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GA 259

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VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

#G259-1991-SE009 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

#TI

VORBEMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

#TX

«Immer wieder hat die Anthroposophische Gesellschaft vor Schicksalsentscheidungen und vor Wendepunkten ihres Werdens gestanden» (Ma­rie Steiner). Sie war nicht nur äußeren Angriffen ausgesetzt - sowohl durch die von der Theosophical Society ausgegangene orientalisierende Richtung als auch durch die Vertreter der materialistischen Wissenschaft und der Bekenntniskirchen -, sondern sie hatte auch innere Krisen zu bewältigen. Im Zusammenhang mit einer solchen inneren Krise begann Marie Steiner Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre Vorträge und Proto­kolle zur Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft zu veröffent­lichen, geleitet von der Einsicht, daß aus der Kenntnis der Geschichte soziale Qualitäten für gegenwärtiges und zukünftiges Wirken erbildet werden können. So gab sie 1943 unter dem Titel «Rudolf Steiner und die Zivilisationsaufgaben der Anthroposophie - Ein Rückblick auf das Jahr 1923» eine Dokumentation heraus über die das ganze Jahr 1923 bestim­menden Bemühungen Rudolf Steiners, die Anthroposophische Gesell­schaft auf eine neue Grundlage zu stellen. Das Erscheinen dieses Bandes wurde von ihr damals im Nachrichtenblatt «Was in der Anthroposophi­schen Gesellschaft vorgeht - Nachrichten für deren Mitglieder» (Jg. 1943, Nr.49 vom 5. Dezember 1943) wie folgt angekündigt: ... . Einer Pflicht der Pietät Rechnung tragend und im Bewußtsein der hohen Bedeutung aller von Dr. Steiner an die Mitglieder gerichteten Ansprachen, wird ... ein Werk erscheinen, das uns Dr. Steiners Stellungnahme zu den Ereignis-sen des so bedeutenden Jahres 1923 in seinen eigenen Worten vermittelt. Ein seine Ansprachen mannigfaltigster Art verbindender erzählender Be­richt ist von mir geschrieben.» Einige Jahre später (1947) veröffentlichte sie weitere Protokollaufzeichnungen von Sitzungen mit Rudolf Steiner im Jahre 1923 unter dem Titel: «Studienmaterial aus den Sitzungen des Dreißigerkreises Stuttgart 1923». In ihren Vorbemerkungen dazu heißt es: «Dieses aus unvollkommenen Nachschriften und Notizen zusammen­gestellte Arbeitsmaterial kann in der Zukunft noch Ergänzungen und Vervollständigungen erfahren.»

Für die vorliegende Publikation innerhalb der Rudolf Steiner Gesamtausgabe wurden diese beiden Veröffentlichungen Marie Steiners zu einem Ganzen vereinigt und um die von ihr angekündigten Ergänzungen erwei­tert. Da diese ziemlich umfangreich sind, bedingte dies eine völlige Neugestaltung,

#SE259-010

insbesondere für Marie Steiners Herausgabe «Rudolf Steiner und die Zivilisationsaufgaben der Anthroposophie - Ein Rückblick auf das Jahr 1923». Die in ihrem «erzählenden Bericht» eingebetteten Wort-laute Rudolf Steiners aus Vorträgen, Ansprachen, Versammlungsproto­kollen etc. wurden herausgenommen und mit dem ganzen neu dazuge­kommenen Material in zwei Teile gegliedert, die in sich wiederum chro­nologisch geordnet sind. Marie Steiners «Rückblick», nunmehr ohne Wortlaute Rudolf Steiners, bildet den ersten Teil. Er vermittelt jetzt einen gerafften Überblick über die Aktivitäten und Reisen Rudolf Steiners während des Jahres 1923, so wie sie von Marie Steiner an der Seite Rudolf Steiners miterlebt worden sind. In bezug auf Publikationsangaben wurde er auf den neuesten Stand der Gesamtausgabe gebracht. Aber auch die von ihr herausgegebenen Protokollaufzeichnungen « Studienmaterial aus den Sitzungen des Dreißigerkreises 1923» mußten aufgegliedert werden. In Teil II finden sich diejenigen, die anthroposophische Arbeitsfragen behandeln; in Teil III diejenigen, die sich auf die Neugestaltung der deutschen Gesellschaftsfortn beziehen; wiederum jene, die mit der Affaire der deutschen Wochenschrift «Anthroposophie» zusammenhängen, fin­den sich in dem betreffenden Teil des Anhanges.

Da Marie Steiner alles, was von Rudolf Steiner im Hinblick auf die Gesellschaft vorliegt, als aktuell bleibenden Schulungsstoff für die Bil­dung anthroposophischen Gemeinschaftsbewußtseins wertete, wollte sie es als einen Teil des Gesamtwerkes behandelt wissen, auch wenn des öfteren nur unvollkommene Nachschriften oder sogar nur Notizen erhal­ten geblieben sind. Darüber heißt es in ihren Richtlinien für die Heraus­gabe von Rudolf Steiners Werk («Welches sind die Aufgaben des Nach­laßvereins?», 1945, heute in «Marie Steiner: Briefe und Dokumente», Dornach 1981):

... . Aber es gibt noch anderes Material als jene rein geistige, die Bewe­gung tragende Substanz, und das bezieht sich auf die Geschichte der Gesellschaft und ihre Kämpfe Man kann daraus ersehen, was für Aufgaben - die leider nicht aus tröstender geistiger Substanz bestehen -ihrer Erledigung noch harren.... Es gibt endlose Aktenmappen über die Geschehnisse innerhalb der Gesellschaft, Stöße von Korrespondenzen darüber. Alles zum Beispiel, was im Zusammenhang steht mit der Loslö­sung der Anthroposophischen aus der Theosophischen Gesellschaft, mit den Umtrieben von seiten des usw. usw. Nicht wenige Krisen gab es. So glatt ging es nicht, wie es manche vielleicht gern gewünscht hätten. Es war ein ständiges Ringen. Dieses Ringen war aber die notwendige Erziehung zu Erkenntniskräften, denn nur aus Schmerzen

#SE259-011

entsteht Erkenntnis. Und nichts ist schwerer als eine Erziehung zu Gemeinschaftsbewußtsein... Und wieviel Erzieherisches liegt in dem Notizenmaterial der in der Waldorfschule gehaltenen Lehrerkonferen­zen! [GA 300/1-3] Wieviel gesellschaftlich Erzieherisches in dem noch schlechteren des sogenannten Dreißigerkreises von Stuttgart [im vorlie­genden Band]. All das gehört zur Historie und zur Gewissenseinkehr. ... Alles, was zusammenhängt mit der Gegnerschaft von seiten der Außen­welt, die da gegipfelt hat im Brand des Goetheanum, im gewaltsam erzwungenen Abbruch der öffentlichen Vortragstätigkeit Dr. Steiners, endlich in seiner Todeserkrankung - auch das gehört zur Geschichte der Gesellschaft und müßte einmal sachgemäß und aus der nötigen Distanz, aber eindrücklich behandelt werden . . . »

Für eine solche künftige Geschichtsdarstellung liegt inzwischen in der Reihe der Gesamtausgabe «Schriften und Vorträge zur Geschichte der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft» der größte Teil der dokumentarischen Unterlagen vor. Einen weiteren wesentlichen Teil bil­det die hier vorgelegte Dokumentation des in der Geschichte der Anthro­posophischen Gesellschaft so bedeutsamen Jahres 1923, das von zahl­reichen Krisen und Schwierigkeiten geprägt war, wie sie eine Gemein­schaft, die um höhere Bewußtseinsformen ringt, notwendig mit sich bringen muß.

Wie Dokumente für das Geschichtsverständnis ganz allgemein zu gewichten sind, darüber hat sich Rudolf Steiner in einer Konferenz mit den Lehrern der Waldorfschule in Stuttgart, 30. März 1923 (in GA 300/3) mit Bezug auf einen kurz vorher von Dr. W.J. Stein gehaltenen Vortrag über Geschichte so geäußert: ... . Sie haben über Erleben in der Ge­schichte gesprochen. Sie haben mit Hinweis auf Herman Grimm auf Dokumente furchtbar geschimpft - Herman Grimm, der, als er metho­disch gesprochen hat, betont hat, daß man nur so weit Geschichte vortra­gen kann, als Material vorhanden ist. Wenn Sie erzählten, man soll eine Geschichte aufbauen aus dem Inneren und auf die Dokumente verzichten, so tritt der Einwand zutage, was weiß denn der Dr. Stein aus seiner ganzen Geschichte, wenn er nicht Geschichte studiert hat. Also, es ist etwas, was in sich selbst zusammenstürzt.... In der Geschichte ist ohne Dokumente nicht das geringste zu machen, wenn man nicht den Gegenpol entwickelt, wenn man nicht zeigt, jedes Dokument hat erst den richtigen Stellenwert, wenn es in der richtigen Weise beleuchtet wird.»

Auch ein richtiges Wirken in und durch die Anthroposophische Ge­sellschaft wollte Rudolf Steiner auf der Kenntnis ihrer Geschichte beru­hend sehen. In der Mitgliederversammlung, die in Stuttgart am 4. September

#SE259-012

1921 stattfand und von etwa 1200 Mitgliedern besucht war- es war die erste Mitgliederversammlung, die seit dem Ausbruch des Krieges im Sommer 1914 wieder abgehalten werden konnte -, forderte er die Anwe­senden auf: «Bitte studieren Sie die Geschichte dieser Bewegung!» Und im Zusammenhang mit den schweren Problemen des Jahres 1923 sagte er in der Sitzung in Stuttgart, 28. Februar 1923 (in diesem Band): «Wenn ich mit jemandem, seien es Gruppen, seien es einzelne, die im Auftrag von Gruppen kommen, verhandle: ja, dann versteht man zunächst nichts von dem, was ich sage . . . aber es ist vorhanden eine unendlich große Aktivität, ein unendlich guter Wille. Alles, was man nicht verstanden hat, wird gleich getan! . . . Aber man muß hineinwachsen in die alte Historie, man muß mit allen Einzelheiten bekannt werden!»

Hella Wiesberger

I Ein Rückblick auf das Jahr 1923 und die ihm vorangegangenen Ereignisse von Marie Steiner (1943)

#G259-1991-SE013 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

#TI

I

Ein Rückblick auf das Jahr 1923

und die ihm vorangegangenen Ereignisse

von Marie Steiner

(1943)

Bemerkung des Herausgebers

Die im folgenden Text ursprünglich wiedergegebenen Passagen aus Wortlauten Rudolf Steiners finden sich in diesem Band an den durch Seitenverweise ange­gebenen Stellen.

#SE259-015

EIN RÜCKBLICK AUF DAS JAHR 1923

UND DIE IHM VORANGEGANGENEN EREIGNISSE

#TX

Der Zusammenbruch Deutschlands nach dem Weltkriege hatte sich schicksalhaft ausgewirkt. Revolution, Putsche, Verarmung und Hun­ger, Ausbeutung durch gewissenlose Ausnutzer von Konjunkturen:

alles das spielte wild durcheinander. Es drohte das vollständige Chaos. Da ballten sich die Kräfte des Volkes zusammen. Und während die

einen Rettung suchten in der gewaltsamen Aufpeitschung des nationa­len und Rassen-Empfindens, auf diesem Wege die künftige Uberwin­dung des äußeren und inneren Feindes erhoffend, strebten andere darnach, den Idealismus des Geisteslebens, der einst Deutschlands Größe gewesen war, in einem der Gegenwart angemessenen Sinne wieder aufleuchten zu lassen. Durch die Erkenntnis vom wahren Wesen des Menschen und seiner Bestimmung suchten sie das Kultur-niveau zu heben und auch die sozialen Schäden zu überwinden.

Man war, wenn man wie Rudolf Steiner vor dem Kriege solche Ziele erstrebt hatte, abgeprallt an der Gleichgültigkeit des Bourgeois­tums, an dem Widerstand und sogar dem Hohn der das intellektuelle und das Wirtschaftsleben beherrschenden Kreise. Die wachsende äußere Machtstellung des Reiches, seine Erfolge auf dem Gebiete der Industrie und des Welthandels, befriedigten. Das an der Peripherie sich aufballende Gewitter wurde vielfach übersehen; die von unten her stoßenden Kräfte hatte man zu wenig beachtet; warnende Stimmen waren überhört worden. Jetzt, in der immer mehr um sich greifenden Not und Verzweiflung, hofften einige, daß der Deutsche sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe besinnen und die Wege betreten würde, die ihm von seinen großen Geistern vorgezeichnet worden sind.

Möglichkeiten mußten gefunden werden, um auf den verschieden­sten Gebieten der praktischen und sozialen Betätigung geistige Im­pulse in die Wirklichkeit des Alltags hinüberzuleiten. Es galt vor allem, die Erziehung auf eine gesunde Basis zu stellen, den Volksschul­unterricht der Vertrocknung zu entreißen und in die Lehrerausbil­dung einen frischen Zug zu bringen, den Hochschulbetrieb der Me­chanisierung zu entziehen, in der Heilkunde neue Methoden heraus­zuarbeiten, die von der Kenntnis des Lebendigen mehr als von der des

#SE259-016

Toten ausgehen würden. Theologen traten an Dr. Steiner heran, lech­zend nach Erschließung neuer Quellen der Erkenntnis; Künstler wur­den vom Verlangen gedrängt, in bewußter Weise jenes Unbewußte zu erfassen, das in ihnen rumorte und nach Ausdruck rang. Mit all diesen Wünschen und Problemen kam man zu Rudolf Steiner, Hilfe von ihm erbittend, um das heiß Erstrebte in die Tat überführen zu können.

Er war die warnende Stimme gewesen, die im Beginn des 20.Jahr-hunderts hingewiesen hatte auf die Krankheitssymptome unserer Kul­tur und deren unabwendbare Folgen, die katastrophal sich auswirken müßten, wenn weiter verharrt würde in der Gleichgültigkeit gegen-über den Forderungen des Geistes und in dem alles übertäubenden Drängen nach bloß materiellen Gütern. Wohin dies führte, hatte sich nun in der Katastrophe des Weltkriegs gezeigt. Die alte Ordnung war zusammengestürzt; nun galt es, aus Trümmern Neues aufzubauen.

Die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft fühlten die Verpflichtung, mitzuhelfen an diesem Aufbau. Voll guten Willens und edlen Feuers wollten sie ihren Idealismus in die Waagschale werfen. Sie schöpften Mut in der Begeisterung, die in ihnen entfacht worden war durch das, was Rudolf Steiner im Laufe von nun bald zwei Jahrzehnten ihnen offenbart hatte vom Weltenwesen und der Erden­bestimmung, von den ewigen Gesetzen des Seins und den menschen­umwandelnden Tiefen der Christustat. Sie wollten mit den gewon­nenen Erkenntnissen das praktische Leben befruchten.

Als nächstliegende soziale Verpflichtung erschien die Gründung einer auf der Erkenntnis vom Wesen des Menschen beruhenden Ein­heitsschule. Dr. Steiner übernahm mit Freuden die ihm angetragene Leitung der vom Industriellen Emil Molt zunächst für die Kinder seiner Fabrikarbeiter gegründeten Schule. Ein gründlicher von Dr. Steiner erteilter Lehrerausbildungskursus ging der Eröffnung der in weiten Kreisen des In- und Auslandes bald bekannt gewordenen Waldorfschule voran [siehe GA 293, 294, 295].

In das wirre Getriebe von Räten jeglicher Art auf wirtschaftlichem Gebiet suchte man Ordnung und System zu bringen. Es wurden auf vielfaches Verlangen Vorträge in Arbeiterkreisen gehalten, die starken Zudrang hatten, aber die Wut der Parteiführer entfachten, da ihr Inhalt nicht den marxistischen Theorien und den ausgegebenen Parolen ent­sprach. Aus den Kreisen der akademischen Jugend wurde ein Hoch­schulbund gegründet mit dem Ziele, die totgelaufenen Geleise des

#SE259-017

Universitätsbetriebes in neuen Schwung zu bringen. Eine Anzahl begabter junger Gelehrter schloß sich zusammen, um die Naturwis­senschaft durch die Ergebnisse der Geistesforschung zu befruchten und nach neuen Gesichtspunkten in Laboratorien zu experimentieren. Besondere Beachtung erfuhr die Herstellung von Heilmitteln auf der Grundlage der Erkenntnis kosmischer, im Irdischen sich spiegelnder Gesetzmäßigkeiten. Die erzielten guten Resultate führten zur Grün­dung klinisch-therapeutischer Institute in Stuttgart und Arlesheim, die von mehreren anthroposophischen Ärzten betreut wurden, und später zu ähnlichen Gründungen in anderen Ländern. Schöne Erfolge wurden erzielt auf dem Gebiete der Herstellung von Pflanzenfarben durch Herausarbeitung der ihnen innewohnenden intensiven Leucht­kraft. Es entstanden wirtschaftliche Zusammenschlüsse der in der Industrie tätigen Mitglieder, um dem ins Auge gefaßten Ideal der Assoziation mit tastenden Schritten näher zu treten. Unter anderm lag auch die Hoffnung vor, durch diese Zusammenlegung von Betrieben mehr Mittel flüssig zu machen, um die oben erwähnten, der Wissen­schaft dienenden Gründungen zu finanzieren. Dr. Steiner fühlte sich, auch wenn manche Bedenken in bezug auf das Gelingen sich bei ihm einstellten, verpflichtet, die in der praktischen Arbeit gereiften Män­ner in diesen Fragen gewähren zu lassen, da man ihm sonst hätte vorwerfen können, die notwendige Grundlage für die materielle Si­cherstellung der neuen Unternehmungen verhindert zu haben; doch verursachte ihm gerade diese Seite der Sache schwere Sorgen.

Und hier war es, wo die Schwierigkeiten sich bald einstellten, ja bergehoch auftürmten. Die Praktiker erwiesen sich als zu sehr befan­gen in den Denkgewohnheiten der Gegenwart, um den ihnen entge­gentretenden Widerständen und der Bekämpfung seitens routinierter Gegner gewachsen zu sein. Es erlahmten manche Kräfte, als die erste Begeisterung sich wandeln mußte in den mühsamen Frondienst des Alltags inmitten kompliziertester äußerer Verhältnisse. Es war die Zeit der Inflation, der feindlichen Okkupationen, der unter wechselnden Bezeichnungen immer wieder auftretenden Opfersteuern jeglicher Art, der Parteikämpfe und der mit ihnen verbundenen gehässigen Verfolgungen Andersdenkender. Immer mehr mußte sich Dr. Steiner den in den Betrieben entstandenen Komplikationen widmen, mit de­nen die dort führenden Persönlichkeiten nicht fertig wurden. Und leider gab es auch immer mehr persönliche Differenzen zu schlichten.

#SE259-018

Das Schlimmste war, daß die besten Kräfte dadurch abgezogen waren von der Arbeit für die anthroposophische Bewegung als solche. Die neuen kulturellen Gründungen und die wirtschaftlichen Unter­nehmungen standen nun im Vordergrunde des Interesses der damit Belasteten, und es fehlte das energische Eintreten für die Lebensbedin­gungen der Gesellschaft, es fehlte Einheitlichkeit in der Führung; auch da begannen Sonderinteressen sich geltend zu machen. Die Peripherie aber war mit Stuttgart unzufrieden. Und die auf ihre Gescheitheit stark pochende und nun herandrängende Jugend suchte vor allem ihren neuen Gemeinschaftssinn dadurch zu bekunden, daß sie kriti­sierte und rebellierte. Dr. Steiner mußte inmitten dieser Wirren mit aller Schärfe sich wenden gegen das, was damals System von Stuttgart genannt wurde; immer öfter mußte er nach Stuttgart reisen, um zu versuchen, die Dinge dort in Ordnung zu bringen. Es war für ihn eine Zeit unsäglicher Mühen und Leiden - man kann wohl sagen: ein Martyrium.

Einige Jahre waren nun vergangen inmitten solcher Arbeit und Sorgen, und manche Hoffnung hatte zu Grabe getragen werden müs­sen. Harmonische Zusammenarbeit hätte manches ausgleichen kön­nen, wo Charakterstärke und Ausdauer des einzelnen nicht ausreich­ten. Aber es hatten sich schroffe Gegensätze eingestellt, die Charak­tere hatten nicht zueinandergefunden, und in der Gesellschaft herrschte das Cliquenwesen. Dr. Steiner war gezwungen, mit allem Ernst eine Änderung dieser Gesinnung und Methoden zu verlangen, damit das Persönliche hintan gestellt und das getan würde, was für die Konsolidierung der Gesellschaft notwendig war; sonst sähe er sich genötigt, ganz andere Wege einzuschlagen, um die Bewegung nicht durch die Gesellschaft von Grund aus schädigen zu lassen.

Den Zusammenklang zwischen stark divergierenden Temperamen­ten zu erreichen war die schwerste Aufgabe: unermüdlich versuchte Dr. Steiner die Spannungen zu überbrücken und Einsicht für diese Notwendigkeit zu wecken.

Wir leben im Zeitalter der ausgeprägten persönlichen Eigenart, der mannigfaltigsten Differenzierungen. Und da, wo stärkste Überzeu­gungen die Seelen ergriffen haben, ist es vielleicht am mühsamsten, den Ausgleich zwischen den auftretenden Gegensätzen zu finden. Man muß einen sehr hohen Grad von Achtung für den anderen Menschen, von innerer Duldsamkeit erreicht haben, um dort Einklang zu erzielen,

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wo fest konturierte Gedanken der einzelnen in Widerspruch zueinander treten und schon «der Wille sich im Wahn verhärtet». Die Geschichte der Kirche beweist, mit welcher Unnachgiebigkeit entge­gengesetzte Meinungen sich gegenübertreten können, wie bald fanati­scher Eifer an die Stelle der inneren Toleranz treten kann. Dr. Steiner läßt in seinem Mysteriendrama «Die Prüfung der Seele» den jungen Bergmann sagen:

. . . Es ist dir noch verborgen,

Wie zwingend sich Gedankenkraft erweist,

Wenn sie des Menschen Seele ganz ergreift . . .

Gedanke wendet von Gedanke sich. - -

Ich fühle seine Macht in meiner Seele,

Sich ihr zu widersetzen, wäre mir

Des eignen Wesens wahrer Geistestod.

Damit soll nur hingewiesen sein auf manches sonst Unbegreifliche in der Geschichte der Kirche und überhaupt der religiösen Bewegun­gen. Doch ging es dazumal in Stuttgart nicht um Glaubensdinge. Vielmehr handelte es sich darum, zueinanderzufinden, um das Ideal zu verwirklichen, das in den Worten ausgedrückt ist:

Wenn vieler Menschen Worte

In solcher Art sich vor die Seele stellen,

Dann ist's, als ob

Geheimnisvoll dazwischen stünde

Des Menschen volles Urbild;

Es zeigt in vielen Seelen sich

Gegliedert, wie das Eine Licht

Im Regenbogen sich

In vielen Farbenarten offenbart.

Die Seelen mußten lernen in Güte zueinanderzufinden; das Recht­haberische und Überhebliche im eigenen Wesen mußte erkannt wer­den, damit es aus freiem Willen überwunden werde. Innerlich Unwah­res und Machtbegehrendes im eigenen Innern mußte eingesehen wer­den, um scheinbar berechtigten Ansprüchen entsagen zu können. Auch zu dieser Selbstbesinnung rief Dr. Steiner die Seelen auf, damit der machtvolle geistige Impuls, der hinter der anthroposophischen Bewegung steht, nicht zerschelle an dem, was ja auch am besten mit Worten Dr. Steiners charakterisiert werden kann:

#SE259-020

Wer durch die Gnade hoher Geistesmächte

Die Blicke werfen darf in Menschenseelen,

Der schaut die Feinde, die, in ihnen selbst,

Sich ihrem eigenen Wesen widersetzen.

Der Kampf, den unsre Gegner uns bereiten,

Ist nur ein Bild des großen Krieges,

Den eine Macht im Herzen unaufhörlich

Aus Feindschaft gegen andre führen muß.

Diese Mächte durchtoben auch heute noch mit ihren brennenden Gluten die Seelen; sie entfachen die Katastrophen: sowohl jene des Menschen-Innern, die dann das soziale Gemeinschaftsstreben zerstö­ren, als auch jene des geschichtlichen Verlaufs. Sie aufzuspüren, selbst in den geheimsten Falten der Seele, in denen sie sich verstecken, ist die Aufgabe des die Bewußtseinskräfte entwickelnden modernen Men­schen, der neben der Selbsterkenntnis nun auch ein Gemeinschaftsbe­wußtsein ausbilden soll. Dazu bedarf es neben der Lampe des Philo­sophen und der Sonde des Chirurgen auch des ins Gewissen schlagen­den Blitzstrahls des Cherubs. Reiche Fülle des Lichtes zur Erbildung einer solchen Selbsterkenntnis, die bis zur Ausgestaltung eines wachen Gemeinschaftsbewußtseins führt, hat Rudolf Steiner in steter Für­sorge uns immer wieder gegeben. Und auch der verheerende Blitz eines gewaltigen Schicksalschlages traf unser Gemeinwesen. 1923 wurde zum Jahre schwerster Prüfung. Durch den Brand verloren wir das weithin sichtbare Wahrzeichen unseres geisteswissenschaftlichen und künstlerischen Wirkens, den Goetheanum-Bau. Doch dieser Ka­tastrophe gingen jene Diskrepanzen voran, die das Auseinanderstre­ben der Kräfte bekundeten, welche in ihrer Geschlossenheit wohl auch eine geistige Schutzwehr gebildet hätten. Zuviel Sonderinteressen hat­ten sich geltend gemacht. Schon 1921 und 1922 war das sichtbar geworden. Dr. Steiner selbst hat diese bedauerliche Erscheinung mit den Worten bezeichnet: die Töchterbewegungen vergaßen die Mut­terbewegung, aus welcher sie ihre Kräfte geschöpft hatten. Sie entzo­gen sich ihr innerlich, indem sie sich auf die Interessen ihres speziellen Wirkungskreises zu ausschließlich konzentrierten, und schädigten sie, indem sie vielfach - trotz gegebenen Versprechens, dies nicht zu tun, weil andere Möglichkeiten vorhanden seien - die finanzielle Unter­stützung sich bei den verarmten Anthroposophen holten, so der Gesellschaft die nur sehr spärlich vorhandenen Mittel entziehend.

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Dr. Steiner erkannte es als eine Notwendigkeit, die ihm allmählich immer mehr aufgedrungenen Bürden und Verantwortungen, die nicht direkt mit der anthroposophischen Bewegung zusammenhingen, zu­rückzuweisen, um diese vor der Zerklüftung zu retten. In einem Aufsatz, der 1923 im «Goetheanum» erschienen ist, legt er in kurzer und sachlicher Weise die Gründe dafür dar [siehe S. 144].

Aus den Reihen der anthroposophischen Jugend, die neben einem schönen Eifer natürlicherweise auch manche Unüberlegtheit und Un­geschicklichkeit zutage förderte, hatte sich inzwischen ein akademi­scher Hochschulbund herausgebildet, welcher in der Professorenwelt ärgste Feindschaften hervorrief. Die Gegner der verschiedensten La­ger und Schattierungen, die politischen, die kirchlichen, die weltan­schaulichen, die rückständigen okkulten Strömungen Angehörenden, ballten sich zu einer wohlorganisierten feindlichen Macht zusammen, welche die Ausrottung und Vernichtung der anthroposophischen Be­wegung zu ihrem Ziel hatte. Nicht waren es mehr einzelne giftsprü­hende Hasser, deren Wut in sich selbst vor der Wahrheit hätte allmäh­lich verrauchen müssen: es entstanden mächtige, organisierte Parteien mit weitausgedehnter Hetzpropaganda.

Dr. Steiner mußte die Mitglieder darauf aufmerksam machen, in wie starkem Maße diese Dinge mit den begangenen Fehlern zusam­menhingen. So wie er immer alle ihm entgegentretenden Leistungen warm und herzlich gelobt, jeden Opfermut dankend anerkannt und hervorgehoben hatte, so mußte er jetzt, um das Bewußtsein der Ver­fehlungen wachzurufen, dezidiert, scheinbar hart auftreten und For­derungen für die Konsolidierung der Gesellschaft stellen. Schon An­fang Dezember 1922 hatte er ein entscheidendes Wort nach dieser Richtung gesprochen und zugleich einem Stuttgarter Vorstandsmit­glied einen Auftrag für seine Kollegen erteilt, dessen gewissenhafte Durchführung ihm besonders am Herzen lag - der aber nicht ausge­führt, der ignoriert, übersehen, vielleicht verschlafen wurde . . . man findet nicht recht die Bezeichnung für dieses Versagen -, es scheint nicht bis zum Bewußtsein desjenigen gedrungen zu sein, der den Auftrag erhielt.[*] Dr. Steiner aber, welcher sich der Arbeit in Dor­nach widmen mußte, wartete auf das Resultat dieses seines gegebenen Auftrags. Bei seinem nächsten Besuch in Stuttgart stand er vor einer

- - -

[*] Siehe hierzu die Fußnote auf Seite 201.

#SE259-022

dadurch gegebenen unerwarteten und verworrenen Situation. In man­chen später gehaltenen Ansprachen nimmt er bedauernd darauf Bezug [siehe S. 201 ff.].

Die unter so schweren Bedingungen und herbem Leid in jener Zeit gesprochenen Worte in ihrem Zusammenhang zu erhalten ist der Zweck dieses Gedächtnisbandes, dem die obigen Ausführungen als Einleitung dienen mögen. Sie wollen ein Verständnis erwecken für die besondere Situation, in die damals die anthroposophische Bewegung gestellt war. Sie vervollständigen das Bild unserer Gesellschaftsent­wicklung, die ja keineswegs nur in glückhafter Weise von den Gaben des Geistes überstrahlt worden ist, die eben auch unter unsäglichen Mühen und harten Kämpfen sich hat durchringen müssen und unter menschlichen Unzulänglichkeiten schwer gelitten hat. Es ware nicht richtig, das zu verschweigen. Auch der Blick auf Irrungen muß dazu dienen, unser Wahrheitsempfinden zu schärfen und zu fördern, vor eitlem Scheinwesen uns zu wahren. Äußerlich mag zusammengestük­kelt erscheinen, was als Schlußworte verschiedener Vorträge hier an­einandergereiht werden soll; doch sie geben ein Bild unseres gesell­schaftlichen Ringens, und es hat einen historischen Wert, diese Etap­pen chronologisch zurückzuverfolgen, vorbei an den Meilensteinen unserer Schicksalsprüfungen und unseres intellektuellen Sündenfalls . Sie weisen hin auf Lebenswirrnisse und karmische Verkettungen und auf die dadurch aufgeworfenen Lebenskonflikte und Probleme. Die Antwort, wie sie Dr. Steiner nur hat geben können, war eine Opfertat ohnegleichen; sie erfolgte in der Weihnachtstagung von 1923 auf 1924 [GA 260]. Nach dieser durch ihn für uns vollzogenen spirituellen Sündenerhebung konnten uns Einblicke gegeben werden in jene ge­waltigen Schicksalszusammenhänge, wie sie in den esoterischen Be­trachtungen von 1924 niedergelegt sind [GA 235-240]. Kosmisches und menschliches Geschehen wird da ineinander verwoben, sie stehen wie im Brennpunkt einer Zeitenwende. Daß wir eine solche erleben, sehen wir an den alles Maß übersteigenden tragischen Ereignissen unserer heutigen Gegenwart, die an Grauen alles geschichtlich Voran­gegangene übertreffen. Die Wogen dieses Geschehens haben auch unser Schiff auf manche Riffe geworfen und in manche Wirbel hinein-gerissen. Noch ist es nicht untergegangen - ein gütiges Schicksal hat es verschont. Werden wir es hindurchsteuern können? Das ist die bange Frage. - Wir werden es, wenn wir auf den Wegen, die Rudolf Steiner

#SE259-023

gewiesen hat, unsere Erkenntniskräfte schärfen, sie durch Weisheit in Liebe umwandeln und zur Tat reifen lassen.

Vom 24. Dezember 1922 bis zum 6. Januar 1923 hielt Dr. Steiner im Anschluß an die so bedeutsamen Vorträge «Die geistige Kommunion der Menschheit» [in GA 219] den Vortragszyklus «Der Entstehungs­moment der Naturwissenschaft in der Weltgeschichte und ihre seithe­rige Entwickelung» [GA 326]. Er war vor allem an die akademische Jugend gerichtet, und diese hatte auch Zutritt zu den Mitgliedervorträ­gen, die im Anschluß an das oben genannte Thema am 1. Januar begannen und das dort Gesagte nach mancher Richtung hin esoterisch vertieften. In der Silvesternacht war die Brandkatastrophe erfolgt: am 1.Januar 1923 war das Goetheanum ein Trümmerhaufen. Keine Pause in der Arbeit trat ein, trotz des Brandunglücks. Nicht eine Veranstal­tung wurde abgesagt. In knappen, schlichten Worten nur berührte Dr. Steiner das tragische Ereignis, den Schmerz, dem ja Worte nicht Aus­druck zu geben vermögen. Auf keinen Vortrag hat er verzichtet, nicht eine Stunde seines gewöhnlichen Wirkens hat er versäumt. Er mußte seine Sorge zwischen Dornach und Stuttgart teilen, mehrmals die Dornacher Arbeit unterbrechen, um immer wieder nach Stuttgart zu reisen. Die Vorträge des 1., 5., 6. und 7. Januar galten dem Thema: Die Not nach dem Christus. Die Erkenntnis-Aufgabe der akademischen Jugend. Die Herzerkenntnis des Menschen [in GA 220]. Am 5.Januar hielt er den seit dem Brande ersten Vortrag an die Bauarbeiter; sie hatten sich alle zum Zeichen der Anteilnahme von ihren Sitzen erho­ben, als er hereintrat - und auch jetzt streifte er das Ereignis nur mit wenigen Worten, hinweisend auf die rohe Hetze, die vorangegangen war, und auf die haßerfüllte Feindschaft, zu der sich die Gegnerschaft verstiegen hatte [siehe S. 70].

Die darauffolgenden Januar-Vorträge, anknüpfend an die Pro­bleme der Zeit und der heutigen Wissenschaft, kommen dem Streben der studierenden Jugend entgegen; sie sind enthalten in dem Band «Lebendiges Naturerkennen. Intellektueller Sündenfall und spiritu­eIle Sündenerhebung» [GA 220]. Der 2. Februar brachte den Vortrag «Erkenne dich selbst. Das Erleben des Christus im Menschen als Licht, Leben und Liebe»; das Thema des 3. und 4. Februar war «Der Nachtmensch und der Tagesmensch. In das reine Denken kann das Ichwesen hineingeschoben werden» [alle drei in GA 221]. Daran schließen sich Ermahnungen, die im besonderen an die Mitgliedschaft

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der Anthroposophischen Gesellschaft gerichtet sind und auf manches zurückgreifen, was in der Zwischenzeit auch in Stuttgart hatte gespro­chen werden müssen: «Worte des Schmerzes, der Gewissenserfor­schung, Worte zum Bewußtwerden der Verantwortlichkeit» am 23.Januar, und am 30.: «Urteilsbildung auf Grund von Tatsachen. Die zweifache Umschmelzung eines geisteswissenschaftlichen Urteils » [in GA 257]. Der 9. und 10. Februar brachte die Dornacher Vorträge: «Erdenwissen und Himmelserkenntnis. Der Mensch als Bürger des Universums und der Mensch als Erden-Eremit». Daran schloß sich am 11. Februar «Der unsichtbare Mensch in uns. Das der Therapie zu­grundeliegende Pathologische», und am 16., 17. und 18. Februar «Mo­ralische Antriebe und physische Wirksamkeit im Menschenwesen» [alle in GA 221]. Die subtilsten Erkenntnisprobleme wurden behan­delt, indem die Phänomene der Natur und die Tatsachen des Seelenle­bens und des kosmischen Geschehens in ihrem Zusammenhange vor das geistige Auge der Zuhörer traten; das Schicksal derer wurde ge­schildert, die, um die Lösung dieser Probleme ringend, schwer gelitten haben oder an ihnen zerbrachen. Aber anknüpfend daran sprach Dr. Steiner auch jene Worte, die sich auf die durch den Brand neu entstan­dene Situation unserer Bewegung bezogen und auf die Zustände in der Gesellschaft und ihre Lebensbedingungen, auf ihre Aufgaben in der Gegenwart und Zukunft. Oder er schaltete dazwischen episodische Betrachtungen ein, die nur für die Mitglieder bestimmt waren.

Inzwischen waren in Stuttgart in intensiver Weise diese Probleme der Gesellschaft wiederum erörtert worden in den Vorträgen des 6. und 13. Februars [in GA 257]: «Neues Denken und neues Wollen. Die drei Phasen der anthroposophischen Arbeit»; «Anthroposophische Gesellschaftsentwicklung. Das Seelendrama des Anthroposophen». Konsolidierung der Gesellschaft, Selbstbesinnung - war das Mahn-und Weckwort dieser Vorträge: ein Appell an das mutige Wollen.

Das geistige Ziel der Gesellschaft faßte Dr. Steiner zusammen in dem die Dornacher Februar-Serie am 22. abschließenden Vortrag:

«Die Erneuerung der drei großen Ideale der Menschheit: Kunst, Wis­senschaft und Religion» [in GA 257]. - Über die Betrachtung vorange­hender schwerer Lebensprobleme gießt dieser Vortrag eine feierlich ernste Festesstimmung.

Jetzt aber war es soweit, daß in Stuttgart die inzwischen einberu­fene Delegierten-Versammlung für die Zeit vom 25. bis zum 28. Februar

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1923 erfolgen konnte. Die Resultate jener Verhandlungen dürf­ten genügend bekannt geworden sein durch das für die Mitglieder sogleich veröffentlichte Protokoll und durch den Privatdruck der damals gehaltenen Vorträge Dr. Steiners: «Zwei Vorträge zur Dele­gierten-Versammlung», außerdem berichtete Dr. Steiner selbst dar­über am 2., 3. und 4. März in Dornach [GA 257].

Den schweren gesellschaftlichen, in Stuttgart sich abspielenden Krisen von 1922 war in der Silvesternacht die Brandkatastrophe von Dornach gefolgt. Verfehlungen von innen, das Unglück von außen verlangten ein kraftvolles Erwachen, einen mächtigen Aufschwung der Seelen. Die weckende Kraft dazu geben uns die Worte Rudolf Steiners, wenn wir uns ihnen öffnen, uns nicht scheuen vor der Gewis­senseinkehr, zu der sie auffordern.

Auch in scheinbar unlösbaren Situationen zeigt er uns Wege, die, wenn wir sie mit reinem Herzen und gutem Willen betreten, zu Erweiterungen des Gesichtskreises und zu gesundem gesellschaftli­chem Aufbau führen können. Um diesen in bewußter Wachheit zu vollziehen - organisch lebendig, nicht intellektuell konstruiert -, gibt er uns in den Dornacher Vorträgen 1923 einen umfassenden Überblick über den Werdegang der anthroposophischen Bewegung, über ihre Notwendigkeit innerhalb des Niedergangs der materialistisch einge­stellten Kultur, über die ungeheure Verantwortung, die auf denen liegt, welche berufen worden sind, in ihr zu arbeiten und sie durch­zutragen.

Am 6.Januar sprach er am Schluß einer von den Dornacher Mit­gliedern einberufenen Versammlung, die den Wiederaufbau des Goetheanum ins Auge faßte, das Folgende [siehe S. 73].

#TI

Ergänzungen

zu den im Februar 1923 gehaltenen Vorträgen Dr. Steiners[*]

«Der Wille als tätige Kraft»

#TX

Thema des Vortrags vom 3. Februar: «Der Nachtmensch und der Tagesmensch» war die Bedeutung für das wachende Tagesleben der unbewußt bleibenden Erlebnisse des im Schlafe aus dem physischen Leibe herausgetretenen Ich und Astralleibes. Es wurde, um diese

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[*] Alle genannten Vorträge sind enthalten in GA 221.

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wirksam zu machen, hingewiesen auf den Willen als tätige Kraft. Ein Beispiel wählend, schloß Dr. Steiner mit folgender erläuternden Betrachtung [siehe S. 99].

#TI

Rückblick auf das Werden der Anthroposophischen Gesellschaft.

Schärfung der Verantwortlichkeiten.

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Im zweiten Teil des Vortrages vom 4. Februar «Der Nachtmensch und der Tagesmensch - In das reine Denken kann das Ichwesen hineinge­schoben werden» war gesprochen worden über das Einschlagen des Willens in das innere Seelenleben, damit der Mensch erwache. Darauf beruht ja die Einweihung in der neueren Zeit. Die Theosophische Gesellschaft hat aber alte Einweihungsmethoden in die Gegenwart hinübertragen wollen. Ihr fehlte der historische Überblick und der Sinn für die Wichtigkeit des Zeitbewußtseins. Auf diesen Unterschied legte Dr. Steiner einen besonderen Wert.

Thema des Vortrags vom 9. Februar: «Der Mensch als Bürger des Universums und der Mensch als Erden-Eremit». Anthroposophie muß von einem neuen Leben getragen werden. Die Gesellschaft ist der Entwicklung der Anthroposophie nicht völlig nachgekommen und muß sich entscheiden, ob sie Lebensfähigkeit hat oder nicht. Stand der Verhandlungen in Stuttgart. Das provisorische Komitee [siehe S. 113].

Thema des Vortrags vom 16. Februar war: «Die Auseinanderset­zung von Nietzsches Redlichkeit mit der Unredlichkeit der Zeit». Nietzsche, die repräsentative Persönlichkeit vom letzten Drittel des 19.Jahrhunderts, zerbrach an den Problemen jener Zeit. An ihrer Lösung zu arbeiten, ist die Aufgabe der Anthroposophischen Gesell­schaft. Dies kann nur geschehen durch das Gewinnen konkreter Be­ziehungen der Menschenseele zur geistigen Welt. Eine mächtige Geg­nerschaft lehnt sich dagegen auf. Die Entwicklung der Anthroposo­phischen Gesellschaft hält nicht Schritt mit der anthroposophischen Bewegung. Die Gesellschaft ist zu vergleichen mit einem Gewande, das zu kurz geworden ist. An Nietzsche anknüpfend sagt Dr. Steiner [siehe S. 116].

Das Thema vom 22. Februar war «Die Erneuerung der drei gro­ßen Ideale der Menschheit: Kunst, Wissenschaft und Religion» [in GA 257].

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#TI

Die Stuttgarter Verhandlungen über die Konsolidierung

der Anthroposophischen Gesellschaft

#TX

Das an die Stelle des früheren Zentralvorstandes getretene, provisori­sche Komitee in Stuttgart verfaßte nun einen an die mitteleuropäische Mitgliedschaft gerichteten Aufruf, der die Aufforderung enthielt, aus allen Zweigen und Arbeitsgruppen Vertreter zu einer Delegiertenver­sammlung zu schicken, um mit erwachter Verantwortlichkeit die Lage zu besprechen, in welche die Gesellschaft durch die verschiedenen Gründungen und ihre eigene Inaktivität gekommen war [siehe den Aufruf auf Seite 334].

Der Aufruf fand einen großen Widerhall. In Scharen strömten die Mitglieder herbei. Vom 25. bis zum 28. Februar tagte im großen Saal des Siegle-Hauses in Stuttgart diese denkwürdige Versammlung, in der mit kurzen Pausen bis tief in die Nacht hinein debattiert wurde. Die Vorträge, die Dr. Steiner selbst während der Verhandlungen in Stuttgart gehalten hat [in GA 257], sind nicht eindringlich genug zum Studium zu empfehlen. Lassen wir den Inhalt dieser Nachschriften auf uns wirken, so werden auch wir Wege finden können, um - selbst aus scheinbar unlösbaren Situationen - herauszukommen im Sinne eines organischen Über-uns-Hinauswachsens. Wenn sich auch Situationen nicht in der gleichen Weise wiederholen, aber der Geist, aus dem sie damals gelöst wurden, ist richtungsweisend. Er tritt uns in seiner gradlinigen Strenge, Geschlossenheit und allumfassenden Liebes­wärme, in seiner das Gewissen weckenden Eindringlichkeit in den Ansprachen Rudolf Steiners voll entgegen. In diesem Gedenkbande sollen jene Worte wiedergegeben werden, durch welche Dr. Steiner während der vier Verhandlungstage in Stuttgart, wenn auch selten, so doch manchmal in die allgemeine Diskussion eingegriffen hat.

#TI

Verlauf der Stuttgarter Delegiertentagung

#TX

Am 25. Februar, nach der Begrüßungsansprache durch den Vorsitzen­den der Versammlung, Herrn Leinhas, hielt Dr. Kolisko das Referat über jene ernste Lage der Gesellschaft, in die sie von 1919 an gekom­men war durch die verschiedenen Gründungen; vor allem durch den Bund für die Dreigliederung des sozialen Organismus, den Hochschulbund,

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die Forschungsinstitute und die Bewegung für religiöse Erneuerung. Die führenden Persönlichkeiten der einzelnen Institutio­nen wandten alle Aufmerksamkeit auf die Vertretung ihrer neuen Gründungen, zu denen in dankenswerter Weise auch die Waldorf­schule, das Klinisch-therapeutische Institut und der Kommende Tag gehörten. Aber man kann wohl sagen: Die Muttergesellschaft, aus der die Töchterbewegungen ihre Kraft zogen, wurde vergessen. Man hatte sozusagen kein Herz für sie. Die Aufgaben, die sich für das anthropo­sophische Gemeinschaftsleben ergaben, wurden vernachlässigt. Statt warmer Beziehungen von Mensch zu Mensch entstand allmählich ein nüchterner Bürokratismus; die leitenden Persönlichkeiten in den In­stitutionen standen sich einzeln, ohne gegenseitiges Verständnis ge­genüber. Die Zweigvorstände an der Peripherie wurden nicht genü­gend über die Geschehnisse in der Gesellschaft informiert. Das ist, was man das «Stuttgarter System» genannt hat. Es führte zur Abkapselung und Isolierung; nun muß das aufhören, es soll der Kontakt mit der gesamten Mitgliedschaft wiedergefunden werden. Die Delegierten werden gebeten, von ihrem Gesichtspunkte aus ein Bild über die Lage der Gesellschaft zu geben, und sich nicht zu scheuen, Kritik aus­zuüben.

An diesem ersten Tag meldeten sich sogleich sehr viele zum Wort. Als am zweiten Tage, dem 26. Februar, die Gefahr des Abschweifens von der zentralen Frage immer wieder hervortrat, mußte Dr. Steiner darauf aufmerksam machen, daß man, um das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren, beim eigentlichen Thema bleiben sollte: der Kon­solidierung der Gesellschaft, die sich nun auf sich selbst besinnen müsse und auf ihre Aufgaben. Er sprach das Folgende [siehe S. 376].

Nach einer Geschäftsordnungsdebatte wird der Beschluß gefaßt, die Referate über die einzelnen Institutionen zu hören, da aus deren Begründung die Schwierigkeiten entstanden waren. Dr. Ungers Refe­rat über die Dreigliederungsbewegung des sozialen Organismus weist hin auf den Ausgangspunkt der Schwierigkeiten: die Zweige waren in Beschlag genommen worden für das Wirken im Sinne der Dreigliede­rung; aber die Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft war da­durch weitgehend zerstört worden. Die Folge jenes Wirkens in der Außenwelt war eine ungeheure Gegnerschaft, die sich nun auf die Anthroposophie und Dr. Steiner stürzte. In gutem Sinne gingen aus der Dreigliederungsbewegung hervor die aus sozialem Impuls begründete

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Waldorfschule, das Klinisch-Therapeutische Institut, die wissen­schaftlichen Institute, die Zeitschriften und der «Bund für freies Gei­stesleben» - auch die Bestrebungen des «Kommenden Tages», die freilich auf einen starken Widerstand in der Außenwelt stießen. Für die Gesellschaft gelte es nun, den Impuls zum Sozialen im Innern auszuwirken. In der sozialen Forderung liegt etwas, was mit der Umgestaltung des ganzen Menschen zusammenhängt und stetes Ar­beiten an sich selbst verlangt; für ihre Vertretung nach außen sind die Vorträge, die Dr. Steiner am Wiener Kongreß gehalten hat, als ein Beispiel maßgebend. - An der nun folgenden Diskussion beteiligen sich lebhaft die Proletarier.

Anläßlich des von einem Delegierten gestellten Antrags, man solle doch erst alle Referate anhören, bevor man mit der eben begonnenen Diskussion über das Gehörte fortfahre, bemerkt Dr. Steiner:

«Ich meine, man sollte wirklich darauf Rücksicht nehmen, daß wir zu einem fruchtbaren Ende kommen müssen. Es ist vielleicht tatsäch­lich so - obgleich das nicht gründlich genug betont worden ist-, daß von diesen drei Tagen das Schicksal der Gesellschaft abhängt. Kom­men wir in diesen drei Tagen nicht zu einem Ergebnis, so bleibt nichts anderes übrig, als daß ich mich selbst an jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft wende, damit dies ausgeführt werde. Also, soll innerhalb der Gesellschaft aus ihr heraus eine Reorganisation stattfinden, so muß das in diesen drei Tagen geschehen. Wir sind in einer Anthroposophi­schen Gesellschaft: da hängt alles miteinander zusammen. Sie werden sich am besten ein Urteil bilden können und auch über die Dreigliede­rung reden können, wenn Sie alles gehört haben. Es greift alles inein­ander. Deshalb ist es am praktischsten, wenn Sie die Referate ablaufen lassen und sich ein Gesamtbild machen; dann kann eine fruchtbare Diskussion herauskommen, während so jeder Redner versucht sein wird, über jede Einzelheit zu sprechen - was zur Unfruchtbarkeit führt. Herrn Conrads Antrag ist praktisch: daß wir so schnell wie möglich die Referate ablaufen lassen, damit wir wissen, was in der Gesamtheit vorgegangen ist in Stuttgart.»

Der Antrag Conrad wird angenommen.

In dem Referat des Herrn Emil Leinhas über den «Kommenden Tag» schildert dieser die Entstehung der Aktiengesellschaften als den Versuch, einen Kernpunkt des assoziativen Wirtschaftslebens zu bil­den durch einen Zusammenschluß von Bank, Industrie und Landwirtschaft

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mit wissenschaftlich-geistigen Unternehmungen. Die Durch­führung der Idee im Großen scheiterte an dem mangelnden Ver­ständnis, das ihr von maßgebenden Kreisen des Wirtschaftslebens entgegengebracht wurde.

Es folgen Referate [siehe S. 392 ff.] über die freie Waldorfschule (Dr. Caroline von Heydebrand), über das Klinisch-Therapeutische Institut (Dr. Otto Palmer), das wissenschaftliche Forschungsinstitut (Dr. Rudolf Maier), die wissenschaftliche Bewegung (Dr. Eugen Ko­lisko>, ein Referat über das Verhältnis der Anthroposophie zu der Bewegung für religiöse Erneuerung (Dr. Herbert Hahn), eines über den «Bund für anthroposophische Hochschularbeit» (Dr. W. J. Stein). Die Referate nahmen ihren Fortgang auch am Dienstag, den 27. Fe­bruar. - Der die Verhandlungen einleitenden Ansprache des Vorsit­zenden folgte ein Referat über «Jugendbewegung und Anthroposo­phie» (Ernst Lehrs, Jena) und eines über die Gegnerschaft (Louis Werbeck, Hamburg); auch eines über den «Bund für freies Geistesle­ben» (Dr. Karl Heyer). Für die folgenden Diskussionen mußte die Redezeit auf zehn Minuten beschränkt werden. Einen dazwischen hineingeworfenen Antrag auf Neuwahl des Vorstandes beantwortete Dr. Steiner mit den folgenden Worten:

«Diese Versammlung ist hier zusammengekommen, um über das Schicksal der Gesellschaft zu entscheiden. Und es wäre wirklich not­wendig, daß die einzelnen Teilnehmer sich bewußt werden der Wich­tigkeit des Momentes. Die Anthroposophische Gesellschaft ist ganz gewiß kein Kegelklub. Man kann also unbedingt in der Anthroposo­phischen Gesellschaft nicht, bevor über die Verhältnisse, wie sie nun gegenwärtig sind, eingehend konferiert worden ist, auftreten mit der Prätention: es solle jetzt ein Vorstand gewählt werden. Das kann man in einem Kegelklub, aber nicht in der Anthroposophischen Gesell­schaft, wo vor allen Dingen Kontinuität notwendig ist. Es kann sich nur darum handeln, daß diese Versammlung zu Ende geleitet wird von denjenigen, die die führenden Persönlichkeiten in Stuttgart waren. Wie darüber diskutiert werden kann, in diesem Augenblick besonders, ist mir unverständlich. Wir kommen in ein absolutes Chaos hinein, wenn solche Anträge wie die des Herrn Dr. Toepel in solchem Augen­blicke fallen. Solche Anträge kann man überhaupt nur dann stellen, wenn man die Absicht hat, die ganze Versammlung in die Luft zu sprengen.»

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Der Antrag Dr. Toepel wurde abgelehnt.

Es wird weiter verhandelt über die Probleme der Jugend und des Proletariats bis zum Abend, wo Dr. Steiner den ersten seiner zwei Vorträge über die Bedingungen der «Anthroposophischen Gemein­schaftsbildung» hält. Er liegt im Wortlaut des Stenogramms gedruckt vor [GA 257] und sollte eingehend studiert werden. Besondere Beto­nung wird darin gelegt auf das Verstehen eines anders gearteten ge­meinschaftlichen Elementes, als es in den ursprünglichen menschli­chen Zusammenhängen vorhanden ist durch die Blutsbande zunächst, dann durch die Sprache und durch die Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse. Eine mächtige, Menschen verbindende Beziehung entsteht durch einen gemeinsamen Kultus, wie er nun der Bewegung für reli­giöse Erneuerung gegeben worden ist. Der wahre Kultus vermittelt die Erinnerung an das vorirdische Dasein, auch dann, wenn diese Erinne­rung in den unterbewußten Tiefen der Seele bleibt. Kräfte aus den geistigen Welten werden in den lebendigen Bildern des Kultus hinun­tergetragen; die Kultushandlung ist dann nicht Sinnbild, sondern Kraftträger, weil der Mensch dasjenige vor sich hat, was zu seiner geistigen Umgebung gehört, wenn er nicht im irdischen Leibe ist. Dieses anders Geartete, was die Anthroposophische Gesellschaft als Grundlage zur Gemeinschaftsbildung braucht, liegt darin, daß sie nicht nur das Geheimnis der Sprache und der Erinnerung verstehen muß, welches im Gemeinschaftswesen das Verbindende ist, sondern noch auf etwas anderes im menschlichen Leben schauen muß. Zu diesem Verständnis kann uns ein Vergleichen des träumenden Zustan­des des Menschen mit dem wachen Zustande führen. In der Welt seiner Träume ist der Mensch isoliert, er ist da allein; wacht er auf, so wacht er bis zu einem gewissen Grade in eine menschliche Gemein­schaft hinein schon durch das Wesen seiner Beziehung zur Außen­welt: durch Licht und Ton, durch den Raum in seinen Wärme-Er­scheinungen und dem übrigen Inhalte der Sinnenwelt, durch das Äu­ßere der anderen Menschen, das was ihre Naturseite ist. Aber es gibt noch ein anderes Erwachen; dieses kann erfolgen durch den Ruf des Geistig-Seelischen im andern Menschen. Und hier beginnt das erste Verständnis für die geistige Welt. Wir mögen noch so schöne Bilder in der Isoliertheit des Traumes schauen, mögen Großartiges erleben in diesem isolierten Traum bewußtsein: das wirkliche Verständnis für Anthroposophie beginnt erst, wenn wir am Seelisch-Geistigen des

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andern Menschen erwachen. Und die Kraft zu diesem Erwachen kann erzeugt werden dadurch, daß in einer Menschengemeinschaft spiritu­eller Idealismus gepflegt wird. Wirklicher Idealismus ist dann vorhan­den, wenn - ebenso wie in der Kultusform die geistige Welt in die irdische hinuntergetragen wird - etwas, das der Mensch im Irdischen erkennen und verstehen gelernt hat, nun durch ihn ins Ideal erhoben wird. Er kann es ins Geistig-Übersinnliche erheben, und es wird lebendig, wenn er es in der richtigen Weise durchdringt mit Gemüt und wahrem Willensimpuls. Indem das ganze Innere von solchem Willen durchstrahlt wird, geht der Mensch, indem er die sinnliche Erfahrung idealisiert, den einer Kultushandlung entgegengesetzten Weg. Durch die lebendige Kraft, die er in die Gestaltung der Ideen vom Geistigen hineinlegt, erlebt er etwas Erweckendes, das ein Ge­genbild des Kultus ist: Es wird das Sinnliche ins Übersinnliche hinauf-erhoben. Wir müssen lernen durch unsere Seelenverfassung, mit unse­rem Herzen, eine wirkliche Geistwesenheit anwesend sein zu lassen in dem Raum, in welchem das Wort der Anthroposophie ertönt. Ge­meinsame reale Geistigkeit wird sich dann in die erwachte Seele hin­einsenken; sie muß aber aus den tiefsten Quellen des menschlichen Bewußtseins selbst hervorgerufen werden.

Anthroposophie ist unabhängig von jeder anthroposophischen Ge­sellschaft. Sie kann gefunden werden dadurch, daß Menschen aus dem Erwachen heraus, das sie aneinander erleben, sich zu Gemeinschaften verbinden; dann wollen sie aus spirituellen Gründen zusammenblei­ben. Wenn wir anthroposophische Impulse in voller Klarheit in unsere Herzen gießen, werden wir auch aus dem gegenwärtigen Chaos her­auskommen; sonst kommen wir immer tiefer in die Tragik dieses Chaos hinein. Zwei Menschengruppen in diesem Saale können sich nicht verstehen, aber beide wollen für Anthroposophie eintreten: das ergibt sich als die Realität des gegenwärtigen Zustandes. Da nun keine Möglichkeit sich gezeigt hat, die zwei Menschengruppen in der An­throposophischen Gesellschaft zu einem gegenseitigen Verständnis zu bringen, bleibt nur die eine Lösung übrig: In getrennten Organisatio­nen könnte jede Gruppe auf ihre Art weiterarbeiten. Man könnte sich dann gegenseitig gelten lassen, da man einander nicht mehr im Wege steht, und würde durch diese bloß organisatorische Trennung zur erstrebten Einheit und Brüderlichkeit gelangen können.

Dieser Vorschlag Dr. Steiners rief zunächst die größte Bestürzung

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hervor. Es war schwer, sich in das hineinzufinden, was etwas zu realisieren schien, das man vor allen Dingen befürchtet hatte: Die drohende Spaltung der Anthroposophischen Gesellschaft.

Der Vorsitzende bittet nun, die Diskussion dem anzupassen, was durch den Vortrag Dr. Steiners gegeben worden ist.

Zuerst betont Herr Uehli, daß, wenn er auch nicht mehr als Mit­glied des Zentralvorstandes spreche, er doch Ausdruck geben möchte dem, was er als seine Lebensaufgabe ansieht: in steter Treue und mit festem ehrlichem Wollen weiterzuarbeiten sowohl mit den jungen, neu hinzugetretenen Menschen als auch mit denen, die schon früher da waren und die historisch gewordene Gesellschaft repräsentieren. Er hofft, daß wenn dieser Weg von der Mitgliedschaft beschritten wird, dann auch die seit 1919 gegründeten verschiedenen Institutionen von allen gestützt und zu dem hingetragen werden können, wofür sie nötig sind.

Nach ihm ergreift Dr. Unger das Wort. Es ist nur billig, ihn als den hervorragendsten Repräsentanten der historisch gewordenen An­throposophischen Gesellschaft, der gerade dadurch dem Geltungs­trieb mancher neu Hinzugetretenen im Wege stand, hier persönlich zu Worte kommen zu lassen. Dr. Unger führte das Folgende aus [siehe S. 420].

Als dritter meidet sich Dr. Kolisko zum Wort. Zum Ausdruck bringt er darin den durch den Vorschlag Dr. Steiners in ihm ausgelö­sten Schrecken, fortan in zwei Gruppen in freundschaftlicher Weise miteinander zu arbeiten, statt sich in einer zu bekämpfen [siehe S. 422].

Darauf erwiderte Dr. Steiner: «Ich habe nur eine Bitte: Sie haben gesehen aus dem, was besprochen worden ist, daß wir morgen alle Veranlassung haben, über diejenigen Dinge zu sprechen, die zu einer Art Konsolidierung der Gesellschaft in der einen oder anderen Form führen. Ich sehe keine Notwendigkeit, daß gesprochen wird über solche Dinge, die in Ordnung sind, zum Beispiel das Referat über Eurythmie. Es muß damit begonnen werden, daß der bisherige Zen­tralvorstand seine Ansicht in kurzer Weise darlegt, so daß zu etwas Positivem gekommen werden kann. Ich sehe nicht ein, daß es notwen­dig ist, über die Dinge zu sprechen, die in Ordnung sind. Warum will man die Zeit damit ausfüllen und nicht endlich eingehen auf diejenigen Dinge, die in Ordnung gebracht werden sollen. Auf diese Notwendig­keit möchte ich hinweisen mit der Perspektive, daß ich Sie bitte, heute

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nacht oder morgen etwas zu überlegen und sich zunächst mit dem zu beschäftigen, was nötig ist: umzugestalten oder neuzugestalten.»

Im Namen des Neuner-Vorstandes, der an die Stelle des alten Zentralvorstandes nun getreten ist, gibt Dr. Unger folgende Erklärung ab [siehe S. 429].

Ein Vertreter der Jugendbewegung, Dr. H. Büchenbacher, spricht Dr. Steiner den Dank aus, daß er geholfen hat, eine Lösung zu finden, durch welche die Jugend ihre eigene anthroposophische Entwicklung weiterführen könne, ohne dazu beitragen zu müssen, daß ein Chaos, eine Atomisierung der Gesellschaft entstehe. Noch gestern habe es so ausgesehen, daß die Jugend der Anstoß zu dem war, was die Gesell­schaft in ein Chaos hätte hineinführen können. Nun könnte, neben dem, was als die historisch gewordene Gesellschaft dasteht, in einer gewissen Selbständigkeit ein Neues sich entfalten, was aber auch der ganzen anthroposophischen Bewegung dienen wolle. Nach Dr. Stei­ners Ansicht sei es ja möglich, daß ein und dieselbe Person in beiden Gruppen aktiv drinnen stände - das Alter spiele dabei keine Rolle-, die freundschaftliche Verbindung zwischen beiden Gruppen werde sich ergeben durch die Anthroposophie, und die jetzt so hemmende Opposition würde schwinden.

Dr. Kolisko will nun nicht mehr festhalten an seinen vorher aus­gesprochenen Einwänden, nachdem sich herausgestellt hat, daß die Spaltung keine «Spaltung», sondern eine Gliederung ist.

Auf die Ankündigung des Vorsitzenden hin, daß 55 Wortmeldun­gen und einige schriftliche Mitteilungen vorliegen, wird der Antrag gestellt, über das Programm der Neunerkommission abstimmen zu lassen. Nach einigen Wortäußerungen stimmt die Versammlung dem Programm einstimmig zu. Die Depression sei einem freudigen Gefühl gewichen, seit Dr. Steiner durch seinen Rat aus der Not herausgehol­fen hat. - Ein sogen. taktischer Vorschlag für dieses Zusammenleben zweier Familien unter einem Dach wird noch aus besorgter Seele gemacht: Wenn die drei verschiedenen Richtungen - Kunst, Wissen­schaft und Religion - unbeschadet der eigentlichen Leitung der Zweige mehr vertreten wären, so könnte dies Zusammenleben leichter sein.

Nach Schluß der Vormittagsdiskussion hält Dr. Steiner seinen zweiten Vortrag über die Bedingungen einer Gemeinschaftsbildung in der Anthroposophischen Gesellschaft [in GA 257].

Die nachfolgende Diskussion bewegt sich in der Hauptsache auf

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diesem Gebiet. Daneben finden noch Debatten statt über wissen­schaftliche Probleme und Besprechungen über die eventuelle Grün­dung einer freien Hochschule. Endlich erfolgt der große Augenblick, in welchem der Vorsitzende die Versammlung schließt mit einem Rückblick auf die schweren Sorgen, die den Anlaß zur Berufung dieser Delegiertenzusammenkunft gegeben haben; der Verlauf habe gezeigt, wie begründet diese Sorgen gewesen waren. Er spricht den Zuhörern den Dank aus für die bewiesene ernste Teilnahme an dem Geschick der Gesellschaft. Der tatkräftigen Hilfe Dr. Steiners sei es zu danken, daß man aus dem Chaos herausgekommen sei und mit Zuversicht in die Zukunft blicken könne. Aus der rechten Liebe zum Werke würde die Kraft zum rechten Tun erstehen.

Dr. Steiners Rat war gegeben worden auf Grund dessen, was ihm aus der Versammlung entgegengetreten war, und mit voller Berück­sichtigung dessen, was er als die Sphäre der menschlichen seelischen Freiheit gewahrt und beachtet wissen wollte. Deshalb auch mußten die Verhandlungen, die Auseinandersetzungen so endlos lange dauern, durften nicht jäh abgebrochen werden; sie sollten zur Einsicht führen, nicht zu aufwallenden Emotionen und zu Majoritätsbeschlüssen. In weiser Voraussicht der menschlichen Schwäche, die nur durch wieder­holte neue Ansätze und stete Bereitwilligkeit, den Willen zu läutern und die Irrtümer einzusehen, Unzulänglichkeiten überwindet, hat er das prophetische, aber so selbstverständliche Wort gesprochen: Für einige Jahre würde es nun wieder gehen! Man würde wenigstens nun wieder arbeiten können. - Und mit der ihm gewohnten Energie ging er jetzt, wo man hoffen konnte, daß die Angelegenheiten der Gesell­schaft in Deutschland in die richtigen Bahnen gelenkt würden, an die Arbeit des neuen Aufbaus der internationalen Gesellschaft, dem als Grundlage die einzelnen Landesgesellschaften dienen sollten.

#TI

«Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?»

Weiteres Wirken in der Schweiz und Stuttgart

Reise nach Prag und Norwegen

Die internationale Delegiertentagung in Dornach

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Über die Ereignisse der Stuttgarter Delegiertenversammlung berichtet Dr. Steiner in Dornach am 2., 3. und 4. März [in GA 257].

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Was sonst von Anfang März bis Ende Juni von Dr. Steiner in Dornach gesprochen wurde, trägt uns mit machtvollem Flügelschlag empor, über die Mühen und Schmerzen des Alltags hinaus zu kosmi­schen Weiten, zu den glanzvollen Taten des Geistes, die das geschicht­liche Werden auf Erden überstrahlen und impulsieren und sich spie­geln in dem, was unser Bindeglied ist mit der geistigen Welt: der Kunst. Diese neuen Dornacher Vortragsserien beginnen mit den eso­terischen Betrachtungen über: «Die Impulsierung des weltgeschichtli­chen Geschehens durch geistige Mächte» (11. bis 23. März [GA 222]). Sprache und Musik, sie bringen uns in Beziehung zu den geistigen Mächten, schaffen zwischen Einschlafen und Aufwachen eine Ver­bindung unseres Astralleibes und Ich mit den Hierarchien; ihre Einwirkungen aber auf das irdische Geschehen spiegeln sich in den historischen Ereignissen, die ja Abbilder sind von übersinnlichen Taten.

Eine Reise nach Stuttgart bringt neue Anregungen für die Pädago­gik (25.-29. März); das Gegebene liegt uns vor in den Vorträgen:

«Pädagogik und Kunst», «Pädagogik und Moral» [in GA 304 a]. - Am 31. März begannen in Dornach die esoterischen Betrachtungen über den «Jahreskreislauf und die vier großen Festeszeiten des Jahres» [GA 223], die insbesondere den Auferstehungsgedanken herausarbeiten und am 8. April ihren vorläufigen Abschluß fanden. Am 13. wurde ein weiterer geistiger Höhepunkt erklommen in den Ausführungen über «Die Wiedergewinnung des lebendigen Sprachquells durch den Christus-Impuls» [in GA 224], die den Ausblick auf ein künftiges Michaelfest eröffnen.

Inzwischen war auch Bern besucht worden. Im Zweige dort sprach Dr. Steiner über «Schicksalsgestaltungen in Schlafen und Wachen, uber die Geistigkeit der Sprache und die Gewissensstimme» [in GA 224]. Am S. April hat er im Großratssaal von Bern, am 9. in Basel den öffentlichen Vortrag gehalten: «Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposophie?». Der Text des Basler Vortrages ist enthalten in dem Band gleichen Titels [GA 84].

Nun tritt in Dornach, neben den Arbeitervorträgen und einleiten­den Worten zu öffentlichen Eurythmie-Aufführungen, wieder die Pädagogik in ihre Rechte. Ein Ferienkurs findet statt für Lehrer und pädagogisch Interessierte (14.-22. April): acht Vorträge, die erschie­nen sind unter dem Titel: «Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkt

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anthroposophischer Menschenerkenntnis. Die Erziehung des Kindes und jüngeren Menschen» [GA 306]. Es wurde dabei im speziellen über die Schulführung gesprochen.

Im Anschluß an den Kursus für Lehrer und pädagogisch Interes­sierte hielt Dr. Steiner die anthroposophischen Abendvorträge so, daß sie auch für diejenigen verständlich sein konnten, welche sich erst unlängst zur Anthroposophie eingefunden hatten. Sie geben einen Überblick über das menschliche Leben in seiner Vollständigkeit, in Schlafen und Wachen. Alles, was bisher zusammengetragen worden war von den verschiedensten Seiten her, um das Seelenleben des Men­schen zu beleuchten: wie es aus dumpfem Keimeszustand sich heraus-entwickelt, zum Spiegel wird der in Bildern sich entfaltenden Vorstel­lungen, um sich allmählich in der Denkfähigkeit bewußt zu ergreifen und endlich darin aufzuwachen durch lebendige, innerlich sich re­gende Gedanken - es wird hier umgestaltet zu einer Erkenntnispraxis, zu einer Wissenschaft des über dogmatische Grenzen hinauswachsen-den Seelenlebens. Der Weg ist genau charakterisiert, der jedem einzel­nen durch methodisches Üben von innen heraus die Möglichkeit geben kann, wenn er nur will, das Passive des sich spiegelnden Den­kens zu überwinden, es zu aktiver Regsamkeit umzugestalten. Und das ist etwas, was nicht nur der Philosoph, der Wissenschafter braucht, um den kulturellen Niedergang zu überwinden, sondern vor allem auch der Künstler, wenn er das schöpferische Element ergreifen will, in dem die Kunst wurzelt und allein gedeihen kann. Vor allem auch braucht es der Lebenskünstler, der die Erziehung des werdenden Menschen zu seiner besonderen Aufgabe gemacht hat.

In der Darstellung dieses Erkenntniswegs durch das Wachwerden der Denktätigkeit ist eine lebendige Grundlage gegeben, nicht nur für die Einsicht in die Wesensgliederung des Menschen, sondern auch für sein Hineingestelltsein in die Totalität des Universums. Wie die einzelnen Glieder der Menschennatur zusammenhängen mit den ent­sprechenden Welten des Universums, wird hier von innen heraus geschildert.

Diese fünf Vorträge, die eine wirksame Ergänzung bilden zu den in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und «Die Stu­fen der höheren Erkenntnis» gegebenen Inhalten sind gedruckt in dem Band «Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthropo­sophie?» [GA 84].

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Am 22. April fand die Generalversammlung der schweizerischen Landes gesellschaft statt, während welcher der Beschluß gefaßt wurde, die nötigen äußeren Schritte zu tun, um den Wiederaulbau des Goe­theanum zu sichern [siehe S. 477ff.]. Die innere Möglichkeit dazu war geschaffen worden durch die bewußtseinsweckende und moralisch aufbauende Tätigkeit Rudolf Steiners. Sein unermüdliches Eingehen auf die Bitten der ihn einladenden fernen Zweige hatte jenes verbin­dende Gemeinschaftsgefühl herausgebildet, das die Mitglieder nach Dornach als dem Mittelpunkt ihres geistigen Strebens schauen ließ, an dem sie immer wieder suchen würden sich zu stärken. Im Grunde wuchs die Form der Reorganisation der durch den Weltkrieg ausein­andergerissenen Gesellschaft wie selbstverständlich hervor aus den real vorhandenen Kräften: der überragenden Geistigkeit Rudolf Stei­ners, der damals gegebenen Weltlage und dem Seelenbedürfnis der Mitglieder, auch örtlich an der Stätte selbst jener Kunst, Wissenschaft und Mysterienerkenntnis verbindenden Wirksamkeit einen gemeinsa­men Treffpunkt zu haben. Es galt nur noch von allen vorhandenen Umständen ein klares Bild zu haben, das jedem einzelnen ermöglichte, aus objektiv eingestellter Seelenklarheit heraus den Willen zum Mittun an der menschheitsfördernden Tat zu entwickeln.

Über Stuttgart, das mit seinen vielen Anliegen immer dringlich auf Dr. Steiner wartete, ging es nun nach Prag. Dort waren Verhandlun­gen vorgesehen im Hinblick auf die Gründung einer tschechischen Landesgesellschaft. Neben den öffentlichen Vorträgen über «Die See­lenewigkeit im Lichte der Anthroposophie» (am 27. April) und über «Menschenentwicklung und Menschenerziehung im Lichte der An­throposophie» (am 30. April) [beide in GA 84], neben den einleitenden Worten zur Eurythmie-Aufführung im großen, voll ausverkauften Deutschen Theater (Sonntag-Matinee am 29. April) hielt Dr. Steiner im Zweige die so bedeutenden Auseinandersetzungen über des Men­schen Entwicklung im ersten Kindesalter und der Arbeit der Hierar­chien an ihm im vorgeburtlichen Leben. Diese zwei Vorträge vom 28. und 29. April dringen tief herein in das Geheimnis der Sprache; sie gipfeln in Ausführungen über das Mysterium von Golgatha und sind gedruckt in dem Band: «Die menschliche Seele in ihrem Zusammen­hang mit göttlich-geistigen Individualitäten. Die Verinnerlichung der Jahresfeste» [GA 224]. Ein Stenogramm über die Verhandlungen, welche die Gesellschaftsfragen betreffen, liegt uns nicht vor, wohl aber

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die kurze Ansprache, mit welcher Dr. Steiner auf die ihn begrüßenden Worte der dortigen Freunde antwortete [siehe S. 134].

Am 2. Mai hält Dr. Steiner bereits wieder in Stuttgart seinen für die Sprachgestalter überaus wichtigen Zweigvortrag, der als Broschüre den Titel trägt: «Der individualisierte Logos und die Kunst, aus dem Worte den Geist herauszulösen» [in GA 224]. Am S. Mai, vor seinem eigentlichen Thema «Die geistige Krisis des 19.Jahrhunderts», gibt er in Dornach Bericht über die Arbeitstage von Prag [siehe S. 136].

Anschließend an den Dornacher Bericht über die Arbeitstage in Prag sprach Dr. Steiner auch noch am 6. Mai über die geistige Krisis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts [in GA 225], die von der kritischen Betrachtung über den Roman «Auch Einer» des sogenannten Schwa­ben-Vischer, des bekannten Ästhetikers, ausging. Und am 7. Mai, zu Himmelfahrt, erhalten wir als Festesgabe den Vortrag «Der Osterge­danke, die Himmelfahrtsoffenbarung und das Pfingstgeheimnis» [in GA 224]. Der Festbetrachtung folgte noch am 7. und 9. Mai ein Arbeitervortrag [in GA 349]. Als Kuriosum wirken, wenn man sie in der Rückschau betrachtet, aber vielleicht doch bezeichnend für all die Dinge, denen Dr. Steiner seine Sorgfalt zuteil werden lassen mußte, die Schlußworte des Vortrages für Mitglieder, die sich auf den Wächterdienst jener beziehen, welche seit dem Brande das Amt des Wachens über die uns noch gebliebene Arbeitsstätte übernommen hatten [siehe S. 137].

Kaum eine Woche konnte Dr. Steiner in Dornach wirken, dann gingen wir über Stuttgart und Berlin nach Norwegen.

Der Aufenthalt dort dauerte vom 14. bis zum 21. Mai mit täglich mehreren Veranstaltungen: In Kristiania (Oslo) gibt es zwei halböf­fentliche pädagogische Vorträge; sechs Zweigvorträge, wiedergegeben in der Schrift: «Menschenwesen, Menschenschicksal und Weltent­wicklung» [GA 226]; eine Ansprache im Vidar-Zweige über Gesell­schaftsfragen, anläßlich der vorzunehmenden Gründung der Landes-gesellschaft; zwei Eurythmie-Vorführungen; zwei halböffentliche Vorträge über «Anthroposophie und Kunst. Anthroposophie und Dichtung» [in GA 276]; eine Pfingstbetrachtung: «Weltenpfingsten, die Botschaft der Anthroposophie» [in GA 226] - und anderes mehr. Erwähnt sei bei diesem schnellen Überblick, der die stenographisch festgehaltenen Vorträge rubriziert, daß neben unzähligen Gesprächen mit Besuchern auch manche andere Veranstaltungen in das überfüllte

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Tagesprogramm eingefügt werden mußten. - Die Ansprache Dr. Stei­ners bei der Generalversammlung der Vidargruppe am 17. Mai ist uns erhalten [siehe S. 469].

Über die nordische Reise berichtete Dr. Steiner nur kurz, einleitend seinen ersten Vortrag in Dornach [siehe S. 143], nachdem er, über Berlin und Stuttgart zurückkehrend, am 27. Mai hier eingetroffen war. In Berlin hatte am 23. Mai neben einer Eurythmie-Aufführung ein Zweigvortrag stattgefunden über die Art des Erlebens des Menschen im Schlafe und Wachen, über die Festeszeiten und das Herannahen der Michaelkraft. Gedruckt ist dieser Vortrag unter dem Titel «Die Rätsel des inneren Menschen» [in GA 224]. - Stuttgart hatte seine vielen Sorgen anderer Art, die Dr. Steiner voll beanspruchten.

Und nun sprach Dr. Steiner [in Dornach] über die Eigenart der verschiedenen Kulturepochen in ihrer Verbindung mit Kunst, beson­ders über das alte Griechentum, und über die Urkunst: die Sprache. In den an diesen Vortrag sich schließenden Betrachtungen über «Das Künstlerische in seiner Weltmission, der Genius der Sprache und die Welt des sich offenbarenden strahlenden Scheines» (27. Mai bis 9.Juni [GA 276]) gab er wohl das Tiefste, das Umfassendste, was je über Kunst gesagt worden ist.

Auch die Vorträge für die Arbeiter am Goetheanum sollen erwähnt werden, die von 1922 an immer wieder in Dornach stattfanden. Sie sind von einem ganz eigenartigen bildenden Wert und enthalten die auf Fragen hin gegebenen Ausführungen Dr. Steiners über verschie­dene die Arbeiter interessierende Themata. Sie überraschen durch die Frische und Unmittelbarkeit ihres Tones.

Indessen hatten die Wünsche der auswärtigen Mitglieder, ein zwei­tes Goetheanum aufgerichtet zu sehen, immer festere Gestalt ange­nommen und sich mit den dahingehenden Bestrebungen der Schwei­zer Mitglieder verbunden. Die am 10.Juni in Dornach abgehaltene Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz faßte, anknüpfend an einen Vorschlag, der enthalten war in einem Briefe des 8.Juni «An die Zweige in allen Ländern» von der Anthroposophischen Gesellschaft in Großbritannien, den Beschluß, für Ende Juli eine Versammlung von Delegierten aller Länder nach Dornach zu berufen. Aus diesem gemeinsamen Beschluß sollten der ersehnte Wiederaufbau des Goetheanum und die dazu notwendigen finanziellen Maßnahmen hervorgehen. Den Verhandlungen der Generalversammlung

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der schweizerischen Landesgesellschaft am 10.Juni [siehe S. 512] schlossen sich an die acht Vorträge über «Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewegung im Verhält­nis zur Anthroposophischen Gesellschaft» [GA 258]. Sie dauerten bis zum 17. Juni. Am Morgen des 17. Juni fand die denkwürdige General-Versammlung des Goetheanum-Bauvereins statt, zu welcher Dele­gierte in großer Anzahl herbeigeströmt waren. Die Ansprache Dr. Steiners war eine tief zu Herzen gehende [siehe S. 547].

Jetzt war es wieder notwendig geworden, Stuttgart zu besuchen. Thema des an die üblichen Belange sich schließenden Vortrags vom 21.Juni war: «Unser Gedankenleben in Schlafen und Wachen und im nachtodlichen Dasein» [in GA 224]. Er gab eine Darstellung von der Dualität im Menschen, der zugleich Himmelssprosse und irdischer Keim ist und wie sich beides ausdrückt im Nervensystem einerseits und im Blutsystem andrerseits. Der Vortrag ist soeben erschienen und dürfte besonders interessieren. Er gipfelt in der Schilderung jener Region des leiblichen Seins, welche die Möglichkeit gibt, die menschli­che Freiheit zu realisieren.

Bei dieser Gelegenheit wurde auch der tiefgehende Unterschied zwischen der theosophischen und der anthroposophischen Bewegung erörtert und das hervorgehoben, worauf es in der anthroposophischen Bewegung ankommt.

Am 24.Juni konnte in Dornach eine doppelte Johanni-Feier statt­finden, mit einleitenden Worten über die Johanni-Stimmung zur Eurythmie-Vorführung, und abends mit dem nun auch veröffent­lichten Vortrag: «Der geschärfte Johanni-Blick» [in GA 224].

Am 29.Juni erlebten wir die uns alle tief ergreifende Kremations­feier des so hingebungsvoll für das Goetheanum wirkenden zweiten Vorsitzenden des Bauvereins, Hermann Linde, des an der großen Kuppel des Goetheanum tätig gewesenen Malers, welchem, man kann es wohl sagen, die Brandkatastrophe das Herz gebrochen hat. Auch am Abend hielt Dr. Steiner zu seinem Gedächtnis eine Betrachtung über das Leben nach dem Tode und unsern Verkehr mit den Toten [in GA 261]. - Bei einer nun folgenden pädagogischen Tagung der Schweizer Lehrer sprach Dr. Steiner am 30.Juni und am 1.Juli über das Thema: «Wozu eine anthroposophische Pädagogik?», veröffent­licht in «Anthroposophische Menschenkunde und Pädagogik» [GA 304 a]. Der Abendvortrag des 1.Juli hatte zum Inhalt: «Die Verfassung

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unserer Zivilisation» [in GA 225]. Wiederum folgte Stuttgart mit den täglichen Besuchen in der Waldorfschule, der Betreuung der Gesellschaft und der Inspektion der wissenschaftlichen Institute und Forschungslaboratorien. Der mit jenem vom 21.Juni im selben Band enthaltene Vortrag vom 4. Juli [in GA 224] knüpfte Betrachtungen an über das lebendige und tote Denken und betonte die Notwendigkeit des Vordringens zu einer wirklichen Seelenlehre. Ausgehend von Mauthners «Kritik der Sprache» erörtert Dr. Steiner die geistigen Grundlagen des menschlichen Seelenlebens, die Realität von Denken, Fühlen und Wollen, die unserer Zeit verlorengegangen ist, so daß nur das abstrakte Wort geblieben ist. Bei aller Anerkennung der wissen­schaftlichen Verdienste einiger hervorragender Zeitgenossen, wie Rubner und Schweitzer, bei voller Würdigung des bedeutenden Wer­kes von Albert Schweitzer «Verfall und Wiederaufbau der Kultur» zeigt Rudolf Steiner an einigen ihren Werken entnommenen Beispie­len die Ohnmacht des heutigen Denkens gegenüber dem Kultur-niedergang unserer Zeit.

Nur hingewiesen kann darauf werden, daß vom 11. bis 14.Juli in Stuttgart auch noch den Priestern der Christengemeinschaft das gege­ben wurde, was sie zum weiteren Ausbau der Bewegung für religiöse Erneuerung fähig machte.

In Dornach hatte am 6.Juli eine neue Vortragsserie begonnen, die erschienen ist in dem Band «Drei Perspektiven der Anthroposophie» [GA 225]. In ihr wurde der Unterschied herausgearbeitet zwischen der westlichen, der mitteleuropäischen und der östlichen Volksgeistigkeit; die Betrachtung gipfelt in dem erschütternden Vortrag vom 15. Juli über das irdische Astralgebiet in der Ural- und Wolgagegend.

Und nun gelangen wir, vorbei an tiefschürfenden Ausführungen in den einleitenden Worten zur Eurythmie, an manchen interessanten Arbeitervorträgen, zu den Verhandlungen der besonders stark be­suchten internationalen Delegiertenversammlung vom 20. bis 23.Juli und den im Anschluß an jene wichtigen Verhandlungen abends gehal­tenen, aufschlußreichen drei Vorträgen über die «Drei Perspektiven der Anthroposophie». Die während jener Verhandlungen gesproche­nen, ernst mahnenden Worte Dr. Steiners finden sich in diesem Band [siehe S. 593]. Der Wiederaufbau des Goetheanum war nun sicherge­stellt. Im dritten Vortrag der «Drei Perspektiven» sprach Dr. Steiner im Namen der Anthroposophie seine tiefste Befriedigung aus über

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dasjenige, was mit Bezug auf den Wiederaufbau des Goetheanum auf dieser Tagung verhandelt worden war.

Der Entschluß zum Wiederaufbau des Goetheanum wurde von der gesamten in Dornach zusammengeströmten anthroposophischen Mit­gliedschaft gefaßt - von der gesamten Gesellschaft also durch ihre bevollmächtigten Vertreter. Mit neuer Freude, wenn auch mit neuen Sorgen, sollte an die Arbeit herangetreten werden.

#TI

Anthroposophische Impulse müssen ein Erwachen bewirken

gegenüber dem Kulturschlaf der Menschheit

#TX

Jetzt, wo an die Errichtung eines zweiten Goetheanum-Baues gedacht werden mußte, wandte sich Dr. Steiner wiederum mit besonderer Innigkeit den Aufgaben der Kunst zu. Die Hauptaufgabe der Anthro­posophie der Kunst gegenüber sah er in ihrer Wiedervereinigung mit den Kräften des Weltalls. Aus dem Geiste urständet sie und ließ den Menschen im Bilde das Göttliche erfühlen. Als die Naturwissenschaft im Sinne des intellektualistischen Denkens herrschend wurde, mün­dete auch die Kunst in den Naturalismus hinein. Allmählich ging auch ihr der Zusammenhang mit dem Weltall verloren, das zu einem mecha­nisch sich auswirkenden Gebilde von rotierenden Kugeln geworden war. Die Kunst verlor ihre Bedeutung durch den sie beherrschenden Materialismus; denn die Natur selbst kann ja nicht durch das Abbild überboten werden, und die Trivialitäten des Lebens können nicht auf die Dauer die Seele befriedigen. Barbarisierung der Kultur durch den im Sinnenfälligen verbleibenden Naturalismus ist die Folge. Wenn die Kunst nicht über die Natur dadurch hinauswächst, daß sie deren schaffendes Prinzip in sich aufnimmt und auf dem Wege des seelischen Erlebens sich wieder hinaufrankt zu geistigen Höhen, wenn sie die irdische Realität nicht zur Idealität zu heben vermag, so muß sie verkommen. Auf die unendliche Bedeutung der Kunst als eines Weges zum Geist wies Dr. Steiner immer wieder hin. Kunst, Religion und Wissenschaft mußten wieder vereinigt werden, so wie es im alten Mysterienwesen der Fall gewesen ist. Diesem Zwecke hatte das Goe­theanum dienen wollen. Feindliche Mächte hatten es zerstört. Nun sollte ein zweiter Versuch gewagt werden.

An dem moralischen Fonds der Gesellschaft hatte Dr. Steiner seit

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Monaten unermüdlich gearbeitet. Er konnte hoffen, daß nicht unge­hört dieser sein Ruf geblieben sei, der die Seelen immer wieder zum Erwachen aufforderte, zum Bewußtsein dessen, was sie der Welten-lage schuldig waren und was sie in die Welt hinaustragen mußten, um dem Niedergang der Kultur entgegenzuarbeiten. Jetzt, da der neue Bau in Angriff genommen werden sollte, wandte er sich wiederum von den wissenschaftlichen und philosophischen Problemen, die in den vorangegangenen Monaten besonders intensiv behandelt worden wa­ren, zu immer tiefer greifenden Aufklärungen über das alte Mysterien-wesen und der daraus hervorgegangenen Kunst. Schon während der Delegiertenversammlung hatte er, da er mit den Anthroposophen als einem Publikum rechnen konhte, das die nötigen Vorbedingungen zum Verstehen intimerer geistiger Nuancen hatte, anläßlich einer Eurythmie-Aufführung manches bis dahin noch nicht Ausgespro­chene sagen können über das im Weltall wurzelnde Weben der Spra­che. Es ist uns erhalten unter dem Titel: «Die imaginative Offenbarung der Sprache» [in GA 277]. Dann, nach der Delegiertentagung, gab er neben den sorglich betreuten Arbeitervorträgen einen Zyklus von drei Vorträgen über die Geheimnisse des Planetensystems [in GA 228]. Mehr konnte der knappen Zeit vor der neuen Reise nicht abgerungen werden, aber dieser kurze Zyklus gibt eine Grundlage für die Stim­mung, die in den Seelen herrschen muß, wenn sie in das Wesen der Mysterienunterweisung dringen wollen.

Diese drei Vorträge schlossen mit dem Appell, alles sektiererische Einspinnen zu überwinden, damit Anthroposophie in der rechten Weise die Menschheitsentwicklung weiterführen kann [siehe S. 162].

«Aus der Sektiererei herauskommen», das mußte Dr. Steiner auch jetzt und immer wieder betonen. Weitherzigkeit gegenüber den Be­dürfnissen und Forderungen der Welt, nicht sich einspinnen, sondern offene Augen haben für die Umgebung: dieses war es, was er in jenem Schicksalsjahr 1923 auch als die notwendige Grundlage betrachtete, um den ihn immer wieder bedrängenden Bitten der Mitglieder stattge­ben zu können: wiederum in geschlossenem Kreise gemeinsame esote­rische Arbeit zu beginnen, ähnlich derjenigen, die vor dem Weltkriege stattgefunden hatte, aber während dessen Dauer und der Nachkriegs­zeit als nicht in Frage kommend von ihm bezeichnet wurde [GA 264 und 265]. Denn die dämonisch durchwühlte Astralsphäre des irdi­schen Gebiets mache dies unmöglich; es würde sozusagen dadurch

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den Haßdämonen Gelegenheit gegeben, sich Einfallstore in den Seelen zu öffnen. Auch sonst sind die Menschen nie mehr den Einflüsterun­gen oder ablenkenden versuchenden Gedanken ausgesetzt als in sol­chen Stunden der gemeinschaftlichen Konzentration, die eine Kathar­sis bedeuten können, aber wo das in den Seelen noch vorhandene Böse und Widerspruchsvolle sich noch aufbäumt, bevor es weicht, die Elementarwesen sozusagen sich ballen. Nicht umsonst hat es gehei­ßen, daß die Klöster oft wie belagert werden von Dämonen. - Den über den Verzicht Klagenden antwortete Dr. Steiner: Auch wir hätten an dem Menschheitskarma mitzutragen; ihm könnten wir uns nicht entziehen. Desto wachsamer soll der einzelne seine Meditation durchführen. - Denen, die in der Nachkriegszeit Dr. Steiner immer wieder baten, die gemeinsame esoterische Arbeit wieder aufzuneh­men, gab er den Bescheid: Lernet erst miteinander auskommen. Erst müßt Ihr lernen an einem Tische sitzen. Dann erst kann man gemein­sam esoterisch arbeiten.

Langsam und allmählich versuchte er so durch Schaffung eines moralischen Fonds Künftiges vorzubereiten, das er zu geben beab­sichtigte und das eine Zusammenfassung alles dessen werden sollte, was in den vielen esoterischen Betrachtungen, die als Zyklen vor­liegen, in seinen Einzelerscheinungen auseinandergelegt ist.

#TI

Arbeitswochen in England

#TX

Die Reise nach England brachte Erlebnisse mannigfaltigster Art. Sie begann mit dem pädagogischen Kursus in Ilkley, einer kleinen Stadt in Yorkshire, der vom S. bis zum 17. August dauerte und dessen Inhalt als Buch unter dem Titel «Gegenwärtiges Geistesleben und Erzie­hung» [GA 307] in mehreren Auflagen erschienen ist. Dr. Steiner gab darüber bei seiner Rückkehr nach Dornach einen eingehenden Be­richt,[*] der auch den mit dieser Gegend verbundenen Stimmungsge-halt vermittelt, wo in schwarzen Städten seelenverwüstender Indu­strialismus sich nackt darlebt und daneben in der grünen Einsamkeit hochgelegener Moore die Spuren alter Geistigkeit überraschend auf­tauchen.

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[*] Dieser sich nicht auf Gesellschaftliches beziehende Bericht, Dornach, 9. September

1923, wird in der Gesamtausgabe künftig in GA 228 erscheinen.

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Diesem der Pädagogik gewidmeten Zyklus folgte vom 18. bis zum 31. August der rein anthroposophische in Penmaenmawr, der uns erhalten ist in dem Buche «Initiations-Erkenntnis. Die geistige und physische Welt- und Menschheitsentwickelung in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, vom Gesichtspunkt der Anthroposophie» [GA 227]. Es fanden auch mehrere, zum Teil noch nicht bekannte Ansprachen Dr. Steiners statt, die hier ihren Platz finden mögen, da sie immer wieder neue, überraschende oder wesentliche Gesichtspunkte enthalten - solche manchmal, die nirgends sonst notiert sind.

Nach seiner Begrüßung durch die Veranstalter der Tagung in Penmaenmawr hielt Dr. Steiner folgende Ansprache.[*]

Schon am Vormittag des nächsten Tages fand der erste Kursvortrag statt, eröffnet durch die hochgeschätzte Pädagogin und soziale Für­sorgerin Miss McMillan, von deren Wirksamkeit im Berichte Dr. Steiners noch die Rede sein wird. Am Nachmittag folgte eine Diskus­sion der Mitglieder über die anthroposophische Arbeit in England, zu der Dr. Steiner gebeten wurde, das Wort zu ergreifen. Er sagte dazu das Folgende, das auch uns manche Richtlinien geben kann [s. S. 170].

Die nächsten Abende waren der Aussprache über das inzwischen aufgenommene Weisheitsgut gewidmet. Dr. Steiner wurde gebeten, Fragen zu beantworten, mit denen man verstandesmäßig nicht ganz fertig wurde. Er ging gern darauf ein.[ ]

#TI

Die Kunst und ihre künftige Aufgabe

Farben, Sprache, Eurythmie

#TX

Die Kursvorträge nahmen ihren Fortgang an den Vormittagen, die Diskussionen und Referate der Mitglieder an den Abenden. Am Abend des 24. August sprach Dr. Steiner, im Anschluß an den Vortrag von Baron Rosenkrantz, über Farben und die Aufgaben der Kunst [in GA 284] und schloß mit den Worten: «Das aber [wie die Natur zu schaffen,] ist auch das wahre künstlerische Schaffen, und auf das werden alle Künste in der Zukunft mehr oder weniger zurückkom­men. Das war das künstlerische Schaffen in allen großen Kunstepochen.

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­[*] Die Begrüßungsansprache, Penmaenmawr, 18. August 1923, wird in der Gesamtaus­gabe künftig in GA 227 erscheinen.

[**] Die Antworten sind innerhalb der Gesamtausgabe vorgesehen für einen Band «Gesam­melte Fragenbeantwortungen» .

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Und das ist es, was ja auch entgegengeleuchtet hat in allen einzelnen Ausführungen des ausgezeichneten Vortrages des Baron Rosenkrantz. Das ist, was Sie überall da besonders sehen können, wo neue künstlerische Impulse in der Erdenentwickelung auftauchen. Von diesen neuen Impulsen bekommt man dann den Mut und die Hoffnung, daß wirklich aus dem, was in der Geisteswissenschaft erlebt werden kann, neue Kunstformen hervorgehen können. - Wie die Eurythmie daraus hervorgegangen ist, werde ich mir dann erlau­ben, in einem besonderen Vortrag, der ja angesetzt werden soll, der gewünscht worden ist, noch auszuführen. Dabei werde ich vielleicht zu dem heute Gesagten noch einzelnes hinzufügen können.»

So war man an Dr. Steiner herangetreten mit der Bitte, auch Nähe­res über die Kunst der Eurythmie und ihr Entstehen mitzuteilen. Am

26. August gab er einen kurzen Überblick über deren Entstehung und skizzierte ihre grundlegenden Gesetze, die in dem Elemente des Uber­sinnlichen ruhen und das ganze menschliche Wesen erfassen. Wir finden diesen Vortrag abgedruckt als Einleitung zu dem Buche «Eurythmie als sichtbarer Gesang» [GA 278].

#TI

Therapeutische Prinzipien und Heil-Eurythmie

#TX

An einem der nächstfolgenden Abende war der Wunsch, mit dem man an Dr. Steiner herantrat, er möge über die aus der anthroposophischen Weltanschauung herausgewachsenen therapeutischen Prinzipien sprechen. Der ziemlich lange Vortrag, den er darüber hielt, ist in dem Band «Anthroposophische Menschenerkenntnis und Medizin» [GA 319] abgedruckt.

Am 31. August verabschiedete sich Dr. Steiner von den Veranstal­tern und Teilnehmern des Kurses [Seine Abschiedsworte werden in der Gesamtausgabe künftig in GA 227 erscheinen].

#TI

Neukonstituierung der

englischen Anthroposophischen Gesellschaft

#TX

Schon in Penmaenmawr waren manche Fragen über die Neukonstitu­ierung der englischen Anthroposophischen Gesellschaft besprochen worden. Jetzt in London stand diese im Mittelpunkt des Geschehens.

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Am 2. September fand in London die Generalversammlung der «Bri­tish Anthroposophical Society» statt. Die Fragen, die an Dr. Steiner gerichtet wurden, beantwortete er in einer auch für uns richtungge­benden Weise. Seine Ausführungen sind uns im Stenogramm erhalten [siehe S. 603].

Im Zweige fand am selben Tage der Vortrag statt, der schon vor einiger Zeit erschienen ist als esoterische Betrachtung: «Der Mensch als Bild geistiger Wesen und geistiger Wirksamkeiten auf Erden» [in GA 228]. Wie in Fortsetzung der Beantwortung einer Frage, die schon in Penmaenmawr gestellt worden war, sprach Dr. Steiner über die Bedeutung des Schlafzustandes für die Entwicklung des Ich im Men­schen: da taucht seine Seele unter in die Sternenwelt. Im irdischen Dasein ist das Ich zunächst Lebensfinsternis, Nichtdasein, nur ein Hinweis auf das wahre Wesen. Es ist der Mensch auf Erden nur das Bild desjenigen, was von seinem wahren Wesen niemals ins Erdenda­sein hinunterkommt. Aber auch in seinem Organismus wirken die Hierarchien. Sie gaben ihm ein dumpfes kosmisches Bewußtsein, das als instinktive Hellseherkraft in einer älteren Menschheit lebte. Durch das Mysterium von Golgatha kann nun der Mensch in Freiheit ein neues kosmisches und Ichbewußtsein erwerben. Mit einer Meditation zur Gewinnung des Ich schließt diese Betrachtung.

Auch medizinische Vorträge für Arzte wurden veranstaltet am 2. und 3. September [in GA 319]. Es sei dabei zugleich hingewiesen auf den nicht selten, nein - oft eintretenden Fall, wo Dr. Steiner drei, bisweilen sogar vier Vorträge an einem Tage halten mußte.

Von den Freunden in London nahm Dr. Steiner Abschied mit den Worten [siehe S. 177].

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Dr. Steiner über die Arbeit

und die Reiseeindrücke in England

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In Dornach konnte Dr. Steiner am 9. September den Bericht über die Reise und den Aufenthalt in England geben; dieser Bericht läßt in der schönsten Weise die mannigfaltigen Eindrücke wieder erstehen, an denen jene Zeit so reich war. [In der Neuauflage von GA 228.]

Der Vortrag des 10. September war wiederum ein Höhepunkt in der Darstellung kosmisch-menschlicher Zusammenhänge, des Inein­andergreifens himmlischer Weisheit und der sich ihr öffnenden Menschenseele,

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die zuletzt, «sich selbst erschaffend stets, sich selbst ge­wahr wird».[*] Dieses Einstrahlen des Geistig-Göttlichen in die ir­disch-menschliche Sphäre ist der Inhalt jener Betrachtung, die das kosmisch-irdische Werden und seine Metamorphose zum Selbstbe­wußtsein hin in der Zeit zwischen Johanni und Michaeli bildhaft schildert, aber im Zauber der alten Druidenkultur, unter dem unmit­telbaren Eindruck jener Berggipfel von Wales mit den Überresten alt­heiliger Kultstätten - herb, steingrau und urweltnah, aber sonnen­durchleuchtet und von jetzt noch spürbarer innerer Kraft. Die dazwi­schenfahrenden Windstöße und heftigen Wolkenbrüche geben dem am Himmel aufsprühenden Glanz immer neuen Reiz und verkünden die Sieghaftigkeit der Sonne, trotz der gegen sie ankämpfenden Gewal­ten. Und in dem tiefen warmen Violett des die Berghänge hinunterflu­tenden Heidekrauts, das seinen Farbengruß dem unten schäumenden Meere sendet, trinkt die Seele Erquickung.

Auch dieser Vortrag ist uns erhalten und wird demnächst erschei­nen unter dem Titel: «Die Sonnen-Initiation des Druidenpriesters und seine Mondenwesen-Erkenntnis» [in GA 228].

#TI

Tagung der Landesgesellschaft in Deutschland

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In Stuttgart fand vom 13. bis 17. September im Siegle-Haus die erste Tagung der Ende Februar begründeten Anthroposophischen Gesell­schaft in Deutschland statt. In der Einladung dazu waren ihre Ziele wie folgend umschrieben [siehe S. 615].

An drei Abenden (14., 15., 16.) hielt Dr. Steiner Vorträge über das Thema «Der Mensch in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft» [in GA 228]. Die Anwesenden begrüßte er mit den Worten [siehe S. 625].

Es folgte eine Darstellung des menschlichen Wesens, wie es sich entfaltet hat in einer gewissen Vergangenheit, wie es dasteht in der unmittelbaren Gegenwart, und wie sich seine Perspektiven ergeben für die Zukunft der menschlichen Entwicklung auf unserem Erden-planeten.

Von Dr. Unger wurde der «Entwurf der Grundsätze» zur Diskus­sion gestellt [siehe S. 635]. Die Versammlung beschloß, dem Vorstand

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[*] Aus «Anthroposophischer Seelenkalender» von R. Steiner.

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seine weitere Bearbeitung und seine Übermittlung an die Dornacher Tagung zu überlassen.

Von solchen Gesichtspunkten ausgehend, vollzog sich innerhalb der Mitgliedschaft in Deutschland die Vorbereitung für die in Dorn-ach in den Weihnachtstagen auf neuer Basis zu vollziehende Begrün­dung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.

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Von Dornach nach Wien und zurück über Stuttgart

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Aus der Arbeit der Septembertage in Dornach sei, neben den Arbeiter-vorträgen, noch erwähnt die Feier zur Erinnerung der damals vor zehn Jahren erst stattgefundenen Grundsteinlegung des uns verlorenen Baues mit einem Bericht über die Stuttgarter Tagung [siehe S. 639]. Ihr folgten am 22. und 23. September Schilderungen der verschiedenen Bewußtseinszustände des Menschen im Schlafen und Wachen und Betrachtungen über wissenschaftliche Werke der Gegenwart [in

GA 225].

Das nächste Reiseziel war Wien, wo die Gründung der österreichi­schen Landesgesellschaft stattfinden sollte. Diesem Gesellschaftsge­schehnis ging der Vortragszyklus für Mitglieder voran, der als «An­throposophie und das menschliche Gemüt» [in GA 223] zugänglich ist. Auch ein Vortrag für Ärzte konnte gehalten werden [in GA 319]. Am 26. war der erste, am 29. der zweite öffentliche Vortrag, bei starkem Andrang im großen Saal des Konzerthauses. Die zwei Vor­träge sind erschienen [in GA 84].

Bei der Gründungsversammlung der österreichischen Landesge­sellschaft ergriff Dr. Steiner nicht das Wort. Erst nach seinem am Abend gehaltenen letzten Mitgliedervortrag nahm er Bezug auf den am Nachmittag stattgefundenen Zusammenschluß der österreichi­schen Zweige zu einer Landesgesellschaft [siehe S. 657].

Wie liebevoll Dr. Steiner überall in das Wesen der Dinge und Menschen eindringt, auch dann, wenn er Dinge sagen muß, die zum Wachsein aufrufen, die nicht schmeicheln und gewinnen wollen, son­dern erziehen, kann man in dieser Ansprache als an einem Beispiel sehen.

Am S. Oktober gab Dr. Steiner in Dornach einen kurzen Bericht über die Wiener Tage [siehe S. 182], um dann zu jenen Vorträgen

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überzugehen, die bekannt geworden sind unter der Bezeichnung: die Erzengel-Vorträge [GA 229].

Zu den gewaltigsten Eindrücken, diewirdurchdasWortRudolfStei­ners erlebt haben, gehören die nun folgenden Schilderungen der dem Jahreskreislauf einverwobenen Erzengel-Imaginationen. Nachdem sie anläßlich der großen Feste als Beigabe für das Mitteilungsblatt jedem Mitglied zugänglich gemacht worden sind, werden sie, auf vielfache Wünsche hin, nun auch als esoterische Betrachtungen und schöne Festesgabe erhältlich sein unter dem Titel «Das Miterleben des Jahres­laufes in vier kosmischen Imaginationen» (5.-13. Okt.) [GA 229].

Am 15. Oktober sprach Dr. Steiner auch in Stuttgart über das mit dem Jahreslauf zusammenhängende imaginative Leben, über das meteori­sche Eisen und das zu erneuernde Michaelfest in dem Vortrag über die Michael-Imagination. Geistige Meilenzeiger imJahreslauf [in GA 229]. Für die Waldorflehrer hielt er zwei Vorträge über die zusammenschau-ende Menschenerkenntnis als Quell der Phantasie des Erziehers und über die innerhalb der verschiedenen Zivilisationen im Laufe der Zeit auftretende Erscheinung des Gymnasten, des Rhetors, des Doktors und ihre notwendige Synthese für die Gegenwart [in GA 302 a]. Am 19. konnte er in Dornach die wunderbare Serie der esoterischen Betrachtun-gen beginnen über den inneren Zusammenhang von Welterscheinung und Weltwesen, die bekannt geworden sind unter dem Titel: «Der Mensch als Zusammenklang des schaffenden, bildenden und gestalten­den Weltenwortes» [GA 230]. Sie wurden fortgeführt bis zum 11. No­vember. Wesenhaft ersteht da vor unserm Seelenauge die gesamte vielgestaltige Natur in ihrer Bildhaftigkeit, ihrem Gestaltungstrieb und Schaffensdrang, im Reichtum ihres Sprießens und Sprossens, und zersprüht, löst sich auf in Geistigkeit - wie es ja in einem Spruche Dr. Steiners heißt: «Der Geist schmilzt im Weltenweben, die Erdenschwere zu Zukunftlicht.» [in GA 261].

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Tagung in Holland

Gründung der holländischen Landes gesellschaft

Jahresausklang in Dornach

#TX

Notwendigkeit des tätigen Wirkens innerhalb der Anthroposophischen Gesell­schaft, um sie zu etwas Realem zu machen. Interesse haben, erwachen zu dem, was

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in der Welt vorgeht, ist notwendig, damit die anthroposophische Bewegung ein Instrument an der Gesellschaft haben kann. Anthroposophie pocht an unsere Herzen, um uns den wahren Menschen zu bringen. Der historische Durchgang der modernen Zivilisation durch die Schwelle zur geistigen Welt.

Am 12. November erfolgte, anläßlich der bevorstehenden Grün­dung der dortigen Landesgeselischaft, die Reise nach Holland. Schon am 13. November beginnt im Haag der Zyklus der fünf esoterischen Betrachtungen «Der übersinnliche Mensch, anthroposophisch erfaßt» [GA 231], ein wichtigstes Studienmaterial. Die öffentlichen Vorträge jener Zeit sind: «Anthroposophie als Zeitforderung» und «Anthropo­sophie als menschlich-persönlicher Lebensweg» [in GA 231] sowie zwei Vorträge über Pädagogik [in GA 304 a]. Für Ärzte konnten wieder zwei Vorträge stattfinden über «Anthroposophische Men­schenerkenntnis und Medizin» [in GA 319].

Die einleitenden Worte, die Dr. Steiner vor Beginn des internen Vortragszyklus an die Mitglieder richtete, die sich auf die ihm zuteil gewordene herzliche Begrüßung beziehen [siehe S. 663], sowie die Worte, mit denen er am Schlusse der Zweigvorträge im Haag von den Mitgliedern Abschied nahm [siehe S. 681], sie sind wie der gesamte Vortragszyklus eine Zielsetzung im Hinblick auf das, was als leitender Gedanke die mannigfaltigen Betrachtungen des Jahres 1923 durch­zieht: Wir haben den Menschen verloren. Wie finden wir ihn wieder?

Über die Verhandlungen während der Gründung der Landesgesell­schaft liegen uns leider keine Stenogramme oder Notizen vor.[*] Der Bericht, den Dr. Steiner darüber am 23. November in Dornach gab, enthält das Wesentliche dessen, was er an allen Orten, in denen er sprach, in die Herzen der Mitgliedschaft hatte schreiben wollen - und was, richtig in der Empfindung aufgenommen und willensmäßig durchgetragen, die für Weihnachten vorgesehene Gründung der Inter­nationalen Anthroposophischen Gesellschaft mit dem Mittelpunkt in Dornach als einen lebendigen Faktor in den Dienst der Menschheits­evolution stellen soll.

Diesem Bericht wurden noch folgende Worte, überleitend zu dem eigentlichen Vortrag, angefügt:

«Nun wollen wir, meine lieben Freunde, die Zeit, die uns hier für Vorträge innerhalb dieses Goetheanum vor den Weihnachtswochen

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[*] Heute liegen Notizen davon vor; siehe Seite 664.

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bleibt, so gestalten, daß jene Mitglieder, die hier in Dornach in der Erwartung leben, daß die Weihnachtswoche kommt, möglichst viel in sich tragen können, was die anthroposophische Bewegung in die Herzen der Menschen hineinzubringen vermag. So daß auch wirklich gerade diejenigen, die bis Weihnachten hier verbleiben werden, in ihren Gedanken etwas zu sagen haben werden gerade über das, was noch in letzter Stunde jetzt geschehen kann. Nicht werde ich etwa über die Internationale Anthroposophische Gesellschaft sprechen, das wird in ein paar Stunden erledigt werden können während der Ver­sammlung selber. Aber ich werde nun doch versuchen, diese Betrach­tungen so anzulegen, daß sie auch für die Stimmung, die dann sein sollte, etwas werden abgeben können. Was ich schon in den letzten Wochen hier ausgeführt habe, werde ich von einem anderen Aus­gangspunkte aus zu erreichen suchen. Ich werde heute einmal damit beginnen, vom Seelenleben des Menschen selber aus zu einem Durch­schauen der Weltengeheimnisse zu gelangen.»

Dieses Versprechen wurde in überreichem Maße gehalten. Nach dem mit so viel Selbsthingabe durchgeführten Versuch, die Mitglied­schaft moralisch zu ertüchtigen, sie zu einem scharfen Verantwor­tungsgefühl zu erwecken für die aus der Entgegennahme solcher Im­pulse ihr erwachsenden Pflichten gegenüber der Mitwelt, entströmte der geistigen Gebefreudigkeit Dr. Steiners eine unendliche Fülle kos­mischer und historischer Überblicke, die den lückenlosen Zusammen­hang ergeben von irdischer Naturgesetzmäßigkeit und menschlichem Seelenleben mit den im Übersinnlichen wirkenden Mächten des Welt­alls. Immer tiefer wurde eingedrungen in die Geheimnisse einer von innen heraus durchleuchteten Naturerkenntnis. Es konnte die uralte Weisheit einer Prüfung durch das neu errungene Verstandesdenken freimütig unterzogen werden: die objektiven Tatsachen ergeben den Wahrheitsbeweis. Es können diese Wahrheiten einer die Vergangen­heit und Zukunft zugleich ergreifenden geistigen Offenbarung see­lisch abgetastet und innerlich erfühlt werden durch gleichsam neu sich regende Bewußtheitskräfte. Dem Kriterium einer unvoreingenomme­nen Wissenschaft frei sich aussetzend, bot sich der Verstandeserkennt­nis zugleich ein großartiges, kosmisch-geschichtliches Bild von der Metamorphosierungsfähigkeit der menschlichen Seele unter dem Ein­fluß und der weisen Führung des in graue Urzeit hineinreichenden Mysterienwesens, welches diese Entwicklung leitete. Auch die Mysterienstätten

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waren in ihrem Werden und Wirken dem historischen Wandel unterworfen, dem Gesetz der Blüte, der Reife und des Ver­falls; doch der Lebensstrom, der ihre verschiedenen Ausdrucksformen durchzog, rann im Verborgenen weiter bis in unsere verdunkelte Zeit.

Diese Zyklen müssen im Wortlaut gelesen werden. Ihnen entnom­mene Stichworte könnten nur ihre Wirkung schwächen, ihnen den lebendigen Geist auslöschen. Die «Mysteriengestaltungen» [GA 232] schließen sich organisch an den Zyklus «Der Mensch als Zusammen-klang des schaffenden, bildenden und gestaltenden Weltenwortes »[GA 230] und führen hinüber zu den die Weihnachtstagung einleiten­den esoterisch-geschichtlichen Betrachtungen: «Die Weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung und als Grundlage der Erkenntnis des Menschengeistes» [GA 233].

Die Arbeiter am Goetheanum durften noch Einblick erhalten in die Geheimnisse der unmittelbaren Natur durch einen auf ihre Bitte hin ihnen gehaltenen Kursus über die Bienen [in GA 351].

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Rückblick

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Ein Kreislauf war abgeschlossen. Ausgehend im Beginn des Jahres von der Erkenntnis der äußern Natur, hatte Rudolf Steiner seine Zuhörer in ihre tiefen Geheimnisse hineinblicken lassen und damit in die ver­borgenen Untergründe des Kosmos, aus denen heraus die Natur erst erkannt werden kann. Die mechanistische Naturwissenschaft von heute hatte uns den Menschen verlieren lassen, den Menschen, der die Zusammenfassung der Weltenrätsel ist. Diesen übersinnlichen Men­schen in uns, den wir verloren haben, müssen wir wiederfinden. Er ließ die Gestalten der im vergeblichen Geistesringen sich verzehrenden Opfer einer verdunkelten Zeit an unserm Seelenauge vorbeiziehen. Ihr Ringen war nicht vergeblich, denn nur durch solches für die gesamte Menschheit stellvertretend vollzogene Ringen läßt sich der schöpferi­sche Geist gleichsam durch das Tatgebet der Seele herunterzwingen, öffnet sich der Menschheit die entgegenströmende Gnade. Auch das Negative gebiert zuletzt das Positive, wenn es selbstlos ist, wenn es aus Ehrlichkeit kämpft. Die Verzweiflung zog den Retter heran, der zum Werkzeug der sich hinabsenkenden Offenbarung wurde, ihn, der das vollkommene Rüstzeug des irdischen Wissens besaß und in voller

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Selbstlosigkeit sein individuelles Sein der Menschheit zu opfern bereit war. Der Schwere dieser Rettungstat hat er sich nicht entzogen, wie schwach und ungenügend auch das Menschenmaterial war, mit dem er arbeiten mußte. Trotz der ihm entgegentretenden Dürftigkeit der Begabungen oder Schwäche der Seelen sah er das Streben des einzelnen Ich, sah die Sehnsucht der Seelen, über sich selbst hinauszuwachsen. Und dieser Seelenfiamme gab er die spirituelle Nahrung, auf daß sie wachse und sich der Menschheit mitteile, nicht in sich verlösche. Ein nie ermüdender Erzieher der Menschheit, hütete er dieses heilige Feuer, rief es immer wieder zu wacher Tätigkeit auf, wenn es zu verglimmen drohte. Oft schien die träge Masse des Stoffes den Schwung der Seelen zu lähmen, es schien die Gewalt des Widerstandes von seiten der die äußere Welt beherrschenden Mächte den Sieg da­vonzutragen. Doch wer mit den Kräften der Zukunft arbeitet, weiß, daß auch die geistige Saat - nicht nur die irdische -, um aufsprießen zu können, erst ihren Weg durch das Chaos und den Tod nehmen muß. Das Chaos erleben wir. Die geistige Tat Rudolf Steiners sieht ihrer Auferstehung in der Zukunft entgegen.

II Aus der Arbeit für den Wiederaufbau des Goetheanum und die Neubildung der Anthroposophischen Gesellschaft

#G259-1991-SE057 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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II

Aus der Arbeit für den Wiederaufbau des Goetheanum

und die Neubildung der Anthroposophischen Gesellschaft

Soll ein Wiederaufbau zustande kommen, so ist dazu eine starke Anthroposophische Gesellschaft notwendig; denn ohne diese wäre ein Wiederaufbau nicht möglich. Also es muß einfach eine Konsoli­dierung, eine innere Festigung, ein deutliches Wol­len der Anthroposophischen Gesellschaft zustande kommen.

Rudolf Steiner, Dornach, 9. Februar 1923

#Bild a s.058

#Bild b s.058

INTERVIEW MIT BASLER ZEITUNGSKORRESPONDENTEN

ÜBER DEN BRAND

Montag, 1. Januar 1923, 14 Uhr

«Ein Interview bei Dr. Steiner»

aus dem Bericht über den Brand im Morgenblatt der Basler

«National-Zeitung» vom Dienstag, 2. Januar 1923

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Wir sitzen im Sekretariat der Villa Friedwart, von der aus die Verbin­dung mit den Anthroposophen der ganzen Welt hergestellt wird. Da tritt unser Schweizer Dichter Albert Steffen ins Zimmer, und wie wir den Wunsch, mit Dr. Steiner selbst zu sprechen, geäußert hatten, hat er auch schon das Telephon ergriffen. Die zustimmende Antwort klingt herüber, und unter seiner Führung betreten wir wenige Minuten später das Haus des viel umstrittenen Mannes, dessen Werk, das sichtbare wenigstens, auf das er 10 Jahre unermüdlicher Arbeit ver­wandt, in einer Nacht zerstört wurde. Er empfängt uns in seinem kleinen Zimmer, dessen bildlose Wände ein tiefes violettes Blau über-spannt. Wir setzen uns an den Rundtisch aus altem Nußbaumholz. Das durchfurchte Gesicht des wohl Sechzigjährigen Zeigt Energie und Selbstbeherrschung. «Ich will Ihnen nur Tatsachen berichten», antwortete er auf unsere Fragen.

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Die Brandursache.

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Von all den Gerüchten mit ihren Drohungen schweige ich. Wichtig ist, daß das Feuer, das wohl schon zwei Stunden hinter der Wand in der Konstruktion des Innern sich entwickelte, nicht durch Kurzschluß oder irgendwelche Unvorsichtigkeit verursacht war. Die Sicherungen waren durchweg intakt. Die Lichter brannten unverändert weiter. Die Leitungen lagen in feuersichern Stahlpanzerrohren. Gerade an jener Stelle, an der es brannte, fanden sich keine Leitungen. Wohl aber stellten wir fest, daß schon um 7Uhr die Dame, die jenes anstoßende Zimmer benützte, den Spiegel heruntergeworfen und zerschlagen fand, der ganz in der Nähe der späteren Feuerstelle hing. Jenes Zimmer konnte unkontrolliert leicht betreten werden, um so leichter, als ein Hilfsgerüst an der Mauer das Einsteigen auch vom Erdboden aus

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bequem ermöglichte. Die angeführten Tatsachen weisen aufBrandle­gung von außen hin.[*] Dieser Verdacht wurde von vielen Menschen aus der Umgebung des Goetheanums in Dornach und Arlesheim ausgesprochen.

Auf unsere Frage:

«Wie denken Sie sich die Weiterarbeit!?»

antwortete Dr. Steiner: Wohl ist das unter unerhörten Opfern in 10 Jahren gemeinsam mit meinen Mitarbeitern in und außerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft geschaffene Werk vernichtet. Aber die Arbeit geht unentwegt weiter. Heute abend um 5 Uhr findet im Vortragssaale der Schreinerei das [Drei-]Königsspiel und anschlie­ßend daran ein weiterer Vortrag für die Kursteilnehmer statt. Was den Bau anbetrifft, so sind wir nun so weit wie vor 10 Jahren, nur an Erfahrungen reicher.

«Gedenken Sie, wieder zu bauen?»

Unbedingt. Das Gebäude ist, soweit ich mich erinnern kann, um 3,5 Millionen bei der Brandassekuranz des Kantons Solothurn versichert. Davon entfallen 2600000 auf den hölzernen Oberbau und 900000 Fr. auf den Betonunterbau. Dazu kommt die Versicherung bei der «Hei­vetia» für das wertvolle Mobiliar, Orgel, Harmonium, Klaviere und sehr kostbare Perserteppiche. Die Summe ist freilich nur der vierte Teil des Aufwandes, zumal wenn man die künstlerische Arbeit der vielen einrechnet, die sie als Mitglieder unserer Gemeinde jahrelang geleistet hatten. Ich werde also anders und bescheidener bauen müssen, auch nicht mehr aus Holz. Aber die künstlerische Grundtendenz bleibt.

«Werden Sie auch die freiwilligen Mitarbeiter wieder erhalten?»

Wenn es bekannt wird, was hier geschah und daß wir wieder bauen, so kommen die Leute aus der ganzen Welt wieder von selbst und werden mir zur Seite stehen.

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[*] Am 25. Mai 1924 sagte Rudolf Steiner in Paris: «Es ist aber eine behördlich anerkannte Tatsache, daß das Goetheanum von den Gegnern in Brand gesetzt worden ist.« (Vgl. GA 260a «Die Konstitution...«)

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ERSTE WORTE AN DIE MITGLIEDER

NACH DEM BRANDGESCHEHEN

Dornach, Montag, 1. Januar 1923, 17 Uhr

vor der Aufführung des Dreikönigsspiels

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Meine lieben Freunde! Der große Schmerz versteht zu schweigen über dasjenige, was er fühlt. Und deshalb werden Sie mich auch verstehen, wenn ich ganz wenige Worte nur, bevor wir das Dreikönigsspiel beginnen, zu Ihnen spreche.

Das Werk, welches durch die aufopfernde Liebe und Hingabe zahlreicher für unsere Bewegung begeisterter Freunde innerhalb von zehn Jahren geschaffen worden ist, ist in einer Nacht vernichtet wor­den. Es muß selbstverständlich gerade heute der schweigende Schmerz aber empfinden, wie viel unendliche Liebe und Sorgfalt unserer Freunde in dieses Werk hineingetan worden war. Und dabei möchte ich es zunächst, meine lieben Freunde, eigentlich bewenden lassen.

Ich möchte nur sagen, daß nun auch für das Werk, das allerdings eine allzu kurze Zeit noch schien, als ob es ein Werk der Rettung werden könnte und für welches wiederum die hingebungsvollste auf­opferungsvollste Arbeit, sogar zuweilen recht gefährliche Arbeit von manchem unserer Freunde geleistet worden ist, der allerinnigste Dank gebührt, der ausgesprochen werden kann aus dem Geiste unserer Bewegung.

Da wir von dem Gefühl ausgehen, daß alles dasjenige, was wir innerhalb unserer Bewegung tun, eine Notwendigkeit innerhalb der gegenwärtigen Menschheitszivilisation ist, so wollen wir das, was beabsichtigt ist, in dem Rahmen, der uns noch gelassen worden ist, möglichst fortführen und deshalb auch in dieser Stunde, wo sogar noch die uns so sehr zum Schmerze steigenden Flammen draußen brennen, jenes Spiel aufführen, das im Anschluß an diesen Kurs ver­sprochen war und auf das unsere Kursteilnehmer rechnen.

Ebenso werde ich heute abend um acht Uhr hier in der Schreinerei den angesetzten Vortrag halten. Gerade dadurch wollen wir zum Ausdruck bringen, daß selbst das eigentlich wirklich nicht in Worten, mit Worten zu schildernde Unglück, das uns getroffen hat, uns nicht niederschmettern soll, sondern daß uns der Schmerz gerade dazu

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auffordern soll, dasjenige, was wir als unsere Pflicht ansehen, weiter, soweit uns dazu die Kraft verliehen ist, zu vollbringen.

Von diesem Gesichtspunkte aus, meine lieben Freunde, nehmen Sie zu den beiden anderen Weihnachtsspielen, die aus wirklichem Volks­tum herausgeschöpft sind, auch dieses Dreikönigsspiel hin, das wir aufführen, trotzdem wir natürlich heute nicht in der Lage waren, die rechten Proben zu halten. Sie werden das berücksichtigen müssen, aber ganz gewiß auch in dieser schmerzlichen Zeit zu berücksichtigen die Neigung haben.

Nur diese wenigen Worte wollte ich, bevor wir mit unserer Auffüh­rung beginnen, zu Ihnen sprechen. Es soll ja nicht ein Schaustück sein, das wir aufführen, sondern es soll dasjenige sein, durch das nun - als in seiner Kunst - sich einstmals das Volk zu seinem Heiligsten erhoben hat. Und wenn man gerade das berücksichtigt, so wird es durchaus nicht unangemessen befunden werden können, gerade auch aus dem tiefsten Schmerz heraus diesen heiligen Ernst vor unsere Seele treten zu lassen.

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Dornach, Montag, 1. Januar 1923, 20 Uhr

vor dem Abendvortrag

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Meine lieben Freunde! Schon heute nachmittag erlaubte ich mir hier zu sagen, wie ja der tiefste Schmerz nicht nach Worten suchen kann, um sich auszudrücken. Insbesondere dann aber ist es vielleicht nicht notwendig, nach Worten zu suchen, wenn dieser Schmerz, wie es ja hier der Fall ist, tief miterlebt wird. Ich brauche ja auch hier nur Zu sagen, was ich schon heute nachmittag bei anderem Anlasse gesagt habe: daß aus diesem Schmerz heraus wirklich der innige Dank kommt an die zehnjährige Arbeit, welche hier unsere lieben Freunde in harmonischem Zusammenarbeiten geleistet haben zu einem idealen Werke, einem Werke, dessen Bestimmung ja hier des öfteren ausein­andergesetzt worden ist. Und wenn daran gedacht wird, in welch hingebender Weise unsere Freunde gestern gearbeitet haben, um die ja leider nicht zu erringende Rettung der Sache zu bewirken, dann darf wohl dasjenige, was mit diesem nun zugrunde gegangenen Goethe­anum verbunden ist, in die Worte gefaßt werden: Seine Freunde haben es in Liebe geboren, in Liebe heranwachsen sehen, aber nun auch in Liebe sterben sehen müssen.

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Der innige Dank selbstverständlich muß allen denjenigen Freunden ausgesprochen werden, die gestern in so hingebungsvoller Weise gear­beitet haben.

Aber vielleicht darf doch bei dieser Gelegenheit in Einleitung mei­nes heutigen Vortrages etwas gesagt werden. Vielleicht darf ich daran erinnern, wie ich in einem Vortrage, den ich hier am 23.Januar 1921 gehalten habe, darauf hinweisen mußte, welche Formen des Hasses, der Verleumdung, die Gegnerschaft gegen das Goetheanum angenom­men hat und daß von dieser Gegnerschaft doch alles zu erwarten ist [in GA 203].

Nun, meine lieben Freunde, selbstverständlich ist es in dieser Stunde durchaus nicht meine Absicht, irgendwie auf dasjenige, was dazumal oder sonst gesagt worden ist, zurückzukommen und wie­derum viel darüber zu sprechen. Aber vielleicht dürfen wir doch zwei Dinge heute zusammenhalten: Das eine ist, daß ja gestern um die Zehnte Stunde herum, eine halbe Stunde nach Beendigung meines letzten Vortrages in dem gewesenen Goetheanum, gemeldet worden ist: Rauch im weißen Saal! - Daraufhin eilten ja unsere Freunde, unter ihnen Herr Aisenpreis und Herr Schleutermann, über die Treppen des Südflügels hinauf, und Herr Schleutermann hat sich dabei gesundheit­lich sehr angegriffen, so daß er dann, als ich auf den Brandplatz kam, ohnmächtig gefunden worden ist. Herr Schleutermann war also derje­nige, der in den qualmenden Saal hineinkam, von dem Rauch einen Erstickungsanfall bekam. Herr Aisenpreis ging dann die Treppen herunter und sah nach in den Zimmern, die zwei Treppen tiefer liegen, und konnte dort konstatieren, wie überhaupt das Feuer angelegt wor­den ist: Als die auf die Terrasse nach außen führende Wand eingeschla­gen wurde, kamen aus der Konstruktion, also aus dem Innern der Wand, die Flammen heraus. Da in den Zimmern, die dabei in Betracht kamen, kein Feuer war, auch keine Gelegenheit, daß dort Feuer hätte entstehen können, so war es klar oder ist es klar, daß von den Zim­mern, an deren Außenwand nach der Terrasse hin das Feuer aufgelo­dert ist - daß von diesen Zimmern und überhaupt vom Innern des Goetheanum aus das Feuer ja nicht hat kommen können. Daher weisen alle Indizien darauf hin, daß das Feuer von außen gekommen ist. Es muß also durchaus indizienmäßig eine Brandstiftung angenom­men werden.

Nun, mit dem möchte ich zusammenhalten dasjenige, was ich

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gesagt habe in jenem Vortrag vom 23.Januar 1921 [GA 203], wo ich hingewiesen habe auf die Broschüre einer Astrologin - ich glaube, sie heißt Elsbeth Ebertin -, die aus allerlei von ihr zusammengeträumten Gestirneinflüssen mir alles mögliche Schlimme prophezeite. Ich habe dazumal, und zwar in vollem Ernste den Ausspruch getan: Mit den Gestirneinflüssen wird es sich schon dabei bewenden lassen, daß man den Kampf wird aufzunehmen haben. - Aber in dieser Broschüre, die ja nicht einmal unfreundlich geschrieben war, wenn auch nicht beson­ders klug, fand sich eine Mitteilung aus einer Veröffentlichung, welche gegen das Goetheanum gerichtet war, die von der Astrologin zur Kenntnis genommen worden war. Und dieser Mitteilung in der astro­logischen Broschüre konnte ich dazumal die folgenden Worte entneh­men. - Sehen Sie, ein besonders haßerfüllter Gegner wird hier ange­führt, der folgendes sagt: «Geistige Feuerfunken, die Blitzen gleich nach der hölzernen Mäusefalle zischen, sind also genügend vorhan­den, und es wird schon einiger Klugheit Steiners bedürfen, versöhnend zu wirken, damit nicht eines Tages ein richtiger Feuerfunke der Dor­nacher Herrlichkeit ein unrühmliches Ende bereitet.»

Vielleicht darf ja in diesem Zusammenhange auch wieder einmal jene Versammlung erwähnt werden, die ja hier in der Umgebung gehalten worden ist, in der ein Redner die Worte gebraucht hat, die er an «Jung-Solothurn» richtete: «Schare dich zusammen! Stürme auf das Goetheanum!» - Das schließt sich an dasjenige an, was ich eben dazumal mitteilen mußte darüber, wie ja tatsächlich in der Welt der Gegner davon gesprochen wurde, daß, wenn es nicht mit irgendeiner Klugheit abgemacht würde, die versöhnend wirkt, so würde eines Tages ein richtiger Feuerfunke der Dornacher Herrlichkeit ein un­rühmliches Ende bereiten.

Ich möchte nur diese zwei Tatsachen, jene, die sich gestern zugetra­gen hat, und jene, die ich dazumal so erleben mußte, heute wiederum zusammenstellen als gewissermaßen historische Tatsachen, ohne in diesem Augenblick irgendeinen Zusammenhang selbstverständlich behaupten zu wollen. Aber es darf doch vielleicht auf dieses merkwür­dige Zusammentreffen hingewiesen werden - so daß schließlich nicht anders gesagt werden kann als: Der Brand ist von außen gekommen -und auf die Aufforderung oder das Voraussehen, die dazumal fielen:

daß der Feuerfunke der Dornacher Herrlichkeit ein unrühmliches Ende bereiten könne.

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Jedenfalls mußte dazumal auf eine Eventualität hingewiesen wer­den, die einmal, wie man annehmen mußte, Wirklichkeit werden könne.

Meine liehen Freunde! Ich habe schon heute nachmittag gesagt: In dem, was uns noch von unseren Dornacher Räumlichkeiten geblieben ist, sollen stattfinden die angekündigten Vorträge und sonstigen Handlungen, sonstigen Vorführungen und dergleichen für unsere Freunde, welche zum Teil von recht weit hergeeilt sind, um anderes hier zu erleben als die Vernichtung des Goetheanum. Um sie unseren Freunden bieten zu können, müssen wir eben - gerade in diesen Tagen

- daran denken, daß wir aus dem Schmerze heraus die Kraft finden müssen, an unserem Ziele, an dem, was wir so tief in der Entwick­lungsgeschichte der Menschheit begründet finden, um so intensiver und energischer zu arbeiten.

Brief von Dr. Emil Grosheintz, Vorsitzender des Vereins des Goetheanum,

an Rudolf Steiner

Dornach, 2.Jan.1923

Hochverehrter Herr Dr. Steiner.

Der Vorstand des Vereins des Goetheanum betrachtet es als selbstver­ständlich, daß unverzüglich der Aufbau des Goetheanum in Angriff ge­nommen wird. Er wünscht Herrn Dr. Steiner die unbedingte Bereitwillig­keit hiezu auszudrücken und hält es für wünschenswert, daß sich sofort eine über den Rahmen des Vereins des Goetheanum und seines Vorstan­des hinausgehende Körperschaft, deren Zusammensetzung den Intentio­nen des Herrn Dr. Steiner entsprechen sollte, mit den weiteren Schritten

befaßt. Im Auftrage des Vorstandes

Der Vorsitzende

Dr. E. Grosheintz

P. S.

Wenn es Herrn Dr. Steiner genehm ist, könnte nächsten Freitag um 3 Uhr eine erweiterte Vorstandssitzung stattfinden.[*]

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[*] Vermutlich handelt es sich um die am Samstag, den 6.Januar stattgefundene Versamm­lung, siehe S. 73.

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BESPRECHUNG

einiger führender deutscher Mitglieder mit Rudolf Steiner

über die Durchführung eines geplanten internationalen Kongresses

(genaues Datum unbekannt, vermutlich 4.Januar, in Dornach) 1923

Protokoll von Karl Schubert

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Lehrer Rudolf Meyer, Berlin, stellt die Frage, ob es richtig sein würde, den geplanten internationalen Kongreß in Berlin zu veranstalten. Er bittet Dr. Steiner um Richtlinien.

Dr. Steiner: Ist es nötig, daß wir durch die Katastrophe eine Änderung eintreten lassen, als höchstens diese, daß wir noch eifriger sind als wir waren? Ich meine, dies Unglück ist doch etwas, was unabhängig von uns geschehen ist, so daß wir darüber nicht nachzudenken brauchen, inwiefern wir andere Dinge tun sollen, als wir bisher getan haben. Es wird sich nur die spezielle Frage ergeben: Wie wird der Bau wieder aufgeführt? Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Arbeitsmethode draußen anders werden soll.

Rudolf Meyer fragt, ob man den Kongreß verschieben solle.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, ob sich eine Möglichkeit ergibt, das Internationale in einem großen Umfang zu erreichen. Es ist die Frage, ob gerade in Berlin das Internationale eine große Bedeutung haben kann. Ich glaube, daß ein Kongreß in Berlin nicht international verlaufen wird. Haben Sie andere Gründe dafür als die finanziellen? Nach Berlin werden aus den westlichen und südlichen Ländern nicht viele kommen; ob aus Österreich viele Leute nach Berlin kommen werden, ist auch nicht sicher. Deshalb frage ich: Haben Sie ein beson­deres Interesse daran, daß der Berliner Kongreß einen real internatio­nalen Charakter trägt?

Rudolf Meyer antwortet, insofern Goethe ein übernationales Seelen- und Geistesleben vertreten habe.

Dr. Steiner: Das erreichen Sie nicht dadurch, daß Sie in Berlin ein besseres Verständnis für Goethe anbahnen. Das erreichen Sie besser, wenn Sie irgendwo anders hingehen. In Berlin nicht. Wenn Sie in Berlin davon sprechen, ist es geeignet, das Gegenteil der gewünschten Wirkung hervorzurufen. Goethe--das ist kein Grund, einen internationalen

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Kongreß in Berlin zu machen. Wird man etwas bei Englän­dern erreichen, wenn sie nach Berlin eingeladen werden? Wenn Sie in Berlin sagen, daß Goethe ein großer Mann ist, so werden die Leute es nicht dulden. Wohl aber, wenn Sie es in Paris sagen könnten! Formell kann man den Kongreß international gestalten, aber es wäre gut, wenn man nicht darauf rechnete, daß es zieht. - Ob es ein Kongreß oder etwas anderes ist, darauf kommt es nicht an. Eine solche Versamm­lung, wenn sie ihre Aufgabe richtig erfaßt, könnte für Deutschland außerordentlich wichtig sein, weil die Deutschen allen Grund haben, sich selbst ein wenig zu belehren. Im «Namen» kann man die Interna­tionalität in Erscheinung treten lassen; in die Realität wird sich das kaum umsetzen lassen.

Dr. Unger sagt einiges, das nicht notiert ist.

Rudolf Meyer: Der Bau in Dornach geht vor. Die deutschen Freunde werden sparen, um die [Mysterien-]Spiele zu ermöglichen!

