GA 221

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Erdenwissen
und Himmelserkenntnis

Neun Vorträge, gehalten in Dornach
vom 2. bis 18. Februar 1923

GA 221

1981


Inhaltsverzeichnis


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ERKENNE DICH SELBST. DAS ERLEBEN DES CHRISTUS IM MENSCHEN ALS LICHT, LEBEN UND LIEBE Dornach, 2. Februar 1923

Wenn wir ein tierisches Wesen betrachten in seinem Leben, sagen wir während eines Jahreslaufes, so finden wir, daß das Tier den Jahres-lauf in einer gewissen Weise miterlebt. Bedenken Sie zum Beispiel ein Insekt, das sich im Zusammenhange mit der Jahreszeit verpuppt, das zu einer anderen Zeit als Schmetterling auskriecht, dann zu einer an­deren Jahreszeit seine Eier ablegt und so weiter. Wir können den äu­ßeren Naturlauf verfolgen, können dann den Lebenslauf eines solchen Insektes verfolgen, und wir werden einen gewissen Zusammenhang finden, gewissermaßen so etwas, wovon wir sagen können, das Tier richtet sich in seinem eigenen Leben nach seiner natürlichen Umge­bung ein. Wenn wir den Menschen irgendeiner Menschengruppe, ei­ner größeren Menschengemeinschaft, in älteren Zeiten der Erdenent­wickelung betrachten, so finden wir, daß er auch mehr oder weniger instinktiv das Äußerlich-Natürliche miterlebt. Indem aber die Mensch­heitsentwickelung vorwärtsgeschritten ist, hörten jene Instinkte mehr oder weniger auf, welche den Menschen dazu brachten, seine unmit-telbare natürliche äußere Umgebung mitzuerleben. So daß wir bei den Mitgliedern der vorgeschritteneren Menschheit nicht mehr ein solches äußeres Zusammenstimmen finden zwischen der unmittelbaren Um­gebung der Natur und demjenigen, was an dem Menschen selbst auf­tritt. Das hängt damit zusammen, daß der Mensch ja einer Entwicke­lung unterliegt, welche die Geschichte der Menschheit ausmacht, und welche ein Ganzes innerhalb der langen planetarischen Entwickelungs­epoche der Erde bildet.

Wenn wir, weil dabei ja die Verhältnisse am deutlichsten auftreten, ein niederes Tier nehmen, ein Insekt eben, so finden wir, daß ein sol­ches Tier einen verhältnismäßig kurzen Zeitraum, einen Jahreslauf etwa miterlebt. Dann wiederholt sich mit dem Tiere dasjenige, was in einem einzelnen Jahreslauf sich abspielt.

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Für die Menschheit haben wir ja bei unseren geschichtlichen Be­trachtungen des öfteren eine gewisse Gesetzmäßigkeit gefunden, die durch lange Erdenzeiten, durch lange Zeiten unseres Planeten hin­durchgeht. Wir haben zum Beispiel das uns ja so Geläufige gefunden, daß in älteren Zeiten die Menschen eine Art instinktiven Hellsehens hatten, ein Bilderbewußtsein, daß dann dieses Bilderbewußtsein abge­glommen ist in einer mittleren Zeit der Menschheitsentwickelung, wo ein Übergang war von dem alten Bilderbewußtsein zu dem modernen intellektualistischen Begriffsbewußtsein. Und unsere geschichtliche Gegenwart seit dem ersten Drittel des 1 5.. Jahrhunderts haben wir ja öfters angeführt als die Zeit der eigentlichen Bewußtseinsseelenent­wickelung, da wo der Mensch eintritt in das intellektualistische Den­ken im engeren Sinne, das ihn dann zum freien Selbstbewußtsein erst vollständig bringt.

Wenn wir von diesem Gesichtspunkte aus also einen langen Zeit­raum betrachten, dann erst finden wir eine gewiße überschaubare Re­gelmäßigkeit in der Entwickelung der ganzen Menschheit, eine Regel-mäßigkeit, die wir für diesen langen Zeitraum schon vergleichen müs­sen mit der Regelmäßigkeit in einem verhältnismäßig kurzen Zeit­raum, sagen wir für ein Insekt, das den Jahreslauf miterlebt.

Nun, in älteren Zeiten war noch ein gewisses Miterleben, ein in­stinktives Miterleben der Menschheit mit dem natürlichen Lauf, mit der natürlichen Umgebung. Aber die Instinkte sind mehr oder weni­ger abgelähmt worden, und heute leben wir in einer Zeit, in der das bewußte Innenieben an die Stelle des alten instinktiven Lebens treten muß.

Würde nun der Mensch nur so leben, daß er, ich möchte sagen, sich dem Zufall übergibt, daß er nicht aufnimmt innere Richtungslinien und Gesetzmäßigkeiten, in einem bestimmten Zeitpunkte nicht sich sagt:

So mußt du deine ganze Wesenheit orientieren-, würde der Mensch nicht zu einer solchen inneren Orientierung kommen, sondern sich dem Zufall überlassen in seinem Hinleben von der Geburt bis zum Tode hier auf Erden, er würde, trotzdem er durch sein höher entwik-keltes Seelenieben über das Tier hinausragt, durch diese Handhabung seines Seelenlebens unter die Tierheit heruntersinken.

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Dann müßten wir sagen: Das Insekt hat eine gewisse Richtung seines Lebens für den Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Es überläßt sich nicht dem Zufall des Werdens, es stellt sich in einer gewissen Regelmä­ßigkeit in der Aufeinanderfolge der Lebensstadien in die Welt hinein.

Wenn wir aber sehen, wie der Mensch aus dem instinktiven älteren Miterleben mit der Natur, das zwar seelischer war als das der Tiere, das aber dennoch instinktiv war, herausgetreten ist und die neuere, be­wußtere Form angenommen hat, so finden wir allerdings, daß der Mensch, trotz seines höheren Seelen- und Denklebens, mit der Ab-lähmung seiner Instinkte sich mehr in ein chaotisches Leben hinein-begeben hat und dadurch in einer gewissen Weise unter das Tierische heruntergesunken ist.

Man möge noch so sehr hervorheben, was der Mensch zunächst als herausragend über die Tierheit hat, dasjenige, was er auf der anderen Seite als seinen neueren Fortschritt entwickelt hat, wir werden dennoch gerade von den hier angegebenen Gesichtspunkten aus sagen müssen: Jenes innere Richtunggebende seines Lebens hat der Mensch eigent­lich verloren. Denn er müßte dieses Richtunggebende seines Lebens darinnen sehen, daß er als ein Glied der Menschheit sich bewußt ist:

Du bist ein Mensch dieses oder jenes Jahrhunderts. Dieses oder jenes Jahrhundert nimmt aber in dem Gesamtwerden deines Planeten eine bestimmte Stellung ein, so wie der Monat September eine bestimmte Stellung im Jahreslauf für ein niederes Lebewesen einnimmt. Du mußt dir bewußt werden, wie dein Seelenieben sich in eine bestimmte histo­rische Epoche hineinstellen muß.

Das muß allerdings etwas werden, das sich der Mensch aneignet, in­dem er immer mehr und mehr hineintritt in die Bewußtseinsseelenent­wickelung. Der Mensch muß bewußt sich sagen können: Ich lebe in dieser oder jener Epoche, und ich bin nicht im vollen Sinne des Wor­tes Mensch, wenn ich mich dem Zufall überlasse, der mich durch die Geburt ins irdische Dasein hereingestellt hat, das heißt für mein Be-wußtsein dem Zufall überlasse, sonst bin ich dem Karma überlassen. Ich bin nur dann im vollen Sinne des Wortes Mensch, wenn ich mir Rechenschaft darüber ablege, was die geschichtliche Entwickelung der Menschheit von meinem Seelenleben will, indem ich einer gewissen

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Epoche angehöre. Das Tier lebt im Jahreslauf. Der Mensch muß lernen, in der Geschichte der Erde zu leben.

Wir haben ja als wichtigstes Ereignis in diese Geschichte der Erde das Mysterium von Golgatha hineingestellt. Und wir haben des öfte­ren betrachtet, was es heißt, der Mensch habe vor dem Mysterium von Golgatha gelebt, oder er lebte in einem gewissen Zeitpunkt nach dem Mysterium von Golgatha. Wir haben gewissermaßen einen Ru­hepunkt in der geschichtlichen Entwickelung, indem wir von diesem größten historischen Ereignis auf Erden zurück- und vorwärtsrech­nen. Aber wir werden einem solchen Rechnen in bezug auf das Myste­rium von Golgatha erst voll gerecht, wenn wir auch für die einzelnen Epochen des geschichtlichen Lebens ins Auge fassen können, was eben des Menschen Seelenaufgabe in einer bestimmten Epoche ist

Die geschichtliche Darstellung, wie man sie heute gewöhnlich hat, genügt nicht, um ein solches Bewußtsein für eine bestimmte Epoche zu gewinnen. Denn die bloße Erzähiung, wie sich das persische, das babylonische, das ägyptische, das griechische, das römische Leben und so weiter entwickelt hat, das gibt dem Menschen doch keinen Aufschluß über ein regelmäßiges Sich-Hineinstellen in das ganze ge­schichtliche Werden seines Planeten, so wie sich regelmäßig das Tier hineinstellt in den Jahreslauf.

Nun haben wir ja schon in der verschiedensten Weise die einzelnen Epochen der Geschichte studiert, um daraus einen Begriff zu bekom­men, was wir besonders in unserer Epoche innerhalb unseres Seelen­lebens lebendig zu machen haben. Aber das Leben ist reich und viel-artig, und wenn man zu der wahren Wirklichkeit des Erdeniebens, des Menschheitslebens überhaupt kommen will, so muß das Leben immer wieder von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachtet wer­den. Und so möchte ich Ihnen heute wiederum einen Gesichtspunkt im Menschenleben entwickeln, der geeignet ist, hinzuweisen auf die besondere Artung des Seelenlebens des Menschen in unserer Zeit.

Wenn wir in sehr alte Zeiten der Menschheitsentwickelung zurück­blicken, so finden wir ja in den einzelnen Lebensgebieten der Erde eingestreut dasjenige, was wir als die Mysterien kennengelernt haben. Wir finden, daß die einzelnen über die Erde hin lebenden Menschengruppen

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sich äußerlich sogar, aber nanentlich seelisch, kulturell, un­ter dem Einfluß dieser Mysterien entwickeln. Wir finden, daß einzelne Menschen je nach ihrem Reifegrade in die Mysterien aufgenommen werden, daß sie dort eine Entwickelung durchmachen, die sie zu einer gewissen Stufe des Erkennens, des Fühlens, des Wollens bringt, und daß sie dann als solche Erkennende, Höher-Fühlende, Höher-Wollende unter die übrigen Menschengenossen hinaustreten und diesen für die ernzelnen Dinge des Lebens, für die innere Stärke und Kräftigung der Seele, für das äußere Wollen und Tun die Richtungslinien geben. Man kann daher das, was solche Richtungslinien für ältere Epochen der Menschheit waren, am besten daran studieren, wie die in die Mysterien Einzuweihenden zu solchen Richtungslinlen gebracht worden sind.

Ähnlich wie heute, nur eben nicht, wie wir oft gehört haben, in der abstrakt4ntellektualistischen Weise wie gegenwärtig, wurden die Schüler der Mysterien dazu gebracht, ihre Umwelt kennenzulernen, sagen wir, um das Hauptsächlichste herauszugreifen, dasjenige kennen­zulernen, was in den sogenannten drei Reichen der Natur lebt. Wir lernen heute schon von der untersten Schulstufe ab durch allerlei Be­griffe und Vorstellungen uns hineinversetzen in die drei Reiche der Natur. Wir lernen durch Begriffe und Ideen das Mineralische, das Pflanzliche, das Tierische kennen und wollen, von da ausgehend, auch Aufschlüsse über das menschliche Leben und Wesen selber gewinnen.

