GA 225

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DAS WESEN DER GEISTIGEN KRISIS DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS Dornach, 5. Mai 1923

#G225-1961-SE009 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DAS WESEN DER GEISTIGEN KRISIS

DES NEUNZEHNTEN JAHRHUNDERTS

Dornach, 5. Mai 1923

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Heute möchte ich etwas von einer ganz anderen Seite aus beleuchten, was uns in den letzten Zeiten hier viel beschäftigt hat. Ich möchte heute von einer, man kann sagen, historischen Seite aus nämlich die Tatsache beleuchten, daß im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in der Tat eine entscheidende Wendung vorhanden war für das menschliche Geistesleben. Diese entscheidende Wendung hat sich in den verschieden­sten Tatsachen ausgelebt. Und diese Tatsachen sind ja im wesentlichen die Untergründe für all, ich möchte sagen, den Jammer, der die Mensch­heit im zwanzigsten Jahrhundert ergriffen hat, denn die Untergründe für all diesen Jammer liegen dennoch im Geistigen.

Nun möchte ich aber vorausschicken eine kurze Charakteristik über das eigentliche Wesen der geistigen Krisis vom letzten Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts. Es ist ja in dieser Zeit so gewesen, daß auf der einen Seite stand der Materialismus, der Materialismus des äußeren Le­bens, und hinter ihm der Materialismus der Weltanschauung. Und man möchte sagen, wie verschämt und allmählich die Position vollständig auf­gehend war der Idealismus als Weltanschauung. Ich habe gerade auf diesen Gegensatz zwischen dem Materialismus, der oftmals keiner sein wollte und doch einer war, und dem Idealismus im vorletzten Hefte des «Goetheanum» hinzuweisen versucht. Da habe ich mit ein paar Stri­chen angedeutet, wie in dieses letzte Drittel des neunzehnten Jahrhun­derts hineinragten idealistische Geister, gewisse Geister, welche den Idea­lismus von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts fortsetzten, wie aber diese Geister, diese Denker gerade deshalb, weil sie das geistige Leben nur in der Idee kannten, nicht durchdringen konnten gegen alles das, was sich geltend machen konnte aufjener Grundlage, die die Natur­wissenschaft gewissermaßen souverän erklärte, die die Naturwissenschaft, gegen die ja gar nichts eingewendet werden kann, über ihren Geltungs­bereich hinausführte, so, als ob über alle Weltangelegenheiten durch reine Naturwissenschaft entschieden werden könne. Diese Naturwissenschaft hatte ja in der charakterisierten Zeit ihre großen Erfolge, Erfolge in bezug auf die Erkenntnis, Erfolge in bezug auf das äußerlich praktisch-techni­sche

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Leben. Auf diese Erfolge konnten diejenigen hinweisen, die alles das zurückweisen wollten, was eben nicht nach ihrer Ansicht aus den Ergeb­nissen dieser Naturwissenschaft folgte.

Und so standen einander gegenüber, ich möchte sagen, die Erfolgrei­chen, welche die Naturwissenschaft souverän erklärten, und die doch nichts anderes vertraten und bis heute nichts anderes vertreten als einen Materialismus, und auf der andern Seite standen diejenigen Denker, die Behüter des Idealismus sein wollten. Aber sie kannten das geistige Leben nur in den Ideen. Sie sahen sozusagen hinter dem materiellen Wesen der Welt nur Ideen, und hinter den Ideen nichts weiter, keinen wirkenden Geist. Die Ideen waren ihnen Abschluß, das Letzte, zu dem sie kommen konnten. Aber diese Ideen sind eben abstrakt. Sie waren so, wie sie in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von diesen Denkern gepflegt worden sind, abstrakt, und blieben abstrakt, so wie sie von den Idealisten in dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts noch ausgesponnen wurden. Und so konnten sich diese Idealisten mit den abstrakten Ideen, was für sie der einzige Geist war, eben nicht halten gegenüber den, ich möch­te sagen, handfesten Resultaten der naturwissenschaftlichen Weltanschau­ung.

Das ist das äußere Historische. Aber das innere Historische, das dahin­ter liegt, ist noch etwas anderes. Das ist, daß der Materialismus, wenn er nur konsequent bleibt und Geist hat - wenn er auch den Geist ableugnet, kann der Materialismus sehr viel Geist haben -, eigentlich nicht zu wider­legen ist. Der Materialismus kann nicht widerlegt werden. Es ist ganz vergeblich, zu glauben, daß der Materialismus eine Weltanschauung ist, die widerlegt werden kann. Es gibt keine Gründe, mit denen man bewei­sen kann, daß der Materialismus unrichtig ist. Daher das ganz überflüs­sige Reden derjenigen, die immer mit irgendwelchen theoretischen Grün­den den Materialismus widerlegen wollen.

Warum kann der Materialismus nicht widerlegt werden? Nun, sehen Sie, aus dem folgenden Grunde kann er nicht widerlegt werden. Nehmen wir dasjenige Stück der Materie, welches im Menschen selber die Grund­lage für die geistige Tätigkeit abgibt, nehmen wir das Gehirn oder im weiteren Umfange das Nervensystem. Dieses Gehirn, im weiteren Um­fange das Nervensystem, ist richtig ein Abbild des Geistes. Alles, was im Geiste des Menschen vorkommt, kann man auch in irgendeiner Form, in irgendeinem Vorgang des Gehirns beziehungsweise des Nervensystems nachweisen. So daß alles, was man geistig anführen kann als Äußerung

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des Menschen, sich einfach in seiner Abbildung, in seinem materiellen Gegenbilde, im Gehirn, im Nervensystem findet.

Wie sollte also jemand, der auf dieses Nervensystem hinweist, nicht sa­gen können: Nun seht ihr, alles das, was ihr von der Seele, was ihr vom Geiste redet, das ist ja im Nervensystem enthalten. Wenn jemand ein Porträt ansieht und sagen würde: Dies ist das einzige vom Menschen, was da abgebildet ist, es gibt überhaupt kein Original - und man könnte den Menschen nicht auftreiben, von dem das Porträt ist, so könnte man viel­leicht auch da nicht nachweisen, daß es ein Original gibt. Man kann gar nicht aus dem Porträt den Beweis liefern, daß es das Original gibt. Eben­sowenig kann man aus der materiellen Nachbildung der geistigen Welt den Beweis liefern, daß es Geist gibt. Es gibt keine Widerlegung des Ma­terialismus. Es gibt nur einen Weg, hinzuweisen auf den Willen, wie man den Geist als solchen findet. Man muß den Geist ganz unabhängig von dem Materiellen finden, dann findet man ihn allerdings auch schöpfe­risch wirksam im Materiellen. Aber durch irgendwelche Beschreibungen des Materiellen, durch irgendwelche Schlüsse aus dem Materiellen kann nie auf den Geist hin geschlossen werden, weil im Materiellen alles im Abbild ist, was im Geiste ist.

Das ist das Geheimnis, warum in einer Zeit wie dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, wo die Menschen nicht den direkten Zugang zum Geiste hatten, der Materialismus eben unwiderlegt, unwiderleglich dastand, und warum diejenigen, die nun nicht auf den Geist, sondern nur auf das abstrakte tote Restgebilde des Geistes, auf die Ideen im Menschen hinweisen konnten, warum diese idealistischen Denker nicht aufkommen konnten in dieser Zeit gegen die materialistischen Denker. Der Streit konnte sich eben durchaus nicht abspielen in Beweis und Gegenbeweis. Er spielte sich sozusagen unter dem Einflusse der sich gegenüberstehenden größe­ren oder geringeren Macht der streitenden Parteien ab. Und im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts hatten eben diejenigen die größere Macht, die hinweisen konnten aufdieja leicht einzusehenden, weil hand­fest daliegenden Fortschritte und Erfolge der Naturwissenschaft mit ihren technischen Ergebnissen.

Gewiß, jene Menschen, die als Idealisten, als idealistische Denker, wie ich es charakterisiert habe in der vorletzten Nummer des «Goetheanum», die Traditionen von der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts be­wahrten, sie waren die geistvolleren, die tieferen Denker, sie waren die­jenigen, deren Ausführungen den Menschen viel mehr ins Gemüt gehen

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konnten als die Ausführungen der Materialisten; aber die Materialisten waren die Mächtigeren. Und der Streit entschied sich nicht durch Be­weise, er entschied sich damals als eine Machtfrage. Dem muß man nur ganz ohne Illusion ins Auge schauen. Man muß sich klar sein darüber, daß zum Geiste gelangen die Notwendigkeit voraussetzt, direkt einen Weg zu ihm zu suchen, nicht, um ihn zu erschließen, ihn beweisen wollen aus den materiellen Erscheinungen. Denn alles, was im Geiste ist, findet sich auch in der Materie. Wenn also jemand keinen direkten Weg zum Geistigen hat, so findet er irgendwo in der Materie alles, was er in der Welt konstatieren kann.

Da nun selbst die edelsten Geister im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts nicht einen Zugang zum Geiste eröffnen konnten, so kamen sie, weil in ihnen doch noch die Bedürfnisse und Sehnsuchten nach dem Geistigen lebten, geradezu in eine Unsicherheit der ganzen menschlichen Seelenverfassung hinein. Und hinter mancher wirklich außerordentlich bedeutsamen Persönlichkeit vom letzten Drittel des neunzehnten Jahr­hunderts steht wie ein Hintergrund eigentlich die Haltlosigkeit, steht das, daß sich die Leute sagten, die, trotzdem sie außerordentlich intellektuali­stisch sind, oftmals außerordentlich gemütvoll sind: ja, da ist die mate­rielle Welt, da sind die Ideen. Die Ideen sind das einzige, das man finden kann hinter den Natur- und Menschheitserscheinungen, hinter Natur und Geschichte. Aber dann fühlten doch wieder diese Menschen: die Ideen sind etwas Abstraktes, etwas Totes. Und da kamen sie in die Un­sicherheit, in die Haltlosigkeit hinein.

Ein Beispiel möchte ich Ihnen sehr empfehlen, eine eigentlich recht bedeutende Persönlichkeit möchte ich heute vorführen, damit Sie auch im einzelnen darauf hingewiesen werden, wie diese Geistesentwicklung, die endlich zu unserer Gegenwart geführt hat, eigentlich war. Ich möchte heute auf den sogenannten Schwaben- Vischer hinweisen, den man auch den V-Vischer nennt, weil er sich ja so schreibt, im Unterschiede zu den an­dern gelehrten Fischern. Auf den Schwaben-Vischer, auf den Ästhetiker möchte ich Sie heute hinweisen.

Sehen Sie, er war ganz herausgewachsen aus dem Idealismus der er­sten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er konnte sich zu dem groben Materialismus nicht bekennen. Er sah hinter den materiellen Wesenhei­ten und hinter den materiellen Vorgängen überall Ideen, sah auch im Grunde genommen in der moralischen Weltordnung eine Summe von Ideen. Er beschäftigte sich namentlich damit, das Wesen des Schönen zu

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finden. Ganz im Hegelschen Sinne suchte er das Wesen des Schönen in dem Herausscheinen der Idee aus der sinnlichen Materie.

Wenn der Künstler irgendeinen Stoff in eine solche Form bringt, daß durch diese Form hindurch ein Ideelles erscheint, daß man also nicht nur ein Produkt der Natur vor sich hat, das nicht ein Ideelles offenbart, son­dern wenn der Künstler die Materie, sei es die Materie des Erzes, sei es die Materie der musikalischen Töne, sei es die Materie der Worte, so an­ordnet, daß man ein Ideelles verspürt aus seiner Anordnung, dann ist es eben die Erscheinung der Idee in einer sinnlichen Form, in einer sinn­lichen Gestalt, und das ist das Schöne.

Es kann dabei so sein, daß die Idee sich als so mächtig zeigt, daß man die sinnliche Erscheinung als zu ohnmächtig empfindet, die Größe der Idee auszudrücken. Wenn etwa der Bildhauer etwas so Gewaltiges in seiner Idee hat, daß kein sinnlicher Stoff hinreicht, um die Idee zu ge­stalten, so daß man die Idee nur als etwas unermeßlich Großes hinter dem Stoff ahnen kann, so wird das Schöne zum Erhabenen. Ist die Idee klein, so daß man mit dem Stoffe spielen kann, und die Idee kommt in der spielerischen Behandlung des Stoffes überall in liebenswürdiger Weise zum Ausdruck, so wird das Schöne zum Anmutigen.

So sind Anmutiges und Erhabenes verschiedene Formen des Schönen. Dann, wenn der Mensch die Weltenharmonle empfindet in dem, was künstlerisch gestaltet wird, dann kann er sich entweder zu einem Erha­benen wenden oder zu einem Anmutigen, je nachdem der Künstler es darstellt. Dann aber kann man sehen, wie es etwa bei Jean Paul so sehr häufig geschehen ist, wie die Weltenereignisse so dargestellt werden, daß man nirgends eine Harmonie sieht, daß man überall nur sieht, wie Wi­dersprüche da sind in der Welt, daß eigentlich die Harmonie als etwas Unerreichbares hinter allem steckt, wie aber doch wiederum die Welt-erscheinungen einem als das Nächstangehende vorkommen. Man sieht zum Beispiel, wie etwa, sagen wir, ein kleiner Schulmeister da ist, der einen ungeheuer idealistischen Sinn hat, der eine große Sehnsucht hat nach Wissen, aber kein Geld hat, sich Bücher zu kaufen, und statt der Bücher sich nur Bücherkataloge in den Antiquariaten geben läßt und da wenigstens nun die Büchertitel hat, statt der Bücher. Weißes Papier kann er sich noch kaufen, er schreibt sich nun die Bücher selber zu all diesen Titeln, die er da in dem Antiquariatskataloge hat. Ja, aber dann merkt er an dem Stoß, den der Dichter behandelt, da ist trotzdem eine Har­monie wiederum vorhanden, es ist schön harmonisch, wie der sich die

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Disharmonie, die durch das Geld eintritt, ausgleicht. Und dann sind doch wiederum die Bücher, die er sich selber schreibt, nicht so gescheit wie diejenigen, die in den Katalogen stehen. Der Widerspruch bleibt beste­hen. Man wird hin und her geworfen zwischen dem, was sein soll, und dem, was da ist und was nicht sein soll.

Wenn man sich nun im Gemüte zurechtfindet mit diesem Wider­spruch, der nicht zu lösen ist, wo immer ein Widersprechendes das an­dere ablöst, wo man gar nicht über den Widerspruch hinauskommen würde, sondern sich selbst in Staub auflösen müßte, wenn man so hin-schlenkert von Widerspruch zu Widerspruch, wenn man sich dann im Gemüte dennoch zu beruhigen weiß, so ist das die Stimmung desjenigen Schönen, das man genießt im Humor.

Ja, bei dem Schwaben-Vischer, dem V-Vischer, war es eben so, daß er geradezu den Humor als Ästhetiker verherrlicht hat, daß er, weil er eben in dem Zeitalter lebte, wo man ratlos den Widersprüchen gegenüber­stand, ratlos dem Gegensatz zwischen Geist und Materie gegenüberstand, daß er, weil es ein Durchdringen der Weltenharmonien eigentlich für die menschliche Einsicht nicht als etwas Erreichbares gab, sich durch den Humor hinweghelfen wollte über das alles. Und so verherrlichte er gerade den Humor. Aber wiederum, es ist ja der Humor so, daß hinter ihm den­noch irgendwo eine Harmonisierung stecken muß, sonst kommt doch wiederum kein Humor zustande, sonst sieht man ja zuletzt, daß man sich durch das Gemüt beruhigt bei etwas, wobei man sich eigentlich nicht be­ruhigen sollte, wenn man nicht ein Wischi-Waschi-Mensch werden will. Und so steckt hinter all dem, wie der Schwaben-Vischer die Welt genie­ßen wollte - er ist ja für die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine tonangebende Persönlichkeit -, hinter all dem steckt ein Streben, weil man nicht hineinkommen kann in das Geistige der Welt, sondern nur in die Ideen, ein Streben, das doch wiederum etwas furchtbar Philiströses hat. Ein lachender Humor, hinter dem aber eigentlich nicht die Ausge­glichenheit des Gemütes, sondern etwas Krampfhaftes steckt, ein Humor, der leicht, wenn er die Gegensätze erkundet, die in der Welt sind, statt des humoristischen Ausgleiches nur das närrische Nebeneinanderstellen findet.

Das alles hängt damit zusammen, daß eben edlere Geister in dieser zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gar nicht dasjenige finden konnten, was eigentlich geistig hinter der Welt steckt, daß sie daher nach Auskunftsmitteln suchten, die sie aber zuletzt in eine gewisse Haltlosig­keit, in etwas Krampfhaftes hineinführten. Und aus diesen Krämpfen

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vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts konnte dennoch nur das Tragische, das Ungesunde vom Beginn, von der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hervorgehen.

Nun, als dieser Schwaben-Vischer, man möchte sagen, obwohl er sich dagegen gewehrt hat, sein eigenes Selbst - es ist doch sein eigenes Selbst -einmal so hinstellen wollte vor die Welt, da schrieb er den Roman « Auch Einer». Man kann sagen, der «Held» dieses Romans, wie man das ja in der Ästhetik so philiströs, wollte sagen wissenschaftlich nennt, der Held dieses Romans - in Wirklichkeit heißt er Albert Einhart, aber V-Vischer kürzt ihn ab: A. E., nennt ihn eben «Auch Einer», und so heißt auch der Titel des Romans - nun, dieser «Auch Einer», in ihm steckt ja etwas. Er möchte gerne eine Eins sein als Mensch, eine richtige Eins. «Einer »möchte er sein, so eine Individualität, die etwas für sich ist. Aber nun wird er, trotz großartiger, gewaltiger Anlagen nur «Auch Einer», nicht «Einer», sondern « Auch Einer», so wie vielleicht nicht gerade Zwölf aber wovon doch immerhin eine erkleckliche Anzahl auf ein Dutzend kommen ! Ja, wie gesagt, Vischer hat sich dagegen gewehrt, daß etwa der «Auch Einer » ein Porträt seines eigenen Wesens ist. Das ist er auch nicht, aber dennoch hat Vischer dasjenige, was als innere Disharmonie in ihm lebte, in diesen «Auch Einer» hineingeheimnist. Es sind zugleich die Dis­krepanzen der Seele vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.

Dieser Roman «Auch Einer» besteht eigentlich aus drei Teilen. Der erste schildert uns, wie V-Vischer bekannt wird mit dem Albert Einhart, mit dem «Auch Einer». Es ist eine interessante Reisebekanntschaft, wie sie nicht gerade alltäglich vorkommt.

Sehen Sie, dieser V-Vischer hat ja zuletzt auch, sagen wir, in dem Her­ankommen des Mysteriums von Golgatha an die Erdenentwickelung nichts anderes sehen können als eine Ideenentwickelung. Der Christus war eigentlich eine abstrakte Idee für ihn, die so die Menschheitsentwickelung durchzogen hat. Und auf Golgatha, in dem Leibe des Jesus von Nazareth, ist eigentlich eine abstrakte Idee - Christus - gekreuzigt worden. Nicht wahr, das atmet wenig Wirklichkeit. Das führt ja schon zurück in die Da­vid Friedrich Strauß-Zeit und so weiter, wo man den eigentlichen Inhalt der Religion nur so aufgefaßt hat, als ob die Religion nur Bilder enthalten würde für etwas, was eigentlich ideell, abstrakt gemeint ist. Also Christus und die Geschichte vom Christus würden nur aufzufassen sein als Bilder, sind das Einziehen der höchsten Ideen in die Erdenentwickelung, die Kreuzigung nur die Erscheinung der Idee in einer besonders hervorragenden

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sinnlichen Menschengestalt und so weiter. Das alles hat ja den Gegenstand großer intellektualistischer Anstrengungen im neunzehn­ten Jahrhundert gebildet, und hat den Gegenstand ungeheuer bitterer Enttäuschungen der tieferen Gemüter in diesem neunzehnten Jahrhun­dert gebildet, weil eben da hinter all dem Ideellen ein wirklich Geistiges nicht gefunden werden konnte. Und die Menschen dürsteten natürlich nach dem Geistigen, wie sie immer nach dem Geistigen dürsten, und am meisten, wenn sie es nicht haben. Und am meisten dürsten darnach die­jenigen Denker, welche glauben beweisen zu können, daß es ein Geisti­ges gar nicht gibt, sondern nur Materie oder nur Ideen. Man könnte sa­gen: Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts und am Beginne des zwan­zigsten Jahrhunderts waren eigentlich die hervorragenderen Geister schon müde geworden über diesem intellektualistischen Streben nach der Beantwortung der Frage: Wie wirken die Ideen eigentlich in der Natur? Wie wirken die Abstraktionen eigendich in der Geschichte? Nur höch­stens so quecksilberne Flächlinge, wie Arthur Drews, die haben dann wie­der dasjenige gebracht, was längst etwas Abgetanes war unter denen, die wirklich denken konnten. Daher ragt eben in der Persönlichkeit dieses quecksilbernen Nicht-Denkers in das zwanzigste Jahrhundert noch etwas herein von diesem: eine Idee sei gekreuzigt worden, nicht eine wirkliche Geistwesenheit.

Aber aus dem, was ich sage, können Sie entnehmen, daß schließlich auch für einen solchen Denker wie den Schwaben-Vischer, zuletzt alles, was geistig war, sich in Ideen auflöste. Die Ideen, die waren zuletzt in ihrer Abstraktheit dasjenige, was da als Gespinst durch die Welt hin­durch wirkte. Und alles, was in den Mythologien erzählt wurde, in den Religionen bis herauf in die christliche Religion, das war, nur in Mate­rielles gekleidet, etwas, was höchstens Bild war für die Idee. Und zuletzt mußte ja den Leuten aus diesem Streben, überall nur die Idee im sinn­lichen Bilde zu sehen, die Anschauung hervorgehen, daß es eigentlich gleichgültig ist, in welchem sinnlichen Bilde man das Weben und Spinnen der Idee in der Materie ausdrückt.

Und für einen solchen Kauz wie Albert Einhart, der «Auch Einer» ist, für den macht sich nun die Materie in einer ganz merkwürdigen Weise geltend. Es passiert nämlich dem Albert Einhart bei jeder möglichen Ge­legenheit, daß er ins Erhabene steigen will. Wenn er zu den höchsten Hö­hen des Geistigen, das bei ihm also nur das Ideelle ist, hinaufsteigen will, dann kriegt er einen Katarrh, dann muß er furchtbar niesen, oder er muß

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sich furchtbar räuspern. Da macht sich die Materie geltend, nicht wahr, das ist die Materie. Er spürt sonst die Materie nicht so stark als dann, wenn er einen Katarrh kriegt oder wenn er ein Hühnerauge hat. Man weiß schließlich nicht, wenn man so ein Denker von der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist, an welchem Ende man alifassen soll den Materialismus, der eben die Ideen abbildet. Man wird ja am besten da anfassen, wo die Materie sich am meisten geltend macht, wo sie immer so auftritt, daß sie sogar den Geist bezwingt. Und zuletzt wird man sogar, wie der Albert Einhart, der «Auch Einer», zu einem Kritiker dessen, was schon da ist.

Denn dem Albert Einhart kommt einmal doch die Idee: Diejenigen, die die Materie nur so mehr neutral angefaßt haben, die haben sich eigentlich einem Irrtum hingegeben. Schiller hat den Tell ganz falsch dargestellt, denn so kann es nicht sein, die Materie wird da auf einem viel zu hohen Niveau erfaßt. Man muß tiefer hinein. Man muß in das Ka­tarrhalische hinein, wenn man will, daß man die Materie wirklich erfaßt. Und daher müßte die richtige Komposition des Tell diese sein, daß er, wie er mit dem Schifflein da abstößt, nicht einfach gleich hinüberkommt, sondern kentert, herausfällt und von den Mannen des Geßler aufgefangen wird, ordentlich durchgewichst wird, aber wieder entkommt, ein zweites Mal ins Wasser fällt und sich dabei erkältet. Nun bekommt er einen furchtbaren Schnupfen, und gerade in dem Moment, wo er die Armbrust anlegt, muß er niesen. Und der Landvogt kann nicht sagen: Das ist TeIls Geschoß - sondern: Das ist Tells Niesen! So müßte eigentlich Teil sein, meint der Albert Einhart, der «Auch Einer». Nicht wahr, man muß tie­fer, gründlicher in den Materialismus hinein, wenn man schon konse­quent sein will.

Da hat es alle möglichen Auslegungen, Erklärungen gegeben für den Othello, psychologische Erklärungen; aber man soll doch einmal sehen, meint der Einhart, daß der Othello fortwährend um ein Schnupftuch sich bemüht, daß er einen Stockschnupfen hat, der ihn so in Verzweif­lung bringt, daß er endlich die Desdemona erwürgt. Nichts anderes als ein Stockschnupfen! Man muß eben tiefer in die Materie hineingehen, in das eigentlich Materielle. Man muß es an dem richtigen Punkte finden.

Das ist es, was Vischer durch die gemütvolle, humorvolle Auffassung sucht. Er kann über den Materialismus nicht hinauskommen. Er kann ihn nicht wegbeweisen, und so will er sich wenigstens im Gemüt darüber hinwegsetzen. Er kann sich doch nicht über Wasserstoff und Sauerstoff

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gemütvoll hinwegsetzen; nun, über Katarrhe muß man sich doch gemüt­voll hinwegsetzen. Und das ist doch eben ein Standpunkt, den man ein­nehmen kann gegenüber der Materialität.

Die Sache hat ja auch dazu geführt, daß Vischer darauf aufmerksam machen konnte, wie er eigentlich die Bekanntschaft dieses sonderbaren Kauzes macht. Der ist da in einem Hotel, das - nach den verschiedensten Umständen kann man es annehmen - gar nicht so weit von hier sein muß, allerdings in den Hochbergen drinnen, und er gerät, weil nun schon der Katarrh in ihm steckt, in Zwiespalt mit dem Hotelbedienten, wird etwas tätlich, und da kommen ihm nun aus dieser materiellen Affäre alle Skru­pel des Lebens vor die Seele. Und es kommt so weit, daß er sogar seinem Leben ein Ende machen will. Er stürzt sich herunter. Aber bei dieser Ge­legenheit sieht ihn der Schwaben-Vischer und schickt sich an, ihn zu ret­ten, und kollert dabei hinunter über den Abhang. Das sieht wieder der andere, der vergißt, daß er eigentlich selbst sich hat morden wollen und kommt dem Schwaben-Vischer zu Hilfe. So machen sie ihre Bekannt­schaft. Das ist nicht eine alltägliche Bekanntschaft. So kollern sie beide hinunter. Und da hört man noch die Flüche dieses «Auch Einer», der nun seine Weltanschauung kundgibt. Man hört es eigentlich nicht, weil von allen möglichen Gewässern da ein Getöse ist; es ist nicht still, nur ein­zelne Teile hört man, wie: Welt - eine Erkältung des Absoluten - in der Einsamkeit - spuckte aus und die Welt war - die Welt vom Ewigen ge­hustet, geräuspert - Schandgallert - Brütnest der Plagteufel - und so wei­ter, das hört man so durch. Er wird viel mehr gesagt haben, natürlich!

Nun haben sie Bekanntschaft gemacht auf diese Weise, der Schwaben­Vischer und der «Auch Einer». Aber sie können sich nicht gleich ver­ständigen, weil sie beide nämlich einen Katarrh kriegen und furchtbar niesen müssen. Und so dauert es mit der Verständigung etwas länger. In solcher Art, wie man auf nicht ganz gewöhnliche, alltägliche Weise Reise-bekanntschaft macht, verläuft der erste Teil. Der zweite Teil ist ein Werk des «Auch Einer», das eingeschoben ist, eine Pfahldorfgeschichte. Da wird das Leben und Treiben in einem Pfahldorf geschildert. Nicht wahr, man könnte sich ja nun lange unterhalten über das Zeitalter, in dem die­ses Pfahldorf existiert hat und so weiter, aber manches steht auch da drin­nen, woraus man entnehmen kann, daß er dieses Pfahldorf des «Auch Einer» in der Nähe der Stadt Turik sein läßt. Diese Stadt liegt in der Nähe. Und über die Zeit -ja nun, da müssen die Pfahldörfler einmal ei­nen rufen, einen Bardenknaben aus Turik. Und dieser Bardenknabe aus

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Turik, der heißt Guffrud Kullur. Ja, man kann nicht so recht diskutieren über die Zeit, in der dieses Pfahldorf existiert hat.

Es wird nun diese Pfahldorfgeschichte in ihren Einzelheiten entwickelt in der Erzählung von dem « Auch Einer», und wir werden da eingeführt in die Art und Weise, wie zum Beispiel die Pfahldörfler ihre religiösen Bedürfnisse besorgen. Da kommt eben das heraus, was für den Schwaben­Vischer und sein Abbild, den Albert Einhart, in den Religionen geschil­dert wird: Das ist überall der materiell-bildhafte Ausdruck für das Walten der Ideen gewesen. Und so ist halt auch diese Religion bei den Pfahl­dörflern eine solche, daß sie eine Zeit angenommen haben, in der alles noch keinen Schnupfen kriegen konnte. Es war eine ganz paradiesische Zeit, wo man keinen Schnupfen kriegen konnte. Aber es wurde diesen Paradies­Pfahldörflern doch nicht so wohl dabei. Es stachelte sie etwas in dieser ganz schnupfenlosen unkatarrhalischen Zeit, und so verfielen sie derVer­suchung des großen Gottes Gripo. Dieser Gripo, der eigentlich im Kalten west, schafft und wirkt aber durch Feuer, durch Erhitzung. Und so kam es, daß sie der Versuchung des Gottes Gripo verfielen, die Pfahldörfler­Paradiesesmenschen! Und sie kriegten Schnupfen, mußten immer nie­sen, und da ergaben sie sich der Weltenspinnerin, die oftmals als weiße Kuh den Leuten erscheint. Sie sehen: materiell-bildhafte Ausprägung, Ausgestaltung des Geistigen. Die Weltenspinnerin rät ihnen, sie sollen ihr Dorf auf dem See begründen, da schickt der See immerfort feucht-kalt­liche Nebel. Der Schnupfen wird ordentlich ausgetrieben. Die Ergebnisse des Gottes Gripo, die kommen heraus und werden endlich geheilt. Das kann nur in Pfahldörfern geschehen.

Da kommt auch so eine Art Ketzer einmal in dieses Pfahldorf hinein. Aber die Pfahldörfler sind in einer außerordentlich guten Weise geführt von einem Druiden. Ein Druide, der eigentlich nicht besonders viel ge­scheiter ist als die anderen Pfahldörfler, der aber gelernt hat, die Katarrh-Religion ordentlich zu lehren, der beherrscht ganz diese Pfahldörfler. Und da ist nur das eine: Die Druiden müssen ehelos leben, er hat also nicht eine Ehegattin, sondern eine Hauserin, Urhixidur, die beherrscht wieder ihn, und von der geht sehr vieles aus in diesem Pfahldorfe. Da kommt nun also so ein Ketzer dahin, der die Pfahldörfler eine Art auf­geklärter Religion lehren will, so eine Religion ohne Gott. Die Pfahldörf­1er haben aber nicht nur die guten Götter, sondern auch den Gripo und alles mögliche kennengelernt. Und der Druide, noch dazu aufgestachelt von der Urhixidur, stellt ein Ketzergericht an. Ein bißchen werden ja die

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Pfahldörfler irre an dem Druiden, denn man gräbt da noch ein tieferes Pfahldorf heraus, und nun kann er das nicht erklären. Und nun beruft man von der benachbarten Stadt den Guffrud Kullur und noch einen anderen Gelehrten, Feridun Kallar. Aber da ist wiederum das Merk­würdige, daß, als man nicht in Turik, aber einer anderen schweizeri­schen Stadt Pfahldörfer ausgegraben hat, einer der Erklärer Ferdinand Keller war, der da nicht von einer Stadt mit jetzigem Namen, sondern von Turik berufen wird, sowie natürlich selbstverständlich nicht auf Gottfried Keller hingewiesen ist, sondern auf Guffrud Kullur. Nun, es spielen sich da die Kämpfe ab zwischen den Menschen mit einer ursprünglichen Re­ligion, mit der Religion der katarrhalischen Zustände, und einem Ketzer, der nun eine Religion ohne Gott lehren will, eine Religion der morali­schen Weltordnung. Es sind interessante Kämpfe. Die spitzen sich insbe­sondere zu, als von den Pfahldörflern ein Fest gefeiert wird, das der ka­tholischen Firmung und der protestantischen Konfirmation entspricht, das ist nämlich das Fest der Betuchung. Da werden die Kinder eingeführt in die Gemeinde. Aber natürlich, den Ereignissen angemessen bekommen sie ein Schnupftuch, nicht die Dinge, die bei der Firmung sonst vor sich gehen, sondern sie müssen ein ordentliches Schnupftuch auf den Weg für das Leben bekommen.

Da spielen sich noch allerlei Kulturkämpfe ab. Die Kulturkämpfe wa­renja, wie es scheint nach «Auch Einer», nicht nur äußerlich in der Welt überall in dieser Zeit sichtbar, sondern sie scheinen auch in die Pfahl-dörfer hineingespielt zu haben.

Ja, so möchte ich sagen, krampft der Schwaben-Vischer einen Humor heran, um in diesem Kauz das Nicht-zu-Rande-Kommen mit dem Ma­terialismus darzustellen. Ob man nun schließlich - so meinte wahrschein­lich in seinem Herzen der Schwaben-Vischer - diejenigen Begriffe nimmt, welche von den materialistischen Kunsthistorikern ausgehen, die ja an so neutrale Materie anknüpfen, oder andere, die die Materie deutlicher zei­gen: Da kommt es vielleicht doch nur darauf an, daß man eben die deut­licheren Begriffe nimmt.

So ein Mann wie Go£tfried Semper, der macht geltend die Bearbeitung der Steine, die Bearbeitbarkeit des Holzes, wenn man diesen oder jenen Baustil erklären will. Ja, warum soll man denn darüber sprechen, inwie­weit das Holz oder der Stein bearbeitbar ist? Warum soll man denn von dieser Seite der Materie ausgehen? Es ist ja viel gescheiter, wenn man einmal prüft, wie die Menschen von den verschiedenen Baustilen berührt

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wurden, dann hat man den Zusammenhang dieser Baustile mit der menschlichen Wesenheit und mit der menschlichen Entwickelung. Bei den Griechen wird es wohl so gewesen sein, weil ihre Bauart eine nach allen Seiten offene war, daß, wenn man sich eine gehörige Zeit da in den Bau­ten aufgehalten hat, man halt einen ordentlichen vehementen Schnupfen kriegte. Das sind die rein katarrhalischen Baustile, die antiken Baustile. Und die gotischen Baustile, da war man mehr geschützt, da kriegte man nur ab und zu den Schnupfen, wenn man Fenster aufmachte: Das sind also die gemischt-katarrhalischen Baustile. Und das Ideal ist erst in ferner Zukunft: Das sind dann diejenigen Bauten, in denen man gar keinen Schnupfen kriegt. Man kann sehr schön unterscheiden - so macht man es ja in gelehrten Schriften - Baustil A: rein-katarrhalisch, Baustil B: ge­mischt-katarrhalisch, und Baustil C: wo man gar keinen Schnupfen mehr kriegt. Das ist die Einteilung der Baustile von « Auch Einer».

Sie sehen, V-Vischer wußte nicht, wie er sich eigentlich gegenüber dem Materialismus stellen sollte. Er wollte sich mit Humor stellen, und da nahm er halt diese Seite des Materialismus heraus, wo der Mensch die Materie in sich so oder so verspürt. Das ist ja dasjenige, was wirklich doch diesem Roman «Auch Einer» zugrunde liegt.

In einem dritten Teil hat man dann noch Sentenzen des Albert Ein-hart. Man lernt ihn sozusagen näher kennen. Man lernt seinen Kampf gegen die Natur, man lernt seinen Kampf mit dem Geiste, mit der mora­lischen Weltordnung, mit dem reinen Idealismus kennen; sehr geistreiche Ausführungen, die in Aphorismen vorgetragen werden. Man hat manch­mal das Gefühl, daß der etwas philiströse Schwaben-Vischer schon die geistreichen Einfälle von Friedrich Nietzsche vorausgenommen hat. Es ist wirklich manchmal etwas außerordentlich Geistreiches in diesem dritten Teil der Aphorismen des Albert Einhart.

Und Albert Einhart ist auch eine ganz originelle Persönlichkeit. Er ist, als man ihn im Romane kennenlernt, pensioniert selbstverständlich, denn er war so etwas wie ein Polizeidirektor, aber da auch schon eigentlich eine bedeutende Persönlichkeit. Also offenbar will der Schwaben-Vischer darauf hindeuten, daß das schon an sich mit Humor aufgefaßt werden muß: ein bedeutender Polizeidirektor. Aber weil er eben bedeutend war, wählte man ihn auch einmal zum Abgeordneten für die Kammer, und da hielt er eine außerordentlich bedeutende Rede. In dieser bedeutenden Rede wirkte zündend ein Satz, dann ein zweiter Satz wieder zündend. Aber der zweite zündende Satz wirkte auf den ersten so, wie wenn man den ersten

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mit schauderhaft kaltem Wasser begossen hätte. Merkwürdig, das Zün­dende wirkte, wie wenn die erste Feuerflamme ausgelöscht werden sollte: Nun sind wiederum die Menschen da, welche der alten furchtbaren, barbarischen Zeit angehören und beim Militär und in der Schule die Prügelstrafen in den verschiedensten Formen einführen möchten. Das ist ja etwas, was uns in der schreiendsten Form in die Zeit führt, wo es noch keinen Idealismus gab, wo man noch in keinen bildhaften Religionen lebte, wo man noch die rein moralische Anschauung hatte, die Religion ohne Gott. Dem dürfen wir uns nicht aussetzen in unserer Zeit. In unserer Zeit darf nicht geprügelt werden, das Prügeln muß gründlich ausgemerzt werden. In unserer Zeit müssen noch manche andere Schäden ausge­merzt werden. Wir sehen, wie in unsere Zeit doch noch viel Barbarei hin­einragt. Denn da sehen wir zum Beispiel, wie auf der Straße von rohen Leuten die Tiere gequält werden, wie diese armen Pferde, die nicht dafür veranlagt sind, mit den Peitschen geschlagen werden. Oder da sehen wir, wie die Hunde, die ja nicht Hufe, sondern andere Organe an den Füßen haben, die nicht für das Ziehen von Wagen angetan sind, Wagen ziehen müssen. Kurz, wir sehen, wie die Tiere gequält werden, und ich möchte den Antrag stellen hier in der Kammer, daß alle Tierquäler öffentlich ausgepeitscht werden!

Das sind wiederum die Dinge, über die man sich, wenn so der zweite zündende Feuerfunke auf den ersten wie ein kalter Wasserstrahl sich er­gießt, nur mit einem gewissen Humor hinweghelfrn kann. Ja, dieser Al­bert Einhart, dieser « Auch Einer » ist wirklich so ein richtiges Geschöpf vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts! Und vieles von dem, was der V-Vischer an eigenen Diskrepanzen der Seele fühlte, brachte er in diesem «Auch Einer» zum Vorschein. Man darf aber nicht wiederum den V-Vischer mit dem «Auch Einer » identifizieren, auch nicht mit dem­jenigen, der da als ein Ketzer etwa in das Pfahldorf hineingekommen war und über den ein Ketzergericht veranstaltet worden ist, sonst würde man zu sonderbaren Kommentaren kommen.

Nicht wahr, der Schwaben-Vischer hat ja, zwar nicht in Turik, aber in einer anderen Stadt, eine Zeitlang eine Art Ketzerprotektorat versehen, und es ist ihm schlecht bekommen. Aber man käme in eine allzu humor­volle Stellung zu dem V-Vischer selber, wenn man solche Dinge deuten wollte. Denn der V-Vischer wollte nicht einmal den zweiten Teil des Goetheschen Faust gelten lassen und verspottete die Kommentäre, die Deuter, indem er sich selbst in einem dritten Teil des Faust, den er

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schrieb, mit Anspielung an all diejenigen, die so viel geistreiche Dinge im zweiten Teil des Faust finden, Deutobold Allegoriowitsch Mystifizinsky nannte; Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky usw. nann­te er sich. Und als solcher schrieb er den dritten Teil des Goetheschen Faust, um die Kommentäre zu verspotten, die eine tiefere Weisheit im Goetheschen Faust sehen wollten. - Man will doch nicht auch so ein AI­legoriowitsch werden und da die eigenen Schicksale des Schwaben-Vi­scher in seinem « Auch Einer » etwa ausgesprochen oder irgendwie ange­deutet finden.

Man möchte sagen, es ist schon bemerkenswert, wie in diesem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts dastehen auf der einen Seite der so tief tragisch zu nehmende Nietzsche, der an den Diskrepanzen, die in seiner Seele sich abgespielt haben, zugrunde gegangen ist, und dieser Schwaben-Vischer, der nicht anders konnte, als die Haltlosigkeit der Weltanschauungen seiner Zeit in einer solchen Weise zum Ausdruck zu bringen, wie er das getan hat in dem Roman «Auch Einer». Man kann nur sagen, es ist eine gewisse Einheit sogar in diesem Romane, wie in ge­wissen naturwissenschaftlichen materialistischen Anschauungen eine ge­wisse Einheit ist. Schließlich, wenn man auf den Wasserstoff schaut, auf den Sauerstoff schaut, auf das Zink schaut, auf das Gold schaut, es sind ja so verschiedene Dinge, aber zusammen findet man überall die eine atomistische Einheit. Es sind überall die Atome, sie sind nur ein bißchen anders zusammengekollert, so daß sie sich ein bißchen anders ausnehmen. Und hier in diesem Roman herrscht auch eine ganz merkwürdige Einheit.

So findet zum Beispiel der «Auch Einer» die Persönlichkeit, die weib­liche Persönlichkeit, die ihm wirklich einen großen Respekt eingeflößt hat im Leben, nun als Witwe wiederum. Es ist für ihn ein großer Moment. Dem Manne ist er zu tiefem Dank verpflichtet, der ist gestorben. Er fin­det die von ihm tief verehrte Persönlichkeit als Witwe wieder in einem Hotel. Sie kommt mit ihm in ein Gespräch. Und dieses Gespräch wird unterbrochen, weil eben der « Auch Einer » in einen furchtbaren Nies­krampf verfällt. Dieses Gespräch geht nicht zu Ende. Es ist immer die Materie, was da vernichtend wirkt, was in dieser Suche nach einer Welt­anschauung, nach dem Geist sich auflehnt, es ist immer die Materie, die da eingreift und die zum Schlusse eben alles materiell macht. Man kannja schon gar nicht anders, als alles dem Materialismus zuzuschreiben, wenn man die erhabensten Offenbarungen der Menschenseele gerade äußern will, und nun, nicht wahr, kommt nicht einmal das Wort «Ideal» zustande,

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sondern «Ide-» und dann kommt ein langer Nieser! Man siehtja, wie sich die Materie überall geltend macht und wie das Ideale eben ver­schwindet gegenüber der Materie.

Er ist schon eine außerordentlich bedeutsame kulturhistorische Er­scheinung, dieser Roman «Auch Einer» von dem Schwaben-Vischer, wenn man natürlich auch sagen muß, daß da vieles Philiströse drinnen ist. Aber dadurch ist er gerade wiederum ein besonderer Ausdruck für die Zeit. Und er drückt eben das aus, daß man schließlich als ein geistig ver­anlagter Mensch sich für die Bedürfnisse der menschlichen Seele nicht mehr zurechtfand in dem, was geworden war aus Geist, aus Materie, so daß man eben, wie der «Auch Einer», mit dem Geist auf die abstrakte­sten Ideen kommen konnte, die einander so totschlugen wie die Abschaf­fung der Prügelstrafen und die öffentliche Auspeitschung der Tierquäler. So schlägt eine Idee die andere tot. Und wendete man sich nun zur Ma­terie, so bekam man die Materie da, wo sie einem am wahrnehmbarsten wurde: in dem Nasenschleim.

Das war nicht gerade fein, möchte man sagen, aber der Schwaben­Vischer hat ja auch ein sehr interessantes Buch geschrieben über Frivoli­tät und Zynismus. Er wollte niemals frivol werden, haßte daher furchtbar die ausgeschnittenen Taillen der Damen, aber er fand in dem Zynismus etwas außerordentlich Richtiges, was man überall anwenden müsse, wo man das oder jenes ordentlich darstellen wollte. Und deshalb schreckte er auch nicht zurück, man möchte sagen, nicht frivol, aber manchmal etwas unappetitlich, die Weltenereignisse im materialistischen Sinne, aber humoristisch, wie er meinte, darzustellen.

Man muß schon das, was in den Zeiten lebt, nicht nur durch abstrakte Gedanken begreifen wollen, und auch nicht bloß durch Sentimentalität erfassen wollen, sondern man muß es in Stimmungen erfassen wollen. Und ich meine wirklich, daß etwas von der Stimmung des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts in jenen Empfindungen lag, die diese Schwabenseele durchdrungen haben, die Vischersche, als er den Roman «Auch Einer» geschrieben hat.

DAS MYSTERIUM DES KOPFES UND DAS DES UNTEREN MENSCHEN Dornach, 6. Mai 1923

#G225-1961-SE025 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DAS MYSTERIUM DES KOPFES

UND DAS DES UNTEREN MENSCHEN

Dornach, 6. Mai 1923

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Wenn wir eine solche Erscheinung ins Auge fassen wie die, von der wir gestern gesprochen haben, dann tritt uns ja so klar wie möglich eigent­lich entgegen, daß nicht nur im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhun­derts der Materialismus heraufgekommen ist in der geistigen Mensch­heitsentwickelung, sondern etwas, was im Grunde genommen noch schlim­mer ist als der Materialismus, daß heraufgekommen ist eine gewisse Un­sicherheit und Haltlosigkeit gerade derjenigen Geister und Denker, die nicht so bedingungslos mit dem Materialismus gehen konnten. Wir fin­den ja eigentlich in diesem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts den folgenden Tatbestand. Wir finden, daß die eigentlichen materiali­stisch gesinnten und gestimmten Menschen gerade damals eine gewisse innere Sicherheit schon hatten. Man braucht ja nur einen Blick zu wer­fen auf all diejenigen Menschen, welche aus ihrem, man möchte sagen, Erkenntnis-Machtbewußtsein heraus die naturwissenschaftlichen Ergeb­nisse für souverän erklärten, von da aus eine Weltanschauung begründe­ten. Sie traten mit einer gewissen ungeheuren Sicherheit auf. Und nicht eigentlich der Inhalt desjenigen, was sie gaben, sondern die Sicherheit ihres Auftretens hat dazumal die zahlreiche materialistische Anhänger­schaft hervorgebracht. Dagegen alle diejenigen, die, wie ich gestern aus­einandergesetzt habe, ja nur mit den abstrakten Ideen noch zum Geiste hielten, die fühlten sich mehr oder weniger so unsicher, wie eben der Schwaben-Vischer, von dem ich gestern gesprochen habe. Sie konnten an dem Geiste nur noch so festhalten, daß sie sagten: Da sind eben hinter den Erscheinungen der äußeren Sinneswelt wirkende Ideen. Aber diese Ideen konnten sie nur abstrakt darstellen. Sie konnten nicht ein wirkli­ches geistiges Leben hinter diesen Ideen den Menschen vor Augen rük­ken. Sie konnten nicht sprechen von einem wirklichen geistigen Leben. Daher hatten die abstrakten Ideen für sie selber nicht eine Richtung ge­bende Kraft. Und daher war schon in den neunziger Jahren eigentlich im öffentlichen Leben nichts mehr da von jenem Idealismus, der ja in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durchaus noch Geltung hatte, der dann von vereinzelten Menschen vertreten worden ist, wie ich

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ja in der vorletzten Nummer des «Goetheanum» angedeutet habe, der aber eben doch versiegt war, als die Wende des Jahrhunderts da war.

Charakteristisch ist ja, daß eingeleitet wurde das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts durch ein sehr wirksames Buch, die «Ge­schichte des Materialismus » von Friedrich Albert Lange. Diese «Geschich­te des Materialismus » hat einen außerordentlich tiefen Eindruck ge­macht. Sie ist 1866 zuerst erschienen, leitet also eigendich das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts ein. Diese «Geschichte des Ma­terialismus » kann so recht als ein Symptom für die Seelenverfassung, der die Menschheit nunmehr entgegenging, aufgefaßt werden. Denn was ist enthalten gerade in dieser «Geschichte des Materialismus »?

Friedrich Albert Lange stellt ungefähr dar, daß der Mensch zu keiner anderen vernünftigen Weltanschauung kommen könne als zum Mate­rialismus, daß er eigentlich nicht anders könne, wenn er sich nicht Illu­sionen hingeben will, als die atomistisch angeordnete Matetie für das­jenige zu erklären, von dem man ausgehen müsse für eine Welterkennt­nis. Also man müsse für die Wirklichkeit zugrundelegen diese den Raum erfüllende, materielle Atomenwelt.

Friedrich Albert Lange fiel es ja allerdings aul, daß man sich Begriffe machen müsse über diese Welt, und daß diese Begriffe, Ideen, doch et­was anderes seien als dasjenige, was in Atomen lebt. Aber er sagte: Nun ja, die Begriffe sind eben eine Erdichtung. Von ihm kam ja gerade der Ausdruck Begriffs-Dichtung. Und so dichtet der Mensch sich seine Be­griffe zusammen. Nur tritt die außerordentlich merkwürdige Tatsache ein, daß sich nicht jeder Mensch seine eigenen Begriffe dichtet: sondern damit man sich so ein bißchen versteht, kommt zustande, daß die Men­schen gemeinsame Begriffe erdichten. Aber erdichtet sind die Begriffe. Real ist eben nur die in den Raum gestreute atomische Materie.

Sehen Sie, das wäre krasser Materialismus, der alles, was über den Ma­terialismus hinausgeht, als Dichtung erklärt. Und man könnte sagen: Wenigstens ein konsequenter Standpunkt! Allein das ist die Sache nicht in Friedrich Albert Langes Buch. Wenn er nur so weit ginge, wie ich Ihnen bis jetzt erzählt habe, so wäre er eben ein konsequenter Materia­list. Schön. Ich habe Ihnen ja gestern gesagt, der konsequente Materia­lismus ist gar nicht zu widerlegen. Und wenn jemand nun keinen Zugang zur geistigen Welt hat - Friedrich Albert Lange hatte ganz gewiß kei­nen -, dann kann er eigentlich nichts anderes, als eben den Materialis­mus aufstellen als die einzig gültige Weltansicht.

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Aber das tut er nämlich nicht, sondern Friedrich Albert Lange sagt noch etwas anderes, was, ich möchte sagen, wie der rote Faden durch alle Ausführungen seines Buches hindurchgeht. Er sagt: Das ist schon richtig, man kann nur die materielle Atomenwelt als real annehmen. Aber wenn man das annimmt, wenn man nun hergeht und sagt, da wirkt im Raume die materielle Atomenwelt, so und so angeordnet im Wasserstoff, im Stickstoff, so und so zusammenwirkend, wenn Vorstellungen im Gehirn ausgekocht werden, und so weiter - wenn man das alles annimmt, so ist das zuletzt auch nur eine Begriffs-Dichtung. Also der Materialismus, zu dem man sich notwendig bekennen muß, der ist selbst eigentlich nur ein Idea­lismus, denn man erdichtet ja wiederum nur die Atomenwelt.

Es gibt ein viel einfacheres Bild, um dasjenige auszudrücken, was da Friedrich Albert Lange in seinem weltberühmten Buche zum Ausdruck gebracht hat; mit Bezug auf die logische Form gibt es ein viel einfacheres Bild. Das ist nämlich die berühmte Münchhausensche Persönlichkeit, die sich an dem eigenen Haarschopf anfaßt und sich nun da in die Höhe zieht. Der Idealist nimmt sich beim idealistischen Haarschopf und zieht sich in den Materialismus hinein.

Wir sehen, schon eines der weltberühmtesten Werke im Beginne des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts ist eigentlich nichts ande­res als ein ganz gewöhnlicher Unsinn, man kann gar nicht anders sagen, es ist eigentlich ein ganz gewöhnlicher Unsinn. Nicht wahr, wenn es Ma­terialismus wäre, diese «Geschichte des Materialismus», dann wäre es wenigstens neu. Aber daß es ein materialistischer Materialismus ist, ein erdichteter Materialismus ist, ja, das ist der reine Unsinn.

Aber was geschieht in diesem naturwissenschaftlich so erfolgreichen letzten Drittel des neunzehntenJahrhunderts? Diese historische Tatsache muß man ja vor die Seele hinstellen. Was geschieht? Friedrich Albert Langes Buch wird weltberühmt, denn es ist so ziemlich in alle Kultur-sprachen übersetzt worden, und die hervorragendsten, erleuchtetsten Geister haben es als eine erlösende Tat aufgefaßt.

Sie kennen ja die Sache, diejetzt so häufig in der Eurythmie aufgeführt worden ist: «Bim, Bam, Bum», wo der eine Ton, Bam, hinter dem Tone Bim dahinfliegt; aber Bim hat sich dem Bum ergeben:

«der ist zwar auch ein guter Christ,

allein das ist es eben».

Ich muß Sie daran erinnern: Alle diejenigen, die dann ihre Weisheit aus Friedrich Albert Lange gesogen haben, und die wiederum die Ausgangspunkte

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dafür gebildet haben, daß ja im Grunde genommen unser ganzes öffentliches Denken von dieser Sache durchsetzt ist, es waren ja alle er­leuchtete Geister - allein das ist es eben: für das letzte Drittel des neun­zehnten Jahrhunderts! Und diejenigen, die bloß Publikum waren, die ha­ben von alledem nichts gemerkt. Und so ist ja wirklich mit Bezug auf die tiefsten Interessenfragen der Menschheit ein ungeheuer intensiver Schlaf-zustand heraufgezogen.

Sie werden sagen: Die Dinge sind übertrieben. - Sie sind eben nicht übertrieben! Bloß die Tiefe des Schlafzustandes, der die Menschheit be­fallen hat in bezug auf die größten Fragen des geistigen Lebens, die Tiefe dieses Schlafzustandes ist eben untertrieben, nicht ist das, was ich gesagt habe, übertrieben, sondern die allgemeine Anschauung über diese Dinge ist eben untertrieben. Und man muß, wenn überhaupt ein gesundes Fun­dament entstehen soll für ein zuküuftiges Geistesleben, diese ganze schwerwiegende Tatsache, wie ich sie eben charakterisiert habe, sich vor die Seele rücken, mit aller Intensität sich vor die Seele rücken. Denn da­durch ist ja überhaupt das Interesse der Menschheit für die geistige Welt ausgeschaltet worden aus der Entwickelung dieser Menschheit. Und nach und nach wurde die Sache so, daß man jemanden um so mehr für einen großen Wissenschafter gehalten hat, je weniger er geistige Probleme nur überhaupt berührt hat. Das war die Situation um die Jahrhundertwende.

In diese Situation hinein versetzt war dann dasjenlge, was Anthroposo­phie sein wollte. Und so muß, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Auf­gabe der Anthroposophie aufgefaßt werden. Sie muß so aufgefaßt wer­den, daß sie tatsächlich aus dem Fundamente heraus arbeiten muß, nicht anknüpfen darf an dies oder jenes, das bei der einen oder anderen Rich­tung schon da ist. Es ist eben nichts da, und man muß aus dem Funda­ment heraus das Wesen des Anthroposophischen verstehen. Dann, wenn man aus dem Fundamente heraus das Wesen des Anthroposophischen versteht, wird man finden, daß die Tatsachen, die gerade durch die Natur­wissenschaften vorliegen, überall im höchsten Maße brauchbar sind für anthroposophische Forschung, und daß diese Tatsachen der Naturwissen­schaft erst ihre richtige Beleuchtung finden durch anthroposophische Forschung. So muß die Situation aufgefaßt werden. Aber dazu ist not­wendig, daß sich wirklich ein gewisser Teil der Menschheit entschließt, den Intellektualismus ins Spirituelle hinüberzuführen.

Gewiß, die Menschen, die sich der anthroposophischen Bewegung an­schließen, sind ja alle tief erfüllt von einem gewissen Drang und Hang

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nach der geistigen Welt. Aber die wenigsten lieben es, auch die Ideenwelt der Gegenwart hinüberzuführen ins Spirituelle. Man möchte mit Aus­schaltung der Ideenwelt Anthroposophie sozusagen wie eine Art Gemüts-trost in sich aufnehmen. Das aber wird nicht genügen, um der Anthropo­sophie ihre impulsive Kraft im geistigen Leben zu geben. Sehen Sie, was da in Betracht kommt, das muß wirklich im einzelnen, Konkreten erfaßt werden, und da will ich Ihnen heute gerade ein einzelnes konkretes Bei­spiel vorführen.

Ich habe es Ihnenja öfter gesagt: Dasjenige, was Sie heute als Kopf auf-gesetzt haben, das ist der umgewandelte Organismus des vorigen Lebens. Nur muß man von diesem Organismus des vorigen Erdenlebens den Kopf wegdenken. Es ist wirklich so. Da war man im vorigen Erdenleben, den Kopf muß man wegdenken, der löst sich auf im Weltenall. Dasjenige aber, was der übrige Organismus ist, das wird nun der Kopf des nächsten Erdenlebens. Und aus diesem Organismus wird wiederum der Kopf des nächsten Erdenlebens und so weiter. So ist die Sache.

Nun kann ja heute wiederum jemand sagen: Aber nicht nur mein Kopf ist begraben worden im vorigen Erdenleben, sondern auch mein übriger Organismus. Der hat ja gar keine Gelegenheit gehabt, sich zu verwan­deln in den Kopf meines diesmaligen Erdenlebens. Ja, das ist ja eine ganz oberflächliche Auffassung. Da sehen Sie nicht hin auf Ihren Kopf und auf den übrigen Organismus, sondern da sehen Sie hin auf die physische Ma­terie, die heute Ihren Kopf ausfüllt. Ja, die ändert sich auch während des Erdenlebens ungefähr alle sieben Jahre. Was Sie heute als Ihre Materie in sich tragen, das haben Sie vor acht Jahren noch nicht gehabt. Dasje­nige, was durch das Erdenleben durchgeht, das ist ja die durchaus un­sichtbare übersinnliche Form.

Die Materie, die Ihren Kopf ausfüllt, die haben Sie natürlich erst in diesem Erdenleben aufgenommen. Aber die Form, die übersinnlichen Kräfte, die sich heute zu den Augen runden, die die Nase aufstülpen, sind dieselben Kräfte, die im vorigen Erdenleben Arme und Beine und den übrigen Organismus eben gebildet haben. Daß Sie mit physischen Sinnen von den anderen Menschen gesehen werden, das rührt davon her, daß ganz gestaltlose Materie Ihre Gestalt ausfüllt. Es ist ja nicht die Materie, die Ihnen die Gestalt gibt. Wenn Sie Salz essen, sowillja das Salz würfel­förmig sein, es will nicht nasenförmig sein, auch nicht augenöfrmig, es will würfelförmig sein und so weiter. Daß Sie die Gestalt haben, als die Sie als Mensch erscheinen, das haben Sie ja nicht von der Materie, die

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der Grund Ihrer physischen Sichtbarkeit ist; aber die Gestalt Ihres ge­genwärtigen Kopfes, die ist wirklich durch Metamorphosen hindurchge­gangen, durch die Gestalt Ihres Organlsmus außer dem Kopfe des vori­gen Erdenlebens. Dadurch aber war ja Ihr Kopf wirklich in einer außer­ordentlich günstigen Situation. Weil er so gut behandelt worden ist im Weltenall, deshalb ist er auch zuerst, als ein richtig gestalteter Kopf, im Embryonalleben aufgetreten. Denken Sie sich nur, der Kopf ist ja zuerst sehr schön ausgebildet, das andere hängt im ersten Embryonalleben wirk­lich nur wie Nebenorgane daran. Das muß erst von außen gestaltet wer­den, sieht eigentlich furchtbar aus im Verhältnis zur Menschengestalt, wenn man es betrachtet, während der Kopf von Anfang an eigentlich sehr schön schon ausgebildet ist. Wer allerdings nur den ausgewachsenen Menschen gelten läßt, für den wird ja auch der Kopf des Embryo etwas Unsympathisches haben, aber eigentlich ist er schon schön ausgebildet. Das ist, weil er sich seine Gestaltungskräfte aus dem vorigen Leben mitbringt.

An diesem Kopfe ist also eigentlich so gearbeitet worden zwischen dem Tod und der jetzigen Geburt, wie ich das in den Vorträgen über Kosmo­logie, Religion und Philosophie vor längerer Zeit im Goetheanum drüben aufgestellt habe. Dieses Arbeiten zwischen Tod und neuer Geburt be­zieht sich eben auf die Ausgestaltung der Formkräfte des menschlichen Hauptes.

Deshalb aber ist das Haupt des Menschen gegenüber dem Kosmos et­was außerordentlich Vollkommenes. Das Haupt des Menschen enthält eigentlich materiell das Abbild des Geistes, der Seele und des Leibes des Menschen. Wenn man also das Haupt ins Auge faßt, so hat man da auf materielle Art, indem sie in der gestalteten Materie erscheinen, zusam­menwirkend Geist, Seele und Leib. Man könnte sagen: Für das Haupt des Menschen ist Geist, Seele und Leib noch leiblich. Sehen Sie, das ist das Geheimnis des menschlichen Hauptes, daß auf leibliche Art da der Geist auftritt, daß wir an dem Wunderbau des Gehirns materiell aufzeigen kön­nen: dieser Wunderbau ist ein Bild des Geistes. Wie der Siegellack das ausdrückt, was auf dem Petschaft ist, so haben wir durch das Haupt ma­teriell Geist, Seele und Leib gegeben.

