GA 233a

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Mysterienstätten des Mittelalters

Rosenkreuzertum
und modernes Einweihungsprinzip

Das Osterfest

als ein Stück Mysteriengeschichte
der Menschheit
Zehn Vorträge, gehalten in Dornach
vom 4. bis 13. Januar und 19. bis 22. April 1924

GA 233a

1991

Inhaltsverzeichnis


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MYSTERIENSTÄTTEN DES MITTELALTERS ROSENKREUZERTUM UND MODERNES EINWEIHUNGSPRINZIP

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ERSTER VORTRAG Dornach, 4. Januar 1924

Im Anschluß an dasjenige, was ich Ihnen vorzubringen hatte in dem Kursverlauf während unserer Weihnachtstagung, möchte ich in diesen drei Vorträgen, die nun an den Abenden werden zu halten sein, einiges von dem sagen, was die auf die Erforschung des geistigen Lebens hin­gehende Entwickelung in der neueren Zeit betrifft. Es wird ja vielfach gerade unter dem Namen der Rosenkreuzerei und anderer okkulter Bezeichnungen von dieser neueren geisteswissenschaftlichen Entwicke­lung gesprochen, und ich möchte einmal das Innere dieser Erforschung des geistigen Lebens hier Ihnen schildern. Dazu wird notwendig sein, daß wir heute einleitend etwas über die ganze Art der Vorstellungen sagen, die sich etwa um das neunte, zehnte, elfte nachchristliche Jahr­hundert festsetzte und dann allmählich verschwand eigentlich erst am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, sich sogar noch erhalten hat bei einzelnen Nachzüglern im neunzehnten Jahrhundert. Also ich möchte heute nicht historisch vorgehen, sondern ich möchte eine Summe von durch gewisse Persönlichkeiten innerlich erlebten Vorstellungen vor Ihre Seele hinstellen. Man denkt ja gewöhnlich gar nicht, wie anders die ganze Vorstellungswelt vor einer verhältnismäßig kurzen histori­schen Zeit war bei denjenigen, die sich zu den erkennenden Menschen gerechnet haben, als heute. Heute spricht man von chemischen Stoffen, siebzig oder achtzig chemischen Stoffen, und wird sich gar nicht be­wußt, daß eigentlich wirklich furchtbar wenig damit gesagt ist, wenn man einen Stoff als Sauerstoff, als Stickstoff und so weiter bezeichnet. Denn Sauerstoff ist ja nur etwas, was vorhanden ist unter bestimmten Voraussetzungen, unter bestimmten Voraussetzungen von Wärmezuständen, von anderen Zuständen des irdischen Lebens. Es kann doch unmöglich eigentlich ein vernünftiger Mensch mit irgend etwas den Begriff der Realität verbinden, was bei Erhöhung einer Temperatur um soundso viele Grade nicht mehr in demselben Maße, in derselben Weise vorhanden ist, wie es gerade eben

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unter den Bedingungen vorhanden ist, in denen der Mensch als physischer Erdenmensch lebt. Und gerade solche Begriffe, solche Vorstellungen, die Tendenz über das Relative des Daseins hinauszugehen zu einem wirklichen Dasein, dieses Ziel lag eben dem Forschungsleben der ersten Zeit des Mittelalters, der mitt­leren Zeit des Mittelalters durchaus zugrunde.

Ich setzte deshalb einen Übergang vom neunten ins zehnte nachchristliche Jahrhundert, weil vorher die ganzen Anschauungen der Men­schen noch sehr geistig waren. Es würde zum Beispiel einem wirklich Wissenden des neunten Jahrhunderts gar noch nicht haben beikommen können, in der Annahme von Engeln oder Erzengeln oder Seraphim irgend etwas zu sehen, was an Realität nicht gleichgekommen wäre -ich meine nur an Realität - den physischen Menschen, die man mit Augen sieht. Bei den Wissenden finden Sie, daß durchaus in dieser Zeit vor dem zehnten Jahrhundert von den geistigen Wesenheiten, den sogenannten Intelligenzen des Kosmos, wie von Wesenheiten gespro­chen wird, nun ja, denen man eben begegnet, wenn auch die Leute gewußt haben, sie sind schon längst aus dem Zeitalter hinaus, in dem das ein allgemeines Anschauungsgut der Menschen war. Sie haben aber gewußt, unter besonderen Verhältnissen ist die Wirkung da. Man darf zum Beispiel durchaus nicht übersehen, daß zahlreiche Priesternaturen, katholische Priesternaturen, bis ins neunte, zehnte Jahrhundert im Ver­lauf der Verrichtungen des Meßopfers sich ganz klar darüber waren, daß sie bei dieser oder jener Handlung des Meßopfers die Begegnung von geistigen Wesenheiten, von Intelligenzen des Kosmos gehabt haben.

Aber mit dem neunten, zehnten Jahrhundert verschwand allmählich aus dem Bewußtsein der Menschen der unmittelbare Zusammenhang mit den eigentlichen Intelligenzen des Weltenalis, und immer mehr und mehr tauchte nur auf das Bewußtsein von den Elementen des Kosmos, von dem Erdigen, dem Flüssigen oder Wäßrigen, dem Luftartigen, dem Wärmeartigen, dem Feurigen. So daß ebenso, wie man früher von kos­mischen Intelligenzen gesprochen hat, welche die Planetenbewegungen regeln, die Planeten vorbeiführen an den Fixsternen und so weiter, man nunmehr sprach, ich möchte sagen, von der unmittelbaren Um­gebung des Irdischen. Man sprach von den Elementen der Erde, des Wassers, der Luft, des Feuers. Chemische Stoffe im heutigen Sinne

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beachtete man nicht. Das kam erst viel später, daß man diese beachtete. Aber sehen Sie, Sie würden sich etwas ganz Falsches vorstellen, wenn Sie sich denken würden, daß die Wissenden selbst noch im dreizehnten, vierzehnten Jahrhundert, ja sogar in einer gewissen Weise herein bis ins achtzehnte Jahrhundert, sich unter Wärme, Luft, Wasser, Erde dasselbe vorgestellt hätten, was sich heute die Menschen darunter vor­stellen. Heute reden die Menschen von der Wärme überhaupt nur noch als von einem Zustande, in dem die Körper sind. Von einem eigentlich Wärmeätherischen wird ja nicht mehr geredet. Aber Luft, Wasser, das ist ja für die Menschen heute, man möchte sagen, das Allerabstrak-teste geworden, und es ist schon notwendig, daß man sich vertiefe in die Art, wie diese Vorstellungen einmal waren. Und so möchte ich Ihnen heute ein Bild geben, wie etwa die Redeweise bei den Wissenden in der bezeichneten Zeit war.

Ich war genötigt, als ich meine «Geheimwissenschaft» schrieb, die Entwickelung der Erde doch wenigstens ein wenig mit den gebräuch­lichen Vorstellungen der Gegenwart in Einklang zu bringen. Im drei-zehnten, zwölften Jahrhundert würde man sie haben anders machen können. Da würde zum Beispiel in einem gewissen Kapitel dieser «Ge­heimwissenschaft» das Folgende zu finden gewesen sein. Da hätte man zunächst eine Vorstellung hervorzurufen gehabt von den Wesenheiten, die man als die Wesenheiten der ersten Hierarchie bezeichnen kann:

Seraphim, Cherubim, Throne. Man würde die Seraphim charakterisiert haben als Wesenheiten, bei denen es nicht Subjekt und Objekt gibt, sondern bei denen Subjekt und Objekt zusammenfällt, die nicht sagen würden: Außer mir sind Gegenstände - sondern: Die Welt ist, und ich bin die Welt, und die Welt ist Ich - die eben nur von sich wissen, und zwar so, daß diese Wesenheiten, diese Seraphim, von sich wissen durch ein Erlebnis, von dem der Mensch einen schwachen Nachglanz hat, wenn er, nun[sagen wir, die Erfahrung macht, die ihn in eine glühende Begeisterung versetzt.

Es ist sogar manchmal schwer, dem gegenwärtigen Menschen klar zu machen, was eine glühende Begeisterung ist, denn noch im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts wußte man besser, was glühende Be­geisterung ist, als heute. Da kam es schon noch vor, daß das oder jenes

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Gedicht von diesem oder jenem Dichter vorgelesen worden ist, und die Leute benahmen sich vor Begeisterung so - verzeihen Sie, aber es war schon so-, daß der gegenwärtige Mensch sagen würde: Die sind ja alle wahnsinnig geworden! - So sind sie in Bewegung gekommen, so ist Wärme in sie eingezogen. Gegenwärtig erfriert man ja, gerade wenn man glaubt, die Leute sollten begeistert sein.

Und durch dieses Element der Begeisterung, das insbesondere in Mittel- und Osteuropa recht heimisch war, durch diese seelische Be­geisterung, indem dieses Element zum Bewußtsein erhoben ist, einheit­liches Bewußtseinselement ist, hat man sich das innere Leben der Sera­phim vorzustellen. Und als ein völlig abgeklärtes Element im Bewußt­sein, lichtvoll, so daß der Gedanke unmittelbar Licht wird, alles be­leuchtet, hat man das Bewußtseinselement der Cherubim vorzustellen. Und als in Gnade tragend, weltentragend, das Element der Throne.

Nun, das ist solch eine Skizze. Ich könnte darüber lange noch fort­sprechen. Ich wollte Ihnen nur zunächst sagen, daß man in jener Zeit versucht hätte, zunächst Seraphim, Cherubim, Throne in ihren wesen­haften Eigenschaften zu charakterisieren. Dann würde man gesagt haben: Der Chor der Seraphim, Cherubim, Throne wirkt zusammen, und zwar so wirkt er zusammen, daß die Throne einen Kern begrün­den (rotlila); die Cherubim lassen von diesem Kern ausströmen ihr eigenes lichtvolles Wesen (gelb). Die Seraphim hüllen das Ganze in einen Begeisterungsmantel, der weithin in den Weltenraum strahlt (rot).

Aber das sind alles Wesenheiten in dem, was ich zeichne, in der Mitte die Throne, im Umkreis die Cherubim, in dem, was im Äußersten hier ist, die Seraphim. Das sind Wesenheiten, die ineinanderschweben, -tun,

-denken, -wollen, die ineinanderfühlen. Das sind Wesenhaftigkeiten. Und wenn ein Wesen, das die entsprechende Empfindungsfähigkeit gehabt hätte, nunmehr den Weg durch den Raum genommen hätte, wo in dieser Weise die Throne einen Kern begründet haben, die Cherubim eine Art von Umkreis, die Seraphim eine Art von Abschluß nach außen, wenn ein solches Wesen in den Bereich dieses Wirkens der ersten Hierarchie gekommen wäre, so hätte es Wärme in verschiedener Diffe­renzierung, an verschiedenen Stellen Wärme gefühlt, da höhere Wärme, dort tiefere Wärme. Aber alles seelisch-geistig, aber so seelisch-geistig,

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daß das seelische Erlebnis auch zu gleicher Zeit in unseren Sinnen ein physisches Erlebnis ist, daß also, indem das Wesen sich seelisch warm fühlt, wirklich das da ist, was Sie fühlen, wenn Sie in einem geheizten Raume sind. Solch eine Zusammenbauung von Wesenheiten der ersten Hierarchie ist einmal im Weltenall entstanden, und das bildete das saturnische Dasein. Die Wärme ist bloß der Ausdruck dafür, daß diese Wesenheiten da sind. Die Wärme ist nichts als der Ausdruck dafür, daß diese Wesenheiten da sind.

Ich möchte dafür ein Bild gebrauchen, das hier vielleicht etwas auf-klärend sein kann. Denken Sie sich, Sie haben einen Menschen gern. Sie empfinden seine Gegenwart als wärmend. Denken Sie sich, es kommt eine, der ein furchtbarer Abstraktling ist und sagt: Der Mensch interessiert mich eigentlich nicht, den denke ich mir weg, mich inter­essiert nur die Wärme, die er verbreitet. - Aber er sagt gar nicht: Mich interessiert nur die Wärme, die er verbreitet -, sondern: Mich inter­essiert überhaupt nur die Wärme. - Er redet natürlich Unsinn, das ver­stehen Sie, denn wenn der Mensch weg ist, der die Wärme verbreitet,

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dann ist die Wärme auch nicht mehr da. Die Wärme ist überhaupt nur etwas, was da ist, wenn der Mensch da ist. Sie ist an sich nichts. Der Mensch muß da sein, wenn die Wärme da ist. So müssen Seraphim, Cherubim, Throne da sein, sonst ist auch die Wärme nicht da. Die Wärme ist nur die Offenbarung der Seraphim, Cherubim, Throne.

Sehen Sie, in jener Zeit, von der ich spreche, gab es ja in der Tat bis zu den kolorierten Zeichnungen herunter das, was ich Ihnen eben jetzt beschrieben habe. Man redete so, daß man, wenn man von Elementen redete, vom Elemente der Wärme, darunter eigentlich Cherubim, Sera-phim, Throne verstand. Und das ist das saturnische Dasein.

Nun ging man weiter, und man sagte sich dann: Nur die Seraphim, Cherubim, Throne haben die Macht, so etwas hervorzubringen, so etwas hinzustellen in den Kosmos. Nur diese höchste Hierarchie hat die Fähigkeit, so etwas hinzustellen in den Kosmos. Aber indem diese höchste Hierarchie im Ausgangspunkte eines Weltenwerdens so etwas hingestellt hat, konnte die Entwickelung weitergehen. Es konnten gewissermaßen die Söhne der Seraphim, Cherubim und Throne die Entwickelung weiterleiten. - Und das geschah dann auf die Weise, daß wirklich die von den Seraphim, Cherubim und Thronen hervorgebrach­ten Wesenheiten der zweiten Hierarchie, die Kyriotetes, Dynameis, Exusiai, nun eindrangen in diesen Raum, sagen wir, der hier durch Seraphim, Cherubim und Throne saturnisch gestaltet worden war, saturnisch warm gebildet worden war. Da drangen dann die jüngeren, natürlich kosmisch jüngeren Wesenheiten ein. Diese kosmisch jüngeren Wesenheiten, wie wirkten sie? Während die Cherubim, Seraphim und Throne für sich im Elemente der Wärme sich offenbarten, so offen­barten sich die Wesenheiten der zweiten Hierarchie im Elemente des Lichtes. Hier (auf der Zeichnung) das Saturnische ist dunkel, liefert Wärme. Und innerhalb der dunklen finsteren Welt des saturnischen Daseins ersteht dasjenige, was durch die Söhne der ersten Hierarchie, durch die Exusiai, Dynameis, Kyriotetes entstehen kann.

Was da entsteht innerhalb dieses saturnisch Warmen, das entsteht dadurch, daß das Eindringen der zweiten Hierarchie bedeutet ein inner­liches Durchleuchtetwerden. Dieses innerliche Durchleuchtetwerden ist verknüpft mit einer Verdichtung der Wärme. Es wird aus dem bloßen

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Wärmeelement Luft. Und wir haben auf der einen Seite eindringend in der Offenbarung des Lichtes die zweite Hierarchie. Aber Sie müssen sich jetzt klar vorstellen, in Wirklichkeit dringen Wesenheiten ein. Für ein Wesen mit entsprechender Wahrnehmungsfähigkeit dringt Licht ein. Licht ist dasjenige, was die Wege dieser Wesenheiten bezeichnet. Wenn irgendwo Licht hinkommt, so entsteht unter gewissen Bedin­gungen Schatten, Finsternis, finsterer Schatten. Durch das Eindringen der zweiten Hierarchie in Form des Lichtes entstand auch Schatten.

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Was war dieser Schatten? Die Luft. Und tatsächlich, bis ins fünfzehnte, sechzehnte Jahrhundert hat man gewußt, was die Luft ist. Heute weiß man nur, die Luft besteht aus Sauerstoff, Stickstoff und so weiter, wo­mit nicht viel anderes gesagt ist, als wenn einer meinetwillen von einer Uhr weiß, sie besteht aus Glas und Silber, womit über die Uhr gar nichts gesagt ist. Es ist über die Luft gar nichts gesagt als kosmische Erscheinung, wenn man sagt, sie besteht aus Sauerstoff und Stickstoff, aber es ist viel über die Luft gesagt, wenn man weiß: Aus dem Kosmos heraus ist die Luft der Schatten des Lichtes. - So daß man also jetzt

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tatsächlich mit dem Eindringen der zweiten Hierarchie in das saturnisch Warme das Eindringen des Lichtes hat (gelb auf der Kreidezeichnung), und den Schatten des Lichtes, die Luft (grün). Und wo das entsteht, ist Sonne. So hätte man eigentlich müssen im dreizehnten, zwölften Jahr­hundert sprechen.

Nun gehen wir weiter. Die weitere Entwickelung wird nun wie­derum durch die Söhne der zweiten Hierarchie, durch Archai, Archan­geloi, Angeloi geleitet. Diese Wesenheiten bringen ein Neues in das leuchtende Element, das zunächst durch die zweite Hierarchie einge­zogen ist, das seinen Schatten, die luftige Finsternis nach sich gezogen hat, nicht die gleichgiltige neutrale Finsternis, die saturnische, die ein­fach Abwesenheit des Lichtes war, sondern die, welche den Gegensatz des Lichtes herausgearbeitet hat. Zu dieser Entwickelung hinzu bringt die dritte Hierarchie, Archai, Archangeloi, Angeloi, durch ihre eigene Wesenheit ein Element hinein, das ähnlich ist unserem Begehren, unse­ren Trieben, etwas zu erlangen, nach etwas sich zu sehnen.

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Dadurch kam folgendes, dadurch kam zustande, daß, sagen wir, ein Archai- oder Angeloiwesen hier hereinkam (siehe Zeichnung) und auftraf

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auf ein Element des Lichtes, ich möchte sagen, auf einen Ort des Lichtes. In diesem Ort des Lichtes empfing es durch die Empfänglich­keit für dieses Licht den Drang, das Begehren für die Finsternis. Es trug das Angeloiwesen das Licht in die Finsternis herein, oder ein Angeloi­wesen trug die Finsternis in das Licht herein. Diese Wesenheiten wer­den die Vermittler, die Boten zwischen Licht und Finsternis. Und die Folge davon war, daß dann dasjenige, was früher nur im Lichte er-glänzte und seinen Schatten, die dunkle luftige Finsternis, nach sich gezogen hat, daß das anfing, in allen Farben zu schillern, daß Licht in Finsternis, Finsternis in Licht erschien. Die dritte Hierarchie ist es, die die Farbe hervorgezaubert hat aus Licht und Finsternis.

Sehen Sie, hier haben Sie auch sozusagen etwas historisch Dokumen­tarisches vor Ihre Seele hinzustellen. In der Aristoteles-Zeit hat man noch gewußt, wenn man, ich möchte sagen, innerhalb des Mysteriums sich gefragt hat, woher die Farben kommen, daß damit die Wesen­heiten der dritten Hierarchie zu tun haben. Daher sprach es Aristoteles in seiner Farbenharmonie aus, daß die Farbe ein Zusammenwirken des Lichtes und der Finsternis bedeutet. Aber dieses geistige Element, daß man hinter der Wärme die Wesenheiten der ersten Hierarchie, hinter dem Lichte und seinem Schatten, der Finsternis, die Wesenheiten der zweiten Hierarchie, hinter dem farbigen Aufglitzern in einem Welten­zusammenhange die Wesenheiten der dritten Hierarchie zu sehen hat, das ging verloren. Und es blieb nichts anderes übrig, als die unglück­selige Newtonsche Farbenlehre, über die bis ins achtzehnte Jahrhundert herein die Eingeweihten gelächelt haben, und die dann das Glaubens­bekenntnis derjenigen wurde, die eben physische Fachleute sind.

Man muß eben wirklich von der geistigen Welt gar nichts mehr wis­sen, wenn man im Sinne dieser Newtonschen Farbenlehre sprechen kann. Und wenn man noch innerlich aufgestachelt ist von der geistigen Welt, wie es i)ei Goethe der Fall war, da sträubt man sich dagegen. Man stellt, wie er es getan hat, das Richtige hin und schimpft furcht­bar. Denn Goethe hat nie so geschimpft als bei der Gelegenheit, wo er über Newton zu schimpfen hatte; er schimpfte furchtbar über das un­sinnige Zeug. Solche Dinge kann man ja heute nicht begreifen, aus dem einfachen Grunde, weil heute jemand vor den Physikern ein Narr ist,

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der nicht die Newtonsche Farbenlehre anerkennt vor den Physikern. Aber die Dinge liegen doch nicht so, daß etwa in der Goethe-Zeit Goethe ganz allein dagestanden hätte. Unter denen, die nach außen diese Dinge aussprachen, stand er allein da, aber die Wissenden, auch noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, sie wußten eben durchaus auch, wie innerhalb des Geistigen die Farbe erquillt.

Aber sehen Sie, die Luft ist der Schatten des Lichtes. Und geradeso, wie, wenn das Licht ersteht, unter gewissen Bedingungen der finstere Schatten da ist, so ersteht, wenn Farbe da ist und diese Farbe als Reali­tät wirkt - und das konnte sie, solange sie eindrang in das luftige Ele­ment -, so entsteht, wenn die Farbe hinsprüht im luftigen Elemente, wirkt im luftigen Elemente, also etwas ist, nicht bloß ein Abglanz ist, nicht bloß die Reflexfarbe ist, sondern eine Realität, die hinsprüht im luftigen Elemente: dann entsteht, wie durch Druck Gegendruck ent­steht unter gewissen Bedingungen, aus dem realen Farbigen das flüs­sige, das wäßrige Element. Wie der Schatten des Lichtes Luft ist, kos­misch gedacht, so ist das Wasser der Abglanz, die Schöpfung des Far­bigen im Kosmos.

Sie werden sagen: Das verstehe ich nicht. - Aber versuchen Sie nur einmal, tatsächlich das Farbige zu fassen in seinem realen Sinne. Rot -nun ja, glauben Sie, daß das Rot wirklich in seiner Wesenheit nur die neutrale Fläche ist, als die man es gewöhnlich anschaut? Das Rot ist doch etwas, was eine Attacke auf einen macht. Ich habe es oftmals er­wähnt. Man möchte davonlaufen vor dem Rot, es stößt einen zurück. Das Blauviolett, man möchte ihm nachlaufen, es läuft immer vor einem davon, es wird immer tiefer und tiefer. In den Farben lebt ja alles. Die Farben sind eine Welt, und das seelische Element fühlt sich in der Farbenwelt tatsächlich so, daß es gar nicht auskommen kann ohne Be­wegung, wenn es den Farben mit dem seelischen Erleben folgt.

Sehen Sie, der Mensch glotzt heute den Regenbogen an. Wenn man nur mit einiger Imagination nach dem Regenbogen hinschaut, da sieht man Elementarwesen, die am Regenbogen sehr tätig sind. Diese Ele­mentarwesen zeigen sehr merkwürdige Erscheinungen. Hier (bei Gelb) sieht man fortwährend aus dem Regenbogen herauskommen gewisse Elementarwesen. Die bewegen sich dann so herüber. In dem Augenblicke,

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wo sie ankommen an dem unteren Ende des Grüns, werden sie angezogen. Man sieht sie hier verschwinden (bei Grün). Auf der an­deren Seite kommen sie wieder heraus. Der ganze Regenbogen zeigt für den, der ihn mit Imagination anschaut, ein Herausströmen des Geistigen, ein Verschwinden des Geistigen. Er zeigt tatsächlich etwas wie eine geistige Walze, wunderbar. Und zu gleicher Zeit bemerkt man an diesen geistigen Wesenheiten, daß indem sie da herauskommen, sie mit einer großen Furcht herauskommen, indem sie da hineingehen, gehen sie mit einem ganz unbesieglichen Mut hinein. Wenn man nach dem Rotgelb hinschaut, da strömt Furcht aus, wenn man nach dem Blauviolett hinschaut, bekommt man das Gefühl: Da lebt ja alles wie Mut, wie Courage.

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Nun stellen Sie sich vor, daß nicht bloß der Regenbogen da ist, son­dern wenn ich jetzt hier einen Schnitt zeichne (siehe Zeichnung), und der Regenbogen so steht, so kommen die Wesenheiten da heraus, da verschwinden sie; hier Angst, hier Mut. Der Mut verschwindet wie­derum. So wäre jetzt das Auge gerichtet, hier ist der Regenbogen, hier ist jetzt das Rot, Gelb und so weiter. Da bekommt der Regenbogen

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eine Dicke. Und da werden Sie sich schon vorstellen können, daß wäß­riges Element daraus entsteht. Und in diesem wäßrigen Element leben nun geistige Wesenheiten, die wirklich auch eine Art von Abbild sind der Wesenheiten der dritten Hierarchie.

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Man kann schon sagen: Kommt man an die Wissenden des elften, zwölften, dreizehnten Jahrhunderts heran, so muß man solche Dinge verstehen. Sie können nicht einmal die Späteren mehr verstehen, Sie können nicht den Albertus Magnus verstehen, wenn Sie ihn lesen mit dem, was heute der Mensch weiß. Sie müssen ihn lesen mit einer Art von Wissen, daß solches Geistiges für ihn doch eine Realität war; dann verstehen Sie erst, wie er die Worte gebraucht, wie er sich ausdrückt.

Und auf diese Weise treten auf wie ein Abglanz der Hierarchien Luft, Wasser. Indem die erste Hierarchie selber als Wärme eindringt, dringt die zweite Hierarchie ein in Form des Lichtes, die dritte Hierarchie ein in Form des Farbigen. Damit aber, daß dieses sich bildet, ist das Mon­dendasein erreicht.

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Und nun kommt die vierte Hierarchie. Ich erzähle jetzt so, wie man im zwölften, dreizehnten Jahrhundert gedacht hat. Nun kommt die vierte Hierarchie. Wir sprechen gar nicht von ihr, aber im zwölften, dreizehnten Jahrhundert hat man noch von dieser vierten Hierarchie sehr wohl gesprochen. Was ist diese vierte Hierarchie? Das ist der Mensch. Der Mensch selber ist die vierte Hierarchie. Aber beileibe nicht das hat man verstanden unter dieser vierten Hierarchie, was jetzt als zweibeiniges, alterndes, so höchst sonderbares Wesen herumgeht in der Welt, denn dem eigentlich Wissenden ist dazumal gerade der gegen­wärtige Mensch als ein sonderbares Wesen vorgekommen. Sie haben gesprochen von dem ursprünglichen Menschen vor dem Sündenfall, der noch durchaus in einer solchen Form vorhanden war, daß er ebenso Macht über die Erde hatte, wie Angeloi, Archangeloi, Archai Macht über das Mondendasein, wie die zweite Hierarchie Macht über das Sonnendasein, die erste Hierarchie Macht über das Saturndasein hatte. Man sprach von dem Menschen in seinem ursprünglichen irdischen Da­sein und konnte da von dem Menschen als der vierten Hierarchie spre­chen. Und mit dieser vierten Hierarchie kam, allerdings als eine Gabe der oberen Hierarchien, aber wie etwas, was die oberen Hierarchien erst wie ein Besitztum gehabt haben, das sie gehütet haben, das sie nicht selber brauchten: es kam das Leben. Und in die farbenschillernde Welt, die ich Ihnen also in Andeutungen geschildert habe, kam das Leben hinein.

Sie werden sagen: Haben denn die Dinge nicht früher gelebt? - Meine lieben Freunde, wie das ist, können Sie am Menschen selber lernen. Ihr Ich und Ihr astralischer Leib haben nicht das Leben und wesen eben doch. Das Geistige, das Seelische braucht nicht das Leben. Erst bei Ihrem Ätherleib fängt das Leben an, und es ist das etwas äußerlich Hüllenhaftes. Und so kommt auch das Leben erst nach dem Monden-dasein mit dem Erdendasein in den Bereich derjenigen Evolution hinein, der eben unsere Erde angehört. Die farbenschillernde Welt wurde durchlebt. Nicht nur, daß jetzt Angeloi, Archangeloi und so weiter Sehnsucht empfingen, Finsternis in Licht, Licht in Finsternis hin-einzutragen und dadurch im Planeten das Farbenspiel hervorzurufen, sondern es trat dieses auf, innerlich zu erleben dieses Farbenspiel, es

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innerlich zu machen; zu erleben, wenn Finsternis innerlich das Licht dominiert, Schwachheit zu fühlen, Lässigkeit zu fühlen, wenn Licht die Finsternis dominiert, Aktivität zu fühlen. Denn was ist es, wenn Sie laufen? Wenn Sie laufen, ist es eben so, daß Licht in Ihnen die Finster­nis dominiert; wenn Sie sitzen und faul sind, dominiert die Finsternis das Licht. Es ist seelisches Farbenwirken, seelisches Farbenschillern. Von Leben durchsetztes, durchströmtes Farbenschillern trat auf, indem die vierte Hierarchie, der Mensch, kam. Und in diesem Augenblicke des kosmischen Werdens fingen die Kräfte, die da regsam wurden im Far­benschillern, an, Konturen zu bilden. Das Leben, das die Farben inner­lich abrundete, abeckte, abkantete, rief das feste Kristallinische hervor. Und wir sind im Erdendasein drinnen.

Solche Dinge, wie ich sie Ihnen jetzt dargestellt habe, die waren eigentlich die Ausgangswahrheiten jener mittelalterlichen Alchemisten, Okkultisten, Rosenkreuzer und so weiter, die, ohne daß heute die Ge­schichte viel von ihnen berichtet, namentlich geblüht haben vom neun­ten, zehnten bis ins vierzehnte, fünfzehnte Jahrhundert herein, und die noch die letzten Nachzügler gehabt haben, die man aber immer dann als Sonderlinge angesehen hat, bis ins achtzehnte Jahrhundert, ja bis in den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts herein. Nur sind dann diese Dinge völlig zugedeckt worden. Nur hat es die moderne Weltanschauung dann dazu gebracht, folgendes zu vollführen. Denken Sie sich, hier habe ich einen Menschen. Ich höre auf, mich für diesen Menschen zu interessieren und nehme ihm nur die Kleider ab und hänge die Kleider an einen Kleiderstock, der oben einen kopfförmigen Knopf hat, und für den Menschen interessiere ich mich nicht weiter. Ich stelle mir weiter vor: Das ist der Mensch; was geht mich das an, daß in die­sen Kleidern so etwas drinnenstecken kann? Das ist der Mensch (der Kleiderständer)! - Ja, sehen Sie, so kam es mit den Naturelementen. Es interessiert einen nicht weiter, daß hinter der Wärme oder dem Feuer die erste Hierarchie, hinter dem Licht und der Luft die zweite Hierarchie, hinter dem sogenannten chemischen Äther, Farbäther und so weiter und dem Wasser die dritte Hierarchie, hinter dem Lebens-elemente und der Erde die vierte Hierarchie oder der Mensch ist. Bloß den Kleiderrechen her und darauf die Gewänder gehängt! Nun, das

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ist der erste Akt. Der zweite Akt, der beginnt aber dann auf Kantisch! Da beginnt der Kantianismus, da fängt man an, indem man nun den Kleiderstock hat - die Kleider hängen darauf -, nun zu philosophieren, was das Ding an sich dieser Kleider sein könnte. Und man kommt darauf, daß man eigentlich dieses Ding an sich der Kleider nicht er­kennen kann. Sehr scharfsinnig! Natürlich, wenn man den Menschen zuerst weggenommen hat und dann den Kleiderstock mit den Kleidern hat, so kann man über die Kleider philosophieren, und dann kommt man darauf, daß man hübsche Spekulationen macht. Es ist ja eben der Kleiderstock da, nicht wahr, und da hängen die Gewänder daran, und da philosophiert man, entweder auf Kantisch: Das Ding an sich er­kennt man nicht - oder auf Helmholtzisch, und da denkt man sich:

Diese Kleider, die können doch nicht Formen haben. - Nun ja, da sind eben lauter kleine wirbelnde Staubkörnchen, Atome drinnen, die schla­gen da an, und da werden die Kleider in ihrer Form erhalten.

Ja, so hat sich das Denken dann später entwickelt. Das aber ist abstrakt, schattenhaft. Aber in diesem Denken, in diesem Spekulieren leben wir ja heute; aus dem prägen wir uns heute unsere gesamte natur­wissenschaftliche Anschauung. Und wenn wir nicht zugeben, daß wir atomistisch denken, so tun wir es erst recht. Denn das wird man noch lange nicht zugeben, daß es nicht notwendig ist, den Wirbeltanz der Atome da hineinzuträumen, sondern wieder den Menschen in die Kleider hineinzutun. Das aber muß eben versuchen die Wiederauf-richtung der Geisteswissenschaft.

Ich wollte Ihnen heute in einer Anzahl von Bildern geben, Wie da­zumal noch gedacht worden ist, und was schon eigentlich zu lesen ist in älteren Schriften, was aber verglommen ist. Aber weil es verglommen ist, kommen solche interessanten Tatsachen zutage: Da hat ein nor­discher Chemiker von heute eine Stelle des Basilius Valentinus wie­der abgedruckt und die Sache im heutigen Sinne chemisch genommen. Und da konnte er natürlich nichts anderes sagen - weil das so aussieht, wenn man es heute chemisch denkt, als wenn man im Laboratorium stünde, Retorten und andere Instrumente hätte und heutige Experi­mente ausführte -, da konnte er nichts anderes sagen, als daß das ein Unsinn sei, was da bei Basilius Valentinus steht. Was aber bei Basilius

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Valentinus steht, ist ein Stück Embryologie, eben in Bildform aus­gedrückt. Ein Stück Embryologie ist das. Wenn man einfach die heu­tige Denkweise anwendet, so bekommt man scheinbar einen bloßen Laboratoriumsversuch, der aber dann ein Unsinn ist. Denn im Labora­torium - wenn man nicht gerade der Wagner ist, der aber immerhin noch mehr auf dem Standpunkt der früheren Jahrhunderte steht -kann man eben nicht ein Stück Embryologie ausführen.

Diese Dinge müssen heute wieder eingesehen werden. Und im Zu­sammenhange mit den großen Wahrheiten, die ich aussprechen durfte in den Tagen der Weihnachtstagung, möchte ich eben auch einiges noch sagen über die Schicksale des inneren Geisteslebens in den letzten Jahr­hunderten der Weltentwickelung.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 5.Januar 1924

#G233-1962-SE177 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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ZWEITER VORTRAG

Dornach, 5.Januar 1924

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Gestern begann ich zu Ihnen von den geisteswissenschaftlichen Bestre­bungen vom neunten, zehnten nachchristlichen Jahrhundert zu sprechen, bis in die Zeit hinein, solange es im Ernste noch solche geisteswissen­schaftlichen Bestrebungen gegeben hat: was eigentlich bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts dau­erte, und ich versuchte gestern, einiges von dem Inhalte solcher Bestre­bungen zu Ihnen zu sprechen. Heute möchte ich nun mehr das Histori­sche berühren. Es handelt sich nämlich darum, daß ja durch das alte eigentliche Mysterienwesen in den Mysterienstätten in der Art, wie ich das während der Weihnachtstagung in den Abendvorträgen dargelegt habe, wirklich eine Begegnung der Menschen, der Initiierten und der zu Initiierenden, mit den Göttern stattfinden konnte, daß gewisser­maßen in den Initiationsstätten die Möglichkeit vorhanden war, wenn ich den pedantischen Ausdruck gebrauchen darf, offizielle Orte zu fin­den, die eigens ihrer Lokalität nach dazu eingerichtet waren, eine solche Begegnung herbeizuführen.

Diese Einrichtungen, die zugrunde liegen als die eigentlichen Impuls-geber allen alten Zivilisationen, sind nach und nach hingeschwunden, und man kann sagen: In der alten Form fanden sie sich eigentlich nicht mehr seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. Da und dort waren noch Nachzügler vorhanden, aber in dieser strengen alten Form fan­den sie sich nicht mehr. Dagegen hat ja die Initiation im Grunde ge­nommen niemals aufgehört; die Formen, in denen die zu Initiierenden ihren Weg fanden, die änderten sich. Und ich habe ja auch schon darauf hingewiesen, wie im Mittelalter die Sache so war, daß einzelne an­spruchslose, in aller Bescheidenheit lebende Menschen da oder dort vor­handen waren, die nicht gerade offizielle Schülerkreise an bestimmten Orten um sich sammelten, sondern die so, wie es das Menschheits- und Volkskarma ergab, da oder dort ihre Schüler hatten. Ich habe ja einen solchen Fall bei der Besprechung des Johannes Tauler in meiner «My­stik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens» charakterisiert. Über

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diesen brauche ich nicht zu sprechen. Dagegen möchte ich einen anderen Fall gerade heute besprechen als einen, ich möchte sagen, charakteri­stisch-typischen Fall, einen Fall, der von einem großen Einflusse war, der vom zwölften, dreizehnten Jahrhundert an bis ins fünfzehnte Jahr­hundert vieles bewirkt hat, was an spirituellen Strömungen bis ins fünfzehnte Jahrhundert vorhanden war. Ich möchte diesen Fall skiz­zenhaft charakterisieren.

Die Zeit, in der er stattgefunden hat, ist um das Jahr 1200 herum. Es gab in jener Zeit wirklich eine größere Anzahl von Menschen, jun­gen Menschen, die in sich den Drang nach höherem Wissen verspürten, nach einer Verbindung mit der geistigen Welt, man kann schon sagen, nach einer Begegnung mit den Göttern. Und es war ja eben durchaus nach der Lage der Zeitverhältnisse so, daß es oftmals fast wie zufällig aussah, wenn solch ein strebender Mensch seinen Lehrer fand, was ja damals nicht durch Bücher geschehen konnte, sondern was damals nur ganz persönlich geschehen konnte. Es war natürlich tiefe Schicksals-fügung darin und sah nur äußerlich wie ein Zufall aus. Von einem solchen Schüler möchte ich sprechen.

Er fand durch einen solchen scheinbaren Zufall in einem Orte des mittleren Europa einen Lehrer. Er traf mit einem älteren Menschen zusammen, demgegenüber er alsbald das Gefühl entwickelte, der könne ihn weiterleiten in dem Streben, das den tiefsten Drang seiner Seele bildete. Und ich möchte Ihnen zunächst sozusagen ein Gespräch skizzie­ren. Natürlich hat nicht nur ein solches Gespräch zwischen dem Lehrer und dem Schüler stattgefunden, aber ich fasse verschiedene Gespräche in eines zusammen.

Der Schüler sprach zu dem Lehrer, er strebe darnach, in die geistige Welt hinein Blicke tun zu können, aber es sei ihm so, als ob in der Tat die Menschennatur, so wie sie nun einmal in jener Zeit sei - im zwölften Jahrhundert ist es ungefähr, wovon ich spreche -, als ob die Menschennatur nicht vordringen könne zu den geistigen Welten. Man müsse doch, sagte der Schüler, in der Natur etwas sehen, was Werk, Schöpfung der göttlich-geistigen Wesenheiten sei. Man müsse aus dem, wie die Naturdinge seien in ihrem tieferen Sinne, wie die Naturvor­gänge verlaufen, erkennen können, wie hinter diesen Naturdingen und

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Naturschöpfungen das Wirken von göttlich-geistigen Wesenheiten stehe. Aber es sei so, als ob die Menschennatur in der Gegenwart nicht durchkönne. Und schon hatte es sich in dem Schüler, in dem jungen Menschen - ich meine, jungen Menschen von fünfundzwanzig oder achtundzwanzig Jahren - stark geformt zu Gefühlen: Das gegenwär­tige Menschentum, der physische Leib in seiner besonderen Verbindung mit der Seele, könne nicht vordringen, habe in sich selber Hindernisse.

Da sagte ihm zunächst der Lehrer, um ihn auf die Probe zu stellen:

Nun ja, du hast doch deine Augen, du hast doch deine Ohren; siehe mit deinen Augen hin auf die Naturdinge, höre mit deinen Ohren dasjenige, was geschieht, und du wirst durch Farbe und Ton, in denen sich ja Geistiges offenbart, du wirst durch sie hindurch das Geistige sich offenbaren fühlen müssen. - Da sagte der Schüler: Ja, wenn ich meine Augen gebrauche, wenn ich hinausschaue in die Welt, die farbig ist, da ist es mir, als wenn mein Auge die Farbe aufhielte, als wenn die Farbe an meinen Augen erstarrte. Und wenn ich hinhorche mit meinen Ohren auf die Töne, ist es, als wenn die Töne in meinen Ohren verknöcherten, und wie wenn die erstarrten Farben und die verknö­cherten Töne durch meine Sinne den Geist der Natur nicht hindurch-ließen. - Da sagte der Lehrer: Sieh aber doch, es gibt doch auch eine Offenbarung; es gibt die Offenbarung des religiösen Lebens. Da wird dir erzählt, wie Götter die Welt gestaltet haben, wie in die Zeitent­wickelung der Christus eingetreten ist, Mensch geworden ist. Es gibt also außer der Natur noch die Offenbarung. Was dir die Natur nicht geben kann, kann dir denn das nicht die Offenbarung geben? - Da sagte der Schüler: Die Offenbarung spricht ja sehr stark zu meinem Herzen, aber eigentlich kann ich sie nicht fassen, eigentlich ist es mir unmöglich, dasjenige, was draußen in der Natur ist, in Verbindung zu bringen mit dem, was mir die Offenbarung sagt. Und so, indem ich die Natur nicht verstehe, indem die Natur mir nichts offenbart, ver­stehe ich auch die religiöse Offenbarung nicht.

Da sagte der Lehrer: Nun gut, so wie du jetzt in der Welt drinnen-stehst, so wirst du allerdings - wenn du so sprechen mußt, wenn es dir so ums Herz und um die Seele ist, daß du so sprechen mußt -weder Natur noch Offenbarung verstehen können. Denn du lebst eben

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in einem Menschenleibe, der von der Sünde befallen ist - so war ja die Redensart dazumal -, und dieser von der Sünde befallene Men­schenleib, der paßt eigentlich nicht zu der irdischen Umgebung, in der du lebst. Die irdische Umgebung gibt dir nicht die Bedingungen dazu, so deine Sinne zu gebrauchen und dein Gemüt zu gebrauchen, daß du Natur und Offenbarung als Erleuchtung, die von den Göttern kommt, ansehen könntest. Ich werde, wenn du willst, dich aus der Natur deiner irdischen Umgebung, die einfach nicht angepaßt ist an dein Wesen, hin-wegführen und werde dir Gelegenheit geben, Offenbarung und Natur besser zu verstehen.