Dr. Steiner: Ich glaube nicht, daß es wünschenswert ist, daß die deutschen Freunde sparen, weil es doch nicht hilft. Wenn sie noch so viel sparen, so bedeutet das in Dornach wenig, während es in Berlin etwas bedeuten kann. Wenn die Deutschen 30000000 Mark sparen, so sind das 17000 Franken.

Dr. Unger: Vielleicht kann man anderswo einen Kongreß veranstalten?

Dr. Steiner: In den westlichen Ländern fehlen uns die Kräfte. In Deutschland sind die Persönlichkeiten vorhanden; aber die Verhält­nisse sind schrecklich. Für die westlichen Länder haben wir kaum die Kräfte, die uns den Kongreß machen würden. Der Aufbau von Dorn-ach ist viel konkreter. Die Anthroposophische Gesellschaft in den westlichen Ländern bedarf eines Aufbaues, bevor man daran denken kann, etwas zu machen. Ob es finanziell möglich ist oder nicht, weiß ich nicht. Ein Garantiefonds durch eine Sammlung ist eine fragliche Geschichte. Wenn er nicht Garantiefonds bleibt, ist er eben eine

fragwürdige Geschichte. Ist es denn so, daß in Deutschland nicht genug Leute nach Berlin kommen werden?

Dr. Kolisko: Es ist finanziell kaum möglich.

Dr. Steiner: Wenn das so ist, dann ist es schwierig, einen ausführlichen Kongreß zu machen.

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Emil Leinhas: Vielleicht einen Kongreß als Hochschulveranstaltung? Es sprechen Frau Eljakim und Dr. Stein (nicht notiert).

Dr. Steiner: Was hier uns entgegentreten könnte, müßte sein, daß man versucht, tatsächlich in der Welt etwas hinzustellen, was Anthroposo­phie ist. Das würde darin bestehen, daß die drei Kurse, Wärme, Optik, Astronomie, weiter ausgearbeitet würden und diese Arbeiten vorlie­gen würden. Zu sehr haben sich die Sachen so entwickelt, daß diese Kurse eingesperrt gewesen sind, daß jetzt von allen Seiten die Leute an mich herankommen und von mir die Erlaubnis haben wollen, diese Kurse zu lesen. Es würde deren Verarbeitung da das Nötige tun. Das war von Anfang an beabsichtigt. Die Dinge, die schadhaft sind, zeigen sich in Symptomen. Es wurde zum Beispiel bei einer öffentlichen Tagung ein Theberath-Referat angekündigt. Theberath ist nicht er­schienen. Diese Dinge gehen nicht, sonst kommt das Urteil heraus:

Was wollen die sich mit der Wissenschaft beschäftigen!

Dr. Stein: Man soll keinen Kongreß machen; erst muß gearbeitet werden!

Dr. Steiner: Es wird doch gearbeitet! Wir haben zusammengezählt, wieviel Wissenschaftler wir haben. Da muß doch etwas sehr Nettes herausgearbeitet werden können. Ich habe nur diejenigen gezählt, die bei uns an irgendeiner Stelle stehen. Es sind diejenigen gezählt, die bei uns Gelegenheit haben, experimentell zu arbeiten.

Dr. Kolisko: Der Kongreß ist aus finanziellen Gründen unmöglich.

Dr. von Heydebrand: Man kann in Preußen schlecht von «international» öffentlich reden.

Rudolf Meyer: Es ist nicht im Sinne der Berliner Freunde, einen Kongreß ohne Dr. Steiner zu machen.

Albert Steffen: Es herrscht Besorgnis wegen der mangelnden Sicherheit und der Möglichkeit von Tumulten. Die Bitte, das zu berücksichtigen, wurde an mich gerichtet.

Dr. Steiner: Das ist nur ein vorubergehender Zustand. Doch ist für mich die erste Frage diese: Wenn ich jetzt Vorträge in Deutschland halte, so gibt es einen solchen Krakeel, daß die Vorträge überhaupt für alle Zukunft aufhören würden, besucht zu sein. Natürlich ist an ver­schiedenes gedacht worden; ich selbst kann nichts anderes tun, als den Leisegang aufs Korn zu nehmen. Aber das ist etwas, was nicht genügen

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wird; vor allen Dingen, weil alle möglichen Strömungen durcheinan­dergehen. Man muß schon daran glauben, daß die Gegnerschaft gegen Anthroposophie sich unter den jetzigen Verhältnissen ins Unermeß­liche vergrößert, wenn die Sachen so weitertreiben. Ein stärkeres Wahrzeichen für die Vergrößerung der Gegnerschaft kann es nicht geben, als daß dieser Bau verbrannt worden ist. Die Gegnerschaft wächst mit jeder Woche.

Die innere Konsolidierung und Positivierung der Gesellschaft wäre notwendig. Mit der Kritik des Unfugs, der außen geschieht, ist es nicht getan. Wenn man das weiter tut, so wird die Gegnerschaft nur größer. Alle diejenigen Unternehmungen, die darauf hinauslaufen, den Geg­nern ihr eignes Antlitz zu zeigen, machen die Gegnerschaft nur wilder. Die Gegnerschaft ist dadurch gewachsen, daß wir auf die bloße Kritik hin viele Feinde uns machten. Solange es nicht gelingt, etwas zur Konsolidierung der Gesellschaft zu tun, so lange werden diese Ver­hältnisse sich nicht ändern.

Dr. Hahn spricht (nicht notiert).

Dr. Steiner: Ich habe konkrete Beispiele dafür angeführt. Sie zeigen, daß es notwendig ist, die Aufnahme der positiven anthroposophischen Arbeit innerhalb unserer Gesellschaft zu intensivieren. In unserer Gesellschaft geschehen Dinge, die, wenn sie woanders geschehen wür­den, tatsächlich etwas Weitgehendes begründen würden: Bei uns läßt man sie vorübergehen. Wenn aber die Dinge so behandelt werden, wie diese positive Arbeit behandelt worden ist, dann ist kein Verständnis vorhanden innerhalb unserer Gesellschaft für das, was ich die innere Konsolidierung unserer Gesellschaft nenne. Das in der Gesellschaft Geleistete muß von der Gesellschaft anerkannt werden. Denn sonst ist es kein Wunder, wenn sich die Verhältnisse so entwickeln, wie sie sich entwickelt haben. Man geht um den heißen Brei herum. Man muß die Dinge beim richtigen Namen nennen!

An sich würde jetzt mit deutschen Kräften ein Kongreß in Stock­holm, Kopenhagen, Kristiania [Oslol für die Anthroposophie eine gute Sache sein; rein theoretisch betrachtet. Aber es fragt sich, ob dies augenblicklich unter diesen Verhältnissen, wo für den Bau gesorgt werden muß, finanziell wünschenswert ist.

Allerdings hat Fräulein Dr. von Heydebrand da eine Frage aufge­worfen. Es hat mich diese Frage dazu gebracht, daß ich sagen muß,

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man darf die Sache nicht von hinten herum behandeln. Es war etwas anderes, als die Anthroposophische Gesellschaft eine andere Position hatte. Jetzt muß mit der Abwehr der Gegnerschaft ernst gemacht werden; dafür muß man Verständnis haben. Dieses Verständnis ist nicht vorhanden. Und da kann man vielleicht davon reden hören, ob etwas Neues notwendig ist. Über das, was notwendig ist, kann man immer reden. Aber man denkt nicht daran, dies als eine wichtige Frage zu nehmen, daß Theberath ein Referat ankündigt und dann ausbleibt. Die Behandlung der Arbeit von Frau Kolisko habe ich auch angeführt. Es geht nicht, daß man die Sachen so laufen läßt, daß man sich um die Dinge nicht kümmert! Dadurch bringen wir die Bewegung auf ein totes Geleise. Durch die Auseinandersetzung mit der Atomistikfrage zum Beispiel bringen wir die Sache auf ein totes Geleise.

Die Gegnerschaft schlummert nicht. Man kommt dem mit nichts anderem bei als mit positiven Leistungen der Gesellschaft. Dadurch, daß in den letzten Jahren Wissenschaftler aufgetreten sind, muß die Gesellschaft beginnen mit dem, was sich nach außen fortsetzen will. Aber wenn wir es so treiben, daß wir den eigenen Arbeiten so schlecht entgegenkommen, so konsolidieren wir die Gesellschaft nie. Es ist notwendig, in der Gesellschaft selbst Verhältnisse herbeizuführen, die möglich sind, wodurch sich die Leistungen gegenseitig stützen. Die Zustände bei der Koliskoschen Broschüre sind zum Ruin der Gesell­schaft.

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EINLEITENDE WORTE

ZU DEM ERSTEN FÜR DIE ARBEITER AM GOETHEANUM­

BAU

NACH DEM BRAND GEHALTENEN VORTRAG

Dornach, Freitag, 5. Januar 1923, morgens 9 Uhr

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[Die Arbeiter hatten sich beim Hereinkommen Rudolf Steiners zum Zeichen ihrer Anteilnahme am Brandunglück von ihren Sitzen erhoben.]

Es ist schwer, etwas über den Schmerz auszusprechen, den ich emp­finde. Ich weiß ja, daß Sie innig Anteil nehmen an der Sache, und ich brauche daher nicht viele Worte zu machen.

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Es darf aber doch vielleicht, nicht wahr, bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam gemacht werden, daß ich ja schon am 23.Januar 1921 [GA 213] hier in diesem Saale eine Stelle vorlesen konnte aus einer Broschüre, wo geschildert war der Ausspruch eines Gegners, man kann schon sagen, Feindes, denn dieser Ausspruch hat ja dazumal gelautet: «Geistige Feuerfunken, die Blitzen gleich nach der hölzernen Mäusefalle zischen, sind also genügend vorhanden, und es wird schon einiger Klugheit Steiners bedürfen, versöhnend zu wirken, damit nicht eines Tages ein richtiger Feuerfunke der Dornacher Herrlichkeit ein unrühmliches Ende bereitet. »

Sehen Sie, wo so gehetzt wird, ist es ja nicht besonders zu verwun­dern, daß dann dergleichen Dinge geschehen, und es ist natürlich auch eine Sache, die bei der großen Feindschaft, die bestand, eben leicht zu befürchten war. Daß sie leicht zu befürchten war, werden Sie ja begreifen. Aber, nicht wahr, es ist doch so, daß man auch jetzt noch sieht, in welcher Weise gewisse Kreise über die Sache denken.

Man braucht nur diese Feindseligkeit in Betracht zu ziehen, braucht nur daran zu denken, welche Feindseligkeit darinnen liegt, daß Zei­tungen den Geschmack haben, jetzt zu sagen, nachdem es geschehen ist: Hat denn der «hellsichtige» Steiner diesen Brand nicht vorausgese­hen? Daß derlei Dinge außerdem noch eine Riesendummheit sind, darüber will ich jetzt nicht sprechen. Aber es liegt doch solch ein böswilliger Grad von Feindschaft darinnen, wenn man es jetzt für nötig findet, derlei Sätze überhaupt in die Welt zu setzen! Daraus ersieht man ja, was die Leute denken und wie roh es ist heute. Es ist roh!

Sie können aber überzeugt sein, ich selber werde mich von meinem Wege niemals abbringen lassen, was auch geschieht. Solange ich lebe, werde ich meine Sache vertreten und werde sie in derselben Weise vertreten, wie ich sie bisher vertreten habe. Und ich hoffe natürlich, daß in keiner Richtung hier irgendeine Unterbrechung eintritt, so daß wir auch in der Zukunft in derselben Weise hier am Orte werden so zusammen arbeiten können - wenigstens wird es mein Bestreben sein -, wie es bisher der Fall gewesen ist. Denn es mag auch geschehen, was immer, mein Gedanke ist, daß die Sache eben in irgendeiner Form wiederum aufgebaut werden muß. Und dazu soll alles gemacht wer­den, selbstverständlich. Also fortfahren in derselben Weise, wie wir es getan haben, müssen wir. Das ist einfach eine innere Verpflichtung.

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MITTEILUNG

der bisher aus aller Welt und nicht nur von Mitgliedern eingetroffenen

Teilnahme-Bekundun gen am Brandunglück, vor Beginn des Abendvortrages

Dornach, Samstag, 6. Januar 1923

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Meine lieben Freunde! Meine sehr verehrten Anwesenden! Ich müßte Ihnen ein Buch vorlesen, wenn ich Ihnen mitteilen wollte all die außerordentlich lieben Worte und die Worte inniger Verbindung mit dem, was hier durch die furchtbare Katastrophe verloren worden ist; ich werde mir erlauben, daher nur die Namen derjenigen mitzuteilen, welche unterzeichnet haben solche Worte des Anteiles, des Hingege­benseins an die Sache. Es sind zum Teil Zeichen dafür, wie tief in die Herzen vieler Menschen doch gegangen ist, was von hier aus an die Welt mitgeteilt werden darf. Es sind zum Teil auch Zeichen von wirklich tiefgefühlten Wünschen und auch tatkräftigen Willensent­schließungen, das wieder zu erringen, was wir verloren haben. Die breite Anteilnahme an unserer Arbeit und an unserem Verluste wird für viele von Ihnen ja gewiß eine Quelle von Kraft sein können, und schon aus diesem Grunde darf ich hier die Mitteilung von alledem machen. Denn unsere Sache soll ja nicht bloß eine theoretische sein, unsere Sache soll eine Sache der Arbeit, der Menschenliebe, des hinge­bungsvollen Menschheitsdienstes sein, und deshalb gehört zu dem, was von hier aus gesprochen werden soll, auch die Mitteilung dessen, was Tat oder Absicht zur Tat ist. Ich werde mir nur erlauben, diejeni­gen Namen zu nennen, die nicht Persönlichkeiten angehören, welche hier sind, denn was sich die Herzen derer mitzuteilen haben, die hier sind, das ist ja in diesen Tagen, in diesen Tagen des wirklich vom Schmerz durchwühlten Zusammenseins, mehr stumm, aber doch nicht weniger tief und deutlich zum Ausdrucke gekommen. So werden Sie mir gestatten, daß ich die lieben Freunde der Sache, die hier ihre Anteilnahme auch schriftlich zum Ausdrucke gebracht haben, jetzt nicht besonders anführe. Sie kennen sie ja. [Verlesung der Namen. *]

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* Einer der Zuhörer, Ernst Lehrs in «Gelebte Erwartung«, Stuttgart 1979, berichtet hierzu:

«Da wurde Botschaft für Botschaft teils kürzeren, teils längeren Inhaltes von ihm mit einer objektiven Ruhe und einer so völligen Hinwendung an dieses Geschehen verlesen, daß einem das Empfinden eines kultischen Aktes entstand. - Einmal versagte ihm dabei für einen Augenblick die Stimme.» - Zu Beginn des Abendvortrages am Sonntag, den 7.Ja-nuar 1923. wurden die neu eingetroffenen Teilnahmebekundungen bekanntgegeben.

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ANSPRACHE

in einer vom Zentralvorstand einberufenen Mitgliederversammlung zur Frage des Wiederaufbaues

Dornach, Dreikönigstag, 6. Januar 1923, 21 Uhr 30

nach dem Abendvortrag

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Die Verhandlungen wurden nicht protokolliert, nur die von Rudolf Steiner am Schluß der Versammlung gemachten Ausführungen. Im Stenogramm ist notiert, daß vorher hintereinander gesprochen haben: Uehli, Vreede, Vacano, Unger, Uehli, Leinhas, Steffen, Vreede, Kaufmann-Adams, Erikson, Moser, Frau Grosheintz.

Es ist in hohem Maße befriedigend, daß heute abend wiederholt hingedeutet worden ist auf jene Tatsache, die niemals innerhalb der Kreise der Anthroposophischen Gesellschaft vergessen werden darf:

Es ist die Tatsache, daß ja ein Teil, und zwar, ich gestehe es offen, sogar der allerwesentlichste Teil dessen, was in der Anthroposophischen Gesellschaft verkörpert sein soll, in den wichtigsten, in entscheiden­den Momenten seinen Bestand gezeigt hat. Es ist heute schon mit Recht darauf hingewiesen worden, daß dieser Bestand sich gezeigt hat, als die Idee zu diesem jetzt verlorenen Bau gefaßt wurde und wirklich in innigem Einklange der Herzen und der Seelen dieser Bau in Angriff genommen und weitergeführt worden ist, nachdem sowohl im An­fange wie im weiteren Verlauf unbegrenzte Opfer von seiten unseret lieben Freunde für die Arbeit, für das Instandsetzen des Werkes, gebracht worden sind - Opfer, deren Größe ja nur bemessen werden könnte, wenn man überall im einzelnen hinweisen würde darauf, wie schwer sie manchem geworden sind. Aber man braucht das nicht. Sie sind ja wirklich in dem Sinne aus anthroposophischem Geiste hervor­gegangen, daß sie in Liebe, in inniger Liebe gebracht worden sind, und das ist ganz gewiß einer der Hauptteile der Impulse, die innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft wirken sollen. Und wir haben in der Brandnacht diese Impulse wiederum in einer ganz hervorragenden Weise wirken gesehen. Es kann eigentlich kaum ein wirklich fühlendes Herz geben, das nicht in innigster Dankbarkeit gegen alle Freunde und gegen das Schicksal empfinden würde, was sich in dieser Weise geof­fenbart hat. Und ich möchte noch weitergehen. Ich möchte sagen:

Soweit es möglich war, immer mehr und immer intimer die Anthroposophische

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Gesellschaft kennenzulernen von dieser Seite her, desto mehr hat sich die gefühlsmäßige Überzeugung ergeben, daß es an dieser Liebe ganz gewiß auch in der Zukunft nicht fehlen wird. Sie hat sich in einer so starken Weise seit zehn Jahren während dieses Baues geoffenbart, sie hat sich in einer so wunderbaren Weise in der Brand-nacht geoffenbart, daß sie eben einfach als etwas angesprochen werden kann, was Dauer verspricht für die Zukunft. Alles hat hier gearbeitet in seiner Art. Da hätte ich wahrhaftig nicht nötig gehabt, aufzurufen zur Verständigung der Jungen und der Alten, wenn es sich gehandelt haben würde um das, was aus dieser Liebe heraus zu vollbringen ist und was im Grunde noch immer vollbracht wird; denn es ist ja auch eine gewisse opferwillige Arbeit, manche Nächte hier mit Wachdien­sten zuzubringen und dergleichen, und es ist schon unsere Sache, alle Einzelheiten anzuerkennen. Und im Grunde genommen, wenn wir die Arbeit der jungen Leute während der letzten Tage hier betrachten, so werden wir sagen müssen: Nach dieser Arbeit sind sie in bezug auf den Punkt, den ich jetzt hervorgehoben habe, wahrhaftig schon ganze Anthroposophen geworden, so wie die Alten.

Also in bezug auf diesen ersten Teil, meine lieben Freunde, kann ich nur aus dem Gefühl der allertiefsten Dankbarkeit gegenüber jedem einzelnen unserer Freunde sprechen, und Sie werden mir glauben, daß ich tief diesen Dank empfinde.

Nun aber darf ich vielleicht, weil wir schon heute einmal zu meiner Befriedigung hier zusammen sind, doch einmal wenigstens kurz die Situation noch von einer anderen Seite her beleuchten, von einer Seite her, die ich auch für ebenso wichtig halten muß. Sehen Sie, die Sache liegt ja so: Dieser Bau hier ist aufgeführt worden; dadurch, daß dieser Bau hier stand, ist die anthroposophische Sache tatsächlich in einer gewissen Beziehung vor der Welt etwas anderes geworden, als sie vorher war. Vielleicht braucht nicht ein jeder dieses andere, zu dem die anthroposophische Sache geworden ist, auch gerade zu schätzen. Wer mehr das Innere, das rein Geistige der anthroposophischen Bewegung allein schätzt, der wird vielleicht dieses tatsächliche Hingestelltsein der Anthroposophie vor die ganze Welt durch den Bau nicht als eine für ihn so außerordentlich wichtige Angelegenheit empfinden. Aber der Bau ist einmal aus einer inneren Notwendigkeit heraus entstanden. Er war da und hat eben als solcher die anthroposophische Bewegung zu etwas anderem gemacht, als sie vorher war, er hat sie zu dem gemacht,

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was nun wirklich zuweilen außerordentlich gut, zuweilen außeror­dentlich töricht selbstverständlich von einem großen Teil der Welt beurteilt worden ist.

Nun, meine lieben Freunde, ich bin der Allerletzte, dem an den Urteilen, die von außen an die Anthroposophie herankommen, viel liegt; denn in bezug auf die Anthroposophie hat man zunächst noch so viel im Positiven, im wirklich Schöpferischen zu leisten, daß es schon begreiflich ist, wenn man eigentlich kein besonderes Interesse hat an dem, was an Urteilen von außen kommt. Allein die Welt ist eben doch die Welt. Die Welt ist die physische Realität. Und selbst wenn einem gar nichts liegt an dem Urteile der Welt, so ist das Wirken, in vieler Beziehung wenigstens, insofern davon abhängig, daß dieses Urteil ungeheure Hemmnisse bereiten kann. Und da muß ich schon sagen, ist mit dem Bau für die Anthroposophische Gesellschaft die Aufgabe erwachsen, auch ein Auge zu haben für das Gedeihen der anthroposo­phischen Sache als einer Angelegenheit der gegenwärtigen Zivilisation als solcher.

Man möchte sagen: Wie es eben bei einem einzelnen Menschen kommt, daß, wenn er ein gewisses Alter erreicht hat, er Kleider für Erwachsene braucht, so sind eben besondere Bedingungen des Da­seins eingetreten für die Anthroposophische Gesellschaft, indem der Bau hier ein so ungeheuer zu der Welt sprechendes - ich meine jetzt nicht seinen inneren Wert, sondern einfach seine Größe -, ein so ungeheuer zu der Welt sprechendes äußeres Zeichen für diese anthro­posophische Bewegung war. Mit diesem mußte man nun schon einmal rechnen. Und ich kann Ihnen sagen, daß ich das einfach an den Rippenstößen, die eben seither viel zahlreicher gekommen sind als früher, erleben mußte.

Also es handelt sich darum, nicht bloß heute hinzuschauen darauf, wie die Dinge gehen müssen, damit der Bau wieder aufgerichtet werde; das ist ganz gewiß etwas, was eigentlich geschehen muß, nach­dem er einmal da war; und daß ein so ernster heiliger Wille in unseren Freunden vorhanden ist zu diesem Aufbau, dafür bin ich weiterhin dankbar. Aber heute handelt es sich auch darum, gerade im Angesichte dieser Katastrophe, wo wir eben dasjenige wieder aufbauen sollen, was gerade für die anthroposophische Bewegung eine neue Gestalt ge­bracht hat, heute handelt es sich darum, eben auch daran zu denken:

Wie kann die Anthroposophische Gesellschaft gerecht werden durch

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ihre innere geistige Kraft, durch ihr energisches Wollen, wie kann sie gerecht werden demjenigen, was ja in gewisser Beziehung als eine erneuerte Gestalt für sie aufgetreten ist?

Nun, meine lieben Freunde, lassen Sie mich eines sagen - Sie mussen es mir nicht übelnehmen, nachdem Sie ja soeben gehört haben, daß ich alles das, was in so schöner Weise heute gesprochen worden ist, ganz tief im Herzen empfinde -, daß ich eigentlich die Realität der Anthroposophischen Gesellschaft von seiten der zusammenwirken­den Liebe soweit für verwirklicht halte, als ich völlig überzeugt bin, von dieser Seite her werden dem Wiederaufbau des Goetheanum keine Hindernisse erwachsen. Diese Liebe erkenne ich schon als etwas, was so dauernd ist, daß wir damit das Goetheanum aufbauen können. Aber gerade indem ich das sage, werden Sie es mir nicht übelnehmen, wenn ich einige andere Bedingungen daran knüpfe, ohne deren Erfüllung ich mir heute, so wie die Dinge geworden sind, nicht denken kann, daß der nun einmal notwendige Aufbau des Goetheanum zu weiterem führen kann als zu einer unermeßlichen Vermehrung der Rippenstöße, von denen ich gesprochen habe, der Rippenstöße, die ich nicht persönlich meine, sondern die ich durchaus für die Sache, für die anthropo­sophische Sache, meine.

Meine lieben Freunde, wir haben in der anthroposophischen Sache bis zum Jahre 1914 gearbeitet. Es gipfelte dann diese Arbeit in der Absicht, diesen Bau aufzurichten, gipfelte in der Realisierung dieser Absicht. Es kam der Weltkrieg. Mit Recht ist zum Beispiel von Mr. Kaufmann hervorgehoben worden, welchen Einfluß der Weltkrieg auf unsere Arbeit hatte, sowohl am Goetheanum wie in der anthroposo­phischen Bewegung überhaupt. Aber meine lieben Freunde, diese Hindernisse waren äußere. Wir können zum Beispiel sagen: Wir konnten vielleicht aus den einzelnen Ländern, die im Kriege miteinan­der waren, nicht so zusammenkommen, wie man das ohne Krieg gekonnt hätte; wir haben hier aber wirklich international zusammen­gearbeitet. Hier haben sich alle kriegführenden Nationen in Liebe zueinander gefunden, und in Dornach selbst war etwas verwirklicht, was eigentlich aus der Schmerzlichkeit des Krieges heraus jeder ver­nunftige und fühlende Mensch als ein Ideal hätte ansehen sollen. Durch die äußeren Verhältnisse bedingt, ist selbstverständlich manche Unterbrechung eingetreten. Aber ich kann sagen: Wie ich die Sache ansehen muß, hat eigentlich in unser inneres geistiges Gefüge als

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Anthroposophische Gesellschaft der Weltkrieg keine Bresche geschla­gen. Er hat sogar in vieler Beziehung die einzelnen Glieder der ver­schiedenen Nationen hier in Dornach und damit über die Welt hin inniger zusammengeschmiedet. Das konnte man noch bemerken, als sie nach dem Weltkriege hier oder sonst irgendwo wiederum zusam­menkamen. Es war schon die Anthroposophische Gesellschaft bis zum Weltkriege hin von innen heraus in einem [so gefestigten] Zu­stande, daß eigentlich der Weltkrieg an ihrem Wesentlichen keine Erschütterung gebracht hat. Die Erschütterungen waren [nicht] von außen gekommen. So daß wir im Grunde genommen auch 1918 [mit Kriegsendej so dastanden, daß man sagen konnte: Aus der anthropo­sophischen Bewegung heraus ist nicht irgend etwas gekommen, was wir heute so besprechen müßten, daß wir sagen müßten: Konsolidie­rung der Anthroposophischen Gesellschaft ist notwendig.

Und was die Gegnerschaft betrifft: Die meisten unserer Freunde werden ja wissen, wie wenig ich mir innerlich mit dieser Gegnerschaft eigentlich zu tun mache und wie ich nur den Notwendigkeiten weiche, wenn es sich eben darum handelt, äußerlich sich mit ihr zu tun zu machen. Aber man muß sich dann mit ihr zu tun machen, wenn es sich um die inneren Bedingungen des Daseins der anthroposophischen Be­wegung handelt. Bis zumjahre 1918 waren die Gegnerschaften zu ertra­gen, durchaus zu ertragen, so häßlich sie da oder dort aufgetreten sind.

Dann kamen die Jahre nach dem Kriege. Und wenn Sie mich fragen, meine lieben Freunde, wann das Unkonsolidierte der Anthroposophi­schen Gesellschaft angefangen hat, wann die großen Schwierigkeiten für mich begonnen haben, dann antworte ich Ihnen darauf: Das sind die Jahre seit dem Ende des Weltkriegs. Und da kann ich eben nicht anders als ganz aufrichtig, aber in einer Aufrichtigkeit in Liebe zu Ihnen sprechen: Es sind diejenigen Jahre nach dem Weltkriege, in denen einzelne Freunde sich bemüßigt gefunden haben, das eine oder das andere zu begründen, um es gewissermaßen aufzupfropfen auf die Anthroposophische Gesellschaft.

Nun, meine lieben F eunde, ich sage auch den Ausdruck «Auf-pfropfen» nicht in eine m abfälligen Sinne, denn es ist nichts zugegeben worden, was nicht mit dem Geiste der anthroposophischen Bewegung vereinbar war. Aber was mit diesem Geiste wirklich nicht vereinbar ist, das ist dasjenige, was über die Gesellschaft gekommen ist. Und ich glaube, die wenigsten unter Ihnen sind heute zum Beispiel bereit

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einzusehen, in welchem Umfange der heutige Zustand der Gegner­schaft innig zusammenhängt mit dem, was seit 1919 sich zugetragen hat. Da kann ich nur sagen: Da gab es für mich die großen Schwierig­keiten, die darin bestanden, daß man seit jenen Jahren die Idee, den Drang hatte nach Projekten, den Drang hatte, alles mögliche auszusin­nen, um es zu tun.

Wenn man einen ernstlichen Willen hat, meine lieben Freunde, so kann das zu recht Gutem führen. Aber was sich als Erfahrung heraus­gestellt hat, ist, daß man ja angewiesen ist bei solchen Dingen auf Persönlichkeiten; und die Dinge waren derart, daß sie nur dann nicht zum Schaden der anthroposophischen Bewegung ausschlagen konn­ten, wenn die Persönlichkeiten, die diese Dinge wollten, diese Persön­lichkeiten, denen man entgegengekommen ist, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, voll bei der Stange geblieben und einen eisernen Willen entwickelt hätten, um das auch durchzuführen, was sie einmal in die Welt gerufen und wozu die Hand geboten werden mußte, weil man eben dem Willen der Mitglieder selbstverständlich Rechnung zu tragen hat.

Aber dem gegenüber muß gesagt werden, was gerade heute im Angesichte dieses Unglücksfalles tief empfunden werden muß. Es ist dieses: Die Art und Weise der Arbeit, wie sie seit 1919 war, die darf nicht weitergehen. Alle Liebe, alle Aufopferung in den weiten Kreisen der Mitglieder nützt nichts, wenn die Arbeitsmethoden, welche unter dem Projektemachen seit 1919 eingetreten sind, so fortgesetzt werden, wie sie getrieben wurden: daß man in tagelangen Versammlungen das oder jenes beschlossen hat, Programme in die Welt hinausgeschickt hat, die man nach vier Monaten mindestens vergessen hat und derglei­chen. Von Programm zu Programm eilte man; große Worte hatte man, wie man sie früher niemals hörte innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft; Arbeitsmethoden sind eingeführt worden: eigentlich Unmethoden.

Das, meine lieben Freunde, können Sie prüfen im einzelnen. Ich muß es einmal aussprechen schon aus dem Grunde, weil ich es für ein Verbrechen hielte, es nicht auszusprechen angesichts der hingebungs­vollen Liebe des Gros der Anthroposophischen Gesellschaft, wie sie sich jetzt wieder in der Brandnacht gezeigt hat.

Dasjenige, was notwendig ist, das ist, die Arbeitsmethode zu verlas-sen, nicht die Gebiete, aber die Arbeitsmethode zu verlassen; nicht in

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irgend etwas sich hineinzubegeben, was man am nächsten Tag wieder liegen läßt, sondern in energischer Weise bei den Dingen zu bleiben, die einmal begonnen worden sind, von denen man selbst gesagt hat, daß man sie als die seinigen betrachten will.

Ich weiß, daß ich damit gerade zu dem Gros der Anthroposophi­schen Gesellschaft nicht spreche; das Gros der Anthroposophischen Gesellschaft hat, wo es darauf ankam, das ihre zu tun, dieses immer getan. Um was es sich handelt, ist, daß nicht in die Anthroposophische Gesellschaft Arbeitsmethoden hineingetragen werden, die eigentlich Unmethoden sind. Es muß energisches Wollen hineingetragen wer­den, nicht bloßes Wünschen, energisches Wollen, nicht bloßes Auf­stellen von Idealen, energisches Wollen auf seinem Gebiete, nicht bloß etwa sich hinstellen und in die Gebiete der anderen hineinpfuschen. Es handelt sich darum, mit klarem Auge und mit energischem Willen, mit gutem energischem Willen andere Arbeitsmethoden eintreten zu las­sen als diejenigen, die seit vier Jahren in vielen Kreisen oder wenigstens in einzelnen Kreisen beliebt geworden sind und die in ihrer Unmetho­dik vielleicht das Gros der Mitglieder noch gar nicht einmal in der richtigen Weise angeschaut hat. Offenes Auge haben ist dasjenige, was wir brauchen.

Ich weiß, meine lieben Freunde, mit dem Gros der Mitglieder wird sich gut arbeiten lassen; aber es muß darauf gesehen werden, daß die Wege, die auf vielen Gebieten seit 1919 gegangen worden sind, nicht weiter gegangen werden und daß gerade nach dieser Richtung nicht immer bloß über die Dinge hinweggeredet wird, sondern daß durch Einsicht in die Fehler, durch eine scharfe Beurteilung der Fehler erkannt werde, was in der Zukunft getan werden muß.

Dies, meine lieben Freunde, ist es, um das ich Sie bitte. Ich danke Ihnen herzlich für alles, was hier ausgesprochen worden ist. Ich weiß zu würdigen so wunderschöne Worte, wie sie zum Beispiel Herr Leinhas eben gesprochen hat, bin auch von Herzen innigst dankbar für diese Worte, im Interesse der Anthroposophischen Gesellschaft vor allen Dingen. Aber ich rufe diejenigen Freunde, die noch ein Verständ­nis haben für die inneren Bedingungen der Anthroposophischen Ge­sellschaft, auch da, wo sie in ihre peripherischen Zweige hinaus ver­schwimmt, wo sie praktische Gebiete, praktische Kreise zieht, ich rufe die Freunde dazu auf, nun endlich einmal ernst und würdig ein Ende zu machen mit solchen Methoden, wie sie seit vier Jahren eingerissen

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sind; zu prüfen, worin die Fehler bestehen, und einzusehen, inwiefern gerade ein großer Teil derjenigen Gegnerschaft, die über viele Gebiete hinaus, über die hinaus es früher kein Hindernis gab, überhaupt die Vorträge unmöglich gemacht hat. Es handelt sich gar nicht so sehr darum, die Gegner zurückzuschlagen; die sind manchmal froh, wenn man ihnen einen Hieb gibt, der nützt ihnen, der schadet ihnen nicht. Es handelt sich nicht um das, sondern es handelt sich darum, daß tatsächlich innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft ein Mu­sterbeispiel gegeben werde von einem methodisch anzuerkennenden, das heißt vom Willen durchdrungenen Arbeiten, nicht von einem Aufstellen von Projekten und Wünschen, die man alle Augenblicke wiederum verläßt, sondern bei denen man bleibt, bei denen man auch wirklich eine hingebungsvolle Arbeit, nicht bloß eine Gschaftlhuberei verrichtet. Das ist es, was einer auf solchen Grundlagen ruhenden Bewegung, wie die anthroposophische Bewegung es ist, vor allen Dingen not tut. Ich muß es aussprechen, weil ich die Liebe erwidere, die mir auch am heutigen Abend wieder ausgesprochen worden ist. Soll ich aber diese Liebe in der richtigen Weise erwidern, dann muß ich aufrichtig sprechen zu denjenigen, die dies erwarten können, und dann muß ich sagen: Es sollen die Freunde, auf die es ankommt, einmal ernstlich erwägen, welche Methoden, die in den letzten vier Jahren zu Unmethoden geworden sind, zu verlassen sind. Dann erst wird die schöne Liebe, diese nicht nur unanfechtbare, sondern nicht hoch genug anzuschlagende Liebe, in der zusammengearbeitet worden ist in der Anthroposophischen Gesellschaft bis zum Baubeginn und wäh­rend des Baues bis 1918, dann wird diese Liebe in das richtige Fahr­wasser, in die richtige Strömung geleitet werden. Und ich bitte vor allen Dingen, die Sache so zu betrachten, daß die Worte, die ich heute nur aus einem innersten Zwang heraus rede, nicht wiederum taube Ohren finden, sondern ich bitte Sie, die Liebe, wenn sie vorhanden ist, schon so weit zu treiben, daß man auch wirklich ernstlich darauf sieht, daß die Methoden der letzten vier Jahre geprüft werden, damit wir wiederum dazu kommen - was notwendig ist -, daß die An­throposophische Gesellschaft vor allen Dingen bei sich anfängt, dasjenige zu zeigen, was sie von der Außenwelt verlangt. Solange wir unsere inneren Gegner sind, so lange brauchen wir uns, da wir ja auf einem okkulten Boden stehen, nicht zu verwundern, wenn eine furchtbare Gegnerschaft von außen anschlägt. Suchen wir auch

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da Selbsterkenntnis, so wird sich manches in das richtige Licht stellen lassen.

Das, meine lieben Freunde, ist eine große Aufgabe, eine Aufgabe, welche im Angesichte des großen Unglücks so schnell als möglich von denjenigen, auf die es ankommt, vollzogen werden sollte. Denn mir würde es unmöglich sein, auf solchen Grundlagen, wie sie von man­cher Seite in den letzten vier Jahren geschaffen worden sind, so weiter zu arbeiten, daß es nicht ein Mißbrauch der Liebe sein würde, die von dem Gros der Anthroposophischen Gesellschaft geübt wird: es würde von mir ein Mißbrauch dieser Liebe sein, wenn ich weiter diesen Unmethoden die Hand bieten würde und wenn ich nicht verlangen würde, daß zur Konsolidierung der Gesellschaft vor allen Dingen dadurch beigetragen wird, daß von denen, auf die es ankommt, tat­sächlich energisch geprüft wird, worin diese Unmethoden bestehen, die die Gesellschaft in diese Lage gebracht haben - um dadurch zu probieren, wenn die Gesellschaft selbst erst wiederum in einem ihr angemessenen Zustande ist, wie sich dann mit den Gegnerschaften fertig werden läßt. Verzeihen Sie, meine lieben Freunde, aber es hätte mir als etwas Unliebes geschienen gegenüber der vielen Liebe, die Sie auch heute mir entgegengebracht haben, wenn ich nicht in dieser Aufrichtigkeit Ihnen das heute gesagt hätte, was mir durchaus tief am Herzen liegt.

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ERSTE VERLAUTBARUNGEN ÜBER DEN BRAND

in der Wochenschrift «Das Goetheanum«

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In der ersten Nummer nach dem Brand (Nr.22 vom 7. Januar 1923) erschei­nen ein Aufsatz von Albert Steffen «Die Vernichtung des Goetheanum durch Feuer« und «Zeitungsstimmen über den Brand».

In der nächsten Nummer (Nr.23 vom 14. Januar 1923) beginnt die erste Folge von Rudolf Steiners Aufsatz «Das Goetheanum in seinen zehn Jahren»; Albert Steffen schreibt über «Das Goetheanum in der Geschichte». Auf der

letzten Seite dieser Nummer findet sich erstmals der während des ganzen Jahres 1923 in jeder Nummer erscheinende Aufruf:

Es wird gebeten, die Spenden für den Wiederaufbau des Goetheanum an Herrn Dr. Rudolf Steiner (Konto: Fonds für den Wiederaufbau des Goetheanum, Schweizerische Kreditanstalt Basel) zu senden.

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MAHNWORTE ZUR ERWECKUNG

DES NOTWENDIGEN GESELLSCHAFTSBEWUSSTSEINS

in den Dornacher Vorträgen vom Januar bis Februar 1923

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Dornach, Sonntag, 14.Januar 1923 (Schlußworte des Abendvortrages) vor der ersten Reise zu den Konsolidierungsverhandlungen in Stuttgart

... Aber die ganze Rederei, daß die Welt ein Traum ist, kann ja nur eine Vorbereitung sein zu etwas anderem. Zu was? Nun, zum Erwachen, meine lieben Freunde! Nicht darum handelt es sich, daß wir einsehen, die Welt ist ein Traum, sondern darum handelt es sich, daß wir, sobald wir nur ahnen, die Welt ist ein Traum, etwas dazutun, um zu erwa­chen! Und das Erwachen, das beginnt schon beim energischen Ergrei­fen des Denkens, bei dem aktiven Denken. Und da kommt man dann in alles andere hinein.

Sie sehen, es ist dies, was ich eben charakterisiert habe, dieser Impuls des Erwachens, ein notwendiger Impuls für die Gegenwart. Gewiß, dasjenige, was da als Anthroposophie auftritt, kann in die Welt gestellt werden. Wenn aber die Gesellschaft eben eine Anthroposophi­sche Gesellschaft sein will, dann muß diese Gesellschaft eine Realität bedeuten. Dann muß der einzelne, der in der Anthroposophischen Gesellschaft lebt, diese Anthroposophische Gesellschaft als Realität empfinden. Und er muß tief durchdrungen sein von diesem Er­wachenwollen und nicht, wie es vielfach der Fall ist, es sogleich als eine Beleidigung betrachten, wenn man ihm sagt: Stichl, steh auf! -Das ist schon notwendig. Und das ist es, was ich eben noch einmal nur in ein paar Worten wiederholen möchte.

Das Unglück, das uns betroffen hat, sollte in allererster Linie auch ein Weckruf dazu sein, an der Anthroposophischen Gesellschaft etwas zu tun, damit sie eine Realität werde. Dieses reale Wesen, das ist dasjenige, was man ja seit jener Zeit, die ich vor einigen Tagen hier am Ende des Weihnachtskursus charakterisiert habe, * so spürt. Die leben­dige Strömung von Mensch zu Mensch innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft, die muß da sein. Eine gewisse Lieblosigkeit ist an die Stelle des gegenseitigen Vertrauens in der neuesten Phase der Anthroposophischen Gesellschaft so häufig getreten, und wenn diese

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* In GA 219.

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Lieblosigkeit weiter überhand nimmt, dann wird eben die Anthropo­sophische Gesellschaft zerfallen müssen.

Sehen Sie, der Bau hat ja viele außerordentlich schöne Eigenschaf­ten der Anthroposophen an die Oberfläche gebracht; aber parallel hätte gehen müssen eine lebendige Erkraftung der Gesellschaft selbst. Es sind mit vollem Recht viele schöne Eigenschaften am Ende unseres Kurses neulich genannt worden, die hervorgetreten sind während des Baues, hervorgetreten sind während der Brandnacht. Aber diese Ei­genschaften brauchen Führung, brauchen vor allen Dingen aber auch dieses, daß jeder, der irgend etwas zu tun hat, auch innerhalb der Gesellschaft etwas zu tun hat, nicht dasjenige hineinträgt in die Gesell­schaft, was heute eben gang und gäbe ist, sondern daß jeder vor allen Dingen alles, was er für die Gesellschaft zu machen hat, mit wirk­lichem persönlichem Interesse und Anteil tue. Und dieses persönliche Interesse und diesen persönlichen Anteil, den muß man leider gerade da vermissen, wo Persönlichkeiten für die Gesellschaft das eine oder das andere tun.

Es ist ja kein Dienst zu gering, der für die Gesellschaft, das heißt auch von einem Menschen für den andern Menschen, in der Gesell­schaft gemacht werden kann. Das Geringste wird ja wertvoll dadurch, daß es im Dienste eines Großen steht. Das aber ist etwas, was so oft vergessen wird. Die Gesellschaft muß es ja mit größter, höchster Befriedigung sehen, wenn ein gewaltiges Unglück herausfordert zu der Betätigung der allerschönsten Eigenschaften. Aber darüber sollte nicht vergessen werden, wie bei vielen in den alltäglichen Verrichtun­gen Fleiß und Ausdauer, aber namentlich Interesse und persönliche Anteilnahme an dem, was einem obliegt, so leicht erlahmt, und wie manches, was man sich eines Tages vornimmt, so schnell vergessen wird. Deshalb wollte ich jetzt die ganze Größe des Gegensatzes, in dem sich Anthroposophie befindet gegenüber der Welt, einmal her­vorheben, weil gerade immer übersehen wird, wie die Gegnerschaft einzuschätzen ist.

Daß Gegnerschaft in sachlicher Beziehung da ist, das muß man begreifen, das muß man aus dem objektiven Weltengang heraus be­greifen. Manchmal aber bin ich doch - und ich habe es ja auch öffent­lich ausgesprochen - erstaunt darüber, wie wenig innere Anteilnahme da ist, wenn die Gegnerschaft so ausartet, daß sie einfach von objekti­ven Unwahrheiten nur so wimmelt. Wir müssen sachlich in der positiven

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Verteidigung der Anthroposophie bleiben, wenn es sich um Sach­liches handelt. Aber wir müssen uns auch wirklich dazu aufschwingen können, zu begreifen, daß Anthroposophie nur bestehen kann in der Atmosphäre der Wahrhaftigkeit; daß wir daher auch ein Gefühl ent­wickeln müssen dafür, was es heißt, wenn so viel von Unwahrhaftig­keit, von objektiver Verleumdung demjenigen entgegengebracht wird, was sich auf anthroposophischem Felde geltend macht. Da brauchen wir wirklich inneres Leben. Und da haben wir heute reichlich Gele­genheit dazu, zu erwachen. Dann wird der Impuls des Erwachens vielleicht sich auch auf anderes ausdehnen. Aber wenn man jemanden schlafen sieht, während die Flammen der Unwahrheit überall sich geltend machen, dann braucht man sich nicht zu verwundern, wenn auch der Stichl weiterschläft.

Das also, was ich im Großen charakterisieren möchte, was ich im Kleinen heute charakterisiere, das ist: Denken Sie, empfinden Sie, meditieren Sie über das Erwachen. Manche sehnen sich heute in dieser Zeit, wo die Verleumdungen zum Fenster hereinhageln, nach allerlei Esoterik. Ja, meine lieben Freunde, die Esoterik ist da. Fassen Sie sie! Aber dasjenige, was vor allen Dingen Esoterik ist innerhalb der ganzen Anthroposophischen Gesellschaft, das ist der Wille zum Erwachen. Dieser Wille zum Erwachen, er muß zuerst Platz greifen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft. Dann wird diese sein ein Ausstrah­lungspunkt für das Erwachen der ganzen gegenwärtigen Zivilisation.

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Dornach, Freitag, 19. Januar 1923 anschließend an den Abendvortrag

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Ich habe heute vernommen,* daß allerlei im Munde von Anthroposo­phen überflüssige Anekdoten herumgetragen werden, die, ich möchte sagen, aufgestachelt werden vielleicht durch die oder jene Empfindung gegenüber unserem großen Unglücke, mit der Katastrophe des Goe­theanum. Aber so ungern ich ja so etwas tue, möchte ich auch wiederum bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam machen, daß die Mitgliedschaft zur Anthroposophischen Gesellschaft gewisse Ver­pflichtungen auferlegt, vor allen Dingen die Verpflichtung, nicht Angriffspunkt

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* Bei der Rückkehr von den ersten Stuttgarter Verhandlungen.

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zu geben dadurch, daß wir solche Anekdoten herum-tragen. *

Ich muß dabei schon betonen, weil es um der Sache willen, nicht um des Persönlichen willen ist, daß ja alle diejenigen Dinge, die in dieser Weise von den Mitgliedern verübt werden, auf mich zurückfallen und damit auf die Sache der anthroposophischen Bewegung.

Wir haben die allergrößte Zurückhaltung notwendig im Anschuldi­gen und sollten als Anthroposophen wirklich schon den Ernst entwik­keln können, daß wir das nicht einmal in anekdotenhafter Form tun. Denn in welchen schlimmen Dingen wir drinnen stehen und welchen Angriffen wir ausgesetzt sind, das können Sie sich ja überzeugen aus dem, was Sie heute wiederum in den «Basler Nachrichten» finden können.

Gewiß, diese Dinge sind die denkbar unberechtigsten Angriffe; aber auf der anderen Seite darf ich doch wohl bitten, daß nach und nach jener Ernst, der da sein muß in der Anthroposophischen Gesell­schaft, von jedem einzelnen Mitgliede geübt werde und nicht jetzt ausgesprochen werden alle möglichen Anekdoten, die dann von den Gegnern ausgenützt werden. Und die Ausnützung wird ja dann gewöhnlich gerade auf mich abgeladen.

Ich tue es immer ungern, in dieser Weise Moral zu predigen, aber es ist von Zeit zu Zeit notwendig. Wie gesagt, ich habe heute wieder vernommen, daß solche Anekdoten auch von dem Munde von An­throposophen ausgesprochen worden sind. Ich möchte Sie bitten, um der Sache, um der heiligen Sache willen, sich nicht dieses Ernstes zu entschuldigen und allerlei Anekdoten herumzutragen. Das überlassen Sie den anderen Leuten! Es verpflichtet in einer gewissen Weise nun schon einmal das Mitgliedsein in der Anthroposophischen Gesell­schaft.

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* Rudolf Steiner wendete sich hier sicherlich gegen herumgetragene Vermutungen über den oder die Brandstifter.

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Dornach, Samstag, 20. Januar 1923

Zweiter Teil des Abendvortrages

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... Denn das, was uns in anthroposophischer Geisteswissenschaft entgegentritt, will nicht in derselben Weise hingenommen werden wie die Zivilisationsprodukte der Gegenwart, sondern es will Anregung sein zu einem besonderen Anschauen der Welt.

Wenn man das fühlen würde, was ich eben jetzt habe charakterisie­ren wollen, dann würde ein Zusammenschluß von Menschen in einer solchen Gesellschaft, wie die Anthroposophische es ist, diese Gesell­schaft zu einer Realität machen. Denn dann würde sich mit einem gewissen Recht jeder sagen, der zu dieser Anthroposophischen Gesell­schaft gehört: Ich bin ein Dankbarer gegenüber den Elementarwesen, die einstmals in meiner Menschenwesenheit gewirkt haben und mich eigentlich zu dem gemacht haben, was ich heute bin, die einstmals innerhalb meiner Haut gewohnt haben und zu mir durch meine Or­gane gesprochen haben. Sie haben jetzt die Möglichkeit verloren, durch meine Organe zu mir zu sprechen. Wenn ich aber in dieser Weise einem jeglichen Ding der Welt ansehe, wie es herausgestaltet ist aus der ganzen Natur, wenn ich die Schilderungen, die mir in Anthro­posophie gegeben werden, ernst nehme, dann spreche ich in meiner Seele eine Sprache, die diese Wesenheiten wieder verstehen. Ich werde ein Dankbarer gegenüber diesen geistigen Wesenheiten.

Das ist gemeint, wenn gesagt wird: In der Anthroposophischen Gesellschaft soll nicht bloß vom Geist im allgemeinen gesprochen werden - das tut auch der Pantheist -, sondern in der Anthroposophi­schen Gesellschaft soll man sich bewußt sein, mit dem Geiste wieder leben zu können. Dann würde ja ganz von selbst in die Anthroposo­phische Gesellschaft einziehen dieses Im-Geist-Leben auch wiederum mit andern Menschen. Man würde sagen: Die Anthroposophische Gesellschaft ist dazu da, um unseren Hegern und Pflegern aus alten Zeiten zurückzuzahlen, was sie an uns getan haben, und man würde gewahr werden die Realität des innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft waltenden Geistes. Und von den alten Gefühlen und den alten Empfindungen, die heute noch traditionell unter den Menschen leben, würde vieles verschwinden, und es würde sich ein reales Gefühl entwickeln von einer ganz bestimmten Aufgabe der Anthroposophischen

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Gesellschaft. Und alles, was sich sonst ausbildet, würde jetzt erst seinen wahren Sinn erhalten.

Gewiß, wir dürfen mit einer gewissen inneren Befriedigung sagen:

Ja, hier an diesem Bau, der nunmehr ein so trauriges Ende gefunden hat, haben während der Kriegszeit, als sich die Völker Europas befeh­det haben, siebzehn Nationen zusammen gearbeitet. Aber dasjenige, was als Anthroposophische Gesellschaft real ist, das entsteht erst, wenn die verschiedenen Nationalitäten abstreifen, was ihnen im engen Rahmen der Nationalität anhaftet, und wenn für sie der anthroposo­phische Zusammenhalt ein realer wird; wenn das als etwas Reales empfunden wird, was man abstrakt anstrebt mit dem Zusammen­schluß in der Anthroposophischen Gesellschaft. Dazu sind aber ganz bestimmte Vorbereitungen notwendig.

Es ist ein in einem gewissen Sinne berechtigter Vorwurf, den die Außenwelt den Anthroposophen macht, daß ja in der anthroposophi­schen Bewegung viel gesprochen wird vom geistigen Vorwärtskom­men, daß man aber wenig sehe von diesem geistigen Vorwärtskommen der einzelnen Anthroposophen. Dieses Vorwärtskommen ware durchaus möglich. Das richtige Lesen jedes einzelnen Buches gibt die Möglichkeit eines wirklichen Vorwärtskommens in geistiger Bezie­hung. Aber dazu ist nötig, daß diejenigen Dinge, von denen gestern gesprochen worden ist, wirklich real werden, ernsthaft genommen werden: daß der physische Leib in richtiger Weise konstituiert wird durch die Wahrhaftigkeit, der ätherische Leib durch den Schönheits-Sinn, der astralische Leib durch den Sinn für Güte.

Wenn wir zunächst sprechen von der Wahrhaftigkeit - diese Wahr­haftigkeit sollte sozusagen die große Vorbereiterin sein für alle, die nun wirklich anstreben, in einer Anthroposophischen Gesellschaft sich zusammenzuschließen. Wahrhaftigkeit muß zuerst im Leben er­worben werden, und Wahrhaftigkeit muß etwas anderes werden für diejenigen, die dankbar werden wollen ihren Hegern und Pflegern aus alten Zeiten, als sie ist für solche, die nichts wissen und nichts wissen wollen von einem solchen Verhältnis zu den einstigen Hegern und Pflegern der Menschheit.

Diejenigen Menschen, die davon nichts wissen wollen, mögen nach ihren Vorurteilen auch die Tatsachen meistern, sie mögen, wenn ihnen etwas recht ist, sagen, es sei so oder so geschehen, sie mögen, wenn es ihnen gerade paßt, daß dieser Mensch so oder so geartet ist, sagen, er

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sei so oder so geartet. Wer aber innere Wahrhaftigkeit in sich ausbilden will, der darf niemals weiter gehen, als die Tatsachen der äußeren Welt zu ihm sprechen. Und er müßte eigentlich, strenge genommen, immer darauf bedacht sein, sorgfältig seine Worte so zu formulieren, daß er in bezug auf die äußere Welt nur den konstatierten Tatbestand gibt.

Denken Sie nur einmal, wie es in der heutigen Welt Sitte ist, dasjenige, was einem gefällt, irgendwie vorauszusetzen und dazu an­zunehmen, daß es so sei. Anthroposophen müßten sich angewöhnen, streng auszusondern von dem reinen Tatsachenverlauf alle ihre Vorur­teile und nur zu schildern den reinen Tatsachenverlauf. Dadurch würden Anthroposophen von selbst Zu einer Art von korrigierenden Wesen werden gegenüber dem, was sonst heute Sitte ist.

Denken Sie nur, was wird uns alles heute durch die Zeitungen berichtet. Die Zeitungen fühlen sich verpflichtet, alles Zu berichten, gleichgültig ob irgendwie konstatiert werden kann, daß es so sei oder nicht so sei. Und dann spürt man oftmals, wenn irgend jemand etwas erzählt, wie die Bemühung fehlt, daraufzukommen, wie das konsta­tiert worden ist seiner Tatsächlichkeit nach. Dann hört man oftmals das Urteil: Ja, warum sollte das denn nicht so sein können? - Ganz gewiß, wenn man so an die Welt herangeht, daß man von irgend etwas, das behauptet wird, sagt: Warum sollte denn das nicht sein können?-, dann kann man nicht zu einer inneren Wahrhaftigkeit kommen. Denn was wir an uns erziehen im Anschauen der äußeren Sinneswelt, das muß gerade unter Anthroposophen so gestaltet werden, daß man streng stehenbleibt bei dem Konstatieren desjenigen, was in der äuße­ren Sinneswelt einem vor Augen getreten ist. Eine sehr merkwürdige Folge würde ja allerdings die Verfolgung eines solchen Zieles in der heutigen zivilisierten Welt haben. Wenn es durch irgendein Wunder geschehen könnte, daß viele Menschen dazu gezwungen würden, nur so ihre Worte zu prägen, wie es genau den Tatsachen entspricht, dann würde ein weitverbreitetes Verstummen entstehen. Denn das meiste, was heute geredet wird, entspricht eben nicht den konstatierten Tatsa­chen, sondern wird aus allerlei Meinungen, aus allerlei Leidenschaften heraus gesprochen.

Nun aber ist die Sache so, daß alles, was wir zu den äußeren Sinnesbedingungen hinzutun und was nicht dem reinen bloßen Tatsa­chenverlauf entspricht - wenn wir es in Vorstellungen wiedergeben -, in uns die Fähigkeit der höheren Erkenntnis auslöscht.

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Es ist einmal geschehen, daß in einem Kolleg, worin juristische Studenten gesessen haben, genau vorbereitet worden ist eine kleine Handlung, die vor etwa zwanzig Menschen ausgeführt wurde. Dann hat man diese zwanzig Menschen niederschreiben lassen, was sie gesehen haben. Natürlich wußte man ganz genau, was da getan wor­den war, denn jede Einzelheit war einstudiert gewesen. Zwanzig Leute sollten das hinterher aufschreiben, drei haben es halbwegs richtig aufgeschrieben, siebzehn falsch. Und das war in einem juristischen Kolleg, wo es wenigstens dazu gekommen ist, daß dreie einen Tatbe­stand richtig anschauten! Wenn man zwanzig Menschen heute hinter­einander irgend etwas, was sie gesehen haben wollen, schildern hört, so entspricht meistens das, was sie schildern, nicht im geringsten den Tatsachen. Ich will ganz absehen davon, wenn im Menschenleben außerordentliche Momente eintreten. Da ist es ja vorgekommen unter dem Kriegsfieber, daß einer den Abendstern, der durch eine Wolke geschimmert hat, für einen fremden Flieger angesehen hat. Gewiß, solche Dinge können in der Aufregung vorkommen. Aber sie sind dann die Verirrungen im Großen. Im alltäglichen Leben in bezug auf das Kleine sind sie fortwährend vorhanden.

Aber wenn man vom Werden des anthroposophischen Lebens spricht, dann hängt das davon ab, daß dieser Tatsachensinn wirklich in die Menschen einziehe, daß sie sich sozusagen ausbilden dafür, diesen Tatsachensinn allmählich zu haben, damit sie, wenn sie die äußere Tat ihrer Tatsächlichkeit nach sehen, nicht Gespenster malen, wenn sie sie nachher schildern. Man braucht ja heute nur Zeitungen zu lesen. Nicht wahr, die Gespenster sind abgeschafft, aber was einem in den Zeitun­gen als sichere Nachrichten erzählt wird, sind ja lauter Gespenster in Wirklichkeit, Gespenster übelster Sorte. Und was die Leute erzählen, sind oftmals ebenso Gespenster. Darauf kommt es an, daß sozusagen das Elementarste zum Aufsteigen in die höheren Welten dieses ist: daß man sich zuerst den reinen Tatsachensinn für die sinnliche Welt aneig­net. Dadurch erst kommt man zu dem, was ich gestern charakterisiert habe als Wahrhaftigkeit.

Und zu einem wirklichen Schönheitsgefühl, das ich gestern in seiner Lebendigkeit zu schildern versuchte, kommt man nicht anders, als wenn man den Anfang damit macht, den Dingen doch etwas anzusehen, also dem Vogel anzusehen, warum er einen Schnabel hat, dem Fisch anzusehen, warum er dieses eigentümliche Stanitzerl nach

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vorne hat, in dem sich ein zarter Kiefer verbirgt, und so weiter. Wirklich lernen, mit den Dingen zu leben, das gibt erst den Schön­heitssinn.

Und eine geistige Wahrheit ist ohne ein gewisses Maß von Güte, von Sinn für Güte, überhaupt nicht zu erreichen. Denn der Mensch muß die Fähigkeit haben, für den andern Menschen Interesse, Hinge­bung zu haben: das, was ich gestern so charakterisiert habe, daß eigentlich die Moral erst damit beginnt, wenn man in seinem astrali­schen Leibe die Sorgenfalten des andern selber als eine astralische Sorgenfalte ausbildet. Da beginnt die Moral, sonst wird die Moral nur Nachahmung von konventionellen Vorschriften oder Gewöhnungen sein. Was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» als moralische Tat geschildert habe, das hängt zusammen mit diesem Miterleben im eigenen astralischen Leibe der Sorgenfalte oder der Falten, welche durch das Lächeln des andern entstehen und so weiter. Ohne daß im menschlichen Zusammenleben dieses Untertauchen der Seele des einen in dem Wesen des andern stattfindet, kann nicht der Sinn für das wirklich reale Leben von Geistigkeit sich ausbilden.

Daher wäre es eine besonders gute Grundlage für das Ausbilden von Geistigkeit, wenn es eine Anthroposophische Gesellschaft gäbe, die eine Realität ist, wo jeder dem andern so gegenübertritt, daß er in ihm den mit ihm gemeinsam der Anthroposophie ergebenen Men­schen wirklich erlebt; wenn nicht hineingetragen würden in die An­throposophische Gesellschaft die heutigen allzumenschlichen Gefühle und Empfindungen. Wenn die Anthroposophische Gesellschaft wirk­lich eine Neubildung wäre, in der als das Allererste gilt: Der andere ist eben Mit-Anthroposoph -, dann würde die Anthroposophische Ge­sellschaft als eine Realität geschaffen werden. Dann würde es zum Beispiel unmöglich sein, daß innerhalb dieser Gesellschaft wiederum Cliquenbildungen und dergleichen auftreten, daß oftmals sogar jene Versuchung auftritt, daß das Antipathischsein von Menschen deshalb, weil ihnen die Nase so oder so gewachsen ist - was ja im äußeren Leben heute überhaupt Sitte ist -, in einem noch höheren Maße hineingetra­gen wird. Es würden tatsächlich die Beziehungen der Menschen zuein­ander dann gegründet werden können auf das, was sie gegenseitig an sich geistig erleben. Aber damit müßte eben der Anfang gemacht werden durch ein wirkliches Ausbilden des Sinnes für Wahrhaftigkeit gegenüber den Tatsachen, was im Grunde genommen einerlei ist mit

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der Genauigkeit, mit der Verantwortlichkeit und Pflege für exakte und genaue Wiedergabe desjenigen, was man einem andern mitteilt oder was man überhaupt sagt.

Dieser Sinn für Wahrhaftigkeit ist das eine. Und der Sinn für das Drinnenstehen eines jeden Wesens in der ganzen Welt, für das Fühlen des Wassers mit dem Fisch, der Luft mit dem Vogel, was sich dann überträgt auf den Sinn für das Verständnis des andern Menschen, das müßte das zweite sein. Und der Sinn für Güte, für dieses Miterleben all dessen, was den andern interessiert, was in der Seele des andern lebt, das müßte als das dritte walten. Dann würde die Anthroposophische Gesellschaft eine Stätte werden, in der angestrebt wird, physische Leiblichkeit, ätherische Leiblichkeit, astralische Leiblichkeit allmäh­lich ihren Zielen und ihrem Wesen gemäß auszubilden. Dann würde ein Anfang mit dem gemacht werden, was eben von mir immer wieder und wiederum dadurch charakterisiert werden muß, daß ich sage: Die Anthroposophische Gesellschaft sollte nicht irgend etwas sein, was Karten gibt, worauf Namen stehen und wo man bloß eingeschrieben ist, wo man die soundsovielte Nummer hat auf seiner Mitgliedskarte, sondern die Anthroposophische Gesellschaft sollte etwas sein, was von einer gemeinschaftlichen Geistigkeit wirklich durchdrungen ist, von einer Geistigkeit, die wenigstens die Anlage hat, immer stärker zu werden, immer mehr und mehr zu werden als die andern Geistigkei­ten, so daß es zuletzt so würde, daß es für den Menschen mehr Bedeutung hätte, sich in der anthroposophischen Geistigkeit zu fühlen als in der russischen oder in der englischen oder in der deutschen Geistigkeit. Dann erst ist das Gemeinsame wirklich da.

Heute betrachtet man das historische Moment noch nicht als ein wesentliches. Aber es ist den Menschen der neueren Zeit aufgegeben, ein Gefühl dafür zu haben, in der Geschichte zu leben und zu wissen, daß jetzt mit dem christlichen Prinzip der allgemeinen Menschlichkeit ernst gemacht werden muß, denn sonst verliert die Erde ihr Ziel und ihre innere Bedeutung. Man kann zuerst ausgehen von dem, daß einstmals elementarische geistige Wesen da waren, die unsere Mensch­heit gehegt und gepflegt haben, an die wir uns zurückerinnern sollten in Dankbarkeit; daß diese Wesenheiten in den letzten Jahrhunderten innerhalb der zivilisierten Welt Europas und Amerikas verloren haben ihren Zusammenhang mit dem Menschen; daß der Mensch lernen muß wiederum die Dankbarkeit gegenüber der geistigen Welt. Dann erst

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wird man auch zu richtigen sozialen Zuständen auf der Erde kommen, wenn man zu den Wesen der geistigen Welt jene starke Dankbarkeit und jene starke Liebe entwickelt, die vorhanden sein können, wenn man diese Wesenheiten als etwas Konkretes wirklich kennenlernt. Dann wird auch das Fühlen von Mensch zu Mensch ein ganz anderes werden, als es sich herausgebildet hat von älteren Zusammenhängen her, durch die Zeiten, die in den letzten Jahrhunderten abgelaufen sind, zu den neueren Zuständen, wo der Mensch jeden andern Men­schen eigentlich mehr oder weniger als etwas Fremdes empfindet und nur sich selber vor allen Dingen wichtig nimmt, trotzdem er sich ja gar nicht kennt, trotzdem er eigentlich nur sagen kann, wenn er es sich auch natürlich nicht gesteht: Ach, ich habe eigentlich mich am aller­liebsten. - Man kann fragen: Nun, was hast du denn da am allerlieb­sten? - Ja, das muß mir erst der Naturforscher sagen oder der Arzt erklären, was das eigentlich ist, was ich da am allerliebsten habe! -Aber der Mensch ist unbewußt gefühlsmäßig eigentlich nur in sich selber lebend.

Das ist das Gegenteil von dem, was eine Anthroposophische Ge­sellschaft geben kann. Es muß zunächst eingesehen werden, daß der Mensch aus sich herauskommen muß, daß den Menschen, mindestens zu einem Teil, die andern mit ihren Eigentümlichkeiten ebenso inter­essieren müssen, wie seine eigenen Eigentümlichkeiten ihn interessie­ren. Wenn das nicht der Fall ist, kann eine Anthroposophische Gesell­schaft nicht bestehen. Man kann Mitglieder aufnehmen, und man kann Regeln festsetzen, die können ja eine Weile bestehen, aber eine Realität ist das nicht. Realitäten entstehen nicht dadurch, daß man Mitglieder aufnimmt und diese Mitglieder nun Karten haben, durch die sie An­throposophen sind. Realitäten entstehen überhaupt niemals durch das, was man schreibt oder druckt, sondern Realitäten entstehen durch dasjenige, was lebt. Und es kann das Geschriebene oder Gedruckte eben nur ein Ausdruck des Lebens sein. Ist es ein Ausdruck des Lebens, dann ist eine Realität vorhanden. Ist aber das Geschriebene und Gedruckte nur Geschriebenes und Gedrucktes, das konventionell in seiner Bedeutung festgestellt wird, dann ist es Kadaver. Denn in dem Momente, wo ich irgend etwas niederschreibe, mausere ich meine Gedanken. Sie wissen, was «mausern» heißt; wenn der Vogel seine Federn abwirft, da wird das Tote abgeworfen. Solch ein Mausern ist es, wenn ich irgend etwas aufschreibe. Heute, da streben eigentlich die

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Leute nur noch nach Mausern der Gedanken: sie wollen alles in Aufgeschriebenes verwandeln. Aber so einem Vogel würde es furcht­bar schwer, wenn er sich eben gemausert hätte, sich gleich wieder zu mausern. Wenn irgend jemand anstreben wollte, daß ein Kanarienvo­gel, der sich eben gemausert hat, gleich wieder sich mausert, dann müßte er die Federn dazu nachmachen. Ja, aber so ist es heute! Weil die Leute überhaupt alles nur im toten Mauserungsprodukt haben wollen, so haben wir es eigentlich nur noch mit nachgemachten Realitäten, nicht mehr mit wirklichen Realitäten zu tun. Und meistens sind es nachgemachte Realitäten, was die Menschen von sich geben. Es ist zum Verzweifeln, wenn man das mißt an dem, was eine wirkliche Realität ist; wenn man sieht, wie eigentlich gar nicht mehr die Men­schen sprechen. Es spricht ja nicht mehr der Mensch; es spricht, nun ja, der Herr Regierungsrat oder der Herr Rechtsanwalt, es sprechen abstrakte Kategorien. Es spricht das Fräulein oder der Holländer oder der Russe. Aber was wir anstreben müssen, ist, daß nicht der Herr Hofrat, nicht der Herr Regierungsrat, nicht der Russe, nicht der Deutsche, nicht der Franzose und nicht der Engländer sprechen, sondern daß der Mensch spricht. Aber der Mensch muß doch erst wirklich da sein. Er wird aber nicht Mensch, wenn er nur sich selbst kennt. Denn das ist das Eigentümliche: Ebensowenig wie man die Luft, die man selbst erzeugt, atmen kann, ebensowenig kann man den Menschen, den man nur selber in sich ausfüllt, den man in sich selber fühlt, leben. Atmen Sie die Luft, die Sie selber in sich erzeugen. Das können Sie nicht. Aber Sie können auch den Menschen in Wirklichkeit nicht leben, den Sie selber in sich erzeugen. Sie müssen im sozialen Leben leben durch das, was die anderen Menschen sind, was Sie mit den andern Menschen miterleben. Das ist wahres Menschentum, das ist wahres menschliches Leben. Das leben wollen, was man nur in sich selbst erzeugt, würde dasselbe bedeuten, wie wenn man sich ent­schließen wollte, statt daß man die äußere Luft in sich aufnimmt, nun in ein Gefäß hineinzuatmen, um wiederum dieselbe Luft zu atmen, die man selber als Atemluft erzeugt hat. Da würde man, weil das Physische unbarmherziger ist als das Geistige, sehr bald ersterben. Und wenn man fortwährend nur an demselben herum­atmet, was man als Mensch selber erlebt, dann erstirbt man auch, nur weiß man nicht, daß man seelisch oder wenigstens geistig gestor­ben ist.

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Also es handelt sich darum, daß erst wirklich durch die Anthropo­sophische Gesellschaft oder Bewegung vollzogen wird das, was ich neulich charakterisiert habe mit den Worten aus dem Weihnachtsspiel:

«Stichl, steh auf!» Ich habe es in einem der letzten Vorträge charakteri­siert, daß dieses anthroposophische Leben ein Erwecken sein soll, ein Erwachen. Es muß aber zu gleicher Zeit ein fortwährendes Vermeiden des Seelentodes sein, ein fortwährender Appell an die Lebendigkeit des seelischen Lebens. Auf diese Art würde die Anthroposophische Gesellschaft von selbst durch die innere Kraft des geistig-seelischen Lebens eine Realität sein.

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Dornach, Sonntag, 21. Januar 1923

Schlußworte des Abendvortrages vor der Reise zu den

zweiten Konsolidierungsverhandlungen in Stuttgart

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... Aber wenn es zur Sündenerhebung kommen soll, dann muß der Mensch sich zuerst an der Sinnenwelt zur Wahrhaftigkeit erziehen und diese Erziehung, diese Angewöhnung dann in die geistige Welt hineintragen. Dann wird er auch in der geistigen Welt wahrhaftig sein können. Sonst erzählt er den Leuten die unglaublichsten Geschichten von der geistigen Welt. Hat er sich für die physische Welt Ungenauig­keit, Unwahrhaftigkeit, Unexaktheit angewöhnt, dann erzählt er lau­ter Unwahrheiten über die geistige Welt.

Wenn man so das Ideal faßt, dessen sich die Anthroposophische Gesellschaft als einer Realität bewußt werden kann, und wenn geltend gemacht wird, was aus einem solchen Bewußtsein kommt, dann muß selbst bei dem Ubelwollendsten der Glaube verschwinden, daß die Anthroposophische Gesellschaft eine Sekte sein kann. Nun, selbstver­ständlich werden die Gegner alles mögliche sagen, was nicht wahr ist. Aber es kann uns nicht gleichgültig sein, ob das wahr oder unwahr ist, was die Gegner sagen, solange wir Veranlassung dazu geben.

Nun hat sich durch das Wesen der Sache die Anthroposophische Gesellschaft aus der Sektiererei, in der sie ja gewiß anfangs befangen war, insbesondere solange sie mit der Theosophischen Gesellschaft verbunden war, gründlich herausgearbeitet. Nur haben viele Mitglie­der das heute noch nicht bemerkt und lieben die Sektiererei. Und so ist es zustande gekommen, daß selbst ältere anthroposophische Mitglieder,

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die fast zerspringen wollten unter der Umwandlung der Anthro­posophischen Gesellschaft aus einer sektiererischen in etwas, was sich seiner Weltaufgabe bewußt ist, daß sie, die fast Zerspringen wollten, in der allerneuesten Zeit einen Sprung machten. Inwiefern? Ja, sehen Sie:

Ebensofern aller Sektiererei, wenn sie ihrem Wesen folgt, kann die Bewegung für religiöse Erneuerung sein; aber diese Bewegung für religiöse Erneuerung hat zunächst einer Anzahl selbst älterer Anthro­posophen die Veranlassung gegeben, sich zu sagen: Ja, in der Anthro­posophischen Gesellschaft, da wird das sektiererische Wesen immer mehr und mehr ausgemerzt, doch hier können wir es wiederum pfle­gen! - Und so wird gerade durch Anthroposophen vielfach die reli­giöse Erneuerungsbewegung zu der wüstesten Sektiererei gemacht, was sie wahrlich gar nicht zu sein brauchte.

Man sieht also, wie - wenn die Anthroposophische Gesellschaft eine Realität werden will - der Mut, sich in die geistige Welt wiederum zu erheben, positiv gepflegt werden muß. Dann wird schon Kunst und Religion sprießen in der Anthroposophischen Gesellschaft. Wenn uns zunächst auch unsere künstlerischen Formen genommen sind, sie leben eben im Wesen der anthroposophischen Bewegung selber und mussen immer wieder und wiederum gefunden werden.

Ebenso lebt die wahre religiöse Vertiefung in denen, welche den Weg in die geistige Welt zurückfinden, welche die Sündenerhebung ernsthaft nehmen. Aber was wir in uns selber ausmerzen müssen, das ist der Hang zur Sektiererei, denn er ist immer egoistisch. Er will immer die Umständlichkeit vermeiden, in die Realität des Geistes hineinzudringen, um sich zu begnügen mit einem mystischen Schwel­gen, das im Grunde genommen eine egoistische Wollust ist. Und alles Reden davon, daß die Anthroposophische Gesellschaft viel zu intel­lektualistisch geworden ist, beruht eigentlich darauf, daß diejenigen, die so reden, eben das konsequente Erleben eines geistigen Inhaltes vermeiden wollen und viel mehr die egoistische Wollust des seelischen Schwelgens in einer mystischen, nebulosen Unbestimmtheit wollen. Selbstlosigkeit ist notwendig zur wirklichen Anthroposophie. Ein bloßer Seelenegoismus ist es, wenn dieser wirklichen Anthroposophie von den anthroposophischen Mitgliedern selber widerstrebt wird und sie nun erst recht hineintreiben in ein sektiererisches Wesen, das eben nur die seelische Wollust befriedigen soll, die durch und durch etwas Egoistisches ist.

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Das sind die Dinge, die wir uns vor Augen führen müssen hinsicht­lich unserer Aufgabe. Dadurch wird nichts verlorengehen von der Wärme, von dem künstlerischen Sinn und der religiösen Innigkeit des anthroposophischen Strebens. Aber es wird vermieden werden, was vermieden werden muß: der sektiererische Hang. Und dieser sektiere­rische Hang, er hat so manches die Gesellschaft Auflösende gebracht, wenn er auch oft auf dem Umwege des reinen Cliquenwesens gekom­men ist. Aber Cliquenwesen entstand innerhalb der anthroposophi­schen Bewegung auch nur wegen seiner Verwandtschaft - es ist aller­dings eine weite, eine entfernte Verwandtschaft - mit dem sektiereri­schen Hang. Wir müssen zurückkommen zu der Pflege eines gewissen Weltbewußtseins, so daß nur noch Gegner, welche absichtlich die Unwahrheit sagen wollen, die Anthroposophische Gesellschaft eine Sekte nennen können. Wir müssen dazu kommen, streng abweisen zu können den sektiererischen Charakterzug der anthroposophischen Bewegung. So sollen wir ihn aber abweisen, daß, wenn etwas auf­taucht, was selber nicht sektiererisch gedacht ist, wie die religiöse Erneuerungsbewegung, es nicht sogleich ergriffen wird, weil man es leichter im sektiererischen Sinne gestalten kann als die Anthroposo­phische Gesellschaft selber.

Das sind die Dinge, die wir heute scharf bedenken müssen. Wir müssen heute aus dem innersten Wesen der Anthroposophie heraus verstehen, inwiefern die Anthroposophie dem Menschen ein Weltbe­wußtsein geben kann, nicht ein sektiererisches Bewußtsein. Deshalb mußte ich in diesen Tagen gerade von diesen engeren Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft sprechen.

Dornach, Samstag, 3. Februar 1923

Schlußworte des Abendvortrages

Wenn man ein anthroposophisches Buch liest, muß man mit seinem ganzen Menschen hinein, und weil man im Schlafe bewußtlos ist, also keine Gedanken hat - aber der Wille dauert fort -, muß man mit dem Willen hinein. Wollen Sie dasjenige, was in den Worten eines wirk­lichen anthroposophischen Buches liegt, so werden Sie durch dieses Wollen wenigstens gedankenhaft unmittelbar hellsichtig. Und sehen Sie, dieser Wille, der muß noch hinein in diejenigen, die unsere Anthroposophie

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vertreten! Wenn dieser Wille hineinfährt wie ein Blitz in diejenigen, die unsere Anthroposophie vertreten, dann wird die An­throposophie vor der Welt in der richtigen Weise vertreten werden können. Nicht irgendwelcher Zauberkünste bedarf es dazu, sondern des energischen Wollens, das nicht nur die Lebensstücke während des Tages hineinträgt in ein Buch. Heute lesen ja die Leute übrigens nicht einmal mehr mit diesem unvollständigen Lebensstück Werke, sondern heute bei der Zeitungslektüre genügt es, wenn man ein paar Tagesmi­nuten rege macht, um sich anzueignen, was man da hat. Da braucht man nicht einmal den ganzen wachen Tag. Wenn man aber mit seinem ganzen Menschen untertaucht in ein Buch, das aus der Anthropo­sophie entstammt, dann wird es in einem lebendig.

Das ist aber dasjenige, was beachtet werden sollte, namentlich von jenen, die führende Persönlichkeiten sein sollen innerhalb der Anthro­posophischen Gesellschaft. Denn dieser Anthroposophischen Gesell­schaft schadet es ungeheuer, wenn gesagt wird: Ja, die Anthroposo­phie wird verkündet von Menschen, die nicht für sie eintreten können.

- Wir müssen eben dazu kommen, zu dem bloßen passiven intellek­tualistischen Erleben der anthroposophischen Wahrheiten das Aufge­hen mit unserem ganzen Menschen in diesen anthroposophischen Wahrheiten zu finden. Dann wird dasjenige, was anthroposophische Verkündigung ist, nicht in der lendenlahmen Weise auftreten, daß man immer nur sagt: Von geisteswissenschaftlicher Seite wird uns versi­chert -, sondern dann wird man die anthroposophische Wahrheit als sein eigenes Erleben verkündigen können, wenigstens zunächst für das, was dem Menschen am allernächsten liegt, zum Beispiel für das medizinische Gebiet, für das physiologische Gebiet, für das biologi­sche Gebiet, für das Gebiet der äußeren Wissenschaften oder des äußeren sozialen Lebens. Wenn auch nicht die Gebiete der höheren Hierarchien auf dieser ersten Stufe des Hellsehens zugänglich werden, aber das, was als Geist in unserer unmittelbaren Umgebung ist, das kann auf diese Weise auch wirklich Gegenstand der menschlichen Seelenverfassung der Gegenwart sein. Und vom Willen hängt es ab im umfassendsten Sinne, ob in unserer Anthroposophischen Gesellschaft Menschen auftreten, die Zeugnis - ein gültiges Zeugnis, weil es unmit­telbar empfunden wird, als lebendiger Quell der Wahrheit empfunden wird -, die ein gültiges lebendiges Zeugnis für die innere Wahrheit des Anthroposophischen ablegen können.

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Das hängt auch zusammen mit dem, was der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig ist: daß in ihr Persönlichkeiten auftreten müs­sen, die, wenn ich mich des paradoxen Ausdrucks bedienen will, den guten Willen zum Willen haben. Heute nennt man Willen jeden belie­bigen Wunsch; aber ein Wunsch ist kein Wille. Manche möchten, daß etwas so und so gelinge. Das ist kein Wille. Der Wille ist tätige Kraft. Die fehlt heute im weitesten Umfange. Die fehlt dem Menschen der Gegenwart. Die darf aber nicht fehlen innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft. Da muß ruhiger Enthusiasmus in starkem Willen verankert sein können. Das gehört auch zu den Lebensbedingungen der Anthroposophischen Gesellschaft. Nun, ich werde über diese Dinge morgen weiterreden.

Weil es eben in der Anthroposophischen Gesellschaft nicht so ist, wie es sein sollte, so muß jetzt Mannigfaltiges getan werden, und ich bin genötigt, noch einmal eine kurze Reise nach Stuttgart zu machen. Daher muß ich noch einmal bitten, morgen den Vortrag um 11 Uhr halten zu können, damit alle nötigen sonstigen Proben, Vorbereitun­gen und so weiter auf den Abend verlegt werden können. So daß wir morgen meinen Vortrag um 11 Uhr vormittags haben können, die Eurythmievorstellung um 5 Uhr nachmittags. Sie wird aber wirklich so sein, daß, wenn zwar nicht so neu wie vor 8 Tagen, wir auch da wieder sagen können: Anthroposophen sollten so viel an Enthusias­mus aufbringen können, daß sie zweimal den Berg heraufsteigen. Also ich möchte das nicht als Entschuldigung gelten lassen für den etwaigen Nicht-Besuch der Eurythmievorstellung, daß man zweimal herauf­kommen muß. Aber es liegt eben in den Unvollkommenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft, daß wir morgen die Zeit zu kom­men zweimal brauchen: um 11 Uhr zum Vortrag und um 5 Uhr zur Eurythmievorstellung.

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Dornach, Sonntag, 4. Februar 1923

Zweiter Teil des Vortrages

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Es ist ganz merkwürdig, was für Ideen entstehen gerade an der Hand der anthroposophischen Bücher. Ich begreife diese Ideen, widerspre­che ihnen oftmals nicht, weil sie für den einzelnen ihren Wert haben; aber nehmen wir zum Beispiel die «Geheimwissenschaft». Es sind Leute gekommen, die meinen, für diese «Geheimwissenschaft» von

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mir etwas tun zu können, wenn sie die ganze «Geheimwissenschaft» malen, so daß sie in Bildern vor den Leuten stehen würde. Es ist diese Sehnsucht entstanden. Es sind sogar Proben davon geliefert worden. Ich habe nichts dagegen; wenn diese Proben gut sind, so kann man sie sogar bewundern, es ist ja ganz schön, solche Dinge zu machen. Aber aus welcher Sehnsucht gehen sie hervor? Sie gehen aus der Sehnsucht hervor, das Wichtigste, was an der «Geheimwissenschaft» entwickelt wird, wegzunehmen und vor den Menschen Bilder hinzustellen, die wieder Bretter sind. Denn worauf es ankommt, das ist - so wie unsere Sprache und wie das scheußliche Schreiben geworden ist, dieses furchtbare Schreiben oder gar das Druckenlassen -, das nun zu neh­men, wie es einmal ist, sich nicht aufzulehnen gegen das, was die Zivilisation gebracht hat, und das so zu nehmen, daß der Leser es auch sogleich überwinden kann, daß er sogleich herauskommt und nun die ganzen Bilder sich selber macht, die eingeflossen sind in die scheußli­che Tinte, sie sich also selber erschafft. Je individueller jeder selber diese Bilder erschafft, desto besser ist es. Wenn das ihm ein anderer vorwegnimmt, so vermauert er ihm ja wiederum die Welt. Ich will ja nicht eine Philippika halten gegen die malerische Ausgestaltung des­sen, was in der «Geheimwissenschaft» in Imaginationen dargestellt ist, selbstverständlich nicht, aber ich möchte nur auf das hinweisen, was als ein erlebendes Aufnehmen dieser Sache im Grunde genommen für jeden notwendig ist.

Diese Dinge müssen heute in der richtigen Weise verstanden wer­den. Man muß eben dazu kommen, die Anthroposophie nicht nur als etwas zu nehmen, wo hinein man sich in derselben Weise vertieft, wie man sich in anderes vertieft, sondern man muß sie als etwas nehmen, was ein Umdenken und Umempfinden voraussetzt, was voraussetzt, daß der Mensch sich anders macht, als er vorher war. Man kann also, wenn zum Beispiel aus der Anthroposophie heraus, sagen wir, ein astronomisches Kapitel vorgetragen wird, nun nicht dieses astronomi­sche Kapitel nehmen und es vergleichen mit der gewöhnlichen Astro­nomie und nun anfangen, hin und her zu beweisen und zu widerlegen. Das hat gar keinen Sinn, sondern man muß sich klar sein darüber: das aus der Anthroposophie geschöpfte astronomische Kapitel ist erst verständlich, wenn eben das Umdenken und Umempfinden da ist. Wenn also irgendwo heute eine Widerlegung irgendeines anthroposo­phischen Kapitels erscheint und dann eine mit denselben Mitteln wie

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die Widerlegung erschienene geschriebene Verteidigung da ist, dann ist dadurch gar nichts getan, eigentlich wirklich gar nichts getan, denn man redet hinüber und herüber mit derselben Denkweise. Darauf kommt es gar nicht an, sondern es kommt darauf an, daß von einem neuen Leben die Anthroposophie getragen werde. Und das ist heute durchaus notwendig.

Dringend notwendig ist es, in dieser Phase der Anthroposophi­schen Gesellschaft gerade über diese Dinge zu sprechen, denn diese Dinge fangen an, in der allergründlichsten Weise mißverstanden zu werden. Zu diesem Zwecke lassen Sie mich heute ein paar Rückblicke machen auf die Art und Weise, wie die Anthroposophische Gesell­schaft geworden ist. Sehen Sie, sie ist durchaus nicht dadurch gewor­den, daß sie das gesucht hat, sondern dadurch, daß es sich aus den Lebensverhältnissen heraus ergeben hat; sie ist geworden, indem sie im Beginne unseres Jahrhunderts in einer gewissen losen, äußerlichen Verbindung mit der Theosophischen Gesellschaft war. Diese Theoso­phische Gesellschaft, sie hat im wesentlichen sich immer bemüht, alte Einweihungsprinzipien in die Gegenwart hereinzutragen. Das Schick­sal hat es so gefügt, daß gerade innerhalb theosophischer Kreise zu­nächst von Anthroposophie gesprochen werden konnte. Ich habe die Gründe dafür öfter auseinandergesetzt, und ich will sie heute nicht wiederholen. Angedeutet habe ich sie ja in dem ersten Aufsatz, den ich geschrieben habe in der Serie: «Das Goetheanum in seinen zehn Jahren» [in GA 36].

Aber Anthroposophie mußte sich dazumal als ein Selbständiges herauswinden aus der modernen Auffassung des Geistigen, die, ich möchte sagen, im weitesten Umkreise mehr nach dem Theosophi­schen hinneigte: nach dem Wiederherauftragen alter Einweihungsme­thoden. In welch grotesker Weise diese alten Einweihungsmethoden nicht zusammenstimmen mit dem, was die Forderung der neueren Zivilisation ist, das zeigte sich ja ganz besonders, als so um die Jahre 1907, 1908, 1909, 1910 diese geistige Bewegung, die den theosophi­schen Charakter hatte, an das Christusproblem herankam. Da produ­zierte diese theosophische Bewegung die Absurdität von einem in einem gegenwärtigen Menschenkinde verkörperten Christus Jesus. Und daran schlossen sich dann alle übrigen Absurditäten, welche die theosophische Bewegung hervorgebracht hat. Von Anfang an mußte Anthroposophie, im Gegensatz zur Theosophie, hinführen Zu einer

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richtigen Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Daher ist in der ersten Periode des anthroposophischen Lebens vorzugsweise die Evangelien-Erklärung dagewesen, die Hinleitung zu einer richtigen Auffassung des Mysteriums von Golgatha. Und in der Zeit, als mit Bezug auf das Mysterium von Golgatha die andere spirituelle Be­wegung in die ärgsten Absurditäten verfallen ist, näherte sich die anthroposophische Bewegung immer mehr einer wirklichen realen Auffassung des Mysteriums von Golgatha und ging ihren Weg mit dieser Auffassung des Mysteriums von Golgatha, während die theosophische Bewegung nicht weiter mit ihr verbunden sein konnte.

Das war die erste Phase des anthroposophischen Strebens. Es war der bedeutsame zusammenhaltende Impuls da, die anthroposophische Bewegung in rechter Weise mit dem Mysterium von Golgatha zu verbinden. Und man kann sagen, daß in dem Augenblicke, als ge­schrieben werden konnten meine Mysterien, diese Phase zu einer Art vorläufigem Abschluß gekommen war. Daß verbunden sein müsse die anthroposophische Bewegung mit einer richtigen Erfassung des My­steriums von Golgatha, das war dazumal eine allgemeine Überzeu­gung unter den Anthroposophen. Und der Schwung, den dazumal die anthroposophische Bewegung hatte bis gegen das Jahr 1908, 1909 und so weiter, dieser Schwung kam daher, daß auf neuere spirituelle Weise ein richtiges Verständnis des Mysteriums von Golgatha erobert wurde, alles so orientiert wurde, daß das Mysterium von Golgatha in der Mitte des Verständnisses stehen konnte. Dadurch bekam die Anthroposophische Gesellschaft dazumal ihren Charakter.

Aber die Dinge, die im äußeren wirklichen Leben drinnenstehen, machen eine Geschichte durch, und etwas, was voll inneren Lebens sein soll, wie die Anthroposophische Gesellschaft, das macht in schnellerem Tempo eine Geschichte durch als anderes.

Eine wichtige Phase zum Beispiel in der anthroposophischen Be­wegung, als die Anthroposophie schon vollständig selbständig war gegenüber der Theosophie, war dann diejenige, daß ich in Prag den Vortrags-Zyklus über «Okkulte Physiologie» gehalten habe und daß immer mehr und mehr, ich möchte sagen, auch die Welterkenntnis erobert werden konnte durch das anthroposophische Wissen. Damit konnte der Welt gezeigt werden: Diese Anthroposophie ist nicht etwas in Wolkenhöhen nur mystisch Schwebendes, sondern sie er­greift wirklich das moderne Bewußtsein. Sie rechnet mit dem Heraufkommen

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der Bewußtseinsseelen-Entwicklung. Sie wagt sich vor in Gebiete, deren Begreifen eben nur mit Spiritualität möglich ist, die aber die Gebiete der menschlichen Weltumgebung sind.

Und so ging, nachdem gewissermaßen, ich möchte sagen, befestigt war innerhalb der anthroposophischen Bewegung das Mysterium von Golgatha, eine nur bei völligem Ernstnehmen des Mysteriums von Golgatha mögliche wissenschaftliche Bewegung ihre ersten Schritte.

Das war dann schwer festzuhalten in der Zeit, als in Europa alles drunter und drüber ging, als der Weltkrieg kam. Wir waren in der zweiten Phase der anthroposophischen Bewegung. Wir hatten gewis­sermaßen das hinter uns, daß wir Zeugnis davon abgelegt hatten: wir wollen mit dem Mysterium von Golgatha fest verbunden sein. Wir hatten eben in Arbeit genommen das Ausdehnen des anthroposophi­schen Impulses über die verschiedenen Gebiete der Weltzivilisation. Und nun kam die Zeit, in der ja in Europa die Menschen in einem so hohen Maße voneinander getrennt wurden, die Zeit, in der Mißtrauen, Haß überhand nahmen. Eine Zeit kam, in der alles dasjenige lebte, was innerhalb einer anthroposophischen Gemeinschaft nicht leben darf, wenn sie ihren richtigen Lebensimpuls entfalten soll. Und es ist in einer gewissen Weise wirklich gelungen, trotz der Schwierigkeiten, welche damals bestanden, die Anthroposophische Gesellschaft wei­terzuführen.

Bedenken wir die Schwierigkeiten, die bestanden. Eine große Schwierigkeit bestand darin, daß die ursprüngliche Begründung der Anthroposophie von dem deutschen Mitteleuropa ausgegangen war, daß wir unser Goetheanum hier in einem neutralen Gebiet hatten, daß, ich möchte sagen, jedes Zusammenwirken von Menschen, die den verschiedensten europäischen Gebieten angehörten, von vielen Seiten mit ungeheurem Mißtrauen betrachtet worden ist. Jedes Herüber- und Hinüberwirken, jedes Herüber- und Hinüberreisen war ja in jener Zeit eine ungeheure Schwierigkeit. Aber die Schwierigkeiten sind damals überwunden worden, weil sie behandelt worden sind - meine lieben Freunde, das muß schon gesagt werden -, weil sie behandelt worden sind aus anthroposophischem Geiste heraus. Ich weiß, daß mancher, der dazumal in der anthroposophischen Bewegung gestan­den hat, manches auch kritisiert hat, übelgenommen hat sogar, weil man nicht immer gleich einsah, was gegenüber den die Welt zerspal­tenden Urteilen gerade unternommen werden mußte, um den Zusammenhalt,

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wie er allein in anthroposophischer Gesinnung sein kann, zu sichern! Und so konnten wir die anthroposophische Bewegung hinlei­ten über die Schwierigkeiten, die sich während der europäischen Kri­siszeit ergeben haben, konnten sie in einer gewissen Weise rein erhal­ten. Diejenigen Menschen, die geradezu für das Mißtrauen in jener Zeit veranlagt waren, konnten vielfach zum Vertrauen gebracht wer­den, zu dem Vertrauen, daß sie sich als ganz Außenstehende sagten:

Anthroposophie, man mag sich zu ihr stellen, wie man will, sie ist doch etwas, was sich nicht ausnimmt wie ein Ding, dem man Mißtrauen entgegenbringen muß, auch wenn sie mit den verschiedensten Natio­nen zusammenarbeitet.

Es konnte eben bis in die Kriegszeiten hinein - wenn es auch von manchem mißverstanden worden ist, wenn auch mancher sich hinein­gestellt hat in das oder jenes, was dazumal die Menschen anfing zu zerspalten in Europa, und wenn er auch von irgendeinem nationalen Furor aus manches bekrittelt hat, was aus dem Geiste der Anthroposo­phie heraus gemacht worden ist -, es konnte eben doch, wenn ich so sagen darf, das anthroposophische Schiff durchgesteuert werden durch die großen Schwierigkeiten, die es gab, und es konnte sukzessive fortgearbeitet werden an unserem Goetheanum.

Man möchte sagen: Diese zweite Phase, in der die Anthroposophie nicht mehr ein Embryo war, wie sie es eben war bis zum Jahre 1908 oder 1909, diese zweite Phase, die dauerte dann etwa bis zum Jahre 1915, 1916. Natürlich - ihre Nachwirkungen blieben vielfach.

Dann aber begann eine Zeit, wo das Kind naturgemäß reif werden mußte: die dritte Phase der anthroposophischen Bewegung, etwa 1916 beginnend. Ja, meine lieben Freunde, was ist das für eine Zeit? Das ist die Zeit, wo allerlei Persönlichkeiten in der anthroposophischen Be­wegung, die sich ja bis dahin bedeutsam vergrößert hatte, Ideen beka­men, Ideen, die dann ganz besonders arg sich auswuchsen in der Nachkriegszeit.

Das liegt schon in der Natur einer solchen Bewegung, daß die einzelnen in ihr stehenden Persönlichkeiten Ideen bekommen müssen, denn eine solche Bewegung muß in sich reif werden. Wenn sie sich vergrößert, so müssen allmählich führende Persönlichkeiten in ihr erstehen. Und dann war es ja auch richtig, daß einzelne Persönlichkei­ten solche Ideen bekamen. Aber was notwendig war, das war eben, daß diese Persönlichkeiten mit eisernem Willen bei diesen Ideen blieben,

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daß diese Ideen nicht bloß vorgenommen wurden, programma­tisch wurden und dann wiederum fallengelassen wurden, sondern daß diese Persönlichkeiten mit eisernem Willen bei diesen Ideen blieben.

Die Ideen, die sich da verwirklichen wollten bis heute, sind ja alle gut gewesen. Was nicht gut gewesen ist und was anders werden muß, das ist das Verhalten der Persönlichkeiten dazu: Es handelt sich eben um das Gewinnen von Ausdauer in der Verfolgung von Ideen. Da trat notwendigerweise ein neues Element auf.

Nehmen wir die erste Phase der anthroposophischen Bewegung. Als die Anthroposophie noch ein Embryo war, da konnten die Men­schen an die Anthroposophie herankommen und brauchten ja nur aufzunehmen. Es handelte sich in der ersten Phase ja nur darum, aufzunehmen, sich anzuschließen an die Bewegung, aufzunehmen dasjenige, was geboten wurde.

In der zweiten Phase war es notwendig, daß das Aufnehmen sich etwas vermischte mit einem Verständnis; daß zum Beispiel Leute aus der Welt herankamen, die diese Außenwelt auch wirklich kannten, kannten als Wissenschaftler, kannten als Praktiker; die also ein Urteil gewinnen konnten, daß dasjenige, was ihnen von der Anthroposophie entgegengetragen wurde, auch für Wissenschaft und Lebenspraxis einen Wert habe. Man brauchte aber noch nicht selber tätig zu sein, man brauchte bloß mit einem gesunden Urteil über die Außenwelt das Anthroposophische aufzunehmen. In der ersten Phase der Anthropo­sophie brauchte man bloß ein Mensch mit einem warmen Herzen und mit einem gesunden Menschenverstande zu sein, und man konnte zu dem Anthroposophischen ja sagen. Gewiß, das muß ja durch alle Phasen der anthroposophischen Bewegung hindurch dasein, daß sol­che Menschen mit einem warmen Herzen und mit einem gesunden Menschenverstand die Anthroposophie aufnehmen. Aber es muß auch immer einige Menschen geben, welche die andere Welt gründlich kennen und von dem Gesichtspunkt der anderen Welt aus, eben wissenschaftlich oder als Praktiker, dasjenige beurteilen können, was aus geistigen Welten in der Anthroposophie auf die Erde herunterge­tragen wird.

Nun, als die dritte Phase kam, brauchte man tätige Menschen, Menschen, die mit ihrem Willen, aber mit einem ausdauernden Willen an denjenigen Dingen arbeiteten, die als Ideen in ihnen entstanden. Geradesowenig, wie man sich der Illusion hingeben kann, daß ein

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Kind, das l6jahre alt geworden ist, noch zwölfjährig sei, ebensowenig durfte man sich der Illusion hingeben, daß die Anthroposophische Gesellschaft im Jahre 1919 noch dasselbe sein könne, was sie war etwa im Jahre 1907. Es lag in der Natur der Sache, daß jedem Wollen entgegengekommen wurde. Aber es wurde auch immer betont: Solch ein Wollen hat nur dann seine rechte Berechtigung, wenn man dabei bleibt, wenn man mit ausdauerndem Willen dabei bleibt. Nun, das hat eben vielfach gefehlt. Das sage ich nicht als eine Kritik, sondern als etwas, was hinweist auf das, was da kommen muß. Aber ich habe oftmals hingewiesen in einzelnen Fällen auf dasjenige, was kommen muß. Es ist nur in einem Falle meinem Aufmerksammachen von seiten der Führerschaft genügt worden! Das war dazumal, als ich bemerkte, daß es notwendig ist, daß auf einem gewissen Felde eingegriffen wer­den müsse, und alsdann unser Freund Leinhas dieses Eingreifen über­nommen hat. Nur in diesem einen Fall ist eigentlich in der letzten Zeit dasjenige beachtet worden, was ich als eine Notwendigkeit immer wieder und wieder auf dem einen oder auf dem anderen Gebiete bezeichnet habe - ich sage jetzt ausdrücklich: bezeichnet habe - als eine Notwendigkeit der dritten Phase der anthroposophischen Bewe­gung. Denn im Grunde genommen brauchte ich nicht mich besonders einzusetzen für das, was die Impulse der ersten Phase und der zweiten Phase waren. Die liefen ja fort. Die konnte man dem spirituellen Karma ruhig überlassen. Etwas anderes war es mit dem, was sich durch die Ideen einzelner Persönlichkeiten ja als ein in der Sache Gutes herausgebildet hatte, was aber nur weiter gut sein kann, wenn der ausdauernde Wille der einzelnen Persönlichkeiten in die Dinge wirk­lich eingreift. Aber so dürfen sie eben nicht verlaufen, wie sie in der letzten Zeit vielfach verlaufen sind.

Ich will ein Beispiel herausheben. Nehmen wir an, daß unter den vielerlei Dingen, die aus Ideen heraus gingen, auch der sogenannte Hochschulbund war. Ja, meine lieben Freunde, dieser Hochschul­bund mußte entweder ernstes Wollen, das nicht nachließ, in sich bergen, oder er war ein totgeborenes Kind. Das ist etwas, was ich bereits bei seiner Begründung ausdrücklich sagte.

Was hat eine solche Aussage für einen Sinn, meine lieben Freunde? Doch nur den, daß man die Leute darauf aufmerksam macht: Ihr müßt wissen, wenn Ihr in eurem Wollen nachlaßt, dann geht die Sache schief. Was ist aus dem Hochschulbund geworden? In Deutschland ist

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etwas daraus geworden, was nur die Vertreter des Alten ärgert, zu Feinden macht, weil eben das energische Wollen nicht dahinter stand. In der Schweiz ist der Hochschulbund überhaupt niemals richtig geboren worden; daher konnte auch nicht ein durchgreifendes Wollen so etwas durchzucken wie dasjenige, was den ersten Veranstaltungen innerhalb unseres untergegangenen Goetheanum den Charakter gege­ben hat: die Hochschulvorträge. Sie sind, weil keine Stoßkraft dahin­tersteckt, im Grunde genommen doch ganz unwirksam geblieben. Sie haben aber Feinde gemacht. Und darin bestand ein großer Teil der dritten Phase unserer anthroposophischen Bewegung: in dem Erregen von Feindschaften, von Gegnerschaften, die nicht notwendig sind, wenn ein energisches Wollen hinter der Sache steht. Natürlich, Feind­schaften ergeben sich; aber sie sind wirkungslos, wenn sie nicht in einer gewissen Weise berechtigt sind. Und es muß immer das gelten, daß gesagt werden könne: Mögen Feindschaften noch so viele entste­hen, sie dürfen auch nicht einmal einen Schein von einer Berechtigung haben, so vehement sie auch auftreten.

Ich habe ja immer wieder, auch hier an dieser Stelle, aufmerksam darauf gemacht, daß es so ist - aber sehen wir, wie es gekommen ist. Nicht wahr, es ist ja natürlich, daß gerade an diejenige Bewegung, die so recht aus dem Aufkeimen der Bewußtseinsseelen-Entwickelung aufgeht, daß gerade an diese Bewegung die Jugend herankommt. Man muß sich freuen, daß die Jugend herankommt. Aber wie steht heute die Jugend zu dem, was Anthroposophische Gesellschaft ist? Die Jugend steht heute so dazu, daß sie sagt: Das kann man nicht ernst nehmen. - Ich will jetzt gar nicht darüber sprechen, ob dieses Urteil berechtigt ist oder nicht, aber es ist eben da, und man muß im Leben mit den Tatsachen rechnen.

Für diese Tatsache möchte ich Ihnen nur ein einziges äußeres, auch tatsächliches Zeugnis geben. Vor einiger Zeit fand sich ein Kreis von jungen Leuten in Stuttgart zusammen, um wirklich sich mit vollem Herzen der anthroposophischen Bewegung zu ergeben. Die Leute hatten den besten Sinn, sich der anthroposophischen Bewegung zu ergeben. Ich war hier beschäftigt, konnte nicht gleich am ersten Tag, nachdem sich die Leute dort in Stuttgart versammelt hatten, anwesend sein, und deshalb sprach ich einem der Mitglieder des Zentralvorstan­des gegenüber den Wunsch aus, er möge zunächst mich am ersten Abend durch einen Vortrag vertreten, er möge den jungen Leuten

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einen Vortrag halten. Er ist hingegangen und hat ihnen den Antrag gemacht. Die haben gesagt: Wir danken schön, wir wollen von Ihnen keinen Vortrag haben.

Nun, meine lieben Freunde, Sie können sagen: Das war grob. -Meinetwillen sagen Sie das; aber es hat keine Gültigkeit, wenn Sie das sagen. Die Tatsache war da, daß die Leute von vornherein überzeugt waren: Da ist keine Verständigung möglich; der sagt uns nicht etwas, was an unsere Herzen heranschlägt. - Und ich fand in Stuttgart die Situation vor, daß die Jugend versammelt war und eigentlich die bisherige anthroposophische Führung ganz ohne jegliche Fühlung mit ihr war. Die Leute waren sich ganz selbst überlassen, die nun wirk­lich mit warmem Herzen herankamen an die anthroposophische Bewegung.

Solch eine Art, sich zu den anderen zu verhalten, war in der ersten und zweiten Phase der anthroposophischen Bewegung durchaus mög­lich; in der dritten Phase war es nicht mehr möglich, weil es in der dritten Phase anfing, auf den einzelnen Menschen anzukommen in der anthroposophischen Bewegung. Und wie gesagt, das alles ist nicht gesagt, um jemandem etwas am Zeuge zu flicken, das alles ist nicht gesagt, um eine Kritik auszubilden; das alles ist gesagt, weil es mir unendliches Leiden verursacht hat, weil ich sah, daß die Persönlichkei­ten, die in der Anthroposophischen Gesellschaft da oder dort das Ruder ergreifen wollten, eben doch nicht durchaus aus anthroposo­phischem Geiste heraus walten wollten. Und ich habe es ja immer versichert, es ist Unsägliches, was ich leiden mußte dadurch, daß konstatiert werden konnte: Diese dritte Phase der anthroposophi­schen Bewegung will nicht so vorwärtskommen, wie sie vorwärts­kommen sollte, weil zu viele bloße Ideen da sind und das energische Wollen dahinter fehlt.

Es ist ja ein gewisser schicksalsmäßiger Zusammenhang, daß, als uns das große Unglück getroffen hat hier mit dem Goetheanum, es besonders ansichtig wurde, daß eigentlich der Schaden der Anthropo­sophie im Nichttun liegt, im Nicht-angreifen-Wollen liegt. Und da­durch sind wir eben in diejenigen Konflikte hineingetrieben worden, die heute im Schoße der Anthroposophischen Gesellschaft vorhanden sind, und die zu nichts anderem führen sollten als eben zur um so kraftvolleren Gesundung. Aber dazu muß auch wirklich erst ehrlich eingesehen werden, was notwendig ist. Dazu ist vor allen Dingen das

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notwendig, daß man sich nicht Illusionen hingibt über die Tatsachen, die allmählich in eine Art von Sackgasse getrieben haben. Eine Illusion wäre es durchaus, wenn wir in etwas anderem als in dem Nicht-bei­der-Stange-Bleiben gewisser Persönlichkeiten den Schaden sehen würden. Illusionen verträgt aber heute die Anthroposophische Gesell­schaft nicht mehr. Sie verträgt auch das nicht, daß eine bloße unfrucht­bare Kritik geübt würde an dem Vergangenen, sondern sie verträgt nur, daß man tatsächlich auf das hinweist, was notwendig ist. Und das ist, zu erkennen, daß der Wunsch kein Wille ist, daß man nicht sagen darf, ich habe den besten Willen, wenn sich dieser beste Wille in drei Wochen so erweist, daß er eben gar kein Wille ist, sondern daß man sich dann hingesetzt hat auf seinen Stuhl und eben dem Titel nach das gewesen ist, was man auf diesem Stuhle ist, aber eben nur den passiven guten Willen gehabt hat. Aber passiver guter Wille ist ein Contradictio in adjecto. Der Wille ist nur ein guter Wille, wenn er tätig ist. Das verträgt die anthroposophische Bewegung in ihrer dritten Phase nicht, daß man Resolutionen faßt: Wir stellen uns zur Verfügung. Das ist das schlimmste Verkennen, wenn man solche Resolutionen faßt, das schlimmste Verkennen der eigentlichen Aufgaben.

Das, um was es sich handelt, ist das Eingreifen eines jeden an der Stelle, an der er steht, und nicht beim Wunsche stehen bleiben, son­dern den Willen entwickeln. Es könnte scheinen, meine lieben Freunde, als ob ich heute ein trübes Bild entwerfen wollte von dem, was im Schoße der anthroposophischen Bewegung ist. Das will ich nicht. Aber auf der anderen Seite darf ich gerade keine Illusionen er­wecken beziehungsweise ja nichts dazu beitragen, Illusionen zu erwek­ken. Denn es handelt sich darum, daß wir nur weiterkommen, wenn wir ein solches Bewußtsein erfassen, wie es charakterisiert worden ist.

Aber sehen Sie, meine lieben Freunde, ich sage nur: Die zweite Phase der anthroposophischen Bewegung hat die Notwendigkeit ge­bracht, über das äußere Weltgemäße sich auszubreiten. Ich sagte auch:

Diejenigen, die von der Welt gelernt haben in Wissenschaft oder Praxis, mußten herankommen als Urteilfällende. - In der dritten Phase fanden sich dann zahlreiche solche Persönlichkeiten, die meinten: Ja, jetzt müssen wir was tun, jetzt müssen wir anfangen, etwas zu tun! -Sie machten sich auch Vorsätze. Aber Tätigkeit liegt nicht darin.

Wir haben in der dritten Phase - nun, ich will gar nicht sagen wie viele - Forscher auf den verschiedensten wissenschaftlichen Gebieten

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unter uns. Ich will gar nicht sagen, wie viele! Wenn ich sie Ihnen zusammenzählen würde, würden Sie große Augen machen. Diese Forscher sind nach ihrer Ansicht von dem besten Willen beseelt. Nach meiner Ansicht sind sie außerordentlich fähig. Ich vertrete auch hier die Ansicht, daß es an Fähigkeiten gar nicht fehlt. Im Gegenteil, in den letzten Jahren haben wir sogar durch eine wunderbare Auslese fähigste Leute wie auf einem Haufen zusammengebracht, hier und in Stuttgart. Die Ausrede gilt nicht, daß es an Fähigkeiten fehlt; aber an Wille fehlt es. Und sobald man von diesem Willen redet, dann ergeben sich die merkwürdigsten Dinge.

Wir haben es bei dem hiesigen naturwissenschaftlichen Kursus erlebt, daß von einem unserer Forscher ein Vortrag angekündigt war. Er ist nicht gekommen! Wie zum Hohn ist er aber ein paar Stunden darauf gekommen. Ja, meine lieben Freunde, wenn nicht das Gefühl für die Verpflichtung besteht innerhalb der Anthroposophischen Ge­sellschaft, dann geht es eben nicht. Und will man die Dinge anfassen, dann glitschen sie einem kurioserweise aus den Händen; sie glitschen einem wirklich aus den Händen. Denn ich wollte zum Beispiel gerade dieses «Problem», möchte ich sagen, das es für mich geworden ist, daß einer unserer Forscher einfach sich absentiert, seinen Vortrag schwänzt - ich wollte das in gehöriger Weise anfassen; da bekam ich ungefähr die Antwort, daß er ja gar nicht einmal richtig wisse, wie er auf das Programm in Dornach komme! - Ja, meine lieben Freunde, wenn einem die Probleme so aus den Händen glitschen, dann ist eben wirklich ein zusammenstimmendes energisches Wollen nicht da.

Das aber brauchen wir gerade. Wir brauchen nicht ein Auseinan­derfallen von allerlei Wünschen und von allerlei, was man oftmals den guten Willen nennt, sondern wir brauchen ein pflichttreues Wollen. Alle Dinge können gedeihen, wenn die Menschen sie in der richtigen Weise anfassen. Denn was nicht die Möglichkeit seines Gedeihens in sich trägt, wird schon innerhalb der anthroposophischen Bewegung nicht unternommen. Aber den Willen, den wirklich guten, das heißt kräftigen Willen der mitwirkenden Persönlichkeiten, den brauchen wir. Kurulische Stühle vertragen wir nicht, sondern tätige Persönlich­keiten brauchen wir.

Meine lieben Freunde, die Situation, daß ich das aussprechen muß, habe nicht ich herbeigeführt, sondern es sind die Persönlichkeiten selbst, die sich zur Verfügung gestellt haben, alles mögliche zu tun. Es

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ist von anderer Seite das herausgewachsen. Deshalb handelt es sich heute darum, daß auch die Verantwortlichkeiten in breitestem Um­fange geschärft werden, daß wirklich die Verantwortlichkeiten ge­pflegt und gehegt werden und auch verlangt werden.

Das ist dasjenige, was ich Ihnen sagen wollte, denn wir sind noch immer nicht zu Ende mit den jetzigen Reisen nach Stuttgart. Ich muß morgen wieder dahin. Der nächste Vortrag wird am nächsten Freitag sein. Heute nachmittag wird dann hier eine Eurythmie-Vorstellung um 5 Uhr stattfinden. Ich bitte noch einmal, den zweiten Weg nicht zu scheuen; die Vorbereitungen zur Reise machten es notwendig, daß sich dieser Vortrag nicht anschließt an die Eurythmie-Darbietung, sondern daß er eben am Vormittag gehalten werden muß.

DREI BERICHTE IN DORNACH ÜBER DEN STAND DER STUTTGARTER VERHANDLUNGEN* Dornach, Freitag, 9. Februar 1923 Schlußworte des Abendvortrages

#G259-1991-SE113 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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DREI BERICHTE IN DORNACH ÜBER DEN STAND

DER STUTTGARTER VERHANDLUNGEN*

Dornach, Freitag, 9. Februar 1923

Schlußworte des Abendvortrages

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Morgen, meine lieben Freunde, werde ich diese Betrachtungen fortset­zen. Heute möchte ich Ihnen zunächst zum Schluß ein paar Worte der Mitteilung sagen über den Stand der Verhandlungen in Stuttgart. Diese Verhandlungen hängen ja zusammen mit dem, was Ihnen als eine Art Krisis innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft be-merklich geworden ist.

Es ist jetzt in diesem Momente der Zeitpunkt, in dem die Anthro­posophische Gesellschaft in ihren führenden Persönlichkeiten sich entscheiden muß, ob sie Lebensfähigkeit hat oder nicht. Sie haben ja verschiedenes hier auch gehört über die Lebensbedingungen der An­throposophischen Gesellschaft. Ich möchte heute nur mit ein paar Worten dieses sagen: Diese anthroposophische Bewegung ist von Mitteleuropa ausgegangen. Für sie ist aber Interesse in den allerweite­sten internationalen Kreisen. Und die Anthroposophie selber hat ihre Entwicklung durch jene drei Phasen genommen, von denen ich Ihnen das letzte Mal hier gesprochen habe. Die Anthroposophische Gesellschaft

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* Die Verhandlungen selbst siehe Teil III, Seite 201 ff.

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ist dieser Entwicklung der Anthroposophie nicht völlig nachge­kommen, und heute klafft ein Abgrund zwischen dem, was in der Anthroposophischen Gesellschaft wirkt und was in der heute schon erreichbaren Anthroposophie lebt. Dieser Abgrund muß überbrückt werden. Und da nun schon einmal - es ist reine Tatsache - die an­throposophische Bewegung von Mitteleuropa ausgegangen ist, so müssen die Verhältnisse zuerst in Mitteleuropa geordnet werden. Dann, wenn sie in Mitteleuropa geordnet sein werden, dann wird sofort zu denken sein an die Ordnung der internationalen anthro­posophischen Gesellschaften, die dann hier oder anderswo ihren Mittelpunkt haben werden. Aber aus der Unbestimmtheit, in der heute die Anthroposophische Gesellschaft ist, muß zuerst da herausgekom­men werden, wo diese Gesellschaft ihren Ausgangspunkt genommen hat. Aus diesem Grunde ist es, daß man zuerst in Stuttgart an der Konsolidierung der Anthroposophischen Gesellschaft arbeiten mußte.

Nun waren die Verhandlungen außerordentlich schwierig. Aus den Gründen heraus, die ich ja hier am 6.Januar angeführt habe, hat sich diese Krisis ergeben, und die Sache liegt ja so - ich möchte das auch hier noch einmal erwähnen: Es war am 10. Dezember, da habe ich dem einen der Mitglieder des Zentralvorstandes, Herrn Uehli, eine Art Auftrag gegeben. Ich sagte dazumal: Seit langer Zeit ist bemerkbar, daß die Anthroposophische Gesellschaft einer Konsolidierung bedarf, und ich kann mir nur etwas versprechen, wenn der ZentralVorstand in Stuttgart, ergänzt durch maßgebende Persönlichkeiten in Stuttgart, mir das nächste Mal bei meiner Stuttgarter Anwesenheit seine Vor­schläge darüber sagt, wie er zunächst mit der Konsolidierung beginnen möchte; sonst, wenn der Zentralvorstand nicht zu Ideen über die Konsolidierung käme, müßte ich mich selbst an jedes einzelne Mit­glied wenden. Nur diese Alternative ist ja möglich. -

Sie sehen daraus auch, meine lieben Freunde: Die Sache liegt so, daß dasjenige, was da als eine Notwendigkeit für die Konsolidierung der Gesellschaft hingestellt worden ist, ja gesagt wurde am 10. Dezember; das hat also noch nichts mit dem Brandunglück zu tun. Nach dem Brandunglück, nach dieser furchtbaren Katastrophe, die unsere Her­zen zerschmettert hat, muß man allerdings sagen: Soll ein Wiederauf­bau zustande kommen, so ist dazu eine starke Anthroposophische Gesellschaft notwendig; denn ohne diese wäre ein Wiederaufbau nicht möglich.

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Also es muß einfach eine Konsolidierung, eine innere Festigung, ein deutliches Wollen der Anthroposophischen Gesellschaft zustande kommen.

Das hat recht schwierige Verhandlungen in den letzten Wochen zunächst in Stuttgart gegeben. Ich sagte: Da müssen sie zuerst gesche­hen, dann werden sie auf internationalem Boden sein können. Nun, ich müßte Ihnen ein Buch erzählen, ein reichlich dickes Buch, wenn ich Ihnen all das, was da verhandelt worden ist in diesen Wochen, erzählen wollte. Aber es ist ja eigentlich im Grunde bis gestern ergeb­nislos gewesen. Und vorgestern machte ich dann den Vorschlag, daß, nachdem die Dinge so geworden sind, eine Art Komitee sich damit befassen solle, ein Rundschreiben abzufassen, in dem wirklich die heute die Anthroposophische Gesellschaft und Bewegung berühren-den großen Fragen herangebracht werden an die Mitglieder; daß in einem solchen Rundschreiben aufgefordert werde, nach Stuttgart eine Delegiertenversammlung zunächst für die deutschen und österreichi­schen Zweige zusammenzurufen, damit an dieser Konsolidierung gearbeitet werden kann [siehe S. 268].

Dieses Komitee, dessen Wirksamkeit zunächst ja nur gedacht ist bis zu der Delegiertenversammlung, die Ende Februar, am 25., 26., 27. Fe­bruar, stattfinden soll, ist ein provisorisches. Bis zu dieser Delegierten­versammlung soll es in der mitteleuropäischen Anthroposophischen Gesellschaft die führende Stellung haben. In diesem Komitee ist als Vertreter des alten Zentralvorstandes Dr. Unger, als Vertreter des «Kommenden Tages» Herr Leinhas; dann sind drinnen von Stuttgar­ter Persönlichkeiten, ganz aus den Verhältnissen heraus: Dr. Rittel-meyer, Herr von Grone, Herr Wolfgang Wachsmuth, Dr. Palmer, Dr. Kolisko; von anderen noch Herr Werbeck aus Hamburg und für den «Philosophisch-Anthroposophischen Verlag» Fräulein Mücke. Die­sem Komitee sind also die vorbereitenden Arbeiten für die Konsoli­dierung übertragen. Es ist zunächst eben, nachdem alles übrige ergeb­nislos geblieben ist, gestern ein Entwurf eines Aufrufs zur Delegier­tenversammlung zustande gekommen, der nun vollendet werden wird und im Beginne der nächsten Woche verschickt werden wird, in dem wirklich die heutigen Lebensfragen der Anthroposophischen Gesell­schaft drinnen sein sollen. Das ist es also, was ich zunächst noch zu verkündigen habe.

Es ist ja wirklich das, was da verhandelt wurde, mit Unbefriedigtheit

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in den weitesten Kreisen begleitet gewesen. Nachdem wir gestern fertig geworden waren mit den Verhandlungen über den Aufruf-Entwurf zunächst - ich glaube um 12 1/2 Uhr nachts -, ist es mir dann auch möglich gewesen, die ja namentlich sich beunruhigenden Mit­glieder unserer akademischen Jugendbewegung noch zu sprechen; so daß ich hoffe, daß in den Tagen, in denen ich jetzt hier in Dorn ach bin, die Jugend mit dem Alter in entsprechender Weise verhandelt. Ich drückte es vorgestern so aus, daß ich sagte: Ich hoffe, daß nunmehr, Rücksicht nehmend auf das neue Komitee, die Jungen unter den Alten akzeptiert werden von den Alten unter den Jungen.

Es mußte ja schon so etwas stattfinden, denn überall verlangt man ein neues, frisches Lebenselement. Das muß kommen. Die Jugend pocht an die Tore. Sie hat dazu ihre volle Berechtigung; sie muß verstanden werden. Aber das Alter kann nicht abgesägt werden, das muß wirken; aus ihm ist gekommen das Fundament der Anthroposo­phischen Gesellschaft. Es muß möglichst rasch ein Modus gefunden werden, der zu einer starken Anthroposophischen Gesellschaft führt, sonst werden wir nicht weiterarbeiten können.

Das wollte ich am Schlusse heute noch mitteilen, damit Sie infor­miert sind von diesen Dingen. Der alte Zentralvorstand hat damit aufgehört zu sein, und dieses Komitee führt mittlerweile die Angele­genheiten bis Ende Februar. *

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Dornach, Freitag, 16. Februar 1923

Schlußworte des Abendvortrages

über das «Schneiderproblem» der Anthroposophischen Gesellschaft

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Morgen will ich das Thema von einer anderen Seite betrachten, von der Seite, wie nun weiter das ausgeführt werden muß, was Nietzsche angetroffen hat, damit die Moralität in der richtigen Weise im Men­schenleben verstanden und in Einklang gebracht werden kann mit der Erkenntnis unserer Zeit. Solche Fragen müssen es ja sein, die sich gerade die Angehörigen der Anthroposophischen Gesellschaft stellen. Daß man Sinn und Verständnis habe für solche Fragen, das gehört zur Anthroposophischen Gesellschaft. Und die ist jetzt gerade dabei, zur Selbstbesinnung zu kommen.

* Siehe dazu Vortrag Stuttgart, 23. Januar 1923, in GA 257

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Ende Februar wird, ich will das noch anfügen, eine Versammlung von Delegierten in Stuttgart stattfinden - wenn die Verkehrsverhält­nisse es dann noch gestatten -, in der zunächst beraten werden soll uber das Schicksal der deutschen Anthroposophischen Gesellschaft, damit dann auch im weiteren Umkreise die Lebensbedingungen der Anthroposophischen Gesellschaft besprochen werden können. Diese Dinge müssen heute sehr ernst genommen werden. Denn gerade bei meiner Anwesenheit in Stuttgart habe ich es so recht empfunden, wie von denjenigen, die etwas tun wollen innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft, vor allen Dingen bedacht werden muß, daß die Anthroposophie in den drei Stadien, die ich Ihnen ja auch hier vor kurzem geschildert habe, etwas geworden ist, was herausgewachsen ist über dasjenige, was die Anthroposophische Gesellschaft vielfach bleiben will.

Man hat in den ersten Stadien der anthroposophischen Gesell­schaftsentwicklung sich keine Gedanken darüber gemacht, wie später unter dem Einfluß eines Goetheanum und anderer Dinge die Men­schen in den weitesten Umkreisen Anteil nehmen werden an der Anthroposophie, im gegnerischen Sinne und im anhängerischen Sinne. Die Gesellschaft muß mitwachsen mit dem Wachsen der An­throposophie. Und so ist das nächste Problem, das Ende Februar in Stuttgart die Geister der Anthroposophischen Gesellschaft beschäfti­gen soll - verzeihen Sie, meine lieben Freunde, wenn ich das in einer bildlichen Weise ausspreche -, das nächste Problem ist ein Schneider-problem. Es ist nämlich das Problem, das dadurch aufgeworfen wird, daß die Anthroposophie heute etwas ist, dem gegenüber die Anthro­posophische Gesellschaft Kleider darstellt, aus denen die Anthroposo­phie herausgewachsen ist. Die Ärmel des Rockes gehen nicht bis zu den Händen, nicht einmal bis zu den Ellbogen mehr, von den Beinklei-dem gar nicht zu sprechen. Jetzt muß das Schneiderproblem wirklich mit Aufwendung allen Geistes gelöst werden: Wie macht man aus der Anthroposophischen Gesellschaft der Anthroposophie die richtigen Kleider? Das wird das große Problem sein für Stuttgart Ende Februar. Und darauf ist ja in einigem hingewiesen in dem Aufruf, welcher jetzt verschickt ist.

Was mir eben stark entgegengetreten ist, das ist namentlich, daß nicht genügend vorhanden ist dasjenige, worauf ich am Ende meines letzten Vortrages hier vorige Woche hindeutete. Ich sagte: Gewiß, es

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kann nicht jeder einzelne im anthroposophischen Sinne Mediziner werden, aber Verständnis kann dasein für das, was von der Anthropo­sophie aus in der Medizin befruchtend auftritt in weitestem Umfange, Verständnis kann dasein, Interesse kann dasein. Dieses Interesse muß im weitesten Umkreise der Mitglieder der Anthroposophischen Ge­sellschaft dasein für alles, was innerhalb der Anthroposophie ge­schieht. Dann wird es auch gelingen, das Schneiderproblem zu lösen. Aber es muß gelöst werden, sonst muß eben auf andere Mittel geson­nen werden; denn die Gegner sind voller Interesse und sind außer­ordentlich aufmerksam auf alles, und ihre Methoden bestehen ja na­mentlich darinnen, daß sie gute Verbreiter dem anthroposophischen Weltanschauung sind. Oh, wären die Mitglieder der Anthmoposo­phischen Gesellschaft ebenso gute Verbreiter der anthroposophischen Weltanschauung wie die Gegner, dann ginge es ausgezeichnet!

Die Gegner reißen aus den Schriften alles mögliche heraus, inter­pretieren es in das Absurdeste und verbreiten das mit rasendem Inter­esse. So daß Anthroposophie sehr bekannt ist - aber als Karikatur -von seiten dem Gegner. Dem gegenüber stand bisher nicht ein Gleiches in bezug auf die wahre Gestalt der Anthroposophie. So ist es schon. Das aber ist es, was jetzt krisenhaft geworden ist und was unbedingt einem Lösung entgegengeführt werden muß. Wir brauchen für die nächste Zeit eine starke und nicht eine schwache Anthroposophische Gesellschaft.

Ich habe Ihnen neulich die Namen des provisorischen Komitees angeführt, welches die Angelegenheiten innerhalb Deutschlands einst­weilen leiten wird, bis die Delegiertenversammlung stattfindet. Das letzte Mal, als wir in Stuttgart waren, haben sich nun einige Persön­lichkeiten bereit erklärt, bei der Delegiertenversammlung ihre Stimme ertönen zu lassen, und haben dadurch nun in denen, welchen die Anthmoposophische Gesellschaft am Herzen liegt, die Hoffnung er­weckt, daß in wirklich eindringlicher Weise die Tragkraft der Anthro­posophie nach den verschiedensten Richtungen hin vor die Welt hin-gestellt wird. Aber es müssen die Referenten, die sich bereit erklärt haben, schon wirklich alle ihre Kraft zusammennehmen und alles Interesse in sich rege machen, damit sie ihren Aufgaben genügen können. Wir wollen sehen!

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Dornach, Donnerstag, 22. Februar 1923

Schlußworte des Abendvortrages

über die Erneuerung der drei großen Ideale der Menschheit:

Kunst, Wissenschaft und Religion

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... So aufgefaßt, entstehen die drei neu belebten großen Ideale dem Menschheit vor des Anthroposophen Seele: das religiöse Ideal, das künstlerische Ideal, das Erkenntnisideal. Durch die Formen des Goe­theanum sollte sich der Anthroposoph begeistert fühlen zum Erleben dieser Neugestaltung der hehren großen Menschenideale. Das müssen wir jetzt still in unsere Seelen einschreiben. Aber wir müssen uns daraus Begeisterung holen. Und wenn wir uns Begeisterung holen für das, was uns in dieser Weise durch die drei Ideale zum Göttlich-Geistigen erhebt, dann wird uns das irdische höchste Ideal daraus. Wenn im Evangelium gesagt wird: Liebe deinen Nächsten als dich selbst und Gott über alles -, so muß auf dem andern Seite gesagt werden: Wer das Göttlich-Geistige so ansieht, wie es im Sinne der drei in die Gegenwart hineinversetzten Ideale von dem modernen Men­schen angesehen werden muß, der lernt das Göttlich-Geistige lieben, denn er fühlt, daß er nicht Mensch sein kann, wenn er sich nicht mit aller ihm nur möglichen Liebe hingibt an diese drei Ideale. Dann aber fühlt er sich mit denen, die diese Liebe in gleichem Weise nach oben schicken können, auch in gleichem Weise vereint. Er lernt das Göttlich-Geistige über alles lieben - und dann seinen Nächsten als sich selbst, aus der Liebe zum Göttlichen. Und die Ranküne kommt nicht auf.

Das aber ist dasjenige, was die einzelnen Mitglieder der Anthropo­sophischen Gesellschaft zu einem Ganzen zusammenhalten kann. Das brauchen wir in dem Gegenwart. Wir haben es eben erlebt, daß wir die Phase durchgemacht haben in dem Anthmoposophischen Gesellschaft, welche das Anthmoposophische in einzelne Zweige des Lebens hat ausfließen lassen: in das Pädagogisch-Didaktische, in andere prakti­sche Lebensformen, in das Künstlerische und so weitem. Wir brauchen heute einen Zusammenschluß. Wir haben ausgezeichnete Waldorf­Lehrer, ausgezeichnet Wirkende auf andern Gebieten. Wir brauchen heute bei allen denen, die auf ihren einzelnen Posten ihr Bestes geben, auch, daß sie nun den Weg finden, damit die Quellen des anthroposo­phischen Lebens selber neu fließen. Das brauchen wir heute.

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Und weil wir es brauchen, weil wir brauchen, daß Zeugnis abgelegt werde durch die führenden anthroposophischen Persönlichkeiten für das Bewußtsein, daß gegenwärtig eine Neubelebung der Anthroposo­phischen Gesellschaft notwendig ist, tritt diese Versammlung in Stutt­gart in den nächsten Tagen zusammen, und man muß, wenn man es ehrlich meint mit der Anthroposophischen Gesellschaft, die denkbar größten Hoffnungen für dasjenige haben, was in diesen nächsten Tagen in Stuttgart geschieht. Denn nur dann, wenn diejenigen Persön­lichkeiten, die dort auftreten werden, Töne finden werden für dies oder jenes, die herausklingen aus einer wahren, tatkräftigen Begeiste­rung für die drei großen Ideale, die zu gleicher Zeit in Liebe ausflie­ßende Ideale sind, nur dann, wenn Garantie dafür vorhanden ist durch die Kraft und den Inhalt der Worte, die da gesprochen werden, kann gehofft werden, daß die Anthroposophische Gesellschaft ihr Ziel er­reicht. Denn dasjenige, was da zutage tritt, wird eben dann in weiteren Kreisen ebenfalls zutage treten mussen.

Für mich selber wird es sich ergeben, was ich zu tun habe, je nachdem, wie diese Stuttgarter Tagung ausfällt. Erwartungsvoll sieht man ihr entgegen. Sie bitte ich, insofern Sie vielleicht nicht hinfahren, mit kraftvollen Gedanken dabeizusein. Denn es handelt sich um ein Dabeisein bei einem wichtigen Momente, um das tatkräftige Sichein­setzen auf einem gesunden Boden für die der heutigen Menschheit notwendigen großen Ideale, jene großen Ideale, von denen uns nicht eine menschliche Willkürschrift spricht, sondern diejenige Schrift, die aus der ganzen Entwickelung, aus dem Sinn der ganzen Entwickelung der Erdenmenschheit selber so klar zu uns spricht, wie die Tagessonne zu dem wachen Menschen spricht. Wollen wir in dieser Weise Begei­sterung anfachen in unseren Seelen, dann wird Begeisterung zu Taten werden. Und Taten brauchen wir.

[25.-28. Februar 1923: Delegiertenversammlung in Stuttgart. Siehe Seite 359 ff.]

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#TI

ANSPRACHE IN EINER SITZUNG DES

«BUNDES FÜR FREIES GEISTESLEBEN»

Stuttgart, Donnerstag, 1. März 1923

#TX

[Den auf die Delegiertentagung folgenden Tag war Rudolf Steiner noch in Stutt­gart und nahm an einer Sitzung des «Bundes für Freies Geistesleben» teil. Der folgende Wortlaut seines Votums ist von Dr. Karl Heyer überliefert, dem «Dr. Carl Unger im März 1923 ein Schriftstück mit dem Bemerken gab, es seien Ausführungen, die Rudolf Steiner (kurz vorher) über den Bund für Freies Geistes­leben in einer Sitzung in Stuttgart gemacht habe, in freier Wiedergabe nachge­schrieben von Dr. Unger. (Jene Sitzung dürfte eine solche vom 1. März 1923 gewesen sein.)»]

Wenn der «Bund für Freies Geistesleben» Aufgaben bekommen soll, so kann es nur unter Berücksichtigung der Wirklichkeit sein. Schon bei der Konstitution* habe ich darauf aufmerksam gemacht, auf was es ankommt. Bis zum letzten Drittel des 19.Jahrhunderts hat es eigent­lich diesen Bund gegeben und [er] bestand aus Menschen, die sich als freie Geister abhoben von dem philiströsen Geistesleben. Der Unter­schied zwischen alt und jung, wie er sich heute heraushebt, ist ober­flächlich. Früher bestand von der vierten nachatlantischen Kultur her eine natürliche Autorität, aber schon zur Goethe-Zeit ging der Mensch in seinem Alter in die Philistrosität ein. Goethe selbst war in seinem Alter natürlich immer der geniale Mensch, aber nebenbei auch der dicke Geheimrat mit dem Doppelkinn. Jetzt sind wir in die Epoche der Freiheit eingetreten, das kommt in der Jugend zum Ausdruck. Goethe schildert zum Beispiel in seinen «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter» einen solchen Bund, der instinktiv vorhanden war. Da besprechen sich Menschen der verschiedensten Sphären auf völlig freiem neutralen Boden; auch ein Spiritist ist dabei. Solche Menschen haben sich immer unterschieden von den philiströsen geistigen Zu­sammenhängen, wie zum Beispiel Theologen, Juristen, Mediziner und was aus der vierten Fakultät hervorgegangen ist. Ein solcher Bund muß in bewußter Weise entwickelt werden. Zur Zeit des Wiener Kongresses [gemeint ist der internationale Kongreß der anthroposo­phischen Bewegung vom Juni 1922 in Wien] wurde ein sogenannter Kulturbund von sieben Menschen begründet, natürlich in falscher Weise, es war auch ein Jesuit dabei. Aber es handelt sich um eine

* Im Juli 1922, ein Protokoll liegt nicht vor.

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weltmännische Angelegenheit. Dieser Kulturbund schilderte in der ersten Nummer seiner Zeitschrift die Idee der Dreigliederung, wenn auch in versteckter Weise, aber durchaus sachgemäß. Da ist die Rede von den banausischen Industriellen auf der einen Seite, den Bolschewi­ken auf der anderen. Dazwischen gibt es eine gewisse Gesellschafts­schicht, die sich zusammengehörig weiß: deklassierte Adelige, die Bildung haben, Leute, die sonst Bildung haben, aber aus der Entwick­lung herausfallen, die werden sich international konstituieren und sich überall erkennen. Auf so realer Grundlage muß sich der «Bund für Freies Geistesleben» begründen, aber mit vollem Bewußtsein. Da werden auch die spirituellen Menschen Geltung haben. Die Leute sind sicher da. Von vorhandenen Beziehungen halte ich nichts. Die Dinge müssen sich natürlich ergeben. Vorträge nützen, wenn man den laten­ten Erfolg ausnützen kann. Man findet die Menschen, wenn man sie an sich herantreten läßt und sie nicht zurückstößt. Es handelt sich um Menschen besonderer Geistesart, um Leute, die eigentlich das Bedürf­nis haben, an ein Geistiges heranzukommen außerhalb der Schablone, in die sie durch ihren Bildungsgang hineingestellt sind. In der zerfal­lenden Sozietät von Europa sind diese Menschen überall zu finden. Sie haben das Bedürfnis, mit Gleichstrebenden in einer Gemeinschaft zu sein auf geistigem Boden. Aus diesen erwachsen die Interessenten für eine freie Hochschule. Am leichtesten wird es auf künstlerischem Gebiete werden. Die Idee einer freien Hochschule innerhalb Mittel­europas könnte in Amerika das größte Interesse erwecken, gerade finanziell, aber wir brauchen auch die Dozenten dafür, denn wir können nicht immer die gleichen Menschen mit allem belasten.