Bei dem Stoffwechsel-Gliedmaßen-Menschen ist es so, daß Sie sagen können: Da ist eigentlich alles mehr oder weniger physisch vorhanden. Die Beine, diese zwei Säulen, haben ja noch nichts von dem Wunderbau des menschlichen Hauptes. Sie werden erst eine Metamorphose durch­machen. Sie werden als Unterkiefrr mit seiner wunderbaren Funktion

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und Beweglichkeit im nächsten Erdenleben erscheinen, während die Ar­me nach der Umwandlung im nächsten Leben hineingeheimnist sind in den Oberkiefer und so weiter. So daß man sagen kann: In dem Bewe­gungssystem - es sind allerdings schon die Arme etwas umgestaltet, nach­dem der Mensch seinen aufrechten Gang sich angeeignet hat -, da ist im wesentlichen das Umgekehrte der Fall, da ist Geist, Seele und Leib ei­gentlich geistig. Da sind Geist, Seele und Leib durchaus ein Geistiges.

Man möchte sagen, so wie der Mensch materiell aussieht in bezug auf seine Beine und alles dasjenige, was da dran hängt, so ist das nicht wahr. Es wird erst in seiner wahren materiellen Gestalt sich im nächsten Erden-leben zeigen, wenn es Kopf geworden ist. Jetzt ist es ganz im Anfange, ist eigentlich in dem, als was es materiell erscheint, ganz unwesentlich. Das Wesentliche daran ist dasjenige, was es erst durch den Willen wird: die Bewegung, die Dynamik, die Statik, alles dasjenige, was der Mensch von seinem Bewegungssystem in den Willen überführt. Also was geistig un­greifbar, was geistig übersinnlich ist, das ist dasjenige, was dieser übrige Mensch ist. Während also der Kopf bei jedem materiellen Wesen ein Ab­bild des Geistes ist und der Geist selbst da leiblich erscheint, ist beim Be­wegungssystem der Leib kaum leiblich. Man muß überall, wenn man überhaupt in dem ganzen Bewegungssystem einen Sinn finden will, auf­suchen: Inwiefern taugt das Leibliche zum Geistigen, zur geistigen Of­fenbarung des Menschen? So daß man sagen kann: Das ist das ganz groß­artige Mysterium des Kopfes, daß Geist, Seele und Leib leiblich sind. Daß Geist, Seele und Leib geistig sind, das ist das großartige Mysterium des unteren Menschen.

Sehen Sie, das Alte Testament hat aus dem instinktiven Hellsehen viel besser über diese Dinge Bescheid gewußt als der heutige Mensch. Der heutige Mensch überschätzt eigentlich den Kopf. Ich habe das ja von verschiedenen Gesichtspunkten aus schon auseinandergesetzt. Im Alten Testament werden Sie niemals die Illusion hingestellt finden, als ob das Gehirn Träume aushecke! Es wird davon geredet: Jahve peinigte den Men­schen im Schlafe in bezug auf seine Nieren. Da wußte man, daß im Stoff­wechselsystem dasjenige liegt, was sich im Träumen darstellt. Da schrieb man nicht alles dem Kopfe zu. Warum schreibt man denn heute eigent­lich alles dem Kopfe zu? Das will ich Ihnen sagen: An den Geist glaubt man nicht, deshalb schaut man auf dasjenige am Menschen nicht hin, wo selbst der Leib noch geistig ist. Auf den unteren Menschen schaut man eigentlich nicht hin, da ist man nicht stolz darauf. Aber man schaut auf

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das, wo selbst der Geist leiblich-materiell ist, auf den Kopf: Auf das ist man stolz, weil da der Geist materiell-leiblich wird.

Also Überschätzung des Kopfes, das ist schon Materialismus. Man will bloß die Materie und will auch den Geist bloß als Materie haben. Des­halb findet man heute in unseren physiologischen, in unseren wissen­schaftlichen Darstellungen den Kopf so beschrieben, wie er beschrieben wird, weil man den Geist nur materiell haben will. Das ist er, aber im Kopfe. Nur natürlich weiß man nichts davon, daß, bevor dieser Kopf den Geist bis zur leiblichen, das heißt materiellen Bildhaftigkeit herunterbrin­gen konnte, er durchgehen mußte durch das ganze Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Daß überhaupt dieses materielle Abbild des Geistes des Menschen im Kopf hat entstehen können, dem mußte eine lange geistige Entwickelung vorangehen. Diese materielle Wunderbildung des menschlichen Gehirns ist der Abschluß einer wunderbaren Geistes-entwickelung. Aber man will bloß auf das Materielle sehen, will auch bloß den Geist in seiner materiellen Form gelten lassen.

Nun, jetzt wollen wir einmal uns entschließen, meine lieben Freunde, recht achtzugeben. Man kann ja auch, wenn man schon über das vier­zehnte Jahr hinaus ist, trotzdem noch recht achtgeben. Nicht wahr, da haben wir oben eine Region im Menschen, die ist ganz leiblich, und da haben wir unten eine Region im Menschen, die ist ganz geistig. Ja, muß es da nicht einen Zwischenpunkt geben, der weder ganz leiblich noch ganz geistig ist, der beides ist, folglich keines von beiden? Es muß also da in der Mitte einen neutralen Punkt geben, wo das Geistige ins Leibliche, und das Leibliche ins Geistige übergeht, wo keines von beiden da ist, wo der Mensch weder abhängig von oben, noch abhängig von unten ist, wo er unabhängig von beiden ist. Das muß es da irgendwo in der Mitte geben.

Wollen wir uns die Bedeutung dieses Punktes, der also im mittleren Menschen, im Brust-Menschen liegen muß, einmal klarmachen. Den­ken Sie sich, Sie haben hier eine Waage. Denken Sie sich hier eine Last, auf der anderen Seite Gewichte; nun bringen Sie ein Gleichgewicht her­vor. Ich darf nicht hier ein Übergewicht geben, sonst geht das herunter, ich darf auch nicht dort ein Übergewicht geben, sonst geht das herunter, ich darf auch nichts wegnehmen, sonst bewegt sich das Ganze. Aber se­hen Sie, hier ist ein Punkt, ein neutraler Punkt. In diesen Punkt könn­ten Sie hineinbringen so viel Sie wollten, nichts würde geändert im Gleichgewicht der Waage. Sie könnten auch die Waage da nehmen, und wenn Sie vermeiden, daß irgendwo ein Übergewicht entsteht durch irgendeinen

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Schwung oder so etwas, so können Sie die Waage überall herumbewegen, das Gleichgewicht bleibt dasselbe. Sie können während der Bewegung richtig das Wägen ausführen. Das ist ein Punkt, der über­haupt das ganze System der Waage nichts angeht, ein Gleichgewichts­punkt. An dem können Sie ausführen, was Sie wollen, so ändert sich für die übrigen Verhältnisse der Waage gar nichts. Da hat zum Beispiel ei­ner hier eine Last darauf auf der anderen Seite Gewichte. Jetzt fällt ihm ein: Der Waagebalken ist von Eisen, das gefällt mir nicht, ich mache ihn aus Gold. - Nun braucht er nur den Mittelpunkt etwas zu ver­größern, denn eigentlich ist der Ruhepunkt ein mathematischer Punkt, aber man wird ihn etwas vergrößern können. Man kann ganz gut Gold hier hereinbringen in den Ruhepunkt: das Gleichgewicht wird nicht ge­ändert. Wenn Sie das Gold hier irgendwo hinbringen - außerhalb des Mit­telpunktes -, dann ändert sich gleich das Gleichgewicht. Aber wenn einer da einen hohlen Raum erzeugen und Fleisch hineinbringen will, so kann er das auch, es ändert sich das Gleichgewicht dadurch nicht. Ein anderer bringt Butter hinein: die Butter schmilzt in der Sonne, das Gleichgewicht der Waage ändert sich nicht.

Kurz, es ist eben hier ein Punkt, ganz unabhängig von dem ganzen System der Waage, wo Sie machen können, was Sie wollen.

In derselben Lage ist der Punkt, der da zwischen dem Leiblichen und Geistigen als ein Ausgleichspunkt drinnen liegt. Der ist weder vom Leib­lichen noch vom Geistigen irgendwie abhängig. Da kann der Mensch aus diesem Punkt heraus machen, was er will.

Wenn man sich einfach vorstellt, der Mensch ist ein leibliches Wesen, und alles hängt einseitig nach Ursache und Wirkung zusammen, da fin­det man diesen Punkt nicht. Wenn man sich vorstellt, der Mensch ist nur ein geistiges Wesen, und alles ist von oben herunter durch göttliche Wel­ten determiniert, dann ist wiederum nichts zu machen, denn dann muß der Mensch das ausführen, was von den Göttern determiniert ist. Wenn man aber weiß: Da ist ein Gleichgewichtspunkt, da ist der Mensch gott-bestimmt nach oben, materiebestimmt nach unten, und mit dem einen Punkt, der nun nachweisbar ist in seinem mittleren Menschen, mit dem kann er anfangen in der Welt, was er nur aus sich heraus anfangen will -wenn Sie diese dreifache Konstitution des Menschen haben, dann finden Sie in dem mittleren Teil wissenschaftlich streng nachweisbar die Tat­sache der menschlichen Freiheit. Das kann man so sagen, das ist so wis­senschaftlich, wie irgendeine quadratische Gleichung gelöst werden kann,

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oder ein Differential-Quotient gesucht werden kann, oder irgend etwas. Es ist etwas, was nach den strengen Regeln der Wissenschaft behandelt werden kann. Also Freiheit ist das Ergebnis einer wirklichen Kenntnis der Konstitution des Menschen, weil es im Menschen einen Punkt gibt, der nach oben hin und nach unten so unabhängig ist, wie von der Last rechts und links das Hypomochlion der Waage unabhängig ist. Sie kön­nen die Waage überall herumtragen, können diesen Punkt ersetzen, wie ich Ihnen erzählt habe, durch was Sie wollen. So können Sie auch einen Punkt im Menschen finden, wo die Naturkausalität, die Ursachen- und Wirkungszusammenhänge aufhören, wo auch die Zusammenhänge von oben aufhören, die Determination durch die geistige Welt, wo sich beide das Gleichgewicht halten. Da, in diesem Hypomochlion der mensch­lichen Natur ist verbürgt die menschliche Freiheit. Und sie ist wissen­schaftlich streng nachweisbar, wenn man eine wahre Physiologie und eine wahre Psychologie hat, nicht dasjenige, was man heute hat, und was ja, wie ich Ihnen schon gezeigt habe, sich zum Dilettantismus im Quadrat zusammensetzt in der Psychoanalyse.

Das sind die Dinge, die den Menschen, die davon erfahren, zu denken geben sollten, indem sie folgendes ins Auge fassen. Sie können sich ja die ganze Literatur und Philosophie hernehmen, können überall nachlesen von dem Problem der Freiheit - keiner kommt mit dem Problem der Frei­heit zurecht. Warum? Weil er ja gar keine wirkliche Anschauung vom Menschen hat. Die gibt es eben heute nicht außer der Anthroposophie. Und die Tatsache, daß man mit dem Freiheitsproblem nicht zurecht­kommt, die weist wiederum zurück auf die andere Tatsache, die ich Ihnen gestern, allerdings mehr mit einem humoristischen Tone, zu beleuchten ver­sucht habe. Aber das, was ich gestern versuchte, aus einer wenigstens angeb­lich humoristischen Schöpfung heraus, auf humoristische Weise zu charak­terisieren, das läßt sich eben durchaus auch mit allem Ernste darstellen.

Und mit Ernst muß man diese Dinge behandeln, wenn man sich auch im Ernste zur Anthroposophie bekennen will. Dann handelt es sich wirk­lich darum, daß man auf die echten Realitäten losgeht, und diese aber auch in der entsprechenden Weise verwendet. Nicht wahr, wenn man doch nicht recht weiß: Soll man sich zum Geist bekennen, weil man den Geist nur in abstrakten Ideen kennt, oder soll man sich zum Materialis­mus bekennen, ja, dann wird man eben ein solcher Humorist wie der Schwaben-Vischer, dann denkt man als ein solcher Humorist ein humo­ristisches Weltensystem aus, das gar nicht für einen feineren Geschmack,

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möchte ich sagen, ist, das katarrhalische Weltensystem. Gewiß, man kann ja darüber lachen, - aber so mit absoluter Gewißheit kann man ja auch nicht sagen, daß das nun nicht stimmt, die Welt sei entstanden durch einen «Nieser des Absoluten». Da ist eben wiederum ein Materielles nicht in der richtigen Weise verwendet. Es handelt sich nur darum, das Materielle immer in der richtigen Weise zu verwenden. Man muß - ob man es nur erkennen will, oder ob man es gebrauchen will - dieses Ma­terielle in der richtigen Weise verwenden. Ich habe Ihnen ja davon ge­stern ein Beispiel gegeben, ich habe Ihnen dargestellt die Anschauung des Schwaben-Vischers, wie er tatsächlich aus dem Katarrh als aus einer zwingenden, überwältigenden Realität heraus ein ganzes Weltensystem schafft. Ja, auf dem Gebiete der Anthroposophie tut man das nicht! Da hat man auch einen Katarrh, wie ich gestern, aber ich habe ihn immer nur ab und zu zur Illustration verwendet: ab und zu kam das Katarrha­lische, das Husten heraus; das war nur zur Illustration verwendet, nicht um gleich irgendwie die Grundlage zu einer Weltanschauung zu gewin­nen, sondern nur um Anschauungsunterricht zu geben.

Nicht wahr, wenn man so haltlos hinwankt zwischen der katarrhalen Materie und dem bloß ideellen Geiste, dann kommt man darauf, von der Verführung und Versuchung durch den Gott Gripo zu sprechen. Das ist ja auch nicht mehr auf dem Boden der Anthroposophie möglich. Da pro­pagiert man ein Grippemittel, um eben der Versuchung nicht ausgesetzt zu sein, eine ganze Sündenfallmythe an den Gott Gripo anzuknüpfen! Es handelt sich darum, daß man auch das Materielle an der richtigen Ecke erfaßt und es an seinen richtigen Platz stellt.

Also die Dinge müssen sich wesentlich ändern. Wenn man ein solcher Geist war wie der Schwaben-Vischer im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts, da ärgerte man sich, und spuckte und räusperte sich, und fand schließlich die Farce von dem Gotte Gripo. Wenn man Anthropo­soph ist, so versucht man die Grippe mit unserem ja sehr wirksamen Grippemittel einfach zu bekämpfen! Das sind die Dinge, die Sie hinwei­sen auf den richtigen Unterschied, wie man aus dem Geiste heraus das Materielle behandelt.

Schon an der ganzen Art, wie man heute das menschliche Haupt, den menschlichen Kopf erkenntnismäßig betrachtet, sieht man, daß eigent­lich die gesamte heutige Weltanschauung eine tiefe Sympathie für den Materialismus hat. Und an der Tatsache, daß man dem Freiheitsproblem zeitlos gegenübersteht, drückt sich das aus, daß man eben nicht weiß, daß

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zwei ganz verschiedene Weltenimpulse an dem oberen Menschen und an dem unteren Menschen tätig sind. Und diejenigen, die in alten Zeiten bloß nach dem oberen Menschen geschaut haben, die haben gefunden: Der Mensch kann nicht frei sein, denn er ist überall determiniert aus der geistigen Welt heraus. Diejenigen, die heute nach dem Menschen hin­schauen, die schreiben alledem, was sich am Menschen äußert, einfach eine Naturkausalität zu. Von beiden Gesichtspunkten aus kann der Mensch nicht frei sein. Aber die geistige Kausalität gilt für den Kopf, die Naturkausalität gilt für den Stoffwechsel-Gliedmaßen-Menschen. Dazwischen liegt die rhythmische Organisation, die eben deshalb rhyth­misch ist, weil sich in ihr die Dinge rhythmisch ausgleichen. In der rhythmischen Organisation liegt etwas, was weder im geistigen noch im materiellen Sinne determiniert ist, was weder determiniert noch kausali­siert ist, was darstellt den Punkt, aus dem heraus der Freiheitsimpuls beim Menschen kommt.

Sie sehen, an solchen konkreten Punkten kann man aufzeigen, wie An­throposophie gerade hineinleuchtend wirkt in die tiefsten Probleme des Menschendaseins. In demselben Augenblicke, in dem aufgestellt worden ist in meinem Buche «Von Seelenrätseln » die dreigliedrige Menschen-natur: Nerven-Sinnes-Mensch, rhythmischer Mensch, Stoffwechsel-Gliedmaßen-Mensch, in demselben Augenblicke war eben zurückge­leuchtet auf die «Philosophie der Freiheit», in der die Freiheit einfach als eine Tatsache hingestellt worden ist. Es war hingeleuchtet auf diese Tatsache der Freiheit, so daß man sagen konnte: Betrachtet ihr den Men­schen seiner wahren Wesenheit nach als eine solche dreigliedrige Organi­sation, dann könnt ihr ganz wissenschaftlich exakt zur Darstellung der Freiheit im Menschen kommen, wie man zur Darstellung des Hypomoch­lions bei der Waage kommt, oder irgendwo bei einem Kräftesystem eben zur Darstellung eines Gleichgewichtspunktes kommt, der dann da ist, un­abhängig von dem übrigen Spiel der betreffenden Kräfte des Kräftesy-stems. Aber Sie werden daraus auch sehen, wie Sie eigentlich heute über­all hinschauen können: Nirgends finden Sie ja die Wahrheit über diese Dinge vertreten. Und aus jenen mangelhaften Begriffen heraus, die ganz fernestehen der wahren Organisation des Menschen, werden die Men­schen heute erzogen, bilden daraus moralische Systeme, Religionssyste­me, bilden daraus namentlich soziale Systeme. Ja, kein Wunder, daß diese sozialen Systeme in solchen Ausgeburten des Denkens sich dar­lehen, wie das an dem Beispiel so deutlich zutage tritt, das neulich von

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Leinhas im «Goetheanum» charakterisiert wurde, wo einer zugeben muß, daß ja die Anschauungen, die an den Marxismus anknüpfen, sich im Le­ben selber widerlegt haben, das Leben zeigt, daß sie nicht gelten können. Aber das ist nicht ausschlaggebend, man muß erst abwarten, bis einer wissenschaftlich beweist, daß sie nichts gelten können. Man kann eigent­lich, wie es ja durch Leinhas geschehen ist, solche Dinge nur noch in Gänsefüßchen mit den eigenen Worten der Autorität anführen, denn will man sie wiederholen, dann glaubt man, es zerspringt einem der Kopf. Es dreht sich nicht nur ein Mühlrad im Kopf herum, sondern man glaubt überhaupt, es zerspringt einem der Kopf, wenn man solche Dinge nur nachdenken soll.

Das ist notwendig, daß man nicht bloß innerhalb der anthroposophi­schen Bewegung sich mitbewegt und draußen alles grad und krumm gehen läßt, sondern daß man sich interessiert zunächst dafür, wie chao­tisch allmählich unsere Erkenntnis und dasjenige, was aus dieser Erkennt­nis in der Welt vielfach geschöpft worden ist, sich eigentlich ausnimmt.

KULTURPHÄNOMENE Dornach, 1.Juli 1923

#G225-1961-SE038 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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KULTURPHÄNOMENE

Dornach, 1.Juli 1923

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Der heutige Vortrag soll in der Reihe derjenigen, die ich gehalten habe, nur eine Episode sein, ein Einschiebsel also, und zwar aus dem Grunde, weil es notwendig ist, daß Anthroposophen wache Leute seien, das heißt, sich ein Urteil bilden durch ein gewisses Hinschauen auf die Welt. Und so ist eben schon von Zeit zu Zeit einmal notwendig, daß auch innerhalb der Vorträge, die sonst den anthroposophischen Stoff behandeln, das eine oder das andere eingeschoben werde, was einen Blick eröffnet auf die sonstigen Vorgänge, auf die sonstige Verfassung unserer Zivilisation. Und zwar möchte ich heute etwas weiter ausführen dasjenige, was ich kurz dargestellt habe in dem letzten Artikel des «Goetheanum», wo ich über eine Schrift gesprochen habe, diejetzt eben neu erschienen ist: «Ver­fall und Wiederaufbau der Kultur» von Albert Schweitzer. Sie bezeichnet sich als der erste Teil einer Kulturphilosophie und beschäftigt sich im wesentlichen mit einer Art Kritik der gegenwärtigen Kultur. Ich möchte aber, um die Charakteristik, die Albert Schweitzer über die Gegenwart gibt, auf einiges zu stützen, davon ausgehen, daß ich den Bestand der­jenigen Kultur, die Albert Schweitzer treffen will, durch ein einzelnes, aber vielleicht charakteristisches Beispiel vor Sie hinstelle. Ich hätte ja Tausende wählen können. Man braucht nur so hineinzugreifen, man kann nicht sagen, in das volle Kulturleben der Gegenwart, sondern in den vollen Kulturtod der Gegenwart, und man findet immer Genügen­des. Gerade darum handelt es sich ja, wie ich auch in den pädagogischen Vorträgen gestern und heute bemerkt habe, daß wir uns gewöhnen, in solche Dinge mit ehrlich wachem Auge zu sehen. Und so habe ich denn zu einer Art von Grundlage etwas herausgegriffen aus der Reihe, die ja immer wie eine Repräsentation der gegenwärtigen Geisteskultur gelten kann, ich habe eine Rektoratsrede gewählt, die gehalten worden ist 1910, am 15.Oktober in Berlin. Ich habe diese Rede deshalb gewählt, weil sie gerade von einem Mediziner herrührt, von einer Persönlichkeit, die also nicht etwa einseitig in irgendeiner philosophischen Kulturbetrachtung darinnensteht, sondern die aus naturwissenschaftlichem Denken heraus eine Art Zeittableau hat geben wollen.

Nun will ich Sie nicht mit dem ersten Teile dieser Rektoratsrede plagen,

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wo vorzugsweise von der Berliner Universität die Rede ist, sondern ich möchte Sie mehr mit den allgemeinen Weltanschauungsgedanken bekanntmachen, die der Mediziner Rubner - er ist es nämiich - dazumal bei feierlicher Gelegenheit äußerte. Es ist schon deshalb das Beispiel vielleicht charakteristisch, weil es eben in das Jahr 1910 fällt, wo alles in Europa und weit über Europa hinaus in dem optimistischen Glauben war, daß ein ungeheurer geistiger Aufschwung da sei, daß man es eben so herrlich weit gebracht habe. Das, was ich auswählen will, ist eine Art Apostrophe an die Studentenschaft, aber eine solche Apostrophe, die ei­nen so recht in dasjenige hineinsehen läßt, was eine repräsentative Per­sönlichkeit der Gegenwart in ihrem Herzen eigentlich herumwälzt. Da wird zunächst die Studentenschaft so angeredet: «Wir müssen alle lernen. Wir bringen auf die Welt nichts anderes mit als unser Instrument zur geisti­gen Arbeit, ein unbeschriebenes Blatt, das Gehirn, verschieden veranlagt, verschieden entwickelungsfähig; wir empfangen alles aus der Außenwelt.»

Nun ja, man kann, wenn man durch diese materialistische Kultur der Gegenwart durchgegangen ist, ja auch diese Ansicht haben. Man braucht nicht engherzig zu sein. Man muß sich klar sein darüber, welche Macht die materialistische Kultur auf die gegenwärtigen Persönlichkeiten aus­übt, und man kann dann begreifen, wenn jemand so spricht, daß man in die Welt hereinkomme mit einem unbeschriebenen Blatt, dem Ge­hirn, und daß man alles von der Außenwelt empfange. Aber hören wir doch weiter, wie diese Ansprache an die Studenten nun weitergeht. Da wird zunächst ausgeführt, scheinbar etwas klarer, wie wir ein unbeschrie­benes Blatt sind, wie das Kind des bedeutendsten Mathematikers wieder das Einmaleins lernen muß, weil es ja leider von seinem Vater die hohe Mathematik nicht vererbt hat, wie das Kind des größten Sprachforschers wiederum seine Muttersprache lernen muß und so weiter. Kein Gehirn möchte auch das alles fassen, was seine Vorfahren insgesamt erlebt und erfahren haben. Nun aber wird diesen Gehirnen angeraten, was sie, weil sie so ganz unbeschriebene Blätter sind, tun sollen in der Welt, um be­schrieben zu werden. Da heißt es weiter: « Was Milliarden Gehirne im Laufe der menschlichen Geschichte erwogen und gereift, was unsere Geistesheroen mitgeschaffen haben . ...» - nicht wahr, das wird so zwei Seiten lang hintereinander gesagt, es wird den Menschen eingeschärft: sie kommen mit ihren Gehirnen als mit einem unbeschriebenen Blatt zur Welt und sollen nur recht acht geben, daß sie das aufnehmen was die Geistesheroen geschaffen haben.

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Ja, wenn diese Geistesheroen alle unbeschriebene Blätter waren, wo­her soll denn das alles gekommen sein, was die geschaffen haben, und was nun die anderen unbeschriebenen Blätter aufnehmen sollen? Ein merkwürdiger Gedankengang, nicht wahr! - Also: «was unsere Geistes­heroen mitgeschaffen haben, empfängt es», dieses unbeschriebene Blatt Gehirn, «in kurzen Sätzen durch die Erziehung, und daraus kann nun seine Eigenart und sein individuelles Leben sich entfalten.»

Auf der nächsten Seite wird diesen unbeschriebenen Blättern, diesen Gehirnen, nun ein merkwürdiger Satz vorgesetzt: «Das Erlernte gibt das Grundmaterial für das produktive Denken.» Also jetzt figuriert auf einmal das produktive Denken auf den unbeschriebenen Blättern, diesen Gehirnen. Es wäre doch selbstverständlich, daß jemand, der von den Gehirnen als unbeschriebenen Blättern spricht, da nicht sprechen würde von produktivem Denken.

Nun ein Satz, der so recht zeigt, wie massiv materialistisch die Besten eigentlich allmählich gedacht haben. Denn Rubner ist nicht einer der schlechtesten. Er ist ein Mediziner und hat sogar den Philosophen Zeiler gelesen, was etwas heißen will. Also er ist gar nicht engherzig, sehen Sie. Aber wie denkt er? Er will das Erfrischende des Lebens darstellen, da sagt er: «aber es hat stets etwas Erfrischendes, auf einem neuen, bisher unbeackerten Felde des Gehirnes zu arbeiten». Wenn also der Student eine Zeitlang etwas gelernt hat und nun zu einem anderen Fache über­geht, dann bedeutet das, daß er nun ein neues Feld des Gehirns beackert. Sie sehen, die Denkformen haben allmählich eine ganz charakteristische materialistische Note bekommen. «Denn», so sagt er weiter, «manche Felder des Gehirns werden erst erträgnisreich, wenn man sie wiederholt beackert, tragen aber schließlich dieselben guten Früchte wie andere, die müheloser sich erschließen.»

Man kann außerordentlich schwer jetzt diesem Gedanken nachgehen, denn es soll das Gehirn ein unbeschriebenes Blatt sein, und nun soll es von den beschriebenen Blättern, die aber auch einmal bei ihrer Geburt unbeschriebene gewesen sein müssen, alles lernen. Nun soll dieses Gehirn beackert werden. Aber nun müßte wenigstens ein Ackersmann da sein. Je weiter man eingehen würde auf solch ganz unglaubliches, unmögliches Denken, desto verwirrter würde man werden. Aber Max Rubner ist sehr besorgt um seine Studenten, und daher rät er ihnen, das Gehirn nur ja recht zu beackern. Sie sollen also das Gehirn beackern. Nun kann er doch nicht anders, als sagen, daß nun das Denken das Gehirn beackert. Aber

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nun will er das Denken eben empfehlen. Da schlägt ihm wieder seine materialistische Denkweise in den Nacken, und da findet sich denn ein außerordentlich hübscher Satz: «Das Denken stärkt das Gehirn, letzteres nimmt durch Übung ebenso in den Leistungen zu wie ein anderes Organ, wie unsere Muskelkraft durch Arbeit und Sport. Studieren ist Gehirn­sport.»

Nun, jetzt wußten die Berliner Studenten 1910, was sie vom Denken zu halten haben: «Denken ist Gehirnsport.» Ja, da fällt der repräsentati­ven Persönlichkeit der Gegenwart gar nicht ein, was beim Sport noch viel interessanter ist als dasjenige, was da äußerlich sich abspielt. Ungeheuer viel interessanter beim Sport wäre nämlich das zu betrachten, was sich während der verschiedenen sportlichen Bewegungen in den Gliedern der Menschen eigentlich abspielt, was da für innere Vorgänge geschehen. Dann würde man sogar auf etwas sehr Interessantes kommen. Wenn man dieses Interessantere des Sportes betrachten würde, dann würde man dar­auf kommen, daß der Sport ja zu denjenigen Betätigungen gehört, die dem Gliedmaßenmenschen, dem Stoffwechselmenschen angehören. Das Denken gehört dem Nerven-Sinnes-Menschen an. Da kehrt sich das Ver­hältnis um. Was beim Menschen nach innen gewendet ist, die Vorgänge im Innern des menschlichen Wesens, die treten beim Denken nach außen. Und dasjenige, was beim Sport nach außen tritt, das tritt nach innen. Also müßte man gerade beim Denken das Interessantere in Betracht zie­hen. Aber die repräsentative Persönlichkeit hat eben das Denken verlernt, kann überhaupt nicht irgendeinen Gedanken zu Ende bringen.

Aus einem solchen, eigentlich in sich ganz unvollendeten, immer un­vollendet bleibenden Denken ist ja unsere ganze neuzeidiche Kultur her­vorgegangen. Man fängt nur gewissermaßen bei solchen repräsentativen Gelegenheiten dieses Denken, das unsere Kultur hervorgebracht hat, eben ab. Man ertappt es gewissermaßen da. Aber leider sind diejenigen, die solches Ertappen anstellen, ja nicht allzu häufig. Denn bei einer Ber­liner Rektoratsrede, also einer Universitätsrede bei feierlicher Gelegen­heit: «Unsere Ziele für die Zukunft » - da wird man, wenn man ein rich­tiger Mensch der Gegenwart ist, doch ernst. Das sagt ja die Wissenschaft, das sagt ja die unbesiegbare Autorität Wissenschaft, die weiß ja alles. Und wenn es der bewiesen ist, daß Denken Gehirnsport ist, nun, dann muß man sich eben damit abfinden; dann sind die Menschen nach Jahrtau­senden und Jahrtausenden so gescheit geworden, daß sie endlich darauf gekommen sind: Denken ist Gehirnsport.

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Ich könnte diese Betrachtungen jetzt fortsetzen in die verschiedensten Gebiete hinein, und wir würden überall sehen, daß, der gleiche Geist kann ich nicht sagen, daß der gleiche Ungeist waltet, der aber natürlich bewundert wird. Nun, was da geworden ist, das haben doch einige Ein­sichtige auch schon bevor der so äußerlich sichtbare Verfall da war ge­sehen. Und man muß zum Beispiel sagen: Albert Schweitzer, dem aus­gezeichneten Verfasser des Buches «Geschichte der Leben-Jesu-For­schung, von Reimarus zu Wrede», der immerhin durch ein umsichtiges, gründliches, tiefdringendes und scharfes Denken vorrücken konnte in der Leben-Jesu-Forschung bis zu der Apokalyptik, dem war schon zuzu-trauen, daß er auch einen freien Blick bekam über die Verfallserschei-nungen in der Kultur der Gegenwart. Nun versicherte er, daß diese seine Schrift «Verfall und Wiederaufbau der Kultur» nicht etwa erst nach dem Kriege entstanden sei, sondern in der ersten Form schon 1900 kon­zipiert worden ist, daß sie dann ausgearbeitet wurde von 1914 bis 1917. Jetzt ist sie erschienen. Und man muß schon sagen, hier sieht einmal je­mand denVerfall der Kultur mit einem offenen Auge. Und es ist immerhin interessant, dasjenige ein wenig vor die Seele sich hinzustellen, was ein sol­cher Verfallskultur-Betrachter, ich möchte sagen, wie mit scharfen kriti­schen Messern an dieser Kultur bearbeitet. Es fallen in der Tat die Sätze, mit denen die gegenwärtige Kultur bezeichnet wird, wie schneidende Messer heraus. Lassen wir ein paar solcher Sätze auf unsere Seele wirken.

Der erste Satz des Buches heißt: «Wir stehen im Zeichen des Nieder­gangs der Kultur. Der Krieg hat diese Situation nicht geschaffen. Er sel­ber ist nur eine Erscheinung davon. Was geistig gegeben war, hat sich in Tatsachen umgesetzt, die nun ihrerseits wieder in jeder Hinsicht ver­schlechternd auf das Geistige zurückwirken.» - «Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war.»

- «So überschritten wir die Schwelle des Jahrhunderts mit unerschütter­ten Einbildungen über uns selbst.» - «Nun ist für alle offenbar, daß die Selbstvernichtung der Kultur im Gange ist.»

Auch das sieht Albert Schweitzer in seiner Art - ich möchte sagen, etwas kraftmeierisch drückt er es aus -, daß dieser Verfall der Kultur um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts begonnen hat, um jene Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die ich so oft hier bezeichnet habe als einen wichtigen Zeitpunkt, der betrachtet werden muß, wenn man die Gegenwart irgendwie wachend verstehen will. Darüber sagt Schweitzer:

«Aber um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fing diese Auseinandersetzung

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ethischer Vernunftideale mit der Wirklichkeit an abzu­nehmen. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte kam sie mehr und mehr zum Stillstand. Kampflos und lautlos vollzog sich die Abdankung der Kultur. Ihre Gedanken blieben hinter der Zeit zurück, als wären sie zu erschöpft, mit ihr Schritt zu halten.» - Und noch etwas bringt Schweitzer vor, was eigentlich überraschend ist, was aber von uns gut verstanden werden kann, weil es in einem viel tieferen Sinne als Schweitzer es vor­zubringen vermag, hier oftmals besprochen worden ist. Ihm ist klar: In früheren Zeiten gab es eine Totalweltanschauung. Alle Erscheinungen des Lebens, von dem Stein unten angefangen bis hinauf zu den höchsten menschlichen Idealen, waren eine Lebenstotalität. In dieser Lebens-totalität wirkte das göttlich-geistige Sein. Wenn man wissen wollte, wie die Naturgesetze wirken in der Natur, wandte man sich an das göttlich-geistige Sein. Wenn man wissen wollte, wie die Sittengesetze wirken, die religiösen Impulse wirken, wandte man sich an das göttlich-geistige Sein. Eine Totalweltanschauung war da, welche die Sittlichkeit ebenso ver­ankert hatte in der Objektivität, wie die Naturgesetze in der Objektivität verankert sind. Die letzte Weltanschauung, die heraufgekommen ist, und die noch etwas gewußt hat von einer solchen Totalweltanschauung, das war die Aufklärung, die alles aus dem Intellekt heraus holen wollte, aber die noch die sittliche Welt in einen gewissen inneren Zusammenhang brachte mit dem, was die natürliche Welt ist.

Bedenken Sie, wie oft ich es hier ausgesprochen habe: Glaubt heute einer ehrlich an die Naturgesetze, so wie sie dargestellt werden, so kann er nur glauben an einen Weltenbeginn, so ähnlich, wie die Kant-La­placesche Theorie ihn darstellt, und an ein Weltenende, wie es einmal im Wärmetod sein wird. Dann muß man sich aber vorstellen, daß alle sittlichen Ideale herausgekocht sind aus den durcheinanderwirbelnden Teilen des Weltennebels, die sich allmählich zusammengeballt haben, Kristalle und Organismen und endlich der Mensch geworden sind, ,md aus dem Menschen heraus wirbelt dann die idealistische ethische An­schauung. Aber diese ethischen Ideale, da sie nur Illusionen sind, her­ausgeboren aus den wirbelnden Atomen des Menschen, werden ver­schwunden sein, wenn die Erde im Wärmetod verschwunden sein wird. Das heißt, eine Weltanschauung ist entstanden, die sich bloß auf das Natürliche bezieht, die die sittlichen Ideale nicht in ihr verankert hat. Und nur weil der Mensch der Gegenwart unehrlich ist und sich das nicht gesteht, nicht hinschauen will auf diese Tatsachen, glaubt er, daß die

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sittlichen Ideale noch irgendwie verankert sind. Aber wer an die heutige Naturwissenschaft glaubt und ehrlich ist, der darf nicht an die Ewigkeit der sittlichen Ideale glauben. Er tut es aus feiger Unehrlichkeit, wenn er es tut. Mit diesem Ernst muß in die Gegenwart hineingeschaut werden.

Und gerade dies sieht auf seine Art auch Albert Schweitzer, und er sucht, wo die Schuld liegt, daß das so gekommen ist. Er sagt: «Das Ent­scheidende war das Versagen der Philosophie.» Nun kann man über diese Sache seine besonderen Gedanken haben. Man kann nämlich glauben, daß ja die Philosophen die Einsiedler in der Welt sind, daß die anderen Menschen nichts zu tun haben init den Philosophen. Aber Albert Schweit­zer sagt ganz richtig an einer späteren Stelle seiner Schrift: «Kant und Hegel haben Millionen regiert, die nie eine Zeile von ihnen gelesen ha­ben und nicht einmal wußten, daß sie ihnen gehorchten.» Die Wege, die die Gedanken der Welt nehmen, sind eben durchaus nicht so wie man es sich gewöhnlich vorstellt. Ich weiß sehr gut, denn ich habe es oft er­fahren, daß bis in das Ende des 1i 9.Jahrhunderts herein die wichtigsten Werke Hegels in den Bibliotheken lagen und nicht einmal aufgeschnitten waren. Studiert hat man sie nicht. Aber die wenigen Exemplare, die von wenigen studiert worden sind, sind übergegangen in das ganze Bildungs-leben. Und es gibt eigentlich kaum einen einzigen unter Ihnen, in dessen Denkleben nicht eben Kant und Hegel drinnenstecken, weil die Wege durchaus, ich möchte sagen, geheimnisvolle sind. Und wenn in den ent­legensten Gebirgsdörfern die Leute schon dazu gekommen sind, Zeitun­gen zu lesen, so gilt das auch für sie, für diese Leute in den Gebirgsdör­fern, daß sie von Kant und Hegel beherrscht werden, nicht nur für diese erlauchte und erleuchtete Gesellschaft, die hier im Saale sitzt.

Also man kann schon sagen wie Albert Schweitzer: «Das Entschei­dende war das Versagen der Philosophie. Im 18. und im beginnenden 1 9.Jahrhundert war die Philosophie die Anführerin der öffentlichen Mei­nung gewesen. Sie hatte sich mit den Fragen, die sich den Menschen und der Zeit stellten, beschäftigt, und ein Nachdenken darüber im Sinne der Kultur lebendig erhalten. In der Philosophie gab es damals ein elemen­tares Philosophieren über Mensch, Gesellschaft, Volk, Menschheit und Kultur, das in natürlicher Weise eine lebendige, oftmals die Meinung beherrschende und Kulturenthusiasmus unterhaltende Popularphilo­sophie hervorbrachte.»

Und nun über den weiteren Fortgang spricht sich Albert Schweitzer so aus: «Der Philosophie ward nicht klar, daß die Energie der ihr anvertrauten

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Kulturideen anfing fraglich zu werden. Am Schlusse eines der hervorragendsten, am Ende des 1 9.Jahrhunderts erschienenen Werkes über Geschichte der Philosophie» es ist nämlich dasselbe, das ich ein­mal in einem öffentlichen Vortrage auch aufs Korn genommen habe, dieses Werk über die Geschichte der Philosophie «wird diese als der Pro­zeß definiert, in dem sich» jetzt zitiert er den anderen, diesen Geschichts­schreiber der Philosophie: «mit immer klarerem und sichererem Bewußt­sein die Besinnung auf die Kulturwerte vollzogen hat, deren Allgemein­gültigkeit der Gegenstand der Philosophie selbst ist.» Dazu sagt jetzt Schweitzer: «Dabei vergaß der Verfasser das Wesentliche: daß nämlich früher die Philosophie sich nicht nur auf die Kulturwerte besann, son­dern sie auch als wirkende Ideen in die öffentliche Meinung ausgehen ließ, während sie ihr von der zweiten Hälfte des 1 9.Jahrhunderts an immer mehr zu einem gehüteten, unproduktiven Kapital wurden.»

Man hat nämlich gar nicht bemerkt, wozu es eigentlich mit dem Den­ken der Menschheit gekommen ist. Man lese nur einmal die meisten die­ser Jahrhundertbetrachtungen, die erschienen sind an der Wende des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts. Hat man es einmal anders gemacht, wie ich es in meinem Buche, das dann später «Die Rätsel der Philosophie » hieß, gemacht habe, dann betrachtete man das natürlich als unhistorisch. Und einer von diesen edlen Philosophen hat mir, weil das Buch «Welt- und Lebensanschauungen im 1 9.Jahrhundert» damals hieß, den Vorwurf gemacht, daß in diesem Buche nichts über Bismarck gesagt wird. Ja, ein Philosoph hat diesem Buch diesen Vorwurf gemacht. Manche andere ähnliche Vorwürfe sind diesem Buche gemacht worden, weil es eben gerade versuchte, dasjenige, was in die Zukunft hinein wirkt, herauszuschälen aus dem Vergangenen. Aber was taten denn diese Be­trachter zumeist? Sie besannen sich. Sie besannen sich auf dasjenige, was Kultur ist, was schon da ist. Daß frühere Jahrhunderte Kultur gemacht haben, davon hatten diese Denker überhaupt gar keine Ahnung mehr.

Aber nun kommt Albert Schweitzer dazu, ich möchte sagen, mit Be­zug auf diese Zukunft der Philosophie zu resignieren. Da sagt er: Es ist eigentlich nicht die Schuld der Philosophie, daß sie nicht mehr eine ei­gentliche produktive Denkrolle spielte. Das war mehr das Schicksal der Philosophie. Denn die Welt hat im allgemeinen das Denken verlernt, und die Philosophie hat es halt mit verlernt. - In einer gewissen Beziehung ist sogar Schweitzer sehr nachsichtig, denn man könnte doch auch auf den Gedanken kommen: Wenn alle Welt das Denken verlernt, so hätten

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es doch wenigstens die Philosophen pflegen können. Aber Schweitzer findet es ganz natürlich, daß die Philosophen einfach mit allen anderen Leuten das Denken verlernt haben. So sagt er: «Daß das Denken es nicht frrtig brachte, eine Weltanschauung von optimistisch-ethischem Cha­rakter aufzustellen und die Ideale, die die Kultur ausmachen, in einer sol­chen zu begründen, war nicht Schuld der Philosophie, sondern eine Tat­sache, die sich in der Entwicklung des Denkens einstellte.» - Das war also bei allen Leuten. - «Aber schuldig an unserer Welt wurde die Philosophie dadurch, daß sie sich die Tatsache nicht eingestand und in der Illusion verblieb, als ob sie wirklich einen Fortschritt der Kultur unterhielte.»

Also die Philosophen haben mit den anderen Leuten, so sagt Albert Schweitzer mit seiner messerscharfen Kritik, das Denken verlernt; aber das ist nicht eigentlich ihre Schuld, das ist nun einmal eine Tatsache, sie haben halt mit den andern Leuten das Denken verlernt. Aber ihre ei­gentliche Schuld besteht darinnen, daß sie das gar nicht gemerkt haben. Sie hätten es wenigstens merken sollen und hätten davon reden sollen. -Nur das ist es, was Schweitzer den Philosophen vorwirft. «Ihrer letzten Bestimmung nach ist die Philosophie Anfiihrerin und Wächterin der all­gemeinen Vernunft. Ihre Pflicht wäre es gewesen, unserer Welt einzu­gestehen, daß die ethischen Vernunftideale nicht mehr wie früher in ei­ner Totalweltanschauung Halt fänden, sondern bis auf weiteres auf sich selbst gestellt seien und sich allein durch ihre innere Kraft in der Welt behaupten müßten.» Und dann schließt er dieses erste Kapitel damit, daß er sagt: «So wenig philosophierte die Philosophie über Kultur, daß sie nicht einmal merkte, wie sie selber, und die Zeit mit ihr, immer mehr kulturlos wurde. In der Stunde der Gefahr schlief der Wächter, der uns wach erhalten sollte. So kam es, daß wir nicht um unsere Kultur rangen.»

Nun bitte ich Sie aber, mit diesen Sätzen des Albert Schweitzer nicht etwa das nun so zu machen, daß Sie etwa sich sagen, oder ein Teil von Ihnen sich sagt: Nun ja, das ist eben eine Kritik der deutschen Kultur, und die gilt ja nicht für England, nicht für Amerika, am wenigsten natür­lich für Frankreich! Albert Schweitzer hat nämlich eine große Anzahl von Schriften geschrieben. Unter diesen sind in englischer Sprache ge­schrieben: «The Mystery of the Kingdom of God »; dann eine andere Schrift: «The Question of the historical Jesus»; dann eine dritte; dann hat er noch einige andere in französischer Sprache geschrieben. Also der Mann ist schon international und redet ganz gewiß nicht etwa bloß von der deutschen Kultur, sondern er redet von der Kultur der Gegenwart.

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Daher wäre es nicht sehr schön, wenn es dieser Betrachtung gegenüber so ginge, wie wir einmal in Berlin etwas erlebt haben. Da hatten wir ein­mal eine anthroposophische Versammiung, und dabei war ein Mitglied, das hatte einen Hund. Nun mußte ich immer erklären, die Menschen haben wiederholte Erdenleben, Reinkarnationen, und die Tiere nicht, da sind es die Gattungsseelen, die Gruppenseelen, welche in demselben Stadium sind, nicht das einzelne individuelle Tier. Diese Persönlichkeit hatte aber ihren Hund so lieb, daß sie meinte, trotzdem sie zugab, daß andere Tiere, selbst die anderen Hunde keine wiederholten Erdenleben haben, ihr Hund habe aber wiederholte Erdenleben, das wisse sie ganz genau. Es wurde ein wenig diskutiert über diese Sache - Diskussionen sind ja manchmal anregend, wie Sie wissen - und man konnte nun den­ken, daß diese Persönlichkeit niemals überzeugt werden könnte, und daß die anderen überzeugt seien. Das stellte sich auch sogleich heraus, als wir dann in einem Kaffeehause saßen. Dieses andere Mitglied sagte, es wäre eigentlich furchtbar töricht von dieser Persönlichkeit, daß sie meinte, ihr Hund habe wiederholte Erdenleben; das habe sie gleich ein­gesehen, das gehe ja ganz klar aus der Anthroposophie hervor, daß das eine Unmöglichkeit sei. Ja, wenn das mein Papagei wäre! Der - für den gilt das! - Ich möchte nicht, daß etwa diese Gedankenform von den ver­schiedenen Nationalitäten in der Weise übertragen würde, daß sie sagen: ja, für die Leute, für die der Albert Schweitzer spricht, da gilt das, daß die Kultur im Niedergange ist, daß die Philosophen es selbst nicht ge­merkt haben, aber - unser Papagei hat wiederholte Erdenleben!

Im zweiten Kapitel spricht dann Albert Schweitzer über «Kultur-hemmende Umstände in unserem wirtschaftlichen und geistigen Leben», und auch da ist er außerordentlich scharf denkend. Zuweilen sind ja natürlich auch Trivialitäten da, ich möchte sagen, desjenigen, was ganz offenbar ist. Aber dann durchschaut Albert Schweitzer einen Mangel des modernen Menschen, dieses kulturlosen modernen Menschen, indem er findet, daß der moderne Mensch dadurch, daß ihm die Kultur ab­handen gekommen ist, erstens unfrei geworden ist, zweitens, daß er un­gesammelt ist. Nun, ich habe Ihnen Sätze vorgelesen von Max Rubner -von starker Gedankensammlung zeugen sie allerdings nicht. Ungesam­melt ist schon gerade der repräsentative moderne Mensch.

Dann legt Albert Schweitzer diesem modernen Menschen noch ein niedliches Prädikat bei. Er ist nämlich außerdem, daß er unfrei und un­gesammelt ist, auch «unvollständig». Nun denken Sie sich einmal, diese

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modernen Menschen glauben doch alle, daß sie als vollständige Men­schenexemplare durch die Welt gehen. Aber Albert Schweitzer ist der Ansicht, daß heute durch die moderne Erziehung ein jeder in ein ganz einseitiges Berufsleben hineingesteckt wird, nur einseitig seine Fähig­keiten ausbildet, die anderen verkümmern läßt und daher in Wirklich­keit ein unvollständiger Mensch wird. Und in Verbindung mit dieser Un-freiheit, Unvollständigkeit und Ungesammeltheit des modernen Men­schen macht sich für Albert Schweitzer geltend eine gewisse Unhumani­tät des modernen Menschen: «Tatsächlich bewegen sich Gedanken voll­endeter Inhumanität seit zwei Menschenaltern in der häßlichen Klar­heit der Worte und mit der Autorität logischer Grundsätze unter uns. Es hat sich eine Mentalität der Gesellschaft herausgebildet, die die Ein­zelnen von der Humanität abbringt. Die Höflichkeit des natürlichen Empfindens schwindet.» - Ich erinnere an die Generalversammlung, die wir hier gehabt haben, wo über die Höflichkeit geredet worden ist! -«An ihre Stelle tritt das mit mehr oder weniger Formen ausgestattete Benehmen der absoluten Indifferenz. Die gegen Unbekannte auf jede Weise betonte Unnahbarkeit und Teilnahmslosigkeit wird gar nicht mehr als innere Roheit empfunden, sondern gilt als weltmännisches Ver­halten. Auch hat unsere Gesellschaft aufgehört, allen Menschen als sol­chen Menschenwert und Menschenwürde zuzuerkennen. Teile der Menschheit sind für uns Menschenmaterial und Menschendinge gewor­den. Wenn seit Jahrzehnten unter uns mit steigender Leichtfertigkeit von Krieg und Eroberungen geredet werden konnte, als ob es sich um ein Operieren auf dem Schachbrett handelte, so war dies nur möglich, weil eine Gesamtgesinnung geschaffen war, die sich das Schicksal der Einzelnen nicht mehr vorstellte, sondern sie nur als Ziffern und Gegen­stände gegenwärtig hatte. Als der Krieg kam, erhielt die Inhumanität, die in uns war, freien Lauf. Und was ist in den letzten Jahrzehnten an feinen und groben Roheiten über die farbigen Menschen in unserer Ko­lonialliteratur und in unseren Parlamenten als Vernunftwahrheit auf­getreten und in die öffentliche Meinung übergegangen! Vor zwanzig Jahren wurde in einem Parlamente des europäischen Festlandes sogar hingenommen, daß in bezug auf deportierte Schwarze, die man an Hun­ger und Seuchen hatte sterben lassen, von der Tribüne herab gesagt wurde, sie seien ,eingegangen', als handelte es sich um Tiere.»

Nun bespricht Albert Schweitzer auch noch die Rolle der Überorgani­sation in unserem Kulturverfall. Kulturhemmend, meint er, wirken auch

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die öffentlichen Verhältnisse dadurch, daß Überorganisation überall auf­träte. Es werden ja heute überall organisierende Verfügungen, Verord­nungen, Gesetze geschaffen. Man ist mit allem in einer Organisation dar­innen. Die Menschen erleben das gedankenlos. Sie tun auch gedanken­los. Sie sind immer in irgend etwas organisiert, so daß Albert Schweitzer findet, daß auch diese «Überorganisation» durchaus kulturhemmend gewirkt hat.

«Die furchtbare Wahrheit, daß mit dem Fortschreiten der Geschichte und der wirtschaftlichen Entwicklung die Kultur nicht leichter, sondern schwerer wird, kam nicht zu Worte.» - «Der Bankerott des Kulturstaates, der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt offenbarer wird, richtet den modernen Menschen zugrunde. Die Demoralisation des Einzelnen durch die Ge­samtheit ist in vollem Gange.

Ein Unfreier, ein Ungesammelter, ein Unvollständiger, ein sich in Humanitätlosigkeit Verlierender, ein seine geistige Selbständigkeit und sein moralisches Urteil an die organisierte Gesellschaft Preisgebender, ein in jeder Hinsicht Hemmungen der Kulturgesinnung Erfahrender: so zog der moderne Mensch seinen dunklen Weg in dunkler Zeit. Für die Gefahr, in der er sich befand, hatte die Philosophie kein Verständnis. So machte sie keinen Versuch, ihm zu helfen. Nicht einmal zum Nachden­ken über das, was mit ihm vorging, hielt sie ihn an.»

Im dritten Kapitel spricht dann Albert Schweitzer davon, daß eine wirkliche Kultur einen ethischen Grundcharakter haben müßte. Frühere Weltanschauungen haben ethische Werte geboren; seit der Mitte des 1 9.Jahrhunderts hat man mit den alten ethischen Werten weitergelebt, ohne sie irgendwie zu verankern in einer Totalweltanschauung, und man bemerkte das gar nicht: «Man lebte in der durch die ethische Kultur-bewegung geschaffenen Situation weiter, ohne sich darüber klarzuwer­den, daß sie nun unhaltbar geworden war und ohne auf das, was sich zwischen den Völkern und in den Völkern vorbereitete, auszublicken. So kam unsere Zeit, gedankenlos wie sie war, zu der Meinung, daß Kul­tur vornehmlich in wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Leistungen bestehe und ohne Ethik oder mit einem Minimum von Ethik auskommen könne. Autorität erlangte diese veräußerlichte Auffassung von Kultur in der öffentlichen Meinung dadurch, daß sie durchgängig auch von Personen vertreten wurde, denen nach ihrer gesellschaftlichen Stellung und nach ihrer wissenschaftlichen Bildung Kompetenz in Sa­chen des geistigen Lebens zuzukommen schien.» - «Unser Wirklichkeitssinn

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besteht also darin, daß wir aus einer Tatsache durch Leidenschaften und kurzsichtige Nützlichkeitserwägungen die nächstliegend andere her­vorgehen lassen, und so fort und fort. Da uns die zielbewußte Absicht auf ein zu verwirklichendes Ganzes fehlt, fällt unsere Aktivität unter den Be­griff des Naturgeschehens.»

Und auch das sieht Albert Schweitzer mit voller Klarheit ein, daß die Leute, weil sie Kulturschöpferisches nicht mehr hatten, zum Nationalis­mus gekommen sind.

«Bezeichnend für das krankhafte Wesen der Realpolitik des Nationalis­mus war, daß sie sich aufjede Weise mit dem Flitter des Ideals zu be­hängen suchte. Der Kampf um die Macht wurde zum Kampf für Recht und Kultur. Die egoistischen Interessengemeinschaften, die Völker un­tereinander gegen andere eingingen, präsentierten sich als Freundschaf­ten und Seelenverwandtschaften. Als solche wurden sie in die Vergangen­heit zurückdatiert, wenn die Geschichte auch mehr von Erbfeindschaft als von innerer Verwandtschaft zu berichten wußte.

Zuletzt genügte es dem Nationalismus nicht, in seiner Politik jede Ab­sicht auf das Zustandekommen einer Kulturmenschheit beiseite zu set­zen. Er zerstörte noch die Vorstellung der Kultur selber, indem er die nationale Kultur proklamierte.»

Sehen Sie, auf den verschiedensten Gebieten des Lebens sieht schon Albert Schweitzer, man muß sagen, recht klar. Und er findet Worte, um dieses Negative unserer Zeit auszudrücken. So, möchte ich sagen, ist es ihm auch ganz klar, was unsere Zeit geworden ist durch den großen Ein­fluß der Wissenschaft. Da ihm aber auch klar ist, daß unsere Zeit nicht denken kann - ich habe Ihnen das an dem Beispiel des Max Rubner ge­zeigt -, so weiß Albert Schweitzer auch, daß die Wissenschaft erst recht gedankenlos geworden ist und daher in unserer Zeit gar nicht den Beruf zur Führung der Menschheit in der Knltur haben kann.

«Heute hat das Denken nichts mehr von der Wissenschaft, weil diese ihm gegenüber selbständig und indifferent geworden ist. Fortgeschrit­tenstes Wissen verträgt sich jetzt mit gedankenlosester Weltanschauung. Es behauptet, es nur mit Einzelfeststellungen zu tun zu haben, da nur bei diesen sachliche Wissenschaft gewahrt sei. Die Zusammerifassung der Erkenntnisse und die Geltendmachung ihrer Konsequenzen für die Welt­anschauung sei nicht seine Sache. Früher war jeder wissenschaftliche Mensch» so sagt Albert Schweitzer «zugleich ein Denker, der in dem allgemeinen geistigen Leben seiner Generation etwas bedeutete. Unsere

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Zeit ist bei dem Vermögen angelangt, zwischen Wissenschaft und Den­ken scheiden zu können. Darum gibt es bei uns wohl noch Freiheit der Wissenschaft, aber fast keine denkende Wissenschaft mehr.»

Sie sehen, das Negative sieht Schweitzer außerordentlich klar, und er weiß auch zu sagen, worauf es ankommt: daß es darauf ankommt, den Geist wiederum in die Kultur hineinzubringen. Er weiß, daß die Kultur geistlos geworden ist. Aber ich habe heute vormittag im pädagogischen Vortrag ausgeführt, wie von dem, was in früherer Zeit die Menschen von der Seele wußten, nur die Worte geblieben sind. Es wird fortgesprochen in Worten von der Seele, aber irgend etwas Reales wird mit den Worten nicht mehr verbunden. Und so ist es mit dem Geiste. Daher ist heute kein Bewußtsein vom Geiste vorhanden. Man hat nur das Wort. Und dann, wenn dann nunjemand so scharfsinnig das Negative der modernen Kultur charakterisiert hat, dann kann er höchstens noch dazu kommen, nach ge­wissen traditionellen Empfindungen, die man hat, wenn heute von Geist gesprochen wird - weil ja aber niemand etwas von Geist weiß -, da kann man dann höchstens dazu kommen zu sagen: der Geist ist notwendig.

Aber wenn man sagen soll, wie der Geist nun in die Kultur hineinkom­men soll, da wird es einem so - - verzeihen Sie: Als ich ein ganz kleiner Jun­ge noch war, da lebte ich in der Nähe eines Dorfes, und da waren einer Persönlichkeit, die zu den höchsten Honoratioren des Dorfes gehörte, Hühner gestohlen worden. Nun kam es zu einem Prozeß. Es kam zu einer Gerichtsverhandlung. Der Richter wollte durchaus herausbringen, wie groß er die Strafe bemessen sollte, und dazu war notwendig, daß eine Vorstellung erweckt wurde, wie denn die Hühner waren. Und da ver­langte er von dieser Persönlichkeit, die zu den Honoratioren des Dorfes gehörte, sie solle beschreiben, was das für Hühner waren. - Also sagen Sie uns etwas Näheres, was waren denn das für Hühner? Beschreiben Sie sie uns ein bißchen! -Ja, Herr Richter, es waren schöne Hühner. - Da kann man nichts Rechtes damit anfangen, wenn Sie uns nicht etwas Genaue­res sagen können! Sie haben diese Hühner doch gehabt, beschreiben Sie uns ein bißchen diese Hühner. - Ja, Herr Richter, es waren halt schöne Hühner! - Und so fuhr diese Persönlichkeit fort. Weiteres war nicht aus ihr herauszubringen, als: Es waren schöne Hühner.

Und sehen Sie, da kommt ja nun auch im weiteren Kapitel Albert Schweitzer dazu, daß er positiv sagen soll, wie er sich nun vorstellt, daß eine totale Weltanschauung wieder werden soll. «Welcher Art aber», so sagt er, «muß die denkende Weltanschauung sein, damit Kulturideen

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und Kulturgesinnungen in ihr begründet sein können? Optimistisch und ethisch.» Es waren halt schöne Hühner! Optimistisch und ethisch muß sie sein. Ja, aber wie soll sie es sein? Denken Sie sich nur einmal, wenn ein Architekt jemandem ein Haus bauen sollte, und er will herausbekom­men, wie das Haus sein soll, und der Betreffende erwidert ihm nur: Das Haus soll fest sein, wettersicher, schön, und es soll sich gut drinnen woh­nen lassen -, nun machen Sie den Plan und wissen, wie er es haben will! Aber gerade so ist es, wenn einem jemand sagt, eine Weltanschauung soll optimistisch und ethisch sein. Wenn man ein Haus bauen will, so muß man doch den Plan gestalten; das muß ein konkret gestalteter Plan werden. Aber der so scharfsinnige Albert Schweitzer weiß nichts zu sa­gen als: Es waren halt schöne Hühner. Oder: Das Haus soll schön sein, nämlich es soll optimistisch und ethisch sein.

Er geht sogar ein bißchen weiter, aber es kommt doch nicht viel an­deres heraus als die schönen Hühner. Er sagt zum Beispiel, weil nun das Denken so sehr aus der Mode gekommen ist, weil das Denken gar nicht mehr gekonnt wird, und die Philosophen selbst nicht bemerken, daß es gar nicht mehr da ist, sondern immer noch glauben, sie können denken, so sind viele Leute zur Mystik gekommen, die gedankenfrei arbeiten will, die ohne das Denken zu einer Weltanschauung kommen will. Nun sagt er:

Ja, aber warum sollte man denn nicht auch mit dem Denken in die My­stik hineingehen? Also die Weltanschauung, die da kommen soll, muß mit dem Denken in die Mystik hineingehen. Ja, aber wie wird denn das dann? Das Haus soll fest, wettersicher, schön sein und so, daß man be­quem drinnen wohnen kann. Die Weltanschauung soll so sein, daß sie denkend in die Mystik eindringt. Das ist genau dasselbe. Ein wirklicher Inhalt wird nirgends auch nur spärlichst angedeutet. Das gibt es gar nicht.

Nun, wodurch unterscheidet sich denn Anthroposophie von einer sol­chen Kulturkritik? Mit dem Negativen kann sie ja ganz einverstanden sein, aber sie ist nicht zufrieden damit, das Haus so zu beschreiben: Es soll frst und wettersicher und schön und so sein, daß man bequem drin­nen wohnen kann -, sondern sie macht die Pläne des Hauses, sie entwirft wirklich das Bild einer Kultur. Nun, dagegen wehrt sich zwar Albert Schweitzer etwas, indem er sagt: «Die große Revision der Überzeugun­gen und Ideale, in denen und für die wir leben, kann sich nicht so voll­ziehen, daß man in die Menschen unserer Zeit andere, bessere Gedanken hineinredet als die, die sie haben. Sie kommt nur so in Gang, daß die

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Vielen über den Sinn des Lebens nachdenkend werden ...» Also das geht nicht, in die Menschen unserer Zeit bessere Gedanken hineinzureden als die, die sie schon haben, das geht nicht! Ja, was soll man dann tun im Sinne von Albert Schweitzer? Er ermahnt die Menschen, sie sollen in sich gehen, sie sollen dasjenige aus sich herausholen, was sie aus sich sel­ber haben, damit man ihnen nicht irgendwie andere Gedanken, als sie schon haben, einzureden braucht.