Solche Begriffe, solchen intellektualistischen Seelertinhalt, wie er heute den Menschen mitgeteilt wird, gab es allerdings in jenen älteren Zeiten bei den in die Mysterien Einzuweihenden nicht. Begriffe waren auch da, aber sie waren nicht in der Weise errungen, erarbeitet im in­neren Seelenleben durch Logik, Beobachtung und so weiter wie heute, sondern sie waren dadurch an den Menschen herangebracht, daß der Mensch eine innere Seelenentwickelung durchzumachen hatte, und daß er dann zu Bildern kam über das Mineralische, über das Pflanzliche, über das Tierische. Nicht jene abstrakten Begriffe nahm er auf, die er heute aufniramt, sondern Bilder - Bilder, die der heu­tige intellektualistische Mensch vielleicht als phantastisch empfinden wird, aber eben Bilder nahm er auf, der Mensch. Er wußte aber von diesen Bildern durch unmittelbares Erleben, daß ihm das, was er

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in den Bildern erfuhr, in den Bildern erlebte, etwas gab von dem, was in den Dingen, in den Mineralien, Pflanzen, Tieren selber drinnen war, was in ihnen wuchs, was in ihnen Gestalt annahm, was in ihnen sich entfaltete. Das wußte er. Er wußte es eben aus den Bildern, die dem heutigen Menschen wie phantastische Mythen und dergleichen vorkommen.

Der alte Mensch wußte, daß er Wirklichkeitsgemäßes hatte an dem, was der heutige Mensch mehr oder weniger als mythologisch-phan­tastisch empfindet. Der ältere Mensch wußte: Wenn ich ein Tier in der physisch-sinnlichen Welt anschaue, so steht es vor mir in festen Umrissen. - Diese festen Umrisse zu begreifen, war aber nicht eigent­lich seine Absicht. Seine Absicht war vielmehr, das überall flutende, bewegliche, flüssige Leben zu verfolgen. Das konnte man nach seinen Anschauungen nicht in scharf umrissenen Bildern, nicht in scharf um­rissenen Begriffen, sondern das mußte man in flüssigen, sich verwan­delnden, sich metamorphosierenden Bildern vermitteln. Und so wurde es ihm in den Mysterien vermittelt.

Dann aber, wenn der Mensch auf Grundiage dieser Mysteriener­kenntnis aufsteigen sollte dazu, sich selbst zu erkennen, dann machte er in seiner Seele zunächst eine bedeutungsvolle Krise durch. Er hatte in seiner für die alte Zeit zeitgemäßen Erkenntnis Bilder empfangen von dem Mineralischen, von dem Pflanzlichen, von dem Tierischen. Er konnte in der seinem traumhaften Bewußtsein entsprechenden Weise gewissermaßen das Innere der Naturreiche durchschauen. Er hatte aus seinem Mysterienwesen heraus in einer ähnlichen Weise, wie spätere Zeiten, die Richtungslinien daraufhin bekommen, sich selbst zu erkennen. Das «Erkenne dich selbst» war doch ein Ideal durch alle Zeiten der menschlichen Kultur- und Zivilisationsentwickelung hin-durch. Aber indem er, dieser ältere Mensch, von seiner Art imaginati­ver Naturerkenntnis aufsteigen sollte zur Selbsterkenntnis, machte er eine innere Seelenkrise durch.

Soll ich Ihnen schildern, worin diese innere Seelenkrisis bestand, so muß ich das Folgende sagen: Der Mensch hatte sein Seelenieben er­füllt, indem er hinaussehen gelernt hatte auf das Wesen des ausgebrei­teten Mineralischen, er trug Wirkungen der mineralisch-physischen

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Vorgänge in sich. Er trug des weiteren Bilder von dem mannigfaltig in sich verwebenden pflanzlichen Leben in sich. Er trug Bilder des Tierischen in sich. Er konnte das auch zusammenfügen zu einer mine­ralisch-pflanzlich-tierischen Welt. Indem er, gewissermaßen von dem IIinausschauen ausgehend, zurückschaute in sein Inneres, hatte er in seiner primitiveren Art von Gedächtnis ein inneres Bild des Mineral-reiches, des Pflanzenreiches, des Tierreiches und ein inneres Bild des Zusammenwirkens.

Wenn er darin heranging an die Erfüllung der Forderung: «Erkenne dich selbst», dann mußte er plötzlich stehenbleiben, dann mußte er sich sagen: Ich habe eine mannigfaltige, formenreiche, farbenreiche, sogar innerlich tönende, man möchte sagen, innerlich musikalische Bilderwelt von demjenigen, was außer dem Menschen im Erdenleben vorhanden ist. Aber diese ganze formenreiche, mannigfaltige, sich verwandelnde, in Farben überall schillernde und leuchtende und glän­zende, in Tönen erklingende Welt, sie läßt mich im Stiche, wenn ich die Forderung «Erkenne dich selbst» erfüllen will. Indem ich das Menschenwesen selber in einer solch bildhaften Weise fassen will, kann ich das nicht. Ich bekomme zwar auch für den Menschen Bilder, aber indem ich diese Bilder erlebe, weiß ich aus dem Erleben der Bilder selbst heraus: das ist nicht der wirkliche Mensch, das ist nicht das, was ich empfinde, wenn ich meine Menschenwürde empfindend erlebe. Das bin ich nicht in Wirklichkeit.

Und aus dieser Krise heraus, die da der Mensch durchmachte in be­zug auf die Ohnmacht der Selbsterkenntnis, entwickelte sich dann für den Menschen, der durch die Mysteneneinweihung eben diese Krisis durchlebt hat, etwas anderes. Es entwickelte sich daraus eine ganz be­stimmte Lebensüberzeugung, eine Lebensüberzeugung, die wir auf dem Grunde aller alten Zivilisationen finden.

Diese Lebensüberzeugung bestand darinnen, daß der Mensch, der wirklich aufgeklärt war in älteren Zivilisationen, sich sagte: Hier auf Erden, wo die Mineralien, die Pflanzen, die Tiere ihre Bestim­mung finden, wo sie in der Lage sind, ihr Wesen zu offenbaren in den Bildern, die ich mir selber von ihnen machen kann, hier auf dieser Erde offenbart der Mensch sein Wesen nicht.

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Das ist die auf dem Grunde aller älteren Zivilisationen lebende Über­zeugung, daß der Mensch nicht in demselben Sinne zur Erde gehört, wie die Wesen der anderen Naturreiche, daß er gewissermaßen die Heimat seines eigenen Wesens woanders als auf Erden hat, daß er diese Heimat seines eigenen Wesens in der übersinnlichen Welt hat. Und das war keine willkürliche Glaubensvorstellung, sondern das war etwas, was die Menschen sich in einer Krisis ihres Seelenlebens errungen ha­ben, nachdem sie eben zunächst die ihrer Zeit gemäße Erkenntnis über das Außermenschliche im Erdenleben erworben hatten.

Und eine Lösung dieser Krisis gab es ja nur dadurch, daß in jenen älteren Zeiten der Mensch vermöge der in ihm damals noch vorhan­denen Fähigkeiten hingewiesen werden konnte auf das vorirdische Leben, und von da aus auch auf das nachirdische Leben, auf das Le­ben nach dem Tode.

Das vorirdische Leben war in einer gewissen Weise jedem instink­tiven Menschen bewußt. Es ragte herein wie eine vorirdische Erinne­rung in das irdische Leben. Und das nachirdische Leben wurde in der Weise, wie ich das ja in dem sogenannten Französischen Kurs angedeu­tet habe, dann in der Erkenntnis auf Grundiage des vorirdischen Le­bens erworben.

Aber was lernte der Mensch da auf Grundiage seiner alten Fähig­keiten wissen? Er lernte wissen: Wenn du durch die Pforte des Todes getreten bist, dann erst wird der Zeitpunkt gekommen sein, in dem du nicht nur das Wesen der außermenschlichen Natur vor dir haben wirst, sondern in der du dein eigenes Wesen vor deiner Seele wirst auftreten schauen. Denn das war das Eigentümliche einer älteren Menschheits­entwickelung, daß der Mensch damals zwischen Geburt und Tod aus­schließlich ein Bilderbewußtsein entwickelte, wie ich es öfters geschil­dert habe, noch nicht das intellektualistische Bewußtsein, das wir heu­te haben. Dieses intellektualistische Bewußtsein, das wir heute haben, das entwickelte der Mensch in jenen älteren Zeiten unmittelbar nach dem Tode. Und er behielt es dann nach dem Tode.

Das ist das Eigentümliche im Fortschritt der Menschheitsentwicke­lung, daß das intellektualistische Bewußtsein, das die Menschen einer älteren Zeit nach dem Tode so hatten, wie wir heute für den Menschen

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die bloß bildhafte Rückgchau der drei Tage nach dem Tode beschrei­ben, das war das Eigentümliche, daß der Mensch einer älteren Zeit auf der Erde ein traumhaftes Bilderbewußtsein hatte, so wie wir heute schon im Erdenieben das intellektualistische Bewußtsein haben, und nach dem Tode hineinwuchs in das intellektuelle Leben, das ihm dann, wenn er körperbefreit war, die Freiheit gab. In älteren Zeiten wurde der Mensch nach dem Tode ein intellektualistisches und freies Wesen.

Und indem der Mysterienschüler eingeweiht wurde in diese Tat­sache, konnte ihm klargemacht werden, auf Grundlage der damaligen Menschenerkenntnis: Hier auf dieser Erde kannst du durch dein Bil­derbewußtsein eine Erkenntnis gewinnen von dem Außermenschli­chen. Aber indem du gemäß der Forderung «Erkenne dich selbst» auf dich zurückblickst, findest du dich mit deiner vollen Menschen-würde im irdischen Leben vor dem Tode eigentlich nicht. Du wirst em voller Mensch erst, wenn du durch die Pforte des Todes getreten bist. Dann wirst du das reine Denken in deinen Besitz bekommen können, dann wirst du mit dem reinen Denken ein freies Wesen wer­den können.

Das ist das Eigentümliche, diese Form des Bewußtseins, die für äl­tere Zeiten der Menschheitsentwickelung so für den Menschen nach dem Tode eingetreten ist, wie für uns heute die Rückschau nach dem Tode; die hat sich gewissermaßen in einer dem Menschenieben ent­gegengesetzten Strömung hereinbewegt von dem nachtodlichen Le­ben, von dem nachirdischen Leben in das irdische Leben herein. Und das, was wir in ausgesprochenem Maße als Menschen uns erworben haben seit dem ersten Drittel des i 5.. Jahrhunderts, das ist hereinge­wandert von dem nachirdischen Menschen in den irdischen Menschen. Das heißt, es ist das wirkliche Menschenwesen, von dem den älteren Mysterienschülern klargeworden ist, du findest es erst im überirdi­schen Dasein nach dem Tode, es ist dieses Menschenwesen in das ir­dische Leben hereingezogen. Ein wirklicher übersinnlicher Strom ist in das irdische Menschenleben hereingezogen, indem er unserem Menschenleben, das vom Vorher zu dem Nachher geht, sich entge­gensetzt, vom Nachher zum Vorher bewegt. Wir sind als Menschen eines Überirdischen teilhaftig geworden und haben damit allerdings

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die Aufgabe übernommen, dieses aus dem Übersinnlicben in das Sinn­liche Hereingezogenen würdig zu werden, unsere Freiheit auch inner­lich zu gewinnen, das Übersinnliche bewußt im Sinn der Bewußtseins­seelenentwickelung voll anzuerkennen.

Es ist wirklich so, daß, wenn auch ältere Zeiten gewissermaßen über den Menschen erhoben gefunden haben die Forderung: « Erkenne dich selbst», ihm als Antwort wurde: Hier auf Erden gibt es keine Selbsterkenntnis, denn hier auf Erden ist das volle Menschenwesen gar nicht erfüllt. Du bist nicht voll Mensch auf der Erde, du bist voll Mensch erst, wenn du durch die Pforte des Todes geschritten sein wirst und hineingegangen sein wirst in die übersinnliche Welt.