Und es wurde verabredet, wann der Lehrer den Schüler führen sollte. Und er führte ihn zunächst eines Tages einen hohen Berg hin­auf, einen sehr hohen Berg, einen Berg hinan, von dem aus man die gewöhnliche Erdoberfläche mit ihren Bäumen, Fluren und so weiter nicht mehr sehen konnte; sondern als der Schüler mit seinem Lehrer oben stand, konnte man nur noch - wie Sie das ja wohl auch aus dem Gebirge kennen - unten etwas wie ein Nebelmeer sehen, welches die gewöhnliche Erde bedeckte, und oben war man, wenigstens andeu­tungsweise, wie symptomatisch entrückt dem irdischen Treiben. Man sah nur hinschauend den Weltenraum mit seinen Wolkengebilden, und unten etwas wie ein Meer, wie ein wogendes Meer, das eben aus Wol­ken bestand; Morgennebel, Morgenstimmung. Der Lehrer sprach Ver­schiedenes. Er sprach von Weltenweiten, von kosmischen Fernen, sprach davon, wie die Weite, in die der Blick herausgerichtet ist, in der Nacht­zeit die Sterne aus sich herausleuchten läßt, sprach Verschiedenes, wo­durch das Gemüt des Schülers ganz hingegeben ward an die Eigentüm­lichkeit des Naturdaseins, gewissermaßen erdentrückt ward.

Und so lange dauerte die Vorbereitung, bis in der Tat etwas von jener Seelenstimmung da war bei dem Schüler, die man damit verglei­chen könnte, daß dem Schüler erschien - nicht für einen Augenblick, sondern für längere Zeit - alles das, was er jemals während seines irdi­schen Lebens in dieser Inkarnation auf Erden erlebt hatte, wie wenn er es geträumt hätte. Und so wenig mannigfaltig eigentlich dasjenige war, was er da überblickte - das wallende wogende Nebelmeer, Wol­kenmeer, wenige in der Nähe befindliche Gipfel, die Weltenweiten,

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höchstens da und dort eben mit Wolkenbildungen auch besetzt, aber kaum, nur am Ende -, so arm an Inhalt gegenüber der Mannigfaltig­keit dessen, was er unten auf dem Erdboden immer hatte erleben kön­nen, dies alles war, so war ihm das doch wie der Inhalt seines tag-wachen Bewußtseins. Und alles, was er jemals auf der Erde erlebt hatte, war ihm, wie wenn er es so in der Nacherinnerung eines Traumes hätte. Er kam sich wie erwacht vor. Und während er also immer mehr und mehr erwachte in dieser Situation, trat ihm aus einer Felsenspalte, die er vorher nicht bemerkt hatte, ein junger Knabe von etwa zehn, elf Jahren entgegen, der auf ihn einen merkwürdigen Eindruck machte; denn alsbald erkannte er in diesem Knaben sich selber in seinem zehn­ten, elften Jahre. Was ihm da erschienen war, es war der Geist seiner Jugend. - Und Sie erraten wohl, daß in dieser Szene eine der Anre­gungen war, die mich veranlaßt haben, in dem einen Mysteriendrama die Gestalt von Johannes' Jugend einzuführen. Das Motiv nur liegt da; Sie müssen nicht an Photographie denken. Die Mysterien sind auch kein okkulter Schlüsselroman.

Und er stand gegenüber dem Geiste seiner Knabenzeit, sich selber. Und er war auch da, mit seinen fünfundzwanzig bis achtundzwanzig Jahren war er da, neben dem Geiste seiner Jugend. Und ein Gespräch konnte stattfinden, das der Lehrer führte, das aber eigentlich stattfand zwischen dem Schüler und seinem eigenen jüngeren Selbst. Solch ein Ge­spräch verläuft - Sie können das aus dem Mysteriendrama, aus dem Stil, der dort beobachtet ist, ja ersehen -, solch ein Gespräch verläuft in einer recht eigenartigen Weise. Denn wenn man, was ja immer sein kann, dem Geiste seiner Jugend entgegentritt, dann gibt man etwas vom reifen Verstande den kindlichen Vorstellungen, die der Geist der Ju­gend hat, und der Geist der Jugend gibt etwas von seiner Frische, von seiner Kindlichkeit demjenigen, was man in älteren Jahren ist. Und gerade dadurch, daß solch ein Austausch stattfindet, wird ein solches Gespräch ganz besonders fruchtbar. Und dieses Gespräch, das führte dazu, daß der Schüler lernte, die Offenbarung, die religiöse Offen­barung zu verstehen.

Das Gespräch wurde vorzugsweise geführt über die Genesis, über den Anfang des Alten Testaments, und wurde geführt über die Menschwerdung

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Christi. Unter der Leitung des Lehrers und unter der beson­deren Art der Fruchtbarkeit, die in diesem Gespräche waltete, endete eben dieses Gespräch für den Schüler damit, daß er sagte: Jetzt ver­stehe ich, welcher Geist in der Offenbarung waltet. Nur dann, wenn man in die Lage kommt, fern von dem Irdischen, wie in Ätherhöhen versetzt zu sein, um die Ätherhöhen ideell zu ergreifen mit der in die spätere Lebenszeit heraufragenden Kindheitskraft, nur dann versteht man recht die Offenbarung. Und jetzt verstehe ich, daß die Götter den Menschen die Offenbarung gegeben haben, weil die Menschen in der Lage, in der sie auf der Erde sind, durch die Werke der Natur hindurch nicht die Werke der Götter erforschen können. Und so gaben sie ihnen die Offenbarung, die ja natürlich gar nicht zu verstehen ist gerade im reifen Lebensalter, die aber verstanden werden kann, wenn real lebendig wird Kindheit im reifen Lebensalter. Also eigentlich ist es etwas Abnormes, die Offenbarung zu verstehen. - Das machte einen gewaltigen Eindruck auf den Schüler. Der Eindruck blieb. Er blieb ihm unvergeßlich. Der Geist der Jugend verschwand wiederum. Die erste Phase der Unterweisung war das.

Es sollte eine zweite folgen. Die zweite, die verlief in der folgenden Art. Wiederum führte der Lehrer den Schüler einen Weg. Jetzt führte er ihn nicht einen Berg hinauf, sondern jetzt führte er ihn an einen Berg, zu dem der Lehrer den Eingang durch eine Höhle wußte, in tiefe innere Bergesklüfte, weit hinunter bis in Bergwerksschächte, so daß der Schüler mit dem Lehrer in der Erdentiefe war, jetzt nicht in Äther-höhen hoch oben über der Oberfläche der Erde, sondern in Erden-tiefen, wie versenkt gegenüber der Oberfläche der Erde.

Wiederum wurde es dem Bewußtsein des Schülers so, als ob ihm nach­ging alles dasjenige, was er auf der Erde jemals erlebt hatte, wie Träume. Denn er lebte unten in einer Umgebung, in der jetzt sein Bewußtsein besonders erwachte. Verwandt wurde er mit den Erdentiefen. Sehen Sie, es spielte sich da etwas ab, was dann zugrunde lag solchen Sagen wie etwa die von dem Leben des Kaisers Barbarossa im Kyffhäuser oder des Kaisers Karl des Großen im Untersberg bei Salzburg. So etwas spielte sich, wenn auch für kurze Zeit, wirklich ab, solch ein Leben in den Erdentiefen, fern von dem irdischen Leben des Menschen. Und

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wiederum konnte der Lehrer durch besondere Redeführung dieses Ver­bundensein mit den Erdentiefen ins Bewußtsein des Schülers hinein­bringen. Aus einer Wand kam jetzt dem Schüler ein Greis entgegen, der ihm allerdings weniger bekannt war als der Geist seiner eigenen Jugend, den er aber fühlte als den, der er sein wird nach Jahrzehnten. Er fühlte sich selber im zukünftigen Greisenalter. Und nun entspann sich ein ähnliches Gespräch zwischen dem Schüler und seinem eigenen älteren Selbst, seinem greisenhaften Selbst, wiederum unter der Füh­rung des Lehrers.

Und nun kam aus diesem Gespräch etwas ganz anderes hervor als aus dem ersten Gespräche, denn jetzt fing an, in dem Schüler ein Be­wußtsein aufzusteigen von seiner eigenen physischen Organisation. Er fühlte wie sein Blut in sich kreisen, jedes einzelne Blutteilchen, so war es ihm, fühlte er in sich kreisen, er begleitete die Blutäderchen, die Ner­venstränge, und die einzelnen Organe des menschlichen Organismus fühlte er in ihrer sinnvollen Bedeutung für den gesamten Organismus. Und er fühlte in sich dasjenige hereinwirken, was draußen im Kosmos ist und verwandt mit dem Menschen ist. Er fühlte in sich hereinwirken das Blühende in den Pflanzen, das Wurzelhafte in den Pflanzen, das Mineralische in dem Erdboden in seinen Wirkungen im menschlichen Organismus. Er fühlte da in den Erdentiefen die Kräfte der Erde sel­ber, in Organisation gebracht, in seinem eigenen Wesen zirkulierend, schaffen, sich umwandeln, Substanzen vernichten und gestalten. Er fühlte das Schaffen und Weben und Wesen der Erde in sich selber. Und das Ergebnis dieses Gespräches war, daß der Schüler, nachdem der alte Mann, der er selbst war, verschwunden war, sagen konnte: Jetzt hat wirklich die Erde, in der ich inkarniert bin, durch ihre Wesenhaftig­keit zu mir gesprochen, jetzt habe ich einen Moment gehabt, durch den ich hindurchgesehen habe durch die Naturdinge und Naturprozesse auf dasjenige, was Werk der Götter hinter diesen Erdendingen und hinter diesen Erdenprozessen ist.

Der Lehrer führte den Schüler wieder heraus, und ehe er ihn für diesmal verabschiedete, sagte er ihm: Sieh einmal, so wenig passen der heutige Mensch und die heutige Erde zusammen, daß du die Offen­barung der Religion empfangen mußt von dem Geiste deiner eigenen

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Jugend hoch auf dem Berge über der Erde, und daß du die Offen­barung der Natur empfangen mußt tief unter der Erde, in den Klüften der Erde unter ihrer Oberfläche. Und wenn es dir gelingt, mit dem Lichte, das deine Seele vom Berge geholt hat, zu beleuchten dasjenige, was deine Seele empfunden hat in der Erde Höhlenklüften, dann wirst du zur Weisheit gelangen.

Sehen Sie, in dieser Form wurde dazumal - um das Jahr 1200 war es, wovon ich spreche - die Vertiefung, die Weisheitserfüllung der Seele bewirkt. Dieser Schüler war dadurch ja tatsächlich in die Ein­weihung, in die Initiation hineingestellt, und er wußte nun, welche Kraft er anwenden müsse in der Seele, um regsam zu machen das Licht der Höhen und das Gefühl der Tiefen. Und einige weitere Anlei­tungen gab ihm der Lehrer, die im wesentlichen darinnen bestanden, daß er dem Schüler sagte: Selbsterkennen besteht eigentlich immer darin, daß man im eigenen Menscheninnern dasjenige auf der einen Seite wahrnimmt, was hoch über dem Erdenmenschen liegt, und das­jenige, was tief unter dem Erdenmenschen liegt. Die müssen sich im Menscheninnern begegnen. Dann findet der Mensch in seinem eigenen Innern die Kraft des schaffenden Gottes.

Von solchen Einweihungen, wie die ist, die ich Ihnen hier als eine charakteristisch-typische erzählt habe, ging das Bestreben aus, das man dann mittelalterliche Mystik nennen kann in der späteren Zeit, das hintendierte nach Selbsterkenntnis, aber um im eigenen Selbst den Weg zum Göttlichen zu finden. Es ist nur diese Mystik dann in der späteren Zeit abstrakter geworden. Jene konkrete Verbindung mit der Außen­welt, wie sie gegeben war für diese Schüler in dem Entrücktsein in Ätherhöhen und in Erdentiefen, die wurde nicht mehr gesucht. Daher wurde auch die innere Erschütterung, die ganze Intensität des inneren Erlebnisses nicht mehr erreicht. Aber gesucht wurde dennoch unter solchen Anregungen, unter solchen Impulsen im Innern. Im Innern wurde der Gott, das göttliche Schaffen gesucht. Und im Grunde ge­nommen ist alles das, was gesucht worden ist von dem Meister Eckhart, von Johannes Tauler und den späteren Mystikern, die ich dargestellt habe in meinem Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens», impulsiert von solchen mittelalterlichen Eingeweihten.

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Aber diejenigen, die nun wahrhaftig im Sinne solcher mittelalterlichen Einweihungen gewirkt haben, die wurden vielfach verkannt. Und man gerät eigentlich nur sehr schwer an dasjenige heran, was diese Schüler der mittelalterlichen Eingeweihten in Wirklichkeit waren.

Man kann ja wirklich ziemlich weit kommen in der Verfolgung der Wege in die geistige Welt hinein. Und diejenigen, welche solche Dinge ganz energisch befolgen, wie sie in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» stehen, die finden schon den Weg in die geistigen Welten hinein. Alles, was in der Vergangenheit phy­sisch real war, ist ja natürlich heute nur durch die geistige Welt zu finden, also auch solche Szenen, wie ich sie eben geschildert habe, denn es gibt ja keine physischen Dokumente, die über solche Szenen berich­ten würden. Aber es gibt eben solche Gebiete, die schwer zugänglich sind auch für ein schon weit vorgeschrittenes geistiges Vermögen. Man muß wirklich, um diese Gebiete zu erforschen, dahin gekommen sein, mit den Wesenheiten der geistigen Welt in selbstverständlicher Weise Umgang zu haben wie mit Menschen. Dann ergibt sich aber auch der Zusammenhang zwischen diesen Eingeweihten, von denen ich Ihnen eben erzählt habe, und ihren Schülern, zum Beispiel einem solchen Schüler, der durch das, was historisch vermittelt ist, ja recht fragwürdig erscheint, Raimundus Lullus, der vom Jahre 1234 bis 1315 lebte.

Was Sie von Raimundus Lullus durch historische Dokumente kennen­lernen können, ist ja herzlich wenig. Aber was man von ihm kennen­lernen kann, wenn man - verzeihen Sie, daß ich den paradoxen Aus­druck gebrauche, aber Sie werden nach dem, was ich in den letzten Tagen und seit vierzehn Tagen hier dargestellt habe, den Ausdruck doch nicht mehr als paradox empfinden -, wenn man sozusagen ein persönliches Verhältnis gewinnt zu Raimundus Lullus, das führt dahin, daß er sich doch noch als etwas anderes darstellt, als das ist, was die historischen Dokumente aus ihm machen. Da stellt er sich in der folgen­den Weise dar. Er ist im eminentesten Sinne eine Persönlichkeit, die unter Anregung gerade desjenigen Eingeweihten, von dem ich hier als dem Schüler des anderen gesprochen habe, dazu kam, mit aller Kraft wiederum so etwas in seiner Zeit erneuern zu wollen, wie es im Altertum

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die Mysterien des Wortes, des Logos waren. Er wollte die My­sterien des Logos wieder erneuern. Und er wollte sie wieder erneuern durch die Selbsterkenntnis, von der ich Ihnen ja gesagt habe, daß sie in einer so mächtigen Weise angeregt worden ist im zwölften, im drei-zehnten Jahrhundert. Und von diesem Gesichtspunkte aus ist die so­genannte Ars magna des Raimundus Lullus zu beurteilen. Er sagte sich:

Wenn der Mensch spricht, so ist im Sprechen eigentlich auch ein Mikro-kosmos gegeben. Dasjenige, was der Mensch spricht, ist eigentlich der ganze Mensch, konzentriert auf die Sprachorgane. Aber das Geheimnis jedes Wortes liegt im ganzen Menschen, und wiederum, weil es im ganzen Menschen liegt, liegt es eigentlich in der Welt.

Und so kam er darauf, daß man eigentlich das Geheimnis der Sprache erst im Menschen suchen müsse, indem man tief untertaucht von den bloßen Sprachorganen zu der Gesamtorganisation des Menschen, und dann im Kosmos, indem man wiederum die Gesamtorganisation des Menschen aus dem Kosmos heraus begreift. Zum Beispiel, sagen wir, jemand wolle den Laut A in seiner wirklichen Bedeutung begreifen. Da handelt es sich darum, daß der Laut A, der im geformten Anhauch zum Vorschein kommt, auf einer gewissen inneren Attitüde des Äther-leibes beruht, auf einer Attitüde des Ätherleibes, die Sie heute kennen­lernen können. Durch die Eurythmie sehen wir, auf welcher Attitüde des Ätherleibes der Laut A beruht, denn diese Attitüde wird auf den physischen Leib übertragen und gilt dann als die eurythmische Geste für den A-Laut.

Ganz klar wurde das dem Raimundus Lullus nicht, sondern alles blieb bei ihm Ahnung. Aber seine Ahnung kam so weit, daß er nun die innere Attitüde, die innere Geste des Menschen gewissermaßen hinaus-verfolgte in den Kosmos, zum Beispiel daß er sagte: Richtest du die Blickrichtung nach dem Löwen, nach dem Sternbilde des Löwen, und richtest du die Blickrichtung nach der Waage, dann gibt dir der Zu­sammenhang der beiden Blickrichtungen das A. Richtest du den Blick nach dem Saturn, so hält der Saturn deine Blickrichtung auf. Und wenn der Saturn zum Beispiel vor dem Widder steht, so mußt du mit dem Saturn dich um den Widder herumdrehen. Das gibt dir aus dem Kos­mos heraus die Empfindung des O.

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#Bild s. 187a

Und aus solchen Ahnungen heraus fand Raimundus Lullus gewisse Figuren, an deren Ecken und Seiten er die Buchstaben schrieb. Und nun war er sich klar darüber: Wenn man aus seinen Empfindungen heraus Linien zieht in den Figuren, durch Diagonalen oder dergleichen meinet­willen in einem Fünfeck a b c d e irgendwie verbindet - das ist nur schematisch -, darin muß man Lautverbindungen sehen, und diese Laut­verbindungen sprechen gewisse Geheimnisse des Weltenalls, des Kos­mos aus.

#Bild s. 187b

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Also Raimundus Lullus suchte eine Art Renaissance der Geheimnisse des Logos, wie sie üblich waren in den alten Mysterien. Diese Sache wird ja entstellt dargestellt in den historischen Dokumenten. Aber wenn man eben nach und nach sozusagen in ein persönliches Verhältnis zu Raimundus Lullus kommt, so kommt man darauf, daß Raimundus Lullus versuchte, durch solche Bestrebungen das Weltenwort wiederum zu enträtseln. Und in diesen Bestrebungen lebten eigentlich die Schüler der mittelalterlichen Eingeweihten noch einige Jahrhunderte fort. Es war ein ganz intensives Bemühen, erst in den Menschen unterzutau­chen, und dann durch das Untertauchen in den Menschen hinauszu­kommen über den Menschen in die Geheimnisse des Kosmos hinein.

In dieser Weise versuchten diese - man darf sie Weise nennen -, diese Weisen, zu verbinden die Offenbarung mit der Natur. Und sie glaubten, auf diese Weise - und vieles von ihrem Glauben war ja tief begründet -, sie glaubten, auf diese Weise hinter die Offenbarung des Religiösen und hinter die Offenbarung der Natur zu kommen. Denn sie waren sich klar darüber, daß eben der Mensch, so wie er nun einmal in ihrer Zeit auf der Erde lebte, eigentlich bestimmt war, die vierte Hierarchie zu werden, daß er aber einen Fall getan habe, durch den er unter sein eigentliches Wesen heruntergekommen ist und tiefer drinnen steckt in dem physischen Dasein, als er eigentlich sollte, daß er aber dennoch wiederum durch dieses tiefe Drinnenstecken nicht die Kraft hat, sein Geistig-Seelisches entsprechend spirituell auszubilden. Und aus solchen Bestrebungen heraus entstand ja dann das Rosenkreuzer­Bestreben.

An einer Lehrstätte der Rosenkreuzer, der ersten ursprünglichen Rosenkreuzer, war es, daß einmal gerade die Szenen, die ich Ihnen heute schilderte, die Szene hoch oben auf dem Berge zwischen dem Lehrer und dem Schüler, und unten tief in den Erdenklüften, daß diese Szenen wie in einer Art Fata Morgana auftauchten, man möchte sagen, wie als Gespenst wiederkamen, sich spiegelten als Wissen innerhalb einer Rosenkreuzer-Lehrstätte. Und daraus erkannte man, daß der Mensch durch innerliches Streben zweierlei erreichen müsse, um zur wirklichen Selbsterkenntnis zu kommen, um wiederum seine Anpas­sung an die Erde zu finden, um dahin zu gelangen, wirklich ein Angehöriger

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der vierten Hierarchie zu werden. Denn aus alledem, was nun innerhalb der Rosenkreuzer-Schule möglich war, erkannte man, was mit dem Schüler, als er den Geist seiner eigenen Jugend leibhaftig vor sich gesehen hat, vorgegangen war. Mit dem war vorgegangen eine Loslösung des astralischen Leibes, die stärker ist, als sie sonst irgendwie im menschlichen Leben ist. Und in dieser Loslösung des astralischen Leibes hat er den Sinn der Offenbarung erkannt. Und wiederum wurde in dieser Rosenkreuzer-Schule klar, was vorgegangen war mit dem Schüler in den Tiefen der Erde. Da war der astralische Leib ganz in das Innere zurückgezogen. Da war er völlig zusammen­gezogen, so daß der Schüler die Gewißheit des eigenen Menscheninnern wahrnahm. Und jetzt wurden innerhalb der Rosenkreuzerei Exer­zitien, Übungen gefunden, die verhältnismäßig einfach waren, die in synibolischen Figuren bestanden, denen man das Gemüt hingab, über die man meditierte. Und durch die Kraft, die in den menschlichen Seelenbesitz kam durch die Hingabe an solche Figuren, erreichte man, daß man auf der einen Seite den astralischen Leib loslöste und wurde wie der Schüler auf Bergeshöhe, in Ätherhöhen, daß man auf der an­dern Seite, indem sich der astralische Leib zusammenkrampfte, zu­sammenzog, wurde wie der Schüler in Erdenklüften. Und dann konnte man, indem man nicht die äußere Umgebung hatte, sondern eine starke innere Übung machte, in das menschliche Innere kommen.

Sehen Sie, ich schildere Ihnen damit etwas, was ich nur ganz leise angedeutet habe in dem neuen Vorwort zu der letzten Auflage meiner «Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens». Da habe ich ja gesagt, daß dasjenige, was aufgetreten ist bei Meister Eckliart, Jo­hannes Tauler, bei Nikolaus Cusanus, dem Kardinal, bei Valentin Wei­gel und den anderen, Spätprodukt war eines kolossalen ursprünglichen Menschheitsstrebens, das vorangegangen ist. Und dieses ursprüngliche Menschheitsstreben, das dem Streben des Meister Eckhart, dem Streben des Johannes Tauler vorangegangen ist, dieses konkrete Streben im Geiste, dieses Suchen nach Selbsterkenntnis beim Menschen im Zusam­menhange mit Offenbarung und Naturerleuchtung, dieses wollte ich Ihnen heute schildern als eine der Strömungen, die da liefen im soge­nannten finsteren Mittelalter, wo es aber wirklich in der Finsternis,

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die der moderne Mensch heute hineinphantasiert, recht erleuchtete Geister gab, so erleuchtete Geister, daß die heute erleuchtetsten Geister das Licht dieser Erleuchteten eben nicht verstehen und daher finster bleiben. Aber das ist ja überhaupt vielfach das Charakteristikum der heutigen Zeit, daß man das Licht finster und die Finsternis hell findet.

Aber ein merkwürdiger, gewaltiger Eindruck bleibt zurück, wenn man in die Hintergründe desjenigen schaut, was in der Literatur wie in einem Abglanze dieser Zeit gelebt hat. Einiges von dem wollte ich Ihnen heute schildern; einiges von dem, was dann das Bild ergänzen, zu einem Ganzen abrunden wird, werde ich Ihnen morgen schildern.

DRITTER VORTRAG Dornach, 6. Januar 1924

#G233-1962-SE191 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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DRITTER VORTRAG

Dornach, 6. Januar 1924

#TX

Ich sprach Ihnen gestern von der besonderen Form, die die Mitteilung geisteswissenschaftlicher Ergebnisse in dem Mittelalter angenommen hat. Und diese Form, sie war im Grunde genommen ein Letztes, das sich abspielte, bevor für die menschliche Geistesentwickelung ein Tor geschlossen worden ist, das ja durch Jahrhunderte geöffnet war: das Tor eines gewissen, durch natürliche Begabung kommenden Eintrittes in die geistige Welt. Dieses Tor ist ja geschlossen worden zu der Zeit, in der die Menschen gewissermaßen mit ihren unwillkürlichen Fähig­keiten herausgestellt werden sollten aus dem Bereiche des sie beherr­schenden göttlich-geistigen Willens und in ihrem Innersten, in dem eigenen Willen finden sollten die Möglichkeit, Freiheit in der Seele zu entwickeln, bewußte Freiheit. Alle Entwickelungsbewegungen geschehen aber langsam und allmählich, nach und nach. Und so ist es denn auch gekommen, daß dasjenige, was zwar nicht mehr in der Form der alten Mysterien, aber in der Form des Hinaufführens in Ätherhöhen, des Hinunterführens in Erdenklüfte unmittelbar im Zusammenhange mit dem menschlichen Erleben der Natur, wenn auch nicht auf der Erd­oberfläche selber, erreicht werden konnte, nun in der Folgezeit in einer mehr unbewußten Form an die Menschen herangetreten ist. Denken Sie sich nur einmal, wie es jenen Persönlichkeiten gegangen ist, die nach Erkenntnis gestrebt haben, die ja natürlich Nachricht gehabt haben davon, daß Schüler noch solche Lehrer wie den, von dem ich gestern gesprochen habe, vor kurzer Zeit hatten finden können, denken Sie nur, wie es diesen Persönlichkeiten nach dem Jahre 1200 und dem folgenden, dem dreizehnten Jahrhundert ergangen ist, wo sie nunmehr eigentlich darauf angewiesen waren, Erkenntnis nur mehr durch das menschliche Denken zu finden.

Wir sehen ja dann in der Folgezeit des Mittelalters mehr in größe­rem Kreise dieses menschliche Denken in einer wirklich imponierenden Weise ausgebildet. Wir sehen dieses menschliche Denken Wege neh­men, die aus innerstem Eifer, aus einer wirklichen Hingabe der ganzen

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Seele der Menschen gegangen worden sind. Das waren so mehr die Wege der größeren Kreise von erkenntnissuchenden Menschen. Aber das eigentlich Geisteswissenschaftliche setzte sich doch auch fort. Und wir kommen dann, indem wir wenige Jahrhunderte weitergehen, in die Zeit hinein, in der das eigentliche Rosenkreuzertum begründet worden ist. Aber dieses Rosenkreuzertum hängt eben mit einer Um-änderung in der ganzen geistigen Welt in bezug auf den Menschen zu­sammen. Und ich werde Ihnen diese Umänderung wiederum am besten schildern, wenn ich auch hier Ihnen ein Bild gebe.

Mysterien im alten Sinne des Wortes waren nicht mehr möglich seit jenem Zeitpunkte, von dem ich Ihnen gesprochen habe; aber Men­schen, die nach Erkenntnis lechzten im Sinne dieser alten Mysterien und die schwere Seelenkämpfe erlebten, wenn sie hörten von der Füh­rung auf den Berg, von der Führung in Erdenklüfte, diese Menschen, sie entwickelten in ihren Seelen alle möglichen inneren Methoden, An­strengungen, um die Seele aufzurufen, nun dennoch den Weg zu finden. Und derjenige, der solche Sachen sehen kann, sieht hinein, wie gesagt, nicht in Mysterienstätten, aber in von einer Atmosphäre von Frömmig­keit durchwärmte Versammlungsstätten von Erkenntnis suchenden Menschen. Und eigentlich ist dasjenige, was dann später sowohl die gute Rosenkreuzerei war, wie auch die entartete, die charlatanhafte, aus­gegangen von solchen Menschen, die im Zusammensein, in anspruchs­losem Zusammensein versuchten, ihre Seelen so zu arten, daß nun wirklich geistige Erkenntnisse noch hätten zustande kommen können. Und bei einer solchen Versammlung, die wirklich in recht anspruchs­loser Umgebung, in dem einfachen Wohnraum eines schloßartigen Hauses stattgefunden hat, in einer solchen Versammlung von wenigen Menschen begab es sich einmal, daß diese Menschen durch gemeinsame Exerzitien, die halb denkerisch-meditativ, halb gebetartig waren, in Gemeinsamkeit eine Art mystischer Stimmung entwickelten, jene mystische Stimmung, die dann viel gepflegt worden ist von den so­genannten «Brüdern des gemeinsamen Lebens», gepflegt worden ist später von den Anhängern des Comenius und vielen anderen Bruder­schaften, die sich aber ganz besonders intensiv einmal in einem solchen kleineren Kreise ausgeprägt hat. Und während mit einer wirklichen

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Hingabe des gewöhnlichen Bewußtseins, mit einer Hingabe des ganzen Intellektes in intensiv mystischer Stimmung diese wenigen Menschen beisammen waren, geschah es, daß zu ihnen ein Wesen trat, aber jetzt ein Wesen, das nicht Fleisch und Blut hatte wie jener Lehrer, dem der Schüler begegnete zu der Führung nach dem Berge, nach den Erden-klüften, sondern ein Wesen, das eigentlich nur im ätherischen Leibe in dieser kleinen Gemeinschaft erscheinen konnte. Und dieses Wesen ent­hüllte sich als dasselbe, das jenen Schüler um das Jahr 1200 geführt hatte. Aber es war im Post mortem-Zustande. Es war aus der geistigen Welt zu diesen Menschen herniedergestiegen, die es angezogen hatten durch ihre fromm-mystisch, meditativ-denkerische Stimmung.

Damit ja kein Mißverständnis entsteht, betone ich ausdrücklich:

Irgendwelche medialen Kräfte waren dabei nicht im Spiele, denn gerade jene kleine Gemeinschaft, die da versammelt war, hätte aus gewissen Voraussetzungen, die altehrwürdiger Tradition angehörten, jede Ver­wendung medialer Kräfte, auch jeden Anklang an mediale Kräfte als etwas tief Sündhaftes betrachtet. Gerade in jenen Gesellschaften, von denen ich da spreche, wurde Mediumschaft und alles, was damit ver­wandt war, nicht nur als etwas Schädliches angesehen, sondern als etwas tief, tief Sündhaftes, aus dem Grunde sündhaft, weil ja gewußt wurde von jenen Menschen, daß Mediumschaft zusammenhängt mit einer besonderen Konstitution auch des physischen Leibes, daß dem Medium der physische Leib seine Kräfte, seine geistigen Kräfte gibt. Der physische Leib wurde aber von jenen Menschen als der Sünde ver­fallen betrachtet, und man hätte unter allen Umständen Kundgebun­gen mit Hilfe von medialen Kräften als ahrimanische oder luziferische Kräfte angesehen. Diese Dinge wurden in jener Zeit eben noch genau gewußt, und so war nichts irgendwie Mediumhaftes verwendet wor­den. Dagegen war es rein die mystisch-meditative Stimmung und jene Verstärkung der mystisch-meditativen Stimmung, die durch die Gemeinsamkeit der Seelen erzeugt wird, welche hereinzauberte durch die eigene Willkür jenen entkörperten Menschen, jenes rein geistige, aber menschliche Wesen in diesen Kreis.

Und dieses Wesen sagte in einer sehr feierlichen Art: Ihr seid ja gerade auf mein Erscheinen nicht vorbereitet, aber ich bin unter euch

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entkörpert, ohne physischen. Leib, weil die Zeit gekommen ist, in der Eingeweihte der alten Art eine kurze Periode des Erdendaseins im physischen Leibe nicht erscheinen können. Diese Zeit wird wieder kom­men, wenn die Michael-Periode anbrechen wird. Ich bin zu euch ge­kommen, um euch zu offenbaren, daß das Menscheninnere umverwan­delt geblieben ist, daß das Menscheninnere, wenn es sich in der richtigen Weise verhält, den Weg zum göttlich-geistigen Dasein finden kann. Aber es wird eine Zeitlang der menschliche Verstand so beschaffen sein, daß er unterdrückt werden muß, damit Geistiges zur Menschen-seele wird sprechen können. Darum bleibet in eurer mystisch-frommen Stimmung. Ich konnte euch, indem ihr von mir das gemeinsame Bild, die gemeinsame Imagination empfanget, auf dasjenige, was sich mit euch vollziehen wird, nur hinweisen, aber ihr werdet die Fortsetzung desjenigen, was ihr erlebt habt, weiter erfahren.

Und siehe da, drei aus dem Kreise, der da versammelt war, waren wirklich dazu ausersehen, nunmehr eine besondere Verbindung mit der geistigen Welt herzustellen, wiederum niemals durch irgendwelche medialen Kräfte, sondern durch Fortführung jener mystisch-meditativ frommen Stimmung. Und bei diesen dreien, die dann besonders behütet wurden von den andern dieses Kreises, wirklich innig gepflegt wurden, bei diesen dreien stellte sich heraus, daß sie von Zeit zu Zeit eine Art Geistesabwesenheit erlebten. Sie wurden in bezug auf ihre äußerliche Körperlichkeit wunderschön, erlangten etwas wie ein glänzendes Ant­litz, sonnenleuchtende Augen, und während dieser Zeit schrieben sie symbolische Offenbarungen, die sie aus der geistigen Welt heraus er­hielten, auf. Diese symbolischen Offenbarungen waren die ersten Bil­der, in denen den Rosenkreuzern geoffenbart worden ist, was sie wissen sollten über die geistige Welt. In diesen symbolischen Offenbarungen war enthalten eine Art Philosophie, eine Art Theologie, eine Art Medizin.

Und dieses Merkwürdige stellte sich heraus: Die anderen - es scheint mir, als ob die anderen viere gewesen wären, so daß das Ganze eine Gemeinschaft von sieben gewesen war -, die anderen, sie konnten durch dasjenige, was sie erlebt hatten an den sonnenglänzenden Augen, an dem strahlenden Antlitz ihrer drei Brüder, in der gewöhnlichen Sprache

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dasjenige wiedergeben, was in den Symbolen lag. Die zum Herausholen der Symbole aus der geistigen Welt bestimmten Brüder, sie konnten nur diese Symbole hinschreiben und sie konnten nur sagen, als sie wie­derum in ihren gewöhnlichen Bewußtseinszustand zurückkehrten: Wir sind gewandelt unter Sternen und Sternengeistern und haben da die alten Lehrer des Geheimwissens gefunden. - Sie konnten selbst nicht in gewöhnliche Menschensprache diese symbolischen Bilder umsetzen, die sie aufzeichneten. Die anderen konnten es und taten es. Und vieles von dem, was dann übergegangen ist zum Teil in die philosophisch-theologische, nicht in die kirchlich-theologische, sondern in die profan­theologische und in die medizinische Literatur, ist ursprünglich diesem eben gekennzeichneten Quell entsprossen. Und in kleineren Kreisen, die durch die ersten Rosenkreuzer organisiert worden sind, ist dann dasjenige verbreitet worden, was an solchen Symbolen aus der gei­stigen Welt erhalten worden ist.

Und immer wieder und wiederum kamen Möglichkeiten, in klein­sten Kreisen solches zu erleben zwischen dem dreizehnten und fünf­zehnten Jahrhundert. Es ist viel aus der geistigen Welt auf eine solche oder ähnliche Art zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Jahr­hundert den Menschen geoffenbart worden. Nicht immer waren die­jenigen, die dann das in Bildern Geoffenbarte übersetzen sollten, in der Lage, es wirklich treu wiederzugeben. Daher hat manches, was Sie ja heute noch aus der Philosophie dieser Zeit überliefert finden können, einen in sich nicht ganz klaren Charakter, und man muß dann das, was es eigentlich bedeutet, selbst wiederum aus der Welt des Geistes heraus suchen. Aber immerhin war die Möglichkeit vorhanden bei denjenigen, die um diese Art der Offenbarung von seiten der geistigen Welt wuß­ten, anzuknüpfen an solche Offenbarungen.

Aber Sie müssen sich ja denken, wie sonderbar allmählich die Stim­mung der Menschen werden mußte, die diese höchsten Erkenntnisse -denn als solche wurde dasjenige, was ihnen gegeben wurde, anerkannt -, die solche höchsten Erkenntnisse von einer Seite her bekommen mußten, die ihnen eigentlich allmählich unheimlich wurde, weil sie ja nicht hin­einschauten in die Welt, aus der ihnen diese Geheimnisse kamen, weil das gewöhnliche Bewußtsein nicht hineinreichte. Daher war es auch so

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naheliegend, daß solche Dinge sehr leicht zum Charlatanhaften, ja zum Schwindelhaften führen mußten. Und in keiner Zeit der menschlichen Entwickelung ist eigentlich Charlatanhaftes und Höchstes in der Offen­barung so nahe beieinander gewesen wie in dieser Zeit. Und schwierig ist für diese Zeit, das Echte von dem Falschen zu unterscheiden, daher auch von vielen die ganze Rosenkreuzerei als eine Charlatanerie an­gesehen wird. Man kann es begreifen, daß es so geschieht, denn die wahren Rosenkreuzer sind unter den Charlatanen außerordentlich schwer zu finden, und die ganze Sache wird dadurch besonders frag­würdig, daß man eben immer die Voraussetzung machen mußte, die geistige Offenbarung stamme aus Quellen heraus, die zunächst ihrer eigentlichen Beschaffenheit nach eben verborgen blieben.

Und es war so, daß diejenigen, die allmählich sozusagen gesammelt wurden von den ersten Rosenkreuzern zu einer größeren Brüderschaft, immer eigentlich als Unbekannte in der Weise auftraten, daß sie in der Welt da und dort erschienen, zumeist in der damaligen Zeit im Arzt­beruf, Kranke heilten, und bei dieser Gelegenheit, indem sie den Arzt­beruf ausübten, zu gleicher Zeit Erkenntnisse verbreiteten. Es war schon so, daß vieles, vieles an Erkenntnissen damals verbreitet worden ist, von dem man sagen muß: Es hat die Verbreitung einen etwas peinlichen Charakter, weil ja die Menschen, die diese Verbreitung be­trieben, gar nicht sagen konnten, wie der Zusammenhang mit der gei­stigen Welt ist, in dem sie standen.

Aber es bildete sich ein anderes aus innerhalb dieses Betriebes gei­stiger Forschung, geistiger Erkenntnis. Es ist ja etwas ungeheuer Schönes, wenn man so sieht: Da sind drei Brüder und vier andere, drei Brüder, die eigentlich in dem, was sie der Welt bieten können, nur ein Zweck-volles erreichen können, wenn die andern viere mit ihnen zusammen­arbeiten. Sie sind unbedingt aufeinander angewiesen. Die dreie be­kommen ihre Offenbarungen aus der geistigen Welt, die viere können es in die gewöhnliche Menschensprache übersetzen. Das, was die dreie geben, wären ganz unverständliche Bilder, wenn die vier anderen sie nicht übersetzen könnten. Und wiederum, die vier anderen würden gar nichts haben zum Übersetzen, wenn die dreie nicht ihre Offen­barungen in Bildform aus der geistigen Welt empfingen.

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Dadurch bildete sich innerhalb solcher Gemeinschaften dasjenige aus, was gerade in diesen Jahrhunderten in gewissen Kreisen als etwas an­gesehen wurde, das ein Höchstmenschliches ist: innerliche seelische Bru­derschaft, Bruderschaft in der Erkenntnis, Bruderschaft im geistigen Leben. Solche kleinen Kreise lernten gerade durch ihr Streben den realen Wert der Bruderschaft kennen. Und sie empfanden allmählich immer mehr und mehr, daß die Entwickelung der Menschheit zu der Freiheit hin so ist, daß das Band zwischen den Menschen und den Göttern ganz zerreißen würde, wenn es nicht aufrechterhalten würde durch solche Bruderschaft, wo wirklich einer auf den andern angewiesen ist.

Was man da zu schildern hat, ist etwas seelisch außerordentlich Schönes. Und über manchem, was damals geschrieben worden ist, liegt ein Zauber, der erst verständlich wird, wenn man weiß, daß diese Atmosphäre von Menschenbruderschaft, die in dieser Zeit durch das geistige Leben vieler Kreise Europas ging, in dieses Schrifttum herrlich hineingeleuchtet hat. Aber das Ganze war eben - und immer mehr und mehr zeigte sich das - bei denjenigen, die so nach Erkenntnis strebten, in eine Stimmung getaucht, die die Leute ängstlich machte. Weil man nicht an die Quellen der geistigen Offenbarung herankam, so konnte man zuletzt gar nicht mehr wissen, ob diese Offenbarungen guter Art oder böser Art sind. Und eine gewisse Ängstlichkeit vor gewissen Ein­flüssen machte sich neben allem Guten in diesen Strömungen in dieser Zeit ganz besonders geltend. Diese Ängstlichkeit ging dann ja auf große Kreise des Volkes über, die Furcht hatten, starke Furcht hatten vor aller Erkenntnis.

Man kann diese Stimmung besonders gut studieren bei zwei Men­schen. Der eine ist der im fünfzehnten Jahrhundert lebende, etwa 1430 geborene Raimund von Sabunda. Raimund von Sabunda ist ein merk­würdiger Mensch. Wenn man sich in dasjenige, was er gedacht hat, was er hinterlassen hat, vertieft, so hat man das Gefühl: Es ist fast dieselbe Offenbarung, die jener Berg- und Erdenklüftelehrer seinem Schüler um das Jahr 1200 übermacht hat, in vollern Bewußtsein übermacht hat. - Und doch wiederum, das Ganze ist in unbestimmtere und un-persönlichere Redensarten getaucht - philosophischer, theologischer, medizinischer Art - bei Raimund von Sabunda im fünfzehnten Jahrhundert.

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Das aber rührt davon her, daß Raimund von Sabunda eben auch seine Offenbarungen empfangen hatte auf dem Umweg durch die wahre Rosenkreuzerei, also auf jenem Wege, der dadurch eröffnet war, daß der große Eingeweihte vom zwölften Jahrhundert, dessen Wir­kungen ich Ihnen geschildert habe, weiter inspirierend wirkte für all das, was ich heute gekennzeichnet habe, aus der geistigen Welt her. Denn im Grunde genommen ging von ihm und denjenigen, die mit ihm in der geistigen Welt waren, all jene Offenbarung aus, die dann durch die Rosenkreuzerei so zog, wie ich es für die Rosenkreuzerei öfters be­schrieben habe. Die Stimmung gab er. Aber Ängstlichkeit bemächtigte sich doch nun solcher Geister. Raimund von Sabunda war ein mutiger, ein kühner Geist, einer von jenen Menschen, die Ideen zu würdigen vermögen, die in Ideen zu leben verstehen. Daher merkt man bei ihm zwar etwas von dem Unbestimmten, das davon herrührt, daß ja die Offenbarungen eben aus der geistigen Welt heraus sind, aber man merkt nichts bei ihm von irgendeiner Ängstlichkeit, von einer Erkennt-ni--Ängstlichkeit. Um so mehr tritt einem dasjenige, was aus jener Geistesströmung in dieser Art hervorging, besonders charakteristisch entgegen bei einem anderen Geist, bei Pico de Mirandola im fünfzehn­ten Jahrhundert.

Der frühverstorbene Pico de Mirandola ist ein sehr merkwürdiger Geist. Vertieft man sich in dasjenige, was er erdacht und ersonnen hat, so sieht man in seinem Denken, in seinem Sinnen überall dieselbe Ini­tiative wirksam, die ich eben charakterisiert habe: die Fortsetzung der Weisheit jenes alten Eingeweihten auf dem Umwege durch die Rosen-kreuzerströmung. Aber man sieht wie eine Art Zurückweichen bei Pico de Mirandola, ein Zurückweichen vor dieser Erkenntnis. Er versichert zum Beispiel: Alles, was auf Erden geschieht, daß auf Erden Steine entstehen, daß auf Erden Pflanzen leben, wachsen, Früchte tragen, daß auf Erden Tiere leben, das alles rührt nicht von den Kräften der Erde her. - Wenn jemand glauben würde, da sei die Erde, und die Kräfte der Erde bewirken dasjenige, was auf der Erde ist, so habe er eine fal­sche Anschauung. Die richtige Anschauung nach Pico de Mirandola ist, daß es die Sterne sind, und dasjenige, was auf der Erde geschieht, das ist alles abhängig von den Sternen. Das kleinste, was auf Erden geschieht,

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ist nach Pico de Mirandola abhängig von den Sternen. Man muß zum Himmel hinaufschauen, wenn man begreifen will, was auf der Erde geschieht. Und es ist schon im Sinne von Pico de Mirandola geredet, wenn man sagt: Du gibst mir die Hand, mein Menschenbruder, aber es ist nicht nur dein Gefühl die Ursache davon, daß du die Hand gibst, sondern es ist der Stern, der über dir steht, der dir den Impuls gibt, mir die Hand zu geben. - Zuletzt ist alles bewirkt von demjeni­gen, was im Himmlischen, im Kosmischen begründet ist, und der Ab­glanz davon allein geschieht auf Erden.

Als bestimmte Überzeugung spricht das Pico de Mirandola aus, und zugleich sagt er: Aber die Menschen sind verpflichtet, nicht auf diese Sternenursachen zu sehen, sondern allein die nächste Ursache auf Erden zu berücksichtigen. - Von diesem Gesichtspunkte aus bekämpft Pico de Mirandola - das ist außerordentlich charakteristisch - die ihm über­kommene Astrologie. Er weiß, daß die alte, wirkliche, echte Astrologie in den Schicksalen der Menschen sich ausspricht. Das weiß er, das hält er für eine Wahrheit. Allein er sagt, man solle nicht Astrologie treiben, man solle nur die nächsten Ursachen suchen.

Merken Sie, was da eigentlich vorliegt? Da liegt zum erstenmal in einer ganz eigentümlichen Art die Idee von den Grenzen der Erkennt­nis vor, aber, ich möchte sagen, in der Form, in der sie ganz menschlich ist. Wenn Sie später bei Kant, bei du Bois-Reymond nachschauen, da wird Ihnen gesagt: Der Mensch kann nicht die Grenzen der Erkennt­nis überschreiten, es beruhe auf einer inneren Notwendigkeit. - Das ist bei Pico de Mirandola im fünfzehnten Jahrhundert nicht der Fall, sondern der sagt: Ja, dasjenige, war hier auf der Erde ist, ist von kos­mischen Ursachen bewirkt, aber der Mensch soll verzichten, diese kos­mischen Ursachen zu erkennen. Der Mensch soll sich auf die Erde be-schränken. - Und so tritt uns im funfzehnten Jahrhundert der frei­willige Verzicht auf die höchste Erkenntnis bei einer so charakteristi­schen Persönlichkeit wie Pico de Mirandola entgegen. Das ist eine kul-turhistorische Geistestatsache von der denkbar weittragendsten Be­deutung. Dazumal vollzog es sich eben, daß Menschen sich gesagt haben: Wir wollen verzichten auf Erkenntnis. - Und in der Tat, das­jenige, was sich in 501ch einer Persönlichkeit, wie Pico de Mirandola

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ist, äußerlich abspielt, das hat wieder sein Gegenbild im Spiri­tuellen.

Wiederum war es in einer jener anspruchsiosen Versammlungswoh­nungen der Rosenkreuzer, wo bei einer Kultushandlung, die eigens zu diesem Zwecke angestellt worden ist, in allerfeierlichster Form im fünf­zehnten Jahrhunderte, in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahr­hunderts das Opfer dargebracht worden ist der Sternenerkenntnis. Und man möchte sagen: Dasjenige, was sich bei jener einmal vollzoge­nen, in besonderer Feierlichkeit vollzogenen Kultushandlung zugetra­gen hat, das ist dieses. Menschen standen vor einer Art von Altar und sagten: Wir wollen uns jetzt verantwortlich fühlen nicht allein für uns und unsere Gemeinschaft oder unser Volk oder die Menschen der Gegenwart, wir wollen uns verantwortlich fühlen für alle Menschen, die jemals auf Erden gelebt haben. Wir wollen uns als angehörig der ganzen Menschheit fühlen. Und wir fühlen, daß die Menschheit etwas durchgemacht hat, was ein Verlassen des Ranges der vierten Hier­archie ist, ein zu tiefes Hinuntersteigen in die Materie - so wurde der Sündenfall aufgefaßt. Deshalb, damit die Menschheit wiederum zu­rückkommen kann zu ihrem Range der vierten Hierarchie und im freien Willen dasjenige finden könne, was früher Götter für sie und mit ihr versucht haben, sei geopfert die höhere Erkenntnis für eine gewisse Zeit. - Und gewisse Wesenheiten der geistigen Welt, die nicht mensch­licher Art sind, nicht in menschlicher Inkarnation zur Erde herab-kommen, haben das Opfer entgegengenommen, um gewisse Ziele in der geistigen Welt zu erreichen, von denen hier zu sprechen zu weit führen würde, was ein anderes Mal geschehen soll. Den Menschen aber wurde dafür der Impuls zur Freiheit aus der geistigen Welt möglich.

Ich führe diese Kultusszene aus dem Grunde an, weil ich durch sie Ihnen sagen möchte, daß eigentlich alles, was im äußeren physisch-sinnlichen Leben geschieht, geistige Gegenbilder hat, die wir nur suchen müssen da, wo sie sind. Denn zuweilen bedeutet irgendeine einzelne Kultushandlung, die von, ich will jetzt in diesem Zusammenhange nicht sagen Wissenden, sondern die von solchen Persönlichkeiten vollzogen wird, die mit der geistigen Welt im Zusammenhang stehen, - bisweilen bedeutet sie etwas, wovon die Impulse für eine ganze Kultur oder Zivilisationsströmung

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ausstrahlen. Derjenige, der wissen will das Grundkolo-rit einer Zeitepoche, der muß den entsprechenden geistigen Ausstrah­lungsgrund für die Kräfte suchen, die diese Zeitperiode durchströmten.

Das Folgende dann, was an Geistigem, an wirklich Geistig-Spiri­tuellem produziert wurde, war ein Nachklang eines solchen Schaffens aus unbekannten geistigen Welten heraus. Und man hat bis ins neun­zehnte Jahrhundert herein neben dem, was sich an äußerem Materia­lismus entwickelte, immer einzelne Geister kennenlernen können, die unter der Nachwirkung jenes Verzichtes auf die höhere Erkenntnis gelebt haben.

Einen Menschentypus, der vom fünfzehnten Jahrhundert durch das sechzehnte, siebzehnte, achtzehnte lebte, den möchte ich Ihnen wenig­stens mit ein paar Strichen charakterisieren. Einen Menschentypus, den man irgendwo auf dem Dorfe draußen fand als Sammler von Kräu­tern für Apotheken, als irgendwie anders in einem anspruchslosen Be­rufe drinnen. Irgend solch eine Persönlichkeit müssen wir uns vor­stellen. Man trifft sie, wenn man selber Interesse hat an besonderen Gestaltungen des Menschenwesens in dieser oder jener Individualität, man trifft sie, diese Persönlichkeit. Zunächst ist sie außerordentlich zu­geknöpft, redet wenig oder lenkt die Aufmerksamkeit von dem, was man in ihr suchen möchte, dadurch ab, daß sie unbedeutende, absicht­lich ganz triviale Redensarten führt, durch die sie den Glauben er­wecken will, es sei nicht der Mühe wert, sich mit ihr zu unterhalten. Wenn man aber versteht, nicht immer auf den Inhalt der Worte zu sehen, die ein Mensch sagt, sondern auf den Klang seiner Worte, auf die Art und Weise, wie sie von ihm kommen, dann hörte man einem solchen Menschen dennoch weiter zu. Und wenn er dann aus irgend­einem karmischen Zusammenhang heraus den Eindruck bekam, er solle reden, dann fing er an, vorsichtig zu sprechen, und man entdeckte, daß man eine Art Von Weisen in ihm hatte. Aber dasjenige, was er sagte, war nun nicht Sternenweisheit. Das, was er sagte, war auch nicht irdische Weisheit. Es war auch nicht viel von dem in ihm enthalten, was man jetzt Geisteswissenschaft nennt, aber es waren warme Herzensworte, Moralanweisungen weittragender Art, die aber unsentimental vor­gebracht wurden, sprichwörtliche Redensarten.

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Man konnte hören so etwas wie: Gehen wir zu jenem Baume. Meine Seele kann in die Nadeln hineinkriechen, in die Tannenzapfen hinein-kriechen, denn meine Seele ist überall. Wenn sie in die Tannenzapfen und in die Nadeln hineinkriecht, dann schaut sie durch die Tannen­zapfen hinaus in die Weltentiefen und Weltenfernen, und dann wird man eins mit der ganzen Welt. Und das ist wahre Frömmigkeit, wenn man so eins wird mit der ganzen Welt. Wo ist Gott? In jedem Tannen­zapfen ist Gott. Und wer nicht Gott in jedem Tannenzapfen aner­kennt, wer Gott irgendwo anders sucht als in jedem Tannenzapfen, der erkennt den wirklichen Gott nicht. - Ich will nur charakterisieren, wie etwa solche Menschen sprachen, die man auf diese Weise fand, wie ich es geschildert habe. So sprachen solche Menschen. Sie sagten etwa auch: Ja, und dann, wenn man in die Tannenzapfen und in die Nadeln hineinkriecht, dann findet man, wie der Gott sich freut über die Men­schen in der Welt. Wenn man aber in das eigene Herz ganz tief hin-untersteigt, in die Abgründe der Innerlichkeit der Menschennatur tief hinuntersteigt, dann findet man auch den Gott, aber dann lernt man ihn erkennen, wie er traurig wird über die Sünden der Menschen.

In solcher Art sprachen diese anspruchslosen Weisen. Eine große Zahl dieser anspruchslosen Weisen hatte gewisse - ich möchte in der heutigen Sprache sagen - Ausgaben der alten Rosenkreuzerfiguren. Sie zeigten sie eben solchen Menschen, die ihnen so entgegentraten, daß sie sich aussprachen. Aber gerade, wenn über diese Figuren, die in an-spruchslosen, recht schlechten Drucken unter diesen Leuten lebten, ge­sprochen wurde, da entwickelten sich die Gespräche auf eine merk­würdige Art. Manche Menschen waren dann, trotzdem sie Interesse faßten an dem anspruchsiosen Weisen, von einer gewissen Neugierde befallen, was diese merkwürdigen Rosenkreuzerbilder eigentlich be­deuteten, fragten, und man bekam dann von diesen als Sonderlinge angesehenen einzelnen Weisen keine rechte, genaue Antwort, sondern nur den Hinweis: Wenn man sich so recht vertieft, dann kann man wie durch ein Fenster durch diese Figuren in die geistige Welt hinein­schauen. - Sie beschrieben mehr, was sie an ihnen gefühlsmäßig erleben konnten, als daß sie irgendwelche Deutungen oder Interpretationen der Figuren gaben. Und manchmal konnte man, wenn man solche Aussprüche

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des Fühlens der Personen bei diesen Figuren schildern gehört hatte, nicht recht zurechtkommen mit Gedanken, denn es waren keine Gedanken, die sie gaben. Aber es hatte eine ungeheuer bedeutende Nachwirkung. Man ging nicht nur mit einer warmen Seele davon, sondern man ging davon mit der Empfindung: Du hast eine Erkennt­nis bekommen, die in dir lebt, die du gar nicht in Begriffe bringen kannst.

Und das war einer der Wege neben den andern, die ich Ihnen ge­schildert habe, wie auf gefühlsmäßige Weise in diesem Zeitalter vom vierzehnten, fünfzehnten Jahrhundert bis zum Ende des achtzehnten Jahrhünderts Menschlichkeit, Göttlichkeit in weiten Kreisen verkündet und verbreitet worden ist. Man kann nicht ganz sagen, wortlos, man kann aber sagen, ideenlos, jedoch deshalb nicht inhaltlos. Es ist in die­sem Zeitalter viel durch Gedankenstummheit zwischen den Menschen verhandelt worden. Und niemand bekommt eigentlich einen rechten Begriff von dem Charakter dieses Zeitalters, der nicht weiß, wieviel in diesem Zeitalter durch Gedankenstummheit, indem die Menschen ihre Seelen gewechselt haben, nicht bloß ihre Worte, bewirkt worden ist.

Damit wollte ich Ihnen noch einen der Züge jenes Übergangszeit-alters, in dem die Freiheit unter den Menschen gediehen ist, schildern. Ich werde ja in der nächsten Zeit auf die verschiedenste Art mehreres aus diesem Gebiete heraus zu schildern haben. Hier wollte ich nur eben anknüpfen noch, ergänzend einiges auch, anknüpfen an dasjenige, was während der Tagung geschehen ist, und ergänzend einiges Weitere sagen.

VIERTER VORTRAG Dornach, 11. Januar 1924

#G233-1962-SE204 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 11. Januar 1924

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Es obliegt mir, noch einiges Ergänzendes hinzuzufügen zu den Aus­einandersetzungen, die idi in den letzten Zeiten hier gemacht habe. Ich habe versucht darzustellen, wie der Gang der geistigen Erkenntnis durch die Jahrhunderte war und welche Gestalt er dann gerade in den neuesten Zeiten angenommen hat, und ich konnte darstellen, wie etwa vom fünfzehnten Jahrhundert ab bis zum Ende des achtzehnten Jahr­hunderts, ja bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, der Verlauf der war, daß dasjenige, was früher in einer konkreten, wenn auch instinktiven Erkenntnis da war, sich eigentlich in dieser Zeit mehr aus­gelebt hat in einem gefühlsmäßigen Hingegebensein an das Geistige der Welt überhaupt.

Wir sehen ja, wie die realen Erkenntnisse der Menschen in bezug auf die Natur, in bezug auf das Wirken der geistigen Welt in der Natur im elften, zwölften, dreizehnten Jahrhundert durchaus noch da sind. Wir können es selbst bei einer solchen Persönlichkeit wie Agrippa von Net­tesheim> den ich ja dargestellt habe in meinem Buche über die Mystik, sehen, wie er durchaus noch eine Erkenntnis davon hat, daß zum Beispiel in den Planeten unseres Planetensystems in ganz bestimmter Weise geartete geistige Wesenheiten vorhanden sind. Agrippa von Nettes-heim führt in seinen Schriften für jeden einzelnen Planeten dasjenige an, was er die Intelligenz des Planeten nennt, und dann dasjenige, was er den Dämon des Planeten nennt. Das weist hin auf Traditionen, die aus alten Zeiten damals noch durchaus vorhanden waren, die aber eben auch in dieser Zeit nicht bloße Traditionen waren. Das Hinaufschauen zu einem Planeten in dem Sinne, wie es die spätere Astronomie getan hat und noch heute tut, das wäre einem solchen Geiste wie Agrippa von Nettesheim noch ganz und gar unmöglich gewesen. Der äußere Planet, überhaupt der äußere Stern war nur etwas wie eine Ankündi­gung für geistige Wesenheiten, auf die der Seelenblick fiel, wenn man in der Richtung des Sternes sah. Und er wußte, daß die Wesenheiten, die mit den einzelnen Gestirnen verbunden sind, solche sind, welche

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das innere Dasein des Planeten regeln, aber auch die Bewegungen des Planeten im Weltenall regeln, welche die ganze Tätigkeit eines Gestir­nes regeln und so weiter. Und solche Wesenheiten faßte er zusammen unter dem Namen Intelligenz des Gestirnes.

Aber er wußte auch, wie aus dem Gestirn heraus und in dasselbe hineinwirken hemmende, man möchte sagen, die guten Taten des Ge­stirnes untergrabende Wesenheiten. Die faßte er zusammen unter dem Namen des Dämons des Gestirnes. Solch eine Erkenntnis war aber durchaus in der damaligen Zeit damit verbunden, daß auch die Erde als ein solcher Weltenkörper aufgefaßt worden ist, der seine Intelligenz und der seinen Dämon hat. Aber gerade das Wesentliche, das mit dieser Auffassung von der Gestirn-Intelligenz und von der Gestirn-Dämono­logie verbunden war, ging ja ganz und gar verloren, denn es drückte sich dieses Wesentliche gerade in dem Folgenden aus.

Die Erde betrachtete man natürlich auch als in ihrer inneren Tätig­keit, in ihrer Bewegung im Kosmos geregelt durch eine Summe von Intelligenzen, die man zusammenfassen konnte unter der Intelligenz des Erdengestirns. Aber was war für diese Persönlichkeiten noch die Intelligenz des Erdengestirns? Es ist heute ja außerordentlich schwer, überhaupt von diesen Dingen noch zu reden, weil die Vorstellungen der Menschen so weit weggegangen sind von dem, was in der dama­ligen Zeit wie etwas Selbstverständliches galt für die einsichtigen Men­schen. Die Intelligenz des Erdengestirns war der Mensch als solcher. Man sah den Menschen an als dasjenige Wesen, welches von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, nicht etwa bloß, wie der heutige Mensch meint, auf der Erde herumzugehen oder mit der Eisen­bahn herumzufahren, Waren einzukaufen und zu verkaufen, Bücher zu schreiben und dergleichen, sondern man faßte den Menschen so auf, daß er von der Weltengeistigkeit die Aufgabe erhalten hat, in alles das, was sich bezieht auf die Stellung der Erde im Kosmos, regelnd, ord­nend, gesetzmäßig einzugreifen. Den Menschen faßte man so auf, daß man sagte: er gibt der Erde durch dasjenige, was er ist, durch die Kräfte, die er innerhalb seines Wesens birgt, den Impuls zu ihrer Be­wegung um die Sonne, zu ihrer Bewegung weiter im Weltenraume.

Man hatte damals noch ein Gefühl dafür, daß das dem Menschen

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einstmals zugeteilt war, daß der Mensch wirklich zu dem Herrn der Erde von der Weltengeistigkeit gemacht war, daß er aber dieser Auf­gabe sich nicht gewachsen gezeigt hat im Verlaufe seiner Entwickelung, daß er von seiner Höhe heruntergestürzt sei. Man trifft heute nur noch sehr selten die Nachklänge dieser Ansicht da, wo von Erkenntnis die Rede ist. Alles, was in religiöser Auffassung von dem Sündenfall ge­dacht wird, geht ja schließlich auch auf diese Vorstellung zurück. Das handelt ja davon, daß der Mensch ursprünglich eine ganz andere Stellung auf der Erde und im Weltenall hatte, als er sie heute ein­nimmt, daß er von seiner Höhe herabgestürzt sei. Aber außer dieser religiösen Auffassung, da, wo man glaubt, Erkenntnisse, die metho­disch erworben werden, zu haben, da gibt es heute eigentlich nur noch Nachklänge an jene alte, aus instinktivem Hellsehen hervorgegangene Erkenntnis von der einstigen Aufgabe des Menschen und von seinem Herunterstürzen in seine heutige Eingeschlossenheit in so enge Grenzen.

Es kommt zum Beispiel heute noch vor, daß man diese oder jene Persönlichkeit einmal zum Sprechen bekommt, sagen wir - ich erzähle Tatsachen -, man kommt in ein Gespräch mit dieser oder jener Per­sönlichkeit, die tiefer nachgedacht, nachgesonnen hat, auch sich tiefere Erkenntnisse erworben hat über das oder jenes auf geistigem Felde; man kommt ins Gespräch, ob denn der Mensch heute, so wie er auf der Erde steht, eigentlich ein in sich geschlossenes, sein Wesen in sich tragendes Geschöpf sei. Und da sagen einem dann solche Persönlich­keiten: Das kann er nicht sein. Der Mensch müsse eigentlich - sonst könne er nicht das Streben in sich haben, das er nun einmal hat, sonst könne er in seinen höchsten Exemplaren nicht den großen Idealismus entfalten, den er oftmals entfaltet - der Mensch müsse eigentlich seiner Natur nach ein umfassendes Wesen sein, das aber irgendwie eine kos­mische Sünde auf sich geladen hat, durch die er beschränkt worden ist in das heutige irdische Dasein herein, so daß er heute eigentlich wie in einem Käfig sitzt.

Gewiß, diese Anschauung trifft man noch da oder dort als Nach­zügler jener alten Anschauung. Aber im ganzen und großen, wo ist es denn, daß sich diejenigen, die sich heute für Wissenschafter halten, überhaupt im Ernste mit diesen umfassenden Fragen beschäftigen, die

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aber doch schließlich das einzige sind, was den Menschen wirklich zu einem menschenwürdigen Dasein bringen kann?

Und so war es schon so, daß der Mensch einst als der Träger der Intelligenz der Erde angesehen wurde. Aber auch der Erde schrieb eine solche Persönlichkeit wie Agrippa von Nettesheim einen Dämon zu. Nun, dieser Dämon des Irdischen, er ist eigentlich, wenn wir in das zwölfte, dreizehnte Jahrhundert noch zurückgehen, ein Wesen, das so, wie es geworden ist, auf der Erde hat nur werden können, weil es eben in den Menschen die Werkzeuge gefunden hat zu seinem Wirken.

Wenn man dies verstehen will, muß man sich eigentlich mit der Art und Weise bekanntmachen, wie in jener Zeit über das Verhältnis der Erde zur Sonne, beziehungsweise des irdischen Menschen zur Sonne, ge­dacht wurde. Und wenn ich Ihnen die Anschauung über dieses Verhält­nis charakterisieren soll, so muß ich im Grunde wiederum in Imagina­tionen reden, denn diese Dinge lassen sich nicht in abstrakte Begriffe bannen. Das eigentliche Zeitalter der abstrakten Begriffe hat ja erst später begonnen, und die abstrakten Begriffe sind weit davon entfernt, die Wahrheit zu umspannen, und so muß schon in Imaginationen dar­gestellt werden.

Die Sonne, sie ist eigentlich - nachdem sie sich in der Art, wie ich das in meiner «Geheimwissenschaft» dargestellt habe, von der Erde ge­trennt hat, oder die Erde von sich abgetrennt hat -, sie ist eigentlich doch, da der Mensch seit dem Saturndasein mit dem gesamten Planeten-system einschließlich der Sonne verbunden war, die Ursprungsstätte des Menschen. Der Mensch hat nicht seine Heimat auf der Erde, sondern der Mensch hat einen vorübergehenden Aufenthalt auf der Erde. Er ist in Wirklichkeit nach jener alten Anschauung ein Sonnenwesen. Er ist in seinem ganzen Sein mit der Sonne verbunden. Da er dieses ist, sollte er eigentlich als Sonnenwesen anders auf der Erde dastehen, als wie er ist. Er sollte so auf der Erde dastehen, daß die Erde ihrem Drange genügen könnte, aus dem mineralischen und dem pflanzlichen Reiche heraus den Samen des Menschen in ätherischer Form hervorzubringen, und der Sonnenstrahl sollte dann diesen von der Erde hervorgebrachten Samen befruchten. Und daraus sollte die ätherische Menschengestalt erscheinen, die erst durch dasjenige, was sie als eigenes, von sich selbst

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aus begründetes Verhältnis zu den physischen Erdenstoffen macht, die physische Erdenstofflichkeit annehmen sollte. Also es war etwa von den Zeitgenossen des Agrippa von Nettesheim - Agrippa hatte leider schon etwas von Trübung in seiner Erkenntnis -, aber von seinen bes­seren Zeitgenossen war eigentlich gedacht worden, daß der Mensch nicht so, wie es nun einmal ist auf der Erde, irdisch geboren werden sollte, sondern daß der Mensch in seinem ätherischen Leibe durch das Zusammenwirken von Sonne und Erde zustande kommen sollte und sich seine irdische Gestalt, wandelnd als ätherische Wesenheit auf der Erde, erst geben sollte. Gewissermaßen in pflanzlicher Reinheit sollten erwachsen auf der Erde die Menschensamen, ätherisch da und dort auftretend als dunkel funkelnde Erdenfrüchte, dann überglänzt wer­den von dem Lichte der Sonne in bestimmter Jahreszeit, und durch jenes Überglänzen ätherisch Gestalt annehmend in menschlicher Art. Denn nicht aus dem Leibe der Mutter, sondern aus der Erde und dem, was auf ihr ist, sollte der Mensch selber heranziehen dasjenige, was er an physischer Substanz aus dem Erdenbereiche sich einverleiben sollte. So dachte man, wäre es eigentlich im Sinne der Weltengeistigkeit ge­wesen, daß der Mensch die Erde betritt.

Und dasjenige, was später gekommen ist, ist dadurch gekommen, daß der Mensch einen zu tiefen Drang, eine zu intensive Begierde in sich hat erwachen lassen zu dem Irdisch-Stofflichen. Dadurch ist er ver­lustig geworden seines Zusammenhanges mit Sonne und Kosmos, und er konnte auf der Erde nur in Form der Vererbungsströmung sein Da­sein finden. Dadurch aber hat gewissermaßen der Dämon der Erde seine Arbeit begonnen, denn mit Menschen, die sonnengeboren wären, hätte sich der Dämon des Irdischen nicht beschäftigen können. Dann aber, wenn der Mensch also die Erde betreten hätte, dann wäre er wirklich die vierte Hierarchie. Da würde stets, wenn über den Men­schen geredet würde, so geredet werden müssen, daß man sagte: Erste Hierarchie - Seraphim, Cherubim, Throne, dann zweite Hierarchie -Exusiai, Dynameis, Kyriotetes, dritte Hierarchie - Angeloi, Archan­geloi, Archai, vierte Hierarchie - der Mensch, in drei Abstufungen des Menschlichen, aber eben eine vierte Hierarchie. Dadurch aber, daß der Mensch nach dem Physischen hin seinen starken Drang geltend gemacht

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hat, dadurch wurde er nicht das Wesen auf der untersten Sprosse der Hierarchien, sondern das Wesen an der Spitze auf der höchsten Sprosse der irdischen Reiche: Mineralreich, Pflanzenreich, Tierreich, Menschenreich. So hat man die Stellung des Menschen damals ange­sehen.

Dadurch aber, daß der Mensch seine Aufgabe auf der Erde nicht gefunden hat, dadurch hat die Erde auch nicht ihre würdige Stellung im Kosmos. Denn es ist ja eigentlich dadurch, daß der Mensch gefallen ist, der eigentliche Regent der Erde nicht da. Was ist nun gekommen? Der eigentliche Regent der Erde fehlt, und notwendig wurde, daß die Erde in ihrer Stellung im Kosmos nicht von sich aus regiert wurde, sondern regiert wurde von der Sonne aus, so daß der Sonne die Auf­gaben zugefallen sind, die eigentlich auf Erden verrichtet werden sol­len. Also es sah der mittelalterliche Mensch zur Sonne hinauf und sagte:

In der Sonne sind gewisse Intelligenzen. Sie bestimmen die Bewegung der Erde im Kosmos, sie regeln, was auf der Erde selber geschieht. Der Mensch sollte es tun. Die Sonnenkräfte sollten auf der Erde durch den Menschen für das Dasein der Erde wirken. - Dadurch entstand jene bedeutsame Vorstellung des mittelalterlichen Menschen, die einge­schlossen ist in die Worte: Die Sonne, der unrechtmäßige Fürst dieser Welt.

Und jetzt bedenken Sie, meine lieben Freunde, wie unendlich ver­tieft für diesen mittelalterlichen Menschen gerade durch solche Vor­stellungen der Christus-Impuls wurde. Der Christus wurde zu dem Geiste, der auf der Sonne seine weitere Aufgabe nicht finden wollte, der nicht bleiben wollte unter denjenigen, die von außen her unrecht­mäßig die Erde dirigieren. Er wollte seinen Weg von der Sonne zur Erde finden, einziehen in Menschengeschick und Erdengeschick, wan­deln durch die Erdenereignisse und durch die Erdenentwickelung in Menschengesciiick und Erdengeschick. Damit war für den mittelalter­lichen Menschen der Christus die einzige Wesenheit, die im Kosmos die Aufgabe des Menschen auf Erden gerettet hat. Und nun haben Sie den Zusammenhang. Denn nun können Sie wissen, warum in der Rosenkreuzer-Zeit dem Schüler immer wieder eingeschärft wurde: 0 Mensch, du bist ja nicht das, was du bist. Der Christus mußte kommen,

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um dir deine Aufgabe abzunehmen, um für dich deine Aufgabe zu verrichten.

Im Goetheschen «Faust» ist so manches auf eine Art, die Goethe selber nicht verstanden hat, herübergekommen aus tief mittelalter­lichen Vorstellungen. Erinnern Sie sich an Fausts Beschwörung des Erd­geistes. Hat man diese mittelalterlichen Vorstellungen in sich, dann emp­findet man recht tief, wie dieser Erdgeist, den Faust beschwört, davon redet, daß er im Tatensturm auf- und abwallt, Geburt und Grab, ein ewiges Weben, ein glühend Leben, daß er schafft am sausenden Web­stuhl der Zeit und wirkt der Gottheit lebendiges Kleid. Denn wen be­schwört Faust eigentlich? Goethe hat es ganz sicher, als er den «Faust» schrieb, nicht in voller Tiefe gewußt. Aber gehen wir vom Goetheschen Faust zum mittelalterlichen Faust zurück, belauschen wir diesen mittel­alterlichen Faust, in dem rosenkreuzerische Weisheit lebte, dann lehrt uns dieses Lauschen, wie dieser mittelalterliche Faust auch eine Be­schwörung vollführen wollte. Aber wen wollte er im Erdgeist be­schwören? Er sprach gar nicht vom Erdgeist, er sprach vom Menschen. Das war der Drang des mittelalterlichen Menschen, Mensch zu sein, denn er empfand es tief, daß er als Erdenmensch eben nicht Mensch ist. Wie kann man die Menschheit wieder erringen? Die Art und Weise, wie Faust hinweggestoßen wird von dem Erdgeist, das ist die Nach­bildung, wie der Mensch in seiner irdischen Gestalt von seiner eigenen Wesenheit zurückgestoßen wird. Und deshalb, weil das so aufgefaßt wurde, tragen manche im Mittelalter vorkommende - ja, wie soll man es nennen - Bekehrungsgeschichten zum Christentum einen außerordent­lich tiefen Charakter, den Charakter, daß gewisse Menschen nach der verlorenen Menschlichkeit strebten, aber verzweifeln mußten, mit Recht verzweifeln mußten, innerhalb des irdisch-physischen Lebens diese echte Menschlichkeit in sich erleben zu können, und dann von diesem Gesichtspunkte aus einsahen: Also muß menschliches Streben zum Menschtum aufgegeben werden, und der irdische Mensch muß es. dem Christus überlassen, die Aufgabe der Erde zu vollziehen.

In der Zeit, in der also noch, ich möchte sagen, in einer überpersön­lich-persönlichen Art vom Menschen sowohl das Verhältnis zur Mensch­heit selber wie das Verhältnis zum Christus aufgefaßt wurde, in dieser

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Zeit war Geist-Erkenntnis, Geistesschau eben noch real. Da war sie noch Erlebnisinhalt. Das hörte mit dem fünfzehnten Jahrhundert fast ganz auf. Und da vollzog sich denn jener Umschwung, über den sich eigentlich niemand mehr aufklärte.

Aber für den, der solche Dinge weiß, gibt es im fünfzehnten, im sechszehnten Jahrhundert, ja auch noch später, eine einsame, der Welt kaum bekannt gewordene Rosenkreuzer-Schule, wo immer wieder und wiederum wenige Zöglinge erzogen wurden und wo vor allen Dingen darauf gesehen wurde, daß eines als eine heilige Tradition bewahrt worden ist. Diese heilige Tradition war die folgende. Ich will Ihnen das Ganze in Form einer Erzählung geben.

Sagen wir, wiederum kam eine neuer Zögling zur Vorbereitung in diese einsame Stätte. Da wurde ihm zunächst in der wirklichen Gestalt, wie das von alten Zeiten überliefert war, das sogenannte Ptolemäische Weltensystem beigebracht, nicht so trivial, wie es heute als etwas Über­wundenes vor die Leute hingestellt wird, sondern anders. Es wurde ihm gezeigt, wie die Erde die Kräfte tatsächlich in sich trägt, ihren Gang durch die Welt von sich aus zu bestimmen. So daß in der rich­tigen Weise das Weltensystem vorgestellt, es eben im alten Ptole­mäischen Sinne gezeichnet werden muß: die Erde für den Menschen im Mittelpunkt des Weltenalls, die anderen Gestirne in einer entspre­chenden Umkreisung durch die Erde dirigiert. Dann wurde dem Schü­ler gesagt: Wenn man dasjenige, was der Erde beste Kräfte sind, wirk­lich studiert, so kommt man zu keinem anderen Weltensystem als diesem. Aber so ist es eben nicht. Es ist nicht so durch die Schuld des Menschen. Durch die Schuld des Menschen ist die Erde unberechtigter-weise in den Sonnenbereich übergegangen, und die Sonne ist der Re­gent der irdischen Betätigungen geworden. Und so kann man einem Weltensystem, das von den Göttern den Menschen gegeben werden sollte im Sinne des alten Ptolemäischen Weltensystems mit der Erde im Mittelpunkte, ein solches entgegenstellen, das die Sonne im Mittel-punkte hat, die Erde sich drehend um die Sonne, das Kopernikanische Weltensystem.

Und es wurde dem Schüler anvertraut, daß hier ein Weltenirrtum vorliegt, ein durch menschliche Schuld bewirkter Weltenirrtum. Und

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dann wurde zusammengefaßt für diesen Schüler dasjenige, was er sich tief in die Seele und tief ins Herz schreiben sollte: Da haben nun die Menschen das alte Weltensystem überwunden und ein anderes an die Stelle gesetzt, und wissen nicht einmal, daß dieses andere, das sie für richtig ansehen, das Ergebnis der eigenen Menschenschuld ist. Was nur der Ausdruck, was nur die Offenbarung der Menschenschuld ist, sieht man einfach als das Richtige gegenüber dem Falschen an. - Was ist geschehen in der neueren Zeit? - so sagten dann die Lehrer diesem Schüler. Die Wissenschaft ist gestürzt worden durch die Schuld des Menschen. Die Wissenschaft ist eine Wissenschaft des Dämonischen geworden. - Bis dann am Ende des achtzehnten Jahrhunderts auch solche Dinge unmöglich geworden sind, hat es immer wenigstens ein­zelne Schüler gegeben, welche mit dieser Gemütserkenntnis, mit dieser Gemütsanschauung aus einer einsamen Rosenkreuzer-Schulstätte ihre geistige Nahrung bezogen haben. Es ist zum Beispiel noch so gewesen, daß der große Leibniz, der Philosoph, aus seinen Gedankenerwägun­gen heraus den Antrieb in sich erhalten hat, irgendwo zu finden die­jenige Lehrstätte, in der man in der richtigen Weise formulieren kann, wie es sich eigentlich verhält mit dem Kopernikanischen und Ptole­mäischen Weltsystem. Er hat sie nicht finden können.

Solche Dinge muß man kennen, um die richtige Nuance heraus­zubekommen für den Umschwung, der in den letzten Jahrhunderten in bezug auf des Menschen Anschauung über sich selbst und über das Weltenall stattgefunden hat. Und mit dem Hinuntersinken dieses lebendigen Zusammenhanges des Menschen mit sich selbst, mit diesem Entfremden des Menschen von sich selbst kam dann das Anklammern des Menschen an den äußeren Verstand, der heute alles beherrscht. Denn dieser äußere Verstand, ist er denn menschliches Erlebnis? Er ist nicht menschliches Erlebnis. Denn wäre er menschliches Erlebnis, so könnte er nicht in so äußerlicher Weise innerhalb der Menschheit leben, wie er lebt. Der Verstand ist ja im Grunde genommen gar nicht ver­bunden mit dem einzelnen Persönlichen, mit dem einzelnen individuel­len Menschen, der Verstand ist ja fast etwas Konventionelles. Er spru­delt nicht hervor aus innerem menschlichem Erlebnis. Er tritt eigentlich als etwas Äußerliches an den Menschen heran.

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Und wie er etwas Äußerliches geworden ist, man empfindet es, wenn man vergleicht, wie etwa Aristoteles selber seine Logik, die ja nach Kants Ausdruck seit Aristoteles nicht fortgeschritten ist, seinen Schülern bei­gebracht hat, und wie dann etwa im siebzehnten nachchristlichen Jahr­hundert Logik gelehrt worden ist. Es war in der Aristoteles-Zeit Logik etwas recht Menschliches noch. Denn indem der Mensch darauf hingewie­sen wurde, logisch zu denken, hatte er ja damals noch eine Empfindung, die Empfindung, als ob er, wenn ich mich eben wiederum imaginativ aus­drücken darf, seinen Kopf, sein Haupt in kaltes Wasser stecken würde und dadurch sich selber für einen Moment entfremdet würde, oder auch eine andere Empfindung, diejenige Empfindung, die Alexander dem Aristoteles entgegengehalten hat, als er ihm die Logik beibringen wollte: Du drückst mir ja alle Kopfknochen zusammen - wie etwas Äußerliches. Im siebzehnten Jahrhundert empfand man diese Äußer­lichkeit als etwas Selbstverständliches. Man lernte, wie man aus dem Obersatz, aus dem Untersatz den Schlußsatz finden müsse. Man lernte dasjenige, was Sie noch im Goetheschen «Faust» ironisch behandelt finden: Das erste ist so, das zweite so, und drum das dritt' und vierte so, und wenn das erst' und zweit' nicht wär', das dritt' und viert' wär' nimmermehr. Und so wird der Geist Euch wohl dressiert, in spanische Stiefeln eingeschnürt. - Ob man nun, wie Alexander es empfunden hat, den Kopf in seinen Knochen zusammengedrückt empfindet, oder ob man in spanische Stiefel eingeschnürt wird durch das erst' und zweit' und dritt' und viert', es ist ja schließlich ein Bild für dasselbe, was der Mensch empfindet.

Diese Äußerlichkeit des abstrakten Denkens, sie empfand man in der Zeit nicht mehr, wo man Logik bewußt lernte in den Schulen. Heute hat das mehr oder weniger aufgehört. Es wird auch Logik nicht mehr bewußt gelernt auf den Schulen. Nun, das ist ja ungefähr so, als wenn es irgendwo eine Zeit gegeben hätte, wo die Leute mit Enthu­siasmus nach Hunderten und Hunderten sich die gleiche Uniform nach der Vorschrift angezogen hätten, und nachher eine Zeit gefolgt wäre, in der sie, ohne erst darüber nachzudenken, das freiwillig getan haben. Aber in dieser Zeit, in der die Logik des Abstrakten immer mehr und mehr überhandnahm, in dieser Zeit konnte die alte geistige Erkenntnis

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ja nicht mehr fortschreiten. Daher sehen wir sie äußerlich werden und jene Gestalt annehmen, die in solchen Erscheinungen auftritt wie zum Beispiel in den Schriften des Eliphas Le'vi oder in den Veröffent­lichungen von Saint-Martin. Man hat schon in diesen Veröffentlichun­gen die letzten Ausläufer alter Geist-Erkenntnis und Geistesschau.

Aber was ist in einer solchen Schrift enthalten wie etwa in Eliphas Lévis «Dogma und Ritual der hohen Magie»? Da sind zum Beispiel zunächst zu finden allerlei Zeichen, Triangel, Pentagramme und so weiter, da finden Sie wieder heraufgeholt aus alten Zeiten gewisse Worte aus früher herrschenden Sprachen, namentlich aus der hebrä­ischen, und da finden Sie dasjenige, was früher Leben war, aber auch Erkenntnis, was in die Tat des Menschen übergehen konnte, aber auch in die Ideen des Menschen übergehen konnte, ideenlos auf der einen Seite und in äußerliche Zauberei auf der anderen Seite ausgeartet; Spekulationen über die symbolische Bedeutung dieses oder jenes Zei­chens, denen gegenüber der moderne Mensch, wenn er ehrlich sein will, sich gestehen müßte, daß gar nichts Besonderes darinnen enthal­ten ist, schauderhafte Verrichtungen, anknüpfend an allerlei Riten, deren geistiger Zusammenhang denjenigen, die von solchen Riten spre­chen und sie auch oftmals übten, nicht im entferntesten klar war. Über­all wiesen solche Bücher hin auf dasjenige, was einmal verstanden wurde in alten Zeiten, innerlich erkenntnismäßig erlebt wurde, aber in der Zeit, wo zum Beispiel Eliphas Lévi seine Bücher schrieb, eben nicht mehr verstanden wurde. Und über Saint-Martin habe ich mich ja in der Wochenschrift «Goetheanum» selber einmal ausgesprochen. Und so sehen wir denn, man möchte sagen, mit vollem Unverständnis dasjenige behandelt, was einmal in das seelisch-geistige Menschenleben einverwoben war, was aber in diesem seelisch-geistigen Menschenwesen nicht erhalten werden konnte.

Echt und wahr ist vom fünfzehnten bis ins achtzehnte, neunzehnte Jahrhundert herein dasjenige, was als ein allgemeiner Drang nach dem Göttlichen sich dem Gemüte ergeben hat. Da ist Schönes, Wunder­schönes und Herrliches zu finden. Und da ist über manchem, was heute viel zu wenig beachtet wird, ein wirklicher Zauberhauch des Spiri-tuellen. Aber neben alledem geht eine sich verknöchernde Saat auf des

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Unverstandes alter spiritueller Wahrheiten, und einher geht damit das Unvermögen, in einer der Zeit entsprechenden Weise an das Geistige heranzukommen. Man kann Menschen kennenlernen aus dem acht­zehnten Jahrhundert, die geradezu von einer Zerstörung alles Mensch­lichen sprechen und von einem Heraufkommen eines furchtbaren Ma­terialismus. Manchmal ist es einem so, als ob dasjenige, was diese Menschen des achtzehnten Jahrhunderts sagen, auch auf unsere Zeit passen würde. Dennoch paßt es nicht, paßt auf die letzten zwei Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nicht. Denn in diesem neunzehnten Jahrhundert ist das, was man noch mit einem gewissen, ich möchte sagen, Abscheu vor seinem dämonischen Charakter im achtzehnten Jahrhundert angesehen hat, etwas Selbstverständliches geworden. Man hatte nicht die Kraft, sich zu sagen: Kopernikus - sehr schön, aber eine Anschauung, die nur dadurch hat kommen können, daß der Mensch eben nicht das geworden ist auf der Erde, was er auf der Erde hätte werden sollen, daß die Erde regentenlos dastand und das Erden-regiment an den widerrechtlichen Fürsten der Welt - das Wort kommt im Mittelalter immer wieder vor - übergegangen ist, weshalb der Christus die Sonne verlassen hat und sich mit dem Erdengeschick ver­einigt hat.

Und es ist ja in der Tat erst wiederum am Ende des neunzehnten Jahrhunderts möglich geworden, in diese Dinge mit ursprünglicher menschlicher Klarheit hineinzusehen. Es ist erst wiederum möglich geworden in der Michael-Zeit. Von dem Anbruche und dem Charak­ter dieser Michael-Zeit haben wir ja wiederholt gesprochen. Aber es gibt Aufgaben, welche verbunden sind mit dieser Michael-Zeit und auf die nun auch jetzt hier hingedeutet werden kann, nachdem dasjenige, was über die Entwickelung der Geistesschau in den verschiedenen Jahr­hunderten in der Weihnachtszeit und nachher hier gesprochen worden ist, vorangegangen ist.

FÜNFTER VORTRAG Dornach, 12. Januar 1924

#G233-1962-SE216 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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FÜNFTER VORTRAG

Dornach, 12. Januar 1924

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Wir haben ja gesehen, wie allmählich in eine Abenddämmerung hinein das alte, von der Menschheit durch instinktives Hellsehen erlangte Wissen sich entwickelt hat. Es ist außerordentlich schwierig in der neue­ren Zeit, namentlich nach dem achtzehnten Jahrhundert, noch Spuren jenes alten Wissens irgendwie zu finden, denn es war ja wirklich so, wie ich Ihnen gesagt habe: Dasjenige, was sich erhalten hat, oder eigentlich, was neu heraufgekommen ist, das ist äußere Naturbeob­achtung und Logik, abstrakte Gedankenfolge. - Weder mit äußerer Naturbeobachtung, Sinnesbeobachtung, noch mit der bloßen abstrak­ten logischen Gedankenfolge kann man die Brücke hinüberschlagen vom Menschen zu der wahren Wirklichkeit. Aber in einem gewissen Sinne traditionell hat sich doch bis in die neuesten Zeiten herein, man kann sagen, bis um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts manches von dem alten Wissen erhalten. Und damit wir jetzt in den Betrach­tungen, die wichtig sein werden und die uns bevorstehen, in der rich­tigen Weise uns mit unserer Seele werden verhalten können, möchte ich doch heute noch einiges sprechen von gewissen Vorstellungen, die sogar noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wie Überreste von altem Wissen vorhanden waren.

Ich erzähle Ihnen diese Dinge heute aus dem Grunde, damit Sie sehen, wie in einer noch gar nicht so weit zurückliegenden Zeit die Denkungsart der Menschen doch ganz anders war, als sie heute ist. Aber wie gesagt, es ist außerordentlich schwierig, auf diese Dinge zu kommen, denn es ist schon so, wie ich Ihnen gesagt habe: Einzelne ein­sam lebende Menschen, höchstens mit einem kleinen Schülerkreise, haben sich da oder dort erhalten und haben wirklich ganz im Ge­heimen manches von dem alten Wissen fortgesetzt, ohne daß sie selbst die ganz tiefen Gründe davon verstanden haben. Man muß ja auch für ältere Zeiten so etwas voraussetzen, denn es ist ganz gewiß, daß sowohl diejenige Persönlichkeit, die Ihnen bekannt ist unter dem Namen des Faust, wie auch die andere, die Ihnen bekannt ist unter

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dem Namen des Paracelsus, daß diese beiden Persönlichkeiten auf ihren Wanderungen an solche einsamen, man möchte sagen, seelische Höhlenbewohner gestoßen sind und von ihnen manches erfahren haben, was sie dann durch eine innere Fähigkeit, die auch gerade bei diesen Persönlichkeiten mehr instinktiv war, weiter ausgebildet haben.

Dasjenige aber, was ich Ihnen jetzt erzählen will, das war noch in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts vorhanden, wiederum in einer solch einsamen - man könnte es Schule nennen, wenn man es wollte -, in einer solch einsamen Schule Mitteleuropas. Da gab es in einem ganz kleinen Kreise eine sehr eindringliche Lehre von dem Menschen. Es ist seit lange auf einem geistigen Wege mir be­wußt geworden, daß es in einem gewissen Orte Mitteleuropas eine solche kleine wissende Gemeinschaft gegeben hat. Wie gesagt, auf gei­stigem Wege ist es mir bekannt geworden. Ich konnte ja dazumal nicht in der physischen Welt Beobachtungen anstellen, da ich ja damals nicht in der physischen Welt war, aber auf geistigem Wege ist mir dies be­kannt geworden, daß es eine solche kleine Gemeinschaft gegeben hat. Ich würde aber nicht sprechen über dasjenige, was innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft gelehrt worden ist, wenn sich mir nun nicht nach­träglich durch die eigene Forschung der Geisteswissenschaft gerade We­sentlichstes von dem, was da geborgen war, wiederum enthüllt hätte, wenn ich nicht sozusagen selber die Dinge wieder gefunden hätte. Denn gerade durch solches Wiederfinden bekommt man ja erst die richtige Stellung zu demjenigen, was sich aus alten Zeiten wirklich wie eine überwältigend große Weisheit erhalten hat. Und von der kleinen Ge­meinschaft, von der ich sprechen möchte, zieht sich eigentlich dann nach vorne in der Geschichte durch das ganze Mittelalter hindurch bis in das Altertum hinein, bis in die Zeiten, die ich Ihnen geschildert habe wäh­rend der Weihnachtstage, bis in die Zeiten des Aristoteles hinein eine Tradition, eine Tradition, die aber allerdings nicht direkt über Grie­chenland gekommen ist, sondern über Asien herein durch dasjenige, was von Mazedonien aus durch Alexander nach Asien gebracht wor­den ist.

Da findet man gerade innerhalb dieser kleinen Gemeinschaft, wie eine eindringliche Lehre vom Menschen in bezug auf zwei menschliche

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Fähigkeiten mit einer großen Genauigkeit noch vorhanden ist. So kann man vernehmen, wie da ein wirklich meisterhaft durchgebildeter, man kann schon sagen, Geheimwissenschafter seine Schüler darin unterrich­tet, daß man mit den alten Symbolen, die da bestehen aus gewissen geometrischen Formen, sagen wir zum Beispiel solch einer Form (siehe Zeichnung) - an den Enden finden sich dann gewöhnlich irgendwelche hebräischen Worte -, daß man mit diesen Symbolen so unmittelbar nichts anfangen könne. Und die Schüler dieses Meisters wußten durch ihre Unterweisung, wie eigentlich dasjenige, was zum Beispiel Eliphas Lévi gibt, bloß eine Art Herumreden ist um die Sache. Denn das konnten diese Schüler noch lernen, daß man auf die eigentliche Bedeu­tung solcher Symbole nur dann kommt, wenn man sie im Wesen der eigenen menschlichen Organisation wiederfindet.

Und so war es namentlich ein Symbolum, welches in dieser Gemein­schaft eine große Rolle spielte. Sie bekommen dieses Symbolum, wenn Sie diesen Salomonischen Schlüssel - so wird er gewöhnlich vorge­führt - auseinanderziehen, wenn Sie ihn so gestalten, verschieben, daß das hinunterkommt und das hinaufgeschoben wird (Zeichnung). Gerade dieses Symbolum, das spielte innerhalb jener kleinen Gemeinschaft, wie gesagt, auch noch im neunzehnten Jahrhundert eine bedeutsame Rolle. Und jener Meister ließ dann die Angehörigen seines kleinen Schülerkreises eine bestimmte Attitüde ihres Leibes annehmen. Er ließ sie die Attitüde des Leibes annehmen, durch die gewissermaßen der Leib selber hinschrieb dieses Symbolum. Er ließ sie sich so stellen, daß sie die Beine etwas auseinanderspreizten und die Arme nach oben in dieser Weise einstellten. Dadurch kamen, wenn man die Arme nach unten verlängerte und die Beine nach oben verlängerte, eben diese vier Linien (starker Strich) am menschlichen Organismus selber zum Vor­schein. Diese Linie verbindet dann die Füße, diese verbindet die Hände oben. Die anderen beiden kamen zum Bewußtsein als wirklich vorhan­dene Kraftlinien, indem dem Schüler klar wurde: Es gehen Strömungen wie elektromagnetische Strömungen dann von der linken Fingerspitze zur rechten Fingerspitze, und wiederum von dem linken Fuß zu dem rechten Fuß. So daß tatsächlich der menschliche Organismus selber diese ineinander verschlungenen Triangeln in den Raum hineinschrieb. Und

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dann handelte es sich darum, daß der Schüler empfinden lernte, was da liegt in den Worten: Licht strömt aufwärts, Schwere lastet abwärts (siehe Zeichnung). Dann mußten die Schüler dieses in tiefer Meditation erleben, in der Attitüde, die ich eben beschrieben habe. Dadurch kamen sie allmählich dahin, daß ihnen der Lehrer sagen konnte: Jetzt werdet ihr etwas erleben, was tatsächlich in alten Mysterien immer wieder und wiederum geübt worden ist. - Und sie erlebten wirklich dies, daß sie in ihren Arm- und Beinknochen (siehe Zeichnung, starker Strich) das Mark erlebten, das Knochenmark erlebten, das Innere des Knochens erlebten.

Sehen Sie, diese Dinge können nachempfunden werden dadurch, daß ein Zusammerihang hergestellt wird zwischen etwas, das ich Ihnen gestern gesagt habe, und dem, was ich Ihnen jetzt sage. Ich sagte Ihnen in einem gewissen Zusammenhange, daß der Mensch, wenn er wirklich nur so sich verhält, wie das im Laufe der Zeit üblich geworden ist, wenn er sich bloß abstrakt denkend verhält, daß das dann äußerlich bleibt, daß er gewissermaßen sich veräußerlicht. Gerade das Gegenteil

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tritt ein, wenn auf diese Art ein Bewußtsein von dem Knocheninnern auftritt.

Nun gibt es aber noch etwas anderes, wodurch Sie zum Verständnis dieser Sache geführt werden können. Sehen Sie, so paradox es Ihnen klingen wird, so muß ich doch sagen, daß ein solches Buch wie meine «Philosophie der Freiheit» nicht durch die bloße Logik begriffen wer­den kann, sondern durch den ganzen Menschen verstanden werden muß. Und in der Tat, was in meiner «Philosophie der Freiheit» über das Denken gesagt wird, wird man nicht verstehen, wenn man nicht weiß, daß der Mensch eigentlich das Denken erlebt durch die innerliche Erkenntnis, durch das innerliche Erfühlen seines Knochenbaues. Man denkt eben nicht mit dem Gehirn, man denkt in Wirklichkeit mit sei­nem Knochenbau, wenn man in scharfen Denklinien denkt. Wenn das Denken konkret wird, wie es in der «Philosophie der Freiheit» der Fall ist, dann geht es eben in den ganzen Menschen über.

Aber die Schüler dieses Meisters gingen eben noch über das hinaus, und sie lernten erfühlen das Innere der Knochen. Und damit hatten sie ein letztes Beispiel erlebt von demjenigen, was in alten Mysterien-schulen vielfach üblich war: Symbole dadurch zu erleben, daß der eigene Organismus zu diesen Symbolen gemacht wurde, denn nur so kann man Symbole wirklich erleben. Das Deuten der Symbole ist eigentlich etwas Unsinniges. Alles Spintisieren über Symbole ist eigent­lich etwas Unsinniges. Das richtige Verhalten zu Symbolen ist das, daß man sie macht und erlebt, so wie man schließlich auch Fabeln, Legenden, Märchen nicht bloß im Abstrakten aufnehmen soll, sondern sich damit identifizieren soll. Es gibt immer etwas im Menschen, wo­durch man in alle Gestalten des Märchens hineingehen kann, eins wer­den kann mit dem Märchen. Und so ist es mit diesen wirklichen, aus geistiger Erkenntnis stammenden Symbolen der alten Zeit. Und ich habe Ihnen solche Worte hier in deutscher Sprache hergeschrieben (siehe Seite 219).

Es ist natürlich für die neuere Zeit mehr oder weniger nur ein Un­fug, wenn die nicht mehr voll verstandenen hebräischen Worte dafür hingeschrieben werden, denn dadurch wird der Mensch eigentlich inner­lich nicht belebt, er erlebt nicht die Symbole, sondern er wird verrenkt.

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Es ist etwas, wie wenn ihm seine Knochen gebrochen würden. Und das geschieht einem eigentlich auch, geistig natürlich. wenn man mit Ernst solche Schriften wie die des Eliphas Lévi liest.

Nun lernten also diese Schüler das Innere des Knochens erleben. Aber wenn man das Innere des Knochens anfängt zu erleben, dann ist man nicht mehr im Menschen. Geradesowenig wie, wenn Sie Ihren Zeige­finger vierzig Zentimeter vor Ihre Nase halten und da einen Gegen­stand haben, dieser Gegenstand in Ihnen ist, so wenig ist in Ihnen das­jenige, was Sie dann innerhalb Ihrer Knochen erleben. Sie gehen nach innen, aber aus sich heraus. Sie gehen wirklich aus sich heraus. Und dieses Aus-sich-heraus-Gehen, Zu-den-Göttern-Gehen, In-die-geistige-Welt-hinein-Gehen, das ist dasjenige, was nun die Schüler dieser ein­samen kleinen Schule damit begreifen lernten. Denn sie lernten damit die Linien kennen, welche von der Götterseite her in die Welt hinein-gezeichnet waren, um die Welt zu konstituieren. Sie fanden nach der einen Seite, durch den Menschen hindurch, den Weg zu den Göttern.

Und dann faßte der Lehrer dasjenige, was da die Schüler erlebten, in einen paradoxen Satz zusammen, in einen Satz, der natürlich heute vielen Menschen lächerlich erscheinen wird, aber der, Sie werden es aus dem Angedeuteten erkennen, eine tiefe Wahrheit enthält:

Schau den Knochenmann

Und du schaust den Tod.

Schau ins Innere der Knochen

Und du schaust den Erwecker

- den Erwecker des Menschen im Geiste, das Wesen, das den Menschen in Zusammenhang bringt mit der Götterwelt.

Nun konnte ja in jener Zeit auf diesem Wege nicht gerade außer­ordentlich viel erreicht werden, aber einiges doch. Und einige von den Lehren über die Evolution der Erde durch verschiedene Metamor­phosen hindurch gingen da doch den Schülern auf. Sie lernten gerade dadurch, daß sie sich in dieses Geist-Sein des Menschen versetzen konn­ten, weit zurückschauen in atlantische Zeiten und noch weiter zurück. Und in der Tat, mancherlei, was dazumal nicht eigentlich geschrieben oder gedruckt wurde, aber was sich die Leute erzählten von der Entwickelung

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der Erde, stammte aus solchen Einsichten her, die auf diese Weise zustandekamen. Das war eine der Lehren, die in dieser Schule gegeben wurden.

Eine andere ist ebenso interessant. Eine andere wurde gegeben, in­dem die Höherstellung des Menschen gegenüber den Tieren praktisch zur Einsicht gebracht wurde. Man möchte sagen: Dasjenige, was man heute vielfach zu allerlei Diensten, die heute sogar sehr geschätzt wer­den, verwendet, das war noch bis ins neunzehnte Jahrhundert herein gerade solchen Menschen bekannt, die auf guten alten Einsichtstradi­tionen fußten. - Die Menschen sind ja heute stolz darauf, daß sie Poli­zeihunde haben, die die Spuren von allerlei Unrechtem im Menschen­leben verfolgen können. Man hat diese praktische Anwendung in älteren Zeiten nicht gehabt. Aber die Fähigkeit zum Beispiel der Hunde nach dieser Richtung hin hat man noch besser gekannt als heute, und man hatte eine Einsicht darinnen, daß eben um den Menschen herum auch feinere Substantilität liegt, als diejenige ist, welche gesehen oder von Menschen gerochen und dergleichen wird, und man verstand, daß etwas wie ein feines Fluidum auch der Welt angehört. Man erkannte es als eine besondere Differenzierung von Wärmeströmungen, verbun­den mit allerlei Strömungen, die man als elektromagnetische Strömun­gen ansah, und man brachte den Geruch des Hundes zusammen mit diesen wärme-elektromagnetischen Strömungen, und man machte die Schüler gerade jener kleinen Schule, von der ich Ihnen erzähle, auf solche Dinge auch bei anderen Tieren aufmerksam. Man machte sie auf­merksam, wie dieser Sinn für ein die Welt durchflutendes feines Fluidum weit im Tierreiche vorhanden ist. Und dann wies man darauf hin, wie dasjenige, was beim Tiere sich herunterentwickelt, ins Grob-Materielle sich entwickelt, beim Menschen sich hinauf ins Seelische entwickelt.

Sehen Sie, eines ist ja von ungeheuerstem Interesse, was in dieser kleinen Schule gelehrt wurde. Es wurde gelehrt durch äußere anatomi­sche Tatsachen, aber es war etwas tief Spirituelles damit gemeint. Es wurde dem Schüler gesagt: Sieh einmal, der Mensch ist ein Mikrokos­mos. Er imitiert in seiner Organisation dasjenige, was im Welten-gebäude vorgeht. - Der Mensch wurde durchaus nicht nur etwa in bezug auf die Vorgänge, die in ihm sich abwickeln, als ein Mikrokosmos,

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als eine kleine Welt angesehen. Ja, es wurde manches, was in ihm plastisch vorhanden ist, auf Vorgänge in der äußeren Welt zurück­geführt. Und so wurde eine hohe Aufmerksamkeit darauf verwendet, wie der Mond durchgeht durch das erste Viertel, Vollmond wird,

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letztes Viertel, Neumond, wie der Mond in dieser Art achtundzwanzig bis d?eißig Phasen durchmacht. Dieses Durchgehen des Mondes durch seine Phasen, das schaute man im Kosmos. Man schaute dabei den Mond in Bewegung in seiner Bahn. Man schaute, wie er seine Wirbel in seiner Bewegung herumzeichnete, seine achtundzwanzig bis dreißig

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Wirbel, und dann verstand man, wie der Mensch in seinem Rückgrat diese achtundzwanzig bis dreißig Wirbel hat, und man verstand, wie mit jenen Mondbewegungen und ihren Kräften dasjenige zusammen­hängt, was sich im Menschen embryonal als Wirbelsäule ausbildet. Die Nachbildung der Monatsmondenbewegung sah man in der Gestaltung der menschlichen Wirbelsäule. Und man sah, wenn man die mensch­liche Wirbelsäule mit ihren Nerven hat, achtundzwanzig bis dreißig Nerven, die in den ganzen Organismus gehen, man sah in diesen acht­undzwanzig bis dreißig Nerven die Abbildungen von Strömungen, die der Mond immer auf den verschiedenen Stufen seiner Bahnen auf die Erde herunterschickt. Man sah förmlich in den Knochenfortsetzungen der Wirbel das Eingreifen der Mondenströmungen. Kurz, man sah in

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demjenigen, was da der Mensch in sich trägt in seinen Rückenmarks­nerven mit dem Rückenmark zusammen, man sah etwas, was einen an den Kosmos band, was einen mit dem Kosmos in einen lebendigen Zusammenhang bringt. Und dieses Ganze, das ich Ihnen jetzt andeu­tete, das brachte man dem Schüler bei.

Und dann machte man ihn auf etwas anderes aufmerksam. Dann sagte man ihm: Und siehe einmal, wenn du den Sehnerv ansiehst, wie er in das Auge übergeht vom Gehirn aus, so zerfasert er sich beim Übergang in das Auge in sehr feine Fasern. Wie viele solche Fasern sind es? Solcher Fasern, die vom Sehnerv in das Innere des Auges gehen, sind wiederum ebensoviel wie Nerven, die vom Rückenmark ausgehen, achtundzwanzig bis dreißig. So daß also eine kleine Rücken­marksorganisation vom Gehirn aus durch den Sehnerv ins Auge hin-eingeht (siehe Zeichnung). Das ist so, daß der Mensch - so sagte der

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Lehrer zu den Schülern - von den Göttern, die in uralter Zeit sein Dasein geformt haben, diese Dreißiggliedrigkeit des Rückenmark-Nervensystems erhalten hat. Aber er selber hat in seinem die Sinneswelt

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anschauenden Auge ein Abbild dessen geschaffen; da vorne im Kopforganismus ein Abbild dessen geschaffen, was die Götter aus ihm gemacht haben.

Und dann machte man den Schüler darauf aufmerksam: So steht die Rückenmarksorganisation mit dem Monde in Beziehung. Aber hin-wiederum, durch dieses besondere Verhältnis des Mondes zur Sonne hat das Jahr zwölf Monate, und vom Gehirn des Menschen gehen die zwölf Nerven nach den verschiedenen Teilen des Organismus, die zwölf hauptsächlichsten Gehirnnerven. In dieser Beziehung ist der Mensch durch seine Hauptesorganisation ein Mikrokosmos in bezug auf dasjenige, was das Verhältnis der Sonne zum Monde ist. In der Gestaltung des Menschen drückt sich eine Imitation desienigen aus, was Vorgänge draußen im Kosmos sind.

Und wiederum machte man den Schüler aufmerksam darauf, daß er nun in seinem Haupte im Sehnerv, also durch die Dreißiggliedrig­keit des Sehnervs ins Auge hinein die Mondenorganisation vom Rück­grat nachahmt. Vom Gehirn aus gehen zwölf Nerven. Aber wiederum, wenn man vom Gehirn besonders jene Partie untersucht, die den Riech­nerv in die Nase hineinsendet, dann stellt sich die Tatsache heraus, daß da in dem kleinen Teil vom Gehirn das ganze große Gehirn nach­geahmt wird. So wie im Auge das Rückenmark-Nervensystem nach­geahmt wird, so wird im Geruchsorgan das ganze Gehirn wiederum nachgeahmt, indem der Riechnerv in zwölf Teilen, in zwölf Strängen zur Nase hingeht. So daß also der Mensch, wenn Rückenmark und Kopf hier liegen (s. Zeichn. S.226), einen richtigen kleinen Menschen da vorne liegen hat. Und dann machte man den Schüler darauf auf­merksam: Dieser kleine Mensch ist aber anatomisch nur angedeutet. Die Dinge verwachsen; nur eine minutiöse anatomische Untersuchung kann das lehren. Die Dinge verwachsen, doch sie sind so. Aber dafür bilden sie sich ganz besonders im astralischen Leibe aus. Und weil sie sonst nur angedeutet sind, kann der Mensch sie im gewöhnlichen Leben nicht handhaben. Aber er kann sie handhaben lernen. - Und ebenso, wie der Schüler darauf hingewiesen wurde, das Innere seiner Knochen zu erleben, ebenso wurde er hingewiesen darauf, diese besondere Par­tie lebendig zu erleben.

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Sie sehen, etwas anderes tritt da ein, etwas, was nun wirklich dem ganzen abendländischen Anschauen ähnlicher ist als dasjenige, was man oftmals aus dem Morgenlande herübernimmt. Auch das Morgenland hat ja dieses Konzentrieren auf die Nasenwurzel, dieses Konzentrieren auf den Punkt zwischen den Augenbrauen. Damit wird der Ort an­gegeben. Aber in Wahrheit ist es dieses Konzentrieren auf jenen kleinen Menschen, der da drinnen liegt und der astralisch erfaßt wird. Und wird er astralisch erfaßt, wird tatsächlich eine Meditation so gestaltet, daß man etwas erfaßt in jener Gegend, die damit bezeichnet worden ist, so ist es, wie wenn man in jener Gegend einen kleinen Menschen innerlich wie embryonal ausbilden wollte. Diese Anleitung hat der Schüler bekommen in jener kleinen Schule, tatsächlich eine Art embryo­nale Ausbildung eines kleinen Menschen in einem stark konzentrierten Gedanken.

Dadurch bekamen die Schüler, die dazu die Fähigkeit hatten, die zweiblättrige Lotosblume ausgebildet. Dann wurde ihnen gesagt: Das Tier bildet die Dinge hinunter zu demjenigen, was ein wärme-elektro-magnetisches Fluidum ist. Der Mensch bildet dasjenige, was hier sitzt und was im Groben nur als Geruchssinn erscheint, aber in das herüber-spielt die Fähigkeit, die Tätigkeit des Auges, der Mensch bildet es aus ins Astralische hinein. Dadurch aber bekommt er die Fähigkeit, nicht bloß jenes Fluidum zu verfolgen, sondern eine fortwährende Wechsel­wirkung hervorzurufen mit dem Astrallichte, und wahrzunehmen mit

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der zweiblättrigen Lotosblume, was der Mensch fortwährend sein gan­zes Leben hindurch ins Astrallicht hineinschreibt. Der Hund riecht nur dasjenige, was geblieben ist, was da ist. Der Mensch verfährt anders. Indem er mit seiner zweiblättrigen Lotosblume sich bewegt, auch dann, wenn er mit ihr nicht wahrnehmen kann, schreibt er fortwährend alles dasjenige, was in semen Gedanken ist, in das Astrallicht hinein. Das befähigt ihn dann nur, das, was er hineinschreibt, eben zu verfolgen, wahrzunehmen, und auch anderes damit wahrzunehmen, namentlich den wahren Unterschied von Gut und Böse.

Auf diese Art waren tatsächlich da noch Nachklänge vorhanden an uralte Weisheitsschätze, die in Rudimenten auch praktisch noch gelehrt wurden. Und das zeigt uns, was eigentlich alles verlorengegangen ist unter dem Einfluß der materialistischen Strömungen, die in der starken Weise um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dann eingesetzt haben. Denn solche Dinge, wie ich sie Ihnen angedeutet habe, sind eben durchaus, wenigstens bis zu einem gewissen Grade, in gewissen, aller­dings sehr einsamen und einsiedlerisch lebenden Kreisen empfunden und gewußt worden. Und auf den mannigfaltigsten Gebieten ergaben sich Erkenntnisse aus solchen Untergründen heraus, die ja später gar nicht mehr beachtet wurden, nach denen heute wiederum viele Men­schen sich sehnen. Aber wegen der groben Methoden, die heute herr­schen, sind ja diese Erkenntnisse zunächst für das äußere Wissen nicht wiederum erlangbar.

Nun knüpfte sich eine ganz bestimmte Lehre an dasjenige, was in dieser Weise in jenem kleinen Kreise von dem Lehrer an die Schüler herangebracht wurde. Dem Schüler wurde klargemacht: Wenn er dieses Organ gebraucht, das ein ins astralische Licht hinaufgehobenes Geruchs­organ ist, dann lernt er die wahre Stofflichkeit aller Dinge erkennen, die wahre Materie. Und wenn er erkennen lernt das Innere seines Knochensystems und dadurch in Echtheit die wirkliche Weltgeometrie, die Art und Weise, wie von den Göttern in die Welt die Kräfte hinein-gezeichnet werden, dann lernt er erkennen, was als Formen in den Dingen wirkt.

Willst du also einen Quarz kennenlernen seinem Stoffe nach - so sagte man dem Schüler -, dann beschaue ihn mit der zweiblättrigen

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Lotosblume. Willst du kennenlernen, wie seine Kristallform ist, wie der Stoff geformt ist, dann mußt du diese Form aus dem Kosmos her­aus begreifen mit demjenigen, was du begreifen karmst, wenn du in das Innere deines Knochensystems lebendig hineinkommst. - Oder es wurde dem Schüler klargemacht: Wenn du dein Kopforgan gebrauchst, dann lernst du erkennen, wie die substantielle Beschaffenheit einer Pflanze ist. Wenn du erleben lernst das Innere deines Knochensystemes, dann lernst du erkennen, wie eine gewisse Pflanze wächst, warum sie diese oder jene Blätterform hat, diese oder jene Blätteranordnung, warum sie die Blüten in dieser oder jener Weise entfaltet.

Also alles, was Form ist, sollte auf die eine Art, alles, was Stoff ist, sollte auf die andere Art erfaßt werden. Und es ist nun wirklich inter­essant, daß, wenn man bis zum Aristoteles zurückkommt, man findet, daß bei ihm unterschieden wird - aber das wurde ja in späterer Zeit nur rein abstrakt gelehrt - in bezug auf alles, was es gibt, die Form und die Materie. Aber das wurde eben in der Strömung, die von Grie­chenland nach Europa kam, in einer ganz abstrakten Weise gelehrt, so daß man eigentlich verzweifelt an der Abstraktheit, mit der diese Dinge in den Büchern dargestellt werden schon das ganze Mittelalter hindurch, und in der Neuzeit erst, da ist es nicht mehr bloß zum Ver­zweifeln, da ist es schon um die Wände hinaufzukriechen, wie man die Dinge dargestellt findet. Aber geht man zu Aristoteles zurück, so fin­det man, daß bei ihm die Formen wirklich zurückführen auf dieses Erleben - nur ist das wiederum nach Asien herübergetragen worden -, diese wirklich innere Einsicht in die Dinge, die mit dem Kopforgan sieht dasjenige, was er die Materie in den Dingen nennt.

Aber nun weist uns die innere Erkenntnis desjenigen, was da in Griechenland gelehrt worden ist als Philosophie, es weist uns die Akasha-Chronik-mäßige Erkenntnis auf etwas hin, was ich ja natürlich nur ganz äußerlich andeuten konnte in meinen «Rätseln der Philo­sophie», wo ich zeigte, wie Aristoteles durchaus der Ansicht ist: Beim Menschen fließen Form und Materie ineinander, Materie ist Form, Form ist Materie. - Sie können das bei meiner Darstellung des Ari­stoteles in den «Rätseln der Philosophie» finden.

Aber Aristoteles hat das noch ganz anders gelehrt. Aristoteles hat

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gelehrt: Wenn man an die Mineralien herantritt, dann erlebt man zunächst die Form durch das Erleben des Inneren der Unterschenkel-knochen, und man erlebt die Materie eben in dem Kopforgan. Die beiden sind weit voneinander. Der Mensch hält sie auseinander, Form und Materie, beim Mineralreiche die Kristallisation. Wenn der Mensch aber die Pflanze auffaßt, so erlebt er die Form durch das Erleben des Inneren seiner Oberschenkel, die Materie wiederum durch das Kopf-organ, durch die zweiblättrige Lotosblume. Es kommt schon näher. Und erlebt der Mensch das Tier, so erlebt er die Form durch das Er­leben des Inneren der Unterarmknochen, wiederum die Materie durch das Kopforgan - sehr nahe beieinander. Und erlebt der Mensch den Menschen selber, dann erlebt er die Form durch das Innere des Ober-arms, der auf dem Umwege durch die Sprachbildung mit dem Gehirn selbst zusammenhängt. Ich habe öfter gerade in Einleitungen der Eurythmie davon gesprochen. Da schließt sich zusammen die zwei­blättrige Lotosblume mit dem, was von dem Inneren des Oberarmes nach dem Gehirn geht. Und der Mensch erlebt namentlich in der Sprache den anderen Menschen nicht mehr nach Form und Inhalt ge-trennt, sondern als einen nach Form und Inhalt.

Sehen Sie, in dieser Konkretheit gab es diese Lehre noch zu Ari­stoteles' Zeiten. Und eine Spur davon, wie gesagt, war bis ins neun­zehnte Jahrhundert vorhanden. Da ist wirklich ein Abgrund. In den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts gingen im Grunde ge­nommen diese Dinge wirklich verloren. Es ist der Abgrund da bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts, wo durch die Michael-Zeit die Dinge wieder gefunden werden konnten. Da aber, indem die Menschen über diesen Abgrund schritten, schritten sie eben eigentlich über eine Schwelle. Und an dieser Schwelle steht ein Hüter. Und die Menschheit konnte ihn zunächst nicht gleichzeitig beobachten, indem sie zwischen dem Jahre 1842 und 1879 an ihm vorbeigegangen ist. Aber sie muß zu ihrem Heil nunmehr zurückschauen und ihn beachten. Denn das Nichtbeachten und das Weiterhineinleben in die folgenden Jahrhun­derte, ohne ihn zu beachten, würde eben zum alleräußersten Unheile der Menschheit führen.

Davon wollen wir dann morgen weiter reden.

SECHSTER VORTRAG Dornach, 13. Januar 1924

#G233-1962-SE230 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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SECHSTER VORTRAG

Dornach, 13. Januar 1924

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Die Michael-Periode, in welche die Welt ja schon seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts eingetreten ist und in welche die Menschen mit ihrem Bewußtsein immer mehr und mehr werden ein­treten müssen, unterscheidet sich von früheren Michael-Perioden ganz beträchtlich. Es ist ja in der Entwickelung der Menschheit auf Erden so, daß in dieses Menschenleben von Zeit zu Zeit die einzelnen von den sieben großen Archangeloi-Geistern eingreifen, so daß nach bestimm­ten Perioden sich eine solche Weltenlenkung wie die durch Gabriel, Uriel, Raphael, Michael und so weiter wiederholt. Aber unsere Zeit-periode ist doch eine wesentlich andere als die frühere Michael-Periode. Es beruht dies darauf, daß der Mensch seit dem ersten Drittel des fünf­zehnten Jahrhunderts in einem ganz anderen Verhältnisse zur geistigen Welt steht, als er jemals früher gestanden hat. Und dieses Stehen zur geistigen Welt bedingt auch ein besonderes Verhältnis zu dem das Menschengeschick lenkenden Geist, den man eben mit dem alten Namen Michael bezeichnen kann.

Dasjenige, was ich auch jetzt wieder als das Rosenkreuzertum be­zeichnet habe, hat ja, wie ich bemerklich gemacht habe, nach den ver­schiedensten Seiten hin zur Charlatanerie getrieben, und das meiste von dem, was auf die Menschheit gekommen ist als Rosenkreuzerei, ist ja Charlatanerie. Aber wie ich in früheren Auseinandersetzungen dar­gelegt habe, es hat eine solche Individualität gegeben, die man mit dem Namen Christian Rosenkreuz bezeichnen kann, und die in gewisser Weise tonangebend ist für die Art und Weise, wie beim Heraufkom­men der neueren Menschheitsphase ein erleuchteter Geist, ein erkennen­der Geist in ein Verhältnis zur geistigen Welt sich setzen kann.

Man möchte sagen, Christian Rosenkreuz war es beschieden, die verschiedensten, denkbar höchsten Fragen, Rätselfragen an das Dasein zu stellen, zu stellen gegenüber früheren Erfahrungen der Menschen in einer ganz neuen Weise. Denn während das Rosenkreuzertum herauf­kam und mit dem, was man später faustisches Streben nannte, mit faustischem

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Streben nach der geistigen Welt hin den Menschensinn lenkte, kam ja auf der anderen Seite die abstrakte und naturalistische Wissen­schaft herauf. Und anders standen die - allerdings durchaus selbstver­ständlich anerkennenswerten - Träger dieser neueren Geistesrichtung, ein Galilei, ein Giordano Bruno, ein Kopernikus, ein Kepler zur Welt, als diejenigen, die nicht bloß eine formell-abstrakte, sondern eine wahre Erkenntnis der Dinge bewahren wollten. Denn die letzteren merkten an ihrem ganzen Menschensein, wie die Zeit und damit das Verhältnis der Götter zur Menschheit anders geworden war.

Man kann sagen, bis ins zwölfte, dreizehnte Jahrhundert herein noch rudimentär, aber bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert herein ganz deutlich, konnte der Mensch reale Erkenntnisse über die geistige Welt aus sich heraus schöpfen. Der Mensch konnte, indem er diejenigen Übungen durchmachte, die die Übungen der alten Mysterien waren, aus sich heraus die Geheimnisse des Daseins schöpfen. Und es war wirklich für diese ältere Menschheit so, daß die Eingeweihten das, was sie der Menschheit zu sagen hatten, aus den Tiefen ihrer Seele an die Oberfläche ihres Denkens, ihrer Ideenwelt zogen. Sie hatten das Be­wußtsein, daß sie ihre Erkenntnisse aus dem Inneren der Menschen­seele heraus schöpfen.

Die Übungen, die durchgemacht wurden, gingen ja darauf hin, das Menschengemüt im stärksten Maße zu erschüttern, dem Menschen-gemüte Erfahrungen beizubringen, die man im gewöhnlichen Leben nicht macht. Dadurch wurden gewissermaßen die Geheimnisse der Götterwelt aus dem menschlichen Inneren herausgeholt. Aber der Mensch kann nicht die Geheimnisse, die er aus sich herausholt, indem er sie aus sich herausholt, auch schauen. Und während des alten instink­tiven Helisehens hat man ja die Geheimnisse der Welt geschaut, ge­schaut in Imagination, schauend gehört in Inspiration, man hat sich mit ihnen verbunden in Intuition. Aber das alles ist nicht möglich, wenn der Mensch gewissermaßen bloß allein dasteht. Es ist das eben­sowenig möglich, wie ich ein Dreieck zeichnen kann, wenn ich keine Tafel habe. Das Dreieck, das ich auf die Tafel zeichne, das versinnlicht mir dasjenige, was ich rein geistig in mir habe. Also das ganze Dreieck, alle Gesetze des Dreiecks sind in mir, aber ich zeichne das Dreieck auf

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die Tafel; dadurch bringe ich mir dasjenige, was eigentlich in mir ist, nahe. Nun, das ist eine äußere Zeichnerei. Wenn es sich darum handelt, reale Erkenntnisse nach Art der alten Mysterien aus dem Menschen her­aus zu schaffen, dann müssen diese Erkenntnisse in gewissem Sinne irgendwo hingeschrieben werden. Sie müssen nämlich eingetragen wer­den, damit sie geschaut werden können, in das von alters her sogenannte astralische Licht, in die feine Substantialität des Akasha. Da muß alles hineingeschrieben werden. Aber man muß diese Fähigkeit entwickeln können, in das astralische Licht hineinzuschreiben.

Und diese Fähigkeit hing im Laufe der Menschheitsentwickelung von verschiedenerlei ab. Ich will zunächst von ganz alten Zeiten ab­sehen. Von der ersten nachatlantischen Epoche, der urindischen, will ich absehen, da war die Sache etwas anders. Aber ich will mit der urpersi­schen Epoche beginnen, in dem Sinne, wie ich sie in meinem «Umriß einer Geheimwissenschaft» beschrieben habe. Da gab es instinktives Heilsehen, da gab es Erkenntnisse über die göttlich-geistigeWelt, und sie konnten dadurch ins astralische Licht hineingeschrieben werden, so daß der Mensch sie auch schauen konnte, daß die Erde, die feste Erde einen Widerstand gab. Das Schreiben geschieht natürlich mit den Geist-Organen, aber die Geistorgane brauchen einen Widerstand. Nicht auf die Erde wird selbstverständlich dasjenige geschrieben, was in dieser Weise geschaut wird, in das astralische Licht wird es geschrieben, aber die Erde bildet einen entsprechenden Widerstand. Und dadurch, daß der Widerstand der Erde in der urpersischen Epoche von den Erkennen­den gefühlt werden konnte, dadurch waren ihnen die Erkenntnisse, die sie aus ihrem Innern schöpften, auch zu Schauungen geworden.

In der nächsten Epoche, in der ägyptisch-chaldäischen Epoche, konnte alles, was an Erkenntnissen von den Eingeweihten aus der Seele heraus geschöpft wurde, durch das flüssige Element in das Astrallicht ein­geschrieben werden. Sie müssen sich das jetzt nur richtig vorstellen. Der Eingeweihte der urpersischen Epoche schaute auf die feste Erde hin, und überall, wo Pflanzen waren, wo Steine waren, spiegelte ihm das Astrallicht seine eigene Anschauung zurück. Der Eingeweihte der ägyp­tisch-chaldäischen Epoche schaute ins Meer, in den Fluß, er schaute auch in den herabströmenden Regen, in den aufsteigenden Nebel. Er sah,

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wenn er in den Fluß, wenn er in das Meer sah, die dauernden Geheim­nisse. Diejenigen Geheimnisse, die sich auf Vergängliches beziehen, auf das Schaffen der Götter im Vergänglichen, die schaute er in dem herabströmenden Regen, in dem aufsteigenden Nebel. Sie müssen nur durchaus sich bekannt machen mit der Vorstellung, daß jene prosaisch nüchterne Art, wie wir heute Regen und Nebel wahrnehmen, nicht die der Alten war. Den Alten sagten Regen und Nebel viel; sie enthüllten ihnen die Geheimnisse der Götter.

Und in der griechisch-lateinischen Periode, da waren die Schau­ungen wie eine Fata Morgana in der Luft. Der Grieche sah auch seinen Zeus, seine Götter im Astrallichte, aber er hatte das Gefühl, daß das Astrallicht ihm die Götter spiegelte unter entsprechenden Umständen. Daher versetzte er seine Götter an Orte, an denen eben die Luft in ent­sprechender Weise einen Widerstand für die Einschreibungen in das Astrallicht bieten konnte. Und so blieb es bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert.

Es waren durchaus sogar unter den ersten Kirchenvätern, nament­lich den griechischen Vätern, viele - das kann sogar noch aus ihren Schriften nachgewiesen werden -, welche diese Fata Morgana der eige­nen Schauungen durch den Widerstand der Luft im Astrallichte schau­ten, welche also eine klare Erkenntnis davon hatten, daß aus dem Menschen heraus durch die Natur sich das göttliche Wort, der Logos, offenbarte. Dann wurde das immer schwächer und schwächer. Und Nachklänge waren noch vorhanden bei einigen besonders begnadeten Menschen bis ins zwölfte, dreizehnte Jahrhundert herein. Als aber die abstrakte Erkenntnis kam, als die Zeit kam, in der die Menschen nur angewiesen waren auf die logische Gedankenfolge und dasjenige, was sich aus der Sinnesbeobachtung ergibt, da boten nicht Erde und nicht Wasser und nicht Luft einen Widerstand für das Astrallicht, sondern einzig und allein das Element des Wärmeäthers.

Sehen Sie, das wissen natürlich diejenigen nicht, die ganz in abstrak­ten Gedanken aufgehen, daß diese abstrakten Gedanken doch auch eingeschrieben werden ins Astrallicht. Sie werden es. Aber indem sie eingeschrieben werden, bietet für sie einzig und allein das Element des Wärmeäthers das Widerstehende.

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Nun ist folgendes der Fall. Erinnern wir uns, daß in der urpersischen Epoche die Menschen die feste Erde als Widerlage hatten, um die Ein­tragungen ins Astrallicht zu sehen. Dasjenige, was in solcher Weise im Astrallichte enthalten ist, daß die feste Erde die Widerlage bietet, das strahlt weiter. Aber es strahlt nur bis zur Mondensphäre. Weiter geht es nicht. Von da aus strahlt es wieder zurück, so daß es sozusagen bei der Erde bleibt. Man sieht die Geheimnisse sich spiegeln durch die Erde. Sie bleiben, weil die Mondensphäre drückt. Gehen wir nach der ägyptisch-chaldäischen Periode: Das Wasser (blau) auf der Erde spie­gelt; dasjenige, was da gespiegelt wird, geht bis zur Saturnsphäre. Die drückt; dadurch ist die Möglichkeit vorhanden, daß der Mensch mit seinen Schauungen auf Erden zusammen bleibt.

Gehen wir in die griechisch-lateinische Periode, also noch bis ins zwölfte, dreizehnte Jahrhundert, so waren die Schauungen im Astral-licht durch die Luft eingetragen. Das geht eigentlich bis zum Ende der Weltensphäre, dann kehrt es um. Es ist am flüchtigsten, es ist am un­dichtesten, aber es ist doch noch so, daß der Mensch vereinigt bleibt mit seinen Schauungen. Die Eingeweihten aller dieser Zeiten konnten

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jederzeit sich sagen: Dasjenige, was wir als Schauung gehabt haben durch Erde, Wasser, Luft, das ist da, das gibt es. - Als aber jetzt die neueste Zeit kam, da war nur das Element des Wärmeäthers noch das Widerstehende. Aber das Element des Wärmeäthers trägt alles das, was in es eingeschrieben wird, in die Weltenweiten hinaus, aus dem Raume hinaus in die geistigen Welten hinein. Es ist nicht mehr da.

Und es ist schon so: Wenn Sie den allerpedantischsten Professor heute sehen, der Ideen hat - Ideen muß er allerdings haben, das müßte ja immer erst untersucht werden im einzelnen Falle, weil er sie sehr selten hat -, aber wenn er Ideen hat, sind sie durch den Wärmeäther im astralischen Licht eingetragen. Aber der Wärmeäther ist etwas Flüchtiges, Verfließendes. Alles geht gleich durcheinander. Die Dinge gehen hinaus in die Weltenweiten.

Solch eine Persönlichkeit wie Christian Rosenkreuz wußte um die Tatsache, daß die Eingeweihten der alten Zeiten mit ihren Schauungen zusammengelebt haben, daß sie sich dasjenige, was sie geschaut hatten, dadurch bekräftigt haben, daß sie wußten: Es ist da, es reflektiert sich irgendwo am Himmel, sei es in der Monden-, sei es in der Planeten-sphäre, sei es am Weltenall-Ende. Es reflektiert sich. - Nun reflektierte sich nichts. Nichts reflektierte sich für das unmittelbare wache An­schauen. Die Leute konnten jetzt Ideen finden über die Natur, das kopernikanische Weltensystem konnte entstehen, alle Ideen konnten gefunden werden: sie versprühen im Wärmeäther in die Weltenweiten hinaus.

Da kam es denn, daß Christian Rosenkreuz auf die Eingebung eines höheren Geistes den Weg fand, doch nun die Rückstrahlung wahr­zunehmen, trotzdem es sich handelte um Rückstrahlung durch den Wärmeäther. Das geschah dadurch, daß andere dumpfe, unterbewußte, schlafähnliche Zustände des Bewußtseins zu Hilfe genommen wurden, Zustände, in denen der Mensch auch normalerweise außer seinem Leibe ist. Da konnte man wahrnehmen, daß zwar nicht im Raume, aber doch in der Welt, in der geistigen Welt das eingeschrieben ist, was mit den modernen abstrakten Ideen über die Dinge erkundet wird. Und so stellte sich für die Rosenkreuzerei das Merkwürdige heraus, daß wie in einem Übergangsstadium diese Rosenkreuzer sich bekannt machten

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mit allem, was über die Natur in der Zeitepoche erforscht werden konnte. Das nahmen sie in sich auf, verarbeiteten es so, wie nur ein Mensch es verarbeiten kann. Sie hatten wirklich dasjenige, was die anderen nur zur Wissenschaft machten, bis zur Weisheit getrieben. Dann bewahrten sie es in ihrer Seele und versuchten, in einer möglich­sten Reinheit nach intimen Meditationen hinüberzuschlafen. Und dann geschah es, daß ihnen die geistig-göttlichen Welten - nicht das Welten-ende, aber die geistlich-göttlichen Welten-zurückbrachten dasjenige, was in abstrakten Ideen erfaßt wurde, in einer geistig konkreten Sprache.

In Rosenkreuzerschulen wurde zum Beispiel das Kopernikanische Weltensystem gelehrt; aber in besonderen Bewußtseinszuständen kamen die Ideen desselben so zurück, wie ich es in diesen Tagen hier erklärt habe. So daß in der Tat gerade von den Rosenkreuzern eingesehen wurde, daß dasjenige, was man zunächst in der modernen Erkenntnis erhält, erst gewissermaßen den Göttern entgegengetragen werden muß, damit sie es in ihre Sprache umsetzen und es den Menschen wieder­geben.

Daß das sein kann, ist ja bis in die Gegenwart geblieben. Denn es ist so, meine lieben Freunde: Studieren Sie heute, indem sie von dem hier gemeinten rosenkreuzerischen Initiationsprinzip berührt worden sind, den Haeckelismus mit all seinem Materialismus, studieren Sie ihn und lassen Sie sich durchdringen von dem, was Erkenntnismethoden sind nach «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?»: Was Sie in Haeckels «Anthropogenie» über die menschlichen Vorfahren in einer Sie vielleicht abstoßenden Weise lernen, lernen Sie es in dieser ab-stoßenden Weise, lernen Sie alles dasjenige darüber, was man durch äußere Naturwissenschaft lernen kann, und tragen Sie das dann den Göttern entgegen, und Sie bekommen dasjenige, was in meinem Buche «Geheimwissenschaft» über die Evolution erzählt ist. Das ist, sehen Sie, der Zusammenhang zwischen dem schwachen, matten Wissen, das der Mensch mit seinem physischen Leibe hier erwerben kann, und dem, was ihm mit der gehörigen Gesinnung, mit der gehörigen Vorbereitung durch dieses Gelernte die Götter geben können. Aber der Mensch muß ihnen dasjenige, was er auf der Erde lernen kann, entgegenbringen, denn die Zeiten sind eben andere geworden.

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Noch ein anderes ist ja eingetreten. Heute kann ein Mensch so viel er will streben: so aus sich heraus schöpfen, wie es die alten Eingeweih­ten getan haben, kann er nicht mehr. Es gibt die Seele nicht in der­selben Weise noch etwas her, wie sie es hergegeben hat dem alten Ein­geweihten. Das wird alles unrein, das wird alles von Instinkten durch­drungen, wie es bei den spiritistischen Medien zutage tritt, wie es auch sonst in krankhaften, pathologischen Zuständen zutage tritt. Dasjenige, was nur aus dem Innern kommt, das wird alles unrein, denn die Zeit für dieses Aus-dem-Innern-Schöpfen ist vorüber. Sie war schon vor­über mit dem zwölften, dreizehnten Jahrhundert, denn es ist so, daß man das, was geschehen ist, annähernd in folgender Art ausdrücken kann.

Die Eingeweihten der urpersischen Epoche haben ja vieles in das Astrallicht mit Hilfe des Widerstandes der Erde hineingeschrieben. So war denn, als der erste Eingeweihte der urpersischen Epoche auftrat, eigentlich das ganze für die Menschen bestimmte Astrallicht wie eine unbeschriebene Tafel. Wie gesagt, ich werde später noch sprechen von der urindischen Epoche, aber ich will heute nur bis zu der urpersischen zurückkehren. Es war die ganze Natur, alle Elemente, Festes, Flüssiges, Luftförmiges, Wärmeartiges eine unbeschriebene Tafel. Nun schrieben die Eingeweihten der urpersischen Epoche so viel auf diese Tafel, als man schreiben kann durch den Widerstand der Erde. Da waren zu­nächst die von den Göttern an die Menschen kommen sollenden Ge­heimnisse in das astralische Licht hineingeschrieben. Die Tafel war bis zu einem gewissen Maße beschrieben, zu einem anderen Maße noch leer. Es konnten die Eingeweihten der ägyptisch-chaldäischen Epoche kommen und konnten auf ihre Art weiterschreiben, indem sie ihre Schauungen durch den Widerstand des Wassers erlangten. Ein anderer Teil der Tafel wurde beschrieben.

Es kamen die griechischen Eingeweihten. Sie beschrieben den dritten Teil der Tafel. Nun ist die Naturtafel vollgeschrieben. Sie war mit dem dreizehnten, vierzehnten Jahrhundert ganz vollgeschrieben. Man fing an, in den Wärmeäther hineinzuschreiben. Der aber versprüht. Man schrieb eine Zeitlang in den Wärmeäther hinein, bis ins neun­zehnte Jahrhundert herein. Man ahnte gar nicht, daß das auch im

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astralischen Lichte steht. Aber jetzt ist die Zeit, wo die Menschen ein­sehen müssen: nicht aus sich heraus im alten Sinne können sie die Ge­heimnisse der Welt finden, sondern dadurch, daß sie ihr Gemüt so vor­bereiten, daß sie nun das, was schon ganz vollgeschrieben ist auf der Tafel, lesen können. Dazu muß man sich heute vorbereiten, dazu muß man sich heute reif machen, daß man nicht aus sich heraus schöpft wie die alten Eingeweihten, sondern daß man im Astrallichte lesen kann, was darinnen steht. Dann wirkt inspirierend gerade dasjenige, was man aus dem Wärmeäther heraus bekommt. Und dann wirkt das, was man aus dem Wärmeäther bekommt, dadurch, daß einem die Götter entgegenkommen und einem in der Realität entgegentragen, was man sich hier auf der Erde erarbeitet hat, dann wirkt es wiederum zurück auf dasjenige, was auf der geschriebenen Tafel steht durch Luft, Wasser, Erde.

Und so ist tatsächlich heute die Naturwissenschaft die Grundlage für das Schauen. Lernt man erst durch Naturwissenschaft die Eigentüm­lichkeiten von Luft, Wasser, Erde kennen und erlangt man die inneren Fähigkeiten, dann strömt heraus, indem man schaut in das Luftige, in das Wäßrige, indem man schaut in das Erdige, es strömt heraus das Astrallicht. Aber es strömt nicht heraus wie ein unbestimmter Nebel, es strömt so heraus, daß man die Geheimnisse des Weltendaseins und des Menschenlebens drinnen lesen kann. Was lesen wir denn?

Wir lesen heute als Menschheit dasjenige, was wir selber hinein­geschrieben haben. Denn was heißt denn das: die alten Griechen, die alten ägyptisch-chaldäischen, die persischen Menschen haben es ein­geschrieben? Das heißt ja: Wir selber haben es hineingeschrieben in unseren früheren Erdenleben.

Sehen Sie, geradeso wie unser Gedächtnis, unser inneres Gedächtnis für die gewöhnlichen Dinge, die wir im Erdenleben erfahren, uns be­wahrend ist, so ist es das astralische Licht mit dem, was wir hinein­geschrieben haben, was um uns herum sich ausbreitet, was eine be­schriebene Tafel darstellt mit Bezug auf die Geheimnisse, die wir sel­ber hineingeschrieben haben. Das ist zugleich dasjenige, was wir lesen müssen, wenn wir wiederum auf die Geheimnisse kommen wollen. Es ist eine Art von Evolutionsgedächtnis, das da auftreten muß in der

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Menschheit. Und es muß allmählich ein Bewußtsein davon entstehen, daß ein solches Evolutionsgedächtnis da ist, daß eigentlich heute die so lesen muß, wie wir im späteren Alter in unserer Jugend lesen durch Menschheit in bezug auf ihre-früheren Kulturepochen im Astrallichte unser gewöhnliches Gedächtnis. Weil dies zum Bewußtsein der Men­schen kommen soll, habe ich gerade die Vorträge, die ich während der Weihnachtszeit hier gehalten habe, so gehalten, daß Sie daran sehen konnten: Es handelt sich wirklich darum, Geheimnisse, die wir heute brauchen, aus dem Astrallichte heraus zu holen. - Es ist also die alte Einweihung wesentlich auf das Subjektive gegangen. Die neue Ein­weihung geht auf das Objektive. Das ist der große Unterschied. Denn das Subjektive ist alles in die äußere Welt hineingeschrieben, was Göt­ter in den Menschen hineingeheimnißt haben. Was sie hineingeheim­nißt haben in seinen Empfindungsleib, es ist herausgekommen in der urpersischen Epoche. Was sie hineingeheimnißt haben in seine Emp­findungsseele, es ist herausgekommen während der ägyptisch-chaldäi­schen Periode. Was sie hineingeheimnißt haben in seine Gemüts- oder Verstandesseele, es ist herausgekommen während der griechischen Epoche. Aber die Bewußtseinsseele, die wir nun entwickeln sollen, sie ist selbständig, sie setzt nichts mehr aus sich heraus. Aber sie steht gegenüber demjenigen, was schon da ist. Wir müssen als Menschen unsete Menschheit im astralischen Lichte wiederfinden.

Das ist das Eigentümliche der Rosenkreuzerei, daß diese Rosen­kreuzerei in einer Übergangszeit dabei stehen bleiben mußte, in gewisse traumhafte Zustände hineinzukommen und gewissermaßen die höhere Wahrheit desjenigen zu träumen, was die Wissenschaft nüchtern hier in der Natur findet. Das ist aber das Eigentümliche seit dem Beginn der Michael-Epoche, seit dem Ende der siebziger Jahre im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, daß dasselbe, was während der alten Rosenkreuzer-Zeit in der geschilderten Weise erreicht worden war, nun in bewußter Weise erreicht werden kann. So daß man heute sagen kann: Es braucht nicht mehr jenen anderen Zustand, der halbbewußt ist, aber es braucht einen höheren bewußten Zustand. Und dann, dann kann man mit den Naturerkenntnissen, die man sich erwirbt, hinein-tauchen in die höhere Welt, und das, was man sich als Naturerkenntnis

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erworben hat, das taucht einem entgegen aus der höheren Welt; indem man das ins Astrallicht Eingeschriebene wieder liest, taucht es einem entgegen in geistiger Realität. Und das, was man da tut, daß man hinaufträgt in eine geistige Welt die hier errungenen Naturerkennt­nisse oder auch die Schöpfungen der naturalistischen Kunst, oder auch die Empfindungen der naturalistisch im Innern der Seele wirkenden Religion - denn im Grunde ist ja auch die Religion naturalistisch ge­worden -, indem man das alles hinaufträgt, begegnet man in der Tat, wenn man die Fähigkeiten dazu entwickelt, Michael. Und so kann man sagen: Die Rosenkreuzerei ist dadurch gekennzeichnet, daß ihre er­leuchtetsten Geister eine starke Sehnsucht hatten, Michael zu begegnen. Sie konnten es nur wie im Traume. Seit dem Ende des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts können die Menschen in bewußter Weise im Geiste Michael begegnen.

Aber Michael ist eben eine eigenartige Wesenheit. Michael ist eine Wesenheit, die eigentlich nichts offenbart, wenn man ihr nicht aus emsiger geistiger Arbeit von der Erde aus etwas entgegenbringt. Michael ist ein schweigsamer Geist. Michael ist ein in sich verschlosse­ner Geist. Während die anderen der regierenden Erzengel vielredende Geister sind - im geistigen Sinne natürlich -, ist Michael ein durchaus verschlossener Geist, ein wenig redender Geist, der höchstens spärliche Direktiven gibt. Denn das, was man von Michael erfährt, ist eigent­lich nicht das Wort, sondern - wenn ich mich so ausdrücken darf - der Blick, die Kraft des Blickes. Und das beruht darauf, daß eigentlich Michael sich am meisten zu tun macht mit demjenigen, was die Men­schen aus dem Geistigen heraus schaffen. Er lebt in den Folgen des von den Menschen Geschaffenen. Die anderen Geister leben mehr mit den Ursachen, Michael lebt mehr mit den Folgen. Die anderen Geister im-pulsieren im Menschen dasjenige, was der Mensch tun soll. Michael wird der eigentlich geistige Held der Freiheit sein. Er läßt die Men­schen tun, aber nimmt dann das, was aus Menschentaten wird, auf, um es weiter fortzutragen im Kosmos, um dasjenige, was Menschen damit noch nicht wirken können, weiterzuwirken im Kosmos.

Man hat anderen Wesenheiten aus der Hierarchie der Archangeloi gegenüber das Gefühl: von ihnen kommen die Impulse, das oder jenes

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zu tun; im größeren oder geringeren Grade kommen von ihnen die Impulse. Aber Michael ist derjenige Geist, von dem zunächst nicht Impulse kommen, weil seine wirklich repräsentative Herrschaftsperiode diejenige ist, die jetzt kommt, wo die Dinge aus der menschlichen Frei­heit kommen. Wenn aber der Mensch aus seiner Freiheit heraus, an­geregt durch das Lesen des Astrallichtes, bewußt oder unbewußt dies oder jenes tut, so trägt Michael das, was menschliche Erdentat ist, in den Kosmos hinaus, daß es kosmische Tat wird. Er kümmert sich um die Folgen, andere Geister mehr um die Ursachen.

Aber Michael ist nicht nur ein verschlossener, schweigsamer Geist, Michael kommt, indem er an den Menschen herantritt, mit einer deut­lichen Abweisung von vielem an den Menschen heran, in dem der Mensch heute noch auf Erden lebt. So zum Beispiel alles das, was sich im Menschen- oder im Tierleben oder im Pflanzenleben an Erkennt­nissen bildet, die auf die vererbten Eigenschaften gehen, die auf das­jenige gehen, was sich in der physischen Natur forterbt, das ist so, daß es einem vorkommt: Michael stößt es abweisend von sich. Er will da­mit zeigen, daß solche Erkenntnisse dem Menschen für die geistige Welt nichts fruchten können. Nur was der Mensch unabhängig von dem rein Vererbbaren in der Menschheit, in der Tierheit, in der Pflanz­heit findet, das läßt sich vor Michael hinauftragen. Und da bekommt man nicht die so vielsagende abweisende Handbewegung, sondern man bekommt den zustimmenden Blick, der einem sagt: Das ist gerecht gedacht vor der Lenkung des Kosmos. - Denn das ist dasjenige, was man immer mehr und mehr erstreben lernt: gewissermaßen zu sinnen, um durchzustoßen bis zum astralischen Lichte, zu schauen die Geheim­nisse des Daseins, und dann vor Michael hinzutreten und den zustim­menden Blick zu bekommen, der einem sagt: Das ist richtig, das ist gerecht vor der Lenkung des Kosmos.

Und so ist es bei Michael, daß er eine strenge Abweisung für alles das hat, was auch zum Beispiel das Trennende der menschlichen Spra­chen ist. Solange man seine Erkenntnisse in die Sprache nur einhüllt, sie nicht hinaufträgt in den Gedanken, so lange kommt man nicht in die Nähe des Michael. Daher besteht auch heute in der geistigen Welt im Grunde genommen ein vielbedeutsamer Kampf. Denn auf der

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einen Seite ist eben hereingetreten in die Menschheitsentwickelung der Michael-Impuls: er ist da; aber auf der anderen Seite ist innerhalb der Menschheitsentwickelung vieles, was diesen Michael-Impuls eben nicht aufnehmen will, was diesen Michael-Impuls zurückweisen will. Und zu dem, was diesen Michael-Impuls zurückweisen will, gehören zum Beispiel heute die Nationalitätsempfindungen. Sie loderten auf im neunzehnten Jahrhundert, wurden stark im zwanzigsten Jahrhundert immer mehr und mehr. Nach dem Nationalitätsprinzip ist in der letz­ten Zeit viel, man kann nicht sagen, geordnet, sondern geunordnet worden. Es ist eben wirklich geunordnet worden. Das alles widerstrebt im furchtbarsten Sinne dem Michael-Prinzip. Das alles enthält ahri­manische Kräfte, die entgegenstreben dem Hereinwirken, dem Herein­impulsieren der Michael-Kräfte in das Erdenleben des Menschen. Und so schaut man denn heute diesen Kampf von nach oben anstürmenden ahrimanischen Geistern, die das nach oben tragen möchten, was aus den vererbten Nationalitätsimpulsen herauskommt, und was Michael streng abweist, zurückweist.

Es ist in der Tat heute nach dieser Richtung hin der lebhafteste Geisteskampf vorhanden, weil über einen großen Teil der Menschheit das ja ausgegossen ist, daß nicht Gedanken vorhanden sind, sondern daß die Menschen in Worten denken. So aber in Worten denken ist kein Weg zu Michael. Zu Michael kommt man nur, wenn man durch die Worte hindurch zu wahren inneren Geist-Erlebnissen kommt, wenn man nicht an den Worten hängt, sondern zu wahren inneren Geist-erlebnissen kommt. Das ist ja in der Tat das Geheimnis der modernen Einweihung: über die Worte hinauszukommen zum Erleben des Gei­stigen. Das ist nichts, was gegen die Empfindung der Schönheit der Sprache verstößt. Denn gerade dann, wenn man nicht mehr in der Sprache denkt, dann fängt man an, die Sprache zu empfinden und als Empfindungselement in sich und von sich strömen zu haben. Aber das ist etwas, was von dem Menschen heute erst angestrebt werden muß.

Es ist vielleicht zunächst von den Menschen gar nicht für die Sprache zu erringen, sondern zuerst durch die Schrift. Denn auch in bezug auf die Schrift ist es so, daß die Menschen nicht die Schrift haben, sondern die Schrift die Menschen hat. Was heißt das, die Schrift hat die Menschen?

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Das heißt, man hat im Handgelenk, in der Hand einen bestimm­ten Schriftzug. Man schreibt mechanisch aus der Hand heraus. Das fesselt den Menschen. Ungefesselt wird der Mensch dann, wenn er so schreibt, wie er malt oder zeichnet, wenn ihm jeder Buchstabe neben dem anderen etwas wird, was er zeichnet:

#Bild s. 243a

wo nicht das, was man gewöhnlich eine Handschrift nennt, vorhanden ist, sondern wo man die Form des Buchstabens zeichnet, wo man sich also objektiv zum Buchstaben verhält, so daß das Wesentliche das An­schauen ist.

Aus diesem Grunde war es, warum - so paradox das heute er­scheint - in gewissen Rosenkreuzer-Schulen das Schreibenlernen bis zum vierzehnten, fünfzehnten Lebensjahre untersagt war, so daß diese Form, dieser Mechanismus, der sich in der Schrift entlädt, nicht in den menschlichen Organismus hineingekommen ist, sondern daß erst, wenn die Anschauung ausgebildet war, der Mensch an die Buchstabenform herangekommen ist; und dann sollte er sogleich, wenn er die konven­tionellen Buchstaben lernte, die man für den menschlichen Umgang braucht, auch andere lernen, die spezifischen Rosenkreuzer-Buchstaben, die man als Geheimschrift ansieht, von der man sagt, das ist eine 9e-heimschrift. Sie war nicht als Geheimschrift gemeint, sie war so ge­meint, daß man für ein A zu gleicher Zeit lernen sollte ein anderes Zeichen: 0, damit man nicht haftete an dem einen Zeichen, sondern loskam von den Zeichen, und gewissermaßen einem das A als Laut etwas Höheres wurde als dieses A- und dieses Zeichen, während sich sonst der Buchstabe des A identifiziert mit dem, was als A schwebend, webend als Laut sich uns entringt.

#Bild s. 243b

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Und mit der Rosenkreuzerei kam da auch viel in das Volk hinein. Denn es war ein Hauptgrundsatz der Rosenkreuzerei, daß von den kleinen Kreisen, in denen die Leute vereinigt waren, diese Leute aus-zogen in die Welt, wie ich schon gesagt habe, indem sie zumeist die Tätigkeit des Arztes ausübten, aber während sie Ärzte waren, in weiten Kreisen, wo sie hinkamen, Erkenntnisse verbreiteten. Es war so, daß mit diesen Erkenntnissen sich aber auch gewisse Gesinnungen verbreiteten, Gesinnungen, die man überall antrifft, wo die Spuren der Rosenkreu­zerei sind. Sie nehmen manchmal groteske Formen an, diese Gesinnun­gen. Aber tatsächlich, eine dieser Gesinnungen war diejenige, die darin zum Ausdrucke kam, daß man diese ganze moderne Art, sich zum Schreiben und zum Drucken gar zu verhalten, als eine schwarze Kunst ansah. Denn in der Tat, nichts hindert einen mehr, im Astrallichte zu lesen, als das gewöhnliche Schreiben. Dieses Fixieren auf künstliche Art, das hindert einen ja sehr, im Astrallichte zu lesen. Man muß das immer erst überwinden, dieses Schreiben, wenn man im Astrallichte lesen will.

Und da kommen zwei Dinge zusammen, von denen ich eines vor einiger Zeit genannt habe: daß der ganze Mensch mit innerer Tätigkeit beim Produzieren der geistigen Erkenntnisse dabei sein soll. Ich legte Ihnen das Bekenntnis ab, daß ich viele Notizbücher habe, in denen ich aufschreibe oder aufzeichne das, was sich mir ergibt. Ich schaue sie dann gewöhnlich nicht mehr an. Aber dadurch, daß man nicht den Kopf, sondern den ganzen Menschen betätigt, dadurch kommen diese auch den Menschen ergreifenden Erkenntnisse heraus. Derjenige, der das tut, der gewöhnt sich nach und nach auch an, wirklich nicht viel zu geben auf das, was er physisch sieht im Fixierten, sondern bei der Tätigkeit stehenzubleiben, um sich nicht die Fähigkeit zu verderben, nun im Astrallichte zu schauen. Aber auch einfach dadurch, daß man sich zurückhält und möglichst beim Fixieren in gewöhnlicher Schrift nicht an dem haftet, was Schrift ist, sondern entweder nach dem Ge­fallen an den Buchstaben zeichnet - dann ist es ja so, wie wenn man malt, dann ist es eine Kunst -, oder aber, daß man nicht reflektiert auf das, was man aufschreibt. Dadurch erwirbt man sich die Fähigkeit, die Eindrücke, die Impressionen des Astrallichtes sich nicht zu verderben.

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Wenn man also genötigt ist, in der Weise sich zur Schrift zu ver­halten, wie das heute der Fall ist, dann verdirbt man sich den geistigen Fortschritt. Daher ist es ja so, daß bei unserer Waldorfschul-Pädagogik gerade darauf ein großer Wert gelegt wird, daß die Menschen mit dem Schreiben nicht so weit kommen, wie es heute bei der profanen Päd­agogik der Fall ist, daß wirklich der Mensch im Geistigen herinnen bleiben kann. Denn das ist notwendig.

Es muß wiederum die Welt dazu kommen können, das Einweihungs­prinzip als solches unter die Zivilisationsprinzipien aufnehmen zu kön­nen. Denn nur dadurch kommt eben das zustande, daß der Mensch hier aüf Erden in seiner Seele etwas ansammelt, mit dem er hintreten kann vor Michael, so daß der zustimmende Blick ihn trifft: Das ist weltgerecht. - Dann wird dadurch der Wille befestigt, der Mensch ein­gegliedert in den geistigen Fortgang der Welt. Dann wird dadurch der Mensch ein Mitarbeiter desjenigen, was durch Michael, jetzt beginnend in der Michael-Epoche, in die Menschheits- und Erdenentwickelung eingefügt werden soll.

Es sind also viele, viele Dinge, welche zu berücksichtigen sind, wenn der Mensch in der richtigen Weise über jenen Abgrund hinübersetzen will, von dem ich gestern gesprochen habe, und an dem im Grunde genommen ein Hüter steht. Wie dieser Abgrund sich auftat in den vier­ziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, wie sich nun unter dem Einflusse solcher Erkenntnisse, wie ich sie heute wieder dargelegt habe, der Mensch, rückschauend zu diesem Abgrund, zu diesem Hüter ver­halten kann, davon werden dann die nächsten Vorträge handeln.

DAS OSTERFEST ALS EIN STÜCK MYSTERIENGESCHICHTE DER MENSCHHEIT

ERSTER VORTRAG Dornach, 19. April 1924

#G233-1962-SE249 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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DAS OSTERFEST

ALS EIN STÜCK MYSTERIENGESCHICHTE

DER MENSCHHEIT

ERSTER VORTRAG

Dornach, 19. April 1924

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Das Osterfest wird von zahlreichen Menschen als etwas empfunden, das zusammenhängt auf der einen Seite mit den tiefsten Gefühlen und Empfindungen der Menschenseele, zusammenhängt aber auf der an­deren Seite auch mit Weltengeheimnissen und Weltenrätseln. Man muß ja aufmerksam werden auf die Tatsache des Zusammenhanges des Osterfestes mit Weltengeheimnissen und Weltenrätseln dadurch, daß das Osterfest ein sogenanntes bewegliches Fest ist, das alljährlich ausgerechnet werden muß nach jener Sternkonstellation, die wir in diesen Tagen noch genauer besprechen wollen. Man muß aber auch, wenn man verfolgt, wie durch die Jahrhunderte festliche Gebräuche an das Oster­fest geknüpft worden sind, Kulthandlungen, die einer zahlreichen Men­schenschaft außerordentlich nahegehen, man muß auch daraus sehen, welchen ungeheuren Wert die Menschheit allmählich im Verlaufe ihres geschichtlichen Werdens in dieses Osterfest hineingelegt hat.

Nun ist das Osterfest in den ersten Jahrhunderten des Christentums, nicht gleich bei der Begründung, aber in den ersten Jahrhunderten des Christentums, ein wichtiges christliches Fest geworden, ein christliches Fest, das zusammenhängt mit dem Grundgedanken, dem Grundirnpuls des Christentums, mit dem Impuls, der sich ergibt für das Christsein durch die Tatsache der Auferstehung Christi.

Das Osterfest ist das Auferstehungsfest. Aber das Osterfest weist hin auf ältere als die christlichen Zeiten. Es weist hin auf Feste, die mit der Zeit der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, die ja wenigstens mit der Berechnung der Osterzeit etwas zu tun hat, zusammenhängen, mit jenen Festen, welche anknüpfen an die neuerwachende Natur, an das sprießende, der Erde wieder entwachsende Leben.

Und damit stehen wir an dem Punkte, wo wir, wenn die Dinge gerade zur Sprache kommen sollen, die das Thema dieser Ostervorträge bilden: das Osterfest als ein Stück Mysteriengeschichte der Menschheit, diese Dinge sogleich berühren müssen.

Das Osterfest als christliches Fest ist ein Auferstehungsfest. Das entsprechende

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heidnische Fest, das ungefähr in dieselbe Jahreszeit fällt wie das Osterfest, ist eine Art Auferstehungsfest der Natur, ein Wieder-herauskommen dessen, was naturhaft die Winterszeit hindurch, wenn ich mich so ausdrücken darf, geschlafen hat. Aber damit kommen wir an denjenigen Punkt, wo wir betonen müssen, daß das christliche Osterfest ganz und gar nicht ein Fest ist, das seinem inneren Sinn und Wesen nach irgendwie zusammenfällt mit den heidnischen Festen der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche, sondern das Osterfest, als christliches Fest gedacht, fällt eigentlich zusammen, wenn wir schon zurückgehen wollen auf die alten Heidenzeiten, mit alten Festen, die aus den Mysterien herausgewachsen sind und die in die Herbsteszeit fallen. Das Allermerkwürdigste in bezug auf die Festsetzung des Oster­festes, das ja gerade durch seinen Inhalt ganz offensichtlich zusammen­hängt mit gewissem altem Mysterienwesen, das Allermerkwürdigste ist:

gerade dieses Osterfest erinnert uns daran, welch radikale, welch tiefe Mißverständnisse geschehen sind in der Weltauffassung allerbedeu­tendster Dinge im Verlaufe der Menschheitsentwickelung. Denn es ist ja nichts Geringeres geschehen, als daß das Osterfest verwechselt worden ist im Laufe der ersten christlichen Jahrhunderte mit einem ganz an­deren Feste, daß es dadurch verlegt worden ist von einem Herbstes-feste zu einem Frühlingsfeste.

Diese Tatsache weist eigentlich auf Ungeheures hin in der Mensch-heitsentwickelung. Aber sehen wir uns einmal den Inhalt dieses Oster­festes an. Was ist sein Wesentliches? Sein Wesentliches ist: Die Wesenheit, die in der Mitte des christlichen Bewußtseins steht, der Christus-Jesus, geht durch den Tod, woran der Karfreitag erinnert. Der Christus-Jesus ruht in dem Grabe die Zeit, welche in dreien Tagen verläuft und welche darstellt die Verbindung des Christus mit dem Erdendasein. Diese Zeit wird als Festeszeit, als Trauerfesteszeit begangen innerhalb des Christentums zwischen dem Karfreitag und dem Ostersonntag. Der Ostersonntag ist dann der Tag, an dem dieses Mittelpunktwesen des Christentums aus dem Grabe ersteht. Der Erinnerungstag daran ist es.

Damit haben wir den wesentlichen Inhalt des Osterfestes dargelegt:

Tod, Grabesruhe, Auferstehung des Christus-Jesus. Und nun sehen wir

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uns zunächst einmal das entsprechende alte heidnische Fest in irgend­einer Gestalt an. Nur dadurch kommen wir zu einer inneren Durch­dringung des Zusammenhanges zwischen Osterfest und Mysterien-wesen. Wir finden an vielen Orten, bei vielen Völkern alte heidnische Feste, welche in ihrer äußeren Struktur, in der Struktur des Kultus, durchaus ähnlich sind der Struktur des Osterinhaltes des Christentums.

Nehmen wir aus den mannigfaltigen alten Festlichkeiten das Adonis-fest heraus. Bei gewissen vorderasiatischen Völkern wurde es begangen durch lange Zeiten des vorchristlichen Altertums. Ein Bild bildete den Mittelpunkt. Auf diesem Bilde war dargestellt Adonis, der geistige Repräsentant alles dessen, was im Menschen sprießende Jugendkraft ist, der Repräsentant alles dessen, was im Menschen sich als die Schön­heit darstellt.

Gewiß, die alten Völker haben in mancher Beziehung verwechselt das, was eine Abbildung enthielt, mit demjenigen, was die Abbildung darstellte. Und so haben ja diese alten Religionen vielfach den Charak­ter des Fetischismus. Viele Menschen sahen in dem Bilde den gegen­wärtigen Gott der Schönheit, der Jugendkraft des Menschen, der sich entwickelnden Keimeskraft, die in glanzvollem Dasein nach außen sich offenbart, die alles das im glanzvollen Dasein nach außen offenbart, was der Mensch an innerem Wert, an innerer Würde, an innerer Größe in sich enthält oder auch enthalten kann.

Dieses Götterbild wurde unter Gesängen, unter Kulthandlungen, die darstellten tiefste menschliche Trauer, tiefstes menschliches Leid, wenn es an einem Orte geschah, wo Meer in der Nähe war, in die Meeres-fluten gesenkt, wo es drei Tage drinnen zu bleiben hatte, wo ein See war, in den See versenkt; sonst wurde sogar in der Nähe der Myste­rienstätte ein künstlicher Teich angelegt, um dieses Götterbild in diesen Teich zu versenken und es drei Tage lang drinnen zu lassen. Während dieser drei Tage ruhte über dem Ganzen der Gemeinde, die sich zu die­sem Kultus bekannte, die diesen Kultus ihr eigen nannte, tiefster Ernst, tiefste Stille. Nach dreien Tagen wurde das Bild aus dem Wasser geholt. Die vorherigen Trauergesänge wurden in Jubelgesänge, in Hymnen auf den wiedererstandenen Gott, auf den wiederum zum Leben gekom­menen Gott verwandelt.

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Das war eine äußerliche Zeremonie, das war eine Zeremonie, die weitesten Kreisen von Menschen das Gemüt tief aufrüttelte. Und diese Zeremonie deutete wiederum eben in einer äußeren Handlung, in einem äußeren Kultusverlauf an, was in den Tiefen der heiligen Mysterien sich abspielte mit jedem Menschen, der zur Initiation, zur Einweihung kommen sollte. Jeder Mensch, der zur Initiation, zur Einweihung kom­men sollte, wurde in diesen alten Zeiten innerhalb der Mysterien in ein besonderes Gemach geführt. Die Wände waren schwarz, der ganze Raum, in dem nichts anderes enthalten war als ein Sarg oder wenig­stens ein sargartiges Gebilde, war düster und dunkel. Und an diesem Sarg wurden von jenen, die den zu Initiierenden hineingeleiteten, Trauergesänge angestimmt, Todesgesänge angestimmt. Der zu Initi­ierende wurde behandelt wie einer, der da stirbt, und ihm wurde begreiflich gemacht, daß er nun, indem er in den Sarg gelegt wird, das­jenige durchzumachen habe, was der Mensch durchrnacht, wenn er durch die Todespforte geht und die nächsten drei Tage verlebt. Die Anordnung war auch so getroffen, daß dem zu Initiierenden zur völligen inneren Klarheit kam, was der Mensch in den ersten drei Tagen nach dem Tode durchmacht.

Am dritten Tage erhob sich an einer bestimmten Stelle, auf die hin­schauen konnte der, der in dem Sarge lag, ein Zweig, darstellend das sprießende Leben. Die früheren Trauergesänge verwandelten sich in Hymnen, in Jubelgesänge. Der Betreffende erhob sich aus seinem Grabe mit verwandeltem Bewußtsein. Ihm wurde mitgeteilt eine neue Sprache, eine neue Schrift, die Sprache der Geister, die Schrift der Geister. Er durfte jetzt schauen, er konnte auch schauen die Welt vom Gesichts­punkte des Geistes.

Wenn man dieses mit den Einzuweihenden in den Tiefen der Mysterien Veranstaltete verglich mit dem, was als Kultushandlungen draußen vollzogen war, dann war der Inhalt des Kultus bildhaft, aber in seiner ganzen Struktur ähnlich dem, was da geschah mit den aus­erlesenen Menschen innerhalb der Mysterien. Und der Kultus - nehmen wir als den Repräsentanten den speziellen Adoniskultus - der Kultus wurde auch denjenigen, die daran teilnahmen, in entsprechender Zeit erklärt. Dieser Kultus fand ja statt zur Herbsteszeit, und diejenigen, die

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an diesem Kultus teilnahmen, wurden etwa in der folgenden Art belehrt: Seht, es ist Herbsteszeit. Die Erde verliert ihren Pflanzen-, ihren Blattesschmuck. Alles welkt hinunter. An die Stelle des grünenden, sprießenden Lebens, das im Frühling begonnen hat, die Erde zu be­decken, wird der die Erde einhüllende Schnee kommen oder wenigstens die die Erde verödende Dürre. Die Natur erstirbt. Aber indem um euch herum alles erstirbt, sollt ihr erleben, was im Menschen zur Hälfte ähn­lich ist dem Sterben, das in aller Natur ringsherum ist. Auch der Mensch stirbt. Auch für ihn kommt ein Herbst. Wenn es mit dem Leben zu Ende geht, dann ist es recht, wenn das menschliche Gemüt derjenigen, die übrig­bleiben, sich erfüllt mit tiefer Trauer. Und damit der ganze Ernst des Durchganges durch den Tod vor eure Seele trete, damit ihr nicht bloß den Tod erlebt, wenn er an euch herantritt, sondern damit ihr euch immer wieder und wiederum an ihn erinnern könnt, so wird eben allherbstlich gezeigt, wie gerade dasjenige göttliche Wesen, das da ist der Repräsen­tant der Schönheit, der Jugend, der Größe des Menschen, wie dieses göttliche Wesen stirbt, wie dieses göttliche Wesen den Gang macht, den alles Naturhafte macht. Aber gerade wenn die Natur in ihre Öde ein­geht, wenn es in der Natur ins Sterben kommt, dann sollt ihr euch erinnern an etwas anderes. Dann sollt ihr euch erinnern, daß der Mensch durch die Pforte des Todes geht, daß, während er hier im irdischen Dasein nur Dinge erlebt hat, die gleich sind denen, die im Herbste ersterben, während er hier im Irdischen nur die Dinge erlebt hat, die vergänglich sind, daß er von der Erde abgezogen wird und in die Weiten des Weltenäthers sich hinauslebt. Er sieht sich immer größer und größer werden, er wird so, daß die ganze Welt sein eigen wird. Er lebt sich hinaus durch drei Tage in das ganze weite Weltenall. Und dann, während das irdische Auge hier hingelenkt ist auf das Bild des Todes, während das irdische Auge hingelenkt ist auf dasjenige, was stirbt, auf das Vergängliche, erwacht drüben im Geiste nach dreien Tagen die unsterblicheMenschenseele. Sie steht drüben auf. Sie steht auf, um drei Tage nach dem Tode geboren zu werden für das Geisterland.

In eindringlicher innerer Wandlung wurde dies vollzogen am eigenen Leibe des zu Initiierenden innerhalb der Tiefe der Mysterien. Der be­deutsame Eindruck, der ungeheure Ruck, den das Menschenleben bekam

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durch diese alte Art der Initiation - wir werden sehen, daß das in der Neuzeit nicht so vor sich gehen kann, sondern in ganz anderer Weise-, der weckte innere Seelenkräfte, der weckte das Schauen, der brachte den Menschen dahin, zu wissen: er steht nunmehr nicht bloß in der Sinneswelt, er steht nunmehr in der geistigen Welt.

Und was wiederum zu einer entsprechenden Zeit als Belehrung an diejenigen herankam, die Schüler der Mysterien waren, das kann ich etwa in die folgenden Worte zusammenfassen. Diesen Schülern der Mysterien wurde gesagt: Was in den Mysterien vorgeht, ist Bild von dem, was in der geistigen Welt vorgeht, was im Kosmos vorgeht; Kultus ist Bild von dem, was in den Mysterien vorgeht. - Denn dessen war sich jeder, der zu den Mysterien zugelassen worden ist, klar: die Mysterien um­schlossen im Irdischen Vorgänge, die am Menschen sich abspielten und die durchaus Abbilder waren dessen, was in den Weiten des astral-geistigen Kosmos von dem Menschen in anderen Daseinsformen erlebt wird als in der irdischen. Denjenigen, die in diesen alten Zeiten nicht zugelassen worden sind zu den Mysterien, weil sie nach ihrer Lebens-reife nicht ausersehen sein konnten, die Anschauung der geistigen Welt unmittelbar zu empfangen, denen wurde im Kultus, das heißt im Bilde, dessen, was in den Mysterien vorging, das Entsprechende bei­gebracht.

So war das entsprechende Mysterienfest, das wir an dem Beispiel des Adonisfestes kennengelernt haben, dazu da, während des herbst­lichen Welkens, während des herbstlichen Ödewerdens des Irdischen, während des herbstlichen radikalen Darstellens der Vergänglichkeit der irdischen Dinge, während des herbstlichen Darstellens des Sterbens und des Todes, in dem Menschen die Gewißheit oder wenigstens die Anschauung hervorzurufen: der Tod, der über die ganze Natur im Herbste kommt, der kommt auch über den Menschen, er kommt auch über den Repräsentanten der Schönheit, Jugend und Größe der Men­schenseele, die im Gotte Adonis dargestellt wird. Auch der Gott Adonis stirbt. Er geht auf in den irdischen Repräsentanten des Weltenäthers, in das Wasser. Aber so, wie er sich erhebt aus dem Wasser, so wie er geholt werden kann aus dem Wasser, so wird des Menschen Seele geholt aus den Wassern der Welt, das heißt aus dem Äther des Kosmos, nach

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ungefähr dreien Tagen, nachdem der Mensch hier auf Erden durch die Todespforte gegangen ist.

Das Geheimnis des Todes selber sollte dargestellt werden in diesen alten Mysterien durch das entsprechende Herbstesfest. Und anschau­lich sollte das Dargestellte dadurch werden, daß der Kultus auf der einen Seite in seiner ersten Hälfte zusammenfiel mit dem Sterben, mit dem Tode der Natur, auf der anderen Seite aber das Gegenteil dar­stellte, als das Wesentliche des Menschenwesens selber. Der Mensch soll hinschauen auf das Sterben der Natur - so war es gemeint-, um gewahr zu werden, wie er nach dem äußeren Scheine stirbt, nach dem inneren Wesen aber aufersteht zunächst für die geistige Welt. Die Wahrheit über den Tod zu enthüllen, das war der Sinn dieses alten heidnischen, an die Mysterien angelehnten Festes.

Nun geschah im Laufe der Menschheitsentwickelung dieses Bedeut­same, daß dasjenige, was auf einem gewissen Niveau der Einzuweihende in den Mysterien durchmachte, das Sterben und Wiederauferstehen der Seele, daß das bis zum Leibe hin sich vollzog mit dem Christus-Jesus. Denn wie stellt sich für den Kenner der Mysterien das Mysterium von Golgatha dar? Der Kenner der Mysterien schaut in die alten Mysterien hinein. Er sieht, wie der Einzuweihende seiner Seele nach geführt wurde durch den Tod zur Auferstehung der Seele, das heißt zum Erwecken eines höheren Bewußtseins in der Seele. Die Seele starb, um aufzu-erstehen in einem höheren Bewußtsein. Was hier festgehalten werden muß, das ist, daß der Leib nicht starb, daß die Seele aber starb, um zu einem höheren Bewußtsein erweckt zu werden.

Was die Seele eines jeden zu Initiierenden durchmachte, das machte der Christus-Jesus bis zum Leibe durch, also einfach auf einem anderen Niveau. Weil der Christus kein irdischer Mensch, sondern ein Sonnen-wesen im Leibe des Jesus von Nazareth war, konnte dasselbe, was der alte zu Initiierende in den Mysterien seiner Seele nach durchmachte, der ganzen Menschnatur nach durchmachen der Christus-Jesus auf Golgatha.

Diejenigen, die noch da waren als Kenner der alten Mysterien, als Wissende dieser Initiationshandlung, sie waren wohl die Menschen, auch bis heute diejenigen Menschen, welche am tiefsten verstanden, was auf Golgatha geschehen war. Denn was konnten sie sich sagen? Sie konnten

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sich sagen: Durch Jahrtausende hindurch sind Menschen in die Geheim­nisse der geistigen Welt durch den Tod und die Auferstehung ihrer Seele geführt worden. Die Seele ist von dem Leibe getrennt gehalten worden während der Einweihungshandlung. Sie ist durch den Tod zum ewigen Leben geführt worden. Was da erlebt worden ist von einer Anzahl von auserlesenen Menschen, das hat ein Wesen erlebt bis in den Leib hinein, das bei der Johannestaufe im Jordan heruntergestiegen ist von der Sonne und Besitz ergriffen hat von dem Leibe des Jesus von Nazareth. Geschichtliche Tatsache ist geworden, was sich wiederholende Einweihungshandlung durch lange, lange Jahre hindurch gewesen war.

Das war das Wesentliche, daß man wußte: Weil es ein Sonnenwesen war, das Besitz ergriffen hatte von dem Leibe des Jesus von Nazareth, deshalb konnte das, was sich bei den zu Initiierenden nur vollzog in bezug auf die Seele und ihre Erlebnisse, sich vollziehen bis in das Leibes-dasein hinein. Es konnte vollzogen werden, trotz des Todes des Leibes, trotz des Aufgehens des Leibes des Jesus von Nazareth in der sterblichen Erde, eine Auferstehung des Christus, weil dieser Christus höher hin-aufsteigt, als die Seele des zu Initiierenden hinaufsteigen konnte. Den Leib konnte der zu Initiierende nicht in so tiefe Regionen des Unter-sinnlichen bringen, wie ihn der Christus-Jesus gebracht hat. Deshalb konnte der zu Initiierende nicht so hoch hinaufsteigen mit der Auf­erstehung wie der Christus; aber bis zu diesem Unterschiede hinsicht­lich der Weltengröße ist die alte Einweihungshandlung als historische Tatsache erschienen auf der Weihestätte von Golgatha.

Es haben auch nur wenige in den ersten Jahrhunderten des Christen­tums gewußt, daß ein Sonnenwesen, ein kosmisches Wesen, in dem Jesus von Nazareth gelebt hat und die Erde dadurch befruchtet worden ist, daß von der Sonne wirklich heruntergekommen ist ein Wesen, das vor­her von der Erde aus durch die Methoden der Initiationsstatten nur in der Sonne hat gesehen werden können. Und es war das Wesentliche des Christentums, insoferne es angenommen haben auch die rechten Kenner der alten Mysterien, daß gesagt werden konnte: Der Christus, zu dem wir uns erhoben haben dadurch, daß wir eingeweiht worden sind, der Christus, den wir durch unseren Aufstieg zur Sonne in den alten Mysterien haben erreichen können, der ist heruntergestiegen in einen

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sterblichen Leib, in den Leib des Jesus von Nazareth. Er ist zur Erde heruntergekommen.

Es war zunächst, ich möchte sagen, eine festliche Stimmung, mehr als eine festliche Stimmung, eine hochheilige Stimmung, welche diejenigen Seelen und Gemüter erfüllte, die in der Zeit des Mysteriums von Gol­gatha etwas von diesem Mysterium von Golgatha verstanden. Was da ein lebendiger Inhalt des Bewußtseins war, das wurde allmählich durch Vorgänge, die wir noch kennenlernen wollen, ein Erinnerungsfest an den historischen Vorgang auf Golgatha.

Aber während sich diese Erinnerung herausbildete, verlor man immer mehr und mehr das Bewußtsein davon, wer der Christus als Sonnen-wesen war. Die Kenner der alten Mysterien konnten sich ja nicht im Unklaren sein über die Wesenheit des Christus. Sie wußten ja, daß die wirklichen Eingeweihten, die wirklichen Initiierten dadurch, daß sie unabhängig gemacht wurden von dem physischen Leibe, in ihrer Seele durch den Tod gingen, sich erhoben bis in die Sonnensphäre und da den Christus aufsuchten und von ihm, von dem Christus in der Sonne, den Impuls zur Auferstehung der Seele empfingen; sie wußten, wer der Christus ist, weil sie sich zu ihm erhoben hatten. Diese alten Initiierten, die Kenner dieser Initiationshandlung, die wußten aus dem, was auf Golgatha vorging, daß dasselbe Wesen, das früher in der Sonne gesucht werden mußte, nun zu den Menschen auf die Erde nieder-gestiegen war. Warum? Weil jene Handlung, die in den alten Mysterien zum Erreichen des Christus in der Sonne mit dem zu Initiierenden voll-zogen war, so nicht mehr vollzogen werden konnte, weil die Menschen-natur einfach im Laufe der Zeit eine andere geworden ist. Die alte Einweihungszeremonie war nach der Entwickelungsart der Menschen­wesenheit eine Unmöglichkeit geworden. Es hätte der Christus durch die alte Einweihungszeremonie in der Sonne nicht mehr gesucht werden können. Da stieg er denn herab, um auf der Erde eine Handlung zu vollziehen, nach welcher nun die Menschen hinschauen konnten.

Es gehört das, was sich in dieses Geheimnis schließt, zu dem Aller­heiligsten, das man auf dem Erdenboden aussprechen kann.

Denn wie stellte sich eigentlich die Sache für die Menschen der auf das Mysterium von Golgatha folgenden Jahrhunderte dar?

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#Bild s. 258

Soll ich das schematisch zeichnen, so müßte ich es so zeichnen: wenn das die Erde ist, so sah man aus einer alten Einweihungsstätte herauf zum Sonnendasein und wurde durch die Initiation den Christus in der Sonne gewahr. Man sah in den Raum hinaus, um an den Christus heranzutreten.

Will ich schematisch darstellen, wie die Entwickelung nun in der Folgezeit war, so muß ich die Zeit darstellen, das heißt die Erde - in einem Jahr, im dritten Jahr, fortlaufend in der Zeit; die Erde räumlich ist ja immer da, aber den Zeitenlauf stellen wir so dar. Es hat sich abgespielt das Mysterium von Golgatha. Ein Mensch, der, sagen wir im achten Jahrhundert lebt, statt daß er vom Mysterium aus in die Sonne schaut, um zum Christus zu kommen, schaut jetzt auf die Zeiten-wende bis zum Beginn der christlichen Zeitrechnung, schaut in der Zeit hin nach dem Mysterium von Golgatha; er kann in einer Erdenhand­lung, in einem Erdengeschehen den Christus innerhalb des Mysteriums von Golgatha finden.

Was früher räumliche Anschauung war, sollte nun zeitliche An­schauung werden durch das Mysterium von Golgatha. Das war das Bedeutsame, was geschehen war.

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Aber gerade, wenn wir auf die Seele wirken lassen, was in den Mysterien bei der Initiation sich abspielte und was ein Bild war vom Tod und von der Auferstehung des Menschen nach dem Tode, und wenn wir dazunehmen die Struktur der Kultushandlungen, zum Bei­spiel des Adonisfestes, die wiederum ein Bild waren dessen, was in den Mysterien vorging, so erscheint uns wie aufs Höchste hinaufgehoben das alles, dieses Dreifache vereinigt, konzentriert in der historischen Handlung auf Golgatha.

Äußerlich in der Geschichte erscheint, was tief innerlich in dem Heiligtum der Mysterien sich vollzogen hat. Für alle Menschen ist da, was vorher nur für die Eingeweihten da war. Man braucht kein Bild mehr, das in das Meer versenkt wird, das symbolisch aus dem Meere aufersteht. Man soll vielmehr haben den Gedanken, die Erinnerung an das, was auf Golgatha wirklich geschehen ist. An die Stelle des äußeren Sinnbildes, das sich eben auf einen Vorgang, der im Raum erlebt wurde, bezog, sollte treten das innerlich sinnlich bildlose Geden­ken, das bloß in der Seele erlebte Gedenken an die historische Hand­lung auf Golgatha.

Nun werden wir eine merkwürdige Entwickelung der Menschheit in den folgenden Jahrhunderten gewahr. Das Eindringen der Menschen in die Geistigkeit nimmt immer mehr und mehr ab. Der geistige Inhalt des Mysteriums von Golgatha kann nicht Platz greifen in den Gemütern der Menschen. Die Entwickelung geht nach der Ausbildung des mate­riellen Sinnes. Man verliert das innere Herzensverständnis für das Folgende, man verliert das Verständnis dafür, daß da, wo die äußere Natur sich als Vergänglichkeit, sich als ersterbendes ödes Sein darstellt, gerade die Lebendigkeit des Geistes erschaut werden kann. Man ver­liert auch das Verständnis für die äußere Festlichkeit: daß dann, wenn der Herbst mit seinem Sterben kommt, am besten empfunden werden kann, wie dem Sterben des Irdisch-Naturhaften gegenübersteht das Auferstehen des Geistigen.

Damit verliert der Herbst die Möglichkeit, Zeit zu sein für das Auferstehungsfest. Der Herbst verliert die Möglichkeit, aus der Natur-vergänglichkeit heraus gerade den Sinn hinzuweisen auf die Geist-Ewigkeit. Man braucht die Anlehnung an das Materielle. Man braucht

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die Anlehnung an das, was nicht stirbt in der Natur, was in der Natur aufsprießt, was in der Natur als die Samenkraft, die im Herbste in die Erde versenkt wird, aufersteht. Man nimmt das Materielle als ein Symbolum für das Geistige, weil man sich durch das Materielle nicht mehr anregen lassen kann, das Geistige in seiner Wirklichkeit zu empfinden. Der Herbst hat nicht mehr die Kraft, gegenüber dem Ver­gänglichen im Naturhaften die Unvergänglichkeit des Geistigen durch die innere Macht der Menschenseele zu offenbaren. Man braucht die Anlehnung an die äußere Natur, an die äußere Auferstehung. Man will sehen, wie die Pflanzen sprießen aus der Erde, wie die Sonne an Kraft gewinnt, wie das Licht und die Wärme wiederum an Kraft gewinnen. Man braucht die Auferstehung in der Natur, um den Auferstehungs-gedanken zu feiern.

Damit aber verschwindet auch jenes unmittelbare Verhältnis, das verbunden war mit dem Adonisfeste, das verbunden sein kann mit dem Mysterium auf Golgatha. Jenes innere Erlebnis verliert an Kraft, das auftreten kann beim irdischen Tode eines jeden Menschen, wenn die Menschenseele weiß: der Mensch geht irdisch durch die Pforte des Todes, macht durch drei Tage hindurch etwas durch, was den Menschen aller­dings ernst stimmen kann; dann aber muß die Seele innerlich festlich und freudig gestimmt werden, weil sie weiß, daß gerade aus dem Tode heraus sich in geistiger Unsterblichkeit die Menschenseele nach dreien Tagen erhebt.

Jene Kraft, welche im Adonisfeste lag, sie ist verlorengegangen. Zunächst war für die Menschheit veranlagt, daß diese Kraft mit einer größeren Intensität erstehen sollte. Man sah hin auf den Tod des Gottes, alles Schönen in der Menschheit, alles Großen, alles Jugend-kraftvollen. Dieser Gott wird in das Meer versenkt am Trauertag, am Chartage. Chara ist Trauer. Man kam in ernste Stimmung, weil man zunächst die Stimmung entwickeln wollte an der Vergänglichkeit des Naturhaften.

Dann aber sollte gerade diese Stimmung gegenüber der Vergäng­lichkeit des Naturhaften hinüberwandeln die Menschenseele zu der Stimmung gegenüber dem übersinnlichen Auferstehen der Menschen-seele nach dreien Tagen. Als der Gott wieder herausgehoben wurde,

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beziehungsweise sein Bild, da sah nun der richtig unterrichtete Gläubige das Bild der Menschenseele einige Tage nach dem Tode: Was im Geiste geschieht mit den gestorbenen Menschen, siehe da, es stellt sich vor deine Seele hin in dem Bilde des auferstandenen Gottes der Schönheit und Jugendkraft.

Dasjenige, was mit dem Menschenschicksal so tief verbunden ist, wurde alljährlich im Herbste unmittelbar im Geiste des Menschen er­weckt. Man hätte es in der damaligen Zeit nicht für möglich gehalten, an die äußere Natur anzuknüpfen. Was im Geiste erlebt werden konnte, das stellte man in der Kultushandlung, in der symbolischen Handlung dar. Als aber gerade das Bild der alten Zeit getilgt werden sollte, als Erinnerung - bildlose, innere, seelisch erlebte Erinnerung an das Mysterium von Golgatha, das dasselbe darstellt - eintreten sollte, da hatte die Menschheit zunächst nicht die Kraft, das zu vollziehen, weil der Geist in die Untergründe der Seele des Menschen ging. Da blieb denn bis in unsere Zeit die Sache so, daß man die Anlehnung an die äußere Natur brauchte. Aber die äußere Natur gibt kein Sinnbild, kein vollständiges Sinnbild vom Schicksale des Menschen im Tode. Der Todesgedanke, er konnte fortleben. Der Auferstehungsgedanke ist im­mer mehr und mehr geschwunden. Und wenn auch von der Auferstehung als einem Glaubensinhalte gesprochen wird, lebendig ist die Auferste­hungstatsache der Menschheit der neueren Zeit nicht. Sie muß es wieder werden, sie muß es dadurch werden, daß anthroposophische Anschau­ung den Menschensinn wieder erweckt für den wahren Auferstehungs-gedanken.

Wenn daher auf der einen Seite, wie das zur rechten Zeit gesagt worden ist, dem anthroposophischen Gemüte der Michaelsgedanke naheliegen muß als der ankündigende Gedanke, wenn sich dem anthro­posophischen Gemüte der Weihnachtsgedanke vertiefen muß, dann muß der Ostergedanke ein besonders festlicher werden. Denn Anthro­posophie muß hinzufügen zu dem Todesgedanken den Auferstehungs-gedanken. Sie muß selber werden wie ein inneres Auferstehungsfest der Menschenseele. Sie muß eine österliche Stimmung in die Welt­anschauung des Menschen bringen. Sie wird es bringen können, wenn verstanden wird, wie der alte Mysteriengedanke in dem wahrhaft erfaßten

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Ostergedanken weiterleben kann, wenn eine richtige Anschau­ung ersteht von Leib, Seele und Geist des Menschen und von dem Schicksal von Leib, Seele und Geist des Menschen in der physischen, seelischen und geist-himmlischen Welt.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 20. April 1924

#G233-1962-SE263 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

#TI

ZWEITER VORTRAG

Dornach, 20. April 1924

#TX

Man kann schon sagen, daß der ursprüngliche Festesgedanke der ist, den Menschen aufschauen zu machen von seiner Abhängigkeit irdischen Dingen gegenüber zu seiner Abhängigkeit außerirdischen Dingen gegen­über. Und insbesondere ist es das Osterfest, dessen Betrachtung diese Gedanken dem Menschen nahebringen kann. Wir haben ja im Laufe der letzten drei, vier, fünf Jahrhunderte der zivilisierten Welt eine seelisch­geistigeEntwickelung durchgemacht, die immer mehr und mehr den Men­schen davon abgeleitet hat, seinen Zusammenhang mit den kosmischen Kräften und Mächten ins Auge zu fassen. Der Mensch wurde immer mehr und mehr darauf beschränkt, nur diejenigen Verhältnisse zu be­trachten, die zwischen ihm und den irdischen Kräften und Mächten herrschen. Es ist ja auch richtig, daß mit denjenigen Erkenntnismitteln, die man heute als berechtigt anerkennt, andere Verhältnisse gar nicht ins Auge gefaßt werden können. Würde irgend jemand, der in der vorchristlichen Zeit oder auch noch in den ersten Jahrhunderten des Christentums Mysterienstätten nahegestanden hat, unsere heutige Er­kenntnis erfahren können, er würde, wenn er mit seiner damaligen Seelenverfassung an die Dinge heranträte, gar nicht verstehen können, wie der Mensch imstande ist, zu leben ohne ein Bewußtsein seines außerirdischen, seines kosmischen Zusammenhanges.

Ich möchte zunächst manches skizzieren, was Sie den genaueren Ver­hältnissen nach geschildert finden in diesem oder jenem Zyklus. Weil ja diese Vorträge dazu bestimmt sein sollen, gerade den Ostergedanken uns nahezubringen, kann ich natürlich nicht alle Einzelheiten ausführen, ich kann nur andeuten, wie die Dinge sind.

Wenn wir uns zurückversetzen in verschiedene ältere Religions­systeme - wir können ja als Beispiel dasjenige nehmen, welches auch dem modernen Menschen noch am allernächsten liegt: das hebräisch-jüdische Religionssystem -, da werden wir in gewissen Religions­systemen des Altertums, wenn sie monotheistisch sind, die Verehrung,

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die Anbetung der einen Gottheit finden. Es ist das diejenige Gottheit, von der wir in christlicher Auffassung als der ersten Person der Gott­heit, als dem Vatergotte sprechen.

Nun ist in allen denjenigen Religionen, in denen der Gedanke dieses Vatergottes lebt, mehr oder weniger vorhanden gewesen, ganz vor­handen gewesen sogar bei den Mysterienpriestern, der Zusammenhang dieses Vatergottes mit den kosmischen Mondeskräften, mit alledem, was an Kräften vom Monde auf die Erde herunterstrahlt. Heute ist ja von diesem alten Bewußtsein des Zusammenhanges des Menschen mit den Mondenkräften kaum etwas anderes zurückgeblieben als die An­regung, die das dichterische Gemüt in seiner Phantasie empfindet durch die Mondenkräfte, und das Zählen der Embryonalmonate des Menschen nach zehn Mondenmonaten in der Medizin. Aber in älteren Weltanschauungen war ein deutliches Bewußtsein davon vorhanden, daß der Mensch, wenn er heruntersteigt aus der geistigen Welt, wo er im vorirdischen Dasein als geistig-seelisches Wesen war, zu seinem physischen Dasein, dann durchströmt, durchkraftet wird von den Im­pulsen, die vom Monde ausgehen. Der Mensch, wenn er auf dasjenige sieht, was ihn lebensvoll gestaltet, was in ihm lebt als Ernährungs-, Atmungsprozeß und so weiter, überhaupt als allgemeine Wachstums-kräfte, muß dann nicht auf die Erdenkräfte schauen, sondern er muß schauen auf außerirdische Kräfte. Wenn der Mensch auf die Erden-kräfte schaut, kann er ja gewahr werden, wie diese Erdenkräfte sich zu ihm verhalten. Würden wir unseren Leib nicht zusammenhalten durch außerirdische Kräfte, würde unserem Leib nicht seine Gestalt ge­geben werden eben durch außerirdische .Kräfte, was könnten irdische Kräfte dem Zusammenhalt unseres Leibes geben? In dem Augenblicke, wo die außerirdischen Kräfte aus diesem Leib heraußen sind, ist ja dieser Leib ausgesetzt den irdischen Kräften: dann zerfällt er, dann löst er sich auf, dann wird er Leichnam. Die Erdenkräfte können aus dem Menschen nur den Leichnam machen, nicht den Menschen gestalten. Diejenigen Kräfte, die im Menschen leben, so daß sie ihn herausheben aus dem Irdischen, sind außerirdische Kräfte. Daß er zwischen Geburt und Tod eine in sich zusammenhängende Organisationsgestalt im Irdi­schen ist, daß er nicht den Kräften verfällt, die mit dem Tode ihn ergreifen

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und ihn zerstören, daß der Mensch sein ganzes irdisches Leben hindurch Kräfte hat, die gegen diese Zerstörung kämpfen - denn sie müssen kämpfen gegen diese Zerstörung -, das ist verdankt dem Ein­fluß der Mondgewalt.

Wenn wir auf der einen Seite theoretisch aussprechen können, die Mondenkräfte enthalten die Gestaltung des menschlichen Körpers, so müssen wir auf der anderen Seite sehen, wie alte Religionen diese Kräfte, die sozusagen den Menschen durch seine Geburt ins physische Dasein hereinführten, als die Vaterkräfte, als die Kräfte des göttlichen Vaters verehrten. Und bei den Eingeweihten des alten Hebraismus war ein deutliches Bewußtsein davon vorhanden, daß vom Monde aus­strahlen diejenigen Kräfte, die den Menschen ins Erdendasein herein­führen, die ihn im Erdendasein erhalten und denen er als physischer Mensch sich entreißt, wenn er durch die Pforte des Todes geht.

Gemütvoll diese göttlichen Vaterkräfte liebend, so hinschauend auf diese Vaterkräfte, und das wiederum im Kultus, im Gebet und so weiter auslebend, das war der Inhalt gewisser alter monotheistischer Reli­gionen. Aber konsequenter, als man denkt, waren diese alten mono­theistischen Religionen. Diese Dinge werden ja in der Geschichte völlig falsch dargestellt, weil die Geschichte eben nur nach äußeren Doku­menten gehen kann, nicht nach dem, was im geistigen Schauen beob­achtet werden kann.

Solche Religionen, die hinschauten auf den Mond, auf dasjenige, was im Mond an geistigen Wesenheiten vorhanden ist, das sind ja eigent­lich spätere Religionen. Die ganz ursprünglichen hatten neben dieser Anschauung vom Mond eine deutliche Anschauung von den Sonnen-kräften, ja noch, was wir auch hier erwähnen müssen, von den Saturn­kräften.

Da kommen wir allerdings in eine geschichtliche Betrachtung hinein, für die es keine äußeren Dokumente mehr gibt, die viele Jahrtausende vor der Begründung des Christentums zurückliegt, da kommen wir in jene Zeit hinein, die ich in meinem Umriß einer Geheimwissenschaft als die urindische bezeichnet habe, um eben ein Wort dafür zu haben, weil sie sich auf dem Boden des späteren Indiens abspielte -, die spätere Zivilisation ist die urpersische. In diesen Zivilisationen entwickelte sich

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der Mensch noch ganz anders als später, und von dieser seiner Ent­wickelung hing dann eben sein religiöses Bekenntnis ab.

Wir Menschen entwickeln uns ja alle schon seit mehr als zwei Jahr­tausenden so, daß eigentlich ein Riß in unserer irdischen Entwicke­lung von uns nicht bemerkt wird, wirklich nicht bemerkt wird. Er ist auch kaum bemerkbar vorhanden. Was mit den Menschen so um das dreißigste Lebensjahr herum innerlich vorgeht, das bleibt ja für den heutigen Menschen zum großen Teil im Unterbewußten, im Un­bewußten. Für eine Menschheit, die acht bis neun Jahrtausende vor der Begründung des Christentums lebte, was das ganz anders. Da ent­wickelte sich der Mensch bis etwa gegen das dreißigste Jahr hin so, daß seine Entwickelung kontinuierlich war. Aber im dreißigsten Lebensjahr trat eine mächtige Metamorphose mit dem Menschen ein. Ich möchte diese Metamorphose ganz radikal aussprechen. Es ist natürlich etwas radikal gesprochen, wie ich es jetzt tun werde; aber es bezeichnet dieses radikale Aussprechen dennoch die Tatsache, mit der man es zu tun hat.

Es konnte in diesen älteren Zeiten das folgende passieren: Ein Mensch hatte Bekanntschaft geschlossen vor seinem dreißigsten Lebensjahr mit irgend jemandem, der viel jünger war als er, vielleicht drei, vier Jahre jünger war als er. Der machte die Metamorphose, die um das dreißigste Jahr herum lag, später durch. Es konnte geschehen, wenn sich diese Menschen längere Zeit nicht gesehen hatten, sich dann begegneten - ich spreche in heutigen Worten, dadurch nimmt es sich noch radikaler aus-, daß derjenige, der die Metamorphose im dreißigsten Lebensjahr durch­gemacht hatte, von dem anderen Menschen angesprochen wurde und nicht wußte, wer das ist. So gründlich umgeändert hatte sich sein Ge­dächtnis.

Und in diesen ältesten Zeiten standen Einrichtungen im Zusammen-hange mit den Mysterienschulen, in denen in den kleinen Gemeinden, die damals waren, registriert wurde das Leben der jungen Leute, weil sie selber es vergaßen, weil sie selber einen mächtigen Umschwung in ihrem Leben durchmachten und lernen mußten, was sie im Erdenleben erlebt hatten bis gegen das dreißigste Jahr hin. Und dann, wenn diese Men­schen gewahr wurden: ich bin ein ganz anderer geworden im dreißig­sten Jahre, ich muß in die «Registratur» gehen - ein moderner Ausdruck

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natürlich -, um zu erfahren, was ich vorher erlebt habe - ja, es ist so!-, da wurden sie zu gleicher Zeit gewahr durch den Unterricht, den sie bekamen: vor dem dreißigsten Lebensjahr wirkten auf sie die Mondenkräfte ausschließlich; mit dem dreißigsten Lebensjahre traten die Sonnenkräfte in die Entwickelung ihres Erdenlebens ein. Die Sonnenkräfte wirken in ganz anderem Sinne auf den Menschen als die Mondenkräfte. Was kennt der heutige Mensch von den Sonnen-kräften! Er kennt nur das äußerliche Physische. Er weiß, daß er - ver­zeihen Sie - durch die Sonnenkräfte schwitzt, daß es ihm warm wird, er weiß einiges andere, Sonnenbäder und dergleichen gibt es ja heute, er weiß also einiges Therapeutische und so weiter, aber in ganz äußer­licher Weise. Er kann gar nicht ermessen, was diejenigen Kräfte mit ihm tun, die mit der Sonne geistig verbunden sind.

Julian der Apostat, der letzte der heidnischen Cäsaren, hatte in den Nachklängen der Mysterien noch einiges von diesen Kräften der Sonne erfahren. Und da er es wieder geltend machen wollte, wurde er auf dem Zuge nach Persien ermordet. So stark waren die Mächte, die in den ersten christlichen Jahrhunderten verschwinden machen wollten das Wissen von diesen Dingen. Es ist daher gar kein Wunder, daß eben heute ein Wissen von diesen Dingen nicht errungen werden kann. Wäh­rend die Mondenkräfte dasjenige im Menschen sind, was den Menschen determiniert, was ihn mit einer inneren Notwendigkeit durchzieht, so daß er handeln muß, wie seine Instinkte, wie sein Temperament, wie seine Emotion, wie überhaupt sein ganzer physisch-ätherischer Leib ist, befreien die geistigen Sonnenkräfte den Menschen von dieser Notwen­digkeit. Sie schmelzen sozusagen die Kräfte dieser Notwendigkeit in ihm, und der Mensch wird eigentlich ein freies Wesen durch die Sonnen-kräfte. Das war in jenen alten Zeiten in der Entwickelung des Men­schen streng voneinander geschieden. Da wurde man eben im dreißig­sten Lebensjahr ein Sonnenmensch, ein freier Mensch. Man war bis zum dreißigsten Lebensjahr der Mondenmensch, der unfreie Mensch.

Heute schiebt sich das ineinander. Heute wirken die Sonnenkräfte schon neben den Mondenkräften im kindlichen Alter, und die Monden­kräfte wirken weiter im späteren Alter, so daß heute diese Dinge, Not­wendigkeit und Freiheit, durcheinander wirken. Aber so war es ja

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nicht immer. In den vorgeschichtlichen Zeiten, von denen ich hier rede, war es so, daß die Mondenwirkungen und Sonnenwirkungen im Laufe des Lebens streng voneinander geschieden waren. Und daher sprach man in jenen älteren Zeiten den meisten Menschen gegenüber - denn es wurde als etwas Pathologisches, als etwas Abnormes betrachtet, wenn der Mensch diese Metamorphose, diesen Umschwung seines Lebens im dreißigsten Lebensjahr nicht erlebte -, man sprach davon, daß der Mensch nicht einmal, sondern zweimal geboren wird. Und als die menschliche Entwickelung so weiterschritt, daß diese zweite, die Sonnengeburt des Menschen - die erste nannte man die Monden-geburt - nicht mehr so bemerkbar war, da wendete man dann gewisse Übungen, gewisse Kultushandlungen, überhaupt gewisse Tatsachen auf diejenigen an, die eingeweiht wurden in den Mysterien. Die machten dann dasjenige durch, was für die allgemeine Menschheit nicht mehr da war. Und sie waren die zweimal Geborenen.

Wenn man heute den Ausdruck «zweimal Geborene» in orientali­schen Schriften findet, so ist dieser Ausdruck eben schon ein abgeleiteter. Im Grunde genommen möchte ich wirklich jeden Orientalisten, jeden Sanskritisten fragen - ich glaube, es ist ja auch unser Freund Professor Beckh in unserer Mitte, Sie können ihn fragen, ob die Dinge so sind, auch nach seinen fachlichen Studien -, man kann jeden Sanskritisten fragen, ob aus der heutigen orientalischen Wissenschaft mit klipp und klaren Worten hervorgeholt werden kann, was der Ausdruck «zwei­mal Geborene» seiner Substanz nach bedeute. Gewiß, formale Er­klärungen sind massenhaft da, aber was er seiner Substanz nach be­deute, das weiß man nicht; das können nur diejenigen wissen, welche wissen, daß er auf eine Realität zurückgeht, die ich jetzt eben auseinan­dergesetzt habe. In diesen Dingen spricht schon einmal die geistige Beobachtung. Und wenn dann die geistige Beobachtung gesprochen hat, dann möchte ich jeden, der das, was nach den Dokumenten vorliegt, was man an äußerer Wissenschaft aufbringen kann, fragen, wenn er unbefangen mit der äußeren Wissenschaft zu Werke geht, ob diese äußere Wissenschaft nicht Stück für Stück dann die geisteswissenschaft­lichen Forschungen bestätigt. Das wird sie tun, wenn die Dinge nur im rechten Lichte gesehen werden. Aber es muß auf gewisse Dinge aufmerksam

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gemacht werden, die jeder Dokumenten-Wissenschaft voran­gehen. Denn mit Dokumenten-Wissenschaft versteht man das Leben des Menschen eben nicht.

So blicken wir auf eine ältere Zeit zurück, in der gesprochen wurde von der Mondengeburt des Menschen als der Menschenschöpfung durch den Vater. Bezüglich der Sonnengeburt war man sich klar darüber, daß in den geistigen Sonnenstrahlen wirkt die Kraft des Christus, des Sohnes, und diese Kraft ist die den Menschen befreiende. Denn denken Sie, was wirkt diese Kraft, die Sonnenkraft? Die Sonnenkraft wirkt, daß wir als Menschen überhaupt auf der Erde etwas aus uns machen können. Wir würden streng determiniert in eine unabänderliche, nicht Schicksalsnotwendigkeit, sondern Naturnotwendigkeit hineingestellt sein, wenn die befreienden Sonnenkräfte, die die Notwendigkeit zer­schmelzenden Impulse, nicht an uns herantreten würden.

Das wußte der Mensch der älteren Weltanschauungen, wenn er zur Sonne hinaufschaute: Dieses Auge der Welt, aus dem die Kraft des Christus hervorstrahlt, dieses Auge der Welt macht, daß ich nicht jener ehernen Notwendigkeit unterworfen bleiben muß, mit der ich aus den Mondenkräften herausgeboren bin, als ein mein ganzes Leben hindurch in Notwendigkeit sich entwickelnder Mensch. Diese Sonnenkräfte, diese Christuskräfte, welche durch das kosmische Sonnenauge herunter-schauen, diese Christuskräfte machen es, daß ich während meines Erden-lebens durch meine innere Freiheit etwas aus mir machen kann, was ich nicht gewesen bin durch die Mondenkräfte, da ich ins Erdenleben hereingestellt worden bin.

Dieses Bewußtsein des Menschen, daß er sich umgestalten kann, daß er aus sich etwas machen kann, daß ist es, was man in den Sonnenkräften sah.

Ich möchte zur Ergänzung, gewissermaßen nur in Parenthese, an­merken, daß dann zum dritten hingeschaut wurde auf die Saturnkräfte. In den Saturnkräften wurde alles dasjenige gesehen, was den Menschen erhält, wenn er durch die Pforte des Todes geht, also die dritte irdische Metamorphose durchmacht.

Geburt: Mondengeburt,

zweite Geburt: Sonnengeburt,

dritte Geburt: Saturngeburt, Tod, irdischer Tod.

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Da wird er erhalten durch die für damals am äußersten Ende des Planetensystems der Erde waltenden Saturnkräfte. Die halten ihn auf­recht, die tragen ihn hinaus in die geistige Welt, die machen aus seiner Wesenheit einen Zusammenhang, wenn die dritte Metamorphose ein­tritt. Das war durchaus eine ältere Weltanschauung.

Aber die Menschheit entwickelt sich eben. So trat eine Zeit ein, in der nur noch in den Mysterien bekannt war, wie die Sonnenkräfte auf den Menschen wirken. Am längsten erhielten sich die Kenntnisse über die Sonnenkräfte in den medizinischen Abteilungen der Mysterien, weil gerade diejenigen Kräfte, die dem Menschen in seiner gewöhnlichen Entwickelung die Freiheit geben, die Möglichkeit geben, aus sich etwas zu machen, weil diese Sonnenkräfte, die Christuskräfte, zu gleicher Zeit in vieler Beziehung in gewissen Pflanzen auf der Erde wieder leben, auch in anderen Erdenwesenheiten, Erdendingen leben, und dann in diesen Erdendingen Heilmittel darstellen. Aber es ist im allgemeinen der Menschheit gerade der Zusammenhang mit der Sonne verlorengegangen. Während noch lange das Bewußtsein vorhanden ge­blieben ist: der Mensch hängt von den Monden-, von den Vaterkräften ab, ging viel früher das Bewußtsein der Abhängigkeit von den Sonnen-kräften - eigentlich der Befreiung, müßte man sagen, durch die Sonnen-kräfte - verloren. Und was wir heute Naturkräfte nennen, wovon wir fast einzig und allein im Weltanschauungsleben sprechen, das sind ja nur die ganz und gar abstrakt gemachten Mondenkräfte.

Aber die Sonnenkräfte, sie hat noch erkannt und sich darnach richten können eben der Träger des Christus, Jesus von Nazareth. Und er mußte sie kennen aus dem Grunde, weil er ja dazu bestimmt war, diese Sonnenkräfte, die man in den alten Mysterien nur durch die Auf-schau zur Sonne erreichen konnte, in ihrem Herunterströmen auf die Erde in den eigenen Leib aufzunehmen. Das habe ich ja gestern aus­einandergesetzt. Das Wesentliche der Christologie bei der Begründung des Christentums war eben dieses, daß in dem dreißigsten Lebensjahre in dem Leibe des Jesus von Nazareth sich eine Umwandlung vollzogen hat, jene Umwandlung, die in Urzeiten in allen Menschen sich voll­zogen hat, nur daß sozusagen in alle Menschen damals der Schein der geistigen Sonne eingezogen ist, während jetzt das Urwesen der Sonne,

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der Christus selbst, heruntergestiegen ist in die menschliche Entwicke­lung und Wohnung genommen hat in dem Leibe des Jesus von Na­zareth. Das ist eben dasjenige, was dem Mysterium von Golgatha als ein Ur-Ergebnis des ganzen Erdenlebens zugrunde liegt.

Den vollen Zusammenhang dieser Dinge wird man erblicken, wenn man jetzt hinschaut auf die Art, wie in älteren Mysterien, ich möchte sagen, das damals ganz menschlich vorhandene Osterfest - denn es war ja das Osterfest die Initiation, die Einweihung - eigentlich vollzogen worden ist. Die Einweihung ging zunächst durch drei Stufen. Aber das erste Erfordernis, um zur wirklichen Erkenntnis, zur Initiation zu kommen, war ja das, daß der Mensch durch alles, was von seiten der Mysterien an ihn herangebracht wurde, so bescheiden gemacht worden ist, daß sich heute eigentlich niemand eine Vorstellung von dieser inneren Bescheidenheit machen kann. Heute glauben die Menschen schon, daß sie in bezug auf die Erkenntnisse ungeheuer bescheiden seien, wenn sie für den, der die Sache durchschaut, noch von einem wahren Hochmut besessen sind.

Vor allen Dingen mußte das über den Menschen beim Ausgangs­punkte der Einweihung kommen, daß er sich gar nicht für einen Men­schen hielt, daß er sagte: Ich muß erst ein Mensch werden! - Heute kann man ja das dem Menschen nicht zumuten, daß er in irgendeinem Zeitpunkte seines Lebens sich für keinen Menschen hält.

Aber das war die allererste Anforderung, sich wirklich für keinen Menschen zu halten und das folgende sich zu sagen: Gewiß, ich war ein Mensch, bevor ich in einen irdischen Leib heruntergestiegen bin; ich war im vorirdischen Dasein ein Mensch geistig-seelisch. - Da ist das Geistig-Seelische in den physischen Leib eingezogen, den es von der Mutter her, von den Eltern her bekommen hat. Da hat es sich - nicht umkleidet, das ist ein falscher Ausdruck -, durchdrungen mit diesem physischen Leibe. Von der Art und Weise, wie das Geistig-Seelische nun im Laufe einer längeren Zeit durchsetzt das Physische, durchsetzt das Nerven-Sinnes-System, durchsetzt das rhythmische System, durch­setzt das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, von dem haben ja die Menschen kein Bewußtsein. Sie werden gewahr, sie sehen aus ihren Sinnen heraus die physische Umwelt. Aber was kann denn der Mensch,

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wenn er nun wirklich dazu gekommen ist, daß er mit seinem Geistig-Seelischen seinen physischen Leib so weit durchdrungen hat, daß er sich nun für einen ganz entwickelten, voll entwickelten erwachsenen Men­schen hält? Was kann er dann? Er kann ja nur aus seinen Augen her-ausschauen, aus seinen Ohren heraushören, mit der Haut heraus wahr­nehmen Wärme und Kälte, Rauheit und Glätte: er kann ja nur heraus wahrnehmen, er kann nicht herein wahrnehmen. Er kann durch die Augen nicht in sich hineinschauen, kann höchstens den physischen Leichnam schinden und dann glauben, daß er in sich hineinschaut. Aber da schaut er nicht in Wirklichkeit hinein. Es ist ja kindisch, das zu glauben.

Wenn ich hier ein Haus vor mir habe: das hat Fenster, aber ich schaue nicht hinein, sondern ich nehme, wenn ich stark genug dazu bin, alle möglichen Instrumente und zerschlage das Haus - dann habe ich die einzelnen Ziegel vor mir liegen, und nur diesen Haufen schaue ich an. So macht man es ja heute. Man zerschindet, man zerstückelt den Menschen, um ihn kennenzulernen, aber da lernt man ihn nicht kennen. Es ist gar nicht der Mensch, den man da kennenlernt. Will man den Menschen kennenlernen, so muß man so, wie man heute aus den Augen herausschaut, nun wieder zurück durch die Augen hinein­schauen können, durch die Ohren wiederum zurück hineinhören kön­nen. Das alles zusammen - Augen, Ohren, die ganze Haut als Tast­und Wärme-Organ, Geruchsorgan und so weiter -, das nannte man in den alten Mysterien das Tor zum Menschen, die Pforte zum Menschen. Und davon ging überhaupt die Initiation aus, daß irgend jemand klar wurde darüber: er weiß ja gar nichts vom Menschen; also kann er, da er kein Selbstbewußtsein vom Menschen hat, auch kein Mensch sein. Er muß erst lernen, durch die Sinne hineinschauen, wie er sonst nur hinausschaut.

Das war die erste Stufe der Einweihung in älteren Mysterien. Und in dem Augenblicke, wo der Mensch lernte dieses Hineinschauen, in dem Augenblicke erlebte er sich auch im vorirdischen Dasein. Denn da wußte er: ich bin in meinem Geistig-Seelischen.

Schematisch gezeichnet: Der Mensch schaute also heraus (gelb). Statt dessen lernte er hineinschauen (rot). Aber in diesem Hineinschauen

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wurde er gewahr desjenigen, was eingezogen ist in den Menschen als das vorirdische Dasein (grün), was hineingezogen ist durch Auge, Ohr, Haut und so weiter. Da hatte er sein vorirdisches Dasein. Und jetzt wurde ihm gesagt: nun erst würde er kennenlernen dasjenige, was wir heute Naturwissenschaft nennen würden. Wenn wir heute Natur­wissenschaft lernen, wie tun wir das? Wir tun es so, daß wir dazu ge­führt werden, die Dinge der Natur anzuschauen, zu beschreiben und so weiter. Aber das ist ja so, wie wenn ich einen Menschen lange ge­kannt hätte, ich ihn wiedersehen soll, und jemand würde mir auf­erlegen: du mußt aber alles vergessen, was du mit diesem Menschen gemeinschaftlich gehabt hast, wenn du ihn jetzt wiedersiehst; du darfst dich an gar nichts erinnern, was du mit ihm gemeinschaftlich gehabt hast. - Denken Sie - das ist gar nicht auszudenken -, wenn das zum Beispiel Eheleuten auferlegt würde, daß sie, wenn sie sich irgendeinmal nach längerer Zeit wiederum sehen, alles vergessen, was sie irgendwie miteinander durchgemacht haben! Ja, ich kann mir schon denken, daß es zuweilen auch angenehm sein dürfte; aber das Leben könnte unter solchen Voraussetzungen nicht bestehen. Das aber wird dem modernen Menschen einfach durch die Zivilisationsordnung auferlegt. Denn der Mensch hat die Reiche der Natur kennengelernt, kennengelernt von

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ihrer geistigen Seite, bevor er heruntergestiegen ist auf die Erde. Wäh­rend man heute den Menschen dazu anleitet, all das zu vergessen, was er, bevor er heruntergestiegen ist, gelernt hat über Mineralien, über Pflanzen, über Tiere, machte man den alten Eingeweihten in dem so­genannten ersten Mysteriengrad darauf aufmerksam: Du siehst jetzt den Quarz. - Und nun tat man alles, damit er sich erinnere, was er, bevor er heruntergestiegen war, vom Quarz wußte, oder was er von der Lilie oder von der Rose wußte. Wiedererkennen war dasjenige, was als Naturwissen beigebracht wurde. Und hatte jemand so Natur-lehre gelernt als ein Wiedererkennen dessen, was er angeschaut hatte, bevor er ins irdische Leben heruntergestiegen war, dann wurde er auf­genommen in den zweiten Grad.

Im zweiten Grad lernte man Musik, das, was dazumal Architektur war, was dazumal Geometrie war, Meßkunde und so weiter. Denn was enthielt dieser zweite Grad? Dieser zweite Grad enthielt alles das, was der Mensch dann wahrnimmt, wenn er nun nicht bloß durch die Augen hineinschaut in sich, durch die Ohren hineinhört, sondern wenn er wirk­lich nun in sich hineinsteigt. Dann sagte man dem Einzuweihenden: Du kommst in die menschliche Tempelgrotte. Diese menschliche Tempel-grotte lernte er kennen. Sie war dasjenige, was physisch durchdrungen wurde von den geistig-seelischen Kräften, aus denen der Mensch be­stand, bevor er zum Erdenleben heruntergestiegen war. Da drang er in sich selber nun ein. Drei Kammern hat diese Tempelgrotte, sagte man ihm. Die eine Kammer war die Kammer des Denkens: da lernte man erkennen alles das - ja, wenn man es von außen anschaut, ist es der Kopf. Der ist klein. Wenn man hineinsteigt und ihn von innen anschaut, dann ist er so groß wie die Welt, und dann lernt man sein Geistiges kennen. Das war die erste Kammer, die zweite Kammer war diejenige, wo man das Fühlen kennenlernte. Die dritte Kam­mer war diejenige, wo man das Wollen kennenlernte. Und so lernte man erkennen, wie der Mensch organisiert ist in seinen Denk-, Fühl-und Willensorganen, da lernte man erkennen das, was auf Erden Geltung hat.

Naturwissen hat nicht bloß auf Erden Geltung. Naturwissen erwirbt man schon, bevor man auf die Erde heruntersteigt. Hier soll man sich

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daran erinnern. Häuser werden nicht gebaut drüben in der geistigen Welt wie mit der Erdenarchitektur. Musik ist drüben, aber geistiges Melos. Was irdische Musik ist, das ist herunterprojiziert in die irdische Luft; sie ist eine Projektion der himmlischen Musik, aber wie sie der Mensch erlebt, ist sie irdisch. Ebenso ist es, wenn wir auf der Erde messen. Wir messen den Erdenraum; Meßkunst, Geometrie ist Erden-wissenschaft. Das war wichtig für den im zweiten Grad zu Initiieren-den, überhaupt aufmerksam darauf gemacht zu werden, daß ja alles Reden von Erkennen mit bloßen Erdenmitteln, wenn es sich nicht auf die Geometrie, Architektur und Meßkunde bezieht, Unsinn ist. Daß eine wirkliche Naturkunde das wiedererinnerte vorirdische Wissen sein muß, das lernte er erkennen. Und daß für die Erde eben Geometrie, Architektur, Musik, Meßkunde die Wissenschaften sind, die hier ge­lernt werden können. Da also stieg der Mensch in sich selber hinunter, lernte den dreikammerigen Menschen kennen gegenüber der einen Erdeninkarnation, die man sonst kennt, wenn man, ohne in den Men­schen hineinzusteigen, den Menschen von außen kennenlernt.

Und im dritten Grad lernte man den Menschen kennen, wenn er nun nicht bloß in sich untertaucht, sich als Geistiges erkennen lernt, son­dern wenn dieses Geistige noch den Leib kennenlernt. Daher war dieser dritte Grad in allen alten Mysterien der, den man nennen mußte die Pforte des Todes. Da wurde der Mensch gewahr, wie man ist, wenn man den Erdenleib abgelegt hat. Nur besteht ein Unterschied zwischen diesem wirklichen Sterben und dem Eingeweihtensterben. Warum die­ser Unterschied bestehen muß, werde ich noch in den nächsten Vor­trägen auseinandersetzen; jetzt will ich nur die Tatsachen hervor­heben.

Wenn man wirklich stirbt, legt man seinen physischen Leib ab. Man ist nicht mehr an ihn gebunden und folgt nicht mehr den irdischen Kräften, man ist befreit von ihnen. Wenn man aber noch gebunden ist an seinen physischen Leib, wie es bei der Initiation in alten Zeiten der Fall war, dann muß man das, was man im Tode von selber hat, dieses Freisein vom Leibe, durch innere Kraft erringen, man muß sich für eine gewisse Zeit frei halten. Das war für die Initiation notwendig, diese starken inneren Seelenkräfte zu erringen, durch die man sich in der

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Seele frei halten konnte von dem physischen Leib. Und diese Kräfte, die einem also die Macht gaben, sich frei zu halten vom irdischen Leib, diese Kräfte, die gaben einem höhere Erkenntnis in bezug auf das, was man durch die Sinne niemals sehen kann, durch den Verstand niemals denken kann. Sie versetzen einen als Mensch in die geistige Welt, wie man durch seinen physischen Leib als Mensch in die physische Welt versetzt ist. Aber dann war man ja so weit, daß man sich als geistig-seelischer Mensch, als Initiierter, schon während des Erdendaseins er­kannte. Von da ab war die Erde ein außer dem Menschen befindlicher Stern für den Initiierten, und er mußte vor allen Dingen in den älteren Mysterien mit der Sonne leben statt mit der Erde. Er wußte, was er von der Sonne hat, wie die Sonnenkräfte in ihm wirken.

Auf diesen dritten Grad, den ich eben beschrieben habe, folgte dann der vierte. Dieser vierte Grad wirkte etwa in der folgenden Art auf die Einzuweihenden. Wenn man auf der Erde ißt, weiß man, man ißt Kohl, Wildbret, man trinkt alles mögliche: man weiß, das ist jetzt draußen, das ist dann drinnen. Man atmet Luft: die ist erst draußen, dann drinnen, dann wieder draußen. Man steht mit den Erdenkräften so in Verbindung, daß man die Erdenkräfte und Substanzen, die sonst draußen sind, in sich trägt. Du bist, ehe du eingeweiht bist - so machte man dem alten zu Initiierenden klar - ein Erdenträger, ein Kohlträger, ein Wildbretträger, ein Schweinefleischträger und so weiter. Wenn du aber im dritten Grad eingeweiht warst und nun dasjenige dir über­mittelt wird, was dir übermittelt werden kann, wenn du frei geworden bist vom Leibe, dann wirst du nicht sein ein Kohlträger, ein Schweine­fleischträger, ein Kalbfleischträger, sondern dann wirst du sein ein Träger dessen, was dir die Sonnenkräfte geben. - Und das, was geistig die Sonnenkräfte geben, das nannte man überall in den Mysterien Christos. Daher wurde derjenige, der über die drei Grade hinaus­gekommen war und sich nun ebenso, wie er sich auf Erden fühlen konnte als Kohlträger, sich fühlen konnte als ein Träger der Sonnen-kräfte, er wurde ein Christophor, ein Christophorus genannt. Das war in den meisten alten Mysterien die Bezeichnung für den, der nun im vierten Grade war.

Im dritten Grade mußte man gewisse Dinge begreifen. Vor allen

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Dingen mußte man in diesem dritten Grade begreifen, daß die Begierde nach dem physischen Leib aufhören muß für die Momente der Erkennt­nis, daß eine klare Anschauung darüber da sein muß, daß der Mensch seinem physischen Leibe nach der Erde angehört, aber eigentlich die Erde nur zum Zerstören dieses physischen Leibes hat, nicht zum Auf­bauen. Jetzt lernte er erkennen die aufbauenden Kräfte, die aus dem Kosmos stammen. Nun aber lernte er noch etwas kennen. Er lernte kennen, gerade wenn er ein Christophor wurde, daß auch in den Stoffen der Erde geistige Kräfte wirken, die nur nicht sichtbar sind für das irdische Anschauen. Und hätte man in den heutigen Worten zu dem Menschen der damaligen Zeit gesprochen - dem Sinne nach wurde schon zu ihm so gesprochen, aber ich kann Ihnen die Dinge nur mit den heutigen Worten sagen, nicht mit den damaligen -, ihm wäre fol­gendes klargemacht: Willst du die Stoffeslehre kennen, wie sich die Stoffe verbinden und voneinander trennen, so mußt du auf die geistigen Kräfte, die vom Kosmischen die Stoffe durchdringen, hin­schauen. Das kannst du gar nicht, wenn du uneingeweiht bist. Du mußt im vierten Grad eingeweiht sein. Du mußt mit den Kräften des Sonnen-seins schauen können, dann kannst du Chemie studieren.

Nun denken Sie sich, wenn man heute einem Pharmazeuten oder einem Chemiker, der Doktor werden will, die Verpflichtung auferlegen würde, er solle erst sich den Kräften der Sonne gegenüber so fühlen, wie er sich dem Kohl der Erde gegenüber fühlt: denken Sie, wie wahn­sinnig dies schiene! Aber das waren ja Realitäten. Und dies wurde den Menschen klar: mit all den Kräften, die im Leibe leben, und deren man sich im gewöhnlichen Erkennen bedient, kann man nur Geometrie, Meßkunde, Musik und Architektur studieren. Man kann nicht Chemie studieren mit diesen Kräften. Wenn man heute Chemie studiert, so redet man eben äußerlich. Aber so ist es: alles Reden von Chemie von der Zeit ab, wo die alte Initiationsweisheit verlorengegangen ist, ist ja ganz äußerlich. Es ist für den, der wirklich erkennen will, sogar zum Verzweifeln, die heutige offizielle Chemie kennen zu müssen, denn sie beruht nur auf Angaben, nicht auf einem innerlichen Durchschauen der Sache. Würden die Menschen unbefangen sein, so würden sie eben sagen: Da ist doch noch etwas anderes notwendig, da muß man anders

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erkennen können, wenn man Chemie studieren will. Und es ist eben die heutige Feigheit des Erkennens, die dem Menschen eingepflanzt wird, die ihn nicht zu einem solchen Impuls kommen läßt.

Dann, wenn der Mensch so weit reif war, war er reif, Astronomus zu werden, was ein noch höherer Grad war. Denn die Sterne von außen kennenlernen durch Rechnung und dergleichen, das galt als absolut wesenlos. In den Sternen leben geistige Wesen; die kann man nur erkennen, wenn man das leibliche Anschauen überwunden hat, wenn man aber auch die Geometrie überwunden hat, wenn man tatsächlich im Weltenall leben kann und das Geistige der Sterne kennenlernen kann. Dann aber war der Mensch ein Auferstandener. Dann konnte er wirklich sehen, wie hereinwirkten auch in den irdischen Menschen die Mondenkräfte und die Sonnenkräfte.

So mußte ich Ihnen heute von zwei Seiten her nahelegen, wie in den alten Mysterien - nicht zu einer bestimmten Jahreszeit, sondern in einem bestimmten Entwickelungsgrad des Menschen - innerlich Ostern erlebt wurde: Ostern als das Auferstehen des geistig-seelischen Men­schen aus dem physischen Leibe im geistigen Weltenall. So haben die­jenigen, die noch von Mysterienwissen etwas gewußt haben zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, dieses Mysterium von Golgatha ange­schaut. Sie haben gesagt: Was wäre aus der Menschheit geworden, wenn das Mysterium von Golgatha nicht gekommen wäre? In alten Zeiten gab es die Möglichkeit, eingeweiht zu werden in die Geheimnisse des Kosmos, denn in ganz alten Zeiten erlebte der Mensch wie selbst­verständlich seine zweite Geburt um das dreißigste Jahr herum. Dann wenigstens gab es noch Erinnerungen und eine Mysterienschulwissen-schaft, die in der Tradition das erhalten hatte, was in älteren Zeiten erlebt wurde.

In der Zeit, als das Mysterium von Golgatha auftrat, da war das alles verweht und vergessen. Da wäre die Menschheit völlig in die Dekadenz gekommen, wenn nicht die Macht, zu der sich die Mysterien-Eingeweihten erhoben hatten, wenn sie Christophor geworden sind, wenn nicht diese Macht in den Jesus von Nazareth heruntergestiegen wäre, so daß sie seither auf der Erde da ist, und der Mensch durch den Christus-Jesus mit dieser Kraft verbunden sein kann.

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So hängt dasjenige, was heute im Osterfest uns vor Augen tritt, zu­sammen mit einem Stück Mysteriengeschichte. Man wird eigentlich nur den Inhalt des Osterfestes gewahr, wenn man dieses alte Stück Mysteriengeschichte wieder belebt. Und man wird nun wenigstens in die Nähe kommen - das soll dann der Gegenstand der weiteren Betrachtungen sein -, man wird, wie Sie einsehen können, wenigstens demjenigen nahe kommen, was noch ein alter zu Initiierender erlebt hat. Er konnte sich sagen: Wie Sonne und Mond in mir wirken in ihrem gegenseitigen himmlischen Verhältnisse, dessen bin ich mir durch die Ein­weihung klar geworden; denn nun weiß ich: daß ich in einer gewissen Weise gestaltet bin als physischer Mensch, daß ich so und so geartete Augen, eine so geartete Nase, eine so geartete ganze Körperform innen und außen habe, daß diese Körperform wachsen konnte, heute noch immer wächst in der Ernährung, das hängt von den Mondenkräften ab. Von ihnen hängt alle Notwendigkeit ab. Daß ich mich als freies inneres Wesen innerhalb meiner Körperlichkeit rühren kann, mich selber um­bilden kann, mich in der Hand habe, das hängt von den Sonnenkräften, von den Christuskräften ab. Sie muß ich in mir rege machen, wenn ich auch wissentlich das, was sonst die Sonnenkräfte in mir wiederum durch eine Notwendigkeit bewirken müssen, in mir selber erarbeitend gestalten will.

So werden wir auch begreifen, wie heute noch der Mensch hinauf-schaut zu Sonne und Mond und aus ihrer gegenseitigen Konstellation die Zeit des Osterfestes bestimmt. Das ist das, was noch übrig geblieben ist, daß man rechnet: Wann ist der erste Sonntag nach dem ersten Voll-mond nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche? Auf den auf den ersten Vollmond folgenden Sonntag setzt man das Osterfest des Jahres fest, andeutend damit - ich will das morgen dann weiter ausführen -, daß man in der Gestaltung, in der Struktur des Osterfestes etwas sieht, was von oben, vom Kosmos aus bestimmt werden muß.

Aber der Ostergedanke muß wieder erfaßt werden. Er kann nur erfaßt werden, wenn man schaut auf das alte Mysterienwesen, das zunächst den Menschen aufmerksam machte, wie es ist, wenn er in sich hineinschaut: die Pforte des Menschen! wenn er in sich hineindringt, sich innerlich durchlebt: dreikammeriger Innenmenschl wenn er sich

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freimacht: Pforte des Todes! wenn er frei sich in der geistigen Welt bewegt: er wird ein Christophor.

Die Mysterien selbst sind ja zurückgegangen in der Zeit, in der die menschliche freie Entwickelung Platz greifen mußte. Nun ist die Zeit gekommen, in der die Mysterien wieder gefunden werden müssen. Sie müssen wieder gefunden werden. Dessen muß man sich voll bewußt sein, daß heute Anstalten dazu gemacht werden müssen, die Mysterien wieder zu finden.

Aus diesem Bewußtsein heraus ist die Weihnachtstagung gehalten worden, denn es ist eine dringende Notwendigkeit, daß auf der Erde eine Stätte ist, wo wiederum Mysterien begründet werden können. Die Anthroposophische Gesellschaft muß in ihrem weiteren Fortgange der Weg zu den erneuerten Mysterien werden. Das, meine lieben Freunde, wird mit Ihre Aufgabe sein: aus dem rechten Bewußtsein heraus dabei mitzuwirken. Dazu aber wird das Menschenleben betrachtet werden müssen nach seinen drei Etappen: nach derjenigen Etappe, wo man in den Menschen hineinschaut, nach derjenigen Etappe, wo man nach dem Innern des Menschen hineinstrebt, nach der Etappe, wo man im Be­wußtsein so wird, wie sonst in äußerer Realität nur im Tode.

Und ich möchte sagen, als Merkzeichen wollen wir von dieser Stunde, die heute gehalten worden ist, die Worte mit hinwegtragen, in unserer Seele wirksam sein lassen:

Steh vor des Menschen Lebenspforte;

Schau an ihrer Stirne Weltenworte.

Leb in des Menschen Seeleninnern;

Fühl in seinem Kreise Weltbeginnen.

Man sieht sonst nicht immer das Weltbeginnen, sondern nur irgend etwas innerhalb der Welt -

Denk an des Menschen Erdenende;

Find bei ihm die Geisteswende.

Das sei der Extrakt der heutigen Stunde:

Steh vor des Menschen Lebenspforte;

Schau an ihrer Stirne Weltenworte.

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Leb in des Menschen Seeleninnern;

Fühl in seinem Kreise Weltbeginnen.

Denk an des Menschen Erdenende;

Find bei ihm die Geisteswende.

DRITTER VORTRAG Dornach, 21. April 1924

#G233-1962-SE282 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

#TI

DRITTER VORTRAG

Dornach, 21. April 1924

#TX

Ich möchte nun, dasjenige weiter ausführend, was ich in diesen Tagen besprochen habe, heute hinweisen auf den astronomischen Aspekt des Osterfestes. Um auf diesen astronomischen Aspekt des Osterfestes hinweisen zu können, ist es nötig, einige der Tatsachen zu berühren, welche sich auf das sogenannte Mondgeheimnis beziehen.

Es wurde zu allen Zeiten, in denen man von Mysterienweisheit gewußt hat, von dem Mondengeheimnisse gesprochen und dieses Mon­dengeheimnis in Zusammenhang gebracht mit dem Wesen des Men­schen, insofern der Mensch zusammenhängt mit dem ganzen Kosmos. Dessen müssen wir uns ja klar sein, daß der Mensch seiner vollen Wesenheit nach mit dem ganzen Kosmos zusammenhängt, wie er in bezug auf seinen physischen Leib mit der Erde zusammenhängt. Nun haben es ja die Zeiten des Materialismus mit sich gebracht, daß von den Weiten des Kosmos, die sich in ihrer Geistigkeit ausleben in den Formen der Sterngruppen, in den Bewegungen der Sterne, daß von dieser Geistigkeit des Kosmos im menschlichen Bewußtsein nichts zu­rückgeblieben ist außer der äußeren Erscheinung der Sterne, den Be­rechnungen der Sternbewegungen, wenn die Sterne Wandelsterne und so weiter sind.

Alles das nimmt sich ja so aus, wenn man es in dem Sinne betrachtet, wie man heute Astronomie studiert, wie wenn man mit voller Unbe­wußtheit darüber, daß den menschlichen physischen Organismus ein Geistig-Seelisches durchdringt, bloß die Maßverhältnisse und die äuße­ren Bewegungsverhältnisse dieses menschlichen Organismus ins Auge fassen würde und eben ganz vergessen würde, daß in diesen Maß-, in diesen Bewegungsverhältnissen innerlich Geistig-Seelisches zum Aus­druck kommt.

Nun, im Menschen kommt ein einheitliches, vom Ich zusammen-gehaltenes Geistig-Seelisches zum Vorschein. Vom ganzen Welten-Organismus kommt für die geistige Betrachtung nicht ein einheitliches Geistig-Seelisches zum Ausdrucke, sondern eine Vielheit, eine unermeßlich,

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unbegrenzt große Vielheit von geistigen Wesenheiten, die sich äußern durch die Formen der Sterngruppen, durch die Bewegungen der Wandelsterne, durch das ausstrahlende Licht der Sterne, und so weiter.

Alles das, was so in den Sternen lebt an Vielheit in Geistigkeit, das steht mit dem Menschen innerlich in einem solchen Zusammenhange, wie dasjenige, was an Substanzen in der Erdenumgebung zur mensch­lichen Nahrung werden kann, mit dem physischen Menschen von der Erde aus im Zusammenhang steht. Und mit der nächsten Beziehung des Menschen zum Weltenall hat eben das zu tun, was man das Mondengeheimnis nennen kann.

Wenn man äußerlich den Mond betrachtet, so erscheint er ja für das Irdische sich darstellend in einer Metamorphose. Wir schauen den Mond etwa so, wie wir ihn jetzt schauen, als volle Scheibe leuchtend. Wir schauen dann den Mond, indem wir annehmen, daß er teilweise beleuchtet ist, halb beleuchtet ist, viertel beleuchtet ist. Wir haben auch jene Erscheinung des Mondes, wodurch er uns dem äußeren Anblicke nach sich ganz entzieht, was man ja dann als Neumond bezeichnet. Und wir haben wiederum das Zurückkommen zu dem Vollmonde.

Das alles wird heute nur so erklärt, als wenn man im Monde irgend­einen Körper hätte, der da draußen im Weltenraume herum sich be­wegt, und der von der Sonne in verschiedenen Richtungen beleuchtet wird, so daß er uns dann für den Anblick verschiedene Gestaltungen zeigt. Aber damit ist das, was der Mond für die Erde, namentlich für die Menschheit der Erde ist, nicht erschöpft; sondern wir müssen uns insbesondere beim Monde klar werden darüber, daß, wenn wir auf etwas hinschauen, was sich uns in physischen Oberflächen so vernehm­lich darstellt wie der Vollmond, was uns also einen physischen Aspekt darbietet, das in dieser Erscheinung etwas ganz anderes ist, als wenn es sich uns zeigt wie der Neumond, der sich äußerlich physisch aller­dings durch die mit ihm zusammenhängenden Weltenverhältnisse nicht unmittelbar äußern kann. Aber wir dürfen auch nicht der Anschauung sein, daß wenn dieser Mond sich nicht äußert als Erscheinung, er dann in seiner Wirkung nicht da sei. Wenn wir aus dem Weltenzusammen-hang das Bewußtsein haben müssen: es ist Neumond, ja, dann ist eben

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der Mond auf eine unsichtbare und deshalb geistigere Weise da, als wenn er uns im physischen Lichte als Vollmond erscheint. Der Mond ist also einmal in voll physischer Art, das andere Mal in voll geistiger Art vorhanden, so daß wir fortwährend den rhythmischen Wechsel haben zwischen physischer Mondenäußerung und geistiger Monden-äußerung.

Nun müssen wir, wenn wir verstehen wollen, um was es sich dabei eigentlich handelt, zurückblicken auf jene Tatsachen, die Sie ja aus der Darstellung kennen, die Sie auch in meinem Umriß einer Geheim-wissenschaft finden.Wir müssen auf diese Darstellung uns besinnen. Der Mond war einmal in der Erde drinnen. Er gehörte zum Erdenkörper. Er ist aus dem Erdenkörper herausgegangen, ist Nebenplanet - wie man sagt - der Erde geworden, hat sich also abgespalten von der Erde und umkreist die Erde. Er hat Wirkungen von der Erde aus auf den Menschen geäußert in der Zeit, da er mit der Erde verbunden war.

Der Mensch war natürlich ein ganz anderes Wesen, als er auf einer Erde stand und sich entwickelte, die den Mond noch im Leibe hatte. Die Erde ist um dasjenige, was der Mond ist, verarmt, als dieser Mond von der Erde herausgegangen war, und der Mensch wird mit den an­deren Kräften, seither eben mit den bloßen Erdenkräften, nicht mehr mit den Erden- und Mondenkräften, nach unten hin von der Erde ge­staltet, festgehalten. Dasjenige dagegen, was, als der Mond noch in der Erde war, auf den Menschen von innen heraus aus der Erde wirkte, das wirkt, nachdem der Mond außen ist, von außen herein, vom Monde herein auf den Menschen. So daß man sagen kann: die Mondenkräfte durchstrahlten einmal den Menschen, indem sie zuerst auf seine Glied-maßen, auf Füße und Beine auftrafen, und dann ihn von unten nach oben durchströmten. Seit dem Herausgang des Mondes aus der Erde wirken die Mondenkräfte umgekehrt, vom Haupte des Menschen nach unten. Damit haben diese Mondenkräfte aber eine ganz andere Auf­gabe für den Menschen erhalten als sie früher hatten.

Wodurch kommt denn diese Aufgabe nun zum Vorschein? Diese Aufgabe kommt dadurch zum Vorschein, daß der Mensch ja ganz be­stimmte Erlebnisse hat, wenn er aus dem vorirdischen Dasein herun­tersteigt zum irdischen Dasein. Wenn der Mensch die Zeit zwischen

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dem Tode und einer neuen Geburt durchgemacht hat, wenn er in bezug auf Seelisch-Geistiges alles absolviert hat, was zu absolvieren ist zwi­schen dem Tode und einer neuen Geburt, da schickt sich der Mensch an zum Heruntersteigen zur Erde, zum Sichverbinden mit dem, was ihm von Vater und Mutter an Physisch-Körperlichem übergeben wird. Aber ehe er von seinem Ich und von seinem astralischen Leibe aus die Mög­lichkeit finden kann, sich mit dem physischen Leibe zu verbinden, muß er sich mit einem Ätherleib umkleiden, den er aus der Umgebung des Kosmos heranzieht.

Dieser Vorgang hat sich gründlich verändert seit der Zeit, da der Mond von der Erde ausgetreten ist. Als der Mensch vor dem Monden­ausgange, nachdem er das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt absolviert hatte, sich der Erde wieder näherte, da brauchte er Kräfte, durch die er den Äther, der ja in alle Welt zerstreut ist, um sich herum, um sein Ich und seinen astralischen Leib anordnen konnte in Form eines Ätherleibes. Diese Kräfte hat er bekommen beim Heran-nahen an das irdische Dasein von dem in der Erde befindlichen Monde heraus. Seit der Mond sich abgespalten hat, bekommt der Mensch diese Kräfte, die er braucht, um seinen Ätherleib zu bilden, von außerhalb der Erde, eben von dem von der Erde abgespaltenen Monde, so daß der Mensch unmittelbar vor seinem Eintritte in das irdische Leben an

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dasjenige appellieren muß, was in den Mondenkräften liegt, also an etwas Kosmisches, um seinen Ätherleib zu bilden.

Dieser Ätherleib muß nun so gebildet werden, daß er gewisser­maßen eine äußere und eine innere Seite hat. Stellen wir uns ganz schematisch diesen Ätherleib vor, wie er gebildet wird. Er hat eine Außenseite und er hat eine Innenseite. Also wir können uns vor­stellen, daß der Mensch seinen Ätherleib nach der Außen- und nach der Innenseite bildet.

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Wenn der Mensch das Äußere dieses Ätherleibes formt, so braucht er die Kräfte des Lichtes, denn der Ätherleib wird neben anderem Sub­stantiellen vorzugsweise aus dem flutenden Lichte des Kosmos gebildet. Aber Sonnenlicht ist dafür nicht brauchbar. Sonnenlicht kann nicht Kräfte liefern, welche den Menschen befähigen können, seinen Ätherleib zu formen. Dazu ist notwendig das von der Sonne nach dem Monde scheinende und von dem Monde wiederum zurückstrahlende Licht, das dadurch wesentlich verändert ist. Aber all das Licht, das uns vom Monde zukommt, das überhaupt vom Monde aus hinausstrahlt in den Kosmos, das enthält die Kräfte, durch welche der Mensch beim Hinuntersteigen imstande wird, die äußere Seite seines Ätherleibes zu bilden. Dagegen alles das, was geistig vom Monde ausstrahlt, wenn Neumond ist, das strahlt die Kräfte in den Kosmos, die der Mensch braucht, um die Innen­seite seines Ätherleibes zu bilden. So daß es also mit diesem Rhythmus zwischen äußerer Lichterscheinung des Mondes und Dunkelwerden des

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Mondes zusammenhängt, daß der Mensch Außenseite und Innenseite seines Ätherleibes bilden kann.

Nun hängt aber dasjenige, was da gewissermaßen die Mondenkräfte für den Menschen vollbringen, damit zusammen, daß ja der Mond wirklich nicht bloß der physische Körper ist, von dem die heutige Naturkunde fabelt, sondern daß der Mond eben durchaus überall durchsetzt ist von Geistigkeit, daß auch der Mond eine Vielheit von geistigen Wesen enthält.

Ich habe an verschiedenen Orten auseinandergesetzt, wie der Mond sich einmal getrennt hat von der Erde, wie aber nicht nur physische Materie hinausgeströmt ist in den Weltenraum, sondern wie jene alten, auf der Erde lebenden Wesenheiten, die nicht in einem physischen Leibe, aber in geistiger Form auf der Erde gelebt haben und welche die Urlehrer der Menschheit waren, mit dem Monde hinausgezogen sind in das Weltenall, dort eine Art Mondenkolonie gegründet haben, so daß wir also zu unterscheiden haben am Monde dessen Physisch­Ätherisches und dessen Geistig-Seelisches, nur daß das Geistig-Seelische eben auch keine Einheit, sondern eine Vielheit ist.

Nun hängt das ganze Leben der Geistigkeit im Monde ab von der Art und Weise, wie die im Monde befindlichen Wesenheiten von ihrem Mondstandpunkte aus, von ihrem Mondgesichtspunkte aus rings herum die Welt schauen, rings herum die Welt ansehen. Und wenn ich mich bildhaft ausdrücken darf, so möchte ich sagen, die geistigen Wesen­heiten des Mondes richten ihr Auge zunächst auf das, was ihnen das wichtigste ist, auf die Wandelsterne, die zu unserem Planetensystem gehören. Alles, was auf dem Monde geschieht, was auch dazu geschieht, daß der Mensch die Kräfte richtig erhält, die er braucht, um seinen ätherischen Leib zu bilden, alles das hängt ab von den Beobachtungs-resultaten, zu denen die Wesen im Monde kommen, die sozusagen im Monde leben, und rings herum die Wandelsterne unseres Planeten­systems, Merkur, Sonne, Mond und so weiter betrachten.

Das war ein Wissen, welches in gewissen Mysterien vorhanden war. Ein altes Mysterienwissen gewisser Mysterienstätten war das, daß vom Monde aus die Konstellation, die Bewegungsverhältnisse des Planetensystems, das zu unserer Erde gehört, beobachtet und darnach

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die Taten der Mondwesen bestimmt wurden. Man drückte das da­durch aus, daß man gewissermaßen den Mond, als den Punkt, von dem aus gerade diejenigen Weltenverhältnisse bestimmt werden, die mit der Bildung des menschlichen Ätherleibes zusammenhängen, daß man diese Mondenkräfte ins Bewußtsein der Menschheit in Zusam­menhang mit den Kräften der anderen Wandelsterne hereinbrachte.

Und man tat das in den Wochentagen:

Mond: Mondtag, Montag

daß der Mond zu tun hat in seiner Beobachtung

mit Mars: Marstag, Dienstag

mit Merkur: Merkurstag, mercredi Mittwoch

dann weiter mit Jupiter:

Jupiterstag, Jupiter ist der deutsche Donar, Donnerstag

dann weiter mit Venus, das ist die deutsche Freya: Freitag

dann weiter mit Saturn: Saturnstag, saturday, Samstag

mit der Sonne selber, die mit ihren Kräften nicht

unmittelbar wirken kann auf die Bildung des Ätherleibes,

aber in der Rückstrahlung vom Monde wirkt: Sonntag

So gliederte man dem, was sich auf den Gesichtspunkt des Mondes bezog, dasjenige an, was in der Einteilung der Zeit den Planeten-zusammenhang in das Bewußtsein der Menschheit hereinbrachte. Und es wollte gewissermaßen gesagt sein im alten Mysterienwesen: Mensch, erinnere dich, daß du, bevor du heruntergestiegen bist auf die Erde, Kräfte brauchtest, die auf dem Monde dadurch ausgebildet werden, daß von den Mondenwesen hingeblickt wird auf die anderen Planeten des Planetensystems. Dem, was der Mond hat von Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag und so weiter, dem verdankst du die besondere Konfiguration, die dein ätherischer Leib beim Herabstieg in das irdische Leben annehmen kann.

Und so haben wir einmal auf der einen Seite den rhythmischen Gang des Mondes durch Licht und Dunkelheit um unsere Erde herum, auf der anderen Seite im Menschenbewußtsein verzeichnet die ganze Planetenfolge. Ja, die Mysterien gaben dazu auch noch dieses, daß

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gesagt wurde: Dadurch, daß die Mondenwesen hinblicken können nach dem Mars, bekommt der Mensch die Fähigkeit zur Sprache in seinen Ätherleib hineinorganisiert. Dadurch, daß die Mondenwesen hinblicken können auf den Merkur, bekommt der Mensch die Fähig­keit der Bewegung in seinen Ätherleib hineinkonzentriert.

Wenn man mit diesen Mondengeheimnissen nun sprechen will, so kann man das in einer ganz anderen Form: dann wird Eurythmie aus der Sprache. Man kann sagen, Eurythmie wird aus der Sprache, wenn man - nachdem man die Geheimnisse der Sprache dadurch erforscht hat, daß man sich von den Mondenwesen sagen ließ, was sie, auf den Mars hinschauend, für Beobachtungen machen - nun auch erforscht, wie sich diese Beobachtungen verändern, wenn die Mondenwesen nach dem Merkur hinschauen. Wenn man also die Marserfahrungen der Mondwesen umwandelt in die Merkurerfahrungen der Mondwesen, dann bekommt man aus der Lautsprachenfähigkeit im Menschen die eurythmische Fähigkeit im Menschen. Das ist die Sache kosmisch aus­gesprochen.

Was den Menschen mit der Fähigkeit zur Weisheit durchströmt, das bekommt man durch die Erfahrungen der Mondwesen mit Jupiter.

Was den Menschen durchströmt an Liebe und Schönheit in seiner Seele, bekommt man durch die Erfahrungen der Mondenwesen mit Venus.

Dasjenige, was von den Mondenwesen erfahren wird durch die Beobachtung des Saturn, das gibt die innere Seelenwärme für den Menschen in seinen Ätherleib hinein. Und dasjenige, was abgehalten werden muß, gewissermaßen weggedrängt werden muß, damit es die Bildung des Ätherleibes nicht stört unmittelbar vor dem Herunter-stieg auf die Erde, das ist, was von der Sonne herrührt. Von der Sonne oder von dem Anblick der Sonne rührt also alles dasjenige her, vor dem der Mensch geschützt werden muß, damit er ein geschlossener Mensch werden ann durch Einbildung des Ätherleibes, also durch schützende Kräfte.

Auf diese Weise, kann man sagen, lernt man erkennen, was auf dem Monde geschieht. Dann lernt man dadurch auch erkennen, wie dieser menschliche Ätherleib geformt, gebildet wird, wenn der Mensch heruntersteigt

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aus dem vorirdischen Dasein in das irdische Dasein. Das sind die Dinge, die sich auf das Mondengeheimnis beziehen.

Ja, solche Dinge kann man heute erzählen. In gewissen älteren Mysterien wurden sie nicht bloß erzählt, sondern sie wurden erlebt, richtig erlebt. Und sie wurden so erlebt, daß man das, was ich Ihnen da an die Tafel geschrieben habe, nicht bloß wußte, sondern daß man es innerlich erfuhr:

Mondtag

Dienstag Sprache

Mittwoch Bewegung

Donnerstag Weisheit

Freitag Liebe, Schönheit

Samstag innere Seelenwärme

Sonntag schützende Kräfte

Man konnte durch die Einweihung in die Mysterien, von denen ich Ihnen gestern gesprochen habe, herauskommen von dem bloßen Hin­ausschauen durch die Augen, Hinaushören durch die Ohren für die physische Erdenumgebung; man konnte frei werden, konnte sich fern­halten von dem physischen Leib und nur leben im Ätherleib. Wenn man aber lebte im Ätherleibe, dann lebte man mit all dem. Dann lebte man nicht mit der Sprache, die sich durch den Kehlkopf formt, sondern man lebte mit der Sprache, die im Mars als Weltensprache ertönt. Man bewegte sich in dem Sinne, wie Merkur die Bewegungen im Kosmos lenkte; man bewegte sich nicht mit Füßen und Beinen, sondern man bewegte sich im Sinne desjenigen, wie Merkur die Bewegungen des Menschenwesens lenkt. Man hatte auch nicht die mit solcher Mühe in der kindlich-jugendlichen Entwickelung erlangte Weisheit, die ja in der materialistischen Zeit eigentlich eine Unweisheit ist, sondern man lebte direkt in der Weisheit des Jupiter darinnen; aber man lebte in der Weisheit des Jupiter dadurch, daß man sich vereinigen konnte mit den Mondenwesen, die den Jupiter beobachteten. Man war eigentlich, in­dem man in dieser Weise eingeweiht wurde, ganz in dem monden-strahlenden Lichte darinnen. Man war weggegangen von der Erde. Man war nicht Wesen in Fleisch und Blut auf der Erde, man war weggegangen

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von der Erde, und man lebte als ein Wesen im Mondenlichte, aber im konfigurierten Mondenlichte, im Mondenlichte, das modifiziert wurde durch das, was in den anderen Planeten unseres Planetensystems lebte.

Man wurde da für die Zeit der geistigen Beobachtung in solchen Mysterien eben ein Lichtwesen des Mondes, und zwar nicht wie irgend etwas, was symbolisch ist, oder etwas, was abstrakt vorzustellen ist, sondern wie der Mensch, wenn er heute einen Gang nach Basel hinein und wieder zurück macht, sich der Wirklichkeit bewußt ist und weiß, daß er da etwas Wirkliches erlebt hat, so war man sich auch der Wirk­lichkeit bewußt, wenn man durch die Einweihungshandlung den Be­such gemacht hatte bei den Mondenwesen. Man wußte, man hat Ab­schied genommen für eine Weile von seinem physischen Leibe, ist mit seinem Geistig-Seelischen in die Lichtsphäre des Mondes gezogen, hat einen Lichtleib um sich gehabt und, weil man vereinigt war mit den Mondenwesen, hat man hinausgeschaut in die Weiten des Planetari­schen und hat so nun wirklich beobachten können, was sich einem ent­hüllen konnte in den Weiten des Planetarischen.

Und was hat man beobachtet? Nun, da hat man hauptsächlich beob­achtet - das andere hat man mitbeobachtet, aber hauptsächlich hat man dieses beobachtet -, daß von der Sonne her die Kräfte von Wesen kom­men, die mit der Bildung des Ätherleibes des Menschen nichts zu tun haben dürfen. Man sah zur Sonne hin wie zu etwas, was für den Äther-leib etwas Auflösendes, etwas Zerstörendes hatte. Man wußte dadurch:

nicht vom Ätherleibe aus dürfen Kräfte gehen, welche von den Sonnen-wesen aufgenommen werden, sondern die müssen von den höheren Gliedern der Menschennatur ausgehen, vom Ich und vom astralischen Leibe. Nur darauf dürfen die Sonnenkräfte wirken. Also man wußte:

man wendet sich nicht zur Sonne für den Ätherleib des Menschen; für den Ätherleib wendet man sich zu den Planeten. Zur Sonne wendet man sich für den Astralleib und namentlich für das Ich des Menschen. Das wußte man: für die ganze innere Kraft des Ich muß man sich an die Sonne wenden. Das war das zweite, was bei dieser auf das Mond-geheimnis rekurrierenden Einweihung da war. Es war das zweite, daß man wußte: für den Ätherleib gehört man dem Planetensystem an;

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man schaut aber für die Durchkraftung namentlich seines Ichs und auch des astralischen Leibes auf die Sonne hin.

So war eigentlich diese Einweihung, daß man selber eins wurde mit dem Mondenlichte, aber durch das Mondenlichtdasein des eigenen Wesens schaute man hinein in die Sonne.

Nun sagte man sich: Die Sonne sendet ihr Licht auf den Mond, weil sie es direkt dem Menschen nicht übergeben darf. Dann hat man das Mondenlicht im Verein mit den planetarischen Kräften. Aus denen bildet man seinen Ätherleib. - Dieses Geheimnis wußte derjenige, der in dieser Art eingeweiht war. Und so wußte er, inwiefern er die Kraft der geistigen Sonne in sich trug. Er hatte das geschaut. Er hatte ein Bewußtsein davon erlangt, inwiefern er die geistige Kraft der Sonne in sich trug. Und das war eben der Grad der Einweihung, durch den der Mensch ein Christus-Träger, das heißt, ein Sonnenwesen-Träger wurde, nicht ein Sonnenwesen-Empfänger, sondern ein Sonnenwesen-Träger. Wie der Mond selber, wenn er Vollmond ist, ein Sonnenlicht-Träger ist, so wurde der Mensch ein Christus-Träger, ein Christo­phorus. Diese Einweihung zum Christophor war also ein durchaus reales Erlebnis.

Nun stellen Sie sich dieses durchaus reale Erlebnis vor, durch das der Mensch gewissermaßen der Erde enteilte und sich als initiierter Erdenmensch hinauferhob zum Lichtwesen, dieses frühere, innere menschliche Ostererlebnis, denken Sie sich das umgestaltet zum kos­mischen Feste. In späteren Zeiten wußten die Menschen nichts davon, daß so etwas geschehen kann: daß der Mensch wirklich heraustreten kann aus dem Irdischen, sich mit dem Mondenhaften vereinigen und vom Monde aus die Sonne anschauen kann. Aber eine Erinnerung daran sollte erhalten werden, und diese Erinnerung ist im Osterfeste erhalten worden.

Denn wie der Mensch das alles erleben kann, das ging eben nicht über in das spätere, sich vermaterialisierende Bewußtsein, dagegen in eine abstrakte Vorstellung. Man schaute nicht mehr in sich hinein, so daß man sagte: Ich kann mit dem Mondenlichte mich vereinigen. Aber man sah auf den Mond hin, auf den Vollmond. Zum Vollmond sah man hinauf und sagte dann: Nicht ich entwickele mich da hinauf,

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sondern die Erde strebt dahin. - Wann strebt sie denn am meisten da­hin? Dann strebt sie am meisten dahin, wenn der Frühling beginnt, wenn die Kräfte, die vorher mit den Samen, mit den Pflanzen in der Erde drinnen waren, aus der Oberfläche der Erde hervorströmen. Sie werden auf der Erde zu Pflanzen, aber sie gehen weiter, sie strömen in die Weiten des Kosmos hinaus.

Man hat in alten Mysterien das Bild gebraucht: Wenn die inneren Kräfte der Erde durch die Pflanzenstengel, durch die Pflanzenblätter dasjenige heraustragen, was von der Erde ausstrahlt in den Kosmos, dann kann der Mensch am leichtesten die Monden-Sonneneinweihung erlangen und Christophor werden; denn dann schwimmt er gewisser­maßen aus den von der Erde im Frühling ausstrahlenden Kräften zum Monde hinauf. Aber er muß in das volle Mondenlicht kommen.

Das alles ging in die Erinnerung über, wurde aber abstrakt. «Er muß in das volle Mondenlicht kommen. » Also unterbewußt, nicht mehr klar wissend, daß dies menschliches Erlebnis werden konnte, wurde vorgestellt: Irgend etwas, nicht der Mensch selber, strömt gegen den Vollmond hin, der da der erste Vollmond ist, nachdem Frühlings-Anfang war. Und was kann dieser Vollmond jetzt tun? Er schaut die Sonne an, das heißt, er schaut zum ersten der Sonne geweihten Tag hin, zum ersten Sonntag, der auf ihn folgt. Wie früher der Christo­phorus, der Christophor, angeschaut hat vom Mondenstandpunkt aus

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die Sonnenwesenheit, so schaut jetzt der Mond die Sonne an, das heißt ihre Symbolisierung im Sonntag.

So haben wir also Frühlings-Anfang, 21. März: die Kräfte der Erde sprossen hinaus in das Weltenall. Man muß warten, bis der richtige Beobachter da ist, bis der Vollmond da ist.

21. März: Vollmond: Sonntag.

Was beobachtet er? Die Sonne. Man läßt den nächsten Sonntag darauf folgen als den Ostersonntag.

Also ist es eine abstrakte Zeitbestimmung, geblieben von einem ganz realen Mysterienvorgang, der in älteren Zeiten eben für viele Men­schen oftmals stattgefunden hat. Und so ist es wirklich bei diesem Osterfeste. Es stellt unser heutiges Frühlings-Osterfest einen Mysterien-vorgang dar, der schon überall im Frühling getan worden ist; aber es ist dies ein anderer Mysterienvorgang als derjenige, den ich vorgestern besprochen habe.

Der Mysterienvorgang, den ich vorgestern besprochen habe, ist der, welcher den Menschen dazu führte, das Todesereignis zu begreifen. Ich sagte: jener Auferstehungsgedanke, der dem Menschen begreiflich gemacht wurde durch so etwas wie die Adonisfeier im Herbste, der führte eigentlich den Menschen in das Todeserlebnis hinein, in diese Auferstehung im Geistigen nach ungefähr dreien Tagen. Dieser Vor­gang, dieser Auferstehungsvorgang, der gehört eigentlich in die Herbsteszeit, aus den Gründen, die ich ja auseinandergesetzt habe.

Ein anderer Vorgang ist dieser, den ich heute beschrieben habe, der in anderen Mysterien gefeiert oder getan worden ist für gewisse Ein­weihungen, für die Sonnen- und Mondeneinweihung. Und dieser Vor­gang stellte den Menschen vor den Lebensanfang hin. So daß wir also auf Zeiten zurückblicken können, in denen der Herunterstieg des Men­schen aus dem vorirdischen Dasein zum irdischen Dasein in gewissen Mysterien erkannt wurde durch den Niederstieg. In anderen Mysterien, in den Herbstmysterien, wurde der Aufstieg im Geistigen erkannt.

Aber in den späteren Zeiten, in denen man nicht mehr den leben­digen Inhalt dieser Beziehung des Menschen zu dem Geistigen im Kosmos durchschauen konnte, da kam es eben so weit, daß das

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Herbstesmysterium des Aufstieges einfach zusammengelegt wurde mit dem Niederstiegsmysterium des Frühlings. Und so zeigt sich in der Konfusion, die da eingetreten ist im Laufe der Entwickelung der Menschheit, wie nach und nach der Materialismus gewirkt hat, wie er nicht bloß falsche Ansichten erzeugt hat, sondern wie er tatsächlich die Menschen ganz in Verwirrung gebracht hat über dasjenige, was einstmals, ich möchte sagen, in einer heiligen Ordnung da war im Ver­laufe des menschlichen Erdengeschehens. In einer heiligen Ordnung war es so da, daß die Menschheit, wenn es gegen den Herbst zuging, ein kosmisches Fest beging, das aber wiederum hinwies auf einen Mysterienvorgang, aus dem heraus gesagt werden konnte: Die Natur verfällt in Öde, verwelkt, stirbt dahin; das ist gleich dem Hinsterben des Menschen nach seiner physischen Seite. Aber während man, wenn man auf die Natur hinschaut, in ihr nur das Vergängliche wirksam sieht, lebt im Menschen das Ewige, das nun, abgesehen von dem, was in der Natur sich vollzieht, angeschaut werden soll im Geiste und welches das nach dem Tode in der geistigen Welt Auferstehende ist. Durch die Frühjahrsmysterien wurde dem Menschen klar, daß die Natur überwunden wird vom Geistigen, daß das Geistige wiederum hereinwirkt aus dem Kosmos, daß das Physische aus der Erde heraus sprießt und sproßt, weil es vom Geistigen getrieben wird.

Aber durch dieses sollten die Menschen gedenken, nicht wie sie hin­gehen zum Geistigen durch den Tod, sondern wie sie herkommen aus dem Geistigen, herabsteigen aus dem Geistigen. Also da, wo gerade die Natur im Aufgange ist, da sollte der Mensch gedenken seines Niederganges in das Physische. Da, wo die Natur im Niedergange ist, da sollte der Mensch gedenken seines Aufstieges, seiner Auferstehung im Geistigen. Und es vertiefte schon das seelische Leben ungeheuer, wenn so erfahren werden konnte, wie der Mensch sich zum Kosmos verhält. -

Es war das verschieden, je nach den Gegenden. In den alten Zeiten gab es wirklich Völker, die mehr Herbstvölker waren, und Völker, die mehr Frühlingsvölker waren. Innerhalb der Herbstvölker waren die Adonismysterien; innerhalb der Frühlingsvölker waren andere Mysterien, die sich bezogen auf dasjenige, was ich heute dargestellt

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habe. Und nur solche erkenntnissuchende Menschen, von denen mit Recht erzählt wird, wie sie von Ort zu Ort gezogen sind gleich dem Pythagoras, wie sie von Mysterium zu Mysterium gekommen sind, die haben dann eigentlich die Totalität des menschlichen Erlebens gehabt. Sie sind von einem Mysterienorte, wo sie das Herbstgeheimnis, das eigentlich das Sonnengeheimnis ist, schauen konnten, gezogen zu einem anderen Orte, wo sie das Frühlingsgeheimnis, das das Mondengeheim­nis ist, schauen konnten. Deshalb wird von den alten umfassenden Eingeweihten immer wieder erzählt, wie sie von Mysterienstätte zu Mysterienstätte gezogen sind. Und man kann schon sagen: diese Ein­geweihten haben in einer gewissen Weise innerlich das Jahr erlebt, das Jahr in seinen Festlichkeiten. So ein alter Eingeweihter hat sagen können: Komme ich an diesen Ort, wo Adonisfeste gefeiert werden, so schaue ich mir den Weltenherbst und das Strahlen der geistigen Sonne in der beginnenden Winternacht an. - Kam er an einen anderen Mysterienort, wo die Frühlingsmysterien gefeiert wurden, so konnte er sagen: Ich schaue mir da das Mondengeheimnis an. Und so lernte er innerlich dasjenige kennen, was eigentlich mit dem ganzen Sinn des Jahres zusammenhängt.

Sie sehen, unser Osterfest ist eigentlich beladen worden mit etwas, mit dem es nicht beladen sein dürfte. Unser Osterfest müßte eigentlich ein Grablegungsfest sein, und es müßte dieses Grablegungsfest in der Frühlingszeit zu gleicher Zeit, so wie es wirklich bei solchen Grab­legungsfesten war gegenüber der menschlichen Geistigkeit, ein Fest des Ansporns zur Arbeit sein, wie sie der ursprünglichere Mensch wäh­rend der Sommerzeit brauchte. So war das Osterfest ein Ermahnungs-fest für die Arbeit während des Sommers. Und so war das herbstliche Auferstehungsfest für die geistige Welt ein Fest, welches in der Zeit gefeiert wurde, wo der Mensch von der Arbeit wieder wegging. Aber wenn er von der Arbeit wegging, sollte er eben in seinem Inneren erleben das, was für sein Geistig-Seelisches das Allerwichtigste ist: sich seines Ewigen bewußt zu werden, indem er auf die Auferstehung in der geistigen Welt, drei Tage nach dem Tode, hinschaut.

So können wir, wenn wir von den irdischen Geheimnissen zu den kosmischen Geheimnissen gehen, von irdischer Erkenntnis zu kosmischer

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Erkenntnis gehen, auch noch die, ich möchte sagen, innere Struk­tur unserer Jahresordnung in den Festen erkennen. Aber vieles von dem, was in die Feste eigentlich hineingeheimnist ist, vieles von dem ist verschwunden.

Nun werde ich morgen, so viel es noch sein kann, versuchen, in engerer Anlehnung an gewisse Mysterienstätten die Sache noch weiter zu vertiefen, die ich Ihnen heute darlegen wollte an der Betrachtung der Himmelsverhältnisse selber.

VIERTER VORTRAG Dornach, 22. April 1924

#G233-1962-SE298 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 22. April 1924

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Wir haben gesehen, wie aus den Mysterien herausgewachsen ist das­jenige, was im Bewußtsein die Menschen mit der Welt so verbindet, daß diese Verbindung zur Darstellung kommen kann in dem festlichen Jahreslaufe, und wir haben ja insbesondere gesehen, wie das Osterfest herausgewachsen ist aus dem Initiationsprinzip. Aus der ganzen Dar­stellung wird Ihnen hervorgegangen sein, welche bedeutsame Rolle das Mysterienwesen in der ganzen Entwickelung der Menschheit ge­spielt hat.

Es ist ja mit diesem Mysterienwesen so, daß im Grunde genommen alles, was geistig durch die Welt ging, durch die Menschheit sich ent­wickelte, daß das in alten Zeiten alles hervorgegangen ist aus den Mysterien. Wenn man ein heutiges Wort anwenden möchte, so müßte man sagen: die Mysterien waren sehr mächtig in bezug auf die ganze Lenkung des geistigen Lebens.

Nun war die Menschheit von vornherein dazu bestimmt, die Frei­heit zu entwickeln. Zur Entwickelung der Freiheit war es notwendig, daß das alte Mysterienwesen zurückgegangen ist, und eine Zeitlang die Menschen weniger im Zusammenhang standen mit einer solchen mächtigen Lenkung, wie sie von den Mysterien ausging, und gewisser­maßen mehr sich selbst überlassen waren. Man kann ganz gewiß nicht sagen, daß heute der Zeitpunkt bereits herangerückt sei, in dem die Menschen sich ihre wahre innere Freiheit schon erobert haben und nun reif wären, zum Nächsten überzugehen, was auf das Zeitalter der Freiheit folgen soll. Gewiß, das kann man nicht sagen. Aber immerhin, es sind genügend viele Menschen durchgegangen durch Inkarnationen, in denen weniger die Macht der Mysterien gespürt worden ist als in früheren Zeiten. Und wenn auch die Saat des Durchgehens durch diese Inkarnationen heute noch nicht aufgegangen ist, sie ist in den Men­schen. Sie steckt in den Menschenseelen drinnen.

Wenn nun ein Zeitalter heranrückt, welches wieder geistiger ist, so werden schon die Menschen das entwickeln, was sie heute in der

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Dumpfheit noch nicht entwickelt haben. Aber es wird vor allen Dingen notwendig sein, daß dem Erkennen, dem Schauen, dem Er­leben des Geistigen, die aus der heutigen Initiation geholt werden können, entgegengebracht werde auch aus der Freiheit heraus Schät­zung, Ehrfurcht. Denn ohne Schätzung, ohne Ehrfurcht ist eine wirk­liche Erkenntnis, ist ein geistiges Leben der Menschheit eigentlich nicht möglich. Es ist doch so, daß wir die Festeszeiten richtig anwenden, wenn wir gerade sie dazu gebrauchen, diese Schätzung, diese Ehrfurcht vor dem Geistigen, wie es sich entwickelt hat im Laufe der Mensch­heitsgeschichte, ein wenig versuchen, in unsere Seele einzupflanzen, wenn wir möglichst intim hinzuschauen lernen auf die Art und Weise, wie die äußeren geschichtlichen Ereignisse Geistiges bedeuten, Geistiges von einem Zeitalter in das andere tragen. Zunächst ist es ja so, daß die Menschen in wiederholten Erdenleben immer wiederum ins Erden-dasein kommen. Dadurch tragen sie dasjenige, was sie in früheren Epochen erlebt haben, in spätere Epochen herüber. Die Menschen sind das wichtigste Glied in bezug auf das Weiterentwickeln dessen, was innerhalb der Menschheitsgeschichte geschieht. Aber die Menschen leben doch zu allen Zeiten in einer bestimmten Umgebung. Und eine wichtigste Umgebung ist schon die Mysterienumgebung. Ein Wich­tigstes im Menschheitsfortschritt ist das Herübertragen dessen, was Menschen in Mysterien erlebt haben und wiedererleben, sei es wie­derum in Mysterien, wo es hinauswirkt in die Menschheit, sei es sonst irgendwie im Erkennen. Heute muß es ja sonst irgendwie im Er­kennen sein, denn das eigentliche Mysterienwesen ist mehr oder weni­ger für die heutige Außenwelt zurückgegangen, muß erst wiederum auftreten.

Wir müssen ja sagen: Es ist schon so, daß, wenn jener Impuls, der durch die Weihnachtstagung von hier, vom Goetheanum, ausgegangen ist, wirklich sich einlebt in der Anthroposophischen Gesellschaft, dann die Anthroposophische Gesellschaft, indem sie weiter hinführt zu den Klassen, die einzurichten sind - zum Teil hat diese Einrichtung ja schon begonnen -, die Grundlage sein wird für das weitere Mysterien-wesen. Es muß das weitere Mysterienwesen bewußt gepflanzt werden durch diese Anthroposophische Gesellschaft. Diese Anthroposophische

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Gesellschaft hat ja vor sich ein Ereignis, das ebenso in der Entwicke­lung verwertet werden kann, wie einstmals verwertet worden ist ein ähnliches Ereignis: der Brand des Tempels von Ephesus. Da und dort lag ein bedeutsames Unrecht zugrunde. Allein die Dinge nehmen sich ja auf den verschiedenen Niveaus eben verschieden aus, und es kann dasjenige, was auf einem Niveau ein furchtbares Unrecht ist, in der Freiheit der Menschen dann verwendet werden in dem Sinne, daß gerade durch solche schauderhaften Ereignisse ein wirklicher Mensch­heitsfortschritt hervorgerufen werde.

Nun muß man aber, wenn man auf solche Dinge verständnisvoll eingehen will, möglichst intim, wie ich schon sagte, die Dinge fassen. Man muß hineinschauen in die besondere Art, wie in den Mysterien das Geistige der Welt gelebt hat. Ich habe gestern darauf hingedeutet, wie aus Sonnen- und Mondenkonstellation, wenn man sie geistig nimmt, herauswächst die Festsetzung des jährlichen Osterfestes, und ich habe darauf hingedeutet, daß vom Mondengesichtspunkte aus die anderen Planeten geschaut werden. Und nach dem, was man erfährt im Schauen der anderen Planeten, wird der Mensch angeleitet beim Heruntersteigen aus dem vorirdischen Dasein in das irdische Dasein, wie er sich seinen Lichtätherleib bildet.

Nun, wenn man die Anschauung gewinnen will, wie dieser Licht­ätherleib durch die Mondenkräfte, durch die Mondenbeobachtungen, ich möchte sagen durch das geistige Mondenobservatorium, wie diese Ätherkräfte dem Menschen überliefert werden, wenn man das recht verstehen will, so kann man es so beobachten, wie wir es nun versucht haben, aus dem Kosmos heraus, wo es eingeschrieben ist, wo es als ein Faktum existiert. Aber es ist auch wichtig, den menschlichen Anteil, der in den verschiedenen Zeiten an einer solchen Wahrheit da ist, auf das Gemüt wirken zu lassen.

Und in der Tat, niemals war der Anteil, den menschliche Gemüter genommen haben an diesem Heruntersteigen vom vorirdischen Dasein in das irdische in bezug auf die letzte Etappe, die Umkleidung des Menschen mit dem Ätherleib, niemals war ein so intimer, inniger An­teil an dieser Tatsache genommen worden als gerade in den Mysterien von Ephesus. In den Mysterien von Ephesus war es so, daß der ganze

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Dienst, welcher der exoterisch Artemis genannten Göttin von Ephesus dargebracht wurde, eigentlich darauf gerichtet war, das geistige Weben und Leben innerhalb des Äthers der Welt, innerhalb des Äthers des Kosmos, mitzuerleben. Man kann schon sagen, wenn die Angehörigen des Mysteriums von Ephesus sich dem Götterbilde nahten, dann war es eine Empfindung, die sich aber steigerte bis zum Anhören, und die etwa so auszudrücken ist, wie wenn es die Sprache der Göttin wäre: Ich freue mich über alles Fruchttragende im weiten Weltenäther.

Es war ein tiefer Eindruck, der ausgeübt wurde durch dieses Aus­sprechen inniger Freude der Tempelgöttin über alles Wachsende, Sprießende, Sprossende im weiten Weltenäther. Und innig verwand­tes Fühlen mit dem Sprießen und Sprossen war ja insbesondere etwas, was wie ein Zauberhauch die Atmosphäre, die geistige Atmosphäre von dem ephesischen Heiligtum durchströmte. Es war dieses Mysterium schon so angeordnet, so eingerichtet, daß man sagen kann, nirgends ist eigentlich so mitgelebt worden mit dem Wachsen des Pflanzen-wesens, mit dem Sprießen und Sprossen der Erde in das Pflanzenwesen hinein, als in Ephesus.

Das führte denn auch dazu, daß gerade in diesem ephesischen Mysterium mit besonderer Deutlichkeit der Unterricht gegeben werden konnte, wenn ich es so nennen darf, der darauf hinausging, besonders dieses Mondengeheimnis, von dem ich gestern sprach, an das Gemüt der zu Ephesus Gehörigen heranzubringen.

Es war etwas, was jeder wie sein eigenes Erlebnis hatte, sich zu fühlen als Lichtgestalt, weil das so lebendig gemacht wurde vor den ephesischen Schülern und Initiierten: dieses durch den Mond seine Lichtgestalt bekommen. Und es war eine Einrichtung in Ephesus, die etwa so war: Derjenige, der diese Einrichtung in der Weihestätte auf sich wirken lassen konnte, der wurde wirklich ganz hineinversetzt in dieses sich Herausbilden aus dem den Mond umwandelnden Sonnen-lichte. Dann tönte es an ihn heran, wie wenn es von der Sonne herüber-tönte: J O A.

Dieses J 0 A, von dem wußte er, daß es regsam macht sein Ich, seinen astralischen Leib. J 0 - Ich, astralischer Leib, und das Heran­kommen des Lichtätherleibes in dem A - J 0 A. Jetzt fühlte er sich,

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indem vibrierte in ihm das J 0 A, jetzt fühlte er sich als Ich, als astra­lischen Leib, als ätherischen Leib.

Und dann war es, wie wenn von der Erde heraufklänge, denn der Mensch war versetzt in das Kosmische, wie wenn von der Erde herauf­klänge dasjenige, was das J 0 A durchsetzte eh-v. Das waren die Kräfte der Erde, die heraufkamen in dem eh-v.

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Und nun fühlte er, in dem JehOvA fühlte er den ganzen Menschen. Das Vorgefühl des physischen Leibes, den er erst auf der Erde hatte, fühlte er angedeutet in den Konsonanten, die hinzugehörten zu dem Vokalischen, was in dem J 0 A andeutet Ich, astralischen Leib, ätheri­schen Leib. Dieses sich Einleben in dem JehOvA, das war es, was den ephesischen Schüler erfühlen ließ die letzten Schritte für das Herunter­steigen aus der geistigen Welt.

Aber es war zu gleicher Zeit dieses Erfühlen des J 0 A so, daß man sich fühlte im Lichte drinnen als dieser Klang J OA. Dann war man Mensch: klingendes Ich, klingender astralischer Leib, in lichtglänzen-dem Ätherleib. Dann war man Klang im Licht. So ist man als kos­mischer Mensch.

Und so ist man fähig, aufzunehmen dasjenige, was man im Kosmos draußen sieht, wie man durch sein Auge hier auf der Erde fähig ist, aufzunehmen, was im physischen Umkreise der Erde geschieht.

Dann fühlte sich der ephesische Schüler wirklich, wenn er in sich trug dieses J 0 A, wie versetzt in die Mondensphäre. Er nahm teil an demjenigen, was beobachtet werden konnte vom Gesichtspunkte des Mondes aus.

Da war der Mensch noch Mensch im allgemeinen. Er wurde erst Mann und Weib beim Heruntersteigen auf die Erde. Da aber fühlte der Mensch sich hinaufversetzt in diese Region des vorirdischen Daseins,

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aber eben des Herankommens an das Irdische. Den ephesischen Schülern wurde dieses sich Hinaufversetzen in die Mondensphäre eben ganz besonders intim möglich. Dann trugen sie in ihrem Herzen, in ihrer Seele dasjenige, was sie miterlebt haben, und was etwa in der folgenden Weise dem ephesischen Schüler erklang:

Weltentsprossenes Wesen, du in Lichtgestalt,

Von der Sonne erkraftet in der Mondgewalt,

Dich beschenket des Mars erschaffendes Klingen

Und Merkurs gliedbewegende Schwingen,

Dich erleuchtet Jupiters erstrahlende Weisheit

Und der Venus liebetragende Schönheit -

Daß Saturns weltenalte Geist-Innigkeit

Dich dem Raumessein und Zeitenwerden weihe!

Das war dasjenige, von dem jeder Epheser durchdrungen war. Das rechnete er zum Wichtigsten, was seinen Menschen durchpulste:

Weltentsprossenes Wesen, du in Lichtgestalt,

Von der Sonne erkraftet in der Mondgewalt,

Dich beschenket des Mars erschaffendes Klingen

Und Merkurs gliedbewegende Schwingen,

Dich erleuchtet Jupiters erstrahlende Weisheit

Und der Venus liebetragende Schönheit -

Daß Saturns weltenalte Geist-Innigkeit

Dich dem Raumessein und Zeitenwerden weihe!

Man kann schon sagen: es war für den zu den ephesischen Mysterien Gehörigen etwas wie sich so recht als Mensch fühlen, wenn ihm - ich will mich etwas trivial ausdrücken - wenn ihm in den Ohren klang das, was in diesen Sprüchen liegt. Denn er fühlte ja: damit ist ihm das Be­wußtsein von dem aufgegangen, wie er mit dem Planetensystem zu­sammenhängt in den Kräften seines Ätherleibes. Und prägnant kam das zum Ausdruck. Das ist zum Ätherleib vom Weltenall gesprochen:

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Weltentsprossenes Wesen, du in Lichtgestalt,

Von der Sonne erkraftet in der Mondgewalt.

Nun ist der Mensch sich fühlend in der Gewalt des Mondenlichtes:

Dich beschenket des Mars erschaffendes Klingen.

Das Klingen, das etwas Erschaffendes, etwas Schöpferisches hatte, klang herüber vom Mars. Und dasjenige, was dem Menschen die Glieder er­kraftet, daß er ein bewegliches Wesen wurde:

Und Merkurs gliedbewegende Schwingen.

Vom Jupiter leuchtet es herüber:

Dich erleuchtet Jupiters erstrahlende Weisheit.

Von der Venus leuchtet es herüber:

Und der Venus liebetragende Schönheit.

Damit dann Saturn alles zusammenfassen kann, was den Menschen abrundet innerlich und äußerlich und ihn bereitet, daß er herunter­steigen kann auf die Erde, sich mit einem physischen Leibe umkleidet, und als dieses physisch umkleidete Wesen, das den Gott in sich trägt, auf der Erde weiterleben kann:

Daß Saturns weltenalte Geist-Innigkeit

Dich dem Raumessein und Zeitenwerden weihe!

Nun, aus dem, was ich da beschreibe, können Sie ja entnehmen, daß das Leben, das geistige Leben in Ephesus ein innerlich helles war, ein farbiges war. In diesem innerlich hellen, farbigen Leben war ja tatsäch­lich dasjenige enthalten, was im Ostergedanken zusammenfaßte alles, was man je gewußt hat über des Menschen wahre Würde im ganzen Kosmos, im ganzen Weltenall. Und mannigfache von denjenigen Wan­derern - ich habe sie gestern erwähnt -, die von Mysterium zu Myste­rum gingen, um das Ganze des Mysterienwesens auf sich wirken zu lassen, mannigfache von diesen Wanderern haben doch immer wieder versichert: so hell, so innig, wie ihnen in Ephesus erklungen ist die Sphärenharmonie aus diesem Wahrnehmen vom Mondesgesichtspunkte

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aus, wo ihnen erschienen ist das leuchtende Astrallicht der Welt, indem sie es verspürt haben in dem den Mond umglimmenden Sonnenlichte, das durchgeistigt ist, so wie der Mensch beseelt ist, durchgeistigt ist vom Astrallichte, so haben sie an anderen Orten das nicht, wenigstens nicht mit jener Freudigkeit, mit jener inneren Künstlerauffassung wahr­nehmen können.

Das alles war ja gebunden an diejenige Tempelstätte, die dann durch Verbrecherhand oder Wahnsinnigenhand in Flammen aufging. Aber Eingeweihte der ephesischen Mysterien waren ja, wie ich während der Weihnachtstagung erwähnte, wiederverkörpert in Aristoteles und Alexander. Und diese Individualitäten sind dann nahegekommen dem, was in jener Zeit noch zu verspüren war an den Mysterien von Samothrake.

Nun ist ja ein scheinbar äußerlich zufälliges Ereignis von einer großen geistigen Bedeutung in der Weltentwickelung. Es ist schon er­wähnt worden unter uns, sogar seit vielen Jahren erwähnt worden:

als der Tempel von Ephesus brannte, war das die Geburtsstunde Alex­ander des Großen. Aber indem dieser Tempel brannte, spielte sich ja etwas ab.

Oh, wie ungeheuer viel war für diejenigen, die zu diesem Tempel gehörten, im Laufe von Jahrhunderten geschehen! Wie viel Geistiges an Licht und Weisheit ist durch diese Tempelräume gegangen. Und alles, was da durch diese Räume ging, ist ja mitgeteilt worden, wäh­rend die Flammen herausschlugen aus dem Tempel zu Ephesus, ist ja mitgeteilt worden dem Weltenäther. So daß man sagen kann: das kontinuierliche Osterfest zu Ephesus, das in den Tempelräumen ein­geschlossen war, ist seither eingeschrieben, wenn auch mit weniger deut­lich wahrnehmbaren Lettern, in den ganzen Weltendom, insofern der Weltendom ätherisch ist.

Und so ist es überhaupt mit vielem. Vieles von dem, was mensch­liche Weisheit ist, war in alten Zeiten umschlossen von Tempelwänden. Es ist den Tempelwänden entfiohen, ist in den Weltenäther eingeschrie­ben und wird da sofort sichtbar, wenn der Mensch zur wirklichen Imagination aufsteigt. Diese Imagination ist gewissermaßen die Inter­pretin des Sternengeheimnisses. Man kann so sagen: in den Weltenäther

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ist eingeschrieben dasjenige, was einstmals Tempelgeheimnis war, und man kann es mit der Imagination daraus lesen.

Man kann aber auch anders sagen, und es ist dasselbe, wenn man anders sagt. Man kann auch sagen: Ich stelle mich in sternheller Nacht auf, beschaue mir den Sternenhimmel, lasse seinen Eindruck auf mich wirken. Und es verwandelt sich, wenn der Mensch dazu die Fähigkeit hat, das, was in den Formen der Sternbilder ist, was in den Bewegun­gen der Wandelsterne ist, es verwandelt sich wie in eine große Welten-schrift. Und liest man diese Weltenschrift, so kommt etwas heraus von der Art, wie ich es gestern auseinandergesetzt habe für das Monden-geheimnis. Diese Dinge sind durchaus zu lesen in der Weltenschrift, wenn einem die Sterne nicht mehr bloß sind das mathematisch und mechanisch Errechenbare, sondern wenn sie einem sind die Lettern der kosmischen Schrift.

Nun aber möchte ich noch das Folgende für die Weiterentwickelung der Sache sagen. Gerade beim Herantreten an die kabirischen Geheim­nisse in Samothrake in der Zeit, als nun schon die alten Mysterien zurückgingen - Samothrake war Ja noch als Erinnerungsstätte und auch noch als Pflegestätte, als Arbeitsstätte da, aber im allgemeinen ging das Mysterienwesen schon zurück in der Alexanderzeit -, da war eben ein Moment, wo für Alexander und Aristoteles durch den Einfluß der Kabirenmysterien etwas entstand wie eine Erinnerung an die alte ephesische Zeit, die ja von beiden mitgemacht war in einem bestimm­ten Jahrhundert. Wieder erklang da das J 0 A-Wort, und wieder erklang das:

Weltentsprossenes Wesen, du in Lichtgestalt,

Von der Sonne erkraftet in der Mondgewalt,

Dich beschenket des Mars erschaffendes Klingen

Und Merkurs gliedbewegende Schwingen,

Dich erleuchtet Jupiters erstrahlende Weisheit

Und der Venus liebetragende Schönheit -

Daß Saturns weltenalte Geist-Innigkeit

Dich dem Raumessein und Zeitenwerden weihe!

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Aber in dieser Erinnerung, in dieser historischen Erinnerung an Altes lag eine gewisse Kraft, Kraft, ein Neues zu schaffen. Und von jenem Moment ging die Kraft aus, ein Neues zu schaffen, aber ein merkwür­diges Neues, das die Menschheit wenig beachtet hat. Denn Sie müssen eigentlich erst verstehen, wie dieses Neue-Schaffen, das aus dem Zu­sammenwirken von Alexander und Aristoteles ausging, nun seiner Art nach beschaffen war.

Nehmen Sie irgendein bedeutendes Dichtwerk oder anderes Werk -und Sie können die schönsten Werke nehmen -, nehmen Sie meinet­willen eine deutsch übersetzte Bhagavad Gita, nehmen Sie Goethes Faust, nehmen Sie die Iphigenie oder irgend etwas, was Sie hoch­schätzen, und denken Sie an den reichen, gewaltigen Inhalt, sagen wir, an den reichen, gewaltigen Inhalt von Goethes Faust. Und jetzt, wo­durch wird denn Ihnen, meine lieben Freunde, dieser reiche Inhalt ver­mittelt? Nehmen wir an, er würde Ihnen so vermittelt, wie er für die meisten Menschen ja vermittelt wird. Sie lesen den Faust irgendeinmal in Ihrem Leben. Was tritt Ihnen denn da auf dem physischen Plane entgegen? Was ist denn auf dem Papiere? Nichts anderes ist auf dem Papiere als Kombinationen von abcdef und so weiter. Alles, wodurch einem der große, gewaltige Inhalt des Faust aufgeht, sind ja nur Kom­binationen von abcdef und so weiter. Wenn Sie das Alphabet kennen, so gibt es nichts auf dem Papier, was dasteht, was nicht zusammen­fällt mit einem der etlichen zwanzig Buchstaben. Aus diesen etlichen zwanzig Buchstaben ist etwas hervorgezaubert auf dem Papier, was Ihnen hervorruft, wenn Sie eben lesen können, den ganzen reichen Inhalt des Faust. Und es steht Ihnen sogar etwas frei. Es steht Ihnen frei, das Hersagen von abcdef furchtbar langweilig zu finden, zu sagen. das ist ja eigentlich das Aller-Allerabstrakteste. Und dennoch, dieses Aller-Allerabstrakteste, in richtiger Weise kombiniert, gibt den ganzen Faust!

Und nun entstand, als jenes Monden-Weltenerklingen wieder da war, in dem erkannt wurde von Aristoteles und Alexander, was das Feuer von Ephesus bedeutete, wie dieses Feuer hinausgetragen hat in Welten-Ätherfernen dasjenige, was das Geheimnis von Ephesus war, da war es, daß in diesen beiden entstand die Inspiration, die Weltenschrift

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zu begründen. Nur, die Weltenschrift wird nicht begründet mit abcdef, sondern die Weltenschrift wird begründet, wie die Buchschrift mit Buchstaben, so diese mit Gedanken. Und es entstanden die Lettern der Weltenschrift.

Wenn ich es Ihnen aufschreibe, sind sie ebenso abstrakt, wie abcd:

Quantität, also Menge

Qualität, Eigenschaft

Relation

Raum

Zeit

Lage

Tun

Leiden

Da haben Sie eine Anzahl von Begriffen. Lernen Sie mit diesen Be­griffen, die zuerst Aristoteles dem Alexander vorgeführt hat, lernen Sie mit diesen Begriffen dasselbe vollführen, was Sie gelernt haben mit abcd, dann lernen Sie aus Qualität, Quantität, Relation, Raum, Zeit, Lage, Tun, Leiden -, aus dem lernen Sie lesen im Kosmos.

In der Schullogik ist in der Zeit der Abstraktivität etwas Beson­deres geschehen. Denken Sie nur einmal, wenn in irgendeiner Schule die Gepflogenheit wäre, die Leute nicht lesen zu lehren, sondern meinetwillen nur Bücher zu fabrizieren, in denen sie immer abcd lernen müßten in allen möglichen Kombinationen: ac, ab, be und so weiter -aber nicht dazu kämen, diese Buchstaben zu verwenden, um reiche In­halte sich vor die Seele zu stellen: dann wäre das dasselbe, was die Welt mit Aristoteles' Logik gemacht hat. In den Logiken ist es so, daß ja diese, man nennt es Kategorien, aufgeführt werden. Man lernt sie aus­wendig, aber man weiß mit ihnen nichts anzufangen. Das würde ent­sprechen dem, daß man abcde auswendig lernte und nichts mit ihnen anzufangen wüßte. Zurück auf etwas so Einfaches, wie der Inhalt des Faust in abcd - was man nur lernen muß - geht dasjenige, was Lesen in der Weltenschrift ist. Und im Grunde genommen ist das, was An­throposophie hervorgebracht hat und jemals hervorbringen kann, aus diesen Begriffen so erlebt, wie das Gelesene des Faust erlebt wird aus den Buchstaben. Denn alle Geheimnisse der physischen und geistigen

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Welt sind in diesen einfachen Begriffen als dem Weltenalphabet enthalten.

Es ist in der Weltentwickelung das geschehen, daß gegenüber dem früheren unmittelbaren Wahrnehmen, für das die Tatsachen von Ephe­sus noch etwas Allercharakteristischestes sind, etwas getreten ist, was von der Alexanderzeit aus den Anfang nimmt, was sich dann später erst besonders entwickelt durch das Mittelalter hindurch, was tief ver­borgen ist, was tief esoterisch ist. Tief esoterisch ist der Sinn, der lebt in diesen acht, oder man kann sie auch auf neun erweitern, in diesen acht oder neun einfachen Begriffen. Und wir lernen eigentlich immer mehr in diesen einfachen Begriffen leben, aber wir müssen streben, sie so lebendig in der Seele zu erleben, wie man in der Seele lebendig erlebt das Abc, wenn man eben einen reichgegliederten, geisterfüllten Inhalt hat.

So sehen Sie, wie in etwa zehn Begriffe, deren innere Leuchte- und Wirkekraft erst wiederum enthüllt werden muß, hineinlief dasjenige, was eine gewaltige, instinktive Weisheitsoffenbarung durch Jahrtau­sende war. Und es wird schon einstmals dahin kommen, daß man das­jenige, was eigentlich wie im Grabe ruht, die Weltenweisheit, das Weltenlicht, wiederum finden wird, wenn man wieder lesen lernen wird im Weltenall, wenn man erleben wird die Auferstehung dessen, was in der Zwischenzeit der Menschheitsentwickelung zwischen den zwei geistigen Epochen verborgen worden ist.

Wir sind ja da, meine lieben Freunde, um das, was verborgen wor­den ist, wieder offenbar zu machen. Wir sind ja da, um Ostern als Menschheitserlebnis zu gestalten. Und so, wie bei anderen Gelegen­heiten gesagt werden konnte: Anthroposophie ist ein Weihnachtserleb­nis, so ist Anthroposophie selber in ihrem ganzen Wirken ein Oster-erlebnis, ein Auferstehungserlebnis, verbunden mit dem Grabeserlebnis. Es ist wichtig, daß wir gerade bei diesem Osterzusammensein emp­finden - wenn ich mich so ausdrücken darf - die Feierlichkeit des anthroposophischen Strebens, indem wir etwas empfinden davon, daß wir gehen können heute zu einem geistigen Wesen, das uns vielleicht nahestehen kann, unmittelbar hinter der Schwelle nahestehen kann, und dem gegenüber wir sprechen: Ach, da war einmal die Menschheit

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gesegnet mit göttlich-geistiger Offenbarung, die besonders noch ge­leuchtet hat in Ephesus. Aber nun ist das alles begraben. Wie grabe ich aus das, was so begraben ist! Denn man möchte doch glauben, daß das­jenige, was war, irgendwie geschichtlich gefunden werden kann, ge­funden werden kann in seinem Grabe.

Da wird uns das Wesen erwidern, wie einstmals im ähnlichen Fall das entsprechende Wesen erwidert hatte: Das was ihr suchet, ist nicht mehr hie, das ist in euren Herzen, wenn ihr eure Herzen nur in der richtigen Weise erschließet.

Es ruht schon Anthroposophie in den Menschenherzen. Diese Men­schenherzen müssen nur sich selber richtig erschließen können. Und das sollen wir empfinden, dann werden wir in voller Besonnenheit, nicht wie es in alten Zeiten instinktiv war, zurückgeführt zu jener Weisheit, welche in den Mysterien leuchtete und lebte.

Das ist dasjenige, was ich gerne gerade um diese Osterzeit an Ihre Herzen heranbringen möchte. Denn sich durchdringen mit dem, was wie eine feierliche Stimmung aus Anthroposophie heraus in jedem Menschenherzen, das zur Anthroposophie gehört, sich entfiammen kann, darin liegt durchaus etwas, was auch hinaufträgt in die geistige Welt und was verbunden sein muß mit dem Weihnachtsimpuls, der zu Dornach gegeben worden ist. Denn dieser Impuls darf kein bloß erdachter, kein intellektualistischer bleiben, dieser Impuls muß ein Herzensimpuls sein; dieser Impuls darf kein trocken-nüchterner sein, dieser Impuls muß, nicht in Sentimentalität, sondern aus der Sache selber heraus, ein feierlicher sein können. Ebenso, wie durch Aristoteles und Alexander das Feuer von Ephesus benutzt worden ist, als es in ihren Herzen neu auffiammte, aber zunächst auffiammte im Äther draußen, von dem es ihnen erneut entgegentrug die Geheimnisse, die dann gefaßt werden konnten in Allereinfachstes -, wie da benutzt werden konnte das Feuer von Ephesus, so obliegt es uns, und werden wir auch schon imstande sein können, zu benutzen dasjenige, was - man darf es in aller Bescheidenheit sagen - auch in den Äther als die Flam­men des Goetheanum das hinausgetragen hat, was durch Anthropo­sophie gewollt worden ist, weiter gewollt werden soll.

Aber was geht denn daraus hervor, meine lieben Freunde? Es geht

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daraus hervor, daß wir durften als Jahrestrauerfeier um die Weih­nachtsneujahrszeit, welche dieselbe ist, in der uns das Unglück hier getroffen hat, daß wir da durften einen neuen Impuls ausgehen lassen vom Goetheanum. Warum? Weil wir fühlen dürfen: Was mehr oder weniger Erdensache vorher war, erarbeitet, gegründet wurde als Erdensache, das ist mit den Flammen hinausgetragen in die Welten-weiten. Wir dürfen, gerade weil uns dieses Unglück getroffen hat, in dem Erkennen der Folgen dieses Unglückes sagen: Nunmehr verstehen wir es, daß wir nicht bloß eine Erdensache vertreten dürfen, sondern eine Sache der weiten ätherischen Welt, in der der Geist lebt. Denn es ist die Sache vom Goetheanum eine Sache des weiten Äthers, in dem geisterfüllte Weisheit der Welt lebt. Es ist hinausgetragen worden, und wir dürfen uns von den Goetheanum-Jmpulsen aus dem Kosmos herein­kommend durchdringen.

Nehmen wir das, wie wir wollen, nehmen wir es als Bild. Das Bild bedeutet aber eine tiefe Wahrheit. Und diese tiefe Wahrheit wird eben in einfachen Worten dadurch ausgedrückt, daß man sagt: Das anthro­posophische Wirken soll seit dem Weihnachtsimpuls mit einem esoteri­schen Zug durchdrungen sein. Dieser esoterische Zug ist deshalb da, weil das, was irdisch war, durch das, was mitgewirkt hat im physischen Feuer, aber als Astrallicht, welches hinausstrahlt in den Weltenraum -weil das wiederum zurückwirkt hinein in die Impulse der anthro­posophischen Bewegung, wenn wir nur in der Lage sind, diese Impulse aufzunehmen.

Dann, wenn wir das vermögen, dann empfinden wir in alledem, was in Anthroposophie lebt, ein wichtiges Glied darinnen. Und dieses eine wichtige Glied darinnen, das ist die anthroposophische Osterstimmung, jene anthroposophische Osterstimmung, die da niemals der Überzeu­gung sein kann, daß der Geist stirbt, sondern daß, wenn er stirbt durch die Welt, er immer wieder aufersteht. Und an den aus ewigen Gründen immer wieder auferstehenden Geist muß sich Anthroposophie halten.

Das nehmen wir auf, nehmen wir auf als Ostergedanke und Oster-empfindung in unsere Herzen. Und wir werden, meine lieben Freunde, von diesem Zusammensein Gefühle wegtragen, die uns Arbeitsmut, Arbeitskraft geben, wenn wir wiederum an anderer Stätte stehen.

HINWEISE

#G233-1962-SE312 Die weltgeschichte in anthroposophischer Beleuchtung

Literatur

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Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
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Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.