Ja, aber indem die Menschen dasjenige in sich gesucht haben, was sie schon haben, kam eben das alles, was im Anfange steht: «Wir stehen im Zeichen des Niederganges der Kultur.» - «Wir kamen von der Kultur ab, weil kein Nachdenken über Kultur unter uns vorhanden war » und so weiter. Ja, das ist ja alles dadurch geworden - was also Schweitzer so sehr scharf und mit einem intensiven Denken trifft -, daß die Menschen außer acht gelassen haben jede wirkliche konkrete Planlegung der Kul­tur. Und jetzt sagt er: Das geht nicht, daß die Menschen irgend etwas aufnehmen; sie müssen in sich selber gehen. - Sehen Sie, da kann man sagen, nicht nur ein Max Rubner, der überall mit seinem Denken nicht fertig wird, sondern sogar ein so furchtbar scharfer Denker wie der Al­bert Schweitzer ist nicht imstande, den Übergang zu machen von einer negativen Kritik der Kultur zu einer Anerkenntnis dessen, was als ein neues Geistesleben befruchtend in diese Kultur hereinkommen muß. An­throposophie ist ja ebensolange da, als Albert Schweitzer, eingestan­denermaßen seit dem Jahre 1900, an diesem Buch geschrieben hat. Aber er hat nichts bemerkt davon, daß in positiver Weise Anthroposophie das will, was er bloß in negativer Weise kritisiert: Geist in die Kultur hinein­bringen. In dieser Beziehung wird er sogar sehr spaßig. Denn da sagt er ungefähr gegen das Ende des letzten Teiles seiner Schrift: «An sich schon hat das Besinnen auf den Sinn des Lebens eine Be­deutung. Kommt solches Nachdenken wieder unter uns auf» - es ist der konditionelle Satz, nur verschlechtert, denn eigentlich müßte es heißen: Wenn solches Nachdenken wieder unter uns aufkäme! - «so welken die Eitelkeits- und Leidenschaftsideale' die jetzt wie böses Unkraut in den Überzeugungen der Massen wuchern, rettungslos dahin. Wieviel wäre für die heutigen Zustände schon gewonnen, wenn wir alle nur jeden Abend drei Minuten lang sinnend zu den unendlichen Welten des ge­stirnten Himmels emporblickten... » - also er kommt darauf, daß es gut wäre für die Menschen, wenn sie jeden Abend drei Minuten zu dem ge­stirnten Himmel hinaufblickten! Wenn man es ihnen so sagt, werden sie

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es ganz gewiß nicht tun; aber lesen Sie nach, wie diese Dinge gemacht werden sollten, in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der hö­heren Welten? » Man begreift es nicht, warum hier der Schritt vom Ne­gativen zum Positiven gar nicht gemacht werden kann, man begreift das nicht! .... . und bei der Teilnahme an einem Begräbnis uns dem Rätsel von Tod und Leben hingeben würden, statt in gedankenloser Unterhal­tung hinter dem Sarg einherzugehen.»

Sehen Sie, wenn man so negativ ist, dann schließt man eine solche Be­trachtung über den Kulturverfall so ab, daß man sagt: «Das bisherige Denken gedachte den Sinn des Lebens aus dem Sinn der Welt zu ver­stehen. Es kann sein, daß wir uns darein schicken müssen, den Sinn der Welt dahingestellt sein zu lassen und unserm Leben aus dem Willen zum Leben, wie er in uns ist, einen Sinn zu geben. Mögen auch die Wege, auf denen wir dem Ziele zuzustreben haben, noch im Dunkel liegen: die Richtung, in der wir gehen müssen, ist klar.»

So klar, wie es war, daß seine Hühner schöne Hühner waren, und so klar, wie das ist, daß einer über den Plan seines Hauses sagt: das Haus soll fest, wettersicher, schön sein. Die meisten Menschen der Gegenwart se­hen es nämlich als klar an, wenn sie irgend etwas in der Weise charak­terisieren, und merken es überhaupt gar nicht, wie unklar es ist.

«Miteinander haben wir über den Sinn des Lebens denkend zu wer­den, miteinander darum zu ringen, zu einer welt- und lebenbejahenden Weltanschauung zu gelangen, in der unser von uns als notwendig und wertvoll erlebter Trieb zu wirken Rechtfertigung, Orientierung, Klä­rung, Vertiefung, Versittlichung und Stählung findet . . . » - Das Haus soll schön und fest und wettersicher sein und so, daß man gut darin woh­nen kann. In bezug auf ein Haus sagt man so, in bezug aufWeltanschau­ung sagt man: Die Weltanschauung soll so sein, daß sie wirken kann Rechtfertigung, Orientierung, Klärung, Vertiefung, Versittlichung und Stählung! - «... und daraufhin fähig wird, definitive und vom Geist wahrer Humanität eingegebene Kulturideale aufzustellen und zu ver­wirklichen.»

Nun haben wir es. Schärfstes, voll anzuerkennendes Denken über das Negative, absolute Ohnmacht, irgendwo ein Positives zu sehen. Diejeni­gen Menschen, die man am meisten heute loben muß - und Albert Schweitzer gehört zu denen, die man am meisten heute loben muß -, die sind in solcher Lage. Darüber sollen gerade Anthroposophen ein waches Bewußtsein entwickeln, damit sie Bescheid wissen, wenn dann einer von

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denjenigen kommt, die im Sinne dieses scharfsinnigen Albert Schweitzer «Philosophen» sind, zum Beispiel ein Neu-Kantianer, wie sich die Leute nennen, und die nun gar nicht merken, daß sie nicht nur das Denken ver­schlafen haben, sondern daß sie es auch gar nicht bemerkt haben, wie sie das Denken verschlafen haben. Von denen kann man natürlich nicht verlangen, daß sie Anthroposophie verstehen. Aber man soll doch ein waches Auge darüber haben, in welcher Weise solche Menschen, die eben von Schweitzer mit Recht als die verschlafenen Philosophen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts geschildert werden, nun von Anthroposophie reden. Wir sollen nach allen Seiten hin mit wachem Au­ge in die Gegenwart hineinschauen.

Da wird in einer Zeitungsnotiz zunächst davon gesprochen, wie wenig gegen Kant Bergson wirkt. Dann aber wird gesagt: Noch viel weniger halten die wilden Spekulationen Steiners und seine großen geistigen Ti­raden einer an Kant orientierten erkenntnistheoretischen Prüfung stand. Auch Steiner glaubt über Kant und die Neu-Kantianer hinaus zu drin­gen zu höheren Erkenntnissen. Tatsächlich bleibt er weit hinter ihnen zurück und hat sie, wie sich aus seinen Schriften leicht nachweisen läßt, an entscheidenden Punkten gänzlich mißverstanden.

Das wird natürlich ohne jegliche Begründung einfach in gelesenen Zei­tungen der Welt so hinausposaunt. Und dann wird da gesagt von diesen Menschen, die so denken können, ja, die lange nicht so denken können, wie Rubner denken kann: Da braucht man ja nur die Wissenschaft der Gegernvart zu fragen, dann weiß man ganz gut, was diese angeblichen Erkenntnisse - diese Hirnblasen, wie er sie nennt - eigentlich bedeuten.

Aufmerksam muß man auf diese Dinge schon sein, und man darf sie nicht verschlafen. Denn geltend machen kann sich eben diese - wie sie Albert Schweitzer nennt - gedallkenlose Wissenschaft, geltend machen kann sie sich schon in der Welt, und Macht hat sie vorläufig. Es sagen ja heute viele Menschen, daß man nicht auf die Macht sehen soll, sondern auf das Recht; aber leider nennen sie dann die Macht, die sie haben, das Recht. Nun, was der weiter für einen Galimathias vorbringt, das will ich Ihnen heute doch ersparen, denn da geht es nun fort in die spiritistischen Phänomene hinein, die ebenso heute von der Wissenschaft untersucht werden müssen und so weiter.

Aber wenn nun die armen Studenten doch an die Anthroposophie her­ankommen und die «Gehirnblasen » aufnehmen, dann gibt ihnen Max Rubner den Rat: «aber es hat stets etwas Erfrischendes, auf einem neuen,

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bisher unbeackerten Felde des Gehirns zu arbeiten». Manche Felder sind wiederholt beackert! Nun, wenn da den armen Studenten in der Anthroposophie «Gehirnblasen» aufsteigen und sie dann diese Gehirne beackern, dann werden die Blasen vor der Pflugschar doch ganz gewiß hinschwinden. Also in dieser Beziehung stimmt ja die Geschichte wie­derum. Dasjenige, was als etwas Positives hinein will in unsere, nach den besten Geistern eingestandenermaßen zerfallende,ja schon zerfallene Kul­tur, einzusehen, das Positive einzusehen, das ist eben auch den besten Geistern der Gegenwart, insofern diese drinnen stehen im gegenwär­tigen Kulturbetriebe, eigentlich gar nicht gegeben. Da bleibt es dabei, daß, wenn sie nun sagen sollen, wie das Haus beschaffen sein soll, sie nicht den Stift nehmen oder die Modellsubstanz nehmen, um das Haus zu gestalten - was Anthroposophie tut -, sondern dann sagen sie: Das Haus soll schön und fest und wettersicher sein und so, daß man bequem drin wohnen kann. Beim Haus sagt man so. Bei einer Weltan­schauung sagt man, sie soll optimistisch, sie soll ethisch sein, man soll sich darinnen orientieren können, und wie nun die Dinge alle geheißen haben, die aber doch nichts anderes bedeuten, als was ich Ihnen gesagt habe.

Sie sehen, daß es notwendig ist - und Sie werden es aus der Sache sel­ber erkennen, daß dies notwendig ist -, manchmal so ein bißchen über dasjenige hinauszudringen, was in der Zivilisation vorgeht. Deshalb habe ich die heutige episodenhafte Betrachtung angestellt. Nächsten Freitag wollen wir von diesen Dingen weiterreden, nicht mehr sagen, das Haus soll schön und fest und wettersicher sein und so, daß man bequem darin wohnen kann, die Weltanschauung soll optimistisch und ethisch sein und so, daß man sich darinnen orientieren kann und so weiter, sondern wir wollen wirklich auf die wirkliche Anthroposophie, auf das Geistesleben, das unsere Kultur braucht, hinweisen.

EINE JAHRHUNDERTBETRACHTUNG 1823 BIS 1923 Dornach, 6. Juli 1923

#G225-1961-SE057 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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EINE JAHRHUNDERTBETRACHTUNG

1823 BIS 1923

Dornach, 6. Juli 1923

#TX

Heute möchte ich eine Art Jahrhundertbetrachtung machen. In einer eben mehr äußerlichen Weise kann ja die Veranlassung zu einer solchen Jahrhundertbetrachtung die Tatsache sein, daß in einem sehr bedeuten­den Roman der französischen Schriftstellerin George Sand: «Le com­pagnon du tour de France » gerade die Handlung, die ich hier jedenfalls nicht eingehend zu betrachten haben werde, in das Jahr 1823 verlegt wird, also hundert Jahre vor unserer Gegenwart. Es ist deshalb eine Mög­lichkeit für manchen, eine Anregung gerade aus diesem Roman zu ge­winnen, weil bei einer so ins Große und auch ins Eindringliche gehenden Phantasie, wie sie die George Sand hatte, eigentlich mehr geleistet wird für die Charakteristik einer Zeit, als durch die sogenannte wissenschaft­liche Geschichtsbetrachtung. Man kann schon sagen: Mit einer wirkli­chen Eindringlichkeit hat diese Schriftstellerin die Zeit um das Jahr 1823 -und gerade für den französischen Westen Europas - zum Hintergrunde eines bedeutsamen Romans gemacht.

Nun, ich werde nicht jenen Duktus einhalten, der in diesem Roman eingehalten ist, sondern ich werde versuchen, den sozialen Hintergrund aus den geistigen Grundlagen heraus für die angedeutete Zeit zu geben. Die George Sand hat nämlich eine Anzahl von Gestalten gezeichnet, die dem kleinbürgerlichen Handwerkerstande angehören, und dann spielen auch in das Leben dieser Angehörigen des kleinbürgerlichen Handwer­kerstandes die Erlebnisse aristokratischen Familienwesens hinein. Das aber, was in diesem Roman großartig geschildert ist, das ist eben das so­ziale Leben des Handwerkerstandes. Und man kann sagen: Mit demjeni­gen Unterschied, mit jener Differenz, die eben nach der Volkstümlich­keit vorhanden sein muß, hat George Sand das Hineingestelltsein des Menschen in die sozialen Verhältnisse dieses Zeitalters geschildert, das wir ja weiter zurückrechnen können, um Jahrzehnte zurückrechnen kön­nen, ich möchte sagen, gerade so weit für Frankreich, wie zurückreichen die sozialen Verhältnisse, aus denen heraus Goethe seinen «Wilhelm Mei­ster» geschaffen hat. Also mit jenem Unterschiede, der durch die Volks­tümlichkeit gegeben sein muß, sehen wir, wie da als Hintergrund des Romans

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die sozialen Verhältnisse eindringlich geschildert werden, wie der Mensch herauswächst aus den sozialen Verhältnissen, wie er seine eigene Persönlichkeit in einer bestimmten Nuance zeigt dadurch, daß er aus die­sen sozialen Verhältnissen herauswächst.

Sie wissen ja, daß auch Goethes Wilhelm-Meister-Gestalten aus diesen sozialen Verhältnissen herauswachsen. Es ist schon in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts von verschiedenen Persönlichkeiten eine Art Parallele gezogen worden zwischen dem sozialen Hintergrunde des Romans der George Sand und dem Goetheschen «Wilhelm Meister». Natürlich müssen, wie gesagt, die Unterschiede berücksichtigt werden, die sich aus dem volkstümlichen Wesen ergeben. Goethes Roman ist durchaus weltbürgerlich, hat nichts von Nationalem, hat auch nichts von Politischem. Der Roman der Sand ist durch und durch national, durch und durch politisch. Das müssen wir natürlich voraussetzen, wenn der sonst ja berechtigte Vergleich zwischen den beiden Romanen hingestellt wird.

Nun, diese Verhältnisse, die als sozialer Hintergrund dastehen, sind ja wirklich außerordentlich charakteristisch für die ganze Art und Weise, wie sich das moderne Menschenwesen im Laufe der letzten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aus gewissen Untergründen bis zur Oberfläche des Men­schendaseins heraufgearbeitet hat. Heute macht sich der Mensch nicht leicht eine Vorstellung davon, wie die Dinge vor einem Jahrhundert noch waren, weil heute die menschliche Persönlichkeit eigentlich vereinzelt dasteht innerhalb der sozialen Ordnung. Selbst diejenigen, die beruflich oder familienhaft zusammenhängen, gestalten ihr Leben allmählich so, daß sie aus den Zusammenhängen, aus den sozialen Bindungen heraus­kommen, zu einer gewissen Individualität kommen.

In dieser Beziehung hat sich ein ungeheurer Umschwung in der Ent­wickelung der Menschheit Europas gerade im neunzehnten Jahrhundert vollzogen, und die innere Seelenverfassung in bezug auf das soziale Ge­bunden- oder Nicht-Gebundensein ist eben in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts eine ganz andere als in der ersten Hälfte. In der ersten Hälfte suchte der Mensch - und wir wollen heute von den an­deren Verhältnissen absehen, vorzugsweise auf die westeuropäischen Ver­hältnisse Rücksicht nehmen -, es suchte dazumal der Mensch geradezu, sich hineinzustellen in ein soziales Gebundensein. Er suchte den An­schluß an diejenigen Persönlichkeiten, die mit ihm gemeinsame Interes­sen hatten, gemeinsame Interessen, die sich sozusagen zusammenstellten

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aus den Interessen des Standes auf der einen Seite und den Interessen des Berufes auf der andern Seite.

Bei der bäuerlichen Bevölkerung, die in jener Zeit noch mehr an die Scholle gebunden war, kommt eben die Gebundenheit durch den Erd­boden in Betracht. Aber für diejenigen, die aus dieser bäuerlichen Seelen-verfassung herauswuchsen durch ihr Handwerkertum zu einer gewissen Befreiung von dem Schollenhaften, für die kommt es sehr in Betracht, daß sie gerade in dieser Zeit, man möchte sagen, recht krampfhaft nach so­zialen Vergesellschaftungen suchten. Und das Merkwürdige ist für diese erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, also für diejenigen Zeiten, für die wir heute eine Jahrhundertbetrachtung anstellen können, daß trotz Klassen- und Kastenzusammenhängen und Berufszusammenhän­gen, die den äußeren Kitt bilden für solche Vergesellschaftungen, doch überall ein geistiger, ein konkret geistiger Hintergrund für diese Verge­sellschaftungen bestand.

Im Französischen wächst allerdings alles mit dem Nationalen zusam­men. Würde man dieselben Verhältnisse - was wir vielleicht auch in ei­ner gewissen Weise tun können - für das deutsche Wesen betrachten, so würde man ja von vornherein darauf hinweisen müssen, daß zum Bei­spiel der deutsche Lehrling auch außer Landes wanderte während seiner Wanderzeit, daß er keine Rücksicht nahm auf politische Grenzen, wenn es sich ihm darum handelte, eine solche Vergesellschaftung zu suchen, wie ich sie angedeutet habe. Das französische Wesen, das durch und durch national ist, ließ auch den Handwerker nur innerhalb der Grenzen Frankreichs reisen.

Aber da, innerhalb der Grenzen Frankreichs, ergaben sich eben solche Zusammenhänge nach Klassen und nach Berufen, die krampfhaft ge­sucht wurden und bei denen im Hintergrunde überall die Wirkung gei­stiger Impulse zu sehen ist, die in die Menschenseelen hineinkraften. Diese Handwerker fühlen sich, wenn sie von Stadt zu Stadt reisen, da­durch in einer Art geistiger Heimat, daß sie in jeder Stadt diejenige Ge­meinschaft finden, zu der sie gehören. Man ließ sich aufnehmen in eine Gemeinschaft in irgendeiner Stadt, die Gemeinschaft reichte durch ganz Frankreich. Wie gesagt, so war es noch vor einem Jahrhundert. Wenn dann der Handwerkerlehrling reiste, so fand er in der Stadt, in der er wiederum sein Handwerk fortsetzen wollte, dieselbe Vereinigung. Er brachte sich nicht irgend etwas Schriftliches mit, sondern er brachte sich ein Erkennungszeichen mit, einen gewissen Händedruck oder ein anderes

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Erkennungszeichen. Wenn er dieses Erkennungszeichen geltend machte, so wußte man, der gehört eben dieser Vereinigung an, von der Zweige in allen Städten zu finden waren.

Nun waren solche Vereinigungen durchaus überall - ich muß das im­mer wieder betonen - mit eineni geistigen Hintergrunde verbunden, und es kann einem eigentlich, wenn man in ernster und ehrlicher Weise diese Dinge erforschen will, manche Schwierigkeiten machen, dahinterzu-kommen, wie dieser geistige Hintergrund beschaffen war.

So gab es in Frankreich um die angedeutete Zeit im wesentlichen zwei solcher Handwerkerverbände. Der eine Verband wurde genannt « Loups dévorants» oder «Loups garous ». Das war der eine. Der andere wurde genannt «Gavots». Und die beiden waren so konstituiert, wie ich es be­schrieben habe, und beide hatten in den Zeiten, in denen sie sich so einer Sache widmen konnten, Zusammenkünfte, die überall in den verschiede­nen Städten auf gleiche Art verliefen. In diesen Zusammenkünften gab es erstens ein sorgfältiges Üben der Erkennungszeichen; dann aber Fest­lichkeiten, innerhalb welcher man in Symbolen sprach, durch Symbole den Festsaal ausstaffiert hatte. Es gab Festlichkeiten, in denen man Le­genden erzählte, durch welche solche Verbände weit zurück in der Ge­schichte verfolgt wurden. So führte man bei den «Dévorants», bei den «Loups garous» - wenn ich ein deutsches Wort gebrauchen wollte, müß­te ich sagen «Werwölfe» -, die ganze Geschichte dieser Vereinigung zu­rück bis auf den König Salomo und erzählte eine Legende, die zurück­führte bis auf den König Salomo. Bei den «Gavots» führte die Legende, die man in der verschiedensten Weise erzählte, zurück auf den phrygi­schen Baumeister Hieram Abiff. Durch die mannigfaltigsten Dinge un­terschieden sich diese Vereinigungen. Und nur wenn man sorgfältig auf die Usancen eingeht, kann man allmählich auf die geistigen Hinter­gründe kommen, deren sich die Mitglieder durchaus bewußt waren.

So ist eine wichtige Differenz zwischen den beiden eine solche, die sich auf die Aufnahme bezog, oder auch darauf bezog, daß, sagen wir, in ir­gendeiner Stadt beide Vereinigungen waren. Es waren ja sowohl Dévo­rants wie Gavots in den verschiedensten Städten. Nun war die Sitte ganz streng, daß niemand irgendwie in einem Handwerke unterkam - man wachte darüber sehr gut -, der nicht durch Vermittlung dieser Vereini­gungen unterkam. Es gab also Mitglieder, die Dévorants waren, bei der einen Vereinigung, Mitglieder, die Gavots waren, bei der andern Ver­einigung. Jeder wandte sich, wenn er in eine Stadt kam, an seine Vereinigung,

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und die vermittelte ihm dann die betreffende Stellung in seinem Berufe, nachdem er sich in vorschrittsmaßiger Weise zu erkennen gege­ben hatte, nachdem man also wußte, man hat es mit einem derjenigen zu tun, die dazu gehören.

Nun kam es natürlich vor, daß in eine Stadt auch einmal, sagen wir, viel mehr Leute zureisten, als Stellen zu vergeben waren. Jetzt wußten die Leitungen der beiden Vereinigungen sich nicht von vornherein zu helfen. Jetzt handelte es sich darum: Sollen bei dieser Stellenjagd die Dé­vorants siegen, das heißt, sollen die Dévorants diejenigen, die angekom­men sind, in der Mehrzahl unterbringen, oder sollen die Gavots siegen, sollen von denen mehr untergebracht werden?

Nun ist es charakteristisch, daß es dann gewöhnlich zu heftigen Geg­nerschaften zwischen den Vereinigungen als solchen kam, und so wie es heute allerlei viel trivialere aber brutalere, möchte ich sagen, Bespre­chungen gibt zwischen den verschiedenen Leitern der Gewerkschaften und so fort, so gab es auch da Maßregeln, die dann darüber entscheiden sollten, ob in einem solchen Fall die eine Partei oder die andere Partei siegen sollte. Da schlugen die Dévorants gewöhnlich nichts Besonderes vor, sondern sie rotteten sich zusammen auf den öffentlichen Plätzen und verprügelten die Gavots. Dagegen schlugen die Gavots vor, daß man ir­gendeine Preisaufgabe ausschreiben solle, und da sollten dann die Rich­ter von beiden Parteien zusammen entscheiden, ob der Dévorant oder der Gavot die bessere Leistung gemacht habe. Das ist ein sehr bedeutsa­mer Unterschied. Die Dévorants waren im Wesentlichen geneigt, durch Raufen und Äußerliches die Entscheidung zu bringen, die Gavots durch geistigere Dinge, und so war es denn so, daß manchmal der Usus der ei­nen, manchmal der der andern den Sieg davontrug. Das ist solch ein Un­terschied, der darauf hinweist, wie die geistigen Untergründe sind.

Ein weiterer Unterschied, durch den sich hineinblicken läßt, ist der, wie jede der beiden Parteien ihre Toten begraben hat. Die Gavots ha­ben ihre Toten so begraben, daß sie lautlos hinter dem Sarge einhergin-gen. Der Sarg wurde lautlos in das Grab gesenkt. Links und rechts vom Grab standen hervorragendste Mitglieder der betreffenden Vereinigung, und die sprachen über das Grab, der eine zum andern, gewisse geheim­nisvolle Worte lispelnd. Und dann bildeten sie eine Art Kreis und spra­chen wiederum in geheimnisvollen Worten.

Dagegen die Dévorants begleiteten ihre Toten mit einem ungeheuer stark wirkenden Sprachorgan - ich will das so ausdrücken. Wenn man

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in der Ferne gestanden und gehört hat, wie da ein Leichenzug ging, und namentlich, wie er dann bei dem Grabe war, und während die Erde auf den Sarg geworfen wurde, dann kam einem das von der Ferne wie Wolfs­geheul vor. Aber es war durchaus die Art, wie die Mitglieder dieser Ver­einigung die ernstgemeinte Leichenfeier vollzogen. Sie waren eben der Anschauung, die sie auf alte Traditionen zurückführten, daß der Mensch da seine Stimme verstärken und so nuancieren müsse, daß in gewaltiger, wilder Art die Töne erklingen, wie wenn aus derjenigen Welt, die der Tote unmittelbar betritt, diese Töne in die physische Welt hereinklängen.

Da haben Sie schon den Hinweis darauf wie bei diesen Vereinigungen aus alter Zeit Traditionen vorhanden waren, die eben alten Erkenntnis­sen entstammten. Die Totengebräuche der Dévorants waren durchaus so, daß sie Rücksicht auf das nahmen, was alte Anschauungen über, sagen wir, das Fegefeuer, wie es auch genannt wird, über Kamaloka und der­gleichen wußten. Aber der Ausdruck: Wölfe, loups, deutet selber auf das hin, was da eigentlich zugrunde lag. Mit diesen Worten, oder wenigstens mit der Idee, die sich durch dieses Wort ausdrücken läßt, wurde in vielen Geheimlehren dasjenige bezeichnet, was wirksam ist im menschlichen astralischen Leibe, wenn die Intelligenz weg ist, wenn also der Regulator des Gehirns fehlt. Was sich da aus den Untergründen der menschlichen Natur in leidenschaftlich emotioneller Weise geltend macht, was na­mentlich sich in der Begierde geltend macht, mit anderen Menschen so zusammen zu sein, daß man, wie es ja sagenhaft ist, selbst nach deren Blut Lust hat, das bezeichnete man eben in vielen Geheimlehren mit Wolf. So daß man schon sagen kann, wenn man die Dinge ganz ehrlich und richtig betrachten will, diese Dévorants meinten eigentlich, sie müß­ten sich bei solch einer Gelegenheit, wie bei einem Begräbnis, so beneh­men, wie wenn sie ihren physischen Leib, das heißt namentlich das Ge­hirn, verlassen hätten.

Und so waren auch die Festlichkeiten. Während die Festlichkeiten der Gavots still und sanft waren, waren die Festlichkeiten der Dévorants laut, stürmisch. Es war wie eine Entfesselung der astralischen Welt, die bei diesen Festlichkeiten sich auslebte. Die Symbole, die bei diesen Fest­lichkeitenja eine große Rolle spielten, die Zusammensetzung der Legenden, das alles zeigte, daß man eigentlich in einer wilden Weise das, was einmal in alten Zeiten anders war, bei diesen Gelegenheiten zur Geltung brachte.

Dagegen ist es ja schon bezeichnend, daß die andere Partei den Namen «Gavots» trägt. Das kommt von «gave ». Das ist der Name von ganz klei­nen

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Geistern, die von den mit dichtem Baumwuchs bedeckten Flächen der Pyrenäenhänge herunterkommen, die sich nicht bemerklich machen, die aber doch von den Höhen der Pyrenäen herunterkommen, man möchte sagen, wie ganz kleine Elementargeister hervortreten in Stellver­tretung für die sonst aus der Höhe der spanischen Gebirge herunterkom­menden Gralsmenschen. Also als die kleinen Geister, die aber doch zum Heere der Gralsritter gehörten, fühlten sich die Angehörigen dieser an­deren Partei, der «Gavots».

Während also die eine Partei, die Dévorants, mehr das geltend ma­chen wollte, was in der menschlichen Astralität lebt, wollten die Gavots mehr geltend machen, was eben im Ich nach der damaligen Auffassung lag. So liegt wirklich dem Gegensatz zwischen diesen beiden Parteien der Gegensatz zugrunde der menschlichen Astralität, des astralischen Leibes und des menschlichen Ich. Und das ist das Frappierende, das ungeheuer Interessante, daß wir noch in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr­hunderts Vereinigungen haben, die einen ungeheuren Einfluß, eine un­geheure Macht ausüben innerhalb des Standes und des Berufes, wo es Sitte ist, sich ihnen anzuschließen, und die auf solchen geistigen Unter­gründen eben fest standen.

Es ist durchaus so: Der Mensch will seine sozialen Zusammenhänge in der äußeren Welt, allerdings weil das Leben es notwendig macht, nach Beruf und Klasse gestalten. Daher nehmen solche Vereinigungen eben das als Kitt: Beruf und Klasse. Aber solche Vereinigungen würden es in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts noch ganz unbegreiflich gefunden haben, bloße Gewerkschaften, Berufsvereinigungen zu sein. Berufsvereinigungen waren sie äußerlich, wie der Mensch äußerlich ei­nen physischen Leib hat. Innerlich aber waren sie seelisch-geistig konsti­tuiert, legten einen ungeheuren Wert auf ihre Erkennungszeichen, auf ihre Symbole, lebten in diesen und sahen darauf daß durch diese Sym­bole der reine Charakter der Vereinigung sich bewahrte.

Merken Sie den gewaltigen Unterschied dieser Zeit von der unsrigen. Sie müssen ja nur ins Auge fassen: Was schulmäßig die Leute in jenen Zeiten noch lernten, war ja außerordentlich gering, die geistige Bildung, die diese Leute hatten, kam ihnen nicht auf schulmäßigem Wege zu. Auf schulmäßigem Wege lernten sie notdürftig lesen und schreiben und ein wenig rechnen. Alles übrige hat sich ja erst später im schulmäßigen Be­triebe für die breite Masse der Bevölkerung eingestellt. Dennoch waren diese breiten Massen der Bevölkerung nicht unwissend in jenen Zeiten.

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Und das ist das Betrübliche bei unserer Geschichtsbetrachtung, daß ei­gentlich immer nur die Geschichte nach solchen Dokumenten aufgebaut wird, die man in den Staats- oder Stadt- oder sonstigen Archiven findet. Das ist aber gar nicht die volle lebendige Geschichte. Die finden wir erst, wenn wir anzuschauen vermögen, was da lebt in der Seele, in dem Geiste eines Menschen irgendeiner Zeit, in irgendeinem Berufe, in irgendeiner Klasse.

Nun, die Menschen, die eigentlich für das allgemeine Berufsleben au­ßerordentlich maßgebend waren, sie schöpften das, was der geistige In­halt ihrer Seele war, aus diesen Zusammenkünften bei ihren Vereinigun­gen. Sie hatten daher nicht eine schulmäßig abstrakte Bildung. Denn das ist das Eigentümliche: Als die Bildung schulmäßig wurde, nahm sie einen intellektualistisch-abstrakten Charakter an. In allen diesen Vereinigun­gen hatte die Bildung nicht einen intellektualistisch-abstrakten Charak­ter, sondern einen bildhaft-symbolisierenden Charakter, etwas, was die Welt in Bildern erfassen wollte. Der Mensch redete, indem er über die Welt redete, in Bildern, und die Bilder bekam er aus diesen Vereinigun­gen. Und er wachte über die Bilder, die er in der einen oder in der andern Vereinigung erhielt, weil er wußte, daß in dem Wissen und Handhaben solcher Bilder durch abgeschlossene Gesellschaften der Wille in eine be­stimmte Richtung, aber vor allen Dingen zu einer bestimmten Stärke ge­bracht wird. Während die abstrakte Bildung den Willen ganz unbeein­flußt läßt, waren diese Menschen, die auf diese Art ihre Bildung beka­men, im ganzen Menschen ergriffen. Sie waren gewissermaßen als gan­zer Mensch immer Repräsentanten dessen, was geistig in diesen Vereini­gungen lebte.

Und so hatte man es in der Welt wirklich mit diesen Vereinigungen zu tun. Und man wird über das neunzehnte Jahrhundert erst dann eine soziale Geschichte haben, wenn man einmal in der richtigen Weise fol­gendes feststellen wird, wenn man sich sagen wird: Da haben in solchen Vereinigungen die geistigen Strömungen gelebt, die in all den Handwer­kern, also in alledem, was zwischen dem bäuerlichen Stande und dem Adelsstande mitten drinnen war, was in allen diesen Seelen lebte. Was in den Seelen dieser Leute lebte, lernt man ja aus der heutigen Geschichte nicht kennen, weil man sich gar nicht um diese Dinge kümmert.

Und kommt man dann in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts herein, dann tauchen plötzlich Ideen auf. Bei den politischen Parteien, die sich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bilden, tauchen

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allerlei Ideen auf, bei den politisch gefärbten Dichtern tauchen allerlei Ideen auf. Was sind solche Ideen? Wer die Geschichte, die wirkliche Ge­schichte kennt, der weiß: Diese Ideen leben in solchen Verbindungen, da werden sie nicht aufgeschrieben. Dann aber finden sich Leute, welche den Gebrauch annehmen, daß alles aufgeschrieben wird, daß alles gedruckt wird. Das reißt ein, das reißt gerade um die Mitte des neunzehntenJahr­hunderts ein. Die Mitglieder solcher Verbindungen hätten sich dafür be­dankt, wenn irgendeine journalistische Denkweise innerhalb ihrer Mitte sich geltend gemacht hätte. Da würden sie sehr bald zu dem Mittel ge­griffen haben, den betreffenden Herrn zu bitten, die Türe von außen zu­zumachen! Da war alles ans lebendig Menschliche gebunden.

Solche Menschen nun, die kein Empfinden mehr hatten für dieses le­bendig Menschliche, die trugen in die Dichtung, in die Journalistik und in all das, was dann um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sozusa­gen anfing, die Welt zu beherrschen, das hinein. Da strömt es von unten nach oben, aber oftmals treibt es oben sehr trübe Blasen, und dann wer­den diese trüben Blasen in der Geschichte erzählt. Diese Geschichte ist nicht echt, denn diese Geschichte weiß nicht, wo die Ursprünge von sol­chen Dingen sind; diese Geschichte verblaßt alles und verkarikiert es, verschlechtert es, vertrivialisiert es. Es hat in solchen Verbindungen man­ches mit dem Charakter einer ungeheuren Tiefe gelebt, was später ganz vertrivialisiert worden ist, tatsächlich gaben diese Verbindungen den Angehörigen eine gewisse Hinneigung ihrer Seelen zu der geistigen Welt in aller Breite.

Nun müssen Sie bedenken, daß das Jahr i 823 gut gewählt ist, um die­ses anschaulich zu machen, denn da hatte man schon so und so viele Jah­re das Nivellement, die Gleichmachung der Französischen Revolution hinter sich. Diese Dinge hatten sich aber über die Französische Revolu­tion hinweg in voller Lebendigkeit erhalten. Von den Ideen der Französi­schen Revolution redete man; handeln in bezug auf die Art und Weise, wie man eine Lebensstellung bekam, wie man zu einem andern Menschen kam, wenn man von einer Stadt in die andere zog, das geschah nach den Usaneen, die in diesen Gesellschaften waren. Der Mensch fühlte sich auch eingewurzelt in das soziale Leben dadurch, daß er sich als Mitglied einer solchen Gesellschaft fühlte.

Bedenken Sie: Das moderne Leben, das ja, und zwar in berechtigter Weise auf der einen Seite, zur Individualität, zur Freiheit führt, das be­ginnt, wie ich oft ausgeführt habe, im fünfzehnten Jahrhundert. Da halten

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die alten Bande, die alten Bindungen die Menschen nicht mehr zu­sammen. Je weiter man nach Westen kommt, desto weniger werden die Menschen zusammengehalten von diesen alten Bindungen. Die Bluts-bande spielen, je weiter man nach Osten kommt, eine um so größere Rolle noch, weil da die alten Usancen sich erhalten haben. Aber je wei­ter man nach Westen kommt, desto mehr vereinzeln sich die Menschen, desto mehr individualisiert sich der soziale Zusammenhang. Doch die Menschen fühlen, sie können noch nicht voll auf sich selbst gestellt sein, denn das volle Auf-sich-selbst-Gestelltsein, das wird zwei Jahrtausende dauern vom fünfzehnten Jahrhundert an, und wir sindjajetzt erst in dem ersten Jahrtausend. Es hat allerdings ein ungeheurer Umschwung ge­rade im neunzehnten Jahrhundert stattgefunden. Aber wenn man ab­sieht von den - wie nennt man es oftmals? - von den oberen Zehntau­send, seien es die oberen Zehntausend des äußeren Adels oder des geisti­gen Adels, wenn man von diesen absieht und auf die breite Masse der Menschheit sieht, dann muß man sagen: die wehrt sich gegen das Indi­vidualisiertwerden. Nun, die von dem Individualisiertwerden ergriffen werden, die wehren sich auch dagegen. Der Adel, der geistliche Stand, kann zusammenhalten, die haben Bindungen; der Handwerkerstand wird herausgerissen aus den Bindungen. Das, was in diesen Vereinigun­gen gesucht wird, ist eben ein krampfhaftes Suchen nach Bindungen, die nicht mehr historisch da sind, die man machen muß.

Und so sehen wir vom fünfzehnten, sechzehnten Jahrhundert an schon an solchen Vergesellschaftungen, die sich durch geistige Mittel zusam­menhalten, gerade unter denjenigen, die sich als Handwerker heraushe­ben aus der bäuerlichen Beschäftigung und die nicht hinaufkommen ent­weder bis zum Adelstum oder bis zu den geistigen oberen Ständen, dem Priestertum, Schreibertum und so weiter - wie bei all denen sich eben dieses Streben findet, zusammengehalten zu sein. Und es ist groß und ge­waltig zu sehen, wie der Zusammenhalt da noch nicht gesucht wird in dem gleichen Berufe, sondern - trotzdem man sich im Beruf abschließt, trotzdem der Beruf den Rahmen bildet - wie er gesucht wird in Geisti­gem, in Seelischem, wie man sich nur dann als Mensch fühlt, wenn man auf der einen Seite die Arbeit hat, auf der andern Seite aber in der Arbeit die Freiheit, sich in eine bildhafte Lebens- und Weltauffassung einfügen zu können, wenn man also dieses in sein Menschtum aufnimmt. Das ist eben das Kennzeichen für den großen Umschwung im neunzehntenJahr­hundert, daß diese Hinneigung zum Geistigen verlorengeht, daß sie in

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dem Firlefanz von allerlei Geheimgesellschaften ja allerdings bewahrt wird, daß diese Geheimgesellschaften aber in gar keinem Zusammenhang mehr mit der realen Welt stehen. Es sind das freimaurerische und sonstige Geheimgesellschaften, die nachäffen, was in solchen äußerlichen Berufs­gesellschaften, innerlich aber durch geistige Bindungen zusammengehal­tenen Vergesellschaftungen, gepflegt worden ist. Und wenn man dazu nimmt, daß man sogar geführt wird bis zu der größeren Pflege des Astrali-sehen im Menschen, bis zu der größeren Pflege des Ichgemäßen im Men­schen durch diese zwei Schattierungen, Dévorants und Gavots, dann haben wir ein Zeugnis dafür, wie in der Geschichte der Menschheit etwas wirkt, was man als die Impulse in der Gliederung des Menschenwesens erkennt.

Wenn man auf das Geographische hinschaut, dann sieht man, trotz­dem es Gavots und Dévorants eigentlich in ganz Frankreich gab, daß in den nordfranzösischen Städten mehr die Dévorants, in den südfranzösi­schen mehr die Gavots ausgebreitet waren. Das hängt damit zusammen, daß in der Tat jene feine Nuancierung zwischen südlicherem, warmem Klima und nördlicherem, kälterem Klima sich da geltend macht, daß das kältere Klima mehr das Astralische, das wärmere Klima mehr die Ich-Natur des Menschen herausgestaltet. Daher sehen wir auch, je weiter wir in heiße Zonen kommen, wie der Unterschied in der Blutfärbung zwi­schen Arterien und Venen weniger differenziert ist, während im Norden die Leute scharf ausgeprägte rote und blaue Blutadern haben. Der Un­terschied zwischen roten und blauen Blutadern schwindet um so mehr, je weiter man in heiße Zonen kommt. Je weniger der Mensch diese zwei Sorten, das Arterienblut und das Venenblut differenziert hat, desto tiefer ist sein astralischer Leib und damit die gegenwärtige Ich-Konfiguration in sein Ich eingetaucht; wir finden um so mehr Ich, je mehr wir in hei­ßere Klimate kommen. Das ist interessant, daß auch die äußere geogra­phische Ausbreitung mit dem zusammenhängt, was einfach aus dem Geographischen heraus, den Menschen mehr zum Ich oder mehr zum astralischen Leib macht.

Und so sieht man, daß, wenn man die Geschichte verfolgt, man die äußeren Kräfte der Geschichte nur erkennen kann, wenn man weiß, bei der oder jener Menschenzusammenfassung findet man mehr das Astrali­sehe tätig, bei der andern Mensehenzusammenfassung findet man mehr das Ich-Wesen tätig. Erst wenn man astralisches Wesen und Ich-Wesen kennt, kann man die treibenden Kräfte der Geschichte eigentlich verfol­gen, während das, was in den Gesehichtsbüehern heute steht, eben so ist,

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als wenn da ein unwissender Diener irgendwo in einem Telegraphenbüro aus seinem Wissen heraus ein Buch über die elektrische Telegraphie schreibt, weil er sieh sagt: Ich kann das besser als diejenigen, die das ge­lernt haben, denn ich bin immer dabei gewesen. So ungefähr sind die Ge­schichtsschreiber, die in der heutigen Zeit leben, bei den Tatsachen da­bei. Derjenige ist erst bei den Tatsachen der Geschichte dabei, der die in­neren wirksamen Kräfte kennt. Die kann man aber nur aus der inneren Erkenntnis des Menschenwesens heraus schöpfen. Und ebenso nur kann man Geographie kennenlernen. Die Geographie zeigt uns, daß die Men­schen nach Rassen über die verschiedenen Gebiete der Erde verteilt sind. Ja, die Rassen unterscheiden sich nicht bloß durch die Haarfarbe und durch die Nasenkonfiguration, sondern sie unterscheiden sich durch die Art und Weise, wie ätherische, astralische Ich-Wesenheit in den Men­schen eingegliedert sind. Das alles kommt aus dem Geistigen heraus.

Und in den Zeiten, von denen ich jetzt gesprochen habe, um eineJahr­hundertbetrachtung anzustellen, richteten sich die Menschen auch bei dem, was sie willkürlich als Vereinigung bildeten, nach den geistigen, in den verschiedenen Gegenden wirksamen Impulsen. In Nordfrankreich wird dasjenige gesucht, was mehr aus dem Astralischen heraus wirkt, in Südfrankreich eher das, was mehr aus dem Ich heraus wirkt.

Aber daß die Menschheit ein Ganzes werde über die Erde hin, müssen diese Differenzen sich wiederum miteinander vermischen. Und daher se­hen wir: Je länger diese Vereinigungen bestehen, desto mehr schleifen sich Gemeinschaftsgegensätze ab, vermischen sich diese Angehörigen untereinander. Am letzten Ende des achtzehnten Jahrhunderts oder vor der Französischen Revolution finden wir, wie mit ungeheurem Enthusias­mus und wahrer Wut und Emotion so mancher zu seiner Vereinigung gehört, wie er allen Ehrgeiz da hineinsetzt, wenn er «Gavot» ist, zu sie­gen aufgeistige Weise, wenn er «Dévorant» ist, zu siegen mit dem Knüp­pel in der Hand. Aber es wird das ganze Menschentum eingesetzt, um in würdiger, in rechter Weise in einer solchen selbstgemachten Vereinigung drinnen zu stehen. Diese Vereinigungen rechnen mit dem, was über die Erde hin in geistiger Weise an Impulsen ausgebreitet ist.

An solchen Dingen zeigt sich uns, wie rasch es mit der Veränderung der menschlichen Seelenverfassung im Laufe der Zeiten geht. Die Men­schen leben so blind dahin, indem sie eigentlich glauben: Wie ich lebe, hat eben mein Vater gelebt. Das mag ja für die jetzigen Zeiten noch rich­tig sein, obwohl, wer Kinder heute kennt, ganz gut weiß, daß die nicht

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so in ihrer Seele geartet sind, wie die Väter geartet waren, als sie noch in demselben Alter waren und so weiter. Aber wenn man nun noch um ein Jahrhundert zurückgeht, gerade dort, wo um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts jener gewaltige Umschwung stattgefunden hat, dann findet man, welcher ungeheure Unterschied in der Konfiguration der mensch­lichen sozialen Bindungen eingetreten ist.

Und diese Umgestaltung des sozialen Wesens, das ist Geschichte, nicht das, was man in Archiven findet. Und man kann wirklich, sagen wir, aus dem schlichten Büchlein, das ein Tischlergeselle, ich glaube 1821, ge­schrieben hat als eine Art Katechismus für seine wandernden Gesellen, wo nur äußerlich angeführt ist, wie es einem da ergeht, wie man reisen soll und dergleichen, man kann aus diesem schlichten Büchlein außer­ordentlich viel Geschichtliches lernen, wenn man in der Lage ist, aus dem Äußeren auf die historischen Hintergründe zu kommen.

Sie sehen, auch im einzelnen werden die Dinge so gestaltet, daß auch Geschichte in Realität nur belebt werden kann von der Geisteswissen­schaft aus. Und deshalb ist Geisteswissenschaft nicht eine Vermehrung von Erkenntnissen, nicht etwas, das eine gerade Fortsetzung dessen bil­den würde, was man heute in den Schulen gewöhnt ist zu lernen, sondern Geisteswissenschaft ist nur zu vergleichen mit einem Wachwerden über die Welt, mit einem Aufwachen. Die andere Wissenschaft - und das kön­nen wir ja als unser Geheimnis betrachten - kann man eher vergleichen mit einem Ziehen der Schlafmütze tief über die Ohren herunter. Aber Anthroposophie soll ein wirkliches Aufwachen sein. Daher weckt sie auch über die historischen Verhältnisse auf.

Damit wollte ich heute, gerade im Jahre 1923, in bezug auf einzelne konkrete Tatsachen einen Anfang machen mit einer Jahrhundertbetrach­tung, die perspektivisch zurückgehen wollte bis eben 1823. Der Roman der George Sand kann nur eine äußere Veranlassung sein, denn sie hatte natürlich keine Ahnung von diesen geistigen Hintergründen. Aber sie hat mit einer gewissen instinktiven Genialität das Jahr 1823, überhaupt jene Zeit in großartiger Weise hingestellt, so daß man sich angeregt fühlt, ge­rade die Betrachtungen von 1823 bis 1923 fortzusetzen.

GEMEINSCHAFTSBILDUNGEN IN MITTELEUROPA Dornach, 7. Juli 1923

#G225-1961-SE070 Drei Perspektiven der Anthroposophie

#TI

GEMEINSCHAFTSBILDUNGEN IN MITTELEUROPA

Dornach, 7. Juli 1923

#TX

Gestern versuchte ich eine Art Jahrhundertbetrachtung anzustellen, in­dem ich Ihnen schilderte, wie namentlich in den westlichen europä­ischen Gegenden der Mensch sich in gesellschaftliche Bindungen hinein-stellte, die zusammenhingen mit der Volksklasse auf der einen Seite und dem Berufsleben auf der andern Seite, und wir haben gesehen, wie die­sen Verbindungen, diesen Vergesellschaftungen Geistiges zugrunde lag. Ja, wir mußten sogar bis zum Astralischen und bis zum Ich-Wesen des Menschen vordringen, damit wir die beiden einander entgegenstehenden Berufsvereinigungen, die «Dévorants» und die « Gavots» studieren konnten. Und das Eigentümliche dieser Vereinigungen, die wie gesagt, mehr westlichen Gegenden Europas angehören, und in denen sich die neuere Zivilisation vorzugsweise im Westen gebildet hat, das Wesent­liche dieser Vereinigungen ist, daß der Mensch sich mit seiner ganzen Seelenverfassung in einer solchen Gemeinschaft drinnen fühlt, und daß auch die verschiedenen Erkennungszeichen, die Symbole, von de­nen ich Ihnen gesprochen habe, die Legenden, irgendeinen Bezug zum Berufsleben haben, wenngleich sie einen durchaus geistigen Hintergrund haben.

So wie ich gestern Ihnen dieses Leben vor einem Jahrhundert für die westlichen europäischen Länder geschildert habe, wäre es unmöglich, das Leben zum Beispiel der mitteleuropäischen Gegenden zu schildern. Daher muß es begreiflich erscheinen, daß, als George Sand einen Roman schreiben wollte, in dem sie sich gewisse gesellschaftliche Probleme stellte, sie als Hintergrund diese Vergesellschaftungen wählte. Man kann durch­aus sagen: Auch Goethe hat ja mit seinem «Wilhelm Meister» etwas Ähn­liches angestrebt. Er wollte schildern, wie der Mensch mit der Mensch­heit und mit dem Geistes- und Berufsleben der Menschheit zusammen­hängt, wie sich der einzelne Mensch aus der Menschheit heraus entwik­kelt. Goethe hat das versucht in seinem «Wilhelm Meister». Er würde ganz zweifellos, wenn das für ihn hätte eine Realität sein können, auch solche Handwerkerverbindungen zur Grundlage gewählt haben, wie George Sand. Er hat es nicht getan, weil das in den Gegenden, denen Goethe mit seiner Bildung angehörte, einfach nicht möglich war.

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Das ist das Eigentümliche, daß in Mitteleuropa, seitdem überhaupt das an die Menschheit herangetreten ist, was ich Ihnen oftmals als den Intellektualismus bezeichnet habe, also seit dem fünfzehnten Jahrhun­dert, die menschlichen Probleme ganz anders aufgefaßt wurden als im Westen. Ich mußte Ihnen gestern schildern, wie der einzelne Handwer­ker seine Tour durch Frankreich macht, wie er in irgendeiner Stadt sich in eine solche, man könnte fast sagen, Geheimverbindung aufnehmen läßt, wie er da seine Erkennungszeichen bekommt, wie er, wenn er nun seine Gesellenwanderung antritt, in irgendeiner anderen Stadt einen ähnlichen Zweig seiner Vereinigung findet: er gibt sich zu erkennen, er wird innerhalb dieses Zweiges seiner Vereinigung aufgenommen. So war es, wie gesagt, durchaus noch 1823. Und diese Vereinigungen beeinfluß­ten dann das Leben des entsprechenden Standes tief.

So könnte man eben nicht für Mitteleuropa schildern. Für Mitteleu­ropa müßte man sagen, daß stets, seit dem Beginn dieser neueren Zeit, also seit dem fünfzehnten Jahrhundert, in den Menschen das Bestreben war, die Individualität, das menschliche Selbst zu pflegen. Es war kein so intensiver Zusammenhang zwischen dem einzelnen individuellen Men­schen und seinem Berufe oder seiner Gesellschaftsklasse wie im Westen. Da­her war es so, daß der Mensch seinen Beruf- man möchte sagen, sine ira -in einer mehr äußerlichen Weise nahm. Er wuchs nicht so zusammen mit seinem Berufe, er verband nicht sein geistiges Leben mit seinem Berufe.

Von den hauptsächlichsten Berufen her waren im Westen die Bezeich­nungen genommen, waren die Symbole genommen. So etwas war in Mit­teleuropa nicht der Fall. Es war vielmehr so, daß das geistige Leben mehr abgesondert wurde vom Berut, auch mehr abgesondert wurde von der Klasse. Man steckte natürlich auch in einer Volksklasse drinnen, aber wenn man sich dem geistigen Leben zuwendete, so war dieses gei­stige Leben mehr herausgehoben, sowohl aus dem Berufe, wie aus der Volksklasse. Daher lebte man mehr so, daß man sich ganz vom Berufs­leben frei machte in seinen Gedanken, wenn man sich der Geistigkeit hin­geben wollte. Und es wurden daher in Mitteleuropa diejenigen Zweige der Geistigkeit besonders gepflegt, welche nichts mit dem Berufsleben, nichts mit dem Klassenleben zu tun hatten.

Das Verhältnis des Menschen zur Welt wurde aufgefaßt ohne Rück­sicht auf die Nation, ohne Rücksicht auf irgendeinen nationalen Zusam­menhang. Der Mensch als solcher stand da im Vordergrund. Und dann, wenn der einzelne, sagen wir, auch der Handwerker, sich einem geistigen

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Leben hingeben wollte, so tat er dies als einzelner Mensch. Er sann über die Aufgaben des Lebens mehr als einzelner Mensch. Er hatte im Beginne des neunzehnten Jahrhunderts wenig mehr aus irgendwelchen gesellschaftlichen Verbindungen heraus von einem solchen geistigen Le­ben, wie ich es gestern geschildert habe. Daher entwickelten sich die gei­stigen Anregungen in Mitteleuropa auf eine ganz andere Art.

Der einzelne Handwerker, der einen besonderen Drang hatte, der, wenn man den mehr süddeutschen Ausdruck gebraucht, ein Sinnierer wurde - es ist da das wunderschöne Wort Sinnierer vorhanden -, der also viel sann, der machte sich bekannt mit den Überresten dessen, was von der alten Alchimie geblieben war an Erkenntnissen, was also nichts mit irgendeiner Klasse, nichts mit irgendeiner Nationalität oder mit ei­nem Berufr zu tun hat; er machte sich bekannt mit dem, was von der al­ten Astrologie zurückgeblieben war. Und was er so in sich aufnahm, das trug er wie einen seinen Mitmenschen wichtigen, wertvollen Schatz bei sich. Da wanderte er viel von Ort zu Ort. Es waren immer nur einzelne Men­schen, man war nicht mit Erkennungszeichen, man war eben als Mensch gekommen. Da hatte man zunächst sonderbare Bezeichnungen für solch einen Menschen. Diese Bezeichnungen sind aufgekommen in der Zeit, wo es eben drunter und drüber gegangen war mit den Anschauungen aus alten Zeiten und den neueren Zeiten; und denjenigen, der sich abhob vom Volke, den nahm man zunächst nicht gleich ganz gerne auf. Solche Sinnierer galten als Sonderlinge. «Spornritter» nannte man sie, wenn sie so auftraten. Und ein solcher mußte sich erst dadurch, daß er nun den Leuten etwas zu sagen hatte, mit den Leuten zusammenkam, sein Anse­hen verschaffen. Da sich nicht ständig gepflegte Verbindungen herausge­bildet hatten, so mußte er bei den Leuten, mit denen er zusammenkam, die etwas wissen wollten von ihm, sich erst, wenn die Gelegenheit herbei­geführt wurde, sein Ansehen verschaffen. Und dadurch, daß er das gel­tend machte, was er sich ersinniert hatte, bekam er einen bestimmten Einfluß. Und lange vorher, bevor so einer kam, wurde schon in unbe­stimmter Weise gesprochen, daß einer kommen sollte.

Nun, zunächst kam es den Leuten komisch vor, nachher aber, wenn er den Ort verließ, dann dachte man lange nach über das, was so ein Sinnierer gesagt hatte, so ein besonders Gescheiter, der so viel Wissen in seinem Kopfe drinnen hatte, daß man es gar nicht zu begreifen ver­mochte, daß ein Menschenkopf so groß sein könne, daß man das alles drinnen habe, was der in seinem Menschenkopf drinnen hatte.

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Also es war die ganze Art, wie das geistige Leben gehandhabt wurde in dem Menschenmäßigen, eben anders. Und daher mußte es auch kom­men, daß in westlichen Ländern die Bildung viel populärer blieb, viel mehr ins Breite gehend blieb, denn sie hing zusammen mit dem Berufs-und Klassenleben. In Mitteleuropa dagegen trat eben allmählich dieser Abgrund auf zwischen den Gebildeten und der großen Masse, die nicht mehr mitkonnte. Nun, das hängt vielfach zusammen mit der tiefen Tra­gik des mitteleuropäischen Lebens, dieser Abgrund zwischen denen, die dann unter den Forderungen der neueren Zeit das, was von alter Weis­heit geblieben war - sei sie alchimistisch, sei sie astrologisch - zusammen-faßten und von diesem Gesichtspunkte aus tiefer ins Menschenleben hin­einschauten, und jenen, die nur bei den untergeordneten Bildungsbe­griffen etwa eines religiösen Lebens stehenblieben.

Diese Verhältnisse hatte Goethe vor sich. So daß Goethe in seinem «Wilhelm Meister» nicht so hätte schildern können wie etwa die George Sand in dem Roman «Le compagnon du tour de France ». Goethe schil­derte den einzelnen Menschen, die einzelne menschliche Individualität, ihr Verhältnis zu den oberen, ihr Verhältnis zu den unteren Welten. So ist uns in Frankreich gewissermaßen die Wirksamkeit des Astralischen in den Dévorants, die Wirksamkeit des Ich in den Gavots entgegengetre­ten, das wirkte hindurch durch die Einrichtungen. Innerhalb Mittel­europas wurde gesucht, wie der Mensch auf der einen Seite mit dem Him­mel, wie der Mensch auf der andern Seite mit der Erde zusammenhängt.

In einer schönen Weise hat Goethe - aber, ich möchte sagen, sehr in die Bildungs-Sublimierung hineingeprägt, ins stark Abstrakte hineinge­tragen - dasjenige, was im Grunde genommen doch innerhalb Mittel­europas an Menschenwissen und Menschenweisheit seit dem fünfzehnten Jahrhundert gelebt hat, hineingebracht in die beiden Gestalten, die in seinem «Wilhelm Meister» auftreten: in Makarie auf der einen Seite, und in der Metallfühlerin auf der andern Seite.

Da tritt diese merkwürdige Gestalt in Goethes «Wilhelm Meister» auf, Makarie, eine gereifte weibliche Persönlichkeit, die durch ihr kränkli­ches, krankhaftes Sein wenig mehr zusammenhängt mit dem irdischen Leben, die sozusagen sich ganz herausgehoben hat aus dem irdischen Le­ben, die kaum mehr viel sich bewegt innerhalb der irdischen Räumlich­keiten, die verehrt wird von allen, die um sie herum sind, von allen Fa­miliengliedern im engeren, aber auch im weiteren Sinne, und die da­durch, daß sie unabhängig geworden ist von dem Irdischen, ein merkwürdiges

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kosmisches Leben entwickelt. Und dieses kosmische Leben, das Goethe so schildert, wie wenn Makarie mitlebte mit den Eigentümlich­keiten der Sterne, nicht mit den Eigentümlichkeiten der Erde, das führt dazu, daß sozusagen alle physische Weltenbetrachtung aus dem Geiste, aus der Seele Makariens verschwindet und sie ganz den kosmischen Ge­setzmäßigkeiten hingegeben ist. Aber je mehr sie sich den kosmischen Gesetzmäßigkeiten hingibt, desto mehr hören die irdischen Naturgesetze auf, für sie eine Bedeutung zu haben, desto mehr verwandeln sich die Naturgesetze in kosmische Moralgesetze. Sie wird zur moralischen Au­torität für alle, die sie kennenlernen. Und sie vertritt nicht eine Morali­tät, die auf Geboten beruht, nicht irgendeine Moralität, die von der oder jener Seite entlehnt ist, sondern sie vertritt eine Moralität, die dem Men­schen, wenn er sich vom Irdischen frei macht, aber es noch hat, so er­scheint, als ob sie von den Sternen selber in ihrem Gange geoffenbart würde. Und was auf diese Weise Makarie mit ihrer Sternenschau für ihre Umgebung verkündet, das interpretiert ihr Freund, der Astronom, der aber jetzt der Schüler der Seherin in den kosmischen Welten wird.

Goethe hat nur in einer fein sublimierten Weise dasjenige, was Sie sich noch für das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts überall lebend vorzustellen haben, in einer höheren Gesellschaftsklasse dargestellt. Man muß sich zum Beispiel vorstellen, daß es in dieser Zeit immerhin noch, zerstreut allerdings, Familien gab, welche Familienmitglieder hatten, weibliche Familienmitglieder, die von einem bestimmten Alter an ein­fach nicht mehr fähig waren, sich auf der Erde zu bewegen, die bettläge­rig wurden, deren Haut weiß und durchsichtig wurde, die durch die weiße, durchsichtig gewordene Haut interessant verlaufendes blaues Ge­äder bis an die Oberfläche ihres Leibes zeigten, die selten sprachen. Wenn sie aber sprachen, dann horchten alle, die in der Umgebung wa­ren, sorgfältig auf das, was gesprochen wurde, denn dann erwiesen sich diese weiblichen Persönlichkeiten als solche Seherinnen, wie Goethe sie nur typisiert herausgehoben hat in seiner Makarie Und man findet im­merhin in dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Mittel­europa überall Sagenkreise. Da wird erzählt: Dort und dort, in jenem Orte liegt eine solche Seherin; sie hat dieses oder jenes aus ihrer prophe-tischen Gabe heraus gesprochen. - Und solche Dinge wurden weit in den Gegenden herumgetragen. Und sie wurden mit jener Poesie herumgetra-gen, die möglich war in der menschheitlichen gesellschaftlichen Ord­nung, als es noch keine Zeitungen gab, denn die Zeitungen haben ja im

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wesentlichen zur Vernichtung des Geisteslebens ein Ungeheures beige­tragen.