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MEMORANDUM FÜR DAS KOMITEE

DER FREIEN ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT ZU DESSEN ORIENTIERUNG

niedergeschrieben zwischen dem 7.-1 1. März 1923

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[Bei einer am 7. März 1923 stattgefundenen Besprechung Rudolf Steiners mit dem leitenden Gremium der bei der Delegiertentagung im Februar gebildeten Gesell­schaft für die anthroposophische Jugend eröffnete Rudolf Steiner (nach Ernst Lehrs, einem Vertreter der Jugendlichen, in seinem Erinnerungsbuch «Gelebte Erwartung«, S. 215 f.), «daß wir eine selbständige Gesellschaft zu sein hätten mit eigener Mitgliedsaufnahme unter Verwendung der gleichen (im Verhältnis zu den später von ihm geschaffenen Zertifikaten unscheinbaren) Mitgliedskarten, wie die alte Gesellschaft sie hatte. Er gab ferner an, daß er uns in Besitz eines Memoran­dums zur eigenen Orientierung unseres Komitees setzen würde, worin wir Grundsätzliches über die innere Struktur unserer Gesellschaft und die Pflege des Lebens in ihr dargestellt finden würden. Das geschah nicht lange danach durch Übergabe seiner Niederschrift an Maikowski[*] - wir anderen waren inzwischen an unsere verschiedenen Arbeitsstellen abgereist -, wobei er ihm mitteilte, daß unsere Gesellschaft sich hinfort als Freie Anthroposophische Gesellschaft bezeich­nen solle.»]

1. In bezug auf die äußere Konstitution der Freien Anthroposophi­schen Gesellschaft wäre darauf hinzuarbeiten, daß diese Gesellschaft dem «Entwurf der Satzungen»[**] entspricht. Dadurch ist es möglich, Menschen zu einer Gesellschaft zu einigen, die sich darin individuell ganz frei empfinden, ohne daß der Gesellschaft fortwährend die Auf­lösung droht. Wer den «Entwurf» im rechten Sinne lebendig versteht, wird das alles in demselben erfüllt finden müssen.

2. Zunächst ist notwendig, alle diejenigen Persönlichkeiten zusam­menzufassen, die bereits Mitglieder der Anthroposophischen Gesell­schaft sind und von denen das gebildete Komitee der Meinung ist, daß sie von denjenigen Gesichtspunkten ausgingen, die in berechtigter Art die Trennung in zwei Gruppen der Gesamtgesellschaft bewirken mußten. Bloße Unzufriedenheit mit der alten Leitung kann nicht genügen, sondern nur die positive Orientierung auf ein anthroposo­phisches Ziel, von dem angenommen werden muß, daß es von der alten Leitung nicht erreicht werden kann.

[*] Nach Notizbucheintragung Rudolf Steiners am 11. März.

[**] Gemeint sind die damals gültigen Satzungen der alten Anthroposophischen Gesell­schaft, siehe unter Hinweise.

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3. Zunächst aus diesem so gebildeten Kreise dem Freien Anthropo­sophischen Gesellschaft sind Vertrauenspersönlichkeiten zu ernen­nen, die von dem Komitee anerkannt werden. Man sollte zu Vertrau­enspersönlichkeiten nur solche ernennen, die ein Interesse haben, der gegenwärtigen Zivilisation Anthroposophie zu geben. Es werden dann zu den schon in der Anthroposophischen Gesellschaft befindli­chen Persönlichkeiten solche kommen, die erst aufgenommen werden. Aber gerade bei diesen ist darauf zu achten, daß sie das Positive des Anthroposophischen zu der Grundrichtung ihres eigenen Lebens ge­macht haben. Menschen, die nur ein allgemeines gesellschaftliches Interesse haben, ohne intensiven anthroposophischen Einschlag, sollte man nicht zu Vertrauenspersönlichkeiten ernennen, wenn sie auch in die Gesellschaft mit der Idee etwa aufgenommen werden, daß sie zu wirklichen Anthroposophen heranwachsen.

4. Für die Aufnahme selbst sollte ein Darinnenstehen in der anthro­posophischen Weltanschauung bis zu einem gewissen Grade maßge­bend sein. Es muß aber zunächst für die Aufnahme in die allgemeine Freie Anthroposophische Gesellschaft Weitherzigkeit herrschen. Strenge sollte erst bei der Bildung der engeren Gemeinschaften ein­treten.

5. Die Freie Anthroposophische Gesellschaft sollte ein Werkzeug werden zur Verbreitung der Anthroposophie in der Welt. Aus ihrem Schoße müßte die Vortrags- und sonstige Verbreitungsarbeit hervor­gehen, auch Institute und sonstiges müßten aus ihr gebildet werden.

6. Ein anderes ist die allgemeine Freie Anthroposophische Gesell­schaft, ein anderes die in ihm zu bildenden Lebensgemeinschaften. In diesen - ob exoterisch oder esoterisch - müßten sich zusammenfinden die Menschen, die sich innerlich zusammengehörig fühlen, die den Geist gemeinsam erleben wollen. Neben solchen Lebensgemeinschaf­ten ist es durchaus möglich, daß sich das Zweigleben im Sinne des «Entwurfes» herausbildet. Die Zweige wären dann eben Gruppen der Freien Anthroposophischen Gesellschaft im allgemeinen. Es könnte aber durchaus sein, daß die Mitglieder der Freien Anthroposophi­schen Gesellschaft in die Zweige der Anthroposophischen Gesell­schaft eintreten und darinnen mit den Mitgliedern dieser gemeinsame Arbeit tun.

7. Die Arbeit in den Lebensgemeinschaften wird eine solche sein, die sich innerhalb derselben abschließt. Sie ist auf die geistige Vervollkommnung

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der Vereinigten gerichtet. Was ein Mitglied einer solchen Lebensgemeinschaft nach außen unternimmt, tut es als Vertreter der allgemeinen Freien Anthroposophischen Gesellschaft. Selbstver­ständlich kann dabei doch eine solche Lebensgemeinschaft zu einer bestimmten äußeren Wirksamkeit treten; allein, es bleibt wünschens­wert, daß dann ihre einzelnen Mitglieder eben als Repräsentanten der allgemeinen Freien Anthroposophischen Gesellschaft auftreten. Das braucht natürlich nicht eine bürokratische Verwaltung einer Vereins­tätigkeit zu begründen, sondern kann durchaus eine freie Bewußtsein­statsache der einzelnen sein.

8. Aus den beiden Komitees, dem der Anthroposophischen Gesell­schaft und dem der Freien Anthroposophischen Gesellschaft, wäre je ein Vertrauenskomitee zu begründen. Diesen beiden obliegt die Er­ledigung der gemeinsamen Angelegenheiten dem Gesamt-Anthropo­sophischen Gesellschaft.

9. Es sollten alle Institutionen dem Gesamt-Anthroposophischen Gesellschaft in den Interessenkreis der Anthroposophischen und der Freien Anthroposophischen Gesellschaft fallen. Das kann ganz gut sein, wenn eine Zentral-Verwaltungsstelle geschaffen wird, die die Angelegenheiten der Gesamtgesellschaft im Auftrage der beiden Ko­mitees (vermittelt durch ihre Vertrauens-Komitees) verwaltet. Es sollte die Gliederung in zwei Gruppen dem Gesellschaft durchaus nicht dazu führen, daß etwa eine anthroposophische Institution - insbeson­dere eine solche, die schon besteht - nur als eine Angelegenheit der einen Gruppe angesehen werde.

Es sollten in die Zentralkasse Quoten - die von den Komitees zu bestimmen wären - von den Mitgliederbeiträgen fallen, so daß die Angelegenheiten der Gesamtgesellschaft entsprechend versorgt wer­den können.

10. Es sollte die Meinung verstanden werden, daß die beiden Grup­pen nur entstanden sind auf Grundlage dessen, daß es unter den Mitgliedern eben schon zwei scharf unterschiedene Abteilungen gibt, die zwar beide dieselbe Anthroposophie wollen, die sie aber auf ver­schiedene Weise erleben wollen. Wird das richtig verstanden, so kann die relative Trennung nicht zu einer Spaltung, sondern zu einer Har­monie führen, die ohne Trennung nicht möglich wäre.

11. Von der Freien Anthroposophischen Gesellschaft sollte in kei­ner Art versucht werden, die historischen Entwickelungskräfte der

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Anthroposophischen Gesellschaft zu zerstören. Wer für sich die Frei­heit haben will, sollte die Freiheit des anderen ganz unangetastet lassen. Daß es Unvollkommenheiten in der alten Anthroposophischen Gesellschaft gibt, sollte nicht weiter zur Befehdung dieser, sondern dazu führen, eine nach der Meinung der maßgebenden Persönlichkei­ten entsprechende Freie Anthroposophische Gesellschaft zu bilden, welche diese Unvollkommenheiten vermeidet.

12. Es sind durch die Trennung alle Vorbedingungen vorhanden, daß sich insbesondere die Jugend in der Freien Anthroposophischen Gesellschaft wohl befindet. Denn die Lebensgemeinschaften werden freie Gruppen sich verstehender Menschen sein können; und das wird die Grundlage bilden können, daß sich auch in dem allgemeinen Freien Anthroposophischen Gesellschaft niemand in seiner Freiheit beengt fühlt.

Aus einem Brief Rudolf Steiners an Marie Steiner

Dornach, 15. März 1923

#TX

... Der Goetheanum-Brand war neulich wegen der Versicherung im Solothurnem Kantonsrat Gegenstand einer langen Verhandlung. Die Anthrop. [osophie] wurde von klerikalem Seite scharf angegriffen; doch gab es auf der andern Seite auch Verteidiger, die sogar recht wacker für das Goetheanum eintraten. - Ein Stück Bericht aber möchte ich Dir doch wörtlich mitteilen: Regiemungsmat Affolter: «Ein anderer Bau hätte nur durch ein Baureglement von Dornach erzwungen werden können. Kürzlich ging das Gerücht, die Anthroposophen wollen wie­der bauen, und man hörte schon wieder Gerüchte, sie vergeben alle Arbeiten ins Ausland. Von alledem ist nichts wahr. Aber es werden alle möglichen Gerüchte über die Leute ausgestreut. Im Johannesbau waren keine Kulissen, keine Vorhänge und kein Bühnenbau. Sie brau­chen das alles nicht für ihre eumythmischen Bewegungen (Heiterkeit, weil Affoltem diese Bewegungen mit den Armen vorzudemonstrieren versucht).»

Also, was will man mehr: Eumythmie im Soloth. Kantonsmat! Und Walliser hat gesagt: «Dreiviertel der Bevölkerung Dornachs und des Schwarzbubenlandes steht auf Seite der Anthroposophen.» Und Ek­kinger hat gesagt: «Steiner und die übrigen Anthroposophen haben

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sich nobel und korrekt benommen. Wir leben nicht mehr im Zeitalter der Hexenverbrennung, haben Geistesfreiheit.» Da verzeichnet der Bericht: (Bravos). - Im ganzen ging es bei der Debatte sehr scharf her.

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ÜBER DAS BRANDUNGLÜCK

IN ÖFFENTLICHEN VORTRÄGEN IN SCHWEIZER STÄDTEN

IM APRIL 1923

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[Da der Brand und die Frage des Wiederaufbaues des Goetheanum durch die öffentliche Presse gingen, sprach Rudolf Steiner am S. April in Bern, am 9. in Basel, am 10. in Zürich, am 11. in Winterthur, am 12. April in St. Gallen öffentlich über das Thema «Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposo­phie?». Den Berner Vortrag (bisher unveröffentlicht) leitete er mit folgenden Worten ein:1

Bern, S. April 1923

Das schreckliche Brandunglück der letzten Dezembernacht hat eine äußere Hülle des anthroposophischen Strebens zerstört. Dieses Ereig­nis, das für viele, welche diesen Bau, das Dornacher Goetheanum, lieb gewonnen hatten, ein so schmerzliches ist, darf vielleicht Veranlassung geben, daß ich heute mit diesen Betrachtungen zunächst an das Goe­theanum in Dornach anknüpfe. Ich durfte ja viele Betrachtungen dieser Amt hier von dieser Stelle aus halten, und auch die heutige soll nur eine solche sein, die in demselben Stile gehalten wird wie die anderen, und nur eine Anknüpfung an das Goetheanum soll gesche­hen. Dieses Goetheanum hat ja gewiß viele Menschen gehabt, die aus einem Durchschauen desjenigen Wollens, welches von ihm ausgehen sollte, dieses Goetheanum außerordentlich verehrten und liebten. Al­lein man darf doch sagen, die große Mehrzahl auch der Besucher, der zahlreichen Besucher, die es ja waren im Laufe der Jahre, sie konnten aus diesem Goetheanum nichts Besonderes machen.

Es gab viele Menschen, die schon dem Name Goetheanum ärgerte. Und es gab dann viele, welche sich die Formen dieses aus zwei Kuppel-bauten zusammengefügten Goetheanumbaues ansahen, denen sie ein­fach absonderlich erschienen, denen sie vielleicht bloß als der Aus­druck eines phantastischen Strebens erschienen. Es gab dann Menschen,

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welche auf die eine oder andere Ausstmeuung hin glaubten, daß in diesem Goetheanum allerlei Spuk, vielleicht spiritistischer Spuk getrieben werde, daß das Goetheanum erbaut sei, um irgendeine un­klare verschwommene Mystik zu vertreten, um vielleicht sogar, wie manche sich ausdrückten, dem blindesten Aberglauben zu dienen und so weiter.

Und doch könnte man fast erstaunt sein darüber, wie weit dasje­nige, was gerade in der Gegenwart über dies oder jenes geglaubt wird, von dem Tatsächlichen entfernt sein kann; denn dieses Goetheanum hat ganz gewiß zu alledem, was ich eben ausgesprochen habe, nicht gedient. Und wenn es heute Bekämpfer aller jener mehr oder weniger rückständigen oder abergläubischen Richtungen gibt, diejenigen, die das wollten, was im Sinne der Embauung des Goetheanum wirklich gewollt wurde, die gehören ganz gewiß zu diesen Bekämpfern.

Aber ich will heute nicht von dem Negativen sprechen, ich möchte von dem sprechen, was das Goetheanum gewollt hat und was Anthro­posophie, der es eine Stätte sein sollte, eigentlich für die gegenwärtige Menschheit soll.

Daß der Name Goetheanum im Laufe der Zeit gewählt worden ist, entsprach ja im Grunde dem Herzensbedürfnis einer Anzahl Verehrer des Goetheanum und der Anthroposophie. Es wurde zuerst dem Name einem der Personen meinem Mysteriendramen, Johannes Thomasius -nicht der Evangelist Johannes, sondern der Name einer dem Personen meiner Mystemiendramen -, für diesen Bau auf dem Dornacher Hügel gewählt, und er wurde demgemäß Johannesbau genannt.

Gerade das gab natürlich, wie leicht begreiflich ist, zu vielen Miß­verständnissen Veranlassung, und ich habe daher immer wieder und wiederum betonen müssen, daß für mich dieser Dornacher Bau ein Goetheanum sei. Warum? Ich darf sagen: Seit mehr als 40 Jahren beschäftige ich mich mit demjenigen, was in dem Erkenntnis, in der Kunst, in dem Weltanschauung Goethes begründet ist. Und wer mit unbefangenem Sinne sich in Goethes Erkenntnisstreben, in Goethes Kunst, in Goethes Weltanschauungsstreben vertieft, sich hineinlebt in sie, der wird nicht bloß die Anregung dazu bekommen, dasjenige, was Goethe gewollt hat, äußerlich zu betrachten, sondern Goethe wird, wenn man sich wirklich auf ihn und auf das Allseitige seines Strebens einläßt, wirken wie ein lebendiger Impuls. Man kann die Seele mit dem, was er gewollt hat, durchdringen wie mit einem geistigen Lebensblut.

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Und aus dieser Durchdringung dessen, wovon ich überzeugt bin, daß es Goethe in Gemäßheit seines Zeitalters für gewisse Partien der menschlichen Anschauung gewollt hat, aus dem heraus, aus die­sem Erleben dessen, was man Goetheanismus nennen könnte, ist erwachsen Anthroposophie.

Gewiß, derjenige, welchem Goethes Weltanschauung, Goethes künstlerisches Wollen nimmt und sie äußerlich betrachtet, er wird nicht imstande sein, etwa mit irgendeiner Logik oder, sagen wir, mit irgendeinem gewöhnlichen künstlerischen Geschmack dasjenige, was in Anthroposophie gelegen ist, aus Goethe herauszuholen. Aber es gibt, ich möchte sagen, eine Logik der Gedanken - und es gibt eine Logik des Lebens. Derjenige, dem die Logik des Lebens zu seiner eigenen macht, er kann sich in so etwas, wie es Goethe der Welt geoffenb amt hat, hineinvertiefen, so daß es in ihm lebendig wird, daß es weitem wächst und sich entwickelt. Und in diesem Sinne einer lebendi­gen Logik fühle ich, wie Anthroposophie aus dem Goetheanismus widerspruchslos hervorgeht, so wenig man das heute zugibt. Und weil so Anthroposophie im Grunde genommen ihre Entstehung Goethe verdankt, war es ein selbstverständliches Gefühlsbedürfnis, diejenige Stätte, in dem Anthroposophie, sozusagen dem Abkömmling dem Goe­theschen Weltanschauung, gepflegt wurde, Goetheanum zu nennen.

Damit soll ja durchaus nicht dem alberne Anspruch gemacht wer­den, etwa dasjenige, was Goetheanismus ist, mit irgendeinem Vollkom­menheit zu vertreten, sondern ich möchte sagen, ehem wollte dieses Goetheanum eine Amt Huldigungsstätte sein für das, was Goethe der Welt gegeben hat. Durchaus sollte es nicht dienen dem Renommisterei, Goethesche Geistesamt zu vertreten, vielmehr sollte es sein dem Aus­druck dem Dankbarkeit für das, was aus Goethes Weltstreben zu erhalten ist. Und derjenige, dem diese Namensgebung im Sinne des Ausdrucks eines Dankbarkeitsgefühles empfindet, dem wird wahr­scheinlich sich dann nicht mehr über den Namen ärgern.

Soll ich aber weitergehen, meine sehr verehrten Anwesenden, und Ihnen zeigen, was das Goetheanum gewollt hat, so muß ich eben die Betrachtungen, die ich öfters hier in diesem Saal anstellen durfte, heute fortsetzen und sagen, was Anthroposophie soll.

Anthroposophie soll allerdings die Antwort finden, so weit sie dem Mensch finden kann, auf die höchsten Fragen des menschlichen Da­seins, auf diejenigen Fragen, die mit Menschenbestimmung und Menschenwümde

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im höchsten Sinne des Wortes zusammenhängen. Wenn sich der Mensch nicht über sein eigentliches Seelenleben betäubt, dann taucht ja doch immer wieder und wiederum die Frage dem Ewigkeit der Seele auf, dann taucht die Frage auf: Ist die menschliche Seele ein freies oder ein unfreies Wesen? Dann taucht die Frage auf: Inwiefern ruht die menschliche Seele und wirkt die menschliche Seele in demjenigen, was man eine göttliche Weltordnung nennen kann?

Über diese Fragen, die man oftmals die letzten Fragen des Daseins nennt, ist unsere heutige Wissenschaft, die für die äußeren Gebiete des Lebens so unsäglich Großartiges geleistet hat, ziemlich kleinmütig geworden; denn diese äußere Wissenschaft will sogar als wirkliche, wahre Wissenschaft nur das anerkennen, was mit den Sinnen geschaut werden kann, was durch die menschliche Vemstandestätigkeit aus den Sinneswahrnehmungen kombiniert werden kann, und sie lehnt dasje­nige ab, was über das Sinnliche hinausgeht. Sie lehnt aber damit auch ab jede Beantwortung der eben gekennzeichneten tieferen Fragen des menschlichen Daseins. Denn ohne einen Eintritt der Erkenntnis in das übersinnliche Gebiet kann der Mensch nicht einmal den Versuch wagen, an eine menschenmögliche Antwort auf diese Frage heranzu­kommen.

Anthroposophie will nun aber eben, so weit das dem Menschen möglich ist, die Antworten auf diese Fragen nicht in einer bloßen Glaubenslehre geben, Anthroposophie will auch nicht die Antworten auf diese Fragen durch eine unklare Mystik geben, sondern Anthropo­sophie will zu diesen Antworten möglichst weit vordringen auf die­selbe Weise, wie es eigentlich die heutigen Wissenschaften erstreben. Nur ist sich Anthroposophie klar darüber, daß dasjenige, was der Mensch als Erkenntnis bezeichnet, noch in einer ganz anderen Weise gefaßt werden muß, als es heute gerade oftmals von den maßgebend­sten Autoritäten geschieht, wenn man diese Frage überhaupt im rech­ten Lichte sehen will.

[Diesen einleitenden Worten folgte der eigentliche Vortrag, der in seiner Basler Fassung in dem Band «Was wollte das Goetheanum und was soll die Anthroposo­phie?», GA 84, enthalten ist. Er schließt wie folgt:]

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Basel, 9. April 1923

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... Anthroposophie will der Gegenwart dienen, um in der rechten Weise dem zu dienen, was die Menschen von dieser Gegenwart aus in die nächste Zukunft hinein brauchen. Was Anthroposophie unsicht­bar den Menschenseelen sein will, als Hülle, als Heim, das hat das Goetheanum für das Auge sein wollen. Wäre das Goetheanum nur ein symbolischer Bau gewesen, der Schmerz um seinen Verlust wäre kein so großer, denn man könnte ja in der Erinnerung die Sache immer wieder wachrufen. Aber das Goetheanum war nichts für die bloße Erinnerung. Das Goetheanum war etwas, was, wie jedes Kunstwerk sich unmittelbar der Anschauung, sich unmittelbar der Sinnenwelt hinstellen will, was vom Geiste für die Sinnenwelt künden wollte. Daher ist mit dem Niederbrennen des Goetheanums alles das verloren, was das Goetheanum hat sein wollen. Aber es hat vielleicht doch gezeigt, daß Anthroposophie nichts einseitig Theoretisches sein will, nicht eine bloße Erkenntnis sein will, sondern ein Lebensinhalt nach allen Seiten sein kann und sein soll. Deshalb mußte sie in einem eigenen Stil ihr Heim erbauen.

Es wollte das Goetheanum den Geist vor das Auge stellen, den die Anthroposophie vor die Seele stellt. Und es soll die Anthroposophie vor die menschliche Seele stellen, was diese Seele eigentlich aus dem innersten Bedürfnis dem Neuzeit heraus für eine Anschauung, eine Erkenntnis, ein künstlerisches Erfassen dem geistigen Welt verlangt, was die Seelen verlangen, weil sie immer mehr und mehr fühlen, daß sie nur dadurch, daß sie die volle Menschenbestimmung erleben, die volle Menschenwürde erfühlen können.

Das Goetheanum, es konnte abbrennen. Eine Schicksalskatastmo­phe hat es hinweggenommen. Der Schmerz derjenigen, die es lieb gehabt, ist wegen seiner Größe nicht zu schildern. Dasjenige, was aus denselben Quellen, aus denen die Anthroposophie fließt, und durch sie der Menschheit dienen will, für das sinnliche Auge geschaffen werden mußte, das mußte aus physischem Stoff geformt werden. Und wie der menschliche Leib selber gerade nach meiner heutigen Schilde­rung das sinnliche Abbild und die sinnliche Wirkung des ewigen Geistigen ist, dann aber mit dem Tode abfällt, so daß sich das Geistige in anderen Formen entwickelt, so konnte auch dasjenige - lassen Sie mich jetzt die Betrachtung schließen, indem ich sozusagen das Dornacher

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Unglück vergleiche mit dem, was sich auch sonst im Weltenlaufe vollzieht - so konnte dasjenige, was aus Stoff geprägt werden mußte, um fürs Auge hingestellt zu werden, von den physischen Flammen verzehrt werden. Das aber, was Anthroposophie soll, das ist aus dem Geiste heraus gebaut; über das können nur Flammen des Geistes kommen. So wie das menschliche Geist-Seelische über das Leibliche siegt, wenn dieses vernichtet wird im Tode, so fühlt sich Anthroposo­phie lebendig, trotzdem sie ihr Dornacher Heim, das Goetheanum, verloren hat. Und gesagt werden darf: Physische Flammen, sie konn­ten, was für das Auge aus dem äußeren physischen Stoff auferbaut werden mußte, zerstören; was als Anthroposophie dasein soll zur Weiterentwickelung der Menschheit, das ist aus dem Geiste heraus gebaut, das wird durch die Flammen des geistigen Lebens nicht aufge­zehrt, nicht getötet. Die Flammen des geistigen Lebens sind nicht verzehrende Flammen, sie sind vemstärkende Flammen, sie sind Flam­men, die erst recht Leben geben. Und dasjenige Leben, das als Er­kenntnisleben der höheren Welt durch Anthroposophie sich offen-baren soll, das muß durch die Flammen höchster menschlicher, seelischer und geistigem Begeisterung gehärtet werden. Dann wird Anthroposophie sich weiter wandeln.

Wer so im Geistigen lebt, der empfindet zwar nicht minder den Schmerz über den Hingang des Irdischen, allein er weiß auch, daß das Erheben über all das darin liegt, daß man weiß, gerade durch die Geist-Erkenntnis gelangt man zu der Überzeugung: Der Geist wird doch immer über den Stoff siegen und sich immer neuerdings in Stoff verwandeln.

[Zu diesen Ausführungen findet sich in einem der Notizbücher Rudolf Steiners folgender Spruch:]

Es wollte im Sinnenstoffe

Das Goetheanum vom Ewigen

In Formen zum Auge sprechen

Die Flammen konnten den Stoff verzehren.

Es soll die Anthroposophie

Aus Geistigem ihren Bau

Zur Seele sprechen lassen.

Die Flammen des Geistes

Sie werden sie erhärten.

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ARBEITSTAGE IN PRAG

27. bis 30. April 1923

Bericht von Dr. Otto Palmer

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Aus Nr.6 der «Mitteilungen. Herausgegeben vom Vorstand der Anthroposophi­schen Gesellschaft in Deutschland», Stuttgart im Juli 1923.

Demjenigen, der das Glück hatte, vom 27. bis 30. April d. J. in Prag inmitten der tschechischen und deutschen Freunde zu weilen, werden diese Tage nach mancher Richtung hin unvergeßlich sein. Man muß die Stadt Prag als solche auf sich wirken lassen und etwas von dem spüren, was sich als okkulte geistige Strömungen durch die Mauern hinzieht, um zu verstehen, welchen Eindruck gerade dort zwei öffentliche und zwei interne Vorträge Dr. Steiners hervorriefen und wie auch die Eurvthmievorführung im Deutschen Theater vor vollbesetztem Hause eine durchaus günstige Aufnahme fand. Eine Zeitung hatte allerdings nichts Besseres zu tun, als von vornherein in plumpester Weise über die Eutvthmie herzuziehen, während andere Blätter das Neue der eurvthmischen Kunst restlos anerkannten und derselben eine glückliche Zukunft verhießen.

Was die Vorträge Dr. Steiners selbst anbelangt, so fand einer im Saal der Urania, welcher etwa 850 Personen faßte, statt, während der andere im Saal der Produktenbörse, wo etwa 1 200 bis 1 500 Zuhörer sich eingefunden hatten, die es am Schluß an wärmstem Beifall nicht fehlen ließen, abgehalten wurde. Während Herr Dr. Steiner im ersten öffentlichen Vortrag von den geisteswissenschaftlichen Forschungsmethoden im allgemeinen sprach und die Zuhörer in die Anthroposo­phie und ihre Absichten in unserer Zeit hineinführte, sprach er im zweiten Vortrag über Menschenerkenntnis und Menschenerziehung und entwickelte vor den Zu­hörern die Entwickelungsprobleme des Menschen an den praktischen Erfahrun­gen der Waldorfschule in Stuttgart. In beiden Vorträgen, welche für den tschechi­schen und deutschen Zweig gemeinsam stattfanden und welche zwischen den beiden öffentlichen Vorträgen lagen, wurde das in den öffentlichen Vorträgen Gesagte nach jeder Richtung hin vertieft. Was für gewöhnlich in Prag nicht möglich war, nämlich ein gemeinschaftliches Zusammenarbeiten des tschechi­schen und deutschen Zweiges, Dr. Steiner brachte es zustande, und seine Worte trugen dazu bei, eine Harmonie hervorzuzaubern, wie sie nach Aussage der dortigen Mitglieder sonst nicht zu herrschen pflegte. Unsere Prager Freunde, Tschechen wie Deutsche, wetteiferten miteinander, die Tagung zu einer ein­drucksvollen und schönen zu gestalten und auch außerhalb des Rahmens der anthroposophischen Unternehmungen die Schönheiten der Stadt und ihre histori­schen Denkwürdigkeiten den auswärtigen Mitgliedern vor Augen zu führen.

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BEGRÜSSUNGSWORTE FÜR DIE MITGLIEDER IN PRAG

Prag, Samstag, 28. April 1923

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Es sind eben so herzliche Worte gesprochen worden, daß es natürlich nur nüchtern klingen muß, wenn ich nunmehr sage, daß es mir eine große, tiefe Befriedigung gewährt, nach einigen Jahren in Ihrer Mitte wieder einmal verweilen zu können. Sie wissen, wie wir uns hier in Prag auf anthroposophischem Boden innig nahegetreten sind, und da wir wissen, daß geistige Arbeit im Zusammenhange der Welt eine wirkliche Arbeit ist, dürfen wir sagen, daß wir hier auch wirklich geistig zusammen gearbeitet haben. Die sehr lieben Worte, die hier gesprochen worden sind, sie betrafen auch eine Art von Werturteil über meine Arbeit. Nun, meine lieben Freunde, Sie dürfen glauben, daß ich auf der einen Seite außerordentlich dankbar bin, daß ich aber selbstverständlich das, was als Urteil über meine Arbeit abgegeben wurde, nicht selbst in einer solchen Weise werten darf, sondern daß es im Herzen und Gemüte der lieben anthroposophischen Freunde lie­gen muß, wie über diese Arbeit geurteilt wird. Aber darum lassen Sie mich nicht weniger meinen herzinnigsten Dank sagen - sagen darum, weil alles, was gesprochen worden ist, in eine warme Liebe getaucht war, und diese warme Liebe gehört wirklich unter uns. Was wären wir Anthroposophen, wenn nicht diese Liebe unter uns wäre?

Auch ist erinnert worden an jenes schmerzliche Ereignis in der Silvesternacht des letzten Jahres. Dieses schmerzliche Ereignis in sei­nem ganzen Umfange zu beurteilen, kann mir heute noch nicht oblie­gen. Aber die Gegnerschaft, die sich im Anschluß an jenes schmerzli­che Ereignis geltend gemacht hat, darf mit jenen Worten bezeichnet werden, die Herr Professor Hauffen hier gebraucht hat. Denn es überkam unseren Freund, den Schweizer Dichter Albert Steffen, als er die Anwürfe niederster Art wahrnahm, welche entgegengewomfen wurden unserem Streben, einige nicht einmal allzuscharfe Worte ge­gen die Gegnerschaft zu sprechen: man hat alle möglichen Dinge ihm vorgeworfen. Er erinnerte daran, daß er unter seinen schriftsteller­ischen Leistungen eine Arbeit habe, welche die Roheit charakterisiert; was er vorgebracht hat, wurde nicht vorgebracht gegen eine Welt­anschauung, sondern gegen die Roheit. Von der Roheit, welche sich oft zur Groteskheit gesteigert hat, will ich Ihnen heute nicht

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sprechen, da wir zu etwas Besserem zusammengekommen sind. Aber ich will Ihnen zwei Dinge mitteilen. Eine Zeitung, die ganz besonders auf das schimpft, was in Dornach gepflegt wurde, schrieb: Nun, man kennt ja die ganzen Dinge, die da getrieben wurden am «Grutlu­anum». - Nicht einmal den Namen hat man gekannt! Eine andere Zeitung schrieb: Die Absurdität ging so weit, daß die Anthroposo­phen in Scharen während des Brandes gebetet haben, daß das Feuer aufliören möge.

Es ist schwer, etwas gegen Gegner auszurichten, die so gut organi­siert sind wie unsere. Als Beispiel hierfür möchte ich folgenden Vorfall anführen, der sich zutrug nach einem Vortrag, den ich in einer Schwei­zer Stadt hielt. Nach dem Vortrag sprach ich mit einer Persönlichkeit, die nie vorher zu uns in Beziehungen getreten war. Aber zwei Tage nachher bekam diese Persönlichkeit die schmutzigsten Gegenbro­schüren zugeschickt, was wohl hinweist auf die gründliche Organisa­tion der Gegnerschaft, der keine Mittel zu schlecht sind. Ich will keine anderen Beispiele anführen.

Dem steht gegenüber, daß eine von seltener Hingebung getragene Zusammenarbeit geleistet wurde, daß gerade bei diesem Unglück in der allerschönsten Weise die Liebe und Hingebung - ja man kann nicht anders als es sagen - sich gezeigt haben in dem Versuch, die Flammen zu bezwingen. Das konnte nicht gelingen; der Brand war von solcher Art, daß nicht daran gedacht werden konnte, ihn zu bezwingen. Und was im Laufe von zehn Jahren gebaut worden ist, wirklich von den allerverschiedensten Nationen angehörigen Kräften, ist in dieser Nacht ein Opfer der Flammen geworden. Und es ist schon so, daß das furchtbare Flammenlicht, das da gebrannt hat, sich geltend machen muß in allen, die mit unserer Sache verbunden sind. Und Sie können es schon glauben, daß es seither unmöglich ist, über Anthroposophie zu sprechen, ohne daß einem dieser Verlust vom Augen tritt.

Was physischer Natur ist, kann durch Flammen verzehrt werden. Diejenigen Flammen aber, die ich gerne sehe bei denjenigen, die begeistert sind, diese Flammen sind andere Flammen; diese zerstören nicht, sondern flammen an - durch sie wird sich, was wir durch unsere Arbeit erstreben, als unzerstörbar erweisen.

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KURZBERICHT ÜBER DIE PRAGER ARBEITSTAGE*

Dornach, Samstag, S. Mai 1923

zu Beginn des Abendvortrages

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Meine lieben Freunde! Ich will nur kurz berichten über die Prager Reise. Sie ist ja so verlaufen, daß ich zwei öffentliche Vorträge in Prag zu halten hatte und zwei Zweigvorträge. Die öffentlichen Vorträge waren außerordentlich gut besucht. Der erste hat stattgefunden in dem dortigen wissenschaftlichen Institut dem «Urania». Die Eurythmie­Vorstellung fand am Sonntag als Matinee statt, vor dem sehr großen und voll ausvemkauften Deutschen Theater in Prag.

Es hat sich ja auch bei dieser Gelegenheit wirklich gezeigt, wie tief die Sehnsucht überall ist nach einem spimituellen Leben, nach einem Neuaufbau des spirituellen Lebens, und daß es sich ja nur darum handeln würde, die Wege zu den vielen Menschen zu finden, die heute einen solchen Zugang zu einem Neuaufbau des spirituellen Lebens suchen. Deren sind wirklich, das kann man bei solchen Gelegenheiten eben durch die Erfahrung finden, deren sind wirklich heute in der Welt

- und zwar wohl bei allen Nationen - außerordentlich viele.

Leider konnte Frau Dr. Steiner die Rezitation wegen ihrer Indis­position diesmal nicht selbst besorgen und kann das auch nicht bei dem sich nun an die Prager und Stuttgarter Eurythmieaufführung anschlie­ßenden Eurythmieaufführung in Breslau, Nürnberg, Heidenheim und so weitem.

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* Von den stattgefundeneo Verhandlungen über Gesellschaftsfragen liegt kein Protokoll vor. Die Gründung einer tschechischen Landesgesellschaft erfolgte erst ein Jahr später, am 30. März 1924, in Anwesenheit von Rudolf Steiner, wie aus dessen Brief an Edith Marvon in Dornach vom l.April 1924 (GA 263/l)hervorgeht, in dem es heißt: «Der Sonntag [30. Märzl war durch die Versammlung, in der die böhmische Landesgesellschaft gebildet worden ist, fast ganz besetzt vom Morgen bis zum Abend.« Ein Protokoll von dieser

Versammlung liegt ebenfalls nicht vor.

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BITTE AN DIE MITGLIEDER,

DEN GOETHEANUM-WÄCHTERN IHRE ARBEIT

NICHT ZU ERSCHWEREN

Dornach, Montag, 7. Mai 1923

Schlußworte des Abendvortrages

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«Als Kuriosum wirken, wenn man sie in der Rückschau betrachtet, aber vielleicht doch bezeichnend für all die Dinge, denen Dr. Steiner seine Sorgfalt zuteil werden lassen mußte, die Schlußworte des Vortrages für Mitglieder, die sich auf den Wächterdienst jener beziehen, welche seit dem Brande das Amt des Wachens über die uns noch gebliebene Arbeitsstätte übernommen hatten.» (Marie Steiner)

Jetzt lassen Sie mich nur noch eine Bitte aussprechen, die darin besteht, daß ich unsere Freunde ersuche, doch auch in den Einzelheiten ein wenig die Notwendigkeiten der Anthroposophischen Gesellschaft zu respektieren. Wir haben ja die Möglichkeit, dadurch, daß uns eben jemand eine solche eröffnet hat, hingebungsvolle Persönlichkeiten hier zu haben, die Wache halten über das, was noch von unserem Bau geblieben ist. Dieses Wachehalten in seinen verschiedenen Formen ist ja wirklich eine aufopfernde Arbeit, und Sie müssen verstehen, meine lieben Freunde, daß man der Wache es möglichst leicht machen muß, ihren Dienst zu versehen, daß man es ihm nicht allzuschwem machen soll. Es ist schon notwendig, wenn wirklich sachgemäß gewacht wer­den soll, daß zum Beispiel nicht bei jeder Gelegenheit anthroposophi­sche Freunde den Schmeinereiraum zu jeder Nacht- und Tageszeit betreten sollen oder wollen und dann sich darauf berufen: Ich bin ein altes Mitglied, ich kann da überall hineingehen.

Nicht um hier drakonische Maßregeln einzuführen, sondern ein­fach um die Lebensmöglichkeiten herbeizuführen, ist es notwendig, daß man, nicht untertänigst gehorsam, sondern vernünftig sich fügt demjenigen, was eben von seiten dem wachehabenden Leute als not­wendig angesehen wird. Wenn also zum Beispiel einmal zwei Veran­staltungen hintereinander sind, und es ist notwendig, daß zuerst die einen, die bei dem einen Veranstaltung waren, hinausgelassen werden, bevor die anderen hereingelassen werden, so ist es nicht gut, wenn dann diejenigen, die nicht gleich hemeinströmen können, Krakeel schlagen! Ich sage nicht Dinge, die ich mir ausdenke, sondern die vorgekommen sind. Und deshalb, meine lieben Freunde, bitte ich Sie,

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auch in Kleinigkeiten doch die Anthmoposophische Gesellschaft real zu machen. Es kann nicht so sein, wie die allgemeine Auffassung zumeist ist, daß die Anthroposophische Gesellschaft darin bestehe, daß alles dumcheinanderrennt und jeder das will, was ihm gemade einfällt, und daß man das eben durchsetzen will, indem man sich auf die «Philosophie der Freiheit» beruft! Und so weiter. Es ist ja in Berlin vorgekommen, nicht wahr, daß der Vorsitzende jemandem das Wort gegeben hat, aber während der sprach, sprach auch ein anderer, und es drohte, daß noch mehrere hintereinander auch «gleichzeitig» sprä­chen! Da sagte der Vorsitzende: Das geht doch nicht, meine Freunde, daß alle zugleich sprechen! - Da meinte man: Wir haben doch die «Philosophie der Freiheit», da müssen wir doch alle auch die Möglich­keit haben, zu gleicher Zeit reden zu können! -Es ist schon notwendig, daß einfach Vernunft unter uns herrscht.

Deshalb bitte ich Sie, den wachehabenden Persönlichkeiten ihr Amt nicht allzuschwer zu machen, sondern es ihnen zu erleichtern. Wir sind ja da zur Brüderlichkeit und nicht zum Krakeelen. Ich sage das wirklich in aller Artigkeit, möchte es als eine Bitte aussprechen - aber es ist schon die Notwendigkeit vorhanden, daß ich eine solche Bitte ausspreche.

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WORTE ÜBER DAS BRANDUNGLÜCK

ZU BEGINN DER MITGLIEDER-VORTRÄGE IN NORWEGEN

Kristiania (Oslo), 16. Mai 1923

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Die herzlichen Worte von Herrn Ingerö möchte ich damit erwidern, daß ich Ihnen die Versicherung gebe, daß es mir die tiefste Befriedi­gung gewährt, auch wieder in solchen internen Vorträgen zu Ihnen ausführlicher von anthroposophischen Angelegenheiten sprechen zu können. Es ist ja so, daß es mir gerade gegönnt war, hier in Norwegen in Zyklen einschneidende anthroposophische Wahrheiten wiederholt entwickeln zu dürfen. Hier durfte ich auch jenen Zyklus sprechen, der immer wiederum vom meiner Seele steht, über die europäischen Volks-seelen, und hier durfte manches andere über anthroposophische Dinge gesprochen werden. Hervorgerufen ist das durch die besonderen Ver­hältnisse, die dadurch gegeben sind, daß gerade Norwegen gewisser­maßen, wie ich das bei früheren Gelegenheiten immer wieder charakterisieren

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durfte, an einem bemerkenswerten Punkte der europäischen Zivilisationsentwickelung liegt und daß die Zukunft von Europa ge­rade von Norwegen wird sehr viel zu erwarten haben.

Nun darf ich aber wohl in diese Worte tiefster Befriedigung auch hier ein anderes Wort hineinstellen. Das ist das, daß, wenn ich jetzt, meine lieben Freunde, zu den alten anthroposophischen Freunden über Anthroposophie spreche, wirklich immer im Hintergrunde steht das traurige Ereignis der Silvesternacht von 1922 auf 1923. Es haben auch viele unserer norwegischen Freunde das Goetheanum gesehen, ja, es haben norwegische Freunde hingebungsvoll während der zehn Jahre - während wir gearbeitet haben - an diesem Goetheanum mitge­arbeitet. Und endlich darf ich mit innigster Befriedigung des Umstan­des gedenken, daß es gerade norwegische Freunde waren, welche in ausgiebigster Weise ihre materielle Hilfe uns haben angedeihen lassen gerade in der Zeit, wo wir sie zum Aufbau des uns nun leider genom­menen Goetheanum am notwendigsten brauchten. Die opferwillige Betätigung norwegischer Freunde in dieser Beziehung wird tief einge­graben sein in die Geschichte des Goetheanum, denn geistig bleibt doch dasjenige mit der Geschichte der anthroposophischen Entwicke­lung verbunden, was in dieses Goetheanum hineingebaut war. Und diejenigen, die so große Opfer gebracht haben, wie einzelne unserer norwegischen Freunde, werden damit auch in geistiger Weise sich etwas - wir dürfen sagen - Bedeutsames eingetragen haben in die Annalen der spirituellen Entwickelungsgeschichte, welche mit dem Goetheanum verknüpft ist.

Im Hintergrunde, möchte ich sagen, steht die furchtbare Flamme, welche wir in der Silvesternacht haben unser Goetheanum verzehren sehen, in einer Nacht dasjenige, was in langer Arbeit errungen worden ist. Und es kann nur hinwegtrösten über dieses furchtbare, schmerzli­che Ereignis die Tatsache, daß in Anthroposophie selber etwas gege­ben ist, was aus unzerstörbarem Quell heraus ist, so daß es sich in der Entwickelung der Menschheit durchringen muß, auch wenn zunächst dieses äußere Denkmal und Symbolum vom Erdboden verschwunden ist und wohl auch unter günstigsten Verhältnissen nur in notdürftiger Weise wird wiederaufgebaut werden könnte. Es ist also in gewissem Sinne ein Ton der Wehmut, der jetzt unsere Betrachtungen durchdrin­gen muß, indem wir unsere Empfindungen nach diesem schmerzli­chen Ereignisse hinsenden müssen.

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WORTE ZUM BAUBRAND

UND ZUR GESELLSCHAFTSSITUATION

bei einem auf der Rückreise von Norwegen nach Dornach gehaltenen Vortrag

Berlin, 23. Mai 1923

Einleitungs- und Schlußworte

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Was ich Ihnen heute vorbringen möchte, wird, wie alles, was ich über Anthmoposophie in der letzten Zeit zu sagen hatte, mit einem gewissen Untemton gesagt werden müssen, der hemvorgerufen ist dumch das schmerzliche Ereignis, das unsere Sache und unsere Gesellschaft am letzten Silvesterabend getroffen hat: Das Goetheanum in Dornach ist ja augenblicklich nicht mehr. Es ist von den Flammen in der letzten Silvesternacht verzehrt worden. Und alle die, welche mit diesem einen Nacht die zehnjährige, lange Arbeit zerstört sahen, die ausgegangen ist von so vielen unserem Freunde, die in hingebungsvollem Weise diese Arbeit geleistet haben, alle, die aus dieser Arbeit und aus dem, was uns das Goetheanum war, dieses Goetheanum sehr lieb gehabt haben, die werden unter diesem Eindruck stehen müssen, daß wir dieses äußere Zeichen anthroposophischen Wirkens nicht mehr haben. Denn wenn auch - was ja durchaus sein sollte - irgendein Bau für unsere Sache an derselben Stätte wiederum entstehen wird: das alte Goetheanum kann es ja unter dem Einfluß der schwierigen Zeitverhältnisse selbstver­ständlich nicht mehr werden. So steht denn eigentlich im Hinter­grunde hinter alledem, was ich seit jenen Tagen zu sagen habe, die furchtbare Glut der Flammen, die in einem so herzzerreißenden Weise eingegriffen hat in die Entwickelung unserer ganzen Sache. Wir müs­sen uns da um so mehr, als dieses äußere Zeichen dahin ist, widmen dem Ergreifen der inneren Kräfte und inneren Wesenhaftigkeiten dem anthmoposophischen Bewegung und desjenigen, was mit ihr für die ganze Entwickelung der Menschheit zusammenhängt. So lassen Sie mich denn auch zunächst mit einer Art Betrachtung über das Wesen des Menschen beginnen. Ich habe solche viele hier in Ihrer Mitte angestellt und möchte nun heute wiederum eine solche von einem gewissen Gesichtspunkte aus anstellen.

Es folgte der eigentliche Vortrag, der mit folgenden Worten geschlossen wurde:

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Womit ich begonnen habe, damit darf ich vielleicht auch mit ein paar Worten schließen. Ich mußte längst hinweisen darauf, wie, ausgehend von einer sehr untergeordneten freimaurerischen Seite und dann aber wiederholt in allerlei astrologischen Werken, aufgegriffen von allen Gegnern seit längerer Zeit, dem Satz in die Welt gesetzt worden ist:

Geistige Feuerfunken seien in das Goetheanum in Dornach genug hineingeflogen; es werde die Zeit kommen, wo der physische Feuer-funke in dieses Goetheanum hineinfliegen wird. - Die Leute haben es durch zwei Jahre geschrieben. Das ist die Art und Weise, wie heute dasjenige, was wirklich aus dem Geiste heraus geschöpft wird, in der Welt empfangen wird! Demgegenüber muß es Menschen geben, wel­che mit dem Sich-Hineinversetzen in den Geist völlig Ernst machen können. Ernst machen kann man nicht durch das Reden vom Geist allein, sondern durch ein solches Reden vom Geist, das auch wirklich den Geist unter uns Menschen verbreiten kann. Eine solche Verbrei­tung des Geistes wäre es, wenn wir schaffend würden aus dem Geiste, wie alte Zeiten schaffend wurden aus dem Geiste. Ich habe des öfteren uber das Weihnachtsfest, das Osterfest, das heißt über alte Feste, unter Ihnen sprechen dürfen. Es ist schön, den Geist der alten Feste heraus­zuholen aus den Zeitenläuften. Aber ich möchte doch, daß man nicht nur versteht, wenn durch Anthroposophie das an die Oberfläche gebracht wird, was alte Weisheit gedacht hat, sondern ich möchte, daß man auch verstehen kann dasjenige, was aus dem Geist unserer unmit­telbaren Gegenwart als Aufforderung zu uns spricht. Es genügt nicht, bloß die Evangelien als Ausdruck des Christentums anzusehen, denn Christus hat gesagt: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Emdenzeiten.» Er ist da! Verstehen wir seinen Geist, seine Worte, dann können wir jeden Tag aus diesem Geiste heraus sprechen. Was die Alten schaffend gemacht hat aus einer Weltenweisheit, was gemacht hat, daß wir heute noch den tiefen Sinn dem Feste enthüllen können, das lebt doch unter uns. Wir wollen doch ganze Menschen sein. Dann mussen wir aber auch als ganze Menschen geistig schaffen können. Dann müssen wir nicht nur nachdenken können über den Sinn der alten Feste, dann müssen wir selber dadurch sozial schöpferisch sein können, daß wir aus dem Jahreslauf heraus Feste-schöpfend werden können.*

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* Es war von der Schaffung eines Michael-Festes aus dem Geiste gesprochen worden.

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Das mutet allerdings den Menschen mehr zu, als die alteingesesse­nen Feste zu erklären. Aber es ist eben auch eine wirkliche Anthropo­sophie, eine höhere Anthroposophie. Und geprüft werden kann die Anthmoposophische Gesellschaft doch nur daran, ob sie nicht nur tote Anthroposophie begreift, die über Vergangenes handelt, sondern ob sie auch lebendige Anthroposophie begreift. Die wird auch eine Summe von Feuemfunken sein können! Aber diese Feuerfunken wer­den in einem Tempel sein, der nicht aus äußerem Material besteht. Physische Flammen verzehren Tempel, die aus äußerem Material be­stehen. Die Flammen echter spimitueller Begeisterung, echten spiritu­ellen Lebens, die den Tempel durchdringen müssen, weil sie ihn erleuchten müssen mit dem, was im Geiste aufleuchtet, diese Flammen können den Tempel nicht zerstören, die können diesen Tempel nur immer herrlicher gestalten. Denken wir an das, was lebendige Anthro­posophie ist, als diejenige Feuerflamme, die uns immer weiter- und weiterführen wird, wie dem lebendige Geist der Anthroposophie sel­ber, der uns führen soll zum Fortschritt der Menschheit und zum Wiederaufbau desjenigen, was jetzt in einem so deutlichen Nieder-gange ist.

Das wollte ich Ihnen bei meiner diesmaligen Anwesenheit in Berlin sagen, meine lieben Freunde, weil es gut ist, wenn wir solche ernsten Dinge, gerade weil wir so selten zusammensein können, jetzt bespre­chen. Ich hoffe, daß ausgehen möge auch von diesem ein recht gutes Zusammensein in Gedanken. Denn Anthroposophie soll wirken im Geiste, nicht bloß im physischen Raume. Und so möge es als Gruß zu Ihnen gesprochen sein, daß wir beisammenbleiben mögen im Geiste, auch wenn wir jetzt räumlich längere Zeit wieder getrennt sein müssen.

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KURZBERICHT ÜBER DIE NORWEGEN-REISE

Dornach, Sonntag, 27. Mai 1923 zu Beginn des Abendvortrages

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Nur kurz möchte ich davon berichten, daß die nordische Reise, die von mir jetzt absolviert worden ist, wie ich glaube, ganz befriedigend ausgefallen ist. Es ist mir möglich gewesen, in Norwegen innerhalb acht Tagen 13 Vorträge zu halten, und damit konnte eben ein gutes Stück Anthroposophie zur Sprache gebracht werden. Ich glaube, daß unsere Freunde in Norwegen gerade gegenwärtig recht gute Arbeiter sind und daß wir mit einer gewissen Befriedigung dorthin blicken können.

Von diesen Vorträgen waren zwei öffentlich, die anderen Privatvorträge für Mitglieder und Freunde dem Mitglieder, also für einen engeren Kreis von Mitgliedern und auch Nichtmitgliedern, die aber persönlich eingeladen waren.

Von Tatsächlichem möchte ich noch das bemerken, daß sich wäh­rend meiner Anwesenheit in Norwegen die norwegische Anthroposo­phische Gesellschaft gebildet hat,* daß sie nun in ähnlicher Weise wie die Schweizerische Anthroposophische Gesellschaft besteht. Sie hat Herrn Ingerö zu ihrem Generalsekretär bestimmt und wird ihre weite­ren Statuten ausarbeiten. Sie hat in der Generalversammlung, die während meiner Anwesenheit abgehalten worden ist, die Geneigtheit ausgedrückt, wenn die internationale Gesellschaft, eventuell mit dem Sitze in Dornach, zustande komme, dann sich dieser internationalen Gesellschaft mit dem Sitz in Dornach anzuschließen. Wenn wir dann nacheinander die einzelnen Zweiggesellschaften gründen nach dem Muster der schweizerischen, so wird es ja möglich sein, die Konstitu­ierung der ganzen Gesellschaft in einer den heutigen Zeitverhältnissen Rechnung tragenden Weise herbeizuführen. Ich möchte das insbeson­dere auch deshalb erwähnen, weil es ja wichtig ist vielleicht für eine demnächst abzuhaltende weitere Generalversammlung der Schweize­rischen Anthroposophischen Gesellschaft,** die mittlerweile vollzo­gene Tatsache der [gegründeten Ländergesellschaften für eine] allge­meine Anthroposophische Gesellschaft ins Auge zu fassen.

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* Siehe Seite 469. ** Siehe Seite 512.

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OFFENER BRIEF RUDOLF STEINERS

BETREFFEND SEINEN RÜCKTRITT ALS VORSITZENDER

DES AUFSICHTSRATES DER «KOMMENDEN TAG AG»

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erschienen in der deutschen Wochenschrift «Anthroposophie«, Nr.48 vom 31. Mai, und in der schweizerischen Wochenschrift «Das Goetheanum» vom 17.Juni 1923. Auch als Rundbrief verschickt.

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An die Mitglieder dem Anthmoposophischen und der

Freien Anthroposophischen Gesellschaft

in Deutschland

Meine lieben Freunde!

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Die Entwickelung und die Aufnahme der anthroposophischen Bestre­bungen in der Gegenwart macht eine Ändemung meinem Arbeitsweise notwendig. Anthroposophie hat sich auf der einen Seite als ein Seelen-bedürfnis einem immer größer werdenden Anzahl von Menschen er­geben; sie sieht sich auf der andern Seite Mißverständnissen und un­richtigen Beurteilungen vieler immer mehr gegenübergestellt.

Das erfordert, daß ich den gesteigerten Anforderungen nach Pflege des anthroposophischen Bedürfnisses mehr entgegenkomme, als dies seit der Zeit der Fall sein konnte, seit praktische Institutionen von mancherlei Art sich durch die Zielsetzungen der Freunde unserer Sache gebildet haben. Diese Institutionen sind in durchaus berechtig­ter Art aus den Absichten dieser Freunde auf Grund der anthroposo­phischen Bewegung entstanden. Und es war auch begreiflich, daß bei diesen Freunden, als sie nach der Verwirklichung solcher praktischen Ideen strebten, der Wunsch entstand, mich selbst in den Verwaltungen der entsprechenden Institutionen drinnen zu sehen. - Ich bin diesem Wunsche entgegengekommen, obwohl ich mir bewußt war, daß dieses Entgegenkommen einer naturgemäßen Verpflichtung mich von mei­ner eigentlichen Aufgabe, der Pflege des Zentralen der anthroposophi­schen Arbeit, für einige Zeit zu stark wegziehen würde.

Für eine verhältnismäßig kurze Frist mußte ich den Wünschen der Freunde entsprechen. Aber ebenso muß ich jetzt mich auf den Stand­punkt stellen, daß ich weiterhin nur innerhalb dieses Zentralen des anthroposophischen Lebens mit seinen künstlerischen und pädagogi­schen Auswirkungen tätig sein darf. Ich muß ganz der Anthroposophie

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als solcher sowie ihren künstlerischen und Schulbestrebungen und ähnlichem gehören und den Institutionen wie «Kommender Tag» usw. nur insoweit, als die geistigen Anregungen der Anthroposophie in dieselben hineinfließen. Von allem Verwaltungsmäßigen dieser Insti­tutionen muß ich mich im Interesse der anthroposophischen Sache zu­rückziehen. Nur dadurch wird es möglich sein, daß durch mich in dieser Sache so intensiv gearbeitet werde, wie es angesichts von deren eigenen Anforderungen und der rasch wachsenden Gegnerschaft nötig ist.

Das sind die Gründe, welche mich bewegen, jetzt von dem Amte des Vorsitzenden im Aufsichtsrate des «Kommenden Tages» zurück­zutreten. Ich bitte die Freunde der anthroposophischen Sache dies nicht so aufzufassen, als ob dadurch eine Änderung in der intensiven, sach- und idealgemäßen Arbeit des «Kommenden Tages» einträte. Diese Arbeit ist in guten Händen; und ich bitte, fernerhin keinen Grad des Vertrauens ihr zu entziehen. Ich bin der Überzeugung, daß alles besser gehen werde, wenn ich selbst jetzt diese Arbeit auch formell in die Hände lege, von denen sie gut getan wird, und mich der Sache widme, die mir vom Schicksal zugeteilt ist. Was ich als geistige Anre­gungen dem Klinisch-Themapeutischen Institut, dem Kommenden-Tag-Verlag, den Forschungsinstituten, den Zeitschriften usw. geben kann, wird diesen besser zufließen, wenn ich aus der eigentlichen Administration herausgelöst bin. Praktisch wird sich innerhalb dersel­ben nichts Wesentliches ändern, da ich genötigt war, schon in der letzten Zeit durch die dargelegten Verhältnisse in den für die Zukunft als notwendig geschilderten Zustand hineinzuwachsen. Es wird also nur der faktisch entstandene Zustand auch offiziell festgelegt.

So hoffe ich denn, daß mein Austritt aus dem Aufsichtsrat des «Kommenden Tages» als eine Vertrauenskundgebung meinerseits für dessen Leitung aufgefaßt und zu einer solchen auch bei den Mitglie­dern der Anthroposophischen Gesellschaften werden wird. Er soll das Vertrauen stärken, nicht schwächen. Wäre Grund zu einer Schwä­chung vorhanden, so müßte ich bleiben. Die Sache liegt aber so, daß ich der sachkundigen, umsichtigen Leitung fernerhin unnötig und daher verpflichtet bin, zu der anthroposophischen Sache im engern Sinne zurückzukehren.

Dies bitte ich als Begründung des jetzt notwendigen Schmittes aufzufassen.

Rudolf Steiner

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ANSPRACHE BEI DER

ZEHNTEN ORDENTLICHEN GENERALVERSAMMLUNG

DES VEREINS DES GOETHEANUM*

Dornach, Sonntag, 17. Juni1923

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Meine lieben Freunde! Auch an mir wird es ja sein, anders und mit anderen Untergründen heüte zü Ihnen zu sprechen, als das in den verflossenen Jahren bei diesen Versammlungen geschehen konnte. Denn wir stehen ja bleibend unter dem Eindrucke des Hinganges unseres geliebten anthroposophischen Baues, des Goetheanum. Es braucht wohl nicht immer wieder auch von mir hervorgehoben zu werden, was das eigentlich bedeutet. Es ist Ihnen in den schönen Worten des Herrn Vorsitzenden [Dr. E. Grosheintz] dies heute nahege­bracht worden; und ich bin ja überzeugt davon, daß diese Worte aus der Seele eines jeden von Ihnen gesprochen waren. Es ist ja auch tatsächlich so, daß ein über ein bestimmtes Maß hinausgehendes Unglück im Grunde genommen nur in stummer Sprache sich offenbaren kann und daß Worte wirklich nicht hinreichen, um dasjenige zum Ausdruck zu bringen, was gerade für uns mit dem Goetheanum verloren worden ist.

Ich habe in den Vorträgen, die ich gelegentlich der Generalver­sammlung der Schweizerischen Anthroposophischen Gesellschaft und der Generalversammlung des Goetheanum-Vereines in der Zwi­schenzeit zwischen den beiden Versammlungen und im Anschlüsse an sie zu halten hatte, über alles dasjenige zu sprechen gehabt, was mir gerade zu sagen in dieser Zeit obliegt.

Im Grunde ist ja sehr vieles von dem, was ich in dieser Zeit zu sagen habe, gerade im Hinblick auf den großen Schicksalsschlag gesagt, der uns betroffen hat. Es darf auch durchaus nicht verkannt werden, wie sehr dieser Schicksalsschlag gezeigt hat, daß ein gemeinsames Fühlen innerhalb der Glieder der Anthroposophischen Gesellschaft in einem herzlichen Maße vorhanden ist.

Allein, meine lieben Freunde, dasjenige, was, ich möchte sagen, in einem für uns selbstverständlichen Weise zum Ausdrucke kam dazu­mal, als wir unter dem unmittelbaren augenblicklichen Eindrücke des Goetheanum-Brandes standen, daß wir die Kontinuität der Arbeit unseres Geisteslebens durchaus nicht aufgeben wollten, das muß uns

* Das Protokoll der Generalversammlung siehe in Teil III, Seite 547.

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ja immer beseelen. Und darauf kommt es ganz besonders an, daß wir uns tatsächlich zu verhalten wissen im Sinne des gestern von mir Gesagten: Arbeiten aus dem Zentrum des Geistigen heraus und sich selbst durch die schmerzlichsten, wie ja auch durch die erhebenden Eindrücke der Außenwelt in dieser eigentlichen inneren, aus dem Zentrum herauskommenden Arbeit und Gesinnung nicht beirren las­sen. Davon hängt doch die wirkliche Perspektive der anthroposophi­schen Bewegung ab. Sie hängt nicht davon ab, wie viele und wie geartete Schicksalsschläge von außen kommen. Diese müssen mit der­jenigen Gesinnung hingenommen werden, die sich aus der anthropo­sophischen Lebensanschauung von selbst ergibt. Aber daß trotz aller Schicksalsschläge, auch trotz aller günstigen Schicksalsschläge, die innere Energie im Herausarbeiten aus dem Zentrum des Geisteslebens nicht erlahmt, davon hängt dasjenige ab, was mit der anthroposophi­schen Bewegung erreicht werden soll und auch erreicht werden kann.

Aber dasjenige, was notwendig ist zu einem solchen Arbeiten, das müssen wir uns immer wieder und wieder vor die Seele führen, müssen es ganz besonders in dieser für uns so ernsten Zeit.

Ich möchte da nur bemerken, daß es in einer so gearteten geistigen Bewegung, wie es die anthroposophische ist, wirklich ernst damit werden muß, wenn sie den rechten Weg finden soll, daß Erfolg und Mißerfolg eigentlich im Grunde nichts bedeuten, daß allein dasjenige etwas bedeutet, was aus der inneren Kraft und den inneren Impulsen der Sache selbst hervorgeht. Da kommt aber sehr viel an auf das Bewußtsein derjenigen, die in dem Anthroposophischen Gesellschaft vereint sind.

Man muß das Folgende bedenken: Gesinnungen, Bewußtseinsim­pulse, realisieren sich nicht von heute auf morgen. Man kann nicht sagen heute, welches die Erfolge der Bewußtseinsimpulse und der Gesinnungen von vorgestern sind. Wenn man das täte, würde man in ein ganz anderes Fahrwasser hineinkommen, als das anthroposophi­sche sein kann. Man würde zum Beispiel, wenn man in dieser Weise äußerlich die Sache nehmen würde, sagen können: Wir verlassen uns auf unser gutes Glück. - Dann aber würde man, wenn dieses Glück einmal in der Amt, wie man es sich vorstellt, nicht da ist, auch sagen:

Wir verlieren den Mut, die Energie.

Ich hätte mir ja denken können, daß es in dem Zeit, als uns das furchtbare Unglück betroffen hat, Seelen hätte auch unter Anthroposophen

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geben können, die gesagt hätten: Ja, warum haben uns in diesem Falle die guten geistigen Mächte nicht geschützt? Kann man denn an die Schlagkraft einem Bewegung glauben, die in dieser Weise verlassen wird von den guten Geistern?

Solch ein Gedanke knüpft eben an Äußeres an, knüpft nicht an dasjenige an, was unbeirrt durch Äußeres, lediglich aus dem inneren Zentrum der Sache heraus kommt. Wenn man dieses ernst nehmen will, daß Gesinnungen, Gedanken, namentlich Bewußtseinsimpulse Realitäten sind, dann muß man an sie selbst glauben, an diese Bewußt­seinsimpulse, an diese Gedanken, an diese Empfindungen, nicht an die Hilfen, die sie von außen haben können, sondern an ihre eigene Kraft. Dann muß man sicher sein, daß dasjenige, was man aus solchen Impulsen hemausschöpft, trotz alles äußeren Scheinmißerfolges zu seinem richtigen Ziele kommt, zu dem Ziele, das ihm vorgeschrieben ist in der geistigen Welt; selbst dann, wenn es eines Tages durch die äußeren Umstände in dem äußeren Welt zunächst ganz vernichtet würde.

Derjenige, dem jemals den Glauben haben kann, daß ein Geistiges, das recht gewollt wird, durch irgend etwas in der äußeren Welt ganz vernichtet werden kann, wenn auch in der äußeren Maja die Vernich­tung da ist, dem glaubt nicht in Wirklichkeit an die Schlagkraft der geistigen Impulse, an die Schlagkraft dem geistigen Energie. Man muß noch sagen können in dem Augenblicke, wo alles Äußere zugrunde geht: Demjenigen, was aus dem Innern gewollt wird, ist der Erfolg sicher. Aber man darf dann vom Erfolg nur in der Weise sprechen, daß man dasjenige meint, was im Sinne dem inneren Impulse, der Gedan­ken, der Bewußtseinsabsichten selber liegt. Die Dinge, die in dem äußeren Welt sich vollziehen, vollziehen sich in der Regel in einem Weise, die oftmals erst erklärlich wird nach Jahrzehnten, vielleicht nach noch längerem Zeit. Und nach den augenblicklichen Konstellationen die, wenn ich so sagen darf, Regierung der geistigen Welt beurteilen, hieße kleinmütig sein gegenüber dieser geistigen Welt. Die geistige Welt muß sich selbst ihre Stärke und Schlagkraft geben. Nun gibt es innerhalb dem Emdenwelt nichts anderes als die Menschengemüter, in denen diese Schlagkraft ein Heim haben kann, ein Verständnis finden kann; nicht Einrichtungen, nicht Institutionen, und wären sie noch so schön oder noch so häßlich, können irgendwie beweisend oder widemlegend sein für dasjenige, was aus dem Geiste heraus wirklich gewollt wird.

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Wer aus Äußerem die Wahrheit oder die Unwahrheit des Geistigen beweisen oder widerlegen will, befindet sich auf einem falschen Wege; denn er steht nicht innerhalb des Zentrums der geistigen Impulse, sondern außerhalb. Für die Beurteilung desjenigen, was da in Frage kommt, ist einzig und allein das Innerste des Menschengemütes, nie­mals irgendwie ein äußerer Zusammenhang maßgebend.

Das aber bedingt auf der anderen Seite, daß die Menschen, die Träger sein wollen einer solchen geistigen Bewegung, eben dahin kommen müssen, wenigstens immer mehr und mehr diese innere Stärke anzustreben und Verständnis zu haben für dasjenige, was es eigentlich heißt, aus dem inneren Zentrum einer geistigen Bewegung heraus zu arbeiten.

Gerade in diesem Momente scheint es mir dringend notwendig zu sein, daß wir uns voll bewußt werden, wie schwer dieses ist und wie es nicht mit dem genügend erfüllt werden kann, was man oftmals da­durch ausdrückt, daß man sagt: Ich habe die anthmoposophische Ge­sinnung, ich habe den anthroposophischen Willen.

Und da möchte ich kommen auf ein Wort, das ich öfters seit dem Goetheanum-Brand ausgesprochen habe und von dem ich wünschen würde, daß es tatsächlich ein wirklich gründliches Verständnis fände; ich habe es oftmals ausgesprochen: Das erste Goetheanum, die Form des ersten Goetheanum, dieses Heim dem Anthroposophie, als Bau, wie er da stand, ist ja nicht wieder aufzurichten, kann nicht wieder aufgerichtet werden.

Wenn solch ein Wort, das aus dem Geiste heraus gemeint ist, ausgesprochen wird, so muß man es als Realität empfinden, so muß man die Voraussetzung machen, daß man es von den verschiedensten Seiten anschauen kann, wie man Realitäten von den verschiedensten Seiten ansehen kann, daß man oftmals erst von einem gewissen per­spektivischen Ausgangspunkte aus den richtigen Anblick gewinnen kann für ein solches Wort. Denn ein solches Wort ist ja zunächst aus einem geistigen Verpflichtung heraus gesprochen worden. Und man braucht in dem Augenblicke, wo das Wort aus einer geistigen Ver­pflichtung heraus gesprochen wird, durchaus nicht auf den physischen Händen herumzutragen all die Gründe, die sogenannten Gründe, die für ein solches Wort vorliegen.

Heute in diesem Stunde obliegt es mir weniger, von den äußeren Verhältnissen zu sprechen, sondern ich möchte heute besonders auf

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etwas zu sprechen kommen, das mit dem inneren Impuls dieses Wor­tes: Das erste Goetheanum kann nicht wieder aufgerichtet werden -zusammenhängt. Und zwar gestatten Sie mir schon, daß ich davon mit allem Ernste spreche; denn es kann ja nur dieser Ernst gegenüber der Aufgabe für den Wiederaufbau den Freunden die rechte Stellung geben.

Sehen Sie, eine äußere Tatsache können wir ja heute verzeichnen. Diese äußere Tatsache ist diese, daß nun die juristischen Untersuchun­gen, die sich angeschlossen haben an den Goetheanum-Brand, abge­schlossen sind; man kann sagen, so abgeschlossen sind, daß nun von behördlicher Seite der Entschluß gefaßt werden konnte, uns die Versi­cherungssumme von drei Millionen und einigen hunderttausend Fran­ken auszuzahlen. Die Auszahlung ist erfolgt. Diese drei Millionen sind da; und es kann diese Tatsache zunächst heute verzeichnet werden. Seit dem 15.Juni haben wir also diese drei Millionen.

Nun, meine lieben Freunde, könnte es sich herausstellen, daß See­len freudig aufatmen würden angesichts der Tatsache, daß wir nun diese drei Millionen für den Bau haben und höchstens noch weitere drei Millionen durch die Opferwilligkeit der Freunde aufzubringen haben. Man könnte die Tatsache so charakterisieren. Man könnte nun diesen 15.Juni als ein außerordentlich freudiges Ereignis in der Ent­wickelung der anthroposophischen Bewegung verzeichnen.

Meine lieben Freunde! Das ist er nicht. Und wenn ich also heute von einer ganz im Sinne des anthroposophischen Lebens gemeinten Seite her die Sache vor Ihnen beleuchten soll, so muß ich noch anders sprechen. Mir zum Beispiel ist diese Tatsache, die vielleicht von da oder dort als eine außerordentlich freudige bezeichnet wird, eine außerordentlich schmerzliche, eine außerordentlich traurige. Und zu denjenigen Leidempfindungen, die ich hatte seit dem Goetheanum­Brande, gehört diese ganz besonders, daß ich mir sagen mußte: Das, was jetzt geschehen ist, muß ja herbeigeführt werden, muß in der besten und energischsten Weise, muß eben notwendig geschehen; aber es muß etwas herbeigeführt werden, was eigentlich gar nichts zu tun hat mit dem Zentrum der anthroposophischen Bewegung, was ganz außerhalb des Zentrumwirkens dieser Bewegung liegt.

Der Ausspruch: Das erste Goetheanum kann nicht wieder aufge­führt werden - hat ja nicht nur einen ästhetischen, nicht nur einen opportunistischen, nicht nur einen äußerlich-historischen Hintergrund,

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sondern auch einen anthroposophisch-moralischen. Und über diesen anthroposophisch-moralischen Hintergrund lassen Sie mich einige Worte sprechen.

Sehen wir zurück in die Zeit 1913, 1914, und fragen wir uns: Aus welchen Untergründen heraus ist dazumal der Entschluß zum Bauen und die Inangriffnahme dieses Baues des Goetheanum erfolgt? - Was damals und im weiteren bis zum 31. Dezember 1922 beziehungsweise 1.Januar 1923 verfolgt worden ist, stand auf der Grundlage, daß jeder einzelne Franken, der in das Goetheanum eingebaut worden ist, ge­flossen ist aus der Opferwilligkeit derjenigen, die sich in irgendeiner Weise zur anthroposophischen Bewegung bekannt haben. Das Goe­theanum ist gebaut worden durchaus aus innerem Verständnis heraus. Jeder Franken floß aus innerem Verständnis für die Sache heraus.

Meine lieben Freunde, das Folgende ist Wahrheit, ist reale Wahr­heit, weil die Wirklichkeit mit dem Inneren der Sache übereinstimmt:

Wir hatten in dem Momente, wo der letzte Vortrag im Goetheanum gehalten worden ist, eine Heimstätte für die Anthroposophie, die mit den Opferpfennigen, mit den Opfercentimes derjenigen gebaut worden ist, die mit ihrem innersten Verständnis bei der Sache waren. Vom Dornacher Hügel herunter schimmerte ein Bau, der in jedem Kubikzentimeter Holz, in jedem Kubikzentimeter Stein eingebaut hatte anthroposophischen Willen, anthroposophische Opferwillig­keit. Diese moralische Substanz war in das erste Goetheanum hinein-gebaut.

Meine lieben Freunde, nun werden wir zu bauen beginnen mit drei Millionen Franken, von denen viele Franken aus den Taschen derjeni-gen stammen, die nicht nur etwa kein inneres Interesse an dem Goe­theanum haben, sondern ein Interesse daran haben, daß dieses Goe­theanum nicht sei. Und wenn das Goetheanum vom Dornacher Hügel wiederum herunterschimmern wird, dann wird nicht allein anthropo­sophische Opferwilligkeit hineingebaut sein, dann wird hineingebaut sein dasjenige, was außerhalb des Anthroposophischen im Gefüge der gegenwärtigen Welt gang und gäbe ist.

Dann, meine lieben Freunde, wird vom inneren geistigen Gesichts­punkte aus angesehen ein ganz anderer Bau da sein. Es wird ganz sicher Leute geben, die dasjenige, was nun einmal nach dem sozialen Zusammenhange, der jetzt besteht, aus ihren Taschen herauskommt und in das Goetheanum hineingebaut wird, nicht nur mit keiner tiefen

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Sympathie, sondern vielleicht sogar mit einer Art Verfluchung beglei­ten werden.

Ich habe es oft gesagt: Innerhalb einem solchen Bewegung, wie die anthroposophische ist, handelt es sich darum, wach zu sein, nicht zu schlafen. Dieses, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, sagt man sich nicht im schlafenden, sondern im wachenden Zustande. Für uns dürfen Worte wie Segen einer Sache, Zusammenhang des Segens mit schönen Eigenschaften des Menschengemütes keine Phrase sein, für uns müssen sie Tatsache sein. Und daher erfolgte der erste Bau des Goethe­anum mit dem inneren Gefühle, daß man etwas tat, was aus seinen rechten Ursachen heraus den Weg nach vorwärts so nimmt, daß dieser Weg der der Ursachen selbst ist.

Jetzt bauen wir das Goetheanum auf in einer Richtung, die tragisch ist. Ein tragisch gebautes Goetheanum ist etwas anderes als das Goe­theanum, das wir 1913, 1914 in Angriff nehmen konnten.

Der Anthroposophie wird oftmals der Vorwurf gemacht, daß sie zu intellektuell sei. Nein, sie führt durch das, was in ihren wirklichen Impulsen liegt, zu den tieferen Empfindungen des Menschtums.

Man konnte mit freudigem Herzen 1913 zu bauen beginnen; be­ginnt man heute, dann ist es fast notwendig, daß man das unter Tränen beginnt. Ich gebe Ihnen damit eben eine solche Schilderung, die aus dem inneren Zentrum eines geistigen Denkens stammt; und ein sol­ches unterscheidet sich eben ganz wesentlich von dem Denken, das seine Impulse von äußeren Tatsachen hernimmt.

Ein Denken, das sich an die äußere Tatsache knüpft, würde wahr­scheinlich die Worte, die ich eben ausgesprochen habe, nicht ausspre­chen; sondern es würde freudig erregt sein darüber, daß der 15.Juni uns die drei Millionen gebracht hat.

Meine lieben Freunde, ich habe oftmals, wie es vielleicht vielen von Ihnen ungerechtfertigt erscheint, davon gesprochen, daß eine innere Opposition innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft vorhan­den ist gegen dasjenige, was ich manchmal aus dem Zentrum der Anthroposophie heraus zu vertreten habe; heute möchte ich diese Opposition nicht wieder charakterisieren; aber ich möchte nur die Frage stellen: Ist denn überall im Laufe der letzten Monate, seit dem Goetheanum-Brande, die Empfindung vorhanden gewesen, die ich eben jetzt zum Ausdruck gebracht habe? - Wenn eine andere vorhan­den gewesen ist, so war sie eben ein Beispiel von innerer Opposition.

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Es war dann eine Empfindung, auf die eigentlich nicht mehr hätte zu rechnen sein sollen, nachdem die anthroposophische Bewegung die drei Perioden ihres Daseins durchgemacht hat.

Als wir am ersten Tage nach dem Brande schmerzgebeugt hier auf dem Dornacher Hügel standen, da die Flammen draußen noch züngel­ten, da versammelten sich manche Anthroposophen um den noch brennenden Bau. Der oder jener hat etwas gesagt. Schließlich kam es mir wirklich gar nicht darauf an, was irgend jemand gesagt hat, denn der Inhalt der Worte ist ja für den eigentlichen spirituellen Untergrund immer nur ein Symptom; aber ich möchte sagen, in zweierlei Hinsicht unterschied sich dasjenige, was an diesem ersten Tage nach dem Aus­bruche des furchtbaren Unglücks gesagt worden ist. Da sprachen Anthroposophen das Wort zum Beispiel aus: Jetzt haben wir das Goetheanum nicht mehr, jetzt wollen wir es in unsern Herzen auf­bauen. - Es war eine elementare Empfindung, die schon etwas zu tun hatte mit dem Zentrum der Bewegung. Aber es waren andere Stim­men, die sprachen so: Das Goetheanum ist doch versichert; wird man es mit der Versicherungssumme wieder aufbauen können?

Meine lieben Freunde, ich will Sie in keinem Punkte des Lebens selbstverständlich zur Unpraxis verführen. Ich habe gar nichts dage­gen selbstverständlich, daß diese Dinge so praktisch wie möglich angesehen werden. Aber es kommt auf die Intentionen an. Es kommt darauf an, ob man den Unterschied merkt zwischen dem, was früher da war, und demjenigen, was jetzt notwendigerweise wird gebaut werden müssen. Denn das darf auf anthroposophischem Felde nie­mand sagen: Ach, es sei gleichgültig, wie die Gesinnungen sind, wenn nur das Goetheanum wieder aufgebaut wird.

Gesinnungen und Gedankenimpulse, namentlich Bewußtseinsim­pulse wirken eben nicht von heute auf morgen, sondern sie bewegen sich fort in der Strömung der geistigen Welt und müssen nicht nach den bloßen äußerlichen Tatsachen beurteilt werden, die für sie nur Symptome, nicht eine unmittelbare Realität sind.

Nun versuchte ich bisher, in allem, was nach dem Brande geschehen mußte, soweit es eben unter dem Einflusse der notwendigen Tatsachen ging, unser Wirken aus dem Zentrum der Sache heraus zu gestalten. Daher beruhigte ich die Freunde, welche gleich in den ersten Tagen als das notwendigste ansahen, uns aller möglichen Hilfen, zur Wahrung unserer Interesse zum Beispiel während dem Verhandlungen, wegen

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dem Versicherung zu bedienen. Ich versuchte soweit wie möglich alles dasjenige aus unserem Handeln wegzubringen, was nicht aus dem Kern der anthroposophischen Bewegung selbst herauskommt.

Ich wußte, daß ich eine Verantwortung den Freunden gegenüber damit übernehme. Denn wenn dem 15.Juni schlimmer ausgegangen wäre, so würde man natürlich gesagt haben: Hättet ihr dazumal die richtigen Advokaten genommen, so wäre es anders geworden. - Aber solche Verantwortungen muß man eben übernehmen, wenn es sich um die höheren Pflichten aus dem Zentrum des anthroposophischen Wir­kens heraus handelt. Die muß man ernst nehmen.

Und man nimmt sie eben nicht mehr ernst, wenn man nicht im konkreten Falle, soweit es möglich ist, innerhalb des bezeichneten Zentrums stehenbleibt. Man schildert ja sofort seine Ohnmacht, wenn man in einzelnen Fragen sich außer Stande erklärt, die Angelegenhei­ten, die die eigenen sind, nicht selber führen zu können aus dem Zentrum anthroposophischer Impulse heraus.

Natürlich können wir niemals uns heute vornehmen, dasjenige zu tun, was eigentlich, ich möchte sagen, als Radikalstes getan werden müßte - die drei Millionen zu irgendeinem wohltätigen Zwecke zu verwenden und das Goetheanum aufzubauen wiederum nur aus der Opferwilligkeit der Freunde heraus.

Betrachten Sie mich, wie gesagt, nicht als einen Menschen, der Sie zur Unpraxis verführen will. Aber es handelt sich mir jetzt nicht darum, die äußeren Taten bloß ins Auge zu fassen; es handelt sich mir darum, einmal die Worte auszusprechen, ganz unverhohlen auszu­sprechen, die gesinnungsbildend unter uns sein müßten. Wenn wir sie gesinnungsbildend machen, dann werden sie auch, im edleren Sinne gesagt, die richtigen Erfolge haben.

Diejenigen würden natürlich jetzt unrecht haben, die sagen: Also müssen wir die drei Millionen zu wohltätigen Zwecken verwenden und müssen warten, bis dem Bau aus Opferwilligkeit auferbaut werden kann. - Die würden ja wieder nach der anderen Seite verwechseln dasjenige, was geschehen muß, mit demjenigen, was den eigensüchti­gen, ehrgeizigen Absichten entspricht. Nicht darin besteht die Energie und die Kraft, daß man den bequemsten Weg wählt, auch wenn dem bequemste Weg als ein im egoistischen Sinne außerordentlich morali­scher geschildert werden kann; sondern darinnen besteht die Energie, daß man, auch wenn der Weg ein tragischer sein muß, sich eben, wenn

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ich so sagen darf, in die Tragik hineinstürzt. Das darf aber nicht schlafend geschehen, sondern man muß mit Bewußtsein sich in die Tragik hineinstürzen und wissen, daß man in einem Gebiete steht, in dem man nicht das rein Anthroposophische machen kann; man muß wissen, daß man also dasjenige, was man machen muß, trotzdem es nicht anthmoposophisch ist, auf der anderen Seite es durch ein um so stärkeres Anthroposophischsein ausgleichen muß. Wenn man etwas wiegt, so nimmt man ja auch nicht von der Waagschale, bei der sich ergibt, daß etwas zu schwer ist für die Gewichte auf der anderen Seite, von dem weg, das zu wiegen ist, sondern man gibt die Gewichte auf der andern Seite hinzu.

Das werden auch wir nötig haben. Wir werden gegen das, in das wir tragischerweise hineingeführt werden, als in etwas, was zum größten Teil, vielleicht zur Hälfte unanthroposophisch geschehen muß, die Gegengewichte schaffen müssen durch ein um so stärkeres Anthropo­sophischsein. Ich kann ja sagen, auch mir wäre es vielleicht am be­quemsten gewesen zu sagen: Ich reiche meine Hand zum Aufbau des Goetheanum nur dann, wenn die drei Millionen Versicherungssumme zu wohltätigen Zwecken verwendet werden und der Baufonds ganz und gar wieder durch Spenden geschaffen wird. - Es wäre nämlich das Bequemere gewesen, weil es weniger Schmerz verursacht hätte. Man darf auch den Schmerz nicht scheuen, meine lieben Freunde, wenn man im Gebiete der Wirklichkeit arbeiten will. Aber man darf auch den Schmerz nicht verschlafen wollen. Man darf nicht immerfort sich nur sagen wollen: Wir tun ja dasjenige, was das Allerschönste, was das Beste ist. - Das kann man in der irdischen Welt nicht tun. In der Gegenwart am allerwenigsten. Deshalb den Kopf sinken lassen und zu sagen: Dann sinkt mir überhaupt der Mut, - das geht nicht. Wenn es von den Göttern einmal scheint, als ob sie verschwänden, als ob sie nicht da wären, als ob die Menschheit von ihnen verlassen wäre, da besteht die Weisheit der Götter darinnen, daß die Menschen die Im­pulse bekommen sollen, sie an den Orten, wo sie sich verborgen haben, erst recht zu suchen, nicht aber über ihr Verschwinden und über ihre Untätigkeit zu klagen. Die Erde nur als ein sanftes Ruhebett haben wollen und nur dann sie göttlich finden, wenn sie sich so zeigt, daß sie immer dem entspricht, was man gerne hätte, das kann niemals die Gesinnung einer geistigen Bewegung bilden, denn das ist nicht Kraft, das ist Kraftlosigkeit.

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Und aus Kmaftlosigkeit werden wir das tragisch-kolorierte Goethe­anum nicht aufführen, sondern nur mit Kraftentwickelung, mit dem Bewußtsein davon, daß, wo die Götter scheinen sich zurückgezogen zu haben, sie erst recht gesucht werden müssen von uns an ihrem Orte, an dem sie scheinbar verborgen sind.

Meine lieben Freunde, ich wollte Aufbaugedanken entwickeln. Und da es recht schwierig ist, zwischen den Zeilen zu sprechen, so habe ich heute manches in die Zeilen selber hineingefügt, ich möchte sagen, mit einer gewissen Deutlichkeit. Aber desjenigen, was ich in diese Zeilen hineingefügt habe, bedarf es wirklich, wenn wir in der nächsten Zeit für den Wiederaufbau des Goetheanum und auch noch für andere Sachen die rechte Gesinnung entwickeln wollen. Es würde gar nichts helfen, uns einzulullen in diese oder jene Illusion; sondern es hilft einzig und allein, sich schleiemlos mit den Augen der Wahrheit gegenübemzustellen, in diesem Falle der inneren Wahrheit, die aus der moralischen Seite der Anthroposophie fließt.

Dann allerdings, wenn das geschehen kann, dann würde das eintre­ten, was eigentlich eintreten sollte, daß die Anthmoposophische Gesell­schaft inmitten des heutigen Weltgeschehens eine Stätte wäre, wo man sich einmal nicht den Illusionen hingibt, in denen heute alle leben. Denn für vieles, was in der Gegenwart geschieht, können Sie die Illusionen aufdecken. Seit 1914 leben die Menschen mit einem gewissen Wollust in Illusionen, weil sie gar nicht innerlich tapfer genug sind, sich die Wahrheiten zu gestehen. Wenn das erreicht werden könnte, daß die Anthmoposophische Gesellschaft, daß der Verein des Goethe­anum inmitten einem Illusionen hegenden Welt wachende Seelenkraft entwickelt, dann wäre der tragischen Situation, in dem wir jetzt stehen und der gegenüber wir uns keiner Illusion hingeben sollen, dasjenige eingefügt, was jedem wirklichen Tragik eingefügt ist.

Studieren Sie die Tragikem aller Zeiten. Sie werden sehen, es besteht die Tragik darinnen, daß alles Äußere zusammenzubrechen scheint und daß nur im Innern selber die Kraft ist, die über die Katastrophe hinausführt.

Wenn das in der Kunst auftritt, schauen es manche Leute gern an, obwohl heute schon nicht mehr viele, weil die Tragödien nicht mehr sehr beliebt sind. Aber wenn es in der Wirklichkeit eintreten soll, dann müssen eben die Dinge so geschehen, wie ich sie charakterisiert habe. Dann muß etwas geschehen, durch das sich die Anthroposophische

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Gesellschaft, der Goetheanum-Verein ausnehmen in ihrer innerlich auf das Geistige bauenden Gesinnung wie eine Inselbildung innerhalb einer auf Illusionen bauenden Welt. Dann kann ausstrahlen in die auf Illusionen bauende Welt dasjenige, was eine wirkliche Kraft ist.

Meine lieben Freunde, wenn wir die Worte in der richtigen Weise nehmen, die ich zu Ihnen sprechen mußte, dann wird viel Vorsatz, viel Vornahme, viel Anstreben eines anderen Zustandes, als in dem wir sind, in unserem Empfinden liegen. Dann wird nicht viel von Befriedi­gung, namentlich nicht viel von Selbstzufriedenheit uns blenden; wir werden die Gedanken von Befriedigung und Selbstzufriedenheit aus uns wegschaffen und in uns diejenigen Gedanken erregen, die aus einer rein geistigen Anschauung der Dinge hervorgehen können. Dann werden wir rechte Aufbaugedanken aus dem Geiste heraus haben.

Das wollte ich in allem Ernste, aber, wie ich glaube, auch mit aller Objektivität gerade am heutigen Tage zu Ihnen sprechen. Und ich danke dem Vorstand des Goetheanum-Vereines, daß er mir Gelegen­heit gegeben hat, gerade innerhalb dieser Veranstaltung diese Worte zu sprechen von dem, was so eng verknüpft ist mit dem Schicksal des Goetheanum, des vergangenen und des eventuell kommenden Goetheanum.

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AUS DEN GEDENKWORTEN ZUM TODE VON HERMANN LINDE

zweiter Vorsitzender des Vereins des Goetheanum

Dornach, 29. Juni1923

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... Und als dann in einzelne Seelen die Idee kam, der anthroposophi­schen Bewegung einen eigenen Bau zu errichten, da war es wiederum eine Selbstverständlichkeit, in den Kreis derer, die vom allen Dingen ihre Arbeit der Errichtung und Führung dieses Baues widmen wollten, Hermann Linde hereinzurufen, denn man wußte, da findet man Op­ferwilligkeit, da findet man Arbeitsgeneigtheit, da findet man vor allen Dingen das, was am allermeisten gebraucht wird: versöhnenden, liebe­vollen, Gegensätze ausgleichenden Geist.

Und so trat denn Hermann Linde in die kleine Gemeinschaft derjenigen, die als eine Art Komitee alles das leiteten, was zunächst mit der Absicht in München, dann mit der Wirklichkeit hier in Dornach zusammenhing: einen Bau der anthroposophischen Sache aufzurichten.

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Und er war dann auch einer der vordersten in den Reihen derer, welche die Arbeit an diesem Bau übernahmen. Er war von solchem inneren Liebe zur Sache durchdrungen, daß er sein ganzes Dasein nunmehr in den letzten Jahren mit diesem Bau verband.

Und wiederum möchte ich ein Wort, das ich heute morgen ausge­sprochen habe, wiederholen: Wenn ich zurückdenke an die Stunden, in denen ich Hermann Linde traf, arbeitend oben in unserem nun nicht mehr bestehenden Kuppelraum, arbeitend im Einklang mit unserer lieben Freundin, seiner Gattin, wenn ich da oben mit ihm die verschie­densten Angelegenheiten besprach, die mit der Führung des Baues zusammenhingen und mit dem Amte, das er innerhalb dieser Führung hatte, dann lag in alledem erstens die Offenbarung seiner unbegmenz­ten Opferwilligkeit, der unbegrenzten Einstellung seines künstleri­schen Könnens in das, was da errichtet werden sollte, und da war auch auf der andern Seite jener versöhnende, die Gegensätze ausgleichende Geist, der immer früher mit einem Rate als mit einer Kritik bei der Hand war. ...

Viele wissen nicht, wie umfassend die Sorgen im einzelnen waren, die gerade auf den führenden Persönlichkeiten in den letzten Jahren während des Dornacher Baues lasteten. Heute ist es selbstverständ­lich, hinzuweisen darauf, daß Hermann Linde einer derjenigen war, die in schönstem Weise diese Sorgen mitgetragen haben, daß Hermann Linde aber auch einer demjenigen war, die mit einem weitherzigen Interesse alles das verfolgt haben, was hier geschah, und die gern gesehen hätten, daß manches gerade durch Ausgleichung der Gegen­sätze sich zu größerer Fruchtbarkeit entwickele, als es sich hat bisher entwickeln können. ...

Und zuletzt hat Hermann Linde mit uns jenen Schmerz durchma­chen müssen, der unsere und seine Arbeit betroffen hat. Er mußte unter denjenigen stehen, die in kurzer Zeit das, was aus Liebe und Hingebung erbaut worden ist, zur Ruine haben hinschwinden sehen. Und es ist wirklich in tiefstem Sinne wahr, was ich heute morgen sprechen mußte, daß für das Erdendasein ihm dieses das Herz gebro­chen hat. Dieser Eindruck, der in der Neujahrsnacht erlebt worden ist und der für vieles, was unsere Sache ist, ein Tod war, war tief brennend in Hermann Lindes Seele. Und die kurze Spanne Zeit, die ihm auf Erden zuzubringen noch gegönnt war nach dem Goetheanum­Brande, stand ganz und gar unter diesem Eindrucke.

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SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS*

Stuttgart, 4. Juli1923

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Seit der Delegierten-Versammlung nahm Dr. Steiner heute zum ersten Mal wieder an der Sitzung teil.

Zuerst wurde der Aufruf Dr. Rittelmeyers zu einer Sammlung für das Goetheanum besprochen. Dr. Steiner riet ab, weil dadurch Geld ins Ausland fließen würde, was nach den gegenwärtigen Gesetzen verboten sei. Er machte dagegen den Vorschlag, den Impuls sich so auswirken zu lassen, daß man zum Beispiel einen «Goetheanum­Stiftungs-Fonds» gründe [siehe S. 167].

Nachdem die Angelegenheit so geregelt war, stellte Adolf Arenson mit großer Genugtuung fest, daß er genau dasselbe, was jetzt Dr. Steiner vorgeschlagen habe, in der Sitzung vor zwei Tagen fast mit denselben Worten gesagt habe, daß man aber auf ihn nicht habe hören wollen, während derselbe Ratschlag von Dr. Steiner jetzt ohne wei­teres hingenommen werde. Er möchte dies immerhin als Symptom hinstellen. Rittelmeyer entgegnete, es sei aber auch etwas anderes, eine Sache einfach unter den Tisch fallen lassen zu wollen oder daraus durch Mitdenken und Mitraten etwas Besseres zu machen, wie es soeben Dr. Steiner getan habe. Arensons Ausführungen seien nur als lähmend empfunden worden.

Dieser wehrte sich dagegen, und die Diskussion ging darüber hin und her, wobei auf die vorletzte Sitzung bei Dr. Unger zurückgegrif­fen wurde, welcher schon damals zusammen mit Benkendörfer Ein­wendungen gegen Rittelmeyers ersten Aufruf zu diesem Opfer, das eine spirituelle Tat sein müsse und bei dem er seinen Ehering geben werde, erhoben hatte.

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* Die Protokolle der Sitzungen von Anfang Januar bis zur Delegiertenversarnmlung siehe Teil III, Seite 201 ff.

** Die Stuttgarter Delegiertenversammlung Ende Februar, siehe Teil III.

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SITZUNG DES DREISSIGERKREISES

(ohne Rudolf Steiner)

Stuttgart, 10. Juli1923

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(In der Bibliothek des Forschungs-Instituts zur Vorbereitung auf die morgige Sitzung, zu der Dr. Steiner sein Erscheinen zugesagt hat.)

Eingangs wurde festgestellt, daß es auch nach der Ansicht Dr. Steiners nicht die Aufgabe des Kreises sei, Fragen zu erörtern, wie dies in der Sitzung vom 2.Juli geschehen und für die spätere Teilnahme Dr. Steiners an den Sitzungen vorgesehen worden sei, die darauf hinaus laufen, wie man sich auf die Erscheinung des ätherischen Christus vorzubereiten habe, wie man die Toten der Gesellschaft berücksichti­gen solle, welche Ideale welchem Kulturepoche (der S. oder 6.) in dem Grundhaltung der Gesellschaft zu repräsentieren seien. All dies seien Angelegenheiten intimen Studiums. In unserm Kreise seien dagegen die Vertreter dem Institutionen zusammen, um praktische Arbeit zu leisten. Die theoretischen Diskussionen müßten aufhören, und wir müßten endlich dazu übergehen, wirkliche Arbeit zu leisten.

Darauf wurden verschiedene Angelegenheiten vorgenommen. Es wurde darüber gesprochen, daß die Studenten (Maikowski, Rosenthal u. a.) beabsichtigen, aus den Mitteln, die bei der Delegierten-Vem­sammlung für eine Hochschule zur Verfügung gestellt worden sind, auf dem Gelände der Waldorfschule ein Haus zu bauen, das zugleich als Vemsammlungsmaum für die Freie Anthmoposophische Gesellschaft dienen solle. Da Leinhas, dem diesen Fonds verwaltet, nicht anwesend war, konnte nicht festgestellt werden, ob den Stiftern überhaupt von dieser nicht im ursprünglichen Sinn der Stiftung liegenden Verwen­dung Mitteilung gemacht wurde. Auf alle Fälle wurde jedoch festge­stellt, daß, wenn die Mittel nicht direkt für eine Hochschule Verwen­dung finden - Dr. Steiner habe nämlich einmal gesagt, selbst wenn wir Milliarden für eine Hochschule hätten, könnten wir keine solche aufmachen, weil keine Lehrer da wären und weil, wenn die Waldorf­lehrer dafür beansprucht würden, dann die Waldorfschule zugrunde gehen werde -, sie keinesfalls für einen solchen Bau aufgebraucht werden dürften. Dann sei es schon besser, sie für eine Bewegung für ein freies Hochschulwesen auszugeben oder sie mit dem beabsichtig­ten Goetheanum-Stiftungsfonds zusammenzulegen.

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Darauf erzählte Dr. Stein von einem Gespräch mit Herrn Kretz­schmar. Er habe diesen nach dem «Finanz-Besprechung» vom 22.6. darauf aufmerksam gemacht, daß sich die noch nicht im Kommenden Tag zusammengeschlossenen anthroposophischen Wirtschafter zu­sammentun sollten, um die Bewegung zu stützen, nachdem sich die Stuttgarter Finanzleute im Kommenden Tag festgelegt hätten. Kretz­schmam habe jedoch erwidert, dies sei gar nicht der Fall. Unger und Del Monte hätten im Gegenteil durch die Gründung des Kommenden Tags ihre Unternehmungen saniert, ein Bombengeschäft gemacht und liefen jetzt noch obendrein mit dem Heiligenschein herum. Stein sagte, er habe dies Leinhas mitgeteilt, der an Kretzschmar geschrieben, je-doch eine ausweichende Antwort erhalten habe.

Benkendömfer sagte dazu, solche Dinge tauchten immer wieder auf, er sei nach den trüben Erfahrungen, die er gemacht habe, an einer Aufklärung jedoch völlig desinteressiert. Unger erklärte, daß er sich um derartiges überhaupt nicht mehr kümmere.

Zum Schluß berichtete Dr. Stein, daß der Kerning-Zweig seit der Delegiertenversammlung ununterbrochen an den Vorstand wegen des Verbleibens Dr. Ungems in demselben hemantrete und selbst nachdem der Vorstand erklärt habe, er werde weiterhin mit Dr. Unger zusam­menarbeiten, auch nachdem er alles wisse, was dem Kerning-Zweig gegen ihn vorgebracht habe, sich nicht damit zufrieden gebe und drohe, die Angelegenheit weitem zu verfolgen.

Bei der Behandlung der Angelegenheit wurde auf Ereignisse ver­wiesen, die vor 16 Jahren den ersten Anlaß dazu gegeben haben.

Frl. Völker habe damals von der Judenhemrschaft gesprochen, die hier sei. Benkendörfem habe dagegen beim Sturz dem Besant geäußert, daß es Frl. Völker bald ebenso gehen werde.

Auch hier erklärten Benkendörfer wie Unger die Hoffnung auf eine Verständigung als völlig aussichtslos.

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS Stuttgart, 11. Juli 1923*

#G259-1991-SE162 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, 11. Juli 1923*

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In Gegenwart Dr. Steiners wurde zuerst wieder der Plan des Gebäudes auf dem Waldorfschul-Gelände besprochen. Er erklärte, die «Freie Anthroposophische Gesellschaft» könne sich dort unter keinen Um­ständen Unterkunfts-Räume bauen. Ihre Mitglieder trieben sich ohne­hin schon viel zu viel in der Waldorfschule herum, wo durch ihren Einfluß auf die Schüler und Schülerinnen schon etwas wie Gymnasia­sten-Manieren eingerissen seien, die er unter keinen Umständen dul­den werde.

Nachher kam man auf die Affäre Völker-Unger zu sprechen. Frl. Völker wurde von allen Seiten bestürmt, der Sache ein Ende zu ma­chen, auch von Frau Dr. Steiner, die sie mit heftigen Worten angriff. Sie war und blieb aber obstinat, so sehr, daß ich an ihrem guten Willen und an ihrer Einsicht zweifelte. Sie meint eben, es liege gar nicht in ihrer Hand, die Sache zum Abschluß zu bringen, was nachher auch Dr. Steiner zu bestätigen schien. Rittelmeyer schlug ihr vor, in ihrem Zweig zu erklären, daß sie aus ihm austrete, wenn die Sache jetzt nicht zur Ruhe komme.

Es wurde noch weiter hin und her geredet, bis Dr. Steiner erklärte, er könne nicht weiter an diesen Sitzungen teilnehmen, wenn nur Wesenloses verhandelt werde.

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ABSCHIEDSWORTE VOR ANTRITT

DER MEHRWÖCHIGEN ENGLANDREISE

Dornach, 29.Juli 1923

Schlußworte des Vortrags

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Auf allen Gebieten sehen wir, wie es sich handelt um ein Sich-Aufraf­fen, um ein Erwachen der Menschheit. Das ist es, daß wir aufnehmen sollten diesen Impuls zum Erwachen, zum Hinausschauen, zum Er­blicken dessen, was ist und was nicht ist, und wo überall die Aufforderungen

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* Die Sitzungen vom 14., 25. Juli und 1. August, siehe Anhang II.

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liegen, weiter vorzuschreiten. Deshalb war es, daß ich eigent­lich jetzt vor dieser Sommerpause, die durch die englische Reise be­dingt ist, wollen mußte, sowohl bei der Delegiertenversammlung* wie jetzt in diesen Tagen, gerade mit solchen Betrachtungen abzuschlie­ßen, wie ich sie Ihnen gebracht habe. Diese Dinge gehen schon an den Nerv unserer Zeit. Und das ist notwendig, daß man das andere so hereinscheinen läßt in unsere Bewegung, wie ich versucht habe es anzudeuten.

...Das ist es, was bewirkt hat, daß die letzten Vorträge gerade in der Art gehalten werden mußten, wie sie gehalten worden sind: wo die äußere Kultur hereinleuchtet in unsere Reihen. Sie waren zugleich eine Aufforderung zum Augenaufmachen. Und ich versuchte, diese Vor­träge so zu gestalten, daß man an ihnen sehen kann, was es heißt: die Anthroposophische Gesellschaft soll sich alle Mühe geben, um aus der Sektiererei hinauszukommen, um über die Sektiererei hinüber-zukommen.

Möchten Sie doch, meine lieben Freunde, die Zeit, für die ich mich jetzt gerade mit diesen Worten für ein paar Wochen von Ihnen verab­schieden muß, dazu benützen, um nachzusinnen darüber, wie man aus dieser Sektiererei herauskommt! Sonst stellt sich eben die Sache so, daß die Anthroposophische Gesellschaft immer weiter und weiter in die Sektiererei hineinkommt. Und es sind starke Ansätze dazu da, nicht die Sektiererei abzuwerfen, sondern gerade erst recht hineinzu­segeln in das sektiererische Wesen.

Wie es möglich ist, die Sektiererei zu verneiden, das ist etwas, was unsere Empfindungen beschäftigen muß. Und diesen Ton wollte ich ganz kurz noch einmal anschlagen, weil es ungeheuer notwendig ist, ihn anzuschlagen. Ich wollte darauf aufmerksam machen, wie ich eben gerade in diesen letzten Vorträgen versucht habe, so zu sprechen, daß sozusagen überall hinausgeschaut wird in die Welt, daß nicht ein Einspinnen in eine Sekte stattfindet, sondern ein Leben in der Welt mit offenen Augen, mit praktischem Sinn, ein Drinnenstehen in der Welt. Das ist durchaus vereinbar mit äußerster Vertiefung in das Geistige hinein. Deshalb habe ich Ihnen gesagt, daß der Mensch heutzutage sogar wissen muß, daß es heute einen Inder geben kann, Rámanáthan, der sich die europäische Kultur anschaut und zu den Europäern sagt:

Lasset euch Lehrer schicken über den Jesus aus Indien, denn ihr

* Internationale Delegiertenversammlung, Seite 557ff.

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versteht ja nichts von Jesus Christus. Wir haben, als wir angefangen haben, das Neue Testament zu lesen, erst die Sache verstanden.

Wenn man sich so sektiererisch einspinnen will, wie dazu starke Ansätze während der Delegiertenversammlung vorhanden waren, dann erreicht man die große Aufgabe der Anthroposophie in der Gegenwart nicht, und die muß erreicht werden, denn es ist eine Menschheitsangelegenheit.

Indem ich dies zu Ihren Herzen gesprochen haben möchte, nehme ich für ein paar Wochen Abschied, und wir werden die nächsten Veranstaltungen dann wiederum entsprechend ankündigen lassen. In den nächsten Wochen werden ja Vorträge und Eurythmievorstellun­gen an verschiedenen Orten Englands stattfinden.

Dann also wollen wir für eine Sommerpause jetzt uns so rüsten, daß wir in dieser Sommerpause unsere Herzen ganz besonders regsam sein lassen für die rechte Empfindung dessen: Wie sollen wir fühlen, damit die Menschheitsentwicklung in der richtigen Weise weitergehen kann?

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SITZUNGEN DES DREISSIGERKREISES

(ohne Rudolf Steiner)

Stuttgart, 3., 5. und 9. August1923

Stuttgart, 3. August 1923

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Vor der Sitzung wurde mir* ein Brief von Frl. Völker überbracht. Sie erklärte mir dazu, sie bitte darin um ihren Austritt aus dem Kreis. Ich ubergab ihn zu Beginn der Sitzung Dr. Unger, der ihn vorlas. Sie sagt darin, daß sie nicht glaube, daß der Schritt, den Kreis in die Öffentlich­keit hinaus zu bringen, ein wirksamer Schutz für Dr. Steiner sein werde und daß sie die Mitverantwortung nicht übernehmen könne, solange hinter den Worten keine Taten und keine Gesinnungs-Ände­rung stehe. Der Brief erfuhr allgemeine Ablehnung. Unger bezeich­nete ihn wiederholt als «pharisäisch» und «pfäffisch». Frl. Völker sage:

«Gott sei Dank, daß ich nicht bin wie diese !» Die Ermah­nungen, die er enthalte, seien leere Phrasen. Stein meinte, er sei auf die Kränkung zurückzuführen, die Frl. Völker am 11 . Juli durch Frau Dr.

* Theodor Lauer, damals protokollierender Sekretär des Dreißigerkreises.

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Steiner erfahren habe. In der weiteren Aussprache wurde der Rücktritt als ein «Sich-der-Verantwortung-Entziehen» bezeichnet und ohne Widerspruch beschlossen, auf die weitere Mitarbeit von Frl. Völker zu verzichten.

Nachher berichteten Arenson und Stein [diese Passage siehe An­hang II, Seite 8291.

Bei der Frage der Unterzeichnung des Aufrufs und der Nennung der Namen und Adressen stellte sich heraus, wie wenig geordnet die Zugehörigkeit zum Kreise ist. Es wurde vorgeschlagen, für denselben, der in Zukunft «Vertrauenskreis der Stuttgarter Institutionen» heißen wird, einen Sekretär zu wählen. Ich wurde von zwei Seiten vorgeschla­gen, schüttelte aber jedes Mal den Kopf, worauf mich Arenson ermun­terte: «Nicht den Kopf schütteln, ja sagen!» Ich antwortete, daß ich nicht genügend Erfahrung besitze, worauf mir Stein erwiderte: «War­ten Sie nur, Sie werden schon Erfahrungen machen!»

Nachher wurde noch besprochen: das Gutachten von Dr. Huse­mann über den Fall Goesch, das Projekt des Irrenhauses Kennenburg (wozu Stein bemerkte, daß die Anthroposophische Gesellschaft ohne eine Irrenanstalt nicht existieren könne, da nach einem Ausspruch Dr. Steiners die Geisteskrankheiten in der nächsten Zeit epidemisch auftreten werden, schon zufolge der Unterernährung>, das Problem Dr. Noll und des Vademecums, und darauf die Sitzung auf Sonntag vertagt.

Beim Auseinandergehen wurde noch über den Separatismus der Rheinländer gesprochen und aus einem Brief des Redakteurs des «Kölner Mittagsblatts», H. Blume, an Dr. Büchenbacher vorgelesen, worin Blume über den hiesigen Vorstand schimpft und mitteilt, er werde seine Stellung niederlegen, da aus der Zeitung nichts zu machen sei. Voraussichtlich werde Sigismund von Gleich sein Nachfolger. Daraufhin setzte man sich nochmals und beschloß, Kretzschmar so­fort zu benachrichtigen, von Gleich unter keinen Umständen anzu­stellen, da dieser in keiner offiziellen Stellung für die Bewegung tätig sein dürfe. Es wurde dabei eine Äußerung Dr. Steiners erwähnt, er werde ein Haus, in welchem sich von Gleich aufhalte, nicht betreten.

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Stuttgart, 5. August 1923

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Dr. Palmer berichtet von einem Besuch bei Frl. Völker, welcher er mitgeteilt habe, daß der Kreis nur aus solchen Mitgliedern bestehen könne, welche die volle Verantwortung für das übernehmen, was er beschließe, und daher auf ihre Mitarbeit verzichten müsse.

Ich wurde aufgefordert, dies als Sekretär des Kreises zu Protokoll zu nehmen.

Die Veröffentlichungen in der nächsten Nummer der «Anthropo­sophie» wurden nochmals durchbesprochen und endgültig bereinigt.*

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Stuttgart, 9. August 1923

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Ich kam etwas zu spät und so mitten hinein in eine erregte Diskussion des in Korrektur vorliegenden «Aufrufs zum Deutschen Goethe­anum-Fonds». Besonders Leinhas ging scharf ins Zeug mit kritischen Bemerkungen.

Nachher wurde über die innere Gliederung der Arbeit des Kreises gesprochen, über die Aufstellung einer Geschäftsordnung usw. Ich erklärte, daß ich bereit sei, ein «Tagebuch» zu führen, daß aber die Eintragungen vom Kreis genehmigt werden müßten. Ich fragte nach­her Unger, der zum Vorsitzenden gewählt wurde, wie ich dies machen solle. Er sagte, er werde mir das nächste Mal endgültig Bescheid geben.

Inzwischen war die Nr.6 der «Anthroposophie» verteilt worden, und es wurde über die verschiedenen Publikationen gesprochen. **

Dann wurden Mitteilungen über die Affäre Stahlbusch und über gegnerische Persönlichkeiten gemacht, die in der Waldorfschule be­schäftigt seien (!), den Verlobten der Pflegetochter der Frau von Dra­chenfels, die Köchin der Frau Leicher (?) usw.

Leinhas gibt davon Kenntnis, daß der Kommende Tag das Projekt Kennenburg wegen finanzieller Schwierigkeiten nicht weiter verfol­gen könne. (Im Klinisch-therapeutischen Institut hatte er gestern die eigentlichen Gründe für die Ablehnung mitgeteilt: Husemann könne keine neue Aufgabe übernehmen, bevor diejenige der Propaganda für die Heilmittel gelöst sei. Der Kommende Tag müsse darauf sehen, daß sich das Institut rentiere, und die Ärzte anhalten, nach dieser Richtung zu arbeiten.)

* Siehe Anhang II, Seite 829. ** Siehe Anhang II, Seite 829 ff.

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AUFRUF

ZUM DEUTSCHEN GOETHEANUM-FONDS

Liebe anthroposophische Freunde in Deutschland!

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In der Sylvesternacht 1922/23 leuchtete eine ungeheure Brandfackel in die Welt als erschütterndes Symbolum eines welthistorischen Augenblickes. Das Goetheanum, die Freie Hochschule für Geisteswissenschaft in Dornach, brannte in jener Nacht herunter bis auf das Fundament. Ein Unbekannter hatte in heimtückischer Weise den zündenden Feuerfunken in das Heiligtum Tausender von Menschenherzen gelegt.

Dieses Ereignis konnte die Erinnerung wachrufen an ein anderes, in der Geschichte der Menschheit verzeichnetes Verbrechen. Am 6. Februar 356 v. Chr. schleuderte Herostrat die Brandfackel in das Heiligtum der Diana von Ephesus. Er wollte durch diese Tat für seine Person einen unsterblichen Namen erlangen. Schätze uralter Weisheit sanken damals in die Vergessenheit hinab; der Name Herostrat prägte sich der Nachwelt ein.

War der Brand zu Ephesus ein weltbistorisches Symbolum dafür, daß uralt-heilige Weisheit untergehen mußte, damit die menschliche Persönlich­keit zur Entfaltung kommen konnte, so kann der Brand des Goetheanum, das eine Stätte der Liebe sein wollte, die jetzt in neuer Gestalt zu den Völkern der Erde kommen will, ein Zeichen dafür sein, wie dem Kommen dieser Liebe sich in unserer Zeit verbrecherische Kräfte entgegenstellen.

In dem Geiste der Liebe hatten, während ringsum der Weltltrieg tobte und die Flammen des Völkerhasses emporschlugen, Anthroposophen aus 17 Na­tionalitäten unter der Führung ihres Lehrers das Goetheanum erbaut. Das Werk zehnjähriger hingebungsvoller Arbeit und aufopfernder Liebe war durch ein gemeines Verbrechen in wenigen schicksalsschweren Stunden ver­nichtet worden. -

Schon unmittelbar nach dem Unglückflossen auch in Deutschland die Gaben für den Wiederaufbau des Goetheanum zur Sammelstätte, die damals als «Verfügungskonto Dr. Rudolf Steiner» in Stuttgart errichtet worden war. Inzwischen sind von seiten unserer ausländischen Freunde Schritte zur finan­ziellen Sicherung des Wiederaufbaues unternommen worden. Die nötigen Garantien sind von der internationalen Delegierten-Versammlung in Dornach, die vom 20. bis 22. Juli d. J. tagte, aufgebrachtworden. Wiederwerden Menschen aus allen Ländern der Erde am Bau eines Goetheanum zusammenwirken. Wir deutschen Anthroposophen sahen uns zunächst außerstande, finanzielle Hilfe zu leisten. Nicht weil wir arm sind; wer etwas so liebt, wie wir den Bau lieben

- der nicht uns Anthroposophen gehört, sondern der ganzen Menschheit dienen soll -, der hat, selbst wenn er noch so arm ist, doch noch etwas zu geben. Aber wir mußten uns klar darüber sein, daß Geld und Geldeswert

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nicht über unsere Landesgrenze gehen darf. Das, liebe Freunde, war unser großer Schmerz: zu erleben, daß das Opfer, das wir für unsere geliebte Sache darbringen wollten, vom Schicksal unmöglich gemacht werden sollte.

Aber die moralische Kraft, die in der Anthroposophie lebt, hat uns den Weg gewiesen, auf dem unser Opfer dennoch wirksam werden kann. Was wir an materiellen Gaben aus Liebe und Opfergesinnung zu dem Bau des ersten Goetheanum beitragen durften, ist durch das Verbrechen der Neujahrsnacht vernichtet worden. Das neue Goetheanum wird zum großen Teil erbaut werden müssen aus der Versicherungssumme, die nicht aus opferfreudiger Freundeshand dargebracht wird. Darin liegt seine Tragik. Und von dem, was an materiellen Opfern von unseren Freunden für den Wiederaufbau gebracht werden wird, mußten wir deutschen Anthroposophen uns ausgeschlossen sehen. Aber der Opfersinn regte sich unter unseren Freunden. Deshalb be­schlossen wir, daß alles, was aus Deutschland an Spenden für das Goethea­num gegeben würde, zusammengefaßt werden sollte zu einem «Deutschen Goetheanum-Fonds». Dieser Fonds soll innerhalb der deutschen Grenzen Verwendung finden für Zwecke, die im Sinne der Bestrebungen des Goethea­num liegen. Zum Beispiel ist in Aussicht genommen, aus diesem Fonds deutsche Geistesarbeiter innerhalb der Grenzen unseres Landes zu unterstut­zen in ihren geisteswissenschaftlichen Arbeiten und Forschungen im Sinne der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft. Dr. Rudolf Steiner wird selbst das ausschließliche und alleinige Verfügungsrecht über die Mittel dieses Fonds haben.

Auf diese Weise konnten wir hoffen, daß unser Opfer, das in materieller Form dem Wiederaufbau des Goetheanum selbst nicht zugeführt werden konnte, dennoch über die Grenzen unseres Landes hinauswirken würde durch die ihm innewohnende moralische Kraft. Was uns durch Schicksals-macht in materieller Beziehung zu tun versagt ist, sollte aufgewogen werden durch den Geist, aus dem heraus wir unser Opfer darbringen wollten.

Diese unsere Absicht haben wir unseren ausländischen Freunden auf der internationalen Delegierten-Versammlung in Dornach vorgetragen. Unsere Freunde haben den Geist unseres Goetheanum-Opfers in schönster Weise zu würdigen gewußt. Ihre Delegierten haben die Erklärung abgegeben, sie seien entschlossen, demjenigen, was sie bereits willens waren, von sich aus für den Wiederaufbau des Goetheanum zu tun, noch soviel hinzuzufügen, als der in Deutschland für den Deutschen Goetheanum-Fonds gesammelte und dort verbleibende Betrag ausmachen werde. Und zwar würden sie dieses leisten aus Mitteln, die niemals nach Deutschland geflossen wären. Dadurch ist die Möglichkeit geschaffen, daß unsere Gabe innerhalb Deutschlands verbleiben kann und daß ihr Gegenwert dennoch dem Wiederaufbau des Goetheanum zugeführt werden wird.

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Jeder von uns will für das Goetheanum ein Opfer bringen. Ein Opfer, das er, aus einer klaren Einsicht in die weltgeschichtliche Notwendigkeit dieses Baues, nur für diesen Zweck zu bringen vermag. Diesem Opfer soll eine moralische Kraft innewohnen, als Gegengewicht gegen die tragischen Tatsa­chen, die in das werdende Goetheanum hineinwirken werden.

Dieses Opfer soll ein einmaliges sein, durch das solchen Unternehmungen in unserem eigenen Lande, wie zum Beispiel der Waldorfschule, nichts entzo­gen werden soll von den regelmäßigen Unterstützungen, die für diese Unter­nehmungen in dieser Zeit so unentbehrlich sind.

In diesem Sinne wenden wir uns heute an unsere deutschen anthroposo­phischen Freunde mit der Bitte um Spenden für den Deutschen Goetheanum­Fonds. Dieser Fonds wird dem Wiederaufbau des Goetheanum dienen, ohne daß unserem Volke dadurch irgend etwas entzogen wird. Wie während des Weltkrieges die Nationen, die draußen miteinander im Kampfe lagen, in Dornach gemeinsam am Aufbau des Goetheanum gearbeitet haben, so stehen jetzt beim Wiederaufbau, während Deutschland wirtschaftlich zugrunde geht, die Anthroposophen der anderen Nationen wirtschaftlich für uns ein.

Diese Tatsache beweist, daß Anthroposophie über den Haß der Völker hinweg den Weg zum Menschen zu bahnen vermag. Weil dem so ist, dürfen wir noch einmal bauen. Bauen wir, Freunde, hinein in diesen Bau die Kraft der Moralität, die Kraft der Liebe, damit der starke Bau eine starke Gesellschaft hinter sich habe!

Möchte doch das Verhalten der anthroposophischen Freunde in außer-deutschen Ländern gegenüber den deutschen Anthroposophen beispielge­bend sein für die Nationen! Dann könnte mit dem Neubau in Dornach das Zeitalter der Verständigung der Völker beginnen. Möchte in diesem Sinne der Neubau des Goetheanum von der ganzen Welt aufgenommen werden!

Stuttgart, im August 1923.

Der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland:

Jürgen von Grone, Dr. Eugen Kolisko, Emil Leinhas,Johanna Mücke, Dr. Otto Palmer, Dr. Friedrich Rittelmeyer, Dr. WalterJohannes Stein, Dr. Carl Unger, Wolfgang Wachimuth,

Louii Werbeck.

Das Komitee der Freien Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland:

Moritz Bartsch, Dr. Hans Büchenbacher, Jürgen von Grone, Dr. Ernst Lehrs, René Mai­kowiki, Wilhelm Rath, Dr. Maria Röichl, J. G. W. Schröder.

Die deutschen Vorstandsmitglieder des Vereins des Goetheanum.

der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft:

Graf Otto Lerchenfeld, Gräfin Pauline Kalckreuth, Dr. Felix Peipers.

Alle Spenden erbitten wir an das Bankhaus Hans Stammer & Co., Stuttgart, Rotestr. 4, zugunsten der Treuhandgesellschaft des Goetheanum in Stuttgart, für das «Verfügungs-konto Dr. Rudolf Steiner».

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ANSPRACHE IN EINER AUSSPRACHE ÜBER DIE ZUKUNFT

DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN ENGLAND

Penmaenmawr, 19. August 1923

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Meine sehr verehrten Anwesenden! Über das Thema der heutigen Diskussion würde es sich empfehlen, wenn ich, nachdem die eine oder andere Ansicht zur allgemeinen Klärung sich geltend gemacht hat, noch einmal in den nächsten Tagen oder gegen das Ende der Diskus­sionsabende hin sprechen könnte. Für heute möchte ich nur einiges gewissermaßen zum voraus bemerken.

Es handelt sich ja in der Tat bei der Ausbreitung der anthroposo­phischen Bewegung, der Anthroposophie überhaupt, um einige Schwierigkeiten. Aber diese Schwierigkeiten sind zu überwinden, wenn sich eine möglichst große Anzahl von Menschen findet, welche die Bedingungen einer solchen Bewegung, wie es die anthroposophi­sche ist, wirklich im strengsten Sinne in ihr Herz aufnimmt. Die anthroposophische Bewegung kann sich eigentlich nicht so ausbreiten wie irgendeine andere Bewegung durch die äußere Organisation oder durch die Organisation der Form. Denn derjenige, der einfach als ein für das geistige Leben interessierter Mensch der Gegenwart von der anthroposophischen Bewegung im allgemeinen hört und dann sich die Frage vorlegt: Soll ich mich beteiligen an dieser anthroposophischen Bewegung?-, der wird zunächst sehr häufig sich daran stoßen müssen, daß es so aussieht, als ob die anthroposophische Bewegung gewisse Dogmen in sich trüge, zu denen man sich bekennen müsse, als ob sie forderte, daß man sich zu diesen oder jenen Sätzen geradezu, ich möchte sagen, mit seinem Namen verschreiben müßte. Oftmals hörte man aus dem Schoße der Anthroposophischen Gesellschaft heraus:

Ach, der - oder die - kann ja doch nicht als ein richtiger Anthroposoph angesehen werden, denn sie hat - oder er hat - über dieses oder jenes Ding das eine oder andere gesagt! - Dann sieht es so aus, als ob die anthroposophische Bewegung irgend etwas zu tun habe mit einer Rechtgläubigkeit oder überhaupt einer Gläubigkeit. Und gerade das schadet am allerallermeisten einer rein geistigen Bewegung, wie es die anthroposophische sein will.

Gewiß, auch eine solche Bewegung muß eine Organisation haben; aber das, was sie gegenüber der Organisation noch außerdem haben

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muß, ist eine möglichst große Weitherzigkeit. Diese Weitherzigkeit, die muß allerdings mehr im Gefühl, ich möchte fast sagen, im Takte leben derjenigen, die sich schon fühlen als Träger der anthroposophi­schen Bewegung, als in irgendwelchen Grundsätzen. Daher schien es mir schon immer bedenklich, daß die anthroposophische Bewegung weiter fortbehalten hat die drei sogenannten Grundsätze, die von der Theosophischen Gesellschaft herübergenommen worden sind - da­mals ja ganz gewiß mit Recht, als die theosophische Bewegung bestan­den hat -, aber die eigentlich doch noch immer das Vorurteil hervorru­fen könnten, als ob es sich bei der anthroposophischen Bewegung um irgend etwas Sektiererisches handelt. Daß diese Meinung in der Welt nicht nur entstehen kann, sondern daß vielfach doch - verzeihen Sie, wenn ich das ganz offen ausspreche - von der Anthroposophischen Gesellschaft selbst etwas ausgeht, was die Bewegung wie in einem sektiererischen Lichte zeigt, das macht es so außerordentlich schwer für die Außenstehenden, an die anthroposophische Bewegung heran-zukommen. Man braucht dem gegenüber ja nur die anthroposophi­sche Bewegung selbst zu stellen.

Ich habe vorgestern drüben in Ilkley gesagt: Ich selber möchte am liebsten alle acht Tage für die Bewegung, um die es sich handelt, einen anderen Namen haben! Wenn das leicht ginge, organisatorisch ginge, dann wäre mir dieses das Allerliebste; denn der Name ist zunächst schon etwas, bei dem die Leute nicht gern verweilen wollen, weil sie ja zunächst nachdenken darüber: Anthroposophie - was ist das? - Sie bilden sich einen Namen erst recht aus den Grundsätzen heraus: eins, zwei, drei - und bekennen sich dann zu allem möglichen, nur nicht zu dem, was real durch die anthroposophische Bewegung nun wirklich fließt.

Sehen Sie, hier in England ist das ja noch nicht so stark ersichtlich, aber auf dem Kontinente würden Sie alsbald die Erfahrung machen können, wie stark noch immer das Vorurteil wirkt, als ob die anthro­posophische Bewegung etwas Sektiererisches, eine Sekte, wäre. Die Schriften, die heute über Anthroposophie auf dem Kontinente er­schienen sind, sind ja tatsächlich in ungeheurer Zahl erschienen; man kann sagen: Jedes Mal, wenn man wieder in eine Buchhandlung kommt und sich die Schriften, die unterdessen erschienen sind, zeigen läßt, so ist irgendeine Schrift wieder darunter über Anthroposophie. Aber wenn man alle die Schriften liest, die über Anthroposophie

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gegnerisch, manchmal auch sogar mit dem Glauben, daß man es gut meint mit der Anthroposophie, erschienen sind, dann muß man sich wirklich sagen: Was ist in diesen verschiedenen Schriften aus der Anthroposophie eigentlich geworden! Ich muß gestehen, wenn ich oftmals nicht gerade abscheuliche gegnerische Schriften, die gibt es natürlich in viel größerer Zahl, aber wenn ich auch solche Schriften lese, die scheinbar objektiv die Anthroposophie beurteilen wollen, und mich dann frage, welches Bild sich da über die Anthroposophie ergibt, welches Bild der eine oder andere Theologe oder Philosoph oder auch nach allen Richtungen hin Laien über die Anthroposophie sich gebildet haben, und mir dieses Bild vorstelle, dann sage ich mir:

Ich möchte wirklich kein Anthroposoph werden! Denn es ist ja eigent­lich so, daß man dieses nimmt und aus dem, was man gelesen hat und was die Gegner gesagt haben, auch aus allen möglichen kurzen Berich­ten über Vorträge, sich Meinungen bildet, Meinungen, die dann so unzutreffend wie möglich sind. Um was es sich handelt, das ist, daß an die Stelle solcher Meinungen, die das Haupthindernis für die Ausbrei­tung der anthroposophischen Bewegung sind, der richtige Inhalt der Anthroposophie vor die Welt hinaus könne: Das ist es, um was es sich handelt. Und dieser Inhalt der Anthroposophie, der müßte eigentlich so vor die Welt hingebracht werden, daß man einsieht: Da handelt es sich nicht um etwas Sektiererisches, nicht um etwas, was man mit einem Namen umfassen kann. Man muß da wirklich gegenüberstellen jenen kurzen Darstellungen, die auf vier oder fünf Seiten das Wesen der Anthroposophie erörtern, die Tatsache, daß Anthroposophie nach und nach nun wirklich sich über alle möglichen Gebiete verbreitet.

Nehmen Sie das Gebiet, das wir in den letzten vierzehn Tagen in Ilkley besprochen haben: das pädagogische Gebiet. Dieses pädagogi­sche Gebiet wird so behandelt, daß nur die pädagogischen, die didakti­schen Methoden in der besten Weise aus der anthroposophischen Bewegung herausgearbeitet werden sollen. Die Waldorfschule in Stuttgart, in der diese Pädagogik, diese Didaktik, zur Anwendung kommt, ist nichts von einer Sektenschule, nichts von einer dogmati­schen Schule, nichts von dem, was die Welt gern eine Anthroposo­phenschule nennen möchte. Denn wir tragen nicht anthroposophische Dogmatik in die Schule hinein, sondern wir suchen die rein didak­tisch-pädagogischen Methoden so auszubilden, wie sie allgemein menschlich sind. Und damit wird von diesen Gebieten aus auf die

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Anthroposophie doch in einer ganz bestimmten Weise hingedeutet. Es wird so hingedeutet, daß man sagen kann: Es gibt heute viele Bewe­gungen in der Welt - jeder Mensch macht ja fast schon heute eine Bewegung, man kann auch nicht sagen, daß nicht alle diese Bewegun­gen sehr vernünftig wären, denn das ist ja vor allen Dingen das Cha­rakteristische des gegenwärtigen Menschen, daß er vernünftig ist. -Wir haben es doch dahin gebracht, daß die Vernünftigkeit eine allge­meine Eigenschaft der Menschen geworden ist: Daher kann ich mir leicht vorstellen, daß sich heute 5, 10, 15 zusammensetzen, die sehr gescheit sind, und ein Programm ausarbeiten mit 12 oder 30 Paragra­phen, die außerordentlich vernünftig sind, über die beste Pädagogik, die man haben kann - ich kann mir vorstellen, daß nicht das geringste gegen ein solches Programm zu sagen wäre. Aber in der Praxis, in der Schulpraxis kann man mit solchen Programmen gar nichts anfangen; da muß man wissen, wie sich das Kind jedes Jahr entwickelt, wie man der einzelnen kindlichen Individualität entgegenkommt. Und selbst das genügt nicht: In einem solchen sehr vernünftigen Programm über Reformpädagogik könnte zum Beispiel drinnen stehen, wie die Lehrer beschaffen sein mussen. Ja, da könnte ich mir vorstellen, daß unglaub­lich schöne, herrliche Bilder von der Beschaffenheit der Lehrer in einer solchen Schule gemalt werden könnten - aber wenn die Lehrer dann nicht da sind, so wie sie in diesen Programmreihen gemalt werden, und wenn auch zunächst keine Aussicht ist, daß diese Lehrer so sein können, wie es in diesen vernünftigen Programmen steht, so muß man diejenigen Lehrer nehmen, die man hat, die man bekommen kann, und muß mit denen das relativ Beste machen. Das ist Praxis - Praxis, die sich auch ausdehnt auf die Wahl der Menschen, die man an irgendeinen Platz stellt. Und so handelt es sich darum, daß Anthroposophie in dem Augenblicke, wo sie ins Leben eingreifen will, nur allgemein mensch­lich sein will, absehen will von jeder Dogmatik, wiederum das Leben selber ergreifen will, darstellen will. Das wollen - kann man sagen - die andern Reformbewegungen auch; aber dazu sehe man sie eben an, ob sie es wollen, ob nicht heute die Menschen, die gerade am meisten Praktiker zu sein glauben, die stärksten Theoretiker sind, weil sie alles von der Theorie, vom Programm abhängig machen. So paradox es klingt: In den kommerziellen und industriellen und namentlich in den sogenannten praktischen Berufen stecken heute die stärksten Theore­tiker drinnen. Kein Mensch, wenn er heute im meinetwillen praktischen

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Leben steht, sieht die wirkliche Praxis, sondern das, was er sich einbildet.

Es ist daher kein Wunder, daß die aufgebauten Systeme von Wirt­schaftszusammenhängen, die ganz theoretisch sind, nach und nach zusammenbrechen. Dasjenige, was wir heute brauchen, ist ein unmit­telbares Hineinarbeiten ins Leben, ein Sehen dessen, was in den Men­schen ist und sein kann. Und diesen Unterschied der anthroposophi­schen Bewegung gegenüber anderen Bewegungen, den müßte man sich bestreben, der Welt klar zu machen: ihr Umfassendes, ihr Unvor­eingenommenes, ihr Vorurteilsloses, ihr Dogmenfreies: daß sie bloß eine Versuchsmethode des allgemein Menschlichen und der allgemei­nen Welterscheinungen sein will.

Und so konnen wir sagen: Im Künstlerischen - ja, wenn Sie den Dornacher Bau, der in so tragischer Weise geendet hat, wenn Sie die Eurythmie-Vorstellungen sehen -, was ist denn da dasjenige, was mit irgendeiner Dogmatik zusammenhängt? Beim Dornacher Bau wurde aus den Bauformen, die als die besten, anschaulichen Formen aus dem Holz hervorgeholt werden konnten, gebaut. Ein Baustil, wie er eben aus dem unmittelbaren Leben der Menschen der Gegenwart hervorge­hen konnte! In der Eurythmie wird ja nicht etwa gezeigt, wie man, ja wie soll man sagen, anthroposophische Dogmen realisieren solle, son­dern wie man die besten aus dem menschlichen Organismus herausfol­genden Bewegungen macht, so daß diese Bewegungen zu einer wirk­lichen, künstlerisch zu gestaltenden Sprache werden. Und so könnte man sagen: Für die verschiedensten Gebiete wird durch Anthroposo­phie die durch den Geist vertiefte Sachkunde und Sachpraxis eben angestrebt. Dadurch unterscheidet sich das Anthroposophische von dem anderen, was heute in der Welt da ist.

Und so möchte man eigentlich, daß Anthroposophie jede Woche einen andern Namen haben könnte, damit sich die Leute gar nicht gewöhnen können an all das, was aus einer Namengebung folgt. Denken Sie doch nur einmal, daß gerade diese Namengebung in der neueren Zeit einen so furchtbaren Zivilisationsunfug bewirkt hat. Ich weiß nicht, ob es in England auch so war, aber zum Beispiel auf dem Gebiete der Malerei, ja, da hat man im Laufe der letzten Jahrzehnte auf dem Kontinent alle möglichen «Schulen» erlebt. Da waren zum Bei­spiel die Freilicht-Maler, die Impressionisten, die Expressionisten, die Futuristen, die Kubisten und so weiter, und die Leute haben sich

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gewöhnt, weil solche Namen die Dinge umfaßten, alles mögliche zu sagen, aber nur nichts zu reden über Malerei, wenn gemalt wurde. Es handelt sich ja wirklich nicht darum, wenn man malt, ob man ein Kubist oder Impressionist oder ein anderer «-ist» ist - es handelt sich doch wirklich darum, daß man malen kann! Und so handelt es sich auch im Leben wirklich darum, daß man da, wo es sich gibt, das Leben in der richtigen Weise anfaßt. Und so möchte ich, daß man der Anthroposophie eben alle acht Tage einen andern Namen geben könnte, weil dann die Leute sich überhaupt an keinen Namen gewöh­nen und an die Sache selber herankommen würden. Das wäre für die Anthroposophie das beste!

Ja nun, man muß solche Dinge so extrem, so radikal ausdrücken. Aber dasjenige, was gemeint ist, werden Sie verstehen: Es handelt sich wirklich darum, das Umfassende für die Anthroposophie taktvoll vor der Welt geltend zu machen und sie ja nicht in irgend etwas einzuspan­nen, was den Glauben hervorrufen kann: Du mußt dich zu irgendei­nem Dogma bequemen, wenn du dein Aufnahmegesuch unterschrei­ben mußt. - Es ist wirklich anzustreben, daß diese Weitherzigkeit im Vertreten der anthroposophischen Bewegung Platz griffe; dann wer­den wir über die anderen Fragen wirklich leichter hinwegkommen können, als das der Fall zu sein scheint.

In der letzten Zeit hat sich aus den Dingen, die sich innerhalb der anthroposophischen Bewegung aller Länder abgespielt haben, von selbst als das Beste sozusagen gezeigt, wenn sich in den einzelnen Ländern die Anthroposophen zusammenschließen zu Landesgesell­schaften, wenn sich also hier eine britische Gesellschaft begründen würde und sich dann alle diese einzelnen Gesellschaften wiederum zusammenschlössen zu einer allgemeinen Gesellschaft, die ihren Sitz in Dornach haben sollte. Dasjenige, was außerordentlich schwierig ist, um eine solche internationale Gesellschaft zu einer gewissen Zufrie­denheit zu bringen, das ist die Verständigung. In bezug auf die Lehren selbst glaube ich, daß sich ja wirklich die Mittel zu dieser Verständi­gung herausbilden. Wir sehen ja, daß auch hier in Ihrer Zeitschrift «Anthroposophy», die durch Baronin Rosenkrantz begründet wor­den ist, sich eine sehr schöne Vermittlerin zwischen Dornach und hier gebildet hat. Was wir aber brauchen würden, das wäre ein internatio­nales Mittel der Verständigung. Man müßte, ob es nun eine einzelne Zeitschrift ist oder ob die einzelnen Zeitschriften für die Länder das

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besorgen - wirklich, auf die äußere Form kommt es auch da nicht an -, aber man müßte die Möglichkeit haben, irgend etwas vor sich zu bekommen, durch das man über die anthroposophische Bewegung in der Welt von Zeit zu Zeit etwas erfahren kann.

Gewiß, die Lehren müssen durch die anthroposophische Bewegung fließen; aber die einzelnen Anthroposophen sollten die Möglichkeit haben, sich ein Bild davon zu machen, was da oder dort in der Welt in bezug aufAnthroposophie geschieht. Über nichts bin ich so viel als über diese Sache in den verschiedensten Ländern gefragt worden! Immer wieder und wiederum wird gesagt: Der Anthroposophischen Gesell­schaft fehlt es daran, daß man ja niemals weiß, was in andern Gebieten vor sich geht, daß keine Verbindung, keine Kommunikation da ist. -Ja, sehen Sie, so durch Organisation läßt sich das auch nicht machen, denn durch Organisationen werden immer ungeheuer viele Kräfte verzettelt. Wenn man irgend etwas einrichtet, dann macht man Komi­tees und Zwischen-Komitees; dann richtet sich jedes Komitee einen Sekretär ein, und eigentlich braucht man ja auch ein Buro, womöglich ein ganzes Palais, wo geschrieben wird nach aller Welt, wo Adressen aufgebracht werden und unzählige Briefe geschrieben werden, die dann in den Papierkorb geworfen werden oder sonst auf andere Weise nicht gelesen werden, woran täglich unendlich viele menschliche Kräfte gewandt werden und vor allem auch - woran ja manchmal gedacht werden muß in der Anthroposophischen Gesellschaft -furchtbar viel Geld verloren geht. Durch Organisation erreicht man gewiß [manches] und alle Anerkennung sei ihr entgegengebracht. Man hat zwar, wenn man in der deutschen Zivilisation gelebt hat, nicht viel übrig für Organisation, weil man da - nun ja, man liebt da die Organi­sation nicht so stark, das ist aber nur eine Zwischenbemerkung -, also vor der Organisation, möchte ich sagen, habe ich allen schuldigen Respekt. Aber um eine Sache einzurichten, handelt es sich darum, daß man möglichst viele Menschen hat, die das Interesse für etwas lebendig entwickeln: dann entsteht das andere schon. Wenn in Dornach ein Zentrum wäre, in dem man die Nachrichten von allen Ländern sam­melt, so wäre das ja sehr gut. Es müßten von allen Ländern Leute sein, die in allen möglichen Sprachen schreiben können; in Dornach wird schon dafür gesorgt sein, daß man sie lesen und weiter verbreiten kann.

Aber das wird nötig sein: das Interesse zu entwickeln für die anthroposophische Bewegung in der Welt! Es liegt ja ein wenig in der

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ganzen anthroposophischen Bewegung, daß dies schwerer ist als für andere. Wenn man eine andere Bewegung begründet, hat man einen Anhaltspunkt für solche Ziele; bei der anthroposophischen Bewegung ist es so, daß sie, obzwar sie etwas Allgemein-Menschliches ist, doch etwas ist, was über das einzelne hinaus geht. Für den einzelnen, für sein Herz, für seine Seele etwas zu bekommen, das ist vollständig gerechtfertigt selbstverständlich; es muß das so sein. Aber auf der anderen Seite wiederum stehen wir heute vor der anthroposophischen Bewegung als vor einer solchen, die doch Zivilisationsaufgaben zu lösen hat! Und deshalb handelt es sich darum, daß man auch für die Bewegung als solche wirklich Interesse gewinnt; dann wird sich das andere von selbst ergeben.

Die Zeit ist schon soweit vorgerückt, daß ich jetzt die Auseinander­setzungen abbrechen möchte; aber ich werde sie, wenn sich wieder Gelegenheit bietet, in den nächsten Tagen ins Konkretere fortsetzen.

#TI

ABSCHIEDSWORTE

London, 2. September 1923

am Schluß des Vortrages für Mitglieder

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Als ich das letzte Mal hier von diesem Orte zu Ihnen sprechen durfte, da mußte ich schließen mit einer großen Sorge, die dazumal auf meiner Seele lag. Es war die Sorge für den Weiterbau des Goetheanum, das hier auf Erden ein Zeichen sein sollte für dasjenige, was eben durch anthroposophische Geisteswissenschaft in die Welt kommen soll, und es wurde dazumal jener Sorge, die ich aussprach, Verständnis ent­gegengebracht.*

Seit jener Zeit ist das geschehen, was ja als ein unaussprechlicher Schmerz tief eingeschrieben ist in die Geschichte der anthroposophi­schen Bewegung. Abgewendet konnte dieser Schmerz nicht werden. Er war durch jene feindlichen Gewalten, die der anthroposophischen Bewegung entgegenstehen, eben tief in das Schicksalsbuch der anthro­posophischen Bewegung eingeschrieben. Aber es strahlt seit jener Zeit wirklich auf alles, was ich zu sagen habe, dasjenige aus, was in diesem

* Am 19. November 1922, siehe unter Hinweise.

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Schmerze liegt. Und so muß ich heute nicht nur aus einer solchen Sorge heraus sprechen wie das letzte Mal, als ich hier sprechen durfte, sondern ich muß sprechen, wie ich überhaupt jetzt nur noch sprechen kann, aus jenem tiefsten Schmerze heraus, den uns die Silvesternacht vom Jahre 1922 auf 1923 gebracht hat. Auch Ihre Vertreter neben denen der anderen Länder haben ja während der Delegiertenversamm­lung im Juli 1923 in Dornach den Vorsatz gefaßt, alles das zu tun, was zum Wiederaufbau dieses Goetheanum führen soll. Wir werden na­türlich trachten müssen, wenn auch das Goetheanum in einem anderen Materiale das zweite Mal aufgeführt werden muß, in dem es eben weniger gerade durch Feuergewalten zugrunde gehen kann, daß es auch in dieser Art würdig zur Ausführung gebracht werden kann.

Ich möchte Ihnen diesen Wiederaufbau des Goetheanum, der jetzt aus tiefstem Schmerze heraus die Sorge derjenigen sein muß, die das Goetheanum geliebt haben und die dasjenige, was es der Welt sein kann, lieben, am Ende dieser Betrachtungen heute wiederum in die Seele schreiben.

Handeln wir so, meine lieben Freunde, wie wir handeln müssen aus dem Schmerze heraus und aus dem Bewußtsein, daß geistiges Leben wiederum in unsere Kultur hineinkommen muß, und bleiben wir in diesem Bewußtsein zusammen, auch wenn wir wieder eine Zeitlang nicht zusammen sind. Denn dasjenige, was aus Anthroposophie, was überhaupt aus einer solchen spirituellen Bewegung ausströmen kann, ist ja schon das allgemein Menschliche, so daß dadurch die Seelen zusammen sein können im Geiste, auch wenn sie räumlich getrennt sind: sie werden sich immer wiederfinden. Sie werden sich aber nicht nur wiederfinden, sondern stets zusammen sein können im Geiste, den wir ja gerade durch eine solche Bewegung in seiner wahren Wirklich­keit suchen.



[Rudolf Steiner, der zur September-Tagung der Anthroposophischen Gesell­schaft nach Stuttgart gekommen ist, nimmt an der folgenden Sitzung teil.]

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SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

seit kurzem genannt «Vertrauenskreis der Stuttgarter Institutionen»

Stuttgart, 7. September 1923

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Vollzählige Versammlung des Kreises - auch Rittelmeyer, Ruhten-berg, Molt und andere waren nach längerem Fernbleiben wieder da -in der Landhausstraße in Anwesenheit von Herrn und Frau Dr. Stei­ner. Dr. Steiner berichtete über seine englische Reise, über die pädago­gische Veranstaltung in Ilkley und dann besonders über den Sommer-kurs von Penmaenmawr, den er als eines der bedeutsamsten Ereignisse in der Geschichte der Bewegung bezeichnete. Diese letztere Veranstal­tung fand statt in der Nähe alter Druidenstätten, von denen er im einzelnen vieles erzählte. Einmal sei er ganz allein mit Dr. Wachsmuth auf eine einsame Hochebene hinaufgestiegen und habe dort zwei Mulden gefunden, eine große und eine kleine, die von oben gesehen genau so aussähen wie der Grundriß des Goetheanum, ferner einen Druiden-Zirkel, über dessen Bedeutung er dann noch sprach. Im allgemeinen, sagte er, steht in der Astralsphäre dieser Gegend die ganze geistige Vergangenheit dieser Stätten wie mit unvergänglichen Buchstaben eingezeichnet, und Imaginationen, die sich sonst verwan­deln und verschwimmen, bleiben dort gewissermaßen stehen. In der Nähe ist auch die Insel, von der die Artus-Mysterien ausgegangen sind. (Während Dr. Steiner sprach, ging das Licht aus, es wurde eine Lampe gebracht, von deren Schein beleuchtet er weitersprach, bis das Licht wieder anging.)

Nachher las Kolisko eine Reihe von Zustimmungs-Erklärungen vor, die auf die Kundgebung in Nr.6 der «Anthroposophie» eingegan­gen waren. * Fast alle waren eindrucksvoll und zum Herzen sprechend und legten lebendiges Zeugnis davon ab, was die Persönlichkeit Dr. Steiners unzähligen Menschen bedeutet. Dr. Steiner schrieb sich alle Namen der Einsender auf, die nicht Mitglieder waren.

Kolisko sprach dann nochmals von seiner Reise, worüber er schon in der Sitzung vom 15. August ausführlich berichtet hatte, und über die geplante neue Organisation der «Anthroposophischen Gesell­schaft in Deutschland», worüber er schon am 5. September referiert

* Siehe Anhang II, Seite 830 ff.

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hatte.* Durch einen «erweiterten Vorstand» soll die Zentrale auch in der Peripherie anwesend sein. Ein Kreis von Vertrauenspersönlichkei­ten soll jedes Mitglied einzeln in die Gesellschaft aufnehmen. Erst dann soll es in einen Zweig eintreten, in dem die esoterische Arbeit sich abspielen soll.

Auch Stein und von Grone berichten nochmals über ihre Reise nach Thüringen. An Steins Schilderung seines Besuches in Weimar schloß sich eine interessante Aussprache über Friedrich Lienhard an: Seine letzten Aufsätze im «Türmer» wurden gebracht und von Dr. Steiner selbst vorgelesen. Er und auch Frau Doktor erzählten dann noch eine Menge zum Teil humorvolle Einzelheiten über Lienhard, den Dr. Steiner unter keinen Umständen als «Gegner» behandelt wissen will.

#TI

WORTE BEI DER STUTTGARTER SEPTEMBER-TAGUNG

Stuttgart, 17. September 1923

#TX

Im Anschluß an Ausführungen von Dr. Walter Johannes Stein, der den anthroposophischen Impuls als eine Weltangelegenheit bezeichnet hatte, sagte Rudolf Steiner**: «es sei gewiß schön und es entspräche einem naturge­mäßen Enthusiasmus, der aus der Anthroposophie bei jedem kommen muß, der sie liebt, wenn in enthusiastischer Weise die lieben Freunde jetzt diese Versammlung schließen» und fuhr dann fort:

Dasjenige aber, was an Enthusiasmus in die Herzen der hier Versam­melten eingezogen ist, das entspricht doch gerade heute - wie ja immer in der anthroposophischen Bewegung - gerade heute auch einem Weltenimpuls, der schon auch konkret angeschaut werden sollte - -Ich wurde vor ganz kurzer Zeit, vor einigen Tagen möchte ich

sagen, drüben im Westen gefragt, von einem Orientalen gefragt, was es denn im Erdenkarma für eine Bewandtnis damit habe, daß einzelne Völker dazu berufen scheinen, andere von sich abhängig zu machen. Sie verstehen, daß in der heutigen, keineswegs schon sehr objektiv

* Von diesen beiden Sitzungen liegen keine Notizen vor.

* Gemäß Notizen von Lilly Kolisko (in »Eugen Kolisko, Ein Lebensbild», Manuskript-druck für Mitglieder, Gerabronn 1961, S. 87/88). Ein offizielles Stenogramm dieser Abschiedsworte liegt nicht vor.

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gewordenen Menschheit es nicht gerade leicht ist, eine Antwort auf eine solche Frage zu geben, denn solche Antworten werden wirklich recht wenig verstanden. Aber ich konnte doch darauf antworten, daß die Dinge eben innerlich sich manchmal anders ausnehmen, als sie äußerlich scheinen, und daß, wenn es auch richtig ist, daß in der weitgeschichtlichen Entwickelung zuweilen ein Volk von dem andern physisch abhängig wird, so verbirgt sich hinter dieser physischen Abhängigkeit oftmals das geistig Umgekehrte. Das physisch unter­drückte Volk wird zuweilen auf eine ganz geheimnisvolle Weise der geistige Sieger über das Siegende. Es sollte dies nur eine andeutende Antwort sein, sie bezog sich nicht auf Europa, wenigstens nicht auf das kontinentale Europa, sie bezog sich auf weitere Kreise der Erde.

Aber die Gedanken, die dabei angeregt werden können, haben doch auch in einem gewissen Sinn mit dem Horizonte, in dem die mitteleu­ropäischen Menschen leben, schon etwas zu tun. Sehen Sie, meine lieben Freunde, zu den schmerzlichsten Dingen in einem tieferen Sinne gehört, trotzdem vieles darinnen außerordentlich schmerzlich ist, gehört doch dasjenige noch nicht, was uns heute in einer so bedrückenden, furchtbar schrecklichen Weise umgibt und was durch­aus noch schrecklicher werden wird. Zu dem Allerschmerzlichsten gehört das noch nicht. Zu dem Allerschmerzlichsten gehört schon etwas, was dazumals, wenn auch nur in einer andeutenden Weise schon in dem «Aufruf an das deutsche Volk» darinnen stand, es gehört das, daß in einem starken Sinn gerade in Mitteleuropa in der Gegen-wart die mitteleuropäische Vergangenheit in geistiger Beziehung viel-fach verleugnet wird, vergessen worden ist. Aber heute ist die Sache so, daß jenes Wollen, was mitteleuropäisches Wollen ist, trotz des physi­schen Elends in einer gewissen Art der Auferstehung harrt. Es erregt dasjenige, was da im Hintergrunde steht, wirklich ganz bedeutsame Empfindungen. Es harrt manches von dem, was sogar an Geistesleben Mitteleuropas wie begraben scheint, es harrt einer gewissen Zukunft. Man wird in weitesten Kreisen der Welt in verhältnismäßig gar nicht langer Zeit dasjenige, was sogar hier vielfach heute verleugnet wird von älterer mitteleuropäisch-geistiger Gesinnung, mit Sehnsucht er­greifen. Man wird in der Welt mitteleuropäische Geistigkeit mit Sehn­sucht ergreifen wollen.

Und da komme ich auf dasjenige, meine lieben Freunde, was ich gerade an dieser Stelle doch noch mit diesen wenigen Worten andeuten

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möchte. Sehen Sie, es mag mancherlei Schlimmes dadurch bewirkt werden, daß im Geistigen heute einiges übersehen wird, vieles überse­hen wird. Aber eines dürfte dennoch nicht kommen, denn das wäre das Furchtbarste, daß, wenn die Welt schreien wird - und das wird sie in verhältnismäßig nicht langer Zeit tun - zu ihrer eigenen Rettung nach der Auferstehung des mitteleuropäischen Geisteslebens, daß dann in Mitteleuropa die Menschen nicht vorhanden wären, die nun selber die sein könnten, die dann an wichtiger geistiger Stelle stehen, wenn die diesen Ruf nicht verstehen könnten.

Wenn man sagen muß, daß die außerhalb Mitteleuropas sich be­findliche Welt heute auf eine Geistigkeit wartet, dann wäre es sehr schlimm, wenn man es erleben müßte, daß die mitteleuropäische Menschheit nicht auf diese Geistigkeit wartet. Denn das wäre ein allergrößter Verlust der Welt. Das wäre eine der furchtbarsten Kata­strophen, die die Erde erleben könnte, wenn einmal gegen Mitteleu­ropa herein der Ruf ergeht - mag dann das Äußere so oder so ausse­hen -, wenn der Ruf herein ergeht: Dieses Geistesleben brauchen wir-, und in Europa würde man achtlos an diesem Ruf vorübergehen, weil man es selber nicht schätzen könnte, dieses mitteleuropäische Geistesleben. Gedenken wir heute des Umstandes, daß es vielleicht die Mission gerade des mitteleuropäischen Menschen sein könnte, in der allernächsten Zeit aus dem Wesen der mitteleuropäischen Geistigkeit heraus zu verstehen, was die Welt von Mitteleuropa wird empfangen wollen, denn es wäre furchtbar, wenn man dann in Mitteleuropa niemanden hätte, der ein Verständnis für das Geben haben würde.

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KURZBERICHT ÜBER DIE WIENER TAGE

Dornach, 5. Oktober 1923

Einleitungsworte vor dem Vortrag

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Die Wiener Tagung, die eben abgelaufen ist, von der ich komme, ist ja in einer ganz befriedigenden Weise verlaufen. Es hat sich darum gehandelt, daß zwei öffentliche Vorträge gehalten worden sind am 26. und 29. September, die recht gut besucht waren: der erste Vortrag über Anthroposophie als Zeitforderung, der zweite Vortrag über die moralisch-religiöse

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Bedeutung der Anthroposophie. Dann war ich in der Lage, vier Zweigvorträge im Rahmen dieser Tagung zu halten, in denen ich namentlich die Beziehung der Anthroposophie zum menschlichen Gemüte behandelt habe, wobei einiges von dem einge­flossen ist, was hier schon von den verschiedensten Gesichtspunkten aus erörtert worden ist: von der Bedeutung und der möglichen Er­neuerung des Michaelfestes.

Dann hat am Sonntag, den 30. September, eine sehr gut besuchte Eurythmievorstellung stattgefunden im Wiener Neuen Stadttheater. Der erfolgreiche Ablauf dieser Eurythmievorstellung hat die Veran­lassung gegeben, daß am nächsten Sonntag, übermorgen, noch einmal in Wien eine solche Eurythmievorstellung stattfinden wird. Die Eu­rythmievorstellungen haben ja auch noch eine Einschiebung dadurch erhalten, daß eben gerade am heutigen Abend, während ich hier zu Ihnen spreche, in Gmunden im Salzkammergut eine solche stattfindet. Es ist möglich, daß sich noch andere Eurythmievorstellungen in Österreich an die Sache anschließen.*

Am Montag, den 1. Oktober, fand eine Versammlung der öster­reichischen Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft statt. Zu den anderen Landesgesellschaften wird nun auch die österreichische Anthroposophische Gesellschaft hinzukommen, so daß unter den Landesgesellschaften, welche bei der Begründung der Internationalen Anthroposophischen Gesellschaft zu Weihnachten in Dornach sein werden, eben auch diese österreichische Anthroposophische Gesell­schaft sich einfinden wird.

Dann konnte noch am Dienstag Abend auf die außerordentlich verdienstvolle Anregung von Frau Dr. Wegman hin durch unsern ärztlichen Freund, den Dr. Glas in Wien, ein Vortrag und eine ganz ausführliche Besprechung mit einer Anzahl von Wiener Ärzten, Na­turwissenschaftlern, Medizin-Studierenden stattfinden im Hause von Herrn van Leer, die, wie wir schon sagen dürfen, ebenso wie die ähnlichen im Beginne des Septembers in London, einen sehr befriedi­genden Verlauf genommen haben, so daß wir hoffen dürfen, daß gerade auf diesem Wege manches getan werden kann auch für diese medizinisch-therapeutische Seite des anthroposophischen Strebens.

* Es folgte eine solche in Salzburg.

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#Bild s. 184

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BEMERKUNGEN ZUR GOETHEANUM-SPARBÜCHSE

Dornach, am 21. Oktober 1923

nach dem Vortrag

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Und jetzt habe ich Sie zum Schlusse aufmerksam darauf zu machen, daß Sie dort in der Ecke ein durch die Bemühungen von Mr. Pyle zustandegekommenes kleines Kunstwerk sehen. Dieses Kunstwerk stellt außerdem, daß es ein Kunstwerk ist, dessen Anblick Sie erfreuen soll, auch noch etwas anderes dar. Es ist nicht nur schön, sondern auch nützlich. Es braucht ja etwas dadurch, daß es schön ist, nicht alle Nützlichkeit zu verleugnen. Und so verleugnet auch dieses kleine Kunstwerk nicht die Nützlichkeit. Sie haben oben den Adler, dann den Löwen und die Schlange. Also Sie sehen, die Bildlichkeit ist etwas verschoben. Das ist aber gerade gut für diese Aufgabe. Das ganze Ding hat vorne einen Rachen, einen Löwenrachen, und der Rachen will etwas. Der Löwe will fressen. Wissen Sie, was er fressen will? Spenden für das Goetheanum, damit wir wieder aufbauen können. Und das soll so arrangiert werden, daß möglichst viele eine solche Sparbüchse kaufen, denn es ist eine Sparbüchse, und der Löwenrachen stellt den Spalt dar, durch den man dasjenige, was man erspart an Zigaretten, an allerlei anderen Dingen, da hineinschiebt, in kurzen Zwischenräumen, damit's recht bald voll ist. Es wird dann unten eine Vorrichtung sein, damit man öffnen und den Inhalt für das Goetheanum abliefern kann. So ist es gedacht von Mr. Pyle, die Idee stammt von ihm.

Es wird in Gips oder Terrakotta ausgeführt werden. Ich glaube, es wird sehr schön sein. Zuerst ist nur das Modell hier, aber man kann sich einschreiben, und dann können die Dinge später hier bezogen werden. Man wird also Gelegenheit finden, sich eine solche Spar-büchse anzuschaffen, etwas Schönes immer zu haben, aber etwas, was auch ebenso Nützliches verlangt. Sehen Sie sich beim Hinausgehen dieses schöne nützliche Ding an und bekommen Sie die Meinung, die Empfindung, daß auch dieser Adler, dieser Löwe etwas sein soll zur Ergänzung desjenigen, was der Mensch sonst mit seinem Geld tut. Man braucht schon seine Umwelt; da ist ein Stück Umwelt geschaffen. Ergänzen Sie sich durch diese Umwelt!

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BERICHT ÜBER NEUESTE ANGRIFFE

AUF DIE ANTHROPOSOPHIE

Dornach, 26. Oktober 1923

nach dem Vortrag

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Nun, meine lieben Freunde, nachdem ich Ihnen dieses mitgeteilt habe, bin ich doch auch verpflichtet, etwas, was uns mehr noch als die Pflanze auf die Erde führen wird, kurz mitteilen. Ich werde es aber nur ganz kursorisch mitteilen, damit Sie es wissen, weil ich mich eben doch verpflichtet fühle, manches von dem, was immer gesagt wird, auch zu erhärten. Ich werde zunächst zwei Tatsachen zusammenstellen, die zusammengedacht zu werden verdienen, wie Sie ja gleich nachher sehen werden.

Ich weiß nicht, ob Sie gesehen haben, daß angekündigt wurde auch hier - was ja übrigens an vielen Orten Amerikas und Europas ange­kündigt wird -, daß angekündigt waren in den um den 20. herumlie­genden Zeitungsnummern Vorträge in Basel und in der Umgebung von Basel. Hier ist zum Beispiel die Annonce: «Alle Nationen im Aufmarsch nach Armagedon. Sechs Millionen jetzt Lebender werden nie sterben. Öffentlicher Vortrag Montag, den 21. Oktober 8 Uhr im Hans Huber-Saal des Stadtkasinos Basel. Eintritt frei. Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher.»

Dieselbe Annonce können Sie auch im Birsecktagblatt finden:

«Alle Nationen im Aufmarsch nach Armagedon. Sechs Millionen jetzt Lebender werden nie sterben. Öffentlicher Vortrag Samstag, den 20. Oktober 8 Uhr im Hotel Bahnhof Münchenstein, Montag 21.0k-tober Gasthof Zum Ochsen Arlesheim. Eintritt frei. Internationale Vereinigung ernster Bibelforscher.»

Halten Sie an dem Titel dieser Ankündigung fest; Sie haben es ja vielleicht auch lesen konnen im Birsecktagblatt, wie da darauf hinge­wiesen wird, daß die Bibel nun richtig ausgelegt werden soll nach dem Buch Daniel und nach der Apokalypse und so weiter. Es wird dann den Leuten versprochen, die die Sieger sein werden in dem großen Streit, der bis zum Jahre 1927 sich abwickeln soll, daß diese dann überhaupt auch in ihrem physischen Leibe nicht sterben. Und ich wurde schon, während im vorigen Jahre unser Wiener Kongreß ge­spielt hat, von Leuten daraufhin angeredet, wie man es denn macht,

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daß man in der Schlacht von Armagedon zu denen gehört, die nicht sterben werden. Sie wissen ja, daß in der Schweiz viele solche Vorträge gehalten werden. Es handelt sich also um dasjenige, was sich eben knüpft an diese Schlacht von Armagedon.

Nun möchte ich Ihnen aus einem Büchelchen etwas vorlesen, das da heißt: «Der Antichrist. Die prophetischen Geheimnisse der biblischen Endzeit, besonders für 1924-1927», von Paul Westphal- ein Buch, das nicht durch den gewöhnlichen Buchhandel, wohl aber durch diejeni­gen Kanäle sehr verbreitet wird, die gerade zu derjenigen Bevölkerung führen, die nicht in die Buchhandlungen geht, um sich Bücher zu kaufen, sondern die Bücher auf anderem Wege zugeschanzt erhält. Deren Bildung erfließt dann aus demjenigen, was aus solchen Büchern stammt.

Nun werde ich die Einleitung, das Hauptkapitel, wegen welchem diese Schrift eigentlich geschrieben ist, nur erzählen, denn ich kann Ihnen nicht stundenlang vorlesen. Das Hauptkapitel heißt «Auf den Spuren des Antichrist». Und dann wird erzählt, wie die Aussaat war. Bei der Schilderung dieser Aussaat wird nämlich das Folgende erzählt:

Es hätte einmal in den Jahren 1897 bis 1900 ein Mann, der dann später ein moderner Dr. Faust geworden wäre, das «Magazin für Litteratur» redigiert, und in diesem «Magazin für Litteratur» wäre erschienen ein Roman «Aus der Dekadence».

Der ist ja auch wirklich erschienen. Er stammte von dem Sohn eines Mitgliedes, das in Stuttgart schon vor langer Zeit gestorben ist. Dieser Roman ist erschienen. Ich habe natürlich daran keinen anderen Anteil als den des Redakteurs gehabt, der die Sache künstlerisch und nach ihrer literarischen Wertigkeit zu beurteilen hat, und sonst noch den bitteren Nachgeschmack, daß mir gerade jener Roman einen Prozeß mit dem Verleger der damaligen Zeitschrift, einen Prozeß, der jahre­lang gedauert hat, eingebracht hat, was nicht eine angenehme Erinne­rung ist. Aber an diesem Roman wird angeknüpft, zum Zeichen dafür, daß derjenige, der damals das «Magazin für Litteratur» redigiert hat, schon damals angefangen hat, die Zeitenverirrung zu benutzen, um in seinem Sinne irgend etwas zu fischen.

Dann wird weiter dargestellt, welche Wandlungen der durchge­macht hat, wie er zu einer Art Fatist Secundus, einer Art zweitem Faust geworden ist, und zwar in einem manchmal höchst merkwürdi­gen Stil, von Jahr zu Jahr: «Etwa um 1900 betrachtet mit einem

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seltsamen Interesse ein ungefähr vierzigjähriger, nicht gut genährter Mann jene alten Skulpturen und wird wie von einer Vorahnung durch­zuckt. Trotz großen Wissens hat er es noch zu keiner bürgerlichen Sicherstellung gebracht; zumal er ein halber Ausländer ist, hat er das Schicksal der Überflüssigen. Dabei ist er ehrgeizig im größten Stil, machtsüchtig, seiner Fähigkeit fast zu sehr bewußt - etwas eitel.»

Dann werden diesem Manne allerlei andere Eigenschaften zuge-schrieben, die zusammenhängen sollen mit seinen Machtgelüsten. Zum Beispiel: «Er spürt und wittert nach allen Richtungen, wo der Erfolg zu suchen sei; sein Äußeres» - es ist sehr interessant - «sein Äußeres zu jener Zeit gleicht etwas dem des Napoleon, als dieser 1793 .» Nun gehen die weiteren Wandlungen vor sich dieses Machtsüchtigen, und es wird nun geschildert: «Er gleicht nach der Schrift dem Diebe, der auf dem Hinterwege (Okkultismus) sich in den Schafstall einschleichen will.» Nun, wie gesagt, es wird von Jahr zu Jahr verfolgt: Studierte Goethes «Faust» eingehend, breitet systematisch die magischen Dämonenkräfte über die ganze Kultur-welt aus.

«Faust steht bei Beginn seiner Hauptwirksamkeit in dem Alter, welches Dan. 6,1 angibt, er ist etwa 62 Jahre alt. Wie der in Dan. 6 genannte Darius in seinem Reiche eine Dreiteilung der Funktionen schafft (Vers 3), so beginnt Dr. Faust in Anlehnung an die ...», und so weiter. «Als Satan in der Wüste den Herrn versuchte, nahm er ebenfalls auf die Bedürfnisse dieser 3 Teile bedacht, indem er das Brot, das Wunder und die Macht - nicht gab, sondern in Aussicht stellte...»

«Unter seinen Anhängern stehen die Damen voran, jene ungestill­ten, die an ihrer Leerheit leiden und ungestüm nach Füllung mit irgend etwas Positivem oder Männlichem verlangen. Der feste dämonische Wille gibt ihnen Inhalt und macht sie zu selbsttäti gen Kraftzentren, die genau nach den ihnen durch Suggestion eingesetzten mechanischen Formeln arbeiten. Besondere Bemühungen gelten der Jugend; der Meister läßt sie Tanzrhythmen üben und überwacht sie lauernd, wer wohl durch die raschen Bewegungen zur Ekstase zu bringen sei. Die wählt er dann aus als Werkzeuge für seine magischen Zwecke; die übrigen mögen nur weiter tanzen und naiv glauben, daß sie damit Kulturleistungen vollbringen. Der falsche Prophet sinnt oft darüber, wie er sich zur Kirche stellen solle. Zunächst hat er den Versuch

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gemacht, sein System als den geistig Anspruchsvolleren schmackhaft zu machen.... Der Papst, die Kardi­näle, Erzbischöfe, hervorragende Kirchenlehrer werden vielleicht in magische Fernbehandlung genommen. Von dem Erfolge dieser okkul­ten Beeinflussung wird es abhängen, ob der falsche Prophet die gefügi­gen Teile der Kirche in seinen Dienst einspannt oder gegen die ganze Kirche mit der Wut des apokalyptischen Tieres losschlagen wird.»

Und nun die genauere Beschreibung, soweit sie gegeben ist, desje­nigen, was von dieser Seite geschildert wird über die Wirksamkeit:

«Es tut nicht not, die umfangreiche Taktik bis in Einzelheiten zu verfolgen. Dem schwarzen Meister ist es um die Wenigen, Seltenen zu tun, die im engeren und engsten Kreise an seinen magischen Arbeiten mittätig sein können; jede dieser Personen übt eine besondere Verrich­tung aus. Da ist ein Medium, durch das der Dämon spricht, ein anderes, durch das er schreibt. Die einen sind hellsehend, die anderen zur Ekstase und räumlichen Versetzung ihres Bewußtseins fähig, an­dere beherrschen die und können von dort, etwa aus der Erde, Kräfte heranholen, die z. B. zur Beeinflussung ferner Perso­nen, hauptsächlich im Schlafe, verwandt werden. Immer häufiger werden die nächtlichen Arbeitssitzungen. Einer hält als Exorzist die unbequemen niederen Dämonenkräfte, die sich wie Fliegengeschmeiß herandrängen, durch Räucherungen mit salpetriger Säure fern. Ein anderer opfert den erwünschten Dämonen, damit sie aus den beim Räuchern stark ätherischer Pflanzen und Harze freiwerdenden Stoffen Substanz schöpfen und sich wahrnehmbar machen können. In den Dunst des Weihrauches werden magische Befehle geflüstert, die sich als Willensinhalte mit dämonischen Kraftformen verbinden (In anti-christlicher Benutzung von Offenb. 8,4). Die so mit Suggestionen geladenen Gebilde dienen als magische Post zur Fernbeeinflussung entweder solcher, die man als Anhänger der Bewegung gewinnen, oder solcher, die man als unbekehrbare Gegner verletzen, vielleicht gar unschädlich machen will. Man hat auch Photographien der zu beeinflussenden Personen vor sich und stellt mit ihnen den magischen Kontakt her. Da sitzt etwa «Faust» vor einem tiefschwarzen Hohl­spiegel, um Schwingungen der Sehnerven auf dem umgekehrten Wege, nämlich von dem dämonischen Eindruck im Hirn zurück über die Netzhaut auf das Spiegel glas zu projizieren und durch solche Objekti­vation gegenständlicher und besser wahrnehmbar zu machen. Für die

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Fernbeeinflussung wichtiger Persönlichkeiten, die auf den Gang der Weltereignisse einwirken, werden besondere Arten scheußlicher Dä­monengeister benutzt. Die einen sind die , wie sie in Dan. 9,27 (nach genauer Übersetzung) genannt werden; sie übertragen die Suggestionen auf Menschen, die schlafen, und diese wachen mit bestimmten Zwangsideen auf, die auf ihr Handeln einwir­ken. Die andere Art ist die der (Offenb. 16,13). Diese Art scheint z. B. aus einer Art Drüse eine Substanz abzusondern (dieses kann nur bildlich erörtert werden), mit denen auf andere Menschen Fern-Injektionen bewirkt werden, so daß Lähmungen eintreten. Der schwarze Meister will z. B. in irgend einem Hirn den moralischen Widerstand oder die kritische Besonnenheit oder irgendeine Geistes-funktion abschwächen oder ausschalten, damit seine Suggestionen ungehemmt wirken. Ein dergestalt Zubereiteter fällt dann bei der ersten persönlichen Begegnung dem Verführer anheim. Mitten aus einer Versammlung heraus wird ein bisheriger Gegner durch einen Blick, einen Händedruck, durch ein belangloses freundliches Wort zum Anhänger der Bewegung gewonnen. - Und der Zweck des gan­zen Treibens? Dem kommenden Antichrist die Bahn zu bereiten! »

Nun, es geht noch weiter in dieser Art der Schilderungen. Und dann kommt folgendes:

«Wenn der Weissagung gemäß nach 3 1/2 Jahren, d. h. im Spätherbst 1927, die Herrschaft des Antichrist zu Ende geht und der falsche Prophet in der großen Schlacht Armagedon den Tod findet, dann wird er genau ein Alter von 66,6 Jahren erreicht haben. Man prüfe, ob die Menschenzahl in 0ff. 13,18 die Lebensjahre des falschen Propheten bedeutet. »

Sie sehen, in dieser Weise werden die unteren Volksschichten bear­beitet! Sie sehen, daß gesagt worden ist, es wäre nötig, aufzuwachen. Das ist nicht so ganz ohne Bedeutung, denn auf der Gegenseite wacht man sehr. Da kennt man die Methode, wie man alle Volksschichten in entsprechender Weise bearbeiten kann.

Wie man die mittlere, die sogenannte gescheite Volksschicht bear­beitet, dafür will ich ein anderes Beispiel vorlesen. Es ist aus dem vierten Bande von Fritz Mauthner «Der Atheismus und seine Ge­schichte im Abendlande». Vielleicht wird es Sie interessieren, meine Besprechung vorzunehmen, die ich angedeihen habe lassen den ersten zwei Bänden von Fritz Mauthners «Atheismus», als der dritte und

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vierte Band - also dieses «Atheismus» - noch nicht erschienen waren; und Sie können da einen merkwürdigen Vergleich anstellen. In jenem vierten Bande von Fritz Mauthners «Atheismus» steht folgendes:

«Ganz unberechtigt war freilich die Sorge der Pazifisten und Freiden­ker nicht, die Todesnot des Weltkrieges könnte ein Wiederaufleben mittelalterlichen Volks aberglaubens auslösen; nur daß die Epidemie ganz anderswo ausbrach, als die Kirchendiener gehofft und ihre Geg­ner gefürchtet hatten. Der vierte Stand wollte sich, nach dem ersten Schrecken, auch von der Todesangst nicht mehr in die Kirche zurück­treiben lassen; Zweifel und Unglaube waren doch zu stark geworden. Aber auch der dritte Stand, das halbgebildete Bürgertum, griff lieber nach einem jüngeren Aberglauben als nach einem der ältesten. Die greifbare Wirkung der Kriegsnot war zumeist ein Aufschwung der Schwarmgeisterei, die man ja auch eine Form des religiösen Bedürfnis­ses nennen darf. Die Zahl der Spiritisten und der Theosophen mehrte sich in England und in Deutschland. Der Wahn schöpfte neue Kraft aus der Verzweiflung. Unbekümmert darum, daß Geschichte keine Wissenschaft ist, standen Propheten auf, die die Zukunft vorausbe­rechneten, scheinwissenschaftlich und geistreich wie Spengler in sei­nem , dumm und frech wie seine pöbel-haften Nachahmer. Natürlich wurde die Stimmung auch von gemei­nen Hochstaplern benützt: Ein Anstreicher trat als Heiland auf, als der , und soll einen Jahresverdienst von mehreren Millionen gebucht haben; ein anderer Weltheiland, ein Weinreisender, machte sich weniger aus Gold als aus Frauenliebe und wurde schließ­lich durchgeprügelt; wieder ein machte die Gegend von Frankfurt am Main unsicher und wurde aus Deutschland erst als steinreicher Mann ausgewiesen. In diese Gruppe von Schwindlern gehört vielleicht auch der jüdische Mystiker (kein Jude von Geburt) Eliphas Levi, den Meyrink mit besserem Humor hätte einführen sollen. Aber das Fett abgeschöpft aus den Börsen wundersüchtiger Männlein und Weiblein hat doch Rudolf Steiner, der Theosoph, der sich ausweichend einen Anthroposophen nennt, der sich bei der An­preisung seiner übermenschlichen Gaben des Fernsehens mit dreiste­ster Scheinwissenschaftlichkeit auf den Buddha, auf Christus, auf Goethe und sonst auf alles Hohe beruft und von den Schwarmgeistern erklecklichen Zulauf erfahren hat. Eine Widerlegung dieses neuen Cagliostro wäre für eine gesunde Logik schwerer, als man denken

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sollte; das Hexeneinmaleins ist nicht zu widerlegen, nur auszulachen. Ein starker Komödiendichter müßte sich des Stoffes bemächtigen.»

Und die Fußnote dazu lautet:

«Nur darüber freilich kann ein Deutscher nicht lachen, was Einge­weihte längst wußten, was aber erst durch eine Unklugheit des Steiner aller Welt bekannt geworden ist, daß der für die Heerführung verant­wortliche oberste General im Weltkriege, wieder einer des Namens Moltke, der Freund und Vertreter des Theosophen war; wieder rächte es sich am ganzen Volke, daß - wie vor der großen Revolution - die Cagliostro Gläubige gefunden hatten bei Personen aus den höheren Schichten der . Auch wer der Frage undogmatisch gegenübersteht, fester Republikaner nur ist, weil der letzte Monarch Wilhelm II. hieß, auch der wird sagen müssen:

in einer Republik hätte ein Geisterseher nicht ein so realpolitisches Amt erhalten können wie dieser Moltke II.»

Sie sehen, es ist für alle Volksschichten genügend gesorgt, und wer die Lügen verfolgen kann, die von da ausgehen zu den veranlassenden Mächten, der darf schon sagen, daß wirklich mehr Wachsamkeit nötig wäre, als gerade in unseren Reihen gefunden wird und daß eigentlich auch mehr Interesse entwickelt werden könnte für dasjenige, was ich ab und zu gerade über diese Dinge sagen muß. Man will nicht glauben, daß gegenwärtig der Haß gegen die Wahrheit in einem Zunehmen ist wie niemals in der Welt und daß daher derjenige, dessen Pflicht es ist, die Wahrheit zu vertreten, einiges Verständnis finden könnte, wenn er eben davon spricht, daß Wachsamkeit schon einmal nötig ist.

Nun, ich will nicht auf einzelne Dinge der Unwachsamkeit heute eingehen, aber ich wollte Ihnen wenigstens ein Bild davon geben des gegenwärtigen Standes derjenigen Dinge, die im Werke sind; man kann schon sagen: die im Werke sind. Ich muß ja immer denn doch warten, bis einiges Interesse vorhanden ist für die Dinge, die ich auch einmal als Episoden in die Vorträge eben einstreuen muß, damit die Dinge nicht ganz unbewußt bleiben.

Morgen um 8 Uhr wird dann der nächste Vortrag sein.

#SE259-193

#TI

HINWEIS, DASS DIE VORTRÄGE

BIS WEIHNACHTEN AUF DIE WEIHNACHTSTAGUNG

INNERLICH EINSTIMMEN SOLLEN

Dornach, 23. November 1923

#TX

Den ersten Vortrag, der nach der holländischen Tagung wieder in Dornach gehalten wurde, leitete Rudolf Steiner mit einem Bericht über die Gründung der holländischen Landesgeselischaft ein (siehe Seite. 684) und schloß daran noch folgende Worte:

Wir wollen nun, meine lieben Freunde, die Zeit, die uns hier für Vorträge innerhalb dieses Goetheanum vor den Weihnachtswochen bleibt, so gestalten, daß jene Mitglieder, die hier in Dornach in der Erwartung leben, daß die Weihnachtswoche kommt, möglichst viel in sich tragen können, was die anthroposophische Bewegung in die Herzen der Menschen hineinzubringen vermag. So daß auch wirklich gerade diejenigen, die bis Weihnachten hier verbleiben werden, in ihren Gedanken etwas zu sagen haben werden gerade über das, was noch in letzter Stunde jetzt geschehen kann. Nicht werde ich etwa über die Internationale Anthroposophische Gesellschaft sprechen, das wird in ein paar Stunden erledigt werden können während der Ver­sammlung selber. Aber ich werde nun doch versuchen, diese Betrach­tungen so anzulegen, daß sie auch für die Stimmung, die dann sein sollte, etwas werden abgeben können. Was ich schon in den letzten Wochen hier ausgeführt habe, werde ich von einem anderen Aus­gangspunkte aus zu erreichen suchen. Ich werde heute einmal damit beginnen, vom Seelenleben des Menschen selber aus zu einem Durch­schauen der Weltengeheimnisse zu gelangen.

#SE259-194

#TI

AUS BRIEFEN AN MARIE STEINER

ÜBER DEN WIEDERAUFBAU

Dornach, 25. November 1923

#TX

... Ich habe hier viel Sorge. Ich muß diese Tage mit dem Entschluß fertig werden, in welchem Umfang das Goetheanum wieder gebaut werden soll, und das ist schwer, weil man so gar nicht sagen kann, wie es mit den Mitteln stehen wird. Alles ist recht schwer. ...

#TI

Dornach, 6. Dezember 1923

#TX

... Und doch hängt jetzt alles davon ab, daß die Weihnachtsveranstal­tung amjahrtage des Brandes eine würdige werde, auch durch die Zahl der Teilnehmer. Wenn das nicht der Fall sein würde, so hielte ich es für das beste, überhaupt nicht mehr zu bauen. Nach den bitteren Ver­sammlungen in London und Haag kann es hier doch gut gehen; aber man muß auch alles dafür tun.[*]

- - -

[*] Nachdem in der Delegiertenversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft in der Schweiz am 9.Juni 1923 Rudolf Steiner erstmals angedeutet hatte, daß der künftige Bau in Beton errichtet werden soll (siehe Seite 511), entwickelt er bei der «Weihnachtsta­gung» in seinem Vormittagsvortrag des 31. Dezember, wie er den neuen Bau gestalten werde, gedenkt im Abendvortrag des Brandunglückes vor einem Jahr und setzt in seinem Vortrag am Neujahrsmorgen die Ausführungen über die künftige Baugestaltung fort und skizziert das Hauptmotiv an der Wandtafel. Vgl. den Band GA 260 «Die Weihnachtatagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesell­schaft«. Über die weiteren Stadien des Neubaues im Verlaufe des Jahres 1924 vgl. den Band «Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft - Der Wiederaufbau des Goetheanum», GA 260a.

Die schrittweise Verwirklichung der neuen Organisationsform der Anthroposophischen Gesellschaft Kristiania, 17. Mai 1923

#G259-1991-SE195 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

#TI

III

Die schrittweise Verwirklichung der neuen

Organisationsform der Anthroposophischen Gesellschaft

durch die Begründung von Ländergesellschaften,

die zu einer internationalen Anthroposophischen

Gesellschaft zusammengeschlossen werden sollten

Das internationale Leben und Weben der Anthropo­sophischen Gesellschaft würde am besten dadurch ge­deihen, daß sich in den einzelnen Sprachgebieten Lan­desgesellschaften begründen und diese sich zusam­menschließen würden in Dornach zu einer internatio­nalen Anthroposophischen Gesellschaft.

Kristiania, 17. Mai 1923

#SE259-196

#Bild s.196

#SE259-197

Die Verhandlungen zur Neuordnung

der deutschen Gesellschaftsverhältnisse

#TX

Weil die Anthroposophie von Deutschland ausgegan­gen ist und die Welt das auch weiß und akzeptiert hat, (ist es notwendig), daß zunächst innerhalb der deut­schen Anthroposophischen Gesellschaft eine gewisse Ordnung geschaffen werde, daß aber dann dies der Ausgangspunkt sein soll für das Ordnung-Schaffen

auch außerhalb. Dornach, 4. März1923

Vorbemerkungen des Herausgebers

Die erste Mitgliederversammlung, die seit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Sommer 1914 abgehalten werden konnte, hatte am 4. September 1921 in Stuttgart stattgefunden. Es war zu einer neuen Vorstandsbildung gekommen (Dr. Carl Unger, Emil Leinhas, Ernst Uehli) und der Sitz der Gesellschaft offiziell von Berlin nach Stuttgart verlegt worden. Kurz darauf wurde ein Kreis gebildet, der nach seiner Mitgliederzahl «Dreißigerkreis» genannt wurde und ein Binde­glied sein sollte zwischen Vorstand und Mitgliedschaft (Die Teilnehmer am Drei­ßigerkreis siehe S. 832). Als man nach dem Brand des Goetheanum mit Rudolf Steiner über die Frage der Konsolidierung der Gesellschaft verhandeln wollte, sah Ernst Uehli - Mitglied des Zentralvorstandes und Lehrer der Waldorfschule -dafür ein kleineres Gremium vor, den sogenannten «Siebenerkreis». Bei der ersten Besprechung mit Rudolf Steiner war dieser Kreis zusammengesetzt aus Ernst Uehli und den weiteren sechs Lehrern der Waldoifschule : Caroline von Heyde­brandt, Eugen Kolisko, Maria Röschl, Karl Schubert, Erich Schwebsch, Walter Johannes Stein.

Marie Steiner schildert die damaligen Verhältnisse im Vorwort zu der von ihr 1947 herausgegebenen privaten Vervielfältigung «Studienmaterial aus den Sitzun­gen des Dreißigerkreises» wie folgt:

«Im Vorstand der deutschen Gesellschaft hatte sich durch die schwere Erkran­kung Michael Bauers und den Rücktritt von Frau Marie Steiner-von Sivers,* deren wesentliche Aufgaben nun in Dornach lagen, ein Personenwechsel vollzogen. Seit 1921 war der Vorstand der Anthroposophischen Gesellschaft vertreten durch die in Stuttgart wohnenden Herren Dr. Carl Unger, Emil Leinhas und Ernst Uehli. Deutschland war ein ununterbrochen brodelnder Kessel. Die unendlichen Schwierigkeiten, die mit den verschiedenen Umtrieben der politischen und sozia­len Gruppen und der immer wachsenden Inflation verbunden waren, machten alle

- - -

* Im Jahre 1916 auf Veranlassung Rudolf Steiners. Siehe hierzu die biographische Doku­mentation «Marie Steiner-von Sivers, Ein Lehen für die Anthroposophie», Dornach 1988 und 1989.

#SE259-198

Reformbestrebungen zunichte. Das zusammenbrechende wirtschaftliche Leben drohte das geistige Leben zu ersticken. Das Zerreibende dieses Kampfes spiegelte sich in den Seelen ab und lähmte die Energien. Dieses trostlose Bild trat einem an den zurückgeschlagenen Bemühungen der anthroposophisch Strebenden fort­während immer wieder entgegen. Schon hatte der Antisemitismus angefangen tief in den Seelen zu wühlen. Als ein äußeres Zeichen der Kampfansage alldeutscher Kreise konnte man schon auf manchen Türen ein hingemaltes Hakenkreuz erblik­ken. Überfälle und Morde in den verschiedenen politischen Lagern waren an der Tagesordnung; es wurde systematisch damit gearbeitet; hier sei nur auf die Er­mordung Walther Rathenaus hingewiesen. - Auch Rudolf Steiners öffentliche Vortragstätigkeit wurde im Moment ihrer wirksamsten Entfaltung durch solche Umtriebe jäh abgebrochen: der Zudrang zu den Vorträgen war ein gewaltiger gewesen, und so setzte die stärkste Gegenkraft der Feinde auf allen Fronten dagegen ein, um diese Wirkung zu zertrümmern. Dr. Steiner sah mit Schrecken, wie manche Energien auch der früher begeisterten Anthroposophen in diesem Trubel erlahmten, und wie die Triebkräfte in den Seelen der unerfahrenen jungen Menschen Raum gewannen und sich überschlugen. Er sah die Gefahr des Ausein­anderfallens durch Einzelbestrebungen, die Außerachtlassung des nährenden und zusammenhaltenden Mutterbodens der Anthroposophie. Eindringlich warnte er die führenden Mitglieder in Stuttgart. Im Dezember 1922 hatte er dem in Gesell­schaftsfragen nach Dornach gereisten Herrn Uehli einen Auftrag gegeben,* dem er eine entscheidende Bedeutung zumaß: Er sollte mit den Vorstandskollegen in Deutschland besprochen werden, damit die gemeinsame Antwort darauf ihm bei seiner nächsten Ankunft in Stuttgart gegeben würde. Dort hatte sich ein «Dreißi­gerkreis» gebildet, der zu den Problemen der Zeit und der Gesellschaft in ernsten Beratungen Stellung nehmen wollte. Dazwischen gab es noch kleinere Kreise, die sich noch eindringlicher mit den ihnen am Herzen liegenden Problemen beschäf­tigten und sie in intimeren Sitzungen Rudolf Steiner nahezubringen wünschten. Um solche Sitzungen handelt es sich bei den Auseinandersetzungen des »Dreißi­gerkreises», die wir jetzt bekanntgeben wollen. Der Versuch ist gemacht worden, dasjenige stenographisch festzuhalten, was von Rudolf Steiner selbst gesprochen wurde. Nicht war es möglich festzuhalten, was kreuz und quer in den sich überstürzenden Fragen und Meinungsäußerungen der Mitglieder sich kundgab. Aber das Bedeutsamste ist gerettet worden : die Antwort, die Rudolf Steiner gegeben hat auf die Frage, um die es damals ging: Welches sind die Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft? Hier erleben wir die von Rudolf Steiner gege­benen Richtlinien für die Führung einer Gesellschaft, seine Methodik, die immer ruht auf der Grundlage der Respektierung der Freiheit des anderen, des Nichtein­greifens in den individuellen Kern der Seelen, aber der unnachgiebigen Strenge in allen Fragen, welche die Wahrheit berühren, so daß die Selbsttäuschung nicht

* Laut Rudolf Steiner (siehe Fußnote zum Protokoll vom 16.Januar 1923) hat das Gespräch am 10. Dezember stattgefunden. Es muß somit nicht in Dornach, sondern in Stuttgart gewesen sein, da Rudolf Steiner dort am Abend vorher einen Vortrag gehalten hat.

#SE259-199

Raum gewinnen und zum System werden kann. Der Bequemlichkeit, die auf diesem Boden leicht erwachsen kann, um den Schwierigkeiten auszuweichen, und persönlichen Einstellungen rückte er unbarmherzig auf den Leib. Und so spiegeln diese Mitteilungen die Methode Rudolf Steiners in den Fragen der Gesellschafts­führung wider, die uns auch heute so not tut.

Während der «Dreißigerkreis» in Stuttgart sich mit der dort entstandenen katastrophalen Lage und dem befürchteten Zerfall der Gesellschaft beschäftigte, erfolgte in Dornach in der Silvesternacht 1922 der Brand des Goetheanum.

Auch in Stuttgart standen die Sitzungen des «Dreißigerkreises» im Zeichen der Tragik des niederschmetternden Ereignisses; man versuchte der eigenen Unzu­länglichkeiten bewußt zu werden, die karmisch ein solches Geschehen hatten möglich machen können. War es etwa darin zu suchen, daß der Enthusiasmus der ersten Jahre durch die entstandenen Schwierigkeiten äußerer und innerer Art hatte lahmgelegt werden können, so daß der geistige Zusammenhang untereinander und mit den anthroposophischen Zweigen verlorengegangen war? - Als Bestrebungen einzelner differenzierter Gruppen standen die «Institutionen» da; aber innerhalb dieses sozialen Zusammenschlusses fehlte das menschlich verbindende geistige Band. Mit der Bitte um Rat und Hilfe wandte man sich wieder an Rudolf Steiner, der aber seinerseits die moralische Reaktion erwartete auf den von ihm an den Stuttgarter Vorstand gerichteten Auftrag vom Anfang Dezember. Zu helfen war er immer bereit, und so entschloß er sich hinzureisen und seine Zeit in den folgenden Wochen zwischen Dornach und Stuttgart zu teilen. Es fanden in Stuttgart neben den Sitzungen im «Siebenerausschuß» unendlich lange Bespre­chungen des «Dreißigerkreises» bis tief in die Nacht hinein statt.»

Für diese Besprechungen reiste Rudolf Steiner mit Marie Steiner von Mitte Januar bis Ende Februar jede Woche von Dornach nach Stuttgart. Außerdem hielt er in diesen Wochen im Stuttgarter Zweig vier Vorträge über die Entwicklungs­phasen der Anthroposophischen Gesellschaft, die Notwendigkeit ihrer Reorgani­sierung und die Bedingungen anthroposophischer Gemeinschaftsbildung. Siehe den Band «Anthroposophische Gemeinschaftsbildung», GA 257.

#TI

Notwendige Bemerkungen zur Qualität und Wiedergabe

der Protokolle der Stuttgarter Verhandlungen

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Die im folgenden wiedergegebenen Besprechungen Rudolf Steiners mit den Stutt­garter Führungsgremien «Siebenerkreis» und «Dreißigerkreis « beruhen nicht auf

einer wortwörtlichen stenographischen Mitschrift eines Berufsstenographen, son­dern auf teils ausführlichen, teils mehr oder weniger lückenhaften stenographi­schen Aufzeichnungen. Die Protokolle sind Dr. Karl Schubert, Lehrer an der damals ersten Waldorfschule in Stuttgart, zu verdanken. An deren Übertragung in Klartext ging er mit Hilfe von Dr. Erich Gabert aber erst viele Jahre später. In den Vorbemerkungen dazu von Gabert, datiert «Stuttgart, 10. April 1935>, heißt es:

#SE259-200

«Weil das Stenogramm nach so langer Zeit zum Teil schwer lesbar war, ist manchmal der Text unsicher geblieben. Wenn es nicht gelingen wollte, den Sinn mit Sicherheit zu erraten und zu ergänzen, sind die Worte unverändert gelassen, auch wenn sie zunächst unverständlich erscheinen. Es ist seinerzeit nicht immer notiert worden, wer die aufgeschriebenen Worte gesagt hat. Deshalb mußte die Abtrennung der Sprechenden zuwei!en als fraglich bezeichnet werden; leider kann auch nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob Dr. Steiner die Worte, die unter seinem Namen stehen, auch wirklich alle gesagt hat oder ob Worte eines Ge­sprächsteilnehmers dabei sind. Nicht von allen Sitzungen, die im Dreißigerkreis stattgefunden haben, sind Nachschriften vorhanden. Die vorhandenen sind hier alle wiedergegeben. Das, was die übrigen Teilnehmer an den Sitzungen gesagt haben, ist nur so weit wiedergegeben worden, als es zum Verständnis der Worte von Dr. Steiner notwendig erschien. Die Worte von Dr. Steiner selbst sind so vollständig mitgeteilt, wie sie im Stenogramm enthalten waren.»

Um die Schubert-Gabertschen Kürzungen der Voten der übrigen Teilnehmer bewerten zu können, wurde ein Vergleich mit den im Archiv der Rudolf Steiner­Nachlaßverwaltung vorliegenden Originalstenogrammen Karl Schubert vorge­nommen. Der Vergleich ergab, daß durch das Zusammenfassen und teilweise Weglassen dieser Voten sich der übertragene Umfang der Protokolle im Verhält­nis zum Gesamtumfang des Stenographierten in der Regel auf etwa 3/4 bis ¼, zum Teil auf weniger als die Hälfte reduziert hat. Dies ist zu berücksichtigen, will man sich ein Bild der Dauer der Sitzungen und des wirklichen Anteils Rudolf Steiners an den Besprechungen machen. Diesbezüglich fällt aber noch mehr ins Gewicht, daß auch die Originalstenogramme einen sehr unterschiedlichen Grad von Lük­kenhaftigkeit aufweisen. Sie reichen von annähernd vollständigen Protokollen bis zu nur wenigen stichwortartigen Notizen. Eine vollständige Übertragung der Originalstenogramme jedoch heute noch vorzunehmen, würde eine jahrelange äußerst mühsame Arbeit erfordern und das Ergebnis wahrscheinlich doch sehr unbefriedigend bleiben. Das Wesentliche für die Rudolf Steiner Gesamtausgabe sind ja auch in erster Linie die Ausführungen Rudolf Steiners.

Die in der von Marie Steiner in Jahre 1947 herausgegebenen Vervielfältigung häufig vorkommenden Pünktchen (...) markieren nicht, wie irrtümlich ange­nommen werden könnte, von ihr vorgenommene Textauslassungen, sondern ihr Bedürfnis, optisch wahrnehmbar zu machen, daß die Protokolle an zahlreichen Stellen unvollständig sind. Da jedoch in den Klarteztübertragungen von Karl Schubert keine Pünktchen auftreten und diese im allgemeinen Auslassungen anzeigen, ist für die vorliegende Ausgabe davon Abstand genommen worden. Hauptsächlich deshalb, um dem Mißverständnis vorzubeugen, daß irgendwelche Auslassungen vorgenommen worden seien.

Einige Textkorrekturen gegenüber der Ausgabe Marie Steiners vom Jahre 1947 gehen auf einen neuen Vergleich mit den Vorlagen von Karl Schubert zurück; ferner auf Kurznotizen von Dr. Karl Heyer, ebenfalls Teilnehmer an den Sitzun­gen des «Dreißigerkreises». Einfügungen in eckigen Klammern FI stammen vom

Herausgeber. H. W.

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Die ersten Stuttgarter Verhandlungen

am 16. und 17.Januar 1923

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Dienstag, 16. Januar: Erste Sitzung mit dem Siebenerkreis (Nachtsitzung) Mittwoch, 17. Januar: Zweite Sitzung mit dem Siebenerkreis (nachmittags)

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ERSTE SITZUNG MIT DEM SIEBENERKREIS

Dienstag, 16.Januar 1923 (Nachtsitzung)

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[Rudolf Steiner und Marie Steiner kommen abends in Stuttgart an und werden im Hause der Anthroposophischen Gesellschaft, Landhausstraße 70, von dem «Sie­benerkreis« empfangen. Von der ersten noch am gleichen Abend die ganze Nacht hindurch startgefundenen Sitzung liegt kein Protokoll vor. Marie Steiner berichtet in ihrer Ausgabe von 1947 aus der Erinnerung mit der Bemerkung: «Es ist etwas mißlich, sich nach Jahrzehnten nur auf das eigene Gedächtnis zu verlassen, man müßte an dem der anderen kontrollieren können»:]

Zweck dieser ersten Sitzung war gewesen: darzustellen die Unstim­migkeiten, die sich ergeben hatten zwischen dem Vorstand und den andern führenden Persönlichkeiten, besonders aber die Klagen der Jugend zu untersuchen. Dr. Steiner wies das sehr persönlich gefärbte Gerede über Dr. Ungers Unzulänglichkeiten recht ungehalten zurück und wollte wissen, warum sein Auftrag nicht erfüllt worden sei und der Vorstand nicht Antwort gegeben habe.* Keiner wußte etwas davon. Uehli hatte geschwiegen, die Sache einfach vergessen.** Nun

* Siehe hierzu Rudolf Steiner im Vortrag Dornach, 9. Februar 1923 (in diesem Band auf Seite 113)

** Uehli äußerte sich dazu in einem Brief vom 16.Januar 1948 an Emil Bock so: «Es ist nicht wahr, daß ich den mir damals von Dr. Steiner erteilten Auftrag habe. [Dies bezieht sich auf Marie Steiners Formulierung in ihrem Rückblick, vgl. Seite 21 dieses Bandes.] Wahr ist, daß ich mich außerstande sehen mußte, ihn auszuführen. Was sich dann Januar-Februar 1923 im Dreißigerkreis zugetragen hat, daß nicht einer, auch ich nicht, in der Lage war, auch nur einen Teil von dem zu leisten, was Dr. Steiner von dem Dreißigerkreii erwartete und forderte, das habe ich vorher in wochenlanger Qual und Bedrückung durchgemacht, und darum habe ich den Auftrag in der mir erteilten Form nicht ausführen können.... In dem tragischen Zwiespalt, in welchem ich mich damals befand, habe ich als Auiweg den Siebenerkreis gebildet, um die Lage der Gesellschaft mit Dr. Steiner zu besprechen.»

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wurde es mehr als ernst. Dr. Steiner hielt nicht mit seiner Entrüstung zurück. Er verlangte energisch, daß sich der Vorstand über seine Aufgaben klar werde, die Lage überprüfe und bei der nächsten Sitzung ihm die erwarteten Vorschläge mache, die bis dahin ausgearbeitet werden müßten. Die Nacht müßte dazu verwendet werden.

An anderer Stelle berichtet Marie Steiner über diese Sitzung so:

Die erste der intimen Sitzungen war von ausschlaggebender Bedeu­tung. Sie war gefordert worden von einer Gruppe, die sich der «Sie­benerkreis» nannte, und sollte die Absägung Dr. Ungers zum Ziele haben. Dr. Steiner bat um die Liste der Namen und fragte erstaunt:

Aber der Name Dr. Ungers fehlt ja! - Der wäre nicht eingeladen, antwortete man. Sie werden doch nicht Klagen gegen Dr. Unger vor­bringen, antwortete Dr. Steiner empört, ohne ihm Gelegenheit zu geben, darauf zu anworten?! Beschämt nahm man das zur Kenntnis. Herr Uehli war der erste Redner; er sprach lange, aber inhaltslos. Das Schwerwiegendste, was er vorbrachte, war der Umstand, daß die Jugend nicht mit Dr. Unger arbeiten wolle; sie könne keine Beziehung zu ihm finden und wolle unter sich arbeiten als eigene Gesellschaft. Andere Klagen bestanden darin, daß Dr. Unger in die Zeitung blicke, wenn er mit den Leuten spräche, und ähnliches. Die ganze Sache hatte keinen realen Boden; man versank im Wesenlosen. Dr. Steiner schwieg. Ich wagte zu sagen: Ach, Herr Uehli, würden Sie nicht ihre Anklage noch einmal vorbringen? - Er tat es, und die ganze Angele­genheit zerfiel plötzlich wie eine aufgeplusterte Schaumblase. Aber Dr. Steiner machte seiner Empörung Luft: Für so etwas werde ich gerufen, für etwas, das auf Klatsch, Antipathien und Konkurrenzneid beruht!*

- - -

* Ergebnis dieser Nachtsitzung war der Rücktritt von Ernst Uehli aus dem Zentralvorstand.

#SE259-203

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ZWEITE SITZUNG MIT DEM SIEBENERKREIS

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und den neuen Teilnehmern : Carl Unger und den beiden Waldorflehrern Paul Baumann und Dr. Herbert Hahn. Es werden als neuer Vorstand vorgeschlagen :

Emil Leinhas, Dr. Hahn, Paul Baumann, Dr. Kolisko, der an die Stelle des aus dem Zentralvorstand zurückgetretenen Ernst Uehli tritt.

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Mittwoch, 17. Januar 1923 (nachmittags)*

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Die Sitzung beginnt mit einem Vorschlag, die künftige Zusammenstel­lung des Zentralvorstandes betreffend, aus dem Herr Uehli sich zu­rückgezogen hat. Der Siebenerausschuß ist durch drei Mitglieder er­weitert worden: Dr. Unger, Baumann und Dr. Hahn sind zu der Sitzung zugezogen worden. Wortführer ist Dr. Kolisko; er über­nimmt vorläufig im Zentralvorstand die Stelle des Herrn Uehli. Es wird davon gesprochen, daß die Pflege konkreterer Beziehungen zu der Jugend notwendig sei und daß Dr. Unger den Weg zu den Jungen nicht fände; ihre Art verbände sich nicht mit der seinen.

Zu den von den vier Herren mitgeteilten Vorschlägen und Be­schlüssen, nun Anthroposophie intensiver in den Mittelpunkt der Arbeit treten zu lassen, bemerkt Dr. Steiner, daß dies der einzige Weg sei, um mit der Opposition in den Kreisen der Jugend fertig zu werden. Wenn auch die nach dieser Richtung hin tendenziös beein­flußte Jugend gefunden hätte, daß die Vorträge Dr. Ungers zu trocken seien, so dürfte das für ihn kein Grund sein, inaktiv zu werden; auch für den Zweig sei die Arbeit Dr. Ungers dringend notwendig.

Es wird von den Herren des weiteren darüber gesprochen, daß den Mitgliedern und den Zweigen in der Peripherie Informationen gege­ben werden sollten über die brennenden Fragen der Gesellschaft. Die Vertrauensleute der Zweige würden gebeten werden, zu den wichtigen Besprechungen demnächst nach Stuttgart zu kommen. Verständigung mit der religiösen Erneuerungsbewegung sollges ucht werden. Eineneue Einstellung gegenüber der Gegnerschaft ist als notwendig erkannt.

Dr. Stein: Wir wollen zusammen arbeiten. Ich glaube, daß auch Dr. Unger mit uns arbeiten kann.

Dr. Unger: Die nächstliegenden Aufgaben sind in diesen Vorschlägen zusammen­gefaßt. Worauf stützt sich das Vermuten, daß Vertrauen da sein wird?

* In Marie Steiners Ausgabe - aufgrund des Protokolls von Karl Schubert - mit «Kurz nach dem 8. Jan. 1923» bezeichnet. Das genaue Datum konnte erst jetzt erruiert werden.

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Dr. Steiner: Ich möchte eine Frage aufwerfen bezüglich der gemachten Vorschläge. Es kommt nicht darauf an, daß jetzt eine Anzahl von Persönlichkeiten die Dinge, die hier formuliert worden sind, im Kopfe haben und sie aussprechen; denn diese vier Wände hier hören ganz stumm zu! Es kann zunächst die Meinung sein, daß es außerordentlich gut gehen wird; man muß aber einen Anfang damit machen, einsehen zu wollen, ob das eine Realität ist. Von dem mangelnden Vertrauen ist ja auch viel gesprochen worden. Wie würden Sie sich das vorstellen, den Dreißigerkreis der in Stuttgart residierenden Persönlichkeiten Montag zusammenzurufen, um die fertigen Vorschläge vorzulegen? Würden Sie sich vorstellen können, was die Versammlung zu diesen Dingen für ein Gesicht machen würde? Können Sie sich lauter Einig­keit dabei vorstellen? Wie war es denn schon bei der ersten Sitzung des Auschusses der Sieben? - Man kann nicht behaupten, daß zum Bei­spiel Herr Uehli am vorigen Abend dabei war. Er war nicht in Wirk­lichkeit dabei. Er kam, um seine Ämter zur Verfügung zu stellen. Den Eindruck, daß Herr Uehli den Siebenerausschuß zu mir gebracht hat, habe ich auch nicht empfangen. Den Eindruck hatte ich nicht. Ich hatte wohl den Eindruck, daß Herr Uehli nur mitgeschleppt wurde. Wirklich, ich hatte nicht den Eindruck, daß Herr Uehli diesen Kreis zu mir gebracht hat. Diesen Glauben konnte ich nicht haben.

Es spricht zuerst Frau Marie Steiner. Dann äußern sich mehrere Personen über die Sachlage, so wie sie von ihnen gesehen wird.

Dr. Steiner: Diese Darstellung würde ein kleines Opiat sein. Wenn wir so beginnen, so ohne Klarheit, so fußen wir auf etwas, was nicht wahr ist. Wie hätte man darauf kommen sollen, daß Herr Uehli diesen Siebenerausschuß herbeigebracht hat. - Es ist so viel gesprochen wor­den von aktiver Energie, die nun erwacht sei durch das Bewußtwerden dessen, was innerhalb der ersten Sitzungen vor sich gegangen ist. Man konnte das nicht bei allen Anwesenden merken. Herr Uehli war nicht in Wirklichkeit dabei; man kann auch nicht behaupten, daß Herr Uehli dabei war, als die Ergebnisse des ersten Abends besprochen wurden.

Mehrere Personen schildern ihre Eindrücke und Vorsätze.

Dr. Steiner: Wenn jetzt etwas geschehen soll, so kommt es darauf an, daß dies gleichsam auf einem lebendigen Gerüst stehe. Die sich Aufraffenden

#SE259-205

müssen sagen : Bisher ist das, was notwendig ist für die ganze Gesellschaft, nicht geschehen, und wir müssen es jetzt machen. - Sonst genügt es nicht; Sie müssen davon durchdrungen sein, daß es weiter nicht so geht. Sogar in einem Zirkular muß es wirklich gesagt werden:

Es geht nicht so weiter. Alles muß begründet und substantiiert wer­den. Man muß sich ganz klar darüber sein: Will man den alten Vor­stand behalten, oder will man etwas Neues haben?

Nehmen wir dieses von Ihnen auf die Tagesordnung gebrachte Beispiel der «Religiösen Erneuerung». Diese «Religiöse Erneuerung» ist ein Geschehen. Eines Tages traten Dr. Rittelmeyer und Emil Bock auf und setzten diese Sache in die Welt. Ausgegangen ist das von den verschiedenen Versammlungen, die gehalten worden sind mit den prominenten Persönlichkeiten der religiösen Erneuerungsbewegung. Aus all diesen Versammlungen haben die führenden Persönlichkeiten ihre Konsequenzen gezogen. Bei all diesen Versammlungen war Herr Uehli dabei. Es lag nicht nahe, Herrn Leinhas dazu zu berufen, son­dern just Herrn Uehli. Er kennt ganz genau alles, um was es sich handelt. Die anderen Kursteilnehmer haben ihre Aktion begonnen, das Mitglied des Zentralvorstandes aber hat sich auf den kurulischen Stuhl gesetzt!* Daraus entstand der Brei, den Sie jetzt auskochen müssen.

* Uehli war nicht nur Mitglied des Zentralvorstandes, sondern auch Religionslehrer für den freien Religionsunterricht der Waldorfschule. Aufgrund dieser beiden Funktionen war er zu den Vortragskursen für die religiöse Erneuerungsbewegung zugezogen worden. Ru­dolf Steiner hatte es als selbsn>erständlich erwartet, daß die Gesellschaft durch den Zentralvorstand, respektive Uehli, entsprechend orientiert würde. Da dies nicht gesche­hen war, gab Rudolf Steiner in seinen zwei unmittelbar vor dem Brand des Goetheanum gehaltenen Vorträgen (30. und 31. Dezember 1922) selber diese Orientierung. Vom Zen­tralvorstand erschien dann nach dem Brand in den von ihm herausgegebenen «Mitteil'm­gen» (Nr. 2, Januar 1923) folgende Mitteilung:

«Das Auftreten der Bewegung zur religiösen Erneuerung hat in weite Kreise der Anthro­posophischen Gesellschaft Schwierigkeiten und Mißverständnisse getragen. Kurz vor Beginn ihres öffentlichen Wirkens hatten die drei Mitglieder des Zentralvorstandes der Anthroposophischen Gesellschaft [Dr. Carl Unger, Emil Leinhas, Ernst Uehli] in Dor­nach eine Unterredung mit den vier leitenden Persönlichkeiten der Bewegung zur religiö­sen Erneuerung [Friedrich Rittelmeyer, Emil Bock, Werner Johannes Klein, Gertrud Spörri] über das Zusammenarbeiten beider Bewegungen. Im Sinne dieser Besprechung hatte sich der Zentralvorstand entschlossen, eine kurze Darstellung der geschichtlichen Entstehung und der Aufgaben der Bewegung für religiöse Erneuerung den Mitgliedern an dieser Stelle zur Kenntnis zu bringen. Diese Darstellung sollte unmittelbar nach Abschluß der über Weihnachten und Neujahr stattfindenden Veranstaltungen in Dornach ausge­sandt werden. Das erschütternde Ereignis der Vernichtung des Goetheanums durch ein

#SE259-206

Es folgt eine weitere lebhafte Debatte. Dr. Steiner schließt sie ab mit folgenden

Worten:

Dr. Steiner: So würde es sich also darum handeln, daß wir Montag zusammenkommen mit dem Dreißigerkreis und mit Leuten, die Sie außerdem noch zuziehen wollen. Nicht wahr, der Dreißigerkreis ist zunächst die erste Peripherie. Es handelt sich jetzt darum festzustellen, wer noch da sein soll.

Es werden Namen genannt, und die Sitzung wird geschlossen.

#TI

Die zweiten Stuttgarter Verhandlungen

Montag, 22.Januar 1923

Montag, 22.Januar: Sitzung mit dem Siebenerkreis (nachmittags), kein Protokoll Zweigversammlung; kein Protokoll

Sitzung mit dem erweiterten Dreißigerkreis (Nachtsitzung)

SITZUNG MIT DEM ERWEITERTEN DREISSIGERKREIS

Stuttgart, 22. Januar 1923 (Nachtsitzung)

#TX

Vor der Sitzung hatte eine Zweigversammlung stattgefunden, in der Bericht erstattet wurde über die Dornacher Vorträge Rudolf Steiners vom 30. und 31. De­zember 1922 über die Stellung zur religiösen Erneuerungsbewegung. Dr. Carl Unger hatte Rudolf Steiners Ansprache vom 6.Januar (in diesem Band siehe Seite 73) referiert und erklärt, indem er von der Kritik gesprochen hatte, die an der Stuttgarter Arbeit geübt wird, daß er kein Hindernis für den Fortgang der anthro­posophischen Arbeit sein wolle. Eine Diskussion über die Möglichkeit, die Ursa­che der gerügten Unmethoden zu erkennen und zu bekämpfen, wurde auf den nächsten Zweigabend angesetzt.

Nun fand anschließend die von Rudolf Steiner gewünschte erweiterte Dreißi­gerkreissitzung mit ca. 60 Teilnehmern statt.

böswillig angelegtes Feuer ist unterdessen als furchtbarer Schmerz in alle Herzen gedrun­gen. Die letzten Vorträge, die Herr Dr. Steiner noch im Goetheanum gehalten hat, behandelten die Aufgaben der anthroposophischen Bewegung und Gesellschaft, und am 30. Dezember 1922, am Tage vor der Katastrophe, sprach Herr Dr. Steiner über die Bewegung zur religiösen Erneuerung; es soll im folgenden statt unserer Darstellung, die schon fertig vorlag, eine freie Wiedergabe dieses Vortrages stehen.«

#SE259-207

Dr. Steiner: Nach einer fast zehnjährigen Arbeit und nach ebenso langen Sorgen ist uns das Goetheanum zugrunde gegangen, und ich brauche Ihnen ja hier den Schmerz über diesen Untergang nicht zu schildern, schon aus dem Grunde, weil ja großer Schmerz nicht eigent­lich in Worten auszusprechen ist. Aber ein paar Worte möchte ich auch heute vor diesen Verhandlungen sprechen.

Es muß gesagt werden, daß mit der Absicht, das Goetheanum zu bauen, die Anthroposophische Gesellschaft, aus deren Mitte dieser Bau hervorgegangen ist, eine andere Gestalt angenommen hat, als sie früher hatte. Der Bau war ein Mittel, zur heutigen Welt im allgemeinen zu sprechen. Er war ein zunächst vor diese Welt tretender; und es mußte darauf gesehen werden, den Bau in solchen Formen aufzufüh­ren, daß tatsächlich durch diese Bauformen heute zur ganzen Welt gesprochen werden kann. Und das ist ja durch den Bau in einem gewissen Sinne geschehen. Damit war, ich möchte sagen, eigentlich erst die richtige Möglichkeit gegeben, heraus zureißen die anthroposo­phische Bewegung aus einem sektiererischen Wesen und ihr jene Bedeutung zu geben, von der ja nach dem Wesen der Sache seit ihrem Beginn immer wiederum gesprochen werden mußte.

Nun kann heute natürlich kaum ein richtiges Wort über die furcht­bare Dornacher Katastrophe zustande kommen, wenn nicht aus tiefe­ren Untergründen heraus über sie gesprochen wird. Das aber kann ja nicht sein. Es ist in der letzten Zeit ja fast ganz unmöglich geworden, daß innerhalb auch nur der engsten Kreise in der Anthroposophischen Gesellschaft irgend etwas von mir gesprochen wird, was uns nicht in sehr kurzer Zeit von den Gegnern in einer verkehrten Weise wieder entgegentönt. Über tiefere Angelegenheiten esoterisch zu sprechen ist ja heute deshalb unmöglich geworden, weil die Worte eben nicht innerhalb der Kreise bleiben, in denen sie gesprochen werden. Und so muß ich sagen, daß es ja - abgesehen davon, daß es in diesem gegen­wärtigen Augenblick nicht gut angeht, über die geistige Seite der Dornacher Katastrophe zu sprechen -, wahrscheinlich überhaupt nicht möglich sein wird, über diese geistige Seite zu sprechen. Es können sich verschiedene Leute mancherlei Gedanken machen, warum das so hat kommen können. Allein, diese Dinge muß ich eben, wie gesagt, leider unausgesprochen lassen.

Es tritt uns ja eine andere Seite dieses so unendlich schmerzlichen Ereignisses sofort entgegen. Und da wir uns durch den Schmerz nicht

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niederdrücken lassen dürfen, so geht uns zunächst diese andere Seite doch vor allen Dingen an. Das ist dasjenige, was, ich möchte sagen, von der Brandnacht an sogleich vorausgesetzt werden konnte; näm­lich die Art und Weise, wie uns das Echo der Welt, nachdem uns das Unglück getroffen hat, entgegentönt. Die Gegner benützen das Un­glück, um weitere Waffen für diese Gegnerschaft zu schmieden. Wir sehen aus dem Hohn und Spott, mit dern uns überall begegnet wird, etwas sich herausbilden wie die Spitzen neuer Angriffswaffen, die in der nächsten Zeit immer stärker werden sollen. Und wir müßten vor allen Dingen auf dasjenige sehen, was uns bevorsteht.

Deshalb mußte ich in Dornach betonen, und damit komme ich auf den Zweck unseres heutigen Zusammenseins, der sich mit der Zukunft befassen soll, daß es sich ja, wenn daran gedacht wird, irgend etwas wiederum in Dornach oder sonstwo aufzubauen - etwas Bestimmtes kann ja noch nicht gesagt werden -, was ein äußeres Wahrzeichen der anthroposophischen Bewegung sein kann, daß es sich darum handelt, die Anthroposophische Gesellschaft zu konsolidieren. Denn in einem gewissen Sinne fehlte dern Dornacher Bau, der laut zur ganzen Welt sprach, der Hintergrund der schützenden Anthroposophischen Ge­sellschaft. Die Anthroposophische Gesellschaft verfiel im Grunde genommen von dem Moment ab, wo man den Bau begann. Nicht daß die Zahl der Mitglieder eine geringere geworden war, aber gerade die Art der Ausbreitung in den letzten Jahren, die notwendig und erfreu­lich war, die hat der Sache selbst in einer außerordentlich starken Weise geschadet. Und der Bau hätte nötig gehabt, daß eine starke Anthroposophische Gesellschaft ihm zur Seite gestanden hätte.

Nun, meine lieben Freunde, dasjenige, was in dieser Beziehung zu sagen ist, haben schon kleinere Körperschaften während meiner bei­den Anwesenheiten gesagt, und es soll Gegenstand der heutigen Ver­handlungen sein. Ich selbst möchte nur vorausschicken, was von meiner Seite vorausgeschickt werden muß, damit von meiner Seite aus die heutige Zusammenkunft nicht unverständlich bleibt. Im Verlauf der Debatte, die ich nicht aufhalten möchte, soll dann nur das von mir gesagt werden, was schon seit längerer Zeit mir als schwere Sorge auf der Seele gelegen hat und was dazu geführt hat, daß ich bei meiner Anwesenheit hier im Dezember [am 10. Dezemberj ein Gespräch herbeiführte mit einem Mitglied des Zentralvorstandes. Dieses Ge­spräch beschäftigte sich im wesentlichen mit der Notwendigkeit, diejenigen

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Aufgaben in Angriff zu nehmen, welche der Anthroposophi­schen Gesellschaft aus ihrer Mitgliedschaft erwachsen sind. Nicht so sehr durch dasjenige, was ich selbst zu tun hatte. Es war notwendig geworden, darauf aufmerksam zu machen, daß gegenüber diesen Auf­gaben und gegenüber der Situation, die sich allmählich herausgebildet hatte, mir nur zwei Dinge [zu erklären] blieben, da ich nicht weiter zuschauen könnte. Zwei Dinge, von denen das eine war, daß ich Herrn Uehli als vor mir sitzenden Repräsentanten des Zentralvorstandes sagen mußte: Ich setze voraus, daß der Zentralvorstand sich in den allernächsten Tagen über die Anthroposophische Gesellschaft berät, damit er zunächst für sich selbst, verstärkt durch prominente Persön­lichkeiten hier, mir bei meiner [nächsten] Anwesenheit von sich aus seine Meinungen, Ansichten und Vorschläge entgegenbringe, die ich mir dann anhören werde, um zu sehen, ob aus der Mitte der Gesell­schaft heraus durch ihre bisherige Führung es möglich ist, wirklich diese Gesellschaft zu konsolidieren. Ich sagte also: Ich erwarte vom Zentralvorstand, daß er bei meiner [nächsten] Anwesenheit in Stutt­gart in solcher Weise mir entgegentritt, daß er mir seine Vorschläge unterbreitet. Sonst sähe ich mich gezwungen, den Zentralvorstand weiterhin zu ignorieren und mich direkt an die gesamte Mitgliedschaft zu wenden, indem ich versuchen würde, den Anfang zu einer Konso­lidierung der Gesellschaft zu machen. Ich würde es unendlich bedau­ern, wenn dieser Schritt notwendig wäre, deshalb schlage ich den anderen vor.

Ich mußte damals abreisen und erwartete die entsprechenden Kon­sequenzen dieser meiner Aufforderung. Nun, meine lieben Freunde, dann verging die Zeit mit den Vorbereitungen für alles, was in Dorn-ach stattfinden sollte : zu dem naturwissenschaftlichen Kursus, den Weihnachtsspielen, der Eurythmie. Im Laufe des Dezembers konnte ich nicht wiederum herüberkommen. Und dann kam die Katastrophe. Ein großer Teil der hiesigen Freunde war drüben in Dornach. Und das möchte ich nicht unterlassen zu erwähnen : In der Brandnacht hat, wie immer, wenn es darauf ankommt, das Nötige zu tun, die Mitglied­schaft nicht versagt, sondern sie hat so gewirkt, daß es jedem Ideal entspricht.

Nun erfuhr ich von seiten des Zentralvorstandes, daß als erster Schritt unternommen werden sollte, sich an die Mitglieder mit den Mitteilungen zu wenden, welche die Bewegung für religiöse Erneuerung

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betreffen. Es sollte dies ein erster Schritt sein, und weitere Schritte sollten folgen. Es war selbstverständlich, das verständlich zu finden, denn ich hatte ausdrücklich Stuttgart als den Ort bezeichnet, wo sich diese Dinge zugespitzt hatten. Und so war das in Ordnung.

Nun aber, nachdem die Katastrophe uns betroffen hatte, sollte auf Veranlassung des Zentralvorstandes eine Versammlung der Mitglieder stattfinden. Und ich wurde, kurz bevor die Versammlung beginnen sollte, gefragt [am 5.Januar in Dornach], was dabei geschehen solle. Ich antwortete: Wenn man in dieser Situation sprechen will, so muß man über die Konsolidierung der Gesellschaft sprechen. Herr Uehli sagte, das soll in Stuttgart im engeren Kreis geschehen. Ich setzte voraus, daß man nicht darüber sprechen kann, ohne daß man sich über das Wichtigste informiert hat.

Am nächsten Tage wurde die Versammlung gehalten [am 6. Januar in Dornach], und bei dieser Gelegenheit habe ich eine Ansprache gehalten, die Ihnen von Dr. Unger referiert worden ist [am 9. Januar in Stuttgart]. Dann kam ich vorige Woche an, und es war auf irgendeine Weise ein Kreis zustande gekommen, der mit mir am Dienstag der vorigen Woche [16.Januar] eine Nachtsitzung abhielt, in der die Dinge zum Ausdruck kamen, die Ihnen von den betreffenden Persön­lichkeiten mitgeteilt werden können. Und ich war im Grunde genom­men vor der Situation, daß dasjenige, um was ich den Zentralvorstand gebeten hatte, nicht geschehen war, daß mich aber eine freie Gruppe von führenden Persönlichkeiten erwartete und über die Konsolidie­rung der Gesellschaft verhandelt. Am nächsten Tage [17. Januar] wurde auch Dr. Unger hinzugezogen. Heute nachmittag bemerkte ich zu derselben Gruppe,* daß es sich nicht darum handeln könne, irgend etwas am grünen Tisch zu beschließen, sondern daß diejenigen, die etwas wollen, wurzeln müßten in etwas Realem, in den wirklichen Intentionen der Mitgliedschaft. Und ich bat deshalb, den nächst weite­ren Umkreis zu berufen, damit nicht bloß darüber geredet wird, was schön wäre, sondern damit sich zeigen könne, ob von alledem [was geredet wird] etwas in den Menschen der Gesellschaft wirklich wurzelt.

Ich hoffe von dem heutigen Abend, daß sowohl von seiten derjeni­gen, die bisher die Initiative ergriffen haben, wie auch von seiten der anderen eine ehrliche Aussprache stattfindet. Es ist unmöglich, sich

* Siebenerkreis. Von dieser Sitzung liegen keine Notizen vor.

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damit zu begnügen, sich vorzumachen : Es wird schon gehen. - Son­dern es handelt sich darum, daß tatsächlich alle die Dinge zum Vor­schein kommen, die der Zersplitterung der Gesellschaft zugrunde liegen, daß zum Vorschein kommt, in welcher Weise man in der Zukunft arbeiten will, damit die Gesellschaft bestehen [bleiben] kann. Denn so, wie es bisher war, kann sie nicht bestehen [bleiben]. Es würde nichts nützen, einen Bau aufzuführen, denn so, wie die Dinge jetzt liegen, würde die Gesellschaft, ehe er fertig wäre, nicht mehr bestehen, sie würde in ihre Atome auseinandergefallen sein. Es handelt sich darum, daß in der bestimmtesten Weise gesprochen wird, damit gesehen werden kann, inwiefern die Gesellschaft aus ihrem eigenen Schoße fortgeführt werden kann.

Emil Leinhas: Es sind Mitglieder aus den verschiedensten Schichten der Gesell­schaft für heute abend zusammengerufen worden, um über die Lage der Gesell­schaft zu beraten. Ein engerer Kreis hat die notwendigen Fragen in Fühlung mit mir, mit Dr. Unger und Herrn Uehli besprochen. Es ist da eine Entschließung ausgearbeitet worden, die heute abend vorgelesen werden wird.

Eugen Kolisko: Es entstand durch eine Ansprache von Dr. Steiner [6.Januar] die Aufgabe für die Mitglieder, sich zu kümmern um die Führung der Gesellschaft und um die Art, wie diese Führung seit 1919 gehandhabt wurde. Es ist eine starke Kritik am Zentralvorstand vorhanden und viel Mißtrauen. Es ist keine Verständi­gung mit der Jugend da und auch keine harmonische Zusammenarbeit innerhalb des Zentralvorstandes.

Es werden Vorschläge gemacht zur Neugestaltung des anthioposophischen Le­bens durch Schaffung einer Vertrauensorganisation. Eine Erklärung an die Ge­samtmitgliedschaft soll gegeben werden. Dr. Unger ist bereit zurückzutreten. Herr Uehli hat sein Amt niedergelegt. Es werden vorgeschlagen die Herren Leinhas, Hahn, Baumann und Kolisko.

Dr. W J. Stein erklärt, daß er und seine Freunde bereit sind mitzuarbeiten, wie sie sich gegenseitig versprochen haben. Es würde sehr gut sein, wenn sich herausstel­len würde, daß in sehr weiten Kreisen der Wille zur Mitarbeit vorhanden ist.

Paul Baumann: Die Person von Kolisko ist mir dafür Bürge, daß keine Clique emporsteigt.

Mehrere Redner sprechen sich für Eugen Kolisko aus; einige bitten Carl Unger, im Vorstand zu bleiben. Es entsteht ein Hin und Her verschiedenartigster Mei­nungen, und es erfolgen noch andere Vorschläge für eine Vorstandserweiterung.

Paul Baumann: Dr. Unger ist belastet durch die Leute, die ihn besonders stützen wollen, die seine Clique sind.

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Dr. Unger erklärt, daß er nicht im Wege sein wolle, wenn ein anderer Kreis die Sache machen wolle. Erst wenn diesem dies nicht gelänge, würde er die Verpflich­Lung fühlen, die Sache wieder in die Hand zu nehmen. Es sei die Probe zu machen, ob der Kreis Vertrauen finde.

Emil Leinhas erinnert an Dr. Steiners Ausspruch Herrn Uehli gegenüber, daß er genötigt sein würde, wenn nichts geschähe. sich in einem Rundschreiben direkt an die Mitglieder zu wenden.

José del Monte: Die vorgeschlagenen Herren außer Herrn Leinhas sind sehr jung in der Gesellschaft, sie würden nicht viel Vertrauen bei den älteren Mitgliedern finden. Dr. Unger sollte doch dabei sein.

Es werden noch einige andere Vorschläge gemacht.

Dr. Steiner: Aus dieser heutigen Versammlung müßte, ganz abgesehen von Personenfragen, hervorgehen, in welcher Weise sich die Dinge in der Zukunft aus dem Schoß der Gesellschaft selbst ändern werden. Es ist heute wiederholt auf einen Kreis hingewiesen worden, der hier in Stuttgart als ein erweiterter Kreis für die verschiedenen anthroposo­phischen Angelegenheiten Sorge getragen hat. Ich habe in diesem Kreis verschiedenes vorgebracht, von dem man sagen kann, die Dinge können nicht gleich bis zum letzten gelöst werden. Man könnte sich interessieren dafür und wirklich - das soll alles sine ira gesagt wer­den-: Ein einziges Mal ist mein Wort gehört worden, wenn ich in diesem Kreise davon gesprochen habe, daß es nötig ist, für die Ord­nung der Angelegenheiten drüben in der Schweiz einzutreten, indem nämlich seither Herr Leinhas sich in intensiver Weise der damals gestellten Forderung hingegeben hat. Dadurch ist für den Zentralvor­stand eine Schwierigkeit eingetreten. Ich konnte nicht wünschen, daß Herr Leinhas sich den Geschäften des Zentralvorstandes widmet. Er hatte wirklich für den ganzen Menschen vollständig genug zu tun.

Mit dieser Sache steht zugleich in Verbindung, daß nicht auch für den «Kommenden Tag» durch ein Nichtweiterfunktionieren die Un­methode einträte, die Sache so zu machen, daß man sie anfängt und dann verläßt. Daß Herr Leinhas eine führende Persönlichkeit sein muß, ergibt sich aus der Natur der Sache. Ich betone dies ausdrücklich, daß dies der einzige Fall war, wo man sich interessiert hat für die Dinge, die ich vorgebracht habe. Es ist eine große Merkwürdigkeit, daß ich von einer so außerordentlich wichtigen Angelegenheit gespro­chen habe und von zwei Seiten behauptet wird, die Dinge seien nicht vorgekommen. Also, daß das nicht so fortgehen kann, ist selbstverständlich

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und beweist, wie sehr es eine dringende Notwendigkeit war, das auszusprechen.

Die Dinge, die hier besprochen worden sind, sind nicht gehört worden. Die gewichtigsten Angelegenheiten fanden nicht das gering­ste Echo. Es kann so nicht weitergehen. Ich betone eines: Schließlich sind ja vom Jahre 1901 bis 1918 die Dinge in der Anthroposophischen Gesellschaft nicht leichtsinnig gemacht worden. Sie sind entstanden; und so kann man auch sagen, daß der Zentralvorstand aus der Historie entstanden ist. Er hat dies Stück Geschichte hinter sich. Er ist mit alledem belastet, was wir heute abend gehört haben. Das eine müssen Sie bedenken: Es ist doch ganz unmöglich, daß man bloß aus abstrak­ten Diskussionen heraus eine Änderung herbeiführen kann. Es müs­sen positive Willensimpulse hervortreten. Nach dem, was heute abend gesprochen worden ist, muß ich sagen: Ich habe erwartet, daß man irgendwie etwas meint über die Sache, nicht daß man allerlei Vor­schläge macht und dergleichen. Selbstverständlich ist es unmöglich, daß - wie vorgeschlagen worden ist - drei Waldorflehrer eine neue Führerschaft bilden. Wenn aus diesem Ton heraus geredet wird, kom­men wir nicht zu einer neuen Führung. Es muß irgendwie etwas ersichtlich sein nach der Richtung hin, daß gearbeitet werden soll aus einem anderen Impuls heraus. Solange das nicht der Fall ist, ist es nicht möglich, die Gesellschaft auszuliefern an eine neue Führung. Etwas, was sich vom Jahre 1901 bis 1918 ergeben hat und was nicht entwach­sen war der Ära des Projektemachens, das läßt sich nicht, indem man das Projektemachen fortsetzt, auf einen grünen Zweig bringen. Das muß mit Ernst aufgefaßt werden. Wenn dieser Ernst heute abend nicht zutage tritt, kann diese Diskussion nicht zu einem Resultat führen. Die Majorität hat geschwiegen, um hinterher malkontent [=unzufrieden, mißvergnügt] zu werden. Wenn man ein paar Worte sagt, so ist damit nicht gedient. Es handelt sich darum, daß wir hier zusammengekom­men sind, damit die Dinge, aus denen ein neuer Impuls entsteht, gehört werden können. Zum bloßen Sitzen ist keiner gerufen worden, und es muß jeder eine Meinung haben, die zum Impuls werden kann. Wenn die Diskussion in dem Fahrwasser sich weiterbewegt, in dem sie sich bis jetzt bewegt hat, kommen wir nicht weiter. Alte Mitglieder, die zu solchen gewichtigen Versammlungen bloß als Beisitzer kom­men, zeigen kein Interesse am Fortgang der anthroposophischen Be­wegung.

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Es sprechen eine große Anzahl von Mitgliedern.

Adolf Arenson: Es wäre schon immer Gelegenheit gewesen, Vertrauen zu haben und Initiativen zu ergreifen.

Frl. Waller: Es wäre zu erwägen, ob nicht etwas Besseres herauskäme, wenn Dr. Steiner seinen Weg allein weiterginge.

Eine Reihe anderer Persönlichkeiten äußern sich.

Dr. Noll: Die Konsolidierung ist verpaßt worden. Es wird alles verflattern, wenn Dr. Steiner nicht mit den Zweigen in Verbindung tritt.

Es äußern sich Dr. Krüger, die Herren Ruhtenberg, Kühn, Leinhas.

Dr. Steiner: Ich weiß nicht, was Dr. Krüger mit der «Abkapselung» gemeint hat. Ich glaube, daß er darunter nur das «Stuttgarter System» verstehen kann. Ich will das «Stuttgarter System» an zwei Beispielen illustrieren. Es ist jetzt schon lange her. Wenn es auch an Orten, wo das vorgekommen ist, nicht mehr vorkommt, so kommt es doch in anderer Form vor. Es handelt sich darum, daß jemand mit jemandem in der Champignystraße 17 etwas zu besprechen hatte. Der eine war in seinem Amt in der dritten Etage, der andere zu ebener Erde. Der betreffende Herr in der dritten Etage hat sich mit dieser Mitteilung an den andern in der Weise gewendet, daß er einen Brief in die Schreibma­schine diktiert hat und diesen Brief kuvertieren ließ. Der Brief ist liegengeblieben bis Montag früh; er wurde Dienstag zugetellt.

Ich habe mit Herrn Uehli am 10. Dezember gesprochen. Herr Uehli ist als Mitglied des Zentralvorstandes Kollege von Dr. Unger; die beiden Herren besorgen den Zentralvorstand. Diese wichtige Mit­teilung wurde in nur mangelhafter Form am 24. Dezember wieder besprochen [und vor allem ohne Dr. Unger]. Ich frage mich: Ist dies dadurch so untergetaucht, daß sich die beiden Herren nicht bespro­chen haben? Das sind die Dinge, die in Stuttgart passieren und die dahin führen, daß man von einer Bürokratisierung spricht. Es treten einem einzelne, verlaufene Menschen entgegen. Das ist das Stuttgarter Unglück, das ist die Abkapselung eines jeden von jedem. Wir müssen in den heißen Brei hineintippen. Versuchen Sie sich die Frage zu beantworten: Wie kommt der einzelne an den anderen heran? - Ich kann nicht glauben, daß aus Diskussionen irgend etwas Segensreiches herauswachsen kann.

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Es sprechen für den neuen Vorstandsvorschlag [Emil Leinhas und die drei Wal­dorflehrer Dr. Herbert Hahn, Paul Baumann, Dr. Eugen Kolisko]: Frl. Dr. Mel­linger, Dr. Palmer, Jürgen von Grone, Herr Kieser, Frl. Völker, Dr. Streicher, Herr Benkendoerfer.

Dr. Steiner: Derjenige, der sich das vorstellen kann, soll sich vorstel­len, was es bedeutet: drei Waldorflehrer müssen die Führung überneh­men. Das geht nicht von seiten der Anthroposophischen Gesellschaft. Es geht auch nicht von seiten der Waldorfschule. Die Waldorfschule, die sorgfältig als eine Nicht-Weltanschauungsschule gehalten werden soll, hat allen Grund, keinen einzigen Lehrer in den Vorstand zu schicken. Es ist eine schmerzliche Tatsache, daß just nur Waldorfleh­rern ein Licht aufgegangen ist. Dagegen habe ich nicht bemerkt, daß Herr Uehli im Komitee real drinnen war. Der Kreis, der mir entgegen­getreten ist, bestand lediglich aus Waldorflehrern. Es ist ein schmerzli­ches Ereignis, daß nur denen ein Zündholz aufgegangen ist in ihrem Gehirn. Denen ist aus ihrem eigenen Vermögen die Sache aufgegan­gen. Wenn ein Waldorflehrer im Vorstand darinnen ist, so ist das schon viel. Aber so, wie Sie den Vorstand vorschlagen, kann er nicht sein. Mitarbeiten kann ein weiterer Kreis. Nun also : Es ist [nicht] wünschenswert, daß möglichst viele Waldorflehrer darin sind. Sobald man diesen Vorschlag macht, bezeugt man, daß man die Situation nicht richtig beurteilt. Es herrscht ja nur Verwirrung. Die Tatsache, daß es nur Waldorflehrer sind, ist ein Beweis für die Stuttgarter Abkapselung. Die Waldorfschule sollte keine Clique sein; sie ist eine Körperschaft. Es stecken hier diejenigen die Köpfe zusammen, die in denselben Raum hineingebannt sind. Wenn in Stuttgart so gearbeitet wird, so kommt nie etwas zustande. Ich bin durchdrungen davon, daß viele von denen, die hergekommen sind, draußen gut arbeiten. Aber in Stuttgart werden sie dann etwas Besonderes. Das Aktenmachen muß von innen heraus überwunden werden. Eine gewisse Regierung riß schon ein; man stellte sich vor, man könne regieren. Das trat schon 1919 auf, wo man Dinge, die bestimmt waren, mit dem ganzen Ernst genommen zu werden, in Form der «Gschaftlhuberei» machte. Stu­dieren Sie, wie sich diese Dinge entwickelt haben, und betrachten Sie nur, was da plötzlich für ein Getue auftrat. Manches ist zum Verzwei­feln gewesen. Und die Früchte zeigen sich nun. Gerade seit 1919 hat uns das «Stuttgarter System» ins Unglück hineingefahren durch einen gewissen Mangel an Ernst bei den Dingen, die nach und nach unternommen

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worden sind. Dieser «Bund für freies Geistesleben» ist nur ein Beispiel dafür. Er besteht überhaupt aus nichts als aus einem Stück Papier, worauf zwölf Namen stehen.

Es ist die Frage, ob nicht gleich heute die Einberufung der Ver­sammlung zu erwägen wäre.* Es ist die Fühlung von Mensch zu Mensch so verlorengegangen, daß diese Frage zu erwägen wäre: ob nicht zur Wiederbelebung dieser Fühlung eine wirkliche Versamm­lung einberufen werden müßte, in der zutage treten könnte, was man denkt und will. Es fragt sich, ob das weiter so geht, daß man der Gesellschaft einfach diktiert. Ob sich nicht die neue Führung verstän­digen muß mit denen, die da kommen. Wenn ich bedenke, daß die Sache hier noch so unreif war, daß ich heute nachmittag bitten mußte, diesen Kreis zusammenzuberufen, weil man nicht zwischen vier Wän­den sagen kann: Wir machen vier Leute zum neuen Vorstand. Das Echo war voll von gutgemeinten konventionellen Aussagen, aber es war weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin dezidiert. Es war der Ausdruck guter Absichten, aber es war nicht der Ausdruck des starken Willens.

Solche Dinge, wie ich sie geäußert habe, wenn ich auch den Mitwir­kenden damit nichts Schlechtes nachsagen möchte, solche Dinge sind durchaus real. Ich bin absolut in der Lage, sagen zu können: Hier in Stuttgart ist eine Unsumme der besten Talente. Das Unglück ist, daß die Menschen ihre Talente nicht in entsprechender Weise anwenden wollen. Am Können fehlt es nicht. Erleuchtete Geister sind hier. Wenn ich versuchte, auf Leistungen hinzuweisen, so ist das für viele ein Grund, diese Leistungen fast totzutreten. Das ist die innere Oppo­sition. Ich möchte einmal wissen, wer in der Lage ist zu sagen, daß Dr. Unger nicht die allerhöchsten Fähigkeiten hätte. Gegen das Kön­nen ist nichts einzuwenden. Der Wille muß gefunden werden! Nicht mit Donnerworten ist es getan, sondern mit dem Willensinhalt. Man muß anfangen, die Dinge zu studieren.

Ein anderes Beispiel ist dies: Es geschieht alles für die religiöse Erneuerungsbewegung. Herr Uehli ist dabei. Und nachdem in Dornach am 17. September die Sache fertig ist,** geht er nicht nach Stuttgart,

* Vermutlich war bereits von der Absicht einer allgemeinen Mitgliederversammlung ge­sprochen worden, die dann Ende Februar als Delegiertenversammlung realisiert wurde.

** Am 17. September1922 war der Kreis der Urpriester begründet worden. Ernst Uehli als Mitglied des Zentralvorstandes war von Rudolf Steiner zugelassen worden.

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um die richtigen Maßnahmen zu treffen unter der Vorausset­zung, daß etwas Wichtiges dadurch geschaffen worden ist, sondern er setzt sich auf seinen kurulischen Stuhl und tut nichts. Es wird dann Ende Dezember furchtbar spät ein Kind geboren.» Vor dem wird heute gestanden. Das wird vielen Leuten, die diese oder jene Stellung eingenommen haben, Seelenschmerzen bereiten. - Und weiter: Es macht gar nichts aus, daß man einen Titel trägt, sondern, daß man etwas tut. Es ist vieles versäumt worden. Es ist das keine Zeitfrage, sondern eine Interessen- und Unterscheidungsfrage. Man muß den Willen haben, die Dinge auf ihre Wichtigkeit, auf ihre Bedeutung oder Unbedeutung hin anzuschauen. Eine große Resonanz wäre notwen­dig. Diese Befestigung darf nicht auf bürokratische Weise herbeige­führt werden, sondern auf sachlich-menschliche Weise.

Emil Leinhas spricht.

Dr. Steiner: Vielleicht wird es doch draußen jemandem einfallen, auch die Ursachen dieser Dinge ins Auge zu fassen; ohne das kommt man nicht weiter. Es ist eine geistige Bewegung. Man muß zurückgehen auf die geistigen Ursachen der Dinge. Nicht wahr, jetzt kann man mit Recht furchtbar erstaunt sein über die Erfolge der religiösen Erneue­rungsbewegung. Man stutzt plötzlich, daß die Leute so viel Anklang finden. Aber man geht nicht auf die Ursachen zurück, darauf, wie sich das Ganze entwickelt hat, wie diese religiöse Erneuerungsbewegung entstanden ist. Wenn diese Methoden so weitergehen, wird die An­throposophische Gesellschaft dastehen wie ein gerupftes Huhn, weil ihr alle Federn ausgerupft werden. Sie mag noch den ursprünglichen Saft haben.-- Die Vorträge werden eingesperrt; und dann kommen die anderen zu mir [und wollen sie lesen], und ich muß sagen, die haben sie eingesperrt. So weit kriegen Sie die Sache. Nun hat sich diese [religiöse] Erneuerungsbewegung gebildet. Denken Sie, wenn Sie in der Anthroposophischen Gesellschaft die Kraft gehabt hätten, sie zu absorbieren! Dr. Rittelmeyer und Emil Bock sind aber weggegangen [von der Gesellschaft].

Es war eine gute Sache, daß hier in Stuttgart die «Bewegung für Dreigliederung» betrieben wurde. Wie ist sie betrieben worden? Es ist ein Büro gegründet worden. Was waren die Ortsgruppen? Die Zweige der Anthroposophischen Gesellschaft. Die Orts gruppen hat man ruiniert

* Siebe unter Hinweise.

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durch den Stuttgarter Bürokratismus. Der Bürokratismus der Dreigliederungsbewegung hat von Stuttgart aus direkt die Zweige untergraben. Wenn jetzt die religiöse Erneuerung sich der Zweige bemächtigt, so tut sie nichts anderes, als was die Dreigliederungsbewe­gung auch getan hat. Ich muß gestehen, daß ich mich mit einem gewissen Schrecken daran erinnere, wie sich hier diese Bewegung inauguriert hat. Neues hat die Dreigliederungsbewegung nicht ge­macht. Man erinnere sich daran, wie sich die Dreigliederungsbewe­gung mit nicht geringen Posaunen hier festgesetzt hat. Es geht nicht weiter, wenn nicht jemand auftritt und sagt : Wir wollen gründlich Kehraus machen mit den Methoden von 1919. - Hier handelt es sich darum, daß man diese Dinge einsieht: warum man zum Beispiel einen Brief schreibt; und warum durch vierzehn Tage hindurch die Spitzen der «Behörden» nicht miteinander reden. Wenn das nicht anders wird, so geht es nicht weiter. Es wird nicht anders, wenn Sie nicht von diesem Gesichtspunkt aus den Dingen real entgegentreten und die Sache beim richtigen Namen nennen. Durch das, was bis jetzt gesche­hen ist, wird es nicht anders. Darauf kommt es an, daß man aus einem andern Ton heraus spricht und handelt, und zwar schnell und rasch, daß nicht alles wieder in den Wind geschlagen wird, was ich gesagt habe. Ich wußte überhaupt nicht, warum ich hier erscheinen sollte;* meine Worte wurden in den Wind geschlagen. Mit Ausnahme des einzigen Falles, der in ausgezeichneter Weise erledigt worden ist, war es so, daß man mir begreiflich machte: «Mach' ja bloß nichts!» Es ist nur der Ernst der Situation, aus dem heraus ich die Notwendigkeit habe, so zu sprechen.

Ich möchte die Empfindung hervorrufen für dasjenige, was not­wendig ist. Ich will wahrhaftig nicht irgend jemandem eine Lektion erteilen. Man kann heute nicht anders, als auf den Ernst der Situation aufmerksam machen. Wenn sich die Anthroposophische Gesellschaft so weiter verhält, verkaufen Sie in fünf Jahren kein einziges anthropo­sophisches Buch mehr. Die Anthroposophische Gesellschaft hat sich zu einem argen Hemmschuh entwickelt. Da muß eine vollständige Umkehr stattfinden.

- - -

* «Mit der Bitte um Hilfe wandte man sich an R. Steiner.» Aus Marie Steiner» Ennnerungs­notizen der ersten Siebenersitzung.

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Reaktion auf die Versammlung vom 22. Januar 1923 von seiten eines Mitgliedes

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ZWEI BRIEFE VON LIA STAHLBUSCH AN RUDOLF STEINER

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Tiefverehrter Herr Doktor! Stuttgart, 23.1.23

Ich danke es dem Schicksal, das mich teilnehmen ließ an der gestrigen Sitzung und mich Einblicke tun ließ in Dinge, die man wohl mitempfand, aber nicht in ihrer Realität kannte.

Lange schon empfinde ich die Notwendigkeit einer Erneuerung in der Anthro­posophischen Gesellschaft, weiß ich, daß die Eiseskälte, welche darin herrscht in dem Verhältnis von Mensch zu Mensch, ein Ausfluß ist falscher Einstellung, die Zerstückelung zeitigt und die nicht den Kämpfen von draußen gewachsen sein kann. Hätten wir nur in einem kleinen Teile Soziales gelebt, es wären viele Angriffe und vielleicht auch das Schlimmste zu Neujahr unmöglich geworden. So zwang es mich gestern, zum Ausdruck zu bringen, daß wir nicht berechtigt sind, Anklagen dem Vorstand gegenüber zu erheben. Ich meine, dies sei unter der Wucht der Erkenntnisse und Tatsachen unmöglich und dürfte nur allein von seiten des Herrn Doktor geschehen. Der gestrige Abend hätte vielleicht bessere Früchte zeitigen können, wenn wir aufnehmend in uns das, was der Herr Doktor uns über die Persönlichkeiten des Vorstandes und ihre Fehler zu sagen hatte, wir unsererseits uns mit Vorschlägen zur Konsolidierung der Gesellschaft beschäftigt und ausgesprochen hätten. Ich mußte mich fragen, ob es gut war, sogleich die drei Persönlichkeiten zu nennen, die für die Neuwahl aufgestellt waren - ob es nicht besser gewesen wäre, zu unbefangener Neuwahl in dem verhältnismäßig kleinen Kreise aufzufordern ohne eine sofortige Herausstellung bestimmter Persönlich­keiten, wodurch sogleich in eine Stellungnahme hineingedrängt wurde. Mein sofortiges Empfinden, daß nicht drei Waldorflehrer an der Spitze der Gesellschaft stehen könnten, wurde durch Herrn Doktor bestätigt. Der Kreis, aus dem diese Vorschläge erwachsen sind, hat bei allem guten Wollen aber doch bewiesen, daß auch ihre eventuelle Leitung einer Ergänzung bedürfen werde. Diese Erwägung drängte mir wiederum die Einsicht auf, wie schwer es ist, den richtigen Vorstand zu finden, weil wir wohl alle nur mehr oder weniger Teilkräfte darstellen, die in der Ergänzung erst ein Geeignetes werden können. So meinte ich, daß eine Kraft, wie Herr Dr. Unger, dessen klares und entschiedenes Vertreten, das bei den letzten bedeutsamen Anlässen sich uns wiederum darlebte, schwer zu ersetzen sein wird, und ich wähnte, daß, wenn statt Herrn Uehli eine glücklichere Ergän­zung gewählt würde, der von uns allen gewiß bitter empfundene Bürokratismus

zu beseitigen wäre. So bat ich um die Wiederwahl des Herrn Dr. Unger. Auch wünschte ich einzutreten für die Wahl einer Frau in den Vorstand, weil ich glaube, daß die Frauen eine bestimmte Aufgabe in der Gesellschaft zu erfüllen haben und eine Vertreterin im Vorstand notwendig wäre. - Ich wollte dies alles gestern einbringen, es zeigte sich aber, daß ich nicht sprechen konnte. Gestatten Sie mir,

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tiefverehrter Herr Doktor, es heute zu tun, auf diesem Wege. Nicht weil ich das Gesagte für wichtig halte, sondern um der Klärung willen des gestern von mir Vorgebrachten.

Darf ich noch einige Worte bezüglich der religiösen Erneuerung sagen. Ich möchte gewiß nicht deuteln daran, daß den Vorstand eine Schuld an der Verwir­rung unter den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft trifft. Die grö­ßere Verantwortlichkeit aber hatte wohl ein jedes Mitglied für sich selbst. Denn Herr Dr. Unger hatte dieses Verantwortlichkeitsgefühl gleich zu Anfang des Heraustretens der religiösen Erneuerung schon berührt. So muß ich mir als Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft sagen: Wenn der Herr Doktor in dieser Angelegenheit Schonung walten läßt gegenüber uns Mitgliedern der An­throposophischen Gesellschaft, so ist diese Schonung belastender als die Anklage gegenüber der Leitung unserer Gesellschaft. Dieses Geschontwerden ist ein Be­weis für unsere Unreife. Viele anthroposophische Freunde glaubten, in der reli­giösen Erneuerung durch die Kulthandlung Esoterik zu bekommen - die Sehn­sucht hiernach ist groß. Zu dieser Sehnsucht bekenne auch ich mich, obgleich ich weiß, daß Esoterik aufzufinden wäre und nur meine Schwäche sie für mich nicht auffinden läßt.

Ach, tief verehrter Herr Doktor, Enthusiasmus ist da, aber soviel anderes fehlt, um uns geeignet zu machen, und es gehört zu den bittersten Leiden, sich so wie gestern ungeeignet zu finden, wenn des Herrn Doktors Ruf an uns ergeht. - Das Herz ist übervoll, aber die Hände, die Taten tun sollen, sind leer. - Aber ich will! -

In tiefer Verehrung Lia Stahlbusch

Tief verehrter Herr Doktor! Stuttgart, 4.2.23

Schon in der Nachtsitzung am 22. Januar lebten in mir die Einsicht und der Wunsch, der Herr Doktor möchte die Persönlichkeiten für den Zentralvorstand wählen - aus der Notwendigkeit heraus. Ich glaubte damals eine diesbezügliche Bitte nicht äußern zu dürfen, weil der Herr Doktor uns aufgerufen hatte. Nun haben wir unsere Unfähigkeit durch die Tage hindurch bewiesen - soweit ich es überschauen und empfinden kann -; und es drängt mich, die Bitte auszusprechen, zu der mich die Fühlungnahme mit einer verehrten Persönlichkeit in den allerletz­ten Tagen noch ermutigt : Bitte - tief verehrter Herr Doktor - treffen Sie die Wahl ganz ohne uns. - Sie sprachen es aus, daß die geeigneten Persönlichkeiten oder Kräfte unter uns sind.

So traurig die Beweise unseres Unvermögens und Versagens - die Wahl betreffend - sind, so schwer dies auf mir lastet, ich empfinde es wiederum befreiend, daß die Wahrheit einmal herauskommt und dargelebt wird. Dadurch empfinde ich eine Reinigung der Atmosphäre und glaube, daß die traurigen Einsichten und Erlebnisse uns alle aufrufen werden zu besserem Wollen. -

In tiefer Verehrung Lia Stahlbusch

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#TI

Die dritten Stuttgarter Verhandlungen vom 29. bis 31.Januar 1923

Montag, 29. Januar: Stuttgarter Mitgliederversammlung (kein Protokoll)

Dienstag, 30. Januar: Vortrag im Stuttgarter Zweig über Fragen anthroposophi­scher Gemeinschaftsbildung (in GA 257).

Im Anschluß daran: Sitzung mit dem Siebenerkreis

Mittwoch, 31. Januar: Sitzung mit dem Dreißigerkreis.

SITZUNG MIT DEM SIEBENERKREIS

Stuttgart, Dienstag, 30. Januar 1923 (Nachtsitzung)

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Dr. Unger: Es gilt, die Delegiertenversammlung vorzubereiten. Ich habe mich mit Dr. Kolisko beraten und die Diskussionen von gestern für das Mittelpunktsthema vorbereitet: Die Gesellschaft muß konsolidiert werden.

Dr. Kolisko: Die Vertreterversammlung müßte bald stattfinden.

Dr. Unger: Wie soll dieser Kreis wirken bis zur Versammlung? Es muß die Frage gestellt werden, ob es mit mir noch geht.

Es findet ein Gespräch statt zwischen Dr. Schwebsch und Dr. Unger.

Dr. Schwebsch: Man konnte gestern den Eindruck haben, daß es sich um die Familie Unger-Arenson handelt und nicht um die Gesellschaft.

Dr. Kolisko: Man muß zunächst ein Provisorium machen, auch in den Zweigange­legenheiten.

Dr. Unger: Das Mißtrauen gegen mich besteht weiter.

Marie Steiner: Man hat damals, als die Frage des Zusammenschlusses der beiden Zweige auftauchte, von den Herren Hahn, Baumann und Palmer aus gegen die Herren Arenson und Unger gearbeitet. Wenn solche Wünsche auftauchen wie das von Frl. Hauck Vorgebrachte, so zeigt es, daß man mit diesen Dingen fertig werden kann. Warum sollte es nicht möglich sein?

Dr. Schwebsch: Es sind imponderable Dinge.

Dr. Unger: Es ist hier die Meinung, daß es mit mir nicht geht.

Dr. Steiner: Wir kommen keinen Schritt weiter, wenn wir diese Frage diskutieren. Es ist eine absolut nicht notwendige Frage, die den Abend

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nicht zu beschäftigen hat. Um was es sich handelt, ist wirklich nicht, was der Stuttgarter Zweig für sich wünschenswert oder nicht wün­schenswert findet oder wie die Arbeit von Herrn Arenson und Dr. Unger gewertet wird, sondern die Frage ist, daß der Zentralvorstand in diesen Jahren nichts geleistet hat. Das zweite ist dies, daß etwas auftreten muß, dem man ansieht: Nun kann etwas entstehen. Alle anderen Fragen müssen von diesen zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden. Auch die Frage des Mißtrauens oder Vertrauens muß von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet werden. Wir können uns nicht noch vierzehn Tage darüber unterhalten. Das ist es. Es handelt sich um die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland und Österreich, und von der war die Rede im Auftrag an Herrn Uehli. Was mit dem Stuttgarter Zweig wird, das ist eine ganz andere Sache. - Ich habe mit dem «Stuttgarter System» immer dasjenige gemeint, was von hier aus zersetzend, richtig zersetzend auf die Gesellschaft ge­wirkt hat, weil der Zentralvorstand keine Ideen hatte. Das muß die Richtung der Unterhaltungen sein.

Marie Steiner: Ich finde, daß sich Dr. Schwebsch in sehr einseitiger Weise gewen­det hat und das Wesentliche nicht sieht.

Dr. Steiner: Das Wesentliche ist, daß nirgends das zweite positive Element hervortritt und daß dasjenige nicht hervortritt, was die Da­men und Herren zu tun gedenken. Bedenken Sie doch, in welcher sterilen Situation wir stehen! Der bisherige Vorstand hat es für verein­bar gehalten, daß der eine seine Funktionen zur Verfügung gestellt hat und daß Dr. Unger provisorisch zurückgetreten ist. Dann haben wir eine traurige Nachtsitzung gehabt, und dann ist es noch zu einer Sitzung gekommen, in der wir notdürftig versuchten zu skizzieren, wohin denn die Reise gehen muß. Nun habe ich erwartet, daß nach dieser Richtung hin Beratungen gepflogen werden : wohin die Reise gehen sollte.

Die erste Sitzung ging tumultuarisch vor sich in der Kritik. Dann begann ein allgemeines Schweigen; man setzte sich um den Tisch herum, und diejenigen, die am meisten geredet haben in der Kritik, reden am wenigsten, wenn es sich darum handelt, einen positiven Aufbau zu skizzieren.

Dr. Unger: Ich war bestrebt, etwas Neues hinzustellen.

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Dr. Steiner: Die beiden Aufrufe sind bloß bürokratische Schrift­stücke: Einberufung von Versammlungen! Wenn Sie die Meinung haben, daß das nun weiser sein wird, als was bisher getan wurde, so irren Sie sich. Es handelt sich darum, daß die Anthroposophische Gesellschaft geführt werden muß, daß also derjenige, der schon Ver­sammlungen einberuft, Ideen haben muß, wie die Reise weitergehen soll. Mit diesen Aufrufen sind bürokratische Schriftstücke geschaffen.

Mehrere Redner sprechen, oft mit Bezug auf «gestern».

Marie Steiner: Es reden gewöhnlich nicht diejenigen, die etwas zu sagen haben.

Emil Leinhas spricht.

Marie Steiner: - - aber Besessene wirken stark. Wenn Sie nicht jahrelange Erfah­rungen haben, merken Sie die Wirksamkeit nicht auf den ersten Schlag. Man ist dem nicht immer gewachsen, und die «ewige Jugend» fällt schließlich doch darauf herein. Was Dr. Unger sagt: «das Lebenswerk Dr. Steiners von allen Seiten be­leuchten», ist vielleicht nicht neu, aber - -FrL Dr. Maria Röschl spricht.

Dr. Steiner: Nehmen Sie die Dinge, wie sie in diesen Tagen gewesen sind. Im Grunde genommen wurde vieles von dem, was hätte gesche­hen sollen, im Dreißigerausschuß schon immer gesagt. Am 10. De­zember [1922] habe ich [mit Herrn Uehli] gesprochen und gesagt, ich erwartete, daß man vom Zentralvorstand her mit einigen anderen Leuten an mich herantrete, sonst müßte ich mich in einem Rund­schreiben an die Gesellschaft selbst wenden; diese Gesellschaft ist im Zerfall begriffen. - Ich will nicht alles wiederholen, was dazwischen liegt. Ich kam wieder her. Sie versammelten sich alle unabhängig von jenem Auftrage, den Sie dadurch zum Ausdruck gebracht haben, daß Sie scharfe Kritik am Zentralvorstand geübt haben, weil nichts ge­schieht. - Bitte, was ist dasjenige, was geschehen muß? Der Kreis muß auf die Persönlichkeiten hindeuten, von denen er glaubt, daß sie es wissen.

Frl. Dr. Maria Röschl [zu Dr. Unger]: Wie stellen Sie sich die Zweigarbeit vor?

Dr. Unger: Das Buch «Theosophie» sollte studiert werden. Das müßte man, entsprechend vergrößert, auf die ganze Bewegung erstrecken. Archive müßten in der richtigen Weise geöffnet werden. Man müßte einen «Führer» ausarbeiten durch die Werke Dr. Steiners.

Mehrere andere reden, dann Herr Uehli und Dr. Unger.

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Dr. Steiner: Seit 1919 ist keine Führung da. Durch die Begründung von diesem und jenem ist die Notwendigkeit entstanden, daß die Gesellschaft durch Persönlichkeiten geführt wird - - -. Sie bedarf einer Führung, [aber] sie wird nicht geführt, weil sich die Persönlich­keiten, die führen sollten, nicht bewußt sind, daß sie führen sollten. Wie verlaufen die Dinge in der Gesellschaft? Was geschieht? Und was geschieht nicht?

Die «Bewegung für religiöse Erneuerung» ist entstanden. Eine Dame ist mit aller Leidenschaft hineingegangen; sie hat nichts anderes gefühlt, als daß sie dort hineingehen soll. Irgendwelche ihr plausible Direktive ist nicht entstanden. Sie hat gehört von meinem Vortrag vom 30. Dezember [in GA219]; es ist ihr alles mögliche gesagt worden, wodurch sie irregeworden ist. Nun habe ich hier letzten Dienstag vorgetragen. * Von dem Vortrag hat sie den Eindruck gehabt, sie werde ihre frühere Stellungnahme wiederfinden. Hinterher ist ihr gesagt worden, es gehe aus meinem Vortrag hervor, daß kein Anthroposoph sich an der religiösen Erneuerungsbewegung beteiligen solle. -Ja nun, da ist sie nun völlig außer Rand und Band gekommen. Dieses «soll» und «soll nicht»! Fortwährend «soll» man das tun, oder man «soll» es nicht tun - - was aber gar nicht vorkommt in dem, was ich vortrug.

Es wird nicht eigentlich gewirkt. Was für diese Bewegung ein klassisches Beispiel ist: Es wird nicht gewirkt für die Verbreitung des Anthroposophischen, sondern für die Verhinderung des richtigen Anschauens des Anthroposophischen. Das ist der Fall, daß für die Verhinderung des richtigen Anschauens des Anthroposophischen ge­wirkt wird. Es wurde nicht gewirkt bis Ende Dezember. So kam es, daß dieser ganze Fragenkomplex, der sich herausgebildet hat in bezug auf die religiöse Erneuerungsbewegung, ein Mißurteil ist. Man nahm keine Stellung dazu, bis Ende Dezember der Zentralvorstand kam und eine bloße Abwehrbewegung machen wollte, die viel zu spät kam. Und dies war nicht begleitet von dem wirklichen Bewußtsein: Was soll die anthroposophische Bewegung tun? Es war ein Sichauseinanderset­zen mit etwas anderem.

Nehmen wir das andere dazu, daß die anthroposophische Bewe­gung begründet worden ist 1901 und bis zum Jahre 1918 positiv weiterging. Und daß von da ab Gründungen begannen, die sich hin­eingesetzt haben in die fertige Anthroposophische Gesellschaft. Man

* Vortrag Stuttgart, 23. Januar 1923, in GA 257.

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hat die Anthroposophie zur Dreigliederung gemacht, zu allem mögli­chen hat man das Anthroposophische gemacht. Überall wurden die eigensinnigen oder die bequemen Wege gesucht, währenddem alles, was von mir hervorgehoben wurde, durch die Finger geblasen worden ist, mit Ausnahme des einzigen, daß Herr Leinhas die Sanierung des «Futurum» in die Hände genommen hat. Die eigentliche Führung fehlt vollständig. Und deshalb mußte geredet werden von dem «Stutt­garter System», das darin besteht, alles mögliche der Anthroposophi­schen Gesellschaft aufzupfropfen, nicht aber sich die Mühe zu geben, für Anthroposophie zu wirken. Auf der anderen Seite ist das System, alles zu beginnen und es nicht fortzusetzen, wie unter anderem den «Bund für freies Geistesleben»; der ist nur Programm geblieben. Und dann, nicht wahr, dies: Überall die bequemsten Wege wählen und jeden wieder verlassen, sich nicht weiter darum kümmern. Das Sitzen auf kurulischen Stühlen ohne jede Aktivität! Alles das ist typisch für das «Stuttgarter System».

Das sind die absoluten «Unmethoden»: sein Amt erledigen, aber jede reale Aktivität vermeiden. Die Aktivität ist vermieden worden seit 1919. Verfolgt ist nichts worden, währenddem man immerhin die Versprechungen gemacht hat, die Dinge zu verfolgen. Das sind die Dinge, die vor allem in Betracht kommen. Es kommt mir vor, als ob es leicht wäre, zum Positiven überzugehen. Wenn ich zum Beispiel die Tätigkeit von Dr. Stein betrachte, so kommt sie historisch mir so vor: Zuerst hat er geschimpft, so daß er sich erhoben hat bis zu der Charakteristik: Der Vorstand ist zum Kindergespött geworden -, dann ist er in Lethargie verfallen. Etwas Positives wäre kaum hervor­zuheben. Es nützt nichts, wenn Sie sagen, ich solle raten. Dann führt es dazu, daß irgend etwas, was ich anführe, weitergesagt wird. Ich tadle nicht, daß Sie es gesagt haben; nur hilft es nichts. Es hilft nur das­jenige, was auf eigenem Grund und Boden wächst, aber so, daß es gegenständlich wird und vom Willen durchsetzt. Solange wir in dem Stadium bleiben, nicht über Allgemeinheiten hinauszukom­men, so tun wir, als ob die Gesellschaft gar nicht da wäre. Da sie aber da ist, muß man anders reden. Man muß von realen Dingen reden. Wir sind doch nicht vor die Frage gestellt, jetzt die Anthroposophi­sche Gesellschaft zu begründen. «Menschlich finden den anderen :

das sind Redensarten, die man in jeder humanitären Gesellschaft gebraucht.

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Nun bildete sich dieses Siebenerkomitee. Das konnte sich doch nur zusammenfinden, indem es sagte: Wir wollen dies oder das, und deshalb sind wir mit dem und dem unzufrieden. - Wo auch immer die Möglichkeit gewesen wäre, in dieser Zeit hier auf eine positiv mensch­liche Weise irgend etwas zu bewirken, ist sie nicht ergriffen worden. Das ist es, was ich als das System der inneren Opposition erklärt habe. Talente muß man in den Dienst der Sache stellen, nicht sie abstoßen. Wenn das in der Waldorfschule wirklich versucht wird, ist es nur auf den Umstand zurückzuführen, daß ich selbst mir die Besetzung der Stellen vorbehalten habe. Wo ich aber nichts zu sagen hatte, ist das System befolgt worden, Talente herauszuschmeißen. Talente sind oft höchst unbequeme Wesenheiten.

Auf diese Weise treiben wir fortwährend Inzucht, indem wir in der Gesellschaft das System der letzten vier Jahre fortsetzen. In den letzten vier Jahren ist fortwährend Inzucht getrieben worden, mit Ausnahme derjenigen Menschen, die ich selbst berufen habe. Es ist immer der Weg der Bequemlichkeit gewählt worden. Wieviel ist hier dadurch ruiniert worden, daß man nicht verstanden hat, Talente zu pflegen. Diejenigen, die da sind, werden auch nicht gepflegt. Man schimpft über sie. Die Aufgabe ist, sie zu pflegen, sie zu verwenden in der Weise, daß sie ihre Talente und Kenntnisse in den Dienst der Gesell­schaft stellen.

Der «Kreis» findet gar nicht die Möglichkeit, über seine eigene Clique hinauszukommen. Er denkt nicht daran, wenn er selbst nicht weiterkommt, andere herbeizuziehen, um die Talente oder den guten Willen zu verwenden. So wird fortwährend Inzucht getrieben. Das ist keine Art, daß sich ein paar Waldorflehrer zusammensetzen und die Gesellschaft reformieren wollen, wenn sie es doch nicht können. Wenn sie es können, dann sollen sie es nur machen.

Von diesem Aufruf von Dr. Unger weiß überhaupt niemand. Auch nicht von dem anderen, der fast gleichlautend ist. Die Leute wissen nicht, warum sie kommen sollen. Es hat natürlich nur dann einen Wert, wenn diejenigen, welche die Sache in die Hand nehmen wollen, sagen, was zu tun ist. Es ist nichts darinnen, was von der Gesellschaft zu tun ist, und deshalb nicht getan wird, weil die Gesellschaft nicht funktioniert.

Wir haben Forscher, Institute! Da sind: Dr. Theberath, Maier - Strakosch ist der Oberste davon -, Smits, Lehofer, Dechend, Pelikan,

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Streicher, Spieß. Neun Forscher sind aus der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgegangen. Das ist eine brennende Frage, daß der «Kommende Tag» nicht bankerott wird an diesen neun Forschern. Das ist eine der brennendsten Fragen der Anthroposophischen Gesell­schaft. Das ist alles aus dem Schoße der Anthroposophischen Gesell­schaft hervorgegangen. Haben Sie sich gekümmert um die Sachen, die nicht gemacht werden?

Dr. Kolisko: Diese Fragen kennen wir genau.

Dr. Steiner: Es wächst sonst alles ins Bodenlose, wenn sich die Gesell­schaft nicht um die Dinge kümmert und nicht daran denkt zu pflegen, was aus ihr hervorgewachsen ist. Die Anthroposophische Gesellschaft so zu verwalten, wie Sie es heute besprechen, das kann man auf dieselbe Weise machen, wie man es 1910 gemacht hat. Die Leute haben die Waldorfschule gefordert. Es gibt keine Möglichkeit mehr, daß man die Dinge so weitermacht wie früher. Die Leute haben Tätigkeiten gefordert, die verrichtet sein wollen. Es erwächst den Leuten, die das gefordert haben, die Verantwortung, sich auch darum zu kümmern. Statt dessen halten wir Sitzungen, die es verhindern, daß man sich darum kümmert.

Ich möchte fortwährend auf konkrete Fragen hinweisen. Ich weise hin auf die Forscher, die Sie spazieren gehen lassen. Der Zentralvor-stand hat nicht einmal darüber nachgedacht, daß er die Verpflichtung hat, sich darum zu kümmern, daß die etwas tun. In der Zeitschrift «Anthroposophie» steht nichts darin. Aber neun Forscher und vier Ärzte gehen spazieren. Selbstverständlich wird der «Kommende Tag» an diesen neun Forschern, zu denen vier Ärzte kommen, bankerott gehen. Und auf dies hin bekommen wir die Gegnerschaft. Das führt dazu, daß die Leute sagen, wir versprechen der Welt alles mögliche, und es geschieht nichts davon.

Emil Leinhas spricht.

Dr. Steiner: Im Augenblick, wo man hört, daß da Leute sitzen, die nichts tun, bekommen wir Gegnerschaft.

Marie Steiner: Neulich bei der Sitzung erwartete ich, daß gerade diese Dinge zur Sprache kommen würden.

Dr. Steiner: Es fiel keinem Menschen ein, von diesen realen Dingen zu sprechen, trotzdem ich noch andere Sachen gesagt habe. Seit 1919

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wollte man etwas anderes haben als die Anthroposophische Gesell­schaft.

Einige Mitglieder äußern sich dazu.

Dr. Steiner: Dazu reicht die Zeit nicht. Damit ist die Verantwortlich­keit den anderen zugewachsen, mitzusorgen für die Anthroposophi­sche Gesellschaft. Das ist dasjenige, was geschehen muß. Archive machen und aus den Archiven Vorträge vermitteln, das hätten wir auch sonst arrangieren können. Dasjenige, was 1919 verlangt worden ist, fordert Mittätigkeit von andern Leuten, nicht bloß vom engsten Kreis. Wenn man neun Forscher anstellt, das steht unter der Verant­wortlichkeit von jedem, der gerade die Wissenschaft will.

Marie Steiner: An die Eurythmie zu denken, ist niemandem eingefallen.

Dr. Steiner: Erst heranbändigen mußte man unsere Freunde, daß sie an der Eurythmie etwas fänden, während anderes sich hier parasitär festsetzt. Die eigentlichen Dinge werden in den Wind geschlagen. Das muß in den Aufrufen stehen, wenn auch nicht mit den Worten, mit denen ich es ausspreche.

Wenn wir immer nur schwätzen davon, wir wollen «den Menschen finden», dann kommen wir nicht weiter. Ich empfinde da eine Unge­rechtigkeit. Ist es erhört, daß ich seit längerer Zeit in eine ganz be­stimmte Richtung die Forschungsziele richte und sage, die Dinge liegen in der Luft? Neulich erzählte mir Herr Strakosch, daß die Dinge schon gemacht werden. In der «Anthroposophie» müssen die Taten unserer Forscher darinnen stehen, und dafür ist der Zentralvorstand verantwortlich.

Es handelt sich darum, daß unsere Ärzte etwas tun. Sie haben der Aufgaben genug, es sind konkrete Aufgaben da.

Meinungsäußerungen werden laut über einiges, was unter den Geschehnissen des letzten Jahres zu verzeichnen ist.

Dr. Steiner: Man darf sich nicht beruhigen bei dem himmelschreien­den Unrecht und nicht in aller Tiefe empfinden wollen. Es ist die Sache nicht in der Form besprochen worden, daß es «ein Skandal» ist, wenn so etwas passieren kann.

Dr. Kolisko spricht.

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Dr. Steiner: Es ist nicht dasselbe, ob man etwas bei den Hörnern anpackt oder nur diskutiert. Ich erwähne das nur als ein Beispiel. Ich habe das immer vorgebracht: man redet von Allgemeinheiten. Bei der Waldorfschule sollten Sie doch diesen Intellekt gebrauchen, der durch eine ganz besondere Selektion von Mitteleuropa zustande gekommen ist. Die Inzucht innerhalb dieses Kreises führt zu weiter nichts. Damit ruinieren Sie auch alle Zweiggründungen. Neue Leute werden wir nicht hinzuziehen.

Marie Steiner: Es müßte alles von einer anderen Gesinnung durchdrungen sein. Es müßten außer den Waldorflehrern auch andere Menschen zur Geltung kommen.

Einige Anwesende sprechen.

Dr. Steiner: Ich rede nur von den Dingen, die man selbstverständlich [machen] kann. Man kann nach Dornach fahren, und man kann einen Vortrag halten. Man kann, wenn die Milz-Broschüre erscheint, be­haupten, die hätte eine fortwährende Diskussion hervorrufen sollen. Eine Untersuchung braucht Zeit. - Natürlich sollte das auch ein bißchen Interesse hervorrufen. Ich will nicht sagen, daß die Leute zahlreich sind, die so etwas interessiert; aber dasjenige, was jeder kann und können muß, das ist, irgend etwas vor die Öffentlichkeit zu bringen, was eine positive Verarbeitung des anthroposophischen Stof­fes ist. Das kann doch gemacht werden. Dazu braucht man sich bloß auf die Hosen zu setzen. Von der Genialität rede ich gar nicht, an der mangelt es nicht. Von Spieß weiß ich es nicht. Bei den andern ist die Kapazität vorhanden; aber sie sind nicht fleißig. Sie können etwas, aber sie werden nicht angeregt, etwas zu tun. Was ist aus den For­schern hervorgegangen, außer der Pendel-Geschichte von Rudolf Maier? Das ist das einzige wirklich positive Resultat.

Mit mir hat Schmiedel über Maiers Vortrag nicht gesprochen. So sind alle diese Dinge. Und wenn schon, so würde das nur die Auffor­derung sein, daß Schmiedel eine Widerlegung schreibt. Das ist dasje­nige, was da zu folgen hätte. Das könnte eine sehr interessante Debatte geben.

Es wird geredet über die Oppositionsstimmung in der Jugend.

Dr. Steiner: Frl. Mellinger wollte die Stimmung der Jugend wiederge­ben. Diese Ideen, die von dieser Ecke kommen, gehen alle davon aus, daß die Leute sagen, es kommt auf keine Leitung an. Wissen Sie, wenn

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die Gesellschaft da ist, kann sich auch der entsprechende leitende Mensch finden. Es geht nicht ohne Führung. Es muß Zielbewußtheit in die Versammlung hineinkommen. Sie kann vielleicht ihre Einwen­dungen machen, wenn ihr die Leute nicht passen. Da sind Polzer, Frl. Mellinger, Lauer, - Maikowski ist nur der Stimmführer. Es ist alles greisenhafter, als man es sich vorstellen würde. Es müssen diejenigen ihren Standpunkt vertreten, die gewohnt sind, ihre Zunge zu gebrau­chen. Daß Dr. Stein plötzlich stumm geworden ist, das ist ja traurig.

Marie Steiner: Ich dachte, daß man gerade über diese Mängel sprechen würde. Unter dieser Voraussetzung lebte ich; aber ich höre nichts davon.

Es werden verschiedene Stimmen laut.

Dr. Steiner: Polzer vertritt das gegenwärtig noch tätige Österreicher­tum. Frl. Mellinger kann alles Negative sagen. - Lauer ist ja Vertreter der Jugend; Maikowski ist der Theoretiker der Jugend. - Man kann sie ja für den Anfang verpflichten, daß sie nicht reden. - Es wird nach und nach die Position unmöglich, wenn man Frl. Mellinger zuzieht und Maikowski nicht. Nehmen Sie bloß Polzer und Lauer.

[Dr. Steiner?] : Mittwoch 1/2 9 Uhr Dreißigerkreis

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS Stuttgart, Mittwoch, 31. Januar 1923 (Nachtsitzung bis zum nächsten Morgen)

#G259-1991-SE230 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, Mittwoch, 31. Januar 1923

(Nachtsitzung bis zum nächsten Morgen)

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Dr. Steiner: Die Verhandlungen über die jetzt schwebenden Angele­genheiten dauern schon so lange, und es ist so dringend, andere Angelegenheiten zu erledigen, daß es unter allen Umständen fast eine Katastrophe bedeuten würde, wenn die Verhandlungen am heutigen Abend wieder in einer gleichen Weise inhaltslos verlaufen würden wie jene vom letzten Montag. Ich habe gebeten, diese Verhandlungen nicht vor einer so ausgebreiteten Körperschaft zu führen wie dazumal, weil das nur noch mehr dazu beiträgt, daß die Dinge ergebnislos verlaufen und wir aus der gegenwärtigen Krise nicht hinauskommen. Ich werde selbst möglichst wenig sagen, ich will hören, was für Ab­sichten vorliegen zur Weiterführung der Anthroposophischen Gesell­schaft.

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Ich möchte nur dieses sagen, damit kein Mißverständnis auftaucht über die Bedeutung unserer Verhandlungen. Solche Verhandlungen, wie wir sie jetzt pflegen, wären ja bis zu einem gewissen, nicht sehr weit zurückliegenden Zeitraum gar nicht möglich gewesen. Sie sind möglich geworden und stellen sich heute als etwas Selbstverständli­ches heraus, weil wohl der größte Teil der Persönlichkeiten, die heute hier versammelt sind, in der Lage war, im Laufe der letzten vier Jahre etwa, die Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft all­mählich in führender Stellung mitzuübernehmen. Also jenes frühere Verhältnis, in dem zahlreiche von den heute hier Versammelten wa­ren: daß sie sich nämlich angeschlossen haben an die bestehende Anthroposophische Gesellschaft und gewissermaßen nicht das volle Maß der Verantwortlichkeit hatten, dieses frühere Verhältnis besteht heute nicht mehr.

Sie müssen sich darüber klar sein, daß eine große Anzahl von Persönlichkeiten mit voller eigener Initiative sozusagen sich führend gemacht hat in den anthroposophischen Angelegenheiten. Daher ist es heute auch notwendig geworden, daß die Verantwortlichkeit für einen großen Teil der anthroposophischen Angelegenheiten auf diese Per­sönlichkeiten zurückfällt. Und es sollten sich diese Persönlichkeiten bewußt sein, daß die Veränderungen, die sich vollzogen haben, nicht auszulöschen sind.

Nachdem aus der Mitgliedschaft diese Veränderungen eingetreten sind, ist es daher ganz selbstverständlich gewesen, daß ich gegenüber der Frage, die aus den Verhältnissen an mich herangetreten ist, genö­tigt war, mich an die führenden Persönlichkeiten zu wenden, bevor ich an die einzelnen Mitglieder appelliere, um eventuell den früheren Zustand wieder herzustellen. Denn diese Veränderungen legten mir Pflichten auf, die mich meinen früheren Pflichten entzogen haben. Es ist also selbstverständlich, daß, bevor ich die früheren Zustände wieder herzustellen versuche, ich mich noch einmal an die führenden Persön­lichkeiten wandte - was ja vergeblich geschehen ist -, um diese zu veranlassen, ihrerseits zu sehen, was sie tun wollten, bevor ich mich an die einzelnen Mitglieder wende. An den heutigen Verhandlungen will ich mich nicht materiell beteiligen. Ich werde heute zunächst bloß hören, was aus dem Schoße dieser heutigen Versammlung hervorgeht, um danach zu sehen, wie man weiterkommen kann. Es hängt also davon ab, ob Sie die Verhandlungen in fruchtbarer Weise gestalten.

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Sonst muß ich annehmen, daß Sie kein Interesse daran haben, wenn die Anthroposophische Gesellschaft in der allernächsten Zeit in eine Katastrophe hineingeführt wird.

Ich bitte Sie, damit wir nicht ergebnislos auseinandergehen, heute wenigstens die Sache mit dem wirklichen Ernst und mit dem Gefühl der Verantwortlichkeit zu führen. Das bitte ich also als eine Einleitung zu den heutigen Verhandlungen zu betrachten. Es wird sehr viel von dem abhängen, was Sie heute tun werden.

Darauf sprechen Dr. Stein und Dr. Kolisko.

Dr. Unger: Wir müssen Wege suchen, das «Stuttgarter System» zu überwinden.

Es sprechen Dr. Maier, Dr. Palmer, Frl. Toni Völker, Paul Baumann.

Die Frage eines beabsichtigten medizinischen Vademecums wird behandelt.

Dr. Steiner: Man hätte über die Krankheitsbilder im Großen umden­ken lernen sollen. Wir dürfen nicht Obstruktionen treiben, das ist ja ganz selbstverständlich. Man kann ein Gebäude aufführen, wobei die Schwierigkeiten unendlich groß sind; die kommen aber dabei gar nicht in Betracht. Geradesowenig als bei der Begründung der Waldorfschule in Betracht gekommen ist, die Methode zu beraten. Die Frage geht darum, was heute vor zwei Jahren schon hätte geschehen sein können. Um diese Unterlassungen handelt es sich. Wenn wir um die Sache herumreden und Entschuldigungen anführen, dann ist es selbstver­ständlich, daß die Entschuldigungen für das Schreiben eines Vademe­cums nicht in Betracht kommen. Die Schilderung der Herzkrankheit muß in anderen Formen gedacht werden, ganz abgesehen davon, ob die einzelnen Mittel schon gebraucht werden können. Über die Herzkrankheit muß anders gedacht werden. In anderer Art dargestellt, wird es plausibler vor die Welt hintreten können als in den bisherigen Handbüchern. Es handelt sich um den guten Willen, auf dem Gebiet der Medizin umzudenken aus den geisteswissenschaftlichen Grundla­gen heraus. Aber weil die ganzen Diskussionen auf tote Geleise ge­führt werden, so muß ich sprechen. Ich kann mir nicht vorstellen, was geschehen soll, aber ich kann mir vorstellen, daß die Medizin umge­dacht werden kann, wenn der gute Wille dazu vorhanden ist. Viel­leicht liegt eine viel größere Notwendigkeit dazu vor, aus der Physio­logie heraus zu arbeiten und die Krankheitsbilder physiologisch um­zudenken. Das hängt nicht davon ab, ob man die Krankheitsmittel

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ausgeprobt hat oder nicht. Das ist etwas, was «an sich» gilt. Wenn man noch so stark die Schwierigkeiten nicht unterschätzt, darf man doch bei den Schwierigkeiten nicht so herumreden, wie herumgeredet wor­den ist, sonst kommen wir zu nichts. Es handelt sich nicht darum, das Pathologische restlos darzustellen. Die Handbücher werden immer korrigiert. Es handelt sich nicht darum, der Welt bloß Heilmittel zu empfehlen. Ich halte die «Heilmittelliste » so für das Schädlichste, was hat entstehen können. Es handelt sich darum, die Methode zu vertre­ten. Alles andere halte ich auch nur wieder für etwas, was uns gescha­det hat. Darauf brauchen wir nicht zu warten, bis die Leute heute so etwas annehmen; dann können wir bis in die nächste Inkarnation warten. Es handelt sich darum, daß wir die Sache vor der Welt vertre­ten, wie auch andere ihre Methode vertreten haben; sie werfen sich untereinander nicht geringe Schmähreden zu. Es handelt sich nicht darum, daß wir die Sache jedem einzelnen Professor der Medizin in den Mund hineinstreichen, sondern daß wir sie so vertreten, wie sie hätte vertreten werden können sechs Monate nach der Inaugurierung der Sache. Das heißt also, daß wir die Sache so vertreten, wie man einstmals die Naturheilmethode vertreten hat. Es ist eine Frage des medizinischen Denkens. Die Diskussion soll nicht auf tote Geleise geführt werden. Wir sollten über dasjenige sprechen, was vorliegt, nicht über dasjenige, was selbstverständlich ist. (Notiz von Dr. Heyer: «Vor diesem Votum hatte Dr. Steiner im Laufe der Verhandlungen schon zweimal gesprochen. Das eine Mal sagte er auf die Schilderung der konkreten Schwierigkeiten, die Dr. Noll gegeben hatte, man käme zu einem , wenn so aus den Schwierigkeiten gemacht würden. Das andere Mal sagte er: Wann hätten wir so je die Waldorfschule gründen können?»)

Dr. Unger: Ich wollte vom aktiven Vertrauen sprechen.

Dr. Steiner: Die Methoden sind von mir genau und ausführlich darge­stellt worden. Die Herren Ärzte sind nicht aus einem Himmlischen heraus geboren worden, indem ihnen die Aufgabe gestellt worden ist. Im allgemeinen erscheint es einem plausibel, oder es erscheint einem nicht plausibel.

Es sprechen zur Sache die Ärzte Dr. Husemann, Dr. Noll, Dr. Palmer, ferner Fugen Benkendoerfer.

Graf Polzer: Wer wird das Vademecum schreiben?

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Dr. Noll: Es soll bestimmt geschrieben werden.

Emil Leinhas, Dr. Palmer, Dr. Kolisko sprechen dazu.

Dr. Steiner: Es würde einen gewissen Wert haben, wenn eine Ausein­andersetzung darüber geschähe, warum das Vademecum bis jetzt nicht zustande gekommen ist, und wenn dann daraus ersehen werden könnte, daß es aus der Einsicht in die wahren Gründe zustande kom­men kann. Wenn man die Gründe wirklich auseinandersetzt, dann kann man darauf bauen, daß es in der Zukunft zustande kommen kann

- meine Überzeugung ist, daß es ein Mann in sechs Monaten zustande bringen kann -, aber es gibt Gründe, die nicht im Objektiven liegen und die aufgedeckt werden müßten. Dann würde man sehen können, ob es in der Zukunft zustande kommt.

Wenn wir die weitere Diskussion auch so führen wie bisher, wird nicht ersichtlich sein, ob die Gesellschaft über diese Krisis hinwegge­führt werden kann! Die Krisis ist dadurch herbeigeführt worden, daß seit 1919 eine Bewegung zustande gekommen ist, die zu allen mögli­chen Gründungen geführt hat. Es handelt sich darum, daß sich Per­sönlichkeiten verantwortlich fühlen müssen und daß sie diese Verant­wortung übernehmen. Das müßte ersichtlich werden, wenn wir eine Garantie für den Fortbestand der Gesellschaft haben wollen. Es würde vielleicht dann erörtert werden, welche Schwierigkeiten vorliegen, um eine physikalische Untersuchung zustande zu bringen. Wir würden etwas darüber erfahren, warum der Öffentlichkeit ein Vortrag ange­kündigt wird, dann aber unterbleibt.* Hinter dem liegen ganz andere Schwierigkeiten. Wir haben sehr nötig, die Dinge zu erörtern, die schon mit dem anthroposophischen Leben zusammenhängen. Wenn gar nicht die Diskussion auf ein fruchtbares Feld geführt werden soll dadurch, daß man passive Resistenz macht, so möchte ich auf einzelne Dinge aufmerksam machen, die zeigen, daß es sich um ganz zentral-anthroposophische Angelegenheiten handelt.

Es war vor der Abhaltung des Wiener Kongresses [1.-12. Juni 1922]. Dr. Kolisko hatte die Absicht gehabt, nach Wien zu gehen und einen Vortrag zu halten. Ich war nicht sehr erbaut darüber, daß er gerade das Migräne-Thema in Aussicht nahm. Aber schließlich ist das nicht meine Sache. Es handelte sich für mich darum, das Gespräch darüber aufzunehmen. Im Verlaufe dieses Gespräches fiel das Wort:

- - -

* Siehe Hinweis zu Seite 68 und das Programm Seite 851.

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«Wenn ich ins Klinisch-Therapeutische Institut komme, verweigern sie mir das Material.» - Die Sache ist diese, daß solch ein Wort fallen kann! Da kommen wir darauf, daß dies kein anthroposophisches Verhalten ist in dieser Angelegenheit, wenn es wirklich richtig ist, daß das Migräne-Material zum Vortrag verweigert wurde. Wenn wir uns anthroposophisch verhalten würden, würden die Dinge zustande kommen, die zustande kommen sollen. Die Äußerlichkeiten seit 1919 haben Schwierigkeiten ergeben gerade durch das nicht-anthroposo­phische Verhalten der einzelnen in Stuttgart lebenden Persönlichkei­ten. Wenn von Hemmungen die Rede ist, sollte von den wirklichen Hemmungen gesprochen werden. An diesen Dingen scheint man vorbeigehen zu wollen.

Ich wollte nur auf dieses Charakteristische hinweisen, möchte aber dennoch die Diskussion darauf zurückführen, daß wir auf ein frucht­bareres Geleise kommen als dasjenige, wohin geführt worden ist. Wenn diese Abschnürungen nicht aufhören, dann werden diejenigen, welche anthroposophisch zusammenarbeiten sollen, nicht zusammen­arbeiten, sondern sich gegenseitig hindern, das Vademecum zu schrei­ben. Das ist mir vielfach entgegengetreten, daß gesagt worden ist, daß die einzelnen sich hindern, es zu schreiben. Das sind die Dinge, die dann eingesehen werden müßten, und wenn sie eingesehen werden, wenn wirklich auf die Wunden hingewiesen wird, dann wäre eine Garantie vorhanden, daß die Dinge in der Zukunft abgestellt werden könnten. Nach dem, was bisher geredet worden ist, ist keine solche Garantie vorhanden. Es gibt keine andere Garantie, als daß gesagt wird, warum keine Zusammenarbeit da ist zwischen Gmünd und dem Klinisch-Therapeutischen Institut [in Stuttgart]. Die Dinge werden dann erzählt, wenn gefragt wird, warum nicht zusammengearbeitet wird! Es wird eine Art Obstruktion geführt. Das ist dasjenige, was ich bitte zu berücksichtigen. Wenn heute nicht seriös gesprochen wird, so muß das zu einer Katastrophe der Anthroposophischen Gesellschaft führen. Mit den bloßen Versprechungen können wir nicht weiterar­beiten.

Dr. Kolisko: Für die Migräne-Frage hat man mir später das Material nachge­schickt. Es war nicht ganz das, was ich brauchte. Persönliche Differenzen zwi­schen den Herren verhindern, daß «das Buch» [Vademecum] geschrieben ist.

Dr. Steiner: Jedenfalls lag die Sache so, daß gesagt werden konnte: Die da oben geben ihre Sachen nicht heraus. - Wenn ich diesen Fall

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vergleiche mit dem Verhalten des [Klinisch-Therapeutischen] Instituts gegenüber der Milz-Arbeit,* so muß ich sagen, daß diese Dinge nicht sehr vielversprechend sind.

Es reden einige Mitglieder.

Dr. Steiner: Um so besser wäre es gewesen, wenn zwei Individualitä­ten gesprochen hätten. Ich sehe wieder nicht ein, wo die Methode liegt, durch die wir weiterkommen.

Emil Leinhas: Es muß rückhaltlos über die Dinge und ihre Gründe gesprochen werden.

Dr. Steiner: Das, was gesagt worden ist, ist das Folgende: Ich habe von Anfang an, als hier medizinische Betätigungen auftreten sollten, ge­sagt, es komme nicht darauf an, einzelne Heilmittel anzubieten, son­dern eine medizinische Methode. Ich will nur anführen, daß einmal die Methode der Homöopathie verbreitet worden ist, ein anderes Mal eine andere Methode. Es kommt darauf an, für eine medizinische Methodik einzutreten. In der Landhausstraße habe ich ziemlich lange, bevor dieses Büchelchen die Welt erblickt hat, Dr. Noll den Vorschlag ge­macht, sich hinzusetzen und ein Vademecum zu schreiben. Ich habe gesagt, ich verspräche mir nichts von einem «Kollegium»; schreiben müsse es ein einzelner. Diesen Vergleich, wie über Homöopathie und Naturheilkunde die Dinge vertreten worden sind, diesen Vergleich habe ich sehr früh gebracht. Dieser Vergleich wurde gebracht, um zu zeigen, daß eine Agitation für ein einzelnes Heilmittel nicht das rich­tige sein kann, was in diesem Falle der Welt aufhilft, sondern daß es sich darum handelt, der Welt zu sagen: Hier liegt eine bestimmte medizinische Denkweise vor. - Dieses, was ich von Anfang an vor den Ärzten als Überzeugung zu Dr. Peipers, was ich von Anfang an zu Dr. Noll gesagt habe, dieses führte dann noch einmal dazu, daß ich zusammenfassend sagte: Dieses Methodische könne am besten durch ein Vademecum der Welt klar gemacht werden.

Wenn ich so etwas vor Laien ausspreche, dann wird sofort verstan­den, daß uns alle diese Sachen nur diskreditieren können. Daß van Leer aufgetreten ist, das rührt davon her, daß bei der Sitzung, die neulich abgehalten worden ist, eben auch davon gesprochen werden mußte, welches die Grundlage einer Wirksamkeit für unsere Heilmittel

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* Siehe Hinweis zu Seite 70.

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sei, und daß da wiederum gesagt werden mußte: es müsse zuerst die Methodik verbreitet werden, so wie man zum Beispiel einmal die homöopathische Methodik verbreitet hat. Das hat der Laie van Leer begriffen und die Konsequenz daraus gezogen; der Laie begreift das sofort. Aber unser Ärzte-Kollegium hat daraus die Konsequenz ge­zogen, es musse eine pedantisch-methodologische Abhandlung ge­schrieben werden.

Es handelt sich da um Dinge, von denen man glaubt, man brauche sie nur anzuschlagen, so würden die Leute, die in der Lebenspraxis darinnenstehen, sie verstehen. Man könnte hundert Beispiele anfüh­ren, um das zu erhärten. Wiederum, ohne über Wert oder Unwert etwas auszumachen, will ich dies anführen.

Der Tübinger Schlegel hat sich einmal einen Kreis von Ärzten eingeladen. In diesen Kreis von Ärzten hat er hinein gesprochen und hat sich einen Stenographen mitgenommen. Da ist im Grunde genom­men, abgesehen von dem Wert oder Unwert der Methode, ein außer­ordentlich anregendes Büchelchen entstanden. Es ist eine Art Vade­mecum entstanden. Da haben sie einen Fall, wie so etwas in der Praxis entsteht, wenn man will. Dieses Büchelchen hat dem Schlegel sehr geholfen. Denken Sie sich, in der ganzen Welt wird über Homöopa­thie diskutiert. Wenn sie mit einer solchen Sache, die den Leuten etwas sagt, herausgekommen wären, so hätte man wirklich etwas gehabt. Es handelt sich um eine medizinische Methodik, wie Homöopathie oder Allopathie. Das ist es, um was es sich handelt.

Frl. Rascher spricht.

Dr. Steiner: Das hängt nur von dem Willen ab. Ich möchte die Behaup­tung aufstellen: Das Vademecum, das von Ihnen verlangt wird, müsse jeder der Ärzte im Kopfe tragen. Etwas, was Sie selbstverständlich im Kopfe tragen, müssen Sie aufschreiben. Ich möchte wissen, wo wir heute wären, wenn so etwas vorliegen würde wie dieses Vademecum! Ich möchte wissen, wo wir dann heute sein könnten! Mit der Heilmit­telliste kommen wir nicht weit genug.

Ich wollte nur darauf hinweisen, daß das Vademecum in verhältnis­mäßig kurzer Zeit geschrieben werden könnte, daß die Einwände, die heute gemacht worden sind, nicht diejenigen sind, über die man zu sprechen hat. Solange wir nicht den Willen haben, auf die Dinge wahrheitsgemäß hinzuweisen, so lange werden wir nicht die Anthroposophische

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Gesellschaft auf die Beine bringen. Denken Sie, wenn wir in der Lehrerkonferenz anfangen würden, so zu sprechen, als ob man unsicher sei in bezug auf die Methode!

Emil Leinhas: Rückhaltlose Aussprache muß sein, sonst werden die Dinge chro­nisch. Es ist der Ausdruck «Saustall» gebraucht worden.

Dr. Palmer sagt, er glaube nicht, daß Dr. Noll die Sache schreiben könne.

Dr. Steiner: Haben Sie die Überzeugung, daß Dr. Peipers oder Dr. Husemann die Sache machen kann? Wir müssen uns darüber klar sein, daß die Fertigstellung durch gemeinsame Arbeit sich höchstens als eine Beschleunigung herausstellen würde, daß es aber etwas ist, was jeder allein machen kann.

Dr. Palmer: Es liegt so viel Material in den Vorträgen vor. Es ist aber furchtbar schwer, es umzuarbeiten.

Dr. Steiner: Das würde nur dazu berechtigen, daß Sie von sich aus die Behauptung aufstellen, es nicht allein machen zu können. Ich habe nicht an Sie persönlich die Zumutung gestellt. Ich habe es von anderen vorausgesetzt und war mir klar darüber, daß ich es dort voraussetzen darf; wie ich mir ebenso darüber klar war, daß ich es bei Ihnen nicht voraussetzen darf. Der Fall kann schon geklärt werden. Ich war mir aus den Antezedienzien klar bewußt, worum es sich handeln würde:

nämlich, daß die anderen Herren die wissenschaftliche Arbeit leisten, während Sie die praktische Arbeit leisten - und dann hat die wissen­schaftliche Arbeit versagt. Der einzige, dem ich keinen Vorwurf ma­chen kann, sind Sie; das kann man ebenso aufrichtig sagen wie das andere: ob es vielleicht nicht doch möglich gewesen wäre, die Sache zu fördern, wie man in der populären Sprache sagt.

Dr. Palmer äußert, es hätte eine Hemmung vorgelegen.

Dr. Steiner: Worin bestand diese Hemmung? Sie haben nicht gesagt, worin die Hemmung bestand.

Dr. Palmer: Man hätte glauben können, daß es an dem guten Willen und an Enthusiasmus gefehlt hat.

Dr. Steiner: Das habe ich ja immer vertreten, daß es an dem guten Willen gefehlt hat. Es ist mir sehr wichtig, daß Sie mir das heute zugestehen.

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Dr. Peipers: Wir hören heute zum ersten Male, daß Dr. Noll diesen Auftrag ge­habt hat.

Dr. Noll: Ich habe den Auftrag nicht so genommen, als ob ich allein imstande wäre, so etwas zu machen.

Dr. Palmer: Geben Sie einmal zu, daß die Sache bei Ihnen liegt.

Dr. Kolisko: Mir war klar geworden, daß Dr. Noll sich zu nichts entschließen kann.

Dr. Steiner: Ich glaube nun nicht, daß wir weiter über diese Frage zu einer Entscheidung kommen werden. Es wird sich darum handeln zu sehen, wie sich die anderen Dinge mit dieser Frage zusammen ausneh­men. Es hängt von vielen einzelnen Dingen ab, ob wir vor einer Katastrophe stehen oder nicht. Also, wir wollen zunächst das Verspre­chen von Dr. Palmer protokollieren.

Dann würde ich Sie bitten, sich über die Dinge weiter auszuspre­chen, von denen Sie auch glauben, daß sie besprochen werden müssen. Es wäre wichtig, über solche Dinge einen Aufschluß zu erhalten. Die Frage geht weit über den Rahmen desjenigen hinaus, was Stuttgart betrifft. Nur strahlt sie von Stuttgart aus. Gewisse Schwierigkeiten, die uns in Dornach entgegentreten, wenn die Angelegenheiten des dorti­gen Laboratoriums behandelt werden, führen immer dahin, daß es hier mit Gmünd nicht geht. Es ist auch schon in meiner Gegenwart über dieses Verhältnis gesprochen worden. Ich habe immer die Überzeu­gung gehabt, daß in bezug auf die Zusammenarbeit doch mehr gelei­stet werden könnte, als man sich Mühe gibt in unseren Kreisen. Denn nicht wahr: Menschen sind so, daß sie einem auch Schwierigkeiten und Hindernisse in den Weg legen! Man muß mit den Schwierigkeiten fertig werden. Nun mag manche Schwierigkeit eben in Dr. Knauer liegen. Aber ändern wird man ihn nicht. Ich konnte nie dahinter kommen, was da vorliegt in bezug auf das Verhältnis des Klinisch-Therapeutischen Institutes und Dr. Knauer.

Emil Leinhas: Es liegt im Charakter Dr. Knauers.

Dr. Steiner: Es ist notwendig bei uns in der Bewegung, wenn einmal ein Schritt getan worden ist, das Engagement gegenüber dem ersten Schritt nicht ohne weiteres abzubrechen. Ich habe nichts dagegen haben können, daß die Ärzte Dr. Knauer hereingebracht haben. Wenn man ihn nicht in die Intimitäten hineingezogen hätte, hätte man später

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mit ihm fertig werden können. Nachdem man ihn aber hineingenom­men hat, so muß man zum A auch B sagen. Das heißt: Man muß auch weiter mit ihm fertig werden. Diese Dinge müssen berücksichtigt werden. Die Nicht-Berücksichtigung solcher Dinge führt zu den größten Schäden unserer Gesellschaft. Es wird immer etwas in einer gewissen leichtsinnigen Weise begonnen. Ich mache nur darauf auf­merksam, wie leichtsinnig wir mit Sigismund von Gleich waren! Durch diese Art entstehen unsere anthroposophischen Sorgen, indem man nicht den Willen hat, B zu sagen, nachdem man A gesagt hat. Dies gehört zu den Dingen, die bei uns anders werden müssen.

Dr. Palmer und Emil Leinhas äußern sich dazu.

Dr. Steiner: Mir hat immer geschienen, daß der Gescheitere nachgibt. Dr. Knauer kann nicht als eine Autorität gelten. Wenn ihm das Ärzte-Kollegium nur imponiert hätte, dann wäre es schon gegangen. Man hat mit ihm verspielt. Es kann bei uns nicht das Prinzip herrschen, daß man jeden, den man zuerst heranzieht, dann wieder hinauswirft, wenn er einem nicht mehr paßt. Sie können sehen, daß ein großer Teil von dem, was uns von außen zugefügt wird [an Gegnerschaft], auf ein paar Ausschlüssen beruht, die von der Anthroposophischen Gesellschaft gegen meinen Willen vollzogen worden sind.

Die Diskussion geht auf ein anderes Thema über. (Notiz von Dr. Heyer: «An dieser Stelle war es 1 Uhr nachts.»)

Dr. Kolisko spricht über das Forschungsinstitut und über Dr. Theberath.

Dr. Theberath spricht über sein Versagen. Dr. Schmiedel habe, ohne ihn darum zu fragen, seinen Namen auf das Programm gesetzt.

Dr. Steiner: Fühlen Sie sich nicht verpflichtet, gegenüber der Öffent­lichkeit etwas zu tun im Interesse der Anthroposophischen Gesell­schaft?

Dr. Theberath: Ich hielt mich verpflichtet, die Versuche durchzuführen. Eine Verzögerung der Versuche ist aufgetreten, weil das, was vorher Nebensache war, Hauptsache wurde.

Dr. Steiner: Auf diese Weise werden wir aus unsern Forschungsinsti­tuten niemals etwas herauskriegen.

Dr. Kolisko: Ich hätte den Artikel Dr. Theberaths abweisen müssen. Es liegt ein Fehler der Redaktion vor.

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Dr. Steiner: Wenn wir von dem Grundsatze ausgehen, daß derjenige, dem etwas vorgehalten wird, sich eben einfach rechtfertigt, dann bin ich überzeugt davon, daß alles, was besprochen wird, in einer Recht­fertigung enden wird. Wenn in dieser Richtung gedacht wird, dann kommen wir nicht vorwärts. Sie müssen daran denken, daß aus dem Schoße der Gesellschaft heraus die Ideen dieser Gründungen entstan­den sind. Nun können Sie nicht unbedingt annehmen, daß die Gesell­schaft bankerott werden muß daran, daß in diesem Forschungsinstitut nichts geleistet wird. Daß eine Versuchsreihe noch genauer und ge­nauer gemacht werden kann, ist selbstverständlich, aber endlich ist es notwendig, daß der Welt etwas gezeigt wird. Der einzig gültige Ein­wand gegen die Milz-Versuche ist dieser, daß man die Versuchsreihe hätte vermehren können. Selbstverständlich, wissenschaftlich würde es sich schon rechtfertigen lassen, daß eine Versuchsreihe nie ganz vollständig zustande kommt. Ich denke doch, daß man die Aufgabe hätte zu fragen, wie das [Forschungs-]Institut durch Arbeitsleistungen fruchtbar werden kann. Wenn wir jede Frage nur persönlich nehmen -und die Auffassung dieser Frage von Dr. Theberath ist ein Schulbei­spiel dafür-, dann kann man nicht anders als sagen, daß die Anthropo­sophische Gesellschaft sich als unfähig erweist, die Wege von 1919 weiterzugehen. Dann muß die Sache aufgegeben werden und ist zu­rückzuschieben auf den Stand, den sie 1918 hatte. Wenn Sie durchaus die Frage nicht so behandeln wollen, daß die Sache fruchtbar wird und daß die maßgebenden Persönlichkeiten darüber nachdenken: Wie ver­treten wir die Sache vor der Welt, so daß sie fruchtbar wird? -, dann kommen wir nicht weiter.

Dr. Kolisko: Einige Abhandlungen sind noch da.

Dr. Steiner: Ich frage: Hat einer der Physiker über die Abhandlung von Dr. Maier in der «Anthroposophie» geschrieben? Hat einer unse­rer Physiker geschrieben? Darum handelt es sich gerade, daß die Welt darauf aufmerksam wird und merkt, daß etwas geschieht. Geradeso wie es uns geholfen hätte, wenn über die Milzversuche geschrieben worden wäre.

Dr. Maier: Ich habe nicht viel Interesse gefunden. Der einzige war Dr. Dechend. Besser wäre es gewesen, wenn jemand anders schriebe.

Dr. Steiner: Natürlich wäre es besser, wenn jemand anders schriebe! Das ist gerade das Wesentliche, daß die Leute zusammenwirken sol­len.

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Es wäre darauf angekommen, die große Bedeutung der Arbeit in einer klaren Weise auseinanderzusetzen: dem hätte sich jeder unter­ziehen können; dazu braucht man nicht ein Physiker zu sein. Warum geschehen solche Dinge nicht? Warum wird über diese Frage nicht gesprochen? Ich habe diese Frage immer wiederum in ihrer methodi­schen Bedeutung hervorgehoben. An der Milzfrage habe ich gezeigt, wie eine innere Opposition betrieben worden ist. Und als mir dann berichtet worden ist, was für eine Geschichte das gegeben hat - das wurde dann ein Skandal! (Notiz von Dr. Heyer: «Milzgeschichte ein Skandal: einer der Grundschäden.») Die Dinge werden dadurch nicht besser, daß man sich über diesen Punkt ausschweigt, der der funda­mentalste ist. Auch heute hat man sich total darüber ausgeschwiegen. Mir kommt es darauf an, daß diese Dinge in einer Anthroposophi­schen Gesellschaft besprochen werden. Es liegt aber die Tendenz vor, Täuschungen zu rechtfertigen! Die Dinge sollten nicht erst soweit gebracht werden, daß dann der Gegner recht hat. Über den ganzen Verlauf der Versuchsreihe will ich nicht reden. In der Frage der Phänomenologie ist doch die Sache auf den Punkt getrieben worden, daß der Gegner, so wie die Sache heute liegt, Recht hat, und die Anthroposophen haben Wesenloses vorgebracht. Man hat erst die ganze Frage aufs Glatteis geführt, um es den Gegnern so leicht wie möglich zu machen. Das einzig Greifbare, was im Atomismus-Streit vorgebracht worden ist, steht in der Erwiderung von Frl. Dr. Rabel selbst - das einzige, was für die anthroposophische Position vorge­bracht werden kann.

Es spricht Dr. Unger. Dann Dr. Theberath des längeren.

Dr. Steiner: Von der Phänomenologie ist bis zum Jahre 1919 über­haupt nicht gesprochen worden. Ich war genötigt, davon zu sprechen, als ich diese Verhältnisse feststellen mußte. Das, was Sie Phänomeno­logie nennen, haben Sie in die Anthroposophische Gesellschaft hinein-getragen. Sie haben mir hier die Führung entwunden, indem Sie die Gelehrsamkeit hineingetragen haben. Deshalb haben Sie die Verant­wortung für die Dinge, die hereingekommen sind. Die Gemeinschaft der Gelehrten hat die Phänomenologie hineingetragen.

Es wird weiter über diesen Gegenstand gesprochen.

Dr. Steiner: Nun wird das so dargestellt, als ob ich die ganze Phänome­nologie hineingetragen hätte. Die Forscher sind es, welche diesen

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Tatbestand in die Anthroposophie hineingebracht haben. Ich würde es weit von mir abweisen, für so etwas die Verantwortung zu überneh­men wie für diesen Artikel über den Wasserstoff in der «Drei».

Es wird weiter über diesen Gegenstand gesprochen.

Es wird weiter über diesen Gegenstand gesprochen.

Dr. Steiner: Heute stehen wir vor der Bescherung. Sie lehnen die Verantwortung ab, indem Sie sich bloß persönlich rechtfertigen wol­len. Wenn Sie Phänomenologie wollen, dürfen Sie nicht philosophie­ren. Das aber würde bedeuten, die Apparatur schon in eine Richtung zu bringen, die man fruchtbar nennen kann. So haben wir zum Beispiel in Dornach praktische Phänomenologie betrieben, da wir vor die Aufgabe gestellt waren, daß wir in der Arbeit bestimmte Probleme zu lösen hatten. Wir haben doch Farben zustande gebracht, mit denen wir die Kuppel ausmalen konnten. Bisher haben sich diese Farben gehal­ten. Wir sind eben von einem klar zutage liegenden Gedanken ausge­gangen. Wir haben flüssiges Papier gemacht und haben auf flüssiges Papier die Farben aufgetragen. Davon sind wir ausgegangen, Stück für Stück uns vortastend an den Tatsachen. Das war eine Art phänomeno­logisches Experimentieren. Hier in Stuttgart hat nie der Wille bestan­den, in phänomenologischer Weise zu arbeiten, außer im Biologischen Forschungsinstitut, da, wo zwei Versuchsreihen herausgekommen sind, die halten. Wenn Sie sich an diese Methode halten, die herausge­wachsen ist aus der Anthroposophie selber, dann werden Sie den Mut nicht zu verlieren brauchen. Aber das Hereintragen der Universitäts­methoden geht nicht. Es handelt sich wirklich darum, daß für dasje­nige, was durchaus in Einklang gebracht werden kann tnit der Anthro­posophie, auch die Verantwortung übernommen werden muß. Darum handelt es sich, wie man da fruchtbar vorwärts kommt, und nicht um unendliche Versuchsreihen, die zu nichts führen.

Da haben wir vom «Kommenden Tag» her die Finanzierung in Angriff genommen, im Vertrauen, daß wirklich gearbeitet wird; und das wird jeder wirkliche Wissenschaftler zugeben, daß man auch mit unvollendeten Versuchsreihen hervortreten kann, wenn wirklich ge­arbeitet wird. Jedenfalls müßten diejenigen, die sich hier niedergelas­sen haben, um auf unserem Boden die Dinge zu treiben, die müßten für die Sache auch aufkommen.

Die Debatte geht weiter.

Dr. Steiner: Ich will die Möglichkeit geben, durch Stellung einer

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bestimmten Frage vielleicht doch noch irgend etwas herauszuholen. Ich frage folgendes: Ich bin genötigt worden, den Artikel in der «Drei» zu erwähnen, und stelle nun die folgende Frage: Bedurfte es der Unternehmung unserer Forschungsinstitute, oder bedurfte es bloß einer Umänderung der Denkmethoden und der Verwertung derjeni­gen Kenntnisse, die man auch ohne die Unternehmungen hätte gewin­nen können, um solch einen Aufsatz zu schreiben wie den über den Wasserstoff? Ich stelle diese ganz konkrete Frage. Oder hätte nicht vielleicht jeder diesen Aufsatz schreiben können, der einfach die über­all bekannten heutigen Tatsachen auch kennt und sich hinsetzt, um sie phänomenologisch zu interpretieren? Artikel, die ein Resultat der Forschungsinstitute sind, hätten kommen müssen! Wir müssen uns darüber unterhalten, ob die Forschungsinstitute fruchtbar sind. Ebenso frage ich Sie: War es nötig, die Forschungsinstitute zu errich­ten, um den Atomismus-Streit zu machen? Unsere Zeitschriften sind doch auch im Zusammenhang damit entstanden. Es ist darauf gerech­net worden, daß in unseren Zeitschriften etwas von den Resultaten aus unseren Forschungsinstituten erscheint. Das imponiert der Welt nicht, wenn jemand sich hinsetzt und dasjenige zusammenstellt, was man in den Handbüchern sammeln kann, der eine atomistisch, der andere phänomenologisch.

Emil Leinhas: Es liegt eine Reihe von Aufgaben, von Dr. Steiner gegeben, vor.

Dr. Steiner: Die muß man lösen und nicht sich um unnötige Dinge kümmern, wie das zum Beispiel, daß ein Buch, Moltke, auf Konfe­renzbeschluß bestellt worden ist. Es gibt Stellen in dem Buch, durch welche man es hätte rechtfertigen können. [Siehe unter Hinweise.]

Reden und Fragen der Mitglieder.

Dr. Steiner: Ich bin ganz unschuldig am Programm oder Unpro­gramm des heutigen Abends. Ich habe gebeten, es möchte heute [nicht wieder] ein großer Kreis berufen werden, damit man zu einem Resul­tat komme. Ich habe am 10. Dezember [1922] an Herrn Uehli eine Bitte gerichtet, die an den ganzen Zentralvorstand gerichtet war. Es war mir klar geworden, daß die Dinge zu einer vollständigen Deroute der Anthroposophischen Gesellschaft führen müssen. Ich habe ge­fragt: Was ist zu tun? Ich sagte: Ich könnte mich auch an jedes einzelne Mitglied wenden, um einen möglichen Zustand herbeizuführen. Aber

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ich möchte lieber davon absehen, da die Tatsache vorliegt, daß aus dem Schoße der Gesellschaft Führungen übernommen worden sind, und ich bäte den Zentralvorstand, die Dinge in die Hand zu nehmen und sich mit führenden Persönlichkeiten in Stuttgart darüber ins Beneh­men zu setzen, damit eine Katastrophe abgewendet werden könne. Denn man müsse sehen, daß die Sache in einem raschen Hinabgleiten ist. - Ich mußte dann abreisen und sprach nach wenigen Tagen mit Dr. Kolisko, indem ich ihm von diesem Auftrag erzählte. Ich erwar­tete, daß mir die Ausführung dieses Auftrages entgegentreten würde, wenn ich dann wieder hierher käme. Es kamen die traurigen Tage von Dornach, die dann zu allerlei geführt haben: zum Beispiel zu jener Jugend-Versammlung im Glashaus [am 6. Januar, nachmittags], auf der so schreckliches Zeug geredet worden ist. Dann zur aufgeschobe­nen [Mitglieder-]Versammlung vom 6. Januar. Herr Uehli fragte mich [einen. Tag] vorher nach dem Programm. Ich sagte, daß jetzt über die Konsolidierung gesprochen werden solle. Am nächsten Tag verlief die Versammlung so, wie sie eben verlaufen ist. Als ich dann [am 16.] hierher kam, wurde ich nicht empfangen von dem Zentralvorstand mit führenden Persönlichkeiten, sondern von einem Komitee, das sich gebildet hatte aus dem Dreißigerkreis heraus. Herr Leinhas erzählte mir beim Wegfahren aus Dornach, daß Dr. Unger nicht dabei sein solle. * Ich kam am Abend an, und in diesem Komitee wurde sehr scharf über diesen Zentralvorstand gesprochen. Man konnte von der Versammlung den Eindruck bekommen, man wolle sich überhaupt nicht mit dem Zentralvorstand einlassen, sondern man müsse selbst die Sache behandeln. Nun, ich meinte, Dr. Unger müsse doch dabei sein. Es fielen starke Worte. Es wurde unter anderem der Zentralvor­stand so kritisiert, daß von Dr. Stein gesagt wurde, er wäre ein Kinder­gespött geworden. Es war in Aussicht genommen, die Luft hier ener­gisch zu reinigen. Herr Uehli ist abgereist [zurückgetreten]. Es wurde die große Versammlung einberufen [am 22. Januar]. Dabei kam nichts heraus. Es wurden kleinere Versammlungen einberufen. Es kam nichts heraus, als daß ein Rundschreiben geschickt werden sollte. Nun sagte ich, daß man wissen müsse, was man den Delegierten sagen wolle. Gestern ging die kleine Versammlung tatenlos auseinander.** Da es

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* M. Steiner machte in ihrer Ausgabe die Bemerkung: «Man wollte Dr. Unger ausschal­ten.»

** Von dieser Versammlung des Siebenerkreises liegt kein Protokoll vor.

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doch klar ist, daß man mit einer kleinen Versammlung nicht weiter­kommen kann, beschloß man, diesen Dreißigerkreis zu berufen.

Die Verhandlungen dieses Kreises haben Sie heute abend mitge­macht. Der Ausgangspunkt war der, zur Reorganisation der Gesell­schaft etwas zu tun. Das haben Sie dadurch herbeizuführen versucht, daß sie die einzelnen Institutionen aufgefordert haben, sich über sich selbst zu äußern. Nun bitte ich, weitere Vorschläge darüber zu ma­chen, wie Sie sich denken, daß aus dem Schoße der Gesellschaft die Sache geleistet werden soll. Es würde sich darum handeln, daß dieses Komitee sagt, was es seinerseits will. Negative Kritik ist genug geübt worden.

Sie selbst behaupten, der Zentralvorstand sei zum Kindergespött geworden und er könne nicht bleiben, und Sie deuten darauf hin, daß etwas anderes an dessen Stelle treten müsse. Was ist das? Der Versuch müßte darin bestehen, daß man also wirklich diejenige Körperschaft an die Spitze der Bewegung stellt, die eine Garantie dafür bietet, daß es anders wird. Wie stellen Sie sich heute den Fortgang der Situation vor?

Dr. Palmer rät zu der Rückkehr zum Zustand von 1918.

Dr. Steiner: Sollte es nicht Mittel und Wege geben, sich nicht bloß in den Abgrund zu stürzen, sondern weiterzukommen?

Graf Polzer: Heute müßte die Anthroposophische Gesellschaft sich loslösen von diesen Institutionen. Die Verantwortung für diese sollte von bestimmten Persön­lichkeiten übernommen werden.

Dr. Steiner: In diesen Institutionen ist so viel Kapital investiert! Da­durch ist die Situation so geworden, daß sich diese Frage nicht mehr aus bloßen abstrakten Vorstellungen heraus lösen läßt. Denn das würde ja bedeuten, daß ich mich zurückzöge und die Sache von neuem begründen würde. Das würde folgen müssen. Wenn aus solchen wo­chenlangen Verhandlungen am Ende das zustande kommt, was bis heute geschehen ist, so würde es dazu führen, daß ich sage: Man muß etwas Neues begründen. - Man ist doch bei der Sache engagiert! Man muß doch aus den wirklichen Tatsachen heraus die Sache auffassen! Ich kann das nicht ausführen, was ich ausführen möchte. Das geht nicht. Es geht auch das nicht, daß man einfach eine Kampagne entriert, die dann so verläuft. (Notiz von Dr. Heyer: ... . daß die Gesellschaft öffentlich ab rückt von allem, was außer der Lehre Dr. Steiners entriert

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ist?») Man hat auch dafür die Verantwortung, daß man die Zeit nicht in der Art totschlägt, wie sie seither totgeschlagen worden ist.

Dr. Wolfgang Wachsmuth: Läßt sich das nicht so regeln, daß die Gesellschaft das bekannt gibt, öffentlich abrückt von allem, was außer der Lehre Dr. Steiners entriert ist?

Dr. Steiner: Nehmen Sie an, die Gesellschaft setzt in dieser Weise die Sache fort und ich würde genötigt werden, mich an die Mitglieder zu wenden: so müßte ich vermeiden, daß das Ansehen der Institutionen nicht gewahrt würde. Es darf das Ansehen des «Kommenden Tages» keine Einbuße erleiden. Es handelt sich lediglich um die Alternative:

Entschließt sich die Führerschaft, die jetzt die Sache in die Hand genommen hat, uns zu verraten, von welchen Ausgangspunkten sie ausgegangen ist, oder muß ich mich an alle Mitglieder wenden? Dann aber wäre es gut, es gleich am ersten Tag zu sagen, daß das erst geboren werden soll, was an die Stelle des Kindergespöttes zu setzen ist.

Dr. W. J. Stein: Wir dachten an die Änderung der Gesinnung und Änderung der Arbeitsrichtung.

Dr. Steiner: Was stellen Sie sich vor, was Sie der Delegiertenversamm­lung sagen werden?

Dr. Unger: Man müßte die Möglichkeit haben, der Versammlung etwas vorzule­gen, was zeigt, daß das Stuttgarter System überwunden worden ist. Palmer hat die Verantwortung übernommen für die Klinik, Leinhas für den «Kommenden Tag». Bei der Delegiertenversammlung würde ich vorschlagen, daß die Anthroposophi­sche Gesellschaft die Verantwortung für das, was sich «Bund für freies Geistesle­ben», nennt, übernimmt.

Dr. Steiner: Soll es dabei bleiben, daß dieses Dreier-Kollegium Lein­has - Unger - Kolisko* bis zur Delegiertenversammlung fortwirkt? Dr. Unger: Man wartet, daß von irgendeiner Leitung darüber berichtet wird.

Dr. Steiner: Sie dürfen nicht vergessen, daß es tatsächlich aufhören würde, daß der eine vom anderen etwas hält, wenn man in einer Delegiertenversammlung so redet, wie heute abend geredet worden ist. Vor eine große Versammlung muß man nicht mit Selbstkritik oder dergleichen, sondern mit positiven Ideen treten. Was geschehen ist die ganze Woche über, das ist: daß ein Kreis sich gebildet hatte, der

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* Dr. Kolisko war an Stelle von Ernst Uehli getreten.

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unzufrieden war. Solcher Kreise soll es noch verschiedene andere geben. Das ist furchtbar leicht: unzufrieden zu sein! Aber ohne daß Sie einer solchen Delegiertenversammlung irgend etwas Positives vorle­gen, kommen Sie zu nichts anderem, als daß die letzte Spur des Vertrauens verlorengeht.

Ich will vielleicht noch ein paar Fragen stellen. Es wird hier seit vielen Tagen verhandelt. Es war die große Versammlung hier. Ich stellte die Frage: Warum wird mit Positivem nicht in der Weise der Anfang gemacht, daß sich unter denjenigen, die sich als führende Persönlichkeiten betrachten, einzelne finden, die sich vorbereiten, so etwas bei der entsprechenden Gelegenheit vorzubringen, so daß die Zuhörer eine gewisse Besserung verspüren? Warum bereiten sich die Mitglieder, die führend waren, nicht auf gewisse Dinge vor? Warum läßt man die Dinge so laufen? Was für einen Eindruck haben wir bei den Mitgliedern gemacht, als Frl. Ruben* dazumal anderen obliegende Führereigenschaften schlimmster Sorte entwickelt hat dadurch, daß sie vorbereitet gekommen ist vor eine Versammlung. Warum bereiten sich nicht die führenden Persönlichkeiten auf die Situation vor? Wün­schen Sie auch eine Delegiertenversammlung, in der nur ein Frl. Ruben vorbereitet kommt und Allüren einer Führerpersönlichkeit entwik­kelt? Wenn man sich nicht bekümmert um das, was geschehen soll, sondern die Sachen laufen läßt, dann kommen wir nicht vorwärts, wenn noch so viel schmutzige Wäsche gewaschen wird.

Wenn wir nicht in bezug auf Eifer und Willen vorwärtskommen, dann kommen wir nicht vorwärts. Warum soll sich nicht die Möglich­keit finden, ein bißchen vorbereitet zu kommen, um etwas sagen zu können? Die kleinen Versammlungen sind so verlaufen, daß die Mit­glieder des Siebenerkreises erschienen sind, ohne auch nur vorher nachgedacht zu haben.

Ich habe einmal auf dasjenige hingewiesen, was eigentlich zur Schiefheit in der Entwicklung der Bewegung für religiöse Erneuerung geführt hat. Ich habe darauf hingewiesen, daß man diesem Kreis für religiöse Erneuerung den Vorsprung gelassen hat, das wirksamste Buch zu schreiben, so daß man sich nicht zu verwundern braucht, wenn diese Gesellschaft nun auch Erfolg hat, Wirksamkeit entwickeln

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* Ein Mitglied des Jugendkreises. Die betreffende Versammlung war die erweiterte Dreißi­gerkreissitzung am 22. Januar 1923. Was Frl. Ruhen vorbrachte, ist nicht festgehalten worden.

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kann, während die Anthroposophische Gesellschaft nur dazu ge­kommen ist, sich lediglich auf Abwehr des Unberechtigten zu be­schränken.

Gestern war wieder eine solche Versammlung.* Sie war verstärkt durch Herrn Uehli. Ich war genötigt, darauf hinzuweisen, daß die Sache gemeinschaftlich sein müßte und daß man sich bekümmern müsse um die Institutionen. Wir haben erlebt, daß Dr. Stein aufgetre­ten ist und das wiederholt hat, was ich gesagt habe. Heute versammeln wir uns hier, und weil ich gestern hingewiesen habe auf das Konkrete dessen, was uns zusammengeführt hat, wird heute das zum Programm gemacht, was ich gestern nur illustrativ angeführt habe. j

Warum findet man nicht die Möglichkeit, etwas, was man vorher überlegt hat, vorzubringen? Warum findet sich nicht die Möglichkeit, ein wesenloses Geschwätz von Frl. Ruben zurückzuweisen? Warum findet sich nicht die Möglichkeit, das zurückzuweisen, was Bock vorgebracht hat und was ich vorgestern zurückweisen mußte?** Was ich selbst also zurückweisen mußte? Warum halten wir Versammlun­gen, ohne daß sich die Persönlichkeiten darauf vorbereiten? Der Grundfehler ist der, daß sich kein Mensch auf das vorbereitet, was er hier vorbringen will. Wenn ein Mensch zeigt, daß er sich vorbereitet hat, dann bringt er es mit Wärme und mit Enthusiasmus vor. Einen Enthusiasmus hat es heute nur im Schimpfen gegeben. Man möchte nur wünschen, daß irgend etwas im Positiven mit Wärme vorgebracht würde! Das ist dasjenige, was man brauchen würde! Und das ist das, was fehlt. Hier herrscht eine Kälte, die das Ungeheuerlichste ist, und die ganze Versammlung hat dieses gemeinsame Charakteristikum, daß sie kalt ist bis zum Exzeß, daß keine Wärme verspürt worden ist!

Wenn man dieses erlebt, kann man nicht glauben, daß man dabei ist, die Gesellschaft fortführen zu können. Man könnte nur konstatieren, daß Sie nicht einmal nachdenken. Das ist das eigentümliche, daß man nicht innerlich Gedanken entwickelt. Heute abend sind alle Stühle zu kurulischen geworden. Wirklich, es ist eine Überraschung gewesen, daß dasjenige, was nur als Illustration von mir vorgebracht wurde, heute abend schon zum «Programm» gemacht worden ist.

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* Mit dem Siebenerkreis, siehe Seite 221.

** Bocks Ausführungen müssen ebenfalls in der erweiterten Dreißigerkreissitzung am 22. Januar erfolgt sein und von Rudolf Steiner in der Versammlung am 29.Januar, von der jedoch kein Protokoll vorliegt, zurückgewiesen worden sein.

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Adolf Arenson: Der Enthusiasmus ist nicht da. Andererseits ist doch in allen ein großer Schmerz vorhanden, daß sie das nicht aufbringen, was zu leisten wäre. Wenn es nicht möglich ist, etwas Positives zu finden, dürfen wir uns dann nicht um einen Rat an Sie wenden? Nicht heute vielleicht? Ich sehe sonst nicht, wie es möglich ist weiterzukommen. Ich bin überzeugt, daß wirklich alle vereint weiter-wirken möchten.

Dr. Steiner: Es ist doch etwas unmittelbar Aktuelles, daß tatsächlich am verflossenen Montag [22. Januar] Frl. Ruben den Vogel abgeschos­sen hat; daß man dies hat ruhig geschehen lassen, daß man aus Unauf­merksamkeit die Dinge von Bock hat hingehen lassen. Was hilft ein Rat, wenn die Dinge so verlaufen? Wenn man in wichtigsten Momen­ten die ungeeignetsten Dinge unmoniert geschehen läßt? Was hilft ein Rat, wenn ich schon seit Monaten erwähne, ich würde gern hören, warum das geschehen ist, daß die Milz-Broschüre boykottiert worden ist? Was hilft ein Rat? Ich darf nicht hören, was das Kollegium veran­laßt hat, hier den Auftrag zu geben, daß auf die Broschüre kein Auge fällt! Ich darf nicht hören, warum diese Dinge so sind!

Da hilft es nicht, davon zu reden, daß Ratschläge erteilt werden sollen. Das gehört zu dem, was die Gesellschaft ruiniert. Wie anders ständen heute unsere wissenschaftlichen Unternehmungen da, wenn einer der Ärzte den Mund aufgemacht und etwas gesagt hätte, was weiß Gott wie lange gesucht worden ist! Sie können zehn Heilmittelli­sten herausgeben mit wesenlosen Anpreisungen! Wenn aber die Welt erfahren würde, daß die Dinge an einer Klinik gemacht worden sind, so hätte die ganze Welt davon gesprochen. Warum geschieht so etwas nicht? Warum wird über so etwas nicht gesprochen, trotzdem ich seit Wochen darum bitte? Warum verschweigt man das? Man wird alle meine Ratschläge so befolgen, daß man sie boykottiert. Warum ist das so? Die Anthroposophische Gesellschaft hat sich zu dem entwickelt, daß man sagen könnte: Es wird innere Opposition gemacht; zum Beispiel bei denjenigen, denen es zugekommen wäre, die Milz-Bro­schüre zu behandeln. Die Anthroposophische Gesellschaft hat es ge­schehen lassen, daß ein Kreis zu mir in offene Opposition getreten ist. Lind das, obwohl ich wiederholt bemerklich gemacht habe, daß alles von mir Gesagte in den Wind geschlagen worden ist. Ist es erhört, daß hier ein Ärzte-Kurs gehalten wird und dann das, was unmittelbar als bedeutende Leistung in Erscheinung tritt, so boykottiert wird? Wür­digt man das ganz Skandalöse, das in dieser Sache liegt? Das ruft die

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Notwendigkeit hervor zu sagen: Die Gesellschaft tut ja nichts.* Die Frage ist die: Will sich die Gesellschaft jetzt so einsetzen, daß mir nicht mehr ins Gesicht geschlagen wird durch die Anthroposophische Gesellschaft wie bisher? Dr. Rascher quartiert sich in Dornach in einem Hause ein, wo die Frau Häfliger wohnt, und die erfährt dort von ihm einiges über die Opposition gegen die Milz-Broschüre. Ich frage Sie: Wie werde ich, wie wird eine solche Sache selbst in engeren Kreisen behandelt? Wie hat sich die Ärzteschaft verantwortlich ge­fühlt für dasjenige, wofür sie sich verpflichtet hat, es in ihren Kreisen bleiben zu lassen? Das ist die Anthroposophische Gesellschaft! - - Die Sache muß sehr schnell gegangen sein. Denken Sie sich diese Blamage. Ich werde immer molestiert, ich solle die Erlaubnis geben, daß man die Ärzte-Kurse lesen darf.

Dr. Rascher: Ich möchte doch die Ärzte fragen, ob sie nicht antworten wollen. Dr. Husemann: Es ist aus Angst vor der Broschüre geschehen. Ich hatte Angst vor der Diskussion. Aus Feigheit ist es geschehen.

Dr. Steiner: Wenn wir weiter die Dinge so anstellen werden - -[Lücke]

Ich habe noch keine Besprechung der Broschüre von Frau Kolisko in der «Anthroposophie» gefunden. Der Weg, den Sie eingeschlagen haben, ist der, daß Sie die Sache verschwinden machen werden, um sie vielleicht nach zehn Jahren in einer Klinik aufleben zu lassen. Studie­ren Sie die deutsche Gelehrtengeschichte des 19. Jahrhunderts, was da alles vorgekommen ist.

Ich habe wirklich in der letzten Zeit mit positiven Ratschlägen nicht zurückgehalten. Keiner ist befolgt worden. Es handelt sich darum, daß man an einer bestimmten Stelle Ratschläge gibt und daß sie dann alle in den Wind geschlagen werden. Und zwar so stark wie dieser.

Es sprechen einige über die vorangegangene Lethargie.

Marie Steiner: Dr. Unger ist gewillt, dies in starke Aktivität umzuwandeln. Er ist derjenige, der die Anthroposophische Gesellschaft mit in die Welt gesetzt hat. Er hat eine solche Erfahrung, die es ihm möglich machen wird, einiges wieder gutzumachen, während ich nicht glaube, daß jemand anders diese selben Fehler vermeiden wird. Ich finde es sonderbar, daß man Dr. Unger als Zentralpunkt der Angriffe genommen hat. Bei zahlreichen Mitgliedern ist die Tendenz vorhanden, gegen Dr. Unger zu arbeiten. Wenn ich nach Stuttgart komme und merke, wie die

- - -

* Hier ist in der Übertragung von Karl Schubert angemerkt: «Lücke».

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Zahl der Angestellten wächst, und wenn ich bedenke, wie andere in Dornach arbeiten, ohne Gehalt, so muß ich sagen: Diejenigen, die angestellt sind, arbeiten viel weniger. Mir wird es nie einfallen, in diesen Vorstand eintreten zu wollen. Aber ich würde gerade meinen, daß Dr. Unger jemand ist, der bleiben kann; ihm fehlt aber jetzt der Glaube an sich. Man muß ihm die Möglichkeit geben, den Glauben wiederzugewinnen. Und Dr. Unger müßte selbst auch etwas dazu tun.

Es wird ein Vorschlag gemacht, den Dr. Unger zurückweist. - Dr. Hahn spricht. Es werden Vorschläge gemacht.

Dr. Steiner: Meinungen und Äußerungen interessieren mich nicht. Herr Dr. Hahn hat sein Interesse darauf beschränkt, um verschiedene Besprechungen zu bitten. Wenn Sie bloß aus irgendwelchem Glauben heraus das beweisen wollen, dann begründen Sie es auch.

Dr. Hahn: Mir scheint dieser Vorschlag indiskutabel zu sein.

Dr. Steiner: Aus verborgenen Gründen heraus werden Vorschläge gemacht. Aus solchen Meinungen und Überzeugungen setzt sich das Siebenerkollegium zusammen!

Eugen Benkendörffer: Ich habe es begrüßt, als ich hörte, daß Dr. Kolisko in den Vorstand aufgenommen werden sollte.

Es wird dazu Stellung genommen.

Eugen Benkendörffer: Trotzdem bin ich der Meinung, daß Herr Dr. Kolisko vorläufig in den Zentralvorstand eintreten sollte. Dann kann in neuer oder breite­rer Weise über die Führung der Geschäfte der Gesellschaft gesprochen werden.

Dr. Unger: Wenn ich mich bereit erkläre, es wieder zu machen, so muß ich annehmen, daß sich die Freunde mit Überzeugung dahinterstellen. Wenn wir uns verstehen, werden wir die Arbeit wieder aufnehmen können. Wenn wir nur hindurchschauen durch alle die vielen Schleier von Vorurteilen, werden wir sicher unsere Beziehungen wiederfinden.

Dr. Steiner: In nächster Zeit steht der Fragenkomplex des Goethe­anums und der Führung der Gesellschaft in anderer Art zur Diskus­sion. Nun muß ich sagen, daß ich aus den Besprechungen, die hier stattgefunden haben, nicht die Überzeugung gewinnen kann, daß das in irgendeiner Weise erfüllt würde, was ich in den Vorträgen ge­stern und vor acht Tagen [in GA 257] ausgesprochen habe: daß das Goetheanum nur aufgebaut werden könne, wenn auch eine starke Gesellschaft da ist.

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Ich habe dieses Siebenerkomitee mit einer gewissen Befriedigung emp­fangen und nicht vorausgesetzt, daß sich alles genau erfüllen würde, was ich befürchtet hatte. Ich habe mich gefreut, daß sich eine Anzahl von Menschen zusammengefunden haben, die etwas tun wollen. Aber nun, die Wochen, die uns beschäftigt haben, die haben meine Besorg­nis nicht vermindert! Und nun muß ich sagen: Wiederum mit der absoluten Ungewißheit über das Schicksal der Anthroposophischen Gesellschaft abreisen zu müssen - das ist hart. Und eigentlich wundere ich mich jetzt darüber, nachdem Zeit gewesen ist, sich irgendwie mit der Frage zu beschäftigen: wie Sie doch so ganz unvorbereitet wieder aufgetreten sind. Nicht wahr, Sie tun doch so, als ob Sie ahnungslos gewesen wären! Eine wirkliche Beschäftigung mit dieser Frage liegt nicht vor. Der Jugendkreis wird revoltieren, wenn nicht aus diesen Verhandlungen wirklich etwas hervorgeht. Ich möchte den Siebener­kreis an seine Pflichten erinnern.

Stellen Sie sich vor, ich wäre hier angekommen, ohne daß sich dieser Siebenerkreis gebildet hätte. Dann hätte ich der Tatsache gegenüber­gestanden, daß Herr Uehli meinen Auftrag nicht ausgeführt hat. Ich wäre sehr besorgt gewesen um die Sache. Ich hätte mit dem alten Vorstand die Sache zunächst auszufechten gehabt. Dasjenige, was herbeigeführt worden wäre, wäre dann gewiß so verlaufen, daß nicht die Spatzen das alles von den Dächern herunterpfeifen würden. Nun ist es so weit gekommen, daß heute, wenn nichts Erhebliches ge­schieht, die offene Revolte in der Gesellschaft da ist, weil alles hinaus­getragen worden ist. Was hier verhandelt worden ist, das ist so gut wie in die ganze Gesellschaft hinausgetragen worden. Dadurch sind die Besorgnisse nicht vermindert, sondern vermehrt worden.

Ich wundere mich darüber, daß dieser Siebenerkreis, der ein neues Element hinzufügen könnte, sich so wenig seiner Verantwortung bewußt ist. Das ist schon natürlich eine Sache, die heute außeror­dentlich schwerwiegend ist. Man darf nicht ungestraft eine solche Initiative ergreifen und sich nachher zurückziehen. Herr Leinhas hat von allem Anfang gesagt, daß man etwas Positives an die Stelle des Alten setzen solle. Wenn wenigstens dies befolgt worden wäre! Die ganze Studentenschaft ist der Meinung gewesen, daß der alte Vor­stand nichts taugt. Nun hat das Siebenerkomitee diese Meinung zu der seinigen gemacht, und die ganze Sache verläuft wieder im Sande! So gehen die Dinge nicht weiter. Es ist ganz sicher, daß wir die

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Anthroposophische Gesellschaft einfach nicht in dieser Verfassung lassen können.

Adolf Arenson: Es ist jetzt der Wille zum Übernehmen von bestimmten Aufgaben von Dr. Unger geäußert worden. Herr Dr. Kolisko hat sich bereit erklärt, mit Dr. Unger zusammen die Arbeit zu machen. Dazu gehört, daß wir uns alle herzlich dahinterstellen. Wenn das möglich ist, dann gebe ich die Hoffnung nicht auf.

Dr. Steiner: Nun fragt es sich, ob man sagen kann, daß die alte Anthroposophische Gesellschaft weiterarbeiten wird. Es ist aber die Jugend da, mit der müßte etwas Besonderes begründet werden. Sie kennen die Stimmung der Jugend nicht. Sie wird sich nicht mit alledem zufrieden geben, das versichere ich Sie, was hier gesagt worden ist. Das zweite ist, daß dieses Goetheanum den Nebentitel hat «Freie Hoch­schule für Geisteswissenschaft» und daß die Prätention hervorgerufen worden ist, wissenschaftliche Leistungen aufzuweisen. Die Gegner­schaft mag noch so groß sein, aber die Leute dürfen nicht Recht haben. Es ist unmöglich, gegen diese Gegnerschaft mit dem Bau eines Goe­theanum, dieser Freien Hochschule für Geisteswissenschaft, aufzu­kommen, wenn darauf hingewiesen werden kann, daß wissenschaft­lich nichts geleistet wird. Wie leichtsinnig gebärden wir uns mit so etwas wie mit dieser Atomismus-Polemik! Wir brauchen nicht anzu­streben, was Dr. Theberath meint: nur ja das Wohlgefallen der Privat­dozenten zu erringen! Sondern wir müssen ehrlich vor die Welt hin­treten mit Dingen, die in sich die Möglichkeit haben, wissenschaftlich dazustehen. Das müssen wir haben, nicht wahr?

Bei der Jugend wird Aufklärung nichts fruchten. Bei der Jugend wird nur fruchten, wenn ihr der Zentralvorstand so entgegentritt, daß sie anfängt, an ihn zu glauben. Aber mit Bezug auf die Prätention der wissenschaftlichen Richtung kann uns die Gegnerschaft angreifen. Man will nicht einen ernstlichen Anfang machen mit dem, womit man einen unernstlichen Anfang gemacht hat. Es bleibt nur die Waldorf­schule übrig; die muß gehegt werden, damit die nicht auch fällt. Man muß mit der Jugend fertig werden und mit alledem, was sich an Gegnerschaft dadurch aufgehäuft hat, daß seit 1919 die ganzen Ange­legenheiten so geführt worden sind, daß die Leute wütend geworden sind und nichts Vernünftiges gegen diese Wut gemacht worden ist.

Ich hatte nicht einmal Zeit, so etwas zu lesen-- [Lücke]. Die Dinge [Institutionen] sind begründet worden, und ein jeder setzt sich dann

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auf seinen kurulischen Stuhl. Dann muß ich mir überlegen: Wie werde ich fertig mit den Dingen, die jetzt auch an mich herangekom­men sind.

Sie legen mir erstens die Verpflichtung auf, mit der Jugend allein fertigzuwerden; zweitens allein aus zub aden, was durch die ganz schiefe Stellung gegenüber der Wissenschaft angerichtet worden ist. Auf den Rest der Anthroposophischen Gesellschaft, auf den ziehen Sie sich dann zurück. Die ist nicht von Gelehrten begründet worden, wahrhaftig nicht! Man muß sich vorstellen, wie sich die Dinge in den nächsten Tagen entwickeln können. Es muß doch etwas gemacht werden können! Wenn man sagt: «Wir werden arbeiten», das genügt noch nicht. Man hat Projekte aufgestellt und die Gesellschaft dazu benützt, diese Projekte in sie hineinzutragen: Alle diese Begründun­gen haben sich ergeben als Parasiten der alten Anthroposophischen Gesellschaft, und man zeigt kein Verständnis dafür, daß zugleich ein neues Verantwortungsgefühl auftreten müßte.

Aus jedem Wort in dieser Versammlung geht hervor, daß kein Verständnis nach irgendeiner Richtung vorhanden ist. Wir sind daran, uns wissenschaftlich gründlich zu blamieren. Fortwährend dieses Schweifwedeln vor der Wissenschaft habe ich niemals verlangt! Dar­auf brauchen wir keinen Anspruch zu machen, daß die Universitäts-professoren unser Vademecum loben. Innerlich muß es mit Gediegen­heit auftreten können; das ist dasjenige, um was es sich handelt. Die Gegner werden schimpfen, sie dürfen nur nicht Recht haben! Es geht nur voran, wenn eine Führerschaft wirklich da ist für etwas, was begründet worden ist. Eine Führerschaft muß da sein. Wenn keine Führerschaft da ist, wenn man sagt, man habe Angst vor der Diskus­sion: Wie will man da überhaupt weiterarbeiten? Da hat man Institu­tionen, von denen der Welt gesagt worden ist, sie wollten etwas Großartiges! Und dann hat man Angst davor, mit jedem Schaf, das von einer Klinik herkommt, zu diskutieren.

Machen Sie es mir möglich, meine Tätigkeit auf die Waldorfschule einzuschränken, da sich die Tätigkeit in der Waldorfschule auf eine kurze Zeit beschränken läßt. Machen Sie mir möglich, daß ich das Forschungsinstitut nicht mehr zu besuchen habe! Wenn Sie das bewir­ken, dann werde ich wissen, wie ich die Sache zu dem alten Status zurückzubringen habe. Ich werde mich dem Schicksal der Anthropo­sophischen Gesellschaft widmen können.

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Befreiung in diesen vier verschiedenen Richtungen - dann werde ich fertig. Und bequemen Sie sich, nicht unvorbereitet zu jeder Ver­sammlung zu kommen, sondern auch einmal vorbereitet zu kommen.

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Die vierten Stuttgarter Verhandlungen

vom 5. bis 8. Februar 1923

Montag, 5. Februar: Sitzung mit dem Dreißigerkreis

Dienstag, 6. Februar: Vortrag im Zweig über Fragen anthroposophischer Ge­meinschaftsbildung (in GA 257). Anschließend: Sitzung mit dem Dreißigerkreis (Nachtsitzung)

Mittwoch, 7. Februar: Sitzung mit dem Dreißigerltreis

Donnerstag, 8. Februar: Besprechung mit einer Jugendgruppe

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, Montag, 5. Februar 1923

laut Dr. Heyer, Beginn 11 Uhr abends

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Dr. Unger berichtet, man wolle sich in ernster Verantwortung zum Weiter­führen der anthroposophischen Angelegenheiten zusammenfinden. Eine Er­klärung gegenüber der Mitgliedschaft mit den Unterschriften aller hier Anwe­senden solle endgültig formuliert werden. Für die Gründungen wollten ein­zelne die Verantwortung übernehmen.

Dr. Palmer sagt, Dr. Noll solle entlastet werden und bis zum 1. August für das Vademecum Zeit haben.

Dr. Noll hat die Hoffnung, daß die Hindernisse überwunden und das Buch geschrieben werden könne.

Dr. Peipers will sich verantwortlich fühlen für die Verbindung mit den Ärzten und für die Vorträge vor Arzten usw.

Alexander Strakosch sagt, die 1920 gestellten Aufgaben sollten wieder im Mittelpunkt stehen. Dr. Maier solle die Arbeit mit dem Magnetfelde, Dr. Noll die Aufgabe des Vademecum, Dr. Streicher die Kristall-Lösungen und Pflan­zen-Substanzen erledigen; Dr. Theberath betrachtet die Tag- und Nacht-Aufgabe als abgeschlossen. Sie wollten sich alle bemühen, daß Dr. Steiners Kurse richtig bearbeitet werden könnten.

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Es berichten:

Dr. Heyer über die Arbeit an der Wochenschrift «Anthroposophie»;

Dr. Theberath über seine wissenschaftliche Arbeit, das Vergleichen der Zer­setzlichkeit lichtempfindlicher Substanzen bei Tag und bei Nacht;

Dr. Hahn über die Bearbeitung des sprachwissenschaftlichen Kurses und

über das Verhältnis zur Jugendarbeit;

Dr. Kolisko über die Vertrauensorganisation;

Dr. Unger auch über die geplante Vertrauensorganisation;

Paul Baumann über die Arbeit in der Schule;

Jürgen von Grone will den Komplex der Gegnerschaft bearbeiten.

Dr. Steiner: Zunächst kann ich da keinen Punkt finden, der aus irgend­einer Beratung hat hervorgehen sollen. Daß verschiedenes verspro­chen worden ist, das steht in der Initiative der verschiedenen Persön­lichkeiten. Der einzige Punkt, der mir aufgefallen ist, ist der, daß heute eine Beratung mit der Jugendorganisation stattgefunden hat. Dies könnte etwas Positives enthalten.

Dr. Unger über diese Verhandlung mit der Jugend. Dauernde Fühlung. Austausch .

Dr. Steiner: Was war Inhalt der Besprechung?

Dr. Unger: Mißtrauen der Jugend gegenüber den Älteren. Zusammenarbeit beschlossen.

Dr. Steiner: Das sind Formalien. Was das Konkrete? [Hier folgt offensichtlich eine Lücke im Stenogramm.]

Dr. Steiner: Was soll der Delegiertenversammlung vorgelegt werden? Oder was soll im Rundschreiben darinnenstehen? Dann möchte ich fragen: Hat dieses Siebenerkomitee zu dem, was heute gesagt worden ist, seinerseits etwas zu sagen? Fühlt es sich befriedigt von dem Ergeb­nis der Beratungen der letzten Tage?

Dr. Kolisko: Wir haben es als unsere Aufgabe angesehen, mit dem ganzen Kreis zusammenzuarbeiten.

Dr. Steiner: Man könnte sogar, wenn man heute einen Aufruf machen wollte, unter Umständen einzelne Sätze, die von mir zur Aufklärung gegeben worden sind, in entsprechender Formulierung zusammen­stellen. Es würde dann ein Aufruf herauskommen und das Bemerkenswerte

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vorliegen, daß man gar nicht bemerkt hat, daß ich ja schon in den letzten Wochen Ratschläge gegeben habe. Das ist eine bemerkens­werte Tatsache, daß man fortwährend Ratschläge verlangt und sie dann nicht einmal bemerkt.

Es liegt die Alternative vom 10. Dezember vor: Ich muß meinerseits bitten, ob - aus den Ereignissen der letzten Jahre heraus - der Zentral-vorstand mit den anderen zusammen in der Lage ist, seinerseits zu sagen, was er tun will, damit die zerfallende Anthroposophische Ge­sellschaft weiterkommen kann. Sonst wäre ich genötigt, über die Köpfe hinweg das zu tun, was ich meinerseits für notwendig halte. Wenn zwei Dinge dieser Art, wie sie sich hier gegenüberstehen, in Betracht kommen, dann kann man nicht so sprechen, wie Sie heute wiederum gesprochen haben. Es kann sich nicht darum handeh, daß ich irgendwelche Direktiven gebe, die ausgeführt werden sollen. Denn ich habe angedeutet: Wenn ein Zentralvorstand einen Sinn haben soll, so muß er etwas wollen, was natürlich über die bloßen Formalien hinausgeht. Der Willensinhalt des Zentralvorstandes darf nicht gleich Null sein. Sonst können Sie noch so viele Versprechungen in bezug auf die einzelnen Institutionen machen, daß sie recht brav sein wollen, nachdem sie es früher nicht waren. Es würde alles nichts helfen. Es wäre wirklich notwendig, daß wir heute nicht bloß theoretisieren, sondern daß etwas Greifbares vorläge, was geschehen soll. Ich finde, daß in allem, was vorgebracht worden ist, das Wichtigste nicht gesagt ist. Denn die Jugend ist nicht das Wichtigste. Die Jugend sollte ein Echo für Sie sein, nicht umgekehrt. Die Jugend erwartet in Wirklich­keit etwas von den Alten. Impotent---Was ist in Wirklichkeit in den letzten Tagen positiv beraten worden? Die nächste Tat müßte diese sein, daß ein Aufruf zu einer Delegiertenversammlung erlassen würde und daß die Dinge darinnenstehen, von denen ich dachte, daß sie greifbar behandelt werden müßten. Der Hochschulbund ist die steril­ste und eine der schädlichsten Gründungen: steril, da nichts getan; schädlich, weil Kundgebungen, hinter denen niemand stand. Dadurch Unsumme von Gegnerschaft. Aus Hochschulbund Anzahl junger Leute: still für uns uns in Anthroposophie vertiefen; haben gar nicht gesagt, daß sie etwas tun wollen, in der Zukunft der Jugend etwas zu geben. Die erste Aufgabe wäre, daß wir die Tatsachen mit den richti­gen Worten bezeichnen. Nehmen Sie die Haltung meines Kursus für die Jugend [GA 217].

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Dr. Unger spricht über den geplanten Aufruf.

Dr. Steiner: Ich darf vielleicht noch fragen: Wie denken Sie sich die Fortsetzung der laufenden Angelegenheiten? Es wäre genug gewesen, wenn die Kundgebung verlesen worden wäre. Die Kundgebung war töricht durch die Tatsache, daß niemand dahinterstand; an sich war die Kundgebung gewiß gescheit.* Die Jugend hat gar nicht erklärt, daß sie etwas tun will. Der Pädagogische Jugendkurs [GA217] enthält Rat­schläge, die nur nicht beachtet worden sind. Mit dem Brand des Goetheanum hängt das nicht zusammen, was wir hier verhandeln. Das Goetheanum stand noch, als der Auftrag vom 10. Dezember gegeben wurde. Die Tatenlosigkeit ist fortgesetzt worden. Das erste war, daß ich von einem jungen Mann überfallen worden bin, der mir gesagt hat, daß die heutige Diskussion** noch schrecklicher verlaufen sei als bisher und daß, mit Ausnahme einer Unterredung mit der Jugend, nichts wirklich geschehen sei. Ich werde noch einmal herkommen, weil ich erwarte, daß wenigstens die erste Tat getan wird: der Aufruf. Meinetwillen will ich auch morgen nachmittag eine Konferenz abhal­ten. Es ist nicht die Gesinnung dazu vorhanden, daß etwas Frucht­bares gemacht wird. Wenn man der Meinung ist, daß überhaupt etwas gemacht werden soll, so weiß ich nicht, warum nicht wenigstens der erste Ansatz dazu gemacht wird. Was ist der Inhalt der Kundgebung? Dieser Inhalt der Kundgebung mit der Konstatierung - - - [Lücke] ist etwas, was ich nicht verstehe. Die Art, wie das heute dargestellt worden ist, hat sehr ungünstig gewirkt. Daß dann Unsinn geredet wird, ist natürlich.

Dr. Unger hat gesagt, der Entwurf solle nicht früher gemacht werden, als bis nicht die wichtigsten Dinge vorgebracht worden seien.

AdolfArenson: Dr. Unger hat es zwei Tage versucht, aber die Beschäftigung von morgens bis abends hat es ihm nicht möglich gemacht.

- - -

* Diese Kundgebung liegt nicht vor.

** Vermutlich eine Besprechung, die vor Rudolf Steiners Ankunft stattgefunden hat.

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS Stuttgart, Dienstag, 6. Februar 1923 (Laut Dr. Heyer Nachtsitzung nach Rudolf Steiners Zweigvortrag)

#G259-1991-SE260 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, Dienstag, 6. Februar 1923

(Laut Dr. Heyer Nachtsitzung

nach Rudolf Steiners Zweigvortrag)

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[Die bisher ergebnislosen Verhandlungen haben zu dem nicht protokollierten Vorschlag Rudolf Steiners geführt, ein Neunerkomitee zu bilden, das anstelle des Zentralvorstandes die Leitung bis zur Delegiertenversammlung übernehmen soll.]

Dr. Stein: Es ist so wenig die Möglichkeit gegeben, neue Vertrauenspersönlichkei­ten zu designieren.

Es sprechen über den Aufruf Dr. Schwebsch, Dr. Noll, Karl Stockmeyer, Dr. Un­ger, Paul Baumann, Dr. Hahn, Hans Kühn, Alexander Strakosch.

Marie Steiner: Der erste Satz des Aufrufs scheint mir die Gesellschaft ganz plötzlich auf eine demokratische Basis zu stellen.

Es sprechen Adolf Arenson, Dr. Unger, Frl. Dr. von Heydebrand, Dr. Kolisko, Jürgen von Grone, Dr. Stein - alle über den Aufruf.

Marie Steiner: Zentralvorstand? Ein solcher Vorstand kann doch nicht «Zentral-vorstand» genannt werden! Ein solcher Riesenvorstand verdient wohl nicht den Namen «Zentralvorstand».

Dr. Blümel: In welcher Stellung steht der Zentralvorstand zum internationalen Leben?

Dr. Steiner: Es kann hier, so wie die Verhältnisse liegen, nur von der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, nicht einmal in Österreich gesprochen werden. Die anthroposophische Bewegung ist von Deutschland ausgegangen. Wir haben immerhin das erreicht -durch den englischen Lehrerbesuch ist es bekräftigt worden-, daß sozusagen das Ausland diese Tatsache hingenommen hat und anzuer­kennen bereit ist - trotz aller sonstigen Abneigung gegen Mitteleu­ropa -, daß die anthroposophische Bewegung von Deutschland ausge­gangen ist. Deshalb ist es notwendig, daß die Konsolidierung jetzt von Deutschland besorgt wird. Es hat sich die Anthroposophische Gesell­schaft in der Schweiz gebildet. Eben in Bildung begriffen ist die Gesellschaft in Frankreich, ebenso in England. Die schwedische Ge­sellschaft ist von Anfang an eine eigene gewesen. Die norwegische will auch eine eigene werden. Diese Gesellschaften werden in Zukunft

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selbständig sein und einen gemeinsamen Mittelpunkt in Dornach su­chen, so daß der internationale Mittelpunkt in Dornach bleiben wird. (Notiz von Dr. Heyer: «Dornach suchen, wenn Dornach bleibt.») Ich habe immer darauf bestanden, daß die Konsolidierung hier in Deutschland geschehen muß, weil diese historische Tatsache ja aner­kannt wird, daß die anthroposophische Bewegung von Deutschland ausgegangen ist. (Notiz von Dr. Heyer: «Überall Krisis, falls in Deutschland keine Konsolidation.») Beschließen können Sie hier aber nichts. Die französische Gesellschaft wird die Tatsache anerkennen, sich mit der deutschen Gesellschaft in Dornach - wenn es bleibt - als zukünftigem Mittelpunkt zusammenzuschließen. Was hier geredet worden ist, gilt nur für die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland. Außerdem ist notwendig, daß sich diese Gesellschaft in Deutschland, als Ausgangspunkt der Anthroposophie, konsolidiert -und alles weitere sich dann anschließen kann. Das ist dasjenige, was formell zu verstehen ist: Daß hier, auf Grundlage der Historik, nach allen Seiten hin konsolidiert wird. Auch die Festsetzung der Mitglieds­beiträge ist nicht für außerhalb Deutschlands zu machen. Das, was Sie «international» beschließen, darum kümmert sich keine Katze drau­ßen. Ein Zentralvorstand kann nur für die Anthroposophische Gesell­schaft in Deutschland dasein.

Adolf Arenson spricht über die Einladung der Delegierten.

Dr. Steiner: Erstens könnte über den Aufruf gesprochen werden. Aber Sie müssen sich klar sein, daß der provisorische Zentralvorstand von sich aus diesen Aufruf nicht unterschreiben kann. Da kommen, wenn alle diese Ding darinstehen, die Gründe von Herrn Arenson in Be­tracht, daß die Majorität des bisherigen Zentralvorstandes, die bleiben würde, nur ausgefüllt mit Dr. Kolisko, nach Weggang des Herrn Uehli, diesen Aufruf nicht unterschreiben kann. Der Aufruf kann auch nicht in dieser Weise gemacht werden, daß bloß eine Selbstan-klage hinausgeschrieen wird in die Welt. (Notiz von Dr. Heyer:

«Schrulle von Dr. Stein, daß Selbstanklage... ») Er müßte mindestens von einer Vorstandsmajorität unterschrieben sein, die nicht in ihrer Mehrheit den bisherigen Vorstand darstellt.

Man kann nicht wirken dadurch, daß man seine eigene Schuld unterschreibt. Es können ja die Vorstandsmitglieder darunter stehen -es müßte aber eine Majorität da sein, die sich nicht identifiziert mit der

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Schuld. Diesen Aufruf, unterschrieben von drei Mitgliedern des provi­sorischen Vorstandes - Unger, Leinhas, Kolisko - hinauszusenden, hieße der Gesellschaft den letzten Todesstoß geben. Man stellt ein Vertrauen nicht dadurch her, daß man sich selbst ein Mißtrauensvo­tum ausstellt. Das gibt es nicht. Das kann nur Dr. Stein aus einer gewissen Lebensunpraxis heraus als etwas Mögliches ansehen!

Das zweite ist, daß Sie real berücksichtigen, wie weit die Dinge schon gediehen sind. Gerade heute habe ich einen Brief von Frau Wolfram bekommen, die darüber schreibt, daß der Leipziger Zweig kaum mehr funktioniert, weil sich die Zweigmitglieder zusammenge­tan haben zum «Bund für freies Geistesleben», der ohne Zusammen­hang mit der Anthroposophischen Gesellschaft wirken wird. Diese Dinge werden sich vermehren. Man wird anfangen, die Anthroposo­phie außerhalb der Gesellschaft zu propagieren. Das Positive liegt darinnen, daß in einem gewissen Sinne auch neue Leute sich dafür einsetzen, nicht bloß in der Majorität die alten.

Mir ist dargestellt worden, daß die Jugendgruppe ganz versöhnt wäre. Dagegen ist mir heute dieses Schriftstück übergeben worden. Ich will durchaus nicht behaupten, daß im Sinne dieses Schriftstückes verfahren werden solle; es zeigt aber die Stimmung. Mit der hier ge­meinten Vertretung der Jugend geht es nicht so, daß man einen in die Gesellschaft hereinruft, aber die Strömung müßte vertreten sein. Diese Gruppe müßte die Verantwortung für die fruchtbare Fortfüh­rung ihrer Arbeit übernehmen. Nicht wahr, eine solche Sache kann nur so bearbeitet werden, daß zunächst diese Leute ihre Entschließung für sich allein fassen; denn diese Gruppe steht vorläufig überhaupt noch nicht in der Anthroposophischen Gesellschaft darinnen. Es müßte also etwas entstehen, was als ein Ganzes mit solchen Gruppen in irgendwelche Beziehung tritt. Alle Kompromisse führen zu nichts, weil die Differenzen doch bald wieder da sind und nicht überbrückt worden sind.

Ich möchte, daß Sie sich darüber klar werden, daß in dieser Form der Aufruf nicht von den drei Vorstandsmitgliedern unterschrieben werden kann, sondern daß Sie auf Mittel und Wege sinnen müssen, um nun wirklich das zu umfassen, was heute zur Anthroposophie will, ganz gleichgültig, wie Sie es im Werte beurteilen.

Dann möchte ich noch auf folgendes aufmerksam machen. Es ist notwendig, daß diese Delegiertenversammlung an der Konsolidierung

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der Gesellschaft mitarbeitet. Dazu ist wirklich nicht notwendig, daß man etwas anderes für die Zusammensetzung der Delegierten als Grundsatz aufstellt, als daß alle Delegierten, die hergeschickt werden, im Sinne eines anthroposophischen Zusammenschlusses arbeiten. Da können keine solchen herkommen, die anti-anthroposophisch sind. Um zu konsolidieren, braucht man nicht Redner herzuberufen, die gegen die Anthroposophie reden. Da es sich um den Zusammenschluß der Anthroposophen handelt, ist es nötig, daß sie für die Anthroposo­phie reden.

Nicht wahr, die Anknüpfung an die alte Vertrauensmänner-Orga­nisation wird im tiefsten Sinne des Wortes verstimmen. Es wird kaum etwas zustande kommen, wenn die alte Vertrauensmänner-Organisa­tion gelten wird. Die Delegierten sollen mit denen, die hier führend sind, über dasjenige beraten, was laufende Angelegenheiten des an­throposophischen Zusammenschlusses sind. Es ist notwendig, daß man alles Bürokratische von der Kundgebung ausschließt, so daß Sie die Frage: Wozu kommen die Delegierten her? - einfach so beantwor­ten müssen, daß sich die führenden Persönlichkeiten in Stuttgart über die laufenden Angelegenheiten besprechen wollen. Kein Programm vorher aufstellen! Dann wissen die Leute, wozu sie herkommen sol­len. Aber wenn man eine Art bürokratische Organisation machen will, dann werden sie nur verstimmt. Es sind Haßstimmungen gegen das bürokratische System von Stuttgart da. Das muß total vermieden werden. Man muß so wenig wie möglich darüber sagen, wie man die Delegierten wählen soll. Bloß dies, daß es sich darum handelt, daß die Leute zusammenkommen, die von den Zweigen oder von den beste­henden Gruppen geschickt werden, damit hier eine gemeinsame Be­sprechung stattfinden kann. Ganz unbürokratisch die Sache machen!

Dann hielte ich es nicht für günstig, wenn zu stark bloß das Nega­tive betont wird. Es kommt ja trotzdem. Wenn Sie die zwei Dinge zusammenlegen,* so werden Sie sehen, daß im wesentlichen das Nega­tive betont worden ist und nicht dasjenige, was als Positives dasein soll, um das man sich dann scharen sollte.

Aber ein Letztes, was nicht verschwiegen werden kann, ist dieses, daß Sie auf heftigen Widerstand stoßen werden, wenn Sie diesen Aufruf so gestalten, daß der Dreißigerausschuß in seiner Ganzheit die

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* Es dürften hier der zuletzt entstandene Entwurf zum «Aufruf» und das dazugehörige Begleitschreiben gemeint sein.

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Sache unterschreibt. Dadurch werden Sie die Leute auseinanderstre­ben machen. Dieser Dreißigerausschuß ist ein Gegenstand des Ansto­ßes, der gewiß nicht wirkt. Er ist braver und besser als sein Ruf - aber unterschreiben kann er nicht. Dieser Ausschuß hat sich gründlich mißhellig gemacht.

Es sprechen einige.

Marie Steiner sagt dazu: Man solle nichts festlegen; Dr. Steiner kann ja nicht Vorstand sein.

Dr. Steiner: Der Zustand von 1918 ist nicht wiederherzustellen! - Also das ist schon richtig, was darüber im Aufruf steht, daß der Zustand von 1918 nicht wiederherzustellen ist, daß man nicht einfach geradewegs verlangen kann, daß sich irgendwie ein Vorstand bildet. Das kann nicht sein. Das müßte in anderer Form geschehen. Aber warum sollte denn tatsächlich die Chance nicht genützt werden, daß also gewisser­maßen doch ein Weg gefunden würde, um diesen anthroposophischen Zusammenschluß zu bewirken, nachdem seit 1919, manchmal mit großem Aplomb von der Gesellschaft aus, alle möglichen Dinge unter­nommen worden sind. Ehe es zu spät ist, könnte doch ein Weg zum Zusammenschluß gefunden werden!

Aber Sie müssen sich klar sein, daß dazu ein wenig weltmännische Allüren gehören. Das Weltmännische würde fehlen, wenn man bloß diese zwei Elaborate zusammenstellt. * So kann man heute überhaupt nichts in die Welt hinausschicken; man muß sich auch an die Kreise wenden, die eigentlich schon innerlich abgefallen sind. Denn diese Nachricht habe ich heute bekommen, daß in Leipzig sich ein «Bund für freies Geistesleben» begründet hat, weil dort der Zweig zerfällt und man doch Anthroposophie pflegen will. Sie dürfen die Sache nicht so machen, um einen Zusammenschluß zu bekommen, daß sich die Leute zusammenschließen im Gegensatz zur Gesellschaft. Sie verlie­ren diese Sache, wenn Sie nicht im letzten Moment einen Zusammen­schluß bewirken. Dazu ist notwendig, daß Sie mit denen, die noch draußen stehen, wie die Jugend, wirklich aus einem neuen Ton heraus reden, ohne diese bloße Pater-peccavi-Idee, wo Sie sich selbst nur ein Mißtrauens-Votum geben. (Notiz von Dr. Heyer: «Sonst akzeptieren

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* Es dürften hier der zuletzt entstandene Entwurf zum «Aufruf und das dazugehörige

Begleitschreiben gemeint sein.

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die Leute es!») Das fürchte ich. Es handelt sich darum, daß man die Sachen weniger negativ formuliert, daß Leute - wenn auch in Stuttgart

- darunter stehen, die bisher nicht mit dem identifiziert werden, was man das «Stuttgarter System» nennt.

Die Kongresse sind ein Schulbeispiel dafür, wie es nicht hätte gemacht werden sollen. Diese Kongresse sind abgehalten worden mit vielen Kräften, und sie sind dann absolut nicht im Sinne der anthropo­sophischen Bewegung ausgemünzt worden, trotzdem ich betont habe, daß diese Kongresse uns, weil Anthroposophie unbegrenzt bespro­chen wird, letztendlich eine Gegnerschaft schaffen, die uns wie eine Mauer umgibt. Die Ausmünzung der Kongresse ist nie geschehen. Daher das Unglück mit dem Wiener Kongreß! Der Wiener Kongreß ist an sich - in seinem Rahmen - etwas sehr Gelungenes gewesen. Aber durch das Nichtausmünzen ist er tatsächlich zu unserem Schaden ausgelaufen. Es hat jetzt in Dornach eine Besprechung stattgefunden, ob man in Berlin einen Kongreß machen sollte [siehe Seite 66]. Das hat nun dazu geführt, in Berlin keinen zu machen. Wären die früheren Kongresse nicht bloße Kraftanstrengungen gewesen, hinter denen die Anthroposophische Gesellschaft nicht stand, sondern wäre sie dahin­tergestanden, dann könnten wir auch einen neuen Kongreß machen. Denken Sie doch, was irgendeine andere Körperschaft aus einem solchen Kongreß gemacht hätte! Sämtliche Zeitschriften würden mo­natelang solch einen Kongreß ausgemünzt haben! Bei uns ist das nicht geschehen. Wir machen aus alledem nichts.

Es hat an Veranstaltungen gewiß nicht gefehlt. Wenn die Veranstal­tungen zu unseren Gunsten gekehrt worden wären, dann würden wir nicht nötig haben, von einer Konsolidierung der Anthroposophischen Gesellschaft zu reden. Daß wir aus alledem nichts machen können, das ist gerade unser Unglück. Das, um was es sich handelt, ist dies, was überall hervortritt. Als die Leute von der «Religiösen Erneuerung» mit mir diskutiert haben, wo ich klargemacht habe, daß ich mich nicht am Herumreden beteiligen würde, da fragte ich: Habt Ihr irgend etwas, das zeigt, daß ich mich jemals so geäußert hätte über die religiöse Bewegung? - Wenn der rechte Standpunkt gewahrt worden wäre, so würde die Anthroposophische Gesellschaft durch ihre Organe klarge­macht haben, was das bedeutet, daß außer allen übrigen Dingen auch noch eine religiöse Erneuerungsbewegung aus der Anthroposophi­schen Gesellschaft hervorgegangen ist. Ich möchte wissen, welche

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Körperschaft in der Welt überhaupt auf so viele Dinge hinweisen kann wie die unsrige! Dazwischen läuft immer die Anthroposophische Gesellschaft wie das fünfte Rad am Wagen.

Alle diese Dinge haben wir nicht vertreten als Gesellschaft, und darauf käme es gerade an. Man muß wirklich den Stier bei den Hör­nern packen. Deshalb würde ich meinen: Wäre es nicht das vorteilhaf­teste - nachdem die Dinge nun einmal diesen Verlauf genommen haben -, jetzt in Erwägung zu ziehen, ob nicht dasjenige, was beab­sichtigt war am 10. Dezember, doch als eine Anregung aufgenommen werden könnte, damit irgend etwas dabei herauskommt? Es hat sich darum gehandelt, daß der Zentralvorstand, verstärkt durch andere Persönlichkeiten, etwas aufnimmt, was aus der Gesellschaft selbst heraus in positiver Weise auf eine Konsolidierung hinweist.

Wir haben ja erlebt, daß das Siebenerkomitee aufgetreten ist. Es hat sich leider in Negationen verloren, und als sich die Negationen er­schöpft hatten, hat es sich annulliert, es ist nicht mehr aufgetreten. Ja, nun wäre es doch möglich, daß dieselben Anregungen, die der Zentral-vorstand ignoriert hat, in irgendeiner Weise doch aufgenommen wür­den, damit etwas geschieht, nicht vom Dreißigerausschuß, sondern von einer Anzahl prominenter Persönlichkeiten in Stuttgart, die etwas zu vertreten haben. Ich gebe Ihnen das bloß zur Erwägung. Wenn Sie die Sache so machen, daß die Majorität des früheren Vorstandes und der Dreißigerausschuß diesen Aufruf unterschreiben, dann erreichen Sie gar nichts.

Die Mitglieder diskutieren weiter.

Dr. Steiner: Es ist nicht mehr viel Zeit vorhanden, es ist zu lange gezögert worden. Meine Meinung ist diese, daß eigentlich viele Leute hier wissen könnten, was zu geschehen hat. Aber es kommt nur so wenig bei den Beratungen heraus. Es wäre traurig, wenn nichts heraus-käme. Die Mehrzahl macht von der Gelegenheit keinen Gebrauch: Das ist ganz unbedingt so. Frl. Dr. Mellinger ist in der Jugendgruppe. Es hat gar keinen Sinn, sich mit der Jugendgruppe vorher zusammen-zusetzen, bevor die Alten sich nicht konsolidiert haben. Es kommt nur eine Rederei heraus, wenn man mit der Jugend verhandelt. Dann könnten Sie ebensogut alle Weltbewohner zusammenrufen. Zustande kommen kann doch nichts, wenn die Alten nicht wissen, was sie wollen. Es dürfte gar nicht anders sein, als daß die Jugend vertrauensvoll

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bei den Alten etwas sucht. Vorher dürfte es gar nicht dazu kom­men, sich mit der Jugend zusammenzusetzen. Diese Vertretung der Jugend kann erst kommen, wenn die alte Gesellschaft sich gefunden hat. Sonst - - wir können doch nicht den Bolschewismus im Prinzip einführen.

FrL Dr. Me/linger äußert sich zu der Sache.

Dr. Steiner: Die Sache ist so - wollen Sie sie im Prinzip auffassen-:

Die realen Institutionen, die zusammengehören und dasein müssen, sind: Berliner [Philosophisch-Anthroposophischer] Verlag; hiesiger [Kommender-Tag]Verlag; «Kommender Tag», Zeitung [«Anthropo sophie»]; Waldorfschule fruherer Vorstand vielleicht zerstreute In teressen; «Religiöse Erneuerung» Arzte Kollegium Das For schungsinstitut muß erst zeigen, daß es da ist Nicht wahr, nun würde sich ergeben, daß jemand da sein muß vom «Philosophisch Anthroposophischen Verlag». Den konnen wir selbst vertreten, fur das würde Frl. Mücke in Betracht kommen; hierfür kann nur Frl. Mücke in Betracht kommen. - Hiesiger Verlag: W. Wachsmuth; Kli­nik: Dr. Palmer; die Zeitung: von Grone; «Kommender Tag»: Herr Leinhas; früherer Zentralvorstand: Dr. Unger; Waldorfschule:

Dr. Kolisko; «Religiöse Erneuerung»: Dr. Rittelmeyer; zerstreute In-teressen: Herr Werbeck.

Im Prinzip würde damit etwas geschaffen sein, was unter dem Aufruf stehen kann. So ungefähr habe ich mir zusammengestellt ge­dacht das Komitee, das ich genannt habe: die prominenten Persönlich­keiten, an die der Zentralvorstand sich wenden könnte. Ich habe mir gedacht, daß der Zentralvorstand sich ungefähr durch diese Persön­lichkeiten ergänzt. Man muß wirklich die laufenden Dinge berück­sichtigen. Es kommt doch in Betracht, daß beim Zusammenschluß der anthroposophischen Bewegung das Moment berücksichtigt wird, daß die Bewegung vor der Welt dasteht. Nun hat Herr von Grone diesen Aufsatz in der letzten «Anthroposophie» geschrieben, der beweist ja im eminentesten Sinne, daß er mitredet in der Richtung, die er ange­schlagen hat in diesem Aufsatze, und daß Sie ihn aufnehmen müssen. Sie müssen sich nach den Tatsachen richten.

Es würden sich morgen in möglichst früher Tagesstunde die sieben Herren wieder zusammenfinden können: W. Wachsmuth, Dr. Pal­mer, Emil Leinhas, Dr. Unger, Dr. Kolisko, Dr. Rittelmeyer, Herr

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von Grone. Diese Sieben vereinigen sich, um den Aufruf zu Ende zu beraten. Dieser Aufruf muß eine Tat sein! Dagegen würde nur eines stehen: wenn sich die Persönlichkeiten gegenseitig nicht mögen! Ich möchte ganz gerne, zur Strafe, Dr. Stein darin haben; ich will Ihnen aber diese Strafe nicht antun. Es würde eine Strafe für die andern sein, wenn er neuerdings anfangen würde mit dem Pater-peccavi.

Dr. Palmer: Wie Herr Leinhas das [Klinisch-Therapeutische] Institut behandelt hat, das hat mir nicht gefallen.

Dr. Steiner: Herr Leinhas hat den «Kommenden Tag» zu vertreten; das ist aus der Sache heraus gemeint, daß die Interessen in einer intimeren Zusammenkunft ihrer Vertreter miteinander durchgespro­chen werden.

Es müßte morgen in möglichst früher Stunde, so früh es nur sein kann, dieser Aufruf beraten werden. Wir müßten uns doch wieder um 5 Uhr als dieser Ausschuß hier vereinigen können. Es kommen mir morgen die jungen Leute auf den Hals, insbesondere wenn sie hören, daß ich etwas von «Bolschewismus» gesagt habe! Ein geschlossener Kreis ist nur dadurch real, daß die Dinge in diesem Kreise geschlossen bleiben. Sonst kommt es ganz auf dasselbe heraus, wie wenn man überall in die Aufsichtsräte die Gewerkschaftsführer hineinstellte. Das ist im Prinzip - spaßhaft charakterisiert - - Haben denn die hier versammelten Frauen nicht Männer und die Männer Frauen, die in der Jugendbewegung sind, so daß alles hinausgetragen wird?

Wir können uns um 6 Uhr dann wieder treffen.

#TI

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

unter dem Vorsitz von Dr. Steiner

[neu hinzugekommen ist Dr. Rittelmeyer]

Stuttgart, Mittwoch, 7. Februar 1923, 18 Uhr

#TX

Dr. Koli£ko verliest das Rundschreiben [den neuen Entwurf des Aufrufs].

Adolf Arenson ist nicht dafür, daß die ganze Geschichte gedruckt in die Welt hinausgeht, sondern daß man sie nur der Delegiertenversammlung vorlege.

Dr. Schwebsch fragt Dr. Rittelmeyer, was er von der Sache, die vorgelesen worden ist, für einen Eindruck bekommen habe.

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Dr. Rittelmeyer: Ich hatte den Eindruck, als ob rings um die Gesellschaft Feuer angelegt worden sei. Solche Diskussionen, wie die am Montag, sind unmöglich. Heute nachmittag bin ich dabeigewesen. [An dieser Besprechung hatte Dr. Steiner nicht teilgenommen.] Im ganzen würde ich wünschen, daß ein wärmerer Ton hineinkäme, daß das Positive, was die Gesellschaft will und kann, überzeugend ausgesprochen wird. Der Ton, der angeschlagen wird, soll bezeugen, daß jeder einzelne zur Ausübung seiner Funktion gebracht wird. Große Parolen müssen von Stuttgart ausgehen. Es sollte von jedem der Aufruf so angesehen werden, daß etwas Großes dadurch geschieht. Auch sollte dafür gesorgt werden, daß das anthroposophische Geistesgut richtig vermittelt wird. Man sollte sich dafür ein­setzen, daß die rechte Art der Polemik und Apologetik geleistet würde.

Dr. Steiner: Die Gegner dürften es nicht erfahren, daß so ein negativer Eindruck von uns selber zugegeben wird,

Viele Redner sprechen: Dr. Hahn, Dr. Schwebsch, Alexander Strakosch

Dr. Rittelmeyer: Worum es sich handelt, ist dies, daß wir zur Selbstbesinnung kommen angesichts der ungeheuren Schicksalsstunde. Wäre es nicht das richtige, um einen positiven Vorschlag zu machen, daß eine Anzahl von uns ganz für sich, ohne Rücksicht darauf, was bisher an Programmen vorgelegen hat, sich besinnen würde auf das tiefste Wesen des anthroposophischen Impulses und das von sich aus zu Papier brächten. Dann könnte das entweder so, wie es ist, verwendet werden, oder das Geeignetste, womit sich alle am besten verbinden können, würde hinausgeschickt werden.

Dr. Husemann unterstützt diesen Vorschlag.

Dr. Steiner: Ich würde es begreiflich gefunden haben, wenn Herr Dr. Husemann heute vor drei Wochen einen solchen Vorschlag gemacht hätte. Daß ihn Dr. Rittelmeyer macht, ist begreiflich. Aber daß Dr. Husemann in diesem psychologischen Moment uns zumutet, es solle für eine Gesellschaft so etwas getan werden, um die herum - wie Dr. Rittelmeyer mit Recht gesagt hat - Feuer gelegt worden ist, was ich ja auch schon immer betont habe -, wenn Herr Dr. Husemann uns so etwas zumutet, dann kann ich nur sagen, daß ich seine ganze Auffas­sung und Anteilnahme nicht begreifen kann. Sich wiederum hinzuset­zen, um möglichst lange über nichts zu brüten, dazu ist der psycholo­gische Augenblick nicht da. Es ist Zeit genug gegeben worden, seit den vielen Wochen, wo wir die Zeit immer zubringen mit Hin- und Herfahren zwischen Dornach und hier, um die Dinge, über die man

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hier verhandelt hat, zu erfahren. Man darf nicht glauben, daß man einem alles bieten kann, Herr Dr. Husemann!

Dr. Hahn äußert sich dazu.

Dr. Steiner: Das Beste muß in dem Aufruf Zum Ausdruck kommen. Herr Arenson sagt, diese Fassung werde sofort in den Händen der Feinde sein. Den Glauben, daß dies nichts schadet, halte ich für die größte Naivität. Man muß sich klar darüber sein, daß man doch nicht die ganzen Vorgänge der Anthroposophischen Gesellschaft verschla­fen kann. Man muß sich klar sein: Welche Fassung auch immer hinaus-gegeben wird, morgen wird sie in den Händen der Feinde sein. Also muß man sich darüber klar sein, daß man eine Fassung hinausgehen läßt, die in die Hände eines jeden kommen kann. Diese Fassung darf nicht beginnen mit dem Satz: «Für die Gesellschaft ist die Schicksals-stunde eingetreten». Wenn Sie in dieser Fassung die Sache hinaus-schicken, dann haben jene, welche das Feuer gelegt haben, die allerbe­ste Grundlage. Ich war befriedigt, daß heute gerade dies aus der Mitte der Diskussion heraus gesagt worden ist. Ich habe es ja selbst immer wieder betont. Man hört nur niemals hin auf das, was ich sage. Daß Ihnen dies bekannt sein könnte, muß doch jeder zugeben. Alle Dinge werden hier so gemacht, als ob eine Gegnerschaft gar nicht bestünde. Solch einen Aufruf können Sie nur dann hinaussenden wollen, wenn Sie sich durch Wände von den wirklichen Tatsachen, die bestehen, abschließen. Fast wörtlich so hatten wir diesen Aufruf schon gestern. Deshalb hatte ich gebeten, daß er bis heute beraten würde. Der Erfolg der Beratung ist der, daß derselbe Aufruf wieder erscheint.

Adolf Arenson und Herr Baumann sprechen dazu.

Dr. Steiner: Auf Seite 2 steht der Satz: «Dieser Auftrag wurde von Herrn Uehli nicht erfaßt. Solche Versaumnisse wurden offen zugege­ben.» Seite 3: «Da Herr Dr. Steiner in allen Sitzungen darauf drang, daß man bis zur Erkenntnis der wirklichen Schäden vordringe,... »; Seite 4 zum Beispiel der unmögliche Satz: «es fortan besser machen und Fehler rückhaltlos aufdecken...», «Die Personenfrage nicht in den Vordergrund treten lassen...».

Wenn Sie zum Beispiel einen solchen Satz aufschreiben, werden Sie erleben, daß eine große Anzahl von Menschen, die darauf dringen, daß

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eine Reorganisation eintritt, sagen: «Diese Leute verstehen nicht ein­mal das Allerelementarste. Die machen Vorschläge, die Personenfrage zurücktreten zu lassen.» Auf die Personenfrage kommt es gerade an! Es handelt sich für draußen um Menschen und nicht um den Zentral-vorstand.

Erst heute ist mir erzählt worden, wie böses Blut es gemacht hat, als hier der pädagogische Kurs tagte und die Einladungen zu besorgen waren. Die Sache ist mir so erzählt worden - sie dient bloß zur Charakterisierung des «Stuttgarter Systems», sie mag sogar korrigiert werden können-: Da handelte es sich darum, daß dieser Jugendbund, der den Kurs veranstaltet hatte, den Zentralvorstand einladen sollte; da soll ein Gespräch stattgefunden haben zwischen den Einladenden und Dr. Unger, wobei Dr. Unger gesagt haben soll, es läge ihm nichts an einer persönlichen Einladung, aber der Zentralvorstand müßte eingeladen werden. Die jungen Leute haben nämlich die drei Herren persönlich und einzeln eingeladen; aber den Zentralvorstand hatten sie nicht eingeladen.

Wenn man in dieses Feuer, das innerhalb der Gesellschaft existiert, jetzt diese Sätze hineinwirft, wird man sagen: Die haben nicht das geringste Talent, etwas zu machen, worauf es ankommt. - Dadurch beschwören Sie herauf, daß sich diese Schicksalsstunde in einer un­möglichen Weise verschärft.

Das Ganze, was als Kommende-Tag-Darstellung folgt, ist ein ein­ziger Angriffspunkt. Zum Beispiel, daß ich auch denen, die außerhalb der Bewegung sich für Dreigliederung einsetzen, meinen Rat geben soll. Die Leute werden darüber lachen. Als wenn ich vorausgesetzt hätte, daß ich der ganzen Welt Ratschläge geben sollte! Das Verhältnis zur religiösen Erneuerung ist hier auch ganz schief dargestellt. - «Die führenden Persönlichkeiten sind sich der Versäumnisse und falschen Methoden voll bewußt. Daß gerade von Stuttgart diese Methoden besonders ausgeführt worden sind... » Wenn in einem Aufruf solche Sätze vorkommen, dann werden vor allen Dingen die Leute, die jetzt gerne die Gesellschaft so haben möchten, wie Sie sie ja kennen - vor allen Dingen die außenstehenden Gegner-, die werden sagen: Das ist also alles; die waschen Schmutzwäsche nicht nur im eigenen Haus, sondern was diese Gesellschaft da tut, ist, daß sie vor aller Welt ihre schmutzige Wäsche aushängt.

Ich habe mich so sehr darum bemüht, auf dasjenige hinzuweisen,

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was dazu führt, daß man die Sache in einer plausiblen Art vor die Weit bringen kann. Das ist nicht berücksichtigt worden. Natürlich mußte man auch von den Schäden sprechen. Es wurde aber von den Schäden nur gesprochen, um zu positiven Dingen zu kommen.

Es sprechen mehrere Anwesende.

Dr. Steiner: Die Sache liegt so sehr auf der Hand. Man muß auf die Dinge sehen, die ich angeführt habe und die zum positiven Teil des Aufrufs gehören. Man könnte sagen: Es ist nun einmal so, daß seit 1919 die Tatsache eingetreten ist, daß hier in Stuttgart zusammen­gezogen worden sind die prominenten Persönlichkeiten, die wir in der Gesellschaft haben. Das hätte dazu führen müssen, daß also von hier aus ein mächtiger Impuls für die Bewegung ausgegangen wäre. Statt­dessen haben sich diese Gründungen vollzogen. Es ist eine Waldorf­schule entstanden. Die Waldorflehrer fühlen sich so: Was brauchen wir uns zu kümmern um das, was links und rechts um uns herum vorgeht, wir haben ja die Schule.

Ich habe gesagt: So kann man die Sache nicht weitermachen. Das ist etwas, was für die Gegner Wasser auf deren Mühle ist. Hat man sich je darum gekümmert, was ich da gesagt habe? So war es doch bei jeder Gelegenheit. Ich war heilfroh, als Dr. Rittelmeyer seine Rede gehalten hat. Er hat herausgehoben, daß dieser «Bund von nicht-anthroposo­phischen Kennern der Anthroposophie» gewisse Dinge von früher vorbringt. Das ist ein sehr wichtiger Hinweis, den man nun wahrhaftig außerordentlich gut ausnützen kann. War es denn notwendig, daß wir nicht schon durch Jahre hindurch die Verteidigung der anthroposo­phischen Sache selber in die Hand genommen haben? Daß wir nicht immer wieder auf konkrete Verleumdungen in einer entsprechenden Weise hingewiesen haben? Ich komme selber nicht dazu, weil andere Dinge notwendiger sind. Man war verpflichtet, den Gegnern nicht fortwährend neues Material zu liefern, sondern auch die Verteidigung der Gesellschaft in die Hand zu nehmen. Jetzt tritt man mit einem Aufruf hervor, in dem die Gesellschaft angeklagt wird. (Notiz von Dr. Heyer: «Der bringt Dinge vor, die wir ausnützen müßten, um mit einem Keulenschlag auf die Dinge hinzuweisen -- die konkreten Verleumdungen hinzustellen -- Verteidigung der Anthroposophischen

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Gesellschaft -- Im Aufruf muß stehen: daß man jetzt tun will, was früher nicht getan wurde.»)

Herr Fink: Es sollen sich die einzelnen zurückziehen und etwas ausarbeiten.

Herr Stockmeyer unterstützt den Antrag, daß sich die einzelnen zurückziehen sollten, jeder einen Entwurf für den Aufruf macht und daß man sich dann wieder versammelt.

Dr. Steiner: Ich möchte kurz skizzieren, was Dr. Rittelmeyer gesagt hat. Erstens: daß überall in der Umgebung der Anthroposophischen Gesellschaft Feuer angelegt worden ist; zweitens: daß hier im Zweig zweimal hintereinander unmögliche Diskussionen stattgefunden ha­ben; drittens: daß er wünscht, daß ein wärmerer Ton im Ganzen darinnen sei; weiter: daß das Positive stark betont werden solle; daß gewisse starke Parolen ausgegeben werden sollten; daß der sektiereri­sche Geist zurücktreten müsse; daß das anthroposophische Geistesgut in sorgfältiger, nicht in entstellter Weise wie von den Gegnern der Welt vermittelt werde; daß er sich in den Diskussionen das Anstößige angehört habe und daß dann die Geschichte von dem Wolkengeheim­nis [?] herausgekommen sei; daß er vor allem richtige Vermittler des anthroposophischen Geistesgutes vermisse.

Dr. Steiner (zu Frl. Dr. Röschl): Warum dürfte man nicht verraten, daß man die Schrift [des Bundes der nicht-anthroposophischen Ken­ner der Anthroposophie] kennt? [Darin steht doch:] «Es gilt einen Kampf auf Tod und Leben.» Sollen wir noch offen dokumentieren, daß wir uns um die Gegner nicht kümmern?

Dr. Noll: Dr. Goesch charakterisiert sich als Epileptiker. Zwei Absencen. Die Leute lassen sich von einem Epileptiker an der Nase herumführen.

Dr. Steiner (zu Dr. Noll): Tun Sie es! Sie sind doch Arzt! Die Wochen­schrift «Anthroposophie» wartet auf Material für ihre nächste Num­mer. Die «Anthroposophie» ist so langweilig wie nur möglich, weil niemand einen Stoff liefert, und diejenigen, welche den Stoff kennen, liefern nichts.

Es ist der Antrag gestellt worden, daß wir uns vertagen.

Die Sitzung wird unterbrochen, und die Teilnehmer schreiben ihre Entwürfe. Nach zwei Stunden wird die Sitzung fortgesetzt.

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#TI

Fortsetzung (Nachtsitzung, Beginn 22 Uhr 30)

#TX

Dr. Steiner: Dann kann also begonnen werden.

Eine große Anzahl der Teilnehmer lesen ihre Entwürfe vor, oder sie reden über die Schwierigkeiten der Gesellschaft: Dr. Noll, Herr Apel, Dr. Heyer, Dr. Röschl, Dr. Stein, Herr Stockmeyer, Herr Maier, Herr Wolffhügel, Herr Strakosch, Dr. von Heydebrand.

Dr. Steiner: Zwölf Aufrufe! Ich bitte um Vorschläge, in welcher Form wir verhandeln wollen.

Dr. Riuelmeyer: Mir scheint, bei den Aufrufen ist das Phrasenhafte vorwiegend. Es wird viel zu wenig konkret aus der Situation heraus geredet. Von Ernst wird zwar gesprochen, aber er kommt zu wenig zu seinem Recht.

Ich stelle mir vor, es könnte etwa folgendermaßen lauten - ich habe es mir aufgeschrieben -: «Es ist uns das Bewußtsein davon erwacht, daß die Gesellschaft in der jetzigen Form nicht der rechte Träger des Geistesgutes ist. Sie ist zu sehr in die Absperrung, in das selbstsüchtige und genießerische Verhalten gekommen. Es hat an einem Zusammenhalten der Kräfte gefehlt. So ist es dahin gekommen, daß gerade die in der Jugend erwachende Sehnsucht in der Gesellschaft nicht die rechte Stätte gefunden hat, wo sie Befriedigung findet. Das überall vorhandene Bedürfnis nach Geisterkenntnis hat nicht das rechte Organ gefunden. Die Gegenwart ruft uns auf, unserer Pflicht eingedenk zu werden. Eine Gegnerschaft ist erwacht, die uns schon allerhand Proben gegeben hat. Wir müssen uns dessen voll bewußt werden, welch hohes Geistesgut in dieser weitgeschichtlichen Stunde uns anver­traut ist. Wir tragen die Verantwortung dafür, daß das Geistesgut in einer richtigen Art vermittelt wird. Neue elastische, freie Formen müssen gefunden werden für das, was uns anvertraut ist. Überall handelt es sich darum, daß der Geist in voller Freiheit und reinster Klarheit bis in die Tiefen geführt werden muß, wo die Lösung der Probleme aufleuchtet. Wenn wir uns der Aufgaben bewußt werden, dann dürfen wir hoffen, daß es zur Lösung kommen kann.»

Paul Baumann: Man soll Dr. Rittelmeyer bitten, den Aufruf zu verfassen.

José del Monte ist dagegen, daß eine einzelne Persönlichkeit den Aufruf macht. Er solle durch Zusammenwirken aller zustande kommen.

Dr. Unger: Dr. Rittelmeyer soll mitwirken.

Dr. Stein: Dr. Rittelmeyer soll sich die wählen, mit denen zusammen er glaubt, es machen zu können.

Dr. Rittelmeyer: Ich bin eigentlich nur in der Lage, daß ich auch das von mir Verfaßte Ihnen zur Verfügung stelle. Ich brauche mindestens bis morgen vormittag,

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damit ich es vertreten kann. Ich möchte nicht, daß alles das verlorengeht, was m den einzelnen anderen Aufrufen stand.

Dr. Steiner: Wir sind soweit wie am ersten Tag. Die Situation hat sich tragisch gestaltet. Nicht wahr, bedenken Sie nur einmal: Gestern habe ich Sie gebeten, die einzelnen Institutionen zusammenzufassen. Aber sehen wir jetzt in diesem Augenblick davon ab. Was ging denn voran den Diskussionen, die begonnen haben über die Reorganisation der Gesellschaft? Es ging dem voran eine Polemik gegen ein nicht richtiges Verhalten der Anthroposophen zur «Bewegung für religiöse Erneue­rung». Dann hat sich ein kleines Komitee gebildet, das in einem historischen Zusammenhang steht mit dieser Abwehr gegen das, was die Gesellschaft überwucherte. Es hat sich ein Sieb enerkomitee gefun­den, um die Reorganisation in die Hand zu nehmen. Und nun über­trägt die Vertretung der Anthroposophischen Gesellschaft selbst die Reorganisation der Gesellschaft dem Führer der religiösen Erneue­rung! Das ist die Tatsache, die Sie jetzt organisiert haben. Bedenken Sie nur einmal, daß noch dazu derjenige, der den Antrag gestellt hat, zugleich der Führer des Siebenerkomitees gewesen ist.

Wenn Sie glauben, daß wir auf diesem Wege weiterkommen, daß auf diesem Wege die Schritte, die wir einleiten, eine Bedeutung haben, dann liegt die Situation der Gesellschaft recht tragisch. Denn gestehen Sie sich ein, was es heißt, mit einer bloßen negativen Kritik einen Reorganisationsplan zu übergeben. Ich selbst habe gestern den Vor­schlag gemacht, Herrn Dr. Rittelmeyer zu rufen. Ich habe das alles jetzt nur als eine Charakteristik der Situation gegeben, in die wir versetzt sind.

Marie Steiner : jetzt ist die Anthroposophische Gesellschaft begraben, und es kann der Grabstein darauf gelegt werden.

Dr. Unger (springt auf): Wenn niemand anders sich dazu anbietet, es zu machen, dann will ich mich verpflichten, den Aufruf allein zu machen. Ich wiederhole das Anerbieten, diesen Aufruf zu machen. Er könnte bis morgen früh fertig sein.

Dr. Steiner: Bedenken Sie doch nur, welches der tiefere Sinn der ganzen wochenlang dauernden Unterredungen ist. Das ist der: Wenn etwas geschieht in der Gesellschaft, so muß doch auch der Wille von Menschen dahinterstehen. Es genügt doch nicht, daß man Gedanken ausspricht und die anderen dann sagen, sie seien damit einverstanden. Es ist nun einmal so, daß in Stuttgart die Menschen zusammengezogen

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sind, welche die Führung der Gesellschaft äußerlich in den letzten Jahren innehatten. Heute stehen wir an einem Punkt, wo es nicht mehr geht, bloß den Schein einer Führung zu haben, sondern wo die Füh­rung mit einer realen Kraft in die Hand genommen werden muß. Wenn ich noch so viel sagen würde an Gedanken, es würde Ihnen ja doch nichts nützen. Nachdem all das geschehen ist, nützt es ja nichts, daß Gedanken überliefert werden, mit denen man sich dann einver­standen erklärt. Wenn man die Gesellschaft auf dem Standpunkt von 1918 gelassen hätte, hätte man keinen «Kommenden Tag» und keine Waldorfschule. Nachdem nun dies alles einmal da ist, handelt es sich darum, daß die Führung davon auch real in die Hand genommen wird. Dazu muß sich der Wille mit den Gedanken in denen, die führen wollen, verbinden, sonst liegt kein Wille und keine Kraft zugrunde. Man muß die Kraft aufbringen, um etwas zu tun. Diese Kraft muß ins Positive übergehen können. In sich selbst muß man etwas haben. Und, nicht wahr, wenn nun versucht wird, hier so etwas vorzubringen wie heute, so führt das zuletzt dazu, daß solche Vorschläge, wie der eben getane, gemacht werden. Es ist der ganzen Gesellschaft nicht eingefal­len bis gestern, Dr. Rittelmeyer einzuladen. Von der ganzen Gesell­schaft, die hier wochenlang beraten hat, was sie tun soll, von der wird nun Dr. Rittelmeyer aufgefordert, den Aufruf zu verfassen. Es darf nicht so aufgefaßt werden, als ob die ganze Anthroposophische Gesellschaft damit einverstanden wäre.

Adolf Arenson: Ich betrachtete es als eine Erlösung, als vorhin Frl. Dr. von Heydebrand sprach.

Dr. Steiner: Wir hätten sagen können, wir selber wollen nichts, wir ubertragen das Ganze Dr. Rittelmeyer. Man soll lieber alles ausspre­chen, wie es ist. Es bleibt nichts anderes übrig, als daß wir sagen: Der alte Vorstand bleibt, und dann wartet man ab, was die andern sagen, die man in dieser Weise aufgerüttelt hat. Das ist das Fazit : Es bleibt der alte Vorstand, nachdem man ja zu keinem Ergebnis gekommen ist; warten wir ab, was die Gesellschaft morgen dazu sagen wird. Wozu war der ganze Feldzug aber? Wozu ist das alles inszeniert worden?

Dr. Stein: Man wollte ein Kabinettstück aufführen.

Dr. Steiner: Wir haben damit begonnen zu sagen, der alte Vorstand sei ein Kindergespött geworden, und wir endigen damit, daß die Ergeb­nislosigkeit dazu führt, daß der alte Vorstand bleiben muß.

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Dr. Blümel: Könnte nicht Dr. Steiner, als der okkulte Führer, diejenigen bezeich­nen, die die Fähigkeiten haben, die Gesellschaft aus dem Chaos herauszuführen?

Adolf Arenson: Es handelt sich jetzt darum, den Aufruf zu verfassen.

Emil Leinhas: Der alte Zentralvorstand kann nicht mehr funktionieren.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, daß die Anthroposophische Ge­sellschaft in ihren Führern etwas wollen soll; das kann sogar mit dem auseinander gehen, was ich selber für wünschenswert halte. Es muß hervortreten dasjenige, was die Gesellschaft in ihren Führern will. Die Sache ist von dem Dornacher Unglück ganz unabhängig. Ausgegan­gen ist sie von dem Auftrag, den ich Herrn Uehli am 10. Dezember gegeben habe. Ich habe Herrn Uehli gebeten, mit anderen Mitgliedern des Zentralvorstandes zusammenzutreten, verstärkt durch führende Persönlichkeiten hier in Stuttgart, um Vorschläge zu machen über die Meinungen, die bestehen im Zentralvorstand und im Komitee über eine weitere Fortführung der Gesellschaft. Aus der Sache ist nichts geworden. Denn es trat mir, als ich hier ankam, ein Ausschuß von sieben Mitgliedern, eigentlich unter Führung von Herrn Uehli, entge­gen. Dieser Ausschuß gebärdete sich wirklich so, als ob er den Stein der Weisen in bezug auf die Reorganisation in Händen hätte; und seine Kritik gipfelte darin, daß der alte Vorstand ein Kindergespött sei. Seither wird verhandelt. Ich stellte auch den anderen Teil der Alterna­tive hin: daß ich sonst gezwungen wäre, mich selbst an jedes einzelne Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft zu wenden, um ir­gendwie die Gesellschaft selber in Ordnung zu bringen. Nun, wie gesagt, statt der Ausführung des Auftrages an den Zentralvorstand ist mir hier ein Komitee entgegengetreten, und die Taten dieses Komitees haben jetzt zu diesem Ergebnis geführt, das eben charakterisiert wor­den ist. Entweder erklärt die Führung der Gesellschaft: Wir geben die Möglichkeit auf, die Führung weiter zu machen -, oder sie muß aussprechen, was sie will. Aber sie muß in irgendeiner Weise eine Garantie dafür bieten, daß die Gesellschaft einen Willen hat und nicht bloß schimpfen kann. Ein wirklicher Wille muß dasein.

Nun, nicht wahr, die Verhandlungen sind aus dem Grunde so weit geführt worden, weil ich ja natürlich die äußerste Chance bieten muß, daß die Anthroposophische Gesellschaft als Gesellschaft weiter han­deln kann. Sie müssen die Dinge betrachten, wie sie sind. Was gesche­hen

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ist, können wir nicht ungeschehen machen. Was bedeutet das: die Dinge bis zum Jahre 1918 zurückzuführen? Ich will nur zwei Dinge nennen. Das eine wäre die Auflösung der Waldorfschule, das andere die Ausbezahlung sämtlicher Beträge, die für Aktien einbezahlt wor­den sind. Man muß sich von allem die Konsequenzen klarmachen. Tiraden reden ist leicht. Wir stehen in der Gesellschaft darinnen mit Institutionen, die weitergeführt werden müssen. Deshalb ist es keine einfache Sache, wenn ich mich an jedes einzelne Mitglied wenden muß. Man kann doch nicht die Waldorfschule auflösen! Man kann doch nicht die Aktien zurückkaufen! Das aber sind die realen Unterlagen für solch eine Aktion. Wenn ich nun doch genötigt wäre, dies zu tun, so würde das bedeuten, daß von der alten Anthroposophischen Ge­sellschaft nichts übrigbliebe als diese realen Institutionen. Der «Kom­mende Tag», der muß so behandelt werden, daß er seinen Ruf nicht verliert; die Waldorfschule muß bestehen bleiben. Die Anthroposo­phische Gesellschaft aber muß sich auflösen, und ich wende mich an die Mitglieder, um etwas Neues zu schaffen.

Deshalb muß die letzte Chance ausgenützt werden. Ich habe, als sich die Anthroposophische Gesellschaft konstituiert hat, die aus­drückliche Bedingung gestellt, daß ich nicht ihr Mitglied bin. Sie haben lediglich darüber zu diskutieren: Wollen Sie Ihre Führung abdizieren, oder wollen Sie weiterführen? Bedenken Sie doch, daß ich mich nie­mals beteiligt habe an der Verwaltung der Anthroposophischen Ge­sellschaft. Die Dinge müssen so genommen werden, wie sie sind. Man kann nicht so aus den Affekten heraus auftreten, wie Sie es getan haben, und sagen, der alte Zentralvorstand sei ein Kindergespött. Glauben Sie, daß es leicht ist, den Leuten entgegenzutreten und zu sagen, wir hätten wieder eine Nacht ergebnislos gesessen? 0, das pfeifen uns schon die Spatzen von den Dächern entgegen: «Laßt's uns aus mit allen euren Führungen!»

Marie Steiner: Es ist der Wille darauf gerichtet, Dr. Unger abzusägen. Es ist aber nicht der reine Wille da für die Reorganisation der Anthroposophischen Gesell­schaft und für die Sache selbst.

Dr. Steiner: Man hat auch das Recht, einen abzusägen; aber man muß wissen, wen man dann an die Stelle setzt. Man denke sich nur einmal:

Mit Recht ist das ein Kindergespött zu nennen, wenn hier beschlossen wird, nachdem drei Wochen verhandelt worden ist: Vertagen wir uns

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jetzt. Und das, nachdem zwölf Aufrufe entstanden sind! Nach zwei Stunden hatten zwölf Menschen beschlossen, etwas zu tun, nachdem sonst nur gewartet worden ist, daß der andere etwas tut. Ich kann nur sagen : Die einfache Tatsache, daß da zwölf Aufrufe nach zwei Stunden auftauchen, das bezeugt die Interesselosigkeit an einer Sache, die man mit einem Eifer vertreten hat, der seinesgleichen sucht. Was hätte geleistet werden können, wenn dieselben Intentionen, die in den letz­ten zwei Stunden entwickelt worden sind, früher vorhanden gewesen wären!

Daß nichts Erhebliches gesprochen worden ist, das ist nicht zu verwundern. Die Art und Weise, wie man denkt über eine im tiefsten Sinne ernste Sache, das ist das Charakteristische, das ist das «Stuttgar­ter System» bis in diese Stunde hinein. Die Anthroposophische Gesell­schaft habe ich nicht zu reorganisieren. Ich habe mich an diejenigen zu wenden, die sich zur Anthroposophie gewandt haben. Die Anthropo­sophische Gesellschaft, über deren Schicksal entscheiden Sie! Es geht nicht, daß man morgen wieder zu den Leuten sagt: Seid so gut --wartet, wartet!

Adolf Arenson spricht über die Reorganisation. Er gibt eine Zusammenstellung der Punkte, über die man mit den Freunden verhandeln will: Was ist nun das, was noch fehlt? Er findet nur die Notwendigkeit, die Freunde zusammenzurufen, um die schwachen Punkte zu starken zu machen.

Dr. Steiner: Nicht bloße Programme dürfen gegeben werden. Wenn man eine Willenskundgebung erlassen will, muß man darin etwas sagen. In den Worten muß eine Willensrichtung stecken. Der Vor­schlag von Dr. Rittelmeyer war gut, aber es ist die tragische Situation, daß die anderen meinen, ohne das, was Dr. Rittelmeyer «starke Paro­len» genannt hat, könnten sie jetzt überhaupt nicht mehr die Gesell­schaft retten, an diese Parolen müßten sich die anderen alle halten. Was glauben Sie? Die Leute, die Sie als Delegierte herrufen, die wollen eine Führung hier finden. Es muß die Situation hervorgerufen werden, daß die Leute sagen : Jetzt treten uns die Stuttgarter so entgegen, daß wir ihnen folgen wollen. In Stuttgart muß man wissen, was zu tun ist. Die anderen lauern darauf, zu erfahren, was hier in Stuttgart gemacht wird. Sonst kommen wir in die reine Negation hinein.

Die Jugend ist nicht das Wichtigste. Was glauben Sie, wenn Sie heute zu keinen Parolen kommen, so wird morgen die Jugend sagen :

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Die wissen nichts; jetzt müssen wir es machen! - Die Jugend weiß auch nichts; die glaubt nur, etwas zu wissen, aber sie weiß nichts. Sie sprechen das Urteil über die Gesellschaft aus mit dem, was Sie jetzt wollen oder nicht wollen. Das muß in Betracht gezogen werden. Man kann nicht sagen : Nun, berufen wir eine Delegiertenversammlung ein; die wird uns dann sagen, was wir wollen sollen.

Es sprechen Adolf Arenson, Frl. Dr. Röschl und Dr. Schwebsch.

Dr. Steiner: Das Komitee, das gestern zustande gekommen ist, hat heute getagt. * Ein Sprecher hat den ersten Entwurf vorgelegt. Das ist der Aufruf des Komitees. Dann, nicht wahr, sind die anderen Aufrufe, die auch noch vorgebracht worden sind, da: von Dr. Unger, Dr. Heyer und so weiter. Das sind persönliche Aufrufe, genauso wie die anderen. Diese zwei Dinge müssen absolut verschieden betrachtet werden. * *

Es ist die Sache so, daß dieses Komitee gestern den Entwurf von Dr. Kolisko als etwas Fertiges gehabt hat. Wir gingen auseinander : erstens, mit der Ernennung des Komitees; zweitens, mit der Bitte an dieses Komitee, den Entwurf ins Positive umzusetzen. Außerdem kann na­türlich der Entwurf mit alledem, was er enthält, nicht vom provisori­schen Zentralvorstand unterschrieben werden. Es war also zweitens der Ausgangspunkt für den heutigen Aufruf: daß seine negativen Punkte ins Positive übergeführt werden sollten. Der Fehler ist also der, daß keine positiven Punkte neu hineingesetzt worden sind, son­dern daß nur die alten negativen Punkte weiter geblieben sind. Ich habe erwartet, daß die Negationen ins Positive umgesetzt werden würden. Materiell ist es wichtig, daß die zwölf Aufrufe an einem Übermaß von Phrasenhaftigkeit leiden; sie haben nicht genug Sub­stanz. Diejenigen, welche den Aufruf machen, handeln nicht selbstän­dig genug.

Früher hat Dr. Stein einmal gesagt: Wir sollten uns das Lebenswerk Dr. Steiners nicht nehmen lassen. - Es hat nun der Aufruf den folgen­den Eindruck gemacht: Die Punkte, die ich selbst gegeben habe, sind zwar gehört worden, aber sie sind ohne innere Verknüpfung in dem Aufruf aufgetaucht. Es handelt sich darum, daß man eine solche Sache als etwas Eigenes macht. Ich habe deshalb diese Dinge noch einmal wiederholt. Nicht wahr, was Sie da hineingeschrieben haben, das hat

- - -

* Ohne Rudolf Steiner. Hiervon liegt kein Protokoll vor.

** Von den zahlreichen Entwürfen, die für den Aufruf gemacht wurden, liegt nichts vor.

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nicht genug Affinität zu den Persönlichkeiten. Das ist schon das, worauf es ankommt.

José del Monte spricht.

Dr. Steiner: Dr. Rittelmeyer hat seine Rede damit begonnen, daß er dasjenige, was er gesprochen hat, innerhalb des Komitees ausführlich mitgeteilt hat. Ich wundere mich nur, daß davon in dem Aufruf des Komitees nichts steht, auch dasjenige nicht, was gestern als Auftrag erteilt worden ist: die Negation in ein Positives zu verwandeln.

Ich kann nicht die Punkte formulieren, die zuletzt die positiven sein sollen. (Notiz von Dr. Heyer: «Es wäre schädlich, wenn ich die positi­ven Punkte angäbe.») Das müssen diejenigen machen, die in der ange­gebenen Richtung zu arbeiten haben. Ich will nur das Folgende sagen im Zusammenhang mit dem, was entstanden ist. Vielleicht nicht auf Grundlage, aber in zeitlicher Aufeinanderfolge mit meiner Bitte an Herrn Uehli am 10. Dezember geschah, daß ein Komitee auftrat, als ich hier ankam. Dieses Komitee hätte in zweierlei Weise verfahren können gegenüber denjenigen Menschen, die sich heute für die Reor­ganisation der Gesellschaft interessieren. Dieses Komitee hätte versu­chen können, sich dafür einzusetzen, daß etwas an die Stelle des alten Zentralvorstandes gesetzt würde, wenn der alte Vorstand nichts taugt. Oder es hätte sich dieses Komitee nach der Richtung hin einsetzen können, das Vertrauen zum alten Vorstand wieder in irgendeiner Weise zu befestigen durch ein arbeitendes Herstellen von möglichen Verhältnissen. Diese zwei Dinge wären möglich gewesen. Nun hat dieses Komitee das erstere gewählt, aber ist mit keinem wirklichen positiven Vorschlag gekommen.

Nun sind wir aus all der Misere gestern dazu gekommen, ein Komitee zu bilden, das ungefähr so ist wie dasjenige, was ich mir vorgestellt hatte, daß es der alte Vorstand hätte bilden können. Ich habe mir das so vorgestellt, daß der alte Vorstand ungefähr dieses Komitee gebildet hätte aus der Synthese der positiven Tätigkeiten in der anthroposophischen Sache. Es ist aus allen nötigen Antezedenzien zusammengesetzt. Dieses Komitee hat zu gleicher Zeit die Möglich­keit, die Schattierungen des Alten zu vertreten, und es hat durch seine beiden Mitglieder Herr von Grone und Wolfgang Wachsmuth, die jung sind, die Möglichkeit, vor der Jugend bestehen zu können. So daß ich schon heute morgen - weil man der Jugend eine Auskunft geben

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muß - sagte:* Ich bin bloß neugierig, ob die Alten unter den Jungen akzeptieren werden die Jungen unter den Alten. Ich fragte also, ob die Alten unter den Jungen die Jungen unter den Alten akzeptieren wür­den. Man sagte mir, das würde nur davon abhängig sein, wie die uns entgegenkommen würden. - Das neue Komitee hat die Möglichkeit, als etwas Altes zu bestehen; und es hat zu gleicher Zeit die Möglich­keit, von der Jugend akzeptiert zu werden.

Die Dinge müssen sich aus den realen Tatsachen ergeben. Das Komitee ist außerdem, wie schon gesagt, so zusammengestellt, daß es eine Synthese ist derjenigen positiven Tätigkeiten, welche die maßge­benden sind in der anthroposophischen Bewegung. Dieses Komitee ist aus der Sache selbst heraus gegeben. Wenn wir aber nichts zustande bringen, dann muß die Gesellschaft abdizieren.

Wenn nur das Komitee sich in der richtigen Weise betätigt. Dr. Kolisko gehört für die Jugend zu den Alten; er wird schon der «zweite seelenlose Dialektiker» genannt; Dr. Kolisko gehört zu den Jungen unter den Alten. Indem dieses Komitee zwei Prominente, noch ganz unbeschriebene Persönlichkeiten unter sich hat, braucht es sich nur nach der einen oder anderen Richtung hin in der richtigen Weise zu offenbaren. Ein Komitee muß so sein, daß es nach den verschiedensten Richtungen hin wirken kann. Das Komitee könnte nicht besser zusammengesetzt sein. Warum es nicht gehen soll, kann ich nicht begreifen.

Bedenken Sie nur: Wir haben hier eine gegenseitige Anschuldigung in ärgstem Maße angehört, bevor ich in der vorigen Woche weggefah­ren bin. Ich bat, als ich wegfuhr, es solle der provisorische Ausschuß die Sache so weit bringen, daß wir am nachsten Montag die Sache verhandeln könnten. Ich hatte im Gedächtnis dasjenige, was hier verlesen worden war. Es ist die Frage gewesen, ob man hier noch eine Montag-Sitzung abhalten soll. Wenigstens konnte der Aufruf vorge­bracht werden. Was ist geschehen am Montag? Diese Sitzung am Montag war eine glatte Wiederholung der Sitzung, die schon war, bevor ich nach Dornach gereist bin. Es war dasselbe wieder geschehen. Natürlich kommen kleine Varianten vor; die macht schon die Zeit allein, weil man sich an den früheren Vorgang nicht mehr genau erinnert. Als ich monierte, daß eine genaue Wiederholung da sei, wurde mir gesagt, es sei mit anderen Untergründen. Man antwortete

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* Kein Protokoll.

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mir außerdem, daß man mit den Leuten verhandeln müßte. Nun waren wir gleich so weit, daß eine glatte Wiederholung stattgefunden hatte und man neuerdings begreiflich machen mußte, daß ein solcher Aufruf zustande kommen müsse. Wir können die Sache so fortsetzen. Von gestern auf heute ist es eine glatte Wiederholung, mit Ausnahme dessen, was die Gedankenpause hervorgebracht hat.

Wir haben gestern eine denkwürdige Abstimmung gehabt.* Ich habe darüber abstimmen lassen, wer den Aufsatz von Herrn von Grone gelesen habe. Ich habe abstimmen lassen, wer ihn nicht gelesen hat: Das war die überwiegende Majorität. Wenn ich in die Waldorf-schule hinaufkomme, liegen da die Zeitschriften viele Tage lang. Die Interesselosigkeit beginnt damit, daß man sich nur um sein eigenes engstes Gebiet kümmert. Man ist hier nicht mehr Anthroposoph -nach und nach; man ist wirklich nicht mehr Anthroposoph. Man braucht drei Wochen, bis man zu dem Entschluß kommt, sich auf die Anthroposophie zu besinnen.

Aus alledem folgt das, was heute abend Dr. Rittelmeyer gesagt hat. Sie würden nicht in Abrede stellen können, wenn Sie bei den kleinen Komitee-Verhandlungen gewesen wären, daß diese Punkte alle schon vorgebracht worden sind; das meiste sogar ausführlicher. Um das hat man sich nicht gekümmert. Man hätte zurückgreifen können auf die Dinge, die hier wochenlang behandelt worden sind. Solange wir uns nicht bequemen, aus der Wirklichkeit heraus zu schöpfen und nicht aus einem Buch heraus Tiraden zu holen, kommen wir zu nichts. Der Leser spürt, ob etwas Reales in dem Aufruf steckt. Es muß der Geist hineinkommen, der mit gutem Willen auf die Tatsachen eingeht. Und dieser Geist ist es, gegen den man Opposition macht.

Nun weiß ich nicht, ob wir morgen abend abermals eine Kopie erleben werden. Wenn wir nicht alle Anstrengungen machen, dann kommen wir schließlich dazu, daß die Revolution in der Gesellschaft lichterloh brennt. Mindestens darüber müßte man sich klar sein, daß auch Herr Leinhas dableiben müßte, wenn wir dableiben und erst Freitag früh fahren. Dann müßte die Zeit aber verwendet werden zur Arbeit.

Adolf Arenson: Ich wehre mich dagegen, daß es heißt, daß dieser Kreis jenen Vorschlag gemacht hat.

- - -

* Es war nicht festzustellen, in welchem Kreis die Abstimmung erfolgte.

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Dr. Steiner: Es kann sich jeder wehren, der den Antrag nicht gestellt hat. Die Tatsache liegt doch vor, daß heute abend aus diesem Kreis heraus dieser Antrag gestellt worden ist. Sie können nun entsetzt sein darüber, daß diese Tatsache aufgetreten ist. Mindestens über die fun­damentalsten Dinge müßte ein solcher Kreis einig sein, so daß er sich nicht selbst ad absurdum führt.

Morgen also der Gesamtkreis.

#TI

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, Donnerstag, 8. Februar 1923 (abends)

#TX

Emil Leinhas: Der Entwurf ist noch unvollkommen. Wir haben aber harmonisch zusammengearbeitet. (Er liest den Entwurf vor.)

Es sprechen dazu Dr. Maier, Dr. Heyer, Dr. Peipers.

Alexander Strakosch: Man muß noch die Frage des Vorstandes klären.

Dr. Steiner: Der Passus über die Gegnerschaft entspricht nicht ganz dem Faktum. Aus der im Persönlichen liegenden Begründung des Widerstands gegen das anthroposophische Geistesgut wäre die Geg­nerschaft, die mir erwachsen ist, eine nicht weiter erhebliche, sie wäre von keiner erheblichen Bedeutung gewesen; sie wäre als eine törichte Episode erschienen. Erst durch die Begründung der verschiedenen Unternehmungen seit 1919 werden die Angriffe von einer Gegner­schaft, die größtenteils an den Angriffen selbst kein Interesse hat, als Mittel zum Zweck benutzt, um die anthroposophische Bewegung aus der Welt zu schaffen.

Marie Steiner: Die Gegner werden zu glimpflich behandelt, indem gleich gesagt wird, daß durch das Zusammenstellen der Zitate die Angriffsflächen gebildet werden, während sich die Gegnerschaft doch gemeiner Mittel bedient.

Dr. Steiner: Das eine ist die Gegnerschaft, die sich der Verleumdung bedient; das andere ist das, was die Gegnerschaft durch Aufstellung eines Zerrbildes macht. Dann fragt es sich, ob nicht doch diese Geg­nerschaft unter Umständen - Sie können sich darüber ja äußern - ein bißchen kühner angegriffen werden müßte, was nur durch die Ver­wendung einzelner Worte möglich und notwendig ist.

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Nicht wahr, die Gegner sind vielfach geschützt durch ein gewisses Ansehen, das sie in offizieller Weise haben. Denn für die Welt ist der gestern von Dr. Rittelmeyer erwähnte Dr. Jeremias eben der bekannte Orientalist der Leipziger Universität, während er - wenn das so ist, wie Dr. Rittelmeyer dargestellt hat - eine ganz gemeine Natur ist. Der hat mich wiederholt besucht, hat sich über einzelne Fragen in ernsthaf­ter Weise auseinandergesetzt, hat gebeten, beim Vortrag in Leipzig anwesend sein zu können. Es war kein Grund vorhanden, ihn nicht anwesend sein zu lassen. Nachher entpuppt er sich als ein gemeiner Heuchler. Solche Beispiele sind eigentlich etwas, was man heute nicht mehr entbehren kann in der Charakteristik der Gegner. Man muß den Leuten diese Maske herunterreißen. Ich führe das nur als ein Beispiel an. Man müßte sich klar darüber sein, was das heißt, wenn sich jemand eingeschlichen hat in der Maske desjenigen, der «erkennen will» und nachher auftritt als gemeiner Verleumder. Wenn wir nicht dazu gelan­gen, diese Gemeinheit unter Leuten, die einfach durch ihre amtlichen Würden geschützt sind, etwas zu enthüllen, wenn uns das nicht gelingt, dann geht die Sache schwierig.

Dr. Rittelmeyer: Ich bin bei der Versammlung dabeigewesen. Da hat er Sie, Herr Doktor, persönlich preisgegeben. Er hat gesagt, er unterscheide zwischen der Anthroposophie selbst und der Person des Gründers der Anthroposophie. Der Güterzug könne Waren enthalten, die gut seien, wenn auch die Lokomotive schadhaft sei.

Dr. Steiner: Solch eine Sache muß man vor der Welt an den Pranger stellen. Das ist heute nach der einen Seite so. Aber nach der anderen Seite muß die besondere Art der Kampfesweise charakterisiert wer­den, die darin besteht, daß die Gegner sich nicht einlassen auf eine Diskussion, sondern sie nehmen zum Teil die Sache an wie der Goesch, aber zugleich treten sie mit den gemeinsten, unsachlichen, rein persönlichen Verleumdungen auf. Dies ist die ganz präzise Tat­sache; davor kann in der Gegenwart nicht zurückgeschreckt werden, diese zu kennzeichnen. Eventuell müßten einzelne Beispiele charak­terisiert werden. Aber das braucht nicht mit Namen angeführt zu werden, vielleicht ist es sogar nicht gut, Namen anzuführen, viel­leicht können die Namen vermieden und die Leute einfach charakte­risiert werden.

Sie werden eine Charakteristik von Seiling dadurch herausbekommen,

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daß Sie sagen: Es gab da einen Menschen, der Dr. Steiner durch seine fanatische Anhängerschaft, die bei jedem Besuch durch einen Handkuß bekräftigt wurde, besonders ekelhaft war. Jetzt aber wird er von der Gegnerschaft benützt, um allerhand Verleumdungen zusam­menzustellen. Jeder hat Gelegenheit, im rechten Moment auf so etwas hinzuweisen. Durch eine solche Charakteristik erreichen Sie mehr als durch Namennennung, weil man dann im entsprechenden Moment auf solche Leute hinweisen kann.

Jeremias ist ein alter Typus, der sich angebiedert hat, der zum Beispiel zu Frau Doktor in die Loge des Theaters in Leipzig gekom­men ist und dort seine Reverenzen gemacht hat. Die Zusammenstel­lung dieses Logenbesuches dazumal mit dem, was Dr. Rittelmeyer erzählt hat, charakterisiert den Menschen als ein Ekel. Man braucht nur zu sagen: Einer der Gegner, der an einer der verleumderischen Versammlungen anwesend war, machte sich noch vor nicht ganz einem Jahr dadurch unangenehm bemerkbar, daß er in der biedersten Weise seine Reverenzen vor Frau Dr. Steiner in der Leipziger Theater­loge während einer Eurythmieaufführung machte. Er verlangte das. Er erschien auf der Bühne und wollte in die Loge gebracht werden. Er drängte sich hinein in die Intimitäten. Solche Masken müssen mit einer kräftigen Charakteristik gezeichnet werden.

Leisegang habe ich nicht persönlich kennengelernt; den müssen die charakterisieren, die mit ihrer Person dafür eintreten können.

Dann hätte ich noch das folgende zu sagen. Wenn Sie heute hinhor­chen auf die Unzufriedenheit, so ist überall ein Grundton durchleuch-tend. Es ist mir unangenehm, das zu sagen, aber ein Ton ist überall durchleuchtend. Das ist der, daß nicht dafür gesorgt worden ist, daß wirklich das Anthroposophische in der Gesellschaft vertreten wird. Wieweit dieser Vorwurf berechtigt ist, darüber bitte ich Sie, sich zu äußern. Ich referiere nur, was von den verschiedenen Seiten empfun­den wird. Es wird empfunden, daß eigentlich innerhalb der Anthropo­sophischen Gesellschaft die Vertretung der Anthroposophie viel zu kurz gekommen ist, daß sich anderes an die Stelle der Anthroposophie gesetzt hat und dadurch das innere Leben verlorengegangen ist. Ein mehr «wissenschaftliches», äußeres Treiben ist dafür eingetreten, also eine gewissen Veräußerlichung. Die Leute drücken das so aus, daß sie sagen, es sei dies eine Intellektualisierung der Anthroposophie. Man muß der Stimmung entgegenkommen, die in der Jugend so stark ist,

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die auf Verinnerlichung geht, ohne daß man aber dabei in eine Schwär­merei verfällt. Es wird das empfunden gerade in den Kreisen der akademischen Jugend. Die will eben nicht, daß man ihr diese Kost vorsetzt, wie sie ihr in den Hochschulkursen vorgesetzt worden ist; sie will eine Verinnerlichung des menschlichen Seelenlebens. Es ist das ein Debakel, daß die Hochschulkurse von der Jugend als etwas empfun­den worden sind, was nur ein etwas anderer Aufguß desjenigen ist, was sie ohnedies schon hatten. Man sagte ihnen die Dinge, die sie auf der Universität schon hatten.

Der Aufruf müßte dies enthalten, daß der Wille vorhanden ist, Anthroposophie wirklich zu treiben, Anthroposophie zu treiben so­wohl nach der Erkenntnis- wie auch nach der Gemütsseite sowie nach der moralisch-religiösen Seite hin. Das müßte im Aufruf stehen. Dann müßte gegenüber den Dingen, die aufgeführt worden sind - wir haben darüber schon gesprochen -, etwas darinstehen von der Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft. Es erreicht die Aufregung in ge­wissen Kreisen schon einen pathologischen Zustand. Die Leute ma­chen den Eindruck, in einer pathologischen Aufregung zu sein. Es müßte dem gegenüber etwas in dem Aufruf stehen, woran sich die Leute persönlich halten können. Es müßte darinstehen etwas von einer Gruppe von Menschen, welche die Leitung übernommen haben. Das sind die sieben oder neun Menschen, die vorläufig die Leitung der Angelegenheiten der Gesellschaft in die Hand genommen haben bis zur Einberufung der Delegiertenversammlung. Es müßte nicht vom «Zentralvorstand» - schon das Wort ist ein rotes Tuch -, es müßte nicht vom Zentralvorstand die Rede sein, sondern von den Sieben oder Neun, die den Aufruf auf ihrem Gewissen haben; die müßten als die Leiter hingestellt werden. Wenn Sie jetzt vom Zentralvorstand reden, dann führt das dazu, daß sich einfach diese oder jene Gruppe abglie­dert, daß die Gesellschaft sich als Folge davon auflöst und daß sich für die Anthroposophie andere Gruppen bilden.

Man kann nur sagen: Die Leute haben absolut die Stuttgarter Führung satt, sind aber guten Willens. Im Augenblick, wo sie sehen, daß Leute etwas ernsthaft in die Hand nehmen, sind sie auch bereit zu folgen. Die Stimmung ist eine psychologisch merkwürdige und charakteristische. Die jungen Leute warten darauf, daß irgend etwas geschieht. Das ist dasjenige, was ich zum Inhalt des Aufrufs zu sagen habe.

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Der Passus über die innere Arbeit müßte ausgearbeitet werden. Es müßte herauskommen, daß ein Wille da ist, auf das einzugehen, was von den einen mehr in naiver Weise, von den anderen mehr in gebilde­ter Weise ausgedrückt wird, daß nämlich die Leute sagen: Wir erfah­ren gar nichts von der wirklichen Anthroposophie; uns wird alles mögliche vorgetragen, was wir gar nicht hören wollen. - Das ist dasjenige, was gesagt wird. Der eine sagt es naiver, der andere sagt es gebildeter. Es kommt aber aus allen Kreisen. Es ist merkwürdig: Wenn man noch so ideell redet, so genügt es den Leuten doch nicht. Wenn es sich darum handelt, daß das Ideelle bis zur anthroposophischen Ver­tiefung kommt, darf niemals die Gemütsseite vermißt werden. Es wird immer betont, daß in der Anthroposophischen Gesellschaft kein Herz und kein Gemüt mehr sei. Das ist der heikle Punkt, daß die Leute sagen: Man kommt an die Stuttgarter Herren gar nicht heran; man bekommt keinen menschlichen Zugang zu ihnen, sie sind zugeknöpft, man kommt ihnen nicht nahe. - Also dies ist ein heikler Punkt. Es gehört in dieses Kapitel hinein, wo die Dinge gesagt werden müssen, wie sie wirklich sind. Man muß ausdrücken, wie man etwas verbessern will, ohne ein Pater-peccavi zu machen. Es müßte eine Möglichkeit gefunden werden, in der Zukunft dafür zu sorgen, daß die menschli­chen Verhältnisse unter den einzelnen Anthroposophen gepflegt oder wenigstens anerkannt werden, gleichgültig, ob sie führende oder nicht führende Stellen haben.

Dann war es das Ziel der letzten Tage, nachdem wir alles Frühere durchgemacht haben, nun endlich zu einem Aufruf zu kommen, der Hand und Fuß hat. Der Aufruf kann natürlich noch so stark Hand und Fuß haben: Wenn nicht die Kräfte dahinterstehen, die in diesem Kreise hier sein sollten, dann wird er keine Folgen haben. An die weitere Diskussion des Aufrufes müßte sich auch schließen, nicht bloß - wie es in der letzten Zeit der Fall war -, daß man über Negatives redet, sondern daß die Diskussion einen gewissen Inhalt (Substanz) hat. Man muß dasjenige aussprechen, wodurch man manche Fehler, die in Stutt­gart hervorgetreten sind, in der nächsten Zeit verbessern will. Man möchte darüber etwas hören, auf welche Art die Stuttgarter Persön­lichkeiten sich hinter den Aufruf stellen wollen. Denn daß Sie mit ihm einverstanden sind, ist nur die eine Seite der Sache. Die andere Seite ist diese, daß man nicht etwa denkt: Morgen ist nun der Aufruf glücklich gedruckt, jetzt gehen wir wieder hin und unterrichten in der Waldorfschule,

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sind Bürochefs im «Kommenden Tag» und so weiter. Es müßte sich doch etwas Greifbares nach dieser Richtung hin zeigen, daß es hinter dem Aufruf steht. Der Aufruf hat nur dann einen Wert, wenn Menschen hinter ihm stehen.

Emil Leinhas: Was im Aufruf steht, muß in der Delegiertenversammlung ausgear­beitet werden.

Dr. Steiner: Dieser Punkt müßte viel gründlicher und aufmerksamer behandelt werden. Wenn dieser Kreis eine Bedeutung haben soll in der Weiterführung der Sache, so müßte dieser Punkt viel gründlicher behandelt werden. Sie müßten sich entschließen dazu, auf solche Sachen ein wenig mehr Aufmerksamkeit zu verwenden. Man müßte wirklich darauf Aufmerksamkeit verwenden.

Sehen sie, wenn Sie da zum Beispiel den Namen von Rudolf Meyer in Berlin erwähnen. Dieser Meyer ist eine charakteristische Persön­lichkeit aus dem Grunde, weil er nicht nach der Richtung eine Abir­rung darstellt, daß die Dinge aus dem Kopf herauskommen, weil er eine Persönlichkeit sein will, die alles aus der eigenen Erfahrung heraus darstellen möchte. Dasjenige, was also einzelnen in Stuttgart vorge­worfen wird - überwiegende Intellektualität -, das wird dem Meyer nicht so vorgeworfen.

Da müssen Sie eben aus dem, was aus dem Kreis der Mitglieder zumeist aus einer richtigen Empfindung, aber aus einer falschen Inter­pretation hervorgeht, das müssen Sie auf das Richtige reduzieren und dafür sorgen, daß eine richtige Anschauung darüber Platz greift. Bei Meyer ist zuviel Selbstgefälligkeit da. Dasjenige, was aus einer wirk-lichen Innerlichkeit kommt, ist niemals selbstgefällig und stößt nicht zurück; das, was aus einem scheinbaren Erleben kommt und unge­heuer selbstgefällig auftritt, das stößt dadurch zurück. Was die Leute darüber sagen, ist einerlei. Die Realität muß irgendwie erfaßt werden. Irgendwo muß eine Stelle sein, wo sie erfaßt wird. Woran es fehlt, das ist die von allem Nebulosen abseits liegende Vertiefung in ein gewis­ses, nun wirklich seelisches Leben. Was die Menschen immer «dialek­tisch» nennen, das ist eben das Reden über die Dinge so, daß diesem Reden die Seele fehlt. Und wenn das nicht in die Realität hinein-kommt, wenn also Scharfsinn, Spitzsinn und solche Dinge die Leute zu stark überwältigen, dann fühlen sie sich abgestoßen.

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Bei den Stuttgarter Herren wird es so empfunden : Wenn nun doch einmal einer an einen der Stuttgarter Herren herankommt, so geht er weg, als wenn er sein Ich verloren hätte; da wird einem alles so verstandesmäßig an den Kopf geworfen, daß man dabei sich selbst verliert. - Es wäre mir unangenehm, wenn gefordert würde, daß ich Namen nenne. Die Leute fühlen sich, wenn die Stuttgarter Herren mit ihnen reden, wie ausgeleert und ichlos. Nun, nicht wahr, das hängt mit dem zusammen, daß nun wirklich sich in Stuttgart ein «System» herausgebildet hat, daß nämlich die Leute hier wie in einer Festung mit hohen Mauern leben und nicht wissen, was unter den Menschen vorgeht, die zur Gesellschaft gehören. Sie reden von der inneren Seite der Festung heraus, ohne sich um dasjenige zu kümmern, was vorgeht in der Anthroposophischen Gesellschaft; und die Leute, die herkom­men, die haben dann das Gefühl, daß sie nicht angehört werden, wenn sie mit ihren Erfahrungen kommen; sie haben das Gefühl, daß sie überhaupt nicht angehört werden.

Manchmal ist das Gefühl, das die Menschen haben, so ausgedrückt worden: In Stuttgart schalten sich die menschlichen Persönlichkeiten aus. - Mir ist entgegengetreten, daß gesagt wurde: Die Stuttgarter schicken uns Herren her, die kommen mit ihren Notizbüchern, stellen ihre Fragen, schreiben etwas hinein, und dann werden diese Notizbü­cher ins Archiv gestellt, denn es wandern alle Dinge ins Archiv; die Persönlichkeit, die kommt nicht zu uns, sondern sie bringt ein Notiz­buch mit und trägt dies dann ins Archiv; wir möchten mit Persönlich­keiten einen menschlichen Verkehr haben.

Ich erzähle nur die Dinge, die gesagt werden. Die Dinge mögen furchtbar schief ausgedrückt werden; in der Schiefheit, die aus der schlimmen Erfahrung kommt, liegt aber noch viel mehr darin. Aus dieser Empfindung spricht vielleicht eine noch stärkere Wahrheit, als da zum Ausdruck kommt. Es muß doch gesonnen werden darüber, wie dem abgeholfen werden kann. Sonst ist wirklich nichts mehr zu retten.

Wenn die Delegiertentagung wirklich zustande kommt und solche Urteile sich bilden, dann kommen wir auch nicht weiter. Ebenso wäre es gut, wenn die Mißurteile, die hinausgehen, wirklich auch hier bewußt zur Sprache kommen würden. Dr. Rittelmeyer hat gesagt, es müßten von hier aus «schlagkräftige Parolen» ausgegeben werden. Solche Parolen werden ja wirklich ausgegeben.

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Marie Steiner: Ich möchte dazu etwas sagen, was sich auf München bezieht. Es hat mir leid getan, von den Dingen zu hören, die sich um die Arbeit des jungen Priesters Klein abspielen. Solche Sachen wie «Anlaimmelung» und «Anbetung» können so einen jungen Mann in den Glauben versetzen, daß er alte Leute leiten kann. Nun erkundigte ich mich, ob die Dinge wohl stimmten. Was mir als Echo da entgegenkam, war die Frage: Warum hat man die anthroposophische Arbeit in München zugrunde richten wollen? Der Bericht gipfelte in dem Satz, daß noch vor einigen Monaten dieser Herr die Parole bekommen hätte von einem Mitglied, das hier ist : Die religiöse Arbeit solle gestützt werden, und die Zweigarbeit solle schlafen. Von einer prominenten Persönlichkeit, so wurde gesagt, sei diese «Pa­role» ausgegeben worden. Es sind dadurch solche Dinge entstanden, die einige Mitglieder zu diesem Glauben gebracht haben. In München sind spezielle Verhält­nisse gewesen, Zweigschwierigkeiten besonderer Art, aus denen heraus solche Meinungen entstehen konnten. Er, der Berichterstatter, stand da als einer der Ankläger.

Dr. Peipers: Als Klein bei mir war, hatte ich den Eindruck, daß in München am ehesten etwas von der religiösen Bewegung zu erhoffen sei.

Dr. Steiner: Dies scheinen Sie in der Tat gesagt zu haben. Die Leute haben es so verstanden, daß die Führung in Stuttgart die Münchner Arbeit weiter schlafen schicken will und die religiöse Erneuerung an die Stelle der anthroposophischen Bewegung setzen will. Wir werden die Dinge, die von dem «Stuttgarter System» ausgehen, als Mißver­ständnisse enthüllen müssen. Solche Tatsachen sind schöpferisch! Das also ist eine «Parole», die von Stuttgart ausgegangen ist: Man solle die Münchner Zweigarbeit schlafen schicken; es sollten sich alle an die Arbeit für religiöse Erneuerung halten. - Wenn das jemand sagt, der der religiösen Erneuerung führend vorsteht, so wäre nichts dagegen einzuwenden. Wenn das aber von Führern der anthroposophischen Bewegung gesagt wird, dann läßt eine solche Parole die anthroposo­phische Bewegung zugrunde gehen.

Dr. Peiper5: Ich habe die Unterstützung abgelehnt.

Marie Steiner: Das eben Gesagte bezieht sich aber auf Ihr Gespräch mit Klein. Es wurde mir gesagt, daß Sie eine hohe Summe für die religiöse Erneuerung geben wollten, außerdem, daß Sie finden, die anthroposophische Arbeit solle schlafen. Diese Worte haben aber gewirkt.

Dr. Peipers: Was man sagt, wird so leicht mißdeutet.

Marie Steiner: Diese Parolen fliegen pfeilgeschwind weiter.

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Emil Leinhas äußert sich darüber.

Dr. Steiner: Derjenige, der diese Parole ausgegeben hat, gehört in Stuttgart zu den «Großköpfen», und schon deshalb wäre in München diese Parole maßgebend gewesen. So gräbt uns die religiöse Bewegung das Wasser ab. Die Münchner sind entrüstet, daß man von Stuttgart aus die anthroposophische Arbeit in München zerstört.

Dr. Peipers: Mir wurde geklagt, daß die Münchner Leute überhaupt keine Arbeit mehr leisteten.

Dr. Steiner: Wir werden alles als «Mißverständnis» aufklären. Das hindert aber nicht, daß diese Dinge, die in Stuttgart als Parolen geprägt wurden, zerstörerisch wirken; daß also durch das «Stuttgarter Sy­stem» nach der Peripherie hinaus die anthroposophische Arbeit sich auflöst.

Der Ausdruck «Großkopf» hängt zusammen mit Zeichnungen in Witzblättern. Man hat solche Leute in Witzblättern so dargestellt, daß man ihnen einen Riesenkopf und einen kleinen Körper gibt. In Öster­reich nennt man sie die «Großkopfeten». So sind Mißverständnisse schöpferisch.

Über diese Dinge kann man sich keine Vorstellungen bilden, wenn man nicht von solchen Voraussetzungen ausgeht, wie sie hier ange­schlagen worden sind. Das meiste, was man hier getan hat, muß unterlassen werden; darüber würde zu verhandeln sein. Bis jetzt ist noch nicht mehr geschehen, als daß man sich hinter den Aufruf gestellt hat. Die Delegiertenversammlung muß zustande kommen, und bei der müssen die Herrschaften nicht so erscheinen wie hier, indem sie sich um den Tisch setzen und gefaßt warten auf das, was der andere tut. Es muß jeder seine Meinung dorthin tragen, aber das nächste ist - ich muß morgen ganz früh abreisen -, daß hier in einer geschickten Weise übernommen wird, nun wirklich zum Beispiel die Jugendbewegung zu beruhigen, denn die wartet auf Antwort. Man muß mit ihr in Verhandlung auf erweitertem Boden eintreten. Die warten heute dar­auf, daß man ihnen sagen kann: Hier ist etwas geschehen. - Nun wird sich der Boden, auf dem sich bisher alles abgespielt hat, erweitern müssen. Man wird die Jugend zulassen und mit ihr verhandeln, und zwar muß es von morgen ab ohne Gardinen geschehen.

Es wird ein anderer Vorschlag in bezug auf die Verhandlungen mit der Jugend gemacht.

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Dr. Steiner: Das wird besser sein, als wenn die Herrschaften der Jugendbewegung an den Sitzungen hier teilnehmen würden. Das würde eine Errungenschaft sein. Vor allen Dingen mache ich darauf aufmerksam, daß innerhalb derjugendbewegung das Wort gefallen zu sein scheint, daß die Opposition gegen die Gesellschaft organisiert werden solle. Es würde nun sehr gut sein, wenn diese Organisation der Opposition auch wirklich Verständnis fände. Ich habe mir vorgestellt, daß außer Dr. Palmer auch Herr von Grone und Herr [Wolfgang] Wachsmuth einen Sinn haben könnten für dieses Unzufriedensein in der Gesellschaft. Ich glaube, daß man in Stuttgart ein Verständnis haben könnte für das Unzufriedensein. Warum soll man nur in Phra­sen der Harmonie zusammentreffen? Wenn man Verständnis zeigt für das, womit die Leute unzufrieden sind, wird schon etwas geschehen sein. Nicht von oben herunter, sondern dadurch, daß man zeigt, daß man selber etwas von dem Stachel der Unzufriedenheit in sich trägt, wird man etwas bei der Jugend erreichen. Wenn der andere fühlt: Das ist auch einer, der zufrieden ist, dann sagt er sich: Mit dem will ich riichts zu tun haben. Nehmen Sie das als eine in Humor gekleidete Darstellung von etwas, was aber ernst gemeint ist.

Jürgen von Grone spricht dazu.

Dr. Steiner: Nun ist dies in Stuttgart nicht gelungen. Unzufriedenhei­ten, die aus der Sache herauskommen, die sind zuweilen sehr frucht­bar; aber wenn bei der Unzufriedenheit nicht gerechnet wird mit dem, was die Leute empfinden, sondern wenn daran vorbeigegangen wird, dann wirkt sie zerstörend.

Marie Steiner: Es bezieht sich auf das, was im Zyklus gesagt wurde.

Dr. Steiner: Tatsächlich muß man das sagen. Wir haben doch diese zwei Phasen der akademischen Jugendbewegung gehabt, die so cha­rakterisiert werden müssen: Zuerst ist der Hochschulbund gegründet worden. Die Zelebritäten haben die studentischen Leiter alleingelas­sen und standen nicht hinter ihnen. Es löste sich das Band zwischen den studentischen Leitern und den Stuttgarter Zelebritäten auf. Nun wußten die studentischen Leiter nichts mehr anzufangen, und dann bildete sich diese Art von Studentenverbindungen, die Maikowski gewählt haben. Nun, Maikowski ist ein Mensch, der ungemein leicht von etwas zu überzeugen ist, wenn man nur in seiner Sprache zu reden

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versteht. Nun war jeder Anschluß zwischen dieser Jugendbewegung und den Stuttgarter Herren unmöglich. Die Jungen waren nicht mehr aufgeschlossen für irgend etwas, was von seiten dieser Herren kam. Es bildeten sich Illusionen heraus. Es ist heute noch so, wie es gewesen ist, als diese Leute hier den «Pädagogischen Jugendkurs» veranstaltet haben. Ich meine, daß dieses Wort von der «Organisation der Opposi­tion» aufgekommen ist, das kommt daher, weil die Leute das Gefühl haben, sie könnten nicht an die Stuttgarter Herren herankommen. Die Alten draußen haben alle ein ganz ähnliches Gefühl.

Das Wesentliche müßte schon besprochen werden. Dasjenige, was nach dieser Richtung spielt, möchte ich so charakterisieren : Es gibt in Stuttgart viele Fragen, auf die man vermeidet, eine Antwort zu ertei­len. Dazu gehört diese: Wenn man heute mit sehr vielen Menschen redet, so haben die das Bedürfnis, sich zu unterhalten über die Gestal­tung der Zweigarbeit. Die führenden Persönlichkeiten dagegen haben nicht das Bedürfnis, über die Gestaltung der Zweigarbeit zu sprechen. Das muß aber geschehen. Es muß sogar in den Aufruf hinein, wie die Vermittlung des anthroposophischen Geistesgutes geschehen soll. Nun könnte es auch geschehen, daß vermieden wird, über diese Fra­gen zu sprechen. Über die wichtigsten Fragen wird hier überhaupt geschwiegen.

Ernst Uehli: Immer fragen die Zweigleiter in den Orten, wie man die Zweigarbeit gestalten soll.

Emil Leinhas spricht dazu.

Dr. Steiner: Es existiert diese Hauptfrage : Wie können wir dazu kommen, daß die Zweigarbeit überhaupt so wird, daß sie uns befrie­digt? Da hört man nur dies : Wie soll man das machen, daß man mit den Herren reden kann? Wie sollen wir es machen, daß wir an die Stuttgar­ter Herren herankommen, damit die von uns hören, was wir gerne hätten? - Es handelt sich darum, daß da Fragen sind, auf die vermieden wird, eine Antwort zu geben. Es müßte eine positive Antwort darauf gegeben werden. Man müßte sich hier darüber aussprechen, was wir denen für eine Antwort geben, die da sagen: Wir sind rein verlorene Mitglieder, wir haben früher Freude an den Zyklen gehabt; an wen sollen wir uns wenden, damit jemand das weiß, daß wir jetzt nicht zufrieden sind?

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Alexander Strakosch spricht anerkennend über die frühere Arbeit von Frl. Stinde und über einzelne Zweige.

Dr. Unger spricht über die Schwierigkeiten, die entstehen durch die neuen Kräfte. Man kann die Zweigarbeit nur durch Beispiel darlegen; es sollten Schilderungen gegeben werden.

Emil Leinhas: Die Menschen wollen Persönlichkeiten sehen, die selbst die An­throposophie in sich haben.

Marie Steiner: Das Verlangen, das einem entgegentritt, ist ein viel größeres nach Vorlesung der Vorträge als nach Referieren. Es ist ein dringendes Verlangen nach den Vorträgen Dr. Steiners da.

Dr. Unger fragt über die Art des Vorlesens.

Marie Steiner: Man muß ganz schlicht und verständnisvoll lesen, nicht zu schnell. Rhetorisches Gebaren sollte man möglichst ausschalten und nur durchlässig sein für den Inhalt. Jemand, der im Drang der Geschäfte steht und nur schnell ein bißchen die Vorträge ansieht, trifft es nicht. Viermal müßte man die Sache durchle­sen. Man muß eine Einteilung des Textes haben in den Interpunktionen. Außer­dem muß der Inhalt durch einen hindurchfließen können. Man muß die Vorträge gründlich durcharbeiten und dann das Persönliche auslöschen. Man muß zuvor mehrere Stunden darin leben können.

Emil Leinhas spricht über die Frage von Vorlesen oder Referieren.

Marie Steiner: Es muß vor allem eine bestimmte Seelenattitüde dasein. Man muß die furchtbar eindringliche Verstandesbetonung vermeiden, sich selbst immer ausschalten und sich so wenig wie möglich zur Geltung bringen wollen.

Dr. Peipers: Es muß beides gemacht werden : Vorlesen und Referieren.

Dr. Unger: Man muß die Archive in Leseräume umwandeln. Ein Referat ist kaum möglich, wenn man bei dem Vortrag nicht selbst dabei war. Es müßten in verschie­denen Stufen Kurse abgehalten werden.

Marie Steiner: Im Zyklenmaterial liegt so viel vor, daß es für mehrere Leben ausreicht. Wenn jemand besondere Studien machen will, ist die Möglichkeit für solche Zwecke auch gegeben. Für besondere ernste Facharbeit ist diese Möglich­keit also auch da. Es hat sich gezeigt, daß man dieses Bedürfnis im starken Maße gehabt hat. Von einem großen Teil dessen, was vorgebracht worden ist, wurde gesagt, das könnte man auch anderswo hören, und das ist nicht dasjenige, was man als besondere Zweigarbeit braucht.

Dr. Steiner: Wir sind abgekommen von dem, was im gegenwärtigen Moment fruchtbar sein kann. Wir sind von dem abgekommen, was

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fruchtbar sein könnte für den heutigen Abend, für das Sichstellen hinter diesen Aufruf. Der Modus, wie man es macht in den Zweigen, das ist im gegenwärtigen Augenblick nicht gemeint. Was jetzt die Mitglieder ausdrücken als etwas, das sie unbefriedigt läßt, das ist doch etwas ganz anderes. Was die Mitglieder meinen, das ist, daß sie das Gefühl haben : Sie hören zu wenig von Anthroposophie. Ob sie es nun vorgelesen kriegen oder ob es vorgetragen wird in anthroposophischer Weise, das kann nicht Gegenstand der heutigen Diskussion sein. Es handelt sich darum: Was kann getan werden, damit in der richtigen Weise vor die Welt, und zwar zuerst vor die Zweige, das Anthropo­sophische herangebracht werden kann?

Nicht wahr, dazu müßte die Frage viel gründlicher erfaßt werden. Denn die Unzufriedenheit, welche herrscht, geht zurück auf die Ge­schichte der letzten vier Jahre. Sie mussen nicht vergessen, was für Kompromisse geschlossen worden sind von den Rednern, die da wild losgelassen worden sind hinaus auf die Zweige und auf die Welt. Was das für eine Aufregung gegeben hat, wenn immer wieder Kohl geredet worden ist! Nicht wahr, Herr Uehli hat geredet in dem Elberfelder Zweig. Das Wichtigste ist nicht das, was er ausgeführt hat; das Wich­tigste ist, daß der Damnitz eine heillose Angst gekriegt hat. Der ist uberzeugt davon, daß er persönlich nur durch Vorlesen etwas leisten kann. Aber es sind Leute gekommen, großgezogen durch die Mißer-ziehung in Stuttgart, es sind Leute aufgetreten, die ihren eigenen Kohl vorgetragen haben. Das sind die Stuttgarter Unarten durch die im «Bund für Dreigliederung» eingerissene Unsitte des Vortragswesens. Was kommt da für ein Kohl heran an das Publikum! Die Unbefriedigt­heit geht auf das zurück, was hier von Stuttgart angerichtet worden ist. Eine absolute Mißerziehung ist von Stuttgart ausgegangen. Man müßte der Unzufriedenheit entgegenkommen. Da war dieser von mir gehaltene Rednerkurs, bevor eine Horde auf das deutsche Publikum losgelassen worden ist. Schauen Sie sich das Echo dessen an, was durch diesen Hordenzug angerichtet worden ist! Was alles da draußen ver­zapft worden ist, das ist manchmal etwas gewesen, was an Groteskheit alles übertrifft. Ob es nun die Vervielfältigung der Vorträge war oder ob es ein Loslassen der Redner war: Es lag keine Gesinnung darin. Es lag ein scheußlicher bürokratischer Betrieb darin, es lag keine Inner­lichkeit darin. Es wurden scheußlich vervielfältigte Nachschriften an die Leute herumgeschickt in einer wirklich bürokratischen Weise.

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Dieses Besondere, was hier eingerissen ist, dieses Unpersönlich-Büro­kratische, der Mangel an innerlicher Gesinnung, alles, was von dem «Bund für Dreigliederung» her als besonderer Unfug eingerissen ist, das wirkt noch fort, das ist noch nicht ganz heraus. Das kommt, mit der Sache verbunden, in alle Dinge hinein. Es muß der Wille dasein, viele Dinge zu unterlassen, die gemacht worden sind, und vieles zu tun, was unterlassen worden ist. Dafür muß sich jemand einsetzen; dann wird es schon besser werden. Ebenso geschieht es, daß wiederum einfach wahllos Leuten, von denen man wünschen müßte, daß sie die Dinge kriegen, alles vorenthalten wird. Dagegen jemand, der bloß Sensationslust daran hat, der bekommt die Dinge. Eine gewisse Sorg­falt müßte da walten. Wenn man die Leute anstellt, ist es auch so, daß man keine Sorgfalt anwendet. Sorgfalt muß man anwenden! Man darf das Gefühl nicht hervorrufen, daß es kategorisiert, eingeteilt ist, son­dern daß ein menschlicher Impuls dahintersteht. Was hilft es, zu sagen: Die menschlichen Beziehungen müssen gepflegt werden! -, wenn man dann in der Handhabung der Dinge unmenschlich verfährt? Wenn man so etwas sagt, fühlt sich niemand getroffen, weil man es gar nicht sieht, wie schrecklich das System in der Handhabung der Sache ist. Oftmals haben diejenigen den Unfug am ärgsten gepflegt, die ihn jetzt am ärgsten kritisieren. Wie gesagt, in Elberfeld traten Herren auf, die großgezogen worden sind durch den Unfug, der [in der] Dreiglie­derungsbewegung [aufgetreten ist]. Damnitz hätte gar nichts dagegen gehabt, wenn freie gute Vorträge gehalten worden wären. Wogegen er sich gewendet hat, das hat er selber gesagt. Es waren ein paar Herren beim Stuttgarter Kongreß, und sie fühlten sich daraufhin berufen, in Elberfeld-Barmen freie Vorträge zu halten. Ich bin überzeugt, daß die reinen Kohl geredet haben und daß dadurch die Anthroposophie diskreditiert worden ist. Damnitz selbst hätte vielleicht gesagt, daß er es auch nicht könnte. Dieses System, daß jeder seinen eigenen Kohl reden müßte - ich rede nicht gegen Selbständigkeit, sondern gegen dieses Nicht-unterscheiden-Wollen zwischen dem, was sein sollte, und dem, was nicht sein sollte -, dabei kommt man leicht in spekula­tiv-dialektische Erörterungen hinein.

Gewiß, es kann immer unterlaufen, daß schlechte Leistungen auf­treten. Aber es ist ein großer Unterschied, ob die Handhabung eine solche ist, wie sie in den letzten Jahren hervorgetreten ist, oder ob man als Mensch hinter den Dingen steht. Man kann den einzelnen Leistungen

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gegenüber wissen, ob es eine gute oder eine schlechte Leistung ist. Ich habe nichts dagegen, wenn jemand einen eigenen Vortrag hält. Im Gegenteil: soviel wie nur irgend möglich. Ich habe es ja selbst gefor­dert, Das-eigene-Vorträge-Halten. Ob nun jemand einen referierten oder einen eigenen Vortrag hält : Innerhalb unserer Bewegung soll alles dazu dienen, unsere Sache zu pflegen, und nicht, sie zu diskreditieren. Das ist das, worauf es ankommt. Die Dinge sind alle relativ. Ich kann mir gut denken, daß es in den verschiedenen Zweigen verschieden gehandhabt wird. In dem einen Zweig wird jemand sein, der vorliest; in einem anderen wieder jemand, der von sich aus etwas gibt.

Da sind auch manchmal merkwürdige Auffassungen. Ich kenne einen Zweig - es kommt das auch zu diesen eben gesprochenen Dingen hinzu, weil sich dadurch ein Gesamturteil ergibt -, dessen Vorsitzen­der sich nie dazu herbeigelassen haben würde, irgendwelche Vorträge bloß vorzulesen, sondern der sich das Material bei mir geholt hat über Dinge, die ich noch gar nicht einmal selbst vorgetragen hatte. Die Themen hat die betreffende Persönlichkeit sich gewählt. Nun kann man garnicht entscheiden: Ist so etwas ein eigener Vortrag oder nicht? Es kommt auf die Eigenheiten der betreffenden Persönlichkeit an, ob es mehr oder weniger frei oder unfrei ist.

Die Frage des gesinnungsmäßigen Förderns der anthroposophi­schen Sache: ja, das ist eine prinzipielle Sache. Da müßte man gewisse Dinge unterscheiden lernen. Gewiß, Sie stoßen manchmal an dasje­nige, was schwer zu beurteilen ist. Und dann wird dadurch, daß Sie an solche Dinge stoßen, die schwer zu beurteilen sind, das Urteil im weitesten Umkreis konfus. Nicht wahr, manchmal wird es schließlich gräßlich sein.

Es muß Enthusiasmus entstehen! Und Enthusiasmus kann nur entstehen, wenn man eine Sache in der richtigen Weise anfaßt, zum Beispiel die Anthroposophie in entsprechender Weise in die Welt bringt. Hier entwickelt man Enthusiasmus für mancherlei Dinge, die nichts mit der anthroposophischen Sache zu tun haben. Dagegen wird es nicht leicht jemandem einfallen, in der entsprechenden Weise das­selbe zu tun für das, was auf unserem Boden selbst wächst, zum Beispiel das Eurythmische. Das Eurythmische, mit alledem, was drum und dran hängt, das mit Enthusiasmus hineinzustellen in die ganze Bewegung, dadurch würde für die anthroposophische Sache gewirkt werden! Während es eigentlich ein bißchen abführt von unserer Sache,

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wenn man so etwas arrangiert wie ein Konzert in unseren Räumen am nächsten Samstag. Das ist etwas, was im eminentesten Sinne abführt; was hat das mit unserer Sache zu tun?

Paul Baumann äußert sich dazu.

Dr. Steiner: Da kommen wir an die Punkte, wo es gilt, die anthroposo­phische Gesinnung zu haben oder nicht. Deshalb sage ich: Man stößt da an die Grenzen an. Von dem Stuttgarter Zentrum geht es aus, wo alles, was Anthroposophie ist, zum Verhudeln kommt. Wenn es halt möglich ist, so läßt sich eine Sängerin herbei, in unseren Räumen zu singen. Auf diese Weise kommen wir durchaus vom Wesentlichen ab. Dann verdienen wir eben, so behandelt zu werden von der Welt, wie es geschieht, wenn wirklich perfide Auffassungen der Anthroposophie vorkommen. Das gehört zu dem, um was es sich handelt. Ich wundere mich nicht, wenn so etwas gar nicht gefühlt wird, daß von Stuttgart aus die ganze Anthroposophische Gesellschaft verhudelt wird, daß alles Gefühl dafür verlorengegangen ist, was eigentlich mit der Anthropo­sophie gegeben werden soll.

Marie Steiner: Die Damen, die hier an der Eurvthmieschule arbeiten, werden oft von Mitgliedern gefragt, was sie hier eigentlich tun. Also, man hat keine Ahnung davon, daß hier eine Eurvthmieschule ist.

Dr. Steiner: Wenn wir uns dazu herbeilassen, eine Ablagerungsstätte für jeden sein zu wollen, der auch sonst überall sein könnte, ohne daß er irgend etwas hat, das mit dem Anthroposophischen zusammen­hängt, dann verliert die Bewegung ihre Stoßkraft.

Marie Steiner: Es sind nur zugereiste Damen, die hier in die Eurvthmieschule gehen. Es ist nicht ein einziger Stuttgarter in diesem Kurs.

Es wird über die Gründungen gesprochen.

Dr. Steiner: Ich möchte auch das ins Positive verwandelt wissen, ich möchte, daß ein Enthusiasmus dafür entstehe, das Anthroposophische in entsprechender Beleuchtung in die Welt zu tragen. Wir haben auch wirklich keine Berechtigung, die Dinge äußerlich zu begründen und sie dann nicht zur Pflege der Sache zu verwenden. Das ist also dasje­nige, was so schrecklich ist. Wir haben die äußere Möglichkeit, das Anthroposophische zu pflegen, herbeigeführt dadurch, daß wir mate­rielle Opfer in Anspruch genommen haben; wir müssen diese Möglichkeit

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auch ausnützen. Wir müssen dazu kommen, daß die Zeit­schrift «Anthroposophie» etwas ganz anderes wird, daß sie der an­throposophischen Sache dient, daß man nicht nur das Gefühl hat: Es ist jede Woche die Sorge da, daß sie voll wird. Das gehört dazu, wenn ich sage, man muß hinter dem Aufruf stehen.

Der Aufruf ist jetzt glücklich zustande gekommen. Mit welchen Schwierigkeiten! Die nötigen Änderungen können leicht gemacht werden; der Aufruf ist aber wirklich zustande gekommen. Die Dis­kussion über das Hinter-dem-Aufruf-Stehen ist wieder genau so, daß es in den nächsten Wochen wiederum so verlaufen könnte wie vorher, ob man mehr oder weniger vorlesen oder selbst vortragen solle. Das meinen die Leute nicht, die heute unbefriedigt sind. Die Dinge verlau­fen ergebnislos, weil man sich nicht mit ihnen beschäftigt.

Dr. Unger und Emil Leinhas sprechen; andere machen Vorschläge.

Dr. Steiner: Ich fürchte nur, wenn Vorträge gehalten werden, wenn Eurythmievorstellungen am Abend gegeben werden, ich fürchte nur, daß sich viele dann drücken werden, den Ernst der Lage auf die Tagesordnung zu bringen. Die Vortragenden werden sich nicht um die Besprechung des Schicksals der Anthroposophischen Gesellschaft kümmern. Ich fürchte, das würde etwas werden, was an sich ausge­zeichnet sein könnte, was aber nicht das werden wird, was wir im gegenwärtigen Moment brauchen. Wir haben glänzende solche Veran­staltungen gehabt. Wir haben doch die Kongresse hintereinander ge­habt. Wir haben sie in Wien, in Stuttgart, in Dornach gehabt. Ja, die Dinge waren in sich ausgezeichnet. Aber der anthroposophischen Bewegung haben sie dadurch, daß sie niemals ausgenützt worden sind, stärker geschadet als genützt.

Emil Leinhas rät zu Vorträgen von Dr. Steiner und Berichten über die Institutio­nen.

Dr. Kolisko äußert sich dazu.

Dr. Steiner: Sie müssen auch behandelt werden. Wenn die heutige Diskussion von dem Augenblick an, wo wir den Aufruf fertig bespro­chen hatten, diesen Verlauf nimmt, so ist das ein Musterbeispiel, wie diese Delegiertenversammlung nicht sein darf. Sie darf nicht so sein! Könnte nicht auch die Frage ein bißchen behandelt werden, woher es denn kommt, daß dieser Dreißigerausschuß so steril geworden ist, wo

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doch die gescheitesten Menschen Mitteleuropas beisammen sitzen? Vielleicht würde es nützlich sein zu fragen, warum denn dieser er­lauchte Kreis so unfruchtbar geblieben ist?

Dr. Schwebsch spricht dazu.

Dr. Steiner: Ich weiß, daß hier Persönlichkeiten sitzen, welche die ganze Sache für unnötig halten, daß man sich mit der Frage der Konsolidierung der Anthroposophischen Gesellschaft beschäftigt. Wenn man diese Dinge niemals behandelt hätte, wenn man sich für all das keine Mühe gegeben hätte, dann säßen Sie heute überhaupt nicht da. Dann gäbe es keine Fonds, aus denen die Waldorfschule gespeist wird. Dessen können Sie sicher sein, daß das einmal anders war. Man hat einmal aus dem Leben heraus die Gesellschaft begründet, und daraus ist die Möglichkeit entstanden, daß Sie heute hier sitzen - und finden können, daß das alles unfruchtbar sei. Wenn es immer so gewesen wäre, wenn zum Beispiel viele solche Menschen, wie Sie sind, beim Ausgangspunkt der Gesellschaft gesessen hätten, dann könnten Sie heute nicht das itzen. Sie sind wie die berühmte Persönlichkeit, die sich an ihrem eigenen Haarschopf in die Höhe ziehen will. Deshalb wären Sie schon verpflichtet, die Sache tiefer zu begründen. Warum sagen Sie denn nicht selbst das Bedeutende, das Ihnen hier fehlt und wodurch die Sache gehoben würde? Das Leben ist nicht dazu da, daß es bloß angenehm ist. Wenn es sich um bloße Annehmlichkeiten handeln soll, kann man nicht Dreißigersitzungen abhalten. Warum machen Sie es nicht selbst besser? Man kann auch hier sitzen und doch nicht dasein.

Marie Steiner: Man muß sich plagen, wenn es sich um Gruppengeist-Erkenntnisse handelt.

Toni Völker: Man hat nicht verstanden, Sie, Herr Doktor, als esoterischen Lehrer zu nehmen. Das ist nicht gehandhabt und verstanden worden, das Esoterische ins praktische Leben hineinzutragen. Daran scheint mir zu liegen, daß es so gewor­den ist.

Dr. Steiner: Die Dinge, die hier besprochen werden sollen - und zwar real besprochen werden sollen -, die sind im Grunde genommen notwendig geworden durch das, was in der Gesellschaft nach und nach hervorgetreten ist. Was aber früher in der Gesellschaft gefunden wer­den konnte, daß ein Wort von mir in einem engeren Kreise geblieben

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ist, das ist heute nicht mehr vorhanden. Und daher ist es unmöglich geworden, sich über die notwendigen Dinge real zu besprechen. Heute steht es so, daß ich eigentlich nicht den Anspruch machen dürfte, ein Wort in einem engeren Kreise zu sagen, weil jedes Wort in die Welt hinausgetragen wird. Im Sinne von Esoterik, von esoteri­schen Wahrheiten, in dem Sinne können wir mehr als früher sprechen. Jetzt wird in den öffentlichen Vorträgen mehr esoterischer Gehalt gebracht als früher in den Zyklen; aber es war früher doch in einem gewissen Sinne möglich, in engeren Kreisen etwas zu bringen, was in diesen engeren Kreisen geblieben ist. Aber heute ist das ausgeschlos­sen; heute ist es absolut ausgeschlossen.

Toni Völker: Wenn man das Esoterische ins Leben trägt, dann könnten die Zustände nicht eintreten, wie sie jetzt sind. Es käme darauf an, daß man die Sachen tut, statt über sie zu verhandeln.

Dr. Steiner: Die Dinge, von denen man sich nie hätte träumen lassen, von denen man sich gar nicht würde einfallen lassen, daß sie aus den Kreisen hinauskommen würden, die erscheinen in den brutalen Arti­keln in den Zeitungen; die sind seit Jahren besprochen worden, über die schreibt der Pfarrer Kully in den Zeitungen. Es müßte die Neigung bestehen, darüber nachzudenken, warum die Gesellschaft so gewor­den ist. Dieses Herunterkommen der Gesellschaft ist verknüpft mit dem Gang der Ereignisse, wie er sich in Stuttgart seit vier Jahren entwickelt hat. Er hat dazu geführt, daß die Anthroposophische Ge­sellschaft so furchtbar heruntergekommen ist. Es überwiegt der Klatsch gegenüber dem Ernst. Es überwiegt die Trivialität gegenüber dem, was nach dieser Richtung sein sollte, nach der Richtung des Pietätvollen hin. Es wäre gut gewesen, wenn die Zeit, die jetzt verwen­det worden ist zu Trivialitäten, wenn diese Zeit eben dazu verwendet worden wäre, daß diese furchtbare Lage der Gesellschaft mit einer etwas größeren Klarheit zur Sprache gebracht worden wäre. Die An­throposophische Gesellschaft müßte eine Realität werden. Sie ist ein Schemen geworden, aber dieses Schemen ist wirklich ein sehr ahri­manisches Produkt. Die Anthroposophische Gesellschaft ist überall ahrimanisch durchlöchert.

Ernst Ueh/i: Es ist an der Gesellschaft durch die Dreigliederungsbewegung gesun­digt worden. Es war dieser Dreißigerkreis da, aber es ist nicht wirklich gehandelt worden. Was besprochen wurde, wurde nicht ins Willensmäßige umgesetzt.

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Dr. Röschl: Man geht nicht auf die konkreten Fragen ein. Ich habe immer den Gedanken: Was soll ich eigentlich da?

Dr. Steiner: Die Sache würde sofort besser werden, wenn man eben nicht so weiter verführe, in dem Augenblick, wo man die Dinge klar einsieht. Gewiß, die Dinge haben auch ihre Berechtigung. Auf der anderen Seite liegt der Verlauf der Verhandlungen in einer bestimmten psychologischen Verfassung des Kreises. Wenn Sie zugehört haben, wie die Diskussionen verlaufen sind, so werden Sie bemerkt haben, daß ein großer Teil der Reden, der Wortmeldungen, seit Wochen darauf hinausgelaufen ist, daß jemand sagt: Ich schlage vor, daß wir uns über dies oder jenes unterhalten. - Eine solche Art des Vorschla­gens hat sich bloß in diesem Kreis herausgebildet. Irgendwoanders würde das nicht vorkommen, daß jemand sich meldet und sagen würde: Ich schlage vor, daß wir uns über dies und das unterhalten. -Hier in diesem Kreis ist das immerfort vorgekommen. Woanders fängt man an, über das zu reden, was man über etwas meint. Ich könnte zeigen, wie wenige etwas zu ihrem Thema gesagt haben. Ein großer Teil der Debatten läuft auch darauf hinaus, daß jemand sagt: Ich stelle mich voll hinter das und jenes. Das ändert nichts im Materiellen der Sache. Einer der Abende hat darin bestanden, daß einer nach dem anderen gesagt hat, er stelle sich voll hinter das und das. Denken Sie nur einmal, wenn dieses psychologische Moment ins Auge gefaßt würde, wie durch den Inhalt des Gesprochenen einfach dies bewiesen wird: Man fühlt sich selbst gar nicht als eine Realität. Man fühlt sich nicht als Realität; man gestattet sich, ein Schemen zu sein. Halten Sie Rückwärtsschau, wie oft diese Dinge vorgekommen sind! Es ist leich­ter, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben. Nehmen Sie die Sache von der psychologischen Seite her.

Ich möchte noch folgendes sagen. Die Dinge können in aller Gut­mütigkeit erörtert werden. Sie verlangen da etwas, was Sie nicht ver­langen sollten. Derjenige, der von dem Seminar geredet hat, der kennt genau die Geschichte davon, seitdem er mit dem betreffenden Herrn gesprochen hat. * Wenn er die Sache auftischt, dann könnte er während der Spanne Zeit, seit er das erfahren hat, darüber nachgedacht haben. Er könnte die Ergebnisse des Erfahrenen bringen, statt die Ergebnisse des Nichtnachdenkens zu bringen.

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* Es ist nicht bekannt, worauf hier Bezug genommen wird.

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Überhaupt herrscht im Dreißigerkreis dies im allgemeinen, daß viel von den anderen gefordert wird, aber möglichst wenig von sich selbst. Dadurch hebt sich so viel auf; die Rechnung hebt sich auf. Es wird von den anderen fast Unmenschliches gefordert, und keiner mutet sich zu, dasselbe von sich selber zu fordern. Darin liegt schon vieles. Ich kann deshalb nicht ganz einverstanden sein, wenn Dr. von Baravalle fort­während sagt: «Ich habe nichts von diesem Kreise.» Warum fragt er nie danach: Wieviel hat der Kreis von mir? Diese Frage müßte von jedem einzelnen aufgeworfen werden. Denn das rächt sich. Das ist so lange hier der Fall, als der Kreis besteht. Es wird so furchtbar viel geschimpft; es weiß ein jeder, was der Dreißigerkreis für Schäden hat; daher sollte man voraussetzen, daß die Schäden abgestellt werden. Da es ja alle wissen, könnte von allen heute darüber nachgedacht worden sein. Das Schimpfen und Nichtnachdenken ist so Gewohnheit gewor­den, und man verfällt immer wieder in diese Gewohnheit.

Heute ist der Aufruf zustande gekommen. Er ist aus der Intelligenz dieser erlauchten Körperschaft hervorgegangen. Halten Sie es für ganz ausgeschlossen, daß man diesen Aufruf nicht auch nach der dritten Sitzung schon hätte zustande bringen können? Der Aufruf ist ein Ausfluß der Intelligenz. Daß er nicht schon vor drei Wochen zustande gekommen ist, das ist ein Mangel an einem Ausfluß des Willens. Sie würden ja furchtbar gescheit werden, wenn wir zehn Jahre so weiter warten wollten. Ich bin nicht der Meinung, daß zur Abfassung des Aufrufs durch die gestrige Sitzung so viel beigetragen worden ist. Es ist eine Willensfrage. Man muß sich zu diesen Dingen entschließen. Man muß etwas wollen. Warum ist das nicht, daß man etwas will? Warum ist nur das Negative da, das Ablehnen des anderen? Warum ist das Einsetzen für den anderen nicht da? Eigentlich gehört viel mehr Spitzfindigkeit dazu, die Fehler des anderen so genau zu erkennen, wie wenn wir alle die Absicht hätten, auch das Positive des anderen zu sehen. Wenn man nur ein Viertel davon für das Positive verwenden würde, so würde viel dabei herauskommen.

Wir sind jetzt darüber klar, daß von jetzt bis zur Delegiertenver­sammlung, die aber möglichst bald stattfinden muß, dieses Siebener-komitee hier führt [Dr. Unger, Dr. Kolisko, Emil Leinhas, Dr. Pal­mer, Dr. Rittelmeyer, Frl. Mücke, Herr von Grone]. Ich wollte, daß dieses Siebenerkomitee so gut führt, daß die Delegierten wünschten, es solle bleiben. *

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Ich muß heute abend eine Antwort geben: Wann sollen wir die Delegiertenversammlung abhalten? Ich denke in 14 Tagen. Wir kön­nen drei Tage in Aussicht nehmen. Es wäre gut, wenn man für die Tagesversammlungen den Raum hier bekäme und für die Abendvor­träge den Sieglehaus-Saal.

Die Mitglieder äußern sich dazu.

Dr. Steiner: Es würde besser sein, man schickte den Ausländern einen Bericht über den Verlauf der Versammlungen, weil man die ganze Sache als eine abgeschlossene behandeln sollte. Den Aufruf, der die Ausländer nichts angeht, sollte man nicht schicken.

Herr Leinhas: Österreich, Holland und Skandinavien haben sich als hierher gehörig betrachtet.

Dr. Steiner: Ich weiß nicht, ob man es nicht so machen müßte, falls man es nach Österreich schickt, daß man den Aufruf an die Leitung in Österreich schickt und es ihnen anheimstellt, es ihrerseits auch in Österreich zu verbreiten. Man kann es an die Leitung in Wien schik­ken, und die sollte es mit ihrer eigenen Gegenzeichnung verbreiten.

Emil Leinhas: Die Orts gruppen haben keine Zentrale in Wien. Dr. Steiner: Meinetwegen kann man es auch schicken.

Emil Leinhas: Herrn Steffen müßte man wohl den Aufruf zur Kenntnisnahme schicken.

Dr. Steiner: Man kann ihm den Aufruf privat übergeben. Offiziell geht es ihn nichts an.

Herr Leinhas: 25., 26., 27. oder 24. Februar? Abends Eurvthmie und 2 Vorträge. Marie Steiner: Wegen der Proben müßte ich hier sein.

Dr. Steiner: Ich habe große Sorge darüber, daß der Eifer nachläßt. Ich habe eine heillose Sorge darüber. Ich werde mich entschließen müssen, am Montag wiederzukommen. Es ist erst ein Rohbau da; die Sache mit dem «inneren Leben» muß noch sorgfältig ausgearbeitet werden. Es muß am Montag in einer noch ganz und gar durchkorrigierbaren Form vorliegen. Es kann am Dienstag gedruckt werden. Die Kuverts können schon fertig sein. Es kann am Dienstag herausgehen.

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* Dieses Gremium wurde dann Vorstand der «Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland».

BESPRECHUNG MIT EINER JUGENDGRUPPE ZUR VORBEREITUNG DER DELEGIERTENVERSAMMLUNG Über den Ausbau der Anthroposophischen Gesellschaft Stuttgart, 8. Februar 1923, 23.30 Uhr

#G259-1991-SE306 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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BESPRECHUNG MIT EINER JUGENDGRUPPE

ZUR VORBEREITUNG DER DELEGIERTENVERSAMMLUNG

Über den Ausbau der Anthroposophischen Gesellschaft

Stuttgart, 8. Februar 1923, 23.30 Uhr

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Dr. Steiner: Man ist jetzt so weit, daß wenigstens der Entwurf eines Rundschreibens an die Anthroposophische Gesellschaft gemacht ist.* Damit ist eine Art Boden geschaffen, auf dem eine Verhandlung möglich wäre. Ich glaube, daß es jetzt Vielleicht gut wäre, wenn Sie das, was Sie selber wünschen, in einer gemeinsamen Verhandlung mit dem bis zu einer Delegiertenversammlung vorhandenen Komitee verhan­deln würden. Dieses Komitee ist rein sachlich zusammengestellt, so sachlich, daß nicht, wie es früher war in dem Ihnen bekannten Dreißi­gerausschuß, die Mitglieder der einzelnen Institute, sondern diejeni­gen, welche die bestehenden Einrichtungen zu repräsentieren haben, in diesem Komitee darinnen sind. Dieses Komitee ist so zusammenge­setzt, daß von dem alten Zentralvorstand Herr Leinhas für den «Kom­menden Tag», Dr. Unger als Rest des alten Zentralvorstandes, Dr. Rittelmeyer als Repräsentant der Bewegung für religiöse Erneuerung, dann Wolfgang Wachsmuth, Herr von Grone, Dr. Palmer, Dr. Ko­lisko, für den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag Fräulein Mücke und für die übrigen auswärtigen Interessen Herr Werbeck aus Hamburg darinnen sind. Die sieben Stuttgarter habe ich gebeten, daß sie mit Ihnen gemeinschaftlich die von Ihnen gemeinten Schritte un­ternehmen. Ich werde selber morgen früh nach Dornach abreisen müssen und am Montag wieder da sein. Ich bedaure, daß ich an den nächsten Besprechungen nicht teilnehmen kann. Ich glaube nun, daß es jetzt das allerbeste ist, da ja mit mir selbst auch von Ihrer Seite keine Differenz sein kann, daß Sie rein von sich aus die Verhandlungen mit diesen Persönlichkeiten führen. So wie die Verhältnisse liegen, sind diese Persönlichkeiten die gegebenen, da alle Schattierungen unter ihnen vertreten sind; die jugendlichen durch die Anwesenheit von Herrn von Grone und Wolfgang Wachsmuth - ich sehe davon ab, ob Ihnen diese beiden sympathisch sind -, die ja völlig jungfräulich in bezug auf alle Vorstandschaft sind. Außerdem hat Dr. Palmer erklärt, daß er jede mögliche Brücke zu der Jugend bauen will.

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* Siehe Seite 274ff.

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Der Aufruf an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft ist im Entwurf vorhanden. Er wird im wesentlichen das enthalten, was jetzt die Anthroposophische Gesellschaft sagen mußte. Er mußte naturgemäß aus denen hervorgehen, die die Anthroposophische Ge­sellschaft bis jetzt geführt haben. Vom 25. bis 28. Februar wird eine Delegiertenversammlung insofern stattfinden, als die einzelnen Zweige und Gruppen, die sich zusammengehörig betrachten, ihre Delegierten hierherschicken, damit eine Art Generalversammlung stattfinden soll. Damit ist Gelegenheit gegeben, alle Ansichten über den Ausbau vertreten zu können. Bis jetzt stand man ja vor der Alternative, es so zu machen oder aber die Anthroposophische Gesell­schaft, so wie sie war, eingehen zu lassen und etwas völlig Neues zu begründen. Im Jahre 1918 hätte man leichter Hand etwas Neues begründen können; jetzt steht man vor positiven Einrichtungen, mit denen man vor der Welt engagiert ist und aus denen man nicht heraus­kommt, daher muß alles aus der Gesellschaft heraus entstehen. Die Gesellschaft selbst muß in sich freier gestaltet sein, und es muß un­möglich sein, sich in ihr beengt zu fühlen. Ich denke, es wird gehen, möchte aber gerne etwas hören, was Sie von sich aus zu sagen haben. Daß es so lange gedauert hat, bis wir so weit waren, muß man auf die Bedächtigkeit des Alters schieben. Wir werden gerne hören, was Sie im gegenwärtigen Augenblick zu sagen haben.

Ein Vertreter der Jugend spricht über das Darinnenstehen der jüngeren Menschen in der Gesellschaft mit Rücksicht auf das, was Dr. Steiner in dem letzten Stuttgar­ter Zweigvortrag über die einzelnen Phasen in der Geschichte der Anthroposophi­schen Gesellschaft gesagt hat.

Dr. Steiner: Was Sie sagten von der Scheidewand, die entstanden ist im Zusammenhang mit der ersten, zweiten und dritten Phase der Bewe­gung, die sehr deutlich voneinander zu scheiden sind, ist richtig. Man muß ja berücksichtigen, daß die einzelnen Phasen annähernd sieben Jahre gewährt haben, wie ja die Gesellschaft selbst etwa im einund­zwanzigsten Lebensjahr steht. Was richtig ist, ist dieses: Die Impulse des Eintretens und der Beteiligung sind eigentlich bei den früheren Mitgliedern andere gewesen als jetzt bei den wesentlich akademisch-jugendlichen Kreisen. Sie sind insofern verschieden, als die Leute, die während der ersten Phase gekommen sind, mit dem ganzen Komplex, zwar aus den heutigen Zeitverhältnissen, aber mit ganz unbewußten

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Sehnsuchten gekommen sind; sie haben sich nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen Zeitverhältnissen gewußt und waren in einem Le­bensalter, in dem man sich über sein Verhältnis zur Zeit nicht klar Rechenschaft gibt. Sie kamen mit ganz allgemein menschlichen Inter­essen, die mit der Zeit in Beziehung stehen, aber die Leute gaben sich nicht darüber Rechenschaft. So war es fast auch noch in der zweiten Phase. Die Anthroposophie kam wesentlich weiter, aber die Anthro­posophen, mit Ausnahmen, interessierten sich weniger für die auf das Zeitgemäße gehenden Fragen. Die dritte Phase war den früher Einge­tretenen gruselig. Sie kamen mit denen allen zusammen, die unbefrie­digt waren - nicht mit unbestimmten Zeitverhältnissen, sondern in ganz bestimmter Art mit dem, was diese Menschen in den heutigen Bildungsanstalten erfahren hatten. Sie würden nicht zur Anthroposo­phie gekommen sein, wenn nicht der starke Gegensatz zu den heutigen Bildungsanstalten in ihnen vorhanden gewesen wäre. Sie kamen mit anderen Impulsen als die, die zum geringsten Teil auch eigentlich die Anthroposophie im Verhältnis zur Zeit gesehen hatten. Ich selber habe darüber sprechen müssen. Was ich über das Verhältnis der An­throposophie zur Zeit gesagt habe, ist eigentlich sehr wenig aufgenom­men worden. Sie aber kamen merkwürdigerweise und doch nicht merkwürdigerweise mit einer Sehnsucht, die eigentlich auf das Zen­trale der Anthroposophie geht.

Es hat sich nun ein Merkwürdiges herausgestellt: nämlich das Miß­verständnis gegenüber den Hochschulkursen. Ich will nichts sagen gegen ihren Wert. Aber die Hochschulkurse waren ein Mißverständ­nis. Es ist von Ihnen das gar nicht gesucht worden, was dort ausge­sprochen worden ist. Sie suchten Anthroposophie an sich. Das konn­ten diejenigen nicht verstehen, die in früheren Zeiten als Akademiker in die Anthroposophische Gesellschaft hineingekommen waren. Diese wollten ihre akademische Arbeit mit der Anthroposophie zu-sammenschweißen. Sie haben das nicht akzeptiert. Sie werden also auch mit der Zeit in gar keinen Konflikt kommen mit dem, was ich das Gros der Anthroposophischen Gesellschaft genannt habe. Der wirk­liche Konflikt bestand nur mit den Akademikern, weil diese geglaubt haben, auf biologische, chemisch-physikalische, historische Weise Anthroposophie vertreten zu wollen. Sie wollen das nicht. Sie wollen reine Anthroposophie haben. Sie haben die Schwierigkeit, über diesen Berg zu kommen, gemeinsam auch mit der gesamten Gesellschaft. Das

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Akademische, das da eingedrungen ist, ist wie ein Berg; hinüber und herüber muß er aber übergangen werden. Wenn von beiden Seiten mit gutem Willen gearbeitet wird, so wird sich das vielleicht nützlich erweisen. Auf der anderen Seite aber, wenn man weiterkommen will, so bedarf es zuletzt auch ein bißchen des Spezialisierens. Wenn auf beiden Seiten der gute Wille vorhanden ist, so wird es gehen.

Ein Teilnehmer spricht über einige Wünsche der jüngeren Menschen in bezug auf die Umgestaltung der Zweigarbeit, insbesondere des Vortrags- und Referat­wesens.

Dr. Steiner (unterbricht): Dieses Büchelchen von Albert Steffen ist deshalb berechtigt, weil es in einer wirklich künstlerischen Art den Inhalt meiner Vorträge wiedergibt. Es ist kein Journalistenreferat; es steht auf selbständigem Boden. Früher ist etwas Derartiges nicht geschehen. Wir werden sehen, ob das Schule macht. Es wäre ein Glück.

Nicht wahr - der Aufruf, der wird im wesentlichen zweierlei um­fassen müssen. Das eine: die Betonung der Notwendigkeit eines inner­lichen Arbeitens in der anthroposophischen Bewegung. Zweitens ist jetzt schon ein so starkes Geschlossens ein in der Anthroposophischen Gesellschaft unerläßlich, daß es die auftretenden Gegner abwehren kann. Abwehr nicht durch Polemik, sondern durch wirkliche sachge­mäße Arbeit vor der Welt. Wenn endlich in Anbetracht der Gegner­schaft nichts gemacht wird, so geht die Anthroposophie zugrunde. Man kann nicht in der Weise arbeiten, daß der eine dies behauptet, der andere es widerlegt. Bei den wichtigsten Gegnern kommt man nicht an das Publikum heran. Wenn heute aus den Kreisen der Alldeutschen und Deutschvölkischen über Anthroposophie Verleumdungen ausge­streut werden, so hat man dafür ein Publikum, das unter allen Umstän­den alles glaubt. Dem kommt man nicht bei. Man muß die Menschen, die unter diesem Publikum sich befinden, kennen. Man kann gewisse Dinge nicht einem katholischen Publikum sagen. Sind die Widerle­gungen falsch, so sind sie falsch. Sind sie aber richtig, so nützen sie uns nichts, sondern - ich muß schon dieses Wort gebrauchen - schaden uns nur, gerade bei den Katholiken. Sie ärgern sich, wenn man in der Lage ist, die gegnerischen Behauptungen zu widerlegen. Recht haben schadet uns heute, Unrecht vielleicht weniger. Die Dinge kann man nur durch die positive Arbeit entkräften. Machen Sie sich stark, wie die

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andern es sind. Dr. Rittelmeyer hat mit Recht neulich den Ausspruch gebraucht, ich selbst habe auch schon oft gerade darauf hingewiesen:

Man ahnt gar nicht, wie überall etwas ist, wovon man sagen kann: Es wird überall Feuer gemacht! Unsere Gegnerschaft wird in der näch­sten Zeit in ganz furchtbarer Weise zum Ausdruck kommen. Ihr gegenüber ist es nötig, eine geschlossene Körperschaft zu bilden. Alle Dinge, die gut sind, gereichen der Gesellschaft zur Gefahr. Es ist schon so, die Bewegung für religiöse Erneuerung gereicht der Anthroposo­phischen Gesellschaft zur Gefahr. Es ist so, daß man sich nicht vorge­stellt hat, daß auch noch auf diesem Gebiet von uns etwas zustande kommt. Und wenn wir, was natürlich wiederum sehr wünschenswert ist, in das Akademische weiter hineinarbeiten, dann werden die Leise­gangs überall hervorschlüpfen. Es macht mir wirklich Sorge, weil die alten reaktionären Mächte immer stärker werden. Bei Gründung des Hochschülbundes waren viel mehr Chancen vorhanden, die alten Mächte zurückzustauen. Heute sind diese Chancen geringer gewor­den. Sie werden viel zu leiden haben. Aber selbst dann, wenn die Anthroposophie getötet würde, sie würde wieder aufstehen, denn sein muß sie doch, und eine Notwendigkeit ist sie doch. Entweder gibt es eine Erdenzukunft oder keine. Die Erdenzukunft ist von der Anthro­posophie unzertrennlich. Wenn diese keine Zukunft hat, dann erreicht die ganze Menschheit keine Zukunft. Die Tendenz allein genügt. Die Anthroposophie kann bezüglich ihrer Ausbreitung manche Phasen durchmachen. Ich glaube schon, daß Sie über diesen Berg, den ich vorhin angedeutet habe, zum Vorteil der Gesellschaft in allem Frieden werden kommen müssen.

Ein Teilnehmer spricht über ein anderes Verhältnis, das die Jugend zur Gesell­schaft haben müßte.

Dr. Steiner: Sie müssen nur bedenken, daß bei alten Kulturströmun­gen, die schon weltgeschichtlich erwachsen sind, ganz andere Seelen-haltungen vorhanden waren als bei solchen, die historisch ganz jung sind. Man hat heute einfach keine Vorstellung mehr, wie schwer es war in den ersten christlichen Jahrhunderten, ein Christ zu sein. Heute ist es bequem, ein Christ zu sein. Es war früher nicht die äußere Märty­rerschwierigkeit, sondern die innere Seelenschwierigkeit. Es war schwer, vor sich selber ein Christ zu sein. Heute ist es schwer, ein richtiger Anthroposoph zu sein. Es ist in gewissem Sinne schwer.

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Diejenigen, die schon lange Anthroposophen sind, die tragen in sich, in ihrer ganzen Seelenhaltung, die ganze Schwierigkeit, verbunden zu sein mit dem ersten Auftreten einer geistigen Bewegung; in ihnen ist das Verständnis für gewisse Erscheinungen des Lebens nicht so stark. Diejenigen, die schon lange Anthroposophen sind, länger als die Jun­gen, reden manchmal diesen gegenüber glatt aneinander vorbei. Erst in diesen Tagen ist mir ein sehr krasses Beispiel aufgetreten. Diese Freunde hatten Besprechungen; die Stimmung war dort, daß der Glaube darüber vorhanden war, jetzt sind alle Brücken gebaut, jetzt versteht man sich auf das i- Tüpfelchen. Man war drüben ganz ehrlich. Bei Ihnen dagegen trat mir die Stimmung entgegen, man müsse die Opposition organisieren; man hat sich gar nicht gefunden. In dem spiegelt sich durchaus die leichte Illusionsfähigkeit über die Verhält­nisse des Lebens wider, wenn man in einer gewissen Lebenshaltung ist, die ich charakterisiert habe. Es ist schwer, Anthroposoph zu sein; es ist nicht leicht, eine gewisse Starrheit zu überwinden. Die Illusionisten sind ehrlich. Sie kommen mit der Frischheit der Seele, und deshalb sind Sie, als einer, der noch nicht müde geworden ist, weniger geneigt, diese Illusionen zu haben, als ein Müder. Viele sind müde und mürbe geworden durch die Schwierigkeiten, die sich uns entgegengestellt haben. Daher ist auch in diesen Tagen viel aneinander vorbeigeredet worden.

Ein Teilnehmer spricht über seinen ursprünglichen Plan, die für die Opposition verwandten Kräfte besonders von seiten der Jugend umzubiegen und in frucht­barer Weise zu organisieren.

Dr. Steiner: Manche Dinge sind schon so, daß ein realistisches Denken sie auch ins Auge fassen muß. Irgendwie muß es auch in der Zukunft so etwas geben, was Ihre Bildungsanstalten sind. Wenn auch gerade in dieser Hinsicht alle Zukunftshoffnungen im Keime sind, so darf es doch nicht so sein, daß die Hochschule eine bloße Attrappe bleibt. Da macht es mir wirklich Sorge, wie weit entfernt wir davon noch sind. Auf der andern Seite ist das Hochschulwesen ganz im argen. Vor einem Jahrhundert hatte man wenigstens noch eine einheitliche Welt­anschauung; das ist jetzt ganz vorüber, auch in der Gesinnung der Menschenwürde. Sehen Sie, Leisegang - es kommt ja gar nicht auf die Art an, wie er mich behandelt -, aber Leisegang, der ja demnächst Professor werden wird, da er ja alle Aspirationen dafür besitzt, hat

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jetzt ein Werk über Plato herausgegeben, einen ersten Band. Er behan­delt mich gar nicht so schlimm wie den Plato, er behandelt den Plato viel schlimmer, er macht eine Karikatur aus ihm, nur - die Leute merken es nicht. Sehen Sie, und da macht es mir Sorge, wirklich Sorge, wie weit weg man von der Möglichkeit ist, eine Hochschule zu schaffen.

Ein Teilnehmer weist auf die Art und Weise hin, wie in dem Gefangenenlager, in dem er tätig war, von den Gefangenen eine Hochschule geschaffen worden ist, und stellt dies als Beispiel für die Schaffung einer Hochschule für Geisteswissenschaf­ten hin.

Dr. Steiner: Man kann ja heute nicht eine Hochschule ins Leben rufen, weil dazu erst als Vorbedingung notwendig ist, daß die einzelnen Wissenschaftler vorhanden sind. Ideen und Ansätze sind zwar schon vorhanden. Solange man aber die Menschen, die innerhalb der Bewe­gung arbeiten sollen - ich muß mich schon kraß ausdrücken -, eben nur als Hungerleider haben kann, wird es schwer gehen. Das wird deshalb täglich schwieriger, weil die Zeit sich naht, wo man kaum daran denken kann, daß die vorangehende Zeit die nachfolgende mit Stipendien versorgt. Die Möglichkeit herbeizuführen, auf eine andere Art eine vollkommen neue Bildung ins Leben zu rufen, wird täglich schwieriger. Ich muß schon bei jeder Gelegenheit aus rein spirituellen Gründen zwei Dinge betonen: erstens, mit aller Intensität danach zu streben, so stark als möglich zu werden; zweitens, alle Energie darauf zu verwenden, daß der Kreis der Freunde größer wird. Es wäre [vom Spirituellen herj nicht notwendig, nach der Zahl zu sehen, nur in Anbetracht der Zeitverhältnisse. Im Spirituellen muß zwar das Gegen­teil richtig sein, der Zeit gegenüber aber ist es so. Es braucht die Erweiterung des Kreises nicht auf Kosten der Vertiefung zu gehen, aber Anstrengungen dahin gehend muß man schon machen, damit man eine große Zahl von Freunden erhält. Sonst ist der Untergang des einzelnen und der Bewegung als solcher eher möglich. Es ist schon so. Sie dürfen sich aber nicht scheuen, um die Vergrößerung nach außen zu erreichen, auch als Jugend recht stark zu sein.

Ein Teilnehmer spricht darüber, wie schwer es ist, sich mit dem Alter zu verstän­digen.

Dr. Steiner: Abgesehen von Bewertungen, ist es aber in gewissem Sinne so, daß das Nichtverstehen gegenseitig ist! Das Alter ist so, daß

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man sagen kann: So, wie es ist, ist es nicht seine Schuld, sondern sein Schicksal. Das Wehren der Jugend gegen das Alter aber ist Schutzmit­tel und Schwäche zugleich!

Werden Sie Genies an Interesse!

#TI

Die fünften Stuttgarter Verhandlungen vom 13. und 14. Februar 1923

Dienstag, 13. Februar: Nachmittags Sitzung mit dem Dreißigerkreis. Abends:

letzter der vier Vorträge im Zweig über anthroposophi­sche Gemeinschaftsbildung (in GA 257). Anschließend Fortsetzung der Sitzung mit dem Dreißigerkreis.

Mittwoch, 14. Februar: Besprechung mit einer Jugendgruppe.

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Dienstag, 13. Februar 1923 (nachmittags 4 Uhr)

#TX

Dr. Steiner: Nachdem nun der Aufruf glücklich zustande gekommen ist* und damit die Geneigtheit dieses Kreises sich gezeigt hat, die Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft in Angriff zu nehmen, wäre es gut, wenn für die heutige Verhandlung nun aus der Mitte der Versammlung heraus eine Art Vorsitz dieser Versammlung gewählt würde. Dann würde das dem inneren Gang der Sache am besten entsprechen. Wir waren bisher gewissermaßen eine ungeord­nete Gruppe von Menschen, und die soll jetzt in eine bestimmte Willensgemeinschaft hineintreten, was auch schon öfter betont wor­den ist. Deshalb möchte ich Sie bitten, daß ein Vorsitzender aus Ihrer eigenen Mitte gewählt würde, damit die Verhandlung heute recht fruchtbar ist und möglichst so verläuft, daß man sieht, daß aus der Delegiertenversammlung etwas werden kann. Es wird nur dann etwas daraus werden, wenn aus der Gruppe der hier versammelten Persön­lichkeiten eine Art selbstverständliche geistige Führung und Direk­tion hervorgeht.

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* Siehe auf Seite 334.

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Es folgt der Vorschlag, Emil Leinhas zum Vorsitzenden zu bestimmen.

Emil Leinhas: Ich möchte nur zu bedenken geben, daß ich nicht genügend im Bilde bin.

Dr. Steiner: Da nun offenbar im Laufe der letzten Tage sich das Heutige vorbereitet hat, so würde es begründet sein, daß irgend je-mand, der mitten drinnen steht, den Vorsitz übernimmt.

Herr Baravalle: Ich schlage Dr. Wolfgang Wachsmuth vor. wenn es Herr Leinhas nicht sein könne.

Dr. Wolfgang Wachsmuth und Dr. Kolisko werden vorgeschlagen. Emil Leinhas: Ich nehme die Wahl an, wenn es sein muß.

Dr. Steiner: Dann bitte ich diejenigen der verehrten Anwesenden, die für Herrn Leinhas sind, die Hand zu erheben.

Es wird abgestimmt und Emil Leinhas zum Vorsitzenden gewählt.

Dr. Steiner: Ich werde jetzt um so aufmerksamer zuhören können.

Emil Leinhas: Das Rundschreiben soll an alle Mitglieder in Deutschland versandt werden. Herr Werbeck soll doch wohl teilnehmen? (Notiz von Dr. Heyer: «Auf-ruf ohne Unterschrift von Werbeck? Empfindlichkeiten gegen Werbeck?»)

Es sprechen dazu: Dr. Kolisko, Dr. Heyer, Emil Leinhas und Toni Völker.

Dr. Steiner: Außer dem vorgebrachten Grunde der Empfindlichkeit sehe ich nicht, was dagegen sprechen könnte. Die Tatsache, daß diese Empfindlichkeit eine solche Rolle spielt in der Anthroposophischen Gesellschaft, diese Tatsache ist die eigentlich ruinöse. Wir können die Anthroposophische Gesellschaft aufstecken, wenn wir auf die Emp­findlichkeiten rechnen. Diese Empfindlichkeiten zeigen sich nicht nur in ihrer nackten Gestalt, sondern auch in allen möglichen Masken. Sie sind im Laufe der Jahre zu einer ungeheuren Gewalt gekommen, da sie kajoliert worden sind. So ist dies einer der Faktoren, die ruinös gewor­den sind. Wenn man gleich wieder mit den Empfindlichkeiten rechnet, ist die Neugestaltung vergeblich. Man muß anfangen, die Unwahrhaf­tigkeit abzulegen und mit Wahrhaftigkeit zu sagen: Wir können eine Philister-Gesellschaft gründen, dann können Empfindlichkeiten eine Rolle spielen. Wir werden dann aber die Anthroposophie aus der Gesellschaft heraustreiben. - Man muß sich Mühe geben, diese Emp­findlichkeit zu überwinden.

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Emil Leinhas: Man muß oft Rücksicht darauf nehmen.

Dr. Steiner: Das kann man in anderen Dingen tun. (Notiz von

Dr. Heyer: «nicht in prinzipiellen Dingen»)

Emil Leinhas: Werbeck wird ins Komitee aufgenommen, und es soll später eine Erklärung abgegeben werden, warum sein Name nicht unter dem Aufruf steht. Dr. Kolisko spricht.

Emil Leinhas gibt das genaue Programm der Delegiertentagung bekannt und stellt es zur Diskussion. Viele Redner sprechen dazu.

Dr. Steiner (?): Dann würden wir auf die Vorschläge von Schwebsch eintreten, der am meisten spezialisiert ein solches Programm vorge­schlagen hat.

Dr. Schwehsch: Ich habe mir einiges überlegt, wie Tagesüberschriften: 1. Lage der Zwerge; 2. Zweigarbeit; 3. Vertrauensorganisation; 4. innere Geschichte und Geschichte der Institutionen; 5. Nachwuchs und Jugendbewegung; 6. Gegnerbehandlung.

Ein Redner meint, es solle gefragt werden, ob die Delegiertenversammlung damit einverstanden ist, daß dieses Komitee die Führung behält.

Dr. Steiner: Sie setzen sich der Gefahr aus, daß eine Zufallsführung kommt. Wie wollen Sie es verhindern, daß ein Zufalispräsident ge­wählt wird?

Dr. Kolisko: Die Leitung muß von da ausgehen, von wo die Einladungen aus­gehen.

Dr. Steiner: Es wird sich bloß darum handeln, daß die Frage vorher durch das Auftreten des Komitees verhindert wird. Es sollte gar nicht das Begehren entstehen, daß irgendwie ein Präsident gewählt wird. Es sollte dies Begehren nicht entstehen. Was ich fürchte, ist, daß eben nicht genügend vom Komitee und aus diesem Kreis heraus gesprochen wird, so daß wirklich von vorneherein ein neuer Ton da wäre. Also das ist dasjenige, was so stark als ein Mangel aufgetreten ist, daß man sich nicht bewußt geworden ist, was es heißt, eine solche Gesellschaft zu führen. Das kann bei dieser Delegiertenversammlung dazu führen, daß ein Zufallspräsident gewählt wird. Irgendein Mitglied, das vorge­stern in die Anthröpösophische Gesellschaft eingetreten ist und das etwas geschickt sagt, wird dann als Präsident gewählt. Das passiert namentlich, wenn sich solche Dinge wiederholen und wenn man sich

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nicht bewußt ist, daß sie sich nicht wiederholen dürfen. Dann ge­schieht alles mögliche.

Es ist gestern moniert worden, daß - wenn ich mich so ausdrücken darf - die Regie ganz und gar versagt habe. Ich konnte nur die Nach-wirkungen wahrnehmen, weil ich erst spät angekommen bin. Gestern soll es so gewesen sein, daß im Grunde genommen während des ganzen Abends dieser Dreißigerausschuß überhaupt nicht in Aktion getreten ist, sondern durch geistige Abwesenheit geglänzt habe. * Es kann schiefgehen, wenn dies bei der Delegiertenversammlung sofort wieder auftritt, daß kein Ton angegeben wird, daß man sich nicht bewußt ist, was die eigentliche Pflicht dieses Kreises der «Großköpfi­gen» ist. Wenn man sich dessen nicht bewußt ist, daß etwas getan werden muß, damit die anderen auch einen Grund haben, das Komitee anzuerkennen, dann kann es auch schiefgehen.

Mehrere, Dr. Unger, Dr. Kolisko und Emil Leinhas, reden darüber, daß die Mitglieder des Kreises sprechen sollten.

Dr. Steiner: Alle Mitglieder dieses Neunerkömitees sind ja in diesem Dreißigerkreis darinnen. Und ebensogut, wie diese Sieben aus dem Dreißigerkreis unterschrieben haben, könnten auch unter Umständen andere Sieben es sein und wiederum andere Sieben. Der Aufruf wird von den einzelnen Mitgliedern des Dreißigerkreises unterschrieben. Nur vom Dreißigerkreis selbst könnte er nicht unterschrieben sein, weil der Dreißigerkreis als solcher - was hinausgesickert ist-, eben in seiner Gesamtheit sich als ein Unmögliches hingestellt hat. Es ist doch so, daß dieser Dreißigerkreis etwas Furchtbares ist. Besonders schrecklich gewütet hat er in der Versammlung, wo sich der Kreis verstärkt hatte [siehe die erweiterte Dreißigerkreissitzung vom 22. Ja­nuar]. Wenn darunter geschrieben worden wäre: Dreißigerkreis, so wäre das unmöglich gewesen. Wenn seine Mitglieder aber gegenüber der Delegiertenversammlung als einzelne auftreten, so ist das nur eines jeden Pflicht und Schuldigkeit. Ich sehe nicht ein, warum sie nicht dabei sein sollten. Das ist doch tatsächlich gar nicht zu ergründen, warum erst ein Mandat geschafft werden sollte für diejenigen, die hier hätten das Interesse der Gesellschaft vertreten sollen.

Beachten Sie eine einzige Tatsache, die heute abend erwähnt wor­den ist. Man könnte eine zweite ebensogut kriegen. Das ist dies, daß

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* Von dieser Sitzung liegt kein Protokoll vor.

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die Mitglieder der einzelnen Zweige hocherfreut waren, als das zweite Mitteilungsblatt gekommen ist. Wenn nur die Mitglieder draußen überhaupt etwas hören von dem, was in Stuttgart vorgeht, dann sind sie froh. Das Schreckliche war nur das, daß der Zentralvörstand am 4. Dezember sich gesagt hat: Ich werde da ein Mitteilungsblatt hinaus­gehen lassen; und nachher hat er die Gesellschaft ignoriert. In der Zeit seither ist nichts geschehen. Als dann ein Lebenszeichen kam in der Form des Mitteilungsblattes, waren die Mitglieder heilfroh. Wenn nur jemand freundliche Nasenlöcher machen wird im anthropösophi­schen Sinne, dann wird die Sache schön da sein. Sie können nicht verlangen, daß durch die bloße Unterschrift - man kann die Nasenlö­cher ja nicht dazu zeichnen -, daß ohne diese freundlichen Nasenlö­cher die Mitglieder das mit entnehmen, was der Dreißigerkreis mit dem Aufruf geleistet hat. Die einzelnen Mitglieder sind nicht ausge­löscht dadurch, daß man sagt, der Dreißigerkreis als Ganzes sei eine Blamage. Um so mehr sollte man sich darauf präparieren, am besten vor dem Spiegel, die freundlichen Nasenlöcher zu machen. Hoffent­lich konzentriert der Kreis die Aufmerksamkeit etwas auf die Nasen­löcher.

Ich muß morgen mit den einzelnen Menschen sprechen und Leh­rerkonferenzen abhalten; abends ist es schon zu spät. Es müßte heute fortgesetzt werden können.

[Da die Sitzung wegen des Vortrages von Rudolf Steiner im Stuttgarter Zweig unterbrochen werden muß, soll später fortgesetzt werden.]

Fortsetzung der Sitzung um 22 Uhr 45

Es wird geredet über den Gang der Verhandlungen [der Delegiertenversamm­lung]. Es wird noch einmal der Vorschlag Schwebsch mit den 6 Punkten erwähnt.

Dr. Unger: Die Entstehung des Komitees muß geschildert werden und die Ab­lösung des Zentralvorstandes durch dieses Komitee.

Dr. Steiner: Es kommt auf diesen Punkt viel an. Von diesem Punkt hängt eigentlich alles ab. Zunächst hat Dr. Schwebsch sehr gut abstrakt bezeichnet, daß die Sache dahin tendiert und daß man in Stuttgart die Sache kennt. Es müßte das nur etwas konkreter charakterisiert wer­den. Es müßte gesagt werden, was man sich darunter vorstellt; überdies,

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wie man die falsche Lage des Steuers charakterisiert - man kann ja nicht bloß immer jammern - und wie man die Umdrehung des Steüers charakterisiert. Das müßte derjenige vorbringen, der daran denkt, das Referat zu halten. Es hängt sehr viel davon ab, daß dies in der richtigen Weise vorgebracht wird.

Die Sache erfordert ein eingehendes Studium.

Theodor Lauer und José del Monte bitten Dr. Kolisko, diesen Bericht zu geben.

Dr. Unger: Es sollte mit einem Mitglied des alten Zentralvorstandes zusammen geschehen.

Dr. Schwebsch spricht.

Dr. Kolisko: Es sollte von Herrn Leinhas geschehen.

Dr. Steiner: Wenn es von einem Mitglied des alten Zentralvörstandes geschieht, klingt es zu stark nach Theosophischer Gesellschaft. Es müßte so sein, daß derjenige, der dieses Referat hält, von außen spricht, spricht als ein Beobachter von außen, und daß höchstens der alte Zentralvörstand sich nachher dazu äußert. Der muß keine Recht­fertigung vorbringen, sonst klingt es zu stark nach Theosöphischer Gesellschaft. Wie soll der alte Zentralvorstand unbefangen dieses Re­ferat halten? Das möchte ich wissen!

Emil Leinhas: Eindrucksvoller wäre es, wenn es jemand machte, der zu der Führung in Opposition gestanden hat.

Dr. Steiner: In den letzten Wochen haben alle sehr gut gewußt, was der Inhalt eines solchen Referates sein soll. Das müßte doch auch mit entsprechender Vertiefung durch Studium und Ordnen der Gedanken in ein ganz respektables Referat zu bringen sein. Es haben doch viele genau gewußt, was die Sünden sind.

Von Emil Leinhas und anderen wird Dr. Kolisko für das Referat vorgeschlagen.

Dr. Kolisko: Die Versäumnisse würden verständlich gemacht werden können aus einem Mangel an Bewußtsein.

Dr. Steiner: Sehr schade ist es, daß nicht jemand dieses erste Referat halten kann, der dadurch mit den Lebensbedingungen der anthröpo­söphischen Bewegung verknüpft ist, daß er einmal einen Zweig ge­gründet hat. Es sind - unter vielen anderen Gründen - in demselben Maße die Lebensbedingungen der anthroposophischen Bewegung geschwunden,

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als in führende Stellungen Persönlichkeiten eingetreten sind, die nicht verknüpft waren mit der Begründung von Zweigen. Überall werden die Zweige absterben unter den Nachfolgern, weil die Nachfolger nicht den gleichen Enthusiasmus aufbringen wie die Gründer. Sie mögen die Qualität so öder so beurteilen, einen Zweig gegründet zu haben oder ihn auf die Beine gebracht zu haben, das bedeutet noch etwas ganz anderes, als in eine Position, die schön geschaffen war, eingetreten zu sein. Bei Werbeck würde es in einem gewissen Sinne zutreffen, daß er wohl unterrichtet sein könnte über dasjenige, was man bei der Begründung eines Zweiges entbehrt hat dadurch, daß keine Zentralleitung da war. Das würde so jemand wissen von den früheren Zweigleitern.

Wenn Sie Frau Wolfram oder irgend jemand nehmen, der einen Zweig auf die Beine gebracht hat, so werden Sie finden, daß die Betreffenden wissen, wie es steht um das Zusammenwirken mit einer Zentralleitung. Das haben gewisse Zweigleiter entbehrt. Gerade nach dieser Richtung hin wird Werbeck nicht zu klagen haben. Sagen Sie ihm, Herr Leinhas, er soll alle Freundschaft zu Ihnen abrechnen, und fragen Sie ihn dann um seine Meinung. Er wird natürlich auch nur das Negative bringen; aber das nützt dann, wenn es in dem Sinne vorge­bracht wird, daß man daraus entnehmen kann, was an Positivem daraus hervorzugehen hat.

Emil Leinhas antwortet hierauf.

Dr. Steiner: Es müßte studiert werden, und zwar von diesem Gesichts­punkt aus, was jemand, der einen Zweig führen sollte, durch den Mangel an Zentralleitung entbehrt hat.

Dr. Krüger spricht dazu.

José del Monte: Dr. Kolisko soll den Bericht geben.

Dr. Steiner: Es scheint mir hauptsächlich aus dem Grunde nötig zu sein, weil sich kein anderer dafür findet. Diese Aufgabe darf man nicht unterschätzen. Sie müssen bedenken, daß derjenige, der dieses Referat hält, in einem gewissen Sinne in der Lage von jemandem ist, der bisher an der Spitze der Opposition gestanden hat, der tatsächlich die Sympa­thie dieser Opposition eben hat. Der muß erwärmen schön durch die Art, wie er auftritt. Er muß den Gegenkomplex dessen vertreten, was war, nämlich: was werden soll. Es ist die denkbar schwierigste Aufgabe,

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der sich jemand unterziehen soll in bezug auf die Anthroposo­phische Gesellschaft.

Emil Leinhas: Also dürfen wir Dr. Kolisko mit dieser Aufgabe betrauen?

Dr. Steiner: Er muß es wohl schon machen. Die Schwierigkeit liegt nur darin, daß er als Mitglied der Anthroposöphischen Gesellschaft erst neun Jahre alt ist, denn seine Mitgliedschaft besteht seit 1914; also ein gesellschaftliches Kind. Nun, Kriegsjahre rechnen aber doppelt; öster­reichische Nasenlöcher sind auch immer liebenswürdiger als andere, selbst wenn man den Kopf zurückwirft.*

Dr. Unger: Ob [er] die ganze Opposition herunterrasseln soll?

Dr. Steiner: Bei genügender Zusammenarbeit würde es schon gehen. Natürlich wird im Schoße der Gemeinschaft, die hier sitzt, sehr leicht alles aufzutreiben sein, was man vorzubringen hat.

Emil Leinhas: Es wird doch wohl so zu behandeln sein, daß wir gemeinsam ein Schuldbekenntnis vorzubringen haben?

Dr. Steiner: Das muß trotzdem nicht sein.

Emil Leinhas und mehrere andere sprechen über die innere Geschichte der Gesell­schaft (und Geschichte der Institutionen).

Dr. Kolisko: Dahin gehört: Religiöse Erneuerungsbewegung, Bund für freies Geistesleben und die Waldorfschule.

Dr. Steiner: Es ist eine sehr schwierige Geschichte. Es muß darauf gesehen werden, daß da sachlich, recht sachlich verfahren wird. Nicht wahr, bisher hat die Diskussion über diesen Punkt einen emotionellen unsachlichen Charakter gehabt. Es müßte sachlich verfahren werden. An sich ist der Punkt «Innere Geschichte» geeignet, das Ganze auf ein sehr ernstes Niveau zu bringen. Man muß dabei zeigen, wie einzelne Institutionen aus einem Universellen der Anthroposophie heraus ha­ben entstehen können, wie diese daher auch die inneren Bedingungen des Gedeihens haben. Und dann muß man zeigen, wie also diese Institutionen gedeihen können, wie zum Beispiel die Waldörfschule es dazu bringt, daß ein japanischer Professor sie anguckt, daß Engländer kommen und so weiter. Die Sache ist so, daß aus dem, was gesund ist in den Institutionen, und aus dem, was krank ist, sich die Rückwirkungen

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* Eine typische Geste von Dr. Kolisko.

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auf die Gesellschaft zeigen. Darauf muß Bedacht genommen werden, daß solche Institutionen, die schon festliegen in der äußeren Welt, nicht Schaden leiden. Der Waldorfschule und dem «Kommen­den Tag» darf nicht geschadet werden, denen muß genützt werden. Man darf nicht blind daraufloswüten. Dagegen muß also auch hervor­treten, daß die anderen Institutionen denen, die gedeihen, nacheifern müssen.

Dr. Kolisko: Die schwierige Frage der religiösen Erneuerung muß auch behandelt werden.

Dr. Hahn spricht zu diese Frage.

Dr. Steiner: Es könnte doch vielleicht irgend jemand schon andeuten, wie so etwas wie die religiöse Erneuerung behandelt werden muß; die Richtung davon wenigstens. Sonst ist keine Sicherheit vorhanden. Es muß ein Bewußtsein vorhanden sein, wie so etwas behandelt wird, von welchen Gesichtspunkten aus. Gerade wenn die Lebensbedingungen der Gesellschaft in Betracht kommen, muß man sich klar sein darüber, von welchen Gesichtspunkten aus die religiöse Erneuerung behandelt werden muß.

Emil Leinhas: Es soll doch wohl das Grundlegende nicht von Dr. Rittelmeyer vorgebracht werden?

Dr. Steiner: Es wird notwendig sein, daß der richtige Gesichtspunkt von seiten der Anthröposophischen Gesellschaft herbeigebracht wird. (Notiz von Dr. Heyer: «Die religiöse Erneuerung soll auf der Dele­giertentagüng vom Gesichtspunkt der Anthroposöphischen Gesell­schaft aus behandelt werden.»)

Dr. Unger und Stockmeyer sprechen dazu.

Marie Steiner: Wenn man zu den Ausgangspunkten zurückkehrt und als Punkt 1 nimmt: das mangelnde Bedürfnis nach dem Erkenntnisweg, wenn man dies als den ersten Punkt hinstellt, also wenn man Punkt 3 zu Punkt 1 machen würde, weil das den Ausgangspunkt der religiösen Bewegung zeigt, so wäre das gut. Der Aus­gangspunkt war, daß die Theologen zu Dr. Steiner gekommen sind und gesagt haben: Die Religion kann einem nicht mehr das geben, was man braucht, um die geistigen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Nun ist es aber so, daß die Anthroposophische Gesellschaft einige Leute zurückschreckt. Könnten wir das, was die Seelen brauchen, ihnen in einer mehr religiös gestimmten Form geben? -Jedenfalls sind die Theologen diejenigen, die darum gebeten haben und die gewußt haben, daß alle Erkenntnis durch die Anthroposophie und durch Dr. Steiner

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gegeben werden könne. Ich hatte ein Gespräch mit Prof. Beckh, der sagte: Wir haben einen großen Fehler begangen. Wir haben es so gemacht, daß wir die Erkenntnis, die Anthroposophie nicht der Gemeinde vermitteln, so daß man unter sich über anthroposophische Erkenntnisse redet, aber nicht in der Gemeinde. -Der Ausgangspunkt war, daß die Anthroposophische Gesellschaft sich mit der religiösen Erneuerungsbewegung nicht verquicken sollte, die nicht in erster Linie die Erkenntnis weitergibt, sondern die Seelsorge pflegt. Was geschehen ist, das ist dies, daß man die Inhalte der anthroposophischen Erkenntnis genommen hat, daß man die materielle Grundlage von der Anthroposophischen Gesellschaft herge­nommen hat und nun tut, als ob man alle Erkenntnisse aus der Theologie heraus-hole. Es hat aber nicht die Anthroposophie das Bedürfnis nach religiöser Erneue­rung gehabt, sondern die anderen, die Theologen.

Dr. Steiner: Warum sollte nicht die Hauptsache als solche geltend gemacht werden, daß man, mit voller Anerkennung des Inhaltes der religiösen Bewegung (Notiz von Dr. Heyer: «Unger kennt sie offen­bar zu wenig.»), in den Vordergrund stellt, daß die anthropösophische Bewegung die Schöpferin der religiösen Erneuerungsbewegung ist? Warum sollte man nicht diesen Punkt, der doch die Hauptsache ist, in den Vordergrund stellen? Wenn man es gewissenhaft schildert, so war es doch so, daß jüngere Theologen aufgetreten sind, die gesagt haben:

Wir sind am Ende, wir sind fertig. Aus der Theologie kann keine Seelsorge mehr gewonnen werden. Die Theologie hat kein Verständ­nis für das wahre Christentum. Nun brauchen wir die Anthroposo­phie, die uns das wiederum gibt. - Das ist geschehen. Ein Kultus ist wirklich entstanden.

Nun, daß dies in der Gegenwart eine Notwendigkeit ist innerhalb der Zivilisation, das geht einfach daraus hervor, daß diese Sehnsucht schon stark hervorgetreten ist gerade innerhalb der Theösophischen Gesellschaft. Als Olcott noch Präsident der Theosophischen Gesell­schaft war, sind einige Menschen zum Katholizismus übergetreten. Olcott hat den Ausspruch getan: Wenn alle Theösophen zum Katholi­zismus übertreten, dann können wir die Theosöphische Gesellschaft schließen. - Das ist also schon akut gewesen innerhalb der Theosophi­schen Gesellschaft. Dann ist die ganze Kalamität gekommen mit der Leadbeater-Krise der Theösophischen Gesellschaft, und das alles mit den übelsten Ausartungen. Leadbeater ist übergetreten zu einer altka­tholischen Kirche. Was vollständig fehlte, war das schöpferische Ele­ment. Es ist zum alten Kultus krampfhaft zurückgekehrt worden.

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Äußerlich hing es zusammen mit der Theorie, die in der Abstam­mungstheorie bis zum Uraffen zurückgekehrt ist. Ich weiß nicht, ob man die Dinge näher kennt?

Hier aber in der Anthroposophischen Gesellschaft ist etwas Neues schöpferisch aufgetreten. Selbstverständlich wird jeder Kultus die al­ten Elemente mitenthalten; hier aber ist das notwendige schöpferische Element neu aufgetreten. Warum sollte man nicht darauf hinweisen, daß innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft das geschaffen werden konnte, was die religiöse Bewegung braucht? Man braucht nicht die kleinlichen gegenseitigen Rankünen in den Vordergrund zu stellen. Es handelt sich doch darum, dieses Moment hinzustellen, daß die anthroposophische Bewegung in der Lage war, diese religiöse Bewegung zu schaffen. Es handelt sich darum, das gegenseitige Ver­hältnis zu regeln, und zwar in einer ganz klaren Weise. Nun müßte dann der Advöcatus Diaboli kommen und sagen, daß die Anthroposo­phische Gesellschaft nicht den richtigen Riecher gehabt hat. Das ist dasjenige, was kommen müßte, daß man ein Bewußtsein entwickelt von allem, was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Die Anthroposophische Gesellschaft aber hat alle Tatsachen verschlafen.

Es wird in der Welt viel über die Waldorfschule geredet. Die Leute in der anthropösophischen Bewegung aber mußte man immer erst darauf stoßen, daß sie aufmerksam wurden auf die Waldorfschule. Von der Anthroposophischen Gesellschaft ist wenig gekommen, was die Waldorfschulbewegung ins entsprechende anthroposophische Licht gerückt hat. Gerade von anthroposophischer Seite könnte das Moment hervorgehoben werden, daß es nur der anthroposophischen Bewegung gelungen ist, eine Schule zu begründen, die allgemein-menschlich ist. Anthroposophie geht darauf aus, keine anthroposo­phische Weltanschauungsschule zu gründen, sondern eine allgemeine Menschheitsschule. Daß etwas anthroposophisch sein kann, ohne daß es «anthröposophisch» zu sein braucht, das sind Dinge, die bei dieser Gelegenheit herauskommen müssen an eklatanten Beispielen. Es stand in der «Anthroposophie» kein Artikel über die religiöse Bewegung. Ich weiß, daß die Zeitschrift «Anthroposophie» nicht sehr bekannt ist in diesem Kreise hier. Das wichtigste Ereignis der anthröposophischen Geschichte fehlt in dem, was die Anthroposöphische Gesellschaft tat.*

- - -

* Dieser Satz lautet in den Notizen von Karl Schubert: «Das wichtigste Ereignis der anthroposophischen Geschichte fehlt in dem, was die anihroposophische Bewegung tat.«

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Die trottet so fort. Wenn ich in die Waldorfschule komme, sehe ich dort die Nummern der «Anthroposophie» ausliegen; sie werden ziem­lich spät abgeholt. Aber ich meine, was ich gesagt habe, gehört zur Geschichte der religiösen Bewegung. Wenn zu diesem Ausgangspunkt zurückgekehrt wird, ist alles gesagt.

Emil Leinhas: Innerhalb der religiösen Erneuerungsbewegung wird über den Ursprung aus der Anthroposophie nicht gesprochen.

Marie Steiner: Ich konnte aus den Worten des Herrn [der Name ist nicht festge­halten] sehen, daß dieser Standpunkt strikte befolgt wird. Ich kann mir nicht

denken, daß Dr. Rittelmeyer so etwas tut. Aber was andere getan haben, scheint fraglicher.

Mehrere sprechen über das Verschweigen des anthroposophischen Ursprungs der religiösen Erneuerungsbewegung: Dr. Streicher, Dr. Heyer usw.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, zu vermeiden, daß die Gegner zur alten Gegnerschaft neue Gegnerschaft hinzufügen. Indem man mit den Fingern gerade auf dies hindeutet, daß in Dornach und hier in Stuttgart die Dinge gegeben worden sind, schafft man sich nur neue Feinde. Es ist nicht nötig, daß man dies den Leuten auf dem Präsen­tierteller vörbringt. Bei dieser Diskussion handelt es sich darum, daß man so etwas ganz gut vermeiden kann, denn das würde bloß Wasser auf die Mühle der Gegner sein. Sie brauchen eine solche Tatsache nicht zu verleugnen, aber auch nicht darzubieten.

Ich habe nicht gesagt, daß man darauf hinweisen sollte, wie das geschehen ist. Es ist nicht nötig, die äußere Geschichte zu präsentie­ren. Daß die religiöse Bewegung ein Kind der Anthroposophie ist, das kann aus der Natur der Sache hergeleitet werden. Es ist nicht nötig, daß jemand die äußere Geschichte jetzt darstellt. Es handelt sich nicht darum, mit Fingern auf die Dinge hinzudeuten, die den Gegnern Wasser auf die Mühle sind. Es war verabredet, daß man nicht in unklar-verwaschener Weise die Dinge der Welt darbietet, sondern in klarer Weise die Sache darstellt aus ihrem Wesen heraus. Dasjenige,

Das Wort «Bewegung« wurde von Marie Steiner in ihrer Herausgabe ersetzt durch das Wort «Gesellschaft». Dr. Heyer hat anstelle dieses Satzes notiert: «Die wichtigsten Ereignisse fehlen in der .»

Offensichtlich konnten die Ausführungen Rudolf Steiners nur ungenügend festgehal­ten werden. Sinngemäß dürfte gesagt worden sein, daß in der Zeitschrift «Anthroposo­phie» nicht nur das letzte wichtigste Ereignis der anthroposophischen Bewegung nicht gebracht wurde, sondern die wichtigsten Ereignisse überhaupt darin fehlen.

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was ich vorhin skizziert habe, kann vorgebracht werden, ohne daß irgend jemand von der religiösen Bewegung etwas dagegen einwenden kann. Das führt nur zu Zänkereien, wenn man ihnen vorwirft, daß sie ihren Ursprung verleugnen. Sie können dasjenige sagen, was die von sich aus auch für Wahrheit halten.

Emil Leinhas spricht dazu.

Dr. Steiner: Wenn gesagt wird, daß sie nicht von Anthroposophie reden, so ist das ein Unsinn: Sie reden nur von Anthroposophie. Was liegt für eine Bedeutung darin, diesen Leuten in einer solchen Weise gegenüberzutreten? Wenn sie andere Menschen an das spirituelle Le­ben heranbringen, was liegt dann daran, daß sie durch das Wort «Anthroposophie» nicht gleich den Wauwau hinstellen? Die haben allen Grund, das Wort «Anthroposophie» zu vermeiden.

Marie Steiner: Ich hatte den Eindruck, daß sie es so darstellen, als ob sich das alles aus der Theologie herausholen ließe.

Dr. Steiner: Das ist ein Streit um das Eigentum. Hier handelt es sich um etwas anderes als um den Streit über das Eigentum. Es handelt sich darum, daß man die anthropösophische Bewegung selbst charakteri­siert. Wenden Sie die Frage um: Gäbe es eine religiöse Erneuerung, wenn es keine Anthroposophie gäbe? - Damit aber ist die Frage schon beantwortet. Da könnte man bei Emil Bock erst recht fragen, ob seine Aufsätze Anthroposophie vertreten. Es kommt darauf an, daß die Anthröposophische Gesellschaft für sich in Anspruch nehmen soll, die Angelegenheit der Anthroposophie zu pflegen. Ich bemerke in dieser Hinsicht keine Taktik bei den Leuten. Die Taktik war beim Geldsammeln.

Es kommt da verschiedenes in Betracht. Sie müssen bedenken, daß hier in Stuttgart eine andere Aufgabe besteht gegenüber solchen Din­gen als in einem beliebigen Zweig draußen. Hier hätte sich das ganz richtige Verhältnis herausbilden sollen.

Denken Sie sich einen beliebigen Zweig, der geleitet wird von jemandem sehr Braven. Einer der bravsten Zweige ist der in Elberfeld. Nehmen wir an, eine der Persönlichkeiten, die jetzt innerhalb der Erneuerungsbewegung steht, träte auch in Elberfeld auf. Nun ist es natürlich, daß diese Leute - und wenn es der Jüngste ist - eine Summe

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vön Begriffen haben, die der andere gar nicht ahnt; man ist dann den geistigen Fragen anders gewachsen.

Es wird dazu gesprochen.

Dr. Steiner: Das sind spezielle Fragen, die kann man nicht sö behan­deln. Hier in Stuttgart wäre die Aufgabe, daß sich allmählich das richtige Verhältnis herauszubilden hätte. Das würde darin bestehen, daß dasjenige, was sich in der Landhausstraße 70 abspielt, für die Theölögen selbst sö wichtig würde, daß sie immer selbst erscheinen würden. Dann werden die Gemeindemitglieder schön miterscheinen. Es handelt sich darum, daß die Anthröpösöphische Gesellschaft nicht blöß die Mutter ist, söndern auch die Mutter bleibt. Dazu gehört ein wirkliches reales Leben in der Anthröpösöphischen Gesellschaft. Das muß dasein. Nun ist es sö, daß das blöße Förttrötten nicht mehr geht in der Anthröpösöphischen Gesellschaft, daß die mitwachsen muß in diesen Dingen. Es ist nötwendig, daß ein Zentrum dieses Mitwachsens sich gerade in Stuttgart bildet.

Man kann alles sagen, aber man muß es mit dem Bewußtsein sagen, daß die Überlieferung des Kultus an die religiöse Erneuerung dieser religiösen Bewegung das Rückgrat gegeben hat. Wenn Sie einfach meinen Vörtrag vöm 30. Dezember 1922 [in GA 219] interpretiert bekömmen in der Weise, daß Ihnen blöß negativ gesagt wird, der Anthröpösöph brauche keinen Kultus, dann verlieren die Leute dieses Rückgrat. Es handelt sich niemals darum, daß man die negativen Behauptungen allein hinstellt, söndern daß man das andere, was ich radikal hervörgehoben habe, auch hinstellt: Für die gegenwärtige Zivilisatiön ist es nötwendig, daß eine abgesönderte Anthroposophi­sche Gesellschaft besteht, die diese andere Bewegung speist. Wenn

man das in der richtigen Weise hinstellt, dann kann die Anthroposo­phische Gesellschaft nur gewinnen dadurch, und man braucht gar nicht auf Rankünen einzugehen. Die Anthröpösöphische Gesellschaft ist unabhängig vön den Töchterbewegungen, die Töchterbewegungen aber nicht vön der Anthröposophischen Gesellschaft.

Es fallen einige Bemerkungen.

Dr. Steiner: Die meisten von den draußen wirkenden Leuten wissen gar nicht furchtbar viel von der Art und Weise, wie die finanzielle Seite

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der Sache gehandhabt wird.* Für uns aber handelt es sich darum, die Fruchtbarkeit der anthröposophischen Bewegung in der Delegierten­versammlung zu zeigen.

Marie Steiner: Ich habe Briefe gelesen von Vertretern der religiösen Erneuerung, die nicht diesen Eindruck der Zurückhaltung machten. Es ist ein furchtbar starkes Werben da, das autoritativ wirkt.

Es wird vorgeschlagen, es müsse sich ein Referent für die Frage der religiösen Erneuerung finden. Man schlägt Dr. Hahn vor. Leinhas und Dr. Hahn sprechen darüber.

Dr. Steiner: Wir haben hier wieder ein Schulbeispiel. Denken Sie doch einmal, wie leicht es einem Vertreter der religiösen Erneuerungsbewe­gung würde, von seinem Standpunkt aus über die Sache zu reden. Die Anthropösophische Gesellschaft aber hat es unterlassen, sich über die Sache zu informieren. Ich bin überzeugt, diese Information wird fehlen, wenn nicht ein eifriges Studium eintritt. Sach- und fachgemäß muß darüber geredet werden.

Marie Steiner: Man wird nicht berichten über das, was während der Kurse geschah.

Dr. Steiner: Man sollte über diese Dinge überhaupt nicht so reden, daß man glaubt, man müsse den Inhalt der äußeren Geschichte mitteilen, sondern das Wesen und die Bedeutung der Sache für die anthroposo­phische Bewegung.

Ernst Uehli äußert sich dazu.

Dr. Steiner: Über die religiöse Bewegung braucht man überhaupt nichts dabei zu sagen. Man kann sie ja kennenlernen. Also, die braucht man den Leuten nicht zu charakterisieren. Aber der anthroposophi­sche Gesichtspunkt, der bisher nicht geltend gemacht worden ist, der muß dabei in Betracht kommen. Dieser anthroposöphische Gesichts­punkt ist furchtbar leicht zu finden, wenn man sich nur dafür interes­siert. Steffen veröffentlicht jetzt im «Goetheanum» meine Vorträge über Scholastik. Darin haben Sie alle Gesichtspunkte, die Sie brau­chen. Natürlich müssen Sie sich mit der Materie vertraut machen.

- - -

* Dieser letzte Satz wurde von Marie Steiner redigiert. Ursprünglich lautet er in den Notizen von Karl Schubert: »Die meisten von den draußen wirkenden Leuten wissen gar nicht furchtbar viel von der Art und Weise, wie die Sache finanziell (?)«- darüber steht

>freiheitlich> (?) - »verwertet wird.»

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Wenn Sie sich nur ein bißchen informieren, dann haben Sie alles, was Sie brauchen. Leo XIII. hat für die katholische Kirche den Thomismus wieder aufleben lassen, aber auf eine tote Art. In dieser toten Art hält sich das ganze Christentum. Die religiöse Erneuerungsbewegung ver­langt aber eine lebendige Art. Sie haben alles in dieser Vortragsserie über die Scholastik. Die Elemente sind überall gegeben worden.

Es muß doch irgendwo eine Zentrale sein, wo man sich interessiert für die anthroposophischen Fragen, und das sollte Stuttgart sein. Man sollte die Dinge doch gegenwärtig haben! Das «Goetheanum» kommt ja auch nach Stuttgart. Ich sehe es oben in der Waldorfschule liegen. Aber jedenfalls kann doch, was darinnen steht, verarbeitet werden. Die Gesichtspunkte sind überall da, die Gesichtspunkte sind wirklich da.

Dr. Hahn: Auf dieser positiven Grundlage würde es mir Freude machen, das Referat zu halten.

Es wird über die Waldorfschule gesprochen.

Dr. Steiner: Das kann geschehen. Ich sehe aber nicht ein, warum dies die Hauptsache sein soll. Die Hauptsache ist, daß ein Waldorfschul­Prinzip da ist. Über diese Sache liegen genug Dinge vor. Es müßte sich derjenige dazu äußern, der ein Referat übernehmen will. - Frl. Dr. von Heydebrand will also über die Waldorfschule sprechen. Hoffentlich hört sie dann auf, Waldorflehrerin zu sein und ist Anthroposophin.

Es wird über die Hamburger Schule gesprochen.

Dr. Steiner: Von hier aus kann zu anderen Schulen nicht Stellung genommen werden. Die finanzielle Frage wird die Sache von selbst entscheiden. Man kann nicht alle beide Schulen bestehen und dadurch zugrunde gehen lassen, während man eine erhalten könnte. Das müßte sich furchtbar leicht regeln lassen. Werbeck selbst und sein ganzer Anhang sind nicht dafür, daß diese Schule in Hamburg gemacht wird. Der Werbeck-Zweig ist doch sehr groß. Einen zweiten Zweig zu gründen auf Pohlmanns und Kändlers Autorität hin, das wird schwer

möglich sein.

Der Blumenthal hat einmal gesagt, beim Theater könne man alles fälschen: Kritik, Applaus - just die Kasse könne man nicht fälschen. Die Mitglieder, die bloß erfunden sind, werden für die Goetheschule nichts bezahlen.

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Emil Leinhas: Man wendet sich nicht nur nach außerhalb. Pohlmann hat ange­droht, daß er sich auch an die Anthroposophische Gesellschaft wenden will.

Dr. Steiner: Die Briefe an mich werden nicht viel beweisen. Die ganze Schule ist daraufhin entstanden, daß Pohlmann bezahlen wollte. Von diesem anderen Vorsatz, daß er sich an die Gesellschaft wenden will, weiß ich noch nichts. Das beweist aber noch gar nichts. Eine Verstän­digung scheint ja nicht möglich zu sein. Dann muß man es eben ohne Verständigung lassen. Ich glaübe nicht, daß Werbeck eine Verständi­gung wünscht. Ich glaube gar nicht, daß es zu etwas anderem führen kann, als daß sich Werbeck dagegen ausspricht. So sind alle unsere Sachen Privatangelegenheiten. Das ist die alte Frage, ob man über­haupt diesen Gesichtspunkt allein gelten lassen kann, daß man die ganze Anthroposophische Gesellschaft für eine Schule engagiert. Es läßt sich nur darüber reden, ob man etwas tun soll, um den Kändler dort zu haben.

Emil Leinhas: Eine Verständigung kann vielleicht dahin gehend erzielt werden, daß in Hamburg eine Teilung des Interesses eintritt.

Dr. Steiner: Pohlmann ist der Begründer. Zu Pohlmann paßt Kändler ganz gut. Warum kann man nicht diesen Standpunkt einnehmen:

«Herr Pohlmann, Sie sind der Begründer der Schule; tun Sie, was Sie wollen. Wir können uns nicht dafür einsetzen, weil wir kein Geld haben. Wir müssen zunächst die Waldc'rfschule in Stuttgart als eine Musterschule bestehen lassen.» Man braucht es nicht bis zu dem Punkt zu bringen, daß eine Feindschaft daraus entstehen kann. Man kann das in nichts auflösen. Die Leute werden kein Geld dafür haben, wenn es der Pohlmann nicht macht. Mir hat er kein Protokoll geschickt. Es kann nichts anderes darin stehen, als daß Pohlmann die Schule grün­den wollte und daß Kändler der Lehrer ist. Ich habe ihnen gesagt:

Wenn ich nach Hamburg komme, werde ich die Schule besuchen.

Dr. Heyer wird bei der Delegiertenversammlung sprechen über den Hochschul-bund und die Dreigliederung. Dr. Unger spricht dazu.

Dr. Steiner: Beim Hochschulbund müßte gezeigt werden, wie man es nicht machen dürfte.

Dr. Stein und Dr. Kolisko wollen übernehmen die Frage: Wissenschaft und Hochschulkurse. Die Frage entsteht über den «Bund für freies Geistesleben«. Ernst Uehli weiß nichts daraus zu machen. Dr. Unger äußert sich zu dieser Frage.

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Dr. Steiner: Es haben über zwölf Persönlichkeiten dieses Blatt [«Bund für freies Geistesleben»] unterschrieben. Es waren die ehemaligen Mitglieder des Ausschusses. Alle Genannten sind Schulbeispiele der kurulischen Stühle.

Würde es nicht vielleicht besser sein, über den «Bund für freies Geistesleben» nicht zu reden, da er keine Schöpfung der Anthroposo­phischen Gesellschaft ist? Das Zu-Grabe-Tragen ist ja schon reichlich genug geschehen. (Notiz von Dr. Heyer: «Der Bund könnte noch heute etwas werden.») Es ist merkwürdig, daß es niemandem einfällt, den «Bund für freies Geistesleben» neu zu beleben.

Dr. Kolisko und Dr. Krüger äußern sich dazu.

Dr. Steiner: Wir haben neulich unsere Forscher zusammengerechnet. Von diesen elf Forschern scheint sich kein einziger für den «Bund für freies Geistesleben» interessiert zu haben, trotzdem gerade das freie Geistesleben der Boden sein müßte, auf dem diese Forscher stehen.

Dr. Streicher sagt etwas dazu.

Dr. Steiner: (Notiz von Dr. Heyer: Der «Bund für freies Geistesle­ben» sollte Menschen gewinnen, die erst suchen nach einem Stand­punkt.) Es gibt zahlreiche Menschen, die nach Standpunkten suchen. Wenn die Anthroposophische Gesellschaft selber so begründet wor­den wäre wie diese Gründung, daß man nämlich auf das Papier nur 12 Unterschriften setzte und dabei stehengeblieben ist (Notiz von Dr. Heyer: «Kurulische Stühle»), dann wäre die Anthroposophische Ge­sellschaft gar nicht da. Der «Bund für freies Geistesleben» könnte ein guter Vortrupp für die Anthroposophische Gesellschaft sein dadurch, daß Leute, die zunächst nicht Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft werden wollen, die aber teilnehmen wollen an einem realen Geistesleben, das sich in unabhängiger Weise aufbaut, mitma­chen würden. Man hat bisher nichts dazu getan, wie unsere Forscher überhaupt nichts getan haben. Es müßte auch da möglich sein, daß jemand sich dahinter stellte, um für diese Idee eine Art Vortrupp für die Gesellschaft zu sein. Warum sollten diese Dinge nicht möglich sein? Warum sollte so etwas nicht gemacht werden können?

Ein Symptom für diesen ganzen Problem-Komplex sind Sie selbst. Ihr Herberufen ist nur dadurch zustandegekommen, hatte nur da­durch einen Sinn, weil man die Dreigliederungsbewegung als «Bund

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für freies Geistesleben» auffaßte. Nun hat man - von der Zeit an, wo man Sie herberufen hat, bis zu der Zeit, wo Sie gekommen sind -vergessen, wozu man Sie berufen hatte.

Dr. Kolisko: Für das Wissenschaftliche würden sich viele Menschen interessieren.

Dr. Steiner: Versuchen Sie einmal, die schwere Masse des Forschungs­instituts auf die Beine zu bringen, so daß die bei der Delegiertenver­sammlung wie ein Block hinter Ihnen steht.

Es wird die Frage besprochen, wer ein Referat über die Institute übernehmen wird.

Dr. Steiner: Es wird nur die Frage zu entscheiden sein, ob jemand spricht, der darinnen ist, oder jemand, der draußen ist.

Es wird festgesetzt, daß Strakosch und Maier über das wissenschaftliche For­schungsinstitut sprechen werden. Dr. Palmer soll über das Klinisch-Therapeuti­sche Institut sprechen, Emil Leinhas das Korreferat übernehmen.

Dr. Steiner: Sie haben sich geirrt mit dem Vergleich vom Pferd. Mit den primitivsten Mitteln ist angefangen worden. Die Sache hat erst angefangen zu stoppen, als das Pferd mit der richtigen Aufzäumung in Trab gebracht werden sollte.

Dr. Kolisko und Emil Leinhas sprechen über die Frage der Propagierung.

Dr. Steiner: Bei der Delegiertenversammlung sollte eine Art menschli­ches Vertrauen inauguriert werden. Es sollte wenigstens ausgenützt werden, daß man eine Reihe von Vertretern der Gesellschaft hier hat, die mitarbeiten an der Verbreitung der Mittel. Aus der Art und Weise, wie geredet wird, müßte folgen, daß die Anthroposophische Gesell­schaft eine Art Mitarbeiter würde in der Verbreitung der Sache. Von seiten der Ärzte müßte jemand auftreten, der die ganze Bedeutung der medizinischen Strömung darlegt, der die Vorrede spricht zum Vade­mecum. Auf medizinischem Gebiet ist es furchtbar leicht, eine Sache hinzustellen, die wie eine Bombe einschlägt. Solche Dinge, die schließ­lich von den Fachleuten entschieden werden müssen, kann man aber nicht auf einer Delegiertenversammlung entscheiden. Da käme nur ein Gerede heraus. Das sollte man so machen, daß man die Gelegenheit benützt, um die Gesellschaft zur Mitarbeiterin in dieser Sache zu machen. Man muß nur denken, wie leicht sich die Leute für zwei Gebiete interessieren: das religiöse und das medizinische; weil sich die

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Leute fürchten für die Seele nach dem Tode und für den physischen Leib vor dem Tode. Diese zwei Gebiete sind am allerleichtesten zu bearbeiten.

Dr. Palmer spricht zu dieser Sache.

Dr. Steiner: Von speziellen Dingen würde ich glauben, daß es wün­schenswert wäre, hinzuweisen auf die Zentrifuge.

Das ist so, wie wenn zwei Eheleute sich streiten. Keiner ist schuld, die Schuld liegt in der Mitte.

Es wird über die Zweigarbeit verhandelt.

Dr. Steiner: Es kann höchstens über die Ergebnisse der Zweigarbeit verhandelt werden. Man kann da keine Direktiven geben. Man kann nur eine Aussprache über die Erfahrungen machen, welche die Ergeb­nisse betrifft, die dabei erzielt worden sind. Aber jedenfalls muß vermieden werden, in die Freiheit der Zweige einzugreifen.

Jürgen von Grone: Ich bin dafür, daß man über die Jugendbewegung keine Rede hält.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, daß sich jemand findet, der vom anthroposophischen Gesichtspunkt aus über die Jugendbewegung re­det. Es kann sich doch nur darum handeln, wie weit man fördernd eingreifen muß, um unter der Jugend den Nachwuchs zu haben. Es ist eine delikate Frage. Dadurch, daß der Zusammenhang zwischen den Generationen ganz abgerissen ist, ist die Jugend leicht obstinat zu machen, wenn man ihr väterlich, mütterlich oder tantig entgegen­kommt. Man darf ihr nicht schmeicheln, nicht ungerecht werden und nicht schmeicheln.

Emil Leinhas spricht darüber.

Dr. Röschl will Dr. Hahn helfen bei der Vorbereitung des Referats über die Jugendbewegung. Dr. Wachsmuth spricht darüber. Es wird die Gegnerfrage behandelt. Dr. Rittelmeyer solle darüber sprechen, er habe eine umfassende Erfahrung. Dr. Stein äußert sich dazu.

Dr. Kolisko: Man sollte die Gegner charakterisieren, zum Beispiel Seiling und Goesch.

Kolisko will den Fall Seiling, Dr. Unger den Fall Goesch übernehmen.

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Marie Steiner: Fräulein von Heydebrand müßte den Fall Schmettau behandeln.

Dr. Steiner: Warum soll man den Fall Schmettau als solchen behan­deln? Der Fall Schmettau ist doch kein Fall, der in Betracht kommt.

Marie Steiner: Aber die Gegner benutzen diesen Fall ---Dr. Steiner: Aber nun ist es so, daß ich sie nur einige Male gesehen habe.

Die Gegner, was weiter im Falle Schmettau - - - Fräulein von Schmettau stand - - - [hier ist eine größere Lücke in den Notiz enl - - -die Dinge sind einfach. Man braucht gar nicht den psychologischen Fall von Ruth von Schmettau zu behandeln. Dagegen Goesch ist psychiatrisch zu behandeln wegen der vielen Indikative und Konjunk­tive. Es muß gezeigt werden, daß einige Menschen ganz gewöhnliche Lügner sind. Bei Goesch muß man nicht davor zurückschrecken zu zeigen, daß die ganze Bande einen Verrückten ernst nimmt. Es müssen die Dinge von der charakteristischen Seite erfaßt werden. Man kann doch nicht die ganze Klatscherei auftischen. Ich glaube nicht, daß es schwer ist, die Sache zu machen.

Dr. Kolisko und andere sprechen über die Vertrauensorganisation und die Lei­tung der Gesellschaft, Leinhas über die Publikationen und den Verlag, die Zeit­schriften »Dreigliederung« und «Anthroposophie«.

Dr. Steiner: Die letzte Nummer der «Anthroposophie» war unbefrie­digend. Es wird da eine Änderung eintreten müssen.

Dr. Kolisko: Die Bekämpfung der Gegner in der «Anthroposophie« muß aufge­nommen werden. Es müssen Artikel über Seiling, Goesch und Leisegang darin erscheinen. Ich denke daran, daß ich einen Artikel über Seiling schreiben werde, einer der Ärzte über Goesch. Die Abonnentenzahl ist viel zu gering.

Dr. Steiner: Die «Anthroposophie» muß auf die kulturelle Basis ge­stellt werden, auf die sie gehört. Die «Anthroposophie» muß der Ausdruck der Bewegung werden.

Man sollte nicht theoretisch reden, man sollte angeben, wie durch die Anthroposophische Gesellschaft die Sachen getragen werden können.

Dr. Heyer spricht dazu.

Marie Steiner.' Es wird noch eine Schülervorstellung gegeben werden.

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Aufruf und Einladung zu der Delegiertentagung

#TI

AN DIE MITGLIEDER DER

ANTHROPOSOPHJSCHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND

#TX

Liebe Freunde!

Die Anthroposophische Gesellschaft ist in eine neue Phase ihrer Entwicklung eingetreten. Es gilt diese mit vollem Bewußtsein zu erfassen und die anthro­posophische Arbeit danach zu gestalten. In früheren Jahren mochte es genü­gen, die Ergebnisse der Geistesforschung mit offenem Sinn und empfängli­chem Herzen aufzunehmen und ihr in kleineren Kreisen Stätten zu bereiten. In den letzten Jahren ist die anthroposophische Bewegung mehr und mehr eine Weltbewegung geworden. Diese Tatsache stellt neue Anforderungen an diejenigen, die Anthroposophie vor der Welt vertreten wollen. Das ergibt sich sowohl aus dem inneren Fortschritt der Anthroposophie als auch aus dem Wandel der allgemeinen Zeitverhältnisse. Die Erkenntnis der Fruchtbarkeit der Anthroposophie für alle Gebiete des Lebens gab einer Reihe von Persön­lichkeiten seit dem Jahre 1919 den Mut, eine Reihe von Unternehmungen im Sinne der anthroposophischen Weltanschauung und ihrer Auswirkung in der Lebenspraxis zu begründen. Diesem Wollen kam Dr. Steiner entgegen im Vertrauen darauf, daß sich diejenigen, welche die Unternehmungen in Angriff nahmen, auch mit unbeugsamem Willen für die Durchführung einsetzten. Angesichts der Tatsache, daß in weiten Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft die Meinung Platz gegriffen hat, Dr. Steiner sei selbst der Be­gründer solcher Unternehmungen, ist es unsere Pflicht, zu betonen, daß dies nicht der Fall ist. Die volle Verantwortung liegt vielmehr bei denjenigen, die sie begründet haben. Wie Anthroposophie das Leben befruchtet, dort, wo sie aus ihren eigenen inneren Impulsen heraus wirken kann, zeigen solche Schöp­fungen wie das nun vernichtete Goetheanum und die eurythmische Kunst, welche sich unter der Leitung von Frau Marie Steiner in den letzten Jahren in ungeahnter Weise entfaltet hat. Sie haben in der Welt Anerkennung gefunden als Schöpfungen von allgemein menschlicher Bedeutung. Ebenso hat die Freie Waldorfschule in Deutschland und weit darüber hinaus durch die aus anthro­posophischer Geisteserkenntnis geborene Pädagogik die größte Beachtung gefunden. Auf dem Gebiet des praktischen Wirtschaftslebens war es möglich

- trotz der heftigen Anfeindungen, die gerade auf diesem Gebiet aus alten Anschauungen heraus auftraten -, die Aktiengesellschaft «Der Kommende Tag» so auszubauen, daß dieses Unternehmen seine wichtige Aufgabe inner­halb der ihm durch die allgemeinen Wirtschaftsverhältnisse gezogenen Gren­zen erfüllen kann.

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Dr. Steiner hat die Wege gewiesen, wie die wissenschaftliche Arbeit durch übersinnliche Erkenntnisse befruchtet werden kann. Dadurch ergeben sich aber für die anthroposophische Arbeit gewaltige Aufgaben. Der Wissen­schaftler kann ihnen nur gerecht werden, wenn er in sein Forschen anthropo­sophische Methode einfließen läßt, wie es z. B. in der Arbeit über die Milz­funktion von Frau L. Kolisko aus dem Wissenschaftlichen Forschungsinstitut geschehen ist. Wer die Schwierigkeiten kennt, mit denen die Forschung auf diesem Gebiete bisher zu kämpfen hatte, muß eine solche Entdeckung, wie sie in dieser Schrift hingestellt ist, als den epochemachenden Anfang einer neuen Erkenntnis von der Natur des menschlichen Organismus begrüßen. Die Arbeit von Dr. Hermann von Baravalle »Zur Pädagogik der Mathematik und Physik» bedeutet auf ihrem Gebiete eine Leistung von ähnlicher Wichtigkeit. Die Schrift über experimentelle Pädagogik von Dr. C. von Heydeb rand muß als eine Tat auf dem Gebiet der Pädagogik bezeichnet werden. Sie ergibt eine geradezu vernichtende Kritik der grotesken Ausartungen der Experimental­Psychologie und -Pädagogik, der sie zum erstenmal positive Ergebnisse der geisteswissenschaftlichen Erziehungskunst entgegenstellt.

Wie sollen diese Leistungen von der äußeren Wissenschaft berücksichtigt werden, wenn sie nicht in unseren eigenen Reihen in ihrem vollen Umfang gewürdigt werden?

Über solche positiven Ergebnisse hinaus ergibt sich aus vielen Hinweisen Dr. Steiners, wie in Fortsetzung berechtigter naturwissenschaftlicher For­schung sich gerade der Forscher selbst auf den Weg zur übersinnlichen Erkenntnis gestellt sehen kann. Diesen wichtigen Aufgaben muß die Anthro­posophische Gesellschaft, wenn sie die wahre Trägerin anthroposophischen Lebens sein will, lebendiges Interesse zuwenden. Die Pflege des geisteswis­senschaftlichen Erkenntnisweges ist Hauptaufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft. Das gegenwärtige Bewußtsein ist in vielen Menschen in einer Umwandlung begriffen, die so manchen in ein seelisches Chaos hineinzutrei­ben droht, wenn ihm nicht anthroposophische Arbeit Kraft zur Gestaltung entgegenbringt.

Die Jugend trägt eine Kraft neuen Werdens in sich. Aus der dumpfen Atmosphäre der Hörsäle, die manchmal auch noch bei unseren Hochschulkur­sen zu fühlen war, strebt diejugend dahin, wo sie die Anthroposophie als solche findet. Ihrem Verlangen nach gesunder Verinnerlichung muß Anthroposophie so entgegentreten, daß sie Erkenntnis, Gemüt, moralisches und religiöses Streben ergreift. Eine ältere Generation, die den Weg der inneren Seelenent­wicklung im Sinne der Anthroposophie beschritten hat, kann in keinen Gegensatz zur Jugend kommen, da diese Entwicklung jugendliche Kräfte in allen Seelen erweckt. Auf dieser Grundlage des anthroposophisch-seelischen Entwicklungsstrebens gibt es keinen Gegensatz zwischen Alter und Jugend.

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Der Verleumdungsfeldzug unserer Gegner verlangt einen mit sachlicher Deutlichkeit geführten, energisch betriebenen Gegenfeldzug. Diejenige Geg­nerschaft, welche Dr. Steiner aus der Begründung der anthroposophischen

Geisteswissenschaft erwachsen ist, wäre von keiner erheblichen Bedeutung gewesen. Eine gefährliche Gegnerschaft entstand erst seit der Begründung der verschiedenen Unternehmungen seit 1919. Diese letztere Art der Gegner­schaft griff törichte Behauptungen ehemaliger Mitglieder auf und verwendete sie als Mittel für ihre Absicht, die Anthroposophie aus der Welt zu schaffen. So brachte es eine skrupellose Gegnerschaft fertig, mit einer Flut von Ver­leumdungen die Person Dr. Steiners zu überschütten.

Es ist die Aufgabe der Anthroposophischen Gesellschaft und besonders derjenigen, welche die Anthroposophie auf allen Gebieten nach außen vertre­ten wollen, diesen Verleumdungen energisch entgegenzutreten, um endlich Dr. Steiner in wirksamer Weise vor solchen Angriffen zu schützen. Vor allem gilt es Verleumdungen, wie sie z. B. in den «Psychischen Studien» enthalten sind und welche dann von fast allen Gegnern kritiklos kolportiert worden sind, dadurch energisch zu bekämpfen, daß ihre Urheber charakterisiert und an den Pranger gestellt werden.

So gab es in München einen Menschen, der Dr. Steiner durch seine fanatische Anhängerschaft besonders lästig fiel, indem er z. B. versuchte, ihm bei jeder Gelegenheit die Hände zu küssen. Nachher verwandelte er sich aus gekränkter Eitelkeit in einen ebenso fanatischen Gegner. Aus dieser Schmutz-quelle schöpften alle die anderen Gegner. Den Charakter unserer Gegner beleuchtet auch ein Beispiel aus der neuesten Zeit. Ein Privatdozent einer altberühmten Universität versuchte unter dem Deckmantel wissenschaftli­chen Interesses unveröffentlichtes Material von uns zu erlangen. Ungefähr um dieselbe Zeit bewies er seinen Mannesmut dadurch, daß er einige unserer Mitglieder bat, ihn in der polemischen Auseinandersetzung - wie er sagte -nicht so wie den Prof. Drews zu behandeln und ihm so seine Karriere zu verderben. Auch die Methode vieler dieser neuen Gegner muß gekennzeich­net werden. Sie haben ein Zerrbild der Anthroposophie vielfach unter Miß­brauch ihrer offiziellen Stellungen oder wissenschaftlichen Autorität den Zeitgenossen aufzudrängen versucht, indem sie zahlreiche aus dem Zusam­menhang gerissene Stellen aus den Büchern und Vorträgen Dr. Steiners böswillig zusammengestellt haben. Diesem Zerrbild muß von unserer Seite durch sachgemäße Vertretung das wahre Bild des anthroposophischen Gei­stesgutes entgegengestellt werden.

Wir sind es der Anthroposophie schuldig, daß bei ihren Vertretern eine durch selbständiges Erleben des Geistigen geschaffene Seelenhaltung zum Ausdruck kommt, welche sie befähigt, die Anthroposophie in voller Würde so hinzustellen, daß alle Menschenseelen den Weg zu ihr finden können. Es

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werden auch Behauptungen der Gegner wie z. B., daß die übersinnlichen Erkenntnisse über vergangene Menschheitszustände keine Bedeutung für das wirkliche Leben haben, ihre Widerlegung finden einfach durch das Lebens-verhalten der Anthroposophen selbst, wenn diese Erkenntnisse in der Zweig­arbeit und dem individuellen Leben so gepflegt werden, daß offenbar wird, was sie den Menschen an Erkraftung der Persönlichkeit und an Erleuchtung des Daseins zu geben vermögen. Die Erkenntnisse vom vorgeburtlichen und nachtodlichen Leben werden dann nicht abstrakt dogmatisch an die Men­schen herankommen, wenn sie als ethische Kraft unmittelbar fühlbar werden. Die Neubelebung des Christentums durch die anthroposophischen For­schungsergebnisse wird dann nicht als eine bestreitbare Behauptung oder als ein unsicheres Versprechen vor die Menschen hingestellt werden, wenn sie ihnen aus der ganzen Haltung der Anthroposophen selbst entgegentritt.

Dringend notwendig ist auch, im Hinblick auf die Stärke der Gegner­schaft, daß alle in der Anthroposophischen Gesellschaft vorhandenen leben­digen geistigen Kräfte weder in der Vereinsamung erlahmen noch sich in Gegensätzlichkeiten zermürben, sondern im freien Zusammenwirken sich voll entfalten, und daß von der Leitung der Gesellschaft aus jeder im echt anthroposophischen Geist Tätige möglichst zur vollen Wirksamkeit im Dienst der gemeinsamen Sache gefördert wird. Es muß ein menschliches Verhältnis unter den einzelnen Anthroposophen entstehen. Nach neuen be­weglichen Formen muß gesucht werden, wie die Anthroposophische Gesell­schaft aus ihrer Absperrung und Selbstabsperrung heraus zu einer vielseitigen Vermittlerin ihres Geistesgutes wird. Jede Leitung der Gesellschaft wird unterstützt und zugleich beweglich erhalten werden müssen durch eine leben­dige Organisation von Vertrauenspersönlichkeiten, die sich für die Gesamtar­beit mitverantwortlich fühlen werden.

Was wir in diesem Aufruf aus unserem Empfinden für die neuen Aufgaben der Anthroposophischen Gesellschaft nur in Umrissen dargestellt haben, möchten wir einer Vertreterversammlung zur Beratung vorlegen. Bei der außerordentlichen Tragweite der Entscheidungen, die wir treffen müssen, bitten wir die Arbeitsgruppen in Deutschland, solche Persönlichkeiten, denen eine Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft warm am Herzen liegt, zu einer vom 25. bis 28. Februar in Stuttgart stattfindenden Tagung zu entsenden.

Bis zur Vertreterversammlung werden wir Unterzeichneten die leitende Vertrauenskörperschaft für die Angelegenheiten der Anthroposophischen

Gesellschaft bilden. Stuttgart, den 13. Februar 1923.

Jürgen v. Grone, Dr. Eugen Kolisko,

Johanna Mücke, Emil Leinhas, Dr. Otto Palmer, Dr. Friedrich Rittelmeyer, Dr. Carl Unger, Wolfgang Wachsmuth.

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AN DIE ARBEITSGRUPPEN DER

ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT IN DEUTSCHLAND

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Liebe Freunde! Stuttgart, den 13. Februar 1923

Aus dem Aufruf, den wir Ihnen hiemit überreichen, werden Sie ersehen, von welcher Bedeutung für die Anthroposophische Gesellschaft die vom 25. bis 28. Februar 1923 stattfindende Delegierten-Versammlung sein wird. Wir le­gen in dem Aufruf zugleich diejenigen Gesichtspunkte vor, die wir als wesent­lichste Grundlagen für die Beratungen ansehen. Wir dürfen die Hoffnung aussprechen, daß, wenn Sie nun die Delegierten Ihres Vertrauens zu dieser Versammlung entsenden, wir alle gemeinsam in der Lage sein werden, in brüderlicher Gesinnung unsere Angelegenheiten zu beraten und zu ordnen.

Wir möchten Ihnen in der Art, wie Sie Ihre Delegierten bestimmen wollen, auch in der Anzahl der Delegierten, völlig freie Hand lassen; insbesondere halten wir es für gut, wenn sich auch solche Gruppen vertreten lassen, welche innerhalb oder außerhalb der anerkannten Arbeitsgruppen gemeinsame an­throposophische Arbeit leisten. Außer den Delegierten ist jedes Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft zur Teilnahme an den Beratungen berechtigt. Es wird gebeten, Delegierten-Ausweise und Mitgliedskarten mitzubringen. Während der Tage der Versammlung werden Räume zu freien Zusammenkünften, Gruppenberatungen, Einzelbesprechungen usw. zur Verfügung gestellt werden können.

Über die Versammlung wird ein eingehender Bericht erstattet werden.

Wir werden versuchen, einer beschränkten Anzahl Delegierten freie Un­terkunft bei unsern hiesigen Mitgliedern zu verschaffen. Wir bitten daher, die Namen der Delegierten, die darauf an gewiesen sind, und Wünsche wegen der Unterbringung evtl. telegraphisch hierhergelangen zu lassen.

Falls es einzelnen der Arbeitsgruppen finanziell schwer fallen sollte, ihre Delegierten hierherzusenden, bitten wir um rasche Benachrichtigung, damit es uns möglich ist, nach Maßgabe der vorhandenen Mittel auszuhelfen.

Alle Zuschriften in Angelegenheit der Delegierten- Versammlung bitten wir zu richten an Herrn Jürgen von Grone, Stuttgart, Champignystr. 17, und mit dem Vermerk «Delegierten-Versammlung» zu versehen.

Wir machen aufmerksam, daß die Angelegenheit eine äußerst dringende ist, und bitten Sie um schnellste Inangriffnahme der Vorbereitungen zur Bestimmung der Delegierten.

Mit herzlichen anthroposophischen Grüßen

Jürgen von Grone, Dr. Eugen Kolisko, Emil Leinhas,

Johanna Mücke, Dr. Otto Palmer, Dr. Friedrich Rittelmeyer,

Dr. Carl Unger, Wolfgang Wachsmuth

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Zum Programm der Delegierten- Versammlung

Am Sonntag, den 25. Februar 1923, abends 8 Uhr, Landhausstraße 70 Versammlung der Delegierten.

Die weiteren Beratungen finden im Gustav-Siegle-Haus, Stuttgart, Leon­hardsplatz, statt, und zwar Montag, den 26. Februar, 9 bis 12Uhr vorm., 3 bis 6 Uhr nachm. und 8 bis 11 Uhr abends. Dienstag, den 27. Februar, 9 bis 12Uhr vorm. und 2 1/2 bis 4V2 Uhr nachm. Mittwoch, den 28. Februar,

9 bis 12Uhr vorm. und 2½ bis 4½ Uhr nachm.

Dienstag, den 27. Februar, abends 5 Uhr, Landhausstraße 70 Darbietung eurythmischer Kunst

unter Leitung von Frau Marie Steiner. Die Aufführung wird am Mittwoch,

den 28. Februar, abends 5 Uhr, daselbst wiederholt.

Dienstag, den 27., und Mittwoch, den 28. Februar, je abends 8 Uhr, im Gustav-Siegle-Haus, Leonhardsplatz

Vortrag von Dr. Rudolf Steiner.

NB: Am l. März werden die Preise der Fahrkarten voraussichtlich wieder eine Erhöhung erfahren, doch ist anzunehmen, daß auch diesmal die am

28. Februar gelösten Fahrkarten drei Tage Gültigkeit besitzen werden.

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ANSPRACHE BEI EINER ZUSAMMENKUNFT

MIT DER JUGENDGRUPPE

über die drei Hauptfragen für die anthroposophische Jugendarbeit

Stuttgart, 14. Februar 1923

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Meine lieben Freunde! Ich denke, ich darf annehmen, daß der vorlie­gende Aufruf an die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland Ihnen allen bekannt geworden ist. Sie haben ja daraus gesehen, daß eingesehen wird in den Kreisen der Anthroposophischen Gesellschaft, daß gewissermaßen das Steuer, wie es bisher namentlich von Stuttgart aus getrieben worden ist, jetzt gedreht werden muß und daß doch ein Bewußtsein vorhanden ist von dem, daß eine solche Wendung in der Steuerung notwendig ist. Die Einzelheiten, die dabei

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in Betracht kommen, werden naturgemäß auf der Delegiertenver­sammlung besprochen werden. Ich glaube, Sie werden ja vorzugsweise Interesse haben an all dem, was da vorgehen wird. Sie haben ja die Gesellschaft in einer bestimmten Verfassung vorgefunden, als Sie selbst aus den äußeren Verhältnissen Ihres Lebens heraus den Weg zur Anthroposophie gesucht haben. Sie haben sich gerade vorgestellt, daß doch irgendwo das gefunden werden muß, was ein junger Mensch sucht aus den Tiefen seiner Seele heraus, es aber nicht finden kann in den Institutionen der heutigen Welt. Sie waren hineingestellt in diese Institutionen und fanden, daß das, was durch die neuere Geschichte kerausgekommen ist, nicht übereinstimmt mit dem, was aus der menschlichen Seele als Menschentum eigentlich gefordert wird. Viel-leicht haben Sie gesucht, wo diese Forderung nach wahrem Men­schentum erfüllt sein würde, und schließlich glaubten Sie dies in der Anthroposophischen Gesellschaft finden zu können. Nun stimmte manches nicht überein mit den Tatsachen, so wie sie da waren. Zu­nächst waren Sie alle es ja nicht, welche dieses Nichtstimmen irgend­wie zu einem Konflikt getrieben haben. Sie haben zwar manches unbefriedigend gefunden, aber Sie blieben zunächst bei der Konstatie­rung dieser Unbefriedigtheit stehen. Dagegen muß schon vor den vergangenen und frischen Tatsachen innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft selbst die Tatsache ins Auge gefaßt werden, daß einfach die Anthroposophische Gesellschaft der Entwickelung der Anthroposophie nicht nachgekommen ist, und daß ins Auge gefaßt werden muß, inwieweit etwas ganz Neues geschaffen werden muß oder die alte Anthroposophische Gesellschaft mit einem völlig neuen Impuls weiterzuführen ist.

Das ist von den Persönlichkeiten, die in engerem oder weiterem Umfang an der Führung beteiligt waren, ins Auge gefaßt worden:

Manche alte Sünde, die ja meist in Unterlassungen bestand und in bürokratischen Formen, manche bürokratische Form zu verlassen und den Versuch zu machen, im Einvernehmen mit den Vertretern der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland zunächst die Grundlage zu schaffen, auf der die Gesellschaft weitergeführt werden kann.

Es ist ja in Stuttgart so, daß man sagen muß, die Entwickelung der letzten Jahre hat hier zusammengeführt eine große Anzahl ausgezeich­neter Arbeiter. Als Einzelpersönlichkeiten sind sie ja ausgezeichnete

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Leute, auf einen Haufen zusammengebracht sind sie in ihrer Art ja eine wirklich große Bewegung. Aber wie auch schon hier eine der leitenden Persönlichkeiten gesagt hat, jeder steht dem andern im Wege. Das ist eigentlich auch in vieler Beziehung hier das Unfruchtbare gewesen. Jeder einzelne hat seinen Posten ganz gut ausgefüllt. Man kann mit der Waldorfschule im höchsten Grade zufrieden sein. Aber die eigentliche Anthroposophische Gesellschaft, trotzdem die Anthroposophen da waren, ist im Grunde nach und nach verschwunden, begann sich, man kann nicht einmal sagen, in Wohlgefallen, sondern in Mißfallen aufzu­lösen. Diesem Zustand muß ein Ende gemacht werden, wenn die Gesellschaft nicht vollständig zerfallen soll.

Dieses haben Sie ja offenbar sehr deutlich bemerkt und sich dann Ihre Ansichten gebildet. Aber es ist ja doch notwendig gewesen, daß die Anthroposophische Gesellschaft aus ihren alten Stützen heraus sich wieder eine Form gibt. Denn immerhin liegt ja in dem Gros der Anthroposophischen Gesellschaft die Arbeit von dreiundzwanzig Jahren vor. Viele, die darin sind, sind in einer ganz anderen Lage und finden ja doch etwas vor, was besteht: Auch wenn der Zweig zerfällt, die einzelnen Anthroposophen bleiben, und die Anthroposophie fin­det schon ihre Verbreitung; zum Beispiel Frau Wolfram, die in Leipzig durch lange Jahre den Zweig geführt hat und dann zurückgetreten war von der Leitung, hat vor kurzem eine Ortsgruppe des «Bundes für freies Geistesleben» gegründet, im bewußten Gegensatz gegenüber dem dortigen anthroposophischen Kreise.

Daß die Ersetzung der alten Kräfte durch junge Kräfte allein nicht genügt, zeigt sich in Leipzig, denn der dortige Vorsitzende ist aus der Studentenschaft hervorgegangen. Es muß also der Ausgleich geschaf­fen werden zwischen dem, was durch zwei Jahrzehnte geschaffen ist, und dem, was an junger Kraft hereinkommt.

Der Aufruf soll ja auch in rechter Weise dieses vertreten. Viele Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft haben in dieser Ge­sellschaft ein beruhigendes Element gesucht; es war ihnen dann immer sehr unangenehm, wenn gegen äußere Gegnerschaft etwas gesagt wer­den mußte. Man mußte manchmal scharfe Worte gebrauchen. Aber das wird auch in der Zukunft nicht zu umgehen sein, denn die Gegner­schaft nimmt immer wüstere Formen an. Eine merkwürdige Verteidi­gungsstellung muß darum schon eingenommen werden. Das darf man nicht aus dem Auge verlieren. Die Alten haben es schwer, gute Anthroposophen

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zu sein, nachdem das beruhigende Element in ihnen Gewohnheit geworden ist.

Sobald man in der Anthroposophie so lebt, daß man die Dinge, die man erlebt, wie aus einer Gewohnheit heraus erlebt, so ist dieses etwas sehr Schlimmes. Anthroposophie ist ja etwas, was eigentlich jeden Tag aufs neue erworben werden muß; anders kann man Anthroposophie nicht haben. Man kann nicht bloß sich erinnern an das, was man sich auch einmal zurechtgelegt hat. Und dieser Schwierigkeit, daß der Mensch ja - als ich ganz jung war, sagten wir immer - ein Gewohn­heitstier ist, dieser Tatsache verdankt die alte Anthroposophische Gesellschaft die Schwierigkeiten. Denn Anthroposophie darf nicht zur Gewohnheit werden. Sie werden ja wiederum die Schwierigkeiten finden, daß eben Anthroposophie doch fordert, daß man heraus­kommt über alles auch bloß im erkenntnismäßigen Sinne Egoistische. Der Mensch kann ja natürlich wie andere Lebewesen egoistisch sein. Anthroposophie aber und Egoismus vertrageü sich nicht. Man kann ein leidlicher Philister sein, wenn man Egoist ist, sogar ein leidlicher Mensch. Wenn man als Anthroposoph egoistisch ist, dann verwickelt man sich in fortwährende Widersprüche. Das liegt daran, daß der Mensch eigentlich nicht wirklich mit seinem ganzen Wesen auf der Erde lebt. Wenn er von einem vorirdischen Dasein herunterkommt auf die Erde, so bleibt immer noch ein Stück von ihm im Astralischen, so daß, wenn der Mensch morgens aufwacht, das, was da in ihn hineingeht, nicht der ganze Mensch ist; vom übersinnlichen Menschen stammt eben das, was untertaucht. Der Mensch ist nicht ganz auf der Erde, er beläßt einen gewissen Teil seines Daseins im Übersinnlichen. Und damit hängt zusammen, daß es eigentlich eine vollständig befrie­digende soziale Ordnung nicht geben kann. Eine solche soziale Ord­nung kann nur aus irdischen Verhältnissen stammen. Innerhalb einer solchen sozialen Ordnung können die Menschenwesen nicht ganz glücklich werden.

Ich habe es immer wieder gesagt: Die Dreigliederung ist nicht das Paradies auf Erden, sondern sie zeigt einen in sich möglichen Organis­mus. - Denn das wäre sonst Betrug, da der Mensch nicht allein ein irdisches Wesen ist. Dieser Umstand ist es, an den man sich eigentlich halten muß, um seinen ganzen Menschen wirklich zu fühlen; und das ist es, warum der Mensch niemals mit einer bloß materialistischen Weltanschauung zufrieden sein kann, wenn er sein volles Menschentum

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in sich fühlt. Erst wenn wir dieses so recht fühlen, sind wir eigentlich für Anthroposophie in Wahrheit reif, wenn wir fühlen, wir können nicht ganz auf die Erde herunterkommen, wir brauchen etwas für unseren übersinnlichen Menschen.

Derartiges haben Sie offenbar ganz instinktiv gefühlt, und darauf­hin sind Sie zur Anthroposophischen Gesellschaft gekommen und werden sich klar werden müssen, daß Sie durch diese Tatsache mehr oder weniger Ihre Schwierigkeit fühlen. Denn wenn auf der einen Seite Anthroposophie niemals Gewohnheit werden kann, 50 iSt auf der andern Seite notwendig, daß Anthroposophie nicht in einem Wesen aufgeht, das wirklich von einem bloß irdischen stammt. Denn das, was im Egoismus aufgeht, hängt mit dem Irdischen zusammen. Der Mensch wird also schlechter, wie er als Mensch ist, wenn er übersinn­lich und zugleich egoistisch ist: es wird ein übersinnliches Wesen ganz zum Charakter eines sinnlichen Wesens gemacht. Spirituelles Fühlen und Empfinden verträgt sich nicht mit dem Egoismus. Da fängt das Hemmnis an.

Nun, da liegt aber auch der Punkt, wo die anthroposophische Bewegung zusammenfällt mit dem, was die Jugend von heute wirklich sucht aus dem Umstande heraus, daß jeder Zusammenhang mit der geistigen Welt doch verloren worden ist. Und nun sind die äußeren Institutionen da. Die Jugend flieht sie und sucht nach einem Bewußt­sein von ihrem Menschentum. Aus diesem Gefühl heraus müssen Sie eben versuchen, zurechtzukommen mit dem, was schon da ist und mit Ihrem eigenen Inneren fühlen. Sie müssen die Schwierigkeit, die Sie finden, zusammenhalten mit den Schwierigkeiten, die die andern ha­ben, dann wird der Weg gefunden werden können, daß wir für die nächste Zeit tatsächlich eine starke Anthroposophische Gesellschaft -auch in dem Kreise, der die Verinnerlichung sucht -, eine starke anthroposophische Bewegung bekommen.

Wenn Sie diesen Weg gehen, werden Sie durch manche Entbehrung und durch manche Schwierigkeit hindurchgehen müssen, denn die Menschheit will eine solche Bewegung nicht. Es wird Ihnen manches noch bevorstehen, bevor Sie wirklich so weit sind, daß Sie wirklich mit Ihrem ganzen Menschen fest mit der Sache verbunden sind. Dann wird sich auch die Anthroposophie unter allen Umständen geltend machen. Das Zerbrechen der zivilisierten Welt ist ein so starkes, daß Europa nicht mehr lange Zeit haben wird, wenn es nicht zum Geist sich

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wendet. Nur aus dem Geist heraus kann ein Aufstieg kommen! Daher muß das Geistige unbedingt gesucht werden, und in diesem Streben haben Sie recht getan, haben Sie den richtigen Weg eingeschlagen. Jetzt handelt es sich nun darum, daß die Arbeit aufgenommen werden wird für die nächste Zukunft. Und um da noch einiges zu hören, was Sie sich vorstellen, wie Ihre Intentionen sich gestalten werden, sind wir heute ja zusammengekommen.

LAnschließend folgt eine Fragenbeantwortung, ganz abgedruckt in GA 21 7a. Hier wird nur wiedergegeben, was auf den Gesellschaftszusammenhang Bezug hat:] Ein Teilnehmer: Üher die Schwierigkeiten der Studenten, sich mit anthroposophi­schen Arbeiten geltend zu machen.

Dr. Steiner: Die Anthroposophische Gesellschaft muß einsehen ler­nen, wie wichtig es ist, daß nicht das, was an Leistung in ihrem Rahmen da ist, unbeachtet liegen bleibt; sie muß zur Anerkennung der Leistungen kommen. Sie muß Arbeiten, wie die von Dr. von Baravalle oder die Broschüre von Caroline von Heydebrand «Gegen Experi­mentalpsychologie und -pädagogik» werten lernen. Nach und nach muß es auch so werden, daß - angenommen, unsere Forschungsinsti­tute würden die Aufgaben schon gelöst haben, die in den naturwissen­schaftlichen Kursen und Zyklen liegen-, daß es dann dahin kommt, daß selbst die Gegner sagen, da ist etwas vorhanden, vor dem sie Achtung haben, was in der Anthroposophischen Gesellschaft gearbei­tet wird. Man muß sich schulen, menschliche Leistungen anzuerken­nen. Heute wird der Student, der eine anthroposophische Dissertation macht, zurückgewiesen! Die Gesellschaft muß zu einer Stätte werden, in der derartige Dinge «das Gewissen» werden, so daß es nicht mehr vorkommen kann, daß ein Professor eine anthroposophisch orien­tierte Arbeit aus diesen Gründen ablehnt. Die Forschungsinstitute, in denen Menschen der Praxis sind, müssen dahinterstehen, so daß der Student, der in einem Seminar arbeitet oder eine Doktorarbeit macht, diese auch zugestanden bekommt. Die Anthroposophische Gesell­schaft muß so werden, daß der Professor eine anthroposophisch orien­tierte Seminararbeit oder Dissertation annehmen muß, sofern sie sub­stantiell genug ist, weil er Sorge hat, daß er die Anthroposophische Gesellschaft sonst auf den Hals bekommt.

Dr. Steiner fragt, ob Vertreter der Jugend zur Delegiertenversamm­lung kommen.

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Ein Vertreter der Jugend sagt einiges zur Delegiertenversammlung.

Dr. Steiner: Es wäre gut, wenn in möglichst kompendiöser Form mit völligem Ernst etwas vorgebracht würde über die drei Hauptfragen, um die es sich hier handeln muß:

Erstens: Wie steht es überhaupt mit der studentischen- undjugend­bewegung?

Zweitens: Was macht jemand, der sein volles Menschentum aus der Anthroposophie heraus fühlt, an den Hochschulen für Erfahrungen?

Drittens: Was erwartet der akademische und jüngere Mensch von der Anthroposophischen Gesellschaft?

Diese Dinge müssen natürlich dadurch zur Wirksamkeit gebracht werden, daß man sie in einer eindringlichen Weise erfaßt. Wie es mit unseren Bildungsanstalten um die Wende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gestanden hat, hat Nietzsche in eindringlicher Weise gezeigt. Er hat glänzend geschildert, wie die Bildungsanstalten sein müßten und was er von ihnen erwartet. Leider ist Nietzsche ja fast vergessen. Heute würde das überboten werden müssen, was Nietzsche damals geschildert hat. Diese drei eben charakterisierten Fragen sind die wichtigsten. Und wenn es gelingt, daß überhaupt die Persönlich­keiten in das Zentrum der Anthroposophischen Gesellschaft hinein­kommen, die nicht nur auf ihrem Gebiet das höchste Interesse haben, sondern auch Aufmerksamkeit für alles das, was in der Gesellschaft und überall vorgeht, dann wird alles gut werden. Das Interesse und die Aufmerksamkeit hat gefehlt. Es zeigt dies die Tatsache, daß das Ent­stehen der religiösen Bewegung bis zum Moment ihres Auftretens nicht bemerkt worden ist. Aufmerksamkeit und Interesse für alles muß einziehen in die Anthroposophische Gesellschaft. Denn es ist schon so, daß Gedanken nicht wachsen, sie bleiben unverändert, daß aber Aufmerksamkeit und Interesse wächst und Früchte tragen kann.

Man muß vor allen Dingen klar und entschlossen den Weg in die übersinnlichen Welten suchen und gehen. Dann wird man auch das richtige Verhältnis zu den Menschen finden. Und umgekehrt: Hat man das richtige Verhältnis zu den Menschen gefunden, dann ist man auch nicht mehr weit von dem Eintritt in die übersinnlichen Welten.

Die sechsten und zugleich letzten Stuttgarter Verhandlungen vor der Delegiertentagung am 24. Februar 1923

#G259-1991-SE346 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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Die sechsten und zugleich letzten

Stuttgarter Verhandlungen vor der Delegiertentagung

am 24. Februar 1923

SITZUNG MIT DEM DREISSIGERKREIS

Stuttgart, 24. Februar 1923

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Dr. Steiner: Es kommt darauf an, daß die Anthroposophische Gesell­schaft geltend macht, was sie will.

Emil Leinhas: Es soll vorgetragen werden, was zu den Referaten [über die ver­schiedenen Institutionen an der Delegiertenversammlung] noch zu sagen ist.

Mehrere: Heyer, Stein, Maier, Hahn, Stockmeyer, Ritte/meyer, Krüger und Lein­has sprechen über den «Bund für freies Geistesleben». Man solle ihm konl,rete Aufgaben für die Jugend stellen.

Dr. Steiner: Der «Kommende Tag» kann die Dinge nicht mehr finan­zieren. Bei den großen Ausgaben, die unsere Institute erfordern, wird es nicht möglich sein, derartige Dinge zu finanzieren. Dann muß sich aber zeigen, daß die Welt sich dafür interessiert. Der «Kommende Tag» könnte nur in der Lage sein, solche Dinge zu finanzieren, wenn er auf eine breitere Basis gestellt werden könnte. Es begegnet einem oft die Meinung, daß sich die Leute nicht dem «Kommenden Tag» an­schließen wollen, wohl aber daran verdienen möchten. Solange dies nicht möglich ist, daß wir alles in den «Kommenden Tag» mit hinein-beziehen, so lange werden wir nichts erreichen können.

Eine große Anzahl von Rednern - Stockmeyer, Kolisko, Werbeck, Baravalle, Heyer, von Grone, Leinhas, Kolisko, Ritte/meyer - sprechen programmatisch über den «Bund für freies Geistesleben« und auch über die Zeitung «Anthroposo­phie«.

Dr. Steiner: Wenn wir zufällig erfahren hätten, daß ein Referat über Eurythmie gehalten werden sollte, so würde man das natürlich depla­ciert gefunden haben. Die Eurythmie hat ihren Inhalt in sich. Es handelt sich wohl darum, daß sich gar nicht die Notwendigkeit ergibt, über die Eurythmie zu sprechen. Denken Sie sich, wenn das Referat über religiöse Erneuerung die Anweisungen darüber enthielte, was die

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Leiter zu tun hätten, zum Beispiel beim Gottesdienst! Dagegen gibt es eine Menge von Agenden, die der Gesellschaft zufallen in bezug auf die Bewegung für religiöse Erneuerung. Auf die gleiche Weise müßten wir reden über solche Dinge wie die Zeitung [«Anthroposophie»] und den «Bund für freies Geistesleben». Dagegen unterhalten wir uns fortwährend über die Substanz der Sache. Das wird nicht die Aufgabe der Delegiertenversammlung sein, sondern es wird die Aufgabe sein, zu zeigen, was die Anthroposophische Gesellschaft als solche dabei zu leisten hat. Sie werden auch das Referat über die Waldorfschule nicht so gestalten [können], daß Sie über den Lehrplan reden, sondern darüber, was die Gesellschaft zu tun hat. Wenn man sich nicht an die Sachen hält, so werden die Leute auseinandergehen. Die Fragen müs­sen so behandelt werden, daß man in der Delegiertenversammlung den Eindruck bekommt: Diese Leute wissen, was sie mit der «Anthropo­sophie» machen, diese Leute wissen, was sie mit dem «Bund für freies Geistesleben» machen.

Nun handelt es sich darum, den Mitgliedern Anregungen zu geben, was die Anthroposophische Gesellschaft zu tun hat, damit die anthro­posophische Bewegung durch sie gespeist werden könne. Auf diesen Punkt müßte die Erörterung konzentriert werden. Man müßte ein Bild geben, zum Beispiel beim «Bund für freies Geistesleben», daß er eine große Berechtigung im ganzen Geistesleben der Gegenwart hat. Man muß mit ein paar Strichen darauf hinweisen, wo die Faktoren sind, aus denen er seine Substanz schöpfen kann. Man müßte zeigen, wie die Gesellschaft das in sich aufnehmen will und was sie dabei tun kann.

Die Frage der Finanzierung beantwortet sich durch die anthropo­sophische Bewegung. Wir haben nie uns um die Finanzierung der anthroposophischen Bewegung gesorgt. Wir haben gar nichts finan­ziert. Der «Bund für freies Geistesleben» wird am besten finanziert sein, wenn man ihn sich selbst finanzieren läßt. Wenn man fortwäh­rend danach trachtet, Fonds zu schaffen, die man ausgibt in der unsachlichsten Weise, bis nichts mehr da ist, und nicht darauf schaut, daß die Sache selbst sich finanziert, so geht es nicht. In der Anthropo­sophischen Gesellschaft haben wir bis 1918 nicht über Finanzierungs­fragen zu sprechen gehabt. Wenn man so reden muß, wie vorhin über Finanzierungsfragen geredet worden ist, so ist das darum, weil man nur an Fonds denkt.

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Dinge, die innerliche Lebenskraft haben, werden sich selbst durch­setzen. Es darf die Gesellschaft am Mittwoch nicht so auseinanderge­hen, daß kein Ergebnis geliefert wird; daß über alles mögliche geredet wird, nur nicht über die konkreten Aufgaben der Gesellschaft, diese großen Aufgaben, die vorliegen für die Waldorfschule, für das For­schungsinstitut, Eurythmie, Kunst. Dann kommt die Erörterung über das Gemeinschaftsleben von selbst in die Diskussion hinein. Wenn wir uns so wie bisher weiter unterhalten, dann gehen die Mitglieder am Schluß wieder so fort, wie sie kommen werden. Es muß gezeigt werden, daß die Dinge da sind und was man mit ihnen zu tun hat. Wenn über die Aufgaben der Gesellschaft geredet wird, wird aus einer solchen Diskussion hervorgehen, daß auch die Zeitung ordentlich redigiert wird.

Es wird über den Verlag [«Kommender Tag»] gesprochen, Wolfgang Wachsmuth, Dr. Kolisko.

Dr. Steiner: Der Verlag des «Kommenden Tages» ist gerade eine Institution für ein freies Geistesleben, was wiederum eine Gabe der Anthroposophischen Gesellschaft ist. Die Gesellschaft müßte diese Tätigkeit fortsetzen.

Die Dankbarkeit muß dadurch zum Ausdruck kommen, daß das Geistesgut verbreitet wird. Aus dem Vorhandensein des Geistesgutes ergibt sich die Verpflichtung, das Geistesgut zu schützen.

Es wird über den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag gesprochen.

Dr. Steiner: Der Philosophisch-Anthroposophische Verlag kann zu­frieden sein. Er wird seine Aufgaben erfüllen auch dann, wenn die Gesellschaft wirklich in Tätigkeit tritt. (Notiz von Dr. Heyer: «Er bekommt höchstens neue Aufgaben, wenn die Gesellschaft funktio­niert».) An sich braucht man ihn kaum zu erwähnen.

Marie Steiner: Es war aber doch eine Zeit da, wo man ihn als überwunden hinstellte und über ihn hinauswollte. Es war eine Epoche da, wo er sich hat wehren müssen.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, daß man das, was gut geht, richtig sich entwickeln läßt und auf den wirklichen Schaden hinweist. Der liegt in der Tendenz, daß man etwas tun wollte für den Verlag. Dieses Nicht-sich-Hineinmischen in etwas, was in sich solid begründet ist,

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das ist dasjenige, was die wirkliche Aufgabe ist. Auf eine allgemeinere Note muß man es stellen. Es ist schon früher so gegangen, da ist die Tendenz aufgetaucht, man müsse mit den Dingen etwas tun, die in Ordnung waren. Statt daß man sich bekümmert hat um die Dinge, die in Unordnung waren, hat man sich immer bekümmert um Dinge, die in Ordnung waren.

Marie Steiner: Man hat gedacht, daß die Damenwirtschaft abgetan werden sollte und die Sache weltmännisch werden müsse.

Dr. Steiner: Man erwähnt ihn als in der Sache begründet, in national-ökonomischen Vorträgen als ein Beispiel dafür, das auf einer gesunden Grundlage basiert ist. Man hatte zuerst den Konsum, so daß er auf einer gesunden Grundlage basiert ist. Man muß ihn vom anthroposo­phischen Gesichtspunkt aus erwähnen. Gewiß, man kann auch zuerst einen Rahmen haben und dem nachher einen Inhalt geben. Im Grunde genommen ist der Unterschied bei diesen Verlagen der, daß der Philo­sophisch-Anthroposophische Verlag aus der anthroposophischen Be­wegung hervorgegangen ist, und der «Kommende Tag»-Verlag ist deshalb entstanden, weil man einen Verlag gründen wollte in Opposi­tion gegenüber dem Philosophisch-Anthroposophischen Verlag. Das ist etwas, was hier in Betracht kommt. Das eine ist etwas, was aus anthroposophischen Angelegenheiten heraus notwendig geworden ist; das andere ist etwas, was ungeheuer verknüpft ist mit den Dingen, die aus unsachlichen Gesichtspunkten gegründet worden sind. Alle diese Art Gründungen haben dadurch der Bewegung diese vielen Schwierigkeiten bereitet. Sie glauben gar nicht, welche Schwierigkei­ten es jetzt macht, vor welchen berghohen Schwierigkeiten man jetzt dadurch steht, daß zum Beispiel die Schrulle aufgetaucht ist, die finan­ziellen Angelegenheiten des Goetheanum durch eine Stuttgarter Treu­hand-Gesellschaft verwalten zu lassen. Das ist etwas, was einem wie Fesseln anhängt. Ich bin sogar genötigt gewesen, in den letzten Tagen den Experten zu sagen, man wolle jetzt etwas als vernünftig hinstellen, was ich für unvernünftig angesehen habe. Diese Dinge haben «die wirklich praktischen Leute» begründet, und sie stellen sich heraus als das unpraktischste Zeug, das es geben kann. Gewiß, wenn Stimmung der Persönlichkeit und Energie der Persönlichkeit dahintersteht, kann man in solche recht viel hineingießen. Davon muß in den nächsten Tagen geredet werden. Man kann die Dinge seit 1918 nicht aus der

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Welt schaffen; aber man muß erklären, daß man ihnen einen Inhalt geben will.

Dr. Krüger äußert sich dazu.

Dr. Steiner: Es liegt viel daran, wie die Dinge seit 1918 getrieben worden sind. Es muß der Wille ersichtlich werden, daß die Dinge nicht so weiter getrieben werden, daß sie nicht aus Gesichtspunkten ge­macht werden, die zu der Anthroposophie heterogen sind. Es ist da der rein anthroposophischen Tätigkeit etwas von außen angeflogen. Es ist nicht die Anthroposophie, die einen von der übrigen Welt abschließt. Sie können sogar die Erfahrung machen, daß die Leute von der Anthroposophie durchaus alles mögliche wissen wollen. Die Dinge, die sich daran gereiht haben, die sind es, welche die Anthropo­sophie diskreditieren. Man muß die Dinge schon beim richtigen Na­men nennen.

Ist es notwendig gewesen, daß man 1918 zum Württembergischen Staatspräsidenten gelaufen ist ohne mein Wissen, so daß einem nun diese Dinge angehängt werden? Ist es nötig gewesen, daß man etwas so Unanthroposophisches verquickt hat mit der anthroposophischen Strömung? Diese Dinge sind dasjenige, was uns in den Abgrund geführt hat. Man muß sich bewußt werden, daß die Dinge so nicht gemacht werden dürfen. Ist es notwendig, daß man diesen ganzen Kohl machte? Wenn in den nächsten Tagen nicht geredet wird von den Dingen, auf die es ankommt und bezüglich derer man sich sagen kann:

Da sind Fehler gemacht worden - und die Fehler werden auf die Weise vermieden, daß man sich bewußt wird, in welcher Richtung die Fehler gemacht worden sind und wie man es also anders machen wird-, so kommen wir nicht weiter. Es muß gezeigt werden, daß es auf dieses positive Andersmachen ankommt (Notiz Dr. Heyer: «nicht

).

Ernst Uehli: Ich habe es übernommen, ein Referat über Eurv'thmie zu halten.

Dr. Steiner: Ich benutze nur die Gelegenheit, um darauf hinzuweisen, daß die Frage behandelt werden muß: Was hat die Gesellschaft zu tun in bezug auf die vorhandenen Probleme? Es kann dabei geredet wer­den über die Dinge, die von unseren anthroposophischen Bestrebun­gen abgeführt haben. Alle diese Bestrebungen hätten auch anthropo­sophisch geleitet werden sollen, wie es bei der Eurythmie der Fall war.

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Alle diese Dinge hätten auch im anthroposophischen Sinne gemacht werden können. Man hat sie aber im bürokratischen Sinne gemacht. Es wäre gerade so, als wenn man die Waldorfschulmethode dadurch verbessern würde, daß man allen möglichen Kohl hineinmischt. In den übrigen Gebieten ist es aber geschehen, daß man allerhand Kohl von außen her hineingemischt hat.

Louis Werheck soll das Referat über die Gegner übernehmen.

Dr. Steiner: Man muß sich auf den Standpunkt der wirklichen Verhält­nisse stellen. Es kommt darauf an einzusehen, daß die Verhältnisse schlechter werden, so daß wir damit zu rechnen haben, daß die Bücher auf dem Wege durch den Sortimentsbuchhandel boykottiert werden. Mit diesem Faktum muß durchaus gerechnet werden. Nun muß in den nächsten Tagen zu unsern Mitgliedern so geredet werden, wie das «Berliner Tageblatt» sich getraut hat, zu seinen Abonnenten zu reden. Die Franzosen haben es im Ruhrgebiet wegen bestimmter Artikel verboten. Das «Tageblatt» hat gesagt: «Wir werden trotzdem Mittel und Wege finden, daß alle diejenigen das Tageblatt weiter bekommen, die es vorher bekommen haben.» Wir können nichts erreichen nach der Richtung hin, daß die Sortimenter die Bücher verzapfen. Wir müssen die Mittel und Wege suchen, wie unsere Literatur verbreitet werden kann.

Dann wird es notwendig sein, daß sich die Zweige zu Verbreitern der anthroposophischen Literatur in realer Weise machen, aber so, daß man es merken kann, daß tatsächlich die Gesellschaft tätig ist für die verschiedenen Gebiete. Wir müssen neue Kanäle suchen. Das emp­fehle ich schon seit zwei, drei Jahren; nur ist es nicht viel berücksich­tigt worden. Um neue Kanäle aufzusuchen, dazu muß man schon sein Hirns chmalz in Bewegung setzen. Zur Kritik gehört nur Gescheitheit. An Genies fehlt es uns ja wirklich nicht. Aber es fehlt am guten Willen. Beim guten Willen muß man das Hirns chmalz in Tätigkeit setzen. Das ist beim Geniewirken nicht nötig. Man kann zugleich ein Genie sein und ein bloßer Automat.

Es wird in bezug auf die Gegnerfrage über den Fall Goesch gesprochen

Dr. Steiner: Sie brauchen sich nur das dicke Elaborat zu nehmen, das der Goesch geschrieben hat, kurz nachdem er ausgeschlossen worden war. Das brauchen Sie sich nur vorzunehmen: fortwährende Wiederholungen,

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Kleinigkeitskrämerei, Berührungsfurcht vor Händedruck und so weiter. Sie können ein absolut sicheres Krankheitsbild aus diesen Dingen zusammenstellen. Ich halte es nicht für richtig, aus seinen eigenen Äußerungen die Dinge zusammenzustellen. Das ist nicht maßgebend. Bei diesen Dingen kann man «Situationen» hinwer­fen. Ich habe die Sache irgendwo erwähnt; man könnte das wissen, nachdem jeder Dreck nachgeschrieben wird. Zum Beispiel schreibt da der Goesch, daß die Kinder acht Tage vor einer großen Schlacht speien. Wenn Sie das Elaborat nehmen, finden Sie alle Symptome, die ein geschlossenes Krankheitsbild ergeben. Dieses klinische Bild habe ich in einem Dornacher Vortrag behandelt.

Die Hauptsache ist die, daß es sich darum handeln würde, daß die Anthroposophische Gesellschaft begreift, was ihre Pflichten sind. Der Fall Goesch ist liegengeblieben; er ist liegengelassen worden. Man hat sich nicht weiter darum gekümmert. Aber wenn die Anthroposophi­sche Gesellschaft da ist und an einen Anforderungen stellt, so wäre sie verpflichtet, die Sachen zu verfolgen. Es handelt sich darum, aufmerk­sam zu machen, welches die Aufgaben der Anthroposophischen Ge­sellschaft in jedem einzelnen Falle sind.

Ebenso einfach ist es bei Seiling klarzumachen. Er ist Gegner geworden bloß aus dem Grunde, weil unser Verlag seine Christus-Broschüre nicht angenommen hat. Es nützt nichts, wenn das in einem Nebensatz steht. Das muß immer wiederum vor die Nase gerückt werden, es muß immer wieder gesagt werden. Die Archive haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Sachen einzusperren und in nichts eine Verantwortung zu übernehmen. So wurden auch die Vorträge, in denen so etwas steht, eingesperrt, so daß die Dinge jetzt zum Skandal geworden sind. Das gehört mit in den Rahmen des Ganzen. Man muß die Gegner richtig charakterisieren.

Der Goesch ist ein Krankheitsfall. Er ist fachmännisch zu ver­nichten, weil er einfach ein pathologischer Fall ist. Viele Leute hätten über ihn eine Abhandlung schreiben können, haben es aber nicht ge­tan. Ich begreife nicht, warum es nicht gelungen ist, diesen Fall Goesch interessant zu finden. Es ist ein interessanter medizinischer Fall. Da muß man wirklich sagen: Jedes einigermaßen psychiatrisch interes­sierte Journal würde diese Abhandlung übernommen haben, wenn statt «Goesch» «y» gesagt haben würde. Heute hätte man dann auf den Goesch hinweisen können. Dazu ist die Psychiatrie berechtigt.

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Es wird über die wissenschaftlichen Kurse Dr. Steiners «Wärme- und Lichtlehre« [GA 320, GA 321] und ihre Herausgabe gesprochen.

Dr. Steiner: Es handelt sich darum, daß Sie selbst das machen, was Sie für notyvendig halten. Bei den Kursen handelt es sich darum, daß ich sie korrigieren müßte, damit sie nicht verschiedenen Kohl enthalten, sondern sinngemäß sind. Wir kommen nicht mehr daran herum, daß alle diese Dinge einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.

Der eine Kurs hat gehandelt über Wärmelehre. Nun kann, mit Zugrundelegung dieses Kurses, eine Wärmelehre geschrieben werden, wie man gewohnt ist, eine Wärmelehre zu schreiben. Es kann eine Optik mit Zugrundelegung dieses Kurses über Lichtlehre geschrieben werden, so daß die Physiker sehen würden, daß es möglich ist, solche Kapitel auf diese Weise anthroposophisch zu behandeln. Dabei würde es sich zeigen, daß manche Dinge dort flüchtig behandelt worden sind. Man wird darüber nachdenken müssen, wie man dieses und jenes Problem von dem Gesichtspunkt des Kurses aus behandelt. Die be­treffenden Kapitel wären so zu behandeln, daß man, mit Zugrundele­gung dieser Prinzipien, eine Wärmelehre, eine Optik anthroposo­phisch schreibt. Das habe ich deutlich ausgesprochen.

Es kommt immer wieder vor, daß die andern ihre eigene Meinung sagen und dann behaupten, das wäre meine Meinung. Ich habe niemals geäußert, daß dieser Kurs bloß dazu dienen soll, Experimente zu machen. Das ist eine Aufgabe, die nie vollendet ist. Ich weiß nicht, warum man immerfort die eigenen Meinungen so an die Leute heran-bringt, als ob ich sie gesagt hätte. Man kann den Dingen anhören, ob ich sie gesagt haben kann oder nicht.

Dr. von Baravalle: Das ist mir die liebste Antwort. Diese Aufgabe hätte ich in diesem Sinne gerne übernommen.

Dr. Steiner: Ich hätte nicht das mindeste dagegen gehabt, wenn nach der Zeit meines Kurses die Dinge auf diese Weise gebracht worden wären. Die Steffensche Wiedergabe des pädagogischen Kurses ist eine selbständige Arbeit. Aber warum zerbricht man sich immerfort die Köpfe, wie man meine Aufgaben lösen soll? Etwas ganz anderes wäre es gewesen, wenn jemand - in der Art wie Steffen im «Goetheanum» -in der «Anthroposophie» [über die Kurse] berichtet hätte. Die «An­throposophie» muß von sich aus die Aufgaben lösen.

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Es wird über die Verarbeitung des von Dr. Steiner gegebenen Sprachkurses « Geisteswissenschaftliche Sprachbetrachtungen« [GA 299] gesprochen.

Dr. Steiner: Es kann sich nur darum handeln, eine kurze Sprachwis­senschaft als selbständige Arbeit zu schreiben. Ein Zürcher Student hat in seiner Art die Probleme behandelt. Die Stuttgarter sind so faul, daß sie die Sachen im Archiv verstauben lassen. Es wäre eine entspre­chende Terminologie zu finden. Wenn die Stuttgarter das leisten wür­den, was sie könnten, dann würde die Anthroposophische Gesell­schaft die glanzvollste Gesellschaft der Welt sein. Die Dinge, die als Anregung gegeben werden, müssen von mir selbst durchgesehen wer­den. Ich habe gemeint, daß auf Grundlage des sprachwissenschaftli­chen Kurses gearbeitet wird. Statt dessen ist überhaupt nicht damit gearbeitet worden.

Es wird vom Hochschulbund und der akademischen Jugend gesprochen.

Dr. Steiner: Der Hochschulbund war der Drehpunkt der Sache, wo die Dinge angefangen und liegengelassen worden sind. Von dem Hochschulbunde hatte ich von vornherein gesagt, so etwas nähme man sich nur vor, wenn man es auch weiterführen wolle, damit es gelingt. Man hat es liegenlassen. Der Hochschulbund gehört zu den Dingen, die am wesentlichsten das illustrieren, was nicht zu geschehen hat. Dieses Phänomen des Hochschulbundes, von dem man wußte, daß uns dadurch noch die Privatdozenten auf den Hals gehetzt wür­den: mit aller Kaltblütigkeit hat man einen Schlag ins Wasser ausge­führt. Sie haben doch hier Möglichkeiten gehabt, mit einer ganzen Reihe von jungen Leuten zu verkehren und sich also zu überzeugen, was diese Leute sagen, um aus dem, was nun als die traurigen Trümmer geblieben ist, die Grundlagen für etwas Positives zu gewinnen.

Als ich hier, nachdem neulich die erlauchte Versammlung zu Ende war, mit den jungen Leuten zusammensaß [am 14. Februar], da haben die ihre wissenschaftlichen Schmerzen vorgebracht, wollten wissen, was sie als Anthroposophen gegenüber der Wissenschaft zu tun haben. Die jungen Leute sind völlig wild. Sie müssen ihnen das klarmachen:

Die Möglichkeit muß geschaffen werden, daß eine solche freie Hoch­schule befähigt wird, Doktordiplome auszustellen. Das ergibt sich als eine der Aufgaben für die Anthroposophische Gesellschaft, daß etwas gemacht wird mit diesem «Bund für freies Geistesleben», daß er nicht Fiasko macht. Dazu braucht man die jungen Leute. Das können Sie

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nicht mit den alten Tanten machen, das können Sie nur mit den jungen Leuten machen. Dann müssen Sie auch die jungen Leute für die Anthroposophische Gesellschaft haben. Gegenwärtig ist kein Herz da für die Anthroposophische Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, den Jungen wäre es am liebsten, wenn es gar keine Gesellschaft mehr gäbe.

Nicht wahr, es kann sich das nur dann ergeben, wenn Sie imstande sind, mit Bezug auf diese jungen Leute wirkliche Begeisterung zu erwecken. Das große Fiasko war dies, daß keine Begeisterung erweckt worden ist. Sie mussen bei den jungen Leuten Begeisterung erwecken. Die Jugend geht mit, wenn Begeisterung erweckt wird. Die nationali­stische Universitäts-Torheit hat die Jugend hinter sich, weil sie eben Begeisterung erweckt hat. Wenn aber die Genialität dazu verwendet wird, trockene Theorien vorzutragen, dann wird die Jugend nicht mitgehen. Schwung muß in der Anthroposophie sein! Warum ist das so in Stuttgart, daß die Genialität nicht benützt wird? Daß man sich sträubt, den Willen zu aktivieren, um den Kopf zu benützen? Warum ist das Sitzorgan das Wirksamste, und warum will die Seele nicht herauf in den Kopf?

Es wird über die Freie Schule und den Weitschulverein gesprochen. Dr. Hahn und Frl. Dr. von Heydehrand sprechen darüber.

Dr. Steiner(?): Gesundes Selbstbewußstein könnte der Gesellschaft bekommen.

Louis Werbeck: Die Gesellschaft sollte sich für die Zentraischule interessieren.

Dr. Steiner: Die Schwierigkeit ist diese, daß zunächst für den ersten Anhub die Leute, die irgendwo leben, nicht ein unmittelbares Inter­esse daran haben, eine Schule in Stuttgart zu unterstützen, in die sie ihre Kinder nicht schicken können, so daß sie sich sagen müssen: Wir unterstützen eine Schule, aber die Wohltat der Schule können wir unseren Kindern nicht angedeihen lassen. Das ist nicht anders zu überbrücken als dadurch, daß man die Sache zur allgemeinen Mensch­heitsangelegenheit macht. Daß man etwas fördert, was von mir schon oft betont worden ist: Die Idee der Freien Schule in der Form eines Weltschulvereins zu propagieren. Dann würden die Leute ihr primä­res Urteil erweitern und sich sagen: Wir sehen ein, durch diese Me­thode können die Schulen besser werden, eine solche Schule als Mu­sterschule muß dasein. - Dann würde man nicht so sehr auf die Detail-Wirksamkeit,

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sondern auf den großen Gedanken der Freien Schule bauen. So etwas müßte populär gemacht werden, an die Zweige heran­gebracht werden. Das müßte als eine allgemeine anthroposophische Angelegenheit aufgefaßt werden, daß die freie Pädagogik behandelt würde. Dann würde sich wirklich etwas erreichen lassen.

Dann würde man durch Beiträge die eine Schule halten können, und die anderen Schulen würde man so behandeln, daß man sagen würde: Ihr könnt sie gründen, wenn ihr das Geld habt, sie auf private Weise zu halten. Aber eine Angelegenheit der Anthroposophischen Gesellschaft ist die eine Musterschule, durch die einfach demonstriert werden soll das Praktische dieser Methodik. Es kommt bei allen Dingen darauf an, daß man sie vor die ganze Welt hinstellt. Dann würde es gehen. Aber die Begründung des Weltschulvereins ist in den Wind geschlagen worden. Ich sehe nicht ein, warum dieser nicht hätte gefördert werden können. Ich sehe nicht ein, warum der Welt­schulverein nicht hätte entstehen sollen. Aber wenn es sich darum handelt, die Genialität in die Tat überzuführen, dann versagen die Kräfte.

In Hamburg ist die Sache verhudelt worden. Was war der Aus­gangspunkt? Pohlmann war gekommen und hatte gesagt, er wolle eine Schule begründen. In dieser Sache ist er allein voll verantwortlich. Heute müßte Pohlmann verpflichtet werden, seinen Verpflichtungen nachzukommen: Er sollte als Privatmann seine Schule gründen. Ich dachte, diese Gemeinschaft würde eine gute sein, denn diese Gemein­schaft Pohlmann und Kändler scheint mir ganz gut zu passen, und das würde gegangen sein. Wenn man nur so etwas in unserer Mitglied­schaft gerade und nicht immer schief nehmen würde! Ich weiß nicht, warum diese Privatschule, die der Pohlmann als Steckenpferd haben will, warum man diese Schule als Zweigangelegenheit haben wollte. Diese Schule hat Herr Pohlmann übernommen, also soll er sie auch durchführen.

Es ist nicht möglich gewesen, den Weltschulverein zu begründen. Denn die Stuttgarter Untugend trat auch außerhalb Deutschlands zutage.

Es ist auch nicht eine Animierung der ausländischen Freunde von Deutschland aus geschehen. Die Schwierigkeit ist die, daß die Leute sich sagen: Wir können unsere Kinder nicht nach Stuttgart schicken. Deshalb müßte man diese Sache auf eine andere Karte setzen.

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Louis Werbeck: Die Leute empfinden es als eine Weltangelegenheit.

Dr. Steiner: Sie können sicher sein: Wären dieselben Verhältnisse heute möglich wie vor dem Kriege - daß nämlich eine große Anzahl von Leuten mit Leichtigkeit ihre Kinder hergeben könnten -, dann würde eine große Anzahl von Eltern an verschiedenen Orten verstreut sein, und die Leute würden viel mehr Herz für die Waldorfschule aus primären Gründen haben. Man muß den sekundären Grund populärer machen: den Gedanken der Freien Schule. Für pädagogische Ideen sind die Menschen leicht zu begeistern. Von einzelnem Lobenswerten abgesehen, herrscht in unserer Gesellschaft das nicht, was Begeiste­rung genannt werden muß. Wie oft habe ich hier in solcher Terminolo­gierungsweise meine Verzweiflung ausgedrückt, wie schwer so ein Dreißigerausschuß in Schwung zu bringen ist! Es herrscht da eine Zähigkeit wie in einem Strudelteig. Es wird alles herausgewürgt. Höchstens wenn geschimpft werden kann, dann herrscht Schwung. In den idealen Dingen fehlt der Schwung. Wenn dieser Schwung doch da hineinkommen könnte! Genialität ist da, aber Schwung und Begeiste­rung müßte in diese Genialität hineinkommen! Man urteilt nicht zu streng, wenn man sagt, daß Begeisterung und Schwung hier zu vermis­sen sind. Die Leute tragen den kurulischen Stuhl mit sich, auch wenn sie gehen. Es werden die Dinge so grenzenlos gescheit erörtert. Diese grenzenlose Gescheitheit, die herrscht auch in der Beurteilung des andern.

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#TI

Die Begründung der deutschen Landesgeselischaft

«Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland» und der

«Freien Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland»

bei der Stuttgarter Delegiertenversammlung

Stuttgart, 25. bis 28. Februar 1923

#TX

Ergebnis der viertägigen Verhandlungen: Auf Vorschlag Rudolf Steiners bildet sich eine deutsche Landesgesellschaft «Antliroposophische Gesellschaft in Deutschland« und eine «Freie Antliroposophische Gesellschaft in Deutschland« für jene hauptsächlich jüngeren Mitglieder, die sich in der bisherigen Gesellschaft nicht heimisch fühlten.

Die Leitung der «Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland» über­nimmt weiterhin das sogenannte Neunerkomitee: Dr. Carl Unger als Repräsen­tant der Anthroposophischen Gesellschaft, Emil Leinhas als Leiter des «Kom­menden Tages», Dr. Eugen Kolisko als Leiter der Forschungsinstitute, Johanna Mücke als Leiterin des Philosophisch-Anthroposophischen Verlages, Dr. Fried­rich Rittelmeyer als oberster Lenker der Bewegung für religiöse Erneuerung, Dr. Otto Palmer als Leiter des Klinisch-Therapeutischen Institutes Stuttgart, Jürgen von Grone als Redakteur der Zeitschrift «Anthroposophie», Dr. Wolfgang Wach­smuth als Leiter des «Kommenden Tag Verlages», Louis Werbeck als Repräsen­tant der anthroposophischen Zweige.

Die Leitung der «Freien Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland» übernimmt ein Ausschuß von acht Persönlichkeiten: Moritz Bartsch, Hans Bü­chenbacher, Jürgen von Grone, Ernst Lehrs, René Maikowski, Wilhelm Rath, Maria Röschl, J. W. G. Schröder.

Als Verbindungsglied zwischen beiden Gesellschaften wird Jürgen von Grone, der beiden Gremien angehört, vorgesehen.

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Von Dr. Carl Unger und Dr. Walter Johannes Stein verfaßter Bericht über die Delegiertenversammlung, erschienen in «Mitteilungen, herausgegeben vom Vor­stand der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland», Nr. 5, Stuttgart, Juni 1923. Die Fußnoten ohne [] in diesem Protokoll stammen von den Bericht-verfassern.

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Der folgende Bericht über die Delegiertenversammlung soll allen Freunden, wel­che bei der Versammlung selbst nicht haben anwesend sein können, ein Bild geben von dem, was sich zugetragen hat.

Um die Kosten für die Drucklegung dieses Berichtes in erschwinglichen Grenzen zu halten, wurden die stenographischen Unterlagen der einzelnen Aus­führungen der Delegierten möglichst zusammengefaßt. Es konnte daher nur ein Teil der Ausführungen im Wortlaut wiedergegeben werden. Es wurde jedoch versucht, ein objektives und getreues Bild der Verhandlungen zu geben. Die Fülle des vorhandenen Materials und die damit verbundene weitläufige Redak­tionsarbeit bedingte, daß dieser Bericht erst jetzt erscheinen kann.

Die beiden Vorträge, welche Herr Dr. Steiner im Rahmen der Delegierten-versammlung am 27. und 28. Februar gehalten hat, sind gesondert im Philosoph­isch-Anthroposophischen Verlag, Berlin, erschienen und durch dessen bekannte Auslieferungsstellen zu beziehen.

#TI

Sonntag, den 25. Februar 1923, abends

#TX

Die Versammlung wurde Sonntag, den 25. Februar 1923, abends 8 Uhr, durch eine Begrüßungsansprache des Vorsitzenden, Herrn Emil Leinhas, Stuttgart, eröffnet. Herr Leinhas begrüßte in warmen Worten Herrn Dr. Rudolf Steiner und Frau Marie Steiner, sowie die Delegierten und Mitglieder der Anthroposophischen

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Gesellschaft. Er wies darauf hin, daß die Anthroposophische Gesell­schaft an einem bedeutsamen Wendepunkt ihrer Entwickelung angelangt sei, und daß es jetzt darauf ankomme, daß jedes einzelne Mitglied die Aufgaben der Gesellschaft mit vollem Bewußtsein erfasse. Herr Leinhas knüpfte an die Emp­findungen des furchtbaren Schmerzes und der Trauer über den Verlust unseres Goetheanums an. Er wies dann auf die Aufgaben der Gesellschaft gegenüber dem vernichteten Goetheanum, gegenüber der neuen Kunst der Eurvthmie, der Waldorfschule, dem «Kommenden Tag» und den anderen Unternehmungen, sowie gegenüber der religiösen Bewegung und auch gegenüber der wohlorgani­sierten Gegnerschaft der Anthroposophie. Er forderte auf, in der Kritik nicht zimperlich zu sein, sondern die Dinge frei und ungeschminkt auszusprechen, aber auch positive Vorschläge zur Neugestaltung nicht zu vergessen und in allen Stücken so zu sprechen, daß man fühlt, daß der ganze Mensch mit seinem lebendigen Interesse und mit seinem, von den hohen Idealen des Wahren, Schö­nen und Guten befeuerten Willen dahintersteht. «Wir vertreten die herrlichste Sache der Welt!« rief Herr Leinhas aus. «Eine Sache, die nicht zugrunde gehen darf, mag Europa noch so sehr den Niedergangskräften verfallen. Anthroposo­phie wird leben; denn Anthroposophie ist eine neue Welt!« Er wies in eindringli­chen Worten hin auf den ungeheuren Ernst der Lage, auf die Verantwortung gegenüber der geistigen Welt und auf die Größe unserer Aufgabe, die nur durch Liebe und Begeisterung zur Sache erfüllt werden könne.

Herr Dr. Eugen Kolisko, Stuttgart: Referat über

Die Lage der Anthroposophischen Gesellschaft

Wir sind in einem für unsere Gesellschaft außerordentlich wichtigen Augen­blicke hier zusammengekommen. Es ist seit der Zeit der Begründung der An­throposophischen Gesellschaft die erste bedeutende Zusammenkunft, welche allein den Angelegenheiten der Gesellschaft gewidmet ist. Zwischen den Verhält­nissen jener Zeit und heute besteht ein ungeheurer Unterschied. Damals war der größte Enthusiasmus für die Angelegenheiten der Gesellschaft bei allen Mitglie­dern vorhanden. Die Führung wurde bei der Gründung von drei Persönlichkei­ten übernommen, denen sich die anderen anschlossen. Es war damit ein Anfang gemacht, daß die Gesellschaft sich selbst weiterführen sollte. Die Aufgabe einer solchen selbständigen Führung war ihr damit schon damals gestellt.

In jener Zeit war ein starker Zusammenschluß vorhanden. Die Zyklenvor­träge und Reisen Herrn Dr. Steiners, der durch sein unermüdliches Wirken zwischen allen Zweigen, Gruppen und auch den einzelnen Menschen stets ein vermittelndes Element bildete, hatten dazu beigetragen. Der Bau des Goethe­anums, das uns jetzt entrissen ist, war ein lebendiges Zeugnis für den Enthusias­mus, der unsere Mitglieder verband. Damals hatte sich auch durch die gemein­sam erlebten Geburtsschmerzen der Anthroposophischen Gesellschaft zur Zeit der Lostrennung von der Theosophischen Gesellschaft ein intensives Zusammengehörigkeits

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gefühl entwickelt. Jedes Mitglied lebte mit, was von der damali­gen Gegnerschaft unternommen wurde. Jeder empfand es wie gegen seine eigene Person gerichtet. Was von einzelnen Persönlichkeiten der Gesellschaft als Lei­stungen vorhanden war, das kannte jeder, lebte es mit. In den Zweigen wurde an den verschiedensten Orten durch unermüdliche Arbeit eine intensive und stetige innere Arbeit geleistet. Kurz, neben vielen Unsitten und Sektiererischem, das noch als Tradition aus der Theosophischen Gesellschaft vorhanden war, erwies sich die Anthroposophische Gesellschaft in diesen ersten Zeiten als eine Realität. Und wir haben diese Realität wieder erlebt in der furchtbaren Brandnacht am 31. Dezember, wo alle so zusammenarbeiteten, wie es nur aus einem realen Empfin­den dieses Verbundensein durch die Anthroposophie möglich war.

Eine neue Phase der Bewegung begann jedoch im Jahre 1919 durch die Grün­dungen, welche von Persönlichkeiten aus dem Schoße der Gesellschaft gemacht worden sind. Ich meine die Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organis­mus, den «Kommenden Tag«, die Waldorfschulbewegung, die Hochschul-Be­wegung, die Forschungsinstitute und zuletzt die Bewegung für religiöse Erneue­rung. Der ganze Enthusiasmus ist in diese Gründungen hineingegangen. Die Gesellschaft ist damals zur Tat übergegangen. Führende Kreise sind aufgetreten. Alles strömte nach Stuttgart. Was dagegen schwand, war der Enthusiasmus für die Angelegenheiten der Gesellschaft selbst. Es war eine ungeheure Verantwor­tung, welche jene Begründer der Institutionen auf sich nahmen. Blieben diese Persönlichkeiten nicht bei der Stange, so mußten die Folgen auf die Anthroposo­phische Gesellschaft zurückfallen. Durch diese Gründungen sollte einerseits et­was Allgemeinmenschliches gegeben werden, weite Kreise sollten hingeführt werden zur anthroposophischen Bewegung. Auf der anderen Seite aber mußte sich die Anthroposophische Gesellschaft mitentwickeln, sie mußte Schritt halten mit den Begründungen.

Aber in den führenden Kreisen der Gesellschaft war nicht das Bewußtsein vorhanden, daß die GeseHschaft in einer neuen Weise bewußt geführt werden müßte. Herr Dr. Steiner konnte nicht mehr, wie früher, selbst die Führung der Gesellschaft in die Hand nehmen. Die Leitung wandte alle Aufmerksamkeit auf die Vertretung der Tochterbewegungen. Die einzelnen Mitglieder fühlten immer weniger eine Unterstützung durch die Leitung, sie fühlten sich sozusagen allein gelassen, isoliert. Auch die Zweigleiter waren ohne Rückhalt von seiten der Leitung. Sie standen völlig allein. Die Mitglieder strömten zu, aber niemand nahm sich ihrer an. Keine Maßnahmen wurden getroffen, um die Mitglieder zu tätigen Mitgliedern der gemeinsamen Sache zu machen. Eigentlich wurde die Peripherie durch die Leitung verlassen.

Schaut man auf die Entwickelung in den letzten Jahren zurück, so muß man sagen : Die besten Kräfte der Gesellschaft sind nach Stuttgart gegangen, haben aber nicht das, was sie selbst durch ihre Arbeit dort gewonnen haben, der Mitglied­schaft an der Peripherie zurückgegeben. Es kamen keine Informationen von Seiten der Leitung hinaus zu den Mitgliedern der Gesellschaft. Man hatte kein Bewußtsein

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dafür, daß ein kontinuierlicher Strom von Nachrichten über das von Dr. Steiner vermittelte Geistesgut, über die Aufgaben der Gesellschaft, die Leistungen in derselben, die Gegnerschaft usw. hinausfließen müsse.

Und auch in Stuttgart hatte man für die Anthroposophische Gesellschaft kein Herz. Wir hatten gute Vertreter der einzelnen Tochterbewegungen, gute Lehrer, Vertreter der Dreigliederungsbewegung, der religiösen Erneuerung usw., aber fast keine guten Mitarbeiter in der Anthroposophischen Gesellschaft. Dabei wurde, wie es Dr. Steiner in einem seiner letzten Vorträge hier genannt hat, die Mutter, die Anthroposophische Gesellschaft, immer mehr vernachlässigt. Man trug in die einzelnen Tochterbewegungen seinen Enthusiasmus hinein, den man aus der früheren Zeit her hatte, aber man ging nicht dazu über, für die Gesellschaft selbst zu wirken und auf die Notwendigkeit hinzusehen, gerade das zentrale anthropo­sophische Leben weiterzupflegen. «Man kann auch ohne die Gesellschaft arbei­ten.« Das war der große Irrtum, der ganz allgemein vorhanden war.

Diese Art hat sich ganz besonders in Stuttgart entwickelt. Die einzelnen Persönlichkeiten in den Unternehmungen trugen aus den Tochterbewegungen ein noch nicht völlig umgegossenes Wissenschaftsleben usw. in die Gesellschaft. Gewissermaßen unverarbeitet wurde viel Spezialistisches in die Zweige hineinge­tragen. Das anthroposophische Zweigleben konnte nicht Schritt halten mit den Begründungen. Gegenüber den meist erfolgreichen Kongressen und sonstigen äußeren Veranstaltungen war man nicht imstande, die Aufgaben, die sich für das Gemeinschaftsleben ergaben, auch wirklich zu lösen.

Das war «System von Stuttgart«. In Stuttgart standen sich die Forscher, Lehrer usw. einzeln gegenüber. Es entstand ein Bureaukratismus in Stuttgart. Viele, die hierherkamen, fühlten das als eine gewisse eisige Kälte. Es war eben nicht gelun­gen, als es nicht mehr wie früher möglich war, Anthroposophie nur im Privatleben zu vertreten und seinen Beruf daneben zu haben, jetzt diese beiden Dinge in einem zu verbinden.

Eigentlich hätte die Leitung der Gesellschaft ihre Tätigkeit verdoppeln, ja verzehnfachen müssen, damit das anthroposophische Leben in der richtigen Weise und verstärkt weitergeführt werden konnte. Wenn die Anthroposophische Gesellschaft als solche nicht weiterkommt, müssen zuletzt auch die einzelnen Begründungen leiden; denn ohne die reale Anthroposophische Gesellschaft wären die Begründungen nicht möglich gewesen.

Dieses Verdoppeln der Sorge für die anthroposophischen Angelegenheiten ist nicht eingetreten. Es fehlte bei den Führenden und auch bei den meisten Mitglie­dern das Bewußtsein davon, daß man die Gesellschaft auf ein Niveau bringen mußte, das der Fruchtbarkeit der Anthroposophie auf allen Gebieten gerecht werden konnte. Dagegen war überall ein Mangel von Zusammenleben zwischen Leitung und Mitgliedern der Zweige vorhanden. Schon zur Zeit der Dreigliede­rungsbewegung wurde nicht darauf hingewiesen, daß in noch ausgedehnterem Maße wie früher das zentrale anthroposophische Leben hätte gepflegt werden müssen. Man hörte von den Aufgaben der Dreigliederungsbewegung, aber nicht

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von den Aufgaben der Mutter, der Anthroposophie. Derselbe Mangel an Informa­tion zeigte sich auch, als die Bewegung für religiöse Erneuerung ins Leben trat. Auch da kamen zu den Mitgliedern keine Mitteilungen der Leitung, die hätten Aufitlärung geben können. Auch schwand das Bewußtsein dafür, was Anthropo­sophie dem Menschen bieten kann, indem sie gerade zu einer Vereinigung von Wissenschaftlichem, Künstlerischem und Religiösem hinstrebt.

Dieser Mangel hängt auch zusammen mit den letzten Vorgängen hier in Stuttgart. Dazu muß die Vorgeschichte jenes Aufrufes berührt werden, der jetzt an die Mitglieder ergangen ist. Diese Vorgeschichte begann schon vor der Dorn­acher Katastrophe, hatte nichts mit ihr zu tun, denn sie lag begründet in der eben geschilderten langen Geschichte der Gesellschaft. Was auf dem Kongreß in Stutt­gart (1921) beschlossen war, als der neue Zentralvorstand sich konstituierte, eine Vertrauensorganisation in der Gesellschaft zu schaffen, war nicht erfüllt worden. Im Zentralvorstand war kein richtiges Zusammenarbeiten vorhanden. Am 10. Dezember 1922 fand eine Unterredung zwischen Herrn Dr. Steiner und Herrn Uehli als Mitglied des Zentralvorstandes statt. In dieser Unterredung wies Herr Dr. Steiner darauf hin, daß entweder der Zentralvorstand durch Beratung mit anderen Persönlichkeiten eine Konsolidierung der Gesellschaft herbeiführen müsse, oder daß er sich über den Kopf des Vorstandes an die Mitglieder wenden müsse. Von Herrn Uehli wurde die Tragweite und der Ernst dieser Situation nicht erkannt. Infolge der Unstimmigkeiten im Zentralvorstand wurde dieser Auftrag nicht ausgeführt.* Es kam dann nach der Dornacher Katastrophe aus der Initiative einiger Persönlichkeiten zu einer größeren Zahl von Besprechungen, in denen zum Teil eine sehr heftige Kritik der bisherigen Tätigkeit des Zentralvorstandes geübt wurde. Im Anschluß daran trat Herr Uehli von seiner Stellung als Zentral-vorstandsmitglied zurück, Herr Dr. Unger bedingungsweise, falls die Initiative der genannten Persönlichkeiten zu positiven Zielen führen sollte. Dies geschah jedoch nicht. Herr Dr. Steiner hielt dann hier in Stuttgart eine Reihe von Vorträ­gen über die Probleme der Gesellschaft, und es fanden auch noch weitere Bespre­chungen statt. Schon in seinem Vortrage am 6. Januar1923 in Dornach hatte Herr Dr. Steiner das «Stuttgarter System« charakterisiert, und dies geschah auch in der eindringlichsten Weise hier in Stuttgart.

Da zeigte sich, daß alle diese Fragen nur gelöst werden könnten, wenn man eine Versammlung einberief, in der die ganze Mitgliedschaft zur Mitarbeit aufge­rufen würde. Es wurde zunächst nach dem Rücktritt von Herrn Uehli ein «provi­sorischer Zentralvorstand» durch Kooptation von Herrn Dr. Eugen Kolisko gebildet. Jedoch konnte diese Lösung nur eine provisorische sein. Nach langen Verhandlungen bildete sich dieses Komitee, das den Aufruf unterzeichnet hat, als

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* Der Hergang war so, daß Herr Uehli, nachdem er die Tragweite dieses Auftrags nicht erkannt hatte, auch keine Veranlassung nahm, Herrn Dr. Unger von diesem Auftrag Kenntnis zu geben. Erst am 24. Dezember fand eine Unterredung statt, in welcher unter snderem auch Schritte zur Reorganisation der Gesellschaft besprochen wurden. Daß ein Auftrag von Herrn Dr. Steiner vorlag. erfuhr Dr. Unger erst am 17. Januar.

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eine Art Vertretung der einzelnen Institutionen. Es wurde durch den provisori­schen Vorstand kooptiert. Man wollte dadurch zum Ausdruck bringen, daß eine solche provisorische Vertrauenskörperschaft nur aus den Institutionen gebildet werden könne und daß seitens dieser Institutionen die Absicht bestehe, der Anthroposophischen Gesellschaft zurückzugeben, was sie von ihr bekommen haben. Sie sehen aus der Zusammensetzung des Komitees, daß die wichtigsten Institutionen darinnen vertreten sind: «Kommender Tag», Waldorfschule, beide Verlage, die Zeitung, die Bewegung für religiöse Erneuerung, der alte Zentralvor­stand, die zerstreuten auswärtigen Interessen.

Wir müssen also die ganze Aufmerksamkeit auf die Gesellschaft selbst richten. Denn, was ist denn die Lage der Anthroposophischen Gesellschaft? Wir stehen ohne innere Geschlossenheit einer Welt von Feinden gegenüber, von der die Mitglieder nicht einmal wissen, wie stark sie ist, und wie sie darauf hinarbeiten will, der gesamten anthroposophischen Bewegung ein Ende zu machen. Wir müssen uns darüber klar sein, je weniger für die Gesellschaft etwas geschieht, je mehr sich im Innern ein Vakuum bildete, desto mehr hat sich die Gegnerschaft draußen verstärkt und vergrößert. Es wird nötig sein, daß die Mitgliedschaft durch Berichte diese Gegnerschaft und ihre Motive kennenlernt, um durch diese Kennt­nis zu wissen, wie man etwas dagegen unternehmen kann.

Und dann muß wieder ein Kontakt zwischen Leitung und Gesellschaft zustan­dekommen, damit jedes einzelne Mitglied an dem Anteil nehmen kann, was geleistet wird. Mit dem «Stuttgarter System» muß gebrochen werden. Nur wenn offene Ohren vorhanden sind für alle Bedürfnisse der Mitgliedschaft, kann wieder ein anthroposophisches Leben erstehen. Es wird ja Gelegenheit sein, daß die einzelnen Institutionen im Verlaufe dieser Tagung ein Bild ihres Wirkens und ihres Standes geben, damit dies auch den Mitgliedern bekannt werden kann.

Jetzt hat die Anthroposophische Gesellschaft die Pflicht, ihre inneren Aufga­ben vor allem zu pflegen. Denn durch die Vernachlässigung der inneren Angele­genheiten der Gesellschaft hat sich das Gesamtbild der gegenwärtigen Lage erge­ben. Dann wird auch die Gesellschaft nach außen nicht ein Hindernis bilden für die Verbreitung der Anthroposophie, wie dies bisher der Fall war. Dann werden in der Gesellschaft alle die befriedigt sein können, die nach Anthroposophie sich sehnen, dann werden die anderen, die außen stehen, nicht abgestoßen werden.

Die Delegierten mögen nun ein Bild geben über den Zustand des anthroposo­phischen Lebens in den Zweigen. Dann wird durch die Aussprache sich die Möglichkeit ergeben, daß die anthroposophischen Angelegenheiten richtig be­sprochen werden können, damit ein jeder mitarbeiten kann an der Neugestaltung des anthroposophischen Lebens.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart: Es wird nun notwendig sein, diesen Bericht von Herrn Dr. Kolisko dadurch zu ergänzen, daß die Freunde sich darüber äußern, welches ihrer Meinung nach die Aufgaben der Gesellschaft sind. Darüber soll jetzt die Aussprache eröffnet werden.

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Herr Kurt Goldstein, Berlin, regt an, in bezug auf die Aussprache nicht die sonst übliche chronologische Reihenfolge der Redner, sondern die logische zuzulassen.

- Der Antrag wird abgelehnt.

Herr Prof Hermann Craemer, Bonn: In den Zweigen draußen vermißt man vielfach diejenige Lebendigkeit des Geisteslebens, welche Kraft des Wollens und Klarheit des Denkens gibt. Die Kraft und die Stärke des Gemeinschaftslebens wird aber nicht nur, wie bisher betont wurde, vermißt mit Bezug auf das Verhältnis der Leitung zu den Mitgliedern, sondern auch unter den Mitgliedern selbst. Man muß Stuttgart als Ganzes nehmen und mit anderen Zweigen vergleichen, dann sieht man innerhalb der Zweige dieselben Erscheinungen. Dr. Kolisko meinte, die Übelstände in den Zweigen seien vielfach darauf zurückzuführen, daß die Zweige in den Dienst der Dreigliederung gestellt worden sind. Der wahre Grund für die Übelstände liegt aber darin, daß die Dreigliederung undurchdacht hereingetragen wurde. Halb unbewußt haben sich die Mitglieder gesagt: Ich nehme die Dreiglie­derungsgedanken nur an, weil ich ja sonst nicht als vollwertiges Mitglied genom­men werden würde. - Man sagt uns, es herrsche bei uns noch ein starker Autori­tätsglaube, so daß dadurch die Kraft unserer Bewegung aufs höchste gefährdet wird. Aber Dr. Steiner selbst gibt nie sogenannte «Vorschriften«, nach denen man handeln soll. Trotzdem beruft man sich vielfach in einer solchen Art auf Dr. Steiner, daß man sagt: «Ja aber... Dr. Steiner hat da oder dort dieses oder jenes gesagt.« Dieses darf in unserem Leben kein Argument bilden.

Notwendig ist daher das auf volle Verantwortung gestellte selbständige Han­deln, selbst auf die Gefahr hin, daß wir uns einmal vergreifen. Und solange man nicht der Kritik selbst auch etwas Positives folgen lassen kann, kann man sich die Kritik sparen.

Frau Else Pfäumer, Dresden: Ich bin hierher gekommen auf das Schriftstück hin, das überschrieben war «Aufruf«. Und aus alledem, was mir da entgegengetreten ist, aus dem, was überschrieben war mit «Aufruf» ist etwas wie Todesluft gekom­men; als wenn man etwas organisieren wollte, was eigentlich ein Organismus ist, was der Leib werden will zu einem Menschen, zu dem Menschen «Anthroposo­phie«. Und da finde ich, möchten wir uns doch wirklich einmal zuerst zu diesem «Menschen« bekennen, und dann anfangen, uns auseinanderzusetzen mit diesem Organismus.

Beim letzten Hochschulkurs hat Herr Dr. Steiner das Wort gesprochen:

Anthroposophie ist ein Mensch. Als dieses Wort in mich hineinfiel, stand vor mir ein Bild: Johannes am Kreuz, in seinen Armen die Mutter Sophia. «Siehe, das ist deine Mutter. Und er nahm sie an sein Herz.»

Und so wie Anthroposophie hereingetreten ist in mein Leben, habe ich sie empfunden, daß sie Kraft der Katharsis ist, Kraft der Mutter Sophia. Und ich meine darum: Wir haben erlebt in der Neujahrsnacht, wie uns gestorben ist ein Mensch in unserem Bau. Und ehe wir daran denken können, daß uns wieder ein Bau erwächst, müssen wir gestalten, müssen wir unser Herzblut hineintragen, daß

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erstehen kann der Bau dieses Leibes der Anthroposophie. Dann erst können wir daran denken, daß Vitae Sophia daraus werden kann, mit der man etwas begrün­den kann, mit dem man hineingehen kann in die Wissenschaft, die man als Anthroposophie hineintragen kann in die religiöse Bewegung. Wenn man das, was Herr Dr. Steiner uns übermittelt, so wie er es uns gibt, hineinträgt in die Wissen­schaft, ist es manchmal so, als wenn man etwas gestohlen hätte, wenn es nicht lebendig geworden ist, wenn es nicht einfach Kraft der Katharsis geworden ist.

Ich kann mich schlecht ausdrücken, aber so wogt und brandet es in mir. Und ich hoffe, daß die anderen Menschen, die es ausdrücken können, die die Kraft haben, es zum Ausdruck zu bringen, was ich eben aus der Empfindung heraus sagen konnte, es hinnehmen möchten und es befruchten, daß wirklich etwas wird aus unserer Zusammenkunft. Daß wir nicht nur sagen : Dieses oder jenes sind unsere Aufgaben, sondern daß wir einfach uns zu dem bekennen, was uns hinein-getrieben hat in die Anthroposophie; daß wir uns zu unserer Sehnsucht stellen, die Keim geworden ist in der Anthroposophischen Gesellschaft, und daß, wenn wir diese Sehnsucht fassen, die eigentlich den Keim einer Anthroposophischen Gesell­schaft heruntergeholt hat, daß wir diesen Keim zum Wachsen bringen lassen, daß dann eine Gesellschaft gewachsen ist und nicht organisiert.

Herr Otto Westphal, Hamburg, spricht zur Geschäftsordnung. Er will dazu beitragen, daß gleich von Anfang an des Zusammenseins Wachsamkeit walte. - Da er nicht zur Geschäftsordnung spricht, wird er unterbrochen.

Herr Josef Elkan, München, führt aus, er sei schon mit einem ganz bestimmten Programm hierher nach Stuttgart gekommen. Das wichtigste davon möchte er in Form einiger Wünsche aussprechen. Zunächst wünsche er, es möchte derjenige Zentralvorstand an die Spitze der Bewegung kommen, der sich der Aufgaben bewußt ist, die erfüllt werden müssen, um die Bewegung auf die entsprechende Höhe zu bringen. Dazu ist aber auch vor allem notwendig, daß einerseits von der Zentrale Richtlinien gegeben würden, anderseits die Autonomie der Zweige voll gewahrt bleibe. Mitgliederaufnahme, Art der Einführungskurse können nicht nach bestimmten Regeln oder Direktiven gehandhabt werden. Würden aber die Zweigleiter genügend orientiert werden vom Zentralvorstand, so würden sie in vollständiger Weise Vollstrecker des Willens des Zentralvorstandes sein können. Jetzt käme es darauf an, die Beratungen so zu gestalten, daß die Delegierten mit positiven Resultaten in die Heimat zurückkehren.

Herr Paul Knoop, Bochum, wünscht, daß man einen Aufruf an die Jugend richte, sich an der Bewegung zu beteiligen.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart, erinnert daran, daß über die Jugendbewegung noch verhandelt werden soll.

Herr Dr. Wilhelm Zitkowsky, Linz, spricht zum Thema «Organisation der Zweige». Er warnt vor einer «Abkapselung der Zweige nach außen». Er schlägt vor, mehr als bisher die Schaffung von einzelnen kleineren Arbeitsgruppen ins

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Auge zu fassen. Besonders soll man sich mit der «Philosophie der Freiheit« in solchen Arbeitskreisen befassen, da ohne philosophische Grundlage Anthroposo­phie nicht an die Außenwelt herangebracht werden könne. Die Impulse des Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« müßten realisiert werden.

Herr Dr. Friedrich Rittelmeyer, Stuttgart, weist auf den ungeheuren Ernst der Lage hin gegenüber der sehr zahlreichen Gegnerschaft. Es habe eine Versammlung «Nicht-anthroposophischer Kenner der Anthroposophie« stattgefunden, in der die bekannten Vorwürfe wieder vorgebracht wurden, und durch die sie wieder durch Versendung des Protokolls weithin verbreitet werden. Das Hauptproblem, das der Gesellschaft jetzt vor allem auch durch die kultische Bewegung gestellt ist, sei die Frage, wie man in der Anthroposophischen Gesellschaft von den eigenen Geistesvoraussetzungen aus zu wahrer Gemeinschaft kommen könne. Man habe aus der Anthroposophie einen Egoismus gemacht und hätte eine große Menschen­liebe daraus machen müssen. Man lebe auf einer Insel und müßte als ein weithin sichtbarer Wallfahrtsberg mit einer Menschenheilstätte in der Kultur stehen. Wenn das Wort Anthroposophie wirklich innerlichst zur Wahrheit wird, wenn aus dem Wissen eine persönliche erarbeitete Weisheit und durch sie wirklich ein neues Menschentum wird, dann und nur dann würde die Arbeiterschaft, würde die Jugend Vertrauen gewinnen können.

Frau Lili-Maria Eljakim-Werner, Wien, greift in bezug auf die Arbeit in der Außenwelt einiges heraus : wie nämlich eine bestimmte Art des Arbeitens uns genützt, eine andere Art uns geschadet hat. Das müßte mitgeteilt und ausgetauscht werden. «Abkapselung« zum Beispiel schadet insbesondere, wenn man den Men­schen Anthroposophie bringen will. Will man dies, so muß man die Menschen kennen, wie sie sind. Dazu wäre es wünschenswert, sich auch mit anderen Bewe­gungen zu befassen. Man dürfe solche Bewegungen nicht als inferior bezeichnen. Die Menschen dort haben einen guten Willen; die Antwort aber auf die Fragen, die sie bewegen, haben wir. Man müsse beachten, daß es ein Unterschied sei, ob Herr Dr. Steiner etwas sagt, oder wir. Wenn wir es nicht erlebt haben, so sei es Kenntnis und nicht Erkenntnis. Schädlich sei vor allem eine Kritik der Gegner von oben herab. Herr Dr. Steiner stelle Tatsachen hin, und wir hätten die Urteile, die wir uns daraus gebildet hätten, vor die Welt gestellt. Die anderen müßten einsehen, daß hinter der Anthroposophie etwas stehe, das man kennen muß. Zwischen der Welt und der Anthroposophie stehen wir Anthroposophen.

Herr Louis Werbeck, Hamburg: Man fordert hier Dinge, die überholt sind, oder Selbstverständlichkeiten. Seit dem Kongreß haben wir darauf gewartet, daß Tat würde eine Kooptation des Zentralvorstandes über Deutschland hin. Dieser Aus­bau ist nicht in Erscheinung getreten. Es besteht die Notwendigkeit, daß der Zentralvorstand an vielen Orten seine Vertreter hat, die im Zusammenklang mit Stuttgart arbeiten. Die Dinge müssen aber reif sein. Die andere Notwendigkeit weist auf das Gemeinschaftsleben. Wir brauchen Formen des Verkehrs, wenn

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auch nicht gerade kultische. Die Dinge können so gegeben werden, daß sie jeder Mensch verstehen kann. Das Geistesgut kann im guten Sinne popularisiert wer­den. Die Zweige müßten sich auswachsen zu anthroposophischen Hochschulen. Jeder einzelne kann mehr leisten als er glaubt.

Herr Dr. Eugen Kolisko, Stuttgart: Die Schwierigkeiten in der Gesellschaft hän­gen damit zusammen, daß man die besten Kräfte hierhergerufen hat. Man könnte sagen, wenn man sie alle wieder zurückschicken könnte, dahin, woher sie gekom­men sind, so wäre alles gut; hiermit war gemeint, daß alle diejenigen, welche heute in den Stuttgarter Institutionen arbeiten, früher in den Zweigen, zum Teil sogar als Zweigleiter, intensive anthroposophische Arbeit geleistet haben. Dann aber müßte alles ungeschehen gemacht werden, was mit den Gründungen zusammen­hängt und wir können nicht die Verhältnisse von 1918 ohne weiteres wiederher-stellen. Außerdem sind neue Kräfte, die von außen hinzukommen sollten, mehr abgestoßen wie angezogen worden. Die Gemeinschaftsbildung ist das allerwich­tigste Problem, aber sie ist hier besonders erschwert. Denn wir können uns nicht wie bei der religiösen Erneuerung auf einen Kult stützen, der die Gemeinschaft bewirkt, sondern wir mussen von den Individualitäten ausgehen und trotzdem Gemeinschaftsbildung haben. Die Größe der Leistungen der Anthroposophie ist in der Gesellschaft gar nicht anerkannt worden. Was hätte nicht für die Eurythmie geschehen können? Man kennt vielfach die Aufgaben gar nicht, die es zu lösen gilt. Leider hat sich bei der heutigen Diskussion kein Bild über die Lage in den einzelnen Zweigen herausgebildet : Wir können aber uns gar kein Urteil bilden, wenn nicht die Delegierten selbst uns ein solches Bild der Lage in der Gesellschaft geben.

Schluß 11 Uhr.

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Montag, den 26. Februar 1923, vormittags

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Der Vorsitzende, Herr Emil Leinhas, eröffnet um 9 Uhr die Versammlung. Herr Wilhelm Goyert, Köln, Herr Wilh. Salewski, Düsseldorf, Frl. Maria Hachez, Stuttgart, Herr Fritz und Frau Ilse Wittenstein, Barmen, Frl. Toni Förster, Köln, Herr Andreas Grunelius, Freiburg, Frl. Erika Linke, Stuttgart, Frau Marie Wundt, Düsseldorf, bringen folgenden Antrag zur Tagesordnung ein :

Zur Tagesordnung.

Einige Mitglieder und Delegierte der Anthroposophischen Gesellschaft sind der Überzeugung, daß auf dem bisher eingeschlagenen Wege keine Möglichkeit zur Verständigung und Überwindung der Krisis gegeben ist. Die Diskussion des ersten Abends hat gezeigt, daß kein allgemeiner Gesichtspunkt gegeben ist, von dem ausgehend eine Besprechung fruchtbar sein könnte. Schon in der Leitung zeigte sich eine Unstimmigkeit in der Auffassung. Herr Leinhas wies hin auf das zu erwartende Gesamtreferat, daß dieses «eine Orientierung» bringen sollte. Herr Kolisko hingegen faßte sein Referat so auf, daß es eine allgemeine Ausspra­che, Schilderung von Lokalverhältnissen ermöglichen solle und war erstaunt, daß die Diskussion sich ins Uferlose verlor.

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Es ist nicht möglich, daß auf dieser Basis die Delegiertenversammlung weiter stattfinden kann.

Zunächst sollte vor die Versammlung dasjenige hingestellt werden, worinnen wir alle einig sind und zu dem wir alle hinstreben: das anthroposophische Ideal. Es wurde versucht, von der Dame aus Dresden und Herrn Pfarrer Rittelmeyer, dieses nachzuholen. Das fand bei der Leitung keine Aufnahme und bei den Versammel­ten keinen vorbereiteten Boden. Der Aufruf war nicht geeignet, einen solchen zu schaffen.

Selbst bei Ablehnung einiger Punkte könnte nun doch versucht werden, den Auf?uf als richtunggebend für die Besprechung hinzustellen. Man müßte ihn aber sozusagen von rückwärts lesen. Dann ergäben sich folgende Punkte, die in einer organisch bedingten Weise zur Klärung hinführen könnten :

1. Hinstellen des anthroposophischen Ideals.

2. Darlegung der Grundlage einer Verständigung von Mensch zu Mensch im Sinne der Anthroposophischen Gesellschaft. Daraus ergäbe sich

3. Ein neues Verhältnis zu Dr. Steiner.

4. Haltung zur Gegnerschaft.

5. Stellungnahme zu den vorhandenen Institutionen usw.

Wir glauben, daß auf diese Weise eher die Möglichkeit einer allgemeinen Verstän­digung gegeben ist und bitten die Leitung der Delegiertenversammlung, dieses als

«zur Tagesordnung« der Versammlung vorlesen zu wollen.

Der Antrag wird zur Diskussion gestellt.

Herr Dr. Hans Büchenbacher, Stuttgart: Dr. Kolisko hat in berechtigter Weise ausgesprochen, daß nicht das aus der Versammlung herausgekommen ist, was er auf seinen Vortrag hin erwartet hat. Der Grund hierfür liegt aber in der Hauptsa­che daran, daß viele Freunde, durch die Art, wie der Aufruf abgefaßt war und durch den Vortrag selbst, nicht genügend über die katastrophale Lage in der Gesellschaft orientiert waren. In der Jugendbewegung war eine enge Verbindung mit der Stuttgarter Geschäftsstelle vorhanden, man war in diesen Kreisen über die Lage informiert. So hatten wir gestern nachmittag eine wirklich fruchtbare Sit­zung im Hochschulbund, wo man positiv sprechen konnte. Von der Stuttgarter Zentrale aus hatte man keine lebendige Verbindung mehr mit den Zweigen. -

Man hat in Stuttgart aus einem Schematismus heraus ein Wirken nach außen entfaltet, was an vielen Orten zu mißglückten Veranstaltungen führte. Man hat die anthroposophischen Impulse so an die Außenwelt herangetragen, daß man überall angestoßen hat. Diese Dinge wurden so gehandhabt, daß es so bureaukratisch war, wie etwa beim Militär. Wir haben dadurch uns sehr viele Gegner gemacht, jedenfalls keine Beziehungen zu der Außenwelt gewonnen. - Andererseits ver­mißt man in Stuttgart mit Recht allerlei im Zweigleben. Dieses Leben ist immer mehr zurückgegangen, eine Art Schlaf ist vielfach eingetreten, oder die Abende sind in traditioneller Weise einfach gehalten worden. Daran sind die Zweige selbst schuld. Wenn in den letzten Jahren in einen solchen Zweig jemand

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eintrat, der aus dem Studium der Schriften Dr. Steiners sich ein gewisses Bild gemacht hatte, wie es nun in einer Anthroposophischen Gesellschaft sein müßte, so bekam er - das war häufig der Fall - einen recht kräftigen Schock, so daß man am liebsten wieder ausgetreten wäre, zum mindesten bald von den Abenden weggeblieben ist. Man erkannte, daß die Anthroposophische Gesellschaft hinter dem, was Herr Dr. Steiner gegeben hat, zurückgeblieben ist, vor allem in der Entwickelung des Menschentums. Die goldene Regel aus dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?«, ist nicht beachtet worden: «Wenn du einen Schritt vorwärts zu machen versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrhei­ten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung deines Charakters zum Guten.«

Es hat aber in den Zweigen vielfach schon an der gewöhnlichen sozialen Moralität gefehlt, nicht einmal vorgestellt wurden die Neueingetretenen den alten Mitgliedern, sie mußten wie Fremde dasitzen. Man müßte Ernst damit machen nach einer Entwickelung des inneren Menschen in anthroposophischem Sinne zu streben, dann wird man auch die Verbindung mit den Menschen nach außen finden. Die Außenwelt müßte sagen, die Menschen, die Anthroposophie vertre­ten, gefallen uns.

Vor allem müssen aber wir nun hier auf beiden Seiten uns sagen: Ach was, Feindschaft, Streit oder Übelnehmen, das gibt es nicht, wir müssen schon zusam­menstehen. Wenn man schon mit dem Aufruf und dem einleitenden Vortrag so vorgegangen ist, daß die Verbindung mit den Versammelten nicht zustande ge­kommen ist, so müssen wir Delegierten versuchen, von uns aus in aller Liebe Kritik zu üben und den Stuttgartern zeigen: So könnt ihr wieder mit uns in Verbindung kommen. Es ist schon so, die Stuttgarter sind in einer absoluten Isolierung; gewiß, es ist natürlich eine glänzende Isolierung (Lachen und starker Beifall), aber sie kommen allein nicht aus ihr heraus. Und wenn man weiß, wie sehr man sich in Stuttgart in den vergangenen Wochen geplagt und geschunden hat, aus dieser katastrophalen Lage herauszukommen, so muß man aus vollem Herzen heraus sagen : Wir wollen diesen Menschen helfen, daß sie aus dieser Isolierung herauskommen. Es wird gehen, wenn man sich so ausspricht, daß man getragen wird von dem Bewußtsein des Strebens nach anthroposophischem Menschentum.

Herr Alfred Reebstein, Karlsruhe, will aus demselben Empfinden sprechen wie der Vorredner. Er bittet, ein Urteil zu ermöglichen über die zur Rede stehenden Fragen. Dr. Steiner habe beim Kongreß sagen müssen : Ich habe oft gesprochen, aber man hat nicht gehört. Viele würden den Ernst und die furchtbare Tragweite besser sehen, wenn bekanntgegeben würde, was Dr. Steiner in den beiden Vorträ­gen hier über diese Dinge gesagt hat.

Herr Alfred Überhahm, Breslau: Wir brauchen Richtlinien für die Gesellschaft zur Weiterarbeit. Dr. Steiner hat zwei vierzeilige Sprüche gegeben als kosmisch­kultische Handlung. Diese ist nicht in die Tat umgesetzt worden. Redner stellt den Antrag, daß diese Worte in den Zweigen gesprochen werden mögen.

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Herr Leinhas übergibt den Vorsitz an Herrn Dr. Palmer.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart: Dem, was Herr Dr. Büchenbacher gesagt hat, kann man nur zustimmen. Die Teilnehmer waren von der gestrigen Generaldiskussion nicht befriedigt. Man ist bei uns schon verpflichtet, nicht nur zu kritisieren, sondern selbst aufzutreten und die Dinge besser zu machen.

Herr Leinhas schlägt vor, die Anträge fallen zu lassen, denn es werde bei der Behandlung der einzelnen Gegenstände Gelegenheit sein, dazu zu sprechen. Er bittet an das Referat von Dr. Kolisko anzuknüpfen, denn in allen lebe die Sorge. Er erinnert an die Größe unserer Sache. Sodann bittet er, nicht mit der Kritik zurückzuhalten. Man höre, der Zentralvorstand sei ein Popanz, ein Kinderge­spött. Die Kritik solle hier herauskommen. Sie brauche nicht unfruchtbar zu sein, wenn alle erfüllt seien vom heiligen Eifer für die Sache. Man müsse hinzufügen, was hätte gemacht werden sollen und wie es weitergehen kann.

Herr Albert Steffen, Dornach: Es ist nicht meine Absicht, hier kritisch aufzutre­ten, denn ich bin überzeugt, daß diese Selbstzerfleischung gar nichts nützt. Wir wissen diese Dinge längst und sollten nun anfangen, mehr positiv zu sprechen. Ich glaube, es ist vor allen Dingen zusagen, daß die Anthroposophie als solche unserer Gesellschaft die Konfiguration geben sollte, also dasjenige, was Herr Dr. Steiner aus dem Geistigen uns gibt, umzusetzen ins Wirkliche. Da ist zunächst ja zusagen, daß diese Anthroposophie als Grundlage die Freiheit hat. Die Freiheit, sie verlangt vom einzelnen Menschen, daß er aus dem eigenen Ich heraus die Impulse zu seinem sittlichen Handeln sucht. Sie verlangt also einen ethischen Individualis­mus. «Handle so, daß du dir selbst genügst, daß du Liebe zur Idee hast, dann wird es möglich sein, daß das Ganze zusammenstimmt!«

Es ist die erste Grundforderung unserer Gesellschaft, daß der einzelne eine Persönlichkeit ist, und als solche «Ja« zu sich sagt; als solche das Vertrauen zu sich hat. Wenn er in sich sucht, daß er Schöpferkraft findet, und daß er diese Schöpfer­kraft anwendet, dann wird auch das Ganze unserer Gesellschaft sich mehr konso­lidieren. - Eine Mannigfaltigkeit von schöpferischen Persönlichkeiten ist zuerst notwendig.

Es wurde zuerst gesagt, daß unsere Gesellschaft darunter leide, daß so viele Individualitäten da sind, die nicht zusammengehen. Aber wenn diese Individuali-täten gemäß der Freiheit denken, fühlen und handeln, wird ein Ganzes zustande­kommen. Wir brauchen originelle Menschen unter uns, aber sie dürfen nicht so Originale sein, so Dorf- oder Stadtoriginale, Zweigoriginale, so eine Art Haus-trottel werden, und das einzige Mittel, daß sie das nicht werden, besteht darin, daß sie eben die Anthroposophie als Ganzes aufnehmen.

Gestern wurde von einer Dame in sehr herzlicher Weise gesagt, die Anthropo­sophie sei ein Mensch. Sie ist ein Mensch, und sie ist der größte Mensch. Sie ist ein geistig-seelisches Gebilde, und dieses müssen wir in uns aufnehmen, damit wir als Persönlichkeiten nicht Eigenbrödler werden. Das können wir aber nur, indem wir den Versuch machen, in dieses Geistig-Seelische, dieses Übersinnliche auch wirklich

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einzudringen. Und dazu Ist meiner Ansicht nach der einzige Weg die Übung, hauptsächlich die Übungen, wie Sie sie in dem Buche «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?« finden. Dieses Üben, um wirklich einzudringen ins Geistig-Seelische, das ist die zweite Grundbedingung unserer Gesellschaft, ohne die ist eine innere Konsolidierung gar nicht möglich, und noch viel weniger eine äußere. Das muß vor allen Dingen unter den Führer-Persönlichkeiten unter uns verlangt werden.

Ein Beispiel: Sie wissen alle, Goethe und Schiller waren eigentlich Naturen, die sich entgegengesetzt waren. Sie waren sich in einer gewissen Periode ihres Lebens unsympathisch. Und jener Augenblick, wo sie eigentlich Freunde wurden, der trat ein in jener Naturforscher-Versammlung, wo Schiller mit Goethe über die Ur­pflanze zu sprechen begann, wo also Schiller das Geistig-Seelische der Pflanze zu begreifen begann. Da wurde Goethe sein Freund, und von hier aus hat dasjenige seinen Ausgang genommen, was dann zu der gewaltigen Epoche führte. Was Goethe in der Urpflanze als Geistig-Seelisches fand, das können wir viel besser finden noch durch die Übungen, die uns Herr Dr. Steiner über das Pflanzentum gegeben hat. Man stelle sich einmal vor, daß solche Übungen in einem unserer Institute durchgeführt würden, da würde eintreten mit Notwendigkeit, daß diese Menschen, die da tätig sind, Freunde werden, daß sie schöpferisch werden, daß das, was sie zutage fördern, ausstrahlte von ihnen in die ganze Kultur. Es strahlt deshalb zum Beispiel nichts von unseren Universitäten, von unseren Hörsälen und Laboratorien aus, weil daselbst unter den Professoren, den Privatdozenten und Studenten dieses Geistig-Seelische nicht erfaßt wird. In jenen Organisationen wird der Zusammenhang dadurch gefunden, daß man ein Examen vor sich hat, also durch eine gewisse Furcht. Das kann bei uns ja nicht sein. Der einzige Antrieb kann bei uns darin bestehen, daß man einzudringen sucht in das Geistig-Seelische, in das Übersinnliche, wie es zum Beispiel dargestellt ist in den Einleitungen zu den naturwissenschaftlichen Schriften Goethes. Herr Dr. Steiner hat solche Übungen für Physiker, für Chemiker, für Ärzte, für Soziologen gegeben, aber auch für Menschen als solche. Man stelle sich vor, daß in unseren Zweigen wiederum Ernst gemacht würde damit, daß man wirklich lebendig denken lernt, was ja die erste Übung ist; dieses Zweigleben würde wiederum auffiammen. Es kann gar nicht anders auffiammen, als gerade dadurch. In dem Augenblick, wo ein Mensch zu uns spricht, der wirklich etwas vom Übersinnlichen hereinholt, sind wir wie­derum eine Gesellschaft, die ein richtiges Leben hat. Sie werden den Beweis erleben, wenn Herr Dr. Steiner selbst spricht. Da werden alle diese Zwistigkeiten verschwinden, und man wird sich wiederum unter sich einig fühlen. Aber so müßte jeder in dieser Beziehung ein richtiger Schüler Dr. Steiners werden, beson­ders jeder Führer. Oder man denke zum Beispiel, in welcher Art und wodurch die Eurythmie zur Blüte gelangt ist. Doch nur dadurch, daß Frau Dr. Steiner das Wort als solches in solch geistgemäßer Art erfaßt hat. Dadurch lebt man die Eurythmie. Dadurch bringt sie diesen Impuls zur Schönheit wiederum in unsere Kultur. Oder man denke an die Waldorfschule, die durchaus positiv zu nehmen ist. Was

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unterscheidet die Waldorfschule von anderen Schulen? Daß die Lehrer daselbst etwas vom Geistig-Seelischen in sich hineingearbeitet haben; daß dadurch ein Waldorfschulgeist entstehen konnte. Das ist alles sehr zu schätzen.

Als ich von Dornach hierher gereist bin, freute ich mich eigentlich sehr auf Stuttgart, weil ich wußte, daß ich bedeutende Menschen hier finden würde. Ich wußte, daß ich als Mensch und als Dichter durch sie bereichert werden würde. Ich war gewiß, daß ich hier einen bedeutenden Philologen fand, einen bedeutenden Geschichtskenner fand, einen bedeutenden Kenner der Mythologie fand usw. Und ich nahm mir ein Notizbuch mit, um mir etwas nach Hause zu nehmen. Ich wollte mich bereichern. Durch Zufall griff ich zu einem Notizbuch, das alt war, das ein kleines Tagebuch enthielt, das vor dem Krieg geführt wurde von mir, vier Wochen vor dem Krieg, als ich selbst am Bau arbeitete, worin ich meine große Liebe zum Bau niederlegte, meine Begeisterung beim Schnitzen. Ich schrieb einen Satz : Es ist Abend, ich bin sehr müde, kann die Hand kaum bewegen. Nun schaue ich den Bau noch einmal an, und ich fühle mich wieder frisch. - Oder ich beschreibe, wie ich den Bau anschaute und nachher in die stille Nacht gehe, und dann die Sterne ganz neu empfand. Dieser Bau war für mich ein lebendiger Organismus. Er war das, was die Anthroposophie für uns sein sollte, nämlich ein geistig-seelischer Mensch in viel erhöhterem Maße noch. Er war ein Wesen. Herr Dr. Steiner sagte einmal zu mir: Der Bau möchte etwas Neues hören, er möchte Vorträge, worin wirklich schöpferische Menschen sprechen. Wir alle in Dornach, wir empfanden diesen Bau als Wesen, und wir empfanden sein Abbrennen als den Verlust auch eines Wesens.

Hier, verehrte Anwesende, bin ich, ohne es eigentlich zu wollen, von Stuttgart wiederum weggekommen zu einem, das mir auch wichtig zu sein scheint, weil es nämlich nicht nur für Deutschland wichtig ist, sondern für die ganze Welt. Ich habe die Empfindung: man sollte weiter blicken, über Deutschland hinaus, man sollte beachten, daß die anthroposophische Sache eine internationale Angelegen­heit geworden ist. Wir bekommen Briefe von Rußland. Persönlichkeiten von dort kommen nach Dornach und erzählen, was in Moskau geschieht, wie man dort arbeitet, wie man dort zu wirken sucht. Wir bekommen Briefe von England, von Australien. Es hat sich sogar in Neuseeland eine anthroposophische Gesellschaft gebildet, die sich Dornach anschließt. Das alles ist ungeheuer wichtig. Deshalb muß die deutsche Gesellschaft, von der ja so viel abhängt, positiv nun sein. Es hängt ja von Deutschland zunächst die Konsolidierung der Gesellschaft über­haupt ab. Wenn es in Deutschland nicht zustandekommt, daß wir eine starke Gesellschaft werden, so ist der Wiederaufbau des Goetheanums gefährdet; denn es hat ja keinen Sinn, wenn man keine Gesellschaft hat, einen Bau zu haben.

Man hat gesagt, daß dieser Bau «nicht so schön» sein wird. Dieser Bau wird von Herrn Dr. Steiner ausgeführt werden; er wird ein Werk seiner Hand sein und er wird uns lieb sein, wenn er auch nicht so schön ist. Das glaube ich überhaupt nicht. Er wird anders sein, er wird meiner Ansicht nach so sein, daß er gewappne­ter ist gegen die Außenwelt. Er wird ja nicht aus Holz, sondern aus Beton sein. Er

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wird einen Steinpanzer haben. Er wird vielleicht mehr an etwas erinnern, was in den Katakomben zu sehen war, geistig-seelisch. Er wird eine Burg sein. Und ich möchte zum Schlusse dessen, was ich sagte, Sie bitten, dieses Bild in sich zu tragen. Ich glaube, wenn Sie dieses Bild haben dieses gepanzerten Baues, dann werden Sie sich selbst auch panzern. Sie werden stark werden. Sie werden die Feinde abweisen können. Dann wird, was Dr. Steiner einmal sagte, ganz gleichgültig sein, wie diese Feinde sind, wir werden gepanzert sein. Und wenn diese Feinde mit Kanonen gegen uns rücken, wie Dr. Steiner sagte, es kann uns gleichgültig sein - wenn wir nur Geist in uns haben und damit das Recht zur Existenz! Die Götter werden uns nicht im Stich lassen.

Herr Leinhas übernimmt wieder den Vorsitz : Herr Steffen hat gezeigt, daß man auch zur Sache sprechen kann.

Frau Gertrud Müller-Thalwitzer, Königsberg, spricht über die Arbeit im Osten Deutschlands und schlägt vor, daß örtlich einander naheliegende Zweige sich zusammenorganisieren mögen, zum Beispiel Danzig und Königsberg. Auch von alljährlichen «Gautagungen» einzelner Teile Deutschlands könnte man sich etwas versprechen, da die einzelnen Gegenden Deutschlands ganz verschieden sind. Die Zyklen Dr. Steiners, besonders die älteren, sind oft nicht mehr zu bekommen; das Ausleihen für die Zweigarbeit zu erleichtern, wäre eine dankenswerte Aufgabe. Dann sollte etwas geschaffen werden, um die materielle Lage der Zweige oder Zweigleitungen zu sichern; das ist besonders wichtig im Hinblick auf die Wühlar­beit der Gegner, durch die heute mancher um seine Existenz kommen könnte, bloß weil er Anthroposoph ist. Es wäre daher auch eine Aufgabe, die Hilfsbereit­schaft unter den Mitgliedern zu fördern.

Sie machte den Vorschlag: einen «Haupthilfsfonds» zu gründen für die not­leidenden Mitglieder der Gesellschaft.

Rudolf Steiner: Ich möchte eigentlich positiv nicht eingreifen, da ich der Überzeugung bin, daß in diesen Tagen das, was geschehen soll, aus der Mitte der Anthroposophischen Gesellschaft selbst hervorgehen muß und daß es sich von mir aus nur um einige Anregungen handeln kann, die ich aber auch später vorbringen könnte. Was mich veranlaßt, gerade jetzt in die Diskussion einzugreifen, ist dies: vielleicht auf einiges aufmerksam machen zu können, was die Diskussion fruchtbar gestalten würde. Aus verschiedenen Äußerungen in der Diskussion ging hervor, daß doch zu wenig Information bei unsern Freunden herrscht über den Grund, warum wir eigentlich diesmal hier zusam­mengekommen sind. Man hörte das aus den Diskussionen heraus, aber auch aus der Art, wie dadurch notwendigerweise gesprochen werden mußte. Deshalb möchte ich das Positive, das ich zu sagen habe, mir auf einen späteren Zeitpunkt sparen, indem ich die beiden Vorträge, die

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ich halten werde, aus diesem Thema heraus gestalte. Ich werde deshalb morgen sprechen über die Bedingungen der Gemeinschaftsbildung in einer Gesellschaft, wie es die anthroposophische ist, werde also na­mentlich die Anregungen, wie sie von Dr. Rittelmeyer und anderen ausgegangen sind, behandeln. Den zweiten Vortrag werde ich ebenso aus einem Thema behandeln, das sich aus der weiteren Diskussion ergeben wird. Aber darauf möchte ich aufmerksam machen, daß un­sere jetzige Versammlung nur fruchtbar werden kann, wenn auf Grundlage der Erkenntnis der Man gelh aftigkeiten - die ja wohl zuge­geben werden-, also der konkreteren Erkenntnis desjenigen, was mangelhaft ist, zu einer Gestaltung des Positiven geschritten wird. Daher möchte ich auch als Anregung namentlich für die Behandlung der Referate in den nächsten Stunden und Abenden eben doch auch

einiges Negative vorbringen, aber etwas, was durchaus so geartet sein soll, daß es zu etwas Positivem führen kann.

Was seit 1918 die Arbeit so schwierig machte in der Anthroposo­phischen Gesellschaft, ist ja - wie ich glaube - in treffender Weise eigentlich doch in der Diskussion herausgekommen, und manches Wort, was zum Beispiel Dr. Büchenbacher gesprochen hat, könnte schon eine tiefgehende Anknüpfung finden. Ich möchte anknüpfen an Worte, die bereits gefallen sind, zum Beispiel an das Wort, das auch von mir öfters gebraucht wird: die Isolierung durch das Stuttgarter System.

Es ist im Jahre 1918 unter den Ihnen bekannten Umständen der «Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus» begründet wor­den. Er konnte bei seiner Gründung durchaus als etwas angesehen werden, das aus den Intentionen der Anthroposophischen Gesell­schaft heraus eigentlich den Zeitverhältnissen gemäß gebildet werden mußte. Nur arbeitete man zunächst innerhalb des Gesamtrahmens der Anthroposophischen Gesellschaft für diesen Bund für Dreigliederung mit - wenn ich mich so ausdrücken darf - dem Apparate, mit dem bürokratischen Apparat, der hier in Stuttgart im Bunde für Dreiglie­derung eingerichtet worden ist. Denn was sollte man denn auch ande­res tun? Aber da ergab sich folgendes: Ich kam eines Tages einmal hierher, erfuhr hier, daß vor - vielleicht waren es damals einige Wo­chen schon, ein Rundschreiben versendet worden ist, in das man hineingelegt hatte auch einen Aufruf zur Begründung des «Kommen­den Tages». Es war das, was dazumal geschehen war, ein solcher

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Taktfehler, ein ungeheurer Taktfehler, der mitwirken mußte zu dem, was vorhin geschildert worden ist: Man bekam einen Schock, wenn man in die Anthroposophische Gesellschaft im Jahre 1918/19 hinein-kam. Und ich mußte einfach darauf hinweisen: es durften eben nicht die zwei Dinge miteinander konfundiert werden! Denn was sollten sich die jungen Mitglieder denken, wenn sie sich erst noch mit unseren idealistischen Dingen befassen und dann den Aufruf zur Gründung des «Kommenden Tages» zugeschickt erhielten? Ich mußte es also in der entschiedensten Weise ablehnen, daß solche Dinge geschehen. Ich erkundigte mich bei der Leitung des «Bundes für Dreigliederung», wie das gekommen sei, und man erklärte mir damals, es sei geschehen, weil man eben nur ein Briefcouvert verwenden wollte für beides. Aber sonst ist man nicht so darauf bedacht! Denn in dieser valutaelenden Zeit wurde mir neulich ein Couvert überreicht mit dem Bemerken, daß so etwas doch übelgenommen werden müßte: ein Couvert, mit dem jemand eine Gutschriftanzeige über 21 Mark erhielt und das frankiert war mit 150 Mark. Es ist ganz selbstverständlich, daß solche Gedankenlosigkeiten auf einer gesunden Grundlage der Gesellschaft nicht wuchern würden. Ich erkundigte mich auch weiter bei den Leitern des Bundes über diese Angelegenheiten und erfuhr, daß sie von der ganzen Sache nichts wußten. Ich stand also vor einer, im echten Sinne des Wortes, zur Konfusion führenden Demokratie und konnte mir nicht anders helfen, als daß ich sozusagen mit Fäusten um mich schlug und sagte: Da mache ich nicht mehr mit! - Das führte zu einer Art Regeneration des Bundes für Dreigliederung - den Per­sönlichkeiten nach, aber nicht dem Geiste nach -, denn was dann weiter gemacht wurde, das wurde aus demselben Geiste heraus unternommen.

Ich führe dies an, weil daraus ersichtlich wird, wie die Dinge, die hier aus den Intentionen der Anthroposophischen Gesellschaft ge­macht wurden, auf den Sand gelaufen sind. Deshalb hatte ich erwartet, daß nach dem Vortrage von Dr. Kolisko ein Redner aufstehen und sagen würde: Wir wünschen eine Äußerung derjenigen, die am Stutt­garter System beteiligt sind, daß sie uns sagen, was sie dazu vorzubrin­gen haben! Dann hätte daraufhin weiter diskutiert werden können. -So wie die Dinge seit 1918 liegen, war ich genötigt, mit der Stuttgarter Organisation zu arbeiten - denn ich konnte sie nicht, nachdem sie einmal da war, übergehen. Und die Stuttgarter Organisation isolierte

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sich immer mehr und mehr. Aber was war die Folge? Da ich das Stuttgarter System nicht desavouieren konnte, so war die Folge, daß ich mit isoliert wurde. Deshalb mußte ich im Herbst 1922 [am 10. Dezember] mit Herrn Uehli reden, daß er sich bespricht mit den Mitgliedern des Zentralvorstandes, wie die Dinge anders werden könnten, und daß, wenn ich wieder nach Stuttgart käme, die promi­nenten Führer der Bewegung sich mit mir unterredeten, wie die Dinge anders werden könnten; widrigenfalls ich genötigt wäre, mich über die Köpfe der Organisation hinweg an die Mitglieder der Gesellschaft zu wenden, damit die Dinge anders würden. - Wir sind ja aufgefordert worden, «frisch von der Leber weg» zu reden, ich will also damit beginnen.

Die Isolierung wurde geradezu systematisch betrieben. Im Septem­ber 1921 fand ein Kongreß statt, wobei auch eine Art Versammlung der Anthroposophischen Gesellschaft stattfand. Da wurde ein Zen­tralvorstand gebildet; der gab zunächst den Inhalt dessen, was damals verhandelt worden war, in einem «Mitteilungsblatt» heraus. Von da an konnten die Mitglieder in einem gewissen Sinn fragen: Wo ist denn der Zentralvorstand? Denn das letzte Mitteilungsblatt kam heraus Neu­jahr 1923, und bis dahin hatte der Zentralvorstand nie etwas an die Mitglieder gelangen lassen von dem, was ich selbst gesagt habe. So war mir die Möglichkeit genommen, mit der Gesellschaft selbst in Verbin­dung zu treten. Also ich wurde im besten Sinne mit isoliert. Ich möchte die Frage stellen - ich weiß ja die Antwort, aber hier in der Delegiertenversammlung muß diese Frage gestellt werden: Was hat der Zentralvorstand zwischen den beiden Mitteilungsblättern vom Jahre 1921 und 1923 getan?

Diese Dinge erwähne ich jetzt deshalb, weil sie Gegenstand der Spezialdebatte werden müssen. Es sind die Punkte der Spezialdebatte angekündigt worden; sie kann aber nur fruchtbar werden, wenn diese Dinge wirklich beantwortet werden. Denn man wird daran handgreif­lich sehen, wie es in der Vergangenheit gegangen ist und wie es in der Zukunft nicht wird gehen können. Man muß aus dem, was in der Vergangenheit geschehen ist, die Schlüsse ziehen für das Arbeiten in der Zukunft.

Ich möchte nun noch auf etwas anderes hinweisen, was uns wieder auf einen größeren Horizont führen kann. Die Aufgaben, welche die Anthroposophische Gesellschaft erhalten hat, sind immer größer geworden.

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Es war die Pflicht der Leitung, mit diesen Aufgaben zu wachsen. Dazu war es nötig, daß man sich in eingehender Weise für die Aufgaben interessierte. Deshalb möchte ich ganz kurz skizzieren, weil das in die Spezialdebatte einfließen muß, daß vor allen Dingen einer solchen Gesellschaft, wie es die anthroposophische ist, aus allem, was sie in der Gegenwart tut, die striktesten Verpflichtungen für die Zu­kunft erwachsen. Die Gegner prellen hervor - einfach deshalb, weil die Anthroposophische Gesellschaft da ist. Nun kann man im Augen­blicke nicht alles mögliche tun, aber die Wege müssen beschritten werden, daß die Dinge weitergeführt werden. In Stuttgart lagen die Sachen so, daß man fortwährend «Programme machte» und sich dann um das, was man so an Programmen bildete, nicht weiter kümmerte. Ein Beispiel dafür ist der «Bund für freies Geistesleben». Ohne den Willen zur Durchführung - und auf diesen Willen kommt es an - kann eben nichts fruchtbar werden in der Anthroposophischen Gesell­schaft. - Wir haben die Waldorfschule gegründet und bilden aus den Kräften, die sich aus der Anthroposophie heraus ergeben, mit einer durch die Anthroposophie gegebenen Pädagogik und Didaktik Schü­ler aus. Was da geleistet werden kann, spürt man bis in die ganz junge Schülerschaft der Waldorfschule hinunter. Aber schon lange bevor das Stuttgarter System eingetreten ist, mußte ich immer wieder eines hervorheben, was mir schmerzlich vorkam. Ich mußte sagen: Wenn wir nun jemanden auf diesem oder jenem Gebiete ausgebildet haben, dann muß er in die Verhältnisse der Welt hinaustreten, die wir negie­ren. Damit ist von vornherein vieles, was wir tun, zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Es kommt ja selbstverständlich jemand, der nach unseren Kräften ausgebildet worden ist in unserer Mitte, in das hinein, was man «die Außenwelt» genannt hat, wo er Verhältnisse trifft, in denen er nichts anwenden kann von dem, was er in unserer Mitte erreicht hat. Daher entsteht die große Sorge: Wie gestalten wir die Zukunft derer, die ihre Kräfte aus unserer Mitte heraus bekommen? - Ich habe immer wieder und wieder auf diesen Gedanken hingewiesen, weil gerade die idealsten Aufgaben wenig Anklang gefunden haben. - Ich habe Ihnen nun von denen, die so jung sind, daß sie noch gar nicht drinnen sein können in der Gesellschaft, auch eine Zuschrift zu verlesen, die Sie zusammenfassen können als eine Art Fazit.

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Erklärung

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Eine Anzahl Schüler der obersten Klassen der Freien Waldorfschule möchte folgendes zur Kenntnis der Delegiertenversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft bringen :

An Ostern 1924 geht die erste Klasse der Waldorfschule ab. In unserem heute üblichen Mittelschulwesen ist mit diesem Abgehen die Reifeprüfung verbunden. Besonders durch die wachsende Gegnerschaft, die sich gegen die anthroposophi­sche Bewegung und in ebenso scharfem Maße auch gegen die Freie Waldorfschule richtet, wird aber dem Abiturienten das Ezamen außerordentlich erschwert. Außerdem widerspricht es dem Wesen der Waldorfschul-Pädagogik, wenn in solchen Augenblicksprüfungen über das Wesen des werdenden Menschen ent­schieden werden soll.

Nur diese Maturitätsprüfung eröffnet uns jedoch den Zugang zum heutigen Hochschulwesen. Aus allem, was man von den gegenwärtigen Hochschulen hört, geht hetvor, daß dort nicht mehr jene Wissenschaft gelehrt wird, die lebendig den ganzen Menschen erfaßt; sie ist nur ein abstraktes, haltloses Wissen, das immer mehr in den Dienst wirtschaftlicher Interessen gestellt wird. Die Zeitverhältnisse beweisen, daß aus jenen Anstalten nicht mehr jene geistigen Führer hervorzuge­hen vermochten, die das deutsche Volk und die ganze Menschheit in der Gegen­wart brauchen.

Darum bedarf es gerade heute solcher Hochschulen, die den im Menschen schlummernden Anlagen voll zur Entfaltung verhelfen und nicht in äußerlicher Weise dem Fachstudium und der bloßen Berufsausbildung dienen. Das, was mit der Waldorfschul-Erziehung angestrebt wird, muß auch darüber hinaus für die Hochschulen gelten, sollen die in der Waldorfschule gelegten Keime sich auch weiterhin frei entfalten können.

Die Waldorfschüler sehen in dieser Lage nur einen Ausweg: Es muß ein freies Hochschulwesen angestrebt werden. In einer freien Hochschule muß aus anthro­posophischem Geiste heraus seine Fortsetzung finden, was mit der Waldorfschul­Erziehung begonnen wurde. Wir Waldorfschüler hoffen, daß die anthroposophi­sche Bewegung das, was aus ihr heraus in der Waldorfschule entstanden ist, weiterführen wird und dem Bedürfnis nach einem freien Hochschulwesen gerecht werden wird. Wir hoffen, daß diese Idee das liebevolle Verständnis und die kraftvolle Unterstützung finden wird, die nötig ist, damit die Kräfte, die durch die Waldorfschule zur Geltung gebracht werden können, sich später auch kraftvoll auswirken und zur Geltung kommen da, wo sie gebraucht werden.

Hier spricht die Sorge desjenigen, was wir bei den Jüngsten sehen, bei den Knaben und Mädchen, die unserer Bewegung nahestehen. Daraus ergibt sich die Frage: Wie stellt sich die eventuelle Leitung einer Anthroposophischen Gesellschaft zu den wichtigsten Zukunfts­fragen? Wie denkt sie darüber? - Selbstverständlich können die Dinge

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nicht von heute auf morgen gemacht werden. Aber wie wird weiter gedacht über die Dinge, seitdem nach dem Aufstellen des Programms des Hochschulbundes überhaupt nicht mehr durchgreifend gedacht worden ist? Also die Frage ist weiter zu behandeln: Wie denkt man in der Anthroposophischen Gesellschaft, so in Zukunft zu wirken, daß wirklich an die Zukunft gedacht wird?

Dieses Nichtdenken an die Zukunft drückt sich sehr stark aus. Wir haben eine Reihe von Kongressen gehabt, die sind in sich glänzend verlaufen. Gerade bei den Kongressen war es so, daß Ausgezeichnetes von den Intelligenzen innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft geleistet worden ist. Hat man sich dann umgesehen innerhalb eines weiteren Horizontes über die Auswirkung eines solchen Kongresses, so hat man erfahren: Ja, das ist sehr schön, was da vorgebracht worden ist, aber die Anthroposophen sind so, daß es uns gar nicht einfällt, ihnen nahetreten zu wollen. - Das ist etwas, was eigentlich in Anknüp­fung an jeden Kongreß erfahren werden mußte. Das ist etwas, was ich kleiden möchte in den Satz: Vieles ist - gerade von den führenden Persönlichkeiten - durch den Fanatismus und durch die Engherzig­keiten, die da walteten, dazu beigetragen worden, Leute abzustoßen, deren Mitarbeit wir sehr nötig hätten!

Das ging einfach aus gewissen Dingen hervor, die in der Unum­gänglichkeit lagen. Man muß da sehr stark auf Gefühlsmomente hin­weisen : Es war keine Neigung vorhanden, sich mit der Welt auseinan­derzusetzen. Und auseinandersetzen muß man sich mit der Welt, wenn man ihre Mitarbeit, nicht ihre Gegnerschaft haben will. Das zeigte sich dann sehr stark in der realen Folge. Ich bitte Sie nur zu berücksichtigen, daß es immer schwerer wird, Waldorfschullehrer zu finden. Warum? Weil die Einkapselung System geworden ist. Und nachdem die Zahl derjenigen erschöpft ist, die noch in den besseren Zeiten der Anthroposophischen Gesellschaft sich in diese hineinge­funden haben und diese Persönlichkeiten in die in Frage kommenden Posten hineingekommen sind, ist es nicht möglich, daß wirklich neue Menschen sich hineinfinden. Gerade wenn man auf solche Systeme stößt, wie es vorhanden war im «Bund für Dreigliederung», dann ist es handgreiflich, daß Persönlichkeiten, die gute Mitarbeiter werden könn­ten, wenn sie auf eine menschliche Weise die Anthroposophie kennen­lernten, sich zunächst einfach - nicht durch die Anthroposophie, sondern durch die Behandlung, die sie erfahren- abgestoßen fühlen.

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Diese Beziehungen müssen in der Spezialdebatte geregelt werden, denn hier liegen die Aufgaben für die Zukunft. Die Aufgaben liegen vielfach in einer Umänderung des ganzen Taktes, der in der Gesell­schaft herrscht. Die Aufgaben liegen darin, daß es nicht darauf an­kommt zu sagen: Die Stuttgarter haben keine Zeit. - Es werden schon die Freunde nicht verlangen, daß mit jedem einzelnen Stunden zuge­bracht werden; aber was in den Minuten geschieht, das ist es, worauf es ankommt und was so vielfach dazu geführt hat, daß einem das Echo von draußen entgegentönte: Ja, wenn man nun doch einmal nach Stuttgart kommt, so verschlägt es einem die Rede! Und wenn man dann wieder weggegangen ist, so verschlägt es einem den Atem! - Ich kleide das in etwas radikale Ausdrücke, aber wir sind ja aufgefordert worden, «frisch von der Leber weg» zu sagen, was vorgebracht wer­den müßte.

Das sind die Dinge, über die gesprochen werden muß von dem abtretenden oder von dem wieder hinzutretenden Zentralvorstand, Dinge, über die nicht geschwiegen werden darf. Denn fragen Sie:

Wodurch sind die Zweige eingeschlafen? -, so erhalten Sie die Ant­worten, daß der Vorstand nicht einmal während der zwei Jahre Mittei­lungen hinausgesandt hat. Ich will keine Kritik üben, es ist nur termi­nologisch gemeint. Aber indem auch von seiten der Stuttgarter diese Dinge in ihrem Lichte erörtert werden, kann dasjenige entstehen, was entstehen muß und was die Gesellschaft weiterführen kann. Was sie weiterführen kann, ist allein der Wille dazu. Der Wille der Mitglieder muß aber in richtiger Weise mit dem Willen der Leitung zusammenge­hen können. Wenn das nicht der Fall ist, muß wenigstens herauskom­men, warum das nicht der Fall ist; dann wird sich schon zeigen, wie der Sache abzuhelfen ist.

Also es handelt sich nicht darum, daß wir über ganz Allgemeines sprechen, sondern daß wir aus der Erkenntnis der Mangelhaftigkeiten fruchtbare Ideen finden für die Fortführung der Anthroposophischen Gesellschaft. - Die Behandlung der einzelnen Fragen bitte ich doch unter diesen Gesichtspunkt zu stellen; dann wird die Diskussion fruchtbar werden; auch wenn nur fünf Minuten von jedem geredet wird.

Ich möchte dann selbst in meinen zwei Vorträgen gerade über Angelegenheiten des anthroposophischen Lebens sprechen, wie sich die Dinge mir aus den Verhältnissen heraus ergeben.

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26. Februar (in der Nachmittagsversammlung)

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Herr Leinhas gibt bekannt, daß vorgesehen ist, daß über die in Betracht kommen­den Punkte am Nachmittage gesprochen werden soll, und er macht den Vorschlag, im Sinne der Anregungen Dr. Steiners jetzt weitere Anregungen zu geben.

Herr Dr. Carl Unger, Stuttgart, will im Zusammenhang mit dem, was Herr Dr. Steiner gesagt hat, einiges vorbringen, was mit den Antezedenzien zu tun hat. Aus einer Rückschau ergibt sich vor allem, daß auch viele Stuttgarter und gerade diejenigen, die ursprünglich Träger der anthroposophischen Arbeit in Stuttgart waren, furchtbar gelitten haben unter dem, was man das Stuttgarter System genannt hat. In dem Maße, wie hier die Begründungen vollzogen worden sind, wurden von auswärts viele Persönlichkeiten zugezogen, die Mitarbeiter werden sollten, um die Unternehmungen vorwärts zu bringen. Dadurch wurde man aber selbst abhängig von dem, was man heraufgerufen hatte. Die Hierherberufenen wurden nun auch zur Mitarbeit im anthroposophischen Leben geworben, damit sie die Verantwortung tragen helfen. Aber es war eine Zeit, wo man kein Interesse finden konnte für die Angelegenheiten der Anthroposophischen Gesellschaft. Es mag daran gelegen haben, daß man selbst nicht imstande war, dieses Interesse allgemein lebendig zu erhalten. Sodann wies der Redner darauf hin, daß er sich veranlaßt sah, sich zurückzustellen, da er keine Möglichkeit sah, das Anthroposo­phische in der Weise weiterzupfiegen, wie es gerade in Stuttgart durch fünfzehn Jahre hindurch im Mittelpunkt stand. Mit den Begründungen sind die Aufgaben der Gesellschaft gewachsen. Bei der Einfügung der Unternehmungen in die Ge­sellschaft sind sicher Fehler gemacht worden, insbesondere fehlte es an der Ver­antwortlichkeit der anthroposophischen Leitung gegenüber diesen Gründungen. Der Sprecher wies darauf hin, wie er sich selbst gerade in wichtigsten Angelegen­heiten zur Inaktivität verdammt fühlte, dadurch, daß er kein Ohr mehr fand für das, was aus der alten Verbundenheit mit der Gesellschaft vielleicht hätte zur Geltung kommen sollen.

Herr Ernst Uehli, Stuttgart, schilderte, wie er nach Stuttgart berufen wurde im Jahre 1919 als Redakteur der Zeitung, und wie er dann durch das Nichtfunktionie-ren der Leitung des «Bundes für Dreigliederung« mit der Leitung dieses Bundes betraut wurde, als dieser schon bureaukratisch geworden war. Er gibt zu, daß es ihm nicht gelungen ist, den Bund aus dem Sumpf, in den er geraten war, herauszu­führen. Als dann die Teilnahme an der Redaktion der «Drei« und die Arbeit des Zentralvorstandes dazukam, sei ihm die Last zu schwer geworden. Er hätte Aufgaben auf sich genommen, denen er nicht gewachsen war. Nun wolle er versuchen, sich aus der Isolierung herauszuziehen. Er habe sich daher vom Zen­tralvorstand zurückgezogen, um nicht mehr fortzufahren das zu tun, was er nicht könne, sondern zu tun, was er könne. Er kenne seine Fehler im Verkehr mit den Menschen, werde aber nun suchen, seine Arbeit als freier Mensch hineinzustellen in die Entwickelung der Gesellschaft.

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Herr Rektor Moritz Bartsch, Breslau, sprach nun aus, was die Zweige ihrerseits unterlassen haben zu tun. Die Autonomie der Zweige, von der Dr. Steiner gesprochen hat, sei zu wenig beachtet worden. Im Osten wurde man weniger berührt von dem Stuttgarter Bureaukratismus. Die Selbständigkeit der Persön­lichkeiten und der Zweige beruhe auf dem Geist der «Philosophie der Freiheit«. Bei der inneren Entwickelung sei immer die Gefahr des Subjektivismus. Es sei manchmal wie in der Dorfkirche, wenn derjenige, der gemeint ist, sich darüber freut, daß ein anderer etwas abgekriegt habe.

Herr Andreas Körner, Nürnberg: Man spricht zuviel von der Neugestaltung der Anthroposophischen Gesellschaft, aber zu wenig vom Entwurf der Grundsätze. Davon scheint wenig eingefiossen zu sein. Es fehlt an Interesse für das Individuelle im andern Menschen. Wir kennen den Vorstand aus Vorträgen und Büchern, aber der Vorstand muß auch die Mitglieder kennen. Dr. Steiner sagte einmal, er denke jeden Tag an jedes Waldorfschulkind, bei uns sollte etwas Ähnliches geschehen.

Herr Dr. Eugen Kolisko, Stuttgart: Es kommt nicht darauf an, daß der Zentralvor­stand sich entschuldigt, sondern darauf, daß im Sinne wie Dr. Steiner angedeutet hat, fortgefahren wird, die konkreten Verhältnisse zu schildern, die zum Stuttgar­ter System geführt haben. Der Mangel an Aufklärung ergibt sich besonders bei der Angelegenheit der religiösen Erneuerung.

Herr Uehli war zu den sämtlichen Theologenkursen und zu der Begründung der Bewegung für religiöse Erneuerung zugezogen worden. Aber es fehlte ihm völlig das Bewußtsein, daß er die Gesellschaft über die Bewegung zur religiösen Erneuerung aufklären müsse. Sogleich hätte bei der Rückkehr von Herrn Uehli aus Dornach der Zentralvorstand sich beraten, Mitteilungen hätten sogleich statt im Januar herausgehen und überall hätte die Mitgliedschaft aufgeklärt werden müssen. Es war eben eine ganz allgemeine Erscheinung, daß kein Bewußtsein davon vorhanden war, daß man für die Anthroposophische Gesellschaft etwas zu tun habe. Ähnlich war es zur Zeit der Dreigliederungsbewegung gewesen. Da war eine Zeit, wo es wie eine Art Parole war, daß es jetzt Dreigliederung gelte und nicht mehr Anthroposophie. Wir müssen versuchen zu verstehen, wie psycholo­gisch so etwas wie das Zusammenbrechen Herrn Uehlis unter der Last der Arbeit und die Inaktivität Dr. Ungers zu verstehen ist. Zu den für das «Stuttgarter System« symptomatischen Dingen gehört auch, wieviel durch Briefe, die von Stuttgart ausgingen, usw. von allen Seiten gesündigt worden ist. Wir müssen solche Dinge, die geschehen sind, konkret aussprechen. Wir werden nur weiter­kommen, wenn wir das Negative hinstellen und das Positive tun.

Der Vorsitzende, Herr Emil Leinhas, kündigt an, daß die von den Einberufern der Versammlung vorbereiteten Referate nun ablaufen sollen.

Dagegen erhebt sich allgemeiner Widerspruch. Es kommt zu einer Geschäftsord­nungsdebatte, in welcher die Redner ausführen, man wolle die Referate jetzt nicht hören, denn damit vergehe die Zeit, viele der Freunde müßten wieder abreisen,

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ohne vielleicht zu Wort zu kommen, die Generaldiskussion müsse fortgesetzt werden.

Herr Ernst Lehrs, Jena, führt aus, man müsse den Einzelreferaten das Menschlich­Anthroposophische vorausschicken. Dr. Rittelmeyer sei hierzu der Geeignetste.

Herr Wilhelm Rath, Berlin, Herr Walter Mayen, Breslau, stimmen dem zu.

Herr Dr. Friedrich Rittelmeyer, Stuttgart, sagt, es sei nötig, daß ein Gesamtbild gegeben werde, aber er möchte es selbst nicht tun.

Herr Dr. Carl Unger, Stuttgart, weist auf die Notwendigkeit der Referate über die einzelnen Institutionen hin, weil gerade aus ihrer Begründung die Schwierigkeiten gekommen sind.

Herr Dr. Walter Johannes Stein, Stuttgart, bittet die Versammlung, die Referate anzuhören. Würde man sie nicht anhören, so sei all die Mühe der Vorbereitung umsonst, auch die Mühe, die sich Herr Dr. Steiner gegeben habe mit denen, die nach vieler schmerzlicher Selbsterkenntnis, zu der sie Herr Dr. Steiner geführt hat, die Prüfung der hiesigen Methoden vorgenommen haben. In den Referaten werde im einzelnen herauskommen, wo die Fehler gemacht wurden, und nur auf Grund dieser Einsicht könne es besser werden. Seiner Überzeugung nach sei niemand im Saal anwesend, mit Ausnahme Herrn Dr. Steiners, der das Wort dazu aber wohl nicht ergreifen würde, der imstande wäre, ein Gesamtreferat zu geben.

Herr Dr. Rudolf Stein er weist darauf hin, daß man das Praktische ins Auge fassen müsse, sonst käme man nicht weiter. Mit Geschäftsord­nungsdebatten käme man nicht weiter. Daher stelle er jetzt auch einen Antrag zur Geschäftsordnung, nämlich den :

Herr Leinhas möge das Neuner-Komitee fragen, wer das allge­meine Referat halten wolle. Finde sich jemand, so sei das gut. Wenn nicht, so sei das auch eine Manifestation. In der Vorbereitung seien jedenfalls nur einzelne Referate herausgekommen, und Dr. Stein habe ehrlich gesagt, wie es damit stehe.

Da niemand sich meldet, bietet sich schließlich Dr. Unger an, das Gesamtreferat zu halten. Der Vorsitzende stellt fest, daß die Versammlung dieses Referat von Dr. Unger nicht wünscht.

Die Versammlung erklärt sich nun bereit, die Einzelreferate zu hören. Es folgt daher das vorgesehene Referate über Dreigliederung.

Herr Dr. Carl Unger, Stuttgart: Mit der Bewegung zur Dreigliederung des sozialen Organismus stehen wir am Ausgangspunkt der Schwierigkeiten, die heraufgekommen sind. Diese Bewegung wandte sich voll an die Außenwelt. Durch ihr Mißlingen hat sie die Anthroposophische Gesellschaft am meisten

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geschädigt und in ihrer Arbeit gestört. Es handelt sich nun bei diesen Referaten darum, das Verhältnis der Anthroposoplüschen Gesellschaft als Gesellschaft zu den Institutionen, welche seit 1919 in ihrer Mitte Platz gegriffen haben, zu bestimmen. Da kann darauf verwiesen werden, daß es die Anthroposophie immer in ihren geistigen Impulsen trug, für das praktische Leben wirksam zu werden. Es hat dies seinen Ausdruck gefunden im Entwurf der Grundsätze, den ja Herr Dr. Steiner verfaßt hat. Sodann darf auf die Aufsätze von Dr. Steiner in «Luzifer-Gnosis» verwiesen werden, die 1905 über die soziale Frage erschienen sind. Herrn Molt, dessen Name ja mit der Dreigliederungsbewegung verbunden ist, wurde vom Referenten etwa 1908 der Rat gegeben, sich mit diesen Aufsätzen zu beschäf­tigen, die überhaupt kaum beachtet worden waren. Dr. Steiner verwies in seinem Wiener Zyklus 1914 auf die soziale Frage als Karzinom im gegenwärtigen Leben, und die Herbstvorträge von 1918 in Dornach wirkten als starker Impuls, so daß nach dem Zusammenbruch der deutschen Verhältnisse in Stuttgart der Versuch gemacht wurde, aus anthroposophischer Arbeit heraus in das Chaos einzugreifen. Dies führte später dazu, daß eine Abordnung von Stuttgart von Herrn Dr. Steiner Rat und Hilfe erbat. Es soll nun keine geschichtliche Darstellung gegeben werden, aber es ist zu beachten, daß diese Bewegung aus anthroposophischem Enthusias­mus unternommen wurde. Die rasche Aufnahme der Stuttgarter Initiative bei den anthroposophischen Freunden weist auf die angesammelte anthroposophische Energie hin, die zur Auslösung kam. Der anfängliche Erfolg war dem unermüdli­chen Wirken Dr. Steiners zu danken. Als die «Kernpunkte» erschienen, konnte auch in diesem Werk der anthroposophische Hintergrund wohl erkannt werden. Und es wurde hier oft versucht, dies zur Geltung zu bringen. Die Bewegung brach plötzlich zusammen, ließ aber eine ungeheure Gegnerschaft zurück, die sich nun auf die Anthroposophie und Dr. Steiner stürzte. Nun hätte das Anthroposophi­sche sich rein herausgliedern sollen, wozu schon der Kulturratsaufruf ein Auftakt hätte werden können. Aber die Arbeit der Anthroposophischen Gesellschaft war weitgehend zerstört worden. Die Zweige waren in Beschlag genommen durch die Dreigliederung. Die Agitation in der Öffentlichkeit hatte zu einer gewissen Ober­flächlichkeit geführt, die nun dem anthroposophischen Vortragswesen anhing.

Die Dreigliederungsbewegung ließ vieles zurück. Zunächst in gutem Sinne die Waldorfschule, die aus sozialem Impuls von Herrn Molt gegründet wurde, ferner den «Kommenden Tag«, der innerhalb seiner selbstgesetzten Grenzen ausgezeich­net arbeitet. Aber es hängen auch damit zusammen die verschiedenen wissenschaft­lichen Institute, das Klinisch-therapeutische Institut, die Zeitschriften und der «Bund für freies Geistesleben», über deren Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft besondere Referate berichten sollen. Für die Gesellschaft selbst gilt es nun, in ihrer Arbeit den Impuls des Sozialen im Inneren auszuwirken. Da kann er beitragen zur Entfaltung des ganzen Menschen. In der sozialen Forderung liegt etwas, was mit der Umgestaltung des ganzen Menschen zusammenhängt. Auch nach außen darf die Vertretung des Sozialen nicht versäumt werden. Das Beispiel dafür, wie dies geschehen kann, sind die Vorträge, die Dr. Steiner beim Wiener

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Kongreß gehalten hat. Die Frage des Sozialen darf bei der Konsolidierung der Gesellschaft nicht fehlen, wenn sie im rechten Sinn erfolgen soll.

Der Vorsitzende, Herr Leinbas, eröffnet nun die Diskussion:

Herr Emil Molt, Stuttgart, weist darauf hin, daß es für ihn in vieler Beziehung darauf ankommt, neu anzufangen. Großer Schaden wurde angerichtet durch Vergessen der Pflichten der Gesellschaft gegenüber infolge des Aufgehens im Alltäglichen und im Berufe. Er spricht über die Gründe der Lähmung seines Wollens, erklärt sich aber, um der Verantwortlichkeit gerecht zu werden, bereit. am Wiederaufbau mitzuwirken, und bittet, ihm dabei zu helfen.

Herr Karl Herdener, Schnaitheim, spricht von dem, was einen Proletarier drückt. Er sei von Anfang an bemüht gewesen, auch mit Bürgerlichen zusammenzuarbei­ten, und berichtet, wie er zur Bewegung gekommen sei. Hier hätte er gehört, es gäbe eine Arbeitsgruppe von Proletariern, das könne er nicht verstehen. In Hei­denheim habe man frei zusammengewirkt. Es werde immer von Gemeinschafts­bildung und Menschentum geredet, in beinahe schlagwoitartiger Form. Über Dreigliederung sei vom Unternehmerstandpunkt aus berichtet worden. Der Pro­letarier brauche die andere Seite. Das wisse der Anthroposoph am besten. Sodann spricht er über die Schule und von der Aufgabe, den Kindern, wenn sie die Schule verlassen, weiterzuhelfen. Wenn er in den Gewerkschaften darüber spreche, daß Liebe der Gedanke des Klassenkampfes sei, werde ihm immer entgegengehalten, daß die Aktionäre des «Kommenden Tages« Kapitalisten seien. Er erwähnt den Zeitungsartikel über die Zuchthausordnung der Waldorf-Astoria. Es müsse von der Anthroposophie aus etwas geschehen, was den Standpunkt des Proletariers berücksichtige, sonst könne er nicht mehr in der gleichen Weise für Anthroposo­phie eintreten, wenn er wieder zurückkehre. Es seien zuviel Doktoren zum Wort gekommen und kein Proletarier. Er wünscht, mit positiver Arbeit hier weggehen zu können.

Herr Adolf Arenson, Stuttgart, zur Sache: Im Zweig Stuttgart seien viele Proleta-rier, und wenn Herr Benzinger einen besonderen Zweig gegründet habe, müsse ihm dies freistehen. Im übrigen sei jetzt ein besonderer Abend für alle Mitglieder eingerichtet worden.

Herr Dr. Eugen Kolisko, Stuttgart: Bei der Arbeit des «Bundes für Dreigliede­rung« hat man es nicht verstanden, mit dem Proletariat so zu sprechen, daß es fühlte, daß ein volles Menschentum dahinterstand. Man hat nicht aus der Anthro­posophie heraus gesprochen. Die Industriellen hat man verärgert. Später sind Agitatoren ohne genügend liebevolle Arbeit und Vorbereitung der Redner hinaus-geschickt worden, so daß durch manchen Redner die Anthroposophie in Mißkre­dit gebracht worden ist. Damit hing es zusammen, daß bei der Vertretung der Dreigliederung in Oberschlesien trotz allem Enthusiasmus Fehler gemacht wor­den sind, welche dann dazu führten, daß die nationale Gegnerschaft entfesselt

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wurde. Mit dem Arbeitsmaterial des Bundes ist so verfahren worden, daß sogar ein unkorrigierter Vortrag Dr. Steiners bis in die Redaktion des «Hammer« (!) ge­langte. Der Vortrag Dr. Steiners vor den Arbeitern der Daimler-Werke ist wahllos versandt worden, ohne Rücksicht darauf, daß er aus einer besonderen Situation gehalten worden ist. Bei anthroposophischer Gesinnung wäre eine solche Behand­lung von Dr. Steiners Vorträgen unmöglich gewesen. Der Kulturratsaufruf ist liegengelassen worden, obwohl damit die wichtige Frage einer freien Hochschule verknüpft war. Da der «Bund für Dreigliederung« nicht mehr ezistiert, kann bei dieser Debatte nichts Positives vorgebracht werden, aber man kann an diesen Fällen zeigen, wie dieses alles bei richtiger anthroposophischer Gesinnung nicht möglich gewesen wäre und wie man jetzt nach außen Anthroposophie vertreten muß.

Herr Rektor Moritz Bartsch, Breslau, glaubt nicht, daß in Oberschlesien Fehler gemacht worden sind.

Herr Dr. Eugen Kolisko, Stuttgart, gibt noch einige Erklärungen dazu.

Herr Dr. Herbert Hahn, Stuttgart: Man muß die Sprache des Proletariats spre­chen, wenn man zu Proletariern spricht. Als Dr. Steiner in der Waldorf-Astoria­Fabrik einen Vortrag hielt, war das Anthroposophische so lebendig, wie es der Proletarier braucht. Das hatten die anderen Redner nicht, und als der Rückschlag erfolgte, wirkte die Art zu sprechen auf die anthroposophische Sache zurück.

Herr Dr. Hans Büchen bach er, Stuttgart: Herr Dr. Unger hat davon gesprochen, wie die Dreigliederungsbewegung hervorgegangen ist aus den Grundimpulsen der Geisteswissenschaft. Es wird ja nicht nötig sein, weiter gerade davon zu reden, sondern man sollte darüber sprechen, ob das Hinaustragen der Dreigliederungs­bewegung in anthroposophischer Weise geschehen ist. Wenn man wirklich An­throposoph ist, so kommt man zu einem gründlicheren Menschenverständnis, zu einem Verstehen der Zeitströmungen. Dies war bei der Dreigliederungsarbeit nicht vorhanden. Als während der Kämpfe um die Abstimmung in Oberschlesien von vielen anthroposophischen Rednern auch in Deutschland die Dreigliederung als friedliche, einzig gesunde Lösung der Frage hingestellt wurde, tauchte in der Presse die Anklage des Landesverrates wegen dieser Stellungnahme auf. Unsere Redner konnten überall in den Versammlungen mit diesen verleumderischen Anklagen fertig werden. Sie konnten ja schließlich immer darauf hinweisen, daß die Dreigliederer, wenn es doch zur Abstimmung käme, natürlich für Deutsch­land stimmen würden und daß dies auch Herr Dr. Steiner klar ausgesprochen habe. Von Stuttgart aus ließ man eine recht stolze Erklärung hinausgehen, die aber gerade diesen Punkt überhaupt nicht berührte. Man mußte dies dann nachholen, aber man mußte sich nun eben sagen lassen, daß dieser Standpunkt erst nachträg­lich auf Grund der Angriffe eingenommen worden sei, und das Odium des Landesverrates blieb so doch auf uns sitzen. Es ist das ein konkretes Beispiel dafür, wie gerade die Dreigliederung nach außen so vertreten wurde, daß Menschenver­ständnis, wie es Anthroposophie geben kann, sehr stark fehlte.

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Herr Fred Geuter, Stuttgart: Das sogenannte «Stuttgarter System« hat seinen Ursprung darin, daß nicht verstanden wurde, gerade das zu vermeiden, gegen das wir uns in allen Reden und Vorträgen kritisierend wandten - gegen die Denkme­thoden und Willensimpulse des «Westens». Der Bund bekam zum Beispiel unter anderem die Aufgabe gestellt, für eine «ehrliche Diplomatie» zu wirken. Wer diese Entwickelung dieser Institution zu verfolgen vermag - mußte ein Gegenteil feststellen. Was zunächst getan werden muß, ist, daß wir die Impulse, die wir entgegennehmen, in unseren Herzen verwirklichen, damit wir auch in der Tat

handeln, wie wir reden. Sonst entstehen Seelenspannungen und Konflikte, die Unzufriedenheit, Krisen und nur unnötige Gegnerschaft hervorrufen.

HerrJohannes Thielemann, Meissen, spricht von ahrimanischen Wirkungen im Ätherleib der Gesellschaft, die überwunden werden müssen.

Herr Max Benzin ger, Stuttgart, weist den Vorwurf von Herrn Herdener zurück. Er habe einen Zweig begründet, weil er sehen wollte, ob man ein Doktor oder so etwas Ähnliches sein müsse, um einen Zweig zu leiten, oder ob ein Proletarier das auch könne. Außerdem wolle er das fortsetzen, was in der Dreigliederungszeit begonnen war mit den Proletariern. Der Redner rügt das vielfach falsche Verhal­ten der Anthroposophen gegenüber den Proletariern. Zum Beispiel gegen Dienst­boten. Zwischen Tun und Sagen sei ein Abgrund. Er schildert einige Erlebnisse aus der Dreigliederungsbewegung, deren Ausschuß er angehörte. Die Proletarier haben Dr. Steiner verstanden, aber nicht diejenigen, die sonst darüber sprachen, deren Taten nicht mit ihren Worten im Einklang standen. Aus der Champigny-straße berichtet er, es sei einem Angestellten in der Frage der wöchentlichen Auszahlung der Gehälter gesagt worden, er sinke ja auf die Stufe der Arbeiter herunter. Der Arbeiter sei feinfühlig, weil er fühle, ob der Mensch das auch tut, was er spricht. Er selbst sei als Hetzer verschrien worden.

Herr Wilhelm Conrad, Köln, stellt den Antrag, alle Referate hintereinander anzuhören.

Herr Dr. Rudolf Steiner: Ich meine, man sollte wirklich darauf Rück­sicht nehmen, daß wir zu einem fruchtbaren Ende kommen. Es ist vielleicht tatsächlich so, obgleich das nicht gründlich genug betont worden ist, daß von diesen drei Tagen das Schicksal der Gesellschaft abhängt. Kommen wir in diesen drei Tagen nicht zu einem Ergebnis, so bleibt nichts anderes übrig, als daß ich mich selbst an jedes einzelne Mitglied der Gesellschaft wende, daß das ausgeführt wird. Also, soll aus der Gesellschaft eine Reorganisation stattfinden, so muß das in diesen drei Tagen geschehen. Wir sind in einer Anthroposophischen Gesellschaft, da hängt alles zusammen. Sie werden sich am besten ein Urteil bilden können ünd auch über die Dreigliederung reden können,

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wenn Sie alles gehört haben. Es greift alles ineinander. Deshalb ist es am praktischsten, wenn Sie die Referate ablaufen ließen und sich ein Gesamtbild bilden, dann kann eine fruchtbare Diskussion herauskom­men, während so jeder Redner versucht wird, über jede Einzelheit zu sprechen, was zur Unfrüchtbarkeit führt. Herrn Conrads Antrag ist praktisch, daß wir so schnell wie möglich die Referate ablaufen lassen, damit wir wissen, was in der Gesamtheit vorgegangen ist in Stuttgart. Dann kann fruchtbar alles besprochen werden.

Dem Antrag Conrad wird stattgegeben.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart, nimmt die Reihe der Referate durch einen Bericht über den « Kommenden Tag« auf. Er schildert die Entstehung der Aktiengesell­schaft als den Versuch, einen Keimpunkt eines assoziativen Wirtschaftslebens zu bilden durch einen Zusammenschluß von Bank, Industrie und Landwirtschaft mit wirtschaftlich- geistigen Unternehmungen. Die Durchführung der Idee im großen scheiterte an dem mangelnden Verständnis, das ihr von maßgebenden Kreisen des Wirtschaftslebens entgegengebracht wurde. Im Frühjahr 1922 mußte, um nicht in Unwahrhaftigkeit zu verfallen, eine «Programmbegrenzüng» proklamiert wer­den. Im Rahmen des unter den gegenwärtigen Verhältnissen möglichen Pro­gramms erfüllt der «Kommende Tag» seine Aufgaben und erweist sich als ein Unternehmen von wirtschaftlicher Tragfähigkeit. Herr Leinhas verschweigt nicht die Kinderkrankheiten, die das Unternehmen, das in einer recht schwierigen Zeit begründet worden ist, durchmachen mußte. Er weist ferner auf die Schwierigkei­ten hin, die im menschlichen Zusammenarbeiten vielfach aufgetaucht sind, die aber immer mehr überwunden werden, je mehr es gelingt, die wirtschaftlichen Aufgaben des Unternehmens herauszuarbeiten und sie nicht mit den Angelegen­heiten der Anthroposophischen Gesellschaft zu vermengen. Herr Leinhas bittet die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft, sich ihrer Aufgaben gegen­über dem «Kommenden Tag» und seinen einzelnen Unternehmungen, insbeson­dere dem Verlag und dem Klinisch-therapeutischen Institut bewußt zu sein und diese durch lebendiges Interesse für sie und ihre Produkte tatkräftig zu unterstüt­zen. Allen aus dem Schoße der Anthroposophischen Gesellschaft hervorgegange­nen Unternehmungen gegenüber sollte der Standpunkt der Mitglieder der An­throposophischen Gesellschaft immer mehr der werden, daß sie sich fragen : Was kann ich tun für diese Unternehmungen, wie kann ich mich für sie interessieren? Nicht: Wie kann ich mich in die Angelegenheiten derjenigen einmischen, die für die Führung dieser Unternehmungen verantwortlich sind. Überhaupt müßte immer mehr in unserer Gesellschaft der Grundsatz zur Geltung kommen : Was kann ich tun? Nicht der: Was sollen die anderen tun?

Montag, den 26. Februar 1923, abends Fräulein Dr. Caroline von Heydebrand, Stuttgart

#G259-1991-SE392 Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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Montag, den 26. Februar 1923, abends

Fräulein Dr. Caroline von Heydebrand, Stuttgart: Referat über

Die Freie Waldorfschule und ihr Verhältnis

zur Anthroposophischen Gesellschaft

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Die Freie Waldorfschule wurde begründet von Herrn Emil Molt aus der Einsicht in die sozialen Notwendigkeiten unserer Zeit, für die die Ideen der Dreigliede­rung des sozialen Organismus die Augen öffnen konnten. Alle Menschen, gleichgültig, aus welchen Gesellschaftskreisen, sollten die Erziehung genießen, die den Anforderungen einer wahren Menschenerkenntnis entspricht. So wurde die Waldorfschule die erste Einheitsschule in Deutschland (1919). In ihr sollten für Unterricht und Erziehung nur geistig-pädagogische Gesichtspunkte maßge­bend sein. Daher entstand die Waldorfschule als freie Schule, die sich nur dem Geistesleben verantwortlich fühlen wollte. Ihre pädagogischen Grundlagen konnte ihr Begründer, Herr Molt, nur bei der Anthroposophie suchen, denn in den Werken Dr. Rudolf Steiners ist eine Menschenerkenntnis gegeben, aus der sachgemäße Erziehungsimpulse hervorwachsen konnten. Es ist in ihnen eine Geschichte der Seelenentwickelung der Menschheit gegeben, die zum Verständ­nis der Notwendigkeit einer im echten Sinne zeitgemäßen Erziehungskunst für die Gegenwart und die nächste Zukunft führen konnte.

Herr Molt bat Dr. Rudolf Steiner, die pädagogische Leitung der Waldorf­schule in die Hand zu nehmen. Dr. Rudolf Steiner ging auf seine Bitte ein. Die Lehrer der Waldorfschule empfinden die Verantwortung, die ihnen aus der Tatsa­che erwächst, daß der Begründer und Führer der anthroposophischen Bewegung pädagogischer Leiter der Schule ist. Sie empfangen die reiche Fülle geisteswissen­schaftlich-pädagogischer Erkenntnisse in Vorträgen und einzelnen Ratschlägen in dem tiefen Gefühl, daß sie dafür der anthroposophischen Bewegung, ja der ganzen Menschheit verantwortlich sind. Das innerste Herz der Waldorfschul-Pädagogik sind die eine anthroposophische Menschenerkenntnis vermittelnden pädagogi­schen Lehrkurse Dr. Rudolf Steiners. Aus dieser anthroposophischen Menschen-kunde entwickelte er eine Methodik und Didaktik als Erziehungskunst. Vorur­teilslose Menschenherzen überzeugend, so steht diese Erziehungskunst in der Welt, als Kunstwerk wirkend, wie einst das Goetheanum und wie die Eurythmie. So hat Anthroposophie aus ihren Urgründen eine Schul- und Erziehungsbewe­gung hervorgebracht, die ihrer Anlage nach eine weltumfassende Bewegung wer­den könnte. Leider hat sich die Idee des «Weltschulvereins», abgesehen von zarten Ansätzen, noch nicht verwirklichen lassen. In weiten Kreisen über Mitteleuropa hinaus wird anerkannt, daß die Waldorfschule nicht die Weltanschauungsschule einer sektiererischen Bewegung ist, sondern daß sie eine allgemein-pädagogische Bedeutung hat. Die Waldorfschul-Pädagogik hat in vielen nichtanthroposophi­schen Kreisen Beachtung gefunden. Schweizer Lehrer ließen sich von Dr. Rudolf Steiner in Basel pädagogische Vorträge halten, an Weihnachten 1921/22 hielt er

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englischen Lehrern am Goetheanum einen Lehrerkurs, der in der Verarbeitung Albert Steffens erschienen und bereits in die schwedische Sprache übersetzt ist. Während der Konferenz in Oxford im August 1922 über «Geistige Werte in Erziehung und sozialem Leben« hielt Dr. Steiner zahlreichen englischen Lehrern zwölf Vorträge über Erziehung und Unterricht. In den nordischen Ländern wird die Waldorfschul-Pädagogik besonders lebhaft studiert. Viele Gäste besuchen die Waldorfschule, auch Abgesandte fremder Regierungen, so hat zum Beispiel vor kurzem ein Professor aus Japan mehrere Tage voller Anteilnahme die Schule besucht. Anfang Januar haben siebzehn englische Lehrer an ihr geweilt und sich mit wahrer Begeisterung in sie eingelebt. So sollte die bedeutsame Tatsache lebendig im Bewußtsein jedes Mitglieds der Anthroposophischen Gesellschaft vorhanden sein, daß die anthroposophische Bewegung eine Pädagogik als Kunst in die Wek gestellt hat, die als solche nicht von einer Weltanschauung abhängig ist, sondern allgemein menschlich ist. Darum sollte die Waldorfschul-Pädagogik nicht als etwas empfunden werden, was enge eigene Bedürfnisse oder pädagogi­sche Sehnsuchten einiger Eltern, Kinder und Lehrer befriedigt, sondern als etwas, das seine Aufgabe nur erfüllt, wenn es diese Aufgabe weltgeschichtlich erfaßt und sich selbstlos, als künstlerisches und heilendes Element in die Niedergangserschei­nungen unserer Zeit hineinstellt. Den Deutschen ist die Pflege ihres Geisteslebens als ihr letztes kostbarstes Gut geblieben, innerhalb des deutschen Geisteslebens haben immer Erziehungsfragen an erster Stelle gestanden. Den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft ist die Waldorfschule und ihre Idee als eine Menschheitssache warm ans Herz gelegt. Sie steht als Modellschule, als Muster-schule da und sucht den Gedanken der freien Pädagogik zu verwirklichen. Als solche Musterschule muß sie Angelegenheit der ganzen Anthroposophischen Gesellschaft sein. Sie bedarf der tatkräftigen Unterstützung, des liebevollen Ver­ständnisses, der warmen Anteilnahme jedes einzelnen Mitgliedes in jeder Bezie­hung. Als ein wunderschönes Geschenk aus Geisteswelten Menschenherzen und

-händen anvertraut, so empfinden wir Mitglieder der Anthroposophischen Ge­sellschaft diese Erziehungskunst und diese Schule, die zunächst als einzige Mu­sterschule in umfassender Weise unter der liebevollen Leitung Dr. Rudolf Steiners anthroposophische Erziehungsideale zum Segen der Menschheit pflegt. Sie bedarf einer starken Anthroposophischen Gesellschaft, die das uns allen anvertaute Gut hüten, stützen und kräftigen kann!

Herr Dr. Otto Palmer, Stuttgart: Referat über

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Das Klinisch-therapeutische Institut «Der Kommende Tag»

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An die Spitze meines Referates, welches ich über das Klinisch-therapeutische Institut vor dieser Delegiertenversammlung zu erstatten habe, möchte ich zwei Fragen stellen, welche ich während meiner Ausführungen selbst zu beantworten suche, und welche ich, falls sich eine Diskussion an meine Ausführungen anschlie­ßen sollte, Sie mit zu beantworten bitte.

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Die erste Frage lautet: Was verspricht die durch geisteswissenschaftliche For­schung inaugurierte Medizin nicht nur der Anthroposophischen Gesellschaft, sondern auch der gesamten Menschheit zu geben?

Zweitens: Was hat die Anthroposophische Gesellschaft ihrerseits zu tun, um der im Klinisch-therapeutischen Institut vertretenen, auf geisteswissenschaftli­cher Forschung beruhenden Behandlungs- und Heilweise in der Welt Geltung und Bedeutung zu verschaffen?

Beide Fragen sind nur dann in rechter Weise zu beantworten, wenn wir uns selbst darüber vollkommen klar sind, was uns durch die Geisteswissenschaft Dr. Steiners nach jeder Richtung hin geschenkt worden ist. Das mag paradox erschei­nen, jedoch glaube ich, daß sich viele Mitglieder der Anthroposophischen Gesell­schaft über die Bedeutung des uns übergebenen Geistesguts nicht klar sind, denn wären wir es, wie könnte es dann überhaupt zu dieser geradezu entsetzlichen Lauheit und Gleichgültigkeit kommen, welche im Grunde zu der Krisis geführt hat, in welcher wir uns zur Zeit befinden.

Wir haben es uns im Laufe der Zeit angewöhnt, die uns in so reichem Maße gebotene Geisteskost mit einer gewissen Selbstverständlichkeit hinzunehmen, und anstatt im Innersten der Seele aufgerüttelt zu werden und in uns die Kräfte zu entwickeln, die nun wiederum mit elementarer Gewalt nach außen wirken und sich in einem gewissen Enthusiasmus Luft machen sollten, legten wir uns auf das Ruhekissen und dachten gar nicht daran, das Empfangene so auszuwerten, wie es sein sollte.

Seit 1908 hat uns Dr. Steiner zum erstenmal in jenem Prager Kurs, welcher über «Okkulte Physiologie» handelt, eine geisteswissenschaftliche Erkenntnis vom Menschen gegeben, und in einer ganzen Reihe von Vorträgen, welche diesem Prager Kursus gefolgt sind, hat er ergänzende Bemerkungen über das Wesen des Menschen in dieser Richtung einfließen lassen. In anderen Vorträgen hat er uns die karmischen Zusammenhänge geschildert, welche sich von früheren Leben her in diesem Leben als Krankheiten auswirken.

1917 gab er uns in seinen «Seelenrätseln« die Physiologie des dreigliedrigen Menschen.

1920/21 führte er die Ärzte und Medizinstudierenden in längeren Kursen in die geisteswissenschaftliche Pathologie und Therapie ein - und im vorigen Oktober endlich ergänzte er diese Kurse durch Vorträge, welche er auf der Medizinischen Woche hier in Stuttgart hielt. Als eine Frucht der Vorträge in den Jahren 1920/21 ist entstanden das Klinisch-therapeutische Institut - und eine Fülle von Aufgaben erwuchs denjenigen, welche als Mitarbeiter an das Klinisch-therapeutische Insti­tut berufen wurden. Vor allem aber uns Ärzten war die Aufgabe gestellt worden, unter zwei- bis dreitausend Ärzten auf Grund des in den Kursen uns Gegebenen eine Bewegung hervorzurufen.

Um sich das Gewaltige, was durch das Wirken Dr. Steiners seit dem Jahre 1908 auf medizinischem Gebiet inauguriert worden ist, in rechter Weise vor Augen zu führen, braucht man nur einen Blick zu werfen auf die staatlich konzessionierte

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Schulmedizin und ihre Hilflosigkeit, speziell auf dem Gebiete der Therapie. Alles Große, was durch sie erforscht wurde, soll nicht nur restlos anerkannt werden, sondern es soll betont werden, daß wir uns in bezug auf wissenschaftliche For­schungsmethoden in keinen Gegensatz zu ihr setzen wollen. Über eines nur müssen wir uns klar sein: daß die gesamte medizinische Forschung über die Pathologie basiert ist auf dem Ausbau der pathologischen Anatomie, das heißt einer Kenntnis derjenigen Veränderungen, welche durch Krankheitsprozesse an den Organen zu Lebzeiten vor sich gegangen sind und nun auf dem Sektionstische als solche konstatiert werden. Bis zu einem gewissen Grade kann man die For­schungen auf diesem Gebiet als abgeschlossen betrachten und annehmen, daß mit den zur Zeit üblichen Untersuchungsmethoden nicht viel Neues mehr wird zutage gefördert werden. Nichtsdestoweniger lautete die Parole des Freiburger Anato­men Aschoff auf dem Naturforscherkongreß: «Gebt uns Leichen!» Als ob Lei­chen uns Aufschluß geben könnten über das Lebendige! Beziehungsweise über die im lebendigen Organismus verlaufenden Krankheitsprozesse!

Die Therapie ist bis auf wenige spezifische Mittel, wie Quecksilber, Chinin, Salizyl als eine Experimentaltherapie zu betrachten. Von einer wirklichen Ratio ist sicherlich bei den meisten Krankheiten nicht die Rede. Warum gibt es denn so viele Kurpfuscher, warum so viele Laienärzte neben der Schulmedizin? Doch sicherlich nur aus dem Grunde, weil die Menschen bei der Schulmedizin in vielen Fällen nicht das finden, was sie suchen.

Vergleicht man unsere Zeit mit einer weit zurückliegenden Epoche, etwa vom vierten bis fünften Jahrhundert v. Chr. bis zum fünfzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, wo unsere naturwissenschaftliche Forschung einsetzt, so wird man konstatieren können, daß man zu jener Zeit noch eine Ahnung hatte von dem Hereinwirken einer geistigen Welt und von einer auf gewissen Intuitionen und atavistischem Hellsehen beruhenden Therapie.

Interessant ist, daß jene Periode abschließt mit der Ermordung des Paracelsus, und daß kaum ein Jahrhundert später das berühmte Rembrandtsche Gemälde «Die Anatomie» gleichsam ein Symbol bildete für das Heraufziehen der naturwis­senschaftlichen Zeitepoche, in welcher wir noch mitten darinnen stehen.

Die Tat Dr. Steiners besteht darin, daß er das «Ignorabimus» («wir werden nicht wissen») Du Bois-Reymonds verwandelt hat in ein «Cognoscimus» (wir wissen). Wir können wissen, wenn wir durch Ausbildung unserer Seelenorgane schauend geworden, und sind wir selbst auch noch nicht schauend geworden, so ist es uns doch möglich, bei gutem Willen, das nachzudenken und denkerisch zu ergreifen, was Dr. Steiner uns an geisteswissenschaftlichen Forschungsresultaten gibt. Für uns Ärzte als Schüler Dr. Steiners handelt es sich nun nicht mehr da­rum, den physischen Leib allein in den Bereich unserer Forschungen zu ziehen, sondern mit den höheren Wesensgliedern des Menschen bei unserem Forschen zu rechnen.

Die Dreigliederung des Menschen in: Nerven-Sinnes-System, rhythmisches System und Stoffwechsel-Ghiedmaßen-System ist zur Grundlage einer neuen

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Physiologie zu machen. Bei den Krankheitsprozessen sind die Naturprozesse draußen in Betracht zu ziehen und in Parallele zu stellen. Kosmisch-planetarische Einflüsse einerseits, tellurische Einflüsse andererseits sind zu berücksichtigen.

Das bis dahin uns so einfach erscheinende Menschenwesen wird zu dem kompliziertesten Organismus, welcher in den soeben genannten Zusammenhän­gen allein verstanden und richtig beurteilt werden kann. Ferner finden wir im Mineral-, Pflanzen- und Tierreich eine Reihe von Prozessen, welche auch in irgendeiner Weise im Menschen selbst sich abspielen. Es würde zu weit führen, im Rahmen eines kurzen Referates weiter auf diese Prozesse einzugehen, nur soll gesagt werden, daß diese Prozesse Fingerzeige dafür geben, welche Mittel, aus irgendeinem dieser Reiche stammend, bei gewissen Krankheitsprozessen sinnge­mäß und rationell angewandt werden müssen. Es wird Aufgabe der Ärzte des Institutes sein, in einem Vademekum die Methode unserer Arbeit und Therapie darzulegen und dieses Vademekum zur Grundlage einer Werbearbeit unter den Ärzten zu machen. Freudigkeit zu unserer Arbeit werden wir nur dann bekom­men, wenn wir unseren Dienst an der Menschheit und unsere Arbeit im Laborato­rium auffassen als einen Gottesdienst im schönsten Sinne des Wortes.

Zu betonen ist, daß unsere Heilweise mehr und mehr zu einer individuellen werden soll. Es ist wohl der Mühe wert, die leidende Menschheit auf diese Heilweise aufmerksam zu machen und alle Kräfte daranzusetzen, derselben in der Welt Geltung zu verschaffen.

Und damit komme ich auf die zweite Frage: «Was kann von seiten der Anthroposophischen Gesellschaft getan werden, um der in unserem Klinisch­therapeutischen Institut vertretenen, auf geisteswissenschaftlicher Forschungser-kenntnis beruhenden Behandlung und Heilweise in der Welt diejenige Geltung und Ausbreitung zu verschaffen, welche sie verdient?»

Sind die Voraussetzungen erfüllt, daß das Klinisch-therapeutische Institut seinerseits alles tut, die Aufgaben, welche ihm gestellt sind, zu erfüllen, das heißt ein Vademekum, unter zwei- bis dreitausend Ärzten eine Bewegung zu machen, so käme es für die Anthroposophische Gesellschaft in erster Linie darauf an, das Klinisch-therapeutische Institut in dieser Aufgabe zu unterstützen, ein jedes Mitglied an seinem Teil. Die einzelnen Zweige mögen vom Institut Redner anfordern, welche aufklärende Vorträge in den Zweigen halten. Die Mitglieder mögen in taktvoller Weise ihre Hausärzte auf unsere Schriften und Mittel hinwei­sen. Ich sage in taktvoller Weise, so etwas läßt sich nicht definieren, das muß man fühlen.

Ich könnte mir vorstellen, daß Ärzte geradezu abgestoßen werden könnten durch eine taktlos betriebene Propaganda. Es müßte ferner dafür gesorgt werden, daß unsere Mittel in den Apotheken zu haben sind, beziehungsweise daß die Apotheken erfahren, woher sie unsere Mittel beziehen können. Auch das muß in takivoller Weise geschehen, denn die Apotheker sind allen solchen Mitteln von vornherein abhold, bei deren Herstellung sie nicht beteiligt sind, und welche sie nur verkaufen sollen, wie ein Kaufmann seine Ware verkauft.

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Die Mitglieder können bei Verwandten und Bekannten auf Grund von Heiler-folgen die Mittel weiterempfehlen, womöglich nicht unter Umgehung des betref­fenden behandelnden Arztes. Sehr wirksam wäre auch die Empfehlung unserer Mittel bei Kassenvorständen oder sonstigen bei der Kasse einflußreichen Persön­lichkeiten unter Hinweis, daß zum Beispiel unser Grippemittel, das Infludoron, die Krankheit sehr abzukürzen imstande ist, daß der Kasse auf diese Weise eine Menge Krankengelder erspart werden könnten. Sollten junge Mediziner sich in den Reihen, welche Interesse für geisteswissenschaftliche Forschungsarbeit ha­ben, in Verlegenheit um ihre Doktordissertation sich befinden, so sind wir gerne bereit, eine ganze Reihe Dissertationsthemen zu nennen, welche sich aus den medizinischen Kursen Dr. Steiners ergeben.

Die bei uns gepflegte Heileurythmie, welche in zahlreichen Fällen gute Heilre­sultate ergeben hat, bedarf noch weiterer Ausbildung und soll an diejenigen weitergegeben werden, welche unter ärztlicher Leitung Heileurythmie in der Praxis anwenden wollen.

Vor allem aber kommt es darauf an, daß bei jedem einzelnen Mitglied und in den Zweigen das Bewußtsein geweckt werde, daß unsere Heilweise herausgebo­ren ist aus geisteswissenschaftlicher Erkenntnis vom Menschen, und daß man sich dessen immer mehr bewußt wird, daß die in der «Theosophie« gegebene Zusam­mensetzung des Menschen keine graue Theorie ist, sondern daß sie sich in ihren Auswirkungen als überaus praktisch und für die Menschheit heilbringend in allen medizinischen Maßnahmen erweist. Die Heilmittel allein helfen uns nichts, wenn nicht die geistige Realität ihres Ursprungs einem jeden klar und zur Gewißheit geworden ist. Erst dann kann er für sie eintreten und sie in rechter Weise propagie­ren.

Herr Dr. Rudolf Maier, Stuttgart: Referat über

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Das Wissenschaftliche Forschungsinstitut «Der Kommende Tag»

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Für die Ziele des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts ist maßgebend, was im Entwurf der Grundsätze einer Anthroposophischen Gesellschaft bereits im ersten Satz ausgesprochen ist: «Der Mensch bedarf zu einer befriedigenden und gesun­den Lebensgestaltung der Erkenntnis und Pflege seiner eigenen übersinnlichen Wesenheit und der übersinnlichen Wesenheit der außermenschlichen Welt.» In Anwendung auf das, was wir in unserem Forschungsinstitut tun und treiben, lautet dies einfach dahingehend, daß die Naturforschung der Gegenwart ohne die Erkenntnis des Übersinnlichen zu einem gedeihlichen Vorwärtskommen und zu einem wirklichen Erfassen ihrer Ziele nicht gelangen kann. Unser Forschungsin­stitut hat sich daher die Aufgabe gestellt, für Einführung und Anwendung der anthroposophischen Erkenntnisse in der Naturforschung Sorge zu tragen. Wir suchen unsere Aufgabe dadurch zu erfüllen, daß wir erstens Maßnahmen ergrei­fen, welche geneigt sind, Verständnis für echte und wahre Naturforschung in weitesten Kreisen zu erwecken, daß wir zweitens am praktischen Beispiel durch

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Anwendung der antliroposophischen Erkenntnisse in der experimentellen For­schung und Naturbeobachtung zeigen, wie weit die Naturforschung über bisheri­ges herauszukommen vermag. Als solche Beispiele sind zu nennen die Abhand­lung von Frau Lily Kolisko über «Milzfunktion und Plättchenfrage» und die soeben erschienene Abhandlung von Dr. Rudolf Maier »Der Villardsche Versuch, eine experimentelle Untersuchung». Frau Koliskos Abhandlung zeigt, wie auf die seitherigen Forschungen längst bekannter Beobachtungstatsachen durch eine an­throposophische Erkenntnis ein Licht fällt, dasso viel, was an den bereits bekann­ten Beobachtungstatsachen rätselhaft geblieben, aufklärt, und wie man durch diese Erkenntnis zu neuen Entdeckungen auf biologischem Gebiete kommt (Blut-bild, neue Plättchenart: Regulatoren). Die Abhandlung Dr. Maiers zeigt, wie die in der Anthroposophie angegebene Methodik des physikalischen Erkennens große Irrtümer der bisherigen Forschung aufzudecken ermöglicht, wie man da­durch lernen kann, unbefangen zu experimentieren, um da heraus die Tatsachen, so wie sie wirklich sind, aufzufassen. Die Abhandlung Dr. Maiers ist ein Beispiel dafür, daß Anthroposophie lebenspraktisch macht, indem das darin über physika­lische Forschung Enthaltene sich als bis in die Praxis hinein anwendbar und als richtig gezeitigt hat.

Wir sind uns klar darüber, daß von seiten der meisten heutigen Wissenschafter, namentlich der maßgebenden, unseren Bestrebungen viele Vorurteile im Wege stehen. Wir glauben indessen, daß die Macht der von uns erforschten Beobach­tungstatsachen schließlich allen Widerstand brechen muß und wird. Die anthro­posophischen Mitglieder können uns sehr viel bei der Erfüllung unserer Aufgabe behilflich sein. Schon wenn man uns allgemeineres Interesse entgegenbringt, empfinden wir dies für unsere Arbeitsfreude förderlich, insbesondere aber können die anthroposophischen Mitglieder uns dadurch sehr viel helfen, daß sie in ihrem Bekanntenkreise auf unsere Veröffentlichungen aufmerksam machen, daß sie dafür sorgen, daß auch den weiteren Kreisen diese Veröffentlichungen bekannt werden. Wir vertrauen darauf, daß Wissenschafter, welche mit den hiesigen wissenschaftlichen Betrieben weniger verstrickt sind, unser Wesentlichstes, was wir wollen, leichter erkennen als andere, und daß sie auch durch unsere Veröffent­lichungen für Anthroposophie selbst gefördert werden, und zwar namentlich dadurch, daß dem Vorurteil, Anthroposophie sei nicht wissenschaftlich, durch planmäßige Arbeit der Boden entzogen wird. Das Wissenschaftliche Forschungs­institut hat von seiten des Herrn Dr. Steiner Aufgaben gestellt bekommen, auch persönliche Ratschläge, über die Ausführung derselben. Die Lösung dieser Aufga­ben bilden den Mittelpunkt unseres Strebens. Wir werden in Zukunft noch mehr als bisher schon ihnen unsere ganze Energie zuwenden.

Herr Dr. Fu gen Kolisko, Stuttgart: Referat über

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Anthroposophie und Wissenschaft

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Die wissenschaftliche Bewegung hat an der Überwindung zweier Schranken zu arbeiten, einer solchen nach innen und einer andern nach außen. Bisher hat sich

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diese Wissenschaftsbewegung nach beiden Seiten nicht in der richtigen Weise durchsetzen können. So wie es der pädagogischen Bewegung, wie es auch der Eurythmie gelungen ist, das Allgemein-Menschliche so zum Ausdruck zu brin­gen, daß mit einer gewissen Selbstverständlichkeit weite Kreise dafür gewonnen werden, so mußte auch die Wissenschaftsbewegung, wenn sie Erfolg haben sollte, für den weiten Kreis von Menschen gedacht sein, der sich heute nach Erneuerung der Wissenschaft sehnt.

Da muß aber nun gesagt werden, daß es nicht gelungen ist, bei den heutigen Wissenschaftern sich verständlich zu machen. Wir haben ihnen gegenüber nicht die Sprache gefunden, die unseren Bestrebungen eine selbstverständliche Aner­kennung verschafft hätte. Diese wird nur möglich sein, wenn einerseits eine praktische Phänomenologie entsteht, das heißt Experimentaluntersuchungen, die für sich selbst sprechen, und andererseits umfassende, die Ausführung unserer so fruchtbaren Ideen enthaltende Gesamtdarstellungen vor die Welt hin gestellt wer­den, die sich von selbst Anerkennung verschaffen müssen. Es muß vor allem auch viel mehr auf die modernste Gestaltung der Wissenschaft eingegangen werden, und wir müssen jene Grundeinstellung der Geisteswissenschaft einhalten, daß die Berechtigung der heutigen Naturwissenschaft auf den ihr zugänglichen Gebieten iückhaltlos anerkannt und zugleich aufgewiesen wird, wie durch Geisteswissen­schaft überall die Weiterführung der naturwissenschaftlichen Ideen gegeben ist. Dann wird keine unfruchtbare Polemik entstehen können, sondern es wird gelin­gen, auch auf dem wissenschaftlichen Gebiete eine Zwischenschicht von Men­schen zu schaffen, welche, ohne zunächst der Anthroposophischen Gesellschaft anzugehören, die Ergebnisse unserer Forschung als etwas Wichtiges und Bedeu­tendes anerkennen.

Nach innen aber ist es notwendig, das Wissenschaftliche soweit zu führen, daß es ganz von anthroposophischem Geiste durchdrungen wird. Es darf nicht im Fachwissenschaftlichen steckenbleiben. Viel ist gesündigt worden durch ein Hin-eintragen von nicht voll Umgearbeitetem, Spezialwissenschaftlichem in die Zweige. Es ist doch vielfach die Anthroposophie verphysiziert, verchemisiert usw. worden, statt eine anthroposophische Physik und Chemie usw. zu begrün­den. Früher hatte man in den Zweigen und Gruppen vielfach gute anthroposophi­sche Arbeit geleistet. Das Wissenschaftliche war zu dieser Zeit noch wenig einbe­zogen. Heute müßte es so werden können, daß von den einzelnen Freunden, die mit Hilfe der Anthroposophie auf den verschiedenen wissenschaftlichen Gebieten arbeiten, die Ergebnisse völlig ins Anthroposophische umgegossen werden und so der Arbeit in der Anthroposophischen Gesellschaft zurückgegeben werden. Wir haben ja an der Art, wie Herr Dr. Steiner durch Jahre hindurch die schwierigsten Probleme der Einzelwissenschaften in anthroposophischen Zweigvorträgen be­handelt hat, wie er sie heute noch zum Beispiel in seinen Dornacher Vorträgen behandelt, das Beispiel, daß in dieser Form Wissenschaftliches nicht mehr als Fachwissenschaftliches, Spezialistisches, sondern als allgemein-menschlich Be­deutsames empfunden wird und wirksam ist. Geschieht diese Umarbeitung des

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Wissenschaftlichen nicht, dann wird im Gegenteil die anthroposophische Arbeit zerstört. Nur wenn unsere Wissenschafter dahin arbeiten, in der inneren Arbeit das Fachwissenschaftliche zu überwinden und richtig anthroposophisch über Wissenschaft zu reden, dann kann auch jene Kluft überwunden werden, von der Dr. Steiner schon zur Zeit des Wiener Kongresses und im Haag gesprochen hat, die zwischen der Wissenschaftsbewegung und der Anthroposophie im engeren Sinne besteht. Dann können die Wissenschafter der Mutter Anthroposophie zurückgeben, was sie ihr verdanken.

Die Anthroposophische Gesellschaft hat ihrerseits mannigfaltige Aufgaben gegenüber der Wissenschaftsbewegung. Es muß dahin kommen, daß die Leistun­gen, die auf dem wissenschaftlichen Gebiete vorliegen, von der gesamten Mit­gliedschaft gekannt sind und gewürdigt werden. Es müßte ein wirklicher Enthusi­asmus vorhanden sein zum Beispiel für so etwas, wie das Buch unseres Freundes Dr. v. Baravalle über «Pädagogik der Mathematik und Physik». Man müßte es kennen, wissen, was es für Pädagogik und Wissenschaft bedeutet usw. Die neue Leitung wird es sich zur Aufgabe machen, daß der Mitgliedschaft auch wirklich die Kenntnis aller Leistungen innerhalb unserer Bewegung bekannt wird. Denn wenn schon nicht in unserer Gesellschaft ein Bewußtsein von all dem vorhanden ist, woran in unseren Forschungsinstituten, woran von unseren Wissenschaftern uberhaupt gearbeitet wird, was geleistet worden ist, wie soll es draußen bekannt werden? Die richtige Kenntnis wird auch verhindern, daß in unverständiger Weise nach außen diese wissenschaftlichen Bestrebungen dargestellt und vertreten werden.

Es handelt sich darum, daß das Forschen unserer wissenschaftlichen Mitarbei­ter mit der größten Energie sich auf die ungeheure Fülle von Problemen und Anregungen richtet, die von Herrn Dr. Steiner im Laufe der letzten Jahre gegeben sind. Jedes dieser Probleme führt, richtig erforscht, zu bedeutenden Resultaten, die allgemein menschliches Interesse haben, im Sinne der Erkenntnis und der praktischen Wirksamkeit. Hier liegen unzählige Aufgaben, die jetzt endlich ener­gisch in Angriff genommen werden müssen.

Es ist oft davon gesprochen worden, wie ein künstlerisches Element in die Wissenschaft hineinkommen muß. Man nehme etwa die Lehre von der Dreiglie­derung des menschlichen Organismus. Zu ihr kommt man gar nicht ohne eine künstlerisch-wissenschaftliche Anschauung des Menschen. Erlebt man, wie zum Beispiel im Menschen fortwährend der Kampf stattfindet zwischen dem Sinnes-Nerven-System, das greisenhaft, absterbend, mineralisiert ist, Todeskeime in sich trägt, und dem Stoffwechselsystem, das überlebendig, jugendlich sich dagegen stemmt, und wie der harmonische Ausgleich durch das rhythmische System erfolgt, dann kann dies nur erfolgen, indem man künstlerisch-imaginativ die Begriffe faßt. Als Arzt, als Lehrer erlebt man dann so den Menschen als das gewaltigste Kunstwerk der Natur. Wir müssen dazu kommen, daß wir als Wissen­schafter, als Physiker, als Chemiker, als Ärzte zuletzt, von den geistigen Wesen­heiten überall konkret sprechen können, die hinter den äußeren Phänomenen

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stehen. Dann, wenn wir uns so hineinleben in ein solches wissenschaftlich­künstlerisches Element, finden wir überall auch die Brücke zu wahrhaft religiösem Empfinden. Gelingt es uns so, Wissenschaft bis zur Zentrale des Anthroposophi­schen hineinzuführen, sprechen wir davon in unseren anthroposophischen Zwei­gen und tragen wir nach außen eine solche Art des Wissenschaftlichen, daß wir aus einer Gesinnung sprechen, wie sie hier charakterisiert worden ist, so daß wir nicht abstoßen, was heute Sehnsucht hat nach einer Erneuerung der Wissenschaft durch Anthroposophie, so wird die Wissenschaftsbewegung kein Fremdkörper sein innerhalb der Gesellschaft nach innen und außen, sondern sich harmonisch ein­ordnen in den Rahmen unserer Bewegung.

Herr Dr. Herbert Hahn, Stuttgart: Referat über

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Das Verhältnis der Anthroposophischen Gesellschaft

zur Bewegung für religiöse Erneuerung.

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Im September 1922 ist eine Bewegung ins Leben hinausgetreten, die den Rat der Geisteswissenschaft empfangen wollte, die die Verantwortung für die Auswir­kung dieses Rates von allem Anfang an selbst übernahm. Diese Bewegung widmet sich der Arbeit für religiöse Erneuerung. Sie erlebt als ihre wesentliche Aufgabe, den in der Zeit fortschreitenden Christusimpuls in reinen Formen zu vielen Seelen zu tragen. Will sie aber diese Zeitenaufgabe recht erfüllen, will sie der moralischen Gesundung aus religiösen Kräften dienen, so darf sie im tiefsten Sinne ein anthro­posophisches Verständnis beanspruchen.

Was ihr aber im Anfang ihrer Entfaltung entgegentrat, war ein nicht genügend tiefes und warmes Verständnis. Es war vielfach falsches Verständnis oder man­gelnder Wille zur Verständigung von seiten anthroposophisch strebender, aber der anthroposophischen Verantwortlichkeit nicht voll entsprechender Persön­lichkeiten. Es wurde namentlich versäumt, in den Arbeitsgruppen der Anthropo­sophischen Gesellschaft eine solche Erkenntnis über die Bedeutung der Bewegung für religiöse Erneuerung zu wecken, die ein urteilsklares und führungssicheres Verhältnis zu jener Bewegung in selbständiger Weise hätte begründen können.

Dr. Steiner mußte in einem Dornacher Vortrage einer bereits geschaffenen Notlage Worte abrin gen, die die nötige Klärung in sich trugen. Da man aber selbst gegenüber jenen von Dr. Steiner gesprochenen, von den führenden Persönlichkei­ten der Anthroposophischen Gesellschaft versäumten Worten die Methode des philologisch-kränklichen Deutelos in vielen Fällen anwandte, statt zu eigener wurzelfrischer Erkenntnis vorzudringen, blieb in weiten Kreisen eine Notlage bestehen.

Interessevolles Eingehen auf die Eigenart der Bewegung für religiöse Erneue­rung kann aber zeigen, daß Anthroposophen deshalb ein herzliches Verständnis für die Aufgabe dieser Bewegung haben können, weil die Anthroposophie im Lebenswerk Rudolf Steiners eine zeitgerufene religiöse Erneuerung in allen wesentlichen Punkten erst möglich machte. Die religiöse Erneuerung konnte

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schöpfen aus den Inhalten der Anthroposophie. Die Anthroposophie konnte schaffend auftreten gegenüber den Formen, welche die Bewegung für religiöse Erneuerung aus eigenem Suchen annehmen wollte. Nur durch anthroposophische Geistesarbeit konnte die Bewegung für religiöse Erneuerung in ihrer heutigen Form gezeitigt werden.

Das kann in allen Einzelheiten deutlich werden. Während in der protestanti­schen Theologie der Streit um den Leichnam des Wortes immer breiteren Raum gewann, während in der katholischen Theologie die Auffassung des überliefe­rungsmäßig festgehaltenen Buchstabens immer mehr erstarrte, führte die Anthro­posophie das Evangelienverständnis auf neuen Quellgrund. Was wäre eine Bewe­gung für religiöse Erneuerung ohne diese Quellenbezüge zum Evangelium? Zu völliger Unfruchtbarkeit ware sie verurteilt. Als aber eine Anzahl jüngerer, vor­wiegend evangelischer Theologen an Dr. Steiner für eine religiöse Erneuerung ratsuchend herantrat, lag als einer der schönsten Erweise für die Fruchtbarkeit der Anthroposophie auf religiösem Gebiete bereits die Tatsache vor, daß in umfassen­den Vortragszyklen Goldschätze neuer Evangelienerkenntnis von dem Begründer der Geisteswissenschaft aufgehäuft worden waren. Zyklen über die einzelnen Evangelien und die Beziehung der Evangelien zueinander. Während die Theologie in bezug auf das Evangelienerlebnis verödete, zeitigte die Anthroposophie gera­dezu einen neuen Frühling des Evangelienlebens. Das konnte Vertrauen erwek­ken, aus Anthroposophie zu schöpfen, Vertrauen, Anthroposophie als Schöpferin anzurufen.

Wie aber ließe sich Vertrauen zu religiöser Neuschöpfung pflegen, wenn nicht alle Anschauung des religiösen Lebens zu einem wahrhaftigen Erfassen der Chri­stus-Wesenheit drängte, in einem wahrhaftigen Erfassen der Christus-Wesenheit ihren Mittelpunkt fände? In einer Zeit, wo die Auffassung der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth zu einem umstrittenen historischen Problem geworden war, erwies Rudolf Steiner das Christentum als mystische Tatsache. Er deckte in Seelentiefen die Kräfte der Liebe zur schöpferischen sittlichen Tat auf und erfaßte im Wandel der Seelenkräfte, in der wechselseitigen Läuterung des Denkens und des Wollens den wandelnden Christusimpuls im Eigengebiete seiner Freiheit. Die «Philosophie der Freiheit», als bildnerisches Buch erlebt, war und ist eine Vorbe­reiterin neuer Christus-Offenbarung. Denn nur im Freiheitsgebiete kann sich der Christus-Impuls heute offenbaren. Was die Freiheit leugnet oder sie nicht begrün­den kann und nennt sich doch christlich, das mißbraucht heute den Namen des Christentums. Dr. Steiner führte zu dem erschütternden Erlebnis einer überzeu­genden Offenbarung des Christentums in dem Bewußtsein und in der Geschichte der vom Ich erkämpften Neuerweckungen sittlichen Lebens. Und er zeigte in seinem anthroposophischen Lebenswerk, wie die menschliche Geschichte im großen sich erleuchtet im Vorbereiten und im urbildgemäßen Ausprägen der ich­erstarkenden Opferkräfte, welche sich im Mysterium von Golgatha darbrachten. Hier lag in doppelter Art die Möglichkeit begründet zu einer Neugestaltung des religiösen Kultus. Dieser konnte auf die Höhe des von der Zeit überall gesuchten

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Sohneserlebnisses gehoben werden und in denjenigen von Freiheit erfüllten For­men dem Bewußtsein der Einzelmenschen nahegebracht werden, die von den Tiefen dieses Bewußtseins heute allein aufgenommen werden wollen. Wo gab es sonst irgend etwas in der Zeit, das eine Produktivität auf dem Gebiete wahrer Kultformen hätte entfalten können? Läuft nicht alles Streben auf diesem Gebiete m ein blasses, verarmendes Reformertum aus, das durch seine Schwäche die suggestive Kraft altgewordener Formen nur noch verstärkt? Aus dem überhistori­schen allgegenwärtigen Christus-Erlebnis der Anthroposophie konnte eine Bewe­gung für religiöse Erneuerung Richt- und Formkraft schöpfen. So durfte sie auch die Anthroposophie als Schöpferin anrufen.

Aber alles Erleben kultischer Formen scheitert heute an einer Grunddiskre­panz. Der moderne Mensch erlebt im Wandel der inneren, moralischen Kräfte ein Werden. Er erlebt im Wandel der physischen Erden- und Weltenkräfte ein Ver­nichten und Vergehen. Eines fügt sich nicht sinnvoll in das andere, die Finsternis des materiellen Todes zieht heute jegliches moralisch-religiöse Leben in ihren Abgrund. Nicht Kultpflege, nicht Seelsorge ist möglich gegenüber diesem im Bewußtsein der ehrlichsten Menschen klaffenden Riß. Anthroposophie, die von dem heiligenden Einzug des Christus in die Erdensubstanz in überzeugender Weise zu reden berufen wurde, erfüllte die Auffassung aller irdischen Wandelvor­gänge mit Moralität. Sie erhob wahrhaftig den chemischen Experimentiertisch zum Altar. So aber konnte sie die Grundlagen neu schaffen, daß der auf dem Altar der kultischen Zusammenhänge erlebte, weltenbedeutsame, seelener­neuernde Wandel von wirklichen Andachtskräften im Herzen aufgefaßt werde. So durfte und konnte sie wiederum als Schöpferin angerufen werden, um sich als Brücken schaffend zu erweisen gegenüber dem Riß im Zeit- und Einzel-bewußtsein.

Alle Pflege religiösen Lebens findet in der Zeit und durch die Zeiten ihre Tragfestigkeit in der Gemeinschaftsbildung. Auch Gemeinschaftsbildung ist aber aus den heutigen Bewußtseinsformen nicht ohne weiteres möglich. Die Verstan­desspekulation hat die Atomtheorie als Gespinst über alle Welt gezogen. Was in der Weltanschauung als ein Gespinst wirkt, lebt sich jedoch zwischen Menschen und im Menschen mit unerhörter Realität aus. Die Menschen werden heute atomisiert. Alles Reden über das Soziale aus den Verstandeskräften heraus ist hohl und unwahr. Der Verstand zersplittert Menschen und Menschenverbände und entwürfe er für deren Zusammenhalt die schönsten Programme. Der Verstand zersplittert, Ideal und Bild vereinigen. Aber die Bilder und Ideale alter Zeit stoßen heute ab. Die Zeit sucht heute nach einem Bild, das über der Sphäre der erworbe­nen Gedankenklarheit erlebt werden kann, sie kann nicht anerkennen, was aus Tiefen emporwirbelt, die unter dieser Sphäre sind. Anthroposophie weist, indem sie den Weg einer gesunden Imagination eröffnet, den gesuchten Ausblick zum einigenden, sozial schöpferischen Ideal und Bild. Ein Kultus wird nur dann im heutigen Zeitensinne einigend wirken, wenn er die Stärke reiner Imaginationen in seine Wesensprägung aufnehmen darf.

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Hier konnte, eine brennende Zeitnot lösend, die Anthroposophie abermals schaffend auftreten, indem sie, von den Trägern religiösen Erneuerungswillens als Schöpferin angerufen, Kultformen schuf, die in echtem Sinne menschenerhöhend und gemeindebildend sind.

In vier wesentlichen Punkten erleben wir die Anthroposophie als schöpferi­sche Mutter der Bewegung für religiöse Erneuerung. Wer dies erkennt, der versteht, daß die Anthroposophie selbst einen Urquell religiösen Lebens birgt. Sie braucht ihn nirgends außerhalb ihres eigenen Wesens zu suchen. Weil sie aber in allem religiösen Erleben das Zusammenkommen von Freiheitsringen und -opfern der Gnadenwirkung erlebt, würdigt und liebt sie auch die ihrer Tochterbewegung vermittelten Freiheits- und Gnadenkräfte. Sie weist dem anthroposophischen Gesellschaftsleben die innere Pflicht, stützend zu wachen mit denen, die religiöse Erneuerung in die Welt tragen wollen. Sie schenkt ihm die Kraft, liebend die Menschen zu empfangen, die aus religiöser Erneuerung zur Anthroposophie vorzudringen reif geworden sind.

Die Bewegung für religiöse Erneuerung geht deh Weg ihrer eigenen spirituel­len Verantwortlichkeit. Sie wirkt aus anthroposophischer Kraft. Sie wirkt aber nicht für die Anthroposophie, wenn sie deren Früchte einer nach neuem Christus-heil hungernden Welt vermittelt.

Die Anthroposophische Gesellschaft kann eines der Instrumente der anthro­posophischen Bewegung werden, die ihrerseits einen Weg höchster und umfas­sendster eigener Verantwortlichkeit geht. Sie darf ihren Namen nur tragen, wenn sie den ganzen Menschen verkörpert. Das religiöse Menschentum ist eine wichtige Wesensoffenbarung dieses ganzen Menschen. Die Anthroposophie, die die Bewe­gung für religiöse Erneuerung schaffend formte, will um der Wahrheit ihres Namens willen im anthroposophischen Leben die Urgaben religiöser Kraft in stetem Neuschaffen erwecken. Hierin liegen die Wurzeln eines natürlichen und guten Verhältnisses der Anthroposophischen Gesellschaft zur Bewegung für reli­giöse Erneuerung.

Herr Dr. WalterJohannes Stein, Stuttgart: Referat über den

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« Bund für anthroposophische Hochschularbeit»

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Der Hochsehulbund, über den ich Ihnen zunächst zu berichten habe, gehört ebenfalls zu den Institutionen, die nach jenem für unsere Bewegung so bedeu­tungsvollen Jahr 1918 gegründet worden sind. Welche Bewandtnis hat es mit diesem Jahr? Das war es, was sich mir als Frage immer wieder vor die Seele stellte, auch da, wo es mir in der Vorbereitung für diese Tagung oblag, über den Hoch­schulbund nachzudenken. In diesem Jahr, auf dessen Bedeutung für unsere Bewe­gung Herr Dr. Steiner in letzter Zeit wiederholt hingewiesen hat, regte sich ja zuerst das selbständige Wollen der Mitglieder unserer Bewegung für die Angele­genheiten des äußeren sozialen Wirkens. Aber es verlief diese Willensentfaltung noch halb instinktiv. Noch konnte man sich nicht durchringen im Sinne der

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«Philosophie der Freiheit», selbst ergriffene Intuitionen zu verwirklichen. Man kam daher immer wieder zu Herrn Dr. Steiner mit der Bitte um Rat. Dr. Steiner hat dann im Laufe der Zeit immer deutlicher und deutlicher gezeigt, wie sein Ziel nur sein konnte, freie Menschen um sich zu haben. Rat erteilte er den noch Unfreien, so daß diese immer mehr dazu kommen konnten, selbstergriffene Ideen zu verwirklichen. So reifte der Gesellschaft allmählich seit 1918 die Aufgabe, vor der sie heute steht: sich selbst zu lenken und zu leiten. Dies aber ist die Aufgabe der Menschen im Zeitalter der Bewußtseinsseele. So wuchs seit 1918 Gesellschaftsauf­gabe und Zeitenaufgabe in eins zusammen. Und die Krisis, die unsere Gesellschaft heute durchlebt, ist ein Spiegelbild der großen Zeitenkrisis, die dadurch hervorge­rufen ist, daß zwei Zeitalter miteinander streiten. Das alte Zeitalter der griechisch-lateinischen Kulturepoche ist noch nicht verklungen. Längst zwar kündet die Sternensehrift am Himmel den neuen Zeitgeist. Aber der konnte sich seinen Einzug in die Welt noch nicht erkämpfen. Noch herrscht der Geist der Intellek­tualität einer verflossenen Epoche und der Geist des neuen spirituellen Zeitalters kämpft noch um seinen Einzug. Und das muß so sein. Denn das Zeitalter der Bewußtseinsseele kann nicht durch die Schrift am Himmel, durch Götterwollen, es kann nur völlig siegen, wenn Menschenwollen sich zum Mitkämpfer des Götterwollens macht, weil Menschen in Freiheit ergreifen, was nur sie als ihren ureigensten Entschluß verwirklichen können.

Sehen Sie hin nach Frankreich. Da kämpft ein Ausläufer der lateinisch-romani­schen Völker- und Zeitenströmung. Es ist ein absterbendes Volk, das physisch ausstirbt und sich selbst zerfleischt, indem es sein Blut mit dem tieferstehender schwarzer Rassen durchsetzt. Es ist ein Volk, das wie verlassen von der Führung geistiger Wesen, die sonst Völker lenken, Handlungen vollzieht, die in Geistesab­wesenheit vollzogen werden. Dies Handeln aus der Abwesenheit des Geistes kommt aber da nur stärker zum Ausdruck, weil es sich machtvollerer Mittel bedient. Es ist aber Symptom der Zeit. Auf allen Gebieten vollzieht sich dasselbe. Ein Zeitgeist, dessen Epoche abgelaufen ist, umkrallt noch die Menschen und führt, während ihm selber sich das Bewußtsein umdämmert, die Menschen in geistloses Tun. Da ist es Zeit, daß die Menschen den eigenen Geist erwecken, denn der Geist des spirituellen Zeitalters wird nur Erwachte führen können.

Dies große weltgeschichtliche Geschehen spielte auch in unsere Bewegung. Lassen Sie mich das an einem allerdings persönlichen Beispiel zeigen. Ich kam 1913 zur Bewegung. Ich war einer von denen, die zur Anthroposophie drängten, weil sie es an der Universität nicht aushielten. Dort ging mir der Atem aus. Es war keine geistige Lebensluft da. Alles war tot. Und die großen Geister schienen der Vergangenheit anzugehören und moderten in Bibliotheken. Ich aber suchte für meine Wissenschaft, die ich liebte, Leben. Was ging mich die Anthroposophische Gesellschaft an? Nicht sie, sondern meine Wissenschaft lag mir am Herzen. Naturwissenschaft und Philosophie empfand ich als an einen Punkt gelangt, über den hinaus sie durch sich nicht kommen konnten. Da fand ich die Anthroposo­phie. Ich war entschlossen, sie gründlich kennenzulernen. Da kam ich nach

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München. Ein älteres Mitglied empfing mich. Ich sagte: »Ich bin gekommen, um die Brücke zu schlagen zwischen Anthroposophie und Naturwissenschaft.» »Das ist schon geschehen», sagte das Mitglied, «da kommen Sie zu spät.» Ich war also gekommen, um der Naturwissenschaft willen. Aber jetzt wollte ich die Myste­rienspiele sehen. «Die dürfen nur Mitglieder sehen», sagte man mir. Ich war nicht Mitglied, wollte auch keins werden. Ich wendete mich an Dr. Steiner. Ja, das sei richtig - die Mysteriendramen-Aufführungen seien nur Mitgliedern zugänglich. Aber ich könne ja für den Tag der Aufführung Mitglied werden und am nächsten Tag wieder austreten. Darauf ging ich ein. Ich war also in der Aufführung. Nachher kam Dr. Steiner und fragte: «Nun, Herr Stein, wie haben Sie sich amüsiert?» Ich sagte: «So ein Esel wie gestern bin ich jetzt nicht mehr - und austreten aus der Gesellschaft tu ich auch nicht mehr.» So wurde ich Mitglied der Gesellschaft. Es ist symptomatisch. Derjenige, welcher gekommen war, die Brücke zu schlagen zwischen Naturwissenschaft und Anthroposophie, war durch die Mysteriendramen gewonnen worden. Ich sagte eben - das war symptomatisch. Denn es ging den andern, die nach mir kamen, ebenso. Dr. Roman Boos und wir, die wir zu jener Generation gehörten, die es an den Universitäten nicht aushielten, wir wollten die Anthroposophie in die Hörsäle tragen. Das sollte geschehen durch einen Aufruf, der im Herbst 1920 an die deutschen Studenten hinausging. Dr. Steiner hatte ja in der Aula der Technischen Hochschule in Stuttgart vor den Studenten, veranlaßt durch eine Aufforderung von studentischer Seite, über «Gei­steswissenschaft, Naturwissenschaft und Technik» gesprochen. Herr Palmer und Herr Werner Rosenthal sandten dann im Anschluß an diesen Vortrag im Juli 1920 Entwürfe eines Aufrufes an die Freunde in Breslau, Freiburg i. Br., Hamburg, Heidelberg, Karlsruhe, Leipzig, München, Tübingen. Viele andere Fassungen liefen ein. Schließlich verarbeiteten wir in Stuttgart alle Anregungen zu dem Aufruf, der dann hinausging. Dieser Aufruf war reichlich geharnischt. Er hat uns, weil keine der sogenannten führenden Persönlichkeiten ihm wirklich eine Tat folgen ließ, reichlich Gegnerschaft, aber keinen positiven Gewinn eingebracht. Vor allem die Hochschullehrer wurden zu Gegnern gemacht. Es war ein Irrtum, zu glauben, Anthroposophie müsse in die Hörsäle. Wissenschaft sollte anthropo­sophisch befruchtet werden. Nicht Polemik, sondern Weiterbildung der Wissen­schaft wäre das richtige gewesen. Aber dazu war es zu früh. Die Wissenschaftser­neuerung konnte damals von uns nicht bewerkstelligt werden. Und die Jungen? Wollten sie eine anthroposophisch frisierte Wissenschaft? Nein. Sie wollten An­throposophie. Aber das haben wir damals nicht erkannt. Ich war selber nicht durch anthroposophische Wissenschaft, sondern durch die Mysteriendramen ge­kommen. Aber das blieb unbeachtet. Immer breiter wurde die Kluft zwischen denen, die Anthroposophie in die Hörsäle tragen wollten, und der jüngsten Generation, die die Anthroposophie selber suchte. Heute erst ist mir klar, daß wir selber ja auch nichts anderes wollten als Anthroposophie. Darum meine ich, daß wir, die etwas ältere Generation, die «Dozenten» der Hochschulkurse - und wie alle die Veranstaltungen heißen - uns jetzt doch richtig mit der Jugend finden

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werden. Denn in mir selber lebte - freilich von mir nicht erkannt - was auch in ihr lebt. Das war das Tragische, das war unsere Schuld, daß wir eine Bewegung inauguriert hatten, die dann versickerte. Dt. Steiner hielt naturwissenschaftliche Kurse - in der Erwartung, daß die, welche sie verlangt hatten, das Gegebene verarbeiten würden. Jetzt erst geschieht es. Dr. Hermann von Baravalle arbeitet an einer Optik, an einer Wärmelehre, andere verarbeiten anderes. Allerlei Arbeits­gruppen haben sich gebildet. Sprachwissenschafter, Pädagogen, Architekturstu­dierende haben sich zusammengefunden. Über das, was nun aus derJugend heraus werden will, wird Herr Lehrs zu Ihnen sprechen. Ich wollte nur den Blick wenden auf den historischen Moment, auf den Sturm der Zeitgeschichte, der hereinbrauste 1918 auch in unsere Bewegung. Lassen Sie uns diesen Sturm bewußt erleben, damit er zum Brausen werde, welches uns die Feuerzungen erweckt, die jene Sprache sprechen, die alle verstehen, jung und alt.

Schluß 11 Uhr.

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Dienstag, den 27. Februar 1923, vormittag

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Am Dienstag, den 27. Februar, eröffnete Herr Leinhas die Versammlung, indem er die Teilnehmer bat, Herrn Dr. Steiner ihre Glückwünsche zu seinem Geburts­tage durch Erheben von den Sitzen zum Ausdruck zu bringen.

Herr Dr. Steiner dankte.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart, wies dann darauf hin, welche Fülle von Weisheit, Schönheit und Kraft Dr. Steiner in zwei Jahrzehnten seines Wirkens über die Gesellschaft ausgegossen habe, wie aber die Gesellschaft hinter der Entwicke­lung der Anthroposophie selbst zurückgeblieben sei und wie besonders ihrer Führung die glückliche Hand gefehlt habe. Er betonte, daß es gegenüber den Aufgaben, die sich aus der Entwickelung der Sache ergeben, keine Entschuldi­gung geben könne. Die Kritik, die bisher auf der Versammlung geübt worden sei, sei ja den Betroffenen nicht neu, sie sei auch nicht immer sehr höflich gewesen, aber die Tatsache, daß überhaupt Kritik in diesem Ausmaße vorhanden sei, sei ein Zeichen dafür, daß eben die Führung die geschickte Hand vermissen lasse und daß sie nicht imstande gewesen sei, eine Atmosphäre des Vertrauens zu begründen. Vertrauen zur Führung sei aber die Grundvoraussetzung ihres Wir­kens. Er hoffe, daß die führenden Persönlichkeiten der Gesellschaft aus einer wirklichen Einsicht in ihre Ohnmacht, aus ihrer Liebe zur anthroposophischen Sache und aus ihrer Liebe zu Dr. Steiner die Kraft gewinnen werden, ihre schwere Aufgabe zu erfüllen.

Herr Ernst Lehrs, Jena: Referat über

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»Jugendbewegung und Anthroposophie»

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Im Verlauf der Mitgliederversammlung, die während des Stuttgarter Kongresses im Herbst 1921 stattfand, hat Dr. Steiner das Wort ausgesprochen: «Hier hat ein

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Vertreter der Jugendbewegung gesprochen! Hier sitzen eine ganze Anzahl von Vertretern der Studentenschaft, meine lieben Freunde! Daß die Angehörigen solcher Bewegungen oder solcher Körperschaften zu unserer Anthroposophi­schen Gesellschaft gekommen sind, das ist etwas, was wir als epochemachend innerhalb der Geschichte unserer anthroposophischen Bewegung betrachten müssen!» Damals hat manchem jungen Menschen das Herz höher geschlagen und ein überwallendes Gefühl hat seine Hände zum Beifall gerührt. Und doch waren es nur mehr Hoffnungen und Erwartungen, was ihn bewegte. Jetzt aber ist der Zeitpunkt gekommen, da die anthroposophische Jugend kundgeben will, was sie glaubt gefunden zu haben, um mithelfen zu können an der Entfaltung anthroposophischen Lebens.

Seit etwas mehr als einem Jahr ist einer immer größeren Anzahl von jungen Menschen stärker und stärker etwas bewußt geworden, was sie unwillkürlich sich wenden ließ zunächst gegen den Bund für anthroposophische Hochschularbeit, dem sie zum großen Teile ja selber angehörten. Ihnen war es zum Erlebnis geworden, daß sie jungen Menschen begegneten, die eine ganz neue Seelenlage und ungeheure Zukunftskräfte keimhaft veranlagt offenbarten, die aber nichts anfangen konnten mit Anthroposophie, sowie sie sie vorfanden. Und während die einen die Dinge weiter so gestalten wollten, wie sie den Kräften entsprachen, die sie selber mitbrachten, richtete sich der Blick der anderen immer mehr auf die noch nicht aktiv tätigen Kräfte in den ihnen begegnenden jungen Menschen und in der eigenen Brust, und sie empfanden die Verpflichtung, dem, was keimhaft in ihnen und um sie herum vorhanden war, zu helfen, daß es wirklich Anthroposophie treiben konnte. Und während das, was einmal ein durchaus zeitgemäßer Versuch gewesen war, Anthroposophie hineinzutragen in die Hörsäle, im Hochschulbund zur ausschließenden Parole geworden war, mußte jene Jugend sich aufmachen, Anthroposophie zu tragen in junge Menschenherzen. So hat es Dr. Steiner kürz­lich selber ausgedrückt.

Wie kam es nun, daß man sogar in den Reihen des eigenen Hochsehulbundes sowenig Verständnis fand für das, was hier erstrebt wurde? Das lag daran, daß sich in ihm zwei Generationen gegenüberstanden. Und das ist kein Wunder. Denn wenn man ein Empfinden hat für das rasende Tempo seelischer Entwickelung in der Gegenwart, so erlebt man, daß die Generationen bald semesterweise einander ablösen! Die ältere der beiden Generationen stand unter der Tragik, die Dr. Stein in seinem Berichte aufzeigt, dort, wo er schildert, wie er und seine Freunde zur Anthroposophie kamen, belastet mit dem ganzen Geiste der Vergangenheit. Und das ist wirklich der Gegensatz zwischen diesen beiden Generationen. Die jüngere kam nicht nur ohne diese drückende Last, sondern wie mit einem saugenden Nichts auf den Schultern! Um wieviel mehr muß sich dieser Gegensatz aber noch zeigen zwischen diesen Jungen und den älteren Jahrgängen der Anthroposophi­schen Gesellschaft überhaupt!

Wenn man sich von den älteren Anthroposophen ihren Weg zur Anthroposo­phie erzählen läßt, wenn man ihre Jugend nachzuerleben versucht, so empfindet

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man, wie diese Jugend noch verlaufen ist in einer geistig-seelischen Selbstverständ­lichkeit. Gebettet war sie noch in Traditionen von allen Seiten her, und nur aus einer gewissen, mehr unbestimmten Sehnsucht heraus, haben sie zur Anthroposo­phie gegriffen. Bei der gegenwärtigen Jugend aber ist es keine Sehnsucht mehr, kein Bitten um Geist mehr, sondern ein furchtbares - Betteln um Geist, mitten aus dem vollständigen Nichts heraus! Das ganze Weisheitskapital, von dem die Menschheit seit urferner Vergangenheit gelebt hat, ist aufgezehrt. Kein Wissen hilft ihr mehr als eines, das sie selbst sich in jedem Augenblicke erarbeitet: sie ist wahrhaft ein Proletariat im Geiste! So gibt es für sie keine Möglichkeit, Brücken zu bauen von vergangenem Geistesleben in die Zukunft hinein, sondern aus dem Nichts heraus gilt es in der Zukunft selbst ein neues Fundament zu bauen, von dem aus dann die Brückenbögen rückwärts geschlagen werden können.

So kommt diese Jugend dazu, nichts anderes zu erstreben als reine Anthropo­sophie selbst. Sie will Anthroposophie so leben, daß sie das Moralische darin in jeder Beziehung zur Wirklichkeit, zur Tat machen will. Und erst von dort aus will sie sich in die mehr speziellen Formen des Geisteslebens hineinringen. Darin aber glaubt sie ein unmittelbares Verständnis finden zu können gerade bei den älteren Anthroposophen. So manches Mal kommen ältere Menschen und sagen: «Un­glaublich gebildete Leute treten mir oft gegenüber und beweisen mir alles Mögli­che gegen Anthroposophie. Ihr Jungen, zumal ihr Studenten, habt es da nicht sehr schwer. Was aber tue ich da als ein einfacher, naiver alter Anthroposoph?» Und dann konnte ich solche Menschen in freudiges Erstaunen versetzen, wenn ich, gerade aus der Einstellung von uns Jungen heraus, ihnen sagte: «Gar nichts hilft es, Anthroposophie aus dem Intellekt heraus, gegen den Intellekt zu beweisen. Deshalb lasse ich am liebsten mein ganzes Universitätsstudium beiseite, und bemühe mich, den anderen in seinen Begriffen bis dahin zu führen, wo sie anfangen moralisch - das heißt leider in vielen Fällen unmoralisch - zu werden. Denn, was zunächst not tut, das ist das, daß die Menschen aufhören, sich vor den moralischen Konsequenzen ihrer intellektuellen Begriffe zu drücken! »

Werden durch diese Einstellung nicht aber die ganzen wissenschaftlichen Bestrebungen in der anthroposophischen Bewegung über den Haufen geworfen? Ja, ist es nicht vielleicht sogar ganz richtig, daß das geschieht? Keineswegs! Im Gegenteil! Noch lange nicht klar genug sieht man in der Anthroposophischen Gesellschaft, welche Verantwortung sie hat, dafür zu wirken, daß wirklich Wis­senschaft, Kunst und Religion wieder zu einer Einheit werden. Gar mancher ältere Anthroposoph meint, was gehe ihn in seinem Streben nach reiner Anthroposophie die gegenwärtige Wissenschaft an! Aber er ahnt nicht, mit welch furchtbarer Gewalt allein schon das denkerische Betreiben heutiger Wissenschaft die Seele zwingt, in ihren ursprünglichsten Verrichtungen unmoralisch zu sein. Da heraus kommt dann eine Lähmung der Seelenkräfte im Verkehr der Wissenschafter untereinander, mit den Studenten und der Studenten untereinander, die verhee­rend hineinwirkt in das soziale Dasein der Menschen. Und das ist in allen Wissen­schaften so, von der mathematischen bis hinüber zu den sozialen. Das Gefährlichste

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daran aber ist dies, daß das dauernd so verläuft, daß die Seelen selber davon nichts merken, und daß sie schließlich zu gelähmt sind, um sich überhaupt noch dagegen regen zu können. Und dieser Alp wird so fürchterlich, daß manche Menschen, die eigentlich die Berufensten wären, aus neuen Kräften heraus zu arbeiten am Neuen, wenn sie gar wach geworden sind, aufstöhnen: «Ich kann ja nicht mehr anders!»

Der kommenden Jugend also gilt es, von vornherein einen neuen Wissen­schaftsweg zu zeigen, ihr, von der jetzt schon der bekannte Pädagoge Eduard Spranger sagt, sie werde nur noch eine solche Wissenschaft anerkennen, in der sie ihr ethisches Menschenwesen befriedigt findet; die der heutigen Wissenschaft Goethes Wort über Kants Philosophie zurufen wird: «Ich fühle mich in nichts gebessert!».

Warum glauben die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft im Durchschnitt aber immer noch, hierin keine eigene Aufgabe zu haben? Weil das Wort «Wissenschaft» sie zwingt, eine Analogie zur heute gültigen Wissenschaft zu machen. Aus der ganzen Schilderung heraus des Nichts, in dem die gegenwärtige und kommende Jugend steht, kann man sich aber eigentlich genötigt fühlen, das Neue nicht mehr «Wissenschaft» sondern «Können-schaft» zu nennen!

Inwiefern kann aber ein jeder echte Anthroposoph zu ihr etwas beitragen? Ja, aus all dem Geschilderten geht ja hervor, daß sie sich nur auferbauen kann auf dem alltäglichsten Gewahrwerden des Geistigen selbst. Und wo tritt dieses uns am offenbarsten entgegen? Im Du des anderen Menschen. Als wir hinter den Kulissen des Wiener Kongresses in aller Stille um ein erstes Gestalten dieser Impulse rangen, da rief uns Dr. Steiner in seinem dortigen Zweigvortrage zu: Nicht hat anthroposophische Wissenschaft hinzuführen zu einer Brüderlichkeit, sondern sie selber kann nur erwachsen aus Brüderlichkeit. - Und eben dieses ist es, was die Jugend im Laufe dieser Monate stärker und stärker erstrebte: dieses bewußte Zusammenwirken vom Ich und Du. Das aber ist auf der anderen Seite eine ungeheuer schwere Aufgabe für die Jugend allein. Denn zum rechten Du-Erlebnis braucht man ein gerüttelt Maß Lebensweisheit, wie sie erwachsen kann einem älteren Menschen aus seiner Lebenserfahrung. Und da möchten wir Jungen grei­fen nach helfenden Menschenhänden aus der Anthroposophischen Gesellschaft. Denn wir fühlen: Ein Nichts sind wir gegenüber dieser Aufgabe des Du-Erlebnis­ses mit unserer Lebenserfahrung allein. Allerdings eine Lebenserfahrung, wie sie heute beim Alter meist üblich ist, die sich einem dauernd wie ein Klotz vor die Füße wirft, indem sie grinsend von zerstörten Illusionen, von abgeschliffenen Jugendidealen spricht, eine solche brauchen wir nicht! Aber gerade Anthroposo­phie kann wohl das Alter lehren, Erfahrungen in Weisheit zu verwandeln.

Eine solche Wissenschaft hat aber noch eine weitere wichtige Aufgabe, als nur die, wissenschaftlich strebenden jungen Menschen die Möglichkeit eines men­schenwürdigen Seelenweges zu bieten oder sie davor zu bewahren, mit der Klampfe in Feld, Wald und Wiese herumzulaufen, um hernach doch Philister zu werden, oder rein aus dem Gefühl heraus soziale Siedelungsexperimente zu

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machen. Und diese andere Aufgabe ergibt sich daraus, daß die besten unter den heutigen Proletariern eigentlich müde geworden sind an allen sozialistischen Theorien, allen Parteiprogrammen, aller volkshochschulmäßigen Scheinwissen­schaft. Das Denken ist ihnen kompromittiert! Und sie beginnen etwas auszuspre­chen, was eigentlich ganz russisch ist: «Jetzt wollen wir einmal anfangen, nur zu leben. Das Leben wird sich schon selbst regulieren. Mit unserem vielen Denken haben wir es nur darin dauernd gestört!» - Damit aber machen sie sich ja nur zu einem umso leichteren Opfer des einzigen, worin die Menschheit heute ganz wach ist, des harten, kalten, tötenden, gemütslosen Denkens. Wir können aber nicht anders weiterkommen als dadurch, daß wir diesem Denken ein anderes Denken entgegensetzen. Und so gilt es, durch unsere neue Wissenschaft all diesen Men­schen das Vertrauen zum Denken zurückzugeben.

Aber gerade und nur aus Anthroposophie kann eine solche Wissenschaft erwachsen. Denn konnte noch Nietzsche, auf dessen glänzende Kritik der Bil­dungsanstalten in den siebziger Jahren Dr. Steiner letzthin öfters hinwies, in seiner positiven Forderung außer einem nebulosen Naturerleben zu nichts anderem kommen als zu einem Zurückgreifen auf die letzte von kosmischer Weltanschau­ung getragene Kultur, die hellenische, so gibt erst Anthroposophie einen dem gegenwärtigen Denken erfaßbaren Zusammenhang aller geistigen und körperli­chen Vorgänge Himmels und der Erden, und so werden die kommenden Spezial-wissenschaften als Gemeinsames haben: den Menschen; auseinanderteilen wie ein Fächer werden sie sich nur bezüglich der Erforschung des Zusammenhanges des Menschen in all seinen Einzelheiten mit all den Phänomenen des Natürlichen und des Sozialen um ihn herum. Das Wort aber, das Dr. Steiner oft von seiner Geistesforschung gebraucht hat: verstehen könne sie ein jeder, nur um sie zu erforschen, brauche man die Geistorgane - dieses Wort wird entsprechend gelten können von der neuen Wissenschaft. In ihr wird der Fachmann vor dem Laien nur das Erforschen voraus haben, nicht aber das Verständnis. Sie wird ihre Popularität in sich selber tragen; - einem heutigen Universitätsprofessor aber darf sie gar nicht verständlich sein! Zwei großartige Beispiele haben wir hierfür: Goethes «Farbe­nlehre» und Dr. Steiners «Kernpunkte der sozialen Frage».

Und wie kann solche Wissenschaft nun konzentriert und intensiv geschaffen werden, wie die Not der Zeit es gebieterisch heischt? Wie finden wir auch nur genügend künftige Mitarbeiter dazu? Durch nichts anderes, als durch die Arbeit an einer gemeinsamen Stätte, einer neuen Freien Hochschule! Solange wir stets nur vor die Jugend in der Außenwelt hintreten und unsere Worte gipfeln müssen in: «Wir möchten» - «wir könnten» - «man müßte», solange erwecken wir meist nur ein bald erlahmendes Interesse. Ganz anders aber werden wir wirken können, wenn wir gleichsam mit dem Finger auf diese Stätte werden weisen können. So ist uns die Schaffung einer solchen Freien Hochschule ein ebensolcher brennender Wunsch, als wie er von den älteren Waldorfschülern zu hören war. Und das könnte eine heilige Aufgabe sein, an der alle Generationen der Anthroposophi­schen Gesellschaft zusammen wirken könnten.

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So ist es nur natürlich, daß wir Jungen aus diesem heraus, was uns so am Herzen liegt und heraus möchte rein menschlich zunächst, und dann erst hinein in die Spezialisierung des geistigen Lebens, daß wir da greifen möchten nach den Händen der ganzen Anthroposophischen Gesellschaft. Wir hatten uns durch unsere Erlebnisse am «Stuttgarter System» verleiten lassen zu einer Opposition gegen die ganze Anthroposophische Gesellschaft. Wir haben aber inzwischen ein brennendes Interesse gewonnen an der Organisation der Anthroposophischen Gesellschaft und wir haben gelernt, daß es nicht unsere Forderung sein kann:

«Reorganisiert uns die Anthroposophische Gesellschaft, damit wir etwas davon haben!», sondern daß wir selbst mit unseren besten Kräften zur Reorganisation helfen müssen! Denn wir haben erlebt, wie wir ein Nichts sind ohne die Kräfte der Anthroposophischen Gesellschaft, so wie wir andererseits in einer gewissen Selbstbewußtheit meinen, daß die Anthroposophische Gesellschaft ein Nichts ist ohne uns und die kommenden Generationen. Darum aber bitten wir die älteren Freunde, was uns Jüngeren, die wir so aus dem Nichts als Bettler um Geist kommen, so viel selbstverständlicher ist, daß sie mit uns zusammen hinblicken auf die uns entgegenwachsenden Menschen, damit jede Metamorphose der Anthro­posophie, mag sie auch noch so unerwartet sein, sich ausleben kann in der Anthroposophischen Gesellschaft.

Wenn wir in solch gemeinsamem Bewußtsein gemeinsamer Liebe zur Mensch­heitsaufgabe zusammenarbeiten werden, verbindend das Ursprüngliche der Ju­gend mit dem dem Alter Eigenen, dann werden wir von jetzt an in alle Zukunft hinein etwas tun, was nicht nur Vergangenes gut machen kann, was die Anthropo­sophische Gesellschaft nicht nur reorganisieren, nicht nur eine Organisation des Geistigen schaffen kann, sondern was etwas erwirken kann, das wie eine Pflanze ist, die in jedem Augenblick Keim ist für die Zukunft, die unsterblich ist aus einem ewigen «Stirb und Werde» und aus der uns allen gemeinsam noch unendliche Freude und unendliche Aufgaben erwachsen können.

Herr Louis Werbeck, Hamburg, bittet, ein Komitee zu bilden zur Schaffung einer Freien Hochschule, und fordert zu Stiftungen auf.

Herr Louis Werbeck, Hamburg: Referat über

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«Die Gegnerschaft» Fsiehe unter Hinweise]

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Schon seit Jahren bestand für die anthroposophische Bewegung die Notwendig­keit, sich des Angriffs einzelner Gegner zu erwehren. Erst in neuerer Zeit sieht sich die Bewegung genötigt, mit einer geschlossenen Gegnerschaft zu rechnen. Die Einheit dieser Gegnerschaft ist von innerer Gliederung durchsetzt: Das ganze, in sich differenzierte traditionelle Geistesleben erhebt sich gegen die Anthroposo­phie und ihren Schöpfer.

Dem Angriffe dieses materiell gewaltigen Phänomens kann man nur metho­disch begegnen. Nicht indem man die Schriften der Gegner widerlegt- die Feinde sollen ihre Überzeugungen und Weltanschauungen haben; denn Differenzierung

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ist die Voraussetzung für die Entwickelung des menschlichen Geisteslebens -sondern indem man das «Wie» der gegnerischen Kampfesweise methodisch und rückhaltlos charakterisiert.

Alle Menschen haben ein Interesse daran, daß die großen Kulturkämpfe, die mit Notwendigkeit an den Wendepunkten der Entwickelung auftreten, nicht aus dem Gebiete herausfallen, in dem sie urständen: aus dem Geistgebiete. Bedient sich eine Gegnerschaft untermenschlicher oder gar krimineller Mittel, so wird damit prinzipiell die Existenz eines jeden Menschen angetastet.

Eine methodische Untersuchung der Kampfesweise der Gesamtgegnerschaft enthüllt überzeugend die üblen Mittel, die diese in ihrem Angriffe auf die Anthro­posophie und ihren Schöpfer verwendet. Alle Gegner stellen das Objekt ihres Widerspruchs unzulänglich dar. Was sie als «Anthroposophie» auf der Grundlage oberflächlichen Teilstudiums der geisteswissenschaftlichen Werke oder gar nach oberflächlichem Einblick in die Gegnerschriften darstellen, ist in den meisten Fällen nichts mehr als eine Karikatur der Anthroposophie. Dieses selbsterzeugte Gespenst machen sie populär, dieses bekämpfen sie.

Bei der Konstruktion dieses Schemens spielen alle Handgriffe niedrigster Journalistik eine Rolle: falsches oder verrenktes Zitat, Wiedergabe schockieren­der, aus dem Zusammenhang gerissener Tatsachen, suggestive Beeinflussung des Lesers durch Form und Aufmachung der Schriften, Lüge, Verleumdung, Fäl­schung, Unterschiebung von Absurditäten usw. Diese immer wiederkehrenden Phänomene lassen sich zu Kategorien ordnen, die typisch für die einzelnen Gegnergruppen sind.

Die innere Schwäche und Hohlheit des literarischen Gesamtwerkes der Geg­ner offenbart sich in einem vierfachen Widerspruche, der sich unter exakten Beweis stellen läßt. i. widersprechen sich die Einzelschriften in sich selber, 2. widersprechen sie sich untereinander, 3. widersprechen sich die einzelnen Geg­nergruppen, und 4. ist der einheitlich aufgefaßte Widerspruch der Gesamtgegner­schaft vor der zulänglich erfaßten Anthroposophie unhaltbar. Sie löst ihn in sich auf. Es läßt sich faktisch der Beweis erbringen, daß sich die Gegnerschaft durch Selbstzeugnis in diesem vierfachen Widerspruche geistig selbst vernichtet.

Aber nicht nur in der Abwehr des gegnerischen Angriffs kann Methode walten, sondern auch in der Art, wie die anthroposophische Bewegung die Auf­klärung über die perfide Gegnerschaft an die Zeitgenossen heranbringt.

Der an aller Wahrheitserkenntnis resignierende Zeitgenosse steht dem Inhalte der literarischen Erscheinungen immer skeptischer und gleichgültiger gegenüber. Auch die Inhalte der Streitschriften beginnen ihn kalt zu lassen. Noch aber ist er ästhetisch zu erregen. Schutzschriften für die anthroposophische Bewegung soll­ten daher von Künstlern geformt werden, sollten Kunsterzeugnisse sein, die durch ihre Form auf den Willen und durch Bildlichkeit auf das Gefühl wirken. Auf diesem Wege allein kann Interesse für den Inhalt solcher Schriften entfacht wer­den. Heute gilt es, nicht einseitig auf den Kopfmenschen, sondern unmittelbar auf den ganzen Menschen zu wirken.

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Zur Schaffung von so gearteten literarischen Abwehrwaffen muß daher eine Gesellschaft aufgerufen werden, die einen so unaussprechlich köstlichen Besitz zu verteidigen hat wie die anthroposophische; sie muß es um so energischer, als sie ihre Pflichten in diesem Betracht seit Jahren versäumte. Ein vitales Interesse bindet heute die Anthroposophische Gesellschaft an einen organisierten Abwehrkampf. Jeder Anthroposoph, dem es um seine Weltanschauung ernst ist, ist zur Beteili­gung an diesem Abwehrkampfe aufgerufen. An ihm scheiden sich die Lauen und Flauen von denen, die eines wahrhaft guten Willens sind.

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Hierauf wurde die Versammlung um 12 Uhr unterbrochen. Fortsetzung 2 Uhr.

Dienstag, den 27. Februar, nachmittags

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Eröffnung durch den Vorsitzenden, Herr Emil Leinhas, um 2 Uhr.

Es melden sich einige Redner zur Geschäftsordnung. Da sie aber zu den Gegen-ständen sprechen, die später beraten werden sollen, werden sie vom Vorsitzen­den unterbrochen.

Herr Dr. Karl Heter, Stuttgart: Referat über den

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«Bund für freies Geistesleben»

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Der «Bund für freies Geistesleben», über den hier unter den Gesichtspunkten der Anthroposophischen Gesellschaft gesprochen werden soll, hat seine Da­seinsgrundlage darin, daß es heute zahlreiche Menschen gibt, die zwar mit der Anthroposophischen Gesellschaft zunächst nichts zu tun haben wollen, die aber ein lebhaftes Bedürfnis nach dem haben, was als Auswirkungen aus der Anthropo­sophie auf den verschiedensten Lebensgebieten hervorgegangen ist. An diese sollte der Bund bewußt sich wenden. Dadurch könnten zum Beispiel Studien-kreise für bestimmte Gebiete (wie Physik, Nationalökonomie, Pädagogik, Theo­logie usw.) ins Leben gerufen werden. Damit würde ein Kreis von Menschen sich bilden können, der eine Art von Zwischenschicht zwischen der Anthroposophi­schen Gesellschaft und der «Außenwelt» abgeben würde. Eine solche gerade im Interesse der Anthroposophischen Gesellschaft notwendige Zwischenschicht fehlt heute. Sie würde in sachgemäßer Art über Anthroposophie diskutieren und auch ein gesundes, sachgemäßes Urteil über die Gegnerschaft der Anthroposophie entwickeln können. Es kommt vor allem darauf an, daß jeder, der so in die Außenwelt wirken kann, auch den Willen hat, dies zu tun. Gut ist es auch erfahrungsgemäß im Interesse einer sachgemäßig öffentlichen Diskussion über Anthroposophie, daß neue nichtanthroposophische Vereinigungen durch Anthroposophen Vorträge über Anthroposophie halten lassen, wozu ja auch unsere Freunde manches tun können. Redner wird der Bund nach Möglichkeit vermitteln. Ein anderes: Das deutsche Volk ist in Gefahr, immer mehr sich von

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den Grundlagen seines eigenen Wesens zu entfernen. Auf dieses Wesen, wie es Geister wie Fichte, wie es die Goetheanisten aufgefaßt haben, hinzuweisen, wäre eme der vornehmsten Aufgaben eines Bundes für freies Geistesleben, der dadurch zugleich auch für die im deutschen Geistesleben wurzelnde Anthroposophie Vorarbeit leisten würde. Der Bund kann zur Quelle einer gesunden Urteilsbil­dung über alle Fragen des gegenwärtigen sozial-kulturellen Lebens werden. Sol­che Urteilsbildung fehlt der Gegenwart nur allzusehr. Aus Anthroposophie muß und kann sie gewonnen werden. Indem der Bund - zum Beispiel auf dem Gebiet der Völkerpsychologie - in dieser Richtung wirkt, wird er zugleich zum Zeugen werden für die Fruchtbarkeit der anthroposophischen Welterkenntnis. Wenn der Bund für eine Befreiung des Geisteslebens von Staat und Wirtschaft, insbesondere für freie Schulen eintritt, so stellt er sich wiederum gleichermaßen in den Dienst einer allgemeinen Zeitnotwendigkeit wie auch der anthroposophischen Bewe­gung, die ohne ein freies Geistesleben nicht zu ihrer vollen sozialen Auswirkung kommen kann. Für alle diese und viele andere Aufgaben braucht der Bund die Mitwirkung aktiver Persönlichkeiten. Er selbst kann nichts anderes sein als die Gesamtheit derer, die in solcher oder ähnlicher Art aktiv mitarbeiten wollen mit Ortsgruppen, die nur auf dem Papier stehen und zu denen sich Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft zusammenschließen, die dann nichts anderes tun, als was sie auch bereits als Zweig getan haben, ist dem Bunde nicht gedient. Wer aber in der angedeuteten Weise mitarbeiten will, den bitte ich, sich unter Angabe des Arbeitsgebietes mit uns in Verbindung zu setzen. Gelingt es uns, den Bund zu einem lebendig wachsenden Organismus zu machen, dann wird durch ihn der Vertrauensorganismus, den wir innerhalb der Anthroposophischen Ge­sellschaft begründen wollen, sich über diese hinaus in die Außenwelt gleichsam fortsetzen, und wir werden auch von dieser Seite her die Isolierung überwinden können, in der sich heute unsere Gesellschaft gegenüber der Welt befindet.

Für die folgende Diskussion wird die Redezeit auf zehn Minuten beschränkt. Der

Vorsitzende, Herr Leinhas, bittet, nunmehr zum Positiven zu sprechen. Eine

Geschäftsordnungsdebatte wird abgebrochen.

Herr Dr. Rudolf Toepel, Komotau, stellt den Antrag, einen neuen Vorstand wählen zu lassen.

Herr Dr. Rudolf Steiner: Diese Versammlung ist hier zusammenge­kommen, um über das Schicksal der Gesellschaft zu entscheiden. Und es ware wirklich notwendig, daß die einzelnen Teilnehmer sich be­wußt werden der Wichtigkeit des Moments. Die Anthroposophische Gesellschaft ist ganz gewiß kein Kegelklub. Man kann also unbedingt in der Anthroposophischen Gesellschaft nicht, bevor über die Ver-hältnisse, wie sie nun gegenwärtig sind, eingehend konferiert worden ist, auftreten mit der Prätention: es solle jetzt ein Vorstand gewählt

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werden. Das kann man in einem Kegelklub, aber nicht in der Anthro­posophischen Gesellschaft, wo vor allen Dingen Kontinuität notwen­dig ist. Es kann sich nur darum handeln, daß diese Versammlung zu Ende geleitet wird von denjenigen, die die führenden Persönlichkeiten in Stuttgart waren. Wie darüber diskutiert werden kann, in diesem Augenblick besonders, ist mir unverständlich. Wir kommen in ein absolutes Chaos hinein, wenn solche Anträge wie die des Herrn Doktor Toepel in solchem Augenblicke fallen. Solche Anträge kann man überhaupt nur dann stellen, wenn man die Absicht hat, die ganze Versammlung in die Luft zu sprengen.

Der Antrag Dr. Toepel wurde abgelehnt.

Herr Erwin Horstmann, Breslau, will positive Vorschläge machen. Die freie anthroposophische Jugend in Breslau habe etwas verwirklicht nach dem Grund­satz, daß, wo zehn leben können, auch der Elfte erhalten werden kann. Er schlägt vor, daß diejenigen, die sich ganz da einsetzen wollen, 5 Prozent ihres Einkom­mens der Bewegung zur Verfügung stellen, und wünscht unterschriftliche Ver­pflichtung.

GrafLudwig Polzer-Hoditz, Wien: Wenn man hört, daß das Schicksal der Gesell­schaft entschieden wird und daß das Goetheanum als Menschheitssache auf dem Spiel steht, muß eine Unruhe entstehen, und es ist begreiflich, wenn man mit der Zeit nicht zurechtkommt. Wir müssen etwas finden, was eine Konsolidierung ermöglicht. Er berichtet darauf, wie Österreich auf die Lage reagiert habe. Man habe sich gesagt, es müsse etwas geschehen, der Vorstand habe versagt, also müsse man eine neue Leitung machen. Man hätte sich entschlossen, einen Vertrauens-kreis zu bilden, wo die Menschen zusammenkommen können, und zwar in regelmäßigen Zusammenkünften. Dann werden sich Persönlichkeiten heraushe­ben. Die benachbarten Kreise werden sich dann schon verständigen. Ähnlich wie in Wien, wo die beiden Zweige eine Verbindung hergestellt hätten.

Herr Martin Münch, Berlin: Die Anthroposophische Gesellschaft hat keine Sat­zungen, sondern den Entwurf der Grundsätze. Wir sollten eine Anthroposophi­sche Gesellschaft begründen, welche sich zu diesen Grundsätzen bekennt. Dazu braucht man Vertrauenspersönlichkeiten, die anerkannt werden. In Berlin gab es einen Vertrauenskreis, der funktioniert hat, nämlich die Jugendbewegung. Hier ist ein Anschauungsunterricht, denn die Leitung hat keine Vertrauenspersönlichkei­ten ernannt und bestätigt. Bei der Aufnahme von Mitgliedern darf es nicht bei der Registratur bleiben. Die Einführungskurse sollten nicht Sache der Zweige sein, wir brauchen Helfergruppen zum Empfang der Neueintretenden. Der Zentral-vorstand muß diejenigen kennen, die Einführungen halten. Es handelt sich um

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eine Belastungsprobe der Menschen in Stuttgart. Wenn in Stuttgart gar nichts geschehen wäre, dann wären auch keine Fehler gemacht worden. Er verweist darauf, daß die Unterschreiber des Aufrufes da sind, man dürfe nichts abreißen lassen, sondern müsse die Angelegenheiten fortführen. In dem Neunerkomitee könne man etwas sehen, was bestehen bleiben kann.

Herr Dr. Robert Wolfgang Wallach, Stuttgart, sagt, er sehe wesentliches in dem, was Lehrs gesprochen habe. Die wichtigste Frage darin sei, das richtige Verhältnis von Älteren und Jüngeren herzustellen. Dies sei bisher im richtigen Sinne nicht ganz gelungen, denn das, was die Älteren den Jüngeren haben geben wollen, sei nicht das gewesen, was die Jüngeren suchen. Die Jugend suche nicht lehrhafte Belehrung, sondern sie suche solche, die dem entspringt, was die Älteren sich erarbeitet haben.

Herr Walter Hartwig, Lörrach-Stetten: Es sei genug an Kritik. Man musse zu praktischen Vorschlägen kommen. Das Komitee solle als Vorstand vorläufig fungieren. Es könne dann ergänzt werden durch Persönlichkeiten wie Lehrs, Büchenbacher. In drei Tagen könne man es nicht herausbringen, wer die Leitung haben solle. Dr. Steiner dürfe scharf kritisieren, denn er könne es selbst besser machen. Man möge es mit den Persönlichkeiten des Komitees versuchen, denn sie hätten bewiesen, daß sie einen guten Willen haben. Jeder Gruppenleiter wisse genau, wie schwer es sei, Vertrauen zu erwerben.

Herr Eugen Storck, Efilingen: Man müsse nicht nur über das Proletariat, sondern mit ihm denken. Wir brauchen eine Vertrauensorganisation mit Menschen aus allen Schichtungen. Es sollen dies nicht nur denkende, sondern auch fühlende Menschen sein.

Herr Dr. Friedrich Rittelmeyer, Stuttgart, ging nochmals vom «Stuttgarter Sy­stem» aus und charakterisierte es aus seiner eigenen früheren Erfahrung. Man möge ihm seine eigenen Worte vorhalten, wenn sie in der religiösen Bewegung in dieselben Fehler verfallen: Das Alles-besser-Wissen, die Meinung, man müsse alles von Stuttgart aus machen, während man dann doch nicht dazu kommt, die Weltfremdheit in der Isolierung, die Neigung zum Intellektualismus, ohne die nötige menschliche Wärme, die ungenügende Führung der Mitarbeiter in Stuttgart selbst. Man habe die größten Besorgnisse haben müssen, wie es gehen wird, wenn einmal Dr. Steiner physisch nicht mehr unter uns weile. Wenn sich die Gesell­schaft eine neue Leitung gebe, so müsse diese Leitung auch einen neuen Willen haben, müsse sich dafür verantwortlich fühlen, daß das beste Leben der Gesamt­heit überallhin geleitet werde, daß alle lebendigen Kräfte in der Gesellschaft durch Hilfe Anregung und Förderung möglichst zur Funktion gebracht werden, daß starke Parolen für die gemeinsame Arbeit und Orientierung von Stuttgart ausge­hen. Durch eine Vertrauensorganisation von etwa zwölf hervorragenden Anthro­posophen, die vor allem auch das Leben von außen zurückströmen lassen, müsse die Leitung beweglich erhalten werden. Als die wichtigsten Aufgaben der nächsten

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Zukunft ergeben sich: Es muß die anthroposophische Hauptaufgabe wieder stärker erfaßt werden, vom Intellektualismus zur Sophia, vom Spezialistentum zum Anthropos müsse zurückgekehrt werden. Nach lebensvoller Gemeinschaft aus anthroposophischer Spiritulität heraus müsse gestrebt werden. Das Geistesgut der Anthroposophie müsse viel mehr nach allen Seiten vermittelt und nicht nur im engen Kreis gepflegt werden, wofür aus der Erfahrung einige Vorschläge gemacht werden, die Verteidigung der Anthroposophie und ihres Führers müsse viel großzügiger geführt werden. Ganz besonders müsse erstrebt werden, ein unorga­nisierter Gesinnungsbund aller anständigen Menschen, die die Anthroposophie nicht vernichten lassen, sondern sie ernst genommen und geprüft haben wollen. Die Zwischenschicht derer, die zwischen den Anthroposophen und den Anthro­posophiegegnern stehen, müsse vergrößert werden. Schließlich müsse die ganze Arbeit auf die Jugend eingestellt werden, dann fangen auch die Alten wieder zu hoffen an und die Feinde müssen es leiden.

Herr Bernhard Behrens, Hamburg, spricht von der Notwendigkeit, feste Ge­meinschaften in der Jugend zu bilden.

Herr Dipl. -Ing. Ulrich Hallbauer, Hamburg: Eine Vertrauensorganisation muß sich auf Freiheit und Vertrauen gründen. In den einzelnen Städten und Arbeits­gruppen sollten sich in freier Weise einzelne Persönlichkeiten ihren Wirkungs­kreis suchen. Je vielseitiger, desto besser. Geisteswissenschaftliche Arbeit könne nur von den Zweigen geleistet werden. Die anderen Gebiete, insbesondere das Fachmäßig-Wissenschaftliche, gehöre außerhalb der Zweige. In kleinen Gruppen könne eine eigene Initiative zur Geltung kommen. Auch Eurythmie könne sich so einfügen. Die einzelnen Gruppen könnten sich zusammenschließen in der Ge­meinschaft der Vertrauenspersönlichkeiten. Dadurch ergeben sich größere Kreise, deren Zusammenfassung den Vorstand bilden könnte. Außerdem müßten die einzelnen Gruppen direkte Verbindung mit der Zentrale haben.

HerrJohannes Pingel, Hamburg, wird nach wenigen Sätzen unterbrochen.

Herr Emil Leinhas, Stuttgart, als Vorsitzender gibt zum Schluß eine Zusammen­fassung.

Schluß 1/2 5 Uhr.

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Dienstag, den 27. Februar 1923, abends

I. Vortrag von Herrn Dr. Rudolf Steiner über

«Die Bedingungen einer Gemeinschaftsbildung in

einer Anthroposophischen Gesellschaft»

Lmit dem Vorschlag: zwei Gesellschaften zu bilden. Siehe GA 2571

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Herr Emil Leinhas, Stuttgart: Wir hatten beschlossen, Ihnen vorzuschlagen. die Diskussion dem anzupassen, was durch Dr. Steiners Vortrag gegeben ist.

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Herr Ernst Uehli, Stuttgart: Nicht als Mitglied des Zentralvorstandes möchte ich in diesem Augenblicke, nachdem Herr Dr. Steiner gesprochen hat, mir erlauben, das Wort zu ergreifen. Ich möchte Sie herzlich bitten, vor allen Dingen Dr. Steiner bitten, davon überzeugt zu sein, daß ich aus ehrlichem Wollen heraus vor Ihnen stehe und aus ehrlichem Wollen heraus den Weg suchen will zu dem, was für die Zukunft nottut. Nicht nur aus ehrlichem Wollen heraus, sondern aus ehrlicher Liebe, die ich Dr. Steiner gegenüber und gegenüber der Anthroposophischen Gesellschaft, so gut ich konnte, im Herzen bisher getragen habe. Es war mir die Aufgabe gestellt, zu sprechen heute oder morgen, ich möchte dies aus sachlichen Gründen sagen, über eurythmische Kunst, und wollte im Verlaufe des Vortrages dann einmünden in das, was zur Fortentwickelung der Gesellschaft notwendig ist, weil ich mir sagte, daß in der eurythmischen Kunst etwas vorliegt, das immer im anthroposophischen Sinn positiv gewirkt hat, dann aber, von einem solchen Felde aus, den Weg besser zu finden für dasjenige, was für die Fortentwickelung der Gesellschaft zu sagen sei.

Ich wollte im Laufe dieses Referats zurückkommen auf diejenigen Worte, die heute früh von Herrn Lehrs gesprochen worden sind; deshalb, weil sie zu meinem Herzen gesprochen haben und mich tief ergriffen haben, wollte ich auf die Worte des Herrn Lehrs zurückkommen. Ich gehöre zwar zu den Alten, die seit zwei Jahrzehnten in der Bewegung stehen. Daß ich aber ein junges Herz habe, das dürfen Sie mir glauben. Ich empfinde es tief, was da durch die Jugend hereingetra­gen worden ist, und ich kann es mitempfinden, und ich will das, was sich mir als wesensfremd übergestülpt hat, abwerfen. Ich möchte Sie bitten, nehmen Sie es an. Glauben Sie mir, daß es mein ehrlicher Wille ist. Dann möchte ich das andere, was ich auch heute morgen sagen wollte, erwähnen. Wenn es mir gegönnt sein kann, daß es von den jungen Freunden verstanden und aufgenommen werden kann, so werde ich in jeder Weise, so wie es in mir erlebt wurde, so wie ich glaube es gestalten zu können in Zukunft, zusammenarbeiten wollen in wahrem anthropo­sophischen Sinn, so wie es von Dr. Steiner in so durchgreifender und eindringli­cher Weise hingestellt worden ist. Das möchte ich in Zukunft zu meiner ernsten und echten Lebensaufgabe machen, und in diesem Sinne möchte ich auch mit der Jugend zusammenarbeiten können. Aber nicht nur dieses möchte ich als meine Aufgabe ansehen können. Auch da, wo die alten Anthroposophen der Gesell­schaft sind, möchte ich mitarbeiten können. Ich möchte hineinwachsen, mehr als es bisher möglich gewesen ist, in die anthroposophische Familie, möchte alles dasjenige zu meinen Pflichten und heiligen Aufgaben machen, was wir aus ehrli­chem anthroposophischem Willen, soweit wir es unter Führung von Dr. Steiner vermögen, lebendig machen können. Glauben Sie mir, es ist mein ernster und mein heiligster Wille, das zu suchen. Ich will nicht viele Worte machen. Ich will nur sagen, daß ich in diesem Sinne meine Aufgabe in der Zukunft für die Fortent­wickelung der Anthroposophischen Gesellschaft suchen will.

Ich glaube dann, meine lieben Freunde, wenn es uns gelingt, die Hand einzu­schlagen in die Hand der Jungen und auf der anderen Seite in dasjenige, was früher

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schon da war als Anthroposophische Gesellschaft, und wenn wir Hand in Hand und Herz in Herz weiterarbeiten wollen und glauben wollen in Zukunft an die Anthroposophische Gesellschaft, dann hoffe ich, daß auch das, was seit 1919 als die verschiedensten Institutionen gegründet worden ist, von allen getragen wer­den kann. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir dann die Institutionen hintra­gen können zu dem, was für sie nötig ist. Wenn Sie einschlagen in die Hand und in die herzliche Bitte, die ich nur stammelnd vorbringen kann, dann werden wir doch den Weg finden. Das möchte ich aus gedrängtem Herzen heraus sagen.

Dr. Unger: Ich fühle mich verpflichtet, aus einem etwas anderen Tone und aus anderen Hintergründen heraus zu sprechen, als das, was eben Herr Uehli aus seinem Herzen zu Ihnen gesprochen hat, denn es handelt sich für mich in diesem Augenblick darum, Rechenschaft abzulegen über das, was geschehen ist seit der Zeit, als hier in Stuttgart begonnen worden ist mit den Gründungen, die dann zu den Schwierigkeiten geführt haben. Wir wissen, daß diese zum Untergang der Anthroposophischen Gesellschaft führen können. Was bedeutet das, wenn wir rückblickend auf die Geschehnisse hinschauen? Gestatten Sie mir, gerade in dieser Beziehung manches zu schildern, was bis jetzt in diesen Verhandlungen noch nicht zum Ausdruck gekommen ist. Es handelt sich darum, daß wir uns klar darüber werden, inwiefern gerade diese Gründungen als Realitäten unter uns stehen, inwiefern wir imstande sind zu verantworten, daß sie vorhanden sind. Ich möchte davon ausgehen, daß wir in älterer Zeit, in den ersten Jahren bis zum Jahre 1918, eine Anthroposophische Gesellschaft gehabt haben, die in sich das Streben trug, Anthroposophie als solche zu betreiben. Wir haben es einerseits zu tun mit weiten Kreisen, die hindrängen an die Anthroposophische Gesellschaft, um An­throposophie kennenzulernen; aber wir haben es bei dieser Gesellschaft auch zu tun mit etwas, das eine Geschichte hat. Wir dürfen und können sie nicht überge­hen. Und wenn wir hinschauen darauf, daß wir, unter Erwägung all dieser Gründungen, den Aufruf hinausgesandt haben, daß wir in diesen Verhandlungen referieren wollten von den verschiedensten Gesichtspunkten heraus über die Tatbestände, so stoßen wir auf ein Unverständnis für diese Tatsächlichkeit. Wenn von Stuttgart aus Gründungen ausgegangen sind, die in ihrer Art auch dienen wollten der anthroposophischen Bewegung, die aber in Anspruch nahmen die anthroposophische Hilfe, die Beratung von Dr. Steiner, die Belastung von Dr. Steiner, so obliegt es uns, das Interesse für diese Gründungen wachzurufen bei allen denen, die in der Anthroposophischen Gesellschaft drinnen sind. Man kann sagen, die Anthroposophische Gesellschaft hat sich diese Gründungen gefallen lassen ... aber das Interesse für diese Dinge den Menschen beizubringen, das haben wir von der Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft aus vielleicht nicht verstanden. Betrachten wir, was aus dieser Bewegung hervorgegangen ist an einzelnen konkreten Gründungen; nehmen wir das, was mit der wirtschaftlichen Bewegung zu tun hat: die Gesellschaft war nachher nicht mehr die gleiche wie vorher. Die Außenwelt hat sich angeschaut, was gemacht worden ist; es hat sich

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dadurch Gegnerschaft gebildet, gerade im Zusammenhang mit diesen Gründun­gen im schärfsten Sinne. Daher mußten wir auf die Gründungen hinschauen und prüfen, was nicht in Ordnung ist. In Ordnung ist die Waldorfschule, in seiner Art in Ordnung ist der »Kommende Tag»; nicht in Ordnung sind die Gründungen der wissenschaftlichen Bewegungen. Die wissenschaftlichen Institute, die aus den Mitteln des »Kommenden Tages» gestaltet worden sind, sind nicht in Ordnung, weil aus der Art ihrer Vertretung Gegnerschaft gebildet worden ist. Es ist nicht verstanden worden, in den Gründungen den anthroposophischen Geist so leben­dig zu halten, daß sie der Anthroposophischen Gesellschaft zugemutet werden können. Diese Zumutung wurde aber gestellt, und es handelt sich darum, ob die Anthroposophische Gesellschaft nun weiterleben will ohne sie oder ob sie einver­standen ist, daß diese Institutionen in ihrer Mitte weilen und zu Recht bestehen. Was zu dieser Krise geführt hat, ist, daß wir in einem großen Kreise von Mitarbei­tern dieser Institutionen uns vor die Frage gestellt sahen: Werden wir imstande sein, sie so gesund zu machen, daß die Anthroposophische Gesellschaft sie zu tragen vermag; werden wir ein solches Interesse für sie zu erwecken vermögen, wie es notwendig ist?

Das Komitee der Neun, das sich gebildet hat, repräsentiert in gewisser Bezie­hung ja auch das, was an solchen Gründungen vorhanden iSt, was vertretbar ist in ihrer Idee, in ihrer Anlage. Die Kämpfe, die wir ausgefochten haben, bestanden darin, daß die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft sich nun auch dafür verantwortlich fühlen will, daß gerade aus anthroposophischer Gesinnung heraus etwas geleistet werde, was vertretbar ist der Außenwelt gegenüber. Die Gegner dürfen nicht recht haben. Das ist es, worum es sich handelt. An sich allein sind die Institutionen als solche nichts; nur durch die Menschen, die in ihnen arbeiten, haben sie Bedeutung, und an die Menschen wollen sie sich wenden, damit sie tragen helfen. Dazu ist notwendig, daß ein Zusammenschluß der hier Arbeitenden zu einer Gemeinschaftsbildung wirklich vorhanden sei. Damals, als die neuen Menschen hierher gekommen sind, um die Dinge hier zu übernehmen, wurde damit auch die Verpflichtung übernommen, sie durchzutragen.

Nehmen wir die Angelegenheit des Verlages. Er wurde gegründet, weil man Neues brauchte. Es gab ja schon einen Verlag, der gesund war, der als solcher heraus gewachsen war aus den selbstgewordenen Dingen der Anthroposophischen Gesellschaft, nämlich den Philosophisch-Anthroposophischen Verlag. Der Ver­lag des »Kommenden Tages« aber ist gegründet worden, und man mußte ihm erst einen Inhalt geben. Für diesen Interesse zu erwecken, ist eine Aufgabe. So geht es auch mit den anderen Dingen. Wir haben ein Klinisch-therapeutisches Institut. Es muß sich so darstellen, daß es innerhalb der eigenen Kreise mit Recht besteht.

Und nun, wenn wir eine einheitliche Anthroposophische Gesellschaft sein wollen, müssen wir imstande sein, diese Unternehmungen in Ordnung zu brin­gen. Wenn Sie den Mut haben, uns nach dieser Richtung hin Vertrauen zu schenken, so hoffen wir imstande zu sein, die ersten Schritte zu tun, um den lebendig fließenden Strom, der uns mit der Gesellschaft verbinden soll, wach

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erhalten zu können. Zu diesem Ziele zu gelangen wird die Aufgabe des morgigen Tages sein. Es wird die Aufgabe des Komitees sein, morgen zu erklären, was es unternehmen will.

Dr. Kolisko: Ich möchte den ganzen Ernst der Situation noch einmal vor Sie hinstellen. Es ist dies durch den alten Zentralvorstand, durch das, was Dr. Unger und Herr Uehli sagten, nicht zur Genüge geschehen. Herr Dr. Steiner hat die Möglichkeit einer Trennung der Gesellschaft vor Sie hingestellt. Es scheint mir, daß wir uns ganz klar machen müßten, was diese Trennung bedeutet. Wir haben zwei Gruppen in der Gesellschaft. Die einen, welche an den Institutionen hängen, die anderen, welche das nicht tun. Letztere sind die alten Mitglieder sowie die der jüngeren Generation, welche jetzt hinzugekommen sind. Früher trieb man an­throposophische Arbeit in den verschiedensten Kreisen. Diese Mitglieder fühlten sich nicht verantwortlich für die Institutionen, ebensowenig die jungen, welche jetzt aus Sehnsucht nach Anthroposophie herangekommen sind. Wir stehen vor der tragischen Situation, daß es uns nicht gelungen ist, diese Gruppen von Mitglie­dern zu der Überzeugung zu bringen, daß die ganze Anthroposophische Gesell­schaft sich für diese Institutionen interessieren muß, sie mittragen muß. Das war die Schuld des alten Zentralvorstandes, daß er nicht die Aufgabe erfüllt hat, die ganze Gesellschaft zu einer Einheit zu gestalten, welche die Institutionen trägt. Unsere Referate sollten dem Zweck dienen, bei Ihnen ein wahres Interesse für die Institutionen zu erwecken. Es ist uns leider nicht gelungen, durch diese Referate das zu erreichen: sie waren unvollkommen. Wir müßten bei einer solchen Spal­tung der Gesellschaft alle die Hoffnungen zu Grabe tragen, die wir hatten! Machen Sie sich die Konsequenzen ganz klar! Die neue freie Gesellschaft würde sich um diese Institutionen nicht kümmern. Es ist der letzte Moment, wo wir noch zu einer Einsicht kommen können, und ich glaube, daß es meine Aufgabe ist, von diesem Standpunkt aus zu sprechen, da ich meine ganze Kraft diesen Institutionen zur Verfügung gestellt habe, seit ich in der Bewegung wirke. Es war die Schuld des alten Vorstandes, daß es nicht gelungen ist, alle Mitglieder für die Institutionen zu gewinnen. Jetzt kann noch ein letzter Versuch gemacht werden, um es zu verhin­dern, daß die Gesellschaft sich spalten muß. Ich bitte Sie also, sich bewußt zu sein, daß diese Spaltung die Vernichtung aller dieser Hoffnungen bedeutet.

Dr. Steiner: Ich habe nur eine Bitte: Sie haben gesehen aus dem, was besprochen worden ist, daß wir morgen alle Veranlassung haben, über diejenigen Dinge zu sprechen, die zu einer Art Konsolidierung der Gesellschaft in der einen oder anderen Form führen. Ich sehe keine Notwendigkeit, daß gesprochen wird über solche Dinge, die in Ord­nung sind, zum Beispiel das Referat über Eurythmie.[*] Es muß damit

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[*] Diese Bemerkung bezieht sich auf die Äußerung Uehlis am vorigen Abend (s. Seite 419), daß er ein Referat über Eurythmie hatte halten wollen.

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begonnen werden, daß der bisherige Zentralvorstand seine Ansicht in kurzer Weise darlegt, so daß zu etwas Positivem gekommen werden kann. Ich sehe nicht ein, daß es notwendig ist, über die Dinge zu sprechen, die in Ordnung sind! Warum will man die Zeit damit ausfüllen und nicht endlich eingehen auf diejenigen Dinge, die in Ordnung gebracht werden sollen? Auf diese Notwendigkeit möchte ich hinweisen mit der Perspektive, daß ich Sie bitte, heute nacht oder morgen etwas zu überlegen und sich zunächst mit dem zu beschäfti­gen, was nötig ist, umzugestalten - oder neu zu gestalten.

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Mittwoch, 28. Februar, vormittags

Herr Emil Leinhas eröffnet die Versammlung um 9 Uhr.

Ansprache Dr. Rudolf Steiners

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Meine lieben Freunde! Nach dem Verlaufe unserer Versammlung an den beiden ersten Tagen sah ich mich gestern genötigt, einige Richt­linien zu geben - wie ich schon sagte: aus meiner Sorge heraus für den weiteren Ablauf der Verhandlungen. Denn wir müssen ja heute zu einem positiven Resultat kommen, und die Sache darf nicht so sein, daß unsere lieben Freunde, die zu dieser Delegiertenversammlung hergereist sind, heute abend in derselben Weise abreisen, wie sie am Sonntag angekommen sind. Wir müssen zu einem positiven Resultate kommen. Ich versuchte dasjenige, was ich sagte, aus dem Realen dessen heraus zu sagen, das aus den Verhandlungen hervorging. Wir müssen immer die Dinge so nehmen, wie sie sich in der Realität ausnehmen, und unsere jetzige Realität ist das, was sich durch die Verhandlungen in den zwei Tagen gezeigt und gezeitigt hat. Man konnte zu dieser Versammlung nicht mit einem fertigen Programm kommen, denn dann hätten wir nicht zusammenzukommen brauchen. Sonst hätte irgendein Programm ausgearbeitet und jedem einzelnen geschickt werden können, und die Sache wäre fertig gewesen. Es handelt sich darum, daß diese Verhandlungen ernst genommen wer­den und daß in dieser Versammlung jedes Mitglied durch die Dele­gierten zu Worte kommt.

Nun hat sich doch herausgestellt, daß ganz deutlich - ganz abgese­hen von kleineren Gruppen - zwei Hauptgruppen in der Mitgliedschaft

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sich ergeben haben und daß es ganz aussichtslos ist, daß sich diese Hauptgruppen auf ein absolut gemeinsames Programm einigen.

Ich will bei einem ganz anderen Punkte anfangen, ich will zeigen, wie sich die Dinge wirklich ausnehmen. Ich habe gestern im Beginne meines Vortrages gesagt: In den zwei Jahrzehnten des Lebens der Anthroposophischen Gesellschaft ist doch etwas erlebt worden. Die Anthroposophische Gesellschaft ist nicht etwas, was man neu begrün­den kann, wovon man sprechen kann wie vor 15,20 Jahren gesprochen worden ist. So muß aber derjenige sprechen, der vor kurzer Zeit erst eingetreten ist. Das kann außerordentlich gut sein, aber es ist von einem anderen Gesichtspunkte aus gesprochen. Dieses Leben der Anthroposophischen Gesellschaft hatte ich von meinem Gesichts­punkte aus mitzuerleben. Und für dieses mein Miterleb