstellen muß. Er muß nicht nur etwas bestätigt bekommen, bewiesen bekommen, er muß etwas erleben können. Und so erschien es mir wirklich ganz karmisch, ganz schicksalsgemäß, daß die beiden Bewegungen zusammengeführt wurden. Und das hat ja dann dazu geführt, daß wirklich eine Art Jugendbewegung, eine Art anthroposophische Jugendbewegung innerhalb der anthroposophischen Bewegung entstanden ist, und daß dieses zuletzt dazu geführt hat, daß, als die anthroposophische Bewegung auf unserer Weihnachtstagung am Goetheanum neu begründet wurde, wir bald darauf die Einrichtung einer Jugendsektion folgen ließen, wo nun tatsächlich die Interessen, die heute in der ehrlichsten, aufrichtigsten Weise durch die Gemüter der jungen Menschen gehen, gepflegt werden sollen.
Es war, ich möchte sagen, ein ungeheuer erfreulicher Vorstoß, der da in den ersten Monaten des Jahres in bezug auf unsere anthroposophische Jugendbewegung gemacht worden ist. Daß es jetzt etwas stagniert, hat seine Gründe. Das liegt in der Schwierigkeit der Jugendbewegung. Sehen Sie, die Schwierigkeiten liegen darinnen, daß aus dem Chaos,
#SE260a-257
namentlich aus dem geistigen Chaos, das in der Gegenwart besteht, es schwer ist, irgend etwas herauszugestalten. Heute etwas zu gestalten, ist eben viel schwieriger, als es jemals gewesen ist. Deshalb ist es schon so - es liegt mir wirklich ganz ferne zu renommieren, diejenigen, die mich kennen, werden das wissen -, aber es ist so, daß einem heute die merkwürdigsten Dinge begegnen. Ich mußte, als der außerordentlich freundliche, liebenswürdige - verzeihen Sie, daß ich noch einmal darauf zurückkomme - Ausspruch des Herrn Rektor Bartsch gestern an meine Ohren drang, der da sagte, daß ich, wenn ich hier zur Anthroposophischen Gesellschaft komme, wie der Vater empfunden werde - ich mußte ja sagen, es ist schon etwas daran. Aber da werde ich als der Vater angesprochen. Väter sind alt, die können nicht mehr ganz jung sein. In Dornach hatte ich gerade, als wir mit der Jugendsektion anfingen, die Anregung gegeben, es sollten sich die jungen Leute von sich aus klipp und klar aussprechen. Da traten eine Anzahl junger Leute auf und sprachen sich sehr schön und ehrlich aus. Da sprach ich mich auch aus. Nachher, als die ganze Sache zu Ende war, sagte mir jemand, der mich sonst ganz gut kennt, nachdem er sich das auch angehört hatte: Sie sind dennoch der Jüngste unter den Jungen gewesen. - So etwas kann einem heute passieren: da wird man als der alte Vater angeredet, da als der Jüngste unter den Jungen. Da können doch die Begriffe nicht mehr ganz fest stehen. Also wissen Sie, wenn man so die Sprossen hinauf- und hinunterklettert, bald als das Väterchen, bald als der Jüngste unter den Jungen, hat man gerade Gelegenheit, in das hineinzuschauen, was alles die Gemüter bewegt.
Nun, ich sagte, die Jugendsektion sei in eine Stagnation hineinge-kommen. Sie wird schon wieder herauskommen. Sie ist aus dem Grunde hineingekommen, weil es zunächst wirklich dem jugendlichen Gemüte außerordentlich schwer wird, sich in das auch hineinzudenken, was es ganz klar fühlt. Sehen Sie, unsere Zivilisation hat mit dem Geist den Menschen verloren! Und wenn ich jetzt mehr von den Hintergründen des Daseins spreche, so sehe ich doch, daß junge Menschen, die erst vor kurzem aus der geistigen Welt zum physischen Dasein heruntergestie-gen sind, eben mit ganz andern Forderungen an das Leben herunter-steigen als die, die früher heruntergestiegen sind. Warum ist das so?
#SE260a-258
Sie brauchen mir das ja nicht zu glauben. Aber mir ist es eine Erkenntnis, nidit bloß ein Glaube. Man macht, bevor man zum physischen Erdendasein heruntersteigt, in der geistigen Welt allerlei durch, was inhaltsvoller, gewaltiger ist als das, was man auf der Erde durchzu-machen hat. Damit soll das Erdenleben nicht unterschätzt werden. Die Freiheit könnte sich nie entwickeln ohne das Erdenleben. Aber großartiger ist das Leben zwischen Tod und Geburt. Die Seelen, die heruntergestiegen sind, das sind die Seelen, die in Ihnen sind, meine lieben Freunde. Die waren wirklich ansichtig einer hinter dem physischen Dasein verlaufenden ungeheuer bedeutungsvollen geistigen Bewegung in überirdischen Regionen, derjenigen Bewegung, die ich innerhalb unserer Anthroposophischen Gesellschaft die Michael-Bewegung nenne. Es ist so. Ob es der heutige materialistische Mensch glauben will oder nicht, es ist so! Und die führende Macht für heute, für unsere gegenwärtige Zeit - man könnte sie ja auch anders nennen, ich nenne sie die Michael-Macht - strebt eigentlich innerhalb der geistigen Führung der Erde und der Menschheit nach einem Neugestalten alles Seelenhaften auf der Erde. Die Menschen, die im 19. Jahrhundert so gescheit geworden sind, ahnen ja gar nicht, daß von der geistigen Welt aus die Seelenverfassung aufgegeben ist, die gerade als die aufgeklärteste im 19. Jahrhundert sich herausgebildet hat, daß der ein Ende gesetzt ist, daß eine Michael-Gemeinschaft von Wesen, die niemals auf die Erde kommen, aber die Menschheit leiten, danach strebt, eine neue Seelenverfassung in die Menschheit hineinzubringen. Der Tod der alten Zivilisation ist eben einmal gekommen.
Ich habe es in der Zeit, in der die Dreigliederungsbewegung war, die eben an dem Tode der alten Zivilisation gescheitert ist, öfters gesagt:
Wir haben heute keine Dreigliederung im öffentlichen Leben nach Geist, nach Jurisprudenz und so weiter und nach Wirtschaft, sondern wir haben eine Dreigliederung nach Phrase, Konvention und Routine. Phrase ist das, was als das geistige Leben auftritt, und Routine - nicht Menschenwohlwollen, Menschenliebe, wie sie herrschen soll im Wirtschaftsleben -, Routine ist das, was das Wirtschaftsleben beherrscht.
Diese Seelenverfassung, in der die Menschen darinnenstecken, diese Seelenverfassung soll durch eine andere abgelöst werden, die wieder
#SE260a-259
aus dem Menschen selber heraufkomtnt, die im Menschenwesen erlebt ist. Das ist das Streben von geistigen Wesenheiten, die, ich möchte sagen, durch die Zeichen der Zeit erkennbar sind und die Führung unseres Zeitalters übernommen haben. Die Seelen, die in Ihren Leibern auf die Erde heruntergezogen sind, die haben diese Michael-Bewegung gesehen und sind unter dem Eindruck der Michael-Bewegung herunter-gekommen. Und hier lebten sie sich ein in eine Menschheit, die eigentlich den Menschen ausschließt, den Menschen zur Maske macht. Und so ist eigentlich die Jugendbewegung eine wunderbare Erinnerung an das vorirdische Erleben, an wichtigste Eindrücke dieses vorirdischen Lebens. Und hat man diese unbestimmten, unterbewußten Erinnerungen an das vorirdische Leben, diesen Anblick des Strebens nach einer Erneuerung der menschlichen Seelenverfassung - man findet nichts davon auf der Erde. Das ist, was eigentlich heute in jugendlichen Gemütern vorgeht.
Die anthroposophische Bewegung ist dasjenige, was sich aus der Michael-Bewegung offenbart; sie hat das, was da gewollt wird, unter die Menschen zu bringen. Die anthroposophische Bewegung möchte hier auf derErde von der Erde aus hinaufschauen zu der Michael-Bewegung. Die Jugend bringt sich die Erinnerung aus dem vorirdischen Dasein mit. Das führt schicksalsmäßig zusammen. So erschien mir alles das, was sich im Zusammenhang der Jugendbewegung mit der anthroposophischen Bewegung abgespielt hat, wirklich wie ganz innerlich, nicht bloß durch irdische Verhältnisse, sondern durch geistige Verhältnisse, insofern diese geistigen Verhältnisse zum Menschen gehören, gegeben zu sein. Aus diesen Untergründen heraus empfinde ich gerade diese Jugendbewegung als die, welche unendlich viele Hoffnungen erwecken kann für die Zukunft dessen, was man im richtigen Sinne als Anthroposophisches empfinden kann.
Es tritt einem natürlich immer wieder das entgegen, was dadurch, daß sowohl anthroposophische Bewegung wie Jugendbewegung Anfänge sind, eigentlich auftreten muß. Wir haben ja die Freie Anthroposophische Gesellschaft neben der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland begründen sehen, und diese Freie Anthroposophische Gesellschaft hatte, da das auch sein muß, einen Vorstand sich erkoren
#SE260a-260
oder gewählt. Ich glaube, es waren sieben Mitglieder im Vorstand es sagt jemand, es seien neun - ach, gar neun. Nun, es waren neun, aber es ist einer nach dem andern bis auE drei, die zuletzt übriggeblieben sind, so hinauskomplimentiert worden. Alles ganz verständlich, ganz richtig verständlich. Die Freie Anthroposophische Gesellschaft wollte im wesentlichen das Jugenderlebnis erfassen. Nun kam es zur Diskussion über das Jugenderlebnis. Da bestritt man eben einem nach dem andern, die da im Vorstand waren, daß er das rechte Jugenderlebnis haben könnte. Es blieben drei zurück, die diskutierten selbstverständlich untereinander, ob alle das Jugenderlebnis hätten. Auch da tritt etwas ganz Merkwürdiges auf, schicksalsmäßig Hindeutendes tritt zwischen der Jugendbewegung und der anthroposophischen Bewegung zutage. Es tritt spaßhaft auf, ist aber sehr ernsthaft. Denn wenn man über die großen Schicksalsfragen nachforscht, kommt man auf sehr bedeutende Dinge, und da zeigt sich oft symptomatisch die Größe des Schicksals. Als wir die Anthroposophische Gesellschaft begründet hatten, hatten wir auch Vorstandsmitglieder, die zankten sich furchtbar. Und mir war es klar, daß dann einige allein dastehen werden, wenn sie die andern hinauskomplimentieren würden, aber daß es damit nicht zu Ende kommen würde, sondern daß dann die linke Seite mit der rechten in Streit kommen würde, die linke Seite eines Menschen mit der rechten Seite eines Menschen, ob die rechte oder die linke das Jugenderlebnis wirklich habe. Das schaut wie Ironie aus, ist es aber nicht. Aber es weist nur darauf hin, daß das, was heute Jugenderlebnis genannt werden muß, tief unten in der Seele liegt, und es ist das Bedeutsame in dem Jugenderlebnis, daß es nicht unbedingt in klare Worte gefaßt werden kann. Klare Worte sind in der Zeit der Gescheitheit so viele gesprochen worden. Es kommt darauf an, daß wir eben zu Erlebnissen kommen. Aber da sollte es dann auch schon so sein, daß, ich möchte sagen, das auch auftritt, was notwendig zu diesen Nicht-zu-klaren-Formen-und so-weiter-Kommen dazugehört. Der Anspruch auf das Recht, im Unbestimmten zu verharren, ist eben vorhanden. Ein anderes muß hinzukommen: sich wirklich nicht unter dem Eindruck der Unklarheit auseinanderzutrennen, sondern zusammenzugehen und sich zu äußern.
Insoweit Sie, meine jungen Freunde, hier zusammensitzen, möchte
#SE260a-261
idl eigentlich vor allem den Wunsch aussprechen, daß Sie alle, was Sie auch fühlen, denken und empfinden mögen, mit eisernem Willen zu-sammenhalten, richtig zusammenhalten. Das brauchen wir vor allen Dingen, wenn wir in den großen Lebensfragen heute etwas erreichen wollen. Da können wir gar nicht lmmer darauf hinschauen, ob der eine ein bißchen eine andere Meinung hat als man selber. Es handelt sich wirklich darum, daß man sich zusammenfindet auch in der größten Differenz der Gefühle und Empfindungen. Das wird vielleicht später die schönste Errungenschaft sein, daß man in der Jugend trotz der Differenz in den Empfindungen zusammenzuhalten wußte. Es ist ja heute für den jungen Menschen wirklich so, daß er vor allen Dingen vermißt, den Menschen zu finden. Er fand unter dem, wo er hinein-gesteckt wurde, eben nicht den Menschen, weil der Mensch erstorben ist. Masken sind da, nicht Menschen. Überall Masken! Nun trat natürlich das hervor, was hervortreten mußte. Man suchte den Menschen! Und das ist etwas ungeheuer Ergreifendes. Denn all die verschiedenen Pfadfinderbewegungen, Wandervogelbewegungen und so weiter sind alle ein Suchen nach dem Menschen. Man sucht sich zusammenzuschließen. Jeder sucht beim andern den Menschen. Es ist ganz begreiflich. Weil geistig der Mensch eigentlich nicht mehr da war, so sagte man sich:
Aber ich fühle doch, der Mensch muß doch da sein. Nun suchte man den Menschen, suchte ihn vor allen Dingen im Zusammenschluß. Aber das hat - das dürfen wir nicht aus den Augen verlieren - etwas ungeheuer Tragisches gehabt.
Viele junge Leute haben diese Tragik durchgemacht. Sie sind in den Zusammenschluß eingetreten und haben gemeint, den Menschen zu finden. Der Zusammenschluß erfüllte sie nicht mit irgend etwas, was sie suchten, sie wurden um so einsamer wiederum. Und diese zwei Phasen der Jugendbewegung sind deutlich hervorgetreten: die Phase der Geselligkeit, die Phase der großen Einsamkeit. Wie viele junge Leute sind heute da, die wirklich mit dem Bewußtsein, nirgends verstanden zu werden, einsam durch die Welt ziehen.
Nun ist es so, man kann im andern Menschen den Menschen nicht finden, wenn man ihn nicht auf geistige Weise zu suchen versteht, denn der Mensch ist einmal ein geistiges Wesen. Und wenn man dem Menschen
#SE260a-262
nur äußerlidi gegenübertritt, so kann man ihn nicht finden, auch wenn er da ist. Es ist ja heute jammervoll, wie die Menschen eigentlich im Leben aneinander vorbeigehen. Gewiß, man schimpft heute mit Recht auf frühere Zeiten. Es ist vieles, was barbarisch war. Aber etwas war da: Der Mensch fand den Menschen im andern Menschen. Das kann er heute nicht. Die Menschen, die heute Erwachsenen, gehen alle aneinander vorbei. Keiner kennt den andern. ES kann nicht einmal einer mit dem andern leben, weil keiner dem andern zuhört. Jeder schreit dem andern etwas in die Ohren: seine eigene Meinung, und sagt dann, das ist meine eigene Meinung, das ist mein Standpunkt. Man hat heute wirklich lauter Standpunkte. Mehr Inhalt ist nicht da, denn das, was von den Standpunkten aus geltend gemacht wird, ist gleichgültig. Diese Dinge mit dem Herzen, nicht mit dem Verstande angesehen, die vibrieren durch die Jugend. Und deshalb können Sie sicher sein, die Empfindung muß richtig sein, daß etwas von Schicksalszusammenhang zwischen Jugendbewegung und anthroposophischer Bewegung besteht, daß nicht, weil man das auch probieren wollte, nachdem man vieles probiert hatte, die jungen Leute an die Anthroposophie herankamen, sondern aus einem Schicksal kamen sie heran. Und das gibt mir die Gewißheit, daß wir werden zusammenarbeiten können. Wir werden uns zusammenfinden, und wie auch die Dinge sich entwickeln, sie müssen sich so entwickeln, daß vor allen Dingen das Menschliche im weitesten Sinne, das in der Jugend lebt, zur Geltung kommt. Denn sonst kommt etwas ganz anderes, wenn nicht wirklich Geist aus dem jugendlichen Leben hervorquillt. Dann ist allerdings das jugendliche Leben da, man wird das Jung-Sein empfinden können, aber dieses Jung-Sein, ohne von Geist erfüllt zu sein, das hört im Anfang der Zwanzigerjahre auf. Denn physiologisch können wir die Jugend ja doch nicht erhalten. Wir müssen schon alt werden, aber wir müssen aus der Jugend ins Alter etwas hineintragen können. Wir müssen das Jung-Sein auch so verstehen, daß wir mit ihm in der richtigen Weise älter werden können, und ohne vom Geist in der Seele, in der tiefsten Seele berührt zu werden, kann man die Jahre zwischen zwanzig und dreißig doch nicht überstehen, ohne in das graue Seelenelend zu verfallen. Und das ist das, was zugleich meine große Sorge ausmacht. Diese besteht
#SE260a-263
darin: Wie können wir zusammenarbeiten so, daß der Abgrund zwischen dein zwanzigsten und dein dreißigsten Jahr von unserer Jugend wirklich lebendig überschritten wird, ohne daß sie ins graue Seelenelend hineinkommt. Ich habe die Menschen schon kennengelernt, welche in der Mitte der Zwanzigerjahre ins graue Seelenelend hineingekommen sind. Denn im Grunde genommen ist das, was nach dem Ablauf des Kali Yuga in den Untergründen der jugendlichen Seele lebt, der Schrei nach dem Geistigen. Es ist schon richtig, das macht nichts aus, daß unter Ihnen viele sind, die nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft sind. Ich war bis zu Weihnachten auch nicht darinnen. Da ich Vorsitzender werden mußte, mußte ich in sie eintreten. Darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, daß man nach dem wirklich konkreten Geistigen sieht.
Mit diesen Worten wollte ich Ihnen eine kleine Einleitung geben. Ich hoffe, daß Sie vieles werden zu sagen haben. Sprechen Sie sich unver-hohlen aus, wählen Sie sich einen Vorsitzenden oder tun Sie das, wie Sie wollen. So habe ich auch die Dornacher Jugend gebeten, sich offen auszusprechen, damit wir zusammenarbeiten konnen Der Dornacher Vorstand wird sicher aufmerksam zuhoren, und wir werden das alles als gute Lehren für die Jugendsektion am Goetheanum entgegenneh men, was Sie selber zu sagen haben Wir wollen uns nicht vaterlich sondern recht «söhnlich» verhalten zu dem, was Sie zu sagen haben
Frage: Einer der jungen Freunde erzahlte davon daß sie gerne etwas Gemeinsames arbeiten wollten Dieses gemeinsame Arbeiten sei ihnen aber schwer geworden am besten seien ihnen die Weihnachtssplele gelungen. Sie würden in' mer na ch kurzer Zeit müde werden sie fühlten sich von ihrem Beruf zerrieben. - Dann wurde noch über d'ie Michaels-Idee gesprochen.
Rudolf Steiner: Wie kann man sich in den Beruf hineinstellen, wiederum mit innerlicher Freude in dem Beruf darinnen richtiger Mensch sein? Ja, diese Dinge sind ja nicht so ganz leicht zu beantworten. Aber man darf vielleicht etwas zu der Antwort beitragen, wenn man diese Dinge als Erlebnis kennt Ich habe so manche Freunde gehabt, als ich so alt war wie Sie. Die warfen dazumal auch die Frage auf, wie kann
#SE260a-264
man sich in den Beruf hineinstellen, ohne in der Freudlosigkeit zu vergehen, ohne gewissermaßen das Seelische zu ertöten. Sie haben sich dann, nachdem sie alle - dazumal nannte man es Brauseköpfe, wenn einer sich frei entwickeln wollte - lange frei gebummelt hatten, in irgendeinen Beruf hineingeschoben, aber sie verkümmerten seelisch furchtbar. Ich möchte nicht gern von mir selber reden, aber in diesem Falle muß ich es. Ich habe mich in keinen Beruf hineingestellt, denn hätte ich es getan, es wäre zu keiner anthroposophischen Bewegung gekommen. Um das Vermächtnis Goethes zu gestalten, durfte man in keinem Beruf darinnenstehen. Man muß das Leben gestalten. Deshalb darf ich aus meinem Leben heraus einiges sagen zur Beantwortung der Frage. Das Problem kann nicht gelöst werden, sich in den heutigen Beruf hineinzustellen und innere Lebensfreudigkeit zu behalten. Deshalb muß man sich aber doch in die heutigen Berufe hineinstellen, denn es gehört Resignation dazu, sich in keinen Beruf hineinzustellen. Dazu müssen &ie sich schon aufschwingen, einzusehen, daß es nicht möglich ist, sich in die heutigen Berufe hineinzustellen mit Lebensfreudigkeit oder Befriedigung. Das wird erst möglich sein, wenn das Berufsleben so beschaffen ist, daß es dem Menschen angemessen ist. Darauf muß verzichtet werden, sich in einen heutigen Beruf hineinzustellen und lebensfreudig zu sein. Sie müssen das Problem jenseits des Berufes lösen. In der wenigen Zeit, die Ihnen der Beruf übrig läßt, müssen Sie sich aber um so intensiver anstrengen. Es ist außerordentlich wohlig, und ich gebe Ihnen ganz recht in dem, was Sie gesagt haben von der andern Seite her, Weihnachtsspiele zu spielen und daran Freude zu haben, aber ich habe Leute kennengelernt, die auch zu den Weihnachts-spielen kamen, auch dabei waren und mittaten, die hatten nicht nur auf dem Körper, sondern auch auf der Seele graue Haare. Dazu braucht man nicht jung zu sein.
Die Anthroposophie hat eine Eigentümlichkeit. Wenn Sie heute ein strebsamer Mensch sind, und sich ein bißchen bilden wollen, nehmen Sie das auf, was in den Büchern steht. Was für Ansprüche macht die Literatur? Sie macht den Anspruch, daß sie eindeutig ist. Wenn Sie ein wissenschaftliches Buch nehmen, ist es egal, ob Sie achtzehn, fünfundzwanzig, siebenunddreißig oder achtzig Jahre alt sind. Die Wahrheit
#SE260a-265
soll überall auf Sie wirken. Das soll absolut wahr sein. Das ist bei der Anthroposophie nicht so. Die Anthroposophie werden Sie als achtzehnjahriger Mensch anders aufnehmen wie als sechsundzwanzigjähriger, weil sie mit Ihnen wächst. Sie schmiegt sich an den Menschen an in seiner Jugendlichkeit und auch in seinem Alter. So wie der Mensch selber alt wird, wird auch die Anthroposophie alt. Wenn man sich in dieser ganz neuen, nennen Sie es Weltauffassung, Seelenverfassung, wie Sie wollen, wenn man sich in dem ganz Neuen ergeht, Gemeinschaften gestaltet, um gerade das leben zu lassen in der Gemeinschaft, wird man schon darauf kommen: Da kann man jung sein und kann sich in richtiger Weise hineinfinden, so daß die Dinge sich auch jugendlich aus-wirken. Die alten Leute machen uns ja ohnehin den Vorwurf, daß Sie die Anthroposophie nicht verstehen. Ein gutes Zeichen für die Anthroposophie! Man soll sie nicht verstehen, man soll sie erleben. Und dieser letzte Konservatismus muß auch noch verschwinden, daß man glaubt, man kann sich in die heutigen Berufe mit Freude hineinfinden. Man muß neben dem Beruf einen Weg finden und für diesen Weg so viele Menschen finden, daß eine solche Kraft entsteht, daß die Berufe neu gestaltet werden können. Denn nur in neugestalteten Berufen kann man sich freuen.
Daß diese Kraft entsteht, dazu kann viel geschehen, wie ich es Ihnen in der Michaels-Kraft charakterisiert habe. Die muß sich aber in grandiosen Michaels-Festlichkeiten ausleben. Wir müßten es wirklich dahin bringen, daß das aufkeimende Leben der Zukunft, das von uns noch ganz embryonal gefühlt werden kann, in Festen der Hoffnung, in Festen der Erwartung entstehen kann. In Festen, wo man nur durch Hoffnung und Erwartung zusammengehalten wird, nicht durch scharf konturierte Ideale, müßte man gerade in diesen Festen dieses Bild vor sich haben des Michaels mit den Führeraugen, der weisenden Hand, mit dem geistigen Rüstzeug. Solch ein Fest muß entstehen. Warum ist es nicht entstanden? So fest ich hinweisen werde, daß dieses Fest aus dem Schoße der anthroposophischen Bewegung hervorgehen muß, so fest werde ich es auch zurückhalten, so lange nicht die Kraft da ist, es würdig zu halten. Denn spielerisch es zu machen, dazu ist die Zeit zu ernst. Wenn es in würdiger Weise gefeiert wird, wird es große Impulse
#SE260a-266
in die Menschheit hineinsenden. Daher müssen wir so lange warten, bis die Kraft dazu da ist. Nicht bloß ein vages, blaues, dunstiges Erbauen an der Michaels-Idee soll da sein, sondern das Bewußtsein, daß eine neue Seelenwelt unter den Menschen begründet werden muß. Es ist tatsächlich das Michaels-Prinzip das Führende. Dazu gehört gemeinschaftliches Erleben, um gerade auf eine Michaels-Festeszeit hinzuarbeiten, wo dann der Geist der Hoffnung in die Zukunft, der Geist der Erwartung leben kann. Das ist schon etwas, was walten kann und nach dem Beruf eine große Befriedigung gewähren kann, daß man schon mit Resignation in den Beruf hineingehen kann. Es soll Sie das nicht verstimmen, sondern anregen.
Frage: Man wird gezwungen, während des Berufes ein anderer Mensch zu sein. Am Abend macht man Übungen, klettert die Leiter hinauf und wird am Tage wieder hinuntergezogen.
Rudolf Steiner: Man kann das auch nicht hineintragen in den Beruf, weil heute viel zu wenig Menschen sind, als daß eine wirkliche Kraft entstehen kann. Das würde bewirkt werden, wenn alle die, die das -wenn auch noch so dunkel - fühlen, daß etwas anderes zu erwarten ist, nach einer Vereintheit streben würden. Wenn Sie sich heute in irgendeinem Beruf drinnen befinden, nicht wahr, das wissen Sie ja doch ganz klar, sind noch eine ganze Anzahl anderer darinnen, die das nicht so fühlen wie Sie. Diese Menschen haben auch gar nicht das Bedürfn is, den Abend irgendwie in Jugendbewegungsversammlungen zuzubringen. Sie stehen in dem Beruf so darinnen, daß sie eigentlich darinnen zufrieden sind, weil sie gar nicht das Zeug haben, unzufrieden zu sein, sie wollen gar nicht, daß der Beruf ihnen Freude macht.
Etwas Charakteristisches ist da in der zweiten Hälfte des ,9. Jahrhunderts aufgetreten. Bei wissenschaftlichen Versammlungen bin ich zur Verzweiflung getrieben worden. Solange man die paar Stunden von offiziellen Verhandlungen hatte, wurde wissenschaftlich verhandelt. Dann setzte man sich zusammen, und wer nun aus dem Beruf heraus ein Sterbenswörtchen sagte, der wurde für einen Philister angesehen. Diejenigen unter ihnen, die keine Philister sein wollten, sie waren es erst recht. Die hatten immer das Wort auf den Lippen: Nur
#SE260a-267
nicht fachsimpeln! Das zeugt dafür, daß man sich überhaupt gar nicht interessierte für das, was man berufsmäßig trieb. Das ist auf allen Gebieten so. Die Menschen sind zum großen Teil Opfer der Zeit; sie wären auch für etwas Besseres zu gewinnen. Dazu gehört eben, daß noch mehr Macht in den geistigen Bewegungen der Zeit zutage treten kann, damit nicht diejenigen, die den Beruf als niederdrückend empfinden, dastehen und erdrückt werden durch die andern, die gar nicht solche Bedürfnisse haben. Also je mehr wir darauf verzichten, schon morgen etwas zu erreichen, um so mehr wir uns bemühen, emsig zu arbeiten in dem, was sein soll zunächst eine geistige Gemeinschaft, die auf etwas hinarbeitet, desto besser wird das sein. Das ist das, was wir ins Auge fassen müssen.
Frage: Gegensatz von jung und alt. Die alten Anthroposophen wollen nur den Geist in sich hineinzerren. Die jungen wollen herausgestalten. Die andern wollen bremsen, sie äußern sich spöttisch über das, was die Jugend schafft.
Rudolf Steiner: Es brauchte der Gegensatz zwischen jungen und älteren Leuten nicht so stark hervorzutreten. Da scheint mir doch das Richtige das zu sein, was ich gesagt habe, daß man versuchen soll, weil es ja schon gegenwärtig unmöglich ist, alle über einen Leisten zu schlagen, auch gegen den andern, sagen wir, tolerant zu sein. Es ist ganz gewiß, daß man ja auf der einen Seite anstreben wird, wenn man dazu das nötige Temperament hat, mit dem, was da ist, auch nach außen in die Welt hineinzuschauen, hineinzureichen. Es wäre traurig, wenn es nicht so wäre. Aber auf der andern Seite liegt da auch ein beträchtlicher Unterschied in der Stärke vor. Es wird stärkere Elemente geben, die werden in der Lage sein, manches früher durchzuführen, als die andern sich getrauen. Aber zu etwas Durchgreifendem wird man doch nur kommen, wenn sich die verschiedenen Schattierungen zusammenfinden. Man kann sich zusammenfinden. Da könnte die anthroposophische Bewegung viel tun, sie tut es nur leider nicht.
Ich glaube schon, wenn die Jugendbewegung in die Anthroposophie hineinfinden wird, werden die verschiedenen Nuancen schon zur Geltung kommen. Was von mir abhängt, so wird niemals etwas gegen die
#SE260a-268
Jugendbewegung eingewendet werden, die von der Temperarnentslage ausgeht, die Sie vertreten haben. Ich möchte am allerwenigsten einwenden dagegen. Nur habe ich in meiner Jugend gesehen, wie stark man da gegen Widerstand anstößt und sich die Stirne blutig schlägt. Es ist gut von denen, die es wollen, aber wissen Sie, es ist schon einmal nicht jedermanns Sache, so, ich möchte sagen, von vorneherein auch wirklich sich dem unbestimmten Schicksal auszusetzen. Aber ist man in der Lage, in dieser Richtung wieder zu wirken, dann weniger dadurch, daß man die andern, die es nicht so machen, kritisiert, sondern, daß man auf das hinweist, was wirklich geschaffen worden ist. Es handelt sich durchaus darum, auf das Positive hinzuweisen, was in dieser Richtung schon geschaffen wurde. Das ist, wie ich glaube, auch unter der Jugend viel zu wenig bekannt. Es bleibt in kleinen Kreisen. Und das ist das Gefährliche, wenn es auch in der Jugend dadurch, daß es in der Jugend hervortritt, nicht in so krasser Form wie in den Sekten auftritt. Es darf nichts Sektiererisches vorkommen. Es muß das allgemein Menschliche darin walten.
Frage über die verschiedenen Altersstufen, die versammelt sind, zwischen achtzehn und fünfundzwanzig Jahren, und die verschiedenen Bildungsgrade der Betreffenden.
Rudolf Steiner: Daß das so ist, daran ist im Grunde genommen nur das schuld, daß in unserer Zivilisation der Egoismus eine so ungeheuer starke Rolle spielt. Es ist den Menschen nicht möglich, sich in den andern hineinzufühlen. Ein jeder redet und tut nur aus sich heraus. Denken Sie nur, wie das sofort anders ist, wenn man sich in den andern hineinfühlen kann. Nehmen wir an, es ist einer in den Sechzigerjahren und er redet mit einem fünfjährigen Knaben. Eigentlich finde ich, daß das fünfjährige Kind sich viel mehr in den Sechzigjährigen hineinfindet als der Sschzigjährige sich in das Kind. Das Hineinkriechen in den andern, das ist das, was man lernen muß. Das kann man durch Anthroposophie, weil sie biegsam ist. Wenn wir durch geistige Interessen zusammengehalten werden, dann verschwindet der Altersunterschied zwischen Fünfzehn und Fünfundzwanzig leicht, namentlich, wenn man eine Weile zusammen ist. Wenn man aber nur durch die egoistischen
#SE260a-269
Interessen zusammengehalten ist, dann verstehen die Fünfzehn- und die Fünfundzwanzigjährigen sich nicht. Es handelt sich um die Überwindung des Egoismus. Man muß sich in etwas Objektives hineinfinden. Egoismus ist die Signatur des Zeitalters. Wenn wir anfangen, uns rechtschaffen für den Menschen zu interessieren, so kann das nicht fort-dauern. Den Egoismus überwindet man gründlich, wenn man ihn zuerst überwindet bei etwas, was so schwer in die Seele eingeht wie die Anthroposophie. Da muß man sich auf sein Inneres beziehen. Da streift man den Egoismus ab und kann dann schon in den andern hineinfinden. Das tritt als eine Frucht auf.
Daß Sie sich nicht verstehen können, hat den Grund, weil Sie nicht den Menschen haben. Wenn einer kein Mensch ist, sondern eine Schablone, wie man heute mit fünfundzwanzig Jahren ungefähr ist, wie soll er den andern Menschen verstehen? Wenn man Akademiker ist, ist man mit fünfundzwanzig Jahren nicht ein Mensch, sondern ein Kleiderstock, an dem das Abiturientenexamen hängt und die Angst vor dem letzten Abschlußexamen. Man ist mit fünfzehn Jahren ein Kleiderstock, an dem noch die Klassenzeugnisse hängen, die von den Eltern unterschrie-ben werden müssen. Die verschiedenen Gegenstände verstehen sich nicht, aber sobald wir an den Menschen kommen, verstehen wir uns. So ist es mit den Berufen, mit den verschiedenen Berufen. Wir sind nicht mehr rechtschaffene Menschen, wir sind tatsächlich das, was ein Abklatsch der verschiedenen Verhältnisse ist. Und darin liegt das Be-deutsame der Jugendbewegung, daß sie das abgestreift hat, daß sie Menschen will. Das tritt einem doch bei diesen Menschen entgegen. Wenn sie aus dem Beruf draußen sind, wollen sie Menschen sein. Das werden sie werden, wenn sie von solchen Dingen klar durchdrungen sind.
Hermann Bahr schildert, wie es ihm ergangen ist, wenn er in eine Großstadt kam. Er wurde überall eingeladen, am Sonntag, am Montag, und nun - nicht wahr, ja, er konnte die Damen, die am Tische links saßen, und die Damen, die rechts saßen, nicht voneinander unterschei-den. Er konnte die Damen vom Sonntag nicht von den Damen vom Montag unterscheiden. Es kam ihm alles durcheinander. Ja, sehen Sie, wenn man eben in solche Gesellschaften kommt, da schauen sich die Leute so ähnlich, weil sie alle ein Abklatsch dieser Verhältnisse sind.
#SE260a-270
Frage: Soll man den Beruf fallenlassen und sich nur der Anthroposophie widmen, oder kann man den Beruf durchwärmen?
Rudolf Steiner: Das ist eine individuelle Sache. Man soll nie davor zurückschrecken, das, was man als das Richtige erkannt hat, auszu-führen. Einmal kann man es, einmal kann man es nicht. Wenn man es kann, soll man einen Riecher dafür haben und es auch tun. Natürlich, man kann auch Märtyrer werden. Nur soll das keine allgemeine Regel werden. Denn dann kommt man nicht vorwärts, oder wenigstens müßte das dann eine allgemeine Regel werden. Aber wenn bloß unter hundert ein Prozent zum Märtyrer bereit sind, dann kommt man nicht weiter, weil das die andern zunichte werden lassen. Das läßt sich nur individuell beantworten. Ich habe es in meinem Leben individuell beantwortet, indem ich nie in einen Beruf hineingegangen bin. Gewiß, Sie können sagen, dadurch weiß ich nicht, wie man einen Beruf fördern kann. So neben denen, die da waren, stand ich ja schon auch. Aber es ist schon so geworden, daß das Berufsleben etwas Erstarrtes hat, daß es außerordentlich schwierig ist, bei der Kompliziertheit der Lebenszusammen-hänge heute in irgendeinem Beruf viel auszurichten. Hat man einen Riecher, kann man es tun.
Frage: Es wurde erzählt, daß man Einzeigruppen gebildet hatte, weil man nicht jung und alt vereinen konnte. Wiederum Frage nach dem Beruf.
Rudolf Steiner: Es ist nicht viel anzufangen mit dem Beruf, wenn man Mensch sein will. Man muß resignieren und neben dem Beruf ein selbständiges Leben entfalten. Was der Herr hier sagt, kommt aus einem Mißverständnis der Anthroposophie heraus.
Der Fragesteller: Die Anthroposophie greife ich nicht an. Man muß verstehen können, was die Jugendbewegung Gutes hat.
Rudolf Steiner: Es handelt sich nur darum, daß gerade die Jugendbewegung an der Anthroposophie erfahren kann, erleben kann, wie man mit Ausschluß alles Negativen im Einklang mit dem ganzen Kosmos positiv wirken kann. Denn Anthroposophie schließt ihrem
#SE260a-271
Wesen nach, da sie von keinem angenommen wird, der sie nicht erleben kann, ein unfreies Wirken aus. Ich hin nie darauf ausgegangen, für Anthroposophie zu agitieren. Ich sagte, was ich wußte. Ich wußte, wenn ich zu tausend spreche, so werden es zunächst nur fünf sein, bei denen die Sache wirklich anfaßt. Ich machte mir nie etwas daraus, denn bei den Heringen im Meer geht es auch so. Da werden auch aus tausend Eiern, die ausgestreut werden, nur zwei oder drei wirkliche Heringe. Wer auf den Erfolg sieht, kann den Erfolg nie haben. Man muß aus der Sache heraus wirken. Das meine ich, sollte Platz greifen, daß man einen jeden tun läßt, was er tun kann, und eben nicht zu ablehnend ist, nicht zu stark sagt: Das sollte die Jugend nicht sein, das sollte die Jugendbewegung nicht sein. Es sollten möglichst viele zusammensein, jeder aus seiner Individualität heraus das zu tun, was er kann.
Der Unterschied zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig wird schon überwunden werden, wenn alle jung sind, und jung sind schon alle. Das ist nicht so schlimm, was differiert. Die Grundform ist schon da. Andere, die bleiben draußen, die gehen ins Kino, die gehen doch nicht in die Vereinigungen der Jugend.
Nun handelt es sich darum, daß vielleicht zu stark daran gedacht wird, daß man eine Form geben soll. Es handelt sich vielmehr darum, daß ein aufrichtiges Verhältnis von Mensch zu Mensch gewonnen wird, als eine Form. Hat man sich lieb, so geht man da hin, wo man sich lieb hat, und sucht nicht nach einer Form. Vielleicht ist das gerade falsch, nach einer Form zu suchen. Es handelt sich darum, daß Sie sogar danh zusammenkommen, wenn Sie ganz uneinig sind, daß Sie gerne zueinander kommen, gerne beisammen sind. Und wenn dieses Rein-Menschliche, im Gefühl Liegende die Form gibt, ist das die gesündeste Form. Jedes programmäßige Formsuchen wird sogar die Jugendbewegung stören. Wir haben auch in bezug auf die Jugendsektion am Goetheanum an Mannigfaltiges gedacht, und es wird auch Mannigfaltiges hervor-kommen, was Grundlage geben wird, sich mit den Dingen zu beschäftigen, wenn man über einen gewissen Punkt der Stagnation hinüberge-kommen sein wird.
Wenn wirklich das nach dem Kali Yuga auftretende Streben nach dem Licht - es muß ja nicht ein abstraktes Geisteslicht sein - so stark
#SE260a-272
in den Menschen ist, daß sie gar nicht anders können, als dem zu folgen, dann brauchen wir nicht weitere Formen. Es ist nur störend, besondere Formen zu haben. Es muß in den Menschen das Lebendige zusammen-kommen. Ich denke mir, wenn auch nur unter einer großen, großen Versammlung zwei oder drei sind, die ganz herzhaft begeistert sind für ihre Sache, wird man zusammenkommen, weil die zwei oder drei dort sind, weil die dort zu treffen sind. Es muß das Menschliche sein. Das wird ganz sicher gefunden werden, wenn wir nicht mit schlaffen Armen, schlaffen Beinen und schlaffen Gehirnen zusammenkommen, sondern mit Eifer und ernsthaft in unserem Innern etwas wollen. Und wenn wir von dem andern nicht erwarten, daß er uns amüsiert, sondern hingehen und selber etwas leisten wollen, daß wir etwas leisten wollen und vom andern möglichst wenig erwarten, selber möglichst viel tun wollen, dann haben wir die Form. Es ist so schwer, über all gemeine programmatische Sachen zu sprechen. Es kommt auf das Leben an bei den Dingen, die im Leben stehen. Wenn man im Beruf darinnensteht und dann extra das machen soll, wird man müde im Beruf. Aber die Begeisterung ist notwendig, die heute für die Jugend deshalb so leicht drinnen sein kann, weil sie beim Alter so schrecklich fehlt. Es bewegt sich nicht, es fehlt die Begeisterung. Das Alter hat Blei im Körper. Das kann in der Jugend schon Begeisterung hervorrufen, wenn Sie sich heute vornehmen, wirklich das, was Sie jeder denken, in der nächsten Zeit gemeinsam mit denen, die heute zusammen sind, zu besprechen. Da haben Sie schon Form genug, und wir werden allerlei Botschaften, allerlei Fragen vom Goetheanum ausgehen lassen. Da werden Sie wieder etwas zu tun haben, und so suchen Sie einfach Gelegenheit, um sich zu treffen, und schwanzen moglichst wenig die Versammlungen. Dann wird es schon werden, das gibt die beste Form. Es ist tatsächlich vielleicht sogar der erste Grundsatz in bezug auf die Formbildung: Wir haben so und so viele Freunde, die wollen als ersten Grundsatz be-trachten, unsere Zusammenkünfte nicht zu schwänzen. Dann ist schon eine Form da.
Frage nach der Wandervogeljugend.
Rudolf Steiner: In Wirklichkeit braucht kein Gegensatz zu sein. Man
#SE260a-273
geht in die Natur hinaus bei den Wandervögeln, man will die Ein-drücke der Natur haben, man will an der Natur das Menschliche erleben und so weiter. Wenn man nachher, nachdem man das alles angestrebt hat und glaubt, es eine Zeitlang durchgemacht zu haben, in ein anderes Extrem verfällt, die Natur nicht mehr haben will und Bücher liest, dann hat man das erste auch nicht in der richtigen Weise gehabt. Heute kann der Mensch die ganze Welt durchwandern und sieht nichts. Man kann Ihnen die schönsten Exemplare von Italienreisenden, von englischen Wandervögeln zeigen, die gar nichts gesehen haben. Sie haben die Qalerien angesehen, sie haben in Wirklichkeit nichts gesehen. Ich habe eine Anzahl von Wandervögeln gesehen, die den Drang gehabt haben, etwas zu sehen, die aber nichts gesehen haben.
Um etwas zu sehen, muß man ein Herz haben. Wenn man aber schon in der Volksschule verhindert wird, ein ganzer Mensch zu sein, sieht man nicht, was in der Natur ist. Wenn man wieder darauf eingehen kann, was alles in der Natur ist, dann findet man auch in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» etwas anderes als andere. Dieses Buch ist durchaus nicht mit Ausschluß der Natur geschrieben, sondern durchaus im Anblick der Natur. Man hat gesagt, man könne meinem Stil ansehen, daß ich mit der Schreibmaschine schreibe, weil mir bei Tag die Zeit dazu fehle. Diese Kritik kann ganz gewiß nicht recht haben. Ich habe mir noch nie ins Bett, wo ich meine meisten Sachen schreibe, eine Schreibmaschine gestellt. Das würde auch grotesk aussehen. Es kommt darauf an, wie die Sachen konzipiert sind. Sie sind durchaus im Anschauen der Natur konzipiert. «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist durchaus ein Wandervogelbuch. Ich sehe keinen Gegensatz, der beruht darauf, daß man weder das eine noch das andere ganz ist. Als Wandervogel die Natur erleben, dann wird man auch das Buch erleben, das gar kein Buch sein soll. Es schaut nur so aus. Aber man kann eben gewisse Dinge nur durch Druckerschwärze in die Welt setzen. Wenn die Jugendbewegung gelingt, werden wir auch über die Druckerschwärze hinwegkommen. Wir müssen zum Menschlichen kommen, nur, nicht wahr, die Anthroposophische Gesellschaft kann nicht alles auf einmal erreichen. Sie tut schon viel dazu, es ist leider nicht gelungen. Es war meine Absicht, gewisse Dinge,
#SE260a-274
die man von Mensch zu Mensch sagt, niemals drucken zu lassen. Ich bin so froh, daß heute keiner mitschreibt. Es haben sich immer wieder Leute gefunden, die nachgeschrieben haben. Das, was eine schlimrne Nachschrift war, ist hinausgekommen, und so hatte ich doch wieder das Mittel zu finden, die Dinge drucken zu lassen.
#TI
ANSPRACHE ZUR BEGRÜNDUNG DER LANDWIRTSCHAFTLICHEN
ARBEITSGEMEINSCHAFT «vERSUCHSRING»
Kcberwitz, II. Juni 1924
#TX
Vorerst lassen Sie mich meine tiefste Befriedigung darüber ausdrücken, daß dieser Versuchsring, der von dem Grafen Keyserlingk angeregt wurde, zustandegekommen ist und sich nun auch erweitert hat um die Interessenten der Landwirtschaft, die das erste Mal bei einer solchen Versammlung anwesend waren. Es ging ja diese Begründung zeitlich hervor daraus, daß zunächst Herr Stegemann auf versiedene Bitten hin sich bereit erklärte, einiges von dem mitzuteilen, was zwischen ihm und mir im Laufe der letzten Jahre über allerlei Richtlinien gegenüber der Landwirtschaft gesprochen worden ist, und was er durch seine so anerkennenswerten Bemühungen auf seiner Landwirtschaft nach der einen oder andern Seite ausprobiert hat. Daraus ging dann die Diskussion hervor zwischen unserem hochverdienten Grafen Keyserlingk und Herrn Stegemann, die dazu führte, daß zunächst ein Gespräch stattgefunden hat, in dem die heute vorgelesene Resolution gefaßt worden ist, und das dann dazu geführt hat, daß wir heute wiederum hier zusammengekommen sind.
Es ist ja durchaus eine tiefbefriedigende Tatsache, daß sich nun gewissermaßen als Träger der Versuche im Anschluß an - ja, zunächst können es nur Richtlinien sein - die Richtlinien, die hier in diesen Vorträgen gegeben werden, eine Anzahl von Personen gefunden haben, um Versuche zu machen, diese Richtlinien zu bestätigen und zu zeigen, wie sie sich praktisch ausnützen lassen. Allein, es ist notwendig, daß
#SE260a-275
wir uns heute in einem Augenblicke, wo sich in einer so befriedigenden Weise so etwas bildet, bewußt sind, daß wir ja die Erfahrungen, die wir mit unseren Bestrebungen auf praktischen Gebieten innerhalb der anthropOsophischen Bewegung gemacht haben, verwerten, und namentlich, daß wir die Fehler vermeiden, die ja erst so recht sichtbar geworden sind im Laufe der Zeit, in der von anthroposophischer, ich möchte sagen, zentraler Betätigung heraus übergegriffen wurde auf peripherische Betätigung, auf die Einführung desjenigen, was Anthroposophie sein soll und sein kann, in die verschiedenen Gebiete des Lebens. Nun wird ja daher ganz besonders interessieren natürlich für die Arbeiten, die diese landwirtschaftliche Gemeinschaft zu leisten hat, dasjenige, was uns als Erfahrung geworden ist bei der Einführung, sagen wir, des Anthroposophischen in das allgemein Wissenschaftliche.
Sehen Sie, wenn es sich um so etwas handelt, da sind diejenigen, die gewissermaßen bisher verwaltet haben das Zentralanthroposophische in ihrer Art mit innerer Treue, mit innerer Hingabe, und diejenigen, die dann in der Peripherie stehen und für das einzelne Lebensgebiet das bearbeiten wollen, in der Regel nicht mit einem vollen Verständnis einander gegenübergestanden. Wir haben das insbesondere bei der Zusammenarbeit mit unseren wissenschaftlichen Instituten genügend erfahren. Da sind auf der einen Seite die Anthr»posophen als solche, die Anthroposophen, welche sich ausleben in diesem Zentralen der Anthroposophie als Weltanschauung, als Lebensinhalt, den man vielleicht jede Minute mit starker Innerlichkeit durch die Welt trägt. Da sind eben die Anthroposophen, die Anthroposophie tun, lieben, und zu ihrem eigenen Lebensinhalt machen, die haben in der Regel - nicht immer - die Vorstellung, es ist etwas Bedeutsames getan, wenn man da oder dort einen wiederum oder viele wiederum für die Anthroposophie gewonnen hat. Die wollen eigentlich nur, wenn sie nach außen wirken, Leute gewinnen für die Anthroposophie, und sie haben so die Vorstellung, daß die Leute sich auch - verzeihen Sie den Ausdruck - mit Haut und Haar gewinnen lassen müssen, zum Beispiel, wenn einer Universitätsprofessor so irgendeines naturwissenschaftlichen Zweiges ist, so, wie er hineingestellt ist in den naturwissenschaftlichen Betrieb, in dem er darinnen steht. Solche Anthroposophen in ihrer Gutherzigkeit
#SE260a-276
und Liebe meinen dann auch selbstverständlich, man könne den Landwirt mit Haut und Haar, mit dem Boden, mit alledem, was daran hängt, mit dem, was die Landwirtsdiaft an sonstigen Produkten wiederum in die Welt übergehen läßt, so einfach von heute auf morgen in den anthroposophischen Betrieb hineinbekommen. Das meinen die «zentralen» Anthroposophen. Sie irren natürlich. Und wenn auch sehr viele von ihnen sagen, sie seien treue Anhänger von mir, ja, da geht es oftmals so, daß sie schon in ihrem Gemüt treue Anhänger sind, aber sie hören vorbei, was ich in entscheidenden Augenblicken sagen muß. Sie hören dann nicht, daß ich zum Beispiel sage: Es ist eine Naivität, zu glauben, daß man einen Professor oder einen sonstigen Wissenschafter von heute auf einmal für die Anthroposophie gewinnen kann. Das geht nicht. Der Mensch hat mit einer zwanzig- bis dreißigjährigen Vergangenheit zu brechen, dazu hätte er hinter sich einen Abgrund aufzureißen; die Dinge müssen nach dem Leben genommen werden.
Anthroposophen glauben oftmals, das Leben bestehe im Denken. Es besteht nicht bloß im Denken. Diese Dinge müssen gesagt werden, damit sie auch auf den richtigen Boden fallen können. Diejenigen, die irgendein Lebensgebiet aus gutem, treuem Herzen mit der Anthropo-sophie vereinigen wollen, ja, auch wissenschaftliche Gebiete, haben sich dieses eben gar nicht klargemacht, als sie innerhalb der Anthroposophie Arbeitende geworden sind, und sie gehen immer wieder von der irrigen Meinung aus, man müsse es eben so machen, wie man es bisher in der Wissenschaft gemacht hat, müsse genau so vorgehen, wie man bisher in der Wissenschaft vorgegangen ist. Zum Beispiel gibt es eine Anzahl von auf medizinischem Gebiete bei uns arbeitenden, recht lieben, guten Anthroposophen, die fanden, daß nun Mediziner auf ihre bisherige medizinische Art anwenden sollten, was aus der anthroposophischen Medizin kommt. In dieser Beziehung macht Frau Dr. Wegman eine volle Ausnahme; die sah nur eben rein die Notwendigkeit innerhalb unserer Gesellschaft.
Ja, was erlebt man da? Da handelt es sich nun nicht so sehr um die Ausbreitung des Zentralanthroposophischen, sondern da handelt es sich um die Ausbreitung des Anthroposophischen heraus in die Welt. Da erlebt man, daß die Leute sagen: Ja, das haben wir bisher auch
#SE260a-277
gemacht, dannnen sind wir die Fachleute, das können wir mit unseren Methoden beherrschen, darüber können wir ja ohne Zweifel urteilen. Aber was Sie da bringen, widerspricht dem, was wir mit unseren Methoden gefunden haben. - Sie sagen dann, daß es falsch sei, und wir haben es erlebt, wenn man es rein den Wissenschaftern nachmachen will, daß sie sagen, das könnten sie besser. Es ist in diesen Fällen gar nicht zu leugnen, daß die es besser anwenden können, schon aus dem Grunde, weil in der Wissenschaft in den letzten Jahren eigentlich die Methoden die Wissenschaft gefressen haben. Die Wissenschaften haben nur noch Methoden. Sie gehen nicht mehr auf das Sachliche los, sie sind ja aufgezehrt worden von ihren Methoden, so daß man heute die Forschungen haben kann, aber es ist nichts mehr drinnen. So haben wir es erlebt, daß diese Wissenschafter, die ihre Methoden vorzüglich exakt hatten, wütend wurden, wenn die Anthroposophen kamen und nichts anderes taten, als dieselben Methoden handhaben. Was kann man hier damit beweisen? Nichts anderes hat sich herausgestellt bei den schönen Dingen, die wir so machen können, bei den ausgezeichneten Untersuchungen, die in dem biologischen Institut gemacht werden, als daß die Leute wütend waren, wenn unsere Wissenschafter in ihren Vorträgen über dieselben Methoden sprachen. Sie waren wütend, denn sie hörten die Dinge, die sie gewohnt waren in gewissen Gedankenbahnen zu haben, die hörten sie wiederum.
Aber wir haben etwas anderes erlebt, was wichtig ist. Das ist dieses:
Es haben sich nun einige unserer Wissenschafter mal bequemt, von ihrer Methode, es den andern nachzumachen, abzugehen, haben es nur halb und halb gemacht, nur so, daß sie im ersten Teil ganz wissenschaftlich waren, richtig die Methoden der Wissenschaft angewendet haben in den Auseinandersetzungen. Dann wurden die Zuhörer wütend. Was pfuscht man uns in unsere Sache hinein, was heißt das? Das sind ja Frechlinge, sind freche Dachse, die ja dilettantisch in unsere Wissenschaft hineinpfuschen! Dann waren die Redner im zweiten Teile übergegangen zu dem eigentlichen Leben, was nun nicht herausgearbeitet ist in der alten Art, sondern als Anthroposophisches vom Überirdischen her genommen ist. Da wurden die, die vorher wütend waren, furchtbar aufmerksam, waren begierig, das zu hören, und fingen an, Feuer zu
#SE260a-278
fangen. Anthroposophie mochten die Leute schon, aber sie können nicht leiden - und sogar, wie ich zugestanden habe, mit Recht -, was man als ein unklares Mixtum compositum von Anthroposophie und Wissen-schaft zusammenleimt. Mit dem kann man nicht vorwärtskommen.
Deshalb begrüße ich es mit einer großen Freude, daß auf Anregung des Grafen Keyserlingk das hervorgegangen ist, daß nun die landwirt-schaftliche Berufsgemeinschaft sich zusammenschließen will auf demjenigen, was von Dornach aus als Naturwissenschaftliche Sektion begründet worden ist. Diese Naturwissenschaftliche Sektion ist ja, wie das andere, das jetzt vor uns hintritt, aus der Weihnachtstagung hervorgegangen. Also von Dornach wird schon ausgehen, was ausgehen soll. Da werden wir schon aus der Anthroposophie selber heraus die allerexaktesten Wissenschaftsmethoden und Richtlinien finden. Nur natürlich kann ich nicht einverstanden sein mit demjenigen, was Graf Keyserlingk gesagt hat, daß die angeführte Berufsgemeinschaft bloß Ausführungsorgan sein soll. Sie werden sich schon überzeugen, daß von Dornach aus eine Art von Richtlinien, Angaben ausgeht, die von jedem Menschen auf seinem Platze verlangt, wenn er mitarbeiten will, daß er ein ganzer Mitarbeiter ist. Wir werden sogar - und das wird sich am Ende meiner Vorträge herausstellen, ich werde ja die ersten Richtlinien am Ende des Vortrags zu geben haben - die Grundlage zu der aller-ersten Arbeit, die wir in Dornach zu leisten haben, erst von Ihnen zu bekommen haben. Wir werden die Richtlinien so anzugeben haben, daß erst aus den Antworten heraus, die wir bekommen, wir irgend etwas machen können. Also wir werden von Anfang an aktive, aktivste Mitarbeiter brauchen, nicht bloß Ausführungsorgane. Denn sehen Sie, wenn ich nur eines anführe - mehrfach wurde es in diesen Tagen vom Grafen Keyserlingk und mir besprochen -, ein Gut ist ja immer in dem Sinne eine Individualität, daß es wirklich niemals das Gleiche ist, wie ein anderes Gut. Klima, Bodenverhältuisse geben die allerunterste Grundlage zur Individualität eines Gutes. Ein Gut in Schlesien ist nicht so wie in Thüringen oder Süddeutschland. Das sind wirklich Indivi-dualitäten. Nun haben gerade nach anthroposophischer Anschauung Allgemeinheiten, Abstraktionen, überhaupt gar keinen Wert, und sie haben am allerwenigsten Wert, wenn man in die Praxis eingreifen will.
#SE260a-279
Was hat es für einen Wert, nur im allgemeinen von dieser praktischen Frage, von Gütern, zu sprechen!
Im allgemeinen soll man achten auf das, was konkret ist, da kommt man auf das, was dann angewendet werden muß. Man muß natürlich, so wie aus den zweiunddreißig Buchstaben das Verschiedenste zusammengesetzt ist, auch mit dem verfahren, was in diesen Vorträgen vorgebracht wird, weil sich daraus erst zusammensetzen wird, was man erwartet. Wenn man über die praktischen Fragen sprechen will auf Grundlage der sechzig Mitarbeiter, da handelt es sich ja doch wirklich darum, die praktischen Winke und die praktischen Unterlagen für diese sechzig konkreten Landwirtschafter zu finden. Und nun wird es sich zuerst darum handeln, dasjenige aufzusuchen, was wir nach dieser Richtung hin wissen. Dann wird sich erst die allererste Versuchsreihe ergeben, dann wird es sich darum handeln, wirklich praktisch zu arbeiten. Dazu brauchen wir aktivste Mitglieder. Und was wir brauchen, das sind überhaupt in der Anthroposophischen Gesellschaft wirkliche Praktiker, die nicht abgehen von dem Prinzip, daß die Praxis eben doch etwas fordert, was nicht gleich von heute auf morgen verwirklicht werden kann. Wenn die, die ich zentrale Anthroposophen genannt habe, glauben, daß ein Professor oder ein Landwirt oder ein Arzt, nachdem sie jahrzehntelang in einem bestimmten Milieu gestanden sind, von heute auf morgen eine anthroposophische Überzeugung an-nehmen können, so ist das eben ein Irrtum. Bei der Landwirtschaft wird es ja deutlich hervortreten. Der landwirtschaftliche Anthroposoph könnte ja, wenn er idealistisch genug dazu ist, von dem neunundzwanzigsten ins dreißigste Jahr ganz ins anthroposophische Fahrwasser auch in bezug auf seine Landwirtschaft übergehen; aber machen die Acker, Betriebseinrichtungen, das mit, die zwischen ihm und den Konsumenten vermitteln und so weiter? Die kann man doch nicht vom neunundzwanzigsten aufs dreißigste Jahr gleich zu Anthroposophen machen. Und wenn man dann einsieht, daß das nicht geht, verliert man sehr häufig gleich den Mut.
Aber gerade darum handelt es sich, daß man nicht immer den Mut verliert, sondern weiß, es kommt nicht auf den Augenblickserfolg an, sondern auf das unbedingte Arbeiten. Man macht so viel, als eben
#SE260a-280
gleich geht. Der eine kann mehr, der andere kann weniger. Schließlich wird man sogar, so paradox das klingt, um so mehr machen könneti, je beschränkter man es gestaltet in dem Umfange des Landes, das man in unserer Weise zunächst bewirtschaftet. Nicht wahr, bei einer kleinen Landfläche, einem kleinen Landumfange, ruiniert man nicht so viel als bei dem großen. Und da kann auch das, was durch die anthroposophischen Richtlinien an Verbesserungen sich ergibt, sich sehr schnell herausstellen, weil man nicht so viel abändern muß. Und so wird sich auch der Nutzeffekt leichter herausstellen wie auf einem großen Gute. Aber die Dinge müßten wirklich zustimmend werden gerade bei einem so praktischen Gebiete wie der Landwirtschaft, wenn diese Gemeinschaft wirklich einen Erfolg haben soll. Und es ist ja sehr merkwürdig, rnan hat viel, aber in aller Gutartigkeit und ohne Ironie, weil man sich gefreut hat darüber, über die Differenz bei der ersten Versammlung zwischen dem Grafen Keyserlingk und Herrn Stegemann gesprochen. Und so etwas nuanciert sich dann, so daß ich fast glaubte, man müsse nachdenken, ob an jenem Abend nicht der anthroposophische Vorstand oder irgend jemand ersucht werden müsse, um dabei zu sein, um die streitenden Geister zu verbinden. Aber nach und nach habe ich mich von etwas ganz anderem überzeugt, davon, daß das, was da sich gel-tend macht, eigentlich die Grundlage zu einer intimen Toleranz ist unter den Landwirten, zu einem intimen Sich-Geltenlassen unter Kollegen - man hat nur eine gewisse rauhe Außenseite.
Es handelt sich tatsächlich darum, daß der Landwirt mehr als mancher andere nötig hat, sich seiner Haut zu wehren, und daß ihm sehr leicht in die Dinge hineingesprochen wird, die er nur allein verstehen kann. Es ist das durchaus so, daß man eigentlich eine gewisse Toleranz da auf dem Grunde dann entdeckt. Alles das muß eigentlich wirklich richtig empfunden werden in dieser Gemeinschaft, und ich mache diese Bemerkung hier nur, weil ich wirklich meine, daß es notwendig ist, daß wir von vornherein richtig anfangen. So meine ich, daß ich noch einmal meine tiefste Befriedigung aussprechen darf über das, was durch Sie hier geschehen ist, daß ich glaube, wir haben die Erfahrungen der Anthroposophischen Gesellschaft richtig berücksichtigt, daß, was eingeleitet wurde, von großem Segen sein wird und daß es an Dornach nicht
#SE260a-281
fehlen wird, mit denjenigen die mit uns zusarnmen aktive Mitarbeiter an der Sache sein wollen, tatkräftig zusarnmenzuarbeiten. Wir haben uns ja nur zu freuen darüber daß dasjenige, was hier in Koberwitz geschieht, eingeleitet wurde Und wenn so oft Graf Keyserlingk sagt, daß ich mir etwas auferlegt hätte wenn ich hierhergekommen bin, so möchte ich darauf doch erwidern, nicht um jetzt so eine Differenz-diskussion hervorzurufen: Was ist es denn viel, was ich an Mühen hatte? Ich mußte hierher fahren und bin nun in den allerschönsten und besten Bedingungen hier alles unangenehme machen andere, und ich habe nur jeden Tag zu ;eden, allerdings Reden, vor denen ich etwas Respekt hatte, weil sie ein neues Gebiet sind. Meine Mühe ist nicht so groß. Wenn ich aber sehe alle die Mühe die Graf Keyserlingk und dieses ganze Haus hab en, was da alles hineingeschneit gekommen ist, dann muß ich sagen, da erscheint mir dasjenige, was an einzelnem hat geschehen müssen durch die welche dabei geholfen haben, daß wir hier zusammen sein können, ja turmhoch viel hoher schließlich ais das daß ich mich in das Fertige gesetzt habe Und gerade an diesem Punkte kann ich mit dem Herrn Grafen nicht einverstanden sein Darum mochte ich Sie durchaus bitten, alles das was Sie als Anerkennenswertes finden in bezug auf das Zustandekommen dieses landwirtschaftlichen Kursus, ihm zu danken und vor allen Dingen darauf bedacht zu sein, wenn er nicht mit solcher eisernen Kraft eben nachgedacht und seinen Vertreter nach Dornach geschlckt und gar nicht nachgelassen hätte, so würde vielleicht bei dem außerordentlich Vielen, das von Dornach aus zustande zu kommen hat dennoch dieser in diese äußerste Ostecke ver-legte Kursus vielleicht nicht zustande gekommen sein. Ich bin gar nicht einverstanden, daß die Dankgefühle auf mich abgeladen werden, sondern sie gehören wirklich im allereminentesten Maße dem Grafen Keyserlingk und seinem ganzen Hause. Das ist das, was ich in die Diskussion noch hineinwerfen möchte.
Es ist vorerst ja nicht mehr so außerordentlich viel zu sagen, sondern nur das, daß wir in Dornach brauchen werden eine Darstellung von jedem einzelnen, der in dem Ring mitarbeiten will, was er unter der Erde hat, was er über der Erde hat und wie die beiden Dinge zusammenarbeiten. Nicht wahr, man muß natürlich ganz genau wissen, wenn
#SE260a-282
man Unterlagen gebrauchen soll, wie die Dinge sind, auf welche, diese, Unterlagen hinweisen. Also dasjenige, was da in Betracht kommt, wäre, ja das, was Sie aus ihrer Praxis heraus noch besser wissen als wir in Dornach: die Bodenbeschaffenheit der einzelnen Güter, was an Wald oder wieviel Wald oder dergleichen vorhanden ist, was auf dem Gute, bewirtschaftet worden ist in den letzten Jahren, wie die Erträgnisse, waren, kurz, wir müssen im Grunde alles das wissen, was ja jeder einzelne Landwirt wissen muß, wenn er in verständiger Weise, gerade in bauernverständiger Weise sein Gut verwalten will. Das sind die ersten Angaben, die wir brauchen: die Dinge, die da sind auf dem Gute, und die Erfahrungen, die der einzelne mit diesen Dingen gemacht hat. Das ist im Grunde bald gesagt. Wie man das zusammenstellen soll, wird sich im Laufe dieser Tagung ergeben, wo noch Gesichtspunkte herauskommen werden für die Landwirtschaft, die sozusagen manchen darauf hinweisen werden, welches der Zusammenhang ist zwischen demjenigen, was der Boden zuletzt gibt, und demjenigen, was der Boden und seine Umgebung ist.
Ich glaube, daß mit diesen Worten schon charakterisiert ist dasjenige, was als ausgearbeitete, Vorlage der Herr Graf Keyserlingk von den Mitgliedern des Ringes wünscht. Die freundlichen lieben Worte, die der verehrte Herr Graf wiederum an uns alle gerichtet hat mit der feinsinnigen Unterscheidung zwischen Bauern und Wissenschaftern, wodurch das hingestellt war auf der einen Seite so, daß im Ringe sich befinden alle Bauern und in Dornach die Wissenschafter sitzen, diese Einstellung darf, kann so nicht bleiben. Wir müssen sozusagen schon zusammenwachsen, und in Dornach muß soviel Bäuerliches walten, als nur trotz der Wissenschaftlichkeit walten kann. Und das, was von Dornach als Wissenschaft ausgeht, muß so sein, daß es einleuchtet dem konservativsten Bauernkopf. Ich hoffe, daß das ja auch nur eine Freundlichkeit war, wenn der Graf Keyserlingk gesagt hat, er versteht mich nicht. Es ist eine besondere Art von Freundlichkeit. Denn ich denke, wir werden da schon wie Zwillingsnaturen, Dornach und der Ring, zusammenwachsen. Großbauer hat er mich am Schlusse genannt. Nun, das deutet ja schon darauf hin, daß auch er im Gefühle hat, daß man zusammenwachsen kann. Aber sehen Sie, ich kann wirklich nicht
#SE260a-283
bloß von dem kleinen anfänglichen Versuch des Mistrührens, dem ich mich, bevor ich hierhergefahren bin, notgedrungen hingeben mußte -was ja auch fortgesetzt werden mußte, denn ich konnte nicht so lange rühren, es muß sehr lange gerührt werden, ich konnte nur anfangen zu rühren, dann mußte das fortgesetzt werden -, schon so angeredet werden.
Nun, das sind ganze Kleinigkeiten. Aber daraus bin ich nicht eigentlich herausgewachsen. Ich bin herausgewachsen so recht aus dem Bauerntum. Ich bin der Gesinnung nach immer drin geblieben. Ich habe - es ist dies in meinem «Lebensgang» angedeutet -, wenn auch nicht auf so großen Gütern wie hier, aber in kleinerem Bereiche Kartoffeln gepflanzt, habe, wenn auch nicht gerade Pferde aufgezogen, so doch Schweine oder wenigstens mitgetan dabei, auch teilgenommen in unmittelbarer Nachbarschaft an der Kuhwirtschaft. Alle diese Dinge haben mir ja lange Zeit in meinem Leben nahegestanden, und ich habe mitgetan und bin gerade dadurch wenigstens sozusagen in Liebe der Landwirtschaft geneigt, aus der Landwirtschaft herausgewachsen. Das hängt mir viel mehr an als das bißchen Mistrühren für jetzt. Und so möchte ich in diesem Sinne doch auch wiederum mich mit anderem nicht ganz einverstanden erklären, so möchte ich auch da schon sagen, wenn ich jetzt wiederum zurückschaue in mein Leben, dann ist das bäuerlich Wertvollste nicht der Großbauer, sondern der kleine Bauer, der gerade als kleiner Bauernjunge mit der Landwirtschaft gearbeitet hat. Wenn das jetzt in einem größeren Maßstabe geschehen soll, ins Wissenschaftliche umgesetzt, so wird das wirklich herauswachsen aus - auf niederösterreichisch geredet - der Bauernschädeligkeit. Dieses Herauswachsen wird mir mehr dienen als das, was ich später angenommen habe. Deshalb betrachten Sie mich als diesen die Liebe zur Landwirtschaft gewonnen habenden Kleinbauern, der sich an seine Kleinbäuerlichkeit erinnert und wirklich gerade dadurch das verstehen kann, was im jetzt sogenannten Bauerntum der Landwirtschaft lebt. Es wird das in Dor-nach verstanden werden, Sie können dessen versichert sein. Ich habe immer eine Meinung gehabt, die nicht so ironisch gemeint war, wie sie, wie es scheint, aufgefaßt worden ist, daß diese Dummheit - Torheit, sagte ich - dann Weisheit vor Gott, vor dem Geist ist. Ich habe nämlich
#SE260a-284
immer das, was die Bauern gedacht haben über ihre Dinge, furchtbar viel gescheiter gefunden, als was die Wissenschafter gedacht haben. Ich habe es immer gefunden, ich finde es auch heute eigentlich viel geschein ter. Ich höre lieber auf alles dasjenige, was so gelegentlich mal jemand der unmittelbar am Acker angreift, über seine Erfahrungen, die ei macht, sagt, als auf alle die ahrimanischen Statistiken, die aus der Wissensaft heraus kommen, und ich bin immer froh gewesen, wenn ich so etwas hören konnte, weil ich es immer außerordentlich weise fand. Und gerade auf dem Gebiet der praktischen Auswirkung, der Ausführung, fand ich immer die Wissenschaft außerordentlich dumm. Nun, alles, was gerade diese Wissenschaft erst gescheit machen soll, sie gescheit macht gerade durch die «Dummheit» des Bauerntums, etwas «Dummheit» des Bauerntums in die Wissenschaft hineinzutragen, darum mühen wir uns in Dornach. Dann wird diese Dummheit Weisheit werden vor Gott. Wollen wir in dieser Weise zusammenwirken, das wird ein echt konservatives, aber auch ein äußerst radikal fortschrittliches Beginnen sein. Es wird mir dies immer eine sehr schöne Erinnerung bleiben, wenn gerade dieser Kursus zum Ausgangspunkt wird, daß hier wirklich echtes, weises Bauerntum in die ja vielleicht nicht dumm gewordene -das würde sie beleidigen -, aber in die, ich möchte sagen, totgewordene Methodik der Wissenschaft hineingetragen wird, und Dr. Wachsmuth hat ja auch abgewiesen diese Wissenschaft, die eigentlich tot geworden ist, und hat die lebendige Wissenschaft, die erst durch die Bauernweisheit befruchtet werden soll, gewünscht. Wollen wir in dieser Weise wie siamesische, Zwillinge, Dornach und der Ring, zusammenwachsen. Von Zwillingen sagt man, sie haben eigentlich ein gleiches Fühlen, ein gleiches Denken, und haben wir dieses gleiche Fühlen und dieses gleiche Denken, dann werden wir auf unserem Gebiete auch am besten vorwärts kommen.
JUGENDANSPRACHE WÄHREND DER BRESLAU-KOBERWITZER TAGUNG ÜBER DIE WEGE ZU DEN VERLORENGEGANGENEN WIRKSAMEN KRÄFTEN DER NATUR Koberwitz, 17. Juni 1924
#G260a-1987-SE285 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
JUGENDANSPRACHE
WÄHREND DER BRESLAU-KOBERWITZER TAGUNG
ÜBER DIE WEGE ZU DEN VERLORENGEGANGENEN
WIRKSAMEN KRÄFTEN DER NATUR
Koberwitz, 17. Juni 1924
I.
#TX
Die Jugendbewegung von heute sucht wieder die Natur. Audi die anthroposophische Jugend sucht die Natur, aber sie sucht den Geist in der Natur. Als eine Art Appell an den Geist lebt dieses Suchen in den Herzen dieser Jugendbewegung. Aber es war gegenüber diesem Appell an den Geist in der Natur wenig Entgegenkommen in der aus den früheren Jahrhunderten stammenden Zivilisation. Denn die Menschheit hat nach und nach seit dem 1 5. Jahrhundert den Geist aus ihrem besonderen Weltenkarma heraus verlieren müssen.
Nun ist dies so, daß man der Natur gegenüber am leichtesten den Geist Verlieren kann, wenn man auf dem Wege ist, den Geist überhaupt zu verlieren. Denn bedenken Sie: der Natur ist beigegeben als die Grundbedingung ihres Werdens das Tote. Sie dürfen ja nicht vergessen, daß das Lebendige zu seinem Bestehen immer das Tote braucht. Denken Sie nur einmal, daß ja in allem Lebendigen eingelagert sein muß als Knochengerüst oder anderes Gerüst dasjenige, was aus dem Weltenall als das Tote aufgenommen wurde. Wir tragen daher den Tod unser ganzes irdisches Leben lang dadurch in uns, daß wir Unlebendiges, Totes haben müssen. Wir müssen Totes haben. In uralten Zeiten wußte man, daß dieses Tote gerade dasjenige ist, durch das sich das Lebendige die Offenbarungen des Geistigen erwirbt. Und noch aus lateinischen Zeiten klingt es heraus als ein Spruch wie dieser: In sale sit sapientia.
Die Sapientia ruht in dem Salz. Und man fühlte in den Zeiten, in denen noch die Traditionen von der alten instinktiven hellseherischen Weisheit vorhanden waren, daß man in dem toten Salze, mit dem man sich die Knochen, auch das sonstige Gerüst bildete, schauen muß dasjenige, was einen als Menschen anders macht als diejenigen Wesen, die ringsherum sind, und die nicht in der Lage sind, durch leblose Gerüste genügend in sich aufzunehmen von dem, was geistiges Licht, was die
#SE260a-286
Sapientia ist. Aber wir leben wiederum in einer Zeit des Überganges, wo eben der junge Mensch fühlt, er finde auch in der Natur ringsherum gewissermaßen den Tod des Geistes, wenn er in dem Stil des letzten Jahrhunderts, mit den Traditionen des letzten Jahrhunderts sich dieser Natur nähert.
Die Natur baut sich einen weisheitsgetragenen Kristall auf. Der weisheitsgetragene Kristall kann uns entzüchen, wenn wir in die Natur hinauswandern. Aber wir müssen uns zugleich klar sein, daß ja Götter sterben mußten, nicht den Erdentod, sondern den Tod der Verwandlung, das heißt den Übergang ins Bewußtseinslose, um in den lichterglänzenden Kristallformen wieder aufzuleben. Und wir müssen es heute in unser Empfinden hineinbekommen, daß, wenn wir hinaus-schauen in das Tote, uns da hindurch das in der Natur für Jahrtausende unbewußt ruhende Götterleben entgegenleuchtet. Wir mussen in unserer Seele die Möglichkeit finden, dieses Licht, das uns von der Sonne treffen kann, herzerquidtend auch überall in der Natur als das Götter-licht zu fühlen und zu finden.
Suchen wir heute die in jahrtausendelanger Zeit ruhende göttliche Seelenwelt in der ganzen himmelerglänzenden Natur ringsherum zu empfinden! Und da gibt es denn für die Seelen viel, viel zu suchen. Die Jugend von heute sucht alte, alte Erkenntnisse der Menschlieit, jene alten Erkenntnisse, die schon zu den alten Saturnzeiten mit der Menschheit verbunden waren, die dann, als die Sonnen- und Mondenzeiten kamen, eintraten in eine Art von Weltenschlaf, in ein ruhendes Bewußtsein, um aus ihrer eigenen Geistsubstanz heraus die Grundlagen zu bilden für dasjenige, was Erdennatur ist. Und so ist die Erdennatur eigentlich für die Seele, die das nur ahnt, die aber nicht durch diese Erdennatur durchschauen kann zum Geist, so ist die Erdennatur auch jin Sommer für das heutige jugendfühlende Herz wie eine Schneedecke, allerdings in hellen Geisteskristallen hinglänzend, aber in sich den Tod, das heißt die Bewußtlosigkeit tragend und die Seele auffordernd, tief unter der seelischen Eisdecke die aus noch älteren Zeiten herstammenden, feuerlodernden, vom Mittelpunkt der Erde ausstrahlenden lebendigen Worteswir'kungen aus dem Irdisch-Natürlichen heraus zu empfinden.
#SE260a-287
Es ist ein Kompliziertes, wenn es ausgesprochen ist, es ist aber ein elementar Einfaches, wenn es heute von der Jugend gesucht wird. Und wenn irgendwo ertönt der Appell an die Natur, dann kommt er heraus aus dieser Jugendseele. Sie Will dann haben ein Erinnern: ein Sich-Verbinden niit dem Götterquell alles Erd- und Sternenhaften. Und das ist dasjenige, was man empfindet, wenn heute die jugend wieder nach der Natur sucht. Es liegt etwas von einem tiefernsten Weltenkarma m der nach Natur und Geist suchenden Jugend von heute, etwas von Weltenkarma, was eigentlich nur im Ernste der Seele richtig ergriffen werden kann.
Denken wir nur einmal, wie vor Zeiten - wir nennen sie heute die Rousseau-Zeit, wir haben sie auch in Deutschland gehabt, in einer nach der Natur glühenden Vorgängerschaft Goethes und Schillers, in der Sturm- und Drangzeit, die aber viel weitere Kreise damals ergriffen hat als die bloß literarischen - denken wir zurück, wie da der Ruf nach der Natur auf eine literarisch abstrakte Weise durch weite Gebiete der Zivilisation geklungen hat. Stellen wir uns nur einmal die intensiv warmen Appelle an die Natur die aus Rousseaus Seele kamen, so recht vor. Ja, viele werden heute schon ergriffen, wenn sie jene Rufe nach der Natur vernehmen. Aber was ist auf diese Rufe an die Natur er-folgt? Natur, Natur möchten wir wieder haben, so riefen die jungen Leute.
Goethe selbst rief hinein in einer fast greisenhaft bedächtigen Weise, daß es uns unheimlich ist: «Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen... Ungebeten und ungewarut nimmt sie uns in den Kreislauf ihres Tanzes auf... » - Goethe wollte sich nicht zum Bewußtsein kommen lassen dasj enge, was da als Ruf nach der Natur bei den Rousseauisten und andern zum Vorschein kam. Und wenn man sich in denGoethe von damals hineinfühlt, dann bekommt man heute noch aus der Art und Weise, wie er gegenüber der Natur empfindet, und wie er an die Appelle der andern herankam, etwas wie eine leise Gänsehaut, die über die Oberfläche des Menschen zieht und man fühlt das Schauern, das er gerade bei diesem Rufe nach de'r Natur empfand. Dieser Ruf erschien Goethe als etwas Unnatürliches selber, und er wollte in den Kreislauf des Tanzes der Natur, ohne daß es von ihm erbeten ist, aufgenommen
#SE260a-288
sein, und er empfand, die Natur bittet nicht, die Natur warnt auch nicht Dann kam im 19. Jahrhundert die Erfüllung jenes Rufes nach der Natur. Es war das Wissen, das sogenannte Wissen von der Natur, das immer wieder ertönende Rufen nach der Natur im steifsten materialistischen Sinne nicht nur in bezug auf die Erkenntnis, in bezug auf alles Leben. Eine schauerliche Erfüllung des Rousseauismus kam so irn
19. Jahrhundert wie ein Reich der Dämonen, die erst kicherten, als die Leute um Rousseau und die andern nach der Natur riefen, die dann hohnlachten, die Natur in einer ahrünanischen Gestalt, in der äußersten ahrimanischen Gestalt an die Menschheit herankommen Zu lassen.
Das ist der Hintergrund. Und wenn wir dann nach dem Mittelgrund sehen, dann kommt die Stimmung des tragischen Karmas, jene Stimmung, wo etwas, was unten liegt in den Seelen der heutigen Jugend, nur unter den größten inneren Seelenschwierigkeiten heraufgeht in das volle Bewußtsein, etwas, was da unten seit dem Ablauf des Kali Yuga liegt. Dann muß dieser Appell an die Natur gefunden werden, dann muß das alte Götterwirken gefunden werden in alledem, was in der Natur erdet und strömet und luftet und feuert, und was über der Natur leuchtet und west und lebt. Gefunden werden muß er, dieser alte Geist der Natur. Aber wie wird vermieden dasjenige, was wie ein Regen wilder Dämonen, aber auch wie ein Regen wilder Täuschungen dem Ruf nach der Natur nachgefolgt ist im 19. Jahrhundert? Das darf nicht so sein! Das 20. Jahrhundert darf nicht werden ein materialistisches! Und so ruft die Stimme des Karmas in den Seelen der jungen Leute von heute: Wenn Ihr werden laßt das 20. Jahrhundert materialistisch, wie es das 19. war, dann habt Ihr vieles nicht nur von Eurer, sondern von der Menschlichkeit der ganzen Zivilisation verloren. - Das ist dasjenige, was man, wenn man solche Stimmen hören kann, empfindet und immer wieder und wiederum heute in mannigfaltigster Weise empfinden kann, wo die Jugendkreise sich versammeln. Das ist auch dasjenige, was gerade viele Mitglieder dieser Jugendbewegung in einem unbestimmten Fühlen doch so sicher macht, so daß gleichzeitig zu vernehmen sind in den jugendlichen Seelen Unbestimmtheiten, Unsicherheiten, Wege nach der einen,nach der andern Seite zu gehen, und zu gleiche rj Zeit heraus aus dieser Unbestimmtheit und Unsicherheit eine Sicherheit,
#SE260a-289
die noch nicht ganz lichtvoll ist, die aber eine gewisse Kraft in sich trägt. Nur darf diese Kraft nicht gebrochen werden, muß nicht gebrochen werden.
Dazu mochte aber Anthroposophie ihrerseits auch einiges tun, weil sie glaubt, den konkreten Geist in allen Einzelheiten zu vernehmen: in den Wurzeln der Pflanzen, in den Taten des Lichtes über den Pflanzen, in den seelischen Segnungen der Wärme durch die Pflanzen hindurch, weil sie glaubt, daß alles dasjenige, was wie ein mahnender Ruf zugleich der Menschheit beigegeben worden ist: die Tierheit, weil sie glaubt, daß an dieser Tierheit mannigfaches zu heilen ist. Tiere sind auf der Erde um der Menschen willen. Daß wir uns gegenüber den Tieren wie gegenüber aller Natur in der richtigen Weise verhalten, dazu ist notwendig, daß wir in aller Natur die einzelnen geistigen Wesen fühlen, empfinden und zuletzt auch erkennen.
Das kann heute auch gefühlt werden, wenn die Notwendigkeit vor-liegt, nicht im allgemeinen über den Geist zu sprechen, sondern wenn die Notwendigkeit vorliegt, das geistige Wirken bis in die einzelnen Maßnahmen des landwirtschaftlichen und des sonstigen heutigen natürlichen Betriebes zu suchen. Deshalb war es mir durchaus in tiefster Seele sympathisch, als da kam von Euch die Meinung, es könnte heute noch der eine oder der andere Gedanke gewechselt werden.
Es folgte nun eine Aussprache.
#TI
II.
#TX
Sehen Sie, es ist die Sache so: Was heute noch diejenigen, die schon den Weg in die anthroposophischeBewegung hinein gefunden haen, immer wieder in einem gewissen Sinne unsicher macht, was sie glauben machen muß, daß kräftige Stützen gesucht werden müssen, um den Weg zu finden nach dem, was man sucht, dafür ist der Gr'und eigentlich darin gelegen, daß junge Menschen, die mit vollem Herzen fühlen, wir müssen in einer neuen Art gegenüber dem, was uns an Weistümern aus den Jahrhunderten heraus entgegenkommt, den Weg zum Menschen suchen, fast immer wieder - wenigstens durch die äußeren Verhältnisse - zurückgeworfen werden in das alte Fahrwasser. Es
#SE260a-290
konnte einem nicht klar dasjenige vor die Seele treten, was in unserer Zeit nach dem Kali Yuga offenbar unklar sein muß, was einem entgegengetreten ist als das ja in der neueren Zeit nicht offenbare, aber verborgene &uchen der Menschheit aus der «Natur» heraus in die Natur hinein, aus dem «Geist> heraus in den Geist hinein.
Unser lieber Freund Ritter sprach davon, wie er Bauernkind war und aus dem Bauerntum herausgewachsen ist. Man konnte dieses Her-auswachsen aus dem Bauerntum gerade in der Zeit in seiner ganz urphänomenalen Bedeutung erleben, die sich abgespiegelt hat, als Menschen wie Sie noch nicht einmal in der Wiege lagen, geschweige denn viele andere, die hier sitzen. Da kam sie schon heran, diese Zeit, in der die Unsicherheit begann. Sehen Sie, das Leben des bäuerlichen Menschen, wie es sich abgespielt hat im Laufe der Jahrliunderte, ist ja heute im Grunde genommen nur noch eine Mythe. Denn dieses Leben ist seelisch etwas ganz anderes als dasjenige, was hinweggehoben eigentlich aus allem Sein die Naturwissenschaft oder gar die Zivilisation in sich hat. Der Bauer war wirklich geistiger als der heutige Gelehrte. Und man konnte schon empfinden so in den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, wie eine Art gerade im Bauerntum lebende Geistigkeit abstirbt. Man hat es oftmals sehen können, wie die Bauern davon ergriffen wurden, daß ihre Söhne studieren müßten. Es war schon eine solche bäuerliche Abstraktion, wo gegen das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts die Idee aufkam, ihre Söhne müßten studieren. Es ist das schon etwas ganz anderes, als früher das Bauerntum war, das richtig mit der Natur zusammenlebendes Bauerntum war. Gewiß, da haben auch die Söhne studiert, aber sie haben nicht in dem Sinne studiert wie später, namentlich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie haben nicht studiert, die Söhne, im Bewußtsein des Bauern, sondern sie sind Pfarrer geworden. Und Pfarrer werden verband sich mit dem Bewußtsein des Bauern. Pfarrer werden verband sich im Bewußtsein damit, den Weg nach dem Geiste zu suchen. Suchen nach dem Geiste war dasjenige, was der Bauer wollte, wenn er seine Söhne durch die Bildungsanstalten durchschickte. Sie wurden aber in diesen Bildungsanstalten nach und nach ganz geistesarm und geistesleer im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Da verwandelte es sich auch in dem Bewußtsein
#SE260a-291
des Bauern: der Sohn müsse studieren, und dazu gesellte sich allmählich das andere: der Sohn, der wird uns fremd, der kommt in ein ganz anderes Leben hinein, den haben wir nicht mehr.
Man kann diese Dinge nur andeuten, denn sie sind eigentlich nur im Leben richtig zu begreifen gewesen. Und bei der ganzen Vergröberung des Lebens gegen das Ende des 19. Jahrhunderts kam dann dasjenige, was eigentlich die Abneigung, zuweilen in Haß überschlagende Antipathie gegen alles Geistige gerade beim Bauerntum war. Ich erinnere mich eines sehr netten Bildes aus einem Bauernkalender, das ja ganz gewiß von einem Journalisten ausgedacht war, aber das ausgedacht war, doch aus der Stimmung herausgeboren war, die in den siebziger, achtziger Jahren da war. Da wurde in einer gewissen Gegend Mittel-europas das begründet, was man dazumal als Bauernbund auffaßte. Bauern taten sich zusammen. Und der Repräsentant eines solchen Bauernbundes war auf diesem Bilde, auf dem er weit hinein bis über die Ohren eine Zipfelmütze zog und dann sagte: «Koa Advokat, koa Lehrer derf in den Bauernbund hinein.» Sehen Sie, so war das Bewußtsein, daß man mit Gelehrsamkeit auf allen Gebieten, sogar auf dem Gebiete der Theologie nichts mehr anzufangen wußte. Man empfand sich sehr schlau, wenn man die landläufige Gelehrsamkeit aus dem Bunde ausschloß.
Nun, in dem drückte sich wirklich eine Anschauung aus, die gegen das Ende des 19. Jahrhunderts eben Menschen erzeugte, die eigentlich nur mehr Bilder waren. Die Menschen wurden eigentlich bloße Bilder. Es gingen nicht mehr Menschen auf der Erde herum, bis auf einzelne Ausnahmen, es waren alles Bilder. Und als die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert kam, da war die zivilisierte Welt nicht von Menschen, da war sie von Bildern bevölkert. Und es war die Zeit gekommen, wo dasjenige, was Wahrheit sein sollte, in der merkwürdigsten Art in sein Gegenteil verkehrt wurde. Es konnte einem dazumal manchrnal das Herz weh tun über die Dinge, die da als Wahrheiten hinausgestellt wurden. So kam die Lehre auf, welche geradezu nach Übervölkerung einzelner Gebiete drängte. Und man sagte: Wenn recht viele Leute geboten werden, so ist das ein Zeichen dafür, daß alles gut geht -, und man drängte geradezu zu der Bevölkerungszunahme. In der Bevölkerungszunahme,
#SE260a-292
wie sie dazumal aufgefaßt wurde, wollte man ausdrücken etwas vom wirklichen Fortschritt. Sah man die ganze Sadie geistig an, so mußte man sich sagen: Durch den Einfluß einer solchen Weltanschauung kommen immer mehr und mehr Seelen herunter auf die Erde aus der geistigen Welt, die eigentlich verfrüht herunterkamen, geistige Frühgeburten waren und die im Grunde genommen gar nicht die Erde fanden. Die Menschen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts haben ja die Erde gar nicht gefunden. Sie waren auf der Erde, ohne den Inhalt ihres Wesens gefunden zu haben, und gingen herum wie Anhängsel an ihren Verstand. Das war das Furchtbare, daß man die Menschen herunigehen sah als Anhängsel an ihren Verstand, nicht als Menschen.
Und so kam denn dieses 20. Jahrhundert, in welchem zahlreiche Seelen geboren wurden, die nun ihrerseits wiederum - so wie die andern als Schatten, als Bilder, fremd der Natur herumgingen - die tiefste Entbehrung empfanden gegenüber diesen Menschenbildern und dasjenige, was ja das Menschliche ist, wiederum suchen mußten
Da ist aber aus jenen alten Zeiten alles mögliche an äußeren sozialen Einrichtungen geblieben, was eben der junge Mensch wie eine Art seelenbedrückender Einflüsse empfinden muß. Wären wir in der Lage, das äußere Leben schon zu formen, wie wir die Seelen wecken können durch Anthroposophie, dann wurde ja das ganz anders sein, dann würde man heute nicht immer davon sprechen, daß Anthroposophie nun konkret werden solle, sondern dann würde man empfinden, Anthroposophie könnte schon weltgestaltend werden, wenn die äußeren Mächte nicht hindernd eintreten würden. Denken Sie nur, wie wir uns heute entwickeln, gerade als junge Menschen heute entwickeln. Ja, der Dr. Ritter hatte die Möglichkeit, einzulaufen mit seiner Entwickelung in ein großes Gut, das, ich möchte sagen, noch in seinem Bestande in Köfering sich geistig erhalten hatte, während ringsherum die Welt sich materialistisch austobte. Das ist schon ein Phänomen. Aber denken Sie, so ist immer ein Phänomen da, wo Sie heute ein äußeres Refugium finden werden für dasjenige, was gerade die Jugend sucht. Da muß schon irgendwie dasjenige, was Anthroposophie ist, im Hintergrund stehen, weil auf andere Art wiederum in der Anthroposophie man nicht
#SE260a-293
nach dem Verstande strebt nicht studiert, sondern wiederum im besten Sinne des Wortes doch «Pfarrer» wird, wenn man lernen will. Und wenn dieser Übergang in einer merkwürdig schnellen Weise geschehen wird von dem alten Pfarrerwerden, das zur Lüge geworden ist, zu dem neuen Pfarrerwerden, dann tritt einem das ganz besonders entgegen. Und es ist ja ein merkwürdiger Weg, der sich gerade zum Beispiel in Köfering vollzog, den Sie am allerbesten verstehen werden, auch Ihrer Art sich werden begreiflich machen können, den ich bezeichnen möchte als den Weg von der anthroposophischen Wesensgestaltung des Guts-herrn zu der anthroposophischen Gestaltung des Gutes.
Wir müssen im Herzen verstehen lernen dasjenige, was den doch immer nur gedachten Geist der der Natur fremd bleibt, zu dem erar-beiteten Geist macht, der nun wiederum die Wege hinaus findet in die natürliche Tatsachenwelt. Deshalb habe ich in diesem Kursus versucht, ich möchte sagen, aus dem tatsächlichen Erleben heraus die Worte zu finden. Es kann heute nicht anders der Geist gefunden werden, als wenn man auch wiederum die Möglichkeit findet, in naturgegebene Worte ihn zu kleiden. Damit werden auch die Empfindungen wieder stark werden. Denken Sie sich Sie verwandeln dasjenige, was man heute schon wissen kann - denn die Michael-Zeit ist da -, was scheinbar auch nur in Ideen lebt, in wirkliche Andacht, dann sind Sie auf dem allerbesten Wege. Sie sind auf dem allerbesten Wege, wenn Sie die Dinge in Andacht verwandeln. Ja, was kann dann alles aus den Dingen werden! Meditieren heißt ja: dasjenige, was man weiß, in Andacht verwandeln, gerade die einzelnen konkreten Dinge. Wenn man natürlich solche Dinge sagt, wie ich sie vielfach jetzt gesagt habe, dann steht man ja, ich möchte sagen, in dem Lichte einer gewissen Frechdachsigkeit. Denn diejenigen, die nicht in geistiger, sondern in konventioneller Art alt geworden sind in das 20. Jahrhundert hinein, empfinden nicht das ganz tiefe Gefühl, das man bekommen kann, wenn man genötigt ist, das Gehirn des Menschen als etwas zu bezeichnen, was auf demselben Wege - nur etwas nach anderer Richtung hin-sich entwickelt hat wie der Dung. Ödbeaßr empfinden Sie dieses in den Menschen hineingehende Kraftende:
das Gehirn ist wie ein Dunghaufen sich bildend. Und empfinden Sie auch, wie im Düngen den weltenschaffenden Kräften zurückgegeben
#SE260a-294
wird dieses Dung-Stoffliche, damit der Geist es dort empfangen kann in einem viel höheren Sinn, als empfangen kann der menschliche Geist dasjenige, was ihm an Stofflichem von innen gegeben wird. Sehen Sie sich nun an diesen Menschen: Er nimmt den äußeren Stoff auf, er hat ja keine Ahnung, was er mit der Pflanze, was er mit den gezüchteten Pflanzen von außen herein aufnimmt, er ist unwissend gegenüber dem, was er von außen herein aufnimmt. Und nun beginnt es in ihm durdi Göttermacht zu arbeiten. Es beginnt schon zu arbeiten, wenn er auf der Zunge dasjenige, was er von außen empfängt, in Geschmack umwandelt. Da hält er noch etwas fest in der bloßen Sinnlichkeit mit der da die Dinge umgewandelt werden. Dann entschwindet es dem Bewußtsein, und ein stark Weisheitsvolles tritt auf. Das alles im Menschen wandelt sich um und läuft darauf hinaus, daß wir den Geist fassen können, und das, was wir unbewußt so umgearbeitet haben, läuft aus in den Dung-haufen, der das Gehirn ausfüllt. Lernen wir so denken, daß wir nun als Menschen wirklich genötigt sind, diesen Dung in der richtigen Weise der Welt zu übergeben, daß wir ihn nicht nun so verwenden, als ob wir kleine Maschinen für die Kinder aus zusammengepreßtem Dung machen wollten! So verwendet nämlich sein Gehirn der Mensch der Gegenwart. Er düngt nicht mit seinem Gehirn die Geistesfelder, damit der Geist auf diesen Geistesfeldern wirken kann, er macht Mechanismen aus demjenigen, was da ist. Und wenn man nun weiß, wozu das Gehirn bestimmt ist: den Göttern, die zu den Menschen herabkommen, die Geistesfelder zu düngen, wenn man dann jene scheue Ehrfurcht bekommt, die aus einer solchen inneren Betrachtung der Sache hervorgeht, wenn man ahnen lernt, was da gerade im Unbewußten und Unterbewußten vor sich geht, und dann dazu übergeht, die dem Menschlichen nachgestaltete Natur in seine Erkenntnis aufzunehmen, sie nach dem, was da ist, wirklich mit dem Dung zusammen sich anzuschauen, dann sieht man, wie darinnen langsam und allmählich sich bewußt wird, was unbewußt gerade im Menschen wirkt.
Dann lernt man wirklich aus sich erneuern dasjenige, was nur noch traditionell vor langer Zeit gelebt hat, was Glauben war, und wie so vieles, was aus alten, naturdurchdrungenen, hellseherischen Zeiten sich fortpflanzen mußte, unverstanden im Romanismus der neueren Zeit
#SE260a-295
lebt, zum Beispiel so ein Spruch wie dieser: Naturalia non sunt turpia.
Es sind schön alle Dinge der Natur. Wenn sie nicht schön erscheinen, so rührt dies vom Menschen her weil er die Schönheit nicht sehen, nicht riechen kann. Und stellen Sie einmal zusammen dasjenige, was Gesinnung nach dieser Richtung in ahen Zeiten, was Gesinnung nach die-ser Richtung in neuen Zeiten war. Sehen wir uns das ganze Gebiet der westlichen Kultur an. Ein großer Teil dessen, wie man da die Natur nachahmt, besteht darinnen, daß man wäscht. Gewiß, waschen ist natürlich sehr gut, aber so wie man heute in jenen europäisch-ameri-kanischen Gebieten das Waschen betreibt, wäscht man damit alle Natur überhaupt hinweg. Man betäubt sich selbst in das Reinigen hinein. Man erinnert sich, wie auch in Ägypten viel gewaschen wurde. Die ägyptische Reinigung ist ja noch etwas, was man dann in Griechenland etwas vergaß, an das man sich aber noch erinnerte, indem man von der Katharsis sprach.
Das alles gibt uns das Bewußtsein, daß wir wiederum sagen, wenn wir hinaufgehen in der Natur an die irdische Oberfläche, sind wir im Bauch darinnen des kosmischen Wesens. Und dann bekommen wir auch jene Empfindung wiederum zurück, die ich eigentlich nur noch erlebt habe, wenn ich als ganz kleines Kind mit Bergleuten verkehrt habe, nicht mit den Kohlenbergbauern, sondern mit den Bergbauern, die nach Metallen gingen. Ja, da waren noch einige darunter, die wußten, wenn man heruntersteigt in die Erde, dann begegnet man Geistern, die man an der Oberfläche nicht findet; da begegnet man den Organen, mit denen die Erde vom Weltenall träumt und denkt. Da war das Deriken noch etwas, was in der Erde lebte. Da wußte man eben noch, daß, wenn man hinaufschaut man abstrakte Sterne schaut, wenn man aber etwas bekannt wird mit demjenigen, was unter der Erde ist, daß man dann im Weltall etwas sieht was man bezeichnen kann mit demjenigen, was Bilder sind, aber Bild er, die entstehen, die wirklich lebendige Bilder sind. Da lebte man dasjenige, was so trostloS totes Erkennen war beim Ablauf des Kali Yuga wieder in das besonders Empfindungsgemäße hinein. Können wir das, dann werden wir uns allmählich den Fesseln entringen, die die Zeit dem abstrakten Menschen angelegt hat
Deshalb muß ich Sie immer wieder auf dasj enige hinweisen, wodurch
#SE260a-296
Sie sidl als junge Leute so ganz besonders intensiv verbinden können Und das ist gerade das, daß Sie sich folgendes sagen: Anthroposophie trat auf. Sie kam unter die Menschen, die sich aus dem götterlosen Denken in der Umgebung herausentwickelten. Diese Menschen standen nun vor der Anthroposophie, sie verabstrahierten auch die Anthro-posophie. Und so spielte sich etwas ab, was darinnen bestand, daß Anthroposophie gut begriffen wurde, aber in einer etwas abstrakten Stimmung, von den alten Leuten so um die Wende des 20. Jahrhunderts und hinein ins 20. Jahrhundert. Sie begriffen eigentlich schon Anthro-posophie. Und es ist eine nicht zufällige, sondern karmisch notwendige Erscheinung, daß eigentlich es wiederum in der Geschichte unserer anthroposophischen Entwickelung eine Zeit gibt, in der diejenigen Menschen zu uns kamen, die in irgendeiner Weise ihr Pensionsdekret bekommen hatten, die aus der umliegenden Welt heraus sich in die Alterspensionszeit begaben. Was, glauben Sie, mußte man, wenn man verantwortlich war für die Anthroposophie, immer wiederum erleben? Solange die Leute im Berufe der Zivilisation darinnen steckten, sagten sie: Ja, ich kann vielleicht der Anthroposophie mehr nutzen, wenn ich nicht Anthroposoph bin. Ich bin ihr ja ganz geneigt, aber ich kann ja nicht Anthroposoph sein. - Und sie kamen dann erst - und dann in jener merkwürdig innerlichen Weise oftmals -, wenn sie pensioniert waren. Wir haben viele gerade aus diesen Kreisen hineindringen sehen, so daß wir das schon durchlebt haben als eine gewisse Tragik.
Dann kam die Zeit, wo nun das ältere Mitglied wirken sollte. Es kam die Zeit vom Beginn des 20. Jahrhunderts, die ganz schwere Zeit im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wo das spätere Mittelalter wirken sollte. Das versagte! Das versagte, das spätere Mittelalter, baumelte hin und her zwischen dem Entlassensein aus dem Doktorexamen - und das konnte ja auch bei den Proletariern und bei dem Bauerntum der Fall sein-, baumelte hin und her zwischen dem Entlassensein aus dem Doktorexamen und dem Noch-nicht Angekommen-sein beim Pensionszeugnis. Das baumelte so das ganze Leben. Das konnte sich überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Das war ganz in der Anthroposophie darinnen, meinte, es müßten aus der Anthroposophie heraus Taten entstehen. Da kam dann die Notwendigkeit, zur Dreigliederung
#SE260a-297
zu schreiten, eine Dreigliederung im Wirtschaftlichen, im Leben zu schaffen, wo Geistnatur hätte leben können. Und das wäre ja auch entstanden, wenn die Dneigliederung die Herzen ergriffen hätte. Aber es versagte. Man arbeitete mit Menschenwesenheiten zwisdien dem Abiturientenzeugnis und dem Pensionsdekret. Das ist die Tragik dieser Menschen.
Nun, es war unmöglich, weiterzukommen. Nun gar erst, nachdem dieser Abgrund ist zwischen den Pensionierten und denjenigen, die nun nichts Rechtes mehr vom Doktorexamen, vom Abiturientenexarnen hielten, nicht mehr diese Examen sehr stark respektierten, die sie nur noch gewohnheitsmäßig erwarben, und die sich auch nicht dasjenige einbildeten, was sich sehr stark in den siebziger, sechziger Jahren die Leute eingebildet hatten, daß man eigentlich die Sache so auffassen sollte, daß man die Menschen nicht in ihrem durchgeistigten Blute einherschreiten sehe, sondern sie irgendwo an der Wand zu hängen habe eingerahmt als Zeugnis. Diese Gesinnung ist ja nun nicht mehr da. Und ich muß oftmals denken, wenn mir die heutige Jugend entgegenkommt, an einen alten Freund, den ich hatte. Ich hatte ihn kennen-gelernt, als er schon Ende der Fünfziger war. Er hatte sich etwas erworben in einer kleinen Stadt. Er war dann vierundsechzig Jahre alt und verband in merkwürdiger Weise dieses Alter mit seiner Jugend. Denn er hatte sich als achtzehnjähriger Mensch in ein Mädchen verliebt, sich auch mit diesem verlobt, und wollte es nun in seinem Alter heiraten. Aber die Kirche, in der seine Geburtsregister sich befanden, war abgebrannt, und so konnte er keinen Geburtsschein mehr erhalten und mußte auf die Heirat verzichten. Denn es war die Zeit, wo man irgendwo aufgeschrieben sein mußte, und man mußte dann durch die Registraturen sich überall Ausweise beschaffen, durch die man beweisen wollte, daß man da sei. Denn man sah nicht mehr darauf, daß man da ist, man sah nur darauf, daß es dasteht, daß man da ist.
Nun kam die Jugend und konnte eben nicht mehr an dasjenige so glauben, was im Doktordiplom, im Abiturientenzeugnis, was in andern Zeugnissen steht, weil man nicht mehr daran glaubte, daß derjenige, der es ausgestellt hat, etwas kann. Es kam die Zeit, die sich in den tiefer angelegten Jugendseelen, gerade auch der Proletarier, auslebte, jenes
#SE260a-298
wärmste Jugendstreben zu entfalten, wo sich aber die junge Menschheit wie durch einen Abgrund getrennt fühlte von der alten Menschheit. Der Abgrund, der ja wirklich in denen heute steckt, die im Beginne des 20. Jahrhunderts die Menschheit erreicht haben zwischen dem fünfundzwanzigsten und achtundvierzigsten Lebensjahr. Da war so recht die Gelegenheit dazu geboten, wenn man in dem beginnenden Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts die Lebenszeit durchinachte zwischen dem fünfundzwanzigsten und dem achtundvierzigsten Lebensjahre, nicht mehr Mensch zu bleiben. Man hatte nur noch Kleider. Das spätere Mittelalter bildete schon eine Art Abgrund. Bei der jetzigen Jugend kommt es nicht auf die Art an, daß Anthroposophie immer mehr und mehr in Abstraktionen verwandelt wird, immer mehr und mehr in Ideen, Begriffe und sogar in Wissenschaften umgewandelt wird. Nun kommt die Jugend, die all das wiederum nur empfinden, leben will: in Taten, im Begreifen der Natur. Man kann aber nicht dabei stehenbleiben. Das möchte ich heute mit besonderer Stärke betonen.
Man sagte, man schmiede das Michael-Schwert. Es handelt sich auch noch um etwas anderes. Es handelt sich darum, daß nun einmal diese Tatsache in dem okkulten Teil der Welt besteht, daß dasjenige, was als Michael-Schwert hergerichtet werden muß, daß das wirklich im Schmieden auf einen Altar getragen werde, der eigentlich äußerlich nicht sichtbar sein könnte, der unter der Erde liegen müßte, wirklich unter der Erde liegen müßte. Naturgewalten unter der Erde kennenzulernen führt dazu, zu verstehen, daß das Michael-Schwert im Schmieden auf einen Altar getragen werden muß, der unter der Erde ist. Da muß es von empfänglichen Seelen gefunden werden. Es kommt darauf an, daß Sie mittun, indem Sie dazu beitragen, daß von immer mehr und mehr Seelen das Michael-Schwert gefunden werde. Ünd nicht allein damit ist es getan, daß es geschmiedet werde, sondern es ist damit erst etwas getan, daß es gefunden werde. Haben Sie das starke und zugleich bescheidene Selbstvertrauen als junge Menschen, daß Sie ja karmisch dazu berufen sind, das Michael-Schwert herauszutragen, es zu suchen und zu finden, dann werden Sie gerade dasjenige haben, was Sie bei solchen Versammlungen, wie der heutigen, suchen. Dann werden Sie auch erkennen dasjenige, was ich Ihnen von der Anthroposophie
#SE260a-299
sagen mußte, von den Schwierigkeiten sagen mußte, die diejenigen hatten, die zwischen dem Doktorexamen und dem Pensionsdekret standen. nd Sie werden daran erkennen, aber nun in recht instinktiv-bildhafter rt, so daß der Geist der Abstraktion, dieser furchtbare ahrimanische Geist, nicht auch Sie berühren kann - denken Sie in mächtigen Bildern daran -, daß zwei Worte sich verbunden haben in dem Streben der Jugend, die eigentlich im 19. Jahrhundert nicht mehr verstanden wurden.
Wenn man so das Wort «Wandervogel» hört, so kommt einem aus diesem Wort das Gefühl: Weiß denn heute überhaupt ein gereister Mensch, was in alten Zeiten das Wandern war, was der Wanderer war? Zu bildhaftem Seelenerleben müssen wir wieder zurück. Weiß denn heute ein Mensch noch, wenn er der Vogelwelt gegenübersteht, daß man erst das durchmachen muß, was Siegfried durchmachen mußte, um die Sprache der Vögel zu verstehen? Wandervögel - Wotan, Siegfried: das ist dasjenige, was man erst wieder empfinden, verstehen muß. Man muß erst den Weg finden von der abstrakten Auffassung des Wandervogels zu dem in Wind und Wolken und Wellen des Erdorganismus webenden Wotan und zu der verborgenen Sprache der Vögel, die man kennenlernen muß, indem man zuerst das Siegfried-Erinnern und das Siegfried-Schwert in sich rege macht, das nur die prophetische Vorausnahme des Michael-Schwertes war. Man muß den Weg finden vom Wanderer zu Wotan, den Weg finden, wie man leichten Herzens sich öffnend wieder glauben kann an die verborgene Sprache der Vögel. Sie alle empfinden den Weg vom Wandervogel zum Wotan, zum Siegfried. Und kann man das in seiner Seele tief empfinden, so wird man auch die Möglichkeit finden, die Natur zu empfinden, und wissen um diese Dinge. Und gewinnt man dann die Möglichkeit, auch noch ein wenig träumen zu können, so wird man mit den himmlischen Träumen in der Natur leben können.
Das ist dasjenige, worüber wir zunächst nicht nachdenken, sondern was wir durchempfinden, durchfühlen können. Tut Ihr das, so werdet Ihr eine Gemeinschaft bilden, die nach Eurem Herzen ist, in der Ihr finden werdet - über mancherlei Stufen schreitend - gerade dasjenige, was Ihr sucht. Wollen wir das in unserem Bewußtsein leben lassen, Wollen wir damit unsere Seelen erfüllen!
#SE260a-300
#TI
BERICHT ÜBER BRESLAU-KOBERVITZ IN DORNACI
Dornach, 20. Juni 1924
#TX
Ich bin eben zurückgekommen von der Reise nach Breslau-Koberwitz, die ja vor allen Dingen diesmal einem bestimmten Ziel gedient hat; aber das spezielle Ziel war verbunden mit einem ganz AllgemeinAnthroposophischen. Zunächst handelt es sich ja darum, wie Sie wissen, daß eine Anzahl von Landwirten, die innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft stehen, gewünscht haben, daß für sie ein Kursus gehalten werde mit besonderen landwirtschaftlichen Gesichtspunkten, mit Dingen, die die Landwirtschaft betreffen. Es waren wirklich weithin zugereist diejenigen, die innerhalb unserer Gesellschaft Landwirte sind, um in ganz ernster Weise für dasjenige, was aus anthroposophischer Forschung heraus für dieses Gebiet des menschlichen Arbeitens gegeben werden kann, Gesichtspunkte zu bekommen.
Bei solch einem praktischen Lebensgebiete handelt es sich ja natürlich durchaus auch um Gesichtspunkte für das Arbeiten, nicht um irgendwelce Theorien. Deshalb wurden auch durchaus praktische Gesichtspunkte erwartet.
Nun war diese Veranstaltung eine in sich geschlossene und für die Teilnehmer außerordentlich befriedigende, weil die Teilnehmer an diesem landwirtschaftlichen Kursus einschließlich derjenigen Mitglieder des Vorstandes vom Goetheanum, die anwesend sein konnten, Frau Dr. Steiner, Fräulein Vreede und Dr. Wachsmuth, Gäste waren im Schlosse Koberwitz bei unserem lieben Freunde, dem Grafen Keyserlin gk.
Und man darf wohl sagen, es war eine ganz außerordentlich im anthroposophischen Sinne gehaltene Aufnahme. Denn es war eben nicht gerade eine Kleinigkeit, an einem Orte, wohin man ja von Breslau mit dem Auto immerhin dreiviertel Stunden fährt, eine ganze Gesellschaft nicht nur sich niedersetzen zu lassen zu Vorträgen, sondern auch ganz reichlich zu bewirten. Die Gesellschaft bestand ja immerhin aus mehr als hundert Teilnehmern, die jeden Tag bewirtet werden mußten.
Die Gesellschaft kam gewöhnlich um die elfte Stunde nach Koberwitz. In Koberwitz konnten die Leute nicht wohnen, sie kamen von Breslau
#SE260a-301
aus nach Koberwitz. Und dann begann zunächst der Vortrag, der bis ein Uhr dauerte. Dann verwandelte sich bald der Vortrag in das Früh-stück, wobei die Gäste fast das ganze Schloß benützen konnten und alks, was dazu gehört, was sehr interessant ist. Dann dauerte das bis gegen einhaib oder dreiviertel zwei Uhr. Dann war noch eine Aus-sprache über landwirtschaftliche Gegenstände bis drei Uhr. Das war also der Koberwitzer Teil der ganzen Veranstaltung. Das ging durch zehn Tage hindurch.
Sie sehen also, welch reichliches Entgegenkoinmen da war. Nun muß ich ja sagen, leicht ist es aber dennoch der Gräfin und dem Grafen Keyserlingk nicht geworden, diesen Kursus zu veranstalten, denn er war lange versprochen, und ich konnte immer wieder nicht hinkommen. Deshalb war ja schon bei der Weihnachtstagung der Neffe des Grafen Keyserlingk hier in Dornach, und dem Neffen wurde dazumal gesagt, als er hierher geschickt wurde: Entweder bringst du mir das ganz be-stimmte Versprechen, daß noch im nächsten Halbjahr dieser Kursus stattfinden werde, oder du kommst mir überhaupt nicht nach Hause. Unter diesen Auspizien ist dann der Neffe, der ja auch sonst manches Merkwürdige in der Welt zustande gebracht hat, hier erschienen und hat tatsächlich so eindringlich gesprochen, daß ich ihm sagte, sobald es nur irgend sein könne, würde der Kursus stattfinden.
Nun konnte er nicht früher sein, fand also zu Pfingsten statt. Es war ein schönes Pfingstfest, ein recht anthroposophisches Pfingstfest.
Es ist etwas sehr Eigentümliches um dieses Gut Koberwitz und seine Umgebung. Es gehört ja zum Gut Koberwitz eine Landwirtschaft von dreißigtausend Morgen. Es ist eines der größten Güter. Es kann also schon sehr viel von der Landwirtschaft dort besehen werden. Es wurde auch dort sehr viel gesehen, denn es wurde alles mit einem außerordentlichen Entgegenkommen gezeigt.
Eines fällt einem sogleich auf, wenn man ankommt in Koberwitz und die erste Verrichtung vollbringen will, sich die Hände zu waschen:
man merkt sogleich, daß im Waschbecken Eisen drinnen ist. Der Boden in Koberwitz ist nämlich ein Boden, der eisenhaltig ist. Und ich denke tatsächlich daran, daß dieser Boden in der mannigfaltigsten Weise noch Verwendung finden könnte, denn er ist außerordentlich eisenreich.
#SE260a-302
Nun fand ich tatsächlich dieses Entgegenkommen des Eisens überall. Und deshalb sagte ich gleich beim ersten Mittag, um die Hausleute zu begrüßen, daß es einem vor allen Dingen auffällt, daß in Koberwitz alles aus Eisen ist: der Neffe war schon aus Eisen in seinen Forderungen, als er hier zu Weihnachten erschien; der Boden ist ganz eisengetränkt, und dort herrscht etwas Zielbewußtes und Energisches, so daß ich nicht anders sagen konnte, als: die eiserne Gräfin und der eiserne Graf. Es war auch tatsächlich in dem moralischen Verhalten etwas durchaus Eisernes.
Bei dem landwirtschaftlichen Kursus handelte es sich dann darurn, zunächst zu entwickeln, welches die Bedingungen des Gedeihens der verschiedenen Gebiete der Landwirtschaft sind. Da gibt es ja außer-ordentlich interessante Gebiete, Pflanzenwachstum, Tierzucht, Wald-wirtschaft, Gartenwirtschaft und so weiter. Dann dasjenige, was zum Allerinteressantesten gehört, die Geheimnisse des Düngens, die außerordentlich wirkliche Geheimnisse sind.
Für alles dieses wurden zunächst die Prinzipien, die Zusammenhänge entwickelt, die ja deshalb in der gegenwärtigen Zeit ganz besonders bedeutsam erscheinen, weil ja, so sehr man es glauben mag oder nicht, gerade die Landwirtschaft unter der materialistischen Weltanschauung am allermeisten von rationellen Prinzipien abgekommen ist. Und die wenigsten Menschen wissen ja, daß im Laufe der letzten Jahrzehnte sich innerhalb der Landwirtschaft das ergeben hat, daß alle Produkte, von denen der Mensch eigentlich lebt, degenerieren, und zwar in einem außerordentlich raschen Maßstab degenerieren.
Es ist schon so, daß nicht etwa bloß die moralische Entwickelung der Menschheit in der Gegenwart, in der Zeit des Überganges vom Kali Yuga zu dem lichten Zeitalter im Degenerieren ist, sondern es ist dasjenige, was der Mensch mit seinen Maßnahmen aus der Erde und aus dem, was unmittelbar darüber ist, gemacht hat, in einem raschen Degenerieren, das statistisch heute festgestellt ist, das besprochen wird in landwirtschaftlichen Vereinigungen zum Beispiel, dem gegenüber eben nur die Menschen machtlos sind.
Und so kann sich heute auch schon der materialistische Landwirt, wenn er überhaupt nicht ganz dumpf dahinlebt, sondern etwas nachdenkt
#SE260a-303
über die Dinge, die sich ja täglich oder wenigstens jährlich er-geben ungefähr ausrechnen, in wieviel Jahrzehnten die Produkte so degeneriert sein werden, daß sie noch im Laufe dieses Jahrhunderts nicht inehr zur Nahrung der Menschen dienen können.
Also es handelt sich dabei durchaus um eine Frage, die im allereminentesten Sinne eine, ich möchte sagen, kosmisch-irdische Frage ist. Gerade bei der Landwirtschaft zeigt es sich, daß aus dem Geiste heraus Kräfte geholt werden müssen, die heute ganz unbekannt sind, und die nicht nur die Bedeutung haben, daß etwa die Landwirtschaft ein bißdien verbessert wird, sondern die die Bedeutung haben, daß überhaupt das Leben der Menschen - der Mensch muß ja von dem leben, was die Erde trägt - eben weitergehen könne auf Erden auch im physischen Sinne.
Es handelte sich also schon um ein ganz beträchtliches Thema. Und die Prinzipien, die dann angegeben wurden, um zu zeigen, unter welchen Bedingungen sich Pflanzen entwickeln in der verschiedensten Art, die Tiere entwickeln, die Prinzipien, nach denen gedüngt werden muß, nach denen das Unkraut entfernt werden muß, nach denen die Schädlinge der Landwirtschaft, die Parasiten vertilgt werden können, nach denen die Pflanzenkrankheiten bekämpft werden können, all das sind ja heute auf dem Gebiete der Landwirtschaft außerordentlich eklatante Fragen.
Nachdem diese Prinzipien besprochen worden sind, wurde dann ubergegangen zu dem, was nun zunächst zu tun ist, um es dahin zu bringen, daß eine Düngerreform kommt, eine Reform in der Bekämpfung des Unkrautes und der tierischen pflanzenschädlinge, der Parasiten, und in der Bekämpfung der Pflanzenkrankheiten. Und es hat sich nun im Anschlusse an den Kursus und die jeden Tag an den Kursus sich anschließenden Besprechungen ein Ring, wie der Graf Keyserlingk es nannte, der dort versammelten anthroposophischen Landwirte gebildet, der im engsten Zusammenhange mit der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum hier arbeiten will. So daß die Naturwissenschaftliche Sektion Prinzipien auszuarbeiten hat nach den Grundlagen, die zunächst über die geologische Bodenbeschaffenheit, über die sonstige Bodenbeschaffenheit, über die Futtermöglichkeiten, über die Dungmöglichkeiten,
#SE260a-304
über alle Gebiete, die eben in Betracht kommen, Nähe des Waldes, klimatische Verhältnisse und so weiter. Nachdem diese Angaben in der entsprechenden Weise gemacht sind von seiten der land-wirtschaftlichen Fachleute, werden hier die Prinzipien dann ausgearbeitet werden, nach denen die weiteren Versuche nun zu gestalten sind, um dasjenige, was als praktische Winke im Kurse gegeben worden oder in den Diskussionen noch angeführt worden ist, tatsächlich so auszu-probieren, daß jeder dann sagen kann, wenn auch manches heute noch absonderlich erscheint: Wir haben es probiert, es geht.
Dazu soll also dieser Ring von Landwirten da sein, der im engsten Zusammenhange mit der Naturwissenschaftlichen Sektion und auch mit Fräulein Dr. Vreede, weil astronomische Angaben dazu notwendig sind, arbeiten wird.
Selbstverständlich wird in der mannigfaltigsten Weise überhaupt die ganze Freie Hochschule, insbesondere die Medizinische Sektion auch dabei beteiligt sein. So daß also gerade nach den Intentionen, die von unseren Freunden, namentlich von unseren Freunden Graf Keyserlingk und Herrn Stegemann, ausgearbeitet worden sind während des Kurses, die Sache hoffentlich nun auch auf praktischem Gebiete einen günstigeren Verlauf nimmt als manches, was unter andern Auspizien, unter nicht so sachgemäßen Auspizien in der letzten Zeit von manchen unternommen worden ist.
Die Bedingung des Gelingens besteht aber in folgendem, und es wurde strenge betont, wiederholt immer wieder und wiederum, daß dasjenige, was der Inhalt dieses Kurses war, zunächst das geistige Eigentum des Ringes der Landwirte bleibt, der praktischen Landwirte. Es waren ja auch Interessenten der Landwirtschaft da, die dann nicht in den Ring eintreten konnten, denen ist es ausdrücklich auferlegt worden, daß nicht in altgewohnter anthroposophischer Weise gleich wiederum alles an jeden ausgeschwatzt wird, denn die Dinge können nur dann ihre praktische Bedeutung erlangen, wenn zunächst dasjenige, was Inhalt des Kursus war, im fachmännischen Kreise bleibt, von Landwirten ausgeprüft wird. Manche Dinge werden vier Jahre zum Ausprobieren brauchen. Während dieser Zeit wird dasjenige, was an praktischen Winken gegeben worden ist, nicht über den Kreis der landwirtschaftlichen
#SE260a-305
Gemeinschaft hinauskommen, weil es gar keinen Zweck hat, daß man über die Dinge bloß redet, sondern die Dinge sind eben dazu da, daß sie tatsächlich in die Lebenspraxis hereinkommen. Und jeder begeht ein Unrecht, der dort die Dinge gehört hat und sie etwa irgendwie ausschwätzt.
Das sind die Dinge, die sich zunächst auf den, wie ich glaube, fruchtbaren landwirtschaftlichen Kursus beziehen.
Es konnte auch noch in Breslau eine Eurythmievorstellung statt-finden, die am Pfingstsonntag morgens war, die außerordentlich stark besucht war, und die in einer außerordentlich günstigen Weise auf-genommen worden ist.
Außer diesen Veranstaltungen fanden zahlreiche andere statt. Vor allen Dingen morgens dauerten die landwirtschaftlichen Debatten von etwa viertel nach elf Uhr bis nachmittags drei Uhr. Das war in Koberwitz draußen, wie gesagt. Die andern Üinge waren in Breslau drinnen
- was dazwischen liegt, werde ich nachher sagen -, und jeder Tag wurde damit abgeschlossen, daß ein anthroposophischer Vortrag für Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft stattfand, der sich im wesentlichen auch mit den Karmafragen beschäftigte, die ja hier schon seit Wochen den Gegenstand der Betrachtungen bildeten. Sie wurden dort in neun Vorträgen zusammengefaßt. Ich habe einen kurzen Bericht uber die ganze Sache ja schon gegeben in dem Mitteilungsblatte, das dem Goetheanum» beiliegt, das eben heute herausgekommen ist. Da ist schon über die ganze Breslauer Veranstaltung berichtet. Ich darf auch dabei sogleich wieder betonen: Aus dem, was nun an den verschiedensten Orten erprobt werden konnte, in Prag, in Bern, in Paris, jetzt wie-der in Breslau, darf ich sagen, daß dasjenige, was von der Weihnachtstagung ausgegangen ist, dieser esoterische Zug, der jetzt durch die ganze Anthroposophische Gesellschaft geht, der das Neue, man könnte sagen eigentlich dasjenige ist, was nach der wirklichen Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft jetzt da ist, früher nicht da war, daß das nun von den Herzen überall in einer wirklich, in einer deutlich befriedigenden nicht nur, sondern außerordentlich seelenhaften Weise entgegengenommen wird; so daß wirklich die begründete Hoffnung besteht, daß jetzt, nachdem die Anthroposophische Gesellschaft durch
#SE260a-306
die Weihnachtstagung ihre Spiritualität gewonnen hat, bewußt spirituell schon von dem esoterischen Vorstand in Dornach gearbeitet wird, daß jetzt tatsächlich überall bemerkt werden kann, daß nicht nur die Strömung nach auswärts geht, sondern daß die Herzen der Teilnehmer dieser Strömung durchaus entgegenkommen.
Man konnte das bei den Abendvorträgen, bei den Mitgliedervorträgen am Abend sehr, sehr deutlidi sehen. Und die Herzlichkeit außerdem, mit der Breslau und Koberwitz auch diesen Vorträgen entgegengekommen ist, die gestaltete sich wirklich in einer spirituell-organisatorischen Weise aus, denn es war tiefes anthroposophisches Verständnis, und es hatte sich auch umgesetzt, in der Materie verwirklicht. Ich brauche das nur zu erwähnen, daß am letzten Abend, am Montag abend in Breslau, dann statt des Vortrages alles beschlossen wurde mit einem geselligen Zusammensein. Es waren ja wirklich von weither viele Mitglieder zugereist, lange Zeit hatten die Mitglieder der deutschen Gegenden nicht so etwas gehabt, es waren von weither, von Süddeutschland, von Westdeutschland, von den näheren Gegenden auch selbstverständlich die Mitglieder zugereist, so daß große Säle von den Mitgliedern überfüllt waren. Am letzten Abend, beim geselligen Zusammensein, nachdem am Sonntag viele oder die meisten fortreisen mußten, waren eben immerhin noch so dreihundertsiebzig Mitglieder anwesend, die nun alle zum Abendbrot bewirtet wurden drinnen in Breslau von dem Hause Keyserlingk.
Sie müssen sich also nur vorstellen, daß in einem Lokal in Breslau, hineingebracht auf Lastautos, alles dasjenige war, was für die Bewirtung von dreihundertsiebzig Anthroposophen, die an diesem Abend, wie ich beim Herumgehen bemerkte, einen außerordentlich guten Appetit hatten, nötig war. - Ja, das geschieht so beim Bilderanschauen, man ist niemals so hungrig, als wenn man durch Bildergalerien gegangen ist, das geschieht offenbar auch so bei anthroposophischen Vorträgen. Da hat es sich in den Tagen zusammengesammelt. Aber das Schönste war das, daß die Anthroposophen einen großen Appetit hatten, dreihundert-siebzig an der Zahl waren, und daß noch eine ganze Menge übriggeblieben ist.
Diese Vorträge bildeten also den Schluß des Tages, so daß vom
#SE260a-307
landwirtschaftlichen Kursus und von den anthroposophischen Mitgliederversammlungen die ganze Veranstaltung eingerahmt war.
Zwischendrinnen war ein Kursus über künstlerische Sprachgestaltung von Frau Dr. Steiner; es waren zwei Versammlungen für die Breslauer Jugendgruppe; es waren zwei Klassenstunden. Und am letzten Sonntag kam noch etwas dazu. Da fand sich Herr Kugelmann mit seiner Schauspielertruppe ein, die neue künstlerische Bühnenspiele begründet haben unter den Anregungen des Sprachkursus, der vor zwei Jahren hier am Goetheanum war, und die uns die «Iphigenie» vorführen wollten, was tatsächlich mit Bezug auf alles dasjenige, was aus dem Sprachkursus hervorgegangen ist, eine ganz vielversprechende, zunächst vielversprechende Sache war.
Die Zeit war reichlich, wirklich reichlich ausgefüllt, aber es war eben auch möglich, mancherlei zu bringen für Mitglieder, die lange Zeit entbehrt haben, überhaupt an einer anthroposophischen Veranstaltung teilnehmen zu können.
Zwischen diesen Dingen waren dann die Begehungen der Güter. Man schaute sich dasjenige an, was auf dem Gute zu sehen war, wobei natürlich immer m alle diese Dinge in Mitteleuropa dasjenige hineinspielt heute, was sich so deutlich bemerkbar macht in der absolut zusammen-brechenden Wirtschaft. Ich meine das Wirtschaftsleben im allgemeinen. Das Gut Koberwitz ist ja in ausgezeichneter Weise bewirtschaftet, die Landwirtschaft muß ja natürlich fortgehen, aber das Wirtschaftsleben ist schon in einem furchtbaren Zustande in Deutschland. Nun, am Montag waren dann, ich glaube um elf Uhr abends, die Veranstaltungen zu Ende.
Dann konnte ich am Dienstag herüberfahren nach Jena-Lauenstein, wo eine Anzahl unserer jüngeren Freunde mit Fräulein Dr. Ilse Knauer zusammen eine Heil- und Erziehungsstätte begründen für nicht nur schwach begabte, sondern wirklich konstitutionell kranke Kinder, dieh erzogen werden und so weit gebracht werden sollen, als es eben geht. Dieses Institut ist, wie gesagt, in Begründung begriffen. Ich konnte die Sache etwas inaugurieren und konnte die ersten aufgenommenen Kinder sehen. So daß wir die Sache in Lauenstein, in der Nähe von Jena, sozusagen haben auf die Beine bringen können.
#SE260a-308
Dann bin ich eben über Stuttgart hierher gekommen. Nicht wahr, in Stuttgart ist ja vor allen Dingen dasjenige heute - von dem übrigen abgesehen - das außerordentlich Bedrückende, daß in der Waldorf-schule, die in pädagogisch-didaktischer und in geistiger Beziehung so außerordentliche Fortschritte macht, das Wirtschaftliche geradezu trostlos ist. Sie müssen nur bedenken, heute morgen zum Beispiel habe ich die fünfte Klasse wiederum so einrichten müssen, daß aus zwei Klassen drei geworden sind, wir haben also jetzt die fünfte Klasse a, die fünfte Klasse b, die fünfte Klasse c. Auch die sechste Klasse haben wir in drei Abteilungen. Die meisten Klassen haben wir in zwei Abteilungen, selbst bis in die höheren Klassen hinauf. Wir haben über achthundert Schüler in der Waldorfschule. Die Sache geht außerordentlich gut fort in pädagogisch-didaktischer Beziehung und auch in geistiger Beziehung, aber das Wirtschaftliche der Waldorfschule ist geradezu trostlos, wirklich im tiefsten Sinne trostlos!
Sie müssen nur bedenken, wir hatten, sagen wir, in den Wochen vor Weihnachten noch einen Monatsetat in der Waldorfschule von etwa 6000 bis 8000 Mark, was jetzt einem Monatsetat von 25 000 bis 27 000 Mark infolge des ungeheuren Hinaufschnellens der Lebensmittelpreise in Deutschland entspricht. Das sind natürlich Dinge, die ganz furchtbar sind. Und wir standen vor einiger Zeit vor der finanziellen Situation, daß wir von diesen 25 000 bis 27 000 Mark Monatsetat etwa 15 000 bis 17 000 Mark nicht gedeckt haben, daß wir also mit einem Defizit im Monat werden zu rechnen haben in der nächsten Zeit von 15 000 bis ,7 000 Goldmark.
Das ist schon eine bedrückende Sache, die sehr schwer auf der Seele lastet, denn alles ist eingerichtet, ein Lehrerkollegium, das über vierzig Lehrer umfaßt, ist da, über achthundert Schüler sind da. Das alles geht natürlich außerordentlich schwierig weiterzutragen unter solchen wirtschaftlichen Voraussetzungen, und namentlich unter den wirtschaftlichen Aussichten, die da bestehen in Deutschland.
Nun ist es möglich gewesen, durch Opferwilligkeit von anthroposophischen Freunden zunächst für die nächsten drei, vier oder fünf Monate von diesem monatlichen Manko 10 000 Mark zu decken, so daß nur noch etwa 6000 bis 7000 Mark monatlich etwa werden gedeckt werden
#SE260a-309
müssen in den letzten Monaten. Die könnten ja auch gedeckt werden, aber es ist schon das wahr, meine lieben Freunde, daß eben in der Anthroposophischen Gesellschaft doch, wenn es auf die Dinge ankommt, die etwas praktisch gehandhabt werden sollen, manche nichtpraktische Art des Verhaltens da ist.
Man braucht sich nur zu überlegen, wie ich bei einer Versammlung des Waldorfschulvereins kürzlich sagte, was hoffentlich recht weit hinausgetragen wird - denn diese Dinge weiter hinauszutragen ist viel wichtiger, als dasjenige, was von Anthroposophen in der Gegenwart manchmal hinausgetragen wird -, ich sagte: wir haben in Deutschland ganz gering gerechnet 10 000 Anthroposophen. Wenn in jeder Woche überall gesammelt wird, in jeder Woche jeder nur 50 Pfennige gibt, so sind das in jeder Woche von 10 000 Anthroposophen 5000 Mark, und es ist etwas, was mit Leichtigkeit zu handhaben wäre, wenn man es eben nur täte. So daß ich sagte: In der Anthroposophischen Gesellschaft ist es vielfach so, daß unsere Einrichtungen so schwach fundiert sind, daß die Leute, die gern ihr Geld geben würden - das ist eine Erfahrung -, absolut nicht wissen, auf welche Weise sie es losbringen können. Ja, es bleibt aber immerhin doch eine sehr schwer erträgliche Sache, diese Situation der Waldorfschule, und ich darf bei dieser Gelegenheit ja erwähnen, daß gerade durch die Qpferwilligkeit der Schweizer Freunde in der letzten Zeit ein gar nicht unbeträchtlicher, sondern recht beträchtlicher Monatsetat teilweise durch direkte Beihilfe, aber namentlich durch Übernahme von Patenschaft für Kinder - Pate ist derjenige, der für ein Kind der Waldorfschule den Monatsetat von 25 bis 27 Mark bezahlt -geleistet worden ist. Aber es bleibt natürlich doch eine sehr ti übe Aussicht und etwas sehr, sehr Bedrückendes, diese Verhältnisse in der Waldorfschule. Wenn sich etwa 250 bis 300 Paten noch finden würden, und die Mitgliedsbeiträge besser einlaufen würden, Sammlungen stattfinden würden, so würde es aber gar nicht so schwierig sein. Nur natürlich muß ja gesagt werden, daß gegenwärtig in Deutschland eine gar nicht zu beschreibende Geldknappheit vorhanden ist. Nicht als ob keine Werte da wären, aber es ist eine solche Geldknappheit doch da, daß gar keine Zirkulation eigentlich möglich ist. Also das wirtschaftliche Leben ist schon in einer recht üblen Verfassung in Mitteleuropa.
#SE260a-310
Das ist so der Bericht, den ich Ihnen habe geben wollen. Alle diese Dinge zeigen, daß alles, was auf anthroposophischem Felde aus der anthroposophischen Bewegung heraus selber gemacht wird, eine sehr 1 starke Kraft in der Gegenwart aufweist. Die ganze Gestalt, welche die Waldorfschule angenommen hat, zeigt schon eben eine sehr, sehr starke Kraft, die dem Anthroposophischen innewohnt. Und das tritt auch sonst hervor.
Bedürfnis ist vorhanden nach demjenigen, was Anthroposophie geben kann. Es war ein Sprachkursus, also ein Kursus für künstlerische Sprach-behandlung angesetzt, der in wenigen Stunden absolviert werden mußte, weil ja wirklich gar nicht die Zeit vorhanden war für so vieles. Aber da meldeten sich, ich glaube, 160 Leute oder so etwas. Man kann nicht in fünf Stunden 160 Leuten Sprachunterricht geben, so daß die Sache so eingerichtet werden mußte, daß etwa 30 Leute vorne saßen, die be-kamen einen wirklichen Sprachunterricht; die andern konnten nur zuhören. Also Bedürfnis ist durchaus vorhanden, ein tiefes, ein intensives, ein weitgehendes Bedürfnis. Wir müßten nur in der Lage sein, die vorhandenen Kräfte wirklich flott zu machen, und wir müßten eben tatsächlich im anthroposophischen Wirken weiterkommen.
Es ist ja Tatsache, daß so etwas, wie es in Breslau der Fall war, hat zustande kommen können, eben durchaus dem Wirken, wie ich schon sagte, des eisernen Grafen und der eisernen Gräfin Keyserlingk und unserem alten Freunde, der ja fast so lange, als die anthroposophische Bewegung wirkt, seinerseits auch wirkt, dem Rektor Bartsch, zuzuschreiben, der als junger Mann begonnen hat, Anthroposoph zu sein, jetzt eben pensionierter Schuirektor geworden ist, aber noch immer so sehr jugendlich sich fühlt mit andern zusammen, daß er bei seinen Begrüßungsworten, die er mir am ersten Abend der Mitgliederversammlung, der Vorträge, gehalten hat, mich den Vater genannt hat, was er ganz außerordentlich stark während der ganzen zehn Tage hat büßen müssen!
Das ist der Bericht, den ich Ihnen habe geben wollen, meine lieben Freunde, von jener Veranstaltung, die Sie zweifellos schon deshalb interessieren muß, weil es vielleicht nun doch gelingt, auf einem bestimmten Gebiete vom Anthroposophischen ausgehend, ins unmittelbare
#SE260a-311
Leben hinein auch etwas zu bringen. Denn man sieht, es kann auf anthroposophischem Gebiete von beiden Seiten her, von dem höchst Spirituellen und von dem ganz praktischen, von beiden Seiten her kann mitgewirkt werden. Und eigentlich erst dann wird richtig gewirkt, wenn diese beiden Seiten etwas ineinander verweben und miteinander in vollste IIarmonie gebracht werden.
Die Fehler, die da im anthroposophischen Wirken sehr leicht entstehen können, die entstehen ja eben gerade dadurch, daß auf der einen Seite dasjenige, was spirituell ist, nicht ins wirkliche Leben übergeht, daß es eine Art Theorie oder eine Art, ich möchte sagen, Glaube an Worte bleibt, nicht einrial an Gedanken, sondern Glaube an Worte bleibt, daß auf der andern Seite wiederum nicht die Einsicht in richtiger Weise beizubringen ist, daß in das unmittelbar praktische Handhaben das Spirituelle wirklich eingreifen kann.
Sie müssen ja nur das eine bedenken, meine lieben Freunde, heute versteht eigentlich kein Mensch das Wesen des Düngens. Gewiß, es wird instinktiv durch Tradition aus alten Zeiten gemacht. Aber das Wesen des Düngens verstehen das tut heute eigentlich kein Mensch. Es weiß kein Mensch im Grunde genommen - außer denjenigen, die das aus Geistigem heraus wissen können , was eigentlich der Dunger fur den Acker bedeutet, und warum er in gewissen Gegenden unerlaßlich und notwendig ist, und wie er zu handhaben ist Es weiß zum Beispiel kein Mensch heute, daß alle die mineralischen Dungarten gerade diejenigen sind, die zu &eser Degenerierung, von der ich gesprochen habe, zu diesem Schlechterwerden der landwirtschaftlichen Produkte das We sentliche beitragen. Denn heute denkt eben jeder einfach. Nun ja, zum Pflanzenwachstum gehört eine bestimmte Menge Stickstoff -, und die Leute finden einfach ganz gleichgültig, auf welche Weise dieser Sti -stoff bereitet wird, wo er herkommt Das ist aber nicht gleichgultig, wo er herkommt, sondern es handelt sich wirklich darum, daß zwischeftn Stickstoff und Stickstoff zwischen dem Stickstoff, wie er in der Lud mit dem Sauerstoff z men ist zwischen diesem toten Stickstoff und dem andern Stickstoff ein große; Unterschied ist. Sie werden es nicht leugnen, meine lieben Freunde, daß ein Unterschied ist zwischen einem Menschen, der lebendig herumgeht und einem Leichnam, einem menschlichen
#SE260a-312
Leichnam. Das eine ist tot, das andere ist lebendig und beseelt. Dasselbe ist zum Beispiel für den Stickstoff und die anderen Stoffe der Fall. Es gibt toten Stickstoff. Das ist derjenige, der in unserer Luft-umgebung ist, der dem Sauerstoff beigemischt ist, und der eine Rolle spielt bei unserem ganzen Atmungsprozeß und bei dem Prozeß des Zusammenlebens mit der Luft. Der darf nicht lebendig sein, aus dem einfachen Grunde, weil, wenn wir in lebendiger Luft leben würden, wir fortwährend ohnmächtig sein würden. Daß die Luft tot ist, der Sauerstoff tot ist, der Stickstoff tot ist, das ist die Bedingung einer Luft, in der viele Menschen so atmen sollen, daß sie bewußt, besonnen denken können.
Der Stickstoff, der in der Erde ist, der mit dem Dung hineinkommen muß, der unter dem Einfluß des ganzen Himmels sich bilden muß, dieser Stickstoff muß ein lebendiger sein.
Und das sind zwei verschiedene Stickstoffe: derjenige Stickstoff, der über dem Niveau der Erde ist, und derjenige, der unter dem Niveau der Erde ist; das eine ist toter Stickstoff, das andere ist lebendiger Stickstoff.
Und so ist es mit allem. Dasjenige, was für eine Weiterpflege der Natur notwendig ist, das ist ja vollständig in das Nichtwissen hinein-gekommen im Laufe des materialistischen Zeitalters. Man weiß ja die wichtigsten Dinge nicht. Und so werden die Dinge fort-gehandhabt, gewiß aus einem ganz guten Instinkte heraus, aber der verschwindet allmählich. Die Traditionen verschwinden. Die Leute werden mit Wissenschaft die Äcker düngen. Die Kartoffeln, das Getreide, alles wird immer schlechter.
Das wissen auch die Leute, daß es schlechter wird, konstatieren es statistisch. Es ist heute nur eben erst das Sträuben vorhanden gegen praktische Maßregeln, welche ausgehen von demjenigen, was man in geistiger Anschauung gewinnen kann.
Daß man in diesen Dingen einmal richtig schaut, richtig sieht, das Ist von einer ungeheuren Bedeutung. Ich habe es auch hier öfter gesagt, wenn einer eine Magnetnadel hat, die immer eine ganz bestimmte Richtung einnimmt, die eine Spitze nach dem magnetischen Nordpol, die andere Spitze nach dem magnetischen Südpol, so würde man ihn für
#SE260a-313
kindisch halten, wenn er sagen würde, in der Magnetnadel drinnen liegen die Gründe, warum die eine Spitze immer nach Norden, die andere Spitze immer nach dem Süden zeigt. Man sagt: Hier ist die Erde, da ist die Magnetnadel; warum zeigt die Magnetnadel mit der einen Spitze nach Norden, mit der andern Spitze nach Süden? - weil hier ein magnetischer Nordpol, hier ein magnetischer Südpol ist; der richtet die Richtung der Magnetnadel nach der einen und nach der andern Seite. Die ganze Erde nimmt man zu Hilfe, um die Richtung der Magnetnadel zu erklären. Man geht aus der Magnetnadel heraus. Man würde den für kindisch halten, der meinte, daß die Ursache dafür in der Magnetnadel liege.
So kindisch ist man aber, wenn man glaubt, daß dasjenige, was die heutige Wissenschaft in unmittelbarer Nähe der Pflanzen, oder in der unmittelbaren Umgebung konstatiert, von dem abhänge, was man da anschaut. Am Pflanzenwachstum ist der ganze Himmel mit seinen Sternen beteiligt! Das muß man wissen. Das muß in die Köpfe wirklich nun einmal hineinkommen. Man muß sich sagen können, es ist ebenso kindisch, in der heutigen Art Botanik zu treiben, wie es kindisch wäre, über die Magnetnadel so zu reden, wie ich es heute angedeutet habe.
Und gewisse Dinge kann jeder Gebildete sich heute aneignen, wenn er nur Sinn hat für die allereinfachsten Bedingungen des anthropo-sophischen Lebens.
Dasjenige, was ich in Penmaenmawr zum allerersten Mal angedeutet habe im vorigen Jahre, das ist außerordentlich wichtig. Die Leute wissen ja heute nicht einmal, wie Mensch und Tier sich ernährt, geschweige denn eine Pflanze. Die Leute glauben, Ernährung besteht darinnen, daß der Mensch die Substanzen seiner Umgebung ißt. Er nimmt sie in den Mund herein; sie kommen dann in den Magen. Da wird ein Teil abgelagert, ein Teil geht weg. Dann wird der verbraucht, der abgelagert worden ist. Dann geht der auch weg. Dann wird das wieder ersetzt. In einer ganz äußerlichen Weise stellt man sich heute die Ernährung vor. So ist es aber nicht, daß mit den Nahrungsmitteln, die der Mensch aufnimmt durch seinen Magen, aufgebaut werden Knochen, Muskeln, sonstige Gewebemasse, - das gilt ausgesprochen ja nur für den menschlichen Kopf. Und alles dasjenige, was auf dem Umwege durch
#SE260a-314
die Verdauungsorgane in weiterer Verarbeitung im Menschen sich aus-breitet, das bildet nur das Stoffmaterial für seinen Kopf und für lles dasjenige, was im Nerven-Sinnessystem und dem, was dazu gehört, sich ablagert, währenddem zum Beispiel für das Gliedrnaßensystem oder für die Organe des Stoffwechsels selber die Substanzen, die man braucht, also sagen wir, um Röhrenknochen zu gestalten für die Beine oder für die Arme, oder für Därme zu gestalten für den Stoffwechsel, für die Verdauung, gar nicht durch die durch den Mund und Magen aufgenommene Nahrung gebildet werden, sondern sie werden durch die Atmung, und sogar durch die Sinnesorgane aus der ganzen Umgebung aufgenommen. Es findet fortwährend im Menschen ein solcher Prozeß statt, daß das durch den Magen Aufgenommene hinaufströmt und im Kopfe verwendet wird, daß dasjenige aber, was im Kopfe beziehungsweise im Nerven-Sinnessystem aufgenommen wird aus Luft und aus der andern Umgebung, wiederum hinunterströmt, und daraus werden die Organe des Verdauungssystems oder die Gliedmaßen.
Wenn Sie also wissen wollen, woraus die Substanz der großen Zehe besteht, müssen Sie nicht auf die Nahrungsmittel hinschauen. Wenn Sie Ihr Gehirn fragen: Woher kommt die Substanz? - da müssen Sie auf die Nahrung sehen. Wenn Sie aber die Substanz Ihrer großen Zehe, insofern sie nicht Sinnessubstanz, also mit Wärme und so weiter ausgekleidet ist - insofern wird sie auch durch den Magen ernährt -, sondern dasjenige, was sie außerdem an Gerüstesubstanz und so weiter ist, kennen wollen, so wird das aufgenommen durch die Atmung, durch die Sinnesorgane, ein Teil sogar durch die Augen. Und das geht alles, wie ich es ja öfter hier ausgeführt habe, durch einen siebenjährigen Zyklus in die Organe hinein, so daß der Mensch substantiell in bezug auf sein Gliedmaßen-Stoffwechselsystem, das heißt die Organe, aufgebaut ist aus kosmischer Substanz. Nur das Nerven-Sinnessystem ist aus tellurischer, aus irdischer Substanz aufgebaut. Nun, sehen Sie, das ist eine so fundamental bedeutsame Tatsache, daß das physische Leben von Mensch und Tier überhaupt nur beurteilt werden kann, wenn das gewußt wird. Und nichts, nicht einmal die Mittel und Wege, um so etwas zu wissen, nichts ist in der heutigen Wissenschaft gegeben. Man kann es gar nicht wissen mit der heutigen Wissenschaft. Es geht gar
#SE260a-315
nicht, weil, wenn die heutige Wissenschaft mit ihren Mitteln arbeitet, sie gar nicht zu so etwas kommen kann. Es ist unmöglich, es ist aussichtslos.
Das sind die Dinge, die eben durchaus bedacht werden müssen. Daher haben wir heute diese Trennung von Theorie und Praxis. Die heutige Praxis ist geistlos, ist eine bloße Routine.
Aber es hört auf dasjenige, was aus dem Geist kommt, unpraktisch zu sein, wenn es eben tatsächlich aus dem Geiste kommt. Es wird dann im eminentesten Sinne praktisch.
#TI
Nachrichtenblatt, 22. Juni 1924
An die Mitglieder!
DIE VERANSTALTUNGEN IN KOBERWITZ UND BRESLAU
#TX
Seit längerer Zeit war es der Wunsch einer Anzahl von Anthroposophen, die in landwirtschaftlichen Berufen stehen, daß von mir ein Kursus abgehalten werde, der enthalten solle, was aus anthroposophischer Anschauung über Landwirtschaft zu sagen ist. Vom 7. bis 16. Juni konnte ich die Zeit finden, diesem Wunsche zu entsprechen.
Koberwitz bei Breslau, wo Graf Carl Keyserlingk ein großes land-wirtschaftliches Gut in vorbildlicher Art verwaltet, war einer der für einen solchen Kursus gegebenen Orte. Es war ja selbstverständlich, daß über Landwirtschaft da gesprochen wurde, wo die zu der Veranstaltung Versammelten die Dinge und Vorgänge, auf die sich die Ausführungen bezogen, um sich herum haben konnten. Das gibt einer solchen Veranstaltung Stimmung und Farbe.
Die Nähe des Gutes Koberwitz von Breslau ermöglichte ja auch, den landwirtschaftlichen Kursus mit andern anthroposophischen Arbeiten zu verbinden.
Nun haben wir in Koberwitz-Breslau in dem Grafen Carl Keyserlingk und in Rektor Bartsch zwei Persönlichkeiten, die jederzeit bereit
#SE260a-316
sind, für die Pflege der Anthroposophie mit hingebungsvollem Enthusiasmus, mit zielsicherer Umsicht und eindringlicher Energie zu arbeiten.
Deren Hingabe ist es zuzuschreiben, daß wir in der angegebenen Zeit eine große Anzahl unserer Mitglieder in anthroposophischem Streben versammelt hatten.
Die Vormittage von II 1/2 bis 3 Uhr waren der Landwirtschaft gewid-met. Zu dieser Zeit durften sich eine größere Zahl von Landwirten in dem Heim von Gräfin und Graf Keyserlingk in Koberwitz versammeln. Man war übereingekommen, daß auch für die Sache Interessierte, die nicht unmittelbar in der landwirtschaftlichen Praxis stehen, in geringerer Zahl anwesend sein konnten.
Der Vormittag wurde jeden Tag mit meinem Vortrage begonnen. Ich machte zum Inhalte das Wesen der Erzeugnisse, welche von der Landwirtschaft geliefert werden und der Bedingungen, unter denen diese Erzeugnisse entstehen können. Das Ziel dieser Auseinandersetzungen war, zu solchen praktischen Gesichtspunkten für die Landwirtschaft zu kommen, die zu dem heute durch praktische Einsicht und wissenschaftliche Untersuchung Gewonnenen das hinzufügten, was von einer geistgemäßen Betrachtung der einschlägigen Fragen gegeben werden kann.
An den Vortrag schloß sich eine Frühstückspause, in der das Haus Keyserlingk in der «eingehendsten» Weise für die Bewirtung der in Breslau wohnenden und zum Kursus nach Koberwitz gekommenen Teilnehmer sorgte.
Dann folgte eine Aussprache über die jeweils behandelten Fragen. Die Lebhaftigkeit, mit der es da zuging, zeugte von dem allerstärksten Interesse der Versammelten an der anthroposophischen Behandlung von Dingen, die ihnen nahestehen.
Unser Freund, Herr Stegemann, sprach gleich im Beginne der Tagung von Dingen, die sich für ihn an Gespräche knüpften, die ich vor einiger Zeit schon mit ihm über Landwirtschaftliches haben konnte. Er hat ja auf Grund des so Gesagten bereits praktische Versuche auf dem von ihm bewirtschafteten Gute gemacht. Was sich ihm da ergeben hatte, und was er an sich daran knüpfenden Wünschen hatte, brachte er vor.
An diese Auseinandersetzungen Stegemanns schloß sich ein Vorschlag
#SE260a-317
des Grafen Keyserlingk, der sogleich darauf ausging, über das durch den Kursus Anzudeutende die nötigen Versuche zu machen. Für dieses Ziel sollte eine Gemeinschaft von Berufslandwirten sich zusammenfinden. Eine solche wurde denn auch in einer darauffolgenden Versammlung der anwesenden Landwirte gegründet. Man kam überein, daß das im Kursus Mitgeteilte zunächst als Winke betrachtet werde, von dem man vorläufig nicht außerhalb des Kreises der Teilnehmer spricht, sondern das man als die Grundlage für Versuche betrachtet, durch die es in die Form gebracht werden soll, in der man es veröffentlichen kann. Diese Gemeinschaft, bei deren Versammlungen abwechselnd Graf Keyserlingk und Herr Stegemann den Vorsitz führen sollen, wurde als eine Vereinigung von Menschen erklärt, die sich der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum eingliedert. Von dieser Sektion aus soll den Versuchsarbeiten fortdauernd Richtung und Ziel gegeben werden.
Graf Keyserlingk hat damit dem, was der Kursus anregen konnte, mit sicherer Hand die sachgemäße Orientierung gegeben.
Fräulein Dr. Vreede, die anwesend war, wurde gebeten, als sachverständige Mitarbeiterin bei der Leitung der Versuche vom Goetheanum aus zu wirken.
In reger Art wurden die nötigen Vorbesprechungen dieser Gemeinschaft in einer Reihe von Versammlungen gepflogen.
Nach einer entsprechenden Pause schlossen sich an die landwirtschaftlichen Veranstaltungen andere anthroposophische in Breslau.
Zu einem Kursus über künstlerische Behandlung der Sprache, der von Frau Marie Steiner abgehalten wurde, hatten sich so viele Teilnehmer gemeldet, daß in dieser Richtung eine Begrenzung der Teilnehmerzahl eintreten mußte. Es ist sachgemäß, daß bei einem solchen Kurse die Anwesenden zu wirklichen Übungen im Sprechen kommen. Man kann deswegen nicht eine unbegrenzte Teilnehmerzahl haben. Diesmal wurde nun ein Mittelweg dadurch eingeschlagen, daß man einer möglichen Teilnehmerzahl die vorderen Plätze anwies, wo mit ihnen die Übungen gemacht werden konnten, während eine größere Anzahl von Zuhörern in den weiteren Sitzreihen das entgegennehmen konnte was durch stummes Zuhören zu gewinnen ist. Frau Marie Steiner wählte diesen Weg, weil sie dem so befriedigenden Interesse entgegenkommen wollte, das
#SE260a-318
sich in Anthroposophenkreisen für die Sprachkunst in einem weiten Umfange zeigt. Dieses Interesse ist im höchsten Grade erfreulich. Denn es zeigt ein Wachsen des Verständnisses für die Art der künstlerischen Sprachbehandlung, die aus dem anthroposophischen Geiste heraus durch Frau Marie Steiner gepflegt wird. Es steht zu hoffen, daß durch das weitere Wachsen dieses Verständnisses die Kunst des Sprechens in immer weiteren Kreisen Eingang finden wird. Das kann bei der großen Bedeutung, welche diese Kunst für die Persönlichkeitskultur hat, recht segens-reich wirken.
Eine Eurythmievorstellung mit den Eurythmiekünstlern vom Goetheanum und unter der Leitung und rezitatorischen Mitwirkung von Marie Steiner, wie auch unter der Mitwirkung von Max Schuurman, fand im vollbesetzten Lobe-Theater und bei regster Anteilnahme des Publikums am Montag, dem 9. Juni statt.
Zwei Klassenvorträge der Freien Hochschule des Goetheanums konnte ich am ii. und 13. Juni im Rahmen der Breslauer Veranstaltungen abhalten. Ich zeigte, wie der Weg zur Geist-Erkenntnis und die seelischen Erlebnisse beim Übergang vom sinnlichen zum geistigen Anschauen durch innere Seelenarbeit verstanden werden kann.
Zwei Versammlungen der in Breslau bestehenden Jugendgruppe der Anthroposophischen Gesellschaft konnten abgehalten werden. Als tief befriedigend darf diese Tatsache bezeichnet werden. Mit offenem Herzen und aus ernster Seelenstimmung sprachen einzelne Teilnehmer des Jugendkreises; offene Herzen und teilnahmsvolle Seelen schaute ich vor mir, wenn ich sprach. Man redete über das Wesen der Jugendbewegung und über Ziele derselben, welche die Zeit fordert. Es lag viel Idealismus, Seelensorge, aber auch viel guter Wille in den Teilnehmern dieser Versammlungen. Man möchte wünschen, daß in Einigkeit die Jugend nach der Verwirklichung dessen strebt, was sie im Herzen nach der geistigen Welt hindrängt, und daß sie sich nicht durch Uneinigkeit schwach macht.
Den Abschluß der Tage bildete immer der Mitgliedervortrag, den ich zu halten hatte. Mit unseren Breslauer Freunden hatten sich eine große Zahl auswärtiger Mitglieder aus einem großen Umkreise vereinigt, so daß diese Mitgliederabende eine sehr große Zahl von Freunden der anthroposophischen Bewegung vereinigte. Ich sprach über das menschliebe
#SE260a-319
Schicksal in seiner Entwickelung durch die aufeinanderfolgenden Erden leben hindurch, über die Art, wie an der Gestaltung dieses Schicksales (Karma) in dem menschlichen Dasein zwischen Tod und neuer Geburt die Wesenheiten einer übersinnlichen Welt wirken; ich gab Bei-spiele, an denen ich aus der Geistesforschung heraus diese Gestaltung veranschaulichen konnte.
Am Sonntag, dem 1 5. Juni, fand noch eine Vorführung der Iphigenie statt durch die Schauspieler, die sich um Kugelmann zu neukünstlerischen Bühnenspielen vereinigt haben. Kugelmann hat die Anregungen, die er in einem Kursus über künstlerische Sprachbehandlung empfing, den vor einiger Zeit Marie Steiner am Goetheanum gehalten hat, für die Schauspielkunst angewendet. In dieser Vorführung zeigte er die Früchte seines schönen Mühens.
Ich schreibe diese Erzählung von unserer Breslauer und Koberwitzer Tagung nach dem letzten Mitgliedervortrag; und ich danke auch an dieser Stelle Herrn Rektor Bartsch für die lieben Worte, mit denen er nach der Beendigung dieses Vortrages den Schluß dieses Teiles der Tagung verschönt hat. Wir haben nun noch am 16. Juni eine Versammlung der Teilnehmer am landwirtschaftlichen Kursus, eine Sprachkursstunde von Marie Steiner, und ein geselliges Zusammensein der Kursteilnehmer vor uns.
Vom Vorstande am Goetheanum sind hier anwesend: Marie Steiner, Dr. Vreede, Dr. Wachsmuth.
Allerherzlichsten Dank müssen alle Teilnehmer dieser Tagung empfinden gegenüber der Gräfin und dem Grafen Keyserlingk und den übrigen Mitgliedern des Keyserlingkschen Hauses, die in einer Art, wie sie schöner, würdiger, sachgemäßer gar nicht gedacht werden könnte, hier die anthroposophische Arbeit zielsicher gestaltet und in ein wahres Fest eingerahmt haben. Es gehörte viel aus dem Geiste der Anthroposophie geborener Enthusiasmus und eine tiefe Liebe zur Sache dazu, um in solcher Art diese Tagung zu gestalten.
#SE260a-320
#TI
Nachrichtenblatt, 29. Juni 1924
An die Mitglieder!
BRESLAU-KOBERWITZER TAGUNG, WALDORFSCHULE,
JUGEND SEHNSUCHT
#TX
Die Erzählung von unserer Breslauer und Koberwitzer Tagung konnte ich in der letzten Nummer nur bis zu ihrem vorletzten Tage führen. Der letzte brachte noch die Schlußversammlung der Teilnehmer am landwirtschaftlichen Kurse, die letzte Sprachkursstunde von Marie Steiner und das gesellige Zusammensein der Kursteilnehmer am Abend des 16. Juni.
In dem letzten Vortrage ergänzte ich das über Landwirtschaft Gesagte durch einige Auseinandersetzungen über Obstbau, Tierernährung, Wald-kultur, über die Schädlinge des Feldbaues und über sogenannte Pflanzenkrankheiten. Graf Keyserlingk betonte nochmals in eindringlicher Art, daß der Inhalt der Vorträge über Landwirtschaft zunächst als Arbeitsmaterial der eben entstandenen Gemeinschaft der Landwirte innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft dienen soll. Mitteilungen darüber sollen in keiner Art gemacht werden, bevor die Mitglieder dieser Gemeinschaft durch die Ergebnisse ihrer Versuchsarbeiten werden sprechen wollen. Diejenigen Teilnehmer am Kurse, denen als für die Landwirtschaft interessierte Nicht-Landwirte das Zuhören ermöglicht worden ist, wurden daher gebeten, das Gehörte nur als Anregung für sich selbst zu betrachten und nirgends darüber zu berichten. Wenn es sich um Dinge handelt, die von vorneherein dazu bestimmt sind, in der Lebenspraxis ihre Auswirkung zu finden, so ist eine solche Maßnahme vollberechtigt. Was die Anthroposophie zunächst über Landwirtschaft zu sagen hat, wird im Kreise der landwirtschaftlichen Fachleute zunächst seine bestmögliche Pflege finden; und man muß es ihnen überlassen, damit im Verein mit der naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum so zu verfahren, wie sie es für gut finden.
In der geselligen Zusammenkunft am Abend sprach zunächst liebe Schlußworte eine Persönlichkeit, die nach einer langen und wirksamen
#SE260a-321
Tätigkeit in der Landwirtschaft dazu übergegangen ist, priesterlicher Mitarbeiter in der Bewegung für christliche Erneuerung zu werden, als der er jetzt wirkt, Herr von Koschützky. Dann dankte Rektor Bartsch Frau Marie Steiner für ihre Mitwirkung an der Tagung. Graf Keyserlingk übernahm es schon am Vorabend, auf die finanziell schwierige Lage der Waldorfschule hinzuweisen und zu einer Sammlung unter den Kursteilnehmern anzuregen. Am letzten Abend wiederholte er dieses. Er hat damit auf etwas hingewiesen, das mit möglichster Stärke im Be-wußtsein der Mitglieder leben sollte. Und seinem Beispiele sollten an-dere nachfolgen. Denn mit der Waldorfschule ist es doch so, daß sie in ganz sichtbarer Art in immer weiteren Kreisen an Anerkennung gewinnt. Wir haben eine Schülerzahl von ungefähr achthundert. Der größte Teil der Jahrgänge arbeitet in zwei Paralleiklassen; für den fünften und sechsten Jahrgang mußten wir sogar je drei Parallelklassen errichten. Die Zahl der Lehrkräfte, die an dieäser Institution arbeitet, muß fortdauernd vergrößert werden. Wir können nicht mehr alle Bewerber, die in die Waldorfschule kommen wollen, annehmen. Und bei dieser so tief befriedigenden Sachlage ist in finanzieller Beziehung die Schule der Gegenstand allerschwerster Sorge. Wir stehen schon in den nächsten Monaten vor der Tatsache, daß wir nicht wissen, wie wir die Schule erhalten sollen, wenn nicht die Freunde derselben durch finanzielle Hilfe uns noch mehr unterstützen als bisher. Zunächst hat sich ein stets opferbereites Mitglied unserer Gesellschaft gefunden, das uns für einen Teil der fehlenden Mittel Hilfe gebracht hat. Allein auch damit ist die Höhe des Fehlbetrages, den wir in den nächsten Monaten haben werden, noch nicht gedeckt. Freunde können Hilfe bringen entweder durch Beiträge, oder durch Werbung von Mitgliedern für den WaldorfSchulverein, oder durch Übernahme von Patenschaften für solche Kinder, deren Angehörige das Schulgeld nicht bezahlen können. Man wird sich an das Sekretariat des Waldorf-Schulvereins wenden können, um das Genauere zu erfahren über die Art, in der man helfen kann. - Die Sammlung, zu der Graf Keyserlingk bei der Tagung in Breslau Anregung gegeben hat, war von dem größten Erfolg, den eine einmalige Sammlung haben kann. Aber wir sind darauf angewiesen, daß das hier gegebene Beispiel bei jeder Gelegenheit im Umkreise der Anthroposophischen
#SE260a-322
Gesellschaft Nachfolge findet. Denn nur dadurch wird es möglich sein, die Waldorfschule, deren Arbeit mit so großen Hoffnungen begonnen wurde, die so vielversprechend sich weiterentwickelt, fort-zuführen.
An dem landwirtschaftlichen Kursus haben auch eine Anzahl jüngerer Mitglieder unserer Gesellschaft teilgenommen. Diese fühlten am Lnde der Tagung noch das Bedürfnis, ihren Kreis zu versammeln. Das geschah in den frühen Morgenstunden des i 7.Juni. Aus tiefstem Herzen sprachen da jüngere Freunde über ihre Sehnsucht, im Schaffen und in der Arbeit an die Einsichten aus dem geistigen Gebiete heranzukommen, die den Menschen mit den wirksamen Kräften der Natur verbinden. Es war eine Aussprache aus dem Innersten der Seele der Jugend heraus, die über den unfruchtbaren Materialismus hinauskommen möchte, der mit der Natur nicht verbindet, sondern den Menschen von ihr trennt und seine Arbeit zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Ich durfte bei dieser Jugendversammlung auf die Wege hinweisen, auf denen diese Sehnsucht sich bewegen sollte, um zu einem Ziele zu kommen.
Ich möchte diese Erzählung nicht abschließen, ohne das noch einmal kurz auszusprechen, was ich schon im Rahmen der geselligen Zusammenkunft gesagt habe. Der befriedigende Fortgang unserer Bewegung in Schlesien steht im innigen Zusammenhange mit dem langjährigen, energischen und einsichtsvollen Wirken des Rektors Bartsch. Durch viele Jahre hindurch hat er durch seine Schriften und durch sein stets eindrucksvolles Wort das für die Sache der Anthroposophie getan, was ein Mensch nur tun kann. Die Gesellschaft verdankt ihm viel. Wie wohltuend ich es stets empfunden habe, wenn meine Arbeit in seinem Wirken eine so kräftige Förderung fortdauernd gefunden hat, das auszusprechen, hatte ich bei der geselligen Zusammenkunft in Breslau das Bedürfnis.
#SE260a-323
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
Dornach, 22. Juni 1924
#TX
Nun möchte ich eine einleitende allgemeine Bemerkung hier machen, schon aus dem Grunde, weil ja heute und wohl auch in den nächsten Vorträgen Freunde anwesend sein werden, die im Verlaufe der Betrachtungen, der Vorträge, die in den letzten Wochen und Monaten gerade in Beziehung auf das Karma stattgefunden haben, nicht da waren. Es handelt sich ja immer darum, daß eingesehen werde, wie schwerwiegend eigentlich alles das genommen werden muß, was mit unserer Weihnachtstagung zusammenhängt. Es sollte das Bewußtsein wirklich ein durchgreifendes sein, daß mit dieser Weihnachtstagung im Grunde eine völlige Neugründung der Anthroposophischen Gesellschaft stattgefunden hat. Und es sollte durchaus so sein, daß nicht in die alten Gewohnheiten, auch nicht in die alten Denkgewohnheiten zurückgefallen werde gegenüber den starken Veränderungen, die in der neuerlichen Handhabung des anthroposophischen Weisheitsgutes eingetreten sind. Wir müssen uns nämlich darüber auch klar sein, daß dasjenige, was gerade in den Betrachtungen, die seit der Weihnachtstagung hier gepflogen werden, gesagt worden ist, nicht anders von jemand. anderem gegenüber dieser oder jener Zuhörerschaft vorgebracht werden kann, nicht in einer andern Weise, als höchstens, wenn dazu Vorlagen vorhanden sind, durch Vorlesen des genauen Wortlautes, der hier gesprochen wird.
In einer freien Weise kann das nicht wiedergegeben werden zunächst. Würde es wiedergegeben, so müßte ich mich dagegen wenden. Denn es handelt sich wirklich darum, daß bei diesen schwierigen und schwerwiegenden Dingen jedes Wort und jeder Satz, die hier gesprochen werden, genau abgewogen werden müssen, damit die Art und Weise klar werde, wie die Dinge begrenzt werden müssen. Wenn also irgend jemand vorhat, in einer andern Form die Dinge, die hier besprochen werden, an irgendeine Zuhörerschaft weiterzugeben, so müßte er erst sich mit mir in Verbindung setzen und anfragen, ob das möglich ist. Es muß in der Zukunft ein einheitlicher Geist, ein realer einheitlicher Geist in die ganze
#SE260a-324
anthroposophische Bewegung hineinkommen. Sonst verfallen wir du rch-aus in diejenigen Fehler, in die namentlich eine Anzahl unserer Mit-glieder verfallen ist, die da glaubten, das anthroposophische Weisheits-gut wissenschaftlich bearbeiten zu müssen, und wir haben ja Wirklich erfahren können, wieviel Abträgliches, wieviel der anthroposophischen Bewegung Abträgliches da eigentlich - ich sage es unter Anführungs-zeichen - «geleistet» worden ist.
Natürlich sind in die Bedingungen, von denen ich hier rede, ganz vertrauliche Mitteilungen ja nicht einbegriffen; aber auch bei denen sollte sich der Betreffende, der sie macht, seiner Verantwortung voll bewußt sein. Denn es beginnt einmal in dem Augenblicke, wo so gesprochen wird, wie jetzt von dieser Stelle aus gesprochen wird, es beginnt da eben einmal im eminentesten Sinne dasjenige, was ich als Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber den Mitteilungen aus der geistigen Welt bezeichnen muß. Es ist ja auch sonst schwierig, überhaupt hier über diese Dinge zu sprechen. Aber eben die Begrenztheit unserer Einrichtungen läßt etwas anderes nicht zu, als eben getan wird. Es ist schwierig, über diese Dinge zu sprechen, denn eigentlich sollten diese Vorträge nur vor solchen Zuhörern gehalten werden, die vom Anfange bis zum Ende einer Vortragsreihe dabei sind. Jeder, der später kommt, hat ja selbst-verständlich Schwierigkeiten des Verständnisses.
Nun kann man dem ja dadurch entgegenkommen, daß vollbewußt ist in den Seelen der Freunde, daß solche Schwierigkeiten bestehen. Dann ist ja alles gut, wenn ein volles Bewußtsein da ist. Aber das ist eben nicht immer der Fall. Und es kann auch nicht über diese Dinge, die die zartesten sind innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung, die richtige Denkweise Platz greifen, wenn doch auf der andern Seite, wie es auch seit der Weihnachtstagung ist, immer wiederum die Usancen fortdauern, die eben früher da waren: Eifersüchteleien, gegenseitige Rankünen und so weiter. Für die anthroposophische Entwicklung ist eben durchaus eine gewisse Gesinnung, ein gewisser Ernst absolut not-wendig.
Solche Dinge habe ich ja früher, als ich noch nicht das Vorstandsamt innehatte, als Lehrender vorgebracht. Aber ich muß sie jetzt so vorbringen, daß sie tatsächlich dasjenige darstellen, was von dem Vorstande
#SE260a-325
am Goetheanum ausgehend in der Anthroposophischen Gesellschaft leben rnuß.
Nun, ich denke, daß die Worte, die ich gesprochen habe, verstanden werden können. Sie sind ja gesprochen, um eben gegenüber einer solchen Vortragsreihe, wie diejenige ist, der wir hier gegenüberstehen, den nötigen Ernst vor die Seele der Freunde hinzustellen ... In diese Geheimnisse des Daseins [des Karmas] hineinzuleuchten, lag schon in den Absichten der Weihnachtstagung und ist wohl damals schon in der ganzen Haltung der Weihnachtstagung vor die Seelen der damals versammelten Freunde getreten. Die ganze Gestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft, meine lieben Freunde, war dazumal ein Wagnis. Denn durch diesen Saal, in dem diese weihnachtstagung war und be-gründen sollte die Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft, durch diesen Saal ging das reale, bedeutsame Dilemma: Wird es möglich sein, dasjenige, was nunmehr, wenn die Weihnachtstagung wahr sein soll in ihrem Fortwirken, wirklich herauszuholen aus den geistigen Welten und es zur Mitteilung zu bringen? Oder aber werden versiegen die Quellen, die der Erforschung der geistigen Welt zugrunde liegen müssen? Aber es mußte diese innere Krisis in der anthroposophischen Bewegung da sein, mit vollem Bewußtsein aufgefaßt werden. Es mußte diesen beiden Möglichkeiten entgegengeschaut werden.
Heute darf gesagt werden: in der geistigen Welt ist die Entscheidung dahin getroffen worden, daß gerade seit jener Weihnachtstagung die Quellen der geistigen Welt mehr eröffnet sind als vorher, daß also die Grundlagen da sind, wenn sie verstanden werden von der Gesellschaft, um im wesentlichen die anthroposophische Bewegung zu vertiefen.
Und es kann ja wirklich gesehen werden - ich habe das schon letzten Freitag erwähnt -, wo jetzt auftritt an den verschiedenen Orten der mehr esoterische Ton, der durch all unser anthroposophisches Wirken seit Weihnachten herrscht, es kann überall gesehen werden, daß die Herzen diesem mehr esoterischen Tone entgegenkommen.
Aber man möchte auch, daß alles dasjenige, was ich auch mit den letzten Worten angedeutet habe, entsprechend verstanden werde. Es mußte eben einmal gesagt werden und ist ja von mir auch schon an verschiedenen Orten gesagt worden.
#SE260a-326
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
BEIM HEILPÄDAGOGISCHEN KURSUS
Dornach, 7. Juli 1924
#TX
... Und so ist es schon einmal, daß eigentlich aus jeder Grundlegung für ein spezielles Tun innerhalb der anthroposophischen Bewegung gesehen werden müßte das Herausblühen einer bestimmten Gesinnung. Die Dinge, die angegeben werden, Sollten eigentlich nur wie die Wurzeln angesehen werden, aus denen die Gesinnungspflanze aufsprießt. Und da ist es wirklich notwendig, daß vor allen Dingen empfunden werde das Substantiell-Anthroposophische als eine Realität. Und Sie werden nichts erreichen, das kann im voraus gesagt werden, wenn Sie dasjenige, was Sie hier aufgenommen haben, nur wie etwas hinnehmen, was Sie eben erfahren haben und was nicht gesinnungsbildend gewesen ist. Das war schon einmal die, ich möchte sagen, damals selbstverständliche, aber immer noch selbstverständlicher werdende Voraussetzung, die dem zugrunde liegt, was nun als Anthroposophische Gesellschaft seit der Weihnachtstagung existieren soll. Da muß als ganz real angesehen werden, was vom Goetheanum in seinen Einrichtungen ausgeht, und so kann es in der Zukunft gar nicht anders sein, als daß durch die verschiedenen Sektionen dasjenige geht, was in der Zukunft anthroposophisch wirken soll. Denn es muß eben nach alldem, was Sie verspüren aus solchen Auseinandersetzungen, ein Organismus werden diese Anthroposophische Gesellschaft, in dem wie Lebensblut die Verantwortlichkeiten wirken. Und die Dinge wirken schon zusammen in der richtigen Weise, wenn sie richtig empfunden werden. Wie für gewisse Organisationsfunktionen im menschlichen Organismus Herz und Nieren zusammenwirken müssen, damit ein Einheitliches entstehe, so müssen Zusammenwirken für dasjenige, was Sie gerade anstreben, müssen zusammenwirken die Sektionen, die in sich gerade diejenige Substanz pflegen, für die sie im besonderen verantwortlich sind. Aber derjenige, der dann etwas unternimmt in der Welt, der muß zusammenwirken lassen in seinem Tun dasjenige, was dann von den Sektionen ausgeht, und man muß real nehmen das anthroposophische Wirken.
#SE260a-327
Denken Sie also, Sie haben die Intention, für minderwertige Kinder zu wirken. Da haben Sie zuerst zu beachten, was in der anthroposophischen Bewegung lebt als pädagogische Strömung. Die pädagogische Strömung muß Ihnen etwas sein, was so, wie Sie da ist, einfließen muß in Ihre eigene Tätigkeit. Es muß Ihnen klar sein, daß Sie in dem, was die eigentliche pädagogische Strömung in sich enthält, dasjenige vor sich haben, was den typischen Menschen heilt, so daß er sich in die Welt hineinstellen kann. Sie müssen dann sich klar sein darüber, daß die rnedizinische Sektion Ihnen dasjenige allein geben kann, was nun die Pädagogik vertiefen kann nach der Abnormität des Menschen hin. Und wenn Sie da in der richtigen Weise sich hineinvertiefen, so werden Sie selbst bald finden, daß das nicht in der Weise gegeben werden kann, daß man hört: das ist für das gut, das ist für das gut, sondern nur dadurch, daß ein fortwährender lebendiger Zusammenhang entsteht. Dieses Auseinanderreißen des lebendigen Zusammenhanges ist etwas, was nicht da sein sollte. Da darf nicht beginnen ein gewisser Egoismus im Spezialwirken, sondern nur die Sehnsucht, sich hineinzustellen in das Ganze. Indern die Heileurythmie herantritt an die Heilpädagogik, tritt wiederum die ganze Eurythmie heran an die Heilpädagogik. Daraus sollten Sie wiederum sehen, daß auch nach dieser Richtung hin ein lebendiger Zusammenhang gesucht werden muß, was sich auch darin äußern sollte, daß bis zu einem gewissen Grade derjenige, der Heileurythmie treibt, die Grundlagen der Eurythmie haben sollte.
Die Heileurythmie sollte aus einer, wenn auch nicht bis zur künstlerischen Vollendung gebrachten, doch allgemeinen Kenntnis der Laut- und Toneurythmie herauswachsen. Dann aber vor allen Dingen muß ja das den Menschen durchdringen, daß er sich an den Menschen anschließen muß, und so kann nicht anders als da, wo Heileurythmie ausgeübt wird, die Anlehnung an den Arzt gesucht werden. Und es ist eine Bedingung gestellt worden, als die Heileurythmie gegeben worden ist, daß sie nicht ausgeübt werde ohne den Zusammenhang mit dem Arzt. Das alles weist schon darauf hin, wie verschlungen, lebendig verschlungen die Dinge werden müssen, die in der Anthroposophie sich ausleben.
Aber dazu kommt noch das: es wird in der Zukunft die Entscheidung an die Anthroposophische Gesellschaft herantreten, die in ganz intensiver
#SE260a-328
Weise dahin geht: sind die Verantwortlichkeiten aufrechtzuerhalten, oder sind sie nicht aufrechtzuerhalten? Sie brauchen es nicht zu glauben, könnten es aber aus allem, was geschieht, sehen: dazumal, als die Weihnachtstagung ins Werk gesetzt werden sollte, sind diese Verantwortlichkeiten scharf ins Auge gefaßt worden mit einer manche vielleicht grausam berührenden Ausschließlichkeit in bezug auf die Qualität der menschlichen Persönlichkeiten, die eben da sind. Indem aus solchen Unterlagen heraus der Vorstand am Goetheanum gebildet worden ist, ist es nicht anders möglich, als daß dieser Vorstand angesehen werde innerhalb dessen, was in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht, als die volle autoritative Stelle. Für die einzelnen Dinge, die in Betracht kommen, muß einfach dieser Vorstand als die volle autoritative Stelle angesehen werden. Wird das in Zukunft verstanden werden oder nicht innerhalb der anthroposophischen Bewegung?
Und das ist dasjenige, was insbesondere bei einer solchen Gründung, wie die Ihrige, ich möchte sagen, als eine Art von Grundsteinlegung gesagt werden muß. Wenn nicht dasjenige, was Kritik ist an irgendeiner Stelle im menschlichen Zusammenhang aufhört - denn Kritik bezieht sich ja niemals auf den Inhalt des Gelehrten, sondern auf den Inhalt dessen, was gewirkt wird -, wenn diese Kritik nicht aufhört, wenn nicht tatsächlich namentlich in bezug auf die Dinge, wo Okkultes hineinwirkt, ein Prinzip des Autoritativen - nicht im Lehren, sondern im Wirken - tatsächlich da sein wird, dann wird unmöglich das aus der anthroposophischen Bewegung heraus werden können, was aus ihr unbedingt werden muß, wenn sie bleiben soll. Das verhohlene Sich-Aufstemmen gegen diejenigen, welche die Verantwortlichkeiten haben, das ist dasjenige, was in der Zukunft nicht bleiben kann; Und da wird dann schon die Mitgliedschaft zur Schule das nötige Korrektiv schaffen müssen, indem, wenn nicht das nötige Verständnis auftritt, die Mitgliedschaft zur Schule aufhören muß. Man könnte sagen: vor der Weihnachtstagung war es so, daß, weil ja ein Vorstand mit der Absicht, esoterisch zu wirken, nicht da war, daß das Denken und Fühlen mir überlassen worden ist. Und in ausgiebigstem Maße hat in Anspruch genommen jeder aus der Gesellschaft heraus, wie es ihm genehm war, das Wollen. Das ist das Urphänomen bis zur Weihnachtstagung gewesen. Wenn es sich
#SE260a-329
handelte darum, sich an das Denken oder auch an das Fühlen zu wenden in anthroposophischen Sachen, dann kam man zu mir ungefähr so, wie man zum Schuster kommt, wenn man sich von ihm Stiefel machen läßt. Das ist um so intensiver gewesen, als man es ja nicht gemerkt hat, sondern das Gegenteil davon glaubte. Aber kuriert werden kann das Ganze nur, wenn tatsächlich das Bewußtsein eintritt, daß auch ein gesellschaftliches Wollen, ausgehend von dem Vorstand am Goetheanum, vorhanden ist. Und man wird sich schon verständnisvoll, wahrhaftig nicht unter Zwang, in dieses finden können.
Aber die Denkweise ist eine ganz merkwürdige. Sie haftet so sehr an Worten. Grotesk trat mir das gestern entgegen, wie allüberall an Worten gehaftet wird, aus Worten dann aufgebauscht und an Worten erhitzt die Sehnsüchte zu Handlungen entstehen. So soll ich in Breslau von dem Vorstand der Freien Anthroposophischen Gesellschaft gesagt haben, die andern seien nun heraus und es sei der Rumpfvorstand zurückgeblieben. Daraus wurde sofort geurteilt: das ist ein Rumpfvorstand, jetzt muß er einen Kopf bekommen. - Nun sehen Sie, die Tatsache, die hier zugrunde liegt, ist doch diese, man klammert sich an ein Wort: Weil hier einmal der Kopf Rumpf genannt worden ist aus dem Sprachgebrauch heraus, klammert man sich an dieses Wort, während man die Tatsache gar nicht sieht, daß sich zunächst der Vorstand am Goetheanum ja vollständig im Einklang mit diesem sogenannten Rumpfvorstand befindet. Sonst hätte er dazu «mau» oder sonst etwas gesagt. Da er aber nicht «mau» gesagt hat, ist die Tatsache da, daß er vorläufig einverstanden ist. Und so handelt es sich darum, daß nach den Tatsachen geurteilt wird.
Das ist von einer ganz eminenten Wichtigkeit, wenn man mit der anthroposophischen Bewegung zurechtkommen soll. Deshalb ist es notwendig, daß Sie Ihre Begründung in Lauenstein, die ja die größten Hoffnungen machen kann, so auffassen, daß sie in vollem Einklange mit der ganzen anthroposophischen Bewegung wirkt; daß Sie auf der einen Seite von dem Bewußtsein durchdrungen sind, daß die anthroposophische Bewegung dasjenige, zu dem sie auf eine solche Weise ihr «ja» sagt, auch hegen und pflegen wird, aber nur so hegen und pflegen kann, wie es ihren Einrichtungen heute nach der Weihnachtstagung gemäß ist. Aber auf der andern Seite muß auch das vorliegen, daß ein solches Glied
#SE260a-330
dann auch wiederum dasjenige, was es tut, zur Erhöhung der Kraft der anthroposophischen Bewegung tut.
Das möchte ich Ihnen, meine lieben Freunde, allen ans Herz legen, und betrachten Sie ein solches aus dem Herzen kommende Wort als das, was ich Ihnen mitgeben möchte als den Impuls, der schon Weiter Wirken wird.
Denken Sie in einer geistigen Bewegung daran, diese geistige Bewegung für das praktische Leben fruchtbar zu machen, dann muß man diese geistige Bewegung als eine lebendige ansehen. Das zur Kraft, zur Steuer und zum guten Wirken Ihres Willens, meine lieben Freunde!
#TI
Nachrichtenblatt, 20 Juli 1924
An die Mitglieder!
LAUT-EURYTHMIE-KURS
#TX
In der Zeit vom 24. Juni bis zum 12.Juli wurde am Goetheanum ein Kursus über Laut-Eurythmie abgehalten. Er hatte zum Inhalt eine nochmalige Darstellung von vielem, was bisher auf diesem Gebiete gegeben worden ist und zugleich eine Vertiefung und Erweiterung dieses schon Bekannten. Die eurythmisierenden Künstler, die am Goetheanum und von da aus an vielen Orten die Eurythmie als Kunst ausüben, die auf diesem Gebiete Lehrenden, die Lehrkräfte der von Marie Steiner in Stuttgart begründeten und geleiteten Eurythmie-Schule, die für Eurythmie tätigen Lehrkräfte der Waldorfschule und der Fortbildungsschule am Goetheanum, Heil-Eurythrnisten, und eine Reihe anderer Persönlichkeiten, die durch ihren Beruf als Künstler oder Wissenschafter auf andern Gebieten für Eurythmie Interesse haben, nahmen an dem Kursus teil.
Eurythrnie macht ja möglich, das Künstlerische als solches in seiner Wesenheit und seinen Quellen zur Anschauung zu bringen. Darauf wurde bei Abhaltung dieses Kurses besonders gesehen. Als eurythmischer
#SE260a-331
Künstler kann nur wirken, wer aus innerem Beruf und innerer ßegeisterung Kunstsinn schöpferisch entfaltet. Um die in der mensch-lichen Organisation liegenden Form- und Bewegungsmölichkeiten zur Offenbarung zu bringen, hat man nötig, daß die Seele ganz von Kunst erfüllt ist. Dieser universelle Charakter des Eurythmischen lag allen Ausführungen zu Grunde.
Wer eurythmisieren will, muß in das Wesen der Sprachgestaltung eingedrungen sein. Er muß vor allem an die Geheimnisse der Laut-Schöpfung herangekommen sein. In jedem Laute ist ein Ausdruck für ein Seelenerlebnis gegeben. Im vokalischen Laute ein solcher für ein gedankliches, gefühlsrnäßiges, willensartiges Sich-Offenbaren der Seele, im konsonantischen Laute fü r die Art , wie die Seele ein äußeres Ding oder einen Vorgang vergegenständlicht. Dieser Ausdruck im Sprachlichen bleibt beim gewöhnlichen Sprechen zum größten Teile ganz unterbewußt; der Eurythmist muß ihn auf ganz exakte Art kennenlernen, denn er hat, was im Sprechen hörbar wird, in die ruhende und bewegte Gebärde zu verwandeln. Das innere Gefüge der Sprache wurde deshalb in diesem Kurse bloßgelegt. Die Lautbedeutung des Wortes, die der Sinnbedeutung überall zum Grunde liegt, wurde anschaulich gemacht. Von der eurythmischen Gebärde aus läßt sich manches in dem Gesetz-mäßigen der Sprache, das gegenwärtig, wo das Sprechen in einer stark abstrakten Seelenverfassung ausgeführt wird, wenig erkannt Wird, zur Darstellung bringen. Das ist in diesem Kursus geschehen. Dadurch, so darf gehofft werden, wird er auch Lehrern des Eurythmischen die ihnen nötigen Richtlinien gegeben haben.
Der Eurythmist braucht die Hingabe an das Kleinste der Gebärde, darnit seine Darstellung wirklich zum selbstverständlichen Ausdruck des Seelischen wird. Er kann die große Gebärde nur gestalten, wenn ihm dieses Kleinste erst zum Bewußtsein, dann zur gewohnheitsartigen Außerung des seelischen Wesens geworden ist.
Es wurde betrachtet , wie die Gebärde als solche Seelen - Erlebnis und Geist-Inhalt offenbart, und auch wie diese Offenbarung zum Seelen-ausdruck sich verhält, der in der Laut-Sprache sich hörbar verwirklicht. Man kann an der Eurythrnie das Technische der Kunst würdigen lernen; aber gerade auch an ihr tief durchdrungen werden davon, wie das Technische
#SE260a-332
alle Außerlichkeit abstreifen und ganz vom Seelischen ergriffen werden muß, wenn wahrhaft Künstlerisches leben soll. In der Kunst auf irgendeinem Gebiete tätige Menschen sprechen oft davon, wie die Seele hinter der Technik wirken soll; die Wahrheit ist, daß in der Technik die Seele tätig sein muß.
Ein besonderer Wert wurde in diesen Vorträgen darauf gelegt, Zu zeigen, daß der ästhetisch empfindende Mensch in der wahr gestalteten Gebärde das Seelische unmittelbar auf ganz eindeutige Art wahrnimmt. Es wurden Beispiele vorgeführt, die veranschaulichten, wie ein Inhalt in der Seelenverfassung auf selbstverständliche Art in einer gewissen Gebärdengestaltung gesehen werden kann.
Es wurde auch gezeigt, wie alle Sprachgestaltung, die in Grammatik Syntax, in Sprachrhythmus, in poetischen Tropen und Figuren, in Reim und Strophenbau sich offenbart, die entsprechende Verwirklichung auch in dem Eurythmischen findet.
Die Zuhörer dieses Kurses sollten nicht nur in der Erkenntnis der Eurythmie gefördert werden, sondern es sollte von ihnen erlebt werden, wie alle Kunst getragen sein muß von Liebe und Begeisterung. Der Eurythmist kann seine Kunstschöpfung nicht von sich ablösen und sie objektiv vor den ästhetisch Genießenden hinstellen wie der Maler, der Plastiker, sondern er bleibt in seiner Darstellung persönlich darinnen; man sieht an ihm, ob in ihm Kunst wie ein göttlicher Weltinhalt lebt, oder nicht. In unmittelbar künstlerische Gegenwart muß am Menschen der Eurythmist das Künstlerische als anschauliches Wesen hinstellen können. Das erfordert ein besonderes innerlich4ntimes Verhältnis zur Kunst. Zum Verständnisse davon wollte dieser Kurs den Teilnehmern verhelfen. Er wollte zeigen, wie in der Seele beim Anschauen der Gebärde das Gefühl, die Empfindung sich entzündet, und wie dann diese Empfindung zum Erleben des sichtbaren Wortes führt. Man kann vieles, was im hörbaren Worte nur unvollkommen sich darleben kann, durch die eurythinische Gebärde zur vollen Offenbarung bringen. Hörbares Wort in Rezitation und Deklamation in Verbindung mit dem sichtbaren Worte geben dann einen Total-Ausdruck, der intensivste künstlerische Geschlossenheit bewirken kann.
#SE260a-333
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE VEIHNACHTSTAGUNG
IN HOLLAND
Vor dem Vortrag in Arnheim, 18. Juli 1924
#TX
Gestern konnte ich wegen der verspäteten Ankunft nicht diejenigen Worte zu Ihnen sprechen, die ich gerne gesprochen hätte und die angemessen sein sollen dem, was seit der Weihnachtstagung am Goetheanum in der Anthroposophischen Gesellschaft geworden ist. Ich möchte auch, da ja durch das Mitteilungsblatt im wesentlichen unter unseren Freunden bekanntgeworden ist, was mit jener Weihnachtstagung gemeint war, nur kurz über das Allerwesentlichste sprechen und dann fortfahren in den Betrachtungen, die mehr innerlich mit dem zusammenhängen, was diese Weihnachtstagung für die Anthroposophische Gesellschaft zu bedeuten hat.
Diese Weihnachtstagung sollte ja eine Erneuerung, man möchte sagen, eine Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft darstellen. Bis zu dieser Weihnachtstagung konnte ich immer unterscheiden zwischen der anthroposophischen Bewegung und der Anthroposophischen Gesellschaft. Die letztere sollte gleichsam die irdische Projektion von etwas darstellen, das in den geistigen Welten in einer gewissen Strömung des geistigen Lebens vorhanden ist. Was hier auf der Erde gelehrt wird, was hier als anthroposophische Weisheit mitgeteilt wird, das sollte eben der Abglanz dessen sein, was in geistigen Welten gemäß der Entwickelungsphase der Menschheit in den gegenwärtigen Zeiten erfließt. Dann war die Anthroposophische Gesellschaft gewissermaßen die Verwalterin desjenigen, was da als anthroposophisches Lehrgut durch die anthroposophische Bewegung floß.
Das hat sich im Laufe der Zeit nicht als dasjenige herausgestellt, was mit einer echten, wahren Pflege des Anthroposophischen zusammenhängen kann. Deshalb trat die Notwendigkeit ein, daß ich selbst, der ich bis dahin - ohne alle offizielle Verbindung mit der Anthroposophischen Gesellschaft - Lehrer des Anthroposophischen war, daß ich selbst mit dem Dornacher Vorstande zusammen die Führung in der Anthroposophischen Gesellschaft als solcher übernehmen mußte. Damit aber ist
#SE260a-334
anthroposophische Bewegung und Anthroposophische Gesellschaft eins geworden. Und seit jener Dornacher Weihnachtstagung muß gerade das Entgegengesetzte gelten: Man muß nicht mehr unterscheiden zwischen anthroposophischer Bewegung und Anthroposophischer Gesellschaft, sondern beide sollen eins sein. Und diejenigen, die mir zur Seite stehen als der Vorstand am Goetheanum, sollen angesehen werden als eine Art esoterischer Vorstand. So daß das, was durch diesen Vorstand geschieht, so charakterisiert werden kann, daß es ist: Anthroposophie tun, während früher nur verwaltet werden konnte, was in Anthroposophie gelehrt wurde.
Das bedeutet aber zugleich, daß die ganze Anthroposophische Gesellschaft nach und nach auf eine andere Basis gestellt werden muß, auf eine Basis, die möglich macht, daß das Esoterische unmittelbar durch die Anthroposophische Gesellschaft ströme, und in dem Entgegenbringen der entsprechenden Gesinnung von seiten derjenigen, die Anthroposophen sein wollen, wird das bestehen müssen, was in der Zukunft das eigentliche Wesen der Anthroposophischen Gesellschaft ausmacht. Daher wird man zu unterscheiden haben zwischen der [A]allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, die in der Zukunft eine völlig öffentliche Gesellschaft sein wird, so daß auch die Zyklen, wie damals zu Weihnachten verkündet wurde, für jeden zu haben sein werden - mit jenen entsprechenden Klauseln, die ja eine Art ideell-spiritueller Begrenzung darstellen -, und der innerhalb dieser (
[A]allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft ja seitdem begründeten Schule, welche nach und nach drei Klassen umfassen wird. Bis jetzt konnte nur die erste Klasse begründet werden. Wer Mitglied dieser Schule werden will, muß dann andere Pflichten übernehmen als diejenigen, die nur die allgemeinen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft sind. Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft kann werden, wer sich für Anthroposophie interessiert und das Lehrgut entgegennimmt; er geht damit eigentlich keine anderen Verpflichtungen ein als die, welche jeder anständige Mensch von selbst aus moralischen Gründen befolgt.
Damit wird in gründlicher Weise so manches weggeschafft, was als Schäden gerade in den letzten Jahren innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft aufgetreten ist und was manchem Mitgliede schwere Stunden
#SE260a-335
bereitet, weil allerlei Gründungen entstanden sind, die ja aus sogenanntem gutem Willen hervorgegangen sind, die aber doch nicht das werden konnten, was man von ihnen sagte, und die eigentlich die anthroposophische Bewegung nach Nebenströmungen abgeleitet haben. In der Zukunft wird anthroposophische Bewegung in menschlicher Weise dasjenige sein, was durch die Anthroposophische Gesellschaft fließt.
Je mehr dies eingesehen wird, desto gedeihlicher wird es für die anthroposophische Bewegung sein. Und ich darf sagen: Dadurch, daß damals zu Weihnachten jener Impuls bei den am Goetheanum Versammelten geherrscht hat, ist es seit jenem Weihnachten möglich geworden, einen ganz andern Ton in die anthroposophische Bewegung zu bringen. Und zu meiner tiefen Befriedigung darf ich bemerken, daß an den verschiedenen Orten, wo ich bisher sein konnte, dieser Ton mit herzlichem Entgegenkommen überall aufgenommen worden ist. - Man darf schon sagen: Was zu Weihnachten übernommen worden ist, war in gewissem Sinne ein Wagnis. Denn es war eine gewisse Eventualität vorhanden: diese, daß vielleicht - dadurch, daß die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft unmittelbar zusammengebracht wurde mit der Vertretung des spirituellen Weisheitsgutes - jene geistigen Mächte, welche in der geistigen Welt die anthroposophische Bewegung leiten, ihre Hände hätten abziehen können. Es darf gesagt werden, daß dies nicht der Fall war, sondern das Gegenteil ist der Fall: Mit einer größeren Gnade, mit einem höheren Wohlwollen kommen diese geistigen Mächte demjenigen entgegen, was durch die anthroposophische Bewegung fließt. Es liegt auch in einem gewissen Sinne ein Versprechen vor gegenüber der geistigen Welt. Dieses Versprechen wird in unverbrüchlicher Weise erfüllt werden, und man wird sehen, daß in der Zukunft die Dinge geschehen werden, wie sie der geistigen Welt gegenüber versprochen wurden So daß nicht nur der anthroposophischen Bewegung, sondern auch der Anthroposophischen Gesellschaft gegenüber dem Vorstande eine Verantwortung auferlegt ist.
Dagegen muß von denen, die Mitglieder der Schule werden wollen, verlangt werden, daß sie sich im Leben darstellen als richtige Repräsentanten der anthroposophischen Bewegung und daß sie im Einklange handeln mit dem esoterischen Vorstande am Goetheanum in Dornach.
#SE260a-336
Damit ist also gesagt, daß der, der Mitglied der Schule sein will, sich auch bemühen muß, die Anthroposophie durch seine eigene Persönlichkeit in der Welt darzustellen. Das bedingt natürlich, daß die Leitung der Schule, wenn sie der Meinung ist, daß jemand nicht einen Repräsentanten der anthroposophischen Bewegung darstellt, sich vorbehalten muß, erklären zu können, daß der Betreffende nicht weiter Mitglied der Schule sein kann. - Sagen Sie nicht, das sei eine Beeinträchtigung der menschlichen Freiheit. Sondern es ist sozusagen ein freies Vertragsverhältnis zwischen den Mitgliedern der Schule und der Leitung der Schule; denn auch die Leitung der Schule muß frei sein, das, was sie sagen will, dem zu sagen, dem sie es zu sagen hat. Daher muß sie dem, von dem sie meint, daß sie nicht zu ihm sprechen kann, dies auch bezeichnen können.
In der ganzen Auffassung des esoterischen Zuges, der fortan gehen wird durch die anthroposophische Bewegung, wird das Gedeihliche, wird die fruchtbare Entwickelung der anthroposophischen Sache liegen. Es wird darauf gesehen werden, daß nichts Bürokratisches, nichts äußerlich Verwaltungsmäßiges die Anthroposophische Gesellschaft berührt, sondern daß alles lediglich beruhe auf dem innerhalb der Gesellschaft zu pflegenden Menschlichen. Gewiß, auch der Vorstand am Goetheanum wird allerlei verwalten müssen; das wird aber nicht die Hauptsache sein. Das Wesentliche wird sein, daß der Vorstand am Goetheanum dies oder jenes aus seiner Initiative heraus tue. Und das, was er tut, was er in Mannigfaltigkeit schon begonnen hat, wird eben Inhalt der Anthroposophischen Gesellschaft sein.
JUGENDANSPRACHE WÄHREND DER ANTHROPOSOPHISCH- PÄDAGOGISCHEN TAGUNG IN HOLLAND DAS LEBEN DER WELT MUSS IN SEINEN FUNDAMENTEN NEU GEGRÜNDET WERDEN Arnheim, 20. Juli 1924
#G260a-1987-SE337 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
JUGENDANSPRACHE WÄHREND DER ANTHROPOSOPHISCH-
PÄDAGOGISCHEN TAGUNG IN HOLLAND
DAS LEBEN DER WELT MUSS IN SEINEN FUNDAMENTEN
NEU GEGRÜNDET WERDEN
Arnheim, 20. Juli 1924
#TX
Die Frage und die Sehnsudit, die Ihnen auf dem Herzen liegen, insofern Sie sich als Jugend versammelt haben, sind solche, welche - hier weniger, dort mehr - seit etwa zwei Jahrzehnten in den Herzen der heutigen Jugend wahrgenommen werden können, seit dem Zeitpunkte, den man aus der Einsicht in die Entwickelung der Menschen heraus den Abschluß des Kali Yuga und den Aufgang des lichten Zeitalters nennt. Von vorneherein stößt man damit leicht auf ein Mißverständnis, wenn man den Aufgang des lichten Zeitalters gerade in unsere Zeit herein-setzt. Zu bemerken ist nicht viel von Lichter-Werden. Man kann sogar durchaus sagen: Die Verhältnisse sind seit der Jahrhundertwende verworrener und dunkler geworden. Das ist nun einmal so: Wie es in äußeren physikalischen Erscheinungen eine Trägheit gibt, wonach ein Körper seinen Zustand, den er angenommen hat, beibehält, so ist es auch bei allen Menschen, sie behalten noch eine Trägheit bei. Wir können sehen, wie das Beibehalten geschieht, wie die meisten Menschen heute keine Menschen des 20. Jahrhunderts sind, sondern bei den meisten hat man das Gefühl: man muß sie doch einmal vor hundert Jahren oder vor noch längerer Zeit gesehen haben. Sie sind nicht bloß in einem Lebensalter stehengeblieben, sondern man möchte sagen - so paradox es klingen mag -, sie sind stehengeblieben lange vor ihrer Geburt auf dem Standpunkt, auf dem sie gestanden haben.
Dennoch aber, wenn man auf die Wesenheiten hinsieht, die sich am Erdenschicksal betätigen, so findet man in ihnen, daß der Mensch aus einem Zeitalter herausgewachsen ist, in dem er mehr oder weniger durch schöpferisch geistige Mächte unbewußt geführt worden ist, die seine Seele aus Geisteskräften leiten. Der Mensch ist hineingewachsen in jenes Zeitalter, in dem sich gewisse geistige Wesen zurückgezogen haben und andere, die mehr ihre Impulse auf die Freiheit der Menschen angelegt
#SE260a-338
haben, in die Entwickelung der Menschheit eingegriffen haben. Die Menschen verstehen mit ihrem Bewußtsein heute im allgemeinen. noch wenig von diesem Eingreifen ganz neuer geistiger Mächte in die Entwickelung der Menschheit. Aber die Jugend hat tief im Unterbewußten gerade seit der Jahrhundertwende eine innere Erlebnisart, durch die sie zeigt, daß sie fühlt: da rüttelt etwas erdbebenartig an der Entwickclung der Menschheit. Nun kommen die Menschen und sagen: Es war doch immer so. Stets hat die Jugend sich gegen das aufgelehnt, was das Alter oder die Tradition in irgendein Zeitalter hineingestellt hat. - Ganz Gescheite sagen dann: Die Kronprinzen sind die Opponenten der Im-peratoren. Die Jugend lehnt sich auf gegen das Alter.
Das war allerdings bis zu einem gewissen Grade immer der Fall. Was aber heute in der Jugend - zum Teil ganz unbewußt - lebt, war eben noch nicht da. Und man kann sagen, es war niemals eine so große Diskrepanz, ein so großer Gegensatz da zwischen dem, wie das innere Erleben der Jugend äußerlich zum Ausdruck kommt, und dem, was das Innere Erleben der Jugend eigentlich ist. Wir haben alle möglichen Bewegungen der Jugend gesehen: Wandervogelbewegung, die freien Jugendgruppierungen mit den verschiedenen Namen, wir haben alles mögliche von dieser Art gesehen - solch ein Sich-Herausziehen aus all dem, was gegenwärtig die alten Leute für Zivilisation halten, ein Ent-fliehen-Mögen zu den Mächten, die man zunächst nicht bezeichnen will. Von Anfang an schien es mir ganz deutlich, daß durch einen Großteil der gegenwärtigen Jugend im tiefsten Unterbewußtsein eigentlich ein Zug lebt von einem merkwürdig gründlichen Verständnis dafür, daß ein großer erdbebenartiger Umschwung in der ganzen Entwickelung der Menschheit sich vollziehen muß.
Manchmal nimmt man solche Dinge in erschütternder und eindringlicher Art wahr. Immer möchte ich auf ein Beispiel hinweisen, das mir in Norwegen passiert ist. Es kam ein ganz junger Mensch, ein Gymnasiast, zu mir. Man wollte ihn abweisen, weil man meinte, solch ein ganz junger Kerl kann mich nur molestieren. In diesen Dingen wird ja nicht immer das Rechte gemeint. Das Karma machte es, daß ich gerade zur Türe herausging und ihn hereinnahm, weil ich meinte, trotzdem er ganz jung war, da ist es notwendig, daß man eine Unterredung herbeiführt.
#SE260a-339
Er sctzte mir auseinander: Unter uns Gymnasiasten lebt eine Sehnsucht nach etwas, was uns das Gymnasium nicht gibt. Wir möchten eine jugendzeitschrift begründen, nur unter uns Gymnasiasten. Können Sie uns nicht helfen? - Ich will, wenn die Sache sich vollzieht, in jeder Art lietfen, sagte ich. Dann sprach ich noch etwas weiter mit diesem jungen Mann, der Gymnasiast war, noch nicht einmal nahe dem Abiturium. Es zeigte sich da, daß in der unterbewußt klarsten Weise das vorhanden war, was viele Jugenderlebnis nennen, was ja recht wenig von denen verstanden wird, die alt sind.
Ich habe viel gefragt bei jenen, die alt sind, was sie sich unter dem jugenderlebnis vorstellen. Solche Antworten waren da: Die Jugend hat immer opponiert! Ich habe auch unter den Jungen gefragt, die behaupteten, das Jugenderlebnis zu haben. Da habe ich auch keine Auskunft bekommen. Und dennoch habe ich gewußt, daß viele, die keine Auskunft geben können, in ihrem Unterbewußtsein das Jugenderlebnis kennen. Es kommt nur sehr wenig heraus, wenn die Jugend darüber spricht, aber es ist in klarster Weise im Unterbewußtsein durchaus vorhanden. Was die Jugend ganz deutlich und stark fühlt, das kommt zum Beispiel dann heraus, wenn die Jugend, sagen wir, ein Naturpanorama bewundert. Das hat man immer bewundert, aber nicht so, wie die heutige Jugend das tut. Vielleicht tut das die heutige Jugend viel unvollkommener. Aber die heutige Jugend tut es so, daß sie deutlich fühlt: Wir sind hilflos. Wir müssen selbst zur einfachsten Naturbewunderung erst durch allerelementarste Kräfte gelangen.
Sehen Sie, wenn einem so etwas entgegentritt, dann fühlt man so tief, tief, welch innere Bedeutung diese ganze Jugendbewegung hat. Man erinnere sich nur an jenen gewaltigen Ruf nach der Natur, der zum Beispiel durch Rousseau und seine Anhänger da war. Auch da war eine Jugendbewegung, die sich explosionsartig sogar geäußert hat, viel stürmischer als die heutige Jugendbewegung. Was ist daraus geworden? Aus alldem ist das größte Philisterium des 19. Jahrhunderts geworden, gerade das, was macht, daß die Jugend sich heute so einsam fühlt innerhalb der gegenwärtigen zivilisierten Menschheit. Dasjenige, was an geistigem Leben vorhanden ist, was so vorhanden ist, daß sich die Menschen konventionell darüber freuen oder selbst darüber sich ärgern, das ist alt
#SE260a-340
geworden. Die Jugend fühlt noch viel mehr, sie fühlt es. Aber da muß ich den größten Wert legen auf das mehr Erkenntnismäßige. Es wird heute so viel revolutioniert, reformiert. Das ist so gräßlich alt, so gräßlich sterbensartig, revolutionieren zu wollen. Das sind alles Dinge, in die ein Mensch, der um die Jahrhundertwende geboren ist, wenn er ehrlich gegen sich ist, eigentlich nicht hineinwachsen kann. So fühlt die Jugend. Die Jugend fühlt: Wir haben nicht aufwachsen können, schon äls Kinder nicht aufwachsen können neben älteren Leuten, an denen sich hätte heranbilden können freudige Begeisterung an der Natur. Nein, wir haben eigentlich wild die Seelen heranwachsen sehen. - Und da entstand der Drang: Heraus! Irgendwohin, wohin es auch sei! Immer nur heraus aus dem, was die Jahrhunderte heraufgetragen haben!
Ja, sehen Sie, wenn ich über diese Sache spreche, spreche ich unbestimmt. Das ist gerade das Notwendige im Leben: unbestimmt, aber herzhaft. Will man es zur gewohnten philiströsen Klarheit bringen, dann fälscht man es.
Nun, dieses Jugenderlebnis, ich habe es in der Morgendämmerung beobachtet. Jetzt ist es Tag. Ich habe es in der Morgendämmerung beobachtet, ich habe den Unterschied wahrnehmen können zwischen den jugendlichen Menschen der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, die nun auch Jugend waren, begeisterungsvolle Jugend waren und die aus der jugendlichen Begeisterung heraus das Alte als grau angesehen haben und dann sich jugendlich gebärdet haben. Ich habe gesehen - ich rede in konkretem Sinne - solch einen Vertreter in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Er hat seine Begeisterung dadurch ausgelebt, daß er eine große Rede auf einen gefallenen Achtundvierziger (1848) gehalten hat. Ich habe mir diese Rede angehört. Es steckt ein Hofrat darin, sagte ich. Und er ist auch einer geworden. Ich habe andere kennengelernt, solche, die eigentlich schon dazumal nicht mit irgend etwas, was sich als Beruf herausgebildet hatte, in der Tradition zusammen-wachsen konnten. Ich habe jugendliche Menschen der achtziger Jahre früh ins Grab sinken sehen, weil es einfach für sie nicht möglich war, mitzuerleben die heraufgekommene Menschheitsentwickelung. Dazumal gab es unterbewußt eine Jugendbewegung, die etwas sehr Eigentümliches hatte, das ich so bezeichnen möchte: Sie hatte - Sie mißverstehen
#SE260a-341
den Ausdruck nicht -, sie hatte etwas von Gschämigkeit, Schamhaftig-keit. Sie gestanden nicht, was sie fühlten. Es wollte nicht an die Ober-fläche des Daseins, was Sie fühlten Es siechte lieber dahin, als daß es an die Oberfläche des Daseins hätte kommen wollen. Es konnte vor allen Dingen nicht hineinwachsen in Entwickelung der Menschen in der Zeit anforderte Nun kamen nochJahre,Jahrzehnte.Das Gefäß wurde sozusagen voll, übersprudelnd. Die Schamhaftigkeit konnte nicht mehr weiter dauern. Die Jugend mußte sich selber fragen, woran sie litt, wonach sie sich sehnte. Ja, das haben wir hereinfließen sehen können in verschiedene Jugenavereinigungen dieser Jugendbewegung.
Vor verhältnisrnäßig nicht langer Zeit kam eine Anzahl von solchen Menschen auch in die anthroposophische Bewegung herein. In erner merkwürdigen Weise konnte eine gewisse Verständigung gefunden werden zwischen der anthroposophischen Bewegung und zwischen dem, was in den Herzen der Jugend lebt Es ist heute vielfach trotz des kurzen Zeitraumes auf den mannigfaltigen Gebieten ein Hereinwachsen und Heranwachsen der Jugend in die anthroposophische Bewegung durchaus geworden. Aber das, was wir insbesondere in der Jugendbewegung brauchen, das ist ein Wollen menschlich den Menschen zu verstehen, sonst kommen wir nicht über das fruchtlose Diskutieren hinaus. Menschlich den Menschen zu verstehen' Es ist schrecklich gleichgültig, was der Inhalt dessen ist, was wir miteinander reden, wovon wir reden. Das Wesentliche ist, daß wir ein Herz haben für das, was der andere fühlt. Da werden wir einig sein, da kann man immer wieder einig sein. Aber das ist es, was gerade herzlich verstanden werden muß, und in dieser Beziehung wäre es schon notwendig, daß einzelne innerhalb der Jiugendbewegung stehende jugendliche Führer noch etwas zunehmen wurden in ihrem Vertrauen in die Aufrichtigkeit und Verläßlichkeit der anthroposophischen Bewegung. Sonst kommen wir mit der Jugend-sektion nicht vorwärts.
Die jugendsektion glaubte ich zuerst inaugurieren zu müssen wegen derjenigen, die in aufrichtiger klarer Weise fühlen: Jugendsehnsucht im heutigen Lebensstile ist in mir. Die mögen sich einmal wirklich in dieser Jugendsektion der Anthroposophischen Gesellschaft zusammenfinden, dann werden wir das zustande bringen, wovon ich in den «Mitteilungen>
#SE260a-342
spreche als von der Jugendweisheit. Es soll nichts Pedan-tisches sein, es soll etwas sein, was durch herzliches Wirken, durch herzliche Verständigung unter den Menschen erarbeitet wird. Gewiß, es handelt sich darum, daß man da tastend forscht, liebevoll erfaßt, wie es in der Jugend heute lebt. Zunächst haben wir versucht, eine Rundfrage zu geben an die Jugend, wie man sich die Jugendbewegung vorstellt, damit Gedanken auftreten sollten, vielleicht nicht Gedanken, besser vielleicht Faustschläge des Gefühis, Spatenstiche des Willens. Alles hätte hineingenommen werden können. Es ist nichts daraus geworden. -Nun ging ich einmal schärfer vor und habe jetzt eine Rundfrage an die Jugend gerichtet. Sie werden sie gelesen haben: «Wie stellst Du Dir vor, daß die Welt der Menschheit um 1935 sein soll, wenn dasjenige, was Du in Deiner Jugend ersehnst, darin Platz haben soll?» Das ist etwas, worüber man, wenn man es ernst nimmt, gründlich viel nachdenken, gründlich viel empfinden kann. Wir kommen wirklich nur weiter, wenn das Weiterkommen durchaus ehrlich ist, nicht phrasenhaft ist, darauf kommt es an.
Wohin ist unsere alte Welt gesteuert? Wenn wir uns in die alte Welt einleben, dann sehen wir: wir leben nicht etwa in den drei Gliedern der Weltordnung, die bei der Dreigliederung angegeben worden sind. Wir leben heute in der Phrase, wir leben in der Konvention, wir leben in der Routine. Phrase, Konvention, Routine: das ist es, was auf allen Gebieten Platz gegriffen hat. Der junge Mensch hört von Kindheit an, wie man sich verhalten soll zum Menschen, so oder so. Er kann sich nicht darnach richten, weil er einen ganz neuen Impuls seit der Jahrhundertwende in seiner Seele empfangen hat.
Ich habe schon durchaus fühlen können Jahrzehnte vor dem Ablauf des Kali Yuga: da kommt etwas herauf, was sich nicht in irgendeinen Beruf, wie er traditionell aus alten Zeiten herkommt, einfügen läßt. Aber ernst ist es mir schon gewesen. Ich selbst steckte niemals in einem Berufe darin. Wäre ich untergetaucht in einem Berufe, dann gäbe es heute keine anthroposophische Bewegung. Anthroposophische Bewegung ist doch etwas, was ganz frei von allem Traditionellen geschaffen worden ist. Der geringste Hang zu dem oder jenem würde die anthroposophische Bewegung unmöglich gemacht haben.
#SE260a-343
Alle jene, welche nicht begreifen können, daß so etwas von Anfang an gemacht werden soll, sind Gegner der anthroposophischen Bewegung. Die anthroposophische Bewegung ist auf diese Weise die reinste Jugend. Warum sollte sich da Jugend und Jugend nicht zusammenfinden? Wenn dann eine anthroposophische Bewegung ehrlich ist und die Jugend nötig hat, ehrlich zu sein, was ist dazu vor allen Dingen nötig? Mut! Den lernt man sehr schnell oder gar nicht. Wirklich Mut! Mut, sich zu sagen: Das Leben der Welt muß in seinen Fundamenten neu gegründet werden.
Ich habe niemals etwas anderes im Unterbewußtsein der jugendlichen Menschen eingeschrieben gesehen. Das ist es wirklich: Die Welt muß aus dem Fundament neu begründet werden. Nun kommen alle die Widerlegungsgründe. Man diskutiert über alles mögliche, man deckt jenes gerne zu. Da verfälscht man das, was im Unterbewußtsein ganz ehrlich sein will und was Mut braucht. Anthroposophische Bewegung kann die hohe Schule des Mutes sein. Allerdings, es ist schwierig, daß die anthroposophische Bewegung die Schule des Mutes wird, weil sie von vielen heute nicht als das Erste ins Leben hineingestellt wird, sondern als das, was nebenherläuft. Das kann man schon in den äußeren Veranstaltungen sehen. Nach und nach wird es häufigerweise so, daß man gar nicht weiß, wie man weiter damit zurechtkommen soll, daß wir zu lauter Kursen eingeladen werden, daß sie irgendwo abgehalten werden, wo die Leute Sommeraufenthalt nehmen, so ganz nebenbei, wie man aufs Land geht. Warum soll man nicht statt der Konzerte, die man sonst hört, auch Anthroposophie haben? Es ist ein Symptom - an sich ist es nicht schlimm -, aber es ist ein Symptom dafür, daß der durchgreifende Mut nicht da ist, sich ins Substantielle in der Hauptsache hineinzuleben, sich mit dem Geistigen der Anthroposophie in Wirklichkeit zu verbinden, nicht mit dem Schatten der Anthroposophie. Es ist schon eine Gefühlssache, um die es sich handelt. Ich will nicht kritisieren, ich will nur auf Symptome aufmerksam machen.
Es muß die Jugendbewegung den Anschluß an das finden können, was ich gestern als das große Ziel des Jahrhunderts hingestellt habe, als die Impulse der Michael-Zeit. Aber da muß die Jugend lernen, tiefer in sich selbst hineinzusteigen, alle Träumereien abstrakter Art zu vermeiden.
#SE260a-344
Dann stellen sich schon die großen Probleme ein. Kein Philister versteht das, wenn man ihm sagt, Michael hat die kosmische Intelligenz verloren, er ist oben geblieben. Jetzt, nachdem Michael ohne dasjenige erscheint, was er verwaltet hat, handelt es sich darum, daß der Mensch auf Erden aufersteht, um es mit ihm, für ihn zurückzuerobern. Die Jugend wird so etwas verstehen, wenn sie sich selbst versteht. So etwas wird heute vielfach nur als poetische oder sonst geartete Verkleidung von irgend etwas Abstraktem genommen. Das ist es nicht. Darum handelt es sich, daß das Geistige wesenhaft ist, daß wir lernen müssen mit dem Geistigen verkehren. Daß wir auch eine Empfindung erhalten, wie das Geistige sich anders verhält als vor einiger Zeit. Morgendliches Sonnenpanorama war vor einem Jahrhundert etwas, was der Schein war, der nebelhafte Schein von einer geistigen Welt. Man sah: Hinter dem Vorhang, hinter dem nebelhaften Schein lebt das Geistige. Vorher war es glimmend, im Laufe des 19. Jahrhunderts ist es anders geworden, da ist es flammend geworden. Da kommen aus dem Schein die Flammen heraus, und es ist nicht wahr, wenn jemand einen Sonnenaufgang für die heutige Zeit nach dem Beispiele Herders oder Goethes beschreibt. Er ist anders geworden:
Dazumal war er glimmend, heute ist er flammend geworden. Aus den Flammen kommt heraus das Auffordernde, zur Aktivität entfiammende Geistige. Die geistige Welt hat eine andere Geste angenommen zur physischen Welt.
Wenn man diese Gesetze der geistigen Welt versteht, dann wird verhütet werden können, daß die Bewegung des 20. Jahrhunderts ein solches Philisterium wird, wie die nachrousseauische Zeit es geworden ist. Wenn das, was jetzt die Jugend begeistern kann dadurch, daß sie wirklich jung ist, verständnisvoll ergreifen wird die geistige Welt, die da ist, dann wird die Michael-Zeit kommen. Wenn sie das nicht kann, dann wird im 20. Jahrhundert das Philisterium unendlich viel größer sein als jenes, welches auf Rousseau gefolgt ist. Bravere Bürger als im 19. Jahrhundert hat es in allen früheren Jahrhunderten nicht gegeben, obwohl die früheren den Rousseauismus nicht gekannt haben. Wir reden hier viel von Waldorfschul-Prinzip, von neuer Pädagogik. Das Wichtigste ist, daß man im Wachstum bleibt. Jeden Tag ist die Gefahr vorhanden, daß die Dinge sauer werden. Das ist es, worauf es ankommt,
#SE260a-345
daß man nicht vom Kleben an den Gewohnheiten einschläft, wenn man etwas tun soll, wenn man etwas bereiten soll. Wir müssen uns angewöhnen, zwischen Schlafen und Wachen einen Abgrund aufzurichten, wir mussen richtig schlafen, aber auch richtig wachen können. Wir schlafen aber fortwährend da, wo wir wachen sollen. Wir sind nicht so geartet, daß wir uns sagen, wir müssen immer neu und neu aufwachen, sonst nützen uns alle Reform- und Revolutionsbewegungen nichts. Gerade bei den besten Bestrebungen ist es viel schlechter, wenn sie vom Philisterium ergriffen werden. Wo ein starkes Licht ist, ist auch ein starker Schatten. Was notwendig ist, ist nicht, daß man dieses oder jenes aus-denkt, was geschehen soll, sondern daß die Menschen fühlen: das Geistige draußen spricht aus einer flammenden Natur, der Sonnenaufgang ist etwas anderes geworden.
Aber unsere Herzen sind auch anders geworden, wir tragen nicht mehr dieselben Herzen in der Brust. Unser physisches Herz ist hart, unser ätherisches Herz ist beweglicher geworden. Wir müssen die Möglichkeit finden, uns an unser übersinnliches Herz zu wenden. Wir müssen nach dieser Richtung hin Geisteswissenschaft verstehen. Geisteswissenschaft, so trocken es klingt, ist etwas geworden, wovon alle Leute reden. Wissenschaft ist etwas recht Faules. Man muß sich schon klar sein, Geisteswissenschaft ist es, was leben muß in den Herzen. Die Herzen der Jugend sind wie geschaffen, auf diesem Gebiete das Richtige zu fühlen. Man muß den Mut haben, wirklich es zu denken. Schiller hat aus seiner Begeisterung heraus der Welt viel zu sagen gehabt. Er ist unter merkwürdigen Umständen gestorben. Aber man hat ihn doch seziert und sein Herz gefunden. Es war ein leerer Beutel, ganz vertrocknet, verbrannt.
So werden alle Herzen verbrennen, die sich in ihrer Erneuerung ergreifen. Wollen wir mit der Spiritualität ernst machen, dann müssen wir selber uns mutvoll gestehen: Wenn es in uns nicht geht, mit der Welt mitzuleben, so kommt das davon her, daß wir neue Herzen haben müssen. Das sollen wir aber nicht bloß als Phrase empfinden. Werden wir uns bewußt, daß wir neue Herzen haben, daß neue Herzen die Welt ganz anders fühlen müssen als die alten Herzen, und nehmen wir das ganz ernst, dann wird aus der Jugendbewegung etwas werden wie
#SE260a-346
eine Flamme, die der Flamme des Sonnenaufgangs entgegenschlagen wird.
Das kann aber erst werden, nicht aus Diskussion über das Jung-Sein, nicht aus dem Sprechen über Erlebnisse. Dabei erlebt man sonderbare Dinge. In Breslau hat man mich bei den Alten empfangen, indem man mich Vater genannt hat. Bei der Jugend hat man gesagt, ich sei der Allerjüngste, obwohl ich dreimal so alt war wie die meisten der Anwesenden. Ja, es kommt darauf an, daß man sich dies selber gestehen kann. Flammen von innen, Flammen von außen herein: die beiden Flammen müssen zusammenschlagen. Es kommt nicht darauf an, daß man dieses oder jenes lernt, bestimmt oder definiert. Es kommt darauf an, daß man eine neue Begeisterung wirklich aufbringt. Nietzsche hat ein schönes Wort über Michelet geprägt. Michelet erscheint ja vielem gegenüber als begeisterungsfähiger Mensch. Michelet, sagt Nietzsche, die Begeisterung, die sich den Rock auszieht. - Michelet hat nämlich immer Zeit gehabt, sich den Rock auszuziehen, wenn er in Begeisterung geriet. Michelet hatte immer Zeit gehabt, um mit Wärme in Begeisterung zu kommen, sich aber dabei den Rock auszuziehen. Man Spürt, wie dieser Mann die Seidenweste angezogen hat, und man spürt, wie er Zeit hat, um so recht in die Begeisterung zu kommen, sich langsam den Rock auszuziehen. Die rechte Begeisterung aber ist die, die nicht Zeit hat, den Rock auszuziehen, die unter dem Rocke schwitzt und nicht bemerkt, daß sie schwitzt. Deshalb: Begeisterung, meine lieben Freunde! Begeisterung, die uns so überwältigt, daß wir den Rock anbehalten, daß wir die Begeisterung aus dem vollen unmittelbaren Leben heraus zu entwickeln uns gedrängt fühlen. Wir brauchen heute wirklich eine Überwindung des in sich Klebenden, des Müden. Es ist so müßig, klarwerden zu wollen. Wir dürfen auch nicht Zeit dazu haben, nach alter Art klarwerden zu wollen. Wir haben es nötig, wirklich in Begeisterung zu kommen. Begeisterung wird alles machen. Dann wird das Wort einen Sinn haben: Begeisterung trägt den Geist in sich. - Das ist etwas, was sehr natürlich ist. Enthusiasmus braucht man. Enthusiasmus trägt den Gott in sich. Da ist der Gott im Worte.
Innerlich zusammenwachsen mit der Flamme, die sich heute entzündet, auf daß die Michael-Impulse verwirklicht werden! Ohne daß
#SE260a-347
Flammen da sind, können sie nicht verwirklicht werden. Aber um durchflammt zu leben und zu arbeiten, dazu ist notwendig, daß man selber Flamme wird. Nur die Flamme wird von der Flamme nicht verzehrt. Wenn wir so fühlen können, daß wir Flammen werden, die von den Flammen nicht verbrannt werden, dann können wir ruhig die physischen Herzen als leere Beutel zurücklassen, denn wir haben das ätherische Herz, das verstehen wird, daß die Menschheit in ein neues Zeitalter hineinrückt: in das Leben der Geistigkeit. Das Zusammenwachsen mit der Geistigkeit wird das volle Jugenderlebnis sein.
#TI
Nadiriditenblat; 3. August 1924
An die Mitglieder!
ÜBER DIE ANTHROPOSOPHISCH-PÄDAGOGI5CHE TAGUNG
IN HOLLAND
#TX
Zu einer anthroposophisch-pädagogischen Tagung haben im Namen der holländischen Freunde der Anthroposophie Dr. F. W. Zeylmans van Emmichoven (im Namen des Vorstandes der anthroposophischen Ver-einigung) und E. Mulder-Seelig (im Namen der Lehrer der «Freien Schule» für die Zeit vom 17. bis zum 24.Juli eingeladen.
Wir haben mit dieser Tagung ein befriedigendes Erlebnis hinter uns. Ein Teil der zu haltenden Vorträge, die pädagogischen und die öffentlichen auf Heilkunde bezüglichen, waren auch für Nicht-Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft berechnet. An den pädagogischen nahmen außer den Mitgliedern, die von vielen Seiten zusammengekommen waren, viele Nicht-Mitglieder teil, so daß die ständige Zuhörer-zahl etwa 250 betrug. Die öffentlichen Vorträge waren sehr gut besucht.
Der Vorstand der holländischen Vereinigung ist vollzählig erschienen. Von dem Vorstand am Goetheanum waren anwesend: außer mir der Schriftführer Frau Dr. I. Wegman, dann Frau Marie Steiner, Fräulein Dr. L. Vreede und Dr. Wachsmuth. Vortragende waren außer mir
#SE260a-348
Dr. Zeylmans van Emmichoven, Dr. Schubert, Dr. von Baravalle und die Lehrer der «Freien Schule» Stibbe und van Bemmelen. Außerdem wurden zwei Kurse über Sprachkunst, ein allgemeiner und einer für Vorgerückte von Frau Marie Steiner gehalten.
Meine Tätigkeit umfaßte: einen pädagogischen Kurs in neun Vor-trägen mit dem Thema «Der pädagogische Wert der Menschen-Erkenntnis und der Kulturwert der Pädagogik», drei öffentliche Vorträge über das Thema «Was kann die Heilkunst durch eine geisteswissenschaftliche Betrachtung gewinnen?», ferner drei Mitgliedervorträge und zwei Klassenstunden.
In den pädagogischen Vorträgen habe ich mir diesmal zur Aufgabe gesetzt, das Wesen einer echten Menschen-Erkenntnis und deren Bedeutung für den Erziehenden und Unterrichtenden so herauszuarbeiten, daß anschaulich werden konnte, wie die Erziehungsmaßnahmen sich an der lebendigen Einsicht in Leib, Seele und Geist so entzünden können, daß sie dem ganzen Menschen im Kinde die allseitige Entfaltung ermöglichen. Ich führte aus, wieviel der Erziehende vom gesunden und kranken Menschen wissen müsse und wie die dieses Wesen durchdringende Erzieher-Gesinnung in der pädagogischen Kunst wirkt. Inwieweit die Anschauung des Karmas, des im Kinde sich offenbarenden Schicksalszusammenhanges, in der Seelenverfassung des Pädagogen wirksam sein soll, wurde dargestellt. Wie die Erziehungsmaßnahmen die Seele fördern oder hemmen, in welcher Art die gesunde Entfaltung des Kindes richtig orientiert, dem Krankhaften vorgebeugt, oder wenn es sich einstellt, ihm begegnet werden kann: das bildete den Gegenstand der Ausführungen. An dem Beispiele der Waldorfschule wurde gezeigt, wie man in den Schulorganismus lebendige Menschen-Erkenntnis bringen kann. Das Leitmotiv der Vortragsreihe war: eine wahre pädagogische Kunst müsse durch das Leben, das der Erziehende in seiner Menschen-Erkenntnis entfaltet, eine lebendige Art des Erziehens zustande bringen, daß das Kind in Leib, Seele und Geist wirklich Leben empfängt. Durch Leben lebensvoll Leben bewirken. - Welche Bedeutung die Erziehung des werdenden Menschen für die Entwickelung der ganzen Menschheit hat, das wurde veranschaulicht.
In den öffentlichen, die Heilkunst berührenden Vorträgen versuchte
#SE260a-349
ich zu zeigen, wie die anthroposophische Erkenntnis der menschlichen Organisation in das Wesen des Krankseins hineinleuchtet, und wie man dadurch eine solche Anschauung vom Kranksein erhalten könne, daß in diesem Anschauen die Erkenntnis des notwendigen Heilungsprozesses sich ergibt. Anthroposophie ist ja imstande, neben der Erkenntnis des Menschen eine solche Einsicht in die Substanzen und Vorgänge der außermenschlichen Welt zu vermitteln, daß man zum Beispiel zeigen kann, wie eine Substanz dem Wuchern oder Verkümmern in der menschlichen Organisation entgegenarbeitet. An dem Beispiel der Kieselsäure wurde das erörtert. Auf die Stellung des Klinisch-therapeutischen Institutes wurde gedeutet, das von meiner lieben Mitarbeiterin Dr. I. Weg-man in anthroposophischem Sinne so geleitet wird, daß dasselbe die uralte Angliederung der Heilkunst an die in Weltanschauung lebende Erkenntnis in einer neuen Form wieder angestrebt wird. In den Mysterien war diese Angliederung vorhanden; sie muß wieder erreicht werden. - So konnte im Weiteren gezeigt werden, wie aus der Anschauung des Krankseins das Heilmittel und Heilverfahren sich ergibt. Das Wesen derjenigen Heilmittel, die durch die internationale Laboratoriumgesell-schaft in Arlesheim hergestellt werden, konnte gezeigt werden.
In der lebendigen Teilnahme an den Kursen über sprachliche Kunst, die von Marie Steiner gegeben wurden, zeigt sich, daß die Bedeutung des «Sprechen-Könnens» einem sich steigernden Verständnis entgegen-geht. In der künstlerischen Gestaltung der Sprache kommt ja das gesunde Zusammenwirken und Sich-Harmonisieren von Leib, Seele und Geist zur Offenbarung. Der Leib zeigt, ob er sich den Geist in rechter Art einzugliedern vermag; die Seele offenbart, ob der Geist in ihr auf wahre Art lebt; und der Geist stellt sich in unmittelbarer physischer Wirkung anschaulich dar. Die an Sprachkursen teilnehmenden Persönlichkeiten erleben so die Offenbarung der Anthroposophie an der Betätigung des Menschen ganz unmittelbar. Es darf als eine Erprobung der Anthroposophie angesehen werden, daß sie in der Lage ist, die Sprach-kunst in ihrer vollen Bedeutung wieder aufleben zu lassen, die doch durch den Materialismus in der Weltanschauung in eine hilflose Lage gebracht worden ist.
In den Zweigvorträgen wurde die Art dargestellt, wie die Anschauung
#SE260a-350
des übersinnlichen Elementes in der Menschheitsentwickelung zur Erkenntnis der Aufgaben führt, die der anthroposophischen Bewegung obliegen. Was man die
Dr. Zeylmans in holländischer Sprache gehaltener Vortrag, der die Beziehung der Anthroposophie zu physiologischer und pathologischer Menschen-Erkenntnis zum Inhalt hatte, wird mir von Dr. I. Wegman als eine ganz ausgezeichnete Leistung charakterisiert.
Eine Probe in Eurythmie durch die Kinder der «Freien Schule» gliederte sich gut in den Rahmen des Programmes ein.
Unsere holländischen Freunde haben sich die größte Mühe gegeben, diese Veranstaltung zu einer würdigen zu machen; der herzliche Dank aller, die an dem Gedeihen der anthroposophischen Bewegung Anteil nehlnen, muß ihnen entgegengebracht werden.
#SE260a-351
#TI
BEGRÜSSUNGSWORTE BEIM ZWEITEN
INTERNATIONALEN SOMMERKUES IN ENGLAND
Vor dem ersten Vortrag zu dem Zyklus
Torquay, II. August 1924
Vorausgehend Begrüßung durch Mr. Dunlop
#TX
Dr. Steiner: Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor allen Dingen habe ich es nötig, Sie um Entschuldigung zu bitten darüber, daß ich erst heute bei Ihnen erscheinen kann. Die Arbeiten, die in Vorbereitung für die Neuerrichtung des Goetheanums und was alles damit zusammenhängt, getan werden müssen, nehmen mich jetzät sehr in Anspruch, und es ist überhaupt eine große Schwierigkeit, vom Goetheanum jetzt so lange abwesend zu sein, als das zu diesem Aufenthalte in Eng-land notwendig ist. Sie müssen also schon verzeihen, wenn ich etwas später erschienen bin, als das ursprünglich geplant war. Wir sind, meine sehr verehrten Anwesenden, hier zusammengekommen auf die Ein-ladung unserer lieben englischen anthroposophischen Freunde. Und nach den schönen Zeiten, die wir in den letzten Jahren im Kreise unserer anthroposophischen Freunde in England verlebt haben, brauche ich es wohl nicht zu betonen, wie herzliche Befriedigung es denjenigen, die von seiten des Goetheanums in Dornach hier auf diese Einladung hin erscheinen durften, macht, wiederum wirken zu können für die anthroposophische Sache und alles, was damit zusammenhängt, im Kreise
unserer englischen Freunde.
Anthroposophie, das will ich hier nur vorübergehend erwähnen, sollte ja durch dasjenige, was zu Weihnachten in einem großen Kreise Von anthroposophischen Freunden besprochen worden ist, einen neuen Impuls erhalten, und diejenigen, die in Dornach die Leitung übernommen haben, sind daran, dasjenige, was mit diesem Impuls beabsichtigt war, nach und nach in die Wirklichkeit umzusetzen. Und gerade aus dem Geiste heraus, der für die Pflege spirituellen Lebens, spiritueller Kunst, Erkenntnis, spirituell-religiösen Fühlens vom Goetheanum aus wirken möchte, für diesen Kreis ist es eine große Befriedigung, hier einen Teil dieser Wirksamkeit entfalten zu können. Für diesen Kreis
#SE260a-352
insbesondere und für alle diejenigen, die sonst von auswärts hierher gekommen sind auf die so liebenswürdige und wohlwollende Einladung unserer englischen Freunde, darf ich hier den allerherzlichsten Dank abstatten.
Auch bei dieser Gelegenheit darf ich erwähnen, daß wir ja wissen, was eine solche Veranstaltung für Mühe und Arbeit macht. Und deshalb sei insbesondere unserem lieben, für das innere Leben des Spirituellen und für die Gestaltung der Anthroposophischen Bewegung so verdienten lieben Freunde Mr. Dunlop unser herzlicher Dank, wenn ich so sagen darf, «Vorstandsdank» von seiten Dornachs dargebracht. Ebenso Mrs. Merry für die großen Mühen, die bei einer solchen Veranstaltung entstehen - gewiß, sie ist «Hon. Secretary», aber diese Ehre schließt eine unsägliche Arbeit ein, Arbeit ist die Ehre - ebenso sei ihr unser allerherzlichster Vorstandsdank zum Ausdruck gebracht.
Und so darf ich wohl die Hoffnung aussprechen, daß wir hier zusammen werden wirken können im Sinne unserer anthroposophischen Sache, daß sich hier in einer ähnlichen Weise eine befriedigende Entfaltung unserer Zeit ergeben werde, wie das in den letzten Jahren bei den verschiedenen Sommerschulen der Fall war. In diesem Sinne Ihnen allen, allen denjenigen, die hierher gekommen sind, herzlichsten Dank, allerherzlichsten Gruß.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN ENGLAND
Vor dem Vortrag in Torquay, 12. August 1924
#TX
Es ist heute das erste Mal nach der Weihnachtstagung am Goetheanum, daß ich wiederum unter Ihnen sprechen darf. Und vor dem Beginn weiterer Auseinandersetzungen muß das ausgesprochen werden, was mit jenem Impuls zusammenhängt, der durch die letzte Weihnachts-tagung am Goetheanum in die anthroposophische Bewegung hinein-gekommen ist. Wir haben ja die Freude gehabt, bei dieser Weihnachts-tagung eine Reihe von Mitgliedern der Englischen Landesgesellschaft
#SE260a-353
in Dornach begrüßen zu können, vor allen Dingen unseren lieben altbewährten Freund Mr. Gollison, den Vorsitzenden hier in England. Und ich möchte in diesem Augenblick jenen Gruß, den ich ihm dazumal in Dornach als dem Repräsentanten der Englischen Landesgesellschaft dargebracht habe, hier erneuern.
Was durch die Weihnachtstagung in die Anthroposophische Gesellschaft als Impuls hineingekommen ist, soll in der Tat etwas Tiefgehendes darstellen, so daß manches, worüber vor der Weihnachtstagung das eine oder andere Wort charakterisierend ausgesprochen worden ist, jetzt im gegensätzlichen Sinn besprochen werden muß. Es ist ja über diese Gesellschaft auch innerlich im okkulten Sinne eine schwere Zeit gekom-men, namentlich dadurch, daß in der Nachkriegszeit von verschiedenen Seiten her aus dem Schoß der AnthroposophiSchen Gesellschaft heraus die verschiedensten Dinge versucht wurden, und es ist notwendig geworden, eine Art Erneuerung für die Gesellschaft eintreten zu lassen. Diese Erneuerung war für mich selber - und ich darf das wohl hier erwähnen - mit etwas sehr, sehr Bedeutungsvollem verknüpft.
Es trat einige Zeit vor Weihnachten eine Frage vor mich hin, nachdem lange die Absicht bestanden hat, die Gesellschaft in einer gewissen Weise zu Weihnachten neu - oder wenigstens in neuer Form - zu be-gründen. Es trat an mich die Notwendigkeit heran, mich zu entschließen, dasjenige zu tun, was ich zu jener Zeit, als die Anthroposophische Gesellschaft sich aus der meosophischen herausgegliedert hatte, aus guten Gründen abgelehnt hatte. Damals ging ich von der Voraussetzung aus, daß, wenn ich mich von allem Verwaltungsmäßigen, von aller Leitung der Gesellschaft zurüchziehe, um bloß im Lehramt zu verbleiben, ge-wisse Dinge weniger schwer zu gestalten sein würden, als wenn der Lehrende zu gleicher Zeit ein verwaltendes ihmt hat.
Aber diese Dinge, die dazumal vorausgesetzt wurden, in den Jahren 1912, 1913, als die Anthroposophische Gesellschaft herausgegliedert worden ist aus der Theosophischen, diese Dinge sind eben nicht eingetreten. Die Voraussetzungen haben sich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft nicht erfüllt. Und so wurde es denn für mich notwendig, wirklich ernstlich die Frage zu erwägen, ob ich nun den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft übernehmen solle oder nicht.
#SE260a-354
Und ich sah die Notwendigkeit ein, diesen Vorsitz zu übernehmen. Ich möchte aber ganz scharf, auch im Kreis unserer lieben englischen Freunde, etwas betonen, was in Verbindung mit jenem Entschluß, den Vorsitz für die Anthroposophische Gesellschaft zu übernehmen, zu betonen durchaus notwendig ist. Es war gegenüber der ganzen Bewegung ein absolutes Wagnis, dies auszuführen, denn man stellte sich damit vor eine ganz bestimmte Eventualität.
Die anthroposophische Bewegung beruht ja darauf, daß aus der geistigen Welt reale Offenbarungen über den Inhalt der geistigen Erkenntnisse herunterfließen. Wenn man das Werk der anthroposophischen Bewegung tun will, so kann man nicht allein Menschenwerk tun. Man muß offen sein für das, was herunterfließt aus den geistigen Welten. Die Gesetze der geistigen Welten sind ganz bestimmte, nicht anzutastende. Sie müssen streng eingehalten werden.
Und es ist schwierig, das, was in unserer heutigen Zeit ein äußeres Amt verlangt, und sei es auch dasjenige des Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft, zu vereinigen mit den okkulten Pflichten gegenüber den Offenbarungen der geistigen Welt.
So daß man schon die Frage dazumal sich vor die Seele zu stellen hatte: Werden die geistigen Mächte, welche die Anthroposophische Gesellschaft bisher begnadet haben mit demjenigen, was herunterfließen kann von ihnen, werden diese geistigen Mächte auch weiter, ich möchte sagen, in dieser Weise die anthroposophische Bewegung begnaden?
Sie können gewiß die ganze Bedeutung einer solchen Eventualität würdigen. Man mußte sich vor die Möglichkeit hinstellen, daß die geistigen Mächte gesagt hätten: Das geht nicht, ein äußeres Amt kann nicht angenommen werden.
Nun darf heute wirklich, ich möchte sagen, im Angesicht all der geistigen Mächte, die zusammenhängen mit der anthroposophischen Bewegung, gesagt werden, daß jene Verbindungen, die bestehen zwischen den spirituellen Welten und den Offenbarungen, die durch die anthroposophische Bewegung fließen sollen, intimer, einschneidender, reichlicher geflossen sind, als das vorher der Fall war, daß also tatsächlich von den beiden Eventualitäten, die haben eintreten können, die eine, die so günstig wie möglich ist für den weiteren Fortgang der anthroposophischen
#SE260a-355
Bewegung, wirklich eingetreten ist. Man darf sagen: Mit vollem Wohlwollen sehen unausgesetzt seit der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum jene geistigen Mächte, von denen wir unsere Offenbarungen haben, mit einem noch größeren Wohlwollen sehen sie auf uns herab, als das früher der Fall war. So daß nach dieser Richtung schon seit längerer Zeit ein schwerer Alp von der Anthroposophischen Gesellschaft genommen werden konnte.
Ich habe es ja oftmals, bevor diese Weihnachtstagung am Goetheanum war, betonen müssen, daß man zu unterscheiden habe zwischen der anthroposophischen Bewegung, die eine spirituelle Strömung in ihrer Spiegelung auf Erden darlebt, und zwischen der Anthroposophischen Gesellschaft, die eben eine Gesellschaft ist, die in einer äußerlichen Weise verwaltet wurde, indem man ihre Funktionäre wählte oder auf eine andere Weise bestimmte.
Seit Weihnachten muß das Gegenteil gesagt werden. Nicht mehr kann man unterscheiden die anthroposophische Bewegung von der Anthroposophischen Gesellschaft. Sie sind beide eins: Denn damit, daß ich selber Vorsitzender der Gesellschaft geworden bin, ist die anthroposophische Bewegung eins geworden mit der Anthroposophischen Gesellschaft.
Das machte notwendig, daß zu Weihnachten in Dornach nicht ein Vorstand eingesetzt worden ist, der im äußeren exoterischen Sinn ein Vorstand ist, sondern ein Vorstand wurde eingesetzt, der als esoterischer Vorstand zu betrachten ist, der für dasjenige, was er tut, nur den geistigen Mächten gegenüber verantwortlich ist, der nicht gewählt, der gebildet worden ist. All die Dinge, die sich sonst bei Gründungsversammlungen zutragen, haben sich anders zugetragen zu Weihnachten. Und dieser Vorstand ist dasjenige, was ich einen Initiativ-Vorstand nennen möchte, ein Vorstand, der seine Aufgaben in dem sieht, was er tut. Daher sind auch nicht auf der Weihnachtstagung Statuten ausgearbeitet worden, wie sonst Statuten lauten, sondern es ist einfach gesagt worden, was da für ein Verhältnis sein soll von Mensch zu Mensch, zwischen Vorstand und andern Mitgliedern, den einzelnen Mitgliedern untereinander und so weiter. Was der Vorstand beabsichtigen wird, das steht in demjenigen darinnen, was kein Statut ist, was nur die Form von
#SE260a-356
Statuten angenommen hat, was aber eigentlich eine Erzählung von dem ist, was man tun will. Alles war eben anders, als es sonst bei Gesellschaften ist.
Und das ist das Wesentliche, daß eben in die ganze Anthroposophische Gesellschaft nunmehr ein esoterischer Zug hineingekommen ist. Die ganze Bewegung, wie sie nunmehr durch die Gesellschaft fließt, muß einen esoterischen Charakter haben.
Das muß man ganz ernst nehmen. Dem Vorstand am Goetheanum werden nur die Impulse rein menschlichen Wirkens aus der geistigen Welt heraus maßgebend sein. Nicht Paragraph I, Paragraph 2 und so weiter, sondern dasjenige, was wirkliches geistiges Leben ist, soll gefördert werden, rückhaltlos, ohne irgend etwas anderes dabei zu beabsichtigen.
Sehen Sie, ein scheinbar ganz Unbedeutendes darf ich dabei anfüb ren. Es wurden und werden weiter die Mitgliederzertifikate für alle Mitglieder erneuert. Da wir jetzt doch zwölftausend Mitglieder in der Welt haben, mußten zwölftausend Mitgliedszertifikate ausgegeben werden. Die alle sind zu unterzeichnen nunmehr von mir selbst. Natürlich hat mancher gefunden, man könnte ja auch einen Stempel machen lassen und den daraufdrücken. Aber in der anthroposophischen Bewegung soll fortan alles einen unmittelbar individuellen, menschlichen Charakter haben. Daher muß ich auch in einer solchen Kleinigkeit das einhalten. Jedes Mitgliedszertifikat muß vor meinen Augen liegen, ich den Namen lesen, mit eigener Hand meinen Namen darunter schreiben: So ist zunächst allerdings eine kleine, aber eine menschlich-reale Beziehung zu jedem einzelnen Mitglied geschaffen. Es wäre natürlich einfacher, durch irgend jemanden einen Stempel auf die zwölftausend Mitgliedszertifikate setzen zu lassen, es soll aber nicht geschehen.
Das soll eben zunächst, ich möchte sagen, symbolisch andeuten, daß es in der Zukunft nur auf dasjenige ankommen wird, was als Menschliches durch die Gesellsdiaft waltet.
Wenn man in dieser Art dem Vorstand am Goetheanum Verständnis entgegenbringt, dann wird man sehen - natürlich wird alles langsam gehen, Sie müssen Geduld haben, meine lieben Freunde, aber wenn es auch langsam gehen wird, es wird doch nach und nach alles einzelne der
#SE260a-356
Weihnachtsabsichten ausgeführt werden. Nur muß man mit Verständnis auch dem Vorstand am Goetheanum entgegenkommen, er kann nicht den fünften Schritt vor dem zweiten machen, den zweiten nicht einmal vor dem ersten, und wenn er bis jetzt auch nur bei einem halben Schritt angekommen ist, es wird schon gehen, es wird schon die Zeit kommen, wo er auch beim fünften Schritt angekommen sein wird. Denn wenn die Dinge menschlich geführt werden sollen, dann kann man nicht beim Abstrakten stehenbleiben, dann muß man überall in das Konkrete eintreten.
Und so wird die anthroposophische Bewegung wirklich einen neuen Zug bekommen. Sie wird esoterisch sein dem Geist nach, nicht mehr in Äußerlichkeiten das Esoterische suchen. Esoterisch werden gewisse Wahrheiten sein, die allein in ihr verkündigt werden können, weil nur derjenige, der alles lebendig mitmacht, was in der Gesellschaft ist, solche Wahrheiten wird in sich herzlich verarbeiten können. Aber man wird nicht mehr auf Zyklen Siegel anlegen gegenüber der Außenwelt, wie es bisher geschehen ist. Man wird die Zyklen zwar nicht durch Buchhänd1er verkaufen, aber derjenige, der sie wird haben wollen, wird sie haben können. Nur werden wir wie das ja schon angedeutet worden ist, eine spirituelle Grenze ziehen': Wir werden sagen, daß wir gar keine Ein-wände, keine Kritik irgendwie anerkennen konnen, als nur von den jenigen, die auch auf dem Boden stehen, auf dem die Zyklen stehen. Mögen die Leute nunmehr in der Zukunft reden, was sie wollen, im Okkulten arbeitet man im Positiven, nicht im Negativen.
Diese Dinge müssen alle nach und nach verstanden werden. Werden sie verstanden, dann wird ein ganz neuer Zug in die anthroposophische Bewegung hineinkommen Dann wird man verstehen, wie der Vorstand am Goetheanum sich allein dem Wesen der geistigen Welt gegenüber verantwortlich fühlt, man wird sich aber auch innerhalb der ganzen Gesellschaft mit diesem Vorstand verbunden fühlen.
Und dann wird vielleicht durch diesen neuen Zug dasjenige erreicht werden konnen, was mit der anthroposophischen Bewegung erreicht werden muß, wenn sie zu dem werden soll, was ich noch aus dem Innern des geistigen Lebens heraus im Verlauf dieser Vorträge hier darstellen werde.
#SE260a-358
Ich möchte mit dieser kurzen Andeutung die Vorträge, die ich hier vor Ihnen zu halten habe, eingeleitet wissen und werde, nachdem dies übersetzt ist, mit den eigentlichen Auseinandersetzungen beginnen.
#TI
Nach dem Vortrag in Torquay, 12. August 1924
#TX
Ich habe noch zu sagen, daß wir ja nun eingegliedert haben in die anthroposophische Bewegung eine esoterische Bewegung im engeren Sinn, die gegliedert ist in verschiedene Sektionen. Vor allen Dingen ist vorhanden die allgemeine Sektion, die das Esoterische für alle Menschenseelen enthalten wird. Dann haben wir die pädagogische Sektion - die Dinge werden schon noch bekannt werden -, und wir haben die medizinische Sektion. Wir haben zwei künstlerische Sektionen, die eine Lär bildende Künste, die andere für musikalische und redende Künste. Wir haben eine naturwissenschaftliche Sektion. Wir haben eine astronomisch-mathematische Sektion. Uber diese Dinge werde ich ja dann noch bei entsprechender Gelegenheit Mitteilung zu machen haben.
Die allgemeine Sektion wird nun als Klasse zunächst durch ihre erste Klasse repräsentiert vor der Welt, und es werden ja schon die Klassen-stunden seit längerer Zeit in Dornach gehalten, sind auch schon in verschiedenen andern Orten, zum Beispiel in Prag, Breslau, Paris, von mir gehalten worden. Nun soll in diejenigen Dinge, die hier unter uns behandelt werden, auch diese Klassenstunde eintreten, und es ist ja für nächsten Dienstag für hier eine Klassenstunde in Aussicht genommen. Dazu ist notwendig, daß diejenigen Freunde, die in der Lage sind, Mitglieder dieser Klasse zu werden, überhaupt der esoterischen Bewegung, daß diese aufgenommen werden.
Ich werde über die strengen Bedingungen dann bei der ersten Klassen-stunde zu sprechen haben. Zunächst wird es sich aber darum handeln, daß nur diejenigen Freunde um die Aufnahme in die erste Klasse nach-suchen sollen, die schon mindestens zwei Jahre der anthroposophischen Bewegung angehören. Ausnahmen können nur in seltenen Fällen gemacht werden. Außerdem aber behält sich die Leitung der Schule am Goetheanum vor, die Mitgliedschaft zu erteilen oder die Mitgliedschaft auch abzulehnen.
#SE260a-359
Und es ist von vornherein zu sagen, daß in der Zukunft ja jedermann, der ein Interesse und eine Sehnsucht nach den spirituellen Welten hat, an die Anthroposophische Gesellschaft wird herankommen können. Man wird sozusagen zu nichts anderem verpflichtet als zu demjenigen, zu dem eigentlich jeder anständig denkende Mensch verpflichtet ist.
Dagegen muß die Schule, die den Weg in die geistige Welt selber hinein eröffnen soll, ihre sehr seriösen Ansprüche machen. Derjenige, der Mitglied der Schule sein will, muß auch ein wirklicher Repräsentant der anthroposophischen Sache vor der Welt sein.
Nennen Sie das nicht eine Beeinträchtigung der menschlichen Freiheit! Die Freiheit muß ja gegenseitig sein. Derjenige, der ein Mitglied der Schule wird, ist zunächst ein freier Mensch, aber die Leitung der Schule muß auch frei sein. Es muß ihr freistehen, zu entscheiden, an wen sie die Geistesgüter der Schule heranbringen will. Es ist sozusagen ein spirituel1er Vertrag, der zwischen der Leitung der Schule und ihren einzelnen Mitgliedern geschlossen wird. Daher muß sich die Schule auch vor-behalten, wenn es sich herausstellen sollte, daß irgend jemand, der Mit-glied der Schule geworden ist, nicht in Einklang mit dem, was die Im-pulse der Schule geben wollen, handelt, nicht so im Leben handelt, daß er sich als Repräsentant der Schule darstellt, daher muß es der Schule auch freistehen, zu entscheiden: der kann nicht mehr Mitglied der Schule sein oder für Zeiten es nicht mehr sein.
Daß diese Dinge streng genommen werden, mag Ihnen daraus hervorgehen, daß, ehe es möglich geworden ist, eine Klassenstunde hier in Ihrer Mitte zu halten - was am nächsten Dienstag zum erstenmal geschehen soll und dann weiter -, daß im Verlauf des Wirkens der Schule schon die Notwendigkeit war, über sechzehn, siebzehn Mitglieder aus der Schule auszuschließen. Die Dinge, die auf das okkulte Leben sich beziehen, müssen eben in ihrer vollen Wirklichkeit genommen werden.
Wenn also jemand die Meinung hat, er könne nun wirklich als Repräsentant der anthroposophischen Sache vor der Welt seinen Beitritt zur Schule suchen, so möge er sich dazu melden. Äußere Bedingung ist zunächst, daß man wenigstens zwei Jahre Mitglied ist. Die Freunde, die länger als zwei Jahre Mitglied sind, können sich melden, insofern sie noch nicht ihr blaues Zertifikat erhalten haben. Man wird künftig das
#SE260a-360
rote Zertifikat als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft haben) und man wird das blaue Zertifikat haben als Mitglied der Schule.
Diejenigen Freunde also, die Mitglieder der Schule werden wollen, die, wie ich schon sagte, noch nicht ein Zertifikat erhalten haben, auch wenn sie schon geschrieben haben und ihr Schreiben noch nicht erledigt werden konnte, also wenn sie noch nicht das blaue Zertifikat gesandt erhalten haben, bitte ich, heute abend oder wenigstens in den nächsten Tagen, am besten so schnell wie möglich, hier bei Dr. Wachsmuth sich zu melden. Wir werden dadurch ein Verzeichnis derjenigen bekommen, die sich noch melden, und dann werden diejenigen, welche zur Schule zugelassen werden können, ihr blaues Zertifikat zur ersten Klassen-stunde bekommen, die, wie gesagt, für den nächsten Dienstag vorgesehen ist.
#TI
EINLEITENDE UND ABSCHLIESSENDE WORTE
BEIM PÄDAGOGISCHEN KURSUS FÜR DIE LEHRER
DER IN LONDON NEU ZU BEGRÜNDENDEN SCHULE
MIT VALDORF-PÄDAGOGIK
Torquay, 12. August 1924
#TX
Meine liehen Freunde! Es gereicht mir wirklich zur tiefsten Befriedigung, daß Sie hier in England nun SO weit sind, um an die Begründung einer Schule im anthroposophischen Sinne denken zu können. Es bedeutet dies ja in Wirklichkeit einen außerordentlichen, tiefen Einschnitt in die Geschichte des Erziehungswesens. Spricht man einen solchen Satz aus, so ist es ja sehr leicht, daß man für das Aussprechen eines solchen Satzes der Unbescheidenheit geziehen wird. Aber es liegt bei allem, was aus anthroposophischen Untergründen für die Erziehungs- und Unterrichtskunst hervorgehen soll, auch wirklich heute etwas Eigentümliches zugrunde. Und ich möchte es mit allergrößter Freude begrüßen, daß der erste Stamrn eines Lehrerkollegiums hier sich wirklich bereitgefunden hat, aus dem Innersten der Seele heraus anzuerkennen, daß bei dem,
#SE260a-361
was wir anthroposophische Pädagogik nennen, etwas Besonderes zu-grunde liegt. Wir sprechen, wenn wir von anthroposophischer Pädagogik reden, wirklich nicht aus einem fanatischen Reformgedanken heraus von der Notwendigkeit einer Erneuerung des Erziehungswesens, sondern wir sprechen aus der Empfindung und dem Erleben der Kulturentwickelung der Menschheit heraus.
#TI
Torquay, 20. August 1924
#TX
Ich möchte, was Ihnen selbstverständlich klingen wird, zum Schlusse noch aussprechen, daß es mich tief befriedigt hat, daß Sie ein so tatiges Interesse daran haben, die Waldorfschul-Methode hier in England fruchtbar werden zu lassen, daß Sie mit solcher Energie daran arbeiten, hier eine Schule nach unserer anthropoSOphischen Methode einzurichten. Und ich möchte die Hoffnung aussprechen, daß es Ihnen gelingen möchte, dasjenige, was Sie lernen konnten aus unseren Seminarkursen in Stuttgart, was Sie gehört haben in den verschiedenen andern Kursen, die auch hier in England gehalten worden sind, und was ich zuletzt hier an einzelnen aphoristischen Bemerkungen geben konnte - daß Sie all das benützen können, um eine recht gute Schule nach anthroposophischer Methode hier in England zu begründen.
Sie müssen nur bedenken, wieviel davon abhängt, daß wirklich der erste Versuch, der gemacht wird, gelingt. Gelingt er nicht dann ist ja viel verloren, denn dann wird nach dem ersten Versuch alles übrige be-urteilt. Und es hängt sehr viel davon ab, daß Sie den ersten Ansatz in einer Weise machen, daß die Welt merkt: es ist etwas, was weder in abstrakten, dilettantischen Schulreformplänen schweIgt, noch irgendetwas, was sonst Laienhaftes iSt, es ist etwas, was wirklich aus dem Erfassen der Menschenwesenheit hervorgeht, was dann übergehen soll in die pädagogische Kunst, und was tatsächlich neben vielem andern von unserer in so schwieriger Lage befindlichen Zivilisation gefordert wird.
Damit möchte ich Ihnen recht gute Gedanken mitgeben auf den Weg zur Begründung der hiesigen Schule nach anthroposophischer Methode.
#SE260a-362
#TI
ABSCHIEDSWORTE
BEIM ZWEITEN INTERNATIONALEN SOMMERKURS IN ENGLAND
Torquay, 22. August 1924
#TX
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die beiden Sommerkurse, die hier in England abgehalten werden konnten, blicken wir zurück mit einer großen Befriedigung. Wir blicken so zurück, daß die Art der Veranstaltung dieser Sommerkurse das innere Gefühl hervorrief: In diesen Sommerkursen konnten zum ersten Male Dinge entwickelt werden, die erforderten, daß in einer gewissen Weise etwas vorlag. Man kann sagen, die beiden Sommerkurse waren so veranstaltet, daß man sich okkult angeheimelt fühlte. Und mir scheint nach alledem, was hier während dieser Sommerkurszeit zu fühlen war, daß die Intentionen, die ausgehen von unseren Freunden, Mr. Dunlop, Mrs. Merry, tatsächlich Hinter-gründe haben, die gefühlsmäßig wahrzunehmen sind, Hintergründe, die aus einem echten geisteswissenschaftlichen Wollen hervorgehen. Ok-kult angeheimelt, möchte ich sagen, war man sowohl das vorige Jahr, wie auch dieses Jahr.
Wir durften in Umgebungen sein, welche mancherlei uralt Bedeutsames aussprechen, welche durch dasjenige, was sie aus uralt Bedeutsamem bewahrt haben, heute noch in einer geistig außerordentlich bedeutsamen Weise zu uns sprechen. In solcher Umgebung und in solchem Milieu löst sich auch das Wort, löst sich die Geistgestalt, die gern an die Menschen herantreten möchte, welche sich durch ihre Zugehörigkeit zur anthroposophischen Bewegung oder durch ihre Sympathie mit derselben bereitfinden, dasjenige in sich aufzunehmen, mit zu vertreten, was von jenen geistigen Welten - auf die ja im Laufe dieser Veranstaltungen immer wieder hingewiesen worden ist - als das umfassende anthroposophische Wollen sich nach den Zeichen der Zeit in die Gegenwart und in die nächste Zukunft hereinstellen muß. Und so fühlte man eben in gewissem Sinne eine Art Zusammenwachsen desjenigen, was durch die anthroposophische Bewegung fließt, und desjenigen, was als Rahmen durch unsere Freunde, Mr. Dunlop voran, hier veranstaltet, zubereitet worden ist.
#SE260a-363
Es ist ganz zweifellos, daß etwas von jener Kraft, welche in dem Wollen solcher Veranstaltungen für eine intime okkulte Vertretung des Anthroposophischen liegt, in dem Wollen dieser Veranstaltung unserer Freunde gewesen ist, was selbst das ja nicht gerade okkult Sympathische oder künstlerisch Inspirierende dieses Saales paralysieren konnte. Aber es konnte dieser Saal durchaus ertragen werden. Und dadurch ist immerhin eine Art - man nennt es einen indirekten Beweis in der Mathematik-, eine Art indirekter Beweis geliefert für das außerordentlich Gelungene dieser Veranstaltung.
Ich spreche ganz gewiß, indem ich unseren Freunden unseren herzlichsten, innigsten, aus tiefster Seele kommenden Dank ausspreche, auch im Namen von Frau Dr. Steiner, im Namen des ganzen Vorstandes am Goetheanum, wie er verbunden ist mit den Zielen der anthroposophischen Bewegung, mit all demjenigen, was aus echtem anthroposophischem Wollen heraus für die Anthroposophie gemacht wird. Diesen Dank wollen wir auch in guter Erinnerung bewahren, wenn wir wieder an das Goetheanum zurückgehen, behalten all das Liebe, Herzliche, Schöne, und vor allen Dingen all das groß Gewollte, das man uns hier entgegengebracht hat. Es ist auch in gewissem Sinn in außerordentlich lieber Weise diesmal für das Künstlerische, für die Eurythmie bei diesen beiden Sommerkursen gesorgt worden, so daß diese, aus okkulten Intentionen her-ausgeholte, für die Gegenwart und nächste Zukunft, wie ich glaube, bedeutungsvolle Eurythmie hier hat zur Geltung kommen können. Das Geistige, das Künstlerische, kann ja insbesondere durch diese Eurythmie zur Geltung kommen.
Mir scheint, auch da hat sich die influenzierende Kraft der Eurythmie hindurchgerungen durch die entgegengesetzten Schwierigkeiten, denn es hat ja manchmal bei den Eurythmievorstellungen so geschienen, als ob sie zugleich Proben sein sollten für eine Art okkulten Verständnisses, die man abzulegen hat. Man konnte bei diesen Eurythmievorstellungen das Bedürfnis bekommen, die Körper derjenigen anthroposophischen Freunde zu sehen unter den andern Besuchern, die sonst bei dem Kursus vorhanden waren! Da kam es mir an manchen Abenden vor, daß die Körper dieser anthroposophischen Freunde fehlten. Das war vielleicht -dachte ich-ein Erproben, daß man nur die Seelen, die Geistersuchensoll.
#SE260a-364
Ich suchte dann im Saal die Geister unserer anthroposophischen Freunde und fand auch viele, die nicht da waren, trotzdem sie beim Kursus vorhanden waren. Nun, es wird das wohl nur eine
Aber diese Hemmnisse abgerechnet, ist wirklich alle Veranlassung, mit innigster Dankbarkeit auf alles das hinzublicken, was hier wiederum für die Anthroposophie geschehen ist. Und ich durfte ja gerade bei diesem Kursus im eminentesten Maße dasjenige zur Geltung bringen, was seit der Weihnachtstagung in Dornach der maßgebende Impuls sein soll für die anthroposophische Bewegung. Ich durfte die esoterische Kraft in der Weise hineinlegen in das, was ich hier zu leisten hatte, daß ich mich nur mehr verantwortlich fühle für dasjenige, was bei dieser oder jener Gelegenheit innerhalb der anthroposophischen Bewegung gegeben oder gesagt werden soll, den geistigen Mächten gegenüber, welche eine gewisse Summe von Spiritualität in der Gegenwart und nächsten Zukunft in die Menschheit bringen wollen, und denen es einzig und allein obliegt, zu entscheiden darüber, in welcher Weise die anthroposophische Bewegung geführt werden soll. Gerade aus dem Gefühl heraus, wie das mit den innersten Empfindungen, daß sein kann, was sein soll, geschehen konnte, gerade aus diesem Gefühl heraus möchte ich meinen ganz herzlichsten Dank all denjenigen aussprechen, diäe an dieser Veranstaltung beteiligt waren.
Ich kann ihn insbesondere aussprechen, da so sichtbar die Persönlich-keit neben mir stand bei alldem, was hier getan werden sollte, unserem lieben Freunde Kaufmann, der tatsächlich auch diesmal wiederum in der alleraufopferndsten Weise und in der allertreff sichersten Weise für die Möglichkeit gesorgt hat, daß dasjenige, was ich zu sagen habe, hier auch zur entsprechenden Geltung kommen könne. Daher sei Mr. Kaufmann mein ganz besonderer Dank an diesem Abend abgestattet.
Und nun, ich kann nicht jedem einzelnen - es ist ja auch schon von anderer Seite geschehen - den Dank, der aber gewiß gefühlt wird, sowohl von mir, wie auch von dem Vorstand am Goetheanum, persönlich
#SE260a-365
aussprechen. Denn ich habe schon bei solchen Gelegenheiten des öfteren 1 betont: Diejenigen, die hinter den Kulissen arbeiten, sie arbeiten eben hinter den Kulissen. Sie müssen dann auch leider sehen, wie es nicht mögilich ist, jedem einzelnen wirklich den aber nicht minder tief gefühlten Dank auszusprechen. Ja, diejenigen, die hinter den Kulissen arbeiten, haben es meistens am schlechtesten. Sie müssen vieles vermissen von den Veranstaltungen und klappen oftmals zusammen unter all demjenigen, was im Laufe einer solchen Veranstaltung getan werden muß. Aber ich meine trotzdem, daß ich auf lauter dankbare Herzen in diesem Saale treffe, wenn ich auch nach dieser Seite hin all denjenigen, die etwas dazu beigetragen haben, daß dieser Sommerkursus hat zustande kommen und in dieser Weise sich hat entfalten und entwickeln können, den herzlichsten Dank hiermit zum Ausdruck bringe.
Nun stehen wir am Ende dieser Veranstaltung. Manches von dem, was vielleicht noch hätte gesagt werden können im Zusammenhange mit dem Gesagten, wird auf andere Zeiten aufgespart werden müssen. Aber die Versicherung möchte ich am Schlusse hier noch vor Ihre Seele hin-stellen, daß die Erinnerung an die Tagung, die wir hier in Torquay verlebt haben, fortleben wird, wie diejenige von Penmaenmawr fortgelebt hat. Sie wird so fortleben, daß wir das, was sich hier uns aus liebenden Herzen, aus mit Anthroposophie sich durchziehenden Seelen entgegen-geboten hat, ansehen werden als etwas, das in das Goldene Buch der anthroposophischen Bewegung wird in besonderer Weise eingeschrieben werden können. Denn es hängt so manches gerade innerhalb dieser anthroposophischen Bewegung davon ab, daß auch in dasjenige, was veranstaltet wird, was geschieht, okkulter, geisteswissenschaftlicher, anthroposophischer Einschlag kommt. Daß uns dieser Einschlag wie ein schön glänzendes Licht nachleuchten wird für unsere Erinnerung, davon möchte ich Ihnen hiermit die herzlichste Versicherung abgeben.
#SE260a-366
#TI
Nachrichtenbllat; 24. August 1924
An die Mitglieder!
UNSERE SOMMERKURSE IN TORQUAY
#TX
In Torquay, an der südwestlichen englischen Küste, haben diesmal die Freunde der anthroposophischen Bewegung in England die Sommer. kurse veranstaltet. Mr. Dunlop, der feinfühlige, nach weiten Zieleti schauende Anthroposoph, und Mrs. Merry, die unermüdlich Tätige und der Bewegung liebevoll Ergebene, haben sich, im Verein mit den andern Freunden, der großen Arbeit unterzogen, diese Kurse zu ermög-lichen.
Die Arbeit besteht in einem fortlaufenden Kurse für Mitglieder und Freunde der Anthroposophie, den ich an den Vormittagen halte und für den das Thema gewünscht worden ist:
Vom Vorstande am Goetheanum sind außer mir der Schriftführer Dr. Ita Wegman, Marie Steiner, Dr. L. Vreede und Dr. Wachsmuth anwesend. Der Präsident der englischen Anthroposophischen Gesellschaft, Mr. H. Collison, und die meisten Vorstandsmitglieder sind anwesend.
Die Übersetzung meiner in deutscher Sprache gehaltenen Vorträge ieistet in der aufopferndsten Art Mr. Kaufmann.
Wir stehen, da ich dieses schreibe, mitten in dem Kurse darinnen; sechs Vormittagsvorträge, sechs pädagogische Vorträge, zwei Mitgliedervorträge, zwei Eurythmieaufführungen, ein Vortrag Dr. v. Baravalles haben bereits stattgefunden.
In den Vormittagsvorträgen setze ich mir zur Aufgabe, die Wege der menschlichen Seele zu den verschiedenen Bewußtseinszuständen zu
#SE260a-367
zeigen, durch die sich dem Menschen die dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgenen Weltgebiete offenbaren. Zunächst habe ich dargestellt, welche Veränderungen die Bewußtseinsverfassung des Menschen im Laufe der geschichtlichen Entwickelung durchgemacht hat. Ich habe dazu zwei Beispiele gewählt: die alten Chaldäer und die Lehrer der Schule von Chartres im Mittelalter. Bei den Chaldäern ist ein Anscnauen vorhanden, das an den Sinnesoffenbarungen auch noch das Geistige mit-wahrnimmt. Bei ihnen ist noch nicht das gedankengetragene Wachbewußtsein vorhanden, das die heutige Menschheit hat, sondern ein solches, das in Bildern Sinnliches und Geistiges wachend zusammenschaut; dafür aber bleibt ihnen auch der traumlose Schlaf nicht erinnerungslos; sie besinnen sich auf denselben und nehmen dadurch das Geistige wahr, dem der Mensch vor der Geburt und nach dem Tode angehört. Die Lehrer von Chartres sprechen aus ihrem Bewußtsein heraus, das sie zwar nicht mehr voll entwickelt, aber dem Inhalte nach traditionell überliefert haben, von der «Natur» nicht wie der gegenwärtige Mensch als einer bloßen Summe von Naturgesetzen, sondern wie von einem lebendigen Wesen, das im lebendigen Tun die Erscheinungen der Natur hervorbringt. Die Anschauung dieses lebendigen Wesens, die der Mensch einstens besessen hat, ist damit verloren gegangen, daß die Erinnerungsfähigkeit an die Erlebnisse des traumlosen Schlafes erloschen ist. Ich ging dann dazu über, zu zeigen, wie der Mensch die verschiedenen Bewußtseinszustände in sich erzeugt, wie er dadurch zu der Erkenntnis dessen kommt, was geistig hinter dem Menschen-, dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreiche waltet. Ich schilderte die geistige Wesenhaftigkeit einzelner Metalle und deren Beziehung zu dem sich zur geistigen Anschauung entwickelnden, sowie auch zu dem kranken Menschen. Ich stellte ferner dar, wie der Bewußtseins-zustand ist, der das Leben des Menschen über den Tod hinaus verfolgen kann. Auch stellte ich den Zuhörern vor Augen, wie gewisse Bewußtseinszustände, die entwickelt werden können, dem Menschen ermöglichen, sein geistiges Gesichtsfeld von der Erde hinweg in den Kosmos, zu den Sternensphären zu erweitern.
So versuche ich die Grundlage dafür zu gewinnen, die rechten Wege zur Erkenntnis der geistigen Welt zu zeigen, um dann weitergehend
#SE260a-368
die Abirrungen auf unrichtige Bahnen anschaulich machen zu können.
In den pädagogischen Vorträgen bemühe ich mich, den Lehrkräften der hier in England nach dem Muster der Waldorfschule zu gründen-den Primarschule eine Art Seminarkurs zu geben. Die für den Lehren-den und Erziehenden notwendige Gesinnung, die für die Ausübung der pädagogischen Kunst unerläßliche Seelenverfassung versuche ich zu be-leuchten. Methodische Anweisungen für die einzelnen Erziehungsgebiete und Unterrichtsfächer versuche ich zu geben. Alles ist auf die Darstellung einer in wahrer Menschen-Erkenntnis gegründeten Lehrpraxis hin orientiert.
In den Eurythmie-Aufführungen hat Marie Steiner internationale Programme für die eurythmische Darstellung von Dichtungen und vielseitige Musik-Eurythmisierungen zusammengestellt, die das Wesen der eurythmischen Kunst allseitig zur Vorführung bringen. Die englische, französische und deutsche Rezitation wird von Marie Steiner besorgt. In den zwei Aufführungen, die wir gehabt haben, herrschte eine herzliche und erfreuende Stimmung. Man hat das Gefühl, die Eurythmie dringt allmählich zu den Herzen der kunstempfänglichen Menschen vor. Ich bin froh darüber, daß die unter Marie Steiners Leitung stehende Eurythmietruppe, die am Goetheanum ihren künstlerischen Mittelpunkt hat, wird - nach den zwei bisher stattgehabten Vorstellungen ist das zu schließen - mit den befriedigendsten Gefühlen an die so herzlich begeisterte Aufnahme ihrer Leistungen zurückdenken können.
In den Mitgliedervorträgen sprach ich über die Art, wie Menschen, indem sie durch wiederholte Erdenleben gehen, die Ergebnisse der einen Geschichtsepoche in die andere hinübertragen. Ich zeigte, wie es durch solches Hinübertragen erklärlich wird, daß in unserer gegenwärtigen Zivilisation so verschiedenartige Geistesrichtungen sich offenbaren. Die Träger dieser Geistesrichtungen tragen eben aus ihren vorigen Erden-leben die mannigfaltigsten Ergebnisse in sich, und diese wirken sich in ihnen karmisch aus. So kann man durch geisteswissenschaftiiche Forschung erkennen, wie Bacon von Verulam außerchristliche, im Mohammedanismus und Arabismus wurzelnde Ideen-Impulse aus früheren Erdenleben in das hingetragen hat, in dem er Bacon war.
#SE260a-369
Die Art, wie wir über den bisherigen Verlauf dieser SommerkursVeranstaltung empfinden dürfen, die gute Stimmung, die herrscht, lassen hoffen, daß auch der weitere Fortgang in der schönsten Weise sich gestalten werde.
#TI
AUSFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
IN LONDON
Vor dem Vortrag in London, 24. August 1924
#TX
Vorerst gibt es mir eine angenehme Befriedigung, herzlichst zu danken für die freundlichen Worte, die der Vorsitzende der Englischen Anthroposophischen Gesellschaft, Mr. Gollison, soeben ausgesprochen hat. Sie können immer überzeugt sein, daß es mir tief befriedigend ist, wieder unter Ihnen sein zu können und einiges von unserer anthroposophischen Arbeit hier sich entwickeln zu lassen. In diesem Augenblicke kann man ja mit dieser anthroposophischen Arbeit unter zwei Eindrücken stehen. Zuerst unter demjenigen, der bewirkt wird dadurch, daß wir eben von Torquay kommen, wo wir eine Zeitlang leben durften in Darstellungen aus der geistigen Welt, die in dem Zeichen standen, das ich vorgestern dadurch charakterisiert habe, daß die beiden Sommerveranstaltungen, die aus dem Impuls unseres Freundes Dunlop und unserer Freundin Mrs. Merry hervorgegangen sind, daß diese Veranstaltungen einen, wie ich sagen möchte, eben okkult anheimeln, daß man aus dem ganzen Milieu der Veranstaltungen, aus dem Umgebensein mit der elementarisch, auch geistig elementarisch wirkenden Natur oder wenigstens dem Nahesein solcher Natur, auch eine gewisse innere impulsive Veranlassung hatte, mit dem, was auseinandergesetzt wurde, stehenzubleiben innerhalb derjenigen Impulse, die durchaus an die Lokalität gebunden sind.
Das zweite ist, daß es mir ja zum ersten Male gegönnt ist, nach der bedeutungsvollen Weihnachtstagung am Goetheanum hier unter Ihnen, meine lieben Freunde, zu sprechen. Diese Weihnachtstagung in ihrer
#SE260a-370
Bedeutung ist wohl, denn das lag in Ihren Absichten, hier im Zweige unserer englischen Freunde durchgesprochen, durchgedacht, durchemp-funden worden. Es ist richtig, meine lieben Freunde, daß der ganze volle Impuls dieser Weihnachtstagung auf der einen Seite, soviel es sich nun gezeigt hat, da ich ja an verschiedenen Orten sprechen durfte nach dieser Weihnachtstagung, daß dieser ganze volle Impuls der Weihnachtstagung - da mehr, dort weniger - verstanden wird, daß er sich beginnt einzuleben, daß er aber audi manches Befremden noch hervorruft innerhalb der Herzen unserer lieben anthäroposophischen Freunde.
Es war dieser Weihnaditsimpuis dadurch notwendig geworden, daß eben die Entwickelung der Anthroposophischen Gesellschaft, seit sie selbständig geworden ist, sich losgelöst hat, herausgegliedert hat aus ihrem früheren äußeren Verbundensein mit der Theosophischen Gesellschaft, nicht jene Gestalt angenommen hat, von der ich gedacht habe, namentlich 1913, daß sie angenommen werden würde.
Und dann hat sich mancherlei aus der Anthroposophischen Gesellschaft heraus entwickelt, was nicht in organischer innerer Lebenskraft dessen stand, was die anthroposophische Bewegung geistig, spirituell darstellt. Das alles habe ich während der Weihnachtstagung auseinandergesetzt, möchte hier nur darauf verweisen. Es war in gewissem Sinne ein Wagnis, in den Wochen vor der Weihnachistagung zu dem Entsächlusse zu kommen, daß ich selbst den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft, wie sie nun vom Goetheanum aus begründet worden ist, übernehmen konnte. Denn bisher war es ja so, daß ich durchaus nur irn Hintergrunde als Lehrer innerhalb der anthroposophischen Bewegung gelten wollte und offiziell kein Amt annahm. Es ist schwierig, mit all demjenigen, was in der geistigen Welt als Verpflichtung dem Lehrenden auferlegt ist, mit all den Verantwortlichkeiten gegenüber der geistigen Welt gerade in der heutigen Zeit die äußere Verwaltung der Gesellschaft zu übernehmen, die nun einmal die Verwaltung des Geistesgutes, des Weisheitsgutes der Anthroposophie zu ihrer Aufgabe hat. Allein, es mußte geschehen. Es war aber insofern ein Wagnis, als man natürlich vor der Eventualität stand, daß auch dadurch manches verlorengehen könnte von jenen spirituellen Strömungen, die einmal aus der geistigen Welt heute in die Menschenwelt herein wollen,
#SE260a-371
und deren Empfangen die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung ist.
Nun darf aber gesagt werden daß durchaus die Sache sich so dar-gestellt hat, daß nicht nur etwa seit der Weihnachtstagung kein Zurückstauen der Offenbarungen aus der geistigen Welt vorliegt, sondern im Gegenteil, daß sogar die geistige Welt mit einer viel größeren Wohlgefälligkeit herabsieht auf dasjenige, was durch die anthroposophische Bewegung in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht und daß die Gaben aus der geistigen Welt eigentlich seit dieser Weihnachtstagung wesentlich reicher geworden sind so daß wir also auch in dieser esoterischen Beziehung durchaus mit voller Befriedigung auf die Weihnachts-tagung zurückblicken dürfen.
Dasjenige, was mit dem Worte gesagt ist: die esoterische Bedeutung der anthroposophischen Bewegung, das, meine liebe Freunde, soll immer wahrer und wahrer, immer wirklicher und wirklicher werden. Der Zug, der durch die anthroposophische Bewegung geht, soll immer esoterischer und esoterischer sich gestalten. Das wird nur dann richtig verstanden werden, wenn man die volle esoterische Aufgabe des Vorstan-des am Goetheanum verstehen wird, wenn man dasjenige verstehen wird, was ich bei der Weihnachtstagung gemeint habe, als ich sagte, er muß ein Initiativ-Vorstand sein, er muß ergreifen die Aufgaben, die der anthroposOphischen Bewegung aus der geistigen Welt gestellt werden, muß diese aufnehmen, muß sie in die Welt leiten, darf nicht bloß ein Verwaltungsvorstand sein.
Nun, meine lieben Freunde, man hat gesehen, daß die Herzen das Esoterische, das auch durch alles Vortragswesen seit der Weihnachts-tagung am Goetheanum fließt, mit einer großen Empfänglichkeit auf-nehmen. Und es steht zu hoffen, daß das auchinder Zukunft der Fall sein wird, wenn auch vielleicht die Dinge so liegen, daß wegen des konservativen Sinnes in England noch immer ein leiser Zug bemerkbar ist. hier, daß man es lieben würde, das alte Verhältnis fortzusetzen, wie es. war, ohne Einschaltung desjenigen, was vom Goetheanum ganz durch den Willen der anthroposophischen Bewegung selbst ausgehen soll. Aber es wird ja auch etwas vielleicht Progressives in diesem Konservatismus nach und nach sich hingewöhnen. Und wir dürfen hoffen, daß dasjenige,
#SE260a-372
was heute vielleicht da ist, aber noch nicht bemerkt wird, über-haupt nicht bemerkt wird, vorübergehe, ohne daß es bemerkt wird, und abgewöhnt wird, ohne daß man erst weiß, daß es da ist. Ich weiß, wie sehr man hängt an demjenigen, was sich einmal eingebürgert hat. Aber man muß durchaus die Empfindungen erheben können, meine lieben Freunde, dazu, daß anthroposophische Bewegung überhaupt gegenüber allem in der Welt etwas Neues ist und daß es außerordentlich schwierig, ja auf vielen Gebieten unmöglich ist, in den alten Formen dieses Neue fortzupflegen. Es ist natürlich dem Menschen auf der anderen Seite schwierig, die neue Form für den neuen Inhalt zu finden.
Nun, meine lieben Freunde, von da ausgehend möchte ich auch darauf aufmerksam machen, daß im Grunde genommen die anthroposophische Bewegung, wie sie jetzt sich gestalten will, gestalten ja namentlich in ihren spirituellen Strömungen, eine Art Zurückkehren ist zu demjenigen, was ursprünglich in den Absichten lag. In diesen Absichten lag ja nicht nur dies, was sich dazumal in Berlin abspielte, als die deutsche Sektion in der Theosophischen Gesellschaft begründet worden ist, wo während der Begründung dieser deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft von mir in einem Vortragszyklus gesprochen worden ist, der den Titel «Anthroposophie» hatte, so daß sozusagen damals neben der Begründung der theosophischen deutschen Sektion stand die anthroposophische Bewegung; aber dasjenige, was innerhalb der Theosophical Society von unserer Seite sich abgespielt hat, war nie etwas anderes als Anthroposophisches.
Und nicht nur dieses war vorhanden, sondern es war auch das vorhanden, daß schon dazumal stark bei mir die Absicht war, den esoterischen Zug in die anthroposophische Bewegung hineinzubringen. Daher trug der erste Vortrag, den ich dazumal hielt, innerhalb des Rahmens dessen, was gesprochen werden sollte in der deutschen Sektion der Theosophical Society, den Titel: «Praktische Karma-Übungen».
Aber die Persönlichkeiten, die dazumal mit bei der Begründung waren, bekamen einen furchtbaren Schreck, als sie diesen Titel vernahmen, und ich könnte heute noch mit voller Anschaulichkeit die astralischen Wellen des Bebens und Zitterns schildern, welche namentlich die alten Herren an sich zeigten, die dazumal, herausgewachsen aus der
#SE260a-373
theosophischen Bewegung, hörten, ich wollte sprechen über praktisches Karma. Und Worte immerhin wie dieses wurden mir entgegengebracht: Wollen Sie denn an einem Tage unsere ganze jahrzehntelange Arbeit -denn die Leute glaubten ja, jahrzehntelange Arbeit geleistet zu haben -, unsere ganze jahrzehntelange Arbeit einsargen! Und es fanden sozu-sagen fortwährend Privatsitzungen, Councils statt, in denen man mir begreiflich machte, das könne so nicht gehen. Und ich verspürte dann nicht nur den astralischen und Ich-Eindruck von den Bebe- und Zitterwellen, sondern ich verspürte auch den fröstelnden Eindruck der astraI lischen Gänsehaut, welche die alten Herren bekamen.
Und da war es denn ganz unmöglich, bei dem Programm zu bleiben, weil es aussichtslos gewesen wäre. Und so kam eben die theosophische Bewegung in Deutschland ixi ein mehr theoretisches Fahrwasser, wie sie ja überhaupt in der Theosophical Society es hat, und das eigentlich Esoterische mußte warten.
Und das war ihm vielleicht gut. Denn es vergingen ja mittlerweile reichlich dreimal sieben Jahre, in denen konnte sich manches im Unbewußten und Unterbewußten einleben, was ins Bewußtsein nicht recht hinein wollte. Und das ist auch geschehen. Und so kann jetzt durchaus in jener esoterischen Weise gerade für den Anfang des Einlebens des Goetheanischen Weihnachtsimpulses, dasjenige, was dazumal nicht geben konnte, es kann der Anfang dieses Einlebens damit beginnen, daß die okkulten Entwickelungsimpulse der Welt, des Kosmos und der Menschheit gesucht werden auf dem karmischen Gebiete. Gefragt wird, und die Antworten werden gegeben, wenn sie heute aus der geistigen Welt heraus schon gegeben werden können, nach Menschheits-, nach einzelnem, individuellem Karma und so weiter. Daran werden anschaulich werden können die Impulse, die herein wollen, mit aller Kraft herein wollen aus der übersinnlichen Welt in die Welt der Menschheit in der Gegenwart.
#SE260a-374
#TI
Nach dem Vortrag in London, 24. August 1924
#TX
Ich habe noch eine Bemerkung zu machen, meine lieben Freunde. Diejenigen Freunde, welche die Absicht haben, Mitglieder der Schule zu werden und an den Klassenstunden, die in den nächsten Tagen hier stattfinden werden, teilzunehmen, werden hiermit gebeten, sich bei Dr. Wachsmuth schon womöglich nach dieser Stunde hier zu bewerben um das blaue Zertifikat. Und auch diejenigen Freunde, welche schon geschrieben haben um die Teilnehmerschaft zu der Klasse und noch keine Berücksichtigung gefunden haben - da jetzt so außerordentlich viel zu tun ist nach jeder Richtung, können die Briefe. nicht immer gleich erledigt werden -, auch diese Freunde möchten sich an Dr. Wachsmuth wenden und sich durch ihn bei mir anmelden.
Es wird im allgemeinen gesagt werden müssen, daß diese esoterische Schule, deren erste Klasse bis jetzt besteht, das Herz und die Seele der Anthroposophischen Gesellschaft sein soll. Dazu wird erforderlich sein, daß in dieser Schule nur diejenigen Freunde Mitglieder werden, welche sich in jeder Beziehung dazu entschließen können, in dem Leben, in dem sie stehen, wirkliche Repräsentanten der anthroposophischen Sache zu sein und dies auch darzuleben in der Art und Weise, wie sie im Leben drinnenstehen.
Gerade durch die Weihnachtstagung am Goetheanum ist ja der allgemeine Kreis der Anthroposophischen Gesellschaft ein weiterer geworden. Die Gesellschaftsmitglieder sind ferner nur dazu verbunden, sozusagen insoweit teilzunehmen an der anthroposophischen Sache, als ihnen das nach ihren Antezedenzien möglich ist. Sie gehen keinerlei Verpflichtungen ein, höchstens diejenigen, die jeder anständige Mensch der Welt gegenüber eingeht. Aber diejenigen, die dann in das innere Arbeiten eintreten, von denen muß schon verlangt werden, daß sie im Leben richtige Repräsentanten der anthroposophischen Sache seien.
Das ist keine Beschränkung der Freiheit, denn es handelt sich ja darum, daß die Leitung der esoterischen Schule am Goetheanum ebenso frei sein muß darinnen, an wen sie ihre Arbeiten mitteilen will, wie diejenigen frei sein müssen, die diese Arbeiten empfangen. Sozusagen das Verhältnis zwischen den Mitgliedern der esoterischen Schule und
#SE260a-375
ihrer Leitung besteht in einem gegenseitigen Vertragsverhältnis, wo eben jeder seine Forderung stellen muß. Daß diese Forderungen aber streng eingehalten werden müssen, das mag Ihnen die Tatsache bezeugen, daß auf der andern Seite die Möglichkeit stehen muß, Mitgliedern der Schule, die nach der Ansicht der Leitung nicht in der richtigen Weise drinnenstehen, bemerklich zu machen, daß sie fernerhin kein Mitglied der Schule sein können, und daß das schon bei dem kurzen Bestand der Schule in neunzehn Fällen notwendig geworden ist, daß sozusagen neunzehn Mitglieder der Schule ausgeschlossen werden mußten.
Daraus werden Sie ersehen, meine lieben Freunde, daß, weil jetzt alles mit einem gründlichen Ernste genorlllnen werden muß seit der Weihnachtstagung, auch das Drinnenstehen in der Schule mit aller-größtem Ernste genomlnen werden muß.
Äußerlich wird die Bedingung gemacht, daß das Mitglied zwei Jahre lang Mitglied ist, bevor überhaupt eine Mitgliedskarte zur Klasse ausgehändigt werden kann. Ausnahmefälle können nur in den allerseltensten Fällen eintreten eigentlich gar nicht. So daß ich diejenigen bitte, die unter den Bedingungen, die noch weiter erörtert werden am Ende der ersten Klassenstunde in die Klasse eintreten wollen, also auch diejenigen, die schon gesch;ieben und das blaue Zertifikat noch nicht erhalten haben, sich für diese Mitgliedschaft anmelden möchten. Es muß eigentlich heute schon geschehen, damit bis morgen dann die blauen Zertifikate wirklich ausgefertigt sein können.
In der äußeren bürokratischen Welt bekommt man den «blauen Brief», wenn man herausgeworfen wird, und hier bei uns bekonmit man den blauen Brief, wenn man hereingenommen wird!.
Ankündigungen der September-Veranstaltungen am Goetheanum Nachrichtenblatt, 10. August 1924
#G260a-1987-SE376 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
Ankündigungen der September-Veranstaltungen am Goetheanum
Nachrichtenblatt, 10. August 1924
ANKÜNDIGUNG
DER MEDIZINISCHEN SEKTION AM GOETHEANUM
(Leitung Dr. I. Wegman)
#TX
Es findet parallel zur Theologen-Tagung am Goetheanum 8. bis 15. September ein Kursus in Pastoral-Medizin statt. Zu demselben sind alle praktizierenden Ärzte und alle, die ein Studium betreiben, das zur ärztlidien Praxis führt, eingeladen, wenn sie Mitglieder der Anthroposophisdien Gesellschaft und der ersten Klasse der Freien Hodisdiule für Geisteswissenschaft sind (damit sind die betreffenden auch Mitglieder der medizinischen Sektion am Goetheanum).
#TI
Nadiriditenblatt, 17. August 1924
VORTRAGSVERANSTALTUNGEN UND KURSE AM GOETHEANUM
IN DORNACH IM SEPTEMBER 1924
#TX
4. bis 9. September: Kursus für Theologen.
8. bis 15. September: Kursus für Theologen und Mediziner.
2. bis 15. September: Kursus für Sprachgestaltung und dramatische Kunst.
Außerdem werden in der Zeit vom 4. bis zirka 21. September all-wöchentlich Vorträge Dr. Steiners für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft und für die Mitglieder der ersten Klasse der Freien Hochschule stattfinden.
Wir möchten nochmals daran erinnern, daß alle Einreisegesuche aus Deutschland vorher an den Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, Stuttgart, Champignystraße 17, nicht nach Dornach, zu richten sind.
Wir machen darauf aufmerksam, daß wir nur für die Unterbringung der Teilnehmer an den obengenannten Kursen, soweit dies möglich ist,
#SE260a-377
sorgen können, daß jedoch die übrigen Besucher für ihre Unterkunft selber Sorge tragen müssen.
Dr. Rudolf Steiner Dr. I. Wegman
Um Mißverständnissen vorzubeugen bei den zahlreichen Anfragen um Teilnahme an dem von Dr. Rudolf Steiner gehaltenen Kursus für Sprachkunst und dramatische Kunst in Dornach zwischen dem 2. und 55. September sei hiermit mitgeteilt, daß dieser Kursus in erster Linie für Schauspieler gedacht ist. Der von Frau Marie Steiner in dieser Zeit abgehaltene praktische Kursus für Sprachausbildung wird sich ausschließlich auf Schauspieler beschränken müssen. Es werden Anfänger und sonstige Interessenten nicht daran teilnehmen können.
Freie Unterkunft und Verpflegung kann leider nicht mehr gewährt werden. - Günstig ist, Schlafdecken mitzubringen.
#TI
Ansdilag am Sdiwarzen Brett
1./2. September 1924
Goetheanum
Freie Hochschule für Geisteswissenschaft
KURSUS FÜR SPRACHGESTALTUNG UND DRAMATISCHE KUNST
von Rudolf Steiner
und Marie Steiner
#TX
Dringende Obliegenheiten in Stuttgart machen mir den Beginn des Kurses vor Freitag unmöglich. Der Kursus wird daher Freitag (5. IX.) 52 Uhr morgens beginnen und durch ,5 Tage hindurch täglich von 12 bis 1 Uhr abgehalten werden. Eintrittspreis: 20 Franken. Ort: Schreinerei.
Dr. I. Wegman Rudolf Steiner
Schriftführer der Anthrop. Gesellschaft
#SE260a-378
#TI
EINLEITENDE VORTE ZUM KURSUS
«SPRACHGESTALTUNG UND DRAMATISCHE KUNST»
Dornach, 5. September 1924
#TX
Dieser Kursus hat eine kleine Geschichte, und es ist vielleicht notwendig, daß ich diese kleine Geschichte in die Einleitung, die ich zu sprechen gedenke, hineinverwebe, schon aus dem Grunde, weil heute eben nur eine allgemeine Einleitung von mir gegeben werden soll. Es wird dann mit der eigentlichen Gliederung des Kursus morgen begonnen werden. Diese Gliederung des Kursus wird so sein, daß die Auseinandersetzungen über Sprachgestaltung und dramatische Kunst von mir gegeben werden, und der Teil, der sich mit der eigentlichen Sprachgestaltung zu befassen hat, von Frau Dr. Steiner gegeben wird, so daß also der Kursus von uns beiden in Gemeinsamkeit zu halten sein wird.
Die Gliederung des Kursus soll ungefähr so sein, daß er in seinem ersten Teil die eigentliche Sprachgestaltung umfassen wird, in seinem zweiten Teil die Bühnenkunst, also das Dramatisch-Bühnenmäßige, Regiekunst und Bühnenkunst überhaupt. In seinem dritten Teil soll er auf das Thema kommen: die Schauspielkunst und alles dasjenige, was vor der Schauspielkunst, sei es bloß genießend, sei es kritisierend und dergleichen, steht; ich möchte sagen: Die Schauspielkunst und die übrige Menschheit. - Das soll dann der dritte Teil sein.
Es wird sich ja dann besprechen lassen, wie unsere Zeit gewisse Forderungen enthält für die Schauspielkunst, und wie die Schauspielkunst hineingestellt werden soll in die Zeit gegenüber der Art und Weise, wie überhaupt heute die Menschheit lebt.
Ich sagte: der Kursus hat eine kleine Geschichte. Er ging aus davon, daß zu Frau Dr. Steiner und mir zunächst einzelne Persönlichkeiten kamen, welche das Bedürfnis hatten, aus ihrem Drinnenstehen im Bühnenmäßigen an die Anthroposophie heranzukommen in dem Glauben, daß - weil ja Anthroposophie heute dasjenige sein soll, das nach allen Seiten hin Anregung gibt, nach der religiösen, der künstlerischen, wissenschaftlichen und so weiter - auch nach der künstlerisch-dramatischen Seite Anregungen gegeben werden sollen oder können.
Das kann ja durchaus der Fall sein, denn es gingen die verschiedenen
#SE260a-379
Kurse voraus, die Frau Dr Steiner für Sprachgestaltung gegeben hat. Es ging auch hier ein Kursus von Frau Dr. Steiner über Sprachgestaltung voraus, dem ich dazumal schon einiges hinzufügen durfte, was sich auf die Bühne selbst bezieht. Es ging voraus, daß von diesem Kursus dann allerlei Anregungen ausgegangen sind, und daß wiederum auf der andern Seite Persönlichkeiten, die im Bühnenleben drinnenstanden, das oder jenes, was bisher als Anregung gegeben worden ist von unserer Seite her, schon vor die Öffentlichkeit hingestellt haben; einzelne Gruppen von Persönlichkeiten traten ja in der Welt bühnenmäßig auf mit der Anerkennung, zunächst für sie selbst, daß von hier aus gewisse An-regungen ausgehen können.
Dazu kommt, daß diejenige Kunst, die unter uns steht seit 1912, die eurythinische Kunst, nahe, moglichst nahe an das heutige Bühnenmäßige angrenzt. Und daß diese eurythmische Kunst in der Zukunft eben ganz mit dem Bühnenmäßigen eins werden wird, geht ja schon aus der äußerlichen Art wie sie vorgebracht werden muß, so hervor, daß einfach die Schauspielkunst das Eurythmische als etwas zu ihr Gehöriges in der Zukunft wird zu betrachten haben. Dieses Eurythmische war ja zunächst, als es von mir gegeben worden ist, im allerkleinsten Rahmen gedacht, vielleicht überhaupt nicht gedacht, könnte ich sagen, denn es lag ja die Sache 1912 so, wie immer die Dinge liegen, wenn in der richtigen Art innerhalb der anthroposophischen Bewegung gearbeitet wird: man nirumt dasjenige, was Karma fordert, auf und gibt so viel, als gerade die Gelegenheit dazu da ist. Das ist in der anthroposophischen Bewegung nicht anders möglich. In der anthroposophischen Bewegung hat man nicht eine Tendenz, Reformgedanken zu haben, man hat nicht die Tendenz, eine Idee in die Welt zu setzen, sondern man hat das Karma vor sich. Und dazumal war es so, daß im allerengsten Kreise das Bedürfnis entstand, sozusagen eine Art Beruf zu bilden. Es war auf die naturgemäßeste, aber auch karmaigemäßeste Weise. Und da tat ich zunächst soviel, als gerade notwendig war, um diesem Karma entgegenzukommen.
Dann wiederum war es ebenso karmisch, daß etwa zwei Jahre darnach Frau Dr. Steiner deren Domäne das selbstverständlich innig berührte, sich der eurylhmischen Kunst annahm. Und alles, was dann
#SE260a-380
daraus geworden ist, ist ja durch sie eigentlich erst geworden. So daß es also ganz selbstverständlich ist, daß auch diesoer Kursus jetzt, der un-mittelbar in diesoen AlIregungen auf das Jahr 1913, 1914 zurückgeht, sich hineinstellt in die Sektion für redende Künste, deren Leiter Frau Dr. Steiner ist.
#TI
LETZTE AUSOFÜHRUNGEN ÜBER DIE WEIHNACHTSTAGUNG
Vor dem Abendvortrag in Dornach, 5. September 1924
#TX
Es sind heute viele Freunde versammelt, welche seit der Weihnachts-tagung zum ersten Male hier sind, und daher obliegt es mir, wenn audi mit wenigen Worten, einleitend auf die Weihnachtstagung hinzuweisen. Durch diese Weihnachtstagung sollte ja die Anthroposophisoche Gesell-schaft einen neuen Impuls bekommen, und zwar denjenigen, der ihr eigen sein muß, wenn wirklich durch sie dasjenige Leben in würdiger Art fließen soll, das mit der Anthroposophie dem menschlichen Zivilisationsoleben einverleibt werden soll. Es ist durchaus seit dieser Weihnachtstagung ein esoterischer Impuls in die Anthroposoophische Gesellschaft gekommen. Diese Anthroposophische Gesellschaft war bisher sozusagen die Verwaltungsstätte für Anthroposophie. Anthroposophie war von ihrem Anfange an dasjenige, durch das fließt das spirituelle Leben, das heute und seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Menschheit zugänglich ist. Diese anthroposoophisoche Bewegung muß aber so aufgefaßt werden, daß, was von ihr hier auf Erden abläuft, eigentlich nur die äußere Erscheinung von etwas ist, das in der geistigen Welt sich vollzieht für die Entwickelung der Menschheit. Und wer in würdiger Weise der anthroposophischen Bewegung zugeneigt sein will, der muß sich schon auch damit bekannt machen, daß für das Gebiet der Anthroposoophischen Gesellschaft selber die spirituellen Impulse gelten.
Was hat es denn für eine Bedeutung, meine lieben Freunde, wenn der Mensch im allgemeinen theoretisch an eine geistige Welt glaubt? Theoretisch an eine geistige Welt glauben heißt, diese geistige Welt in die
#SE260a-381
Gedanken aufnehmen. Aber die Gedanken der Menschen der Gegen-wart sind heute selber so, wenn sie auch ihrer ureigensten Natur nach für den heutigen Menschen das Geistigsote darstellen, daß sie zunächst so, wie sie sich also innerer Geist des Menschen ausgebildet haben im Laufe der letzten vier bis fünf Jahrhunderte, nur geeignet sind, Wahrheiten über das Materielle aufzunehmen. Und so hat die heutige Menschheit ein spirituelles Leben in Gedanken, erfüllt aber also allgert'eine Zivilisoationsomenschheit dieses sopirituelle Gedankenleben nur mit materiellem Inhalte. Materieller Inhalt bleibt auch dasjenige, was man theoretisch. über Anthroposophie weiß, bis hinzutritt die wirkliche innere, bewußte Überzeugungskraft: daß das Geistige ein konkretes Wirkliches ist, daß überall da, wo für den äußeren Menschensoinn Materie lebt, Geist diese Materie nicht nur durchzieht und durchströmt, sondern daß zuletzt vor dem menschlichen wahren Blicke alles Materielle verschwindet, wenn er imstande ist, durch das Materielle zum Geistigen, zum Spirituellen durchzudringen.
Dann aber muß ein solches Anschauen auch ausgedehnt werden auf alles dasjenige, was uns zunächst selber angeht. Selber geht uns an unsere Zugehörigkeit zur Anthroposoophischen Gesellschaft. Für diese in der äußeren Sinnesowelt bestehende Tatsache, für diese unsere Zugehörigkeit zur Anthroposophisochen Gesellschaft müssen wir in der Lage sein, anzuerkennen das entsprechende Spirituelle, die spirituelle Bewegung, die in der geistigen Welt sich in der neueren Zeit entwickelte und im Erdenleben fortbestehen wird, wenn die Menschen ihr treu bleiben können. Sie wird fortbestehen sonst abseits vom Erdenleben. Sie wird fortbestehen zusammenhängend mit dem Erdenleben, wenn die Menschen in ihrem Herzen die Kraft finden, ihr treu zu bleiben.
Daß aber nicht nur unsere theoretische Überzeugung dahingeht, daß hinter Mineralien, Pflanzen, Tieren und dem Menschen selber ein Geistiges schwebt, sondern daß auch hinter der Anthroposophischen Gesellschaft, die im Äußeren zur Maja, zur Illusion gehört, schwebt das spirituelle Urbild der anthroposophisochen Bewegung, das ist dasjenige, was eindringen muß also tiefe Überzeugungskraft in das Herz jedes sich zur Anthroposophie Bekennenden. Und das muß in dem Wirken und in dem Arbeiten der Anthroposophischen Gesellschaft real werden. Oftmals
#SE260a-382
habe ich gesagt, meine lieben Freunde, vor der Weihnachtstagung, man müsse unterscheiden zwischen anthroposophischer Bewegung, von der immer dasselbe gesagt werden müßte wie heute, und zwischen der Anthroposophischen Gesellschaft, die eine äußere exoterische Verwaltungsostätte für den anthroposophischen Esoterisomus war. Seit Weihnachten ist das Gegenteil der Fall. Zur Weihnachtszeit trat die schwierige Entschließung heran, ob ich selber Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft werden soll. Ich betrachtete in allen vorangehenden Jahren des Bestandes der Anthroposophischen Gesellschaft mich als den nicht mit der Verwaltung verknüpften Lehrer der anthroposophischen Sache, und ich habe in den verschiedensten Dingen, die in Betracht kommen, das strenge durchgeführt. Die Anthroposophische Gesellschaft wurde als solche von andern geleitet. Mir oblag, innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft, insofern es der einzelne oder ihre Gruppen wollten, die anthroposophische Sache zur Geltung zu bringen.
Unsere Freunde werden ja im Laufe dieser Vorträge oder aber sonst Gelegenheit haben, erkennen zu lernen, was es heißt, in tätiger Weise auf dem Erdenplane dasjenige auszuarbeiten, was sich heute in der spirituellen Welt offenbaren will. Und die Schwierigkeiten sollten eingesehen werden, welche damit verknüpft sind, wenn sozusagen zu diesem Verhältnis zur geistigen Welt eine äußere Verwaltung hinzutreten soll. Und es lag durchaus um die Weihnachtszeit die Eventualität vor: Entweder werden diejenigen geistigen Mächte, welche uns die Anthroposophie geben, Anstoß nehmen daran, daß die äußere Verwaltung nun herangezogen wird an die Esoterik selber, oder aber es wird etwas anderes eintreten. Daher war der Entschluß der denkbar schwierigste, der damals zu fassen war. Denn es konnte durchaus auch die Möglichkeit da sein, daß die Ströme geistigen Lebens, die uns zugeflossen sind, gerade durch einen solchen Entschluß hätten gefährdet werden können. Dennoch mußte der Entschluß gefaßt werden, weil die Vorbedingungen so lagen, daß nunmehr das Gegenteil eintreten mußte von dem, was ich eben vorhin charakterisiert habe, wenn die anthroposophische Sache weiter mit der Anthroposophischen Gesellschaft in Verbindung bleiben sollte. Es mußte für die Zukunft die Anthroposophisoche Gesellschaft selber diejenige Stätte sein, durch die unmittelbar das esoterische
#SE260a-383
Leben fließt und die selber esoterisch wirkt und sich ihres esoterischen Wirkens bewußt wird.
Dazu mußte der esoterische Vorstand geschaffen werden am Goetheanum. Dazu mußte anerkannt werden, daß diesem Vorstande in seiner Ganzheit eine esoterische Aufgabe obliegt und daß in der Zukunft alles dasjenige, was durch die Anthroposoophische Gesellschaft fließt, nicht nur anthroposophische Substanz ist, die aufzunehmen ist, sondern daß für die Zukunft außer dem, daß Anthroposophie gelehrt wird, Anthroposophie getan werde, das heißt, in allen äußeren Maßnahmen Anthroposophie wirkt.
Dazu bedarf es der Anerkennung jener realen Kräfte, welche verbinden müssen die einzelnen in der Gesellschaft vereinigten Persönlichkeiten. Diese Kräfte können keine Kräfte sein, die unter irgendeinem Programm oder Satze stehen, die durch abstrakte Sätze zusammengefaßt werden. Allein dasjenige kann im esoterischen Sinne die Anthroposophisoche Gesellschaft begründen und halten, was als reale menschliche Beziehungen vorhanden ist. So muß in der Zukunft alles auf die realen menschlichen Beziehungen im weitesten Sinne begründet sein, auf das konkrete, nicht auf das abstrakte geistige Leben.
Man muß nur in der Lage sein, dieses konkrete geistige Leben also solches aufzufassen und es in den geringsten Einzelheiten des Lebens zu sehen. Ich möchte eine recht winzige Einzelheit anführen. Wir haben beschlossen, als dieser Impuls aufgenommen wurde, jedem unserer Mitglieder ein neues Mitgliedszertifikat zu geben. Da die Anthroposophisoche Gesellschaft mittlerweile bis zu zwölftausend Mitgliedern angewachsen ist, handelte es sich nun darum, diese zwölftausend Mitgliederzertifikate auszustellen, und ich mußte trotz des Einwandes, den viele gemacht haben, den Entschluß fassen - wie gesagt, es ist eine winzige Sache -, jedes einzelne Mitgliedszertifikat selber zu unterschreiben. Das ist natürlich eine Arbeit von vielen Wochen. Was bedeutet sie aber? Nicht irgendeinen Eigensinn, nicht irgendeine äußere Verwaltungsmaß-regel, sondern das bedeutet sie, daß meine Augen geruht haben auf dem Namen desjenigen, der das Mitgliedszertifikat empfängt. Es ist eine menschliche Beziehung, allerdings zunächst winzigen Inhaltes, aber es ist eine menschliche Beziehung.
#SE260a-384
So unterscheiden sich menschliche Beziehungen, die Tatsachen sind, von dem, was bloße Verwaltungsmaßregeln sind, was bloß in Programmen und Paragraphen steht. Nichts von dem, was real durch die Anthroposophie fließt, darf in Satzungen und Paragraphen stehen, sondern alles muß wirkliches Leben sein. Allein wirkliches Leben kann die Esooterik aufnehmen.
So muß gesagt werden, seit der Weihnachtstagung sind anthroposophische Sache und Anthroposophische Gesellschaft nicht mehr zu untersocheiden, sind eines geworden. Daß das im Bewußtsein jedes einzelnen Mitgliedes ist, das ist dasjenige, um was es sich handelt.
Es könnte Ihnen vorkommen, meine lieben Freunde, das sei eine Selbstverständlichkeit. Denken Sie darüber nach, und Sie werden finden, daß die völlig herzliche Durchführung davon nicht eine Selbstverständlichkeit ist, sondern daß es sogar recht schwierig ist, die Sache in jedem Augenblick seines Lebens durchzuführen.
Nun handelt es sich darum, ich möchte sagen, unter der wirklichen Sorge zunächst zu stehen: Wird spirituelles Leben weiter unter diesen Bedingungen durch die Anthroposophische Gesellschaft fließen, wie sie durch die anthroposophische Bewegung geflossen ist?
Das aber darf gesagt werden, nachdem wir jetzt viele Monate unter den Wirkungen der Weihnachtstagung stehen, uns bemühen, treu zu bleiben dem, was wir dazumal mit der spirituellen Grundsteinlegung der Anthroposophisochen Gesellschaft gemeint haben, das dürfen wir uns sagen: Dasjenige, was geflossen ist seit Jahren, es fließt in reicherem Maße weiter. Und wir dürfen auch sagen, daß die Herzen sich noch mehr aufgeschlossen haben allüberall, wo der mehr esoterische Zug, der seit der Weihnachtstagung durch alles, was anthroposophisoche Arbeit ist, fließt, wo dieser mehr esoterische Zug eben da ist.
Fassen Sie die ganze Bedeutung dieses Wortes, wie ich es aus den Erfahrungen der letzten Monate heraus zu sprechen habe, in Ihrem Herzen auf, meine lieben Freunde! Ein solches Auffassen wird in der Zukunft vielfach mit beitragen, den rechten Boden jenem spirituellen Grundstein zu geben, den wir zur Zeit der Weihnachtstagung für die Anthroposophische Gesellschaft gelegt haben.
Und damit komme ich auf das zu sprechen, was auch orientierend
#SE260a-385
heute in diesem Einleitungsvortrage auf dasjenige hinweisen soll, was ich Ihnen in den nächsten Tagen zu sagen haben werde, hinweisen soll darauf, wie die anthroposophische Bewegung jetzt in diesem ernsten Augenblicke im Grunde genommen zu ihrem Keime zurückkehrt. Als aus dem Schoße der Theosophischen Gesellschaft heraus im Beginne des Jahrhunderts in Berlin die Anthroposophische Gesellschaft begründet worden ist, da spielte sich etwas sehr Eigentümliches ab. Während der Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft, das heißt der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft, hielt ich in Berlin Vorträge über «Anthroposophie».. Damit war von vornherein meinem Wir-ken derjenige Impuls aufgedrückt, der später die anthroposophische Bewegung ausgemacht hat.
Aber noch etwas anderes ist es, an das ich heute erinnern darf. Das erste, was ich dazumal einem ganz kleinen Kreise ankündigte, trug für em paar Vorträge den Titel: Seit der Weihnachtstagung wird hier in diesem Saale, wird an den verschiedenen Orten, an denen ich sprechen durfte, in ganz unverhohlener Weise vom konkreten Wirken des menschlichen Karma in geschichtlichen Erscheinungen, in einzelnen Menschen gesprochen. Und heute sind eine Anzahl unserer Anthroposophen bereits unterrichtet, wie die verschiedenen Erdenleben bedeutsamer Persönlichkeiten verlaufen sind, wie das Karma der Anthroposophischen Gesellschaft selber und das mit ihr verbundene einzelner Persönlichkeiten sich gestaltet hat.
#SE260a-386
Seit der Weihnachtstagung wird über diese Dinge ganz esoterisch gesprochen. Seit der Weihnachtstagung sind unsere Zyklen öffentlich, jedem, der dafür Interesse hat, zugänglich. So sind wir eine esoterischere und zu gleicher Zeit völlig öffentliche Gesellschaft geworden.
Damit kehren wir in einem gewissen Sinne zu dem Ausgangspunkt zurück. Damals war Absicht, was jetzt Wirklichkeit werden soll. Da viele unserer Freunde seit der Weihnachtstagung jetzt zum erstenmal hier sind, werde ich gerade die Karma-Frage vor Ihnen hier in den nächsten Tagen behandeln. Dazu werde ich mir nur erlauben, heute eine Art von Einleitung zu geben, indem ich von denjenigen Dingen spreche, die auch in den dieswöchigen «Mitteilungen», wenn auch skizzenhaft, angedeutet sind.
#TI
ANKÜNDIGUNG EINER «IPHIGENIE».-AUFFÜHRUNG
Nach dem Vortrag in Dornach, 14. September 1924
#TX
Wir werden die Freude haben, am nächsten Mittwoch um fünf Uhr hier eine Aufführung der «Iphigenie». durch die Truppe, die Herr Kugelmann um sich versammelt hat, zu haben. Herr Kugelmann hat die Anregungen für seine Bemühungen, zur Reform der Schauspielkunst manches beizutragen, dazumal empfangen, als Frau Dr. Steiner hier vor einiger Zeit einen Kursus über Sprachgestaltung hielt, zu dem ich einige Beispiele über die Regiekunsot brachte. Und was sich da Herrn Kugelmann und seiner Truppe aus den Anregungen des damaligen Kurses ergeben hat, haben wir schon gesehen, als wir eine «Iphigenie»Aufführung besuchen durften bei jenem ja von mir mündlich und schriftlich öfter erwähnten denkwürdigen Besuch in Breslau-Koberwitz, wo Gräfin und Graf Keyserlingk für die Anthroposophie eine 50 ungemein gastfreundliche Stätte eröffnet haben, in der wirklich durch das Wirken der beiden Persönlichkeiten das Wirken des Anthroposophischen, das dort geschehen sollte, in so guter Weise vor sich gehen konnte. Also wir haben im Anschlusse daran schon dazumal eine «Iphigenie»Aufführung Herrn Kugelmannso und seiner Truppe gesehen. Und indem
#SE260a-387
das, was da zutage tritt, als ein Ergebnis dessen betrachtet wird, was sich für Herrn Kugelmann aus jenen Anregungen ergeben hat, die den Anfang dessen darstellen, was Fortsetzungen - zunächst diejenigen des jetzigen Kurses für Sprachgestaltung - finden soll, dürfen wir Herrn Kugelmann danken dafür, daß er uns die Freude machen will, mit unserem Einverständnisse am Mittwoch um fünf Uhr mit seiner Truppe hier die «Iphigenie». darzustellen. Die Bedingungen des Eintrittes werden in den nächsten Tagen noch bekanntgegeben werden.
#TI
Nadirichtenblatt, 14. September 1924
An die Mitglieder!
AUS DEM KURSUS ÜBER SPRACHGESTALTUNG
UND DRAMATISCHE KUNST AM GOETHEANUM
#TX
Unter den Kursen, die in der ersten Septemberhälfte am Goetheanum abgehalten werden, ist ein solcher über «Sprachgestaltung und dramatische Kunst».. Er möchte einer Sehnsucht, die bei vielen heute ganz ausgesprochen vorhanden ist, entgegenkommen: der, aus dem stillosen Naturalismus der Bühnenkunsot wieder zu einem Stil zu kommen.
Man wird das nur können, wenn man zu allererst gewahr wird, wie der Seelengehalt des Menschen, im Worte lebend gestaltet, sich offen-bart. Das moderne Bewußtsein lebt dem Sprechen gegenüber ganz in der Ideenempfindung, es hat die Laut- und Wortempfindung fast verloren. Aber in der Ideen-Empfindung geht auch die sinnlich-wahrnehmbare Geistigkeit verloren, die das Wesen aller Kunst ist.
In der Bühnenkunsot muß das am meisten empfunden werden. Denn sie bedarf des Mimischen, der Gebärde, der Geste, wenn sie das Wort zur rechten Geltung bringen soll. Gebärde und Geste binden sich im unmittelbaren Erleben nicht mit genügender Stärke an die Ideen-Empfindung, sondern an die Laut- und Wort-Empfindung.
Im Intonieren des Lautes A offenbart die Seele ursprünglich immer das Erlebnis der Bewunderung von etwas, des Erstaunens an etwas. In
#SE260a-388
dem Laute 0 lebt die Empfindung des seelischen Umfassens von etwas. Lebt man sich in dieser Art in die Sprache ein, so wird man in der Vokalisierung das innere Seelen-Erleben an der Außenwelt, in der Konsonantisierung das Streben der Seele finden, in der Lautgesotaltung ein hörbares Bild eines Gegenstandes oder Vorganges der Außenwelt nachahmend zu formen.
Und dadurch kommt man zu dem Erlebnis des Wortes.
In dem B bestrebt sich die Seele die Umfassung eines Gegenstandeso, in dem R das innere Erregtsoein, Erzittern in einem Vorgang nachzuahmen.
In dem Gefüge von Vokalen und Konsonanten lebt die Seele in der Außenwelt mit ihrem Leben; und es leben die Gestalten und Vorgänge der Außenwelt im Bilde in der Seele.
In jedem Wort, in dem der A-Vokal enthalten ist, lebt etwas davon, daß die Seele über das Bezeichnete in Verwunderung oder Erstaunen ist. Das ist zumeist ganz verblaßt für das gewöhnliche Bewußtsein. Aber in den unterbewußten, oder auch halbbewußten Erlebnissen der Menschenseele stellt es die Beziehungen dar, die die Mensochenseele zum Worte hat.
Wer durch das Wort künstlerisch offenbaren will, der muß diese Beziehungen in sich lebendig machen. Seine Seele muß sich in das Wort hineinleben; dann nur kann das Wort künstlerisch von ihm gestaltet werden.
Ein Dialog stellt dar, was zwei Menschen aneinander erleben. Die Seelen sind in Wechselwirkung. Während der eine spricht, hört der andere zu. Nun beginnt dieser zu sprechen. In seinem Worte muß nach-klingen, was der Erste im Sprechen erlebt hat. Dieser hört jetzt dem Zweiten zu. In seinem stummen Zuhören muß für die dramatische Darstellung anschaulich werden, ob der Zweite ihn befriedigt, enttäuscht, bestürzt, besorgt und so weiter. Denn Kunst muß alles, was in ihr leben soll, auch zur Anschauung bringen.
Das Verhalten der Unterredner im Dialog ergibt sich, wenn ein jeder seine Seele mit der Laut- und Wortempfindung verbunden hat. Dem Darsteller wird durch diese Verbindung die Haltung, die er einzunehmen hat, zu einer Fähigkeit des Instinktes.
#SE260a-389
Die Vorbereitung für die bühnenmäßige Darstellung soll die Schulung für Laut- und Wortempfindung in sich schließen.
Die Ideen-Empfindung kann keine kunsotgemäße Schulung geben. Denn sie wendet sich zu stark an den Intellekt. Dieser aber zerstört das Künstlerische. Er läßt das Anschauliche in die Unanschaubarkeit des inneren Seelenlebens verschwinden. Was auf der Bühne vorgeht, muß aber in der Wahrnehmbarkeit des Gehörten und in derjenigen des Gesehenen leben; es darf keinen Anspruch erheben, von dem Intellekt des Zuhörers und Zuschauers nachkonsotruiert zu werden.
Es war richtig von Aristoteles gedacht und richtig von Lessing nachempfunden, daß die tragische Handlung in Furcht und Mitleid des Zu-schauers nachsochwingen muß Diese Gefühle werden aber durch den Darsteller nur dann wachgehalten werden können, wenn er bis in die Sprachgestaltung hinein sein Seelenleben tragen kann.
Das Leben im Sprechen kann nur am Erleben der Sprache heran-gezogen werden. Man wird heute naturgemäß nicht immer Worte mit dem U-Laut zu sprechen haben wenn man Furcht-Getragenes zu sagen hat. Denn die Sprachen sind nicht mehr ursprünglich. Aber der U-Laut ist die Offenbarung des Furcht-Erlebnisses der Seele. Hat man zu sagen:
«Es naht Gefahr»., so ist darin nicht der U-Laut. Aber die Jntonierung, die man den Worten in diesem Falle zu geben hat, kann an der Empfindung, die sich am U-Laut erleben läßt, herangezogen werden.
Es ist das Geheimnis der Sprache daß in jedem Laute andere unhorbar in der Seele mitklingen. Spreche ich A in einem Worte, das Furchtgetragen ist, so klingt in den Tiefen der Seele der U Laut mit Der im gewöhnlichen Leben Sprechende hat damit selbstversotandlich nichts zu tun. Er steht in der Situation des unmittelbaren Erlebens darinnen. Er ist mit dem Gefühle diesem Erleben nahe Er spricht aus der erlebten Furcht die Worte: «Es n ht Gefahr». Der Bühnenkünstler steht nicht in der unmittelbaren Lebaenssituation darinnen. Er muß instinktiv die Lautempfindung in sich tragen , die in dem Aussprechen eines FurchtErregenden stumm mitschwingt. Diese Laut-Empfindung kann ihm das Kolorit der Intonierung geben
Im Dialog wird eine solche Laut-Empfindung die Möglichkeit gewähren, dem Unterredner so zu antworten, daß der Zuschauer wahrnehmbar
#SE260a-390
das Wechselverhältnis der dialogisierenden Seelen vor sich hat. Wenn im Dialog der eine der Unterredenden zuhört, während der andere spricht, wird in ihm die entsprechende Lautempfindung anklingen, und aus dieser heraus wird er seiner Erwiderung die rechte Intonierung geben. Eine Farbe nimmt sich im Anschauen immer etwas anders aus, ob sie neben blau, oder neben gelb ist. Ein Satz mit was immer für Vokalen tönt anders, je nachdem in ihm der Furcht-geborene U-Laut noch nachsochwingt, oder der Freude-getragene I-Laut.
Marie Steiner und ich besorgen den Kursus gemeinsam.
#TI
Nachrichtenblatt, 21. September 1924
An die Mitglieder!
WEITERES ÜBER DEN KURSUS «SPRACHGESTALTUNG UND
DRAMATISCHE DARSTELLUNGSKUNST». AM GOETHEANUM
#TX
In der Bühnenkunst muß das innere Leben der Sprache wieder erwachen. Denn es ist in der Sprache ein Teil der menschlichen Wesenheit enthalten.
Man findet diesen Teil, wenn man eine Anschauung sucht von dem Verhältnis des Mimisochen, des Gebärdehaften zum Worte. In der Gebärde lebt eine vom Gefühl durchdrungene Willensoffenbarung des Menschen. Das Seelisch-Geistige ist also Bild in der Gebärde vorhanden. Insoferne das Seelisch-Geistige das Gefühl in die Bildhaftigkeit der Gebärde ausströmen läßt, offenbart sich die Menschenwesenheit in der Kraft des Willens nach außen. Man hat es da mit einem Sichtbarwerden der menschlichen Wesenheit so zu tun, daß das Innere nach außen getragen wird.
Aber der Mensch kann seine eigene Gebärde, sein eigenes Mimisoches empfinden, vorstellen, wie er Dinge und Vorgänge der Außenwelt vor-stellt. Es liegt in dem Vorstellen der Gebärde dann eine Art Erfüllung des Bewußtseins mit der inneren menschlichen Wesenheit vor.
#SE260a-391
Die menschliche Organisation bringt im gewöhnlichen Leben diese Übertragung der wijiengetragenen Gebärde in die Vorstellung nicht zu Ende. Sie hält sie auf halbem Wege auf. Und da, wo sie sie aufhält, entsteht die Sprache. In dem Worte ist Mimisoches und Gebärdenhaftes verkörpert. Das Wort ist selbst eine Gebärde in anderer Form.
Wer die Lautempfindung von der in der vorigen Nummer hier gesprochen worden ist, entwickelt für den wird wahrnehmbar, wie die Gebärde in den Laut hineinschlüpft; und er kann im Sprechen ein in das Seelenhafte verfeinertes Erleben der Gebärde haben.
Will man das Sprechen zur künstlerischen Gestaltung bringen, dann muß man in dieser Art den Wortcharakter mit dem Erlebnis des Mimisch-Gebärdehaften in sich tragen können.
Und nur dadurch, daß das Wort mit dem Kolorit dieses Erlebens sich der Kehle des Menschen entringt, kann es zum Bühnen-Wort werden.
Im Bühnen-Worte muß lautlich der bewegte Mensch zur Offenbarung kommen. Dann nur wird e anschauliche Verbindung der Gebärde , des Mimisochen mit dem Gesprochenen vor dem Auge und Ohr des Zuschauers stehen. Und das Drama wird durch Worte und Geste des Schauspielers fließen können
Was im menschlichen Organismus beim gewöhnlichen Sprechen in den tief verborgenen Regionen des Unbewußten vor sich geht: die Umwandlung der Miene und Gebärde in die Intonierung des Lautes , das muß in künstlerischer Empfindung der Schauspieler vor das phantasie-volle Bewußtsein bringen damit in ihm phantasie-bewußte Gestaltung des Wortes wird, was die menschliche Wesenheit im Sprechen sonst ganz unbewußt tut, ja in den vorgerückteren Sprachen in die Farblosigkeit der Wortgestaltung hinein ganz verloren hat.
Bei der Schulung des Schauspielers muß daher von der Verkörperung des seelischen Erlebnisses zunächst in Mimik und Gebärde ausgegangen werden. Es wird das mit einiger Vollkommenheit nur möglich sein, wenn der angehende Schauspieler an der Seite eines Rezitators, der das Sprechen besorgt, zuerst die Rolle im mimischen und gebärdehaften Ausdruck übt, und dann zu diesem «stummen»., aber «beredten». Spiel die Tingierung mit dem Worte hinzufügt.
#SE260a-392
Dann wird die Seele, die in willensmäßiger Art sich der Bewegungs-offenbarung anvertraut, auch auf den Wellen der Worte leben können. Denn im Erregen der Gebärde wird die Seele erlebt; und in dem aus der Gebärde geborenen Worte wird dieses Erlebnis in die halbruhige Gesotaltung des Lautlichen gebracht.
Lebt sich der Schauspieler in diesem Zusammenhang von Laut und Gebärdenbewegung ein, so wird die Wortgestaltung in ihm künstlerischer, phantasojegetragener Instinkt. Es muß dieses Instinktive in das Erleben hineinkommen, sonst erscheint die Darstellung als gemacht. Sie muß aber, um Kunst zu sein, als etwas völlig selbstverständlich Geborenes erscheinen.
Man wird den Willen zu einer solchen Erfassung der Bühnenkunsot nur aufbringen, wenn man von einer geistgemäßen Anschauung der menschlichen Wesenheit ausgehen kann. Denn eine solche wird in dem bewegtsprechenden Menschen das Weben des Geistig-Seelischen erkennen; und dieses kann dann für die Bühnendarsotellung die rechte Grund-stimmung abgeben. Menschen-Erkenntnis, Verwandlung der Menschen-Erkenntnis in praktische Gestaltung des Lautlich-Gebärdehaften: das ist die Grundlage der Bühnenkunst. Was innerlich mit dem ganzen Menschen erlebt wird, das sich Anvertrauen dem lautbegleiteten Gestus, dem gebärdebegleiteten Worte: das ist Schauspielkunst.
In dem jetzt am Goetheanum abgehaltenen Kursus über Sprachgestaltung und dramatische Kunst bildet das eben Ausgesprochene einen Teil dessen, was als Anregung gegeben werden. möchte. Das Künstlerische der Bühne möchten wir anregen. Marie Steiner hat seit vielen Jahren die Rezitations- und Deklamationskunst so ausgebildet, daß in ihr das Künstlerische der Sprachgestaltung zum anschaulichen Erlebnis erhoben wird. Daß nach dieser Seite hin das anthroposophische Wirken sich entfalten kann, ist ihr Verdienst. Sie hat denn auch diesen Kursus angeregt, und wirkt in demselben durch ihre Rezitationskunst mit. Es haben sich unter ihrer Anregung eine größere Zahl von Bühnenkünsotlern hier am Goetheanum eingefunden, die unter ihrer Führung in die dramatische Kunst das aufnehmen möchten, was Anthroposophie geben kann.
#SE260a-393
#TI
Nachrichtenblatt, 28. September 1924
An die Mitglieder!
WEITERES ÜBER DEN KURSUS «SPRACHGESTALTUNG UND
DRAMATISCHE DARSTELLUNGSKUNST». AM GOETHEANUM:
DAS BÜHNENBILD UND DIE REGIEKUNST
#TX
Die Ausführungen, die bisher - in den beiden letzten Nummern - aus dem Für die Gestaltung der Dichtung auf der Bühne bedarf die Regie-kunst des Einlebens in die Welt der Farbe. Das kommt für die Kostümierung der Personen ebenso in Betracht wie für das dekorative Bühnenelement. Denn für den Zuschauer muß das, was er als Wort hört, als Geste sieht, mit der Gewandung des Schauspielers und mit dem plastisch-malerischen Bühnenbild zu einem Ganzen sich verweben.
Da kommt es auf die Möglichkeit an, in der Farbentönung Stil zu entfalten. Deshalb muß die Bühnenkunsot sowie die Malerei jenen Übergang verstehen, der von dem Anschauen (Wahrnehmen) der Farbe an den Dingen und Vorgängen der Außenwelt zu dem Erleben des inneren der Farbe führt.
Eine tragische Stimmung in einem rötlich oder gelblich gehaltenen Bühnenbild ist unmöglich. Eine heitere Seelenverfassung auf blauem oder dunkelviolettem Hintergrund ebenso.
In der Farbe lebt das Gefühl auf räumliche Art. Wie der Anblick des Roten eine heitere Grundstimmung der Seele, des Blauen eine ernste, des Violetten eine feierliche auslöst, so fordert das liebend-hingebende Verhalten einer Person zu einer andern die räumliche Verkörperung in der rötlich gehaltenen Gewandung und in der ebenso gehaltenen Tönung der dekorativen Umgebung. Das verehrend-andächtige Erleben einer Person fordert für beides eine bläulich gehaltene Tönung.
Ein ähnliches gilt für den zeitlichen Ablauf der dramatischen Handlung. Geht diese von dem allgemeinen Interesse, das man im Anfange an Charakteren und Handlung nimmt, zu tragischen Katastrophen
#SE260a-394
über, soo entspricht dem ein Übergang in der Tönung von den hellen gelblich-roten, gelblich-grünen Farben zu den grünlich-blauen und blau-violetten. - Der Fortgang in der Stimmung zu einem heiter-befriedigen-den Lustspiel-Ende fordert den Übergang in der Farbentönung vom Grünlichen zum Geibroten oder Rötlichen.
Doch damit ist nur ein Gesichtspunkt angedeutet. Zu diesem kommt der andere, daß in dem Nebeneinanderstehen der Charaktere diese in der Farbentönung sich offenbaren.
Man wird einen zornmütigen Menschen nicht in blauer Gewandung auftreten lassen, sondern in einer solchen mit heller Farbentönung, wenn man es mit einer tragischen Grundstimmung zu tun hat. Man kann aber einen zornmütigen Mensochen, wenn die Dichtung es fordert, auch im ernst-feierlichen Blau erscheinen lassen. Er wird dann humoristisch wirken.
Ein freudig erregter Mensch auf einem blauen Hintergrunde, ein traurig gestimmter auf einem gelben wirken so, wie wenn sie in ihrer Umgebung nicht am rechten Platze wären; man lächelt über den ersteren und bemitleidet den zweiten.
Diese feinen Wirkungen spielen sich zwischen Bühne und Zuschauern ab. Ihre künstlerisoch-phantasievolle Erkenntnis gehört zu dem, was die Regiekunst ausmacht.
In der Licht- und Farbentönung dessen, was gleichzeitig auf der Bühne erscheint, kombiniert und harmonisiert mit derjenigen, die sich auf das in der Zeit Verlaufende bezieht, wird sich der ganze Fortgang der dramatischen Handlung von einer Seite aus offenbaren lassen.
Man wird bei einer richtigen Auffassung der Sache gegenüber dem Angedeuteten nicht den Vorwurf erheben, daß die Künste hier in ungehöriger Art miteinander vermischt werden sollen. Denn in der praktischen Ausführung der Sache wird man finden, daß der Regisseur ein ganz anderes Einleben in die Farbe braucht als der Maler. Das beruht darauf, daß der Maler seine Gestaltungen aus der Farbe heraus geboren werden läßt, während die Regiekunst Charakter und Handlung in das leuchtend-farbige Bühnenbild hineinstrahlen läßt. Ein Maler, der das letztere tut, wird dekorativ im üblen Sinne; ein Regisseur, der in erste-rem sich ergehen würde, ertötete das Leben auf der Bühne.
#SE260a-395
Bei einer Darstellung im Freien, bei der man mit der Ausstrahlung im Farbigen nicht rechnen kann, wird man eine viel koloriertere Sprachgestaltung und eine dem Innen-Erleben der Personen deutlicher entsprechende Gewandung brauchen, als in dem künstlich hergestellten geschlossoenen Bühnenbilde. Das kommt aber nicht in Betracht, wenn es sich um die Darstellung der freien Natur im geschlossenen Bühnenbilde handelt. Da gilt durchaus, was in bezug auf die Farbentönung hier gesagt worden ist.
So wird man für das Bühnenbild nach Stilisierung von Licht und Farbe streben. Dagegen wird die Stilisierung des Linienhaften, Form-haften, Plastischen gemacht, maniriert erscheinen. Ein stilisierter Wald, eine stilisierte Architektur sind etwas Karikaturenhaftes. Da wird der Übergang zur realistischen Darstellung notwendig sein. Da setzt sich, was sich im Drama aus der Natur im übrigen heraushebt, in diese hinein wieder fort.
Wenn die rechte Sprachgestaltung durch die rechte Geste innerhalb des rechten Bühnenbildes sich offenbart, dann wird der Geist, der im Drama lebt, als Seele sich von der Bühne herab kundgeben. Und in einem solchen Kundgeben ist nur aUein das Künstlerische möglich.
Der Naturalisomus entsteht nur aus der Ohnmacht gegenüber dem künstlerischen Gestalten. Er tritt auf, wenn der Stil den Geist verloren hat und zur Manier ausgeartet ist; er wird aber auch mit dem Geiste wieder gefunden.
#TI
Nachrichtenblatt, 5. Oktober 1924
An die Mitglieder!
WORTE, DIE ICH ANLÄSSLICH DES IM SEPTEMBER
AM GOETHEANUM ABGEHALTENEN KURSES
ÜBER DIE APOKALYPSE AUSSPRECHEN MÖCHTE
#TX
In die Kurse, die zwischen dem 4. und 23. September hier am Goethe-anum gehalten worden sind, war ein solcher für die Priester der Christengemeinschaft.
#SE260a-396
Er war im strengsten Sinne nur auf diesen Kreis be-schränkt. Nur die Mitglieder des Vorstandes am Goetheanum waren die einzigen Teilnehmer außerhalb dieses Kreises.
Die Priesterschaft hatte schon vor längerer Zeit den Wunsch ausgedrückt, für den Inhalt dieses Kurses die Apokalypse zugrunde zu legen.
Es existiert ein vormais für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft gedruckter, von mir in Nürnberg vor den Mitgliedern der damals Theosophisochen Gesellschaft 1908 gehaltener Vortragszyklus «Theosophie an der Hand der Apokalypse»..
Mit dem damals Gesagten konnte sich das diesmal Vorgebrachte nicht decken. Damals waren unsere lieben Freunde aus der Mitgliedschaft von der Erwartung erfüllt, vor allem die Erkenntnisse kennenzulernen, die der Mensch über die Entwickelung der Menschheit auf Erden und der Erde innerhalb des Sternensystems durch die Anschauung der übersinnlichen Welt haben kann. Mit einem solchen Thema kann man an den Inhalt der Apokalypse anknüpfen. Denn dieser Inhalt ist eigentlich ein Rätsel für alle diejenigen Persönlichkeiten, die die Bibel lesen. Er steht ja am Ende dieses Buches. Und er enthält in einem prophetischen Charakter Angaben über die Erd- und Menschheitsentwicke-lung. Indem ich in dem Nürnberger Vortragszyklus zeigen konnte, wie man in der Bildsprache des Apokalyptikers dasjenige vielfach wieder-finden könne, was von den ins Geistige weitergeführten, aber im Sinne neuerer wissenschaftlicher Gewissoenhaftigkeit gehaltenen Forschungen der Anthroposophie über die Entwickelung der Menschheit und der Erde innerhalb des Sonnensysotems gesagt werden kann, war es möglich, das Verhältnis auch der esoterischen Wahrheiten des Christentums zur Anthroposophie in das rechte Licht zu stellen. Ich konnte gewissermaßen damals die Einsicht vor die Zuhörer stellen davon, daß man ewige, die Menschenseele tief berührende Wahrheiten von zwei Seiten hören könne: von der Seite des im esoterischen Christentum erworbenen Schauens und von der des geisteswissenschaftlichen Erkennens; und man hört ein Gleiches, wenn man richtig hört.
Diesmal hatte ich eine andere Aufgabe. Und obwohl ich nicht über das berichten werde, was seiner Wesenheit nach eben nur für den Priesterkreis bestimmt sein kann, fühle ich mich doch verpflichtet, hier das
#SE260a-397
zu sagen, was Anthroposophen über einen Vorgang wissen sollen, der sich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft abspielt.
Was als geistige Substanz durch die Priesterschaft der Christen-gemeinschaft strömt, ist ihr vor zwei Jahren innerhalb des seither abgebrannten Goetheanums aus der geistigen Welt durch meine Vermittlung gereicht worden. Dieses Darreichen war ein solches, daß die Christengemeinschaft gegenüber der Anthroposophisochen Gesellschaft völlig selbständig dasteht. Es konnte bei der Begründung gar nichts anderes als eine solche Selbständigkeit angestrebt werden. Denn diese Bewegung für christliche Erneuerung ist nicht aus der Anthroposophie herausgewachsen. Sie hat ihren Ursprung bei Persönlichkeiten genommen, die vom Erleben im Christentum heraus, nicht vom Erleben in der Anthroposophie heraus einen ,neuen religiösen Weg suchten. Sie empfanden den Drang, in einem lebendigen Ergreifen des übersinnlichen Gehaltes des Christentums die Verbindung der Menschenseele mit ihrer ewigen Wesenswelt zu finden. Sie glaubten fest daran, daß es ein solches lebendiges Ergreifen geben müsse. Aber sie empfanden, daß die Wege, die sich ihnen gegenwärtig für die Erlangung des Priesteramtes öffnen, sie zu diesem Ergreifen nicht führen können. So kamen denn diese Zöglinge eines ehrlich und geistgemäß gemeinten Priestertums vertrauensvoll zu mir. Sie hatten Anthroposophie kennen gelernt. Sie waren überzeugt, daß ihnen Anthroposophie vermitteln könne, was sie suchten. Aber sie suchten nicht den anthroposophischen Weg, sie suchten einen spezifisch religiösen.
Ich verwies sie darauf, daß der Kultus und die ihin zugrunde liegende Lehre allerdings durch die Anthroposophie dargereicht werden können, trotzdem die anthroposophische Bewegung die Pflege des geistigen Lebens von anderen Seiten aus als ihre Aufgabe betrachten müsse.
Es gelang dann, an Dr. Rittelmeyer mit den Bestrebungen dieser Zöglinge eines geistig orientierten christlichen Priestertums heranzutreten. In ihm war eine Persönlichkeit vorhanden, die christlicher Priester un4 Anthroposoph im wahrsten Sinne des Wortes war. Er hatte, zwar ohne den Kultus, aber in weitem Sinne dem Geiste nach, die christliche Erneuerung in dem Wirken seiner Person dargelebt. Aus der Anthroposophisochen Gesellschaft heraus für die christliche Erneuerung etwas
#SE260a-398
darreichen, forderte wie selbstverständlich die praktische Frage herauso:
wie wird Rittelmeyer das Dargereichte aufnehmen? Wie wird er sich zu der Yerwirklichung des Gewollten stellen? Denn die anthroposophische Bewegung mußte in Rittelmeyer das Vorbild einer Persönlichkeit sehen, die Christentum und Anthroposophie in der inneren Harmonie des Herzens und in der äußeren Harmonie des Wirkens vereint hatte.
Und Rittelmeyer sagte aus vollem Herzen heraus «Ja».. Damit war für die selbständige Bewegung für christliche Erneuerung ein fester Ausgangspunkt gewonnen. Und es konnte, was geschehen sollte, hier im Goetheanum vor zwei Jahren inauguriert werden.
Seither ist die Priestergemeinschaft der christlichen Erneuerung ihren Weg in der energischsten Weise gegangen. Sie entfaltet eine segensreiche und heilsame Tätigkeit.
Nach zwei Jahren - der Jahrestag der eigentlichen Begründung fiel in die Kurszeit - empfanden nun diese Priester das Bedürfnis, in ein näheres Verhältnis zur Apokalypse zu treten.
Ich glaubte für ein solcheso näheres Verhältnis etwas tun zu können. Meine Geisteswege hatten mir ermöglicht, den Spuren des Apokalyptikerso nachzugehen.
Und so meinte ich, daß ich in diesem Kurse eine Darstellung ermöglichen werde, die dieses «Priesterbuch». im wahren Sinne dem «Priester». also geistigen Führer übermitteln kann. Die Menschen-Weihehandlung steht in der Mitte des Priesterwirkens; von ihr strahlt aus, was durch Kultusart von der Geistwelt in die Mensochenwelt dringt. Die Apokalypse kann in der Mitte der Priesterseele stehen; von ihr kann in alles Priesterdenken und Priesterempfinden einstrahlen, was die opfernde Menschenseele aus der Geisotwelt gnadevoll empfangen soll.
So dachte ich über die Aufgaben dieses Kurses für Priester, also an mich der Wunsch herangetreten ist, ihn zu halten. In diesem Sinne habe ich ihn nun gehalten.
#SE260a-399
#TI
MITTEILUNGEN-ANSCHLÄGE AM
SCHWARZEN BRETT-BRIEFE
nach der Erkrankung Rudolf Steinerso
Anschlag am Schwarzen Brett
2. Oktober 1924
Goetheanum
Freie Hochschule für Geisoteswissenschaft
AN DIE MITGLIEDER DER ANTHROPOSOPHISCHEN
GESELLSCHAFT AM GOETHEANUM
#TX
Meine physische Körperverfassung macht mir augenblicklich unmöglich, mich der - wenn auch geringen - physischen Anstrengung zu unterziehen, die mit dem Abhalten von Vorträgen verbunden ist. Ich kann daher die Vorträge am Freitag, d. 3., Sonnabend, d. 4., und Sonntag , d. 5. October nicht abhalten und werde ankündigen, wann wieder Vorträge stattfinden können.
Goetheanum, 2. October 1924
Dr. I. Wegman Rudolf Steiner
Telegramm an Martin Münch, Berlin
6. Oktober 1924
Meine physische Körperverfassung erlaubt für die nächsten Monate keine Reisen, ich kann daher die Vorträge in Berlin leider nicht halten. Herzliche Grüße Rudolf Steiner.
11. Oktober 1924, Anschlag am Schwarzen Brett
#TI
Nachrichtenblatt, 19. Oktober 1924
MITTEILUNGEN
#TX
Da meine physische Körperverfassung gegenwärtig jedes Reisen - für längere Zeit - unmöglich macht, so sah ich mich genötigt, den Berliner Freunden anzukündigen, daß sie zu meinem größten Bedauern, auf
#SE260a-400
meine Gegenwart bei ihren Oktober-Veranstaltungen nicht rechnen können*. Rudolf Steiner
* Vielleicht darf ich bei dieser Gelegenheit eine Bitte an unsere lieben Freunde aussprechen. Ich möchte nicht, daß meine physische Körper-verfassung Gegenstand von allerlei Ideen werde. Es handelt sich darum, daß, während ich den eigentlichen Kurs-Tätigkeiten, die so umfangreich in den letzten Monaten waren, durchaus gewachsen war, ich den Bogen meiner physischen Tätigkeit überspannen mußte durch die übergroßen Forderungen, die neben der Kurstätigkeit aus der Mitgliedschaft kamen. Das hat dazu geführt, daß ich jetzt, während ich jeder geistigen Betätigung voll nachkommen könnte, physisch nicht einmal das Aller- 1 geringste vermag, sondern hoffen muß, daß der einzigartigen opfer- 1 vollen Pflege meiner lieben Freundin Dr. Ita Wegman und ihres treuen Helfers, Dr. Noll, es gelingen werde, mir bald wieder auch ein physisches Tun, ohne das ja leider auf Erden das Geistige nicht wirken kann, wenigstens bis zu einem Maße zu ermöglichen. - Man denkt eben nicht oft daran, was von außen bewirkte Überbürdung in bezug auf Zeit bei jemand, der in geistgetragener Tätigkeit ist, für verheerende Folgen haben kann, und wie wenig Autofahren hilft, wenn die bedingte Zeitersparnis in die Programme eingerechnet werden muß. Aber zuletzt muß ja alles das schicksalsgemäß (karmisch) empfunden werden.
Anschlag am Schwarzen Brett
9. Dezember 1924
An unsere Freunde am Goetheanum, Freunde wünschen, am Mittwoch, 10. Dezember, zu Ehren von Albert
Steffens vierzigstem Geburtstag sich am Goetheanum zu versammeln. Ich kann nicht persönlich bei der Versammlung sein; aber ich werde im Geiste voll anwesend sein, denn mein Herz ist in bewundernder Anerkennung bei Steffens Lebenswerk; und es ist voll warmer Geistes-freude davon erfüllt, daß wir ihn den Unsern nennen dürfen. Die Versammlung soll stattfinden Mittwoch, 5 Uhr, im Vortragssaale der Schreinerei.
#SE260a-401
An Albert Steffen,
bei der Feier am 10. Dezember 1924 vorgelesen von Mari e Steiner
#TI
GOETHEANUM
Zum 10. Dezember 1924
#TX
Mein lieber Albert Steffen,
mit den Freunden, die heute hier im Goetheanum versarnlnelt sind, um Ihres vierzigsten Geburtstages zu gedenken, wäre ich so herzlich gerne auch physisch vereint; ich kann es nur im Geiste sein.
Aber meine Seele will die besten Gedanken in den Vortragssaal traen. Vor mir steht heute besonders hell das Sonnenhafte, das für mich immer die Tatsache hat daß Sie Ihre aus dem Geistgebiet strahlende Künstierschaft, Ihre eintlringliche, das Zeitalter, in dem wir leben, mit so tiefer Wahrheit schauende Kraft mit der anthroposophischen Bewegung haben vereinigen wollen Diese Tatsache ist eine aus den Gebieten des Göttlich-Ewigen sprechende Bekräftigung dessen, was Anthroposophie anstrebt. Älle Menschen, welche Anthroposophie lieben, können nicht anders, als wärmste Dankes-Gefühle Ihrer Gesinnung, die Sie zu uns gebracht hat, entgegenströmen lassen. Ihre unerinüdliche Arbeit im Dienste der Gesellschaft, Ihre deren Bestand mit so großer Liebe tragenden Gedanken sind schönste Schätze innerhalb dieser.
Dr. Ita Wegman muß um meinetwillen zu all den Opfern, die sie in dieser Zeit bringt, auch noch dieses hinzufügen, das ihr recht schwer wird, heute im Vortragssale nicht physisch anwesend sein zu können. Die allerbesten Gedanken und allerherzlichsten Gefühle sendet sie da-hin; zu dem Vereintsein im Geiste mit unserm tief verehrten Albert Steffen.
In tiefer Herzlichkeit Rudolf Steiner
#SE260a-402
#TI
Ansd,lag am Sdiwarzen Brett Dezember 1924
Goetheanum
Freie Hochschule für Geisteswissenschaft
SECTION FÜR REDENDE UND MUSIKALISCHE KÜNSTE
#TX
Am Dienstag, 16. Dezember 8 Uhr abends wird eine Recitations- und musikalische Darbietung stattfinden. Recitatorisch werden auftreten Gertrud Zeiser [Gerlind Zaiser] und Edwin Froböse (Teilnehmer an den Kursen für Sprachgestaltung).
Zur Recitation kommen Gedichte von Rennefeld. Musikalisches werden darbieten: Stuten, Schuurman, Lewerenz, Metaxa.
Da in den von Frau Marie Steiner geleiteten Sprachgestaltungskursen von einzelnen Zöglingen sehr gute Fortschritte gemacht werden, ist es wünschenswert, daß diese so lange als möglich hier am Goetheanum studieren. Um ihnen die Mittel, die sie brauchen, bieten zu können, muß bei den Darbietungen eine Sammlung veranstaltet werden.
Für die Sektion für redende und musikalische Künste:
Marie Steiner
Dr. L Wegman Dr. Rudoll Steiner
Briefe vom Krankenlager, vorgelesen von Marie Steiner
24. Dezember 1924
#TI
AN UNSERE JETZT AM GOETHEANUM VERSAMMELTEN
ANTHROPOSOPHIE-FREUNDE
#TX
Es ist ein Jahr verflossen, seit in der vorigen Weihnachtszeit durch unsere Tagung der Anthroposophischen Gesellschaft ein neues Leben gegeben werden sollte, und ihr ein geistiger Grundstein gelegt wurde.
Diese Weihnachten kann ich an den Versammlungen unserer Freunde nicht teilnehmen, kann in persönlichem Wirken nichts tun zu dem, was
#SE260a-403
veranstaltet wurde. Ich konnte Frau Marie Steiner in Nichts zur Seite stehen, was vorbereitet werden mußte.
Meine physische Kraft ist zusammengebrochen während der HerbstVeranstaltungen. Sie hätte wohl gehalten trotz der vielen Kurse; aber nur dann, wenn über das Abhalten der Kurse hinaus, die wohl berechnet
waren für diese Kraft, keine andern Anstrengungen gekommen wären. Nun da - in durchaus begreiflicher Weise - Anstrengungen kamen, die über die des Kurshaltens hinausgingen, war es zu viel nach all dem, was mir dieses verflossene Jahr hindurch oblag.
So bin ich denn nun darauf angewiesen, mit Hilfe der beispiellos opferwilligen Pflege der Freundin Dr. I. Wegman wieder physische Kraft zu sammeln. (Dr. Noll ist Dr. Wegmans treuer Helfer.)
Das alles muß als ein Schicksal (Karma) hingenommen werden. Viele Worte darüber zu machen, wie schmerzlich das physische Getrenntsein von denWirkensstätten am Goetheanum mir ist, wäre sentimental.
Hoffen möchte ich nur, daß all das keine Kräfte unserer lieben Freunde erlahmen läßt, sondern sie stählt und wirksamer macht.
So kann ich nicht mehr tun zu diesen Weihnachtsveranstaltungen, als Darstellungen des «Christus-Mysteriums im Zusammenhang mit der Welt- und Menschheitsentwickelung», die ich im Anschluß an die Mitteilungen über Michaels Mission ausgearbeitet habe - in den Saal zu senden, in dem ich geistig mit den Freunden voll zusammen sein will. Deren Vorlesung soll das Bewußtsein erwecken, daß so gut ich kann, ich mitwirken will an den diesjährigen Weihnachtsversammlungen.
Diese Mitteilungen über das Christus-Mysterium, die der Weih-nacht-Fest-Stimmung entsprechen, werden auch in den folgenden Nummern des Mitteilungsblattes gedruckt erscheinen.
Weihnachtsgruß und Weihnachtsgedanken auch für die durch mich den Mitgliedern entzogene Dr. I. Wegman
in aller Herzlichkeit
Rudolf Steiner
#SE260a-404
#TI
Goetheanum, zum i. Januar 1925
#TX
Meine lieben Freunde!
Ihr werdet nach und nach von Euerem Besuche am Goetheanum wieder in Euere Heimat zurückkehren.
Ich konnte diesmal nur im Geiste mit Euch hier vereint sein. Den-noch hoffe ich, daß in Euren Herzen die Kräfte, die durch die Weihnachtstagung vor einem Jahre angefacht worden sind, einen neuen Anstoß erhalten haben.
Dessen gedenkend und es sehnlichst erhoffend, sende ich Euch die herzlichen Grüße und die intensivsten Gedanken. Dr. I. Wegman, meine Freundin und hingebungsvolle Pflegerin, tut desgleichen.
Allerherzlichst
Rudolf Steiner
Anschlag am Schwarzen Brett zur Eurythmie am 1. Februar 1925
Klassisches und Romantisches in Dichtung und Musik. Im zweiten Teil «Eleusis» von Hegel, [durch] das auf die erste Anregung Rudolf Steiners hin Marie von Sivers ganz im Anfange der anthroposophischen Bewegung unsere Rezitationskunst inauguriert hat.
Anschlag am Schwarzen Brett, Februar 1925
SEKTION FÜR REDENDE UND MUSIKALISCHE KÜNSTE
Am Dienstag, 17. Februar 1925, abends 8 Uhr, wird eine RezitationsDarbietung mit älteren und neueren Gedichten stattfinden. Es werden Chor-Dichtungen in neuer Art gesprochen werden. Den Hauptinhalt hilden Dichtungen Dr. Friedrich Doldingers.
Rezitatorisch werden auftreten Edwin Froböse und Käthe Hacker und andere Teilnehmer am Kurs für Sprachgestaltung
Marie Steiner
Dr. I. Wegman Rudolf Steiner
405
Anschlag am Schwarzen Brett ohne Datum
Das Archiv wird für diejenigen, die ein bestimmtes Fachstudium betreiben, geöffnet sein:
Täglich (außer Sonntag) von 10 bis ,2 und 4 bis 6 Uhr. Anfragen zu richten an Frl. Dr. Vreede.
Rudolf Steiner-Archiv am Goetheanum
Dornach, Schweiz
Rudolf Steiner Dr. i. Wegman
Brief an die Lehrkräfte der Freien Waldorfschule, Stuttgart
Goetheanum, 15. März 1925
Meine lieben Lehrkräfte der Freien Waldorfschule!
Es ist mir eine große Entbehrung, so lange nicht unter Euch sein zu können. Und ich muß jetzt wichtige Entscheidungen, an denen ich natur-gemäß seit dem Bestande der Schule teilgenommen habe, in Eure Hand legen. Es ist eine Zeit der Prüfung durch das Schicksal. Ich bin mit mei-nen Gedanken unter Euch. Mehr kann ich jetzt nicht, wenn ich nicht riskieren will, die Zeit der physischen Hinderung ins Endlose auszudehnen.
Gedankenwirksanikeit eine uns,
Da wir im Raum getrennt sein müssen. -
Was wir schon gemeinsam vollbracht,
Es krafte jetzt durch die Lehrerschaft.
Es ziehe seine Kreise durch ihren Eigenrat,
Da jener Rat, der so gerne käme,
Die Schwingen frei nicht hat.
So wollen wir denn die Gemeinsamkeit im Geiste um 50 inniger erstreben, so lange anderes nicht sein kann. Die Waldorfschule ist zwar ein Kind der Sorge, aber vor allem ist sie auch ein Wahrzeichen für die Fruchtbarkeit der Anthroposophie innerhalb des geistigen Lebens der Menschheit.
406
Wenn die Lehrerschaft treu im Herzen das Bewußtsein trägt von dieser Fruchtbarkeit, dann werden die guten über dieser Schule walten-den Geister wirksam sein können, und in den Taten der Lehrer wird göttliche geistige Kraft walten.
Aus solchem Gedenken heraus, möchte ich Euch allen die herzlichsten Gedanken und Grüße senden.
Für die Schüler lege ich noch ein kurzes Schreiben bei, das ich bitte, in den Klassen zu verlesen.
Allerherzlichst
Rudolf Steiner
Brief an die Schülerinnen und Schüler der Freien Waldorfschule, Stuttgart
Goetheanum, 15. März 1925
An meine lieben Schülerinnen und Schüler der Waldorfschule! Zu meinem großen Leide kann ich durch lange Zeit jetzt nicht unter Euch sein. Und es gewährte mir doch stets die größte Befriedigung, wenn ich unter meinen lieben Schülerinnen und Schülern einige Zeit zubringen konnte. So lange es nicht sein kann, will ich viele herzliche und gute Gedanken zu Euch senden.
Ihr habt mir ja auch durch Übersendung von Eueren Arbeiten große Freude gemacht. Ich sende Euch den herzlichsten Dank dafür.
Hoffentlich kann ich bald wieder unter Euch erscheinen.
Allen einen herzlichsten Gruß
Rudolf Steiner
17. März 1925, Brief an die Waldorfschule in Stuttgart (siehe Beilage S. 61)
IV Auswirkungen der Weihnachtstagung in Verwaltungsfragen und der Wiederaufbau des Goetheanums
#G260a-1987-SE409 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
IV
Auswirkungen der Weihnachtstagung in Verwaltungsfragen
und der Wiederaufbau des Goetheanums
#TX
Ca. 10. Januar 1924, Entwurf einer Geschäftsordnung (siehe Beilage S. 4> 13. Januar 1924, Tateivignetten des Nachrichtenblattes (5iehe Beilage S. 10) Januar 1924, Mitgliedskarte (siehe Beilage S. 9)
#SE260a-409
#TI
Nachrichtenblatt, 20. Januar 1924
ZUR VERWALTUNG DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT
#TX
Der Vorstand mödite das Folgende zur Ausführung der Statuten vorbringen:
1. Man ist Mitglied geworden in dem Augenblicke, in dem der Leiter der Anthroposophisdien Gesellschaft die von den Gruppenfunktionären vorgelegte Mitgliedskarte unterzeichnet hat.
Man bittet einen etwaigen Verlust der Mitgliedskarte sogleich dem Sekretariat der Anthroposophischen Gesellschaft in Dornach mitzuteilen. Dieses wird dann die verloren gegangene Karte durch ein Duplikat
ersetzen und das Original für ungültig erklären.
2. Die Gruppenfunktionäre werden gebeten, ein ständiges Namen-und Adressenverzeichnis der zu ihren Gruppen gehörigen Mitglieder zu führen und dem Sekretariat in Dornach eine Abschrift zu übersenden.
Ebenso bittet der Vorstand die Generalsekretäre bzw. Vorstände der einzelnen Ländergesellschaften und derjenigen Gruppen, die nicht in solche eingegliedert sind, jedes Jahr am 1. Januar einen Bericht über die Mitgliederbewegung im verflossenen Jahr zu senden. (Eintritt neuer Mitglieder, Ubertritt in andere Gruppen usw.)
3. Man bittet alle Korrespondenzen mit der folgenden Aufschrift zu versehen:
An das Sekretariat der Anthroposophischen Gesellscbafl
Dornach b. Basel
Haus Friedwart, I. Stock
An einzelne Persönlichkeiten des Vorstandes bittet man nicht zu adressieren, da bei etwaiger Abwesenheit derselben leicht Verzögerungen eintreten können.
Die Benachrichtigung der Mitglieder wird im allgemeinen durch das Mitteilungsblatt erfolgen. In besonderen Fällen werden die Gruppen-funktionäre die Nachrichten erhalten mit der Bitte um Weiterbeförderung an die einzelnen Mitglieder.
(Weiteres in der nächsten Nummer.)
Der Vorstand der Anthroposophiscken Gesellsckafl
#SE260a-410
#TI
GENERALVERSAMMLUNG DES ZWEIGES AM GOETHEANUM
Dornach, 21. Januar 1924
#TX
Dr. Grosheintz bittet Herrn Dr. Steiner, den Vorsitz zu übernehmen.
Dr. Steiner rechnet es sich zur Ehre an, den Vorsitz zu führen. Die Tagesordnung soll zunächst diese sein, daß zuerst der Bericht des Sekretärs und der Kasse gegeben wird, und daraus wird sich ja die weitere Fortsetzung der Sitzung ergeben. Ich bitte also Fräulein Dr. Vreede, den Bericht zu geben.
Dr. Vreede frägt, ob das Protokoll verlesen werden solle.
Dr. Steiner: Der Ordnung halber möchte ich doch vorschlagen, daß das Protokoll, das ja, wie es scheint, nicht sehr ausführlich ist, zur Ver-lesung kommt.
Dr. Vreede verliest das Protokoll.
Dr. Steiner: Hat jemand zum Protokoll etwas zu bemerken? Wenn das nicht der Fall ist, so darf wohl das Protokoll als angenommen betrachtet werden. Ist jemand gegen die Annahme, so bitte ich, die Hand zu erheben. Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich um die Gegenprobe. Das Protokoll ist angenommen.
Und dann bitte ich, damit wir in die Sitzung eintreten können, den Sekretär, den Kassenbericht zu geben.
Dr. Vreede verliest den Kassenbericht.
Dr. Steiner: Nach diesem Bericht möchte ich das eine bemerken, daß die Frage der Mitgliedschaft in den einzelnen Zweigen, das heißt, ob man Mitglied sein kann in mehreren Zweigen, noch ein Gegenstand sein wird von künftigen Vorstandsberatungen der Anthroposophischen Gesellschaft. Es wird also wahrscheinlich möglich sein, daß die einzelnen Mitglieder des Zweiges am Goetheanum hier werden Mitglied sein können und zugleich in ihrer Landesgesellschaft. Ich glaube, daß wir uns angesichts der gegenwärtigen Lage im Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft dafür entscheiden werden, daß man in Zukunft
#SE260a-411
in verschiedenen Zweigen Mitglied sein kann. Damit wird aber auch gegeben sein, daß niemand auszutreten braucht aus dem Zweig am Goetheanum, um in eine Landesgesellschaft eintreten zu können, was ich auch für besonders wünschenswert halte. Doch werde ich in einem späteren Zeitmoment unserer Tagesordnung darauf zurückkommen. Dann möchte ich im Anschluß an den Bericht des Sekretärs im Hinblick auf den letzten Satz: «Am 19. Januar starb unsere Christine Roelofs», bitten, zum Zeichen, daß wir sie in unseren Gedanken behalten wollen und in Zukunft unsere Gedanken mit den ihrigen verbinden werden, uns von unseren Sitzen zu erheben.
Nun möchte ich fragen, ob jemand zu dem Bericht des Sekretärs etwas zu sagen hat. Wenn dies nicht der Fall ist, bitte ich diejenigen Freunde, welche gegen den Bericht des Sekretärs sind, die Hand zu erheben. - Das ist nicht der Fall. Es erscheint nun der Kassabericht. Das andere war der allgemeine Bericht.
Dr. Steiner: Hat Herr Binder zu der Bilanz etwas zu sagen?
Herr Binder sagt, daß ein Überschuß vorhanden sei von Fr. 366,93.
Dr. Steiner: Hat irgend jemand zu dem Kassabericht etwas zu sagen? Über die Mitgliedsbeiträge wird ja nachher in einem weiteren Punkte der Tagesordnung noch zu sprechen sein. Wer nicht dafür ist, daß der Kassabericht angenommen wird, den bitte ich, die Hand zu erheben. Wenn das nicht der Fall ist, bitte ich, jetzt fortzufahren in dem allgemeinen Bericht des Zweiges am Goetheanum.
Dr. Vreede setzt ihren Bericht fort. Sie spricht über Fräulein Günther, über die Bibliothek, den Wiederaufbau, einiges bezüglich der Delegiertenversarrimlung vom 31. Juli, der Beschwerden vom 8. Dezember.
Dr. Steiner: Nun, will jemand zu diesem Bericht etwas bemerken? Nicht wahr, im Anschlusse an diesen Bericht werden wir uns bewußt werden müssen, wie es bei wirklicher Aufwendung von gutem Willen und Einsicht möglich ist, die Dinge der Anthroposophischen Gesellschaft schon so zu ordnen, wie sie eigentlich sachgemäß geordnet werden müssen. Es war im Grunde genommen eine recht betrübliche Tatsache, eine
#SE260a-412
Tatsache, die schon zum Nachdenken veranlassen könnte, daß eben
- am 8. Dezember, glaube ich, war es - Beschwerden zutage traten von seiten der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz, die sogar dahin führten, daß die Frage erörtert werden konnte, ob der Zweig am Goetheanum abgesondert werden sollte von der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz, und die weiterhin dazu führten, daß man sogar eine Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz in Aussicht nahm. Es ist nun die erfreuliche Tatsache zu verzeichnen, daß bis zu dem Verlauf der Weihnachtstagung soweit eine Verständigung herbeigeführt werden konnte, daß die entsprechenden Angelegenheiten sowohl des Zweiges am Goetheanum, wie der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz in der allersachgemäßesten Weise eigentlich jetzt geordnet sind. Über den Zweig am Goetheanum möchte ich nachher in einem späteren Moment noch einiges bemerken. Aber weil ja künifigbin volle Klarheit und Wahrheit nach allen Seiten hin in der Führung der Anthroposophischen Gesellschaft herrschen soll, möchte ich dDch auch hier auf etwas aufmerksam machen, was schon geeignet ist, wenn es genügend berücksichtigt wird, in der späteren Zeit solche Mißverständnisse aus dem Wege zu räumen, wie diejenigen sind, die sich jetzt in einer so schönen Weise für die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz und damit auch für den Zweig am Goetheanum ja gelöst haben.
Die ganze Angelegenheit stammte eigentlich aus jener Tagung, die im Sommer des vorigen Jahres hier stattgefunden hat, wo wir eine Versammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz hatten, und wo sich die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz bedrückt fühlten dadurch, daß sie mit ihren Ansichten eigentlich gar nicht zu Worte gekommen sind, weil sie gewissermaßen durch allerlei Reden von auswärtigen Mitgliedern übertönt worden sind. Nun ist es nicht unnützlich, auf diese Versammlung im Sommer noch einmal hinzuweisen. Es wird ein gehöriges Bedenken dessen, was damals stattgefunden hat, schon dazu führen, daß in der nächsten Zeit die Dinge durch uns doch exakter und genauer genommen werden, als sie bisher genommen worden sind. Selbstverständlich brauchen wir in unseren Reihen nicht Pedanterie einzuführen, aber wir müssen wirklich die
#SE260a-413
Kompetenzfragen dennoch in gehöriger Weise auseinanderhalten. Was die ganze Mißstimmung hervorgerufen hat, ist nämlich gar nicht ausgegangen von dem Zweig am Goetheanum. Die gesamte Mitgliederschaft des Zweiges am Goetheanum war an dieser Verstimmung gänz-lich unschuldig. Sondern es ist ausgegangen davon, daß bei jener Tagung auswärtige Anthroposophen - diejenigen, die hier von denen, die sich am meisten geärgert haben, die «Stuttgarter Herren> genannt worden sind -, daß diese «Stuttgarter Herren> vorzugsweise dazumal in einer Versammlung, die sie gar nichts anging, in einer Versammlung der Anthropos9phischen Gesellschaft in der Schweiz, fortwährend das große Wort führten und eigentlich den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz fortgesetzt die Leviten lasen darüber, daß sie nicht anständige Gesinnung hätten in bezug auf die Zahlung der Mitgliederbeiträge und so weiter. Das war es, was damals geschah, und was davon herrührte, daß man ja tatsächlich in unseren Versammlungen, die so abgehalten worden sind, wirklich zeitweise nicht wußte, wer eigentlich mitzureden hat und wer nicht, und von welchem Gesichts-punkte irgend jemand mitzureden hat oder nicht. Diese Dinge werden schon in der Zukunft genauer ins Auge gefaßt werden müssen, sonst werden wir wirklich genötigt sein, immer wieder und wieder erst Mißverständnisse aufkommen zu lassen, dann sie richtigstellen zu müssen. Das erfordert Zeit, die wir wirklich zu vielem anderem verwenden können. Und, nicht wahr, sofort als das offen gesagt worden ist, ist hier bei der Tagung, die am 29. Dezember stattfand, die Sache sogleich in Ordnung gekommen. Ich meine, so etwas sollte man bedenken, dann werden solche Mißverständnisse in der Zukunft nicht mehr stattfinden.
Es ist Herrn Dr. Grosheintz als Vorsitzendem des Zweiges am Goetheanum zu allerhöchstem Verdienste anzurechnen, daß er seinerseits eine ganz präzise Stellung eingenommen hatte, diejenige nämlich, daß es doch nicht angangig ist, in einer radikalen Weise den Zweig am Goetheanum von der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz abzulösen. Und dank aller dieser Umstände ist die Sache in der friedlichsten Weise geordnet worden, und wir dürfen sehr froh sein, daß der Zweig am Goetheanum in der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz nunmehr drinnen ist und daß auch vollständige Klarheit über dieses
#SE260a-414
sein Drinstehen herrscht. Über den Zweig am Goetheanum werde ich mir erlauben, dann später noch einige Bemerkungen zu machen. Ich bitte jetzt Herrn Günther Schubert, vielleicht noch sein Referat über die Bibliothek zu halten.
Günther Schubert berichtet über den Stand der Bibliothek.
Dr. Steiner: Sie haben zweimal unser unvergeßliches Fräulein Hanna Günther nennen hören, der eigentlich das Verdienst zukommt, diese Bibliothek geschaffen zu haben und die in einer ungeheuer hingebungs-vollen Weise für die Bibliothek gearbeitet hat. Sie haben, wenigstens fast alle von Ihnen, Fräulein Günther gut gekannt, haben teilgenommen an ihrem Schicksal, haben aber auch teilgenommen an dem, was sie geschaffen hat. Und ich bitte Sie als diejenige Gruppe der Gesellschaft, in deren Schoße die Bibliothek sich befindet, sich von Ihren Sitzen zu erheben, auch zum Zeichen dafür, daß wir sie im Angedenken behalten.
Möchte nun über den Bibliothekbericht jemand etwas sagen? Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann kommen wir dazu, auf Grundlage der einzelnen Abstimmungen und des gegebenen Berichtes, wenn Fräulein Vreede nichts mehr dazu zu geben hat, abzustimmen darüber, ob dem Vorstande die Entlastung gegeben wird. Ich bitte diejenigen Freunde, welche gewillt sind, dem Vorstand die Entlastung zu geben, die Hand zu erheben. Ich bitte um die Gegenprobe. Die Entlastung des Vorstandes ist einstimmig abgegeben.
Bevor wir nun in der Tagesordnung weitergehen, gestatten Sie mir, ein paar Worte noch zu sagen. Der Zweig am Goetheanum ist derjenige, der unter allen Zweigen durch die Neuorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft am allermeisten wird Zuwachs seiner Aufgaben erfahren. Und dies aus dem folgenden Grunde. Ich glaube, daß unsere lieben Freunde, welche die Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft wirklich mit ihrem Herzen mitgemacht haben, ersehen haben werden, daß es zukünftig unter vielen andern Dingen in der Anthroposophischen Gesellschaft, mehr als das bisher der Fall gewesen ist, darauf ankommen wird, daß wirklich aus intensiver Gesinnung für die anthroposophische Sache heraus die Anthroposophische Gesellschaft wird geführt werden müssen, und zwar so, daß die Führung eine möglichst
#SE260a-415
reale ist. Das ist durch das sogenannte Statut, das ja eigentlich kein Statut, sondern ein Bericht ist, und sich dadurch von allen Statuten der Welt, die bisher gewesen sind und die auch gegenwärtig existieren, unterscheidet, dadurch zum Ausdrucke gebracht, daß in dem Statut ausdrücklich gesagt ist, daß die ganze Anthroposophische Gesellschaft sich gliedern wird in der Zukunft um dasjenige, was am Goetheanum geschieht.
Sehen Sie, man ist ja auch aus der alten Theosophischen Gesellschaft heraus und dann durch die Jahre hindurch, in der die Anthroposophische Gesellschaft selbst bestanden hat, gewohnt gewesen die drei Punkte, die ja gewöhnlich umgekehrt worden sind: Bruderschaft, Aufsuchen des Gemeinsamen in den Religionen, Aufsuchen desjenigen, was spirituelles Vertiefen liefern kann. Man ist gewohnt geworden, diese drei Punkte zu nehmen, und denjenigen, der sich bekannt hat zu diesen drei Punkten, als ein Mitglied, wenn man ihn sonst für würdig gehalten hat, in die Anthroposophische Gesellschaft aufzunehmen.
Damit war in der Anthroposophischen Gesellschaft auch etwas vorhanden, was eigentlich nach den modernen Begriffen okkulter Weltanschauung in einer solchen Gesellschaft nicht sein kann. Es kommt mir immer so vor, wenn man als das Zusammenhaltende einer solchen Gesellschaft, wie sie die Anthroposophische ist, Grundsätze aufstellt und das Bekenntnis zu diesen Grundsätzen von den Mitgliedern fordert, wie wenn man einen Schatz graben wollte und dazu Grundsätze aufstellen würde etwa von der folgenden Art: Jeder, der an dem Graben des Schatzes teilnehmen will, muß erstens sich dazu bekennen, daß er im Ernste diesen Schatz graben will. Zweitens: Jeder, der den Schatz graben will, muß sich dazu bekennen, daß dieser Schatz etwas Wertvolles ist. Drittens: Jeder, der den Schatz mitgraben will, muß sich dazu bekennen, daß er, wenn der Schatz gegraben ist, den Schatz in der richtigen Weise anwendet.
Sehen Sie, bei diesen Grundsätzen, die da für das Schatzgraben aufgestellt worden wären, fehlt nur leider gerade der Schatz selber. Denn man könnte sich ganz gut denken, daß nun die ganze Schatzgräberei vergeblich wäre. Und es kommt darauf an, daß man vor allen Dingen genau auf den Ort hinweist, wo der Schatz ist, und auf die Gründe,
#SE260a-416
warum man annimmt, daß der Schatz wirklich existiere. Kurz, daß man mit einer Realität rechnet.
Diese Realität kann im gegenwärtigen Stadium der Anthroposophischen Gesellschaft, die also neu organisiert werden soll, nicht bestehen in dem Vermitteln von allgemeinen Grundsätzen, sondern nur darinnen, daß man zu dem Realen, was da ist, was konzentriert ist am Goetheanum, ja sagt. Das ist mit aller Dezidiertheit in den sogenannten Statuten zum Ausdruck gekommen. Daher steht in diesen sogenannten Statuten nicht: Mitglied wird irgend jemand, der sich zu dem oder jenem bekennt, sondern: Mitglied wird derjenige, der ja sagt, also seine Überzeugung zum Ausdruck bringt in bezug auf dasjenige, was am Goetheanum zu finden ist. Bs ist also hier mit diesen Statuten zum ersten Male in der Welt eine Gesellschaft gegründet worden, die auf Realitäten, und nicht auf abstrakten Grundsätzen begründet ist. Das ist dasjenige, was fortan immer mehr in allerstärkster Weise im Bewußtsein unserer Freunde von der Anthroposophischen Gesellschaft leben soll. Damit ist der Charakter, den eigentlich die Anthroposophische Gesellschaft haben muß, in ganz dezidierter Weise zum Ausdruck gekommen. Und damit ist der Anthroposophischen Gesellschaft erst eine ganz bestimmte konkrete Richtung gegeben worden.
Daß das in aller Intensität gefühlt werde in der Zukunft, das ist dasjenige, worauf es ankommen wird. Die Weihnachtstagung wird gar nichts heißen, wenn in abstrakter Weise weitergestrebt werden würde in der Zukunft. Sie wird erst ihren wirklichen Inhalt bekommen, wenn man sich gerade dieses Überganges zum vollen Konkreten in der Zukunft bewußt wird. Damit aber ist schon darauf hingewiesen, daß die Anthroposophische Gesellschaft eben aus Realitäten heraus lebt, und zwar zunächst aus der Realität desjenigen, was hier am Goetheanum konzentriert ist.
Damit aber erwächst dem Zweig am Goetheanum in allererster Linie die Aufgabe, nun diese Neuorganisation der Anthroposophischen Gesellschaft voll und mustergültig für alle andern Gruppen in der Welt zu verstehen. Denn der Zweig am Goetheanum ist ja sozusagen in aller-nächster, unmittelbarster, intimster Verbindung mit dem, was hier anl Goetheanum geleistet werden soll. Er wird also seine Aufgabe nur dann
#SE260a-417
erfüllen können, wenn er in ganz exaktester Weise ein Musterbild bietet für dasjenige, was sonst in der Welt durch die Anthroposophische Gesellschaft, respektive durch ihre einzelnen Gruppen, geschehen soll. Wiederum, wie von so vielem gesagt werden mußte bei der Weihnachts-tagung: eine Herzensaufgabe. Denn das, was ich hiermit ausspreche, muß eigentlich gefühlt, muß eigentlich empfunden werden. Auf die Empfindung kommt es an. Wirklich nicht bloß in den großen Dingen, die so riesig große Ideen in Anspruch nehmen, wenn man sie ausdrückt, liegt dasjenige, worauf es ankommt. Nicht wahr, wenn man so große Ideen ausspricht, das kommt mir immer so vor, wie wenn diese dann, indem man sie ausspricht - und sie sollten soin die Welt hinausgehen -dünner und dünner würden, zuletzt ganz spinnwebfein, und schließlich reißen sie überall ab. Diese großen Ideen sind eigentlich nicht das, wovon wir ausgehen können, sondern wir müssen ausgehen von Realitäten. Nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich nun gerade in diesem Zusammenhange mit der Herzensaufgabe des Zweiges am Goetheanum auch Dinge erwähne, die scheinbar, aber nicht in Wirklichkeit, Kleinigkeiten sind.
Es ist wirklich für das Gedeihen der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig, daß, was ja bei der Weihnachtstagung schon in so hohem Maße stattgefunden hat, was von jetzt ab wahrscheinlich immer wieder und wieder geschehen wird, nicht nur bei Versammlungen, sondern immer, wenn einzelne der anthroposophischefl Freunde hier oben am Goetheanum für Tage oder Wochen erscheinen, es ist notwendig, daß die Mitglieder, die Freunde vom Zweige am Goetheanurn sich fühlen als diejenigen, die gegenüber der ganzen Anthroposophischen Gesell-schaft wirklich ernstliche Herzensverpflichtungen haben.
Ich kann nicht oft genug erwähnen eines Umstandes, der mir ganz besonders zu Herzen gegangen ist. Eines unserer wertvollsten Mitglieder in der Schweiz hat es erfahren müssen, daß er als Vorstandsmitglied einmal das Goetheanum besucht hat, hinaufgeklettert ist bis in die Kuppel und dort ist er einfach von jemandem hinausgewiesen worden. Es ist nicht zu konstatieren gewesen, wer es war, ganz gewiß aber irgend jemand, der hier mit am Goetheanum gelebt hat.
Sehen Sie, das, was wirklich zu den Aufgaben des Zweiges am Goetheanum gehören wird, nicht statutengemäß, aber mehr als statutengemäß,
#SE260a-418
das ist, sich verpflichtet zu fühlen, diejenigen Freunde, die von auswärts hierherkommen, in einer nicht nur konzilianten, sondern herzlichen Weise zu empfangen und herzlich mit ihnen zu sein. Wenn man Mitglied des Zweiges am Goetheanum ist, so darf man nidit bloß den Glauben haben, man ist nur im allgemeinen Mitglied, und was geht mich der an, der da kommt! Es geht Sie jeder an. Man muß sich denjeni~-gen Menschen gegenüber, die hierherkommen, gerade so fühlen, wie sich einer, der Leute zu sich eingeladen hat, verpflichtet fühlt, die Leute in entsprechender Weise zu empfangen.
Es ist schon so - ich spreche nicht aus der Theorie heraus, sondern aus etwas, was mir so und so oft gesagt worden ist, wovon ich ganz gut weiß, daß es existiert -, es kommt so und so oft vor, daß Mitglieder, die hierherkommen, das Gefühl haben, daß sie von denen, die hier am Goetheanum-Zweig immerfort sind, eigentlich so behandelt werden, wie Mitglieder, die da draußen sind, von minderer Güte. Mehr diese Empfindung haben sie, als die Empfindung: Sind das doch liebe Leute, die da am Goetheanum~-Zweig vorhanden sind! - Diese Anschauung sollte sich eigentlich von selbst ergeben für jeden, der da erscheint und wieder weggeht. Sonst kommt immer wieder folgendes heraus. Ich mußte oftmals, wenn mir Leute so etwas erzählt haben, an jenen merkwürdigen Professor denken, der einmal einen Bekannten von mir eingeladen hat, und dann ihn an der Türe empfangen hat, indem er sagte:
Sie haben Glück gehabt, ich habe just noch einen Stuhl für Sie frei bekommen, deshalb habe ich Sie holen lassen zu meiner Vorlesung des «Don Carlos» heute abend!
Das fühlten gerade aber auch jene: Sie haben Glück gehabt, daß Sie mich getroffen haben! - aber nicht fühlten sie sich von der Art und Weise des Empfanges so angeheimelt, daß sie bemerkt hätten, das ist einfach vorhanden, da sieht man gern, wenn die Leute hierherkommen. Sie dürfen mir glauben, so ist die Sache!
Und nun dulden Sie es schon einmal, nachdem Sie die Freundlichkeit gehabt haben, mir den Vorsitz für den heutigen Abend zu übertragen, daß ich auch über solche Dinge spreche. Sie liegen mir ganz außerordentlich auf dem Herzen. Und ich glaube, daß ich damit gar nicht etwas Unnötiges sage. Denn viel wird in der Bewältigung unserer allergrößten
#SE260a-419
Auf gabe darinnen liegen müssen, wie im einzelnen die Mitglieder untereinander sind. Und was ich gerne möchte, das ist, daß nun wirklich der Ton - verzeihen Sie, es sieht aus wie eine Kapuzinerpredigt, aber es ist wirklich nicht so schlimm gemeint -, daß der Ton ein herzlicher werde. Das ist auch etwas, was als ein Impuls von der Weihnachtstagung ausgehen sollte. Meine lieben Freunde vom Zweige am Goetheanum, bemühen Sie sich, gerade in dieser Richtung ganz besonders mustergültig zu sein!
In der meosophischen Gesellschaft war eine ganz besondere Sache eingeführt. Wenn man da eine Versammlung in London oder Paris oder Amsterdam oder irgendwo mitmachte, so war immer aufgestellt ein Lächelkomitee. Man hatte dazu eine Anzahl von Mitgliedern gebeten, die die elastischsten Mundwinkel hatten, und die bildeten dann ein Lächelkomitee. Und man muß sagen, in einer gewissen äußerlichen Weise war das eine ganz wohltuende Sache. Man wurde empfangen von einem Mitglied dieses Lächelkomitees, und es ging außerordentlich gut.
Ja, ich konnte auch das Gegenstück erleben. Dieses Gegenstück bestand darinnen, daß zum Beispiel einmal ein außerordentlich altes Mitglied der Theosophischen Gesellschaft bei einem unserer Kongresse war und hörte und heru enn es aus dem Erstaunen gar nicht herauskäme. Dann ging dieses wirklich uralte Mitglied der alten Theo-sophischen Gesellschaft - wir waren dazumal noch im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft - zu einem Mitglied von uns. Da drehte sich dieses unser Mitglied um; da ging es zu einem andern Mitglied von uns, da drehte sich dieses auch um. Und dann, nicht wahr, nachdem eben dieses Umdrehen der Mitglieder immer wieder stattgefunden hatte, kam das alte Mitglied zu Frau Dr. Steiner selber und sagte: Das ist mir überhaupt noch niemals passiert, seit ich in der Theosophischen Gesellschaft bin, daß ich so behandelt worden bin; nicht einmal eine Tasse Tee hat man mir gegeben! - Das ist das Gegenstück dazu. Es ist vielleicht der radikalste Ausdruck gewesen. Ich habe mich dann bei einem unserer liebsten Mitglieder ein bißchen beklagt darüber, weil ich ja dazumal schon Vorsitzender der Gesellschaft war. Da hieß es: Ja, aber der Person gegenüber kann man doch nicht anders als sich so verhalten! - Nun, es kann sich wirklich nur darum handeln, daß die Art
#SE260a-420
und Weise des Verhaltens gar nicht von Sympathien und Antipathien in so furchtbarer Weise abhängig gemacht werden darf. Das Persönliche darf vor allen Dingen in den Umgangsformen nicht jene Rolle spielen, die zuweilen einreißt in unseren Reihen.
Das sind so die Dinge, die zunächst wie Kleinigkeiten erscheinen. Aber ich bin meinerseits überzeugt davon, daß ungeheuer viel von die-sen Dingen abhängt. Und deshalb müssen Sie mir schon gestatten, daß ich das heute abend zur Sprache gebracht habe. Es sollte auch nur eine Art Kolorit abgeben für dasjenige, was ich meine, daß sich der Zweig am Goetheanum in der Tat fühlt mit der allergrößten Verpflichtung gegenüber der ganzen Anthroposophischen Gesellschaft, einfach dadurch, daß er der Zweig am Goetheanum hier ist. Wenn das der Fall sein wird, wird der Zweig immer mehr und mehr dieses Bewußtsein in sich entwickeln: er muß ein Musterbeispiel abgeben. Er muß tatsächlich vor allen Dingen, in allem, wo es sich darum handelt, Anthroposophie gegenüber den sonstigen Zivilisationserscheinungen der Gegenwart zu schützen, in seinen einzelnen Mitgliedern immer wieder die Möglichkeit finden, in der energischsten Weise vor der ganzen Welt die anthroposophische Sache zu vertreten. Das ist dasjenige, was ich wie eine Art von Appell heute abend an Sie richten möchte. Und versuchen Sie nur, die allerherzlichste Saite in Ihrer Herzensleier rege zu machen, Sie werden schon finden, daß das geht. Man glaubt gar nicht, wie liebenswürdig der Mensch sein kann, wenn er nun wirklich dasjenige in sich rege macht, was er in sich hat.
Also das ist dasjenige, was ich vor allen Dingen als eine Aufgabe des Zweiges am Goetheanum hinstellen möchte, nicht in äußerlicher Weise nun ein Allerwelts-Lächelkomitee zu sein, das Lächeln wird schon von selber kommen, wenn das Herz in der richtigen Weise für die anthroposophische Sache gegenüber den Anthroposophen eintritt. Dann wird schon auch selbst den unelastischsten Mundwinkeln dasjenige Lächeln kommen, das die Leute sehr gerne haben, wenn sie ankommen und mit dem sie gern entlassen werden. Aber es wird mit dem auch etwas anderes eintreten. Es wird das eintreten, daß man in einer selbstverständlichen Weise, so daß man dabei fühlt, es kann gar nicht anders sein, nachdem man einmal Mensch ist und sich als Mensch zur Anthroposophie
#SE260a-421
rechnet, daß man mit einer selbstverständlichen Weise überall Anthroposoph ist. Ist man Anthroposoph, dann ist man auch ein höf-licher Mensch. Das ist schon der Fall. Ich könnte den Satz auch umgekehrt ausdrücken. Ich fasse eben wirklich Höflichkeit auf als etwas, was schon den Tugenden nahekommt. Ich habe ja einmal über die Tugenden gesprochen. Ich habe Ihnen angeführt denjenigen Philosophen, der die Höflichkeit sogar in allererster Linie unter die Tugenden gerechnet hat.
Es wird den Zweig am Goetheanum in der schönsten Weise auszeichnen, wenn er sich tief eingeschrieben fühlt in der Liebe der Anthroposophen der ganzen Welt dadurch daß er vor jedem einzelnen Mitgliede die nthroposophische Sache in der energischsten Weise vertritt. Und was ich bis jetzt gesagt habe ist ja schließlich nur der Rahmen, aber das Bild dazu werden Ihre He;zen immer mehr geben, wenn Sie sich nur bewußt sind der tiefen Verpflichtung, die gerade ein solcher Zweig hat, der so eng mit demjenigen verknüpft ist, was jetzt als der sachliche Mittelpunkt für die anthroposophische Sache hingestellt worden ist, nämlich mit dem Goetheanum.
Das ist das, was ich sagen möchte. Nehmen Sie es nicht übel, sondern betrachten Sie, was ich über die Höflichkeit gesprochen habe, mehr nur wie den äußeren Ausdruck für dasjenige, was Sie schon fühlen werden dabei. Was ich eigentlich meine, das ist schwerer zu sagen. Aber wenn man für irgend etwas einen äußeren Ausdruck haben will, kann derjenige, der realen Willen hat, schon etwas Innerliches dabei finden. Gewiß, diese Höflichkeit wird Schale sein, aber wenn sie wirklich da sem wird, so wird sich immer mehr und mehr schon auch der Kern finden.
Nun kämen wir zu der Festsetzung des Jahresbeitrages; ein schmerzlicher Punkt. Hat vielleicht der Zweig selbst einen Vorschlag dazu?
Dr. Vreede gibt ihre Vorschläge.
Dr. Steiner: Es ist ja dadurch daß die Kumulierung der Anthroposophischen Gesellschaft und der A'nthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz herbeigeführt worden ist, in sehr anerkennenswerter Weise die Möglichkeit geschaffen, die beiden Beiträge, die bisher figuriert haben, nicht einfach zu addieren, sondern einen weit geringeren Beitrag nun
#SE260a-422
hinzuzufügen zu dem allgemeinen Beitrag für die Anthroposophische Gesellschaft. Und ich glaube, daß der Antrag, die beiden Beiträge nicht einfach zu summieren, sondern zu dem Beitrage für die Anthroposophische Gesellschaft von 15 Franken noch 5 Franken hinzuzusummie-ren, um das an die Anthroposophische Gesellschaft zu zahlen, die ja zugleich nun die Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz leitet, daß der Antrag ganz gut wäre, eben diesen Beitrag nur um 5 Franken zu erhöhen. So daß also in der Zukunft an die Anthroposophische Gesellschaft abzuliefern wären 20 Franken, worin eingeschlossen dann sein würde auch jegliche finanzielle Verpflichtung gegenüber der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz.
Dr. Vreede schlägt 30 Franken Beitrag vor und begründet dies.
Dr. Steiner: Vorgeschlagen sind zunächst 30 Franken. Wünscht jemand zu diesem Vorschlage zu sprechen? - Es ist ja nicht der Fall. Dann würde ich bitten, diejenigen Freunde, welche bewilligen diesen Beitrag von 30 Franken, die Hand zu erheben. - Ich bitte diejenigen, welche es nicht bewilligen wollen, ebenfalls die Hand zu erheben. - Es ist also der Beitrag von 30 Franken einstimmig angenommen.
Wir kommen nun zur Neuwahl eines Vizepräsidenten und Sekretars Es ist ja selbstverständlich, daß weiter Präsident des Zweiges am Goetheanum Herr Dr. Grosheintz sein wird. Dagegen scheiden der Vizepräsident und der Sekretär aus, weil ja eine Inkompatibilität besteht zwischen der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und einem anderen Amt. Wir haben nur eine Ausnahme gemacht für die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz. Aber diese ist eigentlich keine Ausnahme, weil einfach dadurch, daß sie leichter mitverwaltet wird von der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, dies so gemacht werden kann. Damit sind die Ämter nicht kumuliert, sondern es wird einfach die Anthroposophische Gesellschaft weiter verwaltet, es wird weiter verwaltet auch die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz. Der Vorstand ist also dann für die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz derselbe wie für die Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft. Und die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz hat ja in einer wirklich von tiefem Respekt getragenen Art eingesehen,
#SE260a-423
daß derjenige, der am meisten berufen ist, die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz zu führen , diese Führung haben muß, unser lieber Freund Albert Steffen. Und das war nur dadurch möglich, daß die Inkompatibilität der Amter nicht durchlochert worden ist dadurch, daß der Vorstand eben ein gemeinschaftlicher ist. Es bleibt also damit die Führerschaft der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz in den Händen von Herrn Albert Steffen, der ja der zweite Vorsitzende ist. Und damit ist diese einzige scheinbare Ausnahme eben auch keine Ausnahme. Aber sonst können Ämter nicht kumuliert werden. Daher werden wir jetzt zur Wahl eines Vizepräsidenten schreiten mussen.
Herr Steffen möchte Mr. Pvle als Sekretär und Miß Maryon als Vize-präsidenten vorschlagen.
Dr. Steiner: Wünscht jemand dazu das Wort? Es sind also vorgeschlagen Mr. Pyle als Sekretär und Miß Maryon als Vizepräsident. Darf ich vielleicht zunächst Mr. Pyle fragen, ob Sie das Amt, wenn Sie gewählt werden würden, annehmen?
Mr. Pyle: Ich will das Amt gern annehmen, insofern ich dazu fähig bin. Mir scheint, daß vielleicht so etwas geschehen könnte, daß ich am ehesten tätig sein könnte dadurch, daß ich Miß Maryon helfe.
Dr. Steiner : Nun, nicht wahr von Ihrer Entscheidung hängt sehr viel ab, denn Miß Maryon hat sich n'ur bereit erklärt, das Amt anzunehmen, wenn Sie es annehmen N r sie ist ja krank und nur im Zusammen-arbeiten mit ihr wird es möglich sein, die Sache zu führen. Also es hängt von Ihrer Entscheidung ab, ob Miß Maryon annimmt.
Mr. Pyle: Meine Entscheidung ist dann ganz bestimmt.
Dr. Steiner: Sie nehmen also an. - Wünscht jemand das Wort? -Wenn das nicht mehr der Fall ist, so bitte ejenigen die einverstanden sind, daß Miß Maryon zum Vizepräsidenten und Mr. Pyle zum Sekretär gewählt wird , die Hand zu erheben. - Bitte um die Gegenprobe. - Also ist die Wahl einstimmig angenommen. Wir kommen nun noch zur Wahl von zwei Delegierten als Vertreter in der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz.
#SE260a-424
Dr. Vreede schlägt vor, dem Vorstand frei zu lassen, für jeden einzelnen Fall diese Delegierten zu ernennen. Es sei von Dr. Steiner vorge-schlagen, diese Delegiertenversammlungen an verschiedenen Orten der Schweiz abzuhalten. Und da würde sich es nun wirklich darum handeln, wer hingehen kann. Es wird ja nicht immer derselbe in der Lage sein, hingehen zu können. So würde der Vorstand entscheiden, wer hin-gehen soll. Eventuell könnte es auch eine Person sein, die zwei Stimmen auf sich vereinige.
Dr. Steiner: Ich bin doch nicht ganz dieser Ansicht. Ich glaube, daß Wesentliches in der weiteren Führung der Anthroposophischen Gesellschaft darinnen liegen muß, daß Ämter auch tatsächlich ausgefüllt werden, daß also in der Zukunft nicht mehr irgendwie die Möglichkeit gegeben ist in der Anthroposophischen Gesellschaft, daß man ein Amt hat und nicht dafür denkt. So daß also doch etwas darauf ankommt, wenn man weiß, ich bin ein Delegierter, und ich habe überhaupt das ganze Jahr innerhalb des Zweiges so zu leben, daß ich alles dasjenige mir sammle, im Ohr, im Gehirn, im Riechorgan und so weiter, was ich dann vorzubringen habe, wenn ich bei einer Versammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz bin. Es ist so, daß man tatsächlich nicht in der richtigen Weise zu einer solchen Versammlung kommt, wenn man gerade einen Tag vorher oder so etwa gesagt kriegt: Du bist ein Delegierter, geh dahin und vertritt die Sache! Und nun weiß man eigentlich nicht, was man dort tun soll. Also das Delegiertenamt sollte doch schon ein ständiges Amt sein. Und mir kommt vor, daß allerdings, wenn Dr. Grosheintz und Mr. Pyle aufgestellt werden als Delegierte, es sein sollte mit dem gleichzeitigen Recht, wenn sie verhindert sind, bei einer solchen Versammlung zu erscheinen, einen andern zu instruieren mit dem, was sie in ihrem Ohr, Gehirn und Riechorgan haben, so daß eine ganz bestimmte innerliche Verpflichtung auch für dieses Delegiertenamt vorliegt.
Ich würde bitten, dafür zu stimmen, daß Dr. Grosheintz und Mr. Pyle als Delegierte gewählt werden. Das ist schön, daß einer als ein Schweizer drin ist, und ein Amerikaner ist ja in der ganzen Welt anerkannt, braucht ja schon fast keinen Paß von außerhalb. Ich glaube
#SE260a-425
daher, den Vorschlag machen zu dürfen, von seiten des Zweiges am Goetheanum die beiden Herren als Delegierte zu ernennen.
Wünscht jemand dazu das Wort? - Nun, dann liegen zwei Vorschläge vor.
Dr. Vreede zieht ihren zurück.
Dr. Steiner: Es bleibt noch mein Vorschlag, Dr. Grosheintz und Mr. Pyle zu Delegierten in der Schweiz zu ernennen. Ich bitte diejenigen Freunde, welche die beiden Herren zu Delegierten bei der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz ernannt haben wollen, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Die beiden Herren sind einstimmig gewählt.
Wir haben nun nur noch diejenigen Dinge zu erledigen, die aus dem Schoße der Mitgliedschaft selber heraus vorzubringen wären. Hat jemand etwas vorzubringen?
Dr. Wachsmuth macht auf das Schwarze Brett aufmerksam, neben dem Glasschrank im Eingang der Schreinerei, an dem künftighin alle Mitteilungen und so weiter zur Kenntnisnahme der Mitglieder angeschlagen werden.
Dr. Steiner: Hat sonst jemand etwas zu bemerken? Wenn das nicht der Fall ist, so darf ich wohl Ihnen allen für Ihr Erscheinen danken und noch einmal ans Herz legen, sich ja als Repräsentanten der Sache des Goetheanums zu betrachten, Bewußtsein zu entwickeln dafür, welche große Verpflichtung gerade einem Mitglied des Zweiges am Goetheanum auferlegt ist. Und ich darf, indem ich Sie bitte, diese Gedanken, diese Empfindungen in Ihren Herzen rege zu machen, die Versammlung hiermit schließen.
#SE260a-426
#TI
AUS DER KONFERENZ MIT DEN LEHRERN
DER WALDORFSCHULE IN STUTTGART
Stuugart, 5. Februar 1924
#TX
Dr. Steiner: Ich bedaure, durchaus nicht früher haben kommen zu können, aber es ist nicht gegangen. Wir werden manches jetzt nachzuholen haben, und ich bin um so mehr erfreut, heute da sein zu können.
Ein Mitglied des Verwaltungsrates begrüßt Herrn Dr. Stei ner und sagt dann etwa folgendes : Als wir nach der Dornacher Weihnachtstagung wieder da waren, fühlten wir die Verpflichtung, alles zu tun, um die Waldorfschule zu einem geeigneten Instrument zu machen, so daß sie in ihre neue Aufgabe richtig hineingestellt sein kann. Ich habe den Auftrag, Ihnen zu sagen, daß der Verwaltungsrat seine Ämter in Ihre Hand zurückgibt. Sie, Herr Doktor, möchten neu bestimmen, wie die Schule geleitet werden soll, denn es scheint uns die Möglichkeit zu bestehen, daß eine Anderung in der Stellung der Schule zu der Anthroposophischen Gesellschaft eintreten könnte.
Dr. Steiner: Meine lieben Freunde! Es ist durchaus begreiflich, daß in Ihrer Mitte diese Anschauungen aufgetaucht sind, da ja für die anthroposophische Sache mit der Weihnachtstagung etwas getan sein sollte, das ja auf der einen Seite - man darf sagen, wenigstens ist es so beabsichtigt - eine völlige Neugestaltung, eine völlige Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft bedeuten soll. Auf der andern Seite hat ja die Anthroposophische Gesellschaft durch die Weihnachtstagung einen ausgesprochen esoterischen Charakter bekommen. Das scheint zwar in Widerspruch zu stehen mit der Öffentlichkeitserklärung, aber durch die verschiedenen Absichten, die bestehen und die nur nach und nach, im Laufe der Zeit realisiert werden können, wird man schon sehen, daß die eigentliche Führung der Anthroposophischen Gesellschaft durch den jetzigen Vorstand von Dornach aus durchaus in einem esoterischen Sinne erfolgen wird. Auch das bedeutet etwas, was eine voll-ständige Erneuerung der Anthroposophischen Gesellschaft ist.
Nun ist es sehr begreiflich, daß die verschiedenen Institutionen, die
#SE260a-427
mit der anthroposophischen Sache zusammenhängen, sich die Frage yorgelegt haben, wie sie sich zu dem, was in Dornach geschehen ist, verhalten werden. Ich habe es ja in meinem Rundbrief an die Mitglieder in unserem Mitteilungsblatt ausgesprochen, daß die ganze Dornacher Tagung nur dann einen wirklichen Sinn hat, wenn sozusagen dieser Sinn in allen kommenden Zeiten nicht vergessen wird. Denn in demselben Maße, in dem die einzelnen anthroposophischen Institutionen nach und nach die Absichten von Dornach zu den ihren machen werden, in demselben Maße wird die Tagung von Dornach eigentlich erst ihren vollständigen Inhalt bekommen.
Die Dornacher Tagung war das zweite Glied eines hypothetischen Urteils. Das erste Glied heißt: Wenn die Anthroposophen es wollen, so wird man von Dornach aus dies oder jenes tun, was ja allerdings in sich schließt, daß, weil dieser Vorstand nichts anderes tun will, daß dies eine fortdauernde Lebensfrage der Anthroposophischen Gesellschaft überhaupt sein wird. Insofern liegt auch da ein hypothetisches Urteil vor, daß nämlich nur insofern diese Absichten realisiert, verwirklicht werden können, der Dornacher Vorstand die Verantwortung für die anthroposophische Sache, nicht nur für die Gesellschaft, sich für berechtigt hält zu übernehmen. Das macht seinen esoterischen Sinn aus. Dazu muß kommen, daß die esoterischen Impulse aus einzelnen Ecken kommen werden. Ich möchte schon die einzelnen Institutionen bitten, das durchaus immer so anzusehen, daß das, was von Dornach ausgeht, immer einen esoterischen Hintergrund hat. Auf der andern Seite ist ebenso begreiflich, daß gerade die Waldorfschule in ihren Vertretern die Frage aufgeworfen hat, welche Stellung sie nun zu Dornach beziehungsweise zur Freien Dornacher Hochschule nehmen will.
Nun treten da sogleich, wie Sie vielleicht, wenn Sie sich die Frage genauer überlegt haben, schon gefühlt haben werden, bedeutsame Schwierigkeiten auf. Insbesondere durch den letzten Entschluß in bezug auf den Verwaltungsrat, den Sie im Auftrage des Verwaltungsrates ausgerichtet haben. Die Sache ist nämlich diese : Es ist nötig, erst die Form zu suchen, in der die Waldorfschule diesen Anschluß an die Hochschule vollziehen kann. Unmittelbar formell ist ja die Waldorfschule keine anthroposophische Institution, sondern eine freie Schöpfung, die
#SE260a-428
ja allerdings auf der Grundlage der anthroposophischen Pädagogik aufgebaut ist, aber die sowohl durch die Art, wie sie dem Publikum, wie auch durch die Art, wie sie den gesetzlichen Institutionen gegen-übersteht, eben keine anthroposophische Institution ist, sondern eine Schule für sich, die die anthroposophische Pädagogik aufgenommen hat.
Nehmen Sie nun an, die Freie Waldorfschule als solche würde nunmehr in eine Art von offizieller Beziehung als solcher zur Freien Hochschule in Dornach treten, dann würde sofort die Waldorfschule eine anthroposophische Schule werden, auch äußerlich formal eine anthroposophische Schule werden. Selbstverständlich kann es Gesichtspunkte geben, die dazu führen könnten, solch einen Entschluß zu fassen. Aber auf der andern Seite ist es doch notwendig, wiederum zu bedenken, ob nicht die Waldorfschule ihre Kulturaufgabe auch weiter als freie Schule in einer ungehinderteren Form realisieren kann, als wenn sie direkt ein Glied alles desjenigen ist, was von Dornach ausgeht. Denn dasjenige, was von Dornach ausgeht, wird auch in Dornach zusammengefaßt werden. Würde die Freie Waldorfschule unmittelbar in Beziehung zu Dornach treten, so würde dies bedeuten, daß für alle Angelegenheiten der Schule, die dann innerhalb der pädagogischen Sektion der Anthropo-sophischen Gesellschaft fallen, zu gleicher Zeit die Leitung der Freien Hochschule in Dornach verantwortlich und auch kompetent sein würde. Denn Dornach wird in Zukunft keine Dekoration sein, wie es die anthroposophischen Institutionen oft bisher waren; Dornach wird eine Realität sein. Es würde in der Tat jede Institution, die zu Dornach gehört, auch die Kompetenz der Dornacher Leitung anerkennen müssen. Das würde eine notwendige Folge davon sein. Und zu gleicher Zeit würde dadurch der ganzen Führung der Waldorfschule der Charakter des Esoterischen aufgedrückt werden.
Nun gewiß, dem steht gegenüber, daß nach den Faktoren, die heute in der Welt wirksam sind, man schon die Frage erwägen könnte, ob nicht die Kulturaufgabe der Waldorfschule am intensivsten auf diese Art erreicht werden kann. Abzuweisen ist die Frage von vornherein durchaus nicht, aber sie ist eine außerordentlich schwierige, eine solche, die nur mit allerschwerstem Verantwortlichkeitsefühl überhaupt in
#SE260a-429
Erwägung gezogen werden kann. Denn eine radikale Änderung des ganzen Wesens der Freien Waldorfschule bedeutet das schon.
Nicht wahr, das pädagogische Leben der Welt ist heute vielleicht noch dem Irrtum, oder besser der Illusion unterworfen, die sich ausdrückt in den verschiedensten Bestrebungen von allerlei pädagogischen yereinigungeri, pädagogischen Gesellschaften. Aber alles, was in diesen pädagogischen Gesellschaften, in diesen pädagogischen Vereinigungen lebt, ist ja nichts weiter als Rederei. In Wirklichkeit wird die Pädagogik immer mehr und mehr an die drei Faktoren der Weiterentwickelung der Welt fallen, von denen zwei heute schon mit Riesenschritten auftreten; die Anthroposophie die dritte Seite, natürlich ganz schwach, schattenhaft, überhaupt nicht angesehen als etwas, was Bedeutung hat, außer von den Gegnern Aber die Pädagogik wird allmählich eingefangen werden von den beiden Hauptströmungen der Welt, der katholischen und der bolschewistischen oder sozialistischen. Wer heute sehen will, kann das schon sehen, daß alle andern Bestrebungen heute auf abschüssigen Wegen sind in bezug auf den Erfolg. Damit ist nicht etwas im geringsten über den Wert des Katholizismus und des Bolschewismus gesagt, sondern nur über ihre Stoßkraft. Die Stoßkraft von beiden ist aber eine ungeheure, wird mit jeder Woche größer. Und alle anderen Kulturbestrebungen sucht man in diese beiden Bestrebungen hereinzubringen. Daher wird es nur sinnvoll sein mit einer dritten Kulturströmung, eben der anthroposophischen, auch das Pädagogische in einer gewissen Weise zu orientieren. Das ist die Weltsituation.
Es ist ja wunderbar, wie wenig gedankenvoll die Menschheit heute ist, so daß sie die wichtigsten Symptome gedankenlos vorbeigehen läßt. Daß mit einer jahrhundertealten Tradition jetzt in England gebrochen worden ist durch das System McDonald, das ist etwas so Einschneidendes, das ist wirklich etwas so Bedeutungsvolles, daß es ganz wunderbar ist, daß die Welt so etwas nicht bemerkt. Auf der andern Seite sollte wiederum auf anthroposophischer Seite gut bemerkt werden, wie die äußeren Ereignisse deutlich zeigen , daß jenes Zeitalter aufgehört hat , dessen Geschichte bloß vom physischen Plan aus geschrieben werden kann. Wir müssen uns klar sein, daß die ahrimanischen Mächte überall immer mehr Einbruch halten in das geschichtliche Werden. Zwei leitende
#SE260a-430
Persönlichkeiten, Wilson und Lenin, sind unter den gleichen Krankheitssymptomen gestorben, beide an Paralyse, das heißt, beide boten ein Tor für die alirimanischen Mächte. Diese Dinge zeigen doch, daß die Weltgeschichte aufhört, Erdengeschichte zu sein, sondern anfängt, eine kosmische Geschichte zu werden. Alle diese Elemente sind von großer Wichtigkeit und spielen in unsere Detailfragen hinein.
Wenn wir zunächst zu dem Konkreten übergehen, daß der Verwaltungsrat seine Ämter in meine Hände zurückgelegt hat, so dürfen Sie nicht vergessen, daß sich mit der Dornacher Tagung das Allerprinzipiellste entschieden hat, nämlich, daß ich vom Jahre 1912 bis 1923 in der Anthroposophischen Gesellschaft gelebt habe ohne ein Amt, sogar ohne Mitgliedschaft, was ich dazumal 191 2 sehr deutlich betont habe, daß ich also eigentlich der Anthroposophischen Gesellschaft nur als Ratgeber, als Lehrer angehörte, als der, der die Quellen der Geistes-wissenschaft aufzeigen sollte. Mit der Weihnachtstagung bin ich Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft geworden, und meine Handlungen sind fortan die des Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft. Wenn ich fortan den Verwaltungsrat ernennen würde, so würde er vom Vorsitzenden der Anthroposophischen Gesellschaft ernannt sein. Es würde die oberste Institution der Freien Waldorfschule eingesetzt sein vom Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft. Auch das ist etwas, was durchaus in Erwägung gezogen werden könnte. Das alles möchte ich vorausschicken, wenn wir jetzt daran gehen, diese ganzen Fragen zu behandeln. Denn die Waldorfschule wird dann, wenn sie in dieser Form die Verbindung sucht mit Dornach, sie wird dann eben etwas anderes, als dasjenige ist, was eingerichtet worden ist, als die Waldorfschule geschaffen worden ist. Es ist wirklich die Dornacher Weihnachtstagung nicht bloß eine Festlichkeit geblieben wie zum größten Teil die anthroposophischen Veranstaltungen, wenn sie auch nicht immer festlichen Charakter hatten, besonders in Stuttgart nicht; sondern die Weihnachtstagung ist im vollen Ernste gemeint gewesen, so daß irgend etwas, was als Konsequenz gezogen wird, einen sehr ernsten Charakter annimmt.
Nun gibt es noch andere Formen, in denen die Freie Waldorfschule in Beziehung treten kann zu Dornach. Und das würde sein, wenn nicht
#SE260a-431
die Schule unterstellt würde Dornach, sondern wenn das Lehrerkoflegiuln als solches, oder aber diejenigen Persönlichkeiten innerhalb des Lehrerkollegiums, die das wollen, nicht nur für ihre Person, sondern als Lehrer der Schule in ein Verhältnis treten würden zu Dornach, zum Goetheanum, zur Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Dann würde das der Schule den Charakter nicht nehmen, sondern das würde ja nur der Außenwelt gegenüber betonen, daß fortan auch die Pädagogische Sektion am Goetheanum in Dornach als der impulsgeber für die Waldorfschul-Pädagogik fortdauernd angesehen wird, wie ja die anthroposophische Pädagogik bisher auch angesehen worden ist. Der Unterschied wäre der, daß das Verhältnis zur anthroposophischen Pädagogik bisher ein mehr theoretisches war, daß dann in Zukunft das Verhältnis mehr ein lebe diges sein würde in dem man dann entweder als ganzes oder in einzelnen Persönlichkeiten sich richten würde nach den die sich ergeben, wenn man als Lehrer der Freien Waldorfschule Mitglied der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft ist. Damit würde sich dann aber doch als unmöglich gestalten, daß der Verwaltungsrat gewissermaßen vom Goetheanum aus ernannt wird, sondern der müßte dann natürlich bleiben, wie er ist, weil er ja so gedacht ist, daß er aus dem Lehrerkollegium heraus ernannt oder sogar erwählt ist. Das ist etwas das vielleicht überhaupt gar nicht geht gegenüber dem, was die gesetzl:chen Instanzen hier als möglich ansehen, daß der Verwaltungsrat von Dornach aus ernannt wird. Ich glaube
nicht, daß die württembergischen Gesetze gestatten würden, daß vom Goetheanurn, also von einer Institution, die außerhalb Deutschlands liegt, der Verwaltungsrat der Freien Waldorfschule ernannt wird. Bliebe also das letzte, daß der Verwaltungsrat neu von mir selbst ernannt wird, aber das ist ja nicht notwendig.
Das sind die Dinge die ich Ihnen vorlegen möchte. Sie sollten daraus sehen, daß auch unte;Ihnen selbst die Frage gründlich erwogen werden sollte. Wie Sie nun auch denken über die Lösung der Frage; ob Sie in diesem oder in jenem Maße mir etwas Entscheidendes in bezug auf die Lösung zugestehen wollen ob Sie daran denken, mir zuzugestehen, zu entscheiden, daß ich von rnir aus sagen soll, wie man gestalten solle, so möchte ich Sie doch bitten, Ihre Meinungen jetzt zum Ausdruck zu
#SE260a-432
bringen, diejenigen, die solche Meinungen haben. Es braucht ja in keinem andern Stile zu geschehen, als daß noch einmal vorgebracht würde, was im Lehrerkollegium schon besprochen worden ist, und was dazu geführt hat, das zu äußern, was Sie vorgebracht haben.
X : Für uns ist die Frage aufgetaucht, ändert die Dornacher Tagung etwas an dem Verhältnis der Waldorfschule zur Anthroposophischen Gesellschaft?
Dr. Steiner: Nicht wahr, die Freie Waldorfschule hatte zur Anthroposophischen Gesellschaft kein Verhältnis, war etwas außerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Deshalb kann die Weihnachtstagung für die Freie Waldorfschule nichts Maßgebendes sein. So liegt die Sache. Es ist etwas anderes für solche Institutionen, die unmittelbar von der Anthroposophischen Gesellschaft selber ausgegangen sind. Da ist es eine ganz andere Sache. Die Freie Waldorfschule ist als Institution für sich begründet. Das Verhältnis, das bestand, das ein inoffizielles war, das kann ja auch zur neuen Gesellschaft jetzt bestehen. Das ist etwas, was vollständig frei war, was jeden Tag begründet worden ist dadurch, daß weitaus die größte Anzahl der Lehrer der Anthroposophischen Gesellschaft angehört, und daß in freier Weise die anthroposophische Pädagogik hier geführt wird dadurch, daß ich als Vertreter der anthroposophischen Pädagogik hier den Vorsitz im Lehrerkollegium führe und so weiter. Das braucht ja alles nicht geändert zu werden.
X Wie ist die Pädagogische Sektion gedacht?
Dr. Steiner: Nicht wahr, die Intentionen der Weihnachtstagung, insbesondere der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, werden sich erst ganz langsam und allmählich verwirklichen lassen. Wahrscheinlich auch schon deshalb, weil wir nicht genug Geld haben, um für die Baulichkeiten gleich von Anfang an sorgen zu können in dem Rahmen, wie es jetzt schon projektiert ist. Die Sachen werden langsam und allmählich sich realisieren. Zunächst sind die einzelnen Sektionen so gedacht, daß sie so weit eingerichtet werden, als bei den Persönlichkeiten, die vorhanden sind und den materiellen Mitteln dies heute möglich ist. Es ist ja so gedacht, daß der Grundstock der Schöpfung für die Freie Hochschule
#SE260a-433
als eine Institution der Anthroposophischen Gesellschaft sein wird die Mitgliedschaft der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Nun habe ich gesehen: ein großer Teil der Lehrerschaft der Waldorfschule hat um Mitgliedschaft nachgesucht; die werden also Mitglied sein, werden also damit von vornherein Vermittler sein für dasjenige, was von der Freien Hochschule am Goetheanum in pädagogischer Beziehung ausgeht. Was sich weiter an Institutionen anschließt dieser Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, das wird sich ja erst zeigen.
Es ist ja vielfach von Institutionen der Wunsch geäußert worden, mit Dornach in Beziehung zu treten. Einfach ist die Situation gegeben bei den Institutionen, die als anthroposophische Institutionen entweder alle oder gar keine Vorurteile gegen sich haben. Zum Beispiel das Klinisch-Therapeutische Institut in Stuttgart, das kann sich anschließen. Entweder wird es als anthroposophische Institution von vorneherein bekämpft, dann schadet es nichts, wenn es sich anschließt. Oder es wird anerkannt, weil die Leute gezwungen werden einzusehen, daß die Heilmethoden dort wirksamer sind als anderswo dann ist es eigentlich selbstverständlich, daß es sich anschließt Das ist aber eine Institution, die nicht in einer solchen Stellung der Welt gegenüber ist wie eine Schule. Die Klinik kann sich ohne weiteres anschließen.
Aber eine Schule wird sowohl die gesetzlichen Behörden wie auch das Publikum störrisch machen, wenn sie plötzlich eine anthroposophische Schule ist. Es ist stark die Frage, ob nicht die Schulbehörde überhaupt Einspruch erheben würde. Sie hat gar kein Recht dazu, und es hat auch keinen Sinn, Einspruch zu erheben gegen die pädagogischen Methoden. Die können ja die anthroposophischen sein. Man hat auch kein Recht, Einspruch zu erheben, wenn selbst alle Lehrer für ihre Person Mitglied der Freien Hochschule in Dornach sind. Das geht die Behörden nichts an. Gegen all das kann kein Einspruch erhoben werden. Aber dagegen würde sofort Einspruch erhoben werden, wenn die Sache so wäre: Da ist die Freie Hochschule am Goetheanum. Zu ihr besteht eine Beziehung so, daß pädagogische Entscheidungen, die dort getroffenß werden, hier von der Schule aufgenommen werden; zum Beispiel, da in den Lehrplan hereingeredet wurde von Dornach aus und so weiter.
#SE260a-434
Das wenigstens käme für die ersten acht Klassen in Betracht. Die höhe-ren, von der neunten ab, selbstverständlich, wenn wir nur diese hätten, so würde kaum etwas eingewendet werden können; höchstens bei Bewilligung der Maturität, aber das würde ja wohl nicht von den Behör-den in Anspruch genommen werden. Aber für die Volksschulklassen würde man das nicht gelten lassen.
Nicht wahr, zunächst ist die Freie Hochschule für Geisteswissensch ft so gedacht, daß sie im Grunde für die Einsicht und das Leben wirkt. So daß also, sagen wir, jedes Mitglied nicht nur das Recht, sondern sogar eine gewisse moralische Verpflichtung hätte, mit Bezug auf seine pädagogischen Bestrebungen, sich an Dornach zu wenden. Nicht wahr, der Freien Hochschule in Dornach werden ja zunächst solche Leute angehören, die an ihr katexochen lernen wollen. Aber man bleibt ja auch an ihr, wenn man gelernt hat, Mitglied der Freien Hochschule, so wie an einer französischen, norwegischen, dänischen Universität der, der einen Grad erlangt hat, Mitglied der Universität bleibt, mit ihr in fortwährender Beziehung bleibt. Man ist nicht nur abgestempelt, wenn man in Frankreich zum Beispiel einen Grad erhalten hat; dann ist man Mitglied der betreffenden Hochschule, bleibt es sein Leben lang und lebt in wissenschaftlichem Zusammenhang mit ihr. Und das ist dasjenige, was für die älteren anthroposophischen Mitglieder der Schule von vornherein in Betracht zu ziehen sein wird, die Mitglieder der Hochschule werden unter der Voraussetzung, daß sie vieles schon wissen von dem, was vorgetragen wird an der Schule. Aber die Hochschule wird fortwährend wissenschaftliche oder künstlerische Aufgaben lösen, und an denen werden alle Mitglieder der Schule teilnehmen. Insofern wird das Leben von dem einzelnen Mitglied der Schule befruchtet. Wir werden in allernächster Zeit dieselbe Aufforderung an alle Mitglieder der anderen Sektionen schicken, die wir schon an die Mitglieder der Medizinischen Sektion gerichtet haben, in entscheidenden Fragen sich an Dornach zu wenden. Und wir werden alle Monate - oder alle zwei Monate - Rundbriefe schicken, in denen für alle Mitglieder gemeinschaftlich die Fragen beantwortet werden, die von einem Mitglied gestellt werden. Aber man wird nicht Mitglied der Sektion, sondern der Klasse. Sektionen kommen nur für die Dornacher Leitung in Betracht.
#SE260a-435
Der Vorstand arbeitet rnit den Sektionen, der Einzelne wird Mitglied der Klasse.
X : Soll man darnach streben, daß es einstmals möglich wird, die Schule Dornach unterzuordnen?
Dr. Steiner: Nicht wahr, in dem Streben nach einem Anschluß der Schule als solcher an Dornach, liegt zu gleicher Zeit, wie überhaupt in allem, was jetzt sachlich geschehen kann, das Begehen des Weges nach einer Richtung hin, die ja dadurch, daß unsere Persönlichkeiten, die das damals in die Hand genommen haben, nicht gewachsen waren der Situation, wieder verlassen werden mußte; der Weg mußte wieder verlassen werden. Es liegt darinnen der Weg der Dreigliederung. Denn wenn Sie sich die Freie Waldorfschule der Freien Hochschule angegliedert denken, so könnte das nur geschehen unter den Auspizien dessen, was der Drei-gliederung zugrunde liegt. Und man arbeitet im Grunde konkret, wenn alle vernünftigen Institutionen schon nach der Dreigliederung hinarbeiten werden. Man muß die Welt ihren Gang gehen lassen, nachdem sie mit voller Absicht den andern Weg nicht gehen wollte. Es wird nach der Dreigliederung hingearbeitet, aber man muß schon als Ziel ins Auge fassen, daß eine solche Institution wie die Freie Waldorfschule, die sachlich einen anthroposophischen Charakter hat, daß diese schon einmal selbstverständlich zusammenfällt mit dem anthroposophischen Streben. Nur in diesem Augenblick ist es eben doch möglich, daß wenn dieser Anschluß in offizieller Weise erfolgt, daß man dann deshalb der Waldorf-schule das Genick umdreht. So daß ich, wie die Sachen jetzt stehen, schon dazu raten würde, unter diesem Gesichtspunkt den Verwaltungsrat nicht neu zu wählen sondern zu lassen, wie er ist, und im übrigen nur von diesen zwei Fragen aus nach der einen oder der andern Richtung sich zu entscheiden: Begnügen sich die Lehrer der Schule damit, als Einzelne der Freien Hochschule in Dornach anzugehören, oder wollen Sie als Kollegium Mitglied werden, so daß jeder beitritt mit dem Charakter «als Lehrer der Freien Waldorfschule>? Damit macht dann die Lehrerschaft notwendig, daß sich die Pädagogische Sektion in Dornach mit der Freien Waldorfschule befaßt, während sie sich sonst nur mit der Pädagogik im allgemeinen befassen wird.
#SE260a-436
Also ein großer Unterschied ist das schon. Es würde in unserem Rund-brief etwa stehen: In der Freien Waldorfschule macht man am besten dieses oder jenes so oder so. Das ist dann in gewisser Beziehung bindend für die Lehrer der Freien Waldorfschule, die der Freien Hochschule als Lehrer angeschlossen sind. Nicht wahr, anschließen an Dornach ohne weitere Gefährdung können sich alle Zweige und Gruppen der Anthroposophischen Gesellschaft. Sie mussen es eigentlich sogar tun. Alle Gruppen und so viele Einzelne, als die Bedingung erfüllen können, und solche Institutionen, wie etwa das Biologische Institut, das Forschungsinstitut, die Klinik, die können sich anschließen. Sie können ja Schwierigkeiten auf der andern Seite haben. Die Schwierigkeiten, die für die Waldorfschule in Betracht kommen, kommen da nicht in Betracht. Es ist eben damals bei der Gründung großer Wert darauf gelegt worden, die Schule als eine von der Anthroposophischen Gesellschaft unabhängige Institution zu schaffen. Damit stimmt logisch ganz gut überein, daß der Religionsunterricht von den Religionsgemeinschaften aus besorgt wird, der freie Religionsunterricht von der Anthroposophischen Gesellschaft aus, daß die Anthroposophische Gesellschaft mit dem freien Religionsunterricht darinnensteht wie die andern religiösen Gemeinschaften. Die Anthroposophische Gesellschaft gibt eigentlich den Religionsunterricht und den Kultus. Das können wir jederzeit sagen und mit vollem Recht sagen, wenn uns vorgehalten wird, die Waldorfschule sei eine anthroposophische Schule. Dadurch, daß die Anthroposophie glaubt, die beste Pädagogik zu haben, wird der Schule nicht der Charakter des Anthroposophischen aufgedrückt. Das ist eine ganz klare Situation. Würde dies auch vom «Kommenden Tag» so gemacht worden sein, als die Übungen eingerichtet worden sind, die jetzt da sind, würde er an die Anthroposophische Gesellschaft herangetreten sein, Übungen einzuführen, an denen jeder teilnehmen könnte, der will, so würde die Bemerkung nicht gekommen sein in den «Mitteilungen». Bei diesen Dingen kommen die realen Formalien sehr, sehr scharf in Betracht.
X : Ist eine Änderung nicht schon dadurch da, daß Dr. Steiner als Leiter der Waldorfschule nun auch Leiter der Anthroposophischen Gesellschaft ist?
#SE260a-437
Dr. Steiner: Das ist nicht der Fall. Das Verhältnis, das ich eingegangen bin, ändert nichts daran, daß ich für mich selbst noch Leiter der Schule bin. Die Veranstaltung war ja eine rein anthroposophische, und die Waldorfschule hatte kein offizielles Verhältnis zur Gesellschaft. Etwas anderes ist es, was im Laufe der Zeit eintreten könnte, daß der Religionsunterricht unter Umständen von der Dornacher Leitung durch die Anthroposophische Gesellschaft selber in Anspruch genommen wird. Das ergibt sich organisch daraus. Nur dieses würde sich ergeben.
X: Ist der Standpunkt, der bei der Gründung der Waldorfschule eingenommen wurde, auch heute noch maßgebend?
Dr. Steiner: Wenn Sie die Frage so auffassen, dann ist zu entscheiden, ob das Lehrerkollegium überhaupt kompetent ist, die Frage anzufassen, ob das nicht der Waldorfschulverein ist. Denn sehen Sie, der Waldorfschulverein ist eigentlich der Welt gegenüber der wirkliche Verwaltungsrat der Schule. Sie kennen doch die sieben weisen Männer, die über die Schule beraten. Diese Frage kommt in Betracht, wenn entschieden werden soll, ob die Waldorfschule als solche sich Dornach angliedern soll oder nicht; ob das Waldorfschul-Kollegium nicht nur in der Lage ist, entweder für sich sich anzuschließen oder als Lehrer eben. Denn alles Pädagogische kann ja auch so entschieden werden. Das ist eine Frage unter Umständen des Bestandes. Es bleibt die Waldorfschule dann nach außen das, was sie ist. Sie müssen die Dinge auffassen der Realität nach. Was tun Sie denn, wenn Sie als Lehrerkollegium beschlossen haben, wir schließen die Schule an Dornach an und der Waldorfschulverein sperrt Ihnen dann die Gehälter über diesen Beschluß? Das ist theoretisch alles möglich.
X stellt eine Frage über das Abiturientenexamen.
Dr. Steiner: Aber nun, nicht wahr, was würde mit Bezug auf die Maturafrage, wenn diese schon hier hereinspielen soll, die eine reine Kompromißfrage ist, was würde geändert durch den Anschluß?
X führt seine Frage weiter aus.
Dr. Steiner : Ja, nicht wahr, die andern Gesichtspunkte könnten doch nur die sein, daß wir uns absolut weigern, irgendwelche Rücksicht darauf
#SE260a-438
zu nehmen, ob die Schüler das Abiturientenexamen machen Wollen oder nicht, daß wir das als Privatsache des Schülers betrachten. Bisher ist nicht daran gedacht worden. Es fragt sich, ob wir das als Grundsatz aufstellen sollen. Alle Schüler und die Eltern der Schüler werden dadurch vor die Frage gestellt: Wage ich es, meinem Kinde eine Lebensbahn zu eröffnen ohne das Abiturientenexamen? - Natürlich, man kann so etwas tun; aber es fragt sich sehr, ob man es soll. Ganz abgesehen davon, daß wir dann vielleicht doch keine Schüler kriegten, oder doch bloß die Taugenichtse. Ob man die Maturafrage verquicken kann mit dieser Frage, scheint mir doch problematisch. Ich glaube nicht, daß viel daran geändert wird, ob der Anschluß erfolgt oder nicht. Man wird doch diesen Kompromiß schließen müssen.
Ich glaube, daß Sie zunächst die Form wählen sollten - die Dinge sind ja nicht ewig, sie können ja künftig weiter erwogen werden - ich glaube, daß Sie die Form wählen sollten, als einzelne Lehrer, diejenigen, die es wollen, Mitglieder der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft zu werden mit der Angabe, daß Sie auch eben als Lehrer der Freien Waldorfschule dem Goetheanum angeschlossen sein wollen. Ich glaube schon, daß dies alles das erreicht, was Sie überhaupt wünschen, daß alles übrige vorläufig überhaupt gar nicht notig ist. Der Unterschied ist der, wenn Sie als Einzelne eintreten, ohne als Lehrer Mitglied zu sein, so würde das sein, daß dann in unseren Rundbriefen gar nicht von der Waldorf-schule die Rede sein würde. Spezielle Fragen der Waldorfschule würden von Dornach aus überhaupt nicht behandelt werden. Fügen Sie bei, daß Sie als Lehrer eintreten, so ist das für Sie selber vielleicht gleichgültig. Aber für die Kulturaufgabe der Waldorfschule ist es nicht gleichgültig, denn alle andern Mitglieder der Freien Hochschule bekommen die Nach-richten darüber, was man m Dornach über die Freie Waldorfschule denkt. Es wird die Freie Waldorfschule in den ganzen Umfang des pädagogisch-anthroposophischen Lebens hineingestellt. Das Interesse wird dann verbreitet über einen größeren Horizont. Man spricht dann überall da, wo Mitglieder der Freien Hochschule sind, davon : An der Waldorfschule ist dies gut, dies gut und so weiter. Es wird die Freie Waldorf-schule dadurch eine anthroposophische Angelegenheit, für die die Gesellschaft sich interessiert, während sie jetzt keine anthroposophische
#SE260a-439
Angelegenheit ist. Für Sie ist es gleichgültig. Die Fragen, die in Dornach behandelt werden, werden natürlich andere sein, als sie hier aufgewor-fen werden. Es könnte aber auch möglich sein, daß wir nötig hätten, dieselben Fragen auch hier in der Konferenz aufzuwerfen. Aber für die ganze Gesellschaft ist es nicht dasselbe. Für die anthroposophische Pädagogik wird es etwas Großes sein. Dadurch erfüllen Sie etwas von der Mission der Freien Waldorfschule. Damit erfüllen Sie etwas von dem, was Sie eigentlich wollen: daß die Freie Waldorfschule hineingestellt wird in die ganze Kulturmission, die die Anthroposophie hat. Es kann zum Beispiel so sein : Die Konferenz der Freien Waldorfschule in Stuttgart hat irgendeine Frage aufgeworfen. Sie wird dann als Angelegenheit der Freien Hochschule betrachtet.
X: Das würde dann wohl auch bedeuten, daß von der Schule aus bestimmte Berichte über die Arbeit der Schule an das Mitteilungsblatt geschickt würden.
Dr. Steiner: Das ist gut wenn Berichte über Pädagogisch-Methodisches gemacht würden wenn es nicht Personalangelegenheiten sind. Es sei denn, daß diese zug leich von pädagogischer Bedeutung sind.
Dr. Steiner wurde dann gefragt, wie er sich zu einer pädagogischen Tagung zu Ostern stelle und wurde gebeten, die Richtung und den Rahmen für die Tagung anzugeben.
Dr. Steiner: Ich habe nur das eine zu sagen: daß die pädagogische Tagung zu Ostern Rücksicht nehmen solle darauf, daß auch ein päd-agogischer Kursus in Zürich stattfinden soll. Der beginnt am zweiten Ostertag.
Dann möchte ich jetzt eine Frage aufwerfen, die sich von einer ganz andern Seite her mit dem Früheren berührt. Was wir können von der Waldorfschule aus, das ist folgendes. Ich muß es mir auch noch genauer überlegen, was ich Ihnen selbst nach dieser Richtung hin vorschlagen würde. Da gibt es aber eine Möglichkeit, nach welcher Sie zugleich der Absicht, den vollständigen Anschluß an die anthroposophische Bewegung zu vollziehen, etwas näher kommen können. Der Vorschlag ist der, daß die Waldorfschule sich bereit erklärt, eine Tagung, welche die Anthroosophische Gesellschaft zu Ostern innerhalb ihrer Räume und ihres Wirkungskreises
#SE260a-440
in ihren Räumen macht, in sich aufzunehmen. Das kann keiner beanstanden. Die Freie Waldorfschule kann auf ihrem Boden eine anthroposophische Tagung veranstalten; das ist etwas, was getan werden könnte. Ich möchte mir nur überlegen, ob es opportun ist, gerade jetzt, aber ich glaube nicht, daß man Anstoß nehmen wird im Publikum, und die Behörden werden den Unterschied gar nicht verstehen. Nicht wahr, die werden den Unterschied gar nicht verstehen. Das wäre natürlich ein Erstes, was man tun könnte. Ich werde das Programm aufstellen.
Sachlich möchte ich noch dieses sagen: Ganz im Charakter von solchen Bestrebungen, wie sie in Ihren Herzen jetzt auch aufgetaucht sind, war die Kasseler Jugendtagung der Christengemeinschaft. Bei dieser hat sich herausgestellt, daß von seiten der Priesterschaft der Christengemein-schaft von Mittwoch bis Ende der Woche in einer Art von Näherungs-kreisen die Leute, die dort gesucht haben, eingeführt wurden in das, was die Christengemeinschaft als religiöse Gemeinschaft zu sagen hat. Das Ganze schloß damit, daß die Teilnehmer der Jugendtagung auch an einer Kulthandlung teilnahmen, und daß die letzten zwei bis drei Tage zur freien Aussprache bestimmt waren, so daß die Teilnehmer, die bestanden haben aus jungen Leuten unter zwanzig Jahren und dann wieder von sechsunddreißig Jahren an - die mittlere Generation fehlte, was charakteristisch ist für unsere Zeit -, so daß die Leute offiziell kennengelernt hatten die auf eigenen Füßen der Anthroposophischen Gesellschaft gegenüberstehende Christengemeinschaft. Sie haben teilgenommen an der Messe. Dann trat die freie Diskussion auf, von der man voraussetzen mußte, daß sie ginge über das, was vorher erlebt worden ist. Statt dessen ergibt sich, daß durch alles, was erlebt worden war, die Sehnsucht nach weiterem erweckt wurde. Da sprachen die, die Anthroposophen waren darunter, über Anthroposophie. Und es zeigte sich, daß all das doch schon Anthroposophie als letztes Ziel haben wollte. Das ist eine sehr charakteristische Tagung, weil sie ein Beweis dafür ist, daß der Anschluß an die Anthroposophie das ist, was sachlich angestrebt werden muß. Wir werden im nächsten Mitteilungsblatt über diese Jugendtagung in Kassel etwas bringen.
14. Februar 1924, Rechnung des Bauwereins an die Gesellschaft (siehe Beilage S. 8)
17. Februar 1924, Zur Verwaltung der Anthr. Gesellschaft (siehe Beilage s. 7)
SCHREIBEN AN DIE FUTURUM-AKTIONÄRE Dornach, den 25. Februar 1924
#G260a-1987-SE441 Die Konstitution der allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft durch die Weihnachtstagung
#TI
SCHREIBEN AN DIE FUTURUM-AKTIONÄRE
Dornach, den 25. Februar 1924
#TX
Gestatten Sie, daß idi in der Angelegenheit des Futurums an Sie heran-trete. Durdi die Fusion dieses Unternehmens mit der Internationalen Laboratorien-Aktiengesellschaft in Arlesheim ist der letzteren eine große Last zugewachsen. Diese wirkt um so drückender, als mit der Laboratorien-Gesellschaft das Klinisch-Therapeutische Institut in Arlesheim bisher noch verbunden ist. Dieses Institut ist - unter Frau Dr.Wegmans Leitung - in meinem Sinne eine wirkliche Musteranstalt, wie sich eine solche die Anthroposophische Gesellschaft nur wünschen kann. Es liegt nun im Karma dieser Gesellschaft, möglichst bald dieses Institut ganz in das Goetheanum einzugliedern. Und ich habe ja bei der Weihnaditstagung den entschiedenen Willen ausgesprochen, solchen kar-mischen Zusammenhängen Rechnung zu tragen. Dazu ist nun notwendig, daß von einzelnen Mitgliedern Opfer erbeten werden. Es wird mir unmöglich gemacht, dies Klinisch-Therapeutische Institut in entspre-chender Art dem Goetheanum einzugliedern, wenn der mit ihm verbundenen Laboratorien-Gesellschaft die gesamte Aktienlast des in Liquidation befindlichen Futurums zufällt. Geholfen wäre nur dann, wenn diejenigen Mitglieder, die Aktionäre des Futurums waren, und die in der Lage sind, das Opfer zu bringen, ihre Aktien entweder ganz oder teilweise dem Goetheanum als Geschenk anbieten würden. Dadurch könnte erreicht werden, daß die Aktienlast, welche die Laboratorien-Gesellschaft übernimmt, diese gesund und aussichtsvoll machen könnte, und die Klinik, deren Gedeihen mir vor allem auf dem Herzen liegen muß, würde der Sorgen; die sie drücken, enthoben sein. Denn sie würde in ihrem Wert reichlich dem Aktienkapital entsprechen, das durch die oben gekennzeichneten Geschenke dem Goetheanum zufiele und das aus der Belastung der Laboratorien-Gesellschaft herausgezogen werden könnte. Es wird dann dafür gesorgt werden können, daß durch Gedeihen der Laboratorien -Aktiengesellschaft die dem Goetheanum geschenkten Aktien später für die Schenker wieder Dividenden ergeben.
Es ist ja richtig, daß das Goetheanum dadurch, daß auf diese Art ihm Aktienkapital der Futurum in Liquidation zufällt, nichts an seinem Fonds
#SE260a-442
gewinnt; allein der geistige Gewinn, der durch den Anschluß der Klinik an das Goetheanum erreicht wird, ist ein so bedeutsamer, daß ich bei unseren Mitgliedern, die Aktionäre sind, dafür Verständnis zu finden hoffe.
Es würde dadurch ja auch erreicht, daß für diejenigen Mitglieder, die Aktionäre sind, und die auf ihre Dividenden angewiesen sind, keine weitere Reduktion durch nochmalige Abschreibung eintreten würde.
Ich muß gestehen, daß ich diese Zeilen nur mit schwerem Herzen geschrieben habe. Allein ich muß schon sagen: eben deswegen, weil ich mich durch die Persönlichkeiten, die in der Zeit, als ich kein Amt in der Anthroposophischen Gesellschaft bekleidete, an allerlei Gründungen herantraten und die sich dann mehr oder weniger zurückgezogen haben, so sehr im Stiche gelassen fühle, habe ich mich entschlossen, auf der Weihnachtstagung den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft zu übernehmen. Da muß ich dann alles tun, was denjenigen Institutionen, die wie die Dr. Wegmansche Klinik wirklich ganz in dem von mir als anthroposophisch angesehenen Sinne geführt werden, die Wirkungsmöglichkeit gibt. Ich habe mich nur mit dem größten Widerwillen seinerzeit entschlossen, den Vorsitz des Futurums, dessen Gründung nicht von meiner Initiative ausging, zu übernehmen. Ich bin in keiner Weise unterstützt worden von den Persönlichkeiten, die diese Initiative ergriffen haben. Meine Warnungen blieben ungehört. Ich werde es jetzt, da ich selbst den Vorsitz in der Anthroposophischen Gesellschaft innehabe, nicht mehr zulassen, daß anderes geschieht als dasjenige, das in den reinen anthroposophischen Linien liegt. Man wird sagen: warum habe ich damals zu den Dingen «Ja» gesagt? Nun, diejenigen, die sie inauguriert haben, würden, wenn ich anders als warnend aufgetreten wäre, vielleicht heute sagen: hätte man uns damals gewähren lassen, so könnte man jetzt das Goetheanum mit dem erwirtschafteten Futurumerträgnis aufbauen. Man mußte den Leuten Gelegenheit geben, zu zeigen, was sie können. Es ist mit dem einen Falle genug; die Auswirkung der Weihnachtstagung wird dafür sorgen, daß er sich nicht wiederhole.
Mit freundlichem Gruß Rudolf Steiner
Hinweis des Herausgebers: Das Resultat dieses Appells wird in der außer-ordentlichen Generalversammlung der Futurum AG in Liq. vom 24. März 1924 mitgeteilt, siehe Seite 472.
#SE260a-443
9, Marz 1924, Zur Verwaltung der Anthr. Gesellschaft (siehe Beilage S. 7)
#TI
GENERALVERSAMMLUNG
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN DER SCHWEIZ
Dornach, 16. März 1924
#TX
Dr. Steiner: Im Sinne der Abmachungen, die getroffen worden sind In der Versammlung, die anläßlich der Weihnachtstagung hier von unseren Schweizer Freunden abgehalten worden ist, habe ich die heutige Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz hiermit zu eröffnen. Die erste Aufgabe wird sein, daß wir konstatieren, inwieweit erfüllt wurde, was dazumal beschlossen worden ist: dem Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, der beauftragt worden ist, die Anthroposophische Gesellschaft in der Schweiz zu führen, an die Seite zu geben eine Anzahl Delegierter Von den schweizerischen Zweigen, mit denen zusammen dann die Verwaltung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz besorgt werden soll. Die Delegierten sind mittlerweile bestimmt oder gewählt worden, und ich bitte Herrn Dr. Wachsmuth, die Delegierten der einzelnen Zweige zu verlesen. Wir werden dabei konstatieren, inwieweit sie anwesend sind.
Dr. Wachsmuth Verliest die Delegierten. Es sind fast alle da.
Dr. Steiner: Also die Delegierten sind in weitaus größter Anzahl anwesend. - Zu Dr. Wachsmuth: Wollen Sie die Traktandenliste verlesen?
Dr. Wachsmuth: Es liegt nur ein Antrag über die finanzielle Lage vor, und ein Antrag von Herrn Dr. Hugentobler.
Dr. Steiner: Ich möchte einleitend bei dieser Generalversammlung, die ja die erste ist, die wir seit der Weihnachtstagung hier haben, einige Worte an Sie richten. Es ist von mir öfters, insbesondere während der schweren Kriegszeit, in einer oftmals recht eindringlichen Weise geäußert worden, für wie bedeutungsvoll ich es halten muß, wenn gerade Von seiten unserer schweizerischen Freunde in einer energischen Art in die anthroposophische Bewegung eingegriffen wird. Das hängt wirklich zusammen mit der allgemeinen, ich will heute nur sagen, geistigen Weltlage,
#SE260a-444
in der wir darinnen stehen. Wir dürfen sdion in unserer Sprache sagen: Der Sdiweiz fällt im Gesamtzusammenhang der Weltereigniss, namentlich derjenigen Weltereignisse, die zunächst einen geistigen Charakter tragen, eine ganz bedeutungsvolle karmische Aufgabe zu. Und Anthroposophen sollten sich immer bewußt sein, wie solche karmischen Aufgaben liegen.
Bei unseren Versammlungen sprechen wir von den internen Geistes-fragen, und nur dann, wenn wir in solchen Versammlungen wie heute zusammenkommen, haben wir Gelegenheit, etwas hinauszuschauen über die engeren Grenzen, die uns sonst selbstverständlich gezogen sind als einer Gesellschaft, die zunächst ganz aus dem Geistigen heraus arbeiten muß, und die dann warten muß, wie sich diese geistigen Impulse, die sie geben kann, im allgemeinen Weltenleben eben ausnehmen. Aber ein Bewußtsein von dem, was wir eigentlich in der Welt vorstellen, sollten wir doch immer in uns tragen. Und namentlich sollten wir es in uns tragen, seit in unsere gesamt-anthroposophische Bewegung ein esoterischer Zug hineingekommen ist, wie das ja deutlich bemerkbar geworden ist während der Weihnachtstagung, zunächst in der Auffassung. Aber es steht ja zu hoffen, daß er immer mehr und mehr auch in die Realität der anthroposophischen Bewegung durch die Anthroposophische Gesellschaft, wie sie jetzt ist, hineinkommt.
Da muß zum Beispiel bei solchen Versammlungen gewissermaßen eine Art Perspektive vor unsere Seele treten über die allgemeine Welten-lage. Ich habe es oftmals geäußert, daß die Schweiz wirklich nicht bloß in äußerer, wirtschaftlicher Weise eine Art Drehpunkt sein kann für die gegenwärtigen Weltangelegenheiten, sondern daß sie das, wenn sie nur will, auch durchaus in geistiger Beziehung sein kann. Es kommt ja wirklich auf das Wollen an, und Anthroposophen sollten zunächst dieses Wollen wenigstens - verzeihen Sie diese Tautologie -, sie sollten dieses Wollen wenigstens wollen.
Was ich Ihnen heute besonders ans Herz legen möchte, ist dieses: Bedenken Sie, daß die Tatsache durchaus richtig ist, daß sich heute gewiß in der Welt eine Anzahl von Freunden der Anthroposophie intensiv mit der Anthroposophie befassen. Mir tritt da fortwährend doch die Tatsache vor Augen, daß, verhältnismäßig wenigstens, die Anzahl der
#SE260a-445
Freunde der Anthroposophie in der Welt eine ziemlich große geworden ist. Denn so in Zwischenräumen von zwei bis drei Tagen bringt mir Dr. Wachsmuth ein großes Paket von neu auszugebenden Mitglieds-diplomen. Sie werden ja jetzt alle erneuert. Und da ich der Meinung bin, daß alle diese Dinge persönlich abgemacht werden müssen, so dauert schon bei der großen Zahl unserer Freunde in der Welt das reine Dar-aufsetzen des Namens eine ganz erkleckliche Zeit. Also, wie gesagt, ich werde persönlich damit bekannt, daß die Zahl der Anthroposophen, der in der Gesellschaft vereinigten Anthroposophen, in der Welt immerhin zwölftausend geworden ist. Das ist aber gegenüber alledem, was heute in der Welt durch Menschen geschieht, doch eine außerordentlich kleine Zahl noch, obwohl man sagen kann, daß deutliche Symptome gerade seit Weihnachten vorhanden sind, daß, wenn es uns gelingen würde, all das, was seit Weihnachten wirkt, wirklich auswirken zu lassen, die Zahl der Mitglieder in verhältnismäßig kurzer Zeit verdrei-bis vervierfacht werden könnte. Es liegen dafür deutliche Symptome vor. Nun aber, selbst wenn wir auf vierzig- bis fünfzigtausend Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in einer verhältnismäßig gar nicht langen Zeit anwachsen würden, so wären wir gegenüber den Impulsen, die heute durch die Welt gehen, dennoch eine kleine Zahl. Gewiß, innerhalb dieser kleinen Zahl ist wieder eine noch kleinere Zahl, die sich außerordentlich intensiv in ihrer Art mit Anthroposophie befaßt. Aber nicht jeder verfolgt ein anderes, immer wachsendes Interesse für die Anthroposophie: das ist das Interesse, das bei den Gegnern, bei den ausgesprochenen Gegnern der Anthroposophie besteht. Die kümmern sich um jeden neuen Zyklus, kümmern sich jetzt auch schon darum, was in den einzelnen Vorträgen, die noch nicht veröffentlicht sind, gesagt wird. Kurz, man kann schon sagen: Es ist ein intensives Interesse bei den Gegnern der Anthroposophie vorhanden. Und nicht bloß bei denen, die schimpfen!
Es gibt ja auch außerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft Menschen, die nicht nur im Schimpfen ihre Aufgabe sehen, die einfach in ihrer Art wiederum positiv arbeiten und die Hoffnung haben, daß das, was auf anthroposophischem Felde gewollt wird, durch positive Arbeit in andern Richtungen eben vernichtet werden kann. Gerade damit befassen
#SE260a-446
sich auch jene, deren Beschäftigung mit Anthroposophie man nicht nachher daran merkt, daß sie gegnerische Artikel schreiben oder gegnerische Vorträge halten, sondern die dann in ihrer Art arbeiten, so daß sie ihrer Arbeit eine solche Richtung geben, daß die Anthroposophie da-gegen nichts machen kann. Sie beschäftigen sich in außerordentlich intensiver Weise, mit regstem Interesse mit Anthroposophie. Diese Tatsache muß uns zum Bewußtsein kommen aus dem Grunde, weil gerade aus dieser Tatsache mit aller Deutlichkeit hervorgeht, daß Anthrosophie heute nicht bloß von ihren Anhängern, sondern vor allen Dingen von ihren Gegnern als etwas sehr Wichtiges genommen wird. Ich möchte schon sagen: Es fielen mir mehrere Steine vom Herzen, wenn ich die Gewißheit erringen könnte, daß bei einer genügend großen Anzahl von Mitgliedern dieses Bewußtsein bestünde, wie wichtig im allgemeinen geistigen Kulturgange heute Anthroposophie ist, und wenn dieses Bewußtsein nur in der Intensität bestände, im guten Sinne, im zustimmenden Sinne, wie es bei den Gegnern im Anti-Sinne, sagen wir, besteht. Das ist wirklich etwas, was dringend zu wünschen wäre. Gewiß, es ist schon so, daß unsere Freunde Anthroposophie treiben mit aller Intensität ihrer Seele. Das muß schon anerkannt werden, daß viele ganz dar-innenstehen. Aber auf der andern Seite: so weltmännisch denken, wie unsere Gegner weltmännisch denken können, das können leider Anthroposophen noch nicht. Und das muß bei solchen Versammlungen ein wenig zum Bewußtsein gebracht werden. In dieser Beziehung meine ich, daß gerade unsere schweizerischen Freunde der anthropQsophischen Bewegung im allerintensivsten Sinne helfen könnten. Es kommt viel auf Sie an, außerordentlich viel.
Machen wir uns nur einmal klar, welche Bewegungen heute zunächst in der Welt da sind, die Aussicht haben, in den nächsten fünfzig Jahren alle die Stürme, die über Europa hereinbrechen werden, wirklich zum Hereinbrechen kommen zu lassen. Sehen Sie, man muß einfach sich die Tatsachen vor die Seele stellen. Es kann sich nicht darum handeln, irgendwie die Augen zuzudrücken vor den Tatsachen. Und in den letzten Jahren ist vieles geschehen, was den Menschen die Augen über die Tatsachen öffnen könnte. Wenn diejenigen, die ein gehöriges Alter haben, zurückdenken an die Zeiten vielleicht vor noch sogar zwanzig,
#SE260a-447
fünfundzwanzig Jahren, da werden Sie aus den damaligen Zeitereignissen heraus mit Recht haben fühlen können - ich rede jetzt überall von dem Geistigen, nicht von dem Politischen, das ist ausgeschlossen, ich rede jetzt nur von dem Geistigen -, wie die in Europa unter dem Namen Sozialismus gehende Geistesströmung gezählt wurde als etwas, was eine große Schlagkraft hat. Sehen Sie sich heute die Dinge an, so werden Sie sich sagen müssen: Dieser Sozialismus, dem man dazumal auch in geistiger Beziehung eine große Schlagkraft zugewiesen hat, er zerbröckelt vollständig. Er ist eigentlich heute schon nicht mehr da. Er trägt heute nur noch einen Namen, der verschiedene Leute vereint, aber er ist nicht mehr da. Er zählt nicht mehr unter diejenigen Bewegungen, die in geistiger Beziehung Schlagkraft entwickeln können. Man kann ihn heute zum Absterbenden rechnen. Man muß schon sagen: Es ist eine ungeheure, in vieler Beziehung schauderhafte Klarheit eingetreten in den allerletzten Jahrzehnten. Und diejenigen Bewegungen, die Aussicht haben, ihre Impulse durchzubringen, wer sind sie denn? Wirklich, sehen wir jetzt von irgendwelchen Emotionen ganz ab, sehen wir von jeder Kritik ab, aber stellen wir die Tatsachen uns vor Augen. Diejenigen Bewegungen, die Aussicht haben heute durchzukommen, oder in den nächsten fünfzig Jahren eine große Wirkung zu tun, sind der römische Katholizismus und der russische Bolschewismus. Das sind die Bewegungen - ich rede jetzt nicht vom Politischen, nur vom Geistigen -, auf die heute das Augenmerk gerichtet sein muß derjenigen, die überhaupt im Ernste mitreden wollen über den Gang der geistigen Ereignisse. Alles andere von Bewegungen, die in der neueren Zeit sich besonders hervortun, ist zunächst eigentlich problematisch.
Nun liegt aber die Sache so: Im letzten Drittel, oder eigentlich als das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts herannahte, war innerhalb der europäischen Zivilisation eine große Anzahl von Menschen, tüchtige Menschen, gebildete Menschen, die tatsächlich etwas verspürt haben von dem, was nun eigentlich geschehen soll. Wenn Sie - und auch da will ich nicht vom Politischen reden, sondern nur von der geistigen Konfiguration der verschiedenen Gesellschaften, von dem Bildungsgrad, der Gesinnung und so weiter -, wenn Sie auf die Parlamente hinschauen in den sechziger, siebziger Jahren, so saßen darinnen tatsächlich aus allen
#SE260a-448
Parteien ausgezeichnete Leute. Man brauchte nicht mit der Partei und geistigen Richtung des einen oder des andern besonders einverstanden zu sein, aber man konnte sie wirklich bewundern. Ich erinnere mich immer wieder mit einer großen Befriedigung, wie ich während meines Aufwachsens in Österreich selbstverständlich dazumal nicht mit der schrecklichen Geistesströmung, die die Polen mit Österreich trieben, einverstanden sein konnte. Wenn aber wiederum der Polendelegierte Hausner sprach, ja, ich hatte mein reines Entzücken an der ganzen Persönlichkeit. Da sprach eine Kraft! - Also ich rede von diesem Geistigen. Und gerade jetzt zeigt es sich mir, wie dieser Mann, der dastand - er hatte im linken Auge ein Monokel, da schaute ein schlaues Auge durch; das rechte Auge, das monokelfrei war, das kontrollierte immer die Schlauheit, die aus dem linken Auge sah -, und aus dieser Gesinnung heraus - Monokel links, unmonokoliert rechts - Dinge mit einem wahrhaft prophetischen Charakter sagte. Fast alles ist dann im Laufe der Zeit eingetreten. Das waren Leute mit Einsicht. Ob man nun einverstanden war mit ihnen oder nicht, das waren Leute mit Einsicht. Sie saßen da. Und sehen Sie, diese Leute sind eigentlich fast überall in eine besondere Lage gekommen mit dem Ende des 19.Jahrhunderts. Man kann sagen, sie sind eigentlich nicht mehr da, sind weggefegt. Sie sind weggefegt, manchmal in einer sonderbaren Art. Man braucht nur ein Symptom für das Wegfegen dieser Leute einmal sich vor die Seele zu rufen. In Österreich war einer der Führer dieser Leute Eduard Herbst. Herbst hieß dieser Mann, er war vielleicht einer der wenigst Begabten sogar, aber er hatte sich zum Führer aufgespielt. Als die großen Entscheidungen im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts eintraten, wurde dieser Mann auf eine eigentümliche Weise mit allen seinen Anhängern bedeutungslos gemacht, weggefegt. Wodurch? Dadurch wurde er weggefegt, daß - er stand ja stets da im Zivilgewande mit Beinkleidern bis herunter zu den Fersen - ein anderer Mann, der seine Gesinnung Vertreten konnte mit Kürassierstiefeln, Bismarck, das Wort geprägt hat: Ja, in Österreich muß man die Herbstzeitlosen wegräumen! - Solch ein Wort hat Wunder gewirkt, hat tötend gewirkt. Aber es ist ein Symptom und solche Symptome könnten nicht zu Hunderten, sondern zu Tausenden angeführt werden, wie diese Dinge weggefegt worden sind.
#SE260a-449
Und das ist doch eine Sache, die ich jetzt wirklich nicht ausspreche, um demjenigen, was ich bei der Weilmachtstagung sagte - daß wir uns immer beglückt fühlen werden, als Anthroposophische Gesellschaft hier in der Schweiz sozusagen zu Gaste sein zu dürfen und die Schweizer Freunde als unsere Wirte ansehen zu dürfen - nicht um diesem eine für sie besonders angenehme Nuance heute zu geben, also nicht um irgend etwas Schmeichelhaftes zu sagen, sage ich das Folgende, sondern ich sage es, weil es sich mir tatsächlich - und ich habe es ja während der Kriegs-zeit immer wieder und wieder betont - aus der Beobachtung der Sachlage ergibt.
Wollen wir doch heute, ob wir nun scheinbar schmeicheln oder scheinbar uns ankrakeelen, ganz ehrlich reden. Sehen Sie, wenn man in mancherlei Ländern gesehen hat, wie diese Leute, die ich gerade meine - und da rede ich jetzt vorzugsweise von der inneren Gesinnung -, überall weggefegt worden sind, so kann man denn doch die Bemerkung machen, wie gesagt, das ist keine Schmeichelei, es ist das, was ich glaube, man kann doch die Bemerkung machen: In der Schweiz ist diese Gesinnung noch bei einer ganzen Anzahl von Menschen vorhanden. Sie ist vorhanden. Sie hat sich nur in der Schweiz fortgepflanzt, und sie ist da. Sie ist in vieler Beziehung unterdrückt. Die lauten Sprecher gehören den andern Richtungen an, aber sie ist da. Man findet Leute, die noch aus einer gewissen Herzhaftigkeit heraus ein Wort sagen, wie ich es vor kurzem von jemandem gehört habe. Man muß manchmal auch tatsächlich aus Symptomen die Dinge beurteilen lernen. Ich sprach über die verschiedenen Möglichkeiten, wie die Strömungen auch hier in der Schweiz gehen könnten, mit einer Amtsperson, und ich sagte von einer andern Strömung: Die wollen aber gerade derjenigen, die Sie vertreten, arg an den Kragen gehen. - Da antwortete mir diese Persönlichkeit: Ja, das wollen sie schon, aber sie werden es nicht können! - Und diese innere Sicherheit, dieses doch klar sich darüber sein: Wenn wir nur wollen, dann werden sie es nicht können -, das ist etwas, was immerhin noch außerordentlich hoffnungsvoll sein kann. Ich führe Ihnen eine von diesen Tatsachen an. Ich könnte sie wirklich sehr vermehren. Dann würde sich zeigen, daß es einen guten Grund hat, zu sagen: Will man hier, so kann aus der allgemeinen Weltenlage heraus tatsächlich Großes gewollt werden. Wenn
#SE260a-450
man will! Und am Alleraussichtsvollsten wäre es gerade hier, wenn die Anthroposophen sich bewußt würden der Wichtigkeit und Bedeutung der Anthroposophie, wie sich es die Gegner bewußt sind. Ich glaube, das ist etwas, was zum wichtigsten gehört, was wir gerade bei einer solchen Versammlung in uns aufnehmen sollen. Denn dann wird etwas entstehen, was eigentlich entstehen soll. Man wird etwas entgegensetzen können einer Bewegung, die rein materiell ist auf der einen Seite, und die zu ungeheuren Verheerungen, nämlich zum Untergang der europäischen Kultur führen würde, wenn sie siegen würde, diese östliche Bewegung, die Bewegung des Bolschewismus, man wird Stärke gewinnen, dieser Bewegung Herr zu werden. Und man wird auf der andern Seite dasjenige, was im Christentum als die großen, tragenden Zivilisationskräfte geltend sind, halten können gegenüber dem, was sie in einer erstarrten Kirche geworden sind. Aber in diesen beiden Strömungen arbeitet man eben. Und diejenigen, die das Geistige, wirklich Tragende wollen, müssen lernen zu arbeiten.
Das ist es, was ich wirklich glaube heute sagen zu müssen. Denn sehen Sie, gerade in der Schweiz hier ist es so: Da stehen wir mit dem, was wir in Dornach wollen. Draußen stehen die andern, auch diejenigen, von denen ich jetzt gesprochen habe, die kernhaft sind, die das bewahrt haben, was eigentfich getragen werden soll in die Zukunft, während es überall sonst weggefegt worden ist. Da stehen die andern. Aber was diese andern, auch die Besten, über uns wissen, es ist ja kläglich, es ist ja furchtbar. Da werden einem doch Dinge erzählt über die Anthroposophie, die kläglich, die schrecklich sind. Aber die Leute glauben daran. Es verhält sich wie Schwarz zu Weiß, aber die Leute glauben an das Schwarze, nicht an das Weiße, weil wir eben bis jetzt gar nicht dazu gekommen sind, die Wege zu finden, den Leuten zu zeigen, wie das weiß ist, was wir eigentlich wollen. Und ganz besonders notwendig wäre es hier, daß berücksichtigt würde: Da stehen wir, draußen sind die andern. Zwischen dem ist ein Abgrund fürchterlichster Art. Über den müssen wir Brücken bauen. Ich glaube, daß es vielleicht nicht übel aufgenommen wird, wenn ich gerade dieses heute bei dieser Generalversammlung zur Einleitung habe sagen wollen.
Jetzt bitte ich, den Kassenbericht zu verlesen.
#SE260a-451
Dr. Wachsmuth verliest den Kassenbericht.
Dr. Steiner: Können Sie uns vielleicht sagen, wie groß die Mitglieder-zahl in der Schweiz ist?
Dr. Wachsmuth: Es sind im ganzen 707 Mitglieder, davon: Zweig am Goetheanum 209, Neue Generation 53, dazu Einzelmitglieder 70.
Dr. Steiner: Wünscht jemand zu diesem Bericht das Wort? Das scheint nicht der Fall zu sein. Dann bitte ich diejenigen Freunde, welche dafür sind, daß dieser Kassenbericht akzeptiert werde, die Hand zu erheben. Ich bitte um die Gegenprobe. Er ist angenommen. Wir kommen nun zu dem Antrag Hugentobler. Bitte, Herr Dr. Hugentobler.
Dr. Hugentobler schlägt Vortragsreihen vor zur Interessierung weiterer Kreise in systematischer Weise. Wie richten wir die Arbeit nach außen in der Schweiz ein, was haben wir zu unternehmen, um diese günstige Stimmung für die Anthroposophie nun wirklich auszunützen? Wie stellen wir das an? Darüber sollte hier gesprochen werden.
Dr. Steiner: Wünscht jemand dazu das Wort zu ergreifen?
Herr Mengs unterstützt den Antrag.
Dr. Steiner: Wünscht sonst jemand das Wort?
Herr Thut möchte auf die Anregung von Dr. Hugentobler hin für Bern erklären, daß das Interesse mit jedem Zyklus eher abnimmt. Die Besucherzahl hat immer abgenommen. Er zieht einzelne Vorträge Dr. Steiners in Bern der bisherigen Weise vor.
Dr. Steiner: Wir haben nun, wenn ich da auch eingreifen darf - nehmen Sie mir das nicht übel -, im Vorstand verschiedentlich die Meinung gehabt, daß es, zunächst aus den schweizerischen Verhältnissen heraus gedacht, wie sie eben einfach gegenwärtig sind, vielleicht doch das Notwendigste wäre, wenn nicht in einer großen Anzahl - das werden Sie ja gleich sehen, daß das nicht geht, aber ich rede nicht pro domo, ich rede nicht etwa, um mich in Szene zu setzen -, sondern in einer kleineren Anzahl von Städten, namentlich in Bern oder Zürich und in Basel
#SE260a-452
selbstverständlich, es möglich gemacht würde, wenn auch nicht gerade in kurzen, aber doch in kürzeren Zwischenräumen, von mir fortlaufend Vorträge zu veranstalten. Die könnten dann einen gewissen Zusammen-hang haben und würden auch so eingerichtet werden, daß die Menschen von langer Hand darauf rechnen könnten. Es ist ja so, wenn einmal ein Vortrag veranstaltet wird, braucht man einen großen Apparat dazu, um eben die Leute aufmerksam zu machen, daß der Vortrag ist. Wenn man aber in Bern wissen würde, es findet an einem bestimmten Tage der Woche, alle vierzehn Tage oder drei Wochen, ein Vortrag statt, dann würde man unter Umständen vielleicht das erste Mal es ja nötig haben, so etwas einzurichten, aber es würde sogar mit wesentlich geringeren Kosten sich fortsetzen können, und die Leute würden von langer Hand rechnen können: Nun ja, da ist wieder der Tag, da hören wir einen solchen Vortrag.
Es ist, meine ich, wirklich schon notwendig, daß wir das erste machen statt dem zweiten. Erst wäre es zunächst notwendig, daß die Leute überhaupt mit Anthroposophie so bekannt werden, daß ihnen das nicht gerade furchtbare Aufregungen verursacht, um zu wissen, wie machen wir uns damit bekannt. Und da scheint mir schon, daß eines nicht berücksichtigt worden ist hier in der Schweiz. Es ist vielleicht gerade nötig, dieses heute zu erwähnen. Vielleicht korrigieren Sie mich, aber ich habe halt doch die Erfahrung gemacht, wenn es sich darum gehandelt hat, hier irgend etwas zu tun oder zu arrangieren oder dergleichen, so hat man sehr häufig unter Anthroposophen gefragt: Wie hat man es in Stuttgart, wie hat man das in Berlin und so weiter gemacht? Und man machte dann die Dinge nach. Wie gesagt - korrigieren Sie mich, wenn es nicht stimmt -, man machte dann die Dinge nach. Das ist aber gerade nicht klug.
Sehen Sie, da ist zunächst gleich ein großer Unterschied. In Deutschland draußen können Sie unter Umständen - nicht nur, weil Anthroposophie sich dort sehr eingewurzelt hat, sondern weil so die allgemeine Lebens- und Seelenverfassung ist - in Vorträgen ganz gut mehr oder weniger polemisch werden, das heißt, eingehen auf Gründe für, eingehen auf Gründe gegen. Denn da liebt man schon in einem gewissen Sinne die Dogmatik, das Dogmatische, das Theoretische. Hier in der
#SE260a-453
Schweiz ist es doch, wenigstens nach meinem Erleben, so, daß man für Gründe für und gegen nicht viel übrig hat. Hier über die Gegner theoretisch zu sprechen, den Gegnern theoretisch entgegenzutreten, erweckt eigentlich nicht das geringste Interesse. Und so muß man sich in der Schweiz durchaus darauf beschränken, das Positive zu tun und bei den Gegnern nur die eigentlichen Verleumdungen, die Unwahrheiten zurückweisen, im strengsten Sinne des Wortes nur die Unwahrheiten zurückweisen. Wenn man eine Unwahrheit nachweisen kann, wird selbstverständlich überall Interesse vorhanden sein. Aber viel zu polemisieren, zu kritisieren, das liebt der Schweizer nicht. Das ist gerade ein Anhängsel zur jahrhundertealten Demokratie. Es ist einmal hier so. Und daher werden Sie bemerkt haben: ich halte meine Vorträge, die öffentlichen Vorträge in der Schweiz so, daß ich eigentlich mit Ausnahme des Aufmerksammachens auf direkte Verleumdungen, auf Gegner nicht eingehe. Die Menschen lernen doch durch die Polemik gegen die Gegner nicht die Anthroposophie kennen. Wir sollten vielmehr hier in der Schweiz danach streben, daß die Leute die Anthroposophie kennenlernen. Ich glaube nämlich - Sie kennen ja gewiß die Schweizer besser, weil Sie sich selbst nach dieser Richtung kennen -, wenn wir anfangen, immer wiederum polemisch daraufzuhacken in der Schweiz, dann werden die Leute uns überdrüssig und sagen: Das sind allerlei Querköpfe, mit denen kann man nicht fertig werden! - Wenn man aber auf das Positive eingeht, das Positive betont, dann wird es bald recht viele Menschen geben, die, wenn sie hören werden: Der sagt über uns das und das - dann diesem Menschen darauf antworten werden: Das und das habe ich doch selber gehört, was redest du mir da vor? Ich lasse es mir ja nicht etwa von denen in Dornach erzählen, ich habe es selber gehört, ich weiß, wie die Leute sind. - Die Leute müssen aus dem Positiven heraus diese Gesinnung bekommen.
Das ist meine Auffassung, die ich durch Jahre hier bekommen habe. Sie können mich ja korrigieren. Aber überall, in bezug auf alle Angelegenheiten, wenn man hier widerspricht, so nützt es einem gar nicht viel. Man bekommt in der Regel die Antwort: Es kann doch jeder seine Ansichten haben. - Das ist auch richtig. Aber wenn die Leute Ansichten hören, die ihnen eingehen, dann nehmen sie sie an, auf allen Gebieten,
#SE260a-454
nicht nur auf dem Gebiet der Anthroposophie. Und so meine ich, daß es wirklich in der nächsten Zeit eine Taktfrage ist, wie wir auftreten. Und ich sage es nur zur Ergänzung dessen, was Herr Thut gesagt hat. Manchmal muß ich schon die Dinge selber sagen, es tut mir ja leid. Wünscht noch jemand das Wort?
Fräulein Ramser (Bern): stimmt dafür, Dr. Steiner selber zu hören und sagt, daß über fünfzig Lehrer sich eingeschrieben hätten, viele hätten mündlich zugesagt. Sie spürten, sie müßten sich mit Herrn Dr. Steiner auseinandersetzen. Sie wollen mit der Quelle bekannt werden und Dr. Steiner selber hören.
Herr Geering weist auf die einleitenden Worte hin, die uns das Bewußtsein lebendig gemacht haben: Wir wollen wollen. Aber wie wollen wir wollen? Und daraufhin gab eigentlich die Anregung Dr. Hugentoblers die Antwort, wenigstens die einleitende Antwort. Er glaubt nicht, daß an eine Korrektur zu denken ist zu den Worten von Herrn Dr. Steiner. Er glaubt, daß Dr. Steiner die schweizerische Volksseele voll und richtig erfaßt hat. Er schlägt vor, konkrete Beschlüsse über diese Veranstaltung zu fassen:
Dr. Steiner: Wünscht sonst noch jemand das Wort?
Dr. Schneider (Ascona) spricht zustimmend.
Herr Rietmann (St. Gallen): In Zürich, Bern und Basel sollten Vorträge stattfinden. Er möchte bemerken, daß auch in der Ostschweiz Interesse vorhanden sei. Er fragt, ob es möglich sei, auch in St. Gallen Vorträge zu bekommen.
Dr. Steiner: Wir müssen natürlich tun, was wir tun können, selbstverständlich. Ich möchte nur folgendes sagen: Es wird sich vielleicht heute schwierig gestalten, dem Wunsche nachzukommen, konkrete Vorschläge zu machen. Vielleicht dürfen wir Sie bitten, dem Vorstand den Auftrag zu geben, im Verein mit den Delegierten nach dieser Richtung hin ein Arbeitsprogramm auszuarbeiten und es den Zweigen vorzulegen. Auf diese Weise wird man am ehesten dazu kommen. Denn konkrete Beschlüsse werden sich nur fassen lassen mit dem, was man hier weiß,
#SE260a-455
wie die Zeiten zur Verfügung stehen und so weiter. Ich möchte empfehlen, nicht gar zu sehr ins Detail zu gehen, mit dem Vorstand ein Arbeitsprogramm äuszuarbeiten, es den Delegierten vorzulegen, um dann im Verein mit den einzelnen Zweigen zu einer Aktion zu kommen. Aber ich habe Sie vielleicht nicht aussprechen lassen, Herr Rietmann?
Herr Rietmann: Doch, Herr Doktor.
Dr. Steiner: Wünscht sonst noch jemand das Wort?
Herr Aeppli: (Winterthur) schlägt vor, die Interessenten für die Anthroposophie auf eine geeignete Weise zu sammeln.
Dr. Steiner: Ich möchte nur das sagen: Wenn wir tatsächlich für Anthroposophie in entsprechender Weise förderlich wirken wollen, dann ist es dringend notwendig, daß wir uns ja keinen Illusionen hingeben und daß wir auf die realen Tatsachen sehen. Es ist von vornherein nicht ganz richtig, nicht der Wirklichkeit angemessen, wenn man glaubt, man könne einen Vortrag oder Vortragszyklus halten und dann, indem man die Sache weiter bespricht und glaubt, die Leute, die zu dem Vortrag oder Vortragszyklus gekommen sind, die könne man dann halten, die bleiben gewissermaßen. Es ist viel besser, wenn man diese Voraussetzung nicht macht. Und dafür spricht nicht nur die allgemeine Beobachtung des Lebens, sondern dafür spricht, wie ich ja gesagt habe, daß wir es bis zu zwölftausend Mitgliedern in der Welt gebracht haben. Aber auf diese Weise, daß man Vorträge veranstaltet hat und nachher die Leute zusammenhalten wollte, die im Vortrag waren, sind diese zwölftausend Mitglieder eigentlich nirgends entstanden. Sondern zunächst liegt die Sache so: Wenn die Leute einen Vortrag gehört haben und er sie interessiert hat, dann haben sie vorläufig genug. Sie haben Kenntnis genommen. Mehr wollen sie nämlich zunächst nicht, auch wenn sie einverstanden sind. Sie wollen zunächst nicht mehr. Sie betrachten es als etwas, ja, was einen juckt, wenn an einen die Zumutung gestellt wird, man solle nun in die Zweige gehen, zu Versammlungen gehen und dergleichen. Ja, es juckt, es ist nichts damit, das will man gar nicht. Man will eine Überzeugung haben, aber warum soll man immer in Zweige gehen und so weiter? So denken die Leute zunächst.
#SE260a-456
Haben dann die Leute Gelegenheit, nach einiger Zeit eine Eurythmie-aufführung zu sehen, dann wird wiederum durch etwas Reales das Interesse angefacht und der erste Eindruck verstärkt sich. Hören sie dann, daß irgendein bekannter Kranker in der Dornacher Klinik geheilt worden ist, verstärkt sich wiederum das Interesse. Und so setzen sich die verschiedenen Dinge zusammen, aus denen dann erst der Entschluß werden kann: Na, bei solchen Leuten will ich doch einmal Mitglied werden. Da juckt es dann nicht mehr, denn da kommt es aus dem Innern heraus.
So muß man versuchen, nicht zuviel Kraft zu verpuffen in dasjenige, was von vornherein mehr oder weniger illusorisch ist. Man muß tatsächlich mit den Realitäten rechnen, und die liegen schon in dem, was ich angedeutet habe. Die Leute werden sich leicht finden, wenn sie sehen, was wir in breitem Umfange tun, wenn sie immer wiederum auf dieses oder jenes aufmerksam gemacht werden. Aber nicht dadurch, daß wir eigentlich Agitation treiben, sondern daß wir den Leuten etwas zeigen und ihnen gar nicht zumuten, sie sollen in die Zweige kommen. Nicht wahr, ich will ja nicht sagen, daß das ein Ideal ist, aber am liebsten möchte ich eigentlich am Ende eines jeden Vortrages sagen - ich werde es nicht tun, aber ich möchte eigentlich am Ende eines jeden Vortrages sagen: Das ist Anthroposophie. Ob ihr nun in unsere Zweige kommt, in die Anthroposophische Gesellschaft eintretet, daran liegt uns überhaupt gar nichts Bleibt weg! - Und dann möchte ich gerne, daß man es durch diese andern Sachen, die ich erwähnt habe, dazu bringt, daß die Leute sagen: Ja, darauf hören wir nicht, wir kommen doch, wir bleiben nicht weg! - Das wäre dasjenige, was eigentlich unsere Gesellschaft festigen würde. Denn ein jeder, der angeklebt wird, durch alle mögliche Mühewaltung angeklebt wird, der ist doch eigentlich nicht recht dabei. Ja, das ist dasjenige, was ich nur zur Berichtigung mancher Illusion sagen will. Wünscht sonst noch jemand das Wort?
Dr. Oskar Grosheintz meint, daß es doch gut wäre, über den Modus, wie die Gesellschaft organisch zunehmen kann, zu sprechen, namentlich über die Aufnahme von Mitgliedern.
Dr. Steiner: Nicht wahr, ich habe natürlich nicht davon gesprochen, daß irgend etwas verlassen werden sollte.
#SE260a-457
Ich habe nur von dem gesprochen, was ich für das allernächst Not-wendige halte. Also davon kann gar nicht die Rede sein, daß etwa da, wo es sich als zweckmäßig herausgestellt hat und wo man glaubt, daß las gut ist, keine Einführungskurse gehalten werden sollten und der-gleichen. Nicht wahr, ich sprach mehr über das Wirken nach außen hin. Wo man es für zweckmäßig hält, durch Einführungskurse spiranten für die Anthroposophie zu werben, da wird man es eben weiter tun. Ich glaube nur, daß nichts unterlassen werden sollte Von demjenigen, was bis jetzt getan worden ist, daß es aber doch gut wäre, wenn zunächst jetzt das zustande kommen wurde, daß man den Vorstand hier damit beauftragt, eine Art Plan, wie ich es angedeutet habe, auszuarbeiten und den Delegierten beziehungsweise den Zweigen vorzulegen.
Dr. Grosheintz äußert sich weiter zur Sache.
Dr. Steiner: Wir können ja ruhig abwarten, wie das entsteht. Ich meine, wir können nicht gut allgemeine Beschlüsse darüber fassen, wie der einzelne Mensch draußen seinen Kontakt mit den Zweigen findet.
Herr Stokar stellt der Versammlung den Antrag, dem Vorstand im Sinne der Ausführungen Dr. Steiners den Auftrag zu erteilen, ein Arbeitsprogramm innerhalb einer gewissen Zeit vorzulegen, so wie er es selber für richtig findet.
Dr. Steiner: Es ist also ein bestimmter Antrag, Sie haben ihn gehört. Wer wünscht dazu etwas zu sprechen?
Herr Wyßling wünscht daß kein Termin gestellt, sondern einfach der Antrag in dem Sinne gestellt werde, wie ihn Dr. Steiner skizziert hat.
Dr. Steiner: Das ist der weitergehende Antrag, der kann zunächst zur Abstimmung kommen. Ich bringe damit den Antrag des Herrn Wyßling zur Abstimmung. Ich bitte diejenigen Freunde, welche dafür sind, die Hand zu erheben Ich bitte um die Gegenprobe. Er iSt also angenommen. Damit fällt ja der vorhergehende Antrag dahin. Wünscht sonst noch jemand etwas Vorzubringen in dieser Richtung?
#SE260a-458
Herr Stokar spricht über seine praktische Arbeit in Winterthur und fragt wegen der Namengebung der Zweige.
Dr. Steiner: Ja, ich meine, die Statuten sind ja tatsächlich so abgefaßt, daß auf der einen Seite zum Ausdruck kommen kann die volle Freiheit der Zweiggestaltung, auf der andern Seite ist der Dornacher Vorstand jetzt so gedacht, daß man ihn, ich möchte sagen, menschlich nehmen sollte; daß man ihn also nicht als einen Diktator ansieht, der herrschen will, sondern der sich vor allen Dingen verstanden sehen will. Und wenn man diese Sache rein menschlich richtig nimmt, dann wird sich kaum etwas anderes ergeben als das, was auch beim alten Usus der Fall war. Denn dadurch, daß gewissermaßen früher irgendwo in Basel oder in Bern Keime gepflanzt worden sind und dort Anthroposophen er-wachsen waren und dann der Gruppe ein Name gegeben worden ist, ist ja die Sache doch nicht entstanden. Sondern es ist immer so gewesen, daß sich Leute zusammengefunden haben, die ihrerseits dies wollten und die sich dann mit mir besprochen haben. Und in der Zukunft wird das der Vorstand sein, mit dem sie sich besprechen, und dann kommt es dazu.
Man wird nicht im Statut haben: Der Dornacher Vorstand ist sonverän in der Gebung von Namen. Aber man wird von denjenigen, die sich zusammentun, irgendwie sagen: Könnt ihr uns nicht einen Namen geben? - Man macht das eben menschlich ab. Gerade das ist angestrebt durch diese Statuten, daß so etwas wie - nun ja, weitmaschiger wird es schon sein -, aber daß so etwas wie eine Art «zärtlicher Ton» entsteht zwischen demjenigen, was die Leitung ist und demjenigen, was die einzelnen Anthroposophen sind. So meine ich, daß es schon dahin kommt, daß sich die Dinge machen. Ich denke ja, daß Sie sich «sympathisch» ausgesprochen haben zu dem, was früher war! Ich glaube, es wird schon gehen, wenn nicht auf der andern Seite das vorkommt, daß die Leute sich zusammentun, und wenn der Dornacher Vorstand nur «mau» sagt, dann erklären: Wir lassen uns von da nichts sagen, denn das ist gegen die Demokratie. - Das reduziert sich schon selber auf das Richtige, wenn man es nur nicht in die Statuten hineinschreibt. Sobald man es in Statuten hineinschreibt, dann ist die Sache gefährlich. Sogar
#SE260a-459
das Regieren geht am besten dann, wenn man kein Wesen daraus macht, wenn man vor allen Dingen die Regierungsgrundsätze nicht aufschreibt. In dieser Beziehung ist ja die Tinte etwas ganz Greuliches. Tintenlos die Sache miteinander zu machen, ganz tintenlos, das ist eigentlich dasjenige, was mir bei der Abfassung der Statuten vorgeschwebt hat. Und wenn wir, so ungeschwärzt durch die Tinte, fortkommen wollen, ich glaube, dann könnten wir es sogar im Schwarzbubenland dazu bringen, daß man sagt: Das nimmt sich ja ganz weiß aus. - Das wird so gehen, aber wir müssen uns nur verstehen. Daß wir uns gegenseitig verstehen, darauf kommt viel mehr an, als auf das Fabrizieren irgendwelcher Paragraphen.
Herr Geering-Christ stellt eine Anfrage über die Aufnahme von Mitgliedern.
Dr. Steiner: Ich stelle mir das so vor: Zunächst hat man ja Vertrauen zu denen, die in den Zweigen so etwas besorgen. Und es wird der Vorstand, wenn er ein Veto einzulegen hat, das in der Weise einlegen können, daß er eine Rückfrage stellt, bevor er das Diplom ausstellt. Das wird im allgemeinen nun so sein. Wir haben uns diese Frage im Vorstand vorgelegt in den verschiedensten Nuancen. Und ich denke da an Fälle, wo es vorkommen kann, daß da oder dort ein Zweig ist, der selber die Verantwortung für irgendein Mitglied nicht übernehmen will, da fängt er an, von sich aus, sich mit dem Vorstand zu verständigen. Wir haben sogar die Frage erwogen, wenn irgendwo in Rumänien oder Bulgarien ein fremder Mensch uns schreibt, er wolle Mitglied der Gesellschaft werden, wie werden wir uns dann verhalten? Zunächst wollen wir uns von ihm einen Brief schreiben lassen und wollen den Brief sorgfältig studieren, wollen uns dann weitertasten, ob wir irgend etwas aus dem Briefe zunächst erfahren können und dergleichen. Ich glaube, diese Dinge werden sich, wenn wir sie nicht einschachteln, am allerleichtesten erledigen. Der Vorstand wird die Einsicht haben, daß keinem Zweig ein Mitglied aufgedrängt werden soll, welches er nicht haben will, und dergleichen. Mit gegenseitiger Einsicht wird es eben gehen. Es wird ja notwendig machen, daß wir darin etwas weiterkommen, diese gegenseitige Verständigungslust zu entwickeln. Eine wahrhafte
#SE260a-460
Verständigungslust müßte Platz greifen, dann werden wir schon weiterkommen. Sind Sie damit zufrieden?
Herr Thut wünscht, daß die Delegiertenversammlungen hierin 1 Dornach stattfinden sollen, nicht an irgendeinem Ort. Ganz abgesehen von den geistigen Gründen liegen ja auch viele praktische vor.
Dr. Steiner: Ich denke, wir lassen auch das offen und besprechen am Ende einer jeden Delegiertenversammlung, ob wir die nächste Versammlung hier abhalten wollen, damit nach dieser Richtung auch Freiheit herrscht. Vielleicht können wir gleich die Frage beantworten. Wer wünscht, daß die nächste Delegiertenversammlung hier in Dornach abgehalten wird? - Wer ist dagegen? Es ist angenommen gegen eine Stimme, daß die Veranstaltung in Dornach abgehalten wird.
Herr Metzener findet die Abstimmung nicht ganz gerecht, weil nicht alle Mitglieder da sind und so es etwas einseitig wäre.
Dr. Steiner: Aber es sind nicht bloß Delegierte anwesend. In diesem Falle werden wir ja immer sein. Meinetwillen, wir können auch in diesem Falle die Delegierten abstimmen lassen. Ich bitte also diejenigen, die dafür sind, daß die nächste Versammlung in Dornach stattfinden soll, die Hand zu erheben. - Ich bitte um die Gegenprobe. - Das Abstimmungsresultat ist das gleiche. Wenn niemand außerdem noch etwas zu bemerken hat, dann würde ich vielleicht diese Versammlung beschließen und bitte nun noch hierzubleiben die Mitglieder des Vorstandes des Schweizerischen Schulvereins, und dazu bitte ich noch die Delegierten, die heute anwesend sind. Ich danke den Anwesenden für ihre Aufmerksamkeit.
#SE260a-461
#TI
SITZUNG DES SCHULVEREINES FÜR FREIES ERZIEHUNGS
UND UNTERRICHTSWESEN IN DER SCHWEIZ
Dornach, 16. März 1914
#TX
Dr. Steiner: Die heutige Versammlung haben wir ja eigentlich des-halb hierher gebeten, weil uns von unseren Berner Freunden die Bedenken mitgeteilt worden sind, die in der Schweiz bestehen könnten gegen den Namen des Schulvereins, wie er jetzt ihn trägt. Der Schulverein heißt ja: Schulverein für freies Erziehungs- und Unterrichtswesen in der Schweiz.
Nun ist die Sache so - und ich kann durchaus diese Bedenken einsehen und teilen -, daß ja niemand in der Schweiz das Bewußtsein hat, daß das Schulwesen als solches unter irgendeiner Unfreiheit leide, und daß man Anstoß nimmt an dieser Bezeichnung. Wir sollten daher dem Schulverein einen Namen geben, der möglichst unverfänglich ist, an dem möglichst in der schweizerischen Außenwelt kein Anstoß genommen wird. In der Schweiz ist man ja frei, und in die Schweiz Freiheit hineinzutragen, denken die Leute in der Schweiz, das hieße Eulen nach Athen tragen. Das geht eben nicht. Daher ist es eine Beleidigung, zu sagen: Schulverein für freies Erziehungs- und Unterrichtswesen. Auf der andern Seite ist es natürlich schwer, einen Namen zu finden. Aber vielleicht äußern Sie sich zu der Sache.
Es äußern sich Dr. Blümel, Dr. Lagutt, Herr Geering-Christ.
Dr. Steiner: Ich glaube, da würden wir die Berner mißverstehen, wenn wir es so auffassen. Der Tenor der Sache liegt nicht darinnen, sondern darinnen, daß man in der Schweiz weniger als anderswo geneigt ist, sich direkt gegen die Staatsschule als solche zu stellen. Es ist in all den Ländern, in denen bisher von unserem Waldorfschul-Prinzip geredet worden ist, eine größere Geneigtheit vorhanden, sich einzustellen auf vom Staate unabhängige Schulen als hier in der Schweiz, wo man eigentlich die Meinung hat, ganz abgesehen jetzt vom Methodischen und so weiter: die Tatsache, daß die Schulen Staatsschulen sind, ist das Allerbeste. Wir werden uns, glaube ich, wenn auch nicht gerade zu Feinden,
#SE260a-462
aber uns zu bedenklich anzusehenden Leuten für diejenigen machen, die uns sonst hier in der Schweiz in bezug auf das Allgemeine unserer Sache entgegenkommen, wenn wir irgendwie das zum Ausdruck brin-gen, daß wir eigentlich gegen die Staatsschule wären. Es handelt sich dabei darum, daß man die Frage, die hier einmal in einer Versammlung des Schulvereins an mich gestellt worden ist, klar herausarbeitet.
Ich sagte dazumal: Das, was eigentlich das Waldorfschul-Pn.nzip will, kann in jeder Schule durchgeführt werden, denn es ist ein methodisches Prinzip. Es ist ein Prinzip der Art und Weise des Unterrichtes. Und wenn nun, wie das zum Beispiel in den verschiedenen Staaten Deutschlands der Fall ist, bei einer großen Anzahl von Leuten die Ansicht besteht, daß man sie in den Staatsschulen nicht durchführen kann, dann nimmt man keinen Anstoß daran, wenn schon im Namen das zum Ausdrucke kommt. Aber hier wird man daran Anstoß nehmen. Und so habe ich die Berner verstanden, daß man gerade daran Anstoß nehmen wird, wenn man sich darauf verlegt: wir wollen vom Staate unabhängige Schulen haben. Deshalb sagte ich dazumal, da wir ja ohnedies in der nächsten Zeit keine Aussicht haben, im großen Maßstabe freie Schulen zu gründen, wir müssen das, was ja wirklich tief wahr ist, hier besonders tief betonen, daß unsere Methodik auch in der Staatsschule durchgeführt werden kann, da sie ja ein Geistiges ist, das im Hintergrunde steht und das überall durchgeführt werden kann, und daß wir zunächst eine, zwei, drei, so viel wir machen können, Musterschulen haben müssen, um zu zeigen, wie man Jas machen kann, schon mit Rücksicht auf die Frage, die dazumal auftauchte.
Deshalb wird es gut sein, wenn wir diese Bedenken - und ich glaube, sie sind nicht bloß in Bern, sie sind fast überall vorhanden - wegräumen wollen, daß wir es schon im Namen zum Ausdrucke bringen: wir wollen nicht die ganze Schweiz mit «freien» Schulen überschwemmen. Das nehmen uns nicht nur die Katholiken krumm, sondern jeder demokratische Schweizer nimmt es krumm, weil er sich das nicht sagen lassen will, daß Staatsschulen unfrei seien.
Fräulein Ramser äußert sich.
Dr. Steiner: Wir haben da das konkrete Beispiel. Bedenken Sie nur,
#SE260a-463
wie begeistert Herr Weber-Gremminger von der Waldorfschul-Pädagogik gesprochen hat, wie begeistert er gesprochen hat! - Aber in dem Augenblicke, wenn wir irgendwie etwas gegen die Staatsschule sagen, fühlte er einen tiefen Gegensatz zu uns. Das ist nur ein Repräsentant zahlreicher Leute, die hier so denken. Und wir haben nicht nötig, dieses herauszufordern, kommt mir vor!
Sehen Sie, ich denke mir, er sagt sich ungefähr so: Wenn man das Waldorfschul-Prinzip nimmt, wie es ist, so ist es ausgezeichnet. Wenn aber sich eine Gesellschaft auftut, die etwas gegen den Staat durchführen will, gehe. ich nicht mit. Wenn es aber möglich wäre, das ganze schweizerische Schulwesen von Staats wegen im Sinne des Waldorfschul-Prinzips einzurichten, dann bin ich der erste, der zustimmt. - So meine ich, ist seine Gesinnung.
Herr Storrer, Herr Hugentobler äußern sich.
Dr. Steiner: Ich glaube, die größte Schwierigkeit wird uns bei alledem der Name selbst bereiten. Wenigstens mir geht es so. Man möchte immer gern einen kurzen Namen haben. Denn, wahr ist es ja, «Name ist Schall und Rauch», aber es muß eben rauchen, wenn es brennen soll, und es hängt dann doch davon ab, daß der Rauch ein gesunder ist. Der Spruch sollte nicht aufgefaßt sein in dem Sinne, daß der Name gar nichts ist