So läßt also Goethe in seiner Makarie eine solche Gestalt auftreten. Und nun steht an einer bestimmten Stelle der «Wanderjahre» dieser Ma­karie entgegen die Metallfühlerin. Ihr Freund ist Montanus. Die Metall­fühlerin fühlt ebenso, was im Innern der Erde vorgeht, also ich möchte sagen, ganz und gar das Geistige der irdischen Natur. Sie weiß von den Geheimnissen der Metalle der Erde zu sprechen, sie weiß davon zu spre­chen, wie die einzelnen Metalle auf den Menschen wirken. Und Mon­tanus interpretiert dieses, was bei der Metallfühlerin geschieht, ebenso, wie der Astronom dasjenige interpretiert, was durch Makarie geoffen-bart wird

So hat Goethe in einer außerordentlich interessanten Weise der kos­mischen Seherin gegenübergestellt diese Metallfühlerin, welche die Ge­heimnisse der Erde durch ihre besondere Organisation - wiederum eine etwas krankhafte Organisation - enthüllt. Goethe zeigt, daß er dasjenige, wodurch der Mensch tüchtig ist, wodurch der Mensch vor allen Dingen seine Taten auf der Erde ausführen kann, weder bei denen sucht, die nach der einen Seite im Kosmos leben, noch bei den anderen, die nach der andern Seite im Innern der Erde leben. Er sucht das, was den Men­schen für das Erdenleben tüchtig macht, da, wo der Mensch von beiden Fähigkeiten in seinem Bewußtseinszustand nichts weiß, wo sie unbewußt hereinwirken, diese beiden Fähigkeiten, wo aber, wie im Waagebalken, ein Ausgleich zwischen beiden ist.

Goethe weiß nicht, was da zugrunde liegt. Aber er fühlt selber - aus dem Festhalten einer alten Bildung fühlt er es -, wie diese beiden Le­bensextreme, Geistesextreme, aufeinander wirken und eigentlich den Menschen zum rechten Menschen machen, wenn sie nicht einseitig eines oder das andere wirken, sondern wenn sie beide mit ihrer Eigenart ver­schwinden, aber zusammenwirken und ein Gleichgewicht in der mensch­lichen Natur bewirken.

Heute, wo wir vom Standpunkte der Anthroposophie aus sprechen können, können wir sagen: Da haben wir zunächst im Menschen den oberen Menschen, den Nerven-Sinnes-Menschen; da haben wir den mitt­leren Menschen, den rhythmischen Menschen, und da haben wir den un­teren Menschen, den Stoffwechsel-Gliedmaßen-Menschen. Überwiegt beim Menschen der obere Mensch, gleicht er sich nicht mit dem unteren Menschen aus, dadurch daß gewissermaßen durch eine krankhafte Entwickelung,

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wie bei Makarie, der ganze Stoffwechsel-Gliedmaßen-Mensch in eine Art Erstarrung verfallen ist, in eine solche Erstarrung, die noch nicht das Leben nimmt, die aber den Menschen unfähig macht, in der irdischen Räumiichkeit sich zu bewegen, überwiegt also in einer solchen Persönlichkeit das Geschehen im Kopfe, dann wird der Mensch zum kos­mischen Schauer, zum kosmischen Seher. Tritt wie bei der Metallfüh­lerin die Nerven-Sinnes-Organisation zurück und bildet sich besonders bedeutsam das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System aus, dann lebt der Mensch vorzugsweise mit dem Irdischen, dann lebt er mit den Kräften, mit den Wirksamkeiten der Metalle der Erde, der Mineralien der Erde. Und im mittleren Menschen ist der Ausgleich.

So wollte Goethe eigentlich an dieser Stelle seines sozialen Romanes «Wilhelm Meisters Wanderjahre» andeuten, wie nach dem Menschli­chen gesucht wurde in Mitteleuropa, wie der Mensch auf der einen Seite nach dem Kosmos, auf der andern Seite nach dem Irdischen gegliedert wurde, und wie das rechte Menschentum in dem Ausgleich zwischen bei­den besteht.

Üher diesen Ausgleich zwischen Astrologie nach oben, Alchimie nach unten, wurde viel, viel gesonnen. Und wenn einzelne solche Gestalten herausragen, wie der Paracelsus, wie der Faust, die von Ort zu Ort ge­zogen sind, um die Leute zu überraschen mit dem, was sie als Sinnierer wußten von diesen Geheimnissen, so daß die Leute aufhorchten auf das, was der Mensch über den Menschen wissen kann, wenn einzelne solche bedeutsame Persönlichkeiten heraustraten, so waren diese aber nicht die einzigen. Kleine Paracelsusse, kleine Fauste gab es überall, die nur nicht so weit wanderten, die ein kleineres Territorium hatten. Und was heute wiederum in den Geheimnissen der Wünschelrute erkundet wird, das war etwas, was dazumal durchaus gang und gäbe war. Da kam, nicht nur einmal, so etwas vor wie das Folgende.

Es kam solch ein Sinnierer in irgendeinen Ort und imponierte da den Leuten durch das, was er zu sagen hatte über die obere und die untere Welt. Und wenn er dann den Leuten mächtig imponiert hatte, wenn sie anfingen, an seine Autorität unbedingt zu glauben, dann sagten sie zu­letzt: Aber Meister, jetzt mußt du noch irgend etwas tun, was für uns wichtig ist. Weißt du, wir brauchen einen Brunnen, und du mußt uns sa­gen, wo der Brunnen gebaut werden soll. - Da ging derjenige, der so als Sinnierer in die Orte gekommen war, mit den Leuten herum in der Ge­gend, und an manchen Orten blieb er stehen, ging wieder weiter, blieb

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wieder stehen, aber dann blieb er endlich an einem Orte stehen, wo er sagte: Da ist's! da haben wir's! - Da wurde der Brunnen gebaut.

Diese Dinge verzeichnet eben die Geschichte nicht, diese Dinge rei­chen bis in das erste Drittel des neunzehnten Jahrhunderts herein, wenn sie da auch immer spärlicher und spärlicher wurden. Aber diese Dinge sind real. Und das ist eben etwas, was gerade in den unteren Schichten des Volkes besonders gepflegt worden ist, was sozusagen hier das geistige Leben ausmachte. Das geistige Leben lag durchaus in diesen Dingen, weil man den innersten Drang hatte, das Menschliche als solches, ich möchte sagen, nicht nur symbolistisch, sondern sogar kosmisch zu fassen. Man frug hier weniger: Wie hängt der Mensch durch seine Klasse, durch seinen Beruf nach außen zusammen? Das machte man selbst geltend in den Zeiten des Zunftwesens, wenn man äußerlich mit den Abzeichen auf­treten wollte, wenn man Aufzüge machen wollte und dergleichen, aber das hatte ja eigentlich nicht jene tiefe geistige Bedeutung wie im Westen. Dagegen hatte dieses von dem Äußeren abgezogene Leben hier seine gro­ße geistige Bedeutung.

Ich möchte sagen: Im Westen war man darauf aus, die Menschheit in den äußeren Kräften des Zusammenlebens seelisch aufzufassen. In Mit­teleuropa war es der Mensch innerhalb seiner Haut, der auch das, was er gesellschaftlich erlebte, als Mensch erleben wollte. Das ist dasjenige, was das mitteleuropäische Geistesleben in eine gewisse Höhe getrieben hat, so daß es nicht populär werden konnte wie im Westen. Und das ist es auch, was zu gleicher Zeit die tiefe geistige Tragik Mitteleuropas hervor-gerufen hat. Und wir leben schon heute in einer Zeit, in der diese Dinge in weitesten Kreisen bewußt werden sollten, in der man aufwachen sollte in weitesten Kreisen über diese Dinge. Denn es ist ja nur dann zu hoffen, daß unsere chaotisch gewordene Zivilisation wiederum neue Anstöße er­halten kann, daß ihr wieder neue Lebenskräfte zugeführt werden kön­nen, wenn man in dieser Weise den wirklichen Zusammenhang mit dem geschichtlichen Leben erfassen kann.

Man stieg schon in Mitteleuropa bis zur Erde herunter. Das zeigt ins­besondere Goethe, der eben den Ausgleich haben wollte zwischen dem oberen und dem unteren Menschen, der die beiden Extreme, die Metall­fühlerin und die kosmische Seherin, einander gegenüberstellte. Man wollte den Menschen als tätigen Menschen auf die Erde hereinstellen; aber man wollte hinaufschauen in die Region des Kosmischen auf der ei­iien Seite, man wollte hinunterschauen in die Region des Irdischen, des

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Tellurischen auf der andern Seite, um den Menschen als einen Erden-bürger zu erkennen. Das sind die Differenzierungen, welche die moderne Zivilisation aus ihren Untergründen mit heraufgebracht haben.

Daher konnte zum Beispiel auch so etwas, wie Schillers «Ästhetische Briefe», über die ich öfter gesprochen habe, wo eigentlich der Mensch ganz nur als Mensch dasteht, losgelöst von jeder Nationalität, wo er nur als Mensch erfaßt werden soll, nur in Mitteleuropa geschrieben werden. Und im Grunde genommen war es selbstverständlich, daß ein Teil des Sinnens - wenn auch dafür nicht Goethe und auch nicht die Folgezeit die Lösungen gefunden hat - darinnen bestand, wie man die Menschen dazu bringen kann, daß eben alle Menschen dieses allgemein Menschli­che in der modernen Weise wieder verstehen können.

Daher bildet bei Goethe einen großen Teil seines Wilhelm Meister­Romanes die sogenannte pädagogische Provinz. Die Erziehung des Men­schen wird zum Problem: ein Problem, für das die Zeit damals noch nicht gekommen war, für das die Zeit erst heute da ist, wo man nach an­throposophischer Menschenerkenntnis suchen kann.

Man war im Westen, ich möchte sagen, schon über die menschliche Haut herausgegangen. Man suchte tastend: Wie verbindet man sich mit dem andern Menschen? Wie gibt man sich dem andern Menschen zu er­kennen? Wie ergreift man seine Hand? Wie hat man zu sprechen, daß er einen erkennt? - Zeichen, Griff und Wort, wie sie dann in einer etwas luxuriösen Weise in den Freimaurer-Gesellschaften aufgetreten sind, das ist etwas, was im Westen gewirkt hat als etwas lebenskräftig Tätiges bis zum Ende des ersten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts. In Mittel­europa hatte man nicht so viel Sinn für solche besondere Symbolik, aber man hatte viel Sinn dafür, hinter das Rätsel des Menschen im allgemei­nen zu kommen.

Interessant ist es nun, damit Osteuropa zu vergleichen. Da kam der Mensch - nicht nur bis zum Ende des ersten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts, sondern bis in eine viel spätere Zeit - von seinem Inneren aus, ich möchte sagen, nicht bis zu seiner Haut. Er blieb in einem gewis­sen Sinne in einer Seelenverfassung, die ihn nicht ganz heraushob aus dem Göttlichen, nicht vorschob bis zum Menschen. Daher möchte ich sagen: Während im Westen die Gesinnung aufgekommen ist: die Welt ist Welt - höchstens muß man über soziale Utopien nachdenken -, die Welt ist Welt, man muß in ihr leben, man muß soziale Einrichtungen ha­ben, um in ihr zu leben, oder muß diejenigen, die schon da sind, so ansehen,

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als ob sie ganz herrlich wären, um in ihnen zu leben - während es so war im Westen, war es in Mitteleuropa so, daß man eigentlich ver­langte: der Mensch muß erst Mensch werden, er muß erst sich durchar­beiten zum Menschtum, dann findet er die Erde. - Im Osten war man überzeugt: Beide Ideale sind eigentlich falsch. Schon wenn der Mensch daran denkt, sich zum Menschen durchzuarbeiten, so ist er auf dem Holzweg, denn er verläßt eigentlich damit das Paradies. Und es sollte der Mensch das Stück Erde, auf dem er wohnt, immer als ein Paradies ansehen können, sonst wird das Leben unmöglich. Man muß mehr auf dasjenige zurückgehen, was unbewußt im Menschen drinnen ist, und nicht zu stark ins Leben herausgehen.

Aus diesem Grunde ist es, daß im Osten Europas zwar eine gewisse Toleranz gegen den Westen und gegen Mitteleuropa immer vorhanden war, aus einer gewissen Gutmütigkeit, auch aus Menschenliebe heraus, daß aber dennoch die Gegenden, in denen man entweder ganz mit dem äußeren Menschentum wie im Westen, oder mit der einzelnen menschlichen Individualität wie in Mitteleuropa, rechnete, gewisserma­ßen wie ein Abfall von dem göttlichen Menschen angesehen wurden. Und als dann - man kann es für Rußland zum Beispiel durchaus so sagen -die Tendenz auftrat im Osten, sich Anschauungen zu verschaffen über das Westliche, da sehen wir eben, weil der Mensch nicht aus sich heraus will, wie zwar bei den Besten gerade eine Toleranz vorhanden ist, eine Tolerierung, aber kein inneres Eingehen auf die übrige Welt. Der Russe dringt, wenn er ein richtiger Russe ist, nicht bis an seine Haut heran; er bleibt tiefer drinnen in sich stecken. Es ist schon viel zu irdisch, bis zu seiner Haut vorzudringen, man muß mehr im Innern bleiben.

Sehen Sie, das war eine Seelenstimmung, die noch bei Dostojewskij im höchsten Grade auftrat. Und da ist es immerhin interessant, zu hören, was Dostojewskij, also einer derjenigen, die vor allen Dingen repräsenta­tiv sind für das östliche europäische Leben, den Leuten des Westens sagt.

In der neuesten Nummer der Zeitschrift «Wissen und Leben», die jetzt herausgekommen ist, wo Briefe abgedruckt sind, die Dostojewsklj an Apollon Maikow 1868 geschrieben hat, können Sie es lesen. Aber eben, solche Briefe könnten geschrieben sein, wenn dazumal das Reisen schon so üblich gewesen wäre, auch im ersten Drittel des neunzehnten Jahr­hunderts.

Eine Anzahl von hier Sitzenden muß ich vielleicht um Entschuldigung bitten, daß ich einige Stellen aus dem Briefe Dostojewskijs vorlese, aber

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es sagt es ja Dostojewskij, nicht ich, und ich bin natürlich weit entfernt, damit etwas anderes sagen zu wollen, als Dostojewskij sprechen zu lassen. Dostojewskij fühlt sich also nach Genf verschlagen; und die Genfer West-menschen und jene, die in der Nähe wohnen, müssen es schon entschul­digen, wenn ich also nur als Charakteristik einige Stellen aus einem Briefe von Dostojewskij von 1868 zur Verlesung bringe.

«Am meisten hatten wir in Genf unter den materiellen Unannehm­lichkeiten und unter der Kälte zu leiden. Wenn Sie nur wüßten, wie dumm, stumpfsinnig, unbedeutend und wild dieses Volk ist! Es genügt nicht, als Tourist das Land zu besuchen. Nein, versuchen Sie einmal hier zu leben! Aber ich kann Ihnen jetzt meine Eindrücke selbst kurz nicht wiedergeben; es haben sich gar zu viele angesammelt. Das bourgeoise Leben in dieser Republik ist nec plus ultra entwickelt. In der Regierung und in der ganzen Schweiz - nichts als Parteien, ununterbrochene Strei­tigkeiten, Pauperismus, eine erschreckende Mittelmäßigkeit in allem; der hiesige Arbeiter ist nicht den kleinen Finger des unseren wert: es ist lächerlich, ihn anzuschauen und ihm zuzuhören. Die Sitten sind wild; ach, wenn Sie wüßten, was man hier für gut und was für schlecht hält. Niedrige Bildung: welch eine Trunksucht, welche Diebereien, welch ein kleinlicher Schwindel, der im Handel zum Gesetz geworden ist. Es gibt übrigens auch einige gute Züge, die sie unermeßlich hoch über die Deut­schen stellen.»

Jetzt muß ich wieder nach der andern Seite um Entschuldigung bitten! «In Deutschland mußte ich am meisten über die Dummheit des Vol­kes staunen; sie sind maßlos dumm, sie sind inkommensurabel dumm. Bei uns will selbst Nikolai Nikolajewitsch Strachow, ein Mann von ho­hem Verstande, die Wahrheit nicht einsehen, er sagte: ,Die Deutschen sind klug, sie haben das Pulver erfunden.' Aber ihr Leben hat sich eben so gefügt!»

Also, daß sie das Pulver erfunden haben, rechnet er ihnen nicht als et­was an, was ihre inkommensurable Dummheit etwas mindern würde. Nun:

«... In der Schweiz gibt es noch genug Wald, in den Bergen ist unver­gleichlich mehr davon geblieben als in den andern Ländern Europas, obwohl er von Jahr zu Jahr entsetzlich abnimmt. Nun stellen Sie sich vor: Fünf Monate im Jahre herrscht hier eine schreckliche Kälte und da­zu die Bisen. Und drei Monate ist hier fast der gleiche Winter wie bei uns. Alle zittern vor Kälte, legen Flanell und Watte niemals ab (dabei gibt es bei ihnen gar keine Dampfbäder, Sie können sich also den

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Schmutz vorstellen, an den sie gewohnt sind), Winterkleider haben sie nicht, laufen fast in den gleichen Kleidern herum wie im Sommer (Fla­nell allein ist aber zu wenig für einen solchen Winter>, und dabei fehlt es ihnen an Verstand, um ihre Wohnungen auch nur ein wenig zu ver­bessern! Was kann ein Kamin mit Kohle oder Holz ausrichten, selbst wenn man den ganzen Tag heizt? Den ganzen Tag heizen kostet aber 2 Franken täglich. So viel Wald wird dabei unnütz vernichtet, Wärme hat man aber nicht. Was glauben Sie? wenn sie bloß Doppelfrnster hät­ten, könnte man auch mit den Kaminen leben! Ich sage gar nicht, daß man Öfen einbauen sollte. Dann könnte man den ganzen Wald retten. In 25 Jahren bleibt gar kein Wald mehr übrig. Sie leben wirklich wie die Wilden! Dafür können sie auch was vertragen. In meinem Zimmer sind beim fürchterlichen Heizen nur +5 Grad Réaumur (5 Grad Wärme). Ich saß bei dieser Kälte im Mantel, wartete auf Geld, versetzte die Sa­chen und überlegte mir den Plan zu einem Roman - ist das schön? Man sagt, in Florenz hätte es in diesemJahre bis -10 Grad gegeben. In Mont­pellier gab es 15 Grad Réaumur Kälte. Bei uns in Genf sank die Tempe­ratur nicht unter -8 Grad, aber es ist ganz gleich, wenn das Wasser in den Zimmern einfriert. Neulich habe ich die Wohnung gewechselt und habe jetzt schöne Zimmer; das eine ist ständig kalt, das andere aber warm, und in diesem warmen Zimmer habe ich immer + 10 oder + 11 Grad Wärme, also kann man noch leben.» Und so weiter, und so weiter.

Sie sehen also: sehr gut kommen die Mittel- und Westeuropäer in die­ser Schilderung eines der allerhervorragendsten Russen nicht gerade weg. Und das muß eben darauf zurückgeführt werden, daß ein Heraus­gehen auch nur bis zu der Haut des Menschen da nicht vorhanden ist. Da ist noch durchaus das In-sich-Geschlossensein, und daher das Sich­nicht-Angleichen an die Umgebung, sondern das, ich möchte sagen, For­dern, daß alles so ist, wie man selbst ist.

Wie gesagt, es ist ja auch von einem gewissen zeitgeschichtlichen Standpunkte aus ganz interessant, diese eben veröffentlichte Briefstelle einmal sich vor die Seele zu führen. Deshalb habe ich eben diese ge-wählt, und nicht etwa solche aus dem ersten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts bei dieser Jahrhundertbetrachtung. Denn in Rußland sind die Dinge in einer solchen Klarheit eigentlich erst später herausgekom­men; sie haben aber immer gewebt und gelebt, sind immer da. Und man charakterisiert auch die Zeit vor einem Jahrhundert, wenn man diese Aussagen über eine schon etwas veränderte Zeit ins Auge faßt. Ja selbst

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Dinge, über die man wahrscheinlich recht erstaunt sein kann im Westen, die finden sich da. Wenn Sie westliche oder mitteleuropäische Schilde­rungen nehmen, dann wird Ihnen die folgende Briefstelle, die nun aus derselben Zeit - I. März 1868 - ist, interessant sein. Sie werden gerade daraus sehen, daß man die Dinge der Welt von verschiedenen Stand-punkten aus ansehen kann.

«Über unsere Gerichte habe ich mir (nach allem, was ich gelesen) folgende Meinung gebildet: Das moralische Wesen unseres Richters » -nämlich die Richter in Rußland - « und, vor allem, unseres Geschwore­nen ist unendlich höher als in Europa; sie betrachten die Verbrecher wie Christen. Selbst die im Auslande lebenden russischen Verräter geben es zu. Aber eines scheint noch nicht gefestigt: ich glaube, daß in diesem huma­nen Verhältnis zu den Verbrechern noch viel aus Büchern Geschöpftes, Liberales, Unselbständiges steckt. Das kommt zuweilen vor. Übrigens kann ich mich aus der Entfernung furchtbar irren. Aber unser Grundwesen ist in dieser Beziehung unendlich höher als das europäische.» Und so weiter.

Sie sehen also, es ist auch die Anschauung über die Gerichte hier von einem andern Standpunkt gegeben, als Sie sie in Westeuropa oftmals ge­geben hören.

Ich möchte, daß aus der gestrigen und heutigen Betrachtung doch zweierlei hervorgeht: Erstens, daß es ein Unding ist zu glauben, daß selbst an für ein Jahrhundert zurückliegende Lebensverhältnisse der heu­tige Maßstab irgendwie angelegt werden darf, sondern man muß tat­sächlich liebevoll auf die vergangenen Verhältnisse eingehen, wenn man zu einem gültigen, zu einem mit der Realität rechnenden Urteil kommen will. Aber auch bei denjenigen Menschen, die gleichzeitig leben, handelt es sich darum, daß man sich eine gewisse Weitherzigkeit des Urteils an­eignet. Das ist es, was wir heute finden müssen. Wir müssen die Möglich­keit finden, von diesen nationalen Standpunkten abzusehen, um tatsäch­lich einen Standpunkt des Erdenbürgers zu finden.

Dann ist es aber so, daß dies vor allen Dingen nur von einer tieferen Menschenerkenntnis aus kommen kann. Diese tiefere Menschenerkennt­nis, zu der konnte eben die Welt nicht vordringen, solange die Welt nicht Anthroposophie gesucht hat. Und man möchte sagen: Läßt man sich ge­rade richtig ein auf das, was vor einem Jahrhundert in Europa vorhanden war, so sieht man, es ist das Sehnen nach einer Menschenerkenntnis. Aber mit dem, was dazumal über die Natur gewußt worden ist, konnte man noch nicht im modernen Sinne zu einer Menschenerkenntnis kommen.

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Dann hat die äußere Naturwissenschaft alles überflutet in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Und jetzt müssen wir das, wonach man sich vor hundert Jahren sehnte, wonach die Besten in Europa sich sehnten, was nur eine Zeitlang überflutet war, jetzt müssen wir das mit einer höheren Geist-Erkenntnis wiederum suchen.

Das wird einzig und allein der Menschheit die Kraft liefern, die zu ei­nem Aufstiege der Kultur gegenüber dem Verfall irgendwie führen kann. Es ist trostlos, daß so wenig Geschichte und so wenig Geographie in dem gestern erwähnten Sinne gepflegt wird, daß die Dinge solch äußerliche Gestalt angenommen haben. Da handelt es sich darum, wirklich den Geist in der Geschichte zu suchen, in der Geschichte und über die Erde hin in geographischem Sinne. Gerade Geschichte und Geographie müs­sen in geistiger Weise eine Metamorphose erfahren. Das ist nötig.

Das ist dasjenige, was die Goethesche pädagogische Provinz in «Wil­helm Meister» auch noch nicht hatte, wonach aber die Sehnsucht lebt in den Gestalten, die dort auftreten. Und vieles eben von diesen Sehn­suchten der damaligen Zeit muß heute in die Zivilisation hereinbrechen. Die Menschen müssen aufwachen in bezug auf das, wovon dazumal mit einer besonderen Sehnsucht geträumt worden ist, damit die Träume von dazumal durch die Kraft einer geistigen Erkenntnis jetzt Wirklichkeit werden können. Denn diese Wirklichkeit braucht die Menschen für ihre Zivilisation.

DIE EUROPÄISCHE KULTUR UND IHR ZUSAMMENHANG MIT DER LATEINISCHEN SPRACHE GRIECHISCHES UND RÖMISCHES MYSTERIENWESEN Dornach, 8. Juli 1923

#G225-1961-SE084 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DIE EUROPÄISCHE KULTUR UND IHR ZUSAMMENHANG

MIT DER LATEINISCHEN SPRACHE

GRIECHISCHES UND RÖMISCHES MYSTERIENWESEN

Dornach, 8. Juli 1923

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Aus den beiden Vorträgen, die ich gestern und vorgestern gehalten habe, werden Sie ersehen haben, wie man es vom anthroposophischen Ge­sichtspunkte aus für wichtig halten muß, in rechter Weise an dasjenige anzuknüpfen, was in Europa im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts ge­schehen ist. Und wir konnten ja die Erscheinungen, die wir da vor unsere Seele gestellt haben, anknüpfen an manches von dem, was sich uns ergeben hat als die eigentliche Charakteristik der neueren Zeit, die wir von Mitte des fünfzehntenJahrhunderts an als die eigentliche Charakteristik der gei­stigen und auch sonstigen geschichtlichen Entwickelung Europas rechnen.

Ich möchte nun heute, gerade indem ich das Gestrige und Vorgestrige als eine Art Unterbau, als eine Art Perspektivenausgang, könnte ich auch sagen, betrachte, den Blick nach etwas weiterem, auch der Zeit nach wei­terem richten.

Wir müssen uns ja klar sein darüber, daß im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts in der europäischen Entwickelung auf der einen Seite der Materialismus heraufgekommen ist. Und ich rechne zum Materialismus alles das, was sich überhaupt nur hinwenden kann zu den materiellen Er­scheinungen, wenn es etwas über die Welt sagen will, was nicht ein Be­dürfnis empfindet, zu einem Geistigen sich zu wenden, wenn es sich um dasjenige handelt, was den Menschen in der Welt aufrecht erhält, was dem Menschen in der Welt seine Bahn anweist. Auf der anderen Seite kam zu diesem Materialismus hinzu, was man Intellektualismus, Ratio­nalismus, Verstandesansicht nennen kann, die Ansicht, welche nur, ich möchte sagen, in logischen Begriffen leben und weben will.

Nun fassen Sie das nicht so auf, als ob ich meinte, daß dieser logischen Denkungsart eine andere nichtlogische oder gar antilogische entgegen-gestellt werden soll. Das fällt mir natürlich gar nicht ein. Aber das Lo­gische allein ist für die Wirklichkeit so, wie das Knochensystem für den Menschen ist, und das Logische stellt eigentlich in allen Dingen nicht das Lebendige, sondern das Tote dar. Und so förderte dasjenige, wozu sich der Mensch naiv durchgerungen hat, diese bloße Verstandeslogik,

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die tote Begriffe enthält, sie förderte den Materialismus, der nur anknüpfte an die tote Substanz.

Nun kann heute wirklich zu einer Weiterentwickelung der mensch­heitlichen Zivilisation nichts anderes uns verhelfen als ein ganz illusions­freies Hineinschauen in die wahren Gründe, die auf der einen Seite die­sen Materialismus, auf der anderen Seite den Rationalismus heraufge­bracht haben. Und da müssen wir eben auch zeitlich heute etwas weiter ausgreifen, damit die gestrige und vorgestrige Schilderung einen noch weiteren Hintergrund bekommt.

Ich habe ja schon öfter darauf hingewiesen, welch ein tiefer Riß vor­handen ist zwischen alledem, was einmal griechische Bildung war -sagen wir, diejenige Bildung, welche sich zum Teil in griechischer Spra­che dargelebt hat, - und dem, was dann westlich davon als römische, als lateinische Bildung nach und nach sich ausgebildet hat. Es ist ja öfter hingewiesen worden auf die Anschauung von Herman Grimm, der da sagt: Die Römer kann der heutige Mensch noch verstehen, denn er hat im Grunde genommen noch dieselben Begriffe wie die Römer in sich; die Griechen erscheinen ihm wie die Bewohner eines Märchenlandes. - Nun, ich habe mich ja in den Aufsätzen, die im «Goetheanum» vor kurzem erschienen sind, gerade über diese Tatsache genauer ausgesprochen.

Nun müssen wir uns aber darüber klar sein, daß der Osten von Europa, den ich gestern sozusagen nur anhangsweise und vielleicht in einer für manche, die hier sitzen, anfechtbaren Weise zu schildern versucht habe, eine Welle der Zivilisation erlebt hat, die in späterer Zeit stark von dem Griechischen beeinflußt worden ist. Im Osten Europas treffen wir die Spätlinge des griechischen Fühlens, des griechischen Empfindens. Im Westen von Europa und auch in Mitteleuropa pflanzt sich dagegen die lateinische Bildung in einer ganz intensiven Weise fort. Und gerade jene Differenzierung über Europa hin, die ich Ihnen in den letzten zwei Ta­gen geschildert habe, die steht im Grunde genommen doch ganz unter dem Einfluß dessen, was im Osten wie eine Fortsetzung des Griechen­tums, im Westen wie eine Fortsetzung des lateinischen Römertums vor­handen war.

Wir müssen nämlich folgendes nicht vergessen. Wir müssen uns klar sein darüber, daß der Westen in einer ganz anderen Weise in der Lage war, innerlich seelisch das lateinisch römische Wesen zu verdauen als Mitteleuropa. Der Westen hat das Lateinische in sich aufgenommen. Mit­teleuropa ist am Lateinischen krank geworden. Und wer diese Erscheinung,

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die heute sich in ihren letzten Ausläufern gerade in der denkbar intensivsten Weise zeigt, richtig ins Auge zu fassen vermag, der allein weiß eigentlich sich zurechtzufinden innerhalb der gegenwärtigen Bil­dungsbegriffe.

Sehen wir die Sache einmal zunächst vom mitteleuropäischen Stand­punkte an. Ich möchte da noch einmal aufmerksam machen auf das, was aus der Sprache heraus, aus der Kritik der Sprache heraus der vor kurzem verstorbene Fritz Mauthner geltend gemacht hat. Fritz Mauthner hat, nicht so wie Kant eine Kritik der Vernunft, das heißt eigentlich eine Kri­tik der Begriffe, sondern er hat eine Kritik der Sprache schreiben wollen. Er hat nämlich die vermeintliche Entdeckung gemacht, daß die Men­schen im Grunde genommen, wenn sie über höhere Dinge reden, nur in Worten reden, und nicht bemerken, daß sie nur in Worten reden. Kommt man aber darauf, wie die Menschen Worte gebrauchen, zum Beispiel Gott, Geist, Seele, das Gute und so fort, so sieht man, daß die Menschen glauben, wenn sie Worte gebrauchen, auch eine Sache zu haben, daß sie aber eben nur die Worte gebrauchen, ohne damit auf eine wirkliche Sa­che hinzudeuten.

Nun habe ich ja schon, ich glaube auch hier, angedeutet, daß natürlich diese ganze Mauthnersche Ansicht nicht zutrifft, wenn es sich um Dinge der Natur handelt, denn da können die Leute ganz gut unterscheiden zwischen dem Wort und der Sache. Wenigstens habe ich noch nicht er­fahren, daß irgend jemand zum Beispiel die Absicht gehabt hätte, nicht einen wirklichen Schimmel zu besteigen, wenn er reiten will, sondern bloß das Wort «Schimmel» zu besteigen! Also in bezug auf die Dinge der Na­tur können die Leute schon unterscheiden das Wort und seinen Inhalt von der Realität.

Aber die Sache wird doch anders - und das gibt Fritz Mauthner einen gewissen Schein von Recht - in dem Augenblick, wo man auf der einen Seite auf seelisches Gebiet, und auf der anderen Seite auf ethisch-morali­sches Gebiet kommt. In bezug auf das Seelische haben sich eben Worte erhalten aus alten Zeiten, die die Menschen fortsprechen, aber es haben sich nicht die Anschauungen über die Sachen erhalten. So daß die Men­schen zwar Worte gebrauchen wie Seele, Geist, aber die Anschauung der Sache nicht haben. Und da Mauthner das auf seelischem Gebiete be­merkt hat, hat er gemeint, das verallgemeinern zu können. Aber auf seeli­schem Gebiete und auch auf ethisch-moralischem Gebiete ist es so, daß zum Beispiel auf ethisch-moralischem Gebiete die moralischen Impulse

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allmählich für den Menschen den sachlichen Inhalt verloren haben und eigentlich heute nur noch als äußere Gebote oder gar als äußere Gesetze figurieren.

Also für ein gut Stück des Sprachschatzes ist die Anschauung der Sa­che verlorengegangen. Daher kostet es ja so viel Mühe, wenn man heute für die wichtigsten Fähigkeiten der menschlichen Seele - Denken, Füh­len und Wollen - auf die Sache wirken will. Denn Denken, Fühlen und Wollen sind Dinge, die heute jeder bespricht, aber eine Anschauung von den entsprechenden Sachen haben die Menschen eigentlich nicht. Und es handelt sich darum, daraufzu kommen, was da eigentlich dahinter­steckt.

Nun müssen wir uns darüber klar sein, daß die Bildung, die eigentlich zum Geistesleben geführt hat, durch viele, viele Jahrhunderte im Mittel­alter hindurch von der lateinischen Sprache getragen war, und daß die lateinische Sprache wirklich nicht nur im Sinne einer äußerlichen Be­zeichnung, sondern in ganz innerlichem Sinne eine tote Sprache geworden ist. Die lateinische Sprache, die man sich im Mittelalter aneignen mußte, wenn man überhaupt an die höhere Bildung herankommen wollte, wur­de immer mehr und mehr zu einem, wenn ich mich so ausdrücken darf, Mechanismus in sich. Und sie wurde gerade zu dem logischen Mechanis­mus in sich.

Dieser Prozeß ist sehr gut zu verfolgen, wenn man eben die Geschichte so betrachtet, wie wir sie für das neunzehnte Jahrhundert gestern und vorgestern betrachtet haben. Wenn man das Innere im Fortleben der Menschheit betrachtet, da sieht man, wie im vierten nachchristlichen Jahrhundert die lateinische Sprache allmählich aufhört, innerlich erlebt zu werden, wie sie nicht mehr den Logos auslebt, sondern nur noch die Hüllen des Logos. Dasjenige, was dann als Nachzügler von der lateini­schen Sprache geblieben ist, die italienische Sprache, die französische Sprache, sie haben allerdings vieles von der lateinischen Sprache in sich aufgenommen. Dadurch haben sie teilgenommen an dem Absterbeprozeß der lateinischen Sprache. Aber sie haben auch dasjenige in sich aufge­nommen, was ausgestrahlt hat von den verschiedenen Völkerschaften, die von Osten nach Westen gezogen sind und den Westen bewohnt haben. So daß im Italienischen und im Französischen das ganz andere Element mit-lebt, nicht etwa bloß in den Worten, sondern vor allen Dingen in der Ge­staltung der Sprache mitlebt, in dem Dramatischen der Sprache. Dage­gen ist das wirkliche Lateinische abgestorben. Und in dieser Abgestorben­heit,

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wo allmählich die Anschauungen herausgefallen sind, ist es zur all­herrschenden wissenschaftlichen Sprache geworden. Und man muß ge­rade bei der Sprache anfragen, wenn man einsehen will: Warum hat die mittelalterliche Weltanschauung die Gestalt bekommen, die sie nun ein­mal hat?

Denken Sie doch nur einmal, daß der Mensch im Knabenalter in die­ses Lateinische hineingedrängt wurde, also daß nicht der Prozeß so bei ihm gewesen ist, daß er vom lebendig Seelischen aus die Sprache gestaltet hat, sondern die Sprache wurde als fertiges logisches Instrument in ihn hineingegossen, und er lernte sozusagen an der Art und Weise, wie die Worte grammatisch zusammenhingen, die Logik. Die Logik wurde etwas, was den Menschen von außen herein ausfüllte.

Und so wurde der Zusammenhang der Menschenseele mit der geisti­gen Bildung ein immer loserer und loserer, und man wuchs nicht mit Be­geisterung aus dem, was man schon in sich hatte, in die Bildung hinein, man wurde aufgenommen von einem fremden Elemente der Bildung, von dem im Lateinischen petrifizierten, fremden Elemente der Bildung. Das sprühte aus sozusagen in der Seele und trieb das, was man ursprünglich hatte, heraus aus dem Menschen, oder tiefer in den Menschen hinein, in eine solche Region, wo man keinen Anspruch auf Logik machte.

Denken Sie nur, wie es durch vieleJahrhunderte im Mittelalter war und wie es in unserer Jugend war, in der Jugend derjenigen, die jetzt schon so altgewordene Wesen sind wie ich. Da war es so, daß wenn jemand irgend etwas in seiner Muttersprache ausgedrückt hatte, und es in der Gesell­schaft, in der man gerade war, nicht klar erschien, man es rasch ins La­teinische übersetzte, denn da wurde es klar. Aber es wurde auch kalt und nüchtern. Es wurde logisch. Man verstand sogleich, wenn irgend etwas in einem lateinischen Kasus ausgedrückt wurde, man verstand sogleich, wie eigentlich genau und exakt die Sache gemeint ist.

Das aber wurde durch die Jahrhunderte des Mittelalters immer ge­macht. Man erlaubte sich in der gesprochenen Sprache jede Schlamperei, weil man die Exaktheit, die Genauigkeit eben dem Denken in der latei­nischen Sprache zuschrieb. Das war aber dem Menschen etwas Fremdes. Und weil es fremd war, und der Mensch nur durch seine Seele zum Geist kommen kann, so petrifizierte die lateinische Sprache so weit, daß man da überhaupt nicht mehr irgendwie ein Wort anwenden konnte, wenn man nicht draußen in der physischen Sinnlichkeit das Ding hatte. Beim Pferd, da wäre es nicht gegangen, wenn man bloß das Wort gehabt hätte,

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denn da hätte man nicht darauf reiten können. Aber bei denjenigen Din­gen, die übersinnlich sind, da rauchte allmählich der Inhalt aus dem Worte heraus, und da hatten die Leute nur das Wort. Und dann sagten sie später, als ihre Muttersprache heraufkam, in der Muttersprache auch nur das Wort, das einfach lexigraphisch übersetzte Wort. Dadurch brach­ten sie nicht die Anschauung hinein. Indem man anima und Seele zu­sammenstellte, und anima als Inhalt die Wirklichkeit verloren hatte, blieb auch der Inhalt bei der Seele aus. Und so kam es, daß die lateinische Sprache nurmehr anwendbar war auf das äußerlich Sinnliche.

Da haben Sie aus der Sprache heraus einen der Gründe, warum dann die Theologie in der Mitte des Mittelalters gesagt hat: Man kann durch die Wissenschaft nur die äußeren sinnlichen Dinge begreifen, und höch­stens ihren Zusammenhang, und die übersinnlichen Dinge muß man dem Glauben überlassen. Hätten nämlich diese Leute die volle Kraft entwik­kelt, noch das auszusprechen, was wahr ist, dann hätten sie gesagt: Der Mensch kann von der Welt nur so viel erkennen, als auf lateinisch aus­drückbar ist, und das übrige muß er einem nicht ganz ausdrückbaren, nur gefühlten Glauben überlassen.

Sehen Sie, in gewissem Sinne ist das die Wahrheit, und das andere ist nur eine Illusion. Die Wahrheit ist diese, daß durch die Jahrhunderte die Anschauung gewirkt hat, daß wissenschaftlich wahr nur dasjenige sei, was durch die lateinische Sprache ausdrückbar ist.

Und nun kam eigentlich erst im achtzehnten Jahrhundert die Präten­tion der Volkssprache. Nun hatten aber in dieser Zeit, als die Prätentio­nen der Volkssprachen heraufkamen, die verschiedenen Gegenden Eu­ropas eine ganz verschiedene Beziehung zu den Volkssprachen. Da wo das Lateinische noch nachwirkte, da fand sich die Volkssprache mit der Bildung leichter zusammen. Daher haben wir diese Erscheinungen im Westen Europas, die wir vorgestern geschildert haben, daß eigentlich die Zusammenhänge im sozialen Leben, die sozialen Bindungen, wie ich sie genannt habe, sich in einer Weise entwickeln, die populär ist, an der je­dermann teilnimmt, weil da im Westen, als das Volkstum heraufkam, gewissermaßen dieses Volkstum im Lateinischen einschnappte in eine ver­wandte Art.

In Mitteleuropa war das ganz unmöglich, denn da hätte die Volks­sprache nichts Lateinisches angenommen. Da war die Volkssprache etwas durchaus vom Lateinischen Verschiedenes. Und darüber war nun die Schichte der Bildung, die lateinisch lernte, wenn sie gebildet werden woll­te.

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Also hier war die Differenz eine ungeheure. Ja, von dieser Differenz rührt nämlich jene Tragik für Mitteleuropa her, von der ich gestern ge­sprochen habe, die Tragik, die da bestand zwischen den Menschen der breiten Masse, die nicht Lateinisch lernten, die daher auch keine Wissen­schaft hatten - denn Wissenschaft war das, was man auf lateinisch sagen konnte - und denjenigen, die Wissenschaft erwarben, die also einfach in dem Momente, wo sie Wissenschaft erwarben, sich umschalteten. Im ge­wöhnlichen Leben, wenn sie aßen und tranken und wenn sie sonst irgend­wie mit den Landesgenossen zusammen waren, da waren sie ungelehrte Leute, weil sie in der Sprache sprachen, die überhaupt nicht die Gelehr­samkeit in sich hatte. Und wenn sie Wissenschafter waren, da waren sie etwas ganz anderes, da zogen sie einen inneren Talar an. So daß eigentlich einer, der gebildet war, im Grunde genommen in sich ein zerspaltener Mensch war.

Sehen Sie, das wirkte besonders auf das Geistesleben Mitteleuropas ganz tief. Denn in der Volkssprache war durch alle möglichen Umstände, die wir ja auch einmal berühren werden, eigentlich nur dasjenige ent­halten, was ich gestern angedeutet habe auf der einen Seite als ein astro­logisches Element, auf der andern Seite als ein alchimistisches Element. Das lebte schon in der Volkssprache, und die Volkssprache hatte eigent­lich eine innere Spiritualität, eine innere Geistigkeit. Die Volkssprache hatte keinen Materialismus in Europa. Der Materialismus wurde der Volkssprache erst aufgedrückt aus dem Materialismus der lateinischen Sprache heraus, indem die lateinische Sprache, als sie nicht mehr die Ge­lehrtensprache war, den Leuten doch noch die Allüren ließ, die sich her­ausgebildet hatten, als sie die Gelehrtensprache wurde. Und so konnte die mitteleuropäische Sprache gar nicht dazu gelangen, einen Ausgleich, ei­ne Harmonisierung mit demjenigen zu finden, was sich am Lateinischen herauf als Bildung festgelegt hatte.

Das ist eine ungeheuer ernste Angelegenheit. Es ist das bis heute in intensiver Weise zu bemerken. Ich will gleich ein konkretes Beispiel an­führen, in wie intensiver Weise das ZU bemerken ist. Sehen Sie, es wird heute an den verschiedenen Universitäten auch eine sogenannte Natio­nalökonomie gepflegt. Diese Nationalökonomie ist eigentlich aus juristi­schen Vorstellungen herausgewachsen, und die sind ganz und gar ein Kind des Lateinertums. Juristisch denken heißt auf lateinisch denken, auch heute noch. Und die nationalökonomischen Vorstellungen - ja, da kommt man eben auf eine unglückselige Weise für die Lateiner zu den

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Sachen hinunter. Geradeso wie man das bloße Wort Schimmel nicht rei­ten kann, so kann man die bloßen ökonomischen Begriffe nicht essen. Man kann mit den bloßen ökonomischen Begriffen nicht wirtschaften. Da aber die Wissenschaft sich nur aus dem Lateinischen heraus entwickelt hat - es ist den Leuten ja nur der Zusammenhang nicht klar -, so haben die öko­nomischen Wissenschaften der Gegenwart eben gar keinen Inhalt mehr. Die Nationalökonomie, so wie sie heute gelehrt wird, begreift eigentlich nur etwas, was mit der Wirklichkeit gar nichts mehr zu tun hat, weil sie vom Lateinischen abstammt, aber denAnschluß an die gegenwärtigeWirk­lichkeit gar nicht gefunden hat, sondern alles aus Begriffen herausspinnt.

Man könnte sagen, gerade auf nationalökonomischem Gebiete zeigt sich ein Gegensatz. Ich habe Ihnen gestern davon gesprochen, daß in Mitteleuropa unter dem Volke Leute herumgingen, die man Sinnierer nannte - die wirkten aus dem Volkstume heraus, die hatten daher die alte Astrologie, die alte Alchimie, - Sinnierer, das heißt diejenigen, die sinnen. Solche, die dann das Lateinische in jener Sublimation weiter auch in die Nationalökonomie hineingetragen haben, das sind diejenigen, die nun nicht sinnen, sondern spinnen. Ja, wirklich, das ist nicht im Spaß gemeint, sondern das ist ganz im Ernst gemeint, weil aus einem bloßen logischen Netz, zu dem die lateinische Sprache geworden ist, herausgesponnen wird, was als eine einzelne Wissenschaft ausgebildet wird.

Ich habe im vorigen Herbst hier einen Kursus über Nationalökonomie vorgetragen. Der ist aus den Sachen heraus gewesen, nicht aus dem Wortgespinst. Und da stellt sich immer mehr und mehr heraus, weil da aus den Sachen heraus gesprochen worden ist, also von den Wirklichkei­ten des wirtschaftlichen Lebens geredet wird: es können nun die national-ökonomischen Studenten das nicht zusammenbringen mit dem, was bloß gesponnen ist! Es geht das eine nicht in das andere herüber. Und nun könnte jemand die Aufgabe stellen, man solle noch einen Nebenkursus halten, wo man die Hülle, die Begriffshülle der heutigen Nationalökono­mie in Konkretisierung bringt mit dem, was da aus der Wirklichkeit ge­schöpft worden ist. Das hieße aber ja, man solle jemandem die Frucht­barkeit einer Orange an den weggeworfenen Orangenschalen erklären, und das geht eben nicht. Wo es sich darum handelt, ein Wissen aus der Wirklichkeit heraus zu gewinnen, da kann man nicht Fäden hinüber-ziehen zu dem, was ein bloßes Gespinst ist. Da muß tatsächlich vom Ur­sprünglichen, Elementaren heraus eben neu gearbeitet werden, wenn Realität wirken soll.

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Und weil in der Volksbildung, die nicht vom Lateinischen durchsetzt war, wenn auch in einer nicht mehr zeitgemäßen Form die alte Himmels­kunde und die alte Erdkunde, Astrologie und Alchimie fortlebten, so ge-sellten sich zu der Empfindung, daß Erkenntnis dasjenige ist, was man auf lateinisch sagen kann, allmählich die anderen Empfindungen: Aber­glaube ist all das, was man nicht auf lateinisch sagen kann, sondern in den Volkssprachen sagen muß. Nur drücken das die Leute nicht so aus, weil sie allerlei Schönheiten über die Dinge hinüberzimmern. Aber unsere ganze Bildung ist durchdrungen auf der einen Seite von dem Satze: Wis­senschaftlich ist alles das, was man in lateinische Sätze bringen kann, -und auf der anderen Seite: Aberglaube ist alles das, was man nicht in la­teinische Sätze bringen kann, sondern in der Volkssprache ausdrücken muß.

Das ist etwas, was im Westen viel weniger erlebt worden ist, was aber in einer furchtbar tragischen Weise gerade in Mitteleuropa erlebt worden ist. Im Osten wieder weniger. Erstens hatte der Osten das noch ganz von dem Safte der Wirklichkeit durchdrungene Griechische vielfach in seine Zivilisation einströmen lassen, und zweitens hat er sich das, was nun der furchtbare innere Seelenkampf zwischen dem lebendigen Volksgemäßen und dem abgestorbenen Lateinischen wurde, nicht sehr tief zu Herzen genommen, sondern er hat sich hingesetzt und hat sich gesagt: Ach was, in solche Lebenskämpfe hinein kommen ja doch nur solche Menschen, die aus dem Paradiese heruntergefallen sind; wir aber im Osten sind ei­gentlich im Paradiese geblieben. Es ist nur ein äußerer Schein, daß wir aus dem Paradies heruntergefallen sind, wir sind innerliche Menschen, -innerlich; innerliche Menschen!

Sehen Sie, auf solche Dinge muß durchaus-eingegangen werden, wenn man diese furchtbare Spaltung begreifen will, die heute besteht zwischen den Menschen, die in dem leben, was auf lateinische Art gezimmert wor­den ist, und den Menschen, die als heimatlose Seelen - ich habe den Aus­druck vor kurzem hier einmal gebraucht - aus dem Elementaren ihres eigenen Wesens heraus wiederum den Weg zum Geistigen suchen wollen. Da tritt dann die ungeheure Autorität dessen, was eine Dependance des Lateinischen ist, den Menschen entgegen. Der Respekt vor dem Lateini­schen nämlich, der steckt in dem Autoritätsglauben, der unserer heutigen Wissenschaft entgegengebracht wird.

Denken Sie doch nur einmal, was es durch Jahrhunderte geheißen hat, wenn so ein Bauernbüblein ins Klostergymnasium gekommen ist und da

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Lateinisch gelernt hat! Dann ist es in den Ferien nach Hause gekommen, hat Lateinisch gekonnt! Keiner hat etwas verstanden von dem, was das Bauernbüblein gelernt hatte, die andern alle wußten aber, nun ja, daß man nichts verstehen darf und kann, was zur Wissenschaft, was zur Er­kenntnis führt. Das wußten sie ja nun. Denn das Bauernbüblein, das in das Klostergymnasium gekommen ist, das sprach in einer Sprache, in der man eben die Erkenntnis sucht, und die andern Bauernbuben, die Kar­toffeln ausnahmen - nun, das war in früheren Zeiten nicht der Fall -, die also, sagen wir, auf der Wiese oder auf dem Acker irgendwie arbeite­ten, die hatten einen ungeheuren Respekt.

Denn einen Respekt hat man nicht vor dem, was man weiß, sondern vor dem, was man nicht wissen kann. Und dieses setzte sich fest als ein ungeheurer Respekt vor dem, was man nicht wissen kann, wo man von vornherein darauf verzichtet. Ja, das setzt sich dann fort, und solche Dinge nehmen Wege, die man nur dann verfolgen kann, wenn man wirklich den guten Willen hat, die geistigen Wege der Menschheit zu verfolgen. Das Bauernbüblein, im dreizehnten, zwölften Jahrhundert, das draußen nur den Pflug hielt und sonst mithalf, vielleicht höchstens noch beim Zer­kleinern des Schweinespecks zu Grammeln und so weiter mitwirkte, das Bauernbüblein, das wußte: Wir können nichts wissen, wir werden niemals etwas wissen können, weil nur diejenigen etwas wissen können, die Latei­nisch lernen. - Das Bauernbüblein sagt das, und dann geht das die gehei­men Wege, und dann - dann hält in neueren Jahrhunderten ein Natur-forscher eine Rede vor der erleuchteten Naturforscherversammlung und gipfelt diese Rede in denselben Worten, die im zwölften Jahrhundert der Bauernbub von dem Klosterbauernbüblein gesagt hat: Wir werden nicht wissen - ignorabimus! Würde man nämlich heute den Sinn dafür haben, den geschichtlichen Tatsachen nachzugehen, dann würde man, wenn man um Jahrhunderte zurückgeht, den Ursprung des Du Bois-Reymond­schen Impulses finden bei dem Bauernbub, der nicht Lateinisch gelernt hat, gegenüber dem Bauernbüblein, das Lateinisch gelernt hat.

Nun hat eine Sprache, wenn sie tot wird, eine Sprache, welche diesen Rückschritt durchmacht, den die lateinische Sprache durchgemacht hat, die Tendenz, eben auch in ihren Worten zum Toten hinzuneigen. Das Tote der Welt ist aber das Materielle. Und so hat die lateinische Sprache auch da, wo sie besonders herrschend war, die Dinge zum Toten hin ge­trieben, nämlich zum Materiellen. Ursprünglich wußte man überall -ich habe das schon einmal berührt -, was die Verwandlung des Brotes

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und Weines in den Leib und in das Blut Christi bedeuten, weil man die Sache noch aus dem lebendigen Erleben heraus wußte. Das Volk hätte es auch wissen können, aber die Volksalchimie galt ja als abergläubisch, die war ja nicht in lateinischer Sprache. Die lateinische Sprache aber konnte das Spirituelle nicht festhalten. Und so entstand der triviale Glau­be, daß dasjenige, was man sich unter Materie des Brotes und Weines vorstellte, sich verwandeln soll, und es entstanden die ganzen Diskussio­nen über die Abendmahlslehre eigentlich so, daß diejenigen, die disku­tierten, damit nichts anderes bewiesen, als daß sie diese Lehre in lateini­scher Sprache übernommen hatten. Aber da hatten die Worte nur mehr einen toten Charakter, und man verstand das Lebendige nicht mehr, wie die heutigen Anatomen aus dem toten Leichnam auch nicht mehr den lebendigen Menschen verstehen.

Mitteleuropa hat in tief tragischer Weise das durchgemacht, indem seine Sprache nichts hatte von dem, was die lateinische Sprache herauf-brachte. Mitteleuropa hatte eine Sprache, die angewiesen gewesen wäre, in das Lebendige hineinzuwachsen. Aber das Denken war, weil ja auch dieses Denken eine Dependance war des Lateinischen, das Denken war tot. Und so fanden die Begriffe die Worte nicht, und die Worte die Be­griffe nicht.

So hätte zum Beispiel das Wort «Seele» ebenso das Lebendige finden können, wie einstmals das Wort «Psyche» im Griechischen das Leben­dige gefunden hat. Aber die Vorbildung war Lateinertum, und da wußte man nichts von diesem Lebendigen, und tötete das Lebendige, das in den Volksworten war, eben auch damit ab. Deshalb ist es heute so wichtig, wiederum hinzuschauen auf den tiefen Riß, der eingetreten war zwi­schen Griechentum und Römertum. Und dieser tiefe Riß zeigt sich ganz besonders, wenn wir gerade in das Mysterienwesen hineinschauen.

Wenn wir nach Griechenland hinübergehen, da haben wir, ich möchte sagen, als die populärsten Mysterien die Eleusinischen Mysterien, die Mysterien von Eleusis. Sie waren diejenigen Mysterien, die sozusagen am meisten den Weg zum Geistigen hin populär gemacht hatten. Und die­jenigen, die in die Eleusinischen Mysterien eingeweiht waren, das waren die Telesten; sie waren in Eleusis eingeweiht. Schauen wir uns einmal an, erstens was in dieser Benennung «Eleusis» steckt, und zweitens was in dieser Benennung «Telesten» steckt.

Eleusis ist ja nur die etwas sprachliche Umwandlung von Elosis, und heißt eigentlich: der Ort, wo die Kommenden sind, diejenigen, die die

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Zukunft in sich tragen wollen. Eleusis heißt: das Kommende. Und die Telesten sind die Kommenden, die eleusisch Eingeweihten sind die Kom­menden. Das deutet darauf hin, daß der Mensch das Bewußtsein hatte, er ist so, wie er da steht, mehr ein Unvollkommener, und er muß ein Kom­mender werden, einer der die Zukunft in sich trägt. Telos nimmt die Zu­kunft voraus, das was erst in der Zukunft allmählich sich realisiert. So daß in den Eleusinischen Mysterien in der Stätte des Kommens, in der Stätte der Kommenden, die unvollkommenen Menschen zu vollkomme­nen ausgebildet wurden. Telesten waren sie.

Der ganze Sinn dieses Einweihens erlitt einen Bruch, als es hinüber-kam ins Römertum. In Griechenland wies noch alles in der Einweihung auf die Zukunft, auf das Erdenende hin. Man sollte sich mit einem star­ken inneren Impuls ausgestalten, damit man den Weg nach dem Erden-ende in der richtigen Weise findet. Dann war man ein Telest, einer, der nach dem Erdenende hin in der richtigen Weise sich entwickeln sollte.

Indem das nach dem Römertum hinüberkam, wurde der Ausdruck der Telesten allmählich der der Initiierten - Initium, Anfang. Es wurde das Ziel sozusagen von dem Erdenende nach dem Erdenanfang verlegt. Die Telesten wurden Initiierte. Diejenigen, die eingeweiht waren in die Ge­heimnisse des Kommenden, wurden Wissende des Vergangenen. Die pro­metheisch Strebenden wurden epimetheisch, nach dem Wissen des Ver­gangenen Strebende. Vom Vergangenen kann aber nur das abstrakte Wissen bleiben; wenn man in die Zukunft hin will, braucht man ein le­bendiges, willengetragenes Wissen, denn da muß der Wille sich hinein-entwickeln. Das Vergangene ist vergangen. Da kann man ein höheresWis­sen gewinnen, wenn man zu dem Initiuni, zu dem Vergangenen zurück­geht; aber es bleibt ein Wissen; es wird immer abstrakter und abstrakter.

Und damit zog der Impuls nach der Abstraktion, also nach jener Ver­totlichung, die vom vierten nachchristlichen Jahrhundert an, und dann immer mehr und mehr eingetreten ist, in die lateinische Sprache ein. Man wollte nach der Vergangenheit zurück, wo noch die Ideen mit dem Le­ben verbunden waren, weil man wußte, jetzt sind sie nicht mehr mit dem Leben verbunden, jetzt tritt man in ein unlebendiges Reden ein, wenn man sich zu den Ideen erhebt. Und initiiert werden in Griechenland hieß, ein höheres Leben in seiner Seele empfangen. Initiiert werden im Römer­tum hieß, resignieren für das Erdenleben auf ein höheres Tun und nur sich Gedanken darüber zu bilden: Im Erdenanfange, da hatte der Mensch einmal ein höheres Tun, aber von dem ist er heruntergegangen; man

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kann nicht ein Tuender, höchstens ein Wissender in bezug auf das höhere Wissen sein.

Sehen Sie, das sind die Schwierigkeiten, unter denen wir heute stehen. Wenn wir, sagen wir, das Wort «Einweihung» bilden, so ist das so furcht­bar anschaulich, denn «Weihen», das steckt in der ganzen Anschauung drinnen: unter Wasser tauchen den Menschen, wegbringen von den schar­frn Konturen des physischen Lebens, in das flüssige Weltenelement hin-einbringen, so daß er im webenden, lebenden, flüchtig-flüssigen Geisti­gen mit seiner Seele sich bewegen kann. Hineinweihen ist, jemanden ein­führen in die in sich bewegliche, fluktuierende, flüssige Welt des Lebens. Nun muß das irgendwie übersetzt werden. Und es wird ins Gegenteil übersetzt. Für die Einweihung muß man zum Beispiel sagen: Initiation.

Es ist eben notwendig, daß man weiß, daß solche Gegensätze, solche Schwierigkeiten in unserer gegenwärtigen Zivilisation drinnen stecken, man muß sich über diese Spieße, möchte ich sagen, die einem so weh tun in unserer gegenwärtigen Zivilisation, klar sein. Dann erst kann dasjenige kommen, was die Menschheit wirklich lebendig vorwärtsbringt.

Es ist mir natürlich sehr ferne, die Vorträge zu einer Philippika gegen das Lateinisch-Lernen gestalten zu wollen. Im Gegenteil, ich möchte, daß die Menschen noch mehr Lateinisch lernen würden, damit sie auch das ins Gefühl hereinkriegen, daß man mit dem Lateinischen nur das Tote bezeichnen kann, daß das Lateinische ganz richtig in die Anatomie, in den Seziersaal hineingehört, aber daß man, wenn man wiederum das ken­nenlernen will, was nicht tot ist, sondern was lebt, zu dem lebendigen Ele­mente des Sprachlichen seine Zuflucht nehmen muß. Man kann heute nicht mit irgendwelchem abstrakten Wollen in die Zukunft hineinkom­men, sondern mit einem illusionsfreien Einsehen desjenigen, was aus dem Toten das Leben des Geistes wiederum herausschlagen kann. Und wir leben ja in einem Moment, wo die Sache eigentlich bis zur Entscheidung getrieben ist im Geistesleben. Wir leben in einem ungeheuer wichtigen Momente.

Ich weiß nicht, wie viele von Ihnen ernst genommen haben, was ich in den letzten Nummern des «Goetheanum» ausgeführt habe, daß man noch vor zwanzig, fünfzehn, zehn Jahren solch einen Menschen wie Her-man Grimm zitieren konnte wie einen Gegenwärtigen. Heute ist er ein Vergangener, und man kann von ihm nur wie von einem Vergangenen sprechen. Ich habe dies, was ich gerade in diesen vier Artikeln in An­knüpfung an Herman Grimm gesagt habe, ungeheuer bitter ernst gemeint.

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Ich selber habe, wie Sie wissen, mit Vorliebe früher Herman Grimm in ganz anderem Sinne zitiert, als ich ihn jetzt zitiere. Ich habe ihn zitiert da, wo er in seinem Ausdruck als ein Geist verwendet werden konnte, der mit in die Zukunft hineinführt. Heute ist er ein Vergangener, gehört er der Geschichte an, und man kann höchstens in solchen Dingen, wo er auf das alte Griechen- und Römertum hinweist, dasjenige zitieren, was vor kurzem noch Gegenwart war; das ist heute schon Vergangenheit.

Aber ich gebe zu, daß dieses merkwürdige Hinüberleben einer schnell zur Vergangenheit werdenden Zeit in unserer Zeit etwas ganz anderes fordert, - und vieles wird sanft verschlafen! Denn das sanfte Verschlafen ist heute überhaupt etwas, das die Menschen so lieben.

Aber Anthroposophie ist diejenige Erkenntnis, die man nicht bloß in Ideen sammelt, sondern woran man aufwachen soll. Daher sind so viele Auseinandersetzungen, und auch die, welche ichjetzt gehalten habe, eben durchaus wiederum so gemeint, daß sie weckend wirken sollen.