Noch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha und Jahrhunderte spä­ter nannte man daher den Menschen, wie er auf Erden lebt, im Sinne der alten Mysterienweisheit: den natürlichen Menschen. Aber man war zu gleicher Zeit der Ansicht, dieser natürliche Mensch ist nicht der wahre Mensch, ist nicht der volle Mensch, trägt das volle Men­schenwesen gar nicht in sich. Und man unterschied von diesem natür­lichen Menschen den pneumatischen Menschen, den geistigen Men­schen. Und man war der Ansicht, daß der Mensch erst, wenn er nach Ablegung des physischen Leibes mit Durchschreiten der Todespforte pneumatischer Mensch geworden ist, er erst als ein solcher pneumati­scher Mensch voller Mensch sein kann. Daher war mit der Mysterien-einweihung der alten Zeiten die Entwickelung höchster Bescheiden­heit für das Erdenbewußtsein des Menschen verbunden. Hochmütig konnte der Erdenmensch durch die Mysteneneinweihung nicht ge­macht werden, denn er bekam nicht etwa das Gefühl: du bist auf die­ser Erde schon im vollen Sinne des Wortes Mensch, sondern er be­kam das Bewußtsein: du bist gewissermaßen ein Kandidat des Menschlichen hier auf Erden, und du mußt dein Erdenleben so an­wenden, daß du nach deinem Tode voll Mensch werden könntest.

So also empfand man den auf der Erde herumwandelnden Men­schen im Sinne dieser Mysterienweisheit nicht als eine wahre Offen-barung des Vollmenschlichen. Erst in der Griechenzeit und in derje­nigen Zeit, die dann später unter dem Einflusse der grieohischen Kul-tur bestanden hat, empfand man, ich möchte sagen, mit der Intellektualität

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und mit der Freiheit das Hereinströmen des rachirdischen wahren Menschenwesens in das irdische Menschenwesen. Und man sah im Sinne der griechischen Zivilisation den irdischen Menschen so an, daß zwar auch nicht in dem einzelnen auf Erden herumwandeln-den irdischen Menschen das ganze menschliche Wesen voll erfüllt war, aber in dem, was der irdische Mensch war, sah man gewissermaßen den aus dem Überirdischen in das Irdische hereinziehenden arbeiten. In der Art und Weise, wie sich ausprägten des Menschen Physiogno-mie, seine Betätigungsweise, seine Gestaltung, in alledem sah man verehrungsvoll das Hereinströmen des Überirdischen in das Irdische.

Das alles ist mit der neueren Menschheitsentwickelungsphase an­ders geworden. Mit der neueren Menschheitsentwickelungsphase muß sich der Mensch sagen: Ich habe die große Aufgabe, memer Menschheit mir bewußt zu werden. Ich habe die Aufgabe auf dieser Erde, wenigstens bis zu einem gewissen Grade den Menschen In sei­nem Wesen schon voll darzustellen. Auch über mir erhebt sich die

Forderung: «Erkenne dich selbst. » Aber indem ich ein intellektuall­stisches Bewußtsein erworben habe, kann ich eben die innerliche Kraft des reinen Denkens und die innerliche Seelenverfassung der Freiheit erfassen in der Selbsterkenntnis des Menschen. Ich kann vor mein Seelenauge den Menschen bekommen. Hochmütig darf der Mensch auch durch diese, bis zu einem gewissen Grade sich erfüllende Forderung «Erkenne dich selbst» nicht werden. Denn in jedem Mo­mente muß er sich ja bewußt werden, wie er zu erringen hat dasjenige, was seine wirkliche Freiheit ist wie er in seinen Leidenschaften, In seinen Emotionen, in seinen Gefühlen und Empfindungen von dem abhängig ist, was untermenschlich ist, und was in einem so hohen Grade eine alte Menschheit durch das Bilderbewußtsein lebendig im Außermenschlichen geschaut hat, und damit auch schauen konnte Irn Menschlichen, das heißt aber im Untermenschlichen. Und die Aner­kennung dieses Untermenschlichen für das, was man erkennen konn­te, die war eine große in jenen alten Zeiten. Denn man sagte sich: Der wahre Mensch lebt gar nicht auf Erden - denn den wahren Menschen hätte man als intellektualistisches Wesen mit dem intellektualistischen Erkennen erfassen müssen. Mit dem nichtintellektualistischen Bildererkennen

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kann man nur das Untermenschliche zunächst erfassen. Erst dann, wenn das Intellektualistische, das in freier innerer Seelen­verfassung lebt, so wie ich es dargestellt habe in meiner « Philosophie der Freiheit», erst wenn dieses nun weiterentwickelt wird zur bewuß­ten exakten Hellsichtigkeit, vermag der Mensch auch sich zu erkennen in bezug auf die anderen Glieder seiner Wesenheit, außer dem intellek­tualistischen reinen Denken und dem freien Impuls des Wollens.

Er vermag durch ein solches höheres Bewußtsein, durch das imagi­native, inspirierte, intuitive Bewußtsein sich auch in seinem außerin­tellektuellen Wesen zu erkennen als einen Angehörigen der übersinn­lichen Welt. Und dann wird ihm klar: Du bist zwar ein voller Mensch

- das enthüllt sich vor deiner Selbsterkenntnis -, aber das volle Men­schentum erfordert von dir, daß es immer vollkommener und voll­kommener werde.

Und so kann der Mensch der neueren Zeit nicht jene Art von Be­scheidenheit entwickeln, die er entwickeln mußte in älteren Epochen der Zivilisation, und die ihm dadurch kam, daß er sich sagen mußte:

Indem du in einem physischen Leibe lebst, bist du ja gar nicht Voll-mensch, erfüllst du ja gar nicht deine volle Menschenwürde und dei­nen vollen Menschenwert, sondern du bist nur ein Kandidat des Men­schenwesens. Du kannst dich nur vorbereiten für Bewußtsein und Freiheit, wie sie unmittelbar nach dem Tode in dir auftreten.

Der neuere Mensch aber muß sich sagen, nachdem er die Zwischen­stufe des Griechischen in anderen Erdenleben durchgemacht hat : Du mußt achtgeben, daß du nicht versäumst, ein wahrer Vollmensch zu sein in deinem fleischlichen Leibe zwischen Geburt und Tod, denn dir ist es beschieden als moderner Mensch, innerlich auszuarbeiten dasjenige, was aus dem vorirdischen Leben in das irdische Leben her-eingetreten ist. Du kannst Mensch auf Erden werden. Du mußt daher die Schwierigkeit auf dich nehmen, Mensch zu werden auf der Erde.

Das drückt sich auch aus in der Entwickelung des religiösen Be­wußtseins der Menschen. Wir haben ja das letzte Mal hier gehört, wie eine ältere Zeit vorzugsweise aufblickte zu dem Vatergotte und in dem Christus den Gottsohn hatte. Den Vatergott aber sah man in dem Substantiell-Schöpferischen und Lenkerischen des Übersinnlichen,

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von dem das Sinnlich-Irdische nur ein Abglanz: ist. Man blickte auf zu dem Kosmischen von der Erde aus. Und im religiösen Bewußtsein blickte man in diesem Sinne zum Vatergotte auf.

Die Mysterienschüler waren sich immer bewußt : das Höchste, was sie über den Menschen lernen konnten, ist eine Vorbereitung für das Leben nach dem Tode. Nun ist durch das Mysterium von Golgatha der Gottessohn verbunden worden mit dem Erdenleben, und der Mensch kann im Sinne des Paulinischen Wortes das Bewußtsein ent­wickeln : «Nicht ich, sondern der Christus in mir.» Dadurch aber, daß der Mensch den Christus-Impuls in sich aufleben läßt, daß er seine in­nere Tätigkeit orientiert, so daß ihn der Sinn, das Leben des Christus-Impulses durchweht und durchwellt, dadurch kann der Mensch eben jenen Strom erfüllen, der zu uns Menschen gekommen ist aus dem vorirdischen Leben und ihn während des irdischen Lebens in sich auf­nehmen. Und das erste primitive Aufnehmen dieses Stromes in das irdische Leben besteht eben darin, daß sich der Mensch sagt : In einem gewissen Zeitpunkte meines Lebens komme ich dazu, innerlich auf­sprießen und aufleben zu fühlen etwas, was bisher unter der Schwelle meines Bewußtseins gesessen hat, wovon ich jetzt merke, es ist da. Jetzt steigt es heraufl Es erfüllt mich mit innerem Lichte, also mit in­nerer Wärme. Ich weiß neuerdings dadurch, daß dieses innere Leben, diese innere Wärme, dieses innere Licht im Laufe des Erdenlebens nach der Geburt erst in mir aufgestiegen ist, ich weiß jetzt vom Erden-leben mehr, als mir angeboren ist. Ich lerne im Erdenieben etwas ken­nen, was in meiner Menschheit heraufsteigt.

Indem dann der Mensch dieses in ihm heraufsteigende Licht und Leben und diese in ihm heraufsteigende Liebe als den in ihm webenden und lebenden Christus-Impuls empfindet, bekommt er in sich die Kraft, das Nachirdische als das Vollmenschliche im freien inneren Seelenle­ben zu erfassen.

Und so hängt das Mysterium von Golgatha und der Christus-Impuls innig zusammen mit der Erlangung des menschlichen Freiheitsbe­wußtseins, jenes Bewußtseins, das auch imstande ist, das bloße Den­ken, das sonst tot und abstrakt wird, mit innerem Leben und mit inne­rer Wärme zu durchpulsen.

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Dadurch aber wird das Erleben des Christus in dem Menschen in der neueren Zeit hmgestellt in seiner ganzen Wichtigkeit und Wesent­lichkeit neben die Forderung, die an den Menschen zu allen Zeiten er­gangen ist und auch heute ergeht : «Erkenne dich selbst. Befruchte dich in dir selbst zum vollen Menschentum.»

Damit ist aber wieder in einer gewissen Weise angedeutet, wie un­terschieden dasjenige im Menschen ist, was in der heutigen Epoche in seiner Seelenverfassung zu leben hat, gegenüber der Seelenverfas­sung in einer älteren Zeitepoche. Und wir lernen über einen großen Zeitraum hinüber den Menschen so betrachten, wie wir betrachten müssen das Insekt, von dem wir sagen müssen : es spürt, es emp­findet im ganzen Weltenzusammenhange die Epoche des Sommers, und schickt sich an, zur rechten Zeit zu empfinden den Übergang in die Herbstepoche, um eine andere Lebensgestaltung in diese Herbstepoche hineinzusetzen, als es in die Frühlings und Sommer-epoche hineingesetzt hat. So wie das Tier im Jahreslauf lebt, so soll der Mensch in der Geschichte seines Erdenplaneten leben kön­nen. Er soll sich sagen können : Da war, wie für das Insekt die Früh­lingszeit, so für mich einnaal die Zeit des alten instinktiven Helisehens mit Unfreiheit, mit dem Bilderbewußtsein, mit der Unrnöglichkeit der Erfüllung der Forderung «Erkenne dich selbst», mit dem Bewußtsein :

du bist ein Vollmensch erst, wenn du durch die Pforte des Todes ge­schritten bist. Dann kam, wie für das Insekt der Sommer und Herbst, die Griechenzeit. Da war der Übergang zu einer späteren Zeitepoche, in der ich nun lebe, und in der jetzt die Seelenaufgabe diese ist : in einem gewissen Sinne hier auf Erden zu erfüllen das «Erkenne dich selbst», und dadurch auch nach dem Tode zu höheren Stufen der Le­bensentfaltung zu kommen, als es diejenigen einer älteren Menschheit waren, wo der Mensch eben erst nach dem Tode ein voller Mensch werden konnte.