DIE GNOSTISCHEN GRUNDLAGEN DES VORCHRISTENTUMS IMAGINATION VON EUROPA Dornach, 15. Juli 1923

#G225-1961-SE098 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DIE GNOSTISCHEN GRUNDLAGEN

DES VORCHRISTENTUMS

IMAGINATION VON EUROPA

Dornach, 15. Juli 1923

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In der Gegenwart, in der sich vieles entscheidet, und in der an die Mensch­heit sehr große Fragen gestellt sind, ist es notwendig, daß man auch bei der Betrachtung der zeitgenössischen Erscheinungen sich bis zum Geisti­gen hinauf erhebt. Das Geistige istja nun einmal kein Abstraktes, sondern ein solches, das sich über dem Physischen erhebt und in das Physische seine Wirkungen hereinsendet. Und derjenige Mensch, der lediglich das Physische, meinetwillen auch das Physische durchgeistet sieht, der beob­achtet immerhin nur einen Teil derjenigen Welt, in die der Mensch mit seinem Denken und Tun eingeschaltet ist. Das hatte durch Jahrhunderte hindurch eine gewisse Berechtigung. Diese Berechtigung ist aber für die Gegenwart und die nächste Zukunft nicht mehr vorhanden. Und so sehen Sie denn heute damit den Anfang gemacht, hinzuweisen auf Ereignisse unserer Gegenwart in ihrem unmittelbaren Zusammenhange mit Ereig­nissen, die sich eben in der geistigen Welt abspielen, und mit dem Physi­schen, das auf Erden geschieht.

Bevor dies aber möglich ist, müssen wir uns einiges von dem vergegen­wärtigen, was geistig in der Menschheitsentwickelung vorhanden war und zu dem geschichtlichen Augenblicke der Gegenwart geführt hat. Durch lange Zeiten hindurch ist ja für die abendländische Zivilisation und für alles, was aus ihr herausgewachsen ist, eigentlich nur ein Stück der Weltentwickelung maßgebend gewesen. Das war in berechtigter Art der Fall. Es war durchaus berechtigt, daß in den Zeiten, in denen die Bi­bel mit ihrem Alten Testament eine Notwendigkeit war, der Ausgangs­punkt von jenem Moment in der Weltentwickelung genommen wurde, da die Schöpfung des Menschen vergegenwärtigt wird durch das Eingrei­fen Jahves oder Jehovas.

In einer älteren Zeit des menschlichen Sinnens und Weltbetrachtens war dieser Augenblick der Weltentwickelung, in dem Jahve oder Jehova in dieselbe eingriff; eben nur ein späterer Augenblick, nicht derjenige, auf den man zurücksah als den eigentlich maßgebenden. Man ließ vielmehr in älteren Zeiten dem, was man die Weltschöpfung aus Jahve oder Jehova

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nennen kann gemäß dem Alten Testament, eine andere Entwickelung vor­ausgehen, eine Entwickelung, deren Inhalt viel geistiger gedacht wurde als alles das, was dann vorgestellt wurde im Zusammenhang mit der Bibel, so wie sie gewöhnlich verstanden wurde. Der Augenblick, der in der Bi­bel erfaßt wurde, die Menschenschöpfung durch Jahve oder Jehova, war eben für ältere Zeiten ein späterer Augenblick, und ihm ging eine andere Entwickelung voraus, die Jahve oder Jehova selbst als dasjenige Wesen hinstellte, das erst später in die Weltentwickelung eingriff als andere Wesen.

Man deutete noch in Griechenland zurück, wenn man nachsann über die ersten Stadien der Weltentwickelung, auf eine ältere Wesenheit, zu deren Begreifen etwas viel Geistigeres im Erkennen nötig war, als im Al­ten Testamente vorhanden ist, man deutete auf dasjenige Wesen zurück, das eben in Griechenland als der eigentliche Weltschöpfer, als der De­miurgos aufgefaßt worden ist. Der Demiurg war als ein Wesen vorge­stellt, vorhanden in Sphären höchster Geistigkeit, vorhanden in solchen Sphären höchster Geistigkeit, in denen noch nichts gedacht zu werden brauchte von irgendeinem materiellen Dasein, das in Verbindung zu bringen ist mit derjenigen Art von Menschheit, als deren Schöpfer dann bibelgemäß Jahve oder Jehova angesehen wird.

Wir haben es also mit einer sehr erhabenen Wesenheit im Demiurg zu tun, mit einer Wesenheit als Weltsehöpfer, deren Schöpferkraft im we­sentlichen darauf geht, geistige Wesen, wenn ich mich so ausdrücken darf, aus sich hervorzutreiben. Stufenweise, gewissermaßen immer niedriger -der Ausdruck ist gewiß nicht ganz zutreffend, aber wir haben keinen ande­ren - stufenweise immer niedriger waren die Wesenheiten, die der Demiurg aus sich hervorgehen ließ; Wesenheiten aber, welche weit entfernt davon gedacht waren, irdischer Geburt oder irdischem Tode zu unterliegen.

In Griechenland deutete man auf solche Weise daraufhin, daß man sie Äonen nannte, und man unterschied, ich möchte sagen, Äonen erster Art, Äonen zweiter Art und so weiter Lsiehe Schema]. Diese Äonen waren die­jenigen Wesen, die hervorgegangen waren aus dem Demiurg. Dann war in der Reihe dieser Äonen ein verhältnismäßig untergeordnetes Äonen­wesen, also ein Äon untergeordneter Art, Jahve oder Jehova. Und Jahve oder Jehova verband sich - und nun kommt dasjenige, was zum Beispiel in den ersten christlichen Jahrhunderten von den sogenannten Gnosti­kern vorgetragen worden ist, wo aber immer eine Lücke in ihrem Ver­ständnisse war, was vorgetragen worden ist wie eine Art Erneuerung des

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biblischen Inhaltes, aber, wie gesagt, es war immer eine Lücke des Ver­ständnisses da -, Jahve oder Jehova, so nahm man an, verband sich mit der Materie. Und aus dieser Verbindung ging der Mensch hervor.

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So daß also die Schöpfung Jahves oder Jehovas darinnen bestand - im­mer im Sinne dieser Gedanken, die noch bis in die ersten christlichen Jahrhunderte hereinragten -, daß er selbst, als ein Abkömmling niedri­gerer Art von den hocherhabeneren Äonen bis hinaufzu dem Demiurg, sich mit der Materie verband und dadurch den Menschen zustande brachte.

Alles das, was sich da gewissermaßen nun erhebt - für die ältere Menschheit durchaus verständlich, für die spätere Menschheit nicht mehr verständlich -, was sich da erhebt auf der Grundlage desjenigen, was uns im Erdenleben sinnlich umgibt, das alles faßte man zusammen unter dem Ausdrucke Pleroma (siehe Schema). Das Pleroma ist also eine Welt, von individualisierten Wesen bevölkert, die sich erhebt über der Welt des Physischen. Gewissermaßen auf der untersten Stufe dieser Welt, dieser Pleroma-Welt, erscheint der durchJahve oder Jehova ins Dasein gerufene Mensch. Auf der untersten Stufe dieses Pleroma ersteht eine Wesenheit, die eigentlich nicht in dem einzelnen Menschen, auch nicht etwa in einer Völkergruppe, sondern in der ganzen Menschheit lebt, die aber eine Er­innerung hat an die Abstammung vom Pleroma, vom Demiurgen, und wiederum zurückstrebt nach der Geistigkeit. Es ist das die Wesenheit Achamoth, mit der man in Griechenland eben das Hinaufstreben der

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Menschheit nach dem Geistigen andeutete. Sodaß da also durch Achamoth ein wiederum Zurückstreben zu dem Geistigen vorhanden ist (roter Pfeil).

Nun gliederte sich an diese Vorstellungswelt die andere an, daß der Demiurg dem Streben der Achamoth entgegengekommen ist und einen sehr frühen Äon herabgeschickt hat, der sich mit dem Menschen Jesus vereinigte, damit das Streben der Achamoth in Erfüllung gehen könne. So daß in dem Menschen Jesus ein Wesen aus der Äon-Entwickelung steckt, das von viel höherer geistiger Wesenheit, von höherer geistiger Art als Jahve oder Jehova gedacht wurde (grüner Pfeil).

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Und es entwickelte sich bei denjenigen, die in den ersten Jahrhunder­ten des Christentums diese Vorstellung hatten - und es hatten sie durch­aus viele Menschen, welche mit tiefer Inbrunst und Ehrlichkeit zu dem Mysterium von Golgatha aufsahen -, es entwickelte sich im Zusammen-hange mit dieser Vorstellung die Anschauung, daß den Menschen Jesus mit seiner Innewohnung eines uralten und damit urheiligen Äons ein gro­ßes Geheimnis umschwebt.

Die Ergründung dieses Geheimnisses wurde in der verschiedensten Weise gepflegt. Heute hat es nicht mehr sehr viel Bedeutung, tiefer über die einzelnen Formen nachzudenken, in denen in den ersten christlichen Jahrhunderten durch Griechenland hindurch, namentlich aber in Kleinasien

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und in den angrenzenden Gebieten vorgestellt wurde, wie dieses Äonwesen in dem Menschen Jesus wohnte. Denn die Vorstellungen, durch die man in der damaligen Zeit einem solchen Geheimnisse nahezu­kommen suchte, sind ja heute längst aus dem Bereiche dessen, was Men­schen denken, verschwunden. Im Bereiche dessen, was Menschen heute denken, liegt das, was die Menschen sinnlich umgibt, was mit dem Men­schen verbunden ist zwischen Geburt und Tod, und höchstens schließt eben der Mensch von dem, was er zwischen Geburt und Tod um sich hat, auf dasjenige, was geistig dieser physisch-natürlichen Welt zugrunde lie­gen könnte. Jenes unmittelbare Verhältnis, jenes innige Verhältnis von der Menschenseele zum Pleroma, das einstmals vorhanden war, und das ausgesprochen wurde in derselben Weise als das Verhältnis des Menschen zur geistigen Welt, wie heute das Verhältnis des Menschen zu Baum und Strauch, zu Wolke und Welle ausgesprochen wird, das alles, was da in den Menschenvorstellungen vorhanden war, um sich eine Überschau, ein Bild von dem Zusammenhange des Menschen mit jener geistigen Welt zu machen, die den Menschen eben viel mehr damals interessierte als die physische Welt, das alles ist ja verschwunden. Das unmittelbare Verhält­nis ist nicht mehr da. Und wir können sagen: Die letzten Jahrhunderte, in denen sich noch in der Zivilisation, von der dann die europäische, abendländische Zivilisation abhängig wurde, solche Vorstellungen gefun­den haben, sind das erste, zweite, dritte Jahrhundert und noch ein großer Teil des vierten nachchristlichen Jahrhunderts. Dann verschwindet aus dem, was menschliche Erkenntnis ist, die Möglichkeit, sich zur Pleroma-Welt zu erheben, und es beginnt eine andere Zeit.

Es beginnt die Zeit, die solche Denker hat, wie etwa einer der ersten unter ihnen Augustinus war oder Scotus Erigena; es beginnt die Zeit, die dann die Scholastiker hatte, die Zeit, in der die europäische Mystik blüh­te, eine Zeit, in der man auf dem Boden der Erkenntnis ganz anders sprach als in jenen alten Zeiten. Man sprach auf dem Boden der Er­kenntnis dann so, daß man sich eben an die sinnlich-physische Welt wandte und aus dieser physisch-sinnlichen Welt die Begriffe, die Ideen herauszuholen versuchte über ein Übersinnliches.

Dasjenige aber, was eine Menschheit der früheren Zeit hatte, das un­mittelbare Sich-Hinempfinden zur Geisteswelt, zu dem Pleroma, das war nicht mehr da. Denn der Mensch sollte eben in ein ganz anderes Stadium seiner Entwickelung eintreten. Es handelt sich gar nicht darum, nach den Werten die ältere Zeit oder die Zeit der mittelalterlichen Menschheitsentwickelung

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irgendwie zu bestimmen, sondern es handelt sich darum, zu er­kennen, was für Aufgaben in den verschiedenen Zeitaltern die Mensch­heit, insofern sie die zivilisierte Menschheit war, hatte. Da kann man sa­gen: Es hatte ebenjene ältere Zeit doch noch das unmittelbare Verhältnis zum Pleroma entwickelt. Sie hatten eben die Aufgabe, jene im Innern der Menschenseele sitzenden geistigen Erkenntniskräfte, die zum Geiste hin-gehenden Erkenntniskräfte, wiederum zu entwickeln.

Dann mußte aus den Tiefen der Menschheit herauf eine Zeit kommen -wir haben oftmals davon gesprochen -, wo die pleromatische Welt ver­dunkelt wurde, wo der Mensch anfing, diejenigen Fähigkeiten zu üben, die er vorher nicht hatte, wo der Mensch anfing, seine eigene Ratio, sei­nen Rationalismus, sein Denken zu entwickeln. In jenen älteren Zeiten, wo das unmittelbare Verhältnis zum Pleroma war, hat man nicht das ei­gene Denken entwickelt. Alles war auf dem Wege der Erleuchtung, der Inspiration, der instinktiven übersinnlichen Haltung erlangt worden; die Gedanken, die die Menschen trugen, waren ihnen geoffenbarte Gedan­ken. Jenes Hervorquellen und Hervorsprossen des Denkens, jenes Formen von eigenen Gedanken und logischen Zusammenhängen, das kam eben erst in späterer Zeit auf. Aristoteles ahnte es, ausgebildet wurde es erst von der zweiten Hälfte des vierten nachchristlichen Jahrhunderts an. Aber man gab sich dann während des Mittelalters alle Mühe, gewisser­maßen das Denken als solches auszubilden, und alles dasjenige auszubil­den, was mit dem Denken zusammenhängt.

Ein ungeheures Verdienst um die Gesamtentwickelung der Mensch­heit hat nach dieser Richtung hin das Mittelalter, namentlich die mittel­alterliche Scholastik. Sie entwickelte die Praxis des Denkens in der Ideen-bildung, in dem Ideenzusammenhang. Sie bildete eine reine Technik des Denkens aus, eine Technik, die jetzt schon wieder verlorengegangen ist.

Dasjenige, was in der Scholastik als Denktechnik enthalten war, das sollten die Menschen wiederum sich aneignen. Aber man tut es in der Ge­genwart nicht gern, weil in der Gegenwart alles darauf ausgeht, die Er­kenntnis passiv zu empfangen, nicht sie sich aktiv zu erwerben, aktiv zu erobern. Die innere Tätigkeit und der Drang zur inneren Tätigkeit fehien in der Gegenwart, diese hatte die Scholastik in der großartigsten Weise. Daher ist derjenige, der die Scholastik versteht, heute noch immer in der Lage, viel besser, viel eindringlicher, viel zusammenhängender zu den­ken, als etwa, sagen wir, in der Naturwissenschaft heute gedacht wird. Dieses Denken in der Naturwissenschaft ist Schematik, ist kurzatmig, dieses

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Denken ist inkohärent. Und es sollten eigentlich die Menschen der Ge­genwart an dieser Denktechnik und -praxis von der Scholastik lernen. Aber es müßte ein anderes Lernen sein als das, was man heute liebt, es müßte ein Lernen des Tätigen, des Aktiven sein und nicht bloß im Aneig­nen des fertig Vorgebildeten oder dem Experiment Abgelesenen bestehen.

Und so war das Mittelalter die Zeit, in welcher der Mensch sich inner­lich seelisch-denkerisch ausbilden sollte. Man möchte sagen: Die Götter haben das Pleroma zurückgestellt, ihre eigene Offenbarung zurückge-stellt, weil, wenn sie weiter auf die europäische Menschheit hereingewirkt hätten, diese europäische Menschheit nicht jene großartige innere Aktivi­tät der Denkpraxis entwickelt haben würde, die während des Mittelalters hervorgebracht worden ist. Und wiederum aus dieser Denkpraxis ist das­jenige hervorgegangen, was neuere Mathematik und derlei Dinge sind, die direkter scholastischer Abkunft sind.

So daß man sich die Sache so vorstellen soll: Die geistige Welt hat durch lange Jahrhunderte hindurch wie durch eine Gnade von oben der Menschheit die Offenbarung des Pleroma gegeben. Die Menschheit sah diese lichtvolle, diese in und durch Licht in Ideen sich offenbarende Welt. Vor diese Welt wurde gewissermaßen eine Decke gezogen. In Asien drü­ben blieben in der menschlichen Erkenntnis die dekadenten Reste desje­nigen, was hinter der Decke war. Europa hatte gewissermaßen eine Decke, welche von der Erde senkrecht gegen den Himmel sich erhob, die etwa, ich möchte sagen, unten die Grundlage hatte in dem Ural, in der Wolga, über das Schwarze Meer hin, zum Mittelländischen Meer zu. Stellen Sie sich vor, daß da für Europa eine Tapetenwand riesiger Art errichtet wäre durch den Zug hindurch, den ich eben angedeutet habe, eine Wand, durch die man nicht durchsehen kann, wo hinten in Asien die letzten de­kadenten Reste des Schauens des Pleromas sich entwickelten, in Europa aber nichts davon gesehen wurde und daher die innere Denkpraxis ohne Aussicht in die geistige Welt entwickelt wurde. Dann haben Sie eine Vor­stellung von der Entwickelung der mittelalterlichen Zivilisation, die so Großes aus dem Menschen heraus entwickelte, die aber alles das nicht sah, was hinter der Tapetenwand war, welche entlang dem Ural, entlang der Wolga, entlang durch das Schwarze Meer bis zum Mittelmeer ging, die durch diese Tapetenwand nicht hindurchschauen konnte, und der der Osten höchstens eine Sehnsucht war, aber keine Wirklichkeit.

Sie haben da nicht nur etwa symbolisch, sondern ganz in Realität an­gedeutet, was eigentlich die europäische Welt war, wie gewissermaßen

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unter dem Einflusse eines Giordano Bruno, Kopernikus, Galilei die Men­schen sich sagten, sie wollten nun wenigstens die Erde kennenlernen, sie wollten den Boden, das Untere kennenlernen. Und dann fanden sie eine Himmelskunde, die der Erdenkunde nachgebildet ist, während die alte Erdenkunde nachgebildet war der Himmelskunde mit ihrem pleromati­schen Inhalte. Und so entstand gewissermaßen in der Finsternis - denn das Licht ward durch die geschilderte Welt-Tapetenwand abgehalten -das neuere Erkennen und das neuere Leben der Menschheit.

Es ist schon einmal so in der menschlichen Entwickelung, daß in ge­wissen Epochen, wo irgend etwas Bestimmtes herauskommen soll aus der Menschheit, andere Teile dessen, womit der Mensch zusammenhängt, verhüllt, verdeckt werden. Und im Grunde genommen entwickelte sich auf dem Boden der Erde hinter der Tapetenwand für das Irdische eben nur die dekadente Ostkultur. In Europa entwickelte sich die in den ersten Anfängen steckenbleibende Westkultur.

Und in diesem Zustande ist im Grunde genommen die europäische Welt noch heute, nur daß sie versucht, durch allerlei Äußeres, Histori­sches sich zu informieren über dasjenige, was, mit Ausschluß aller Einsicht in das Pleroma, in der Welt des finsteren Daseins wie eine Wissenschaft, wie eine Erkenntnis, die aber keine ist, erworben worden ist. Man be­kommt eine Möglichkeit, diese Dinge in ihrer Bedeutung für die Gegen­wart zu durchschauen, wenn man einsieht, wie gewissermaßen östlich hinter der Tapetenwand die frühere Einsicht in das Pleroma immer mehr und mehr dekadent geworden ist, zurückgegangen ist, daß also eine hohe, aber instinktive, von der Menschheit erworbene Geistkultur in Asien drüben dekadente Formen angenommen hat; daß in Europa ein Weben und Leben der Menschenseele im Geiste heruntergerückt worden ist in die Sphäre des Physisch-Sinnlichen, die vorerst ja den Menschen in den mittelalterlichen Jahrhunderten allein zugänglich war. Und so entstand jenseits der Tapetenwand im Orient eine Kultur, die eigentlich keine ist, die in irdisch-physischen Formen zauberisch nachbilden möchte, was im Weben des Geistes pleromatisch erlebt werden sollte. Das Walten und Weben der Geistwesen im Pleroma sollte gewissermaßen auf die Erde her­untergetragen werden im Stein, im Holzklotz, und in ihrer Wirkung auf­einander sollte gesucht werden etwas von solchen geistigen Wirkungen, die, wenn ich mich so ausdrücken darf, angepaßt sind dem Weben und Wesen von Geistwesen im Pleroma. Das, was eigentlich nur Götter unter­einander tun, wurde gedacht als die Taten physisch-sinnlicher Götzen.

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Der Götzendienst trat an die Stelle des Götterdienstes. Und dasjenige, was nun ins Schlechte wirkende orientalische, nordasiatisch-orientalische Magie genannt werden kann, das ist die ins Sinnliche auf unrechtmäßige Weise versetzte Tatsachenwelt des Pleromas, zu der man einstmals den Seelenblick aufgerichtet hat. Die magische Zauberei der Schamanen und ihr Nachklang in Mittel- und Nordasien - der Süden von Asien wurde ja auch angesteckt, hat sich aber verhältnismäßig freier erhalten davon -, das ist die dekadente Form der alten Pleroma-Anschauung. Physisch-sinnliche Zauberei trat an die Stelle der Teilnahme der menschlichen Seelenwirksamkeiten an den Götterwelten des Pleroma. Was die Seele tun sollte und ehemals getan hat, das wurde mit Hilfe von sinnlich-physi-schen Zaubermitteln versucht. Eine ganz ahrimanisierte Pleroma-Tätig­keit wurde gewissermaßen dasjenige, was auf der Erde getrieben wurde, und was namentlich von den an die Erde angrenzenden, nächsten Gei­steswesen getrieben wurde, wovon aber die Menschen angesteckt wurden. Gelangt man also ostwärts vom Ural und der Wolga nach Asien hin­über, so haben wir, namentlich in der an die menschliche irdische Welt anstoßenden astralischen Welt, in den Jahrhunderten des zweiten Mittel­alters, in den Jahrhunderten der Neuzeit bis heute eine ahrimanisierte Magie, welche ja namentlich von gewissen geistigen Wesenheiten ausge­übt wird, die in ihrer ätherisch-astralischen Bildung zwar über dem Men-schen stehen, aber in ihrer Seelen- und Geistesbildung unter dem Men­schen zurückgeblieben sind. Durch das ganze Sibirien hindurch, durch Mittelasien hindurch über den Kaukasus, da treiben sich überall in der unmittelbar an das Irdische angrenzenden Welt furchtbare ahrimanische, ätherisch-astralische Wesen herum, welche ins Astralische und Irdische heruntergesetzte ahrimanische Zauberei treiben. Und das wirkt anstek­kend auf die Menschen, die ja nicht alles gleich selber können, die unge­schickt sind in den Dingen, die aber wie gesagt angesteckt werden, beein­flußt werden davon und somit unter dem Einflusse der an die Erde an­grenzenden, unmittelbar an das Astralische grenzenden Welt stehen.

Wenn so etwas geschildert wird, dann muß man sich ja klar sein, daß dem, was man für alte Zeiten einen Mythos oder dergleichen nennt, immer großartige geistige Naturanschauungen zugrunde liegen. Und als man in Griechenland von den Faunen und Satyrn gesprochen hat, die sich in ihrer Tätigkeit hineinwoben in das irdische Geschehen, da hat man sich nicht, wie phantastische Gelehrte von heute es sich vor­stellen, Wesen in der Phantasie konstruiert, sondern man hat in seiner

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geistigen Naturschau von jenen wirklichen Wesen gewußt, welche das unmittelbar an die irdische Welt angrenzende Astralterritorium über­all eben als Faune und Satyrn bevölkerten. Jene Faune und Satyrn sind ungefähr um die Wende des dritten, vierten nachchristlichen Jahrhun­derts alle hinübergezogen in die Gebiete östlich vom Ural und der Wolga nach dem Kaukasus. Das wurde ihre Heimat. Dort haben sie ihre weitere Entwickelung durchgemacht.

Vor dem Teppich, vor diesem kosmischen Teppich ist nun dasjenige entstanden, was aus der menschlichen Seele heraus als Denken und so weiter, als eine gewisse Dialektik sich entwickelte. Wenn die Menschen festgehalten haben an den innerlichen strengen und reinen Denkformen, an dem, was man wirklich in sich entwickeln muß, wenn man die reinen Denkformen der Scholastik entwickeln will, dann haben sie eben dasje­nige ausgebildet, was auszubilden war nach dem Ratschlusse der das Ir­dische leitenden Geistigkeit, dann haben sie vorbereitend gewirkt für das, was kommen muß in unserer Gegenwart und in einer nächsten Zukunft. Aber es war nicht überall jene Reinlichkeit vorhanden. Während im Osten, jenseits der Tapetenwand, wenn ich so sagen darf, der Trieb ent­standen war, herunterzuziehen in das Irdische die Taten des Pleroma, zu verwandeln das Pleroma-Geschehen in irdische Zauberei und in ahrima­nisierte Magie, vermischte sich westwärts der Tapetenwand mit dem Streben nach der Ratio, nach der Dialektik, nach der Logik, nach dem ideellen Begreifen der Welt des Irdischen, alles dasjenige, was mensch­liche Lustgefühle bedeutet, was menschliche Wohlgefühle am sinnlichen Dasein bedeutet. Es mischten sich herein in den reinen Vernunftgebrauch, der entwickelt worden ist, irdisch-menschliche, luziferische Triebe.

Dadurch aber entwickelte sich neben dem, was sich da als Streben nach Vernunft und ideeller Praxis entwickelte, unmittelbar angrenzend an die Erdenwelt eine andere astralische Welt: Es entwickelte sich eine astra­lische Welt, die sozusagen mitten unter denen war, die so rein wie Gior­dano Bruno oder Galilei oder auch die Späteren strebten nach der Aus­bildung des irdischen Denkens, nach einer irdischen Denkmaxime und Denktechnik. Sozusagen zwischendurch entstanden die Wesenheiten ei­ner astralischen Welt, die jetzt all das in sich aufnehmen, namentlich auch in das religiöse Leben aufnehmen, was sinnliche Gefühle sind, denen dienst­bar gemacht werden sollte das rationalistische Streben. Und so bekam allmählich das reine Denkstreben einen sinnlich-physischen Charakter.

Und vieles von dem, was dann schon in der zweiten Hälfte des achtzehnten

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Jahrhunderts, aber besonders im neunzehnten Jahrhundert als solche Denktechnik sich ausbildete, ist durchsetzt und durchwoben von dem, was in der astralischen Welt, die nun diese rationalistische Welt durchzieht, vorhanden ist. Die irdischen Lüste der Menschen, die raffi­niert gedeutet werden sollten, raffiniert erkannt werden sollten durch eine herabgekommene Denktechnik, die entwickelten in den Menschen ein Element, das Nahrung war für gewisse Astralwesenheiten, welche darauf ausgingen, das Denken, das in so hoher Schärfe ausgebildet war, nun bloß zum Durchdringen der irdischen Welt zu verwenden.

Es entstanden solche Theorien wie die marxistischen, die das Denken, statt es zu erheben in das Spirituelle, auf das bloße Verweben sinnlich-physischer Entitäten, sinnlich-physischer Impulse beschränkten.

Das war etwas, was immer mehr möglich machte, daß gewisse luziferi­sche Wesenheiten, die in dieser Astralsphäre weben, eingreifen konnten in das Denken der Menschen. Das Denken der Menschen wurde ganz und gar durchsetzt von dem, was dann gewisse Astralwesenheiten dachten, von denen nun die westliche Welt ebenso besessen wurde, wie der Osten von den Nachkömmlingen der Schamanen.

Und so entstanden endlich Gestalten, die besessen waren von solchen Astralwesen, welche in scharfsinnig-irdisches Denken die menschlichen Gelüste eingeführt haben. Und es entstanden solche Wesen, wie etwa die­jenigen, die dann vom astralischen Plane aus die Lenins und ihre Genos­sen von sich besessen gemacht haben.

Und so haben wir einander gegenübergestellt zwei Welten: die eine ostwärts von Ural und Wolga und Kaukasus, die andere westwärts da­von, die, ich möchte sagen, ein in sich abgeschlossenes Astralgebiet bil­den. Wir haben das Uralgebiet, das daran anschließende Wolgagebiet, das Schwarze Meer, da wo die ehemalige Tapetenwand gestanden hat. Wir haben ostwärts und westwärts von Ural und Wolga ein Astralterrito­rium der Erde, in dem heute in einer intensiven Weise wie zu einer kos­mischen Ehe zusammenstreben die Wesen, deren Lebensluft das luziferi­sche Denken des Westens ist, und diejenigen Wesen, ostwärts von Ural und Wolga in dem daran anstoßenden Astralterritorium, deren Lebens-element die verirdischte Magie der einstmaligen Pleroma-Handlungen ist. Diese Wesenheiten ahrimanischer und luziferischer Art streben zu­sammen. Und wir haben da auf der Erde ein ganz besonderes Astralterri­torium, in dem nun die Menschen darinnen leben, mit der Aufgabe, das zu durchschauen. Und wenn sie diese Aufgabe erfüllen, dann erfüllen sie

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etwas, was ihnen in der Gesamtentwickelung der Menschheit auferlegt ist, in großartiger Weise. Wenn sie aber den Blick davon abwenden, dann werden sie von alledem innerlich gemüthaft durchsetzt und besessen, -besessen von jener brünstigen Ehe, die geschlossen werden soll im kosmi­schen Sinne von den asiatischen ahrimanisierten Wesenheiten und den europäischen luziferisierten Wesenheiten, die mit aller kosmischen Wol­lust einander entgegenstreben und eine furchtbar schwüle astralische At­mosphäre erzeugen, und wiederum die Menschen von sich besessen ma­chen. Und so ist allmählich östlich und westlich von Ural und Wolga ein Astralgebiet entstanden, unmittelbar über dem Erdboden sich erhebend, das darstellt das irdische Astralgebiet für Wesenheiten, welche die meta­morphosierten Faune und die metamorphosierten Satyrn sind.

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Wenn wir heute nach diesem Osten Europas hinüberschauen, sehen wir eben nicht nur Menschen, wenn wir das Ganze der Wirklichkeit se­hen, sondern wir sehen gewissermaßen dasjenige, was im Laufe des Mit­telalters und im Laufe der Neuzeit eine Art Paradies geworden ist für Faune und Satyrn, die ja ihre Metamorphose, ihre Entwickelung durch­gemacht haben. Und wenn man in der richtigen Weise versteht, was die Griechen erschauten unter Faunen und Satyrn, so kann man auch hin­schauen aufjene Entwickelung, aufjene Metamorphose, welche die Fau­ne und Satyrn da durchgemacht haben. Diese Wesenheiten, die ja, ich möchte sagen, immer zwischen den Menschen herumgehen und ihre aus

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asiatischer ahrimanisierter Magie und europäischem luziferisiertem Ra­tionalismus getriebene wollüstige Handwerkerei im Astralischen vollfüh­ren, aber die Menschen damit anstecken, diese verwandelten metamor­phosierten Satyrn und Faune erschaut man so, daß sich nach dem unte­ren Körperlichen hin die Bocksform noch ganz besonders in ihnen ver­wildert hat, daß sie eine nach außen durch das Lüstige lichthaft erglän­zende Bocksform haben, während sie nach oben hin ein ungemein intelli­gentes Haupt haben, ein Haupt, das eine Art von Glanz hat, das aber das Abbild alles möglichen luziferisierten, rationalistischen Raffinements ist. Gestalten zwischen Bären und Böcken, mit einem raffiniert ins Wollüsti­ge, aber zu gleicher Zeit ins ungemein Gescheite gezogenen menschlich Physiognomischen, sind diese Wesenheiten, welche das Paradies der Sa­tyrn und Faune bewohnen. Denn ein Paradies der Satyrn und Faune ist diese Gegend im Astralischen in den letzten Jahrhunderten des Mittelal­ters und den ersten Jahrhunderten der Neuzeit geworden - ein Paradies der verwandelten Satyrn und Faune, die es heute bewohnen.

Unter all dem, was so geschieht, ich möchte sagen, tanzt nun die zu­rückgebliebene Menschheit mit ihren abgestumpften Begriffen herum und schildert nur das Irdische, während in das Irdische diejenigen Dinge hereinspielen, die wahrhaftig nicht weniger zu der Wirklichkeit gehören, als die, welche man mit den sinnlichen Augen sehen und mit dem sinn­lichen Verstande begreifen kann.

Was sich nun zwischen Asien und Europa entwickelt, das ist erst zu verstehen, wenn man es in seinem astral-geistigen Aspekt versteht, das ist erst zu verstehen, wenn man dasjenige ansehen kann, was als dekadenter Schamanismus in Mittel- und Nordasien drüben aus einer Wirklichkeit geblieben ist, was dort als heutiger dekadenter Magismus wollüstig her-überstrebt, um sich gewissermaßen in einer kosmischen Ehe zu verbinden mit dem, was aus äußeren Gründen heraus den Namen Bolschewismus bekommen hat. Da, östlich und westlich vom Gebiete des Ural und der Wolga, wird eine Ehe angestrebt zwischen Magismus und Bolschewis­mus. Was sich da abspielt, das erscheint der Menschheit so unbegreiflich, weil es sich in einer merkwürdigen Mythosform abspielt, weil sich das Luziferisch-Geistige des Bolschewikentums verbindet mit den ganz deka­dent gewordenen Formen des Schamanentums, die herankommen nach dem Ural und der Wolga, und dieses Gebiet überschreiten. Von Westen nach Osten, von Osten nach Westen spielen da in dieser Weise Ereignisse ineinander, die eben die Ereignisse des Paradieses der Satyrn und Faune

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sind. Und was da hineinspielt aus dem Geistigen in die Menschenwelt, das ist das Ergebnis dieses lüsternen Zusammenwirkens der aus der alten Zeit hier eingewanderten Satyrn und Faune und desjenigen, was gewis­sermaßen die nur das Kopfliche, das dem Kopfe Angehörige entwickeln­den Westgeister in sich hervorgebildet haben, die dann mit den aus Asien herübergekommenen Satyrn und Faunen sich verbinden wollen.

Ich möchte sagen, äußerlich dargestellt schaut es aus, wie wenn jene wolkenartig geistigen Gebilde sich zusammenballen, je weiter sie nach dem Osten gegen den Ural und die Wolga vordringen, wobei der andere Körper undeutlich bleibt, - wie wenn diese Gebilde sich zusammenballen zu, man möchte schon sagen, wollüstig aussehenden, raffiniert aussehen­den Köpfen; wie wenn sie immerfort zu Köpfen werden und die übrige Körperlichkeit verlieren. Dann kommen von dem Osten herüber, gegen die Ural- und Wolgagegend, die metamorphosierten Satyrn und Faune, deren Bocksnatur fast Bärennatur geworden ist, und die, je mehr sie nach dem Westen herüberkommen, die Köpfe verlieren, und deren kosmische Ehe auf dem Astralgebiet ist. Sie begegnen sich, ein solches den Kopfver­lierendes Wesen einem von Europa herüberziehenden Wesen, das ihm den Kopf entgegenbringt. Und so entstehen diese metamorphosierten, mit dem übermenschlichen Kopf ausgestatteten Organisationen, so ent­stehen diese metamorphosierten Satyrn und Faune im Astralgebiet. Sie sind die Bewohner der Erde ebenso wie die physische Menschheit. Sie be­wegen sich innerhalb der Welt, innerhalb der sich die physischen Men­schen auch bewegen. Sie sind die Verführer und Versucher der physi­schen Menschen, weil sie die Menschen von sich besessen machen kön­nen, weil sie sie nicht nur durch Reden zu überzeugen brauchen, sondern sie von sich besessen machen können. Dann kommt es, daß die Menschen glauben, das, was sie tun, sei von ihnen selber, von ihrem Wesen getan, während in Wahrheit dasjenige, was die Menschen tun auf einem solchen Gebiete, oftmals nur deshalb getan wird, weil sie innerlich in ihrem Blute durchsetzt werden von einem solchen Wesen, das von Osten her den ins Bä­renartige überführten Bocksleib, und das im Westen ins Übermenschliche hinauf metamorphosierte europäische Menschenhaupt erlangt hat.

Es gilt heute, diese Dinge mit derselben Kraft zu ergreifen, mit der einstmals Mythen geformt worden sind. Denn nur wenn wir bewußt ins Gebiet des Imaginativen hinaufgehen können, können wir heute verste­hen, was wir verstehen müssen, wenn wir uns bewußt in die Entwickelung der Menschheit hineinstellen sollen und wollen.

DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE DIE PHYSISCHE PERSPEKTIVE Dornach, 20. Juli 1923

#G225-1961-SE112 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE

DIE PHYSISCHE PERSPEKTIVE

Dornach, 20. Juli 1923

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Es hat sich in der letzten Zeit bei sehr vielen, insbesondere bei wissen­schaftlich vorgebildeten Mitgliedern der Anthroposophischen Gesell­schaft der Glaube herausgebildet, daß zwischen dem, was in Anthroposo­phie als Welterkenntnis gegeben wird, und dem, was heute aus den Vor­aussetzungen namentlich der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhun­derts als wissenschaftliche Welterkenntnis gegeben wird, diskutierend hin und her gesprochen werden soll. Ja, man glaubt wohl, daß, wenn man in einer gewissen Weise, wie man das so nennt, der Wissenschaft entgegen­kommt, auf sie möglichst eingeht, dies für die Anthroposophie etwas au­ßerordentlich Günstiges ergeben könnte.

Gerade dadurch, daß wissenschaftlicher Betrieb in die Anthroposophi­sche Gesellschaft hereingekommen ist, was ja in anderer Beziehung als eine außerordentlich erfreuliche Tatsache zu begrüßen ist, sind mit Be­zug aufden angeführten Punkt außerordentlich viele Irrtümer entstanden.

Wir dürfen nicht vergessen, daß im Laufe des neunzehnten Jahrhun­derts die allgemeine Menschheitsbildung unter dem Einflusse dessen, was man da allmählich Wissenschaft genannt hat und heute noch nennt, einen Charakter angenommen hat, dem gegenüber die anthroposophi­sche Welterkenntnis eben etwas ganz anderes ist. Man muß sich schon auf den Standpunkt stellen, daß derjenige, der einmal mit seinen Denkge­wohnheiten hineingewachsen ist in das gegenwärtige Wissenschaftsleben, eigentlich unmöglich so ohne weiteres zur anthroposophischen Auffassung herüber kann. Daher muß man durchaus gewärtig sein, daß von dieser Seite her irgendeine Zustimmung zu der anthroposophischen Welter-kenntnis kaum bald kommen kann.

Diejenigen Menschen, die entweder nicht mit ihren Denkgewohnhei­ten in den wissenschaftlichen Betrieb von heute hineingewachsen sind oder die als junge Menschen im Hineinwachsen auch gleich herauswach-sen, die werden es sein, die hauptsächlich die Berechtigung anthroposo­phischer Welterkenntnis einsehen werden.

Um das, was ich eben gesagt habe, einigermaßen zu beleben, möchte ich heute von einer ersten Perspektive mit Bezug auf den Weltenweg der

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Anthroposophie sprechen. Ich möchte, damit die Freunde, die weither gekommen sind, möglichst viel mitnehmen, diese drei Vorträge etwas aphoristisch gestalten. Ich möchte anknüpfen an allerlei Erscheinungen im Zivilisationsleben der Gegenwart, aber in der Hauptsache doch den Inhalt für diese Vorträge suchen in rein anthroposophischen Erörterun­gen.

Wir wissen ja, welches die Tatsachen sind, die der Mensch durchlebt, wenn er durch die Pforte des Todes geht. Wir wollen heute, um gewisser­maßen die physische Perspektive der Anthroposophie vor unsere Seele hinzustellen, nur die allererste Zeit des Lebens nach dem Durchgang durch die Todespforte zunächst einmal betrachten. Es ist oftmals erwähnt worden, wie der Mensch während seines ganzen Erdenlebens eine so enge Verbindung zwischen seinem physischen Leib und seinem Ätherleib oder Bildekräfteleib hat, daß diese Verbindung durch das ganze Erdenleben aufrecht erhalten bleibt.

Wenn der Mensch den gewöhnlichen Bewußtseinszustand seines Erden­lebens durch den Schlaf- und Traumzustand unterbricht, dann trägt er ja aus dem physischen und dem Bildekräfteleib den astralischen Leib und das Ich heraus. Die sind wiederum so eng verbunden, daß sie sich nicht trennen. Also: die Trennung geschieht jedesmal bei einem normalen Le­ben im Verlauf von vierundzwanzig Stunden so, daß der physische Leib und der Äther- oder Bildekräfteleib auf der einen Seite und das Ich und der astralische Leib auf der anderen Seite sich trennen, während jede Seite ein eng verbundenes Ganzes bildet.

Tritt nun der Mensch durch die Pforte des Todes, dann wird das an­ders. Dann wird das so, daß der physische Leib zunächst abgelegt wird und daß für eine ganz kurze Zeit eine Verbindung hergestellt wird zwi-schen dem Ich, dem astralischen Leib und dem Ä therleib, die während des Erdenlebens nicht vorhanden war. Diese Verbindung gibt die ersten ja nur durch Tage andauernden Erlebnisse, die der Mensch nach dem Tode durchmacht. Welches sind nun diese Erlebnisse?

Sie bestehen darin, daß der Mensch, wie von sich abschmelzend, alles das sieht, was er durch seine Sinne und auch durch den Verstand, der die Wahrnehmungen der Sinne kombiniert, während des Erdenlebens auf­genommen hat.

Während des Erdenlebens gewöhnen wir uns daran, in unserer An­schauung, wenn wir die Augen hinausrichten in die Welt, farbige Dinge und in Farben erglänzende Vorgänge vor uns sich abspielen zu sehen.

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Aber auch in unserer Erinnerung, in unserem Gedächtnis behalten wir die Eindrücke der Farben, wenn auch abgeschwächt, weiter zurück. Wir tragen sie mit durch unser Gedächtnis. So ist es auch mit den Eindrücken der anderen Sinne. Und wenn wir in der Selbstbeobachtung ehrlich sind, dann sagen wir uns ja: Eigentlich ist auch, wenn wir im stillen Kämmer­lein sitzen und unsere Erinnerungen, das heißt unser Inneres, spielen las­sen, das, was wir da von unserem Inneren her erleben, aus den schatten-haften Abbildern der äußeren Eindrücke zusammengesetzt. -Wir leben im gewöhnlichen Bewußtsein in diesen entweder unmittelbar lebendigen Eindrücken der Außenwelt oder in den schattenhaften Erinnerungen an sie. Was wir darüber hinaus haben, davon wollen wir dann morgen spre­chen. Heute wollen wir uns nur recht stark das in das Bewußtsein herein-rufen, daß ja eigentlich während des ganzen Erdenlebens dieses Bewußt­sein ausgefüllt ist von Farben und Farbvorgängen, die sich über die Dinge hin legen und breiten, von Tönen, von Wärme- und Kälteempfindungen, kurz, von den Eindrücken, die wir durch die Sinne bekommen, und von ihren schattenhaften Nachbildern im inneren Seelenleben, wie man wohl auch sagt, in der Erinnerung. Das wollen wir als eine Art von Aus­gangspunkt zunächst betrachten.

Alles das, was wir so erleben, schmilzt hinweg, wenn wir durch des To­des Pforte gehen. Innerhalb von wenigen Tagen hat sich sozusagen alles, was unsere Seele von der Geburt bis zum Tode erfüllt, aufgelöst im allge­meinen Kosmos. Man kann das nennen: Der Ätherleib oder Bildekräfte­leib des Menschen trennt sich ab von dem Ich und dem astralischen Leib, nachdem er zuerst mit ihnen eine Verbindung eingegangen ist, die vorher im Erdenleben nicht vorhanden war.

Nun wollen wir einmal uns genauer vor die Seele führen, wie dieses Erlebnis ist. Ich will dazu eine schematische Zeichnung machen. Nehmen wir einmal an, der physische Leib des Menschen wäre durch diese sche­matische Zeichnung charakterisiert; der Äther- oder Bildekräfteleib sei durch diese schematische Zeichnung (gelb schraffiert) charakterisiert. Wir erleben das, was ich damit charakterisiert habe, dieses zusammen­gehörige Gebilde von physischem und Ätherleib nur dann, wenn wir nach dem Aufwachen in dem Inneren stecken. Wir erleben es eigentlich also immer von innen. Und damit wir uns diese Sache möglichst genau ins Be­wußtsein rufen, möchte ich die Zeichnung in folgender Weise gestalten. Ich werde meinetwillen grün andeuten den nach innen scheinenden Teil des Ätherleibes. Der physische Leib wird ja ohnedies im Tode abgelegt,

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den brauchen wir dabei weniger zu betrachten. Und ich werde das, was vom Ätherleib nach außen gerichtet ist, mit dieser roten Linie bezeich­nen.

# Bild s. 115

Ich sagte eben, wir erleben dieses Gebilde des Ätherleibes nur nach dem Aufwachen von innen; also gewissermaßen nur das erleben wir, was im Grünen nach innen scheint. Wir erleben nicht dasjenige, was im Ro­ten nach außen scheint.

Wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind und mit unserem Ich und unserem astralischen Leib eine gewisse Verbindung mit dem Ätherleib eingehen, so geschieht diese Verbindung in der folgenden Wei­se. Sie müssen sich nun vorstellen, der ganze Ätherleib wendet sich so wie ein Handschuh, wenn Sie das, was sonst der Haut anliegt, mit allen Fin­gerlingen umkehren und so das Innere nach außen kehren. So daß ich jetzt das, was hier im Erdenzustande rot nach außen gezeichnet ist, als die innere Partie zeichnen muß, und das, was grün nach innen gezeichnet ist, muß ich grün nach außen zeichnen. Der ganze Ätherleib wendet sich in sich selber um. Aber dieses Umwenden, das ist verknüpft mit einem unermeßlich rasch vor sich gehenden Vergrößern des Ätherleibes. Er wächst, er wird riesengroß, er dehnt sich unermeßlich weit ins Weltenall hinaus, so daß ich die Zeichnung nun etwa so machen müßte (großer grü­ner Kreis, Seite 116).

Und während wir früher da drinnen waren mit unserem Ich und unse­rem astralischen Leib, sind wir jetzt (roter Kreis) dem sich ins Kosmische vergrößernden Ätherleib gegenüber, aber wir schauen ihn von seiner an-deren Seite an. Dasjenige, was wir vorher ohne Bedeutung an uns getra­gen haben, das für uns äußerlich Rote, das ist jetzt nach innen gewendet.

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Was vorher nach innen gewendet war und was für uns allein Bedeutung hat während des Erdenlebens, das ist jetzt nach außen gewendet, das geht uns gar nichts mehr an, das zerstreut sich ins Weltenall. In diesem Grün aber - natürlich schematisch dargestellt - ist enthalten alles das, was wir während des Erdenlebens in uns als farbige, tönende und so wei­ter Welt gehabt haben.

#Bild s. 116

Indem das Grün gewissermaßen durch die Wendung des Ätherleibes nach der anderen Seite geht, verlieren wir es vollständig, und wir bekom­men eine ganz andere Welt als Eindruck. Wir dürfen uns gar nicht vor­stellen, daß wir dieselbe Welt, die wir während des Erdenlebens gehabt haben, nach dem Tode noch haben können. Diese Welt geht fort. Sich etwa vorzustellen, daß wir nach dem Tode erleben könnten, meinetwillen in einer anderen Auflage, den Inhalt des Erdenlebens, das ist ganz falsch, das entspricht nicht den Tatsachen. Was wir durch die Wendung des Äther- oder Bildekräfteleibes erleben, das ist allerdings gegenüber dem Inhalte des Erdenlebens von einer gigantischen Größe, aber es ist eben etwas ganz anderes. Wir erleben zunächst dadurch, daß die Außenseite jetzt nach innen gewendet ist, in mächtigen Eindrücken, die aber anders sind als die Sinneseindrücke, die ganze Bildung unseres Erdenlebens. Wir erleben nicht die Röte der Rose, wir erleben aber, wie wir die Röte der Rose in uns als eine Vorstellung ausgebildet haben. Da fängt es an, nicht so ruhig zu sein, wie es im physischen Erdenleben ist. Da, im Erdenleben, sind in einem Rosengarten so hübsch die Rosen nebeneinander, und jede gibt Ruhe, und man fühlt sich webend da drinnen in der Ruhe. Jetzt wird der Rosengarten etwas ganz anderes, jetzt wird der Rosengarten zu Ereignissen in der Zeit. Und wie wir den Blick haben allmählich schwei­fen lassen von einer Rose zur anderen, wie wir die Vorstellung der ersten

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Rose, der zweiten, der dritten Rose usw. in unserem Innern gebildet ha­ben, dieses, wie in lebendigem Werden, in blitzartigem Wellen und We­ben eine Rose nach der anderen entsteht, aber nicht als Rosen, sondern als Vorstellungen, die sich abspielen, das tritt wie in einem Meer von Ge­schehen jetzt als unser Innenleben auf. Und so steht vor uns etwas, was wir eben während unseres Erdenlebens nicht gesehen haben: das Werden dieses Erdenlebens, die allmähliche Entstehung dieses Erdenlebens. Wir wissen, wie unsere Seele geworden ist von Kindheit auf. Das, was wir ganz unbeachtet gelassen haben während des Erdenlebens, das spielt sich jetzt in uns ab. Es ist, wie wenn wir aus uns herausgestiegen wären, ein Zweites geworden wären und zuschauen würden, wie wir als Erstes nach und nach die einfache Vorstellung der Kindheit, die kompliziertere des späteren Alters usw. gebildet haben. Wir sehen das Entstehen dieses gan­zen Erdenwichtes nach seiner Innenseite. Wir sehen, wie sich von Stunde zu Stunde dieses Erdenleben, dieses Erdendasein bildet. Ja, wir gewinnen den Eindruck, daß eigentlich dieses ganze Erdenleben vom Kosmos her­ein gebildet wird. Denn alles das, was wir da wahrnehmen, wächst ins Unermeßliche, ins Kosmische hinaus, und wir werden dadurch, daß wir hinauswachsen, uns klar darüber, daß nun auch das, was im Erdenleben in uns gebildet worden ist, vom Kosmos herein gebildet wird.

Und jetzt bekommen wir allmählich eine gültige Anschauung darüber, wie es mit diesem menschlichen Erdenleben ist. Lehnen wir uns einmal an dasjenige an, was heute so ziemlich geglaubt wird mit Bezug auf dieses Erdenleben. Der Mensch ißt, und dadurch bekommt er die Stoffe, die draußen sind, in seinen eigenen Organismus hinein. Das ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Er verändert auch diese Stoffe. Schon im Munde verändert er sie, dann um so mehr in seinem weiteren Organismus. Was da aufgenommen wird, das geht in den ganzen Organismus über, richtig in den ganzen Organismus über. Die Wissenschaft kommt noch und sagt:

aber wir verlieren auch nach außen immerfort Stoffe. Wir brauchen nur daran zu denken, wie Sie sich Ihre Nägel abschneiden und Ihre Haare, wenn Sie noch keine Glatze haben. Sie können ja aus dem Abschuppen und so weiter überall wahrnehmen, wie der Mensch Materie verliert, Stoff verliert. Und es ist ja heute allgemein bekannt, daß der Mensch auf diese Weise, indem er fortwährend Stoffe verliert, im Laufe von un­gefähr sieben Jahren sich vollständig neu aufbaut.

So daß also, wenn ich es drastisch ausdrücken will, alles das, was hier auf den Stühlen sitzt, insofern es den Stoff betrifft, vor acht oder neun

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Jahren überhaupt irgendwo in der Welt zerstreut war. Ich will zunächst so sagen: Was hier auf den Stühlen sitzt, das könnte sich also erst ge­sammelt haben im Laufe der letzten sieben bis acht Jahre. Wenn das auch noch hier sitzen sollte an Muskeifleisch usw., was vor mehr als sieben oder acht Jahren in Ihnen allen war - Sie sind ja schon älter, Sie werden also schon mehrfach sich regeneriert haben -, so würden Sie alle nicht da sitzen.

Also von dem, was Sie zu Hause oder sonstwo als Ihr Muskelfleisch, als Ihr Blut und anderes in sich getragen haben vor sieben oder acht Jahren, von dem sitzt nichts da; das haben Sie nach und nach abgeschnitten, sich abgeschuppt usw.

Wenn die Wissenschaft nun aber materialistisch orientiert ist, wie sagt sie dann? Sie sagt ungefähr so: Während dieser letzten sieben Jahre haben wir ja alle gegessen. Das, was wir da nun gegessen haben, das sitzt hier, und dasjenige, was wir früher gegessen haben, das sitzt nicht mehr da. -Also zum Beispiel jeder von Ihnen, der hier sitzt, hat ein Herz, nicht wahr. Nun, die physische Materie dieses Herzens, so sagt Ihnen die Wis­senschaft, die hat sich erneuert in den letzten sieben bis acht Jahren. Sie haben also durchaus gegenüber Ihrem Zustand vor, sagen wir, neunJah­ren ein neues Herz. Ja, so ungefähr könnte man sagen, denkt man im Sinne der Gegenwart.

Aber es ist nicht so. Diese Vorstellung besteht nur aus dem Grunde, weil die Leute das, was ich Ihnen eben auseinandersetzte, nicht kennen, gar nicht einbeziehen in den Bereich ihrer wissenschaftlichen Beobach­tung und ihres wissenschaftlichen Denkens. Sie wissen nichts von jener Umkehr des Äther- oder Bildekräfteleibes, von dem, was da, nachdem wir durch die Pforte des Todes geschritten sind, uns zeigt, wie eigent­lich nach und nach der ganze Wicht entstanden ist. Denn kennt man das, dann kommt man auch in die Lage, ganz anders hineinzuschauen in den menschlichen Organismus. Und dann lernt man erst die Wahrheit er­kennen.

Man kann glauben, daß aus dem Kohl, aus den Kartoffeln, aus dem sonstigen Gemüse, aus Kirschen, Pflaumen usw., die man da im Laufe der letzten Jahre genossen hat, sich auch nach und nach diese Herzma­terie angesammelt hat. Das hat sie aber nicht, sondern im wesentlichen -hören Sie, daß ich sage, im wesentlichen - hat das Herz, das Sie in sich tragen, mit der aufgenommenen Materie der letzten sieben bis acht Jahre gar nicht so sonderlich viel zu tun, sondern das Herz, das Sie heute in sich

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tragen, ist im wesentlichen auf eine sehr geheimnisvolle Art entstanden aus dem Äther des Kosmos, den Sie im Lauf der letzten sieben bis acht Jahre zu der Herzdichte zusammengezogen haben. So daß nicht aus der physischen Materie der letzten sieben bis acht Jahre sich dieses Ihr Herz erneuert hat, sondern es hat sich aus dem Kosmos heraus erneuert. Aus dem Äther heraus haben Sie Ihr Herz und Ihre übrigen Organe erneuert. Sie haben tatsächlich sich zu einem neuen Menschen gemacht im Laufe der letzten Jahre nicht von der Erde herauf sondern vom Kosmos herein.

Das sieht man diesen Wirkungen des Ätherleibes nach dem Tode an, wie er gewirkt hat während des ganzen Erdenlebens, daß wir uns immer regeneriert haben aus dem Kosmos herein.

Nun wird Ihr materialistisches Gewissen - ein solches muß ja der Mensch auch haben - sagen: Aber gegessen haben wir ja doch. Wir haben doch die äußere Materie aufgenommen, und da haben sich innere Pro­zesse abgespielt. -Ja, diese inneren Prozesse haben aber mit Ihrem eigent­lichen tieferen Menschenwesen nicht so viel zu tun, als Sie glauben. Diese Materie, die Sie durch Essen aufgenommen haben, die haben Sie schon auf den verschiedenen Wegen, auf denen der Mensch abgibt, wieder ab­gegeben. Die gehen allerdings durch den Organismus durch, vereinigen sich aber gar nicht im wesentlichen mit dem, was der Mensch ist, sondern sie bilden nur die Anregung. Wir müssen essen, damit da im Inneren Prozesse, Vorgänge entstehen, die uns anregen. Und indem sie uns anre­gen, aufstacheln, kommen wir in die Äthertätigkeit hinein, die aber mit dem Kosmos, nicht mit der Erde zusammenhängt. Das, was sich da ab­spielt mit den aufgenommenen, verdauten, durchs Blut verarbeiteten Speisen usw., das sind Prozesse, die die Anregung bilden, daß sich ihnen ein Gegenprozeß entgegenstelle, der ätherische Prozeß. Mein altes Herz wird aufgestachelt durch die physische, umgewandelte Materie, die in mich hereinkommt. Aber das neue Herz mache ich Hr aus dem Welten-äther heraus.

Jetzt können wir sogar die für das heutige Denken vielleicht etwas gro­teske Tatsache hinstellen: Sie sitzen jetzt alle da; was Sie in sich erneuert haben in den letzten sieben bis acht Jahren, das lebte nicht in dem Kohl und auf den Kartoffeläckern, sondern das lebte draußen im Weltenall in Sonne, Mond und Sternen, das kam von da herunter, und Sie bildeten sich aus dem Weltenall heraus neu.

Damit haben wir hingedeutet auf einen Irrtum, der einfach aus dem heutigen Denken heraus entstehen muß. Man sucht nur die Beziehungen

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der menschlichen Regeneration zur physischen Erdenmaterie, nicht aber zum Äther. Und die Folge davon ist, daß, wenn man sich hineingewöhnt hat in die Vorstellungen, die einem in der gegenwärtigen Physiologie ge­geben werden, man gar nicht anders kann, als eben alles, was von anthro­posophischer Seite gegeben wird, wie eine Art Phantasterei anzusehen. Daher muß man sich Idar sein darüber, wie Diskussionen heute unfrucht­bar sind, wie man nur, wenn man beide Gebiete beherrscht, die heutige Wissenschaft und die Anthroposophie, sie gegenseitig durcheinander be­leuchten kann, wie man aber nicht sich der Hoffnung hingeben darf -denn gibt man sich dieser Hoffnung hin, so geschieht es eigentlich zum Schaden der Anthroposophie! -, daß diejenigen, die eingewöhnt sind in die materiell gearteten Vorstellungen, so ohne weiteres durch eine Diskussion herübergezogen werden können. Darüber muß man ganz klare, präzise Begriffe haben. Dann wird man einsehen, daß eben zu­nächst die ganze Art und Weise, wie man sich Anthroposophie aneig­net, von den Menschen angeeignet werden muß, bevor sie überhaupt hineinkommen können in dieses anthroposophische Anschauen und Er­kennen.

Ich sagte, im wesentlichen ist es so, daß wir eigentlich unseren neuen Menschen regenerieren aus dem Kosmos herein. Wir finden im Kosmos nicht die Stoffe, die wir dann im Herzen finden, selbstverständlich nicht, denn da sind sie so dünn, daß sie mit physischen Erdenmitteln nicht nachweisbar sind. Da sind sie ätherisch. Aber was als dichte Herzmaterie auftritt in einem bestimmten Lebensalter, das ist eben erst verdichtet aus dem kosmischen Äther herein. Also das, was da heute sitzt, alles das war vor neun oder zehn Jahren noch draußen in den Himmeln, in den Ster­nen, und das, was geblieben ist, was also von der Materie sich hineinge­drängt hat in dasjenige, was eigentlich aus dem Äther gebildet hat wer­den sollen, das ist die Veranlassung zum Kranksein. Wenn wir physische Materie, die zu alt ist, in uns tragen, dann bedeutet die eine Krankheits­ursache. Und tiefe Einsichten in das Wesen der Krankheit gibt es, wenn man weiß, wie Materie, statt ausgestoßen zu werden, sich hält; denn alle Materie, die aufgenommen wird als physische Erdenmaterie, ist eigent­lich dazu verurteilt, wieder ausgestoßen zu werden. Hält sie sich im Or­ganismus, dann wird sie Krankheitsursache.

Sie sehen daraus auch, wie bis ins Praktische hinein diese wirklich reale Erkenntnis spielt, die wir nur dadurch gewinnen können, daß wir einen Einblick haben in das, was als erste Erlebnisse, kurz nachdem wir den

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physischen Leib ganz abgelegt haben, in uns auftritt. Es schmilzt also nach dem Tode von uns alles ab, was wir an Sinneseindrücken und Ver­standesbearbeitung der Sinneseindrücke gehabt haben. Wir schauen die Welt ganz anders an. Mineralien, Pflanzen, Tiere sind so, wie wir sie vor­her angeschaut haben, überhaupt nicht da. Wie Menschen werden, das ist da.

Wir sind geschritten durch die Pforte des Todes. Wir sind dadurch von dem Schauplatz der Erde abgetreten. Wir sind auf den Schauplatz des Kosmos getreten: eine andere Welt umgibt uns. Es ist, wie wenn wir aus einem kleinen Kämmerchen des Erdendaseins getreten wären in das maje­stätisch gewaltige Gemach des Kosmos, und wir fühlen uns ausgebreitet über den Kosmos, würden wahrhaftig in dem kleinen Erdengemach dann auch nicht Platz haben. Damit haben wir den Schauplatz des Kosmos also betreten. Und auf diesem Schauplatz des Kosmos müssen wir nun bleiben, bis wir wieder heruntersteigen zum Erdendasein, nur daß wir jetzt mit ganz neuen Welten in Zusammenhang treten, mit Welten, deren Wesen den höheren Hierarchien angehören.

Diese Betrachtung, die man so unmittelbar in Anknüpfung an den Menschen gewinnt, muß aber ausgedehnt werden auf die ganze Natur. Und ich möchte Ihnen, was da zu geschehen hat, in der folgenden Weise charakterisieren.

Nehmen wir zum Beispiel an, eine bestimmte, sehr lange Zeit wären wir in der Evolution, in der Erdenevolution zurückgegangen. Wir wür­den da ganz andere Lebewesen, ganz andere Geschehnisse der Erde an­treffen. Sie wissen, es hat Erdepochen gegeben, wo Riesentiere niederer Art gelebt haben, die heute nicht mehr leben. Die ganzen Arten sind aus­gestorben, sind nicht mehr da. Einzelne Reste sucht der Paläontologe, der Geologe aus den Formationen der Erde heraus. Nehmen wir an, ich würde schematisch diese sehr alte Entwickelung, wo also meinetwillen Ich­thyosaurier, Plesiosaurier, diese merkwürdigen Biester hier auf Erden ge­lebt hätten, zeichnen. Ja, diese Wesen waren dazumal auf der Erde nicht durch die physische Erdenmaterie, sie waren durch den Kosmos heraus­gebildet, durch den Äther. Und als die Zeit nahte, in der allmählich diese Biester ausstarben, da blieb, wenn ich so sagen darf, die ganze Äthermaterie zurück. (Siehe Zeichnung: gelb.) Jetzt waren keine Biester mehr da. Aber die ganze Äthermaterie, aus der sich diese Biester heraus­gebildet haben, die blieb zurück, so wie unser Ätherleib zurückbleibt. Und diese Äthermaterie, die war die Veranlassung, daß in der späteren

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Zeit sich wiederum im Erdendasein, nachdem diese Ätherbildung durch den Kosmos durchgegangen war, andere Wesen bildeten. Von denen blieb wiederum zurück das Ätherische. Daraus bildeten sich wiederum andere Wesenheiten. Und endlich entstand die Welt von Tieren, die heute da ist.

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Wenn Sie also hier drei aufeinanderfolgende Perioden haben, erste Pe­riode, zweite Periode, dritte Periode, so haben Sie, sagen wir, aufeinan­derfolgende Tierformen. Aber daß die folgende immer aus der vorherge­henden entstehen kann, dazu ist ein Durchgang durch den Kosmos mit Hilfe des Äthers notwendig, wie der Durchgang durch den Kosmos zwi­schen zwei Erdenleben für den Menschen notwendig ist. Und wenn wir zuletzt hier Wesenheiten haben (siehe Zeichnung: rot), so kann ja das wiederum in den Äther übergehen, und da kann in einer bestimmten Periode, aus dem Äther heraus gebildet, der Mensch auftreten. Aber im­mer ist der Einfluß auf dem Umwege durch den Kosmos geschehen.

Nun korrimt der rein materialistische Betrachter. Der sieht das alles, und jetzt glaubt er, das eine ist aus dem andern entstanden. Gewiß, auf der Erde schließt es sich auch an; aber eine Äthertätigkeit, eine kosmische Tätigkeit liegt dazwischen.

Im neunzehnten Jahrhundert ist es üblich geworden, nur auf das hin-zuschauen, was sich auf der Erde folgt, nicht aber auf dasjenige, was kos­mische Tätigkeit über das Irdische hinaus ist. Daher ist der Betrachtung geblieben: zuletzt der Mensch, vorher einfachere Formen, noch einfa­chere Formen usw. Es ist das, was wir als die Entwickelung der Organis­men durch die Naturwissenschaft bekommen können, die sich auf das Ätherische nicht einläßt. Diese Naturwissenschaft konnte nichts anderes

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bekommen, als was sie bekam. Gibt man ihre Voraussetzungen zu, daß man sich auf das Ätherische nicht einlassen soll, stellt man die Frage so, daß man nur dasjenige ins Auge fassen soll, was dem Erdendasein ange­hört, ja dann bleibt nichts anderes übrig, als die physische Evolutions­strömung hinzustellen. Das haben die Darwinisten, das hat Haeckel ge­tan, und als Erdenwissenschaft mehr verlangen oder gar polemisieren wollen gegen das, was da als Erdenwissenschaft zustande gekommen ist, ist Unsinn. Denn erst, wenn man hinzufügt die Erkenntnis der ätheri­schen Welt, dann kann sich das ergeben, was dazu gehört. Sie sehen also, ein unmittelbares Polemisieren hat gar keinen Sinn; sondern will jemand auf dem Boden der Naturwissenschaft stehen bleiben, so kann er das. Und dem andern, der eben von irgendwelchen andern Bildungsprinzipien in dem, was auf der Erde ist, spricht, dem kann er immer sagen: ja, das hat gar keine Bedeutung. Das ist nicht da, wird er sagen, wenn er sich an die bloß irdische Betrachtungsweise gewöhnt hat.

Will man anders reden, dann muß man sich zunächst die Kenntnis der ätherischen Welt aneignen. Es bleibt also für eine gültige, für eine ver­nünftige Polemik gegenüber der heutigen Wissenschaft nur das übrig, daß man sagt: Auf deinem Gebiete, o Naturforscher, hast du ganz recht, da kann gar nichts anderes herauskommen, das leugnen wir dir nicht ab, das geben wir dir voll zu. Willst du aber mit uns reden über das, was wir meinen, ja, dann mußt du dich erst mit den elementaren Vorgängen im kosmischen Äther bekannt machen, dann können wir miteinander reden. Sonst steht man auf keinem Boden der Wirklichkeit, wenn man nicht von diesen Dingen ausgeht.

Sehen Sie, ein Mitglied, das hier sitzt, hat eine kleine Botanik vom gei­steswissenschaftlichen Standpunkt aus geschrieben. Es ist eine ganz ab­sprechende Kritik in diesen Tagen in einem hiesigen Blatte erschienen. Nun, was kann man da sagen! Ich habe gesagt: Denken Sie sich einmal, Sie wären selber der Botaniker, der diese Kritik geschrieben hat, Sie hät­ten niemals etwas von Anthroposophie gehört, und es käme Ihnen dieses Ihr Büchelchen in dieser zweiten Auflage zu Gesicht, dann würden Sie geradeso schreiben. Es ist ja ganz natürlich, daß Sie geradeso schreiben würden wie der! Daß Sie das nicht tun, sondern im Gegenteil das Büchel­chen selbst geschrieben haben, davon ist ja die Veranlassung, daß Sie eben zuerst Anthroposophie aufgenommen haben. Man braucht sich ja nur einmal auf den Standpunkt des anderen zu versetzen, dann kann man doch alle diese gegnerischen Dinge selber schreiben. Aber sehen Sie,

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wenn man einen Menschen, der einmal mit allen seinen Denkgewohnhei­ten sich in eine Richtung hineinversetzt hat, anders haben will, wenn man ihn anthroposophisch haben will, das kommt mir fast so vor, wie wenn jemand, der ein blondes Töchterchen bekommen hat, plötzlich ein schwarzes haben wollte. Es geht doch nicht so ohne weiteres. Das, was der Mensch durch die heutige Wissenschaft geworden ist, ist doch nichts, was man so im Handumdrehen umändern kann. Da muß man eben durchaus real denken.

Es gibt schon diese Zeit, die auf die Mitte des neunzehnten Jahrhun­derts gefolgt ist, der ganzen Seelenverfassung ein ganz bestimmtes Ge­präge. Ich will Ihnen aus einer ganz anderen Ecke heraus dafür ein Bei­spiel geben.

Sie wissen, daß es heute so etwas gibt, was man analytische Psychologie nennt, Psychoanalyse. Ich habe ja hier öfter schon gesagt, die Psychoana­lyse bringt manches Schöne; aber sie geht erstens aus einer unvollständi­gen, dilettantischen Erkenntnis der menschlichen Physiologie hervor, sie ist also Dilettantismus. Dann geht sie hervor aus einer dilettantischen Er­kenntnis des menschlichen Seelenwesens, der menschlichen Psychologie. Das ist auch Dilettantismus. Und weil meistens der eine gleich dem an­dern ist, so multiplizieren sich die Dinge, und Psychoanalyse ist eigentlich dadurch der Dilettantismus im Quadrat. - Wenn man d mit d multipli­ziert, bekommt man d2. - Aber es wirkt doch dieses, wenn auch auf di­lettantische Weise, wenn es weiter verfolgt wird. Und man kann auch begreifen, daß diese Sache aus der mangelhaften Physiologie und Psy­chologie allmählich herauskommen konnte. Aber das färbt doch ab auf die Seele der Menschen, dieses Denken färbt doch ab!

Heute haben wir eine ungeheure Literatur darüber. Sie können eine große Bibliothek mit der psychoanalytischen Literatur anfüllen. Darin­nen streiten sich die Leute ja auch schon wieder gräßlich, so daß, wenn Sie auf die Polemik eingehen, es manchmal recht interessant ist. Nun, es ist ja auch hier manchmal geredet worden von dieser Psychoanalyse. Man kann wirklich heute eine Bibliothek anlegen aus dem, was darüber geschrieben wird. Aber wenn soviel aufdiesem Gebiete geschrieben wird, dann muß ja auch, wenigstens auf äußerliche Weise, viel darin studiert werden. Das färbt auf die Seelenverfassung der Menschen ab, die wird koloriert dadurch.

Nun ist da etwas sehr Eigentümliches. Sehen Sie, im Jahre 1841, da gab es in Mitteleuropa auch schon eine psychoanalytische Literatur. Die bestand

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aber nur aus vierzehn Zeilen. Sie lauten: «In unserm modernen überfüllten Bewußtsein werfen wir viele Dinge umher, die wir nicht aus­gestalten können, weil es uns an Zeit dazu gebricht. Sie bleiben in der Form von Aufgaben in uns, die wir bearbeiten könnten. Es sind, mit Tieck zu reden, ungeborene Seelen, die nach Dasein verlangend, im Hin­tergrund unserer eigenen Seele wie in einem Limbus schweben.»

Sehen Sie, in diesen vierzehn Zeilen - wenn man die Zeilen länger macht, sind es noch weniger - liegt dem Prinzip nach die ganze Psycho­analyse darinnen. Damals nannte man es ungeborene Seelen, die im Hin­tergrunde der Seele in einem Limbus leben, die nach Dasein ringen. Jetzt nennt man es in den Tiefen der Seelen verborgene Provinzen, Seelenpro­vinzen und dergleichen mehr. Dazumal nahm man aber diese Sache als etwas so Unbedeutendes, daß man es sich in ein paar Zeilen notierte. Heute ist unsere Zivilisation dahin gekommen, ganze Bibliotheken dar­über zu schreiben. Aber alles Wesentliche, alles Prinzipielle liegt in diesen vierzehn Zeilen. Aber dafür, daß man das bloß in vierzehn Zeilen hatte, waren die Bibliotheken mit anderem angefüllt, als sie heute angefüllt sind, und die Menschen, die lernen wollten, nahmen was anderes auf.

Wenn man heute irgendwie als junger Student Psychologie studiert, eine Dissertation schreiben soll, so kommt man ja gar nicht um die Psy­choanalyse herum. Man muß sie studieren. Ja, das färbt ab auf die Seelen. Im Jahre 1841 war das Wesentliche in diesen vierzehn Zeilen ausge­drückt. Man betrachtete das nicht als etwas so Wichtiges, was eine so un­geheure Bedeutung für das menschliche Denken haben könnte. Und so ist es mit vielen Dingen gegangen.

Es bedeutet ja etwas Ungeheures, ob wir auf irgendein Gebiet von Tat­sachen hinschauen oder ob wir nicht hinschauen. Dazumal, 1841, haben die Menschen die Psychoanalyse verschlafen. Es tauchte nur in einem einzigen Menschen, in Karl Rosenkranz, einmal dieser Gedanke auf, den ich Ihnen in den vierzehn Zeilen vorgelesen habe. Der träumte einmal davon. Träume gehen rasch vorüber, bilden keinen so großen Einfluß im Leben. Aber die Leute haben ihr Wachsein mit anderem ausgefüllt. Heute dagegen wird vieles verschlafen, weil man ja wachen muß für die Psychoanalyse und ähnliche Dinge.

Diese Sache muß man wirklich genau betrachten, dann wird man sich sagen können, wo angesetzt werden muß, um Anthroposophie in der Welt zur Geltung zu bringen. Jedenfalls kann nicht einfach polemisiert werden. Denn das Polemisieren, das istja fast so, wie wenn einer in einem

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Zimmer liegt und furchtbar schnarcht und gar nicht wach zu kriegen ist, und ein anderer wacht, und nun gibt sich der alle Mühe, daß der Schnar­chende, der alles verschläft, verstehen soll, was der andere sagt. Er kann ihn ja nicht verstehen. Ebensowenig ist es möglich, daß man sich im Gei­stesleben über zwei Gebiete verständigt, wenn jeder für das Gebiet des anderen schläft und nur für sein eigenes Gebiet wacht.

Nun werden schon noch zahlreich diejenigen sein, die für die Anthro­posophie schlafen. Die werden schon für die Anthroposophie nicht so schnell aufwachen. Aber man möchte, daß die Anthroposophen aufwa­chen für die anderen, so daß sie nicht bloß aus ihrem blinden Glauben, sondern aus einer wirklichen Einsicht in die Qualität des andern wissen, warum Anthroposophie das Umfassende ist und auch das mitumfaßt, was die anderen ja als das Einzige betrachten, und wie Anthroposophie den Horizont erweitert, weil eben hinausgegangen wird über diejenigen Ge­biete, die von den andern bloß aufeinem engen Horizont betrachtet werden.

Damit habe ich Ihnen eine der Perspektiven dargestellt, diejenige Per­spektive, die sich ergibt, wenn wir über das Nähere dessen fragen, was uns als Erdenwelt umgibt, und was abschmilzt nach dem Tode. Es ist die physische Perspektive. Sie führte uns, um verstanden zu werden, in das­jenige hinein, was ihr unmittelbar benachbart ist, in das Ätherische.

Später wollen wir die seelische Perspektive betrachten, betrachten, wie sich der Mensch erweckt für die seelische Perspektive, um dann abzu­schließen mit der Betrachtung der geistigen Perspektive der Anthroposo­phie. Das werden die drei Perspektiven der Anthroposophie sein.

DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE DIE SEELISCHE PERSPEKTIVE Dornach, 21.Juli 1923

#G225-1961-SE127 Drei Perspektiven der Anthroposophie

#TI

DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE

DIE SEELISCHE PERSPEKTIVE

Dornach, 21.Juli 1923

#TX

Wenn man in unserem Zeitalter das geistige Leben betrachtet, so muß man sehen - man braucht dazu nur unbefangen genug zu sein -, wie dem Ganzen und Großen dieses Zeitalters immer mehr und mehr, namentlich aber seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die Seele abhanden gekommen ist. Seele fehlt unserer Gegenwartszivilisation; und wenn der einzelne seine Seele zum innerlichen Leben aufwecken will, dann wird ihm notwendig, dies eigentlich nicht durch das Miterle­ben der großen Züge unserer Zivilisation, sondern in der Einsamkeit zu tun.

Wir sind im allgemeinen davon abgekommen, die Grundnerven unse­res gegenwärtigen Lebens wirklich mit wachem Sinn zu verfolgen. Es hat für die äußerliche Betrachtung, die gerade im neunzehnten Jahrhundert eingesetzt hat, Erscheinungen gegeben, die eigentlich hätten auffordern sol­len zu mächtigem Aufmerken auf dasjenige, was im Geistesleben vorgeht. Aber es sind solche Erscheinungen mehr oder weniger spurlos vorüber-gegangen. Ja man kann sagen, es sind solche Erscheinungen nicht einmal zu einer solchen Formulierung innerhalb der neueren Zeit gekommen, daß sie durch ihre Formulierung den hinreichend tiefen, weckenden Ein­druck auf die neuere Menschheit hätten machen können.

Ich möchte an die Spitze der heutigen Betrachtung eine Erscheinung stellen, die, ihrer Äußerlichkeit nach angesehen, vielleicht von dem einen mit einem gewissen Lächeln aufgenommen wird, von dem andern histo­risch als eine der vielen Weltanschauungsverirrungen mit neutralem Sinn registriert wird, von einem dritten mit einigem Zorn bekämpft wird. Ich möchte vor allen Dingen aber versuchen, nur eine Art schlichter Formu­lierung der Tatsachen zu geben, die ich meine.

Es war mir oftmals in den beiden letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts eine wichtige Frage geworden, wer eigentlich der geschei­teste Mensch des Zeitalters sei. Natürlich können solche Dinge immer nur in relativem Sinne aufgefaßt werden. Also ich bitte, die Dinge, die ich an diese Frage anknüpfen werde, nicht gar zu sehr zu pressen selbstverständ­lich; aber mit dem nötigen Gran Salz, mit dem man solche Dinge nimmt,

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bitte ich doch die Sache als etwas aufzufassen, was ich meine als eine Charakteristik unseres Zeitalters vorbringen zu dürfen.

Unser Zeitalter ist das Zeitalter des Intellektualismus. Der Intellekt hat es zu ganz besonderer Höhe gebracht. Und da muß man sich fragen: Wo­von hängt der Intellekt des Menschen während des irdischen Daseins eigentlich ab? Gewiß, die Kräfte des Intellektes, das Aktive des Intellektes hängt ab von dem Seelischen des Menschen - und wir werden nachher dieses Seelische ins Auge zu fassen haben -, hängt ab von dem, was der Mensch zunächst für das Erdenbewußtsein unbewußt in sich trägt als ätherischen Organismus, Bildekräfteleib, als astralischen Leib und als die Ich-Organisation.

Aber der Mensch ist einfach in der gegenwärtigen Entwickelungsperi-ode der Erde nicht so weit, daß er die Aktivität des Intellektes, wie er in diesen drei Gliedern der Menschennatur lebt, auch wirklich zum Dasein bringen kann. Hätte der Mensch seinen physischen Leib nicht, so würde der Intellekt während des Erdendaseins schweigen müssen. Es wäre so, wie sich etwa ein Mensch, der gegen eine Wand geht, fühlt: Wenn er geradeaus geht und nicht einmal seine Arme und Hände beachtet, sieht er nichts von sich, wenn aber die Wand, der er zugeht, ein Spiegel ist, dann sieht er sich. So wie ein Mensch, der sich nicht sieht, so würde der Intellekt des Menschen sein: Er würde sich nicht wahrnehmen, wenn er nicht den physischen Körper hätte, der seine Tätigkeit spiegelt, der seine Tätigkeit zurückwirft. Also der Mensch verdankt die Größe seines Intel­lektes im gegenwärtigen Zeitalter der Spiegelung seiner inneren Seelen-tätigkeit durch den physischen Leib. Nur wird es beim Spiegelbild dem Menschen ja nicht passieren, daß er sich mit ihm verwechselt, beim Intel­lekt aber passiert das dem Menschen. Was nur im physischen Weben als das Spiegelbild des Intellektes lebt, das verwechselt der Mensch zuletzt mit diesem Intellekt selbst. Er gibt sich hin dem Spiegelbild. Dann aber wird das Spiegelbild in ihm selbst herrschen.

Der Mensch gibt sich gewissermaßen mit seinem Intellekt ganz an sei­nen physischen Leib hin. Wenn es dem Menschen gelingt, sich wirklich ganz an den physischen Leib hinzugeben mit seinem Intellekt, dann wird dieser Intellekt von einer hohen Vollkommenheit. Wenn wir unser Inne­res tätig sein lassen, dann tapsen wir immer ab und zu noch durch allerlei Gefühle und Triebe, die wir haben, durch Vorurteile, durch Sympathien und Antipathien, dann tapsen wir so in den Intellekt hinein. Da machen wir ihn unvollkommen. Wenn wir aber ganz trockene, nüchterne, kalte

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Naturen werden, wenn wir, um im Hamerlingschen Sinne zu reden, die männliche Seelenlosigkeit des Billionärs vereinigen mit der weiblichen Seelenlosigkeit der Nixe, wie Hamerling eine solche Verbindung in sei­nem «Homunkulus» dargestellt hat, und dadurch die Fähigkeit bekom­men, so zu denken, wie wir nach Maßgabe unseres physischen Leibes den­ken müssen, dann ist eine relative Vollkommenheit unserer Intellektua­lität in diesem Zeitalter gerade möglich. Dann lernen wir so denken, daß in uns gewissermaßen der Intellekt sich selber bewegt, daß der Intellekt in gewissem Sinne ein Automat wird, in einer relativ höchsten Vollkom­menheit spielt.

Ich sagte mir das dazumal in den letzten zwei Jahrzehnten des neun­zehnten Jahrhunderts und fragte mich: Wer ist in diesem Sinne, daß er also den Intellekt zunächst zu einer relativ höchsten Vollkommenheit gebracht hat, der gescheiteste Mensch der Gegenwartszivilisation? Nun gewiß, Sie mögen lächeln, aber ich konnte wirklich nichts anderes heraus­bringen, als daß der gescheiteste Mensch in der Zivilisation der Gegen­wart Eduard von Hartmann ist, der Philosoph des Unbewußten.

Es ist das durchaus nicht irgendein waghalsiges Paradoxon, sondern es ist etwas, was sich mir ergeben hat aus einer vielleicht eben nicht ganz seelenlosen Betrachtung der zwei letzten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts.

Sie können sich denken, daß man vor demjenigen einen großen Re­spekt bekommen hat, den man für den gescheitesten Menschen des Zeit­alters gehalten hat. Daher habe ich auch das, was ich dazumal in erkennt­nistheoretischer Beziehung aussprechen wollte in meinem Schriftchen «Wahrheit und Wissenschaft», Eduard von Hartmann gewidmet. Also ich spreche nicht etwa aus Respektlosigkeit, ich spreche aus tiefem Re­spekt heraus. Die Vorbedingungen für die Philosophie Eduard von Hart-manns sind ja diese, daß Eduard von Hartmann eigentlich zum Offizier ausgebildet war. Er hat es bis zum Premierleutnant gebracht, hat aber dann sich ein Knieleiden zugezogen und hat hierauf die Intellektualität, die eigentlich bei ihm für den modernen Militarismus bestimmt war, transformiert, metamorphosiert in Philosophie. Es ist interessant, daß gerade dadurch das zustande gekommen ist, was ich nicht anders als so formulieren kann: Eduard von Hartmann war der gescheiteste Mann vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.

Er hat deshalb auch klar gesehen, was man eben mit dem Verstande vom letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts klar sehen kann. Er

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hat das menschliche Bewußtsein, so wie es gebunden ist an die Erde, aber gebunden an den physischen Menschenleib, durchschaut. Da er gescheit war, hat er den Geist nicht geleugnet. Aber er hat ihn versetzt in die Sphäre des Unbewußten, dessen, was niemals einen Leib tragen kann, was niemals mit dem Physischen in innige Verbindung kommen kann, was daher, da es immer außerphysisch, das heißt geistig sein muß, nur un­bewußt sein kann.

Bewußt - so sagte sich Eduard von Hartmann - kann man nur im Leibe sein. Ist aber der Leib nicht das einzige, gibt es Geist, so kann der Geist nicht bewußt sein, sondern nur unbewußt. Der Mensch habe also, sagt Hartmann, wenn er durch die Pforte des Todes tritt, nicht zu erwarten, daß er dann sich hineinringt in ein anderes Bewußtsein, denn jenseits dieses Erdenbewußtseins gibt es nur das Unbewußte. Der Mensch steigt hinein in die Sphäre des unbewußten Geistes. Der unbewußte Geist ist überall da, wo nicht das Bewußtsein des Men­schen ist.

Eduard von Hartmanns Philosophie ist also eine Geistphilosophie, aber eine Philosophie des unbewußten Geistes. So daß es nirgends Bewußtsein gibt als im Menschenleibe, daß es zwar überall Geist gibt, aber Geist, der von sich und von der Welt und von nichts etwas weiß, ein unbewußter Geist.

Ist es nicht absolut klar, daß dieser unbewußte Geist niemals irgendwie eindringen kann in irgend etwas außer ihm als durch den physischen Menschenleib? Das ist ja von vornherein klar. Damit aber ist etwas sehr Bedeutsames gesagt. Es ist damit gesagt, daß diesem Intellekt, der sich also zum Statuieren des Unbewußten erhebt, die Liebe fehlt.

Ich sage nicht, daß Eduard von Hartmann die Liebe gefehlt hat, aber seinem Intellekt, in dem gerade seine Bedeutung lag, fehltejegliche Liebe. Dem lieblosen Intellekt ist es nicht möglich, irgendwohin die Brücke zu bauen. Daher bleibt er nur in sich selber, kann aber dadurch auch kein Bewußtsein erringen. Er bleibt in der Sphäre des Unbewußten. Man könnte auch sagen, er bleibt in der Sphäre der Lieblosigkeit.

Damit ist schon angedeutet, daß dies auch die Sphäre der Seelenlosig­keit ist, denn da, wo die Liebe nicht auftreten kann, schwindet allmählich überhaupt die Seelenhaftigkeit. Und so müssen wir, ich möchte sagen, die Atmosphäre der Lieblosigkeit spüren aus dem Ganzen und Großen der Zivilisation der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, auf deren Schultern unsere Zivilisation steht.

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Es ist nun höchst merkwürdig, wohin Eduard von Hartmann dieses Frönen dem unbewußten Geiste, verbunden mit Lieblosigkeit, geführt hat.

Er sah auf diese Welt des Erdenlebens hin, das dem Menschen das Be­wußtsein gibt. Aber könnten wir als Erdenmenschen nicht in unserm Leibe leben, könnten wir nicht mit jedem Aufwachen in unseren Leib untertauchen und uns ganz und gar verbinden mit unserem Leibe - was stünde uns bevor?

Wenn wir aufwachen als Erdenmenschen, geht das im Schlaf abgeson­derte Ich und der astralische Leib in den physischen Leib und in den Ätherleib zurück. Da verbinden sich Ich und astralischer Leib ganz innig mit Ätherleib und physischem Leib, da werden dieses Ich und der astra­lische Leib mit dem Ätherleib und dem physischen Leib eins. Und so­lange wir als Erdenmensch wachend sind, müssen wir von einer innigen Einheit des Geistig-Seelischen und des Physisch-Leiblichen sprechen. Wenn man aber das Geistig-Seelische von dem Physisch-Leiblichen so absondert, wie es Eduard von Hartmann intellektuell tut, dann würde dem die folgende Wirklichkeit entsprechen: eine Wirklichkeit, die dann einträte, wenn wir aufwachend zwar hineingingen in unseren physischen und Ätherleib, aber nicht mit ihnen verschmelzen würden, sondern un­verschmolzen mit ihnen in ihnen nur wohnen würden. Der unbewußte Geist wohnt nach Eduard von Hartmann in dem Leibe und wird dadurch im physischen Erdenleben bewußt. Er denkt also etwas, das, wenn es in der Wirklichkeit eintreten würde, so wäre, wie wenn wir aufwachend zwar hineingingen in unseren physischen und Ätherleib, aber nicht mit ihnen verschmelzen würden - sondern da drinnen wohnen würden, herumschauen würden, wie wir in einem Hause herumschauen, überall innen alles schauen würden -, also abgesondert im Innern sein würden. Was würde aber dann eintreten?

Nun, wenn wir mit unserem Geistig-Seelischen nicht verschmolzen mit unserm physischen Leibe, sondern abgesondert von ihm leben würden, dann würde das für unsere Seele einen ganz unnennbaren, unerträglichen Schmerz bedeuten; denn jeder Schmerz entsteht schon dadurch, daß das Organ nicht richtig funktioniert, daß das Organ erkrankt, daß wir ver­trieben werden aus einem Teil unseres physischen Leibes. Würden wir ganz vertrieben sein, würden wir, wenn ich mich so ausdrücken darf «extra» von unserem physischen Leibe sein, so müßten wir einen unnenn­baren Schmerz erleben. Jedem Morgen beim Aufwachen droht uns ge­wissermaßen dieser Schmerz. Wir überwinden ihn dadurch, daß wir untertauchen

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in unseren physischen und Ätherleib und uns mit ihnen ver­binden.

Nun gewiß, Eduard von Hartmann war kein Initiierter, er war bloß ein Intellektualist, der beste Intellektualist aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er hat bloß in Gedanken dasjenige gefaßt, was ich jetzt als eine Wirklichkeit vor Sie hingemalt habe. Er hat die Welt so vorgestellt, als wenn wir mit unserem Ich und unserem astralischen Leib uns nicht verbinden würden mit dem physischen und dem Ätherleib. Er dachte sich das Verhältnis des Menschen zu seinem Leibe so, wie ich es eben der Wirklichkeit nach geschildert habe.

Das brachte ihn zu folgender Konklusion: Er kam zu dem Schlusse eines restlosen Pessimismus. Selbstverständlich, der Pessimismus würde erlebt werden, wenn wir aufwachend von unserem physischen Leibe ab­gesondert wären. Eduard von Hartmann hat ihn erdacht. Und was gibt er als das Resultat seines Denkens an? Die Welt ist die denkbar schlech­teste. Die Welt enthält die größte Menge von Übel und Schmerz, und die wirkliche Kulturentwickelung der Menschheit kann nur darin beste­hen, die Welt allmählich auszulöschen, zu vernichten. Und am Ende der «Philosophie des Unbewußten » taucht ja ein Ideal auf.

Eduard von Hartmann lebte in jenem Zeitalter, in dem die Technik sich immer mehr und mehr entwickelte, in dem man immer mehr und mehr Maschinen zur Verrichtung von diesem oder jenem bekam. Wer einmal hineinschaut in all das, was dem Maschinellen möglich ist, der wird fasziniert von den Möglichkeiten, die im Maschinellen liegen. Wenn man die Möglichkeiten ausdehnt, die als die Vervollkommnung des Ma­schinellen eintreten können für die Welt, so bewirkt das eine ungeheure Suggestion.

Dieser Suggestion hat sich Eduard von Hartmann hingegeben. Und er denkt sich, daß die Menschheit - die ja allmählich, weil sie gerade zum Intellekt gekommen ist, immer intelligenter und intelligenter werden muß - auch immer mehr und mehr einsehen muß, daß das Richtige für diese Welt ist, sie zu vernichten; daß diese Menschheit einstmals zu einer Maschine kommen wird, durch die man bis in den Mittelpunkt der Erde hineinbohren und dann die Maschine in Bewegung setzen können wird, um mit einem Schlage diese ganze schlechteste Erde in die Weiten des Kosmos mit allem, was physisch darauf lebt, hinauszuschleudern.

Man kann nur sagen, die Grundlagen zu einer solchen Denkweise sind eigentlich bei allen anderen, die vielleicht nicht so gescheit wie Eduard

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von Hartmann, aber ebenfalls sehr gescheit sind, auch vorhanden, aber sie haben nicht den Mut gehabt, die letzten Konsequenzen in diesem Sinne zu denken. Und man kann sagen, wenn man dasjenige, was der Intellekt abgezogen von aller übrigen Welt leisten kann, wirklich ins Auge zu fassen vermag, dann erscheint einem bei dieser einseitigen Aus­bildung des Intellektes dieses Ideal, das Eduard von Hartmann hinstellt, sogar als ein im gewissen Sinne notwendiges.

Ich sagte, man kam nicht richtig zum Formulieren von gewissen Zeit­erscheinungen, die doch da waren. Man sollte aber schon sich aufschwin­gen zu einer möglichst prägnanten Formulierung des Philosophen des Unbewußten, der 1869 diese Perspektive vor die Menschheit hingestellt hat. Und dabei war Eduard von Hartmann eigentlich auch wirklich ge­scheiter als die anderen, denn er hat ja jene Tat vollbracht, welche ich öfter erzählt habe, nachdem er dieses Ideal vor die Menschen hingestellt hat. In demselben Buch, in dem er dieses Ideal hinstellt, spricht erja vom Geist, wenn auch vom unbewußten Geist, aber er spricht vom Geist. Es war das eine furchtbare Sünde, denn die Wissenschaft hatte es ja so weit gebracht, daß man wissenschaftlich nicht vom Geiste sprechen durfte, selbst nicht in der harmlosen Art, daß man ihn ganz und gar unbewußt sein läßt.

Und daher sahen die anderen Gescheiten diese «Philosophie des Unbe­wußten», die sich literarisch sehr bemerkbar machte, als Dilettantismus an. Da hat denn Eduard von Hartmann ihnen einen Streich gespielt. Es erschien eine Widerlegung der «Philosophie des Unbewußten » von einem unbekannten Autor. Und darinnen war diese Geistphilosophie gründlich widerlegt. Die Schrift hieß «Das Unbewußte vom Standpunkt der Phy­siologie und der Deszendenztheorie ». In dieser anonymen Schrift war so stark - ja, ich muß jetzt sagen, der Ungeist, weil ich ja Geist nicht sagen darf in diesem Falle - der Ungeist der anderen Gescheiten von Hartmann fingiert, daß die bedeutendsten Naturgelehrten der damaligen Zeit, Oskar Schmidt, Ernst Haeckel und eine Menge anderer die lobendsten Kritiken über dieses anonyme Buch schrieben und sagten: Da hat einmal einer diesen Dilettanten Eduard von Hartmann gründlich abgefertigt! Schade, daß man ihn nicht kennt, diesen Anonymus. Er nenne sich uns, und wir betrachten ihn als einen der Unsern.

Es ist selbstverständlich, nachdem so in die Trompete gestoßen worden war, daß die Schrift des Anonymus bald abgesetzt wurde und eine zweite Auflage brauchte. Sie erschien: «Das Unbewußte vom Standpunkt der

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Physiologie und der Deszendenztheorie, zweite Auflage, von Eduard von Hartmann».

Also, Sie sehen, Eduard von Hartmann bewies auch dadurch, daß er schon der Gescheiteste war, denn er konnte erstens so gescheit sein wie er, und dann auch noch so gescheit wie die anderen, die Gegner.

Wenn ich gestern sagen mußte, die Psychoanalyse ist der Dilettan­tismus im Quadrat, so müßte man eigentlich sagen, weil Seeleneigen­schaften sich immer multiplizieren: die Gescheitheit des Eduard von Hartmann war die Gescheitheit im Quadrat, mit sich selbst multipli­ziert.

Man sollte tatsächlich an einer solchen Erscheinung des Zeitalters nicht so in tiefem Schlaf vorbeigehen, wie man das tut. Man sollte sie sich for­mulieren und vor die Seele stellen, dann würde man eben auch die Ab­surditäten des Zeitalters wirklich vor sich haben. Und warum war denn Eduard von Hartmann so gescheit? Er war so gescheit aus dem Grunde, weil er wirklich mit durchdringendem Blick alles dasjenige sich angesehen hat, wovon man in seiner Zeit eben Notiz nehmen durfte. Er wurde sozu­sagen der Naturforscher der Philosophie. Es ist ja allerdings ungefähr so, als wenn man sagen würde: die Mehlspeise der Suppe. Aber er wurde halt der Naturforscher der Philosophie.

Nun handelt es sich darum, sich gerade an einer solchen Erscheinung ganz empirisch klarzumachen, wohin man kommen muß, wenn man nicht in diese Abgründe verfallen will. Man muß, wenn man sich heraus­finden will aus den Wirrnissen, in die man durch diese Zivilisation hin­einkommt, eben auf dasjenige sehen, was der Mensch wirklich in seinem Innern trägt.

Geht man aber nun wirklich von dem physischen Leib des Menschen nach und nach mehr über in das Geistige, nähert man sich dem Seeli­schen, so trifft man, wie wir auch gestern wieder besprochen haben, den Ätherleib oder Bildekräfteleib.

Von einem solchen Ätherleib oder Bildekräfteleib hat Eduard von Hartmann in Gemäfiheit dessen, was man in seiner Zeit wissen konnte, eben nichts gewußt. Er stieg nicht auf von der Betrachtung dessen, was äußerlich natürlich-physisch ist, zu dem nächsten, was an das Physische angrenzt, zu dem Ätherleib oder Bildekräfteleib.

Wir wissen, daß, wenn der Mensch in den Schlaf eintritt, sein Ich und sein astralischer Leib sich abtrennen von dem physischen Leib und von dem Ätherleib. Der Ätherleib bleibt im physischen Leibe zurück. Der

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Mensch kann auch eigentlich niemals wissen, wenn er bloß das Erden­bewußtsein anwendet, wie dieser sein Ätherleib beschaffen ist. Denn wacht er, dann taucht er ja mit seinem astralischen Leib und seinem Ich in den Ätherleib unter. Dann ist er drinnen. Dann erlebt er dasjenige, was er selber hineingetragen hat mit seinem Ich und seinem astralischen Leib. Es müßte ein viel höher organisiertes Wesen in diesen Ätherleib unter-tauchen während des menschlichen Schlafes, während das Ich und der astralische Leib heraußen sind. Ein solches Wesen, das wirklich objektiv durchschauen könnte, wie es eigentlich mit diesem Ätherleib sich verhält, würde das finden, was eigentlich da als seinen Ätherleib der Mensch, wenn er einschläft, mit dem physischen Leib zurückläßt. Würde man konstatieren, was da der Mensch zurückläßt, so würde man finden, daß dieser Ätherleib oder Bildekräfteleib wirklich im irdischen und in einem noch viel höheren Sinne der Ausbund aller Weisheit ist.

Es ist für ein wirkliches Erkennen nicht zu leugnen: Wenn wir unseren physischen und Ätherleib in der Nacht verlassen haben, dann sind die zwei, die wir da zurückgelassen haben, miteinander viel gescheiter, als wir sind, wenn wir drinnen sind. Denn wir sind eben in unserem Ich und unserem astralischen Leib Kinder der Erden- und Kinder der Mon­denentwickelung. Der Ätherleib aber führt zurück bis in die Sonnenent­wickelung, der physische Leib gar bis in die Saturnentwickelung. Die ste­hen auf einer viel höheren Vollkommenheitsstufe. Wir können uns heute nicht messen in unserem Ich und in unserem astralischen Leib mit dem, was im Laufe der Zeit von der Sonnenentwickelungsepoche hier in unse­rem Ätherleib sich als Weisheit angesammelt hat. Man könnte sagen: Die konzentrierte Weisheit ist dieser Ätherleib. Wenn wir Menschen aber un­sere Weisheit mit unserem astralischen Leib und mit unserem Ich in diesen Ätherleib hineintragen, dann brauchen wir eine Widerlage, wie wir eben die Widerlage des Spiegels brauchen, wenn wir das Spiegelbild sehen wollen. Wir brauchen den physischen Leib als eine Widerlage. So, wie wir nicht stehen könnten, wenn wir nicht einen physischen Boden hätten, so könnten wir nicht in unserm Ätherleib leben, ohne daß der Ätherleib an den physischen Leib grenzt und an den physischen Leib überall auf-stößt, an dem physischen Leib eine Widerlage hat. Der Ätherleib wäre mit seinem innern Leben wie ein Mensch, der ohne Unterlage frei in der Luft schweben würde. So haben wir für das gewöhnliche irdische Dasein nur ein Seelenleben, das zwar im Ätherleib lebt, aber den physischen Leib als Unterlage braucht.

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Mit dieser Seelenverfassung können wir nur an die mineralische Welt herankommen. Wir können nur das Leblose damit durchschauen. Wollen wir an die Pflanzenwelt herankommen, dann brauchen wir die Fähigkeit, den Ätherleib zu gebrauchen ohne den physischen Leib.

Wie können wir das? Wie können wir unseren Ätherleib gebrauchen ohne unseren physischen Leib? Wir können das, wenn wir immer mehr und mehr, durch innere Übungen, von Menschen, die vorzugsweise durch ihren physischen Leib in dem Element der Schwere leben, zu Menschen werden, die durch das Licht in dem Elemente der Leichtigkeit leben, die durch das Licht gar nicht mehr ihren Zusammenhang mit der Erde emp­finden, sondern mit den Weiten des Kosmos; wenn uns allmählich der Hinblick auf die Sterne, auf Sonne und Mond, auf die Weiten des Wel­tenalls etwas so Heimisches wird, wie wenn wir hinblicken auf die Pflan­zen, die die Wiesen bedecken. Wenn wir bloße Erdenkinder sind, sehen wir zu den Pflanzen, die die Wiesen bedecken, hinunter. Wir erfreuen uns an ihnen, verstehen sie aber nicht, weil wir an die Schwere gebun­dene Erdenmenschen sind. Können wir aber ebenso, wie wir lernen als an die Schwere gebundene Erdenmenschen dazustehen, uns binden an die Weiten des Weltenalls, an die Wiese des Himmels, übersät von den Sternen - das ist jetzt nicht der Boden, sondern die Decke -, kön­nen wir damit uns verwandt fühlen, wie sonst mit dem Boden der Erde, dann beginnen wir, indem wir das Erdenbewufitsein verwandeln in ein Weltenbewußtsein, unseren Ätherleib in uns ebenso zu gebrauchen, wie wir sonst unseren physischen Leib gebrauchen. Dann allein sind wir fähig, an die Pflanzenwelt auch mit unserem Verständnisse heranzu­dringen. Denn die Pflanzen sind nicht aus der Erde nach oben hervorge­bracht, sondern sie sind durch den Himmel aus der Erde herausgesogen.

Sehen Sie, von dieser Sehnsucht war Goethe erfüllt, als er seine Meta­morphose der Pflanzen ausbildete. Und vieles hat er gesagt, was so ist, wie wenn er sich als ein solcher, statt der Erde, der Sonne zugeneigter Mensch gefühlt hätte, der empfunden hat, wie die Sonne schon in der Wurzel die Kraft des Pflanzenwachstums aus der Erde heraussaugt, wie die Sonne mit ihren Kräften nach und nach in Verbindung mit der Luft-einwirkung das Blatt entwickelt, wie die Sonne schließlich in der Blüte und in der Fruchtbildung dasjenige, was sie aus der Erde herausgesogen hat, nach und nach kocht.

Man lese nur einmal dieses wunderbare Schriftchen von Goethe, das 1790 erschienen ist: «Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären»,

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und man wird überall die Ansätze finden zu einer solchen Darstel­lung. In Goethe lebte die Sehnsucht, die Pflanzenwelt zu durchdringen. Aber er strauchelte immer wieder daran, statt des physischen Schauens das ätherische Schauen wirklich auszubilden. Das ist es, was als ein Im­puls schon bei Goethe vorhanden war, was derjenige, der sich wirklich an Goethe anlehnt, der nicht den toten Goethe nehmen will, sondern den lebendig fortwirkenden Goethe, weiter ausbilden muß.

Denn indem dann nachgefühlt wird, daß die Menschenseele so etwas kann, wenn sie sich nur ihres Ätherleibes wirklich bewußt wird, vermag sie ihren Himmelsursprung, ihre Erdenunabhängigkeit, ihr Versetztsein auf die Erde zu empfinden. Es kann die Menschenseele sich sagen: Du bist von einem kosmischen Ursprung; du bist durch den physischen Men­schenleib auf die Erde versetzt, aber kosmischen Ursprungs. Und wenn du dich hier über die Pflanzenwelt freuen kannst, so ist das, was sich freut in dir, ein Sohn des Himmels, der sich an dem, was wiederum die Him­mel aus der Erde in der Pflanzenwelt heraussaugen, erfreut. Der Mensch entreißt sich seelisch der Erde, indem er also wirklich seinen ätherischen oder Bildekräfteleib in Realität erfaßt.

Wenn man das tut, das heißt, wenn man so weit kommt - und was einen dazu bringen kann, das ist wirkliche Liebe zur Pflanzenwelt -, im Ätherleib zu leben, wie man sonst im physischen Leib lebt, dann wird aber nicht nur der eigene Ätherleib ins Bewußtsein heraufgehoben, son­dern so, wie durch unseren physischen Leib die physische Natur durch unsere Sinne in unser Bewußtsein gehoben wird, so wird durch den äthe­rischen Leib die ätherische Welt in unser Bewußtsein gelegt.

Und was spüren wir dann, wenn wir gewissermaßen hinausschauen durch unseren Ätherleib in die ätherische Welt, wie wir mit unserem physischen Leib hinausschauen in die physische Welt - was schauen wir da? Da schauen wir für dasjenige, was vor unserem physischen Auge aus­gebreitet ist, die wirkliche Vergangenheit, aus der diese physische Welt hervorgegangen ist. Da schauen wir im Geiste die Bilder dessen, was war, damit das Gegenwärtige sein kann.

Daher war schon in den ältesten Zeiten der Menschheit die erste Initia­tion, die den Menschen gegeben worden ist, die Initiation des Kosmos. In den ältesten Schulen der Menschheit arbeitete man auf diese Initiation des Kosmos hin. Die Lehrer der ersten Mysterien waren die Initiierenden für das Lesen im Äther des Kosmos, was man auch das Lesen im Chaos, in der Akasha- Chronik nennen kann, das Akasha-Lesen, das Lesen desjenigen,

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was vergangen ist und das Gegenwärtige vor unsere Augen hinge-zaubert hat. Und es war im Grunde genommen die erste Initiationsstufe, die die Menschheit im Erdendasein errungen hat, diese Initiation durch den Kosmos.

Ein zweites, das erreicht werden kann, ist dieses: Wenn wir aufwachen, lassen wir hinuntersinken in den physischen Leib und Ätherleib den astra­lischen Leib und das Ich. Wir beseelen den ätherischen und physischen Leib, wir verbinden uns mit ihnen. Aber wir können nur so viel aus der unendlichen Weisheit des ätherischen Leibes erfassen, als wir hineintra-gen. Aber er regt uns fortwährend an. Wenn wir irgendwie einen guten Einfall haben, dann ist es der ätherische Leib, der uns, weil er innig zu­sammenhängt mit dem Äther des Kosmos, anregt zu dem Einfall. Alles was der Mensch an Einfällen, an Genialität entwickelt im wachenden Zustande, ist aus dem ätherischen Leib, und damit auf dem Umwege aus dem Kosmos. Das Genie spricht mit dem Kosmos, indem der astralische Leib durch den ätherischen Leib angeregt wird.

Derjenige, der das nicht durchschaut, lebt aber doch in diesem, und sein Seelisches besteht darin, daß erin den physischen Leib und in den Ätherleib den astralischen Leib und das Ich im wachenden Zustande hineinsenkt.

Wenn wir eben mit den Sternen heimisch werden so wie sonst mit den Wiesen, da bekommen wir, indem wir gewissermaßen zu dem oberen Boden unseres Seins die Weltenweiten machen, die Möglichkeit, das Ätherische zu erleben. Der Mensch erlebt es immer, nur in seiner Er­kenntnis dringt er ja nicht dahin ohne die Initiation; aber in Wirklich­keit erlebt es jeder Mensch. Wenn wir für unseren astralischen Leib eben­so eine Widerlage suchen, so ist diese Widerlage ja immer da, es handelt sich nur darum, daß die Geisteswissenschaft aufmerksam macht auf das, was in jedem Menschen vorhanden ist.

Nehmen Sie an, Sie würden den physischen Boden nicht sehen, aber doch darauf stehen, so stünden Sie eben darauf. Wenn dann einer, der durch die Wissenschaft erst herausbrächte, daß der Fußboden da ist, und es Ihnen sagen würde, so würden Sie ja doch deshalb auf dem Fußboden stehen. So kann Ihnen derjenige, der die Geisteswissenschaft beherrscht, sagen, Sie erheben sich zu dem oberen Boden, zu dem Sternenboden; aber Sie erheben sich trotzdem wirklich. Und so steht der Mensch in einer anderen Welt drinnen mit seinem astralischen Leib, in der Welt der le­bendigen Geistwesen, die wir aufgezählt haben als die Welt der höheren Hierarchien.

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Wie wir, wenn wir in die physische Welt uns hineinstellen, eben diese physische Welt als die reale haben, wie da in dieser physischen Welt Mi­neralien, Pflanzen, Tiere sind, und das der Boden ist, aus dem der Mensch zuletzt in der Menschenentwickelung herauswächst, so ist der Mensch mit seinem astralischen Leibe in der Welt der Wesen der höheren Hierar­chien. Lebt er in dieser Welt, dann hat er für seinen astralischen Leib die entsprechende Widerlage. Aber er trägt dasjenige, was er durch die Gei­steswissenschaft erst kennenlernen kann, doch immer in sich. Und er trägt es in sich als die Fähigkeit des Gefühls.

Alles, was wir in der Welt durch unser Gefühl, durch dieses innigste Leben der Seele, zu unserem Eigenen machen, das besteht in dem Wellen und Weben der Geister der höheren Hierarchien in unserem eigenen astralischen Leibe. Wenn wir uns bewußt werden unseres Gefühles, so ist dieses Bewußtsein vom Fühlen dasjenige, was der Mensch zunächst hat, aber in diesem Fühlen lebt das Weben und Wirken der Geister der höhe­ren Hierarchien durch den Menschen. Wir können nicht das Seelische wirklich fassen, wenn wir nicht dieses Seelische getaucht empfinden in die Geistwelten der höheren Hierarchien. Und so, wie uns die Vergangen­heit für die sinnliche Gegenwart durch das Ätherschauen enthüllt wird, wenn auf moderne Art nachgebildet wird dasjenige, was in den ersten irdischen Mysterien als die Initiation des Kosmos ausgebildet worden ist, so kann auch die Seele so vertieft werden, daß sie ein Bewußtsein erlangt von dem, was eigentlich im astralischen Leib spielt.

Dazu bedarf es des liebevollen Sichversenkens in das, was als ein Zu­sammenhang mit den geistigen Welten in den großen Mysterien gelebt hat. Lassen wir uns belehren vom Kosmos unter der Anleitung der In­itiationsweisheit, dann gelangen wir zu der ersten Stufe des Seelischen in seiner Wirklichkeit. Können wir in dasjenige dringen, was eigentlich vor­gegangen ist in den Mysterien, können wir sozusagen in der Akasha­Chronik nicht nur lesen die Vergangenheit der Sterne, die Vergangen­heit der Tiere, die Vergangenheit des physischen Menschen, können wir lesen, was in den Seelen der großen Mysterienlehrer gelebt hat, können wir recht in uns beleben etwa das, was ich in der Weise darzustellen versuchte, wie man es dem gegenwärtigen Menschen darstellen kann, in meinem «Christentum als mystische Tatsache», kann man leben­dig werden lassen, was die Mysterienlehrer in sich entwickelt haben aus ihrem Umgang mit den Geistwesen selber, dann kommt man heran an jene Initiation, die sich in späteren Erdenzeiten hinzugesellt hat zu

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der kosmischen Initiation, und die ich die Initiation der Weisen nennen möchte.

So kann man von zwei Stufen der Initiation sprechen, von der Initia­tion durch den Kosmos, von der Initiation durch die Weisen. Was die Weisen gelehrt hatten als die kosmische Erkenntnis, das bildete den In­halt der kosmischen Initiation. Hineinschauen in die Seelen derjenigen, die im Seelenleben den Menschen vorangegangen sind, das führt in die zweite Stufe des Seelenwesens hinein. Der Mensch kann schon in äußerer Geschichtlichkeit mit all dem beginnen. Wenn man das, was noch her­überglänzt aus alten Zeiten - sagen wir in der wunderbaren Vedanta­weisheit und aus anderen Weisheitsinhalten älterer Zeiten -, mit innerer Lebendigkeit erfaßt, dann erfaßt einen dafür auch wiederum die eigene innere Lebendigkeit, und man wird nahegebracht an die Initiation des Kosmos. Und wenn man sich mit inniger Liebe in solche Dinge vertieft, wie ich sie in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache »darstellte, wo versucht worden ist, die alten Mysterien in ihren Inhalten hinzustellen im Zusammenhange mit dem Mysterium von Golgatha, dann kommt man nahe der Initiation durch die Weisen.

Und dann hat man für die Gegenwart nötig, ehrlich in das eigene In­nere hineinzuschauen, und nun in Unbefangenheit dieses eigene Innere kennenzulernen, den eigenen Geist, der einem dann vom Innern die Seele beleuchtet. Doch davon, als von der dritten Stufe der heute notwen­digen Initiation, werde ich das nächstemal noch ausführlicher sprechen. Es ist die Initiation der Selbsterkenntnis.

Aber wenn heute Geisteswissenschaft von der Seele spricht, so muß sie aus dem Geiste dieser drei Initiationsstufen heraus sprechen: der Initiation durch den Kosmos, der Initiation durch die Weisen, der Initiation durch die Selbsterkenntnis. Damit durchmißt man die verschiedenen Grenzen des Seelenlebens. Nicht möglich ist, auch nur die ersten Schritte zu ma­chen auf diesem Wege ohne die Liebe. Und ich mußte Ihnen sagen, daß gerade der Intellekt der Gegenwart, wo er auf einer höchsten Stufe her­vortritt, der Liebe vergißt, daß er die Liebe verliert. Dadurch aber voll-zieht sich etwas ganz Besonderes.

Wirklich liebevoll eingehen auf das, was als der physische Leib, der Ätherleib, der astralische Leib und das Ich geschildert werden kann, das tut man, wenn man etwas vernimmt von der Stimme des Genius, der unsere Zeit beherrscht, wenn man den guten Willen hat, hinzuhorchen auf die Stimme des Genius in unserer Zeit. Aber kann denn der Mensch

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der Gegenwart dasjenige, was ausgesprochen wird, wenn man sagt «der Genius unseres Zeitalters», mit jenem tiefen Ernste nehmen, der ihm ge­bührt? Bleibt es nicht ein abstrakter Wortinhalt für die meisten, wenn man von dem Genius unseres Zeitalters spricht? Denken Sie, wie weit die Menschen weg sind von der Erfassung eines wirklich geistig Lebendigen, das in unserer Zeit wirkt und webt und lebt, wenn man von dem Genius unserer Zeit spricht.

Aber man darf sagen, wenn die Menschen auch den Geist verleugnen, sie werden den Geist nicht los. Der Geist ist unabänderlich mit der Mensch­heit verbunden. Nur, wenn die Menschen dem Genius eines Zeitalters absagen, dann tritt an sie heran der Dämon dieses Zeitalters. Und als der Intellekt so weit war am Beginne des letzten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts, daß er ganz und gar nur dem Mechanismus des physischen Leibes folgte, selbst automatisch, mechanisch wurde und damit auf seine höchste Stufe kam, so daß er so gescheit wurde, wie er selber ist, und so gescheit, wie die anderen sind, als dieser Intellekt bis zu dem Bilde vor-drang, das im Intellekt das Mechanische, das Materielle zum Dasein rief, da benahm sich der Intellekt so, wie der Mensch sich benimmt, wenn er dem Genius absagt. Dann faßt ihn der Dämon des Zeitalters. Der Intel­lekt hatte sich getrennt von der Seele. Der Intellekt wurde mechanisch, seelenlos, und er gründete in diesem Zustand eine Philosophie. Er hatte die Liebe nicht, konnte die Weisheit nicht lieben. Seine Philosophie konnte nur das intellektuelle Abbild der irdischen Dämonologie werden, jener Dämonologie, die ausdenkt das Ideal einer Maschine, die in den Mittelpunkt der Erde hineingebohrt wird und die Erde in das Weltenall hinaussprengt.

Das hat der Dämon des Zeitalters dem Intellekt des Zeitalters gesagt. Der Dämon des Zeitalters wird sich oftmals hören lassen, wenn man das Seelische nicht wird erkennen wollen. Dann wird es diesem Intellekt so erscheinen, wie der Mensch es wirklich erleben würde, wenn er aufwa­chend untertauchen würde in seinen physischen und Ätherleib, und sich nicht mit ihnen vereinen würde, sondern innerlich getrennt von ihnen bliebe. Denn dieser Intellekt ist fremd dem Menschenwesen, er emanzi­piert sich vom Menschenwesen. Der Intellekt, der mit dem Menschen-wesen verbunden ist, ringt sich aus dem Erdenbewußtsein herauf zu an­deren Bewußtseinszuständen. Für den Intellekt, der sich nur an die Erde bindet, aber dann sich abtrennt, daher nur das Spiegelbild des Intellektes hat, für den werden alle übrigen Bewußtseinszustände das unendliche

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Meer des Unbewußten. Die menschliche Seele hört auf, sich ihres himm­lischen Ursprungs bewußt zu werden, sich ihrer Selbständigkeit gegen­über dem Erdenleben bewußt zu werden.

Darinnen aber besteht das Seelische des Menschen, daß der Mensch in seinem Wesen zwischen Körperlichem und Geistigem schwingt. In die­sem Schwingen zwischen Körperlichem und Geistigem besteht das See­lenleben. Wenn der Mensch in Ehrlichkeit nur an den Körper glaubt, und ihm dadurch, daß er den Geist doch nicht lassen kann, dieser nur zum Unbewußten wird, dann geschieht die Verleugnung des Seelischen.

Während Hartmann auf den Untergang der Erde in einer so dämo­nischen Weise gesonnen hat, wie es eigentlich nur ein Mensch ersinnen könnte, der im physischen Leibe schlafen würde, aber dann hellsehend im physischen Leibe würde, - während Hartmann dadurch zu einer in­tellektuellen Ausgestaltung des Erdenleidens gekommen ist, hat ein Mensch, der ihm befreundet war, der mit ihm viele Briefe gewechselt hat, sich windend auf dem Krankenlager in wirklichen Schmerzen, bei dem es so geworden ist, daß viele Organe sein Geistig-Seelisches nicht in das Physische hereingelassen haben, der das Erdenleiden eben erlebt, nicht erdacht hat, nur in einer satirischen Weise die Seelenlosigkeit seines Zeitalters behandeln können. Das ist Robert Hamerling, der in den achtziger Jahren seinen «Homunkulus » geschrieben hat, indem ihm aufging die Perspektive der Seelenlosigkeit des Zeitalters, jener Mensch, der nur im Äußeren strebt, der im Äußeren nur immer mehr und mehr zusammenrafft, der schließlich zum Billionär wird - diese furchtbare Perspektive des seeleniosen Zeitalters stand Hamerling vor dem Seelen-auge. Und den seelenlosen Billionär, den Homunkulus, der nicht unter der Mitwirkung des Seelischen, sondern nur auf mechanische Weise, durch mechanische Zeugung zur Welt kommt, den läßt Hamerling mit dem seelenlosen Elementargeist, mit der Nixe, mit der Lorelei sich vermählen.

So stand Robert Hamerling die Perspektive des seelenlosen Zeitalters vor dem Seelenauge in dem Streben des im rein Materiellen wirkenden Menschen nach der geistlosen Intellektualität, die in Naturgeistern aller­dings vorhanden ist, die aber im Menschen alle Kräfte der Zerstörung wachruft, bis zu der dämonischen Zerstörungssucht, die ganze Erde in den Weltenraum hinauszusprengen. Satirisch nur konnte Robert Hamer­ling dieses Problem des seelenlosen Zeitalters behandeln.

Aber es muß der neueren Zivilisation und Kultur wiederum Seele ge­geben werden. Diese Seele kann nur gegeben werden, wenn die irdischen

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Erlebnisse des Menschen beleuchtet werden von dem Lichte einer Geist­erkenntnis.

Und so muß dasjenige, was in einer wahrhaft furchtbaren, man möchte sagen, abschreckenden Weise der gescheiteste Mann unseres Zeitalters hingestellt hat, und was, sich windend in Schmerzen, satirisch als eine Perspektive hingestellt hat derjenige Mensch, der am tragischsten die Gescheitheit des Zeitalters empfunden hat, das muß sich für die Men­schen durch Geisterkenntnis verwandeln in die seelische Perspektive, nach der wir als der zweiten Perspektive hinstreben müssen.

Von der physischen Perspektive haben wir gestern gesprochen. Von der seelischen Perspektive wollten wir heute sprechen, und von der gei­stigen Perspektive wollen wir morgen sprechen.

DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE DIE GEISTIGE PERSPEKTIVE Dornach, 22. Juli 1923

#G225-1961-SE144 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DREI PERSPEKTIVEN DER ANTHROPOSOPHIE

DIE GEISTIGE PERSPEKTIVE

Dornach, 22. Juli 1923

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Der Mensch als Erdenwesen kennt zunächst drei wechselnde Bewußtseinszustände: den Wachzustand vom Aufwachen bis zum Einschlafen, den entgegengesetzten Zustand, das ist der Schlafzustand, wo gewissermaßen die Seele hinuntertaucht in die geistige Finsternis und keine Erlebnisse um sich herum hat, und zwischen beiden den Traumzustand, von dem uns ja bewußt ist, wie in ihn hineinspielen die wachen Erlebnisse, wie aber auf der anderen Seite durch gewisse außerordentlich bedeutsame und interessante innere Kräfle die Zusammenhänge des Wachens ver­ändert werden, wie, um nur einiges zu erwähnen, zum Beispiel längst Vergangenes als ein unmittelbar Gegenwärtiges erscheint; wie etwas, was in völliger Unbedachtsamkeit an dem Bewußtsein vorübergegangen ist, von dem man vielleicht im gewöhnlichen Wachleben keine besondere Beachtung genommen hat, heraufrückt in das Traumbewußtsein und so weiter. Dinge, die sonst durchaus nicht zusammengehören, werden durch den Traum zusammengebracht.

Aber es ist zu gleicher Zeit eine durchaus charakteristische Eigenheit des Traumzustandes, daß der Trauminhalt, alles, was wahrgenommen wird im Traum, von einer starken Bildhaftigkeit ist, daß selbst, wenn das Wort hineintönt in den Traum, es die Bildhaftigkeit des Wortes ist, die da hineinspielt, der Ton des Wortes, die Modulierung der Laute, die sich alle zur Bildhaftigkeit, wenn auch eben zur hörbaren, seelisch hörbaren Bildhaftigkeit auseinanderlegen.

Nun, der Traum hat ja außerordentlich vieles, was die Seele des Men­schen im Tiefsten beschäftigen kann. Aber man erlangt nicht einen Ein­blick in das eigentlich geistige Dasein, wenn man sich nicht gültige Vor­stellungen zu machen vermag über das Verhältnis dieser drei Bewußt­seinszustände, des Wachens, des Träumens, des Schlafens.

Wir wollen heute einmal, so weit es möglich ist, mit Zuhilfenahme der Geisteswissenschaft diese drei Bewußtseinszustände charakterisieren. Zu­nächst den im wachen Tagesleben.

Der Mensch kann sich bewußt werden, daß er dieses wache Tages-leben dadurch führen kann, daß er sich im Aufwachen seines Leibes, der

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Organe seines Leibes, aber auch des Denkens, das ja an den Leib gebun­den ist, zu bedienen anfängt. Und selbst dann, wenn man kein Wissen da­von hat, daß das Ich und der astralische Leib beim Aufwachen unter-tauchen in den physischen und in den Ätherleib, muß man doch empfin­den, wie, allerdings in rascher Art, aber deutlich wahrnehmbar, wenig­stens deutlich empfindbar, der Mensch Kraft über seine Glieder, Kraft über seine Organe und Kraft, das innerliche Denken zu entfalten, be­kommt.

Das alles kann den Menschen lehren, wie das wache Tagesleben an den physischen Leib gebunden ist. Und indem wir vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus den Äther- oder Bildekräfteleib betrachten, müs­sen wir ja auch sagen, daß dieses wache Tagesleben ebenso wie an den physischen Leib, an den ätherischen oder Bildekräfteleib gebunden ist. Wir müssen in diese beiden Glieder unserer menschlichen Wesenheit un­tertauchen, müssen uns ihrer Organisation bedienen, um das wache Ta­gesleben zu führen.

Nun kann man sich den mannigfaltigsten Täuschungen hingeben über dieses wache Tagesleben, wenn man es nicht vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft aus zu beleuchten beginnt. Wenig brauchen wir zu sagen über das Sinnesleben; denn was könnte klarer sein, als daß der Mensch sich eben im wachen Tagesleben seiner Sinnesorgane bedient, und daß diese Sinnesorgane ihm vermitteln, was als Offenbarung der äußeren physischen Welt um ihn herum sich befindet. Man braucht nur ein wenig das Wesen der Sinnesorgane zu betrachten, und man wird schon finden, wie durch die Beziehungen des Auges, des Ohres, der anderen Sinne zu der Umwelt dasjenige zustande kommt, was eben der Mensch seine wachen Tageserlebnisse als Offenbarung der Sinneswelt nennt.

Was nun schon nötig macht, zu einer genaueren Betrachtung vorzu­dringen, das ist das Denken, das Vorstellen. Seien wir uns doch ganz klar darüber, daß der Mensch mit seinen Vorstellungen zunächst nur eine Verinnerlichung seines Sinneslebens gegeben hat.

Wenn der Mensch ehrlich in sich selbst hineinschaut, dann wird er sich sagen : Durch die Sinne empfange ich Eindrücke, im Denken setze ich nach innen diese Eindrücke fort. Und wenn wir unsere Gedanken dann prüfen, so werden wir finden, daß diese Gedanken schattenhafte Abbilder dessen sind, was uns die Sinne vermitteln. Gewissermaßen ist das Denken des Menschen ganz nach außen gerichtet. Das Denken ist nun die Tätig­keit des Äther- oder Bildekräfteleibes, so daß wir auch sagen können: Indem

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der Mensch wachend als sinnliches Erdenwesen denkt, richtet sich sein Äther- oder Bildekräfteleib nach außen. Aber damit haben wir im Grunde nur die eine Seite des Äther- oder Bildekräfteleibes ins Auge ge­faßt. Und indem wir dasjenige, was wir im gewöhnlichen Wachbewußt­sein haben, die Gedanken über die äußere Welt, ins Auge fassen, ist es so, wie wenn wir etwa einen Menschen durch irgendwelche Verhältnisse physisch nur von hinten betrachten könnten. Stellen Sie sich vor, Sie würden eine Anzahl von Menschen immer nur von hinten gesehen haben. Sie würden sich da Vorstellungen machen, die Sie vielleicht gegenüber diesen Menschen nicht befriedigen würden. Sie würden, wenn ich so sa­gen darf, neugierig, wißbegierig darauf sein, wie die betreffenden Men­schen von vorne ausschauen, und Sie sind ja auch schon von vorneherein überzeugt davon, daß zu dem hinteren Teile eines Menschen das Vor­dere dazugehört, daß das eben die andere Seite, die für den physischen Erdenmenschen ausdrucksvollere Seite ist.

So ist es, wenn wir uns bewußt werden des Denkens der Außenwelt:

Wir sehen gewissermaßen nach der hinteren Seite des Denkens hin. Es ist umgekehrt, weil ja die Richtung der Sinnesströmungen immer von vorn nach rückwärts geht im Menschen. Selbst da, wo es scheinbar anders ist, muß es so gedacht werden: Das, was sich physisch als vorne repräsentiert, das ist für das Denken die hintere Seite. Und wir müssen uns im Grunde genommen in die Möglichkeit versetzen, das Denken des Menschen von der anderen Seite zu betrachten, wo es nicht den Eindrücken der äußeren Sinne zugekehrt ist, wo es uns seine verborgene innere Seite zeigt.

Dann aber kommen wir auf etwas ganz Merkwürdiges. Dann reprä­sentiert sich uns das Denken nicht so, wie es sich ausnimmt, wenn wir es als Bilder der sinnlichen Außenwelt im Bewußtsein tragen. Dann ver­wandelt sich, von dieser anderen Seite angesehen, unser Denken, das ja die Kräfte des Äther- oder Bildekräfteleibes ausmacht, in Kräfte, die un­seren physischen Organismus aufbauen, in unseren physischen Organis­mus schaffende Kräfte.

Wenn wir wachsen, wenn unsere Organe vom Keimzustande an auf­gebaut werden, wenn unsere Organe plastisch geformt werden, da ist es die andere Seite des Denkens, die vom Äther- oder Bildekräfteleib aus aktiv eingreift und uns organisiert. Was da in uns wirkt und lebt, indem wir wachsen, indem wir die Nahrungsmittel in uns verarbeiten, was über­haupt an Bildekräften in uns vorhanden ist, das ist die andere Seite des Denkens. Das gewöhnliche Denken bewirkt in uns nur die schattenhaften

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Gedanken, es ist die hintere Seite des Denkens. Was aber unserem Denk-apparat erst die Form gibt, was unser Gehirn und unser gesamtes Nerven­system ausbildet, das ist die schaffende Kraft des Denkens, und das ist zu­gleich die schaffende Kraft des Bildekräfte- oder Ätherleibes. Das ist die andere Seite.

Es bedarf noch nicht viel hellseherischer Kraft, um gewahr zu werden, wie im Menschen diese schaffende Kraft des Denkens als Wachstumskraft, als Bildekraft überhaupt wirkt. Man braucht nur, ich möchte sagen, den Ruck in sein Inneres zu machen, um sich bewußt zu werden, daß das Denken nicht bloß schattenhaftes Abbild der Außenwelt, sondern eine innere Tätigkeit ist. Man braucht sozusagen nur den Ruck zurückzuma­chen aus dem Hingewendetsein an die Außenwelt in das, was man inner­lich tut, was man denkt, dann wird man diese Aktivität des Denkens gewahr.

In diesem Erfassen der Aktivität des Denkens erfassen wir nun zu­nächst dasjenige, was menschliche Freiheit ist, und das Verstehen der Freiheit ist einerlei mit dem Erfassen dieser Aktivität des Denkens. Daher erfaßt man auch, indem man in dieser Weise die Aktivität des Denkens erfaßt, die Moralität, die den Menschen durchdringt und durchwellt und durchwebt.

Dieses Erfassen des Denkens als eines aktiven Elementes, dieses Erfas­sen des reinen Denkens gegenüber dem von den äußeren Sinnesbildern angefüllten Denken, diesen Ruck nach innen wollte ich begreiflich ma­chen in meiner «Philosophie der Freiheit», wollte begreiflich machen, wie der Mensch innerlich diese Aktivität des Denkens erfassen kann, wie er damit aber auch, durch diesen Ruck in sein Inneres, zum reinen, nicht sinnlichkeitserfüllten Denken die Moralität erfaßt als etwas, was im rei­nen Denken aufgehen kann, wie er damit aber auch wirklich das Frei­heitsbewußtsein erlangt.

So daß wir sagen können: Lassen wir das menschliche Denken, das uns zunächst in seinem ersten Aspekt schattenhafte Abbilder der sinnlichen Außenwelt zeigt, lassen wir das vor uns sich umdrehen, dann wird es die plastisch schaffende Kraft des Menschen selbst, dann wird es die innere Aktivität, dann wird es der Träger der Freiheit, dasjenige, in dem ge­wissermaßen abgefangen werden kann, was moralische Impulse in der menschlichen Wesenheit sind.

Auf diese Weise dringen wir vom physischen Leib auf geistige Art in den Äther- oder Bildekräfteleib vorwärts. Wir können also sagen : Die

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erste Stufe hinauf in die geistige Welt ist das wirkliche Erleben des Frei­heitsgefühles.

Und nun sehen wir uns das Traumbewußtsein an. Träume mögen noch so chaotisch sein, sie mögen Schreck- und Angstträume sein, sie mögen liebliche Träume sein, immer weben sie und leben sie in Bildern, die sie vor die Seele hinzaubern. Sehen wir ab von dem Trauminhalt, aber sehen wir hin auf die Traumdramatik, da sehen wir, wie die Seele gewissermaßen webt und lebt aufwachend oder einschlafend in diesen Traumesbildern.

Ja, da äußert sich eine gewisse Kraft der Seele. Möge man nun streiten darüber, inwiefern diese Bilder falsch oder richtig sind - daß diese Bilder geformt werden können, muß uns darauf hinweisen, daß da eine Kraft in der Seele ist, die diese Bilder formt. Das Traumbild wird durch eine innere Kraft der Seele vor diese Seele selbst hingestellt. Es liegt eine in­nerlich webende Kraft der Seele im Erbilden der Träume.

Schauen Sie hin auf den Moment des Aufwachens. Sie müssen verspü­ren, wie, auftauchend aus der Finsternis des Schlafes, diese innerlich we­bende Kraft vorhanden ist. Aber sie taucht unter in den physischen und in den Ätherleib. Sie würden fortträumen, wenn diese Kraft nicht unter-tauchen würde. Es ist die Kraft des astralischen Leibes. Der astralische Leib, der ohnmächtig ist, seiner selbst gewahr zu werden, wenn er außer­halb des physischen und des Ätherleibes ist, beginnt sich zu spüren, seine eigene Kraft zu empfinden, indem er aufwacht, indem er den Widerstand des physischen und des Ätherleibes fühlt beim Hineintauchen. Es nimmt sich chaotisch im Traume aus, aber es ist die eigene Kraft der Seele, die da gelebt hat vom Einschlafen bis zum Aufwachen und die jetzt unter-taucht. Ja, die traumbildende Kraft ergießt sich in den physischen und in den Ätherleib. Sie taucht hinunter in die Blutzirkulation, sie taucht hin­unter in die Muskelspannungen und -lösungen. Die traumhildende Kraft taucht auch in den Ätherleib ein. Dadurch wird diese traumbil­dende Kraft verstärkt. Allein ist sie schwach und ohnmächtig. Es huschen die Traumbilder nur so hin, wenn die traumbildende Kraft allein ist. Wenn die traumbildende Kraft aber sich einschaltet in den physischen und Ätherleib, sich bedient der Organe des physischen und Ätherleibes, wird sie stark.

Was tut sie, indem sie stark wird? Nun, sie bildet im Menschen die Er­innerung, das Gedächtnis aus. Erinnerung, Gedächtnis ist nichts anderes als die im physischen und Ätherleib verkörperte traumbildende Kraft.

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Der Traum taucht unter in den physischen Leib, wird dadurch in die Ordnung der physischen Welt eingeschaltet und bildet nun die nicht mehr chaotische, sondern die in die physische Welt eingeschaltete Erinne­rung, den Inhalt des Gedächtnisses.

Wir könnten uns an nichts erinnern, wenn wir nicht aus dem Schlafe den Traum mit seiner Kraft mitbrächten in den physischen Leib; denn in dem physischen Leibe wird die Traumeskraft zur Erinnerungs-, zur Gedächtniskraft.

Und wenn Sie still, abgekehrt von der äußeren Sinneswelt, dasitzen und Ihre Erinnerungen spielen lassen, Ihre Erinnerungen, die herauf-tauchen, beruhigen, beseligen, Ihre Erinnerungen, die die Phantasie an­regen - wenn Sie sie walten lassen, so ist es die durch den physischen und Ätherleib verstärkte Traumeskraft, die in Ihnen waltet, jene Traumes-kraft, die, als sie der astralische Leib draußen außer dem physischen Leib und Ätherleib hielt, in den Geist der Welt eingetaucht war und im Geiste der Welt die Geheimnisse der Dinge erlebte.

Würden Sie dieselbe Kraft, die in Ihrem Wachzustande die Erinne­rungskraft, das Gedächtnis bildet, schlafend entfaltet wahrnehmen au­ßerhalb des physischen und des Ätherleibes, so würden Sie nicht die chaotischen Bilder des Traumes haben, die sich nur im Momente des Untertauchens in den physischen und Ätherleib bilden, sondern Sie würden eingetaucht in die äußere Welt, befreit vom physischen und Ätherleib, schlafend sich selber erleben in einer majestätischen Bilderwelt.

Diese Bilderwelt wäre das kosmische Gegenbild dessen, was im einsa­men Sinnen in Ihren Erinnerungen auf- und absteigt. Ihr Erinnerungs-leben ist das mikrokosmische Gegenbild jenes makrokosmischen, gigan­tischen, majestätischen Bilderwebens und Bilderwogens, das unsere Traumkraft durchmacht, wenn der astralische Leib untergetaucht ist, statt in den physischen und in den Ätherleib, in die Dinge und Vorgänge des äußeren Kosmos.

Und wenn wir von dem geistigen Inhalte unserer Seele sprechen und vorzugsweise finden, daß dieser geistige Inhalt unserer Seele auf- und abwogt in dem, was aus den äußeren Eindrücken umgeformt uns in den Erinnerungen, im Gedächtnisinhalte lebt, der, angeeignet durch unser eigenes Inneres, im Grunde genommen alles Beseligende und alles Tra­gische, alles Freudige und alles Schmerzliche unseres Seelenlebens in uns ausmacht, wenn wir das alles, was hier als geistiger Inhalt in der Erinne­rung in unserer Seele lebt, ins Auge fassen, dann müssen wir uns klar

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werden, daß wir das dem Umstande verdanken, daß wir die traumbil­dende Kraft, die eigentlich kosmosverwandt ist, in unser Inneres unter-tauchen können, daß dasjenige, was in den Bildekräften draußen im Kosmos lebt, was draußen schafft und wirkt, verinnerlicht als die uns durchgeistigende, die unsere Seele durchgeistigende Erinnerungskraft vorhanden ist.

So fühlen wir uns verwandt in der Erinnerungskraft mit allen schaffen­den und wirkenden Kräften des Kosmos. Und wir dürfen sagen: Blicke ich hinaus, wie sich im Frühling die Bilder der Pflanzen entfalten, blicke ich in den Wald, wie sich durch Jahre, Jahrzehnte hindurch die Bäume aus ihren Keimen heraus entwickeln, blicke ich hinauf wie Wolken sich wandeln unter dem Einflusse der mehr äußerlichen Bildekräfte, blicke ich hinaus, wie sich Gebirge formen und wieder abtragen in der Welt, blicke ich auf alle diese Bildungskräfte, die bis zu den Sternen hinauf wirken : ich habe von alledem etwas Verwandtes in meiner eigenen Seele, ich habe die Erinnerungskräfte in meiner Seele, und diese sind das mikro-kosmische Abbild dessen, was da draußen in der Welt webt und wirkt in den Metamorphosen der Dinge.

Und nun betrachten wir das Ich, das ja auch im schlafenden Zustande den physischen und den Ätherleib verläßt und draußen sich mit den Din­gen und Vorgängen des Kosmos verbindet. Wir werden dann gewahr, wie wir als Menschen in der Lage sind, mit unserem eigentlichen Wesen, wenn das auch im Erleben außer uns unbewußt bleibt, unterzutauchen in die Dinge. Allerdings, das Ich selbst taucht aus dem tiefen Schlaf her­aus, taucht unter in den physischen und Ätherleib. Und hier ist es nur die geisteswissenschaftliche Initiation, die dem nachgehen kann. Während für die Erinnerung noch das Hineinschlüpfrn der Traumeskraft in den physischen Leib für die gewöhnliche Beobachtung einen Anhaltspunkt gibt, muß man mit der Imagination, wie sie ausgebildet werden kann im Sinne meines Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten ? », nun auch beobachten lernen, wie das vom Einschlafen bis zum Auf­wachen bei den Dingen und Vorgängen des Kosmos verweilende Ich un­tertaucht in den physischen und Ätherleib, wie nun auch dasjenige, was zunächst für die gegenwärtige menschliche Erdenentwickelung so ohn­mächtig ist, daß der Mensch im Schlafe wie in Finsternis, in die Finsternis seiner Seele eingetaucht ist, wie das, wenn es untertaucht in den physi­schen und Ätherleib, sich nun auch verstärkt im physischen und Äther-leib, wie es in Anspruch nimmt die Bahnen des physischen und Ätherleibes

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und die innerste Kraft des Blutes ergreift, durch die innerste Kraft des Blutes wirkt.

Und auch das hat seine Erscheinung im wachen Tagesbewußtsein. Das Ich, untertauchend in den physischen und den Ätherleib, äußert sich dann. Das Ich ist dasjenige, was im Menschen als das Freie wirkt und webt, es kann sich äußern, es kann sich nicht äußern. Aber wenn es sich äußert, was ist seine charakteristischste Äußerung am Menschen? Das ist die im Menschen erscheinende Kraft der Liebe.

Niemals würden wir die Fähigkeit haben, in der Liebe aufzugehen in einem anderen Wesen oder einem anderen Vorgang, gewissermaßen hin-überzugehen in diesen anderen Vorgang, wenn nicht das Ich auch all-nächtlich aus uns real herausgehen würde, um in die Dinge und Vor­gänge des Kosmos draußen unterzutauchen. Da taucht es in Wirklichkeit unter. Indem es in uns hineinschlüpft im tagwachenden Bewußtsein, er­teilt es uns durch die Fähigkeit, die es draußen erlangt hat, innerlich die Kraft zu lieben. Dies ist es, was als dreifache Kraft der Seele in ihrem tief­sten Inneren auftaucht: Freiheit, Erinnerungsleben, Liebeskraft.

Freiheit, die innerliche Urgestalt des ätherischen oder Bildekräfteleibes. Erinnerungskraft, die innerlich auftretende traumbildende Kraft des astralischen Leibes. Liebe, die innerlich auftretende, den Menschen zur Hingabe an die Außenwelt führende Liebekraft.

Dadurch, daß die menschliche Seele dieser dreifachen Kraft teilhaftig werden kann, durchdringt sie sich mit dem Geistesleben. Denn diese drei­fache Durchdringung mit dem Freiheitsempfinden, mit der Erinnerungs-kraft, durch die wir zusammenhalten Vergangenheit und Gegenwart, durch die Liebekraft, durch die wir unser eigenes Innere der Außenwelt hinzugeben vermögen und eins werden können mit der Außenwelt, durch das Innehaben dieser drei Kräfte der Seele wird diese unsere Seele durch­geistet.

Dieses mit der richtigen Seelennuance begriffen, bedeutet begreifen, was es heißt: der Mensch trägt in seiner Seele den Geist in sich. Und wer nicht so versteht diese dreifache innere Durchgeistigung der Seele, der versteht nicht, wie die Seele des Menschen den Geist birgt.

Das dehnt sich dann auf das Leben aus. Wenn wir imstande sein wer­den, eine innerliche Verbindung lebendig herzustellen zwischen der Er­innerung und der Liebe - die in uns waltende Erinnerung durch den astra­tischen Leib, die Liebe durch das Ich -, dann wird in bestimmten Fällen ein Wunderbares dadurch zu erreichen sein.

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So werden diese Dinge unmittelbar im Leben ergriffen. Wir bewahren einem geliebten Toten die Erinnerung über den Tod hinaus. Wir tragen sein Bild in unserer Seele, das heißt, wir fügen zu den sinnlichen Ein-drücken, die wir von ihm während des Lebens erhalten haben, dasjenige, was uns bleibt, wenn uns sein sinnliches Dasein entzogen worden ist. Wir setzen in der Erinnerung mit aller Kraft und Intensität unserer Seele das Leben mit dem Toten fort, so fort, daß wir nun nicht mehr eine Unter­stützung haben durch die äußeren Sinneseindrücke, und wir versuchen, bis zu einer solchen Lebendigkeit diese Erinnerungen zu bringen, daß es uns vorkommen mag, als sei der Tote in unmittelbarer Lebendigkeit da. Wir bleiben uns bewußt, daß wir das in unserer Erinnerung tragen, aber wir verbinden nachher diese Kraft, die uns durch eine Verstärkung unseres astralischen Leibes wird, mit derjenigen Kraft, die wir durch unser Ich haben, mit der Liebekraft. Wir erhalten über das Grab hinaus dem Toten die intensive Liebe. Wir machen uns fähig, die Liebekraft mit dem Bilde, das keine sinnliche Anregung mehr erhält, so zu verbinden, wie wir sonst unter der sinnlichen Anregung die Liebekraft haben ent­wickeln können.

Da ist dann eine Verstärkung dessen möglich, was sonst der astralische Leib und das Ich nur äußern, wenn sie sich der Organe des physischen Leibes bedienen. Gerade wenn wir dem Toten die Erinnerung bewahren, die nicht mehr durch den physischen Leib und durch den ätherischen Leib in uns angeregt werden kann, wenn wir diese Erinnerung so rege und lebendig erhalten können, daß wir mit ihr eine intensive Liebe ver­binden können, dann ist das ein Weg, wachend innerlich loszureißen bis zu einem gewissen Grade astralischen Leib und Ich, und gerade in dem Gedächtnisse, das wir dem Toten zu bewahren vermögen, liegt eine der ersten Stufen zum Freiwerden des Ichs und des astralischen Leibes vom physischen und Ätherleib während des wachenden Zustandes.

Würden die Menschen begreifrn, was das Lebendigerhalten der Er­innerung bedeutet, was es bedeutet, das Bild, das von dem Toten ge­blieben ist, so zu betrachten, wie man es lebendig betrachtet hat, dann würden sie gerade auf diesem Wege, der über die Schwelle, die da liegt zwischen der physischen und der geistigen Welt, führt, das Freiwerden des astralischen Leibes und des Ich erleben, jenen Ruck, der das folgende Erlebnis in sich schließt: Wir haben zuerst die Erinnerung, lebendig, wie wenn der Tote noch da wäre; wir wissen, daß durch unser wachendes Bewußtsein wir mit dem Bilde des Toten die Liebe verbinden, die wir

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sonst nur gehabt haben, wenn wir die sinnlichen Eindrücke von ihm empfangen haben. Das alles machen wir in uns rege und lebendig. Der Ruck erfolgt, wenn wir die nötige innere Stärke zu entwickeln vermögen. Der Ruck erfolgt, wir überschreiten die Schwelle in die geistige Welt. Der Tote kann da sein in seiner Wirklichkeit.

Es ist das einer der Wege des Menschen in die geistige Welt hinein. Er ist verbunden mit demjenigen, wovor man nur Ehrfurcht haben kann, was man sogar erkennend in Ehrfurcht und mit einer gewissen inneren ernsten Haltung erleben kann.

Wenn man all den Ernst auf seine Seele wirken läßt, der mit solchen Vorstellungen verknüpft sein kann, wie ich sie eben jetzt für den einen Fall des Überschreitens der Schwelle in die geistige Welt vor Sie hinge-stellt habe, wenn Sie sich diesen Ernst vergegenwärtigen, dann haben Sie aber zugleich eine Vorstellung von all dem Ernste, der verbunden sein muß überhaupt mit dem Hineinschreiten in die geistige Welt. Das Leben muß uns gewissermaßen durch unseren eigenen Willen seinen tiefrn Ernst gezeigt haben, wenn wir wahrhaftig in die geistige Welt hinein-schreiten wollen, ja, wenn wir nur wirklich im Ernste die geistige Welt begreifrn wollen.

Das ist es, was die Initiationswissenschaft zu allen Zeiten in die äußere Zivilisation hat hineingießen wollen. Das ist es, was aber auch unsere so veräußerlichte Zeit wiederum braucht.

Denn es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß dem Menschen heute die dogmatische Wissenschaft mehr wert ist als die Wirklichkeit. In jeder sittlichen Handlung kann sich der Mensch seiner Freiheit bewußt sein. Und geradeso, wie wir rot oder weiß erleben, so erleben wir eigentlich als Menschen wirklich die Freiheit. Aber wir leugnen sie. Wir leugnen sie unter der Autorität der gegenwärtigen Wissenschaft. Warum? Weil die gegenwärtige Wissenschaft nur auf das Mechanische hinschauen will, wo immer das Frühere die Ursache des Späteren ist. Und da diktiert dog­matisch diese Wissenschaft : alles muß seine Ursache haben. Die Kausa­lität diktiert sie dogmatisch, und weil die Kausalität richtig sein muß, weil man auf die Kausalität dogmatisch schwören will, deshalb betäubt man sich über das Gefühl der Freiheit. Die Wirklichkeit wird in Nacht ge­taucht, um das Dogma aufrecht zu erhalten, in diesem Falle das Dogma der äußeren, eine so starke Autorität ausübenden Wissenschaft.

Die Wissenschaft schafft das Leben ab. Denn würde sich das Leben seiner selbst gewahr werden im Menschen, so würde dieses Leben in der

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Aktivität des Denkens unmittelbar die Freiheit ergreifen. Und so ist die rein äußere auf die Kausalität bauende Wissenschaft die große Töterin des Lebensgefühles im Menschen geworden. Dessen muß man sich bewußt sein.

Kann man denn hoffen, daß, wenn der Mensch sich innerlich abschafft das Freiheitserlebnis, er dann weiter vordringen kann zu der Geistform, zu der Geistgestalt der Erinnerung? Kann man hoffen, daß der Mensch, so wie er sonst das Rote Offenbarung der roten Rose sein läßt, er so die Erinnerung sein läßt dasjenige, was in ihm offenbart die im Weltenall webende und wirkende Traumeskraft? Kann man hoffen, daß der Mensch eine Überzeugung gewinnen kann für die zweite Stufe, wenn er auf der ersten Stufe das Freiheitsgefühl tötet durch das sogenannte Kau­salitätsdogma? Dadurch versäumt es der Mensch, in die Geistigkeit der eigenen Seele hineinzuschauen. Dadurch dringt er auch nicht hinunter bis dorthin, wo ihm klar wird, daß er außer der Fähigkeit, schlafend draußen unter den Dingen zu leben, im geistigen Ich die Fähigkeit er­langt, durch seinen Geist zu lieben. Der letzte Grund der Liebe liegt in dem geistdurchwebten Ich, das untertaucht in den menschlichen phy­sischen und ätherischen Organismus. Und die Geistigkeit der Liebe er­kennen, heißt in einem gewissen Falle überhaupt den Geist erkennen. Wer die Liebe erkennt, erkennt auch den Geist. Aber er muß in der Er­kenntnis der Liebe bis zu dem inneren Geisterlebnis der Liebe vordrin­gen. Gerade darin ist unsere Zivilisation in die falscheste Bahn gekommen.

Die Erinnerung ist ein Weben und Leben im Seeleninneren, und da stellen sich die Unterschiede nicht so klar und tief vor Augen. Nur my­stische Geister, Swedenborg, Meister Eckhart, Johannes Tauler empfin­den, indem sie sich in ihre Erinnerungen versenken, das Weben und Le­ben des Geistig-Ewigen in dieser Erinnerung, sprechen von dem zünden-den Fünklein, das da aufleuchtet im Menschen, wenn er gewahr wird in der Erinnerung, daß ja in dieser Erinnerung dasselbe innerlich mikro­kosmisch lebt, was in den schaffenden, bildenden Kräften, die traumhaft zugrunde liegen allem Weltendasein, draußen wirkt und webt. Da sind die Dinge nicht so deutlich.

Aber deutlich werden sie, wenn wir auf die dritte Stufe gehen, wenn wir sehen, wie in der dritten Stufe unsere Zivilisation verkannt hat das ursprünglich geistige Wesen und Weben der Liebe. Alles, was geistig ist, hat selbstverständlich seine äußere sinnliche Form, denn es taucht der Geist unter in die Physis. Er verkörpert sich in der Physis. Vergißt er dann seiner selbst, wird er nur die Physis gewahr, dann glaubt er, daß dasjenige,

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was geisterregt ist, bloß durch die Physis erregt ist. In diesem Wahn lebt unsere Zeit. Sie kennt nicht die Liebe. Sie phantasiert nur von der Liebe, ja, lügt von der Liebe. Sie kennt in der Wirklichkeit nur die Erotik, wenn gedacht wird über die Liebe. Ich will nicht sagen, daß nicht der Einsame die Liebe erlebt, denn der Mensch verleugnet in seinem unbe­wußten Fühlen, in seinem unbewußten Wollen viel weniger den Geist als bei seinem Denken - wenn aber die gegenwärtige Zivilisation über die Liebe denkt, dann spricht sie nur das Wort Liebe, dann redet sie eigent­lich von Erotik. Und man kann schon sagen : Gehe man die gegenwärtige Literatur durch, überall, wo zum Beispiel im Deutschen Liebe steht, sollte eigentlich das Wort Erotik gesetzt werden. Denn das ist es, was das in den Materialismus getauchte Denken allein kennt von der Liebe. Es ist die Verleugnung des Geistes, welche die Liebeskraft zur erotischen Kraft macht. Auf vielen Gebieten ist nicht nur an die Stelle des Genius der Liebe, ich möchte sagen, sein niederer Diener, die Erotik getreten, sondern anvielen Stellen ist nun auch das Gegenbild, derDämon derLiebe getreten. Der Dämon der Liebe aber entsteht, wenn das, was sonst gottgewollt im Menschen wirkt, durch das menschliche Denken in Anspruch genommen wird, durch die Intellektualität abgerissen wird von der Geistigkeit.

So daß der absteigende Weg der ist: Man erkennt den Genius der Liebe, man hat die durchgeistigte Liebe. Man erkennt den niederen Die­ner, die Erotik. Man fällt aber in den Dämon der Liebe. Und der Ge­nius der Liebe hat seinen Dämon in dem Interpretieren, nicht in der wirk­lichen Gestalt, aber in dem Interpretieren der Sexualität durch die heu­tige Zivilisation. Wie wird heute schon nicht nur von der Erotik gespro­chen, wenn man an die Liebe herankommen will, sondern nurmehr von der Sexualität!

In diesem Reden der Zivilisation über die Sexualität ist, man kann schon sagen, vieles von dem eingeschlossen, was als sogenannter Unter­richt über die Sexualität heute angestrebt wird. In diesem heutigen intel­lektualisierten Reden über die Sexualität lebt die Dämonologie der Liebe. Wie auf einer anderen Stufe der Genius, dem das Zeitalter folgen soll, in seinem Dämon erscheint, weil der Dämon ja eintritt, wo man den Ge­nius verleugnet, so ist es auch auf diesem Gebiete, wo das Geistige in sei­ner intimsten Form, in der Liebeform, erscheinen soll. Unser Zeitalter betet oft, statt zu dem Genius der Liebe, zu dem Dämon der Liebe, und verwechselt dasjenige, was Geistigkeit der Liebe ist, mit der Dämonologie der Liebe in der Sexualität.

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Gerade auf diesem Gebiete können natürlich die vollständigsten Miß­verständnisse entstehen. Denn was in der Sexualität ursprünglich lebt, ist durchdrungen von der geistigen Liebe. Aber die Menschheit kann her­unterfallen von dieser Durchgeistigung der Liebe. Und sie fällt am leich­testen herunter in dem intellektualistischen Zeitalter. Denn wenn der In­tellekt diejenige Form annimmt, von der ich gestern gesprochen habe, dann wird das Geistige der Liebe vergessen, dann wird nur ihr Äußeres in Betracht gezogen.

Es ist in des Menschen Macht, möchte ich sagen, daß er sein eigenes Wesen verleugnen kann. Er verleugnet es, wenn er von dem Genius der Liebe heruntersinkt zu dem Dämon der Sexualität - wobei ich eben durchaus die Art des Fühlens über diese Dinge verstehe, wie sie zumeist in der Gegenwart vorhanden ist.

Wenn wir dies ins Auge fassen, dann werden wir uns sagen müssen :

Nicht etwa bloß für unsere Erkenntnis, sondern für unser innerstes Seelen-wesen und Seelenleben, für das Wiederfinden des Geistes im Innern der Seele kann uns Anthroposophie Führerin sein. Denn mit Anthroposophie können wir intim werden. Und intim werden wir mit ihr, wenn wir sie zu nehmen verstehen in ihrer Realität.

Es ist heute in irgendeiner äußerlichen Weise hingedeutet worden dar-auf, daß man ein Bild oder dergleichen ausbilden sollte von der Anthropo­sophie. Ja, ist sie denn nicht in ihrer Realität da? Brauchen wir noch ein Bild? Aber was wir bedürfen, das ist : durch unsere eigene innerliche Ehr­lichkeit intim werden mit Anthroposophie. Dann dringt sie in das inner­ste Gewebe unseres Seelenlebens und Seelenwesens ein. Nicht in einer äußerlichen Weise sollen wir versuchen, uns ein Bild zu machen. Aber innerlich sollen wir intim werden mit dieser lebendigen Wesensgestalt, die als Anthroposophie, ich möchte sagen, überall zwischen unseren Reihen hindurchgehen soll, wenn wir als Menschen, die solche Dinge verstehen, vereint sind.

Wenn wir also mit Anthroposophie als einer realen Wesenheit, die unter uns herumgeht in einem höheren Sinne, real selbst leben, wenn wir Menschen real sind, wenn wir mit dieser Anthroposophie intim werden, dann wird in uns der Impuls aufgehen, das wirklich zu erleben, was die Menschheit so sehr nötig hat, zu erleben in unserem Zeitalter: nicht bloß für das Seelenauge ein Bild, sondern für das Herz eine Liebe zum Wesen Anthroposophie. Das ist es, was wir brauchen, und das wird am meisten ein Impuls unseres Zeitalters sein können.

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Damit aber habe ich versucht, hinzuzufügen zu der gezeichneten physischen Perspektive der Anthroposophie und zu der gezeichneten see­lischen Perspektive die geistige Perspektive. Die geistige Perspektive ist nicht ein äußerliches Verfolgen des Geistes, die geistige Perspektive ist im Gegenteil gerade das Erleben der Anthroposophie im tiefsten, intimsten Inneren der menschlichen Seele und des menschlichen Herzens. Und dieses tiefe intime Erleben von Anthroposophie in der menschlichen Seele und im menschlichen Herzen, das ist jene Meditation, die uns hinführt zur Begegnung, zur realen Begegnung mit Anthroposophie.

Damit ist versucht, die drei Perspektiven, welche die Anthroposophie eröffnen kann, hinzustellen : die physische, die seelische, die geistige Per­spektive.

DIE TRAUMESWELT ALS EINE ÜBERGANGSSTRÖMUNG ZWISCHEN DER PHYSISCH-NATÜRLICHEN WELT UND DER WELT DER SITTLICHEN ANSCHAUUNGEN Dornach, 22. September 1923

#G225-1961-SE158 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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DIE TRAUMESWELT ALS EINE ÜBERGANGSSTRÖMUNG

ZWISCHEN DER PHYSISCH-NATÜRLICHEN WELT UND

DER WELT DER SITTLICHEN ANSCHAUUNGEN

Dornach, 22. September 1923

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Wenn man das, was man als die Stufen des Weges in die geistige Welt hinein kennenlernen kann, einordnen will in dasjenige, was einem aus dem gewöhnlichen Leben schon bekannt ist, so handelt es sich darum, daß man die drei Bewußtseinszustände, in denen der Mensch schon im gewöhnlichen Leben ist, in der richtigen Weise zu beurteilen vermag. Diese drei Bewußtseinszustände haben wir ja immer wiederum beschrie­ben: Wachen, Träumen, Schlafen. Und wir wissen auch, wie eigentlich ein wirkliches Wachen für den Menschen nur vorhanden ist in seinem Denken, in seinem Vorstellen, wie schon das Gefühl so wirkt, daß es zwar in seinen Erlebnissen anders aussieht als die Traumeswelt, daß es aber doch in seiner ganzen Verfassung, in der Art und Weise, wie es zum Menschen steht, gleich ist der Traumeswelt. Man erlebt die Ge­fühle im gewohnlichen Bewußtsein in einer ebenso unbestimmten Art wie die Träume, aber nicht nur in einer so unbestimmten Art, sondern gewissermaßen auch in einem solchen Zusammenhang wie die Träume.

Der Traum reiht Bild an Bild. Er kümmert sich nicht, indem er Bild an Bild reiht, um die Zusammenhänge in der Außenwelt. Er hat seine eigenen Zusammenhänge. Ebenso ist es im Grunde genommen mit der Gefühlswelt. Und derjenige Mensch, der für das gewöhnliche Bewußt­sein eine solche Gefühlswelt hätte, wie er eine Vorstellungswelt hat, der wäre ja ein furchtbarer Nüchterling, ein schrecklich trockener, eisiger Mensch. In der Vorstellungswelt, also im vollständigen Wachsein, muß man auf das sehen, was im gewöhnlichen Sinne die Logik ist. Man würde unmöglich im eigentlichen Leben weiterkommen, wenn man alles das auch so fühlen würde, wie man es denkt.

Und dann haben wir ja öfter erwähnt: Der Wille, der taucht aus ver­borgenen Tiefen des Menschendaseins auf Er kann vorgestellt werden, aber sein eigentliches Wesen, wie es da wirkt und webt im menschli­chen Organismus, das bleibt eigentlich dem Menschen so unbekannt oder unbewußt wie die Erlebnisse des Schlafes selber. Und es wäre auch zunächst für den Menschen in einer außerordentlich starken Weise

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bestürzend, wenn er dasjenige erleben würde, was der Wille eigentlich tut.

Der Wille ist in Wirklichkeit ein Verbrennungsprozeß, ein Aufzeh­rungsprozeß. Und immer wahrzunehmen, wie eigentlich im Wollen man seinen Organismus aufzehrt, das Aufgezehrte immer wieder ersetzen muß durch Nahrung oder Schlaf das wäre, wenn es das ganze Wachleben be­gleiten würde, eben zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein kein ganz behaglicher Prozeß.

Nun können wir also in einem gewissen Sinne nebeneinanderstellen die Gefühlswelt des Menschen im Wachzustande, gewissermaßen das wachende Träumen, und die Traumwelt im schlummertrunkenen oder halbschlafenden Zustande, in ihren Bildern, mehr so, daß der Mensch diese Bilder ja zunächst nicht als Ich empfindet, sondern als etwas, was Außenwelt ist. Der träumende Mensch empfindet das, was sich als Traum-bilder abspielt, so stark sogar als eine Außenwelt, daß er zuweilen sich selber innerhalb dieser Traumbilder wahrnehmen kann.

Was uns aber heute an diesen Traumbildern besonders interessieren soll, das ist dieses: Nicht wahr, wir durchleben das gewöhnliche Leben, Erlebnis stellt sich neben Erlebnis hin. Der Traum schüttelt diese Erleb­nisse durcheinander. Er beachtet wenig, was der Mensch im wachenden Dasein als Zusammenhang der Erlebnisse hat. Er ist ein Dichter, der die merkwürdigsten Neigungen entfaltet.

Ein Philosoph erzählte von sich, er träume sehr häufig, daß er ein Buch geschrieben habe, das er in Wirklichkeit nicht geschrieben hat, aber im Traum glaubte er, daß er das Buch geschrieben habe, das Buch, das besser sei als alle seine übrigen Bücher. Doch gleichzeitig träumt ihm, daß das Manuskript verlorengegangen ist. Er kann es nicht finden, er hat es verlegt. Und nun eilt er von Schublade zu Schublade, alles durchsucht er im Traum, er findet das Manuskript nicht. Es beschleicht ihn im Traum ein ungeheuer unbehagliches Gefühl, daß er just dieses Manuskript seines allerbesten Buches verloren habe und vielleicht nicht wieder finden könne. Über diesem Unbehagen wacht er dann auf. Na­türlich ist das schon ein Erlebnis, gerade bei dem Philosophen, den ich meine, der viele Bücher geschrieben hat. Sie sind in so großer Anzahl er­schienen, daß einmal, als ich einen Besuch bei diesem Philosophen mach­te, wo auch die Frau des Philosophen anwesend war, mir die Frau sagte:

Ja, mein Mann, der schreibt so viele Bücher, daß immer eines dem an­deren Konkurrenz macht.

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Es war nämlich im Hause dieses Philosophen imluer auch ein merk-würdig praktischer Sinn, so daß ich einmal, als ich mit einem Verleger einen Besuch machte bei diesem Philosophen, eigentlich etwas ärgerlich wurde, denn ich wollte mit ihm erkenntnistheoretische Probleme be­sprechen. Nun hatte ich den Verleger mitgeschleppt, eigentlich hatte er sich mitgeschleppt, und der Philosoph fing nun gleich an : Können Sie aus Ihrer Sachkenntnis heraus mir sagen, ob sehr viele Exemplare dieses oder jenes Werkes - welches, habe ich jetzt vergessen - von mir bei den Antiquaren zu haben sind? - Also es war ein sehr praktischer Sinn ge­rade im Hause dieses Philosophen. Ich will das gar nicht verachten, ich erzähle es nur als etwas Charakteristisches. Nun, irgendein anderer hätte vielleicht etwas anderes geträumt, was ebenso die Erlebnisse ins Phan­tastische koloriert.

Es wird jeder wissen können, daß der Traum nicht so vor sich geht wie das äußere Erleben, sondern daß andere Zusammenhänge geschaffen werden im Traume. Aber auf der anderen Seite wird auch das jeder wissen können, wie der Traum doch in einem innigen Zusammenhange steht mit dem, was der Mensch eigentlich ist. Es ist ja tatsächlich so, daß viele Träume eigentlich nur Abspiegelungen sogar des körperlichen menschlichen Inneren sind, und man webt schon im Traume als in etwas, das mit einem in einem innigen Zusammenhange steht.

Nun wird man ja nach und nach wirklich gewahr, wie der Traum die Erlebnisse in seiner Art zusammenstellt. Wenn man sich das ganz deut­lich vorhält, so kommt man allmählich darauf zu wissen, in diesem Träumen lebt man doch selbst. Nur lebt man in diesem Träumen eben in den Zeiten, wo man entweder gerade herausgeht aus dem physischen Leib und dem Ätherleib, oder wo man wiederum hinein zurückkehrt. Immer in diesen Übergängen zwischen Wachen und Schlafen, Schlafen und Wachen spielt sich eigentlich der Traum ab. Ich habe wiederholt Beispiele angeführt, die zeigen, daß das Hauptsächlichste des Traumes sich während des Aufwachens und Einschlafens abspielt. Ich habe ja unter den charakteristischen Beispielen dieses angeführt - Sie erinnern sich daran -, wie ein Student träumt, daß zwei Studenten an der Türe eines Hörsaales stehen. Da sagt der eine etwas zu dem anderen, was nach dem Ding, das man Komment nennt, unbedingt Satisfaktion for­dert. Es kommt zum Duell. Es wird alles lebendig geträumt, das Hinaus­gehen zum Duell, zuerst noch das Wählen der Sekundanten und so weiter, bis es zum Losschießen kommt. Er hört noch den Knall, aber es

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verwandelt sich der Knall sofort, indem er aufwacht, in den Schlag, den ein Stuhl, den er in diesem Momente umgeworfen hat, gemacht hat. Also in diesem Momente wacht er ja schon auf Dieser Fall des Stuhles hat den ganzen Traum ausgelöst. Der Traum verfließt also im Momente des Aufwachens, stellt sich nur so, da er seine eigene Zeit in sich hat, also nicht etwa die Zeit, die er dauern würde. Manche Träume dauern ja nach ihrer inneren Zeit so lange, daß man gar nicht so lange schläft, als man schlafen müßte, wenn der Traum die Zeit, die er in sich trägt, entsprechend dauern würde. Dennoch, der Traum steht in innigem Zu­sammenhange mit dem, was der Mensch innerlich erlebt, aber innerlich erlebt bis in seinen physischen Leib hinunter.

Solche Dinge haben ja die Menschen der älteren Zeiten recht gut gewußt, und für eine gewisse Art von Träumen - Sie können das selbst in der Bibel lesen - sagten die alten Juden: Gott hat dich in deinen Nie­ren gestraft. - Man wußte also, daß mit der Funktion der Niere eine ganz bestimmte Art von Träumen zusammenhängt. Auf der anderen Seite brauchen Sie ja nur so etwas wie «Die Seherin von Prevorst» nach­zulesen, und Sie werden finden, wie Menschen tatsächlich die Schad­haftigkeit ihrer Organe aus dem Traum beschreiben, Menschen, die be­sonders dazu veranlagt sind, so daß also irgendein krankhaftes Organ symbolisch in mächtigen Bildern zur Anschauung kommt, was dazu füh­ren kann, daß dann sich neben dieses krankhafte Organ zugleich das Heilmittel hinstellt. In älteren Zeiten wurde dies sogar benützt, um in einer gewissen Beziehung den Kranken selbst dazu zu veranlassen, sein Heilmittel aus seiner eigenen Traumeserklärung anzugeben. Und das­jenige, was in dem Berechtigten des Tempelschlafes geübt wurde, muß nach dieser Richtung hin auch studiert werden.

Wenn man dieses ganze Verhältnis des Traumes zu den äußeren Er­lebnissen sich anschaut, muß man eben sagen: Der Traum protestiert ge­gen die Naturgesetze. Nach Naturgesetzen leben wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Der Traum kehrt sich nicht an diese Naturgesetze. Der Traum dreht gewissermaßen den Naturgesetzen eine Nase. Und das, was als Naturgesetze für die äußere physische Welt erforscht wird, ist nicht die Gesetzmäßigkeit des Traumes. Der Traum hat in sich einen lebendigen Protest gegen die Naturgesetze. Frägt man auf der einen Seite die Natur, was wahr ist, so antwortet sie in Naturgesetzen. Frägt man den Traum, was wahr ist, so antwortet er nicht in Naturgesetzen. Und derjenige, der nach den Naturgesetzen einen Traumverlauf beurteilt,

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wird eben sagen, der Traum lügt. In diesem gewöhnlichen Sinn lügt er ja auch. Aber er kommt heran, dieser Traum, an das Geistig-Übersinnliche im Menschen, wenn auch die Bilder des Traumes dem Unterbewußtsein, wie man abstrakt sagen kann, angehören, und man beurteilt ihn nicht richtig, wenn man nicht weiß, er kommt an die innere geistige Wirklichkeit des Menschen heran.

Nun, das ist aber bereits etwas, was in unserer Zeit schwer zugegeben wird. Man will den Traum verabstrahieren. Man will ihn nur seiner Phantastik nach beurteilen. Man will nicht darauf sehen, daß man doch im Traume etwas vor sich hat, was mit dem Inneren des Menschen in einem Zusammenhang steht. Nicht wahr, wenn der Traum in einem ge­wissen Sinne mit dem Innern des Menschen in einem Zusammenhang steht und gegen die Naturgesetze protestiert, dann ist das ein Zeichen dafür, daß das Innere des Menschen selber etwas ist, was gegen die Na­turgesetze protestiert.

Ich bitte Sie, aufzufassen, daß dies ein gewichtiges Wort ist, daß, wenn man an den Menschen herankommt, sein Inneres eigentlich gegen die Naturgesetze protestiert. Denn was bedeutet das?

Wenn heute die naturforscherische Denkungsweise aus dem, was drau­ßen in der Natur ist, laboratoriumsgemäß die Naturgesetze beobachtet, dann tritt diese naturforscherische Weltanschauung auch an den Men­schen heran und behandelt ihn so, wie wenn sich die Naturgesetze in ihm auch in seinem Inneren, ich möchte besser anschaulich sagen, im Innern seiner Haut fortsetzen würden. Das ist aber gar nicht der Fall. Diesem Innern steht der Traum mit seiner Verleugnung der Naturge­setze viel näher als die Naturgesetze; das menschliche Innere ist so, daß es eben nicht nach Naturgesetzen handelt und seine Tätigkeiten entfal­tet. Dafür ist der Traum, der in gewissem Sinne in seiner Zusammenstel­lung ein Abbild dieses menschlichen Inneren ist, ein Zeugnis. Und für den, der dies versteht, ist es einfach so, daß er sagen muß, es ist eigentlich ein Unding, zu glauben, daß innerhalb des Herzens, der Leber, dieselben Gesetze herrschen, wie äußerlich in der Natur. Zu der äußeren Natur gehört die Logik. Zu dem Innern des Menschen gehört der Traum, und wer den Traum phantastisch nennt, der soll nun auch gleich das mensch­liche Innere phantastisch nennen. Er kann das ja empfinden; denn wie dieses menschliche Innere verläuft zwischen Geburt und Tod hier im irdischen Leben, wo aus irgendeiner Ecke eine Krankheit auftaucht, aus einer anderen Ecke ein Wohlbefinden, das ist dem Traum viel ähnlicher

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als der äußeren Logik. Aber unserer heutigen Denkweise fehlt ganz und gar diese Art, an das menschliche Innere heranzukommen, denn unsere heutige Denkweise ist ganz eingesponnen in dem, was man beobachtend in der äußeren Natur oder im Laboratorium vollführt. Man will durch­aus das auch im menschlichen Inneren finden.

In dieser Beziehung ist ja wirklich von einer großen Bedeutung, daß man zum Beispiel wissen lernt, wie die Art, wie heute oftmals dasjenige, was im Physischen des Menschen eine Rolle spielt, von der Wissenschaft behandelt wird. Man weiß, zum menschlichen Leben gehört Eiweiß, ge­hören Fette, gehören Kohlehydrate und gehören Salze - im wesentli­chen natürlich. Das weiß man. Was tut nun die Wissenschaft? Sie ana­lysiert das Eiweiß, findet darin soundso viel Sauerstoff, soundso viel Stickstofl, soundso viel Kohlenstoff prozentual; sie analysiert die Fette, die Kohlehydrate und so weiter. Man weiß jetzt, wie viel da in allem drin­nen ist. Aber Sie lernen aus einer solchen Analyse niemals, welchen Einfluß zum Beispiel die Kartoffel in der europäischen Kultur gespielt hat. Es ist auch wenig die Rede von diesem Einfluß der Kartoffelnahrung auf die eu­ropäische Kultur, denn aus dieser Analyse, wo Sie einfach finden, wie an­ders Kohlenstoff, Stickstoff und so weiter verteilt sind in dem einen Nah­rungsmittel und in dem andern, finden Sie niemals heraus, warum zum Beispiel Roggen vorzugsweise durch die Kräfte des Unterleibes verdaut wird, dagegen die Kartoffel bis ins Gehirn herauf Kräfte zu ihrer Ver­dauung in Anspruch nimmt, so daß der Mensch, wenn er übermäßig Kartoffel ißt, sein Gehirn dazu verwenden muß, die Kartoffel zu ver­dauen, daher ihm etwas von der Gehirnkraft verlorengeht für das Denken.

Gerade an solchen Dingen merkt man, wie weder die heutige materia­listisch gesinnte Wissenschaft noch die mehr theologisch gefärbten An­schauungen an die Wahrheit herankommen. Die Wissenschaft be­schreibt die Nahrungsmittel ungefähr so, wie wenn ich eine Uhr be­schreiben wollte, und nun fange ich an: Das Silber wird im Silberberg-werk gewonnen; das macht man so und so. Dann lädt man das Silber auf, man verfrachtet es in die Städte und so weiter. Aber man macht Halt beim Uhrmacher. In dessen Werkstätte schaut man nicht mehr hinein. Dann, nicht wahr, beschreibt man vielleicht das Zifferblatt aus Porzellan, wie das Porzellan fabriziert wird. Wiederum macht man halt vor der Werkstätte des Uhrmachers. So verfährt die heutige Wis­senschaft mit den Nahrungsmitteln. Sie analysiert sie. Damit sagt sie et­was, was eigentlich für die Bedeutung der Nahrungsmittel im menschlischen

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Organismus gar nichts gibt, denn es ist ein großer Unterschied, trotz aller Analyse, ob man von irgend etwas die Frucht genießt, zum Beispiel von Roggen oder Weizen, oder ob man die Knollen genießt, wie bei den Kartoffeln.

Knollen fügen sich in den menschlichen Organismus ganz anders ein als die Früchte, als die Samen. So kann man wirklich sagen, diese heutige Denkweise durchschaut gar nicht mehr das materielle Dasein. Daher ist der Materialismus diejenige Weltanschauung, die die Materie in ihren Wirkungen gar nicht kennt. Da muß schon die Geisteswissenschaft hin-einleuchten, damit man die Materie kennenlernt. Deshalb sagen die ma­terialistisch wissenschaftlich Gesinnten : Die Anthroposophie ist phanta­stisch geistig. Und diejenigen, die Theosophie oder Theologie haben und stehenbleiben wollen beim abgezogenen Geist, der niemals zum wirkli­chen Schaffen kommt, bei dem es niemals so weit kommt, daß er nun wirklich zeigt, wie er eingreift als Geist in die materiellen Wirkungen, die sagen, die Anthroposophie ist materialistisch, weil sie ihre Erkennt­nisse bis zu der Materie hinbringt.

Und so wird man eigentlich angegriffen von zwei Fronten her, sowohl von denen, die alles ideell abstrakt behandeln, wie von denen, die alles materiell behandeln. Aber die einen, die alles ideell abstrakt behandeln, lernen den Geist nicht kennen, und die anderen, die alles materiell be­handeln, lernen die Materie nicht kennen. Auf diese Weise bildet sich heute immer mehr und mehr eine Denkweise heraus, die an den Men­schen gar nicht heran kann.

Nun hat sich aber eigentlich doch in der letzten Zeit innerhalb unserer geistigen Entwickelung etwas sehr Merkwürdiges zugetragen. Die Men­schen können nicht mehr anders, als wenigstens die Nachtseiten des gei­stigen Lebens zuzugeben, wenn sie nicht ganz bockbeinig sein wollen. Und es ist ein charakteristisches Denkmal für die Art und Weise, wie so ganz in die Naturwissenschaft eingesponnene Menschen sich dann ver­halten, wenn sie diese dunklen Gebiete des geistigen Lebens betreten, oder noch etwas anderes - ich werde es gleich erwähnen - doch nicht ableugnen können.

Ein denkwürdiges Beispiel dafür ist ja das Buch von Ludwig Stauden-maier: «Die Magie als experimentelle Wissenschaft.» Es ist fast so, wie wenn man sagen würde : Die Nachtigall als Maschine. Aber immerhin, es konnte als etwas ganz Charakteristisches dieses Buch in unserer Zeit geschrieben werden.

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Wie verfährt nun dieser Mann eigentlich? Das Eigentümliche an ihm ist, daß ihn sein Leben dazu getrieben hat, daß das Magische experi­mentell herangekommen ist durch ihn selbst. Er mußte eines Tages an­fangen, das ergab, ich möchte sagen, ein dunkles Schicksal, mit sich selbst zu experimentieren. Er konnte nicht leugnen nach manchem, was er erfahren hat, daß es zum Beispiel Schreibmedien gibt. Sie wissen, ich empfehle diese Dinge nicht und lege immer ihr Gefährliches dar; aber wenn nun da ist, was eben Schreibmedien tun, so kommt ja etwas höchst Merkwürdiges durch, wobei man wiederum sehr kritisch eben Wahrheit von Irrtum sondern muß. Nun ja, dieses Schreiben von Dingen, die der Mensch selber in dem Augenblick, wo er sie schreibt, nicht im Kopfe hat, dieses mediale Schreiben wurde für Staudenmaier ein experimen­telles Problem, und er fing an, nun selber den Bleistift anzusetzen, und siehe da, da kamen Dinge heraus, die er so niemals gedacht hatte. Er schrieb die kuriosesten Dinge. Denken Sie, es ist auch eine Überraschung, wenn man ganz naturwissenschaftlich denkt und den Bleistift in die Hand nimmt, sich selber zum Schreibmedium macht und nun glaubt, das wird nicht gehen. Nun aber bekommt dieser Bleistift plötzlich Kraft, führt die Hand, schreibt allerlei auf, worüber man höchst er­staunt ist. Das ist Staudenmaier passiert.

Und was ihn am meisten überrascht hat, das ist, daß dieser Bleistift launisch wurde - so sagen ja die Leute -, wie der Traum launisch wird, ganz andere Dinge aufgeschrieben hat, als er gedacht hat. So scheint, aus den Zusammenhängen kann man das erkennen, der Bleistift einmal den Zwang auf die Handführung ausgeübt zu haben: Du bist ein Kohl-kopf! und ähnliche schöne Dinge zu schreiben.

Nun, das sind Dinge, die ganz gewiß der Herr nicht selber gedacht hat! Und nachdem solche Dinge sich gehäuft haben, immer wiederum der Bleistift die tollsten Dinge aufgeschrieben hat, hat Staudenmaier ge­fragt : Ja, wer ist denn das eigentlich, der da schreibt? - Nun antwortete es : Geister sind es, die da schreiben. - Das war nach seiner Ansicht wie­der nicht wahr, denn Geister gibt es nicht für einen naturwissenschaftlich Denkenden. Wie sollte er jetzt sagen? Die Geister haben ihn angelogen, kann er ja nicht sagen, also sagt er: sein Unterbewußtsein lügt fortwäh­rend. Es ist eine fatale Geschichte, nicht wahr, wenn das Unterbewußt­sein plötzlich zur Überzeugung kommt im Menschen selbst, daß man zum Beispiel ein Kohlkopf ist und das noch dazu aufschreibt, so daß es, wie man sagt im gewöhnlichen Leben, schwarz auf weiß dasteht.

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Aber er fuhr doch fort, sich so zu benehmen, wie wenn Geister spre­chen würden. Und da fragte er sie, warum sie denn nicht die Wahrheit sagen. Da antworteten sie: Ja, das ist so unsere Art, wir sind eben solche Geister, die dich anlügen müssen; es liegt in unserem Charakter, wir müssen lügen.

Das war außerordentlich charakteristisch. Nun beginnt da allerdings ein Gebiet, wo die Sache wirklich recht sengerig wird, denn wissen Sie, wenn sich auf diese Weise herausstellt, daß die Wahrheit nur da oben sitzt und da unten fortwährend gelogen wird, so gibt das natürlich einen unbehaglichen Zustand. Aber wenn man ganz in naturwissenschaftlicher Weltanschauung befangen ist, so kann man ja in einem solchen Falle gar nicht anders, als dazu kommen, daß in einem selber dieser verlogene Kerl steckt.

Dennoch kommt Staudenmaier zu der Ansicht: Niemals sprechen ob­jektive geistige Wesenheiten, sondern immer nur das Unterbewußtsein. -In solche allgemeine Ausdrücke kann man ja alles zusammenfassen.

Aber sehen Sie, charakteristisch ist es doch, daß diese Geister sich gar nicht haben angelegen sein lassen, Staudenmaiers Hand so zu füh­ren, daß sie ihm etwa einen neuen mathematischen Beweis aufgeschrie­ben oder ein naturwissenschaftliches Problem gelöst hätten. Das ist ei­gentlich das besonders Charakteristische, daß sie immer etwas anderes sagten.

Es ist schon alle Veranlassung dagewesen, daß Staudenmaier etwas aus dem Häuschen gekommen ist, und da fand sich dann ein ärztlicher Freund, der gab ihm den Rat, er soll auf die Jagd gehen. In solchen An­weisungen bestehen viele ärztliche Ratschläge. Ein besonders beliebter Ratschlag ist ja zum Beispiel manchmal in der Medizin, man soll heira­ten. Dort war eben dieser Ratschlag, er soll auf die Jagd gehen, um etwas herauszukommen aus diesem verrückten Zeug, sich sozusagen zu zer­streuen.

Aber siehe da, trotzdem er nun, wie er genau beschreibt, auf die El­sternjagd ging, also immer nach Elstern auslugte, guckten von den Bäu­men allerlei dämonische Gestalten herunter, nicht Elstern. Da saßen auf irgendeinem Zweig solche Dinge, wie etwas, das ein halber Kater und ein halber Elefant war und ihm allerlei Nasen drehte oder ihm die Zunge herausstreckte. Und guckte er vom Baume weg ins Gras, sah er nicht etwa Hasen, sondern auch allerlei phantastische Gestalten, die ihre Gau­keleien mit ihm trieben.

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So hatte nicht nur der Stift allerlei Zeug aufgeschrieben, sondern jetzt wurde auch das höhere Phantasievermögen in einer solchen Weise ange­regt, daß sich nicht Elstern zeigten, sondern Dämonen, allerlei gespenst­artiges Gezücht, also wieder erlogen. Eigentlich ist es wie im Traum, was er da sah, und es hätte passieren können, wenn sein Wille intakt ge­blieben wäre, daß er statt einer Elster so irgendeine Kanaille geschossen hätte, die halb Kater und halb Elefant gewesen wäre. Wenn sie herunter­gefallen wäre, hätte sie sich sicher verwandelt, da wäre sie halb Laub­frosch und halb Nachtigall gewesen mit einem Teufelsschwanz, denn während des Herabfallens hätte sie sich schon verwandelt.

Jedenfalls kann man sagen, diesem Experimentator rückte eine Welt, die sehr ähnlich ist der Welt des Traumes, an den Leib heran, und diese Welt ist auch ein Protest gegen den ganzen naturgesetzlichen Zusam­menhang. Denn wie wäre der naturgesetzliche Zusammenhang gewe­sen? Nun, er hätte seine Flinte von der Schulter genommen, und nach­dem er eine Elster geschossen, wäre unten eine Elster gewesen. Aber das alles zeigte sich nicht, sondern was ich Ihnen gekennzeichnet habe: wie­derum ein Protest dieser Nachtseite der geistigen Welt, in die der Mann hineingestoßen war, gegen die Naturgesetzlichkeit. Und mindestens hätte sich der Mann doch selbst, wenn er beim Unterbewußten stehengeblie­ben wäre, sagen müssen : Wenn das alles da unten im Unterbewußten ist, dann protestiert mein Unterbewußtes gegen die Naturgesetze. Denn was sagt ihm denn eigentlich dieses Unterbewußte? Ja, das zaubert ihm aller­lei Dämonen vor und dergleichen, wie ich es beschrieben habe. Das sagt ihm etwas ganz anderes, als er sich über sich ausgedacht hat. Er müßte also mindestens daraus schließen : Wenn die Welt nur nach Naturgesetzen eingerichtet wäre, dann könnte es ja mein Inneres gar nicht geben, dann könnte ich als Mensch gar nicht existieren, denn wenn dieses Innere spricht, dann spricht es ganz anders als in Naturgesetzen. Zu dem Inne­ren des Menschen gehört also eine ganz andere Welt als diejenige Welt, über die die Naturgesetze ausgesponnen sind, eine Welt, die protestiert in ihrem Zusammenhange gegen die Naturgesetze.

Das ist immerhin doch das einzig Interessante an diesem magischen Experimentator oder experimentierenden Magier, der vielen Leuten so außerordentlich imponiert hat. Das ist etwas, was uns zeigt, wie in der Tat auch auf andere Weise der Mensch zur Wahrnehmung einer solchen Welt kommen kann, wie es die sonst mehr oder weniger immer im Leben auftretende Traumeswelt in ihren Zusammenhängen ist.

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Und das führt schon dazu, durch eine richtige Anschauung über das gewöhnliche Leben anzuerkennen, daß einfach, weil der Mensch da ist, an die gewöhnliche, von Naturgesetzen durchsponnene Welt eine andere grenzt, die nicht von Naturgesetzen durchsponnen ist.

Schaut man diese Dinge richtig an, so muß man sich eben sagen : Da ist die Welt von Naturgesetzen durchsponnen, die wir studieren. An diese grenzt eine andere Welt, die nichts mit den Naturgesetzen zu tun hat, darinnen herrschen ganz andere Gesetze. Man gelangt also, indem man in einer realen Weise in die Traumeswelt untertaucht, in eine Welt, wo die Naturgesetze aufhören. Daß der Mensch zunächst mit seinem gewöhnlichen Bewußtsein phantastisch in dieser Welt wahrnimmt, rührt lediglich davon her, daß er nicht die Fähigkeit hat, die Zusammenhänge, die ihm da entgegentreten, zu erkennen. Die Phantastik trägt er hinein. Aber dasjenige, was da webt und lebt, ist eben eine andere Weltensphäre, in die der Mensch im Traum hinuntertaucht.

Das führt uns unmittelbar in etwas anderes. Wenn man mit demjeni­gen redet, der ganz eingesponnen ist in die heute gebräuchliche Weltan­schauungsrichtung, so sagt er : Ich studiere die Fallgesetze an dem fal­lenden Stein. Ich bekomme die Gesetze der Gravitation heraus. Dann gehe ich hinaus in die Welt und wende das auch auf die Sterne an. -Und es wird dann so gedacht: Hier ist die Erde, darauf finde ich die Naturgesetze, und da ist dann der Kosmos. (Es wird gezeichnet.) Ich denke, die Gesetze, die ich hier auf Erden gefunden habe, gelten auch für den Orionnebel oder für irgend etwas.

Nun weiß jeder Mensch, daß ja zum Beispiel die Schwerkraft im Qua­drat der Entfernung abnimmt, daß sie immer schwächer und schwächer wird, daß das Licht abnimmt, und ich habe schon gesagt: So nimmt auch die Wahrheit unserer Naturgesetze ab. Was wahr ist in bezug aufNatur­gesetze auf unserer Erde hier, ist nicht mehr wahr da draußen im Welten-all. Das ist nur bis zu einer gewissen Entfernung wahr. Aber da draußen im Weltenall beginnt außerhalb einer gewissen Weite dieselbe Gesetz­mäßigkeit, die wir antreffen, wenn wir in den Traum untertauchen. Da­her sollten die Menschen sich klar sein, wenn sie hinausblicken in den Orionnebel, dann müßten sie eigentlich, um den Orionnebel zu begrei­fen, nicht nach der experimentellen Methode physisch denken, sondern infangen zu träumen, denn der Orionnebel zeigt seine Gesetzmäßigkeit nach Träumen.

Man kann sagen, von solchen Dingen haben eigentlich die Menschen

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einmal das Verschiedenste gewußt, und Ahnungen sind für die spätere Zeit noch geblieben, besonders bei den Denkern, die sich recht gut kon­zentrieren konnten.

So war ein solcher Naturforscher, der allerdings nicht in der zweiten, sondern in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gelebt hat -er war der Lehrer Haeckels -, Johannes Müller. Er war ein solcher Mann, der sich wirklich immer konzentrieren konnte. Er lebte ganz in dem, was er gerade vornahm. Dadurch, daß man wirklich so leben kann, konzen­triert in dem, was man gerade vornimmt, kommt man manchmal auf mehr darauf es mag ja in mancher Beziehung, wie ich gleich erwähnen w]ll, Schattenseiten haben. Johannes Müller wurde zum Beispiel einmal gefragt über irgend etwas während eines Sommerkurses, den er gehalten hat. Da sagte er: Das ist etwas, was ich nur während der Wintervorlesun-gen weiß, im Sommer nicht. - Er war im Sommer so sehr auf den Stoff seiner Sommervorlesungen konzentriert, daß er ganz frei eingestand, das andere wisse er nur im Winter.

Aber dieser Johannes Müller gestand zum Beispiel einmal das sehr Interessante, daß er wirklich lange Zeit Leichen zerschneiden kann, um auf etwas zu kommen; er kommt nicht darauf, er gelangt nicht in das hinein, was er eigentlich verstehen will. Aber es gelingt ihm manchmal, zu träumen von dem, was er erexperimentiert hat, und dann sieht er viel tiefrr in die Sache hinein, dann gehen ihm die Sachen auf. - Es war in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Da konnte sich jemand noch solche Extravaganzen gestatten, selbst wenn er ein berühmter Na­turforscher war.

Also der Mensch kommt in eine ganz andere Welt, in eine ganz andere Gesetzmäßigkeit hinein, wenn er träumt. Und bei richtiger Erwägung muß vorausgesetzt werden, daß eigentlich, wenn man es so machen würde wie Johannes Müller, man über den Orionnebel nicht denken, wie man auf den Sternwarten oder in den astronomischen Anstalten denkt, sondern träumen müßte, dann würde man mehr davon wissen, als wenn man nachdenkt. Ich möchte sagen, das hängt ja damit zusam­men, daß in Hirtenzeitaltern, wo die Hirten in der Nacht auf der Weide geschlafen haben, sie tatsächlich träumten über die Sterne, und da wußten sie mehr, als die Späteren wissen. Es ist wirklich wahr, es ist so.

Kurz, ob wir in das Innere des Menschen hineingehen und uns der Traumeswelt nähern, oder ob wir hinausgehen insweiteWeltenall,wirtref­fen, wie die Alten sagten, außerhalb des Tierkreises eine Welt der Träume.

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Und da sind wir an dem Punkt, wo wir verstehen können, was die Griechen meinten, die noch von solchen Dingen etwas wußten, wenn sie den Ausdruck «Chaos » gebrauchten. Ich habe über das Chaos schon alle möglichen Erklärungen gelesen, fand sie immer eigentlich weit weg von der Wahrheit. Denn was meinte der Grieche, wenn er von Chaos sprach? Er meinte die Gesetzmäßigkeit, von der man eine Ahnung kriegt, wenn man in den Traum sich vertieft, oder die man voraussetzen muß im äußersten Umkreise dieses Weltenalls. Diese Gesetzmäßigkeit, die nicht die Naturgesetzmäßigkeit, sondern eine andere ist, schrieb der Grieche dem Chaos zu. Ja, er sagte, das Chaos beginnt da, wo die Na­turgesetzmäßigkeit nicht mehr zu finden ist, wo eine andere Gesetzmäßig­keit herrscht. Aus dem Chaos heraus ist die Welt geboren für den Grie­chen, das heißt aus einem solchen Zusammenhang, der noch nicht na­turgesetzlich, sondern so ist wie der Traum, oder so wie heute noch die Weltenweiten, im Sternbild des Orion der Jagdhund und so weiter. Da kommt man zunächst in eine Welt hinein, die sich dem Menschen wenigstens noch ankündigt in der phantastischen, aber lebendigen Welt der Traumesbilder.

Nun aber ist es so, daß wenn hier die physisch natürliche Welt liegt (es wird gezeichnet), so gelangen wir gewissermaßen in eine zweite Strö­mung hinein, indem wir in die Träume untertauchen. Dann aber gelan­gen wir in eine dritte Strömung, die jenseits der Traumeswelt liegt, die gar nicht mehr eine Beziehung hat zu den Naturgesetzen unmittelbar. Die Traumeswelt protestiert in ihrer Bildhaftigkeit gegen die Naturge­setze. Bei dieser dritten Welt wäre es ganz unsinnig, zu sagen, sie richte sich nach Naturgesetzen. Sie widerspricht vollends sogar kühnlich den Naturgesetzen, denn sie tritt auch an den Menschen heran. Während der Traum noch in der lebendigen Bilderwelt zum Vorscheine kommt, kommt diese dritte Welt durch die Stimme des Gewissens in der sittli­chen Weltanschauung zunächst zum Vorschein.

Wenn man so nebeneinander hat auf der einen Seite die Welt der Na­tur, auf der anderen Seite die Welt der Sittlichkeit, dann gibt es keinen Übergang. Aber der Übergang liegt in der Traumeswelt, oder in der Welt, die der Experimentator auf dem Gebiete der Magie erlebt hat, wo ihm die Dinge etwas ganz anderes gesagt haben, als die naturgesetz­lichen Zusammenhänge sind.

Zwischen der Welt, die von Naturgesetzen durchwoben ist, und der Welt, aus der in uns einströmend unser Gewissen redet, liegt für das gewöhnliche

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Bewußtsein die Traumeswelt. Das aber führt unmittelbar da­zu - weil dies zugleich die Wachwelt, dies die Traumeswelt, dieses die Schlafwelt ist -, daß uns dieses heranbringt an die Vorstellung, daß tatsächlich während des Schlafes die Götter zu dem Menschen sprechen von dem, was nicht natürlich, sondern sittlich ist, was dann dem Men­schen bleibt als die Gottesstimme in seinem Inneren, wenn er aufwacht, als das Gewissen.

Auf diese Weise schließen sich die drei Welten zusammen, und man begreift zweierlei: Auf der einen Seite, warum die Traumeswelt prote­stiert gegen den Naturzusammenhang, und auf der anderen Seite, in­wiefern diese Traumeswelt ein Übergang ist zu einer Welt, die dem ge­wöhnlichen Bewußtsein in ihrer Realität verborgen bleibt, zu der Welt, aus der auch die sittlichen Anschauungen kommen.

Findet man sich dann in diese Welt hinein, dann findet man dort die weitere geistige Welt, die nicht mehr nach Naturgesetzen begriffen wer­den kann, sondern nach Geistgesetzen, während sich eben im Traume bunt durcheinandermischen Naturgesetze mit Geistgesetzen, Geistge­setze mit Naturgesetzen, weil die Traumwelt eine Übergangsströmung zwischen den beiden Welten ist.

So haben wir von einer anderen Seite her beleuchtet, wie der Mensch sich eingliedert in die drei Welten.

JAKOB BÖHME, PARACELSUS, SWEDENBORG Dornach, 23. September 1923

#G225-1961-SE172 Drei Perspektiven der Anthroposophie

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JAKOB BÖHME, PARACELSUS, SWEDENBORG

Dornach, 23. September 1923

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Die Betrachtung der Traumeswelt, wie wir sie gestern angestellt haben, hat uns darauf aufmerksam machen können, wie in dem Augenblicke, in dem man eintritt von der Welt, die vor unseren Sinnen ausgebreitet ist als die Welt der Naturgesetze, in eine andere Welt, tatsächlich die Naturge­setze aufhören. Ich möchte sagen, sie hören gradweise auf, sie hören nach und nach auf. Am Traume kann man noch deutlich bemerken, wie er sich auf der einen Seite immerhin noch richtet nach dem, was auch na­turgesetzmäßig ist, wie aber auf der anderen Seite in den Traum mora­lische, ethische Zusammenhänge hereinspielen, wie das eine mit dem an­dern so zusammenhängt, daß in dem Zusammenhang sich etwas aus-drückt, wie, sagen wir, der moralische Wert des Träumenden oder dergleichen. Der Traum ist eben ein sanfter Übergang von der phy­sisch-sinnlichen Welt in ganz andere Welten, in Welten, die dann gar nichts mehr zu tun haben mit den bloß naturgesetzmäßigen Zusammen­hängen.

Nun muß sich aber durch solche Vorstellungen und Empfindungen, wie sie dadurch erregt werden können, daß man seine Seele hinrichtet auf solche Übergänge, wie sie im Traume gegeben sind, ein, ich möchte sagen, menschliches Verständnis für Weltenzusammenhänge herbeifüh­ren, die sonst einfach wie uneröffnete Geheimnisse vor der Menschen-seele stehen sollen. Sie werden gleich verspüren, was ich eigentlich meine. Auf das intellektuelle In-Begriffe-Fassen dieser Dinge kommt esja ohne­dies furchtbar wenig an. Worauf es ankommt, das ist, ein total mensch­liches Verständnis zu gewinnen, eine Beziehung menschlicher Art zu den Dingen zu gewinnen, mit denen der Mensch nun schon einmal zusam­menhängt, zusammenhängt in seinem ganzen Leben und dadurch, daß er der Menschheit angehört. Und es ist unmöglich, über gewisse Dinge des Lebens etwas zu sagen, etwas vorzustellen, wenn man nicht seine Empfindungen, sein Gefühl hat berührt sein lassen von so etwas, wie es schon gestern über den Traum besprochen worden ist. Von dieser Fär­bung, die das Gefühl dadurch bekommt, hängen eben die Dinge ab. Und deshalb will ich heute wie etwas Bestimmteres auf dasjenige, was gestern über den Traum und die merkwürdigen Äußerungen des experimentellen

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Magiers gesagt worden ist, etwas setzen, was sich an Erscheinungen des Lebens knüpft, die eigentlich als viel größere Geheimnisse empfunden werden müßten, als das gewöhnlich der Fall ist. Es sollen im Zusammen­hang mit den gestrigen Betrachtungen von einem gewissen Gesichtspunk­te aus erstens solche Menschen betrachtet werden, die so den Sammelna­men « Somnambule» führen, Menschen, die allerlei Abweichungen in ihrem Leben zeigen, die also meinetwillen sogar bis dahin kommen, daß sie des Nachts aus ihrem Bette aufstehen, auf Dächern herumklettern, ohne daß sie herunterfallen und so weiter, also diejenigen Menschen, die somnambul sind.

Und zweitens möchte ich von einem gewissen Gesichtspunkte aus heute eine Erscheinung besprechen, die wir ja schon öfter von anderen Ge­sichtspunkten aus besprochen haben, eine Erscheinung wie die Jakob Böhmes oder meinetwillen Paracelsus'. Und als drittes im Zusammenhange damit möchte ich die Erscheinung Swedenborgs besprechen. Man kann schon sagen : Eigentlich ist der heutigen Menschheit alles gleichgültig ge­worden, weil die Art des Interesses, die ich ein feuilletonistisches nennen möchte, so ungeheuer um sich gegriffen hat. Im Grunde genommen müßten Erscheinungen, wie die Somnambulen, wie Jakob Böhme oder wie Swedenborg, den Menschen an den Seelen fressen, denn es sind doch ja ganz andere menschliche Erscheinungen, die da ins menschliche Le­ben hereingestellt werden, als die normalen Bürger sind.

Versuchen wir nun einmal, solche Erscheinungen zu begreifen. Neh­men wir die gewöhnlichen Somnambulen. Sie wissen ja, daß in einer ge­wissen Weise dasjenige, was sie darstellen, mit den Manifestationen des Mondes zusammenhängt. Wir haben gerade in der letzten Zeit - und deshalb gehört ja dieses in den Zusammenhang herein - über die Bedeu­tung des Mondes im Weltenall gesprochen. Ich habe Ihnen gesagt, daß diejenigen Wesen, die einmal auf der Erde waren und dem Menschen die Urweisheit gebracht haben, die nach und nach verglommen ist, die wir aber finden, wenn wir in der Geschichte zurückschreiten, daß diese We­senheiten sich eben zurückgezogen haben wie in einer Art von Welten-kolonie im Mond, daß sie den Mond innerlich bevölkern. Da ist es wirk­lich so, daß nur die letzten Reste von dem, was diesen Wesenheiten eigen ist, in einer vergröberten Gestalt auf Erden zurückgeblieben sind. Die Menschen waren ja ganz anders damals, als diese heutigen Mondenwe­senheiten noch als die großen Lehrer oder Führer der Erdenmenscliheit auf Erden waren.

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Was diese Wesenheiten auf Erden zurückgelassen haben, das sind phy­sische Erscheinungen, das sind die Tatsachen des Fortpflanzungslebens. Diese Tatsachen des Fortpflanzungslebens in der heutigen Gestalt waren auf der Erde in der Zeit, in der diese Wesenheiten auf der Erde den Men­schen die Urweisheit gegeben haben, nicht vorhanden. So, wie wenn Sie irgendeine Substanz aufgelöst haben in einer Flüssigkeit, die Flüssigkeit ganz reinlich, gleichmäßig ausschauen kaim, wenn aber die Substanz sich als Bodensatz ergibt, dann ist die Substanz grob, und die Flüssigkeit ist noch feiner, als sie früher war - so ist es ungefähr mit dem, was ich hier meine. Das, was heute als Fortpflanzungsleben auf Erden lebt, ist grob im Verhältnis zu dem, was es einstmals war. Und das, was diese Wesen­heiten in die Mondensphäre mitgenommen haben, das ist unendlich ver­feinert, ist unendlich viel geistiger geworden. Aber beide gehören doch zusammen, beide sind auseinander differenziert. Und das, was der Mond wirklich als eine Kraft auf die Erde ausübt, was heute noch als Monden­kraft auf die Erde wirkt, das ist ja so, wie ich Ihnen damals, als ich die Stellung des Mondes im Kosmos besprach, sagte, daß der Mond eigent­lich alles zurückstrahlt, was im Kosmos ist, nicht bloß das Licht der Sonne, sondern eigentlich alles zurückstrahlt. So daß wir im Monde ein Zweifa­ches haben : das Innere des Mondes, das gegenwärtig gar nicht nach au­ßen hervortritt, sondern sich abgeschlossen hat, eine andere Weltenauf-gabe bekommen hat, und dasjenige, was da zurückgestrahlt wird.

Nun ist der Mensch in bezug auf seinen physischen Leib der vorzüg­lichsten irdischen Kraft, der Schwerkraft ausgesetzt, so wie er sich be­wegt, so übrigens auch wie er sitzt. Es ist ja immer die Schwerkraft, an die er appelliert. Wenn er nicht mit seinem physischen Leib der Schwerkraft unterliegen würde, so würde er eben nicht diese verschiedenen Gleichge­wiehtslagen im Gehen, im Sitzen, im Stehen und so weiter haben.

Aber mit seinem Ätherleib ist der Mensch nicht so der Erdenkraft ausge­setzt, sondern der Mondenkraft. Dieser aus dem Weltenall zurückgestrahl­ten Kraft ist er ausgesetzt, und die zieht ihn hinaus. Während die Erden-schwere ihn hinunterzieht, zieht ihn diese Mondenkraft in den Kosmos hinaus. Und diese Mondenkraft wird vorübergehend überwiegend tätig in den somnambulen Persönlichkeiten. Für Augenblicke überwindet die Mondenkraft die Erdenkraft, und diese Persönlichkeiten benehmen sich so, wie wenn sie da nur einen Ätherleib hätten, mit dem sie der Monden­kraft frei folgen können. Sie ziehen ihren physischen Leib mit, klettern, wie gesagt, in der waghalsigsten Weise herum, wie nur der Ätherleib es

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kann, wie der physische Leib es gar nicht kann, aber der wird mitgerissen in solchen Momenten. Es ist also im wesentlichen, ich möchte sagen, ein Hereinbrechen besonderer Mondenwirkungen, die in diesen somnambu­len Persönlichkeiten auftreten.

Nun müssen wir aber doch weiter fragen, denn alles steht doch drinnen in dem großen Weltenzusammenhange, der ja schließlich auf lauter We­sen zurückführt. Denn die Erscheinungen außerhalb der Wesen sind ja nur Schein, wahrhaft wirklich sind nur die Wesen im Weltenall. Also wahr-haft wirklich sind die Wesen im Mineralreich, im pflanzlichen Reich, im tierischen Reich, wahrhaft wirklich sind die Menschen, sind die Angeloi, sind die Archangeloi und so weiter. Das sind die Wirklichkeiten; indivi­dualisierte Wesen, das sind die Wirklichkeiten. Das andere ist etwas, was sich zwischen den Wesen abspielt, das andere ist ja ein Schein, ist keine Wirklichkeit. Also wenn wir von Wirklichkeiten sprechen, haben wir es eben mit Wesen zu tun.

Nun handelt es sich darum, daß, wenn solche Wesen auftreten, indi­vidualisierte Menschen also, Somnambule, wie stellt sich denn die Er­scheinung solcher Somnambulen in das ganze Weltenall hinein? Wie kommt es denn überhaupt im Zusammenhang des Weltenalls dazu, daß es Somnambule gibt?

Nun müssen Sie wirklich das, was ich jetzt sage, nicht im logischen, in­tellektualistischen Zusammenhang, sondern eben im Gefühlszusammen­hang erfassen, denn der ist auf diesem Felde die richtige Logik. Durch­dringen Sie Ihr Gefühl damit, daß man, ich möchte sagen, aus der Welt der Naturgesetzmäßigkeit, über die Strömungen des Traumhaften hin­aus muß in ganz andere Welten, wo Naturgesetze nicht mehr gelten, son-dern wo andere Zusammenhänge herrschen, versuchen Sie sich da recht hineinzufühlen, dann werden Sie auch fühlen, daß man davon sprechen kann : Wie ist es denn jetzt bei solchen Menschen, die in irgendeinem Er­denleben als Somnambule auftreten, mit dem, was nicht Erdenleben ist, sagen wir, im vorirdischen Dasein oder im nachirdischen Dasein?

Nicht wahr, solche Somnambule - wir könnten natürlich auf alle Män­gel und Schattenseiten des somnambulen Wesens aufmerksam machen, auch noch das Mediumwesen da hineinbeziehen, aber das wissen Sie ja alles, oder können Sie wenigstens wissen -, solche Somnambule unter­scheiden sich doch eben von dem normalen Bürger. Sie benehmen sich anders im Leben, sie treten anders auf, sie sind doch anders. Nun, wenn sie im Erdenleben anders sind, so müßte man doch, wenn man überhaupt

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nun so, ich möchte sagen, handgreiflich über den Traum in die geistige Welt mit seinen Empfindungen hinauskommt, auch fragen: Sind die nun vielleicht auch anders in dem angrenzenden außerirdischen Leben, im vorirdischen Dasein? Wie sind sie denn da?

Sehen Sie, da zeigt sich an solchen Wesenheiten, die in der Erdeninkar-nation Somnambule sind, daß die in ihrem vorirdischen Dasein eigent­lich in einer außerordentlich starken Weise feindlich, in der Geisteswelt feindlich gegen alles Geistige auftreten.

Wenn man mit den Mitteln, die es schon einmal gibt, und von denen ich Ihnen ja auch öfters gesprochen habe, erforscht bei einem Somnam­bulen, wie es im vorirdischen Dasein war - seit dem französischen Kurs sprechen wir ja öfters von diesem vorirdischen Dasein auch in seinen kon­kreten Einzelheiten -, wenn man also nun erforscht: Wie waren solche Somnambulen, bevor sie heruntergestiegen sind zu ihrem irdischen Da­sein? - So grotesk es sich ausnimmt, es muß doch gesagt werden : Sie waren in ihrem vorirdischen Dasein - ganz deplaziert ist das -, aber sie waren in ihrem vorirdischen Dasein in der geistigen Welt Materiali­sten.

Man ist dort natürlich nicht so Materialist, daß man theoretische An­schauungen aufstellt über den Materialismus. Man bewegt sich ja zu­nächst in der Welt der Sympathien und Antipathien; nicht in der Welt der Begriffe und Urteile, sondern in der Welt der Sympathien und Anti­pathien. Diese Somnambulen lebten in der geistigen Welt, aber der größ­te Teil dessen, was sie erlebten in der geistigen Welt, war ihnen unsym­pathisch. Überall kam ihnen das, was an sie im Geistigen herantrat, so vor, daß sie es eigentlich in einem gewissen Sinne haßten. Und dadurch konnten sie, als sie zum irdischen Dasein herunterstiegen, ihren astrali­schen Leib nicht in der richtigen Weise in sich befestigen. Man muß ja den astralischen Leib konsolidieren, wenn man heruntersteigt ins Erden-leben. Diese Konsolidierung leidet darunter, daß diese Wesen immer­fort diese Antipathiekräfte gegenüber dem Geistigen aufgenommen ha­ben. Und da ergibt sich dann das, ich möchte sagen, kosmisch gerichtete Karma, daß diese Wesenheiten dann in ihrem Erdenleben dadurch, daß sie einen physischen Körper haben, mit diesem physischen Körper so verbunden sein müssen, wie eben nur ein nicht ganz konsolidierter Astral-leib mit dem physischen Leib verbunden sein muß.

Nun habe ich Ihnen auch dargestellt, wie man beim Wiederherunter-steigen auf die Erde die Mondensphäre passiert, wie man die Mondenkräfte

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in sich aufnimmt. Es haben solche Wesenheiten zu wenig Selbstän­digkeit gegenüber den Mondenkräften. Sie sind eben zu wenig in sich konsolidiert, daher bleibt eine Verwandtschaft mit den Mondenkräften in ihnen übrig, wenn sie ihren physischen Leib beziehen. Die Folge da­von ist, daß solche Wesen eigentlich weniger Rücksicht nehmen auf ihren physischen Leib, als der normale Bürger auf seinen physischen Leib Rück­sicht nimmt. Und es ist dieses, daß sie der Mondensphäre unterworfen bleiben, das Erziehungsmittel im gesamten Weltenplane, um diesen Menschen ihre feindselige Gesinnung gegen das Geistige abzugewöhnen. So daß man bei den Mondsüchtigen vor Menschen steht, die in diesem Erdenleben, indem sie eben Mondsüchtige sind, erzogen werden sollen, ihre Feindseligkeit gegen das Geistige sich abzugewöhnen. Durch dieses Nicht-voll-Ergreifen des physischen Leibes erleben sie das Geistige auf der Erde, während sie in der geistigen Welt selber das Geistige nicht ge­nügend erlebt haben.

Der normale Bürger, der sitzt nun fest in seinem physischen Leib drin­nen, heute viel fester als es irgendwie zum Heile der Menschheit wün­schenswert ist; er sitzt furchtbar drinnen. Aber die Somnambulen, die berücksichtigen diesen physischen Leib ganz wenig. Daher können die Augenblicke eintreten unter besonderen Konstellationen, daß sie mehr den Mondenkräften hingegeben sind als den Erdenkräften.

Gehen wir jetzt von diesen Persönlichkeiten über zu einer solchen, wie sie, ich möchte sagen, in einer gewissen Größe dagestanden hat in Jakob Böhme oder in Paracelsus. In weniger grandioser Art treten ja aber auch solche Persönlichkeiten in der Geschichte auf, nicht jetzt in der gegen­wärtigen Zeit, aber es ist gar nicht so lange her, daß solche Persönlich­keiten da waren, ich möchte sagen, kleine Jakob Böhmes hat es inimer mehr oder weniger gegeben. Bis noch vor Jahrzehnten konnte man solche kleine Jakob Böhmes immerhin finden, diese Persönlichkeiten, die, wenn man sie so äußerlich anschaut im gewöhnlichen Leben, sich dadurch be­sonders auszeichnen, daß sie in anderer Weise in die Natur hineinschauen, als das wiederum beim Normalbürger der Fall ist.

Nehmen Sie eine charakteristische Erscheinung bei Jakob Böhme. Es kündigte sich ja dasjenige, was in seinem ganzen menschheitlichen Cha­rakter war, schon in seiner Jugend an. Nehmen Sie die charakteristische Erscheinung: Er hütet Tiere wie andere, da hat er plötzlich den Drang, wegzugehen von den Tieren, von der Herde und von den anderen, die da sind, hinzugehen zu einem Orte im Gebirge oben. Er schaut, durch

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einen Instinkt getrieben, sich eine Stelle besonders an. Da findet er ein Loch in der Erde, da ist die Erde offen. Er schaut hinunter und findet da unten einen Schatz. Der glänzt ibm herauf. Er ist betroffen von dieser Erscheinung, aber er geht in Andacht hinweg. Es kommt ihm gar nicht in den Sinn, irgend etwas davon zu nehmen. Er ist oftmals noch nachher hingegangen, hat nachgeschaut. Das Loch war nicht mehr da, der Schatz mußte mindestens bedeckt gewesen sein und so weiter. Er hätte sich gründlich davon überzeugen müssen, daß das Ganze, was er da ge­sehen hat, in der physischen Welt nicht vorhanden ist, aber er kam auch natürlich durch seine ganze Geisteskonstitution niemals dazu, zu glau­ben, daß er nicht doch etwas gesehen hat.

So bereitete sich bei ihm das vor, was dann später als seine besondere Geistesart zum Vorschein kam : überall in die Grenzvorgänge der Dinge, das Wesen der Dinge, hineinzusehen. Wer Jakob Böhmes Schriften nur ein wenig verständnisvoll liest, wird ja merken: Der Mann hat anders ge­sehen das Salz, anders gesehen den Schwefel als ein normaler Chemiker auch schon der damaligen Zeit natürlich. Der redet aus ganz anderen Einsichten heraus. Er redet sogar aus Einsichten, die ihm selber nicht ganz so weit geläufig werden, daß die Sprache überall das trifft, was er schaut, denn die Sprache ist wirklich manchmal verworren und chao­tisch, und man muß sich hineinleben, wenn man darauf kommen will, was eigentlich dieser Jakob Böhme geschaut hat.

Nun erinnere ich Sie, um Ibnen das ganze Phänomen Jakob Böhmes vor Augen zu führen, an das, was ich Ihnen über die Druiden gesagt habe. Die dämpften ab durch ihre Kromlechs das physische Sonnenlicht, sahen in den Schatten hinein, und im Schatten sahen sie das Geistige, was von der Sonne ausstrahlt. Für andere Menschen ist halt der Schatten Schatten, ist kein Licht, ist etwas Negatives. Für die Druiden war das et­was sehr Reales. Und der Schatten war ihnen nicht nur nach seiner Rich­tung verschieden, je nachdem er im März oder Oktober erschien, son­dern auch durch seine innere Haltung, durch seine Färbung, durch sein Kolorit, aber auch namentlich durch das Geistige, was er enthielt. Wenn man die physischen Sonnenstrahlen gewissermaßen zurückschiebt, dann erscheint gerade im Schatten das Geistige, was die Sonne ausstrahlt. Das war aber bei Jakob Böhme das, was aus seiner ganzen menschlichen We­senheit folgte. Er konnte, wenn er sich innerlich, ich möchte sagen, nach einer gewissen Richtung hin einen Ruck gab - es ist eben grob gespro­chen, aber es ist so -, wenn er sich innerlich einen Ruck gab, dann konnte

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er das physische Sonnenlicht auslöschen, und er sah eigentlich in die Fin­sternis hinein.

Und wie geht es denn, wenn man irgendwo hindurchschaut, wo man nicht gewissermaßen dem Licht folgt, sondern wo man etwas wie eine Grenze vor sich hat? Da entsteht etwas wie ein Spiegel. Aber wenn man, sagen wir, so hinschaut - ich zeichne das physische Auge, aber es kommt nicht so sehr auf das physische Auge an -, da ist überall das Licht. Nun ja, dann sieht man halt die physischen Dinge. Aber wenn man durch die eigene Macht dieses physische Sonnenlicht auslöschen kann, dann tritt da hinten eigentlich das Hineinschauen in die Finsternis auf. Man braucht gar nicht einmal den Schatten, es tritt das Hineinschauen in die Finster­nis auf. Aber wenn dieses Hineinschauen in die Finsternis auftritt, dann wirkt das wie ein Spiegel. Und indem Jakob Böhme so schauen konnte, sah er die Dinge wie in der Finsternis sich spiegeln, und sie gaben seinem Seelenauge dasjenige zurück, was sie innerlich geistig hatten. Er sah also die gewöhnlichsten Gegenstände, wenn er sich darauf einstellte, gerade die charakteristischen Gegenstände, von denen er spricht, Salz, Schwefel, Quecksilber und so weiter, nicht so, wie man sie sieht, wenn man sie un­ter den gewöhnlichen Verhältnissen anschaut, sondern er sah ihre We­senheit, das, was ihnen geistig zugrunde liegt, an der Finsternis gespie­gelt.

Das war die besondere Art seines Schauens : Er sah das, was den Din­gen geistig zugrunde liegt, an der Finsternis gespiegelt. Er sah sie im Scheine der Sonnenwirkungen, wobei aber die physische Lichtwirkung und auch die physische Wärmewirkung ausgeschlossen war. Während die Somnambulen ihren Willen hineinbringen in die Mondenwirkungen, und dadurch, daß sie nun für Augenblicke weniger der Erdenschwere unter­worfen sind, mehr den Mondenwirkungen ausgesetzt sind, während also die gewöhnlichen Somnambulen mit ihren Willensorganen mehr den Mondenwirkungen folgen, konnte Böhme mit seinem Erkenntnisorgan den Sonnenwirkungen folgen, war also ein Sonnenmensch, gewisserma­ßen ein Sonnensüchtiger im Gegensatz zu den Mondsüchtigen. Und wir haben in solchen Menschen, wie es in ganz besonders charakteristischer Größe Jakob Böhme war, wiederum menschliche Individualitäten, die durch eine besondere Beziehung zum Geistigen herausragen aus der ge­wöhnlichen Menschheit : Sonnenmenschen.

Wiederum müssen wir bei diesen Sonnenmenschen fragen: Wie waren sie denn im vorirdischen Dasein? Ja, sehen Sie, das vorirdische Dasein

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solcher Menschen ist eigentlich außerordentiich interessant. Ich habe Sie oftmals daran erinnert, wie in alten Zeiten der Menschheitsentwicke­lung die Menschen eigentlich immer zurückschauten in ihr vorirdisches Dasein. Es trat in ihrem Bewußtsein etwas auf, wodurch sie so etwas wie eine Art Erinnerung an ihr vorirdisches Dasein hatten. Sie wußten: Ich bin von geistigen Welten in die irdische Welt herabgestiegen.

So etwas, nicht wie ein persönliches Zurückschauen, aber ein Zurück-schauen auf die Art, wie man in der geistigen Welt vor dem irdischen Da­sein angeschaut hat, das trat atavistisch bei Jakob Böhme und bei Para­celsus hervor. Dadurch haben solche Menschen mehr Beziehung zu den Elementargeistern der Natur als zu dem, was die Naturdinge äußerlich an ihrer Oberfläche darstellen. Sie sehen mehr die geistigen Wesenheiten, die in der Natur drinnen sind. Denn von dem, was man auf der Erde zum Beispiel Schwefel nennt, davon gibt es keine Anschauung im vorirdischen Dasein, wohl aber, wenn ich mich so ausdrücken darf, von dem Elemen­targeist, der dem Schwefel zugrunde liegt. Von ihm hat man die An­schauung im vorirdischen Dasein.

Der gelbe Schwefel oder der anders gefärbte Schwefel - diese Vorstel­lung ist für das vorirdische Dasein nicht vorhanden. Für das vorirdische Dasein ist nicht einmal die Vorstellung desjenigen « Schwefels » vorhan­den, über den die Menschen auf der Erde reden. Es ist eben gar nichts vorhanden von dem physischen Schwefel, aber von dem ganz anders ge­arteten Geistigen, von den geistigen Essenzen, die dem Schwefel zugrunde liegen, ist im vorirdischen Dasein wohl eine Vorstellung. Die bringen sich solche Menschen wie Jakob Böhme und Paracelsus eben mit.

Dadurch haben sie gerade die Kraft, das physische Sonnenlicht auszu­schließen und in der physischen Finsternis - ich kann nun nicht sagen, die geistigen Sonnenwirkungen zu sehen, man sieht ja auch das Licht nicht, die Farbe nicht, und so siebt man auch die geistigen Sonnenwir­kungen nicht - mit der Anschauung, möchte ich sagen, aufzustoßen auf diese physische Finsternis, aber in geistiger Erhebung, die dann gerade das Geistige spiegelt, das in den Naturwesen und Naturkräften vorhanden ist.

Und im Grunde genommen ist es ja eigentlich so: Wenn nicht zuwei­len solche Menschen da wären, die solche Anregungen geben - die Ka­näle, durch die solche Anregungen in die Menschheit hineinkommen, werden gewöhnlich nicht berücksichtigt -, die Menschen würden von der Natur überhaupt nicht viel wissen, denn diese Anregungen sind schon notwendig auch zu dem abstraktesten Naturwissen. Alles in den Verstand

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zu kleiden, das machen dann die andern. Aber dieses Hinein­schauen in das Lebendige der Natur, das geht eben von solchen Sonnen-menschen aus.

Sehen Sie, es ist immer schwieriger geworden, je mehr das neunzehnte Jahrhundert heraufrückte, solche Dinge überhaupt in der Welt zum Aus­druck zu bringen. Die meisten von Ihnen kennen ja die Biographie von Jakob Böhme. Sie wissen, wie er verfolgt worden ist. Wäre er im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts aufgetreten, oder wäre ein solcher Jakob Böhme, gerade mit der besonderen Art, wie Jakob Böhme gespro­chen hat, im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts aufgetreten, er wäre wahrscheinlich ins Irrenhaus gesperrt worden. Es wäre ihm noch viel schlechter gegangen, als es ibm in seiner Umgebung dazumal ging, aber es war auch schon damals schwer, aufzutreten. Denn immerhin hatte Jakob Böhme ja in einem gewissen Sinne noch die Wohltat dieser Zeit empfinden können, und diese Wohltat bestand zum Beispiel darin­nen, daß man ihn nicht malträtiert hat mit dem, was wir heute schon in den Schulen lernen müssen. Es war ja die Schulbildung, die Volksschul­bildung nicht so vorgeschritten. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich jetzt gegen die Volksschulbildung etwas sprechen will, aber es muß schon ein-mal gesagt werden, die Dinge müssen schon auch von einem andern Gesichtspunkte aus beurteilt werden. Vielleicht haben nicht viele von Ihnen in solchen Orten gelebt, wo irgendein pensionierter Schuhmacher eben Lehrer war. In solchen Orten haben die Kinder auch in der Zeit, die die gegenwärtigen Menschen noch in ihrer Jugend durchleben konn­ten, nicht allzuviel solch Weisbeitsvolles gelernt, was sie jetzt lernen; sie blieben noch viel unberührter. Aber das, wovon man berührt wird in der heutigen normalen Schule, das bildet nicht nur etwas aus, sondern ertötet auch etwas. Jakob Böhme hatte eben die Wohltat, einer solchen Schulbildung noch nicht unterworfen worden zu sein, und daher konnte das, was in ihm als Sonnenmensch war, sich herausdrängen an die Ober­fläche.

Ja, da ist es schon in dem Menschen; aber manchmal muß es dann auf eine ganz andere Weise heraus. Ich könnte Ihnen manche Kompositio­nen aus dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts anführen, in denen ich Ihnen zeigen könnte, wie die Menschen, weil sie durch die Schulbildung vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts durchgegangen sind, natürlich nicht so reden konnten wie Jakob Böhme, - aber in man­chen musikalischen Kompositionen kommt es dann doch heraus. Da ist

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auch so ein Grundton und eine Grundstimmung, wie in den Schriften von Jakob Böhme. Irgendwo bricht es durch, besonders in der Musik, aber nicht in dem, was besonders an die Höhe gekommen ist. Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen von einer Wagnerschen Komposition reden müßte, auch nicht von «Hänsel und Gretel» natürlich, wenn ich Ihnen diese Dinge sage, auch nicht vom «Trompeter von Säckingen» und so weiter. Ich müßte ganz andere Kompositionen nennen. Aber es gibt sol­che musikalische Leistungen, wo so etwas durchbricht. Nun, wie gesagt, gerade solche Impulse, die sich dann umsetzen, die haben für das irdische Lehen eine gewisse Bedeutung.

Nun können wir den dritten Typus betrachten, der in so charakteristi­scher Weise in Swedenborg hervorgetreten ist. Swedenborg sieht sich ja ganz eigentümlich an, wenn man so die Äußerlichkeiten betrachtet. Swe­denborg war schon bis in die Vierzigerjahre seines Erdenlebens aufgestie­gen; da war er ein anerkannter großer Gelehrter seiner Zeit, hat die ge­samte Wissenschaft seiner Zeit umfaßt, so wie man nur irgendwie diese Wissenschaft seiner Zeit umfassen konnte. Es gibt Werke von ihm, die veröffentlicht worden sind. Aber es gibt ungeheuer viel Manuskripte, die ganz aus der damaligen Wissenschaft heraus geschrieben worden sind, die so stark aus der damaligen Wissenschaft heraus geschrieben worden sind - sie sind dann Manuskripte geblieben, daß sich ja jetzt vor einiger Zeit eine schwedische Gesellschaft der größten schwedischen Gelehrten gefunden hat, die diese Werke von Swedenborg herausgeben wird, wel­che er so bis in die Vierzigerjahre hinein im Sinne der normalen Wissen­schaft geschrieben hat.

Aber dann fängt so etwas an bei Swedenborg, wo die Leute sagen: Da ist er verrückt geworden. Er ist halt verrückt geworden! - Man gibt seine Werke heraus als die eines der größten Männer seiner Zeit und erklärt, dazu taugt nicht einer, um das herauszugeben, sondern heute sind ganze Akademien notwendig, um den Swedenborg bis zu seinem vierundvier­zigsten Jahre oder so etwas der Welt zugänglich zu machen. Um das Nachherige kümmert man sich nicht! Aber es ist schon von Bedeutung, daß Swedenborg in der ganzen, ja auch dazumal schon intellektualisti­schen Gelehrtenbildung seiner Zeit gelebt hat bis in ein gewisses Alter, und daß ihm dann wie hereingebrochen ist eine gewisse geistige An­schauung.

Eine solche geistige Anschauung, wie sie gerade spezifisch bei Sweden­borg auftrat, die hat ganz besondere Kennzeichen. Die ist so: Wenn Sie

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sich den Menschen vorstellen und das, was der Mensch als Gehirn hat, so füllt ja in einer gewissen Weise für den normalen Menschen der Äther­leib das Gehirn aus. Das, was ich hier rot angedeutet habe, wäre physisches Gehirn. Der Ätherleib füllt das physische Gehirn aus und ragt noch et­was darüber hinaus. (Es wird gezeichnet.)

Nun, seinen Ätherleib so normal in richtiger, ich könnte auch sagen, spießiger Weise ausgebildet, sein Gehirn, seine Kopfkonstitution so nor­mal ausgebildet hatte Swedenborg bis in die Vierzigerjahre hinein. Dann überkam ihn eine Kraft, die diesen Ätherleib etwas zusammenzog, natürlich nicht hinter die Haut, aber etwas zusammenzog, in sich zusam­menzog, so daß er dichter wurde, dadurch auch unabhängiger wurde vom Gehirn, aber doch all die Gescheitheit behielt. Denn es ist nicht wahr, daß er dann törichter geworden ist, er war ebenso gescheit wie vor­her.

Wenn man als Somnambule herumgeht, dann hat man seinen Astral-leib so, daß er der Mondenkraft sehr stark unterliegt. Die Willensorgane stellen sich dann oftmals auf die Mondenkraft ein. Wenn man so ist, wie Jakob Böhme, dann richtet sich das Erkenntnisvermögen nach den Son­nenkräften, schlägt zurück die physischen Sonnenwirkungen. Wenn man so wird wie Swedenborg, wenn da so ein Zusammenziehen des Ätherlei-bes stattfindet, da ist die Kraft, die das bewirkt, die Saturnkraft, jene Kraft des Saturns - kosmisch habe ich es Ihnen vor kurzem einmal ge­schildert -, in der eigentlich etwas liegt wie eine Art Innerlichkeit unseres ganzen Planetensystems, wie man auch sagen kann, der Saturn enthält die Kräfte des Gedächtnisses unseres Planetensystems. Das, was auf Swe­denborg übergegangen war, das war eben diese Saturnkraft, diese Inner­lichkeit des ganzen Planetensystems. Dadurch kam er in die Lage, die Dinge in solchen Visionen zu schauen, wie er sie eben beschrieb. Er sah Engel, Erzengel, Vorgänge zwischen Engeln, Erzengeln, wie er sie eben beschreibt. Aber was war das eigentlich? In was kam er da hinein durch dieses Zusammenziehen des Ätherleibes seines Hauptes? Er kam nicht dahin, etwa die wirklichen Vorgänge in den Hierarchien zu schauen. Sie müssen sich das, was er schaute, so vorstellen: (Es wird gezeichnet.) Wenn hier die Erde ist, dann zeichnen wir die Äthersphäre der Erde. Die geht nun hinaus in die kosmischen Weiten, von denen ich Ihnen gestern ge­sagt habe, daß wir da den Orionnebel und so weiter antreffen würden, daß da eine Gesetzmäßigkeit ist, nicht eine Naturgesetzmäßigkeit, son­dern eine Gesetzmäßigkeit, wie sie im Traume eben da ist. Da, wo der

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Raum aufhören würde, würden wir erst auf die Vorgänge in den Hier­archien treffen. Da hinein sah nun Swedenborg nicht mit seinem Schau-vermögen, aber all die Vorgänge, die da wirklich außerhalb der Äther­sphäre vor sich gehen, die spiegeln sich nicht bloß im Äther, sondern die rufen, ich möchte sagen, reale Bildvorgänge im Äther hervor. So daß da oben in den Hierarchien irgend etwas vorgeht, was man ganz anders be­schreiben müßte, was aber hereinwirkt in die Äthersphäre der Erde, so daß da die Äthergestalten agieren im Erdenäther. Gestalten agieren um uns herum, das sind nicht die wirklichen Engel, das sind die Äthergestal­ten, die aus dem Äther heraus gebildeten Gestalten, die nun aber auch ihre Taten so umsetzen, daß sie dem Menschen verständlich sind.

Diese - Spiegelungen kann man es nicht nennen, aber vielleicht Real­spiegelungen -, diese Realspiegelungen der höheren Hierarchien im Er­denäther sah Swedenborg. Er sah also nicht, was Engel taten, aber er sah, was man dann sehen kann, wenn man da oben die Engeltaten hat, diese nicht als solche sieht, sondern das, was da unten im Erdenäther in der Sphäre der Menschen vor sich geht. Das, was da oben die Engel tun, das kann ja unmittelbar nicht auf die Erdenmenschen wirken; gerade diese Realspiegelungen, die wirken dann unter den Menschen. Die Spiegelun-gen im Äther, die wirken unter den Menschen, die gehen unter uns her­um. Die sah Swedenborg, auf die wurde er aufmerksam.

Wenn also diejenigen Leute, die wir mondsüchtig nennen, uns vor al­len Dingen veranlassen, hinzuschauen auf ihr vorirdisches Dasein, wenn wir bei Menschen, wie bei Jakob Böhme oder Paracelsus, hinschauen auf ihr gegenwärtiges Erdendasein, dann haben wir alle Veranlassung, bei solchen Menschen wie Swedenborg hinzuschauen auf das nachirdische Dasein. Das irdische Dasein gewinnt eigentlich erst einen Sinn, wenn wir auf das nachirdische Dasein hinblicken. Denn diese Menschen sind es vorzugsweise, welche dann noch nach dem Tode in der Lage sind, auf andere, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, belehrend einzu­wirken, ihnen vieles von dem zu sagen, was unverständlich bleiben muß in den höheren Welten, wenn man nicht etwas von den höheren Welten in der irdischen Welt schon kennengelernt hat.

Und man möchte sagen : Es liegt so im allgemeinen geistigen Welten-plan, daß menschliche Persönlichkeiten von der Art des Swedenborg hier auf der Erde eingeführt werden in die Realschatten, Realspiegelbil­der der Vorgänge in den höheren Hierarchien, damit sie dann gut vorbe­reitet dort hinaufkommen, weil sie es brauchen werden gerade im nachirdischen

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Dasein. Während bei den Somnambulen ihr Erdendasein, in­dem sie eben Somnambulen sind, etwas von dem Charakter einer Besse­rungsanstalt hat gegenüber den geistigen Welten, hat das Leben solcher Persönlichkeiten, wie Swedenborg, etwas Vorbereitendes für die Leistun­gen, die sie nach dem Tode zu vollbringen haben. Und so können wir schon sagen: Die Menschen sind verschieden in ihren Individualitäten, und gerade an denjenigen, die sehr verschieden sind von den anderen, kann sich darstellen, wie der Mensch überhaupt nur begriffen werden kann, wenn wir nicht nur seine Beziehung zu der Erdenumgebung ins Auge fassen, sondern wenn wir wissen, daß er ja in jedem Augenblicke seines Lebens auch eine Beziehung zu den geistigen Welten hat, auch hier im irdischen Dasein eine Beziehung zu den geistigen Welten hat. Alles, was hier im irdischen Dasein nun auch bei den Menschen geschieht, bei denen es dann in so eklatanter Weise hervortritt wie bei Böhme und den anderen, hat eine Beziehung zum vorirdischen Dasein, zum Geiste, der auch im irdischen Dasein lebt, oder zum nachirdischen Dasein. Nur an diesen besonderen Typen, Somnambulen-Typen, dem Jakob Böhme-Ty­pus, Swedenborg-Typus, merken wir dasjenige stark, was bei jedem Menschen ein wenig vorhanden ist: ein Hingeordnetsein, ein Orientiert-sein des irdischen Daseins nach dem vorirdischen Dasein, oder nach dem gleichzeitigen irdischen geistigen Dasein, oder nach dem nachirdischen geistigen Dasein. Insonderheit brauchen ja diejenigen Wesenheiten, die, ich möchte sagen, so sich im Kosmos verhalten, wie ich es Ihnen damals dargestellt habe, also die Mondenwesen, Sonnenwesen, Saturnwesen, sie brauchen zur Verrichtung ihrer Aufgaben die Kräfte, die in beson­deren Menschen spielen.

Und da kann uns aufgehen - das sei nur am Schlusse dieser Betrach­tungen erwähnt - eine Perspektive. Was in dieser Perspektive sich eröff­net, davon will ich dann sprechen, wenn ich den nächsten Vortrag hier halte. Da kann uns aber eine ganz bestimmte Perspektive aufgehen. Wir müssen wirklich in Betracht ziehen, daß das menschliche Innere, sogar das physische menschliche Innere, das gewöhnliche physische mensch­liche Innere, das innerhalb der menschlichen Haut liegt, eigentlich her­ausfällt aus dem, was wir gewöhnlich den Kosmos nennen.

Wir können ja, grob bezeichnet, etwa folgendes sagen: Wenn wir hier die Erde haben, so geschehen darauf die mineralischen, die pflanzlichen, die tierischen, die physisch-menschlichen Wirkungen und so weiter, und darauf geschieht also das, was man mit Sinnen beobachten, mit dem

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Verstande kombinieren kann. (Es wird gezeichnet.) Da sind dann die Menschen auf dieser Erde darauf. Aber im Innern der Menschen ist auch eine Welt, das ist nicht dieselbe Welt wie außen. Ich könnte das dann so machen, ich könnte schematisch viele Menschen zeichnen und immer das Innere der Menschen. Das, was da im Innern der Menschen vorgeht, das sei das Rote, und das Weiße darum herum seien dann die Naturwir­kungen, die mit den Sinnen gesehen werden können und so weiter. Jetzt kann man ja eine Abstraktion machen. Denken Sie, ich lösche jetzt alles aus, was an Naturwirkungen da ist, ich lasse nur das Rote stehen, ich lö­sche alles aus, so daß nur das Innere der Menschen bleibt, daß alles andere weg ist. Also denken Sie sich, ich würde hier auf der Erde zunächst alle Mineralien wegschaffen, alle Pflanzen wegschaffen und alle Tiere weg-schaffen, alles was sonst noch an Naturwirkungen da wäre - aber wenn man die drei Naturreiche wegschafft, so ist ja schon alles weg -, und dann noch die Häute, so daß Sie dann die physische Haut wegbaben, aber nicht nur die Häute, sondern auch alles das, was Sie an physischer Mate­rie in sich haben. Ich würde das alles wegnehmen, dann bliebe etwas zurück von der ganzen Erdenkugel: das sind göttliche Wirkungen. Da würden wir noch immer die Hierarchien drinnen haben, Angeloi, Arch­angeloi und so weiter. Wir hätten eigentlich erst dann in Wirklichkeit die Erde weggenommen und den Himmel bewahrt.

Und wenn Sie diese Empfindung verfolgen, dann kommen Sie darauf das menschliche Innere in richtiger Weise einzustellen zu der eigentlich geistig übersinnlichen Welt und sich in umfassender Art vorzustellen, wo das ist, was man den Himmel nennen könnte. Er ist eigentlich in dem Menschen, in dem, was da übrig bleibt, wenn all das weg ist, was ich be­schrieben habe.

Wenn man so, wie ich heute beschrieben habe, Somnambule, Jakob Böhme, Swedenborg beschreibt, von wem redet man eigentlich? Dann steht man eben nicht auf der Erde, sondern steht im Kosmos drinnen. Das ist unserer Zeit notwendig, daß man nicht weiter, wie es die letzten Jahrhunderte getan haben, von dem Menschen nur so herumredet, als ob er ein Zusammenhang wäre der Naturgesetze und Naturwirkungen, die draußen sind, sondern man muß heute auf dasjenige aufmerksam werden, was dann da wäre, wenn man all das wegnehmen würde - ich will das gräßliche Bild nicht noch einmal wiederholen -, wenn man all das wegnehmen würde, wovon ich eben gesagt habe, daß man es weg-nimmt, und nur das Innere des Menschen übrig lassen würde, dann würde

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man eben nicht nur im allgemeinen, im verschwommenen, abstrakt­pantheistischen Sinn auf die geistige Welt kommen, sondern man würde auf die konkrete geistige Welt der übersinnlichen Wesenheiten kommen. Die haben in den Menschen ihre Wohnungen. Und dessen muß sich die Menschheit allmählich wieder bewußt werden, daß der menschliche Körper eben durchaus Wohnung der Götter ist.

Erst dann, wenn das aufgenommen wird in unser Zeitbewußtsein, ist das richtige Ingredienz in diesem Zeitbewußtsein drinnen, wodurch die Kultur, statt hinunterzugehen, hinaufgehen kann. Das ist eine Wahrheit, die man eben von den verschiedensten Gesichtspunkten ausdrücken kann. Heute habe ich sie Ihnen als Anknüpfung an das darstellen wollen, was ich gestern über den Traum und heute über diese sogenannten abnor­men Seelenzustände gesagt habe.

HINWEISE

#G225-1961-SE188 Drei Perspektiven der Anthroposophie

#TI

HINWEISE

#TX

Der Titel des Bandes sowie die Titel der einzelnen Vorträge - mit Ausnahme der­jenigen vom 20., 21., 22.Juli 1923 - stammen nicht von Rudolf Steiner. Die Titel für die einzelnen Vorträge, ausgenommen diejenigen vom 8.Juli und 22. Septem­ber 1 923, gab Marie Steiner für die Veröffentlichung in der Zeitschrift «Das Goe-theanum» und deren Beilage «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vor­geht. Nachrichten für deren Mitglieder». Ebenso gab sie den Titel für die frühe­re Einzelausgabe der Vorträge vom 6., 7., 8. und 15. Juli 1923 « Eine Jahrhundert-betrachtung 1823-1923. Das Entscheidende der Gegenwart».

Sämtliche Vorträge waren ferner abgedruckt in der Zeitschrift «Gegenwart» 1959/ 1960, XXI. und XXI I. Jahrgang.

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9/11 im vorletzten Hefte des «Goetheanum»: Vergleiche den Aufiatz «Anthroposo­phie und Idealismus» in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kul­turkrisis der Gegenwart». Gesammelte Autsätze aus der Wochenschrift «Das Goctheanum» 1921-1925, Gesamtausgabe Dornach 1961.

12 Schwaben- Vischer: Friedrich Theodor Vischer (1807-1887), Ästhetiker und Dichter. Seine hier erwähnten Werke: «Auch Einer» (1879), «Faust. Der Tragödie dritter Teil» (eine Parodie, 1862), «Mode und Zynismus» (1878).

20 Gottfiied Semper: 1803-1879, bekannter Architekt. Sein Hauptwerk: «Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten» (1 860- 1863).

26 in der vorletzten Nummer des «Goetheanum»: Vgl. Hinweis zu Seite 9/1 1.

27 Bim, Bam, Bum: Aus «Galgenlieder» von Christian Morgenstern.

30 in den Vorträgen über Kosmologie, Religion und Philosophie: Gesamtausgabe

Dornach 1956.

31 Jahve peinigte den Menschen im Schlafe in bezug auf seine Nieren: 73. Psalm, Vers 20-2 t : «Wie ein Traum, wenn einer erwachet, so machst du, Herr, ihr Bild in der Stadt verschmähet. Aber es tut mir wehe im Herzen, und sticht mich in meinen Nieren.»

35 ein Grippemittel: «Infludo», hergestellt von der Weleda AG, Arlesheim/ Schweiz und Schwäbisch-Gmünd/Deutschland.

37 das neulich von Leinhas im «Goetheanum» charakterisiert wurde: Emil Leinhas, «Sozialisierung oder Assoziierung?» in «Das Goetheanusn», 2.Jg. 1922/ 1923, Nr.37, vom 22. April 1923.

38 wo ich über eine Schrift gesprochen habe: Über Albert Schweitzer, «Verfall und Wiederaufbau der Kultur - Kulturphilosophie» I.Teil, Bern 1923, in dem Aufsatz «Scheinbare und wirkliche Perspektiven der Kultur», neu in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegen­wart», Gesamtausgabe Dornach 1961.

38 in den pädagogischen Vorträgen gestern und heute: «Warum eine anthroposophi­sehe Pädagogik?» Zwei Vorträge in Dornach am 30. Juni und 1. Juli 1923.

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38 Rektoratsrede: Max Rubner, «Unsere Ziele für die Zukunft». Rede zum

Antritt des Rektorates der Königlichen Friedrich-Wilhelm-Universität

in Berlin, gehalten in der Aula am 15. Oktober 1910, Leipzig 1910.

40 Eduard Zeller: 1814-1908.

51 heute vormittag im pädagogischen Vortrag: Siehe Hinweis zu Seite 38.

69 aus dem schlichten Bichlein: Konnte bisher nicht festgestellt werden.

79 in der neuesten Nummer der Zeitschrift «Wissen und Leben»: Juliheft, 16.Jg.,

1922/1923.

85 in den Auftätzen, die im «Goetheanum» vor kurzem erschienen sind: In den Auf-

sätzen:« Eine vielleicht zeitgemäße persönliche Erinnerung» / «Wie sich

heute ,Gegenwart' schnell in ,Geschichte' wandelt» / «Der notwendige

Wandel im Geistesleben der Gegenwart» / « Der Geist von gestern und der

Geist von heute.» Neu in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kul­

turkrisis der Gegenwart», Gesamtausgabe Dornach 1961.

91 Ich habe einen Kursus über Nationalökonomie vorgetragen: «Nationalökonomi-

seher Kurs», 14 Vorträge, gehalten in Dornach vom 24.Juli bis 6.Au-

gust 1922, Dornach 1933.

92 heimatlose Seelen - ich habe den Ausdruck vor kurzem hier einmal gebraucht: In

«Die Geschichte und die Bedingungen der anthroposophischen Bewe­

gung im Verhältnis zur Anthroposophischen Gesellschaft», 8 Vorträge,

gehalten in Dornach vom 10. bis i 7.Juni 1923, Gesamtausgabe Dornach

,959-

93 ich habe das schon einmal berührt: im Vortrag vom 29. September 1922 in

«Die Grundimpulse des weltgeschichtlichen Werdens der Menschheit»,

8 Vorträge, gehalten in Dornach vom 16. September bis 1. Oktober 1922,

Dornach 1948.

96 in diesen vier Artikeln: Siehe Hinweis zu Seite 85.

123 eine kleine Botanik vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt: Dr. A. Usteri, «Ver­

such einer geisteswissenschaftlichen Einführung in die Botanik», Zürich

1923.

124 es ist ja auch hier manchmal geredet worden von dieser Psychoanalyse: ii,sbeson­

dere in den beiden Vorträgen «Anthroposophie und Psychoanalyse», ge­

halten in Dornach am 10. und 1 1.November 1917.

125 Karl Rosenkranz-Zitat: Aus einem Tagebuch - Königsberg, Herbst 1833 bis

Frühjahr 1846; Leipzig 1854.

129 Hamerling ... in seinem «Homunkulus»: Robert Hamerling (1830-1889). Sein

«Homuneulus - Modernes Epos in zehn Gesängen» erschien 1888. Siehe

auch den Vortrag «Homunkulus», gehalten in Berlin am 26. März 1914,

in «Geisteswissenschaft als Lebeusgut», Gesamtausgabe Dornach 1959.

129 Eduard von Hartmann: 1842-1906. «Philosophie des Unbewußten» er­

schien 1869. Siehe auch Rudolf Steiner, «Mein Lebeusgang» (1925),

Dornach 1949.

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136 «Versuch, die Metamorphose der PJI£mzen zu erklären»: Siehe Goethes Natur-wissenschaftliche Schriften, mit Einleitungen ,md Kommentaren von

Rudolf Steiner, Bern ,947.

173 Wir haben gerade in der letzten Zeit ... über die Bedeutung des Mondes im Weltenall gesprochen: Vortrag vom 27.Juli 1923. Vortrag I in «Die geistigen Indivi­dualitäten unseres Planetensystems. Schicksalbestimmende und men­schenbefreiende Planeten», Dornach 1944.

176 seit dem französischen Kurs: Siehe Hinweis zu Seite 30.

178 wac ich Ihnen über die Druiden gesagt habe: Vortrag vom 10. September 1923, «Die Sonnen-Initation des Druidenpriestert und seine Mondenwesen­Erkenntnis», Dornach 1944.

183 jene Kraft des Saturns - kosmisch habe ich es Ihnen vor kurzem einmal geschildert:

Siehe Hinweis zu Seite 176. 185 wenn ich den nächsten Vortrag hier halte: Siehe die Vorträge vom 5., 6., 7., 12., 13.Oktober 1923, «Das Miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen», Freiburg i.Br. 1955.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.