In jenen älteren Zeiten hatte der Mensch die Aufgabe, hier auf Er­den ein Kandidat des Lebens zu sein, nach dem Tode dadurch ein voller Mensch zu werden. In dieser unserer gegenwärtigen Epoche hat der Mensch die Aufgabe, hier auf Erden sich die Möglichkeit zu erringen, ein Vollmensch zu sein, damit er dann nach dem Tode in

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höhere Stufen der Entwickelung eintreten könne, als das der ältere Mensch konnte. Der ältere Mensch setzte sich der Gefahr aus, wenn er das Erdenleben nicht richtig lebte, nicht bis zur vollen Menschheit zu kommen. Der neuere Mensch steht vor etwas anderem. Er steht davor, auf Erden erringen zu müssen das volle Menschentum. Und erringt er es nicht, dann verleugnet er es, und dann stößt er sich für das Leben nach dem Tode weiter in das Untermenschliche hinunter. Der ältere Mensch konnte etwas unterlassen; der neuere Mensch zer­stört etwas. Der ältere Mensch unterließ etwas, wenn er nicht ein Kandidat des Lebens wurde; der neuere Mensch zerstört in seinem Menschentum etwas für die ganze Menschheit, wenn er nicht darnach strebt, auf Erden ein voilmenschliches Wesen zu werden, denn er ver­leugnet dadurch die Menschheit, während der ältere Mensch sie nur versäumte.

So muß gedacht werden, wenn der Mensch auf seiner höheren Stufe des Daseins bewußt in demselben Sinne in die Welt sich hineinstellen will, wie das Tier instinktiv auf einer niederen Stufe in seine Welt sich hineinstellt, sonst liefert sich der Mensch dem Chaos aus, was das Tier aus seinem Instinkte heraus nicht tut.

Das ist etwas, was wir lernen müssen durch Anthroposophie : wirk­lich Mensch zu sein, damit wir nicht die Schande erleben, weniger zu sein im Weltenall, trotzdem uns die Götter zu Höherem bestimmt ha­ben, weniger zu sein im Weltenall als das Tier, das nicht versäumt, die Harmonie des Weltenalls mitzumachen, währen4 wir Menschen, wenn wir so nicht denken wollen, wie es angedeutet ist durch das Hinein­stellen des rechten Bewußtseins in die rechten Zeiten, die Weltenhar­monie in Mißtöniges verwandeln und dadurch, ich möchte sagen, kos­misch Schande auf uns laden.

So müssen wir unser Gefühlsleben verbinden lernen mit unserem intellektualistischen Leben in der modernen Zeit. Wir müssen erleben lernen, daß es eine Schande sein kann, nicht nach derjenigen Erkennt­nis zu streben, welche uns zum vollen Menschen macht, eine Schande vor den Göttern der Welt.

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DER NACHTMENSCH UND DER TAGESMENSCH. IN DAS REINE DENKEN KANN DAS ICH-WESEN HINEINGESCHOBEN WERDEN Dornach, 3. Februar 1923 Erster Vortrag

Heute möchte ich Ihnen zuerst eine kleine Szene erzählen aus dem Er­kenntnisleben des 19. Jahrhunderts, damit wir uns daran über die gro­ßen Veränderungen orientieren können, welche in dem Seelenwesen des abendländischen Menschen vor sich gegangen sind. Ich habe es ja öfter betont: der Mensch der Gegenwart hat stark das Bewußtsein, daß eigentlich die Menschen immer so gedacht, gefühlt, empfunden haben wie gegenwärtig, oder daß, wenn sie anders empfunden haben, dies eben kindlichen Entwickelungszuständen entsprach und daß der Mensch erst in der Gegenwart, ich möchte sagen, zu der rechten Männlichkeit des Denkens vorgerückt sei. Man muß sich, um den Menschen, um das Menschenwesen wirklich kennenzulernen, in die Denkweise älterer Zeiten zurückversetzen können, damit man nicht gar so siegesgewiß und hochmütig auf dasjenige wird, was in der Ge­genwart die menschlichen Seelen erfüllt. Und wenn man dann sieht, wie schon im Verlaufe weniger Jahrzehnte sich Gedanken und Vor­stellungen, die bei Gebildeten vorhanden waren, vollständig geändert haben, dann wird man auch einen Begriff sich machen können, wie radikal das Seelenleben der Menschen ein anderes geworden ist durch große Zeiträume hindurch, worauf wir ja gestern genötigt waren, wiederum aufmerksam zu machen.

Einer der bekanntesten Hegelianer des 19. Jahrhunderts ist Karl Rosenkranz, der, nach anderen Aufenthaltsorten, lange Zeit Professor der Philosophie an der Universität in Königsberg war. Rosenkranz war Hegelianer, aber sein Hegeltum war erstens gefärbt durch ein sorgfältiges Kant-Studium - er sah gewissermaßen Hegel durch die Brille des Kantianismus an -, aber außerdem war sein Hegeltum stark gefärbt durch sein Studium der evangelischen Theologie. Das alles, evangelische Theologie, Kantianismus, Hegeltum, floß in diesem Men­schen von der Mitte des 19. Jahrhunderts zusammen.

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Das Hegeltum ist ja im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts aus dem Gesichtskreis der gebildeten Menschheit Mitteleuropas verschwun­den, und man kann sich kaum vorstellen, wie tief in diesem Hegeltum drinnen die denkenden Menschen Mitteleuropas in den vierziger Jah­ren steckten. Daher wird man heute auch schwer eine Vorstellung da­von bekommen, wie es eigentlich aussah in einer solchen Seele, wie die des Karl Rosenkranz war.

Nun war immerhin Rosenkranz ein Mensch, der in den vierziger Jahren so dachte, wie man es etwa nach der damaligen gebildeten Denkweise von einem Menschen verlangte, der das alte unbrauchbare Denken verlassen hat, der sich der modernen Aufklärung gefügt hat und nicht abergläubisch war in dem Sinne, wie es die vierziger Jahre dachten. Man konnte denken, daß Rosenkranz ein solcher Mensch war, der sozusagen auf der Höhe der damaligen Bildung stand.

Nun machte dieser Karl Rosenkranz - es war im Jahre 1843 - ein-mal einen Spaziergang und traf auf diesem Spaziergang einen Men­schen, Bon hieß er, Init dem er in ein für ihn, für Rosenkranz, so in­teressantes Gespräch kam, daß Rosenkranz dieses Gespräch aufge­zeichnet hat. Bon war ein Thürihger, aber keineswegs, in dem Sinne wie etwa Rosenkranz, ein ganz aus seiner Zeit herausgewachsener Mensch. Bon seinerseits wird wohl wahrscheinlich über Rosenkranz so gedacht haben, daß er ihn für angefressen gehalten hat von den neue­sten Vorstellungen, daß er ihn gehalten haben wird für einen Men­schen, der zwar in einem gewissen Sinne vorurteilslos ist, der aber doch die gute alte Weisheit, die er, Bon, noch besaß, nicht mehr ver­stand.

Und so kamen diese beiden - wie gesagt, es war im Jahre 1843 - in ein Gespräch. Bon war ausgebildet auf der Universität Erlangen und war dort hauptsächlich ein Schüler des etwas pietistisch angehauchten Philosophen Schubert, der aber noch voll war von älterer Weisheit, von Weisheit, die sehr viel darauf gab, aus besonderen traumhaften Bewußtseinszuständen in die Wesenheit des Menschen hineinzukom­men. Schubert war ein Mensch, der sehr viel von der überlieferten al­ten Weisheit hielt und der den Glauben hatte, wenn man nicht selber durch ein sinniges Innenleben etwas in sich lebendig machen kann von

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der guten alten Weisheit, dann kann man eigentlich im Ernste durch die neue Weisheit über den Menschen doch nichts wissen. In dieser Beziehung sind die Werke von Schubert außerordentlich interessant. Schubert vertiefte sich sehr gern in die verschiedenen Offenbarungen des menschlichen Traumlebens, auch in die abnormen Seelenzustände, wir würden heute vielleicht sagen, in die Seelenzustände des nicht schwindelhaften Mediums, in die Zustände jenes Hellsehertums, das sich noch wie atavistisch aus alten Zeiten erhalten hatte, kurz, in die abnormen, nicht in die völlig wachen Zustände des Seelenle­bens. Dadurch suchte er Aufschluß über den Menschen zu erhalten.

Ein Schüler dieses Schubert war nun Bon. Dann war aber Bon hierher in die Schweiz gekommen und hatte in der Schweiz ein Gei­stesleben aufgenommen, von dem wohl die heutigen Schweizer zu-meist keine Ahnung haben, daß es hier einmal vorhanden war. Bon hatte nämlich in der Schweiz den sogenannten Gichtelianismus auf­genommen. Ich weiß nicht, ob noch viel bei den heutigen Schweizern bekannt ist davon, daß der Gichtelianismus ziemlich verbreitet war; nicht nur im übrigen Europa - heimisch war er ja in der Mitte des 19. Jahrhunderts zum Beispiel in Holland -, sondern er war auch in der Schweiz ziemlich verbreitet.

Dieser Gichtelianismus war nämlich dasjenige, was im 19. Jahr­hundert, auch durch das 18. Jahrhundert hindurch, aber noch im 19. Jahrhundert übriggeblieben war von der Lehre Jakob Böhmes. Und in der Form, wie Gichtel die Lehre Jakob Böhmes vertreten hat, hat sich dann diese Lehre Jakob Böhmes über viele Gegenden ausgebreitet, unter anderem auch hierher in die Schweiz, und da hat Bon den Gichtelianismus kennengelernt.

Nun, Rosenkranz hatte ja viel gelesen, und wenn er nun auch durch seinen Kantianismus, Hegelismus und durch seinen evangelischen Theologismus sich nicht in einer innerlich aktiven Weise in so etwas hineinfinden konnte wie Jakob Böhmes Lehre oder ihre Abschwächung in Gichtel, so verstand er wenigstens die Ausdrücke, und es interessierte ihn, wie so ein merkwürdiger Mensch, ein Gichtelianer, sprach.

Nun sprachen sie offenbar - wie gesagt, Rosenkranz' hat das Ge­spräch aufgezeichnet, das 1843 stattgefunden hat - zunächst über ein

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Thema, das sowohl für Kantianer wie für Hegelianer des 19. Jahrhun-derts keine allzustark unverständlichen Seiten hatte. Rosenkranz sagte im Verlauf des Gespräches es sei doch eigentlich mißlich, wenn man so recht tief nachdenken will über irgendein Problem, daß man durch allerlei äußere Abhaltungen gestört werden kann.

Ich möchte sagen, man fühlt, indem Rosenkranz dies sagt, schon etwas von dem, was dann später in einem viel höheren Maße gekom­men ist: von der Nervosität des Zeitalters Man braucht sich ja nur daran zu erinnern, daß unter den mannigfaltigen Vereinen, die sich in der Vorkriegszeit in Mitteleuropa gebildet haben, einer war, der von Hannover aus seinen Ursprung genommen hat, gegen den Lärm. Man wollte anstreben Gesetze gegen den Lärm, daß man abends zum Beispiel still denkend sitzen kann und nicht durch den Lärm etwa von einem benachbarten Gastihaus gestört werde. Es gibt Zeitschri£ tenartikel, welche diesen Verein gegen den Lärm propagierten. Es ist die Absicht, einen solchen Verein gegen den Lärm zu errichten, natür­lich durchaus ein Ausfluß unseres nervösen Zeitalters. Mso man spürt aus Karl Rosenkranz' Rede, daß man so unangenehm gestört werden könne durch allerlei Dinge, die in der Umgebung vor sich gehen, wenn man nachdenken will oder gar, wenn man ein Buch schreiben will. Man spürt schon etwas von dieser Nervosität heraus. Und Bon scheint recht viel Verständnis gehabt zu haben für die Klage eines Mannes, der ungestört denken möchte> und er sagte dann zu Rosen-kranz: Ja, er könne ihm da etwas Gutes empfehlen, er könne ihm nämlich empfehlen die Unannehmlichkeiti

Rosenkranz war wie aus den Wolken gefallen. Er sollte nun Ubun­gen machen in der Unannehrilichkeit, so empfahl ihm Bon, er solle lernen, Unannehrniichkeit in sich zu entwickeln. Ja, sagte Rosen­kranz, unangenehm ist es ja, wenn man von allem Möglichen gestört wird. - Da sagte Bon: Das meine ich nicht. - Und nun erklärte Bon dem Rosenkranz, was er eigentlich mit der Unannellnlichkeit meinte. Ehr sagte: Da muß man sehen, daß man so fest in sich wird, daß man durc die Turba der anderen Vorgänge in der Umgebung nicht in seiner eigenen Konstellation beeinträchtigt werde, damit die reine Tinktur im eigenen Astrum sich entwickeln könne.

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Nun, das hatte Bon hier in der Schweiz von den Gichtelianern ge­lernt, zu sagen, man solle dafür Sorge tragen, daß man nicht gestört werde in seiner eigenen Konstellation durch die Turba der anderen Vorgänge in der Umgebung, damit die reine Tinktur des eigenen Astrums erhalten bleiben könne. Wie gesagt, Rosenkranz verstand die Ausdrücke. Ich glaube, heute versteht nicht einmal jeder mehr die Ausdrücke, der auch ein ganz gelehrter Mensch sein möchte.

Was hatte nun der Gichtelianer Bon dazumal eigentlich gemeint? Nun, sehen Sie, Bon lebte eben in den fortgepfianzten Vorstellungen des Jakob Böhme. Ich habe neulich diesen Jakob Böhme ein wenig charakterisiert. Ich habe gesagt, er sammelte aus allem Volkstum die volkstümlich gebliebene Weisheit auf. Er hat viel aus dieser volks­tümlichen Weisheit aufgenommen, was man heute gar nicht glauben würde. Diese volkstümliche Weisheit ist sogar vielfach bei sogenann­ten sinnierenden Menschen in solchen Ausdrücken, wie ich sie eben jetzt aus dem Munde des Bon zitiert habe, erhalten geblieben. Und man hat sich unter diesen Ausdrücken eben etwas vorstellen können, was eine gewisse innere Lebendigkeit hatte. Es waren eben noch Tra­ditionen vorhanden von dem, was eine ältere Menschheit in dem älte­ren Hellsehen in sich aufgenommen hatte. Dieses ältere Hellsehen be­stand ja in Kräften, welche aus der Körperlichkeit der Menschen her­auskamen. Man muß deshalb nicht sagen, dieses alte Hellsehen lebte im Physischen. Da würde man verkennen, daß ja alles Körperliche durchzogen ist von Geistigem. Aber eigentlich sog der alte Hellseher das, was er in seinen traumhaften Imaginationen vor seine Seele ge­stellt hatte, aus den Kräften seiner Körperlichkeit heraus. Was im Blute pulsierte, was im Atem kraftete, selbst das, was in den sich ver­wandelnden Stoffen des Leibes lebte, das dampfte gewissermaßen ins Geistige geistig herauf und gab dem alten Hellseher grandiose Welt­bilder, wie ich sie öfter hier beschrieben habe. Es war dieses alte Hell-sehen eben durchaus aus Körperlichem heraufgesogen.

Und was einem da sich enthüllte, indem man lebte, wie wenn man ungefähr die ganze Welt in einem violetten Lichte fühite, sich selber wie eine violette Wolke in violettem Lichte einheitlich fühlte, so daß man sich ganz in sich empfand, das nannte man die Tinktur. Und das

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empfand man als sein Eigenes, als das mit dem eigenen Organismus verbundene Eigene. Man empfand es als sein eigenes Astrum. Diese aus dem Körper gesogene Innerlichkeit bezeichnete der Gichtelianer Bon als die reine Tinktur des eigenen Astrums.

Aber es war ja schon die Zeit gekommen - eigentlich war sie längst gekommen -, in der die Menschen solches nicht mehr aus ihrer Kör­perlichkeit heraussaugen konnten. Die Zeit, in der das alte Hellsehen eigentlich nicht mehr dem Menschen angepaßt war, die war schon längst gekommen. Daher fühlten solche Leute, wie Jakob Böhine oder Gichtel, daß es schwer ist, diese alten Vorstellungen sich noch leben­dig zu machen. Der Mensch hatte eben die Fähigkeit verloren, in diesen alten Vorstellungen zu leben. Sie vergingen gewissermaßen gleich, wenn sie heraufkamen. Der Mensch fühlte sich unsicher darin­nen, und daher wollte er alles anwenden, um diese flüchtigen inneren Bilder, die noch, ich möchte sagen, durch den inneren Klang der alten Worte herauf kamen, festzuhalten. Und wie er in sich die reine Tinktur seines Astrums fühlte, so fühlte er, wenn irgend etwas anderes heran­kam, daß ihm das gleich die Bilder verdrängte. Dieses andere, das, was da lebte geistig in den Dingen und Vorgängen der Umgebung, nannte man Turba. Und durch diese Turba wollte man nicht die eigene Konstellation, das heißt die Seelenverfassung, stören lassen, in der man sein konnte, wenn man sich so recht in den inneren Klang der alten Worte vertiefte, um gewissermaßen seinen Menschen durch die Be­wahrung dieses traditionellen Inneniebens fest noch zu haben. Daher bestrebte man sich, nichts Äußerliches anzunehmen, sondern in sich selber zu leben. Man machte sich «unannehanlich», so daß man nichts Äußeres anzunehmen brauchte.

Diese Unannehnilichkeit, das Leben in sich selbst, empfahl Bon dem Rosenkranz in dieser Form, wie ich es Ihnen eben mitgeteilt habe. Aber sehen Sie, da schaut man eigentlich hinein in das Seelenleben einer recht alten Zeit, das innerhalb der Kreise des Gichtelianismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch vorhanden war, allerdings ganz in der Abenddämmerung, ganz im Verklingen. Denn das, was da verklang, war einstmals ein innerliches Miterleben der göttlich-geisti­gen Welt in traumhaft heliseherischen Bildern, durch welche der

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Mensch sich viel mehr als ein Himmelswesen, denn als ein Erden-wesen fühlte.

Und die Voraussetzung für jene alte Seelenverfassung war die, daß der Mensch noch nicht das reine Denken der neueren Zeit entwickelt hatte. Dieses reine Denken der neueren Zeit, von dem eigentlich in voller Bewußtheit erst gesprochen worden ist in meiner «Philosophie der Freiheit», das ist etwas, von dem heute eigentlich noch nicht viel Empfindung vorhanden ist. Es ist dieses reine Denken etwas, was sich zunächst an der Naturwissenschaft herangebildet hat.

Sehen wir einen Teil dieser Naturwissenschaft an, der uns das, was hier gesagt werden soll, besonders charakteristisch zeigt, sehen wir die Astronomie an. Durch Kopernikus wird die Astronomie rein zu einer Weltmechanik, zu einer Art Beschreibung der Weltmaschinerie. Vorher waren immer noch Vorstellungen davon vorhanden, daß in den Sternen geistige Wesenheiten verkörpert sind. Die Scholastik des Mittelalters spricht noch von der geistigen Wesenheit der Sterne, von den Intelligenzen, welche die Sterne bewohnen, welche in den Sternen verkörpert sind und so weiter. Daß alles da draußen materiell ist, ge­dankenlos ist, daß der Mensch sich nur darüber Gedanken macht, das ist ja erst aufgekommen. Früher hat sich der Mensch Bilder gemacht, Bilder, die sich verbanden mit seiner Anschauung von einem Stern oder Sternbilde. Er hat etwas Lebendes, etwas für sich Webendes da drinnen gesehen. Nicht das reine Denken, sondern etwas Seelisch-Lebendes verband den Menschen mit seiner Umwelt. Aber der Mensch hat in dieser Umwelt zunächst das reine Denken ausgebildet.

Ich habe schon einmal hier gesagt, Gedanken haben ja auch die älte­ren Menschen gehabt, aber sie haben die Gedanken mit ihrem Hell-sehen zugleich bekommen, sie haben von der Umwelt die hellseheri­schen Bilder empfangen, und dann haben sie aus dem Hellseherischen heraus ihre Gedanken gezogen. Direkt die reinen Gedanken abgezo­gen von den äußeren Dingen, das haben die älteren Menschen nicht. Das ist die Eigentümlichkeit der neueren Zeit, daß der Mensch lernt, mit dem bloßen Denken die Welt zu umfassen. Und an der Weltum-fassung entwickelt der Mensch zunächst dieses reine Denken.

Nun ist aber etwas anderes verknüpft mit allen diesen Dingen. Diejenigen

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Menschen, auf die noch zurückweist so etwas, wie es der Bon dem Rosenkranz gesagt hat, diese Menschen erlebten den Schlaf doch nicht so, wie der bloß denkende moderne Mensch den Schlaf erlebt. Der bloß denkende moderne Mensch erlebt den Schlaf als die Bewußt­losigkeit, die ihm höchstens durch die Träume unterbrochen wird, von denen er aber mit Recht nicht viel hält. Denn so, wie die Seelen­verfassung des Menschen in der neueren Zeit ist, haben die Träume nicht viel Wert. Sie sind in der Regel Renniszenzen an das innere oder äußere Leben und haben in ihrem Inhalte keinen besonderen Wert. So daß eigentlich für den Schlaf das besonders Charakteristische die Be­wußtlosigkeit ist. Das war sie nicht immer. Und Jakob Böhme selbst kannte noch durchaus eine Art von Schlaf, bei dem das Bewußtsein erfüllt war von wirklichen Einsichten in den Weltzusammenhang.

Solch ein Mensch wie Jakob Böhme, und dann auch Gichtel, der sich noch mit großem Fleiße in eine solche Seelenverfassung hinein-fand, sagte: Nun ja, wenn man mit seinen Augen die Sinnendinge be­obachtet, mit den anderen Sinnen die Welt erfaßt und dann mit Ge­danken dasjenige weiter ergreift, was man da mit den Sinnen erfaßt, dann kann man ja allerlei Schönes über die Welt erfahren; aber die wirklichen Geheimnisse der Welt werden einem da nicht offenbar. Da gibt sich doch nur das äußere Bild der Welt kund.

Wie gesagt, Jakob Böhme und Gichtel kannten solche Zustände des Bewußtseins, wo sie weder schliefen noch bloß träumten, sondern wo das Bewußtsein angefüllt war mit Einsichten über wirkliche Wel­tengeheännisse, die hinter der sinnlichen Welt verborgen sind. Und die schätzten sie höher als das, was sich für ihre Sinne und für den Ver­stand ergab. Das bloße Denken, das war für diese Menschen noch nichts Bedeutsames. Aber auch das Gegenbild war für sie vorhanden, nämlich das Bewußtsein, daß der Mensch wahrnehmen kann ohne semen Körper. Denn in solchen Bewußtseinszuständen, die weder Schlafen noch Träumen waren, wußten sie zugleich, daß der eigent­liche Mensch sich zum großen Teil von seinem Körper losgerissen hat, aber sich mitgenommen hat die Kraft des Blutes, mitgenommen hat die Kraft des Atmens. Und so wußten sie: Weil der Mensch inner­lich verbunden ist mit der Welt, aber sein wacher Körper ihm das Verbundensein

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verlinstert, kann sich der Mensch, wenn er sich bis zu einem gewissen Teil unabhängig macht von diesem wachen Körper, durch die feineren Kräfte dieses Körpers, die das alte Hellsehen, wie ich erklärt habe, herausgesogen hat aus dem Körper, eine Erkenntnis von den Geheimnissen der Welt verschaffen.

So aber kam der Mensch, gerade wenn er in solche besonderen Schiafzustände kam, zu einem Bewußtsein davon, was eigentlich der Schlaf ist. Menschen wie Jakob Böhme oder wie Gichtel, die sagten sich: Wenn ich schiafe, dann bin ich mit den feineren Gliedern meiner Wesenheit auch in der feineren Natur draußen. Ich tauche unter in die feinere Natur.

Sie fühiten sich darinnenstehend in dieser feineren Natur. Und wenn sie wachten, dann wußten sie: Dasjenige, womit ich, als mit meiner feineren Menschenwesenheit, in der feineren Natur gewesen bin wäh­rend des Schiafes, auch während des bewußtlosen Schlafes, das lebt auch in mir während des Wachens. Ich fülle mit diesem meinen Kör­per aus, wenn ich empfinde, wenn ich denke, was dazumal eben durch­aus noch nicht reines Denken war. Also, wenn ich mir denkend Bilder mache, dann lebt diese feinere Menschlichkeit in diesen Bildern.

Kurz, es hatte für diese Menschen eine reale Bedeutung, wenn sie sagten: Das, was ich im Schlafe bin, das lebt in mir auch während des Wachens weiter fort. Und sie fühlten etwa wie ein seelisches Blut in den wachen Bewußtseinszuständen das Schiafen weiter fortpulsieren.

Solch ein Mensch, wie Jakob Böhme oder Gichtel, sagte ich: Wenn ich wach bin, da schlafe ich doch weiter. Nämlich das, was in mir während des Schlafes vorgeht, das wirkt auch im Wachen weiter. Das war eine andere Empfindung, als sie der moderne Mensch hat, der nun schon zum bloßen Denken übergegangen ist, zu dem reinen intellektu­ellen Denken. Dieser moderne Mensch wacht in der Frühe auf und macht einen scharfen Trennungs strich zwischen dem, was er im Schlafe war und was er nun im Wachen ist. Er zieht sozusagen vom Schlaf nichts hinüber in das wachende Leben. Fr hört auf das, was er im Schlafe war, wenn er anfängt zu wachen. Ja, aus solchen Bewußtseins-verhältnissen, wie sie noch in einem solchen Menscberi wie Bon leb­ten, der ein Gichtelianer war, ist eben die moderne Menschheit herausgewachsen,

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und sie hat dadurch etwas verwirklicht, was in der An­lage eigentlich schon seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts vor­handen war. Sie hat das verwirklicht, indem sie übergegangen ist im wachen Tagesleben zu dem bloßen intellektualistischen Denken. Das beherrscht ja heute alle Menschen. Sie denken nicht mehr in Bildern. Die Bilder betrachten sie als Mythologie, wie ich gestern gesagt habe. Sie denken in Gedanken, und sie schlafen im Nichts.

Ja, das hat eigentlich eine recht tiefe Bedeutung: diese modernen Menschen schlafen im Nichts. Für Jakob Böhme zum Beispiel hätte es noch gar nicht einen rechten Sinn gehabt, zu sagen, ich schlafe im Nichts. Für den modernen Menschen hat es einen Sinn bekommen, zu sagen: Ich schlafe im Nichts. Ich bin nicht nichts, indem ich schlafe, ich behalte während des Schlafens mein Ich und meinen astralischen Leib. Ich bin nicht nichts, aber ich reiße mich aus der ganzen Welt her­aus, die ich wahrnehme mit meinen Sinnen, die ich begreife mit mei­nem wachen Verstande. Ich reiße mich während des modernen Schla­fes auch heraus aus der Welt, die zum Beispiel Jakob Böhme in be­sonderen, abnormen Bewußtseinszuständen gesehen hat mit den fei­neren Kriften des physischen und Ätherleibes, die er sich noch mit­genommen hat in seine Schlafzustände.

Der moderne Mensch reißt sich heraus während des Schlafens nicht nur aus seiner Sinneswelt, sondern auch aus der Welt, welche die Welt des alten Hellsehers war. Und von der Welt, in der dann der Mensch darinnen ist vom Einschlafen bis zum Aufwachen, da kann er ja nichts wahrnehmen, denn das ist eine Zukunftswelt, das ist die Welt, in die sich die Erde verwandeln wird in jenen Zuständen, die ich in meiner «Geheimwissenschaft» als Jupiter-, Venus-, Vulkanzustand beschrie­ben habe. So daß in der Tat der moderne Mensch, der auf das intel­lektualistische Denken dressiert ist - verzeihen Sie den Ausdruck -, während des Schlafes im Nichts lebt. Er ist nicht nichts, ich muß es immer wieder betonen, aber er lebt im Nichts, weil er das, worin er lebt, die Zukunftswelt, eben noch nicht erleben kann. Die ist für ihn noch nichts. Aber gerade dadurch, daß der moderne Mensch im Nichts schlafen kann, wird ihm seine Freiheit garantiert; denn er lebt sich ein vom Einschlafen bis zum Aufwachen in die Befreiung von aller Welt,

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in das Nichts. Br wird gerade während des Schlafes unabhängig. Das ist sehr wichtig einzusehen, daß die besondere Art, wie der moderne Mensch schläft, ihm die Garantie für seine Freiheit gibt.

Der alte Hellseher, der noch von der alten Welt wahrnahm, nicht von der Zukunftswelt, der von der alten Welt wahrnahm, der konnte kein völlig freier Mensch werden, denn er wurde abhängig in diesem Wahrnehmen. Das im Nichts Ruhen während des Schlafes macht den modernen Menschen, den Menschen der modernen Zeit eigentlich frei.

So sind zwei Gegenbilder vorhanden für den modernen Menschen. Erstens lebt er während des Wachens im Gedanken, der ein bloßer Gedanke ist, der nicht mehr Bilder enthält im alten Sinne; die hält er, wie gesagt, für Mythologie. Und er lebt während des Schlafes in der Nichtigkeit. Dadurch befreit er sich von der Welt, dadurch erringt er sich das Bewußtsein der Freiheit. Die Gedankenbilder können ihn nicht zwingen, weil sie bloße Bilder sind. Geradesowenig wie die Spiegelbilder zwingen können, irgend etwas verursachen können, ge­radesowenig können die Gedankenbilder von den Dingen den Men­schen zu etwas zwingen. Wenn daher der Mensch seine moralischen Impulse in reinen Gedanken ergreift, so muß er sie als ein freies We­sen befolgen. Keine Emotion, keine Leidenschaft, kein innerlich kör­perlicher Vorgang kann ihn veranlassen, jenen moralischen Impulsen zu folgen, die er in reinen Gedanken zu erfassen in der Lage ist. Aber er ist auch imstande, diesen bloßen Bildern in Gedanken zu folgen, diesem reinen Gedanken zu folgen, weil er sich während des Schlafes, befreit von allen Naturgesetzen, in seinem eigenen Körperlichen fin­det, weil er wirklich während des Schlafes eine reine freie Seele wird, die dem Nichtwirklichen des Gedankens folgen kann; während der ältere Mensch auch während des Schlafes abhängig blieb von der Welt und daher nicht hätte folgen können unwirklichen Impulsen.

Fassen wir das zunächst ins Auge, daß der moderne Mensch dieses Zweierlei hat: reine Gedanken haben kann, die rein intellektualistisch konzipiert sind, und einen in der Nichtigkeit zugebrachten Schlaf; wo er drinnen ist, wo er ein Wirkliches ist, aber wo seine Umgebung ihm ein Nichtiges zeigt. Denn nun kommt das Wesentliche. Sehen Sie, es ist nun auch einmal in der Natur des modernen Menschen begründet,

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daß er durch alles das, was er da durchgemacht hat, innerlich wil­lensschwach geworden ist. Das will der moderne Mensch gar nicht wahr haben, aber es ist so: Der moderne Mensch ist innerlich willens­schwach geworden. Wenn man nur wollte, würde man das auch ge­schichtlich begreifen können. Man soll nur einmal hinschauen auf mächtige geistige Bewegungen, die sich früher ausgebreitet haben, mit welchen Willensimpulsen zuweilen, sagen wir, Religionsstifter durch die Welt gewirkt haben. Diese innerliche Willensimpulsivität ist der modernen Menschheit verlorengegangen. Und deshalb laßt sich der moderne Mensch zu seinen Gedanken von der Außenwelt er­ziehen. Er betrachtet die Natur, bildet an den Naturvorgängen und Naturwesen seine bloßen intellektualistischen Gedanken aus, wie wenn sein Inneres wirklich nur ein Spiegel wäre, der alles spiegelt. Ja, der Mensch ist schon so schwach geworden, daß er eine heillose Angst bekommt, wenn irgendeiner Gedanken aus sich produziert, wenn er Gedanken nicht bloß abliest an demjenigen, was die äußere Natur darbietet. So daß sich zunächst das reine Denken in ganz passiver Weise in dem modernen Menschen entwickelt hat.

Ich sage das nicht als Tadel; denn wäre die Menschheit gleich über­gegangen zu einem aktiven Produzieren des reinen Denkens, dann hätte sie von der alten Erbschaft allerlei unreinliche Phantastereien in dieses Denken hineingebracht. Es war schon ein gutes Erziehungsmit-tel für die moderne Menschheit, daß sich die I,eute von den grandiosen Philistern, wie etwa dem Bacon von Verulam, dazu verleiten ließen, verführen ließen, ihre Begriffe und Ideen nur an der Außenwelt zu ent­wickeln, nur sich alles diktieren zu lassen von der Außenwelt Und so smd die Menschen nach und nach gewöhht worden, nicht in ihren Begriffen und Ideen, in ihrem Denken selbst zu leben, sondern sich das Denken von der Außenwelt geben zu lassen. Einige bekommen das direkt, die die Natur beobachten, oder die die geschichtlichen Doku­mente betrachten. Sie verschaffen sich direkt Gedanken über die Natur, über die Geschichte. Die leben dann in ihnen. Andere bekommen es nur durch die Schule. Die Menschen werden ja heute schon vom frü-hesten Kindesalter an durch die Schule mit solchen Begriffen traktiert, die auf passive Weise an der Außenwelt gewonnen sind.

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In dieser Beziehung ist der moderne Mensch eigentlich eine Art Sack, nur daß er die Öffnung auf der Seite hat. Da nitnmt er alles auf aus der äußeren Natur und spiegelt es in seinem Inneren. Das sind dann seine Ideen. Eigentlich ist seine Seele nur ausgefüllt mit Natur-begriffen. Er ist ein Sack. Wenn der moderne Mensch prüfen würde, wo er seine Begriffe her hat, so würde er schon darauf kommen. Man­che haben es auf direkte Weise, jene, die einmal wirklich die Natur be­obachten auf dem oder jenem Gebiete, die meisten haben es aber über-haupt in der Schule aufgenommen, ihre Begriffe sind ihnen eingepflanzt worden.

Durch Jahrhunderte, seit dem 15. Jahrhundert, ist der Mensch in dieser Passivität der Begriffe erzogen. Und heute betrachtet er schon das wie eine Art von Sünde, wenn er innerlich tätig ist, sich seine Ge­danken selber macht. Ja, die Naturgedanken kann man nicht selber machen. Man würde die Natur nur verunreinigen durch allerlei Phan­tastereien, wenn man die Naturgedanken selber machte. Aber man hat in sich den Quell des Denkens. Man kann eigene Gedanken machen, ja man kann die Gedanken, die man schon hat, well sie ja eigent­lich eben bloße Gedanken sind, mit innerlicher Wirklichkeit durch­dringen. Wann geschieht das? Das geschleht dann, wenn der Mensch so viel Willen aufbringt, daß er wiederum seinen Nachtinenschen in das Tagleben hineinschiebt, daß er nicht bloß passiv denkt, sondern seinen während des Schlafes unabhängig gewordenen Men­schen in seine Gedanken hineinschiebt. Das kann man nur mit den reinen Gedanken.

Eigentlich ist das der Grundgedanke meiner «Philosophie der Frei­heit» gewesen, daß ich aufmerksam darauf gemacht habe: In das Den­ken, das sich der moderne Mensch erworben hat, kann er sein Ich-Wesen wirklich hineinschieben. Jenes Ich-Wesen, das er- ich konnte es dazumal noch nicht aussprechen, aber es ist so - während des Schlaf-zustandes in der modernen Zeit freikriegt, das kann er hineinschieben in das reine Denken. Und so wird der Mensch seines Ich-Wesens sich wirklich bewußt im reinen Denken, wenn er so die Gedanken faßt, daß er aktiv, tätig in ihnen lebt.

Nun ist damit etwas anderes verknüpft. Nehmen wir an, es wird

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nach dem Muster der modernen Naturwissenschaft Anthroposophie vorgetragen. Die Menschen nehmen Anthroposophle auf, nehmen sie zunächst so auf, wie der moderne Mensch es gewöhnt ist, nach Art des passiven Denkens. Man kann sie ja verstehen, wenn der Menschen­verstand nur gesund ist, man braucht nicht einen bloßen Glau­ben anzuwenden. Wenn der Menschenverstand bloß gesund ist, kann man die Gedanken verstehen. Aber man lebt dennoch passiv in ihnen, wie man in den äußeren Naturgedanken passiv lebt. Dann kommt man und sagt: Ja, ich habe diese Gedanken von anthroposophlscher For­schung her, ich kann aber selbst nicht für sie eintreten, denn ich habe sie bloß aufgenommen -, wie es manchem heute zu sagen beliebt: Ich habe sie aufgenommen von geisteswissenschaftlicher Seite. - Wir hören das ja so oftmals betonen: die Naturwissenschaft sagt das, und wir hören dann das oder jenes von geisteswissenschaftlicher Seite. Was bezeugt das, wenn jemand sagt, ich höre das von geisteswissenschaft­licher Seite her? Das heißt, er weist darauf hin, daß er im passiven Denken verharrt, daß er auch die Geisteswissenschaft nur im passiven Denken aufnehmen will. Denn in dem Momente, wo er sich entschließt, die Gedanken, die ihm die anthroposophlsche Forschung überliefert, selbst in sich zu erzeugen, wird er auch imstande, mit seiner ganzen Persönlichkeit für ihre Wahrheit einzutreten, denn er erlebt dadurch die erste Stufe ihrer Wahrheit.

Mit anderen Worten: der Mensch ist im allgemeinen heute noch nicht dazu gekommen, die Realität, die er als unabhängige Realität im Schlafe erlebt, während des Wachlebens durch Willensstärke hin­ernzugießen in die Gedanken des Wachlebens. Wenn man Athropo­soph werden will in der Art, daß man die anthroposophischen Ge­danken aufnimmt und dann nicht einfach passiv sich ihnen hingibt, sondern durch einen starken Willen dasjenige, was man während jeder Nacht im traumiosen Schlafe ist, hineingießt in die Gedanken, in die rernen Gedanken der Anthroposophie, dann hat man die erste Stufe desjenigen erklommen, was man heute berechtigt ist, Hellsehen zu nennen, dann lebt man hellsichtig in den Gedanken der Anthroposo­phie. Man lese ein Buch mit dem starken Willen, daß man nicht nur sein Tagleben in das anthroposophische Buch hineinträgt, daß man

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nicht so liest: vorgestern ein Stück, dann hört es auf, gestern, dann hört es auf, heute, dann hört es auf usw. Die Menschen lesen heute nur mit einem ihrer Lebensstücke, nämlich nur mit dem Tagesleben. So kann man ja natürlich Gustav Freytag lesen, so kann man auch Dickens lesen, Emerson kann man so lesen, aber nicht ein anthroposophisches Buch. Wenn man ein anthroposophisches Buch liest, muß man mit sei­nem ganzen Menschen hinein, und weil man im Schlafe bewußtlos ist, also keine Gedanken hat - aber der Wille dauert fort -,muß man mit dem Willen hinein. Wollen Sie dasjenige, was in den Worten eines wirkli­chen anthroposophischen Buches liegt, so werden Sie durch dieses Wollen wenigstens gedankenhaft unmittelbar hellsichtig. Und sehen Sie, dieser Wille, der muß noch hinein in diejenigen, die unsere An­throposophie vertreten! Wenn dieser Wille hineinfährt wie ein Blitz in diejenigen, die unsere Anthroposophie vertreten, dann wird die An­throposophie vor der Welt in der richtigen Weise vertreten werden können. Nicht irgendwelcher Zauberkünste bedarf es dazu, sondern des energischen Wollens, das nicht nur die Lebensstücke während des Tages hineinträgt in ein Buch. Heute lesen ja die I,eute übrigens nicht emmal mehr mit diesem vollständigen Lebensstück Werke, sondern heute bei der Zeitungslektüre genügt es, wenn man ein paar Tages-minuten rege macht, um sich anzueignen, was man da hat. Da braucht man nicht einmal den ganzen wachen Tag. Wenn man aber mit sei­nem ganzen Menschen untertaucht in ein Buch, das aus der Anthro­posophie entstammt, dann wird es in einem lebendig.

Das ist aber dasjenige, was beachtet werden sollte, namentlich von jenen, die führende Persönlichkeiten sein sollen innerhalb derAnthro­posophischen Gesellschaft. Denn dieser Anthroposophischen Gesell­schaft schadet es ungeheuer, wenn gesagt wird: Ja, die Anthroposo­phie wird verkündet von Menschen, die nicht für sie eintreten kön­nen. - Wir müssen eben dazu kommen, zu dem bloßen passiven in­tellektualistischen Erleben der anthroposophischen Wahrheiten das Aufgehen mit unserem ganzen Menschen in diesen anthroposophi­schen Wahrheiten zu finden. Dann wird dasjenige, was anthroposo­phische Verkündigung ist, nicht in der lendenlahmen Weise auftreten, daß man immer nur sagt: Von geisteswissenschaftlicher Seite wird

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uns versichert -, sondern dann wird man die anthroposophische Wahr­heit als sein eigenes Erleben verkündigen können, wenigstens zu­nächst für das, was dem Menschen am allernächsten liegt, zum Beispiel für das mediamische Gebiet, für das physiologische Gebiet, für das biologische Gebiet, für das Gebiet der äußeren Wissenschaften oder des äußeren sozialen Lebens. Wenn auch nicht die Gebiete der höheren Hierarchien auf dieser ersten Stufe des Hellsehens zugänglich werden, aber das, was als Geist in unserer unmittelbaren Umgebung ist, das kann auf diese Weise auch wirklich Gegenstand der menschlichen Seelenverfassung der Gegenwart sein. Und vom Willen hängt es ab im umfassendsten Sinne, ob in unserer Anthroposophlschen Gesell­schaft Menschen auftreten, die Zeugnis dafür ablegen können, ein gültiges Zeugnis, weil es unmittelbar empfunden wird, als lebendiger Quell der Wahrheit empfunden wird, ein gültiges lebendiges Zeugnis für die innere Wahrheit des Anthroposophischen.

Das hängt auch zusammen mit dem, was der Anthroposophischen Gesellschaft notwendig ist: daß in ihr Persönlichkeiten auftreten müs­sen, die, wenn ich mich des paradoxen Ausdrucks bedienen will, den guten Willen zum Willen haben. Heute nennt man Willen jeden beile­bigen Wunsch; aber ein Wunsch ist kein Wille. Manche möchten, daß etwas so und so gelinge. Das ist kein Wille. Der Wille ist tätige Kraft. Die fehlt heute im weitesten Umfange. Die fehlt dem Menschen der Gegenwart. Die darf aber nicht fehlen innerhalb der Anthroposophi­schen Gesellschaft. Da muß ruhiger Enthusiasmus in starkem Willen verankert sein können. Das gehört auch zu den Lebensbedingungen der Anthroposophischen Gesellschaft.

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DER NACHTMENSCH UND DER TAGESMENSCH. IN DAS REINE DENKEN KANN DAS ICH-WESEN HINEINGESCHOBEN WERDEN Dornach, 4. Februar 1923 Zweiter Vortrag

Es ist für den heutigen Menschen, wie wir gestern aus den Betrach­tungen vielleicht ersehen haben, von Bedeutung, sich im Entwicke­lungsgange der Menschheit zu orientieren, um sich mit dem Bewußt-sein zu durchdringen, welches die gegenwärtige Seelenverfassung sein muß, damit der Mensch im rechten Sinne des Wortes Mensch sein könne.

Ich habe ja vorgestern einen Vergleich gebraucht, um auf diese Wichtigkeit des Zeitbewußtseins hinzuweisen. Ich habe gesagt, das Insekt hat die Aufgabe, zusammenfallend mit dem Jahreslauf; immer bestimite Gestaltungen in sich selbst durchzumachen. Das Insekt macht in seiner eigenen Gestaltung den Jahreslauf mit. Es hat ganz gewisse körperliche Verrichtungen im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter, und es vollendet den Kreislauf seines Lebens im Zusammenhang mit diesem Jahreslauf. So, sagte ich, müsse der Mensch die Möglichkeit finden, sich nun nicht in einem kurzen Zeit-verlaufe, sondern in den ganzen Erdenverlauf; in den geschichtlichen Erdenverlauf bewußt heute hineinzustelien. Wissen soll er, wie in alten Zeiten seine Seelenerlehausse gestaltet sein mußten, wie in mitt­leren Zeiten und wie sie sich heute gestalten müssen.

Wenn wir nun in alte Zeiten der Menschheitsentwickelung zurück­bllcken und sehen, wie aus den Mysterien heraus die Menschheit ihre Kraft bekam, die Kraft zum Erkennen, die Kraft zum Leben, so finden wir, daß bei denen, die in die Mysterien eingeweiht werden sollten, gewissermaßen das Ziel ihrer Einweihung immer in einer ganz be­stimmten Weise bezeichnet wird. Die Einzuweihenden müssen sich klarmachen, daß sie Übungen durchzumachen haben, die zuletzt da-hin führen, das Todeserlebnis zu haben; der Mensch müsse innerhalb des Erdenseins erkennend durch den Tod durchgehen, damit er aus diesem Erkennmiserlebnis des Todes die andere Erkenntnis von seinem

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eigenen unsterblichen ewigen Wesen gewinne. Das war, möchte ich sagen, das Geheimnis der alten Mysterien: aus dem Erkenntnis­erleben des Todes heraus die Wesensüberzeugung von der mensch­lichen unsterblichen Wesenheit zu bekommen.

Nun haben wir in diesen Tagen gesehen, woher das rührt. Es rührt daher, daß der Mensch in jenen älteren Zeiten eigentlich zu seiner menschlichen Selbsterkenntnis nicht anders hat kommen können, als indem er sich vergegenwärtigte, was unmittelbar nach dem Tode mit ihm geschah. Der Mensch jener alten Zeiten wurde das denkende freie Wesen, als das er sich heute schon im Erdendasein weiß, erst nach dem Yode. Nach dem Tode erst konnte in alten Zeiten der Menschheits­entwickelung der Mensch sagen: Ich bin wirklich ein auf mich selbst gestelltes Wesen, eine auf mich selbst gestellte Individualität. - Schaue über den Tod hinaus - so etwa konnten die alten Weisen zu ihren Schülern sagen - und du wirst wissen, was ein Mensch ist.

Deshalb sollte der Mensch in den Mysterien im Bilde das Sterben durchmachen, damit er aus dem Sterben die Überzeugung des ewigen Lebens und Wesens bekomme. Es war also im wesentlichen das My­steriensuchen ein Suchen des Todes, um das Leben zu finden.

Nun ist es heute bei dem Menschen anders geworden, und darin besteht gerade der allerwichtigste Impuls in der Menschheitsentwicke­lung. Was der Mensch in alten Zeiten nach dem Tode durchgemacht hat, daß er ein denkendes Wesen für sich geworden ist, daß er ein freies Wesen für sich geworden ist, das muß der Mensch heute in der Zeit finden, die zwischen der Geburt und dem Tode liegt. Aber wie findet er es da? Er findet zunächst seine Gedanken, wenn er Selbst-erkenntnis übt. Aber nun haben wir die ganze Zeit her, in der wir uns von einem gewissen Gesichtspunkte aus mit dem Wesen des Menschen beschäftigt haben, gefunden: diese Gedanken, namentlich die Gedan­ken, die der Mensch seit dem ersten Drittel des i 5. Jahrhunderts, seit der Zeit des Nikolaus Gusanus entwickelt, sind eigentlich als Gedanken tot, sie sind Leichname. Dasjenige, was lebte, lebte im vorirdischen Dasein. Bevor der Mensch als seelisch-geistiges Wesen herunterge­stiegen ist auf die Erde, war er in einem geistigen Leben. Dieses gei­stige Leben ist mit dem Erdenantritt gestorben, und das Gestorbene

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erlebt er in sich als sein Denken. Das erste, was der Mensch erkennen muß, ist, daß er zwar in der neueren Zeit zu einer wirklichen Selbst­erkenntnis kommen kann, zu einer Erkenntnis seiner selbst als eines geistig-seelischen Wesens, daß aber das, was sich dieser Selbsterkennt­nis ergibt, ein Totes, ein geistig Leichnamhaftes ist und daß eben in dieses Tote, in dieses geistig Leichnamhafte hineinfließen muß das­jenige, was aus dem Willen kommt, aus jenem Willen, von dem ich gestern gesagt habe, daß er vom Einschlafen bis zum Aufwachen eigentlich im Nichts drinnen, verankert im astralischen Leibe und in dem Ich ist. Das Jch muß hineinschießen in die toten Gedanken und muß sie beleben.

Daher war im Grunde genommen in alten Zeiten alle Sorgfalt wäh­rend der Einweihung darauf gerichtet, im Menschen etwas abzudämp­fen. Eigentlich war die alte Einweihung eine Art Beruhigung der in­neren menschlichen Fähigkeiten und Kräfte. Wer den Gang der alten Einweihung verfolgt, wird finden, daß der Mensch im wesentlichen dabei eine Einweihungserziehung durchinachte, die ihn dahin führte, die innere, wenn ich so sagen darf, Aufgeregtheit zu beschwichtigen, herabzudämpfen die sonst im gewöhnlichen Leben vorhandene, innere Emotionalität, damit das, was der Mensch im gewöhnlichen Leben hatte, das Angefülltsein seines ganzen Wesens mit noch göttlich-gei­stigen Kräften, die den Kosmos durchweben und durchleben, herab-gedämpft würde und er bewußt in eine Art von Schlaf versinke, auf daß er in diesem zu einer Art von Schlaf herabgedämpften Bewußtsein dann erwecken könne, was er sonst nur nach dem Tode erlebt: das ruhige Denken, das Sich-Fühlen als Individualität. Es war also das alte Einweihungssystem eine Art Beruhigungssystem.

Für die Gegenwart ist dem Menschen vielfach diese Sehnsucht nach der Beruhigung geblieben, und er fühlt sich dann wohl, wenn ihm alte Einweihungsprinzipien aufgewärmt werden und er wiederum zu ihnen hingeführt wird. Aber es entspricht das nicht mehr der Wesen­heit des modernen Menschen. Der moderne Mensch kann nur dadurch an die Einweihung herankommen, daß er sich mit aller Tiefe und mit aller Intensität sagt: Wenn ich in mich selbst hineinschaue, finde ich mern Denken. Aber dieses Denken ist tot. Ich brauche den Tod nicht

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mehr zu suchen. Ich trage ihn in meinem geistig-seelischen Wesen in mir. - Während also hingeführt werden mußte der alte Eisazuweihende bis zu der Stufe, wo er den Tod erlebte, müßte sich der moderne Ein­zuweihende immer mehr und mehr klarmachen: Ich habe ja in mei­nem seelisch-geistigen Leben den Tod. Ich trage ihn ja in mir. Ich brauche ihn nicht zu suchen. Ich muß im Gegenteil aus einem innerlich willensmäßig-schöpferischen Prinzip heraus die toten Gedanken be­leben. - Und auf dieses Beleben der toten Gedanken zielt alles hin, was ich dargestellt habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höhe­ren Welten?», auf dieses Einschlagen des Willens in das innere Seelen-leben, damit der Mensch aufwache. Denn während das alte Einweihen eine Art Einschläfern sein mußte, muß das neue Einweihen eine Art Aufwecken sein. Es muß dasjenige, was der Mensch unbewußt wäh­rend des Schlafes durchlebt, hereingetragen werden gerade ins intimste Seelenleben. Es muß der Mensch durch Aktivität dazu gelangen, sich innerlich aufzuwecken.

Dazu ist notwendig, daß man den Begriff des Schlafens in all seiner Relativität erfasse. Man muß sich klar sein darüber, was die anthro­posophische Erkenntnis mit Bezug auf diese Idee vom Schlaf eigent­lich gegenwärtig ist. Stellen wir nebeneinander zwei Menschen, von denen der eine von all den Dingen nichts weiß, die in der anthroposo­phischen Erkenntnis dargeboten werden, und stellen wir daneben einen Menschen, der wirklich mit innerem Anteil, mit innerem Inter­esse, nicht bloß mit passivem Zuhören oder in passivem Lesen, son­dern mit innerem Interesse das Anthroposophische aufgenommen hat: dann ist derjenige, der das Anthroposophische nicht aufgenommen hat, wie ein Schläfer gegenüber dem, der das Anthroposophische auf­genommen hat und im Anthroposophischen so erweckt ist, wie der Mensch des Morgens erweckt wird, wenn er aus der Bewußdosigkeit in seinen physischen Leib eintaucht. Und wir bekommen die richtige Stellung innerhalb der Anthroposophie, wir bekommen die richtige Orientierung für die anthroposophische Bewegung nur dann, wenn wir sie so betrachten, daß sie uns etwas gibt wie das Aufwachen am Morgen, wenn wir das Herankommen an die Anthroposophie im rechten Sinne vergleichen mit dem, was wir fühlen, wenn wir aus der

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Bewußtlosigkeit des Schlafes übergehen in das Wahrnehmen einer äußeren Welt. Wenn wir das auch im Gefühl haben können: So wie das Untertauchen in den physischen Leib beim Aufwachen uns eine Welt gibt, nicht nur eine Erkenntnis, sondern eine Welt gibt, so gibt uns das Untertauchen in anthroposophische Erkenntnis eine Welt, eine Erkenntnis, die nun nicht bloß Erkenntnis ist, sondern die eine Welt ist, eine Welt, in die hinein wir aufwachen. Solange wir das Anthro­posophische nur anschauen als ein anderes Weltbild, solange haben wir nicht die richtige Empfindung gegenüber der Anthroposophie. Wir haben nur die richtige Empfindung gegenüber der Anthroposo­phie, wenn der Mensch, der Anthroposoph wird, fühlt, daß er in der Anthroposophie erwacht. Und er erwacht, wenn er sich sagt: Die Be­griffe und Ideen, die mir die Welt vorher gegeben hat, sind Begriffs-und Ideenleichname, sind tot. Die Anthroposophie weckt mir diesen Leichnam auf.

Wenn Sie das im richtigen Sinne verstehen, dann werden Sie hin-auskommen über all das, was oftmals gesagt wird gegen die Anthro­posophie und das Verstehen der Anthroposophie. Man sagt: Ja, der Mensch, der nicht Anthroposoph ist, lernt heute etwas in der Welt. Das wird ihm bewiesen. Das kann er also verstehen, weil es ihm be­wiesen wird. In der Anthroposophie werden bloß Behauptungen hin-gestellt, die unbewiesen bleiben - so sagt ja die Welt sehr häufig. Aber die Welt weiß nicht, wie es sich mit dem, was sie da für bewiesen hält, in Wirklichkeit verhält. Die Welt müßte eben darauf kommen, daß all die Naturgesetze, all die Gedanken, die sich der Mensch bildet aus der Welt heraus, daß die, wenn er sie richtig erlebt, etwas Totes sind. Was ihm also bewiesen wird, ist etwas Totes. Er kann es nicht ver­stehen. Erst wenn man anfängt, dasjenige, was heute die gewöhnliche Weltanschauung ist, als etwas Totes zu empfinden, dann sagt man sich: Ich verstehe ja gerade das nicht, was mir bewiesen wird, so wie ich einen Leichnam nicht verstehe, weil er das Übriggebliebene ist von einem Lebendigen. Ich verstehe einen Leichnam nur, wenn ich weiß, inwiefern er vom Leben durchwellt war.

Und so muß man sich sagen: Dasjenige, was heute als bewiesen gilt, das kann eben in Wirklichkeit bei einer tieferen Erfassung nicht

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verstanden werden. Und eigentlich schlägt erst das Verständnis in das, was sonst heute von der Zivilisation geboten wird, ein, wenn man den Funken der Anthroposophie hineinschlagen läßt. - Derjenige hat recht, der, sagen wir, einem bloßen Naturgelehrten von heute, der zu ihm kommt und sagt: Ich kann meine Sache beweisen, du kannst sie nicht beweisen - ihm dann erwidert: Gewiß, du kannst alles in deiner Art beweisen, aber gerade das, was du mir bewiesen hast, wird für mich erst verständlich, wenn ich den Funken der Anthroposophie hinein­schlagen lasse. - Das müßte die Auskunft eben sein, die aus einem voU von lebendigem Geistesleben durchdrungenen Herzen heraus der An­throposoph dem Nichtanthroposophen erwidern kann. Der Anthro­posoph müßte sagen: Du schläferst dich ja ein mit deinem Naturwis-sen; du schläferst dich so weit ein, daß du sagst: Ich habe Grenzen des Naturwissens, ich kann ja gar nicht aufwachen, ich kann nur konsta­tieren, daß ich mit meinem Naturwis sen überhaupt nicht ans Geistige herankomme. Du hast ja noch eine Theorie für deinen Schlaf, für die Berechtigung deines Schlafes. Ich will aber gerade diese Theorie von der Berechtigung deines Schlafes dadurch widerlegen, daß ich das, was da Schlaf ist, zum Aufwachen bringe.

Auf so etwas habe ich aufmerksam gemacht in dem ersten Kapitel meines Buches «Von Seelenrätseln ». Ich habe dort das ausgesprochen, was aber in Vorträgen immer wiederholt worden ist, daß der Mensch, der bei der gegenwärtigen Zivilisation bleibt, eben sagt, man kommt an allerlei Grenzen des Erkennens, über die man nicht hinaus kann. Da beruhigt er sich. Dieses Beruhigen heißt aber nichts anderes als, er will nicht aufwachen, er will schlafend bleiben. Derjenige, der nun hinein will im heutigen Sinne in die geistige Welt, der muß gerade dort mit den inneren Seelenaufgaben zu ringen anfangen, wo der andere Grenzen des Erkennens setzt. Und indem er das Ringen mit diesen Ideen, die da an die Grenze gesetzt werden, beginnt, eröffhet sich ihm stufenweise, schrittweise der Ausblick in die geistige Welt. Man muß eben das, was in Anthroposophie dargeboten wird, so nehmen, wie es gewollt ist.

Nehmen Sie dieses erste Kapitel in «Von Seelenrätseln ». Es mag ja unvollkommen geschrieben sein, aber man kann doch jedenfalls

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herausfinden, in welcher Absicht es geschrieben ist. Es ist in der Ab­sicht geschrieben, daß man sich sagt: Wenn ich stehenbleibe in der gegenwärtigen Zivilisation, so ist eigentlich für mich die Welt mit Brettern verschlagen. Naturerkenntnis: man schreitet weiter, dann kommen die Bretter, da ist mir die Welt verschlagen. - Was in diesem ersten Kapitel «Von See lenrätseln» steht, ist der Versuch, mit Spaten diese Bretter wegzuschlagen. Wenn man dieses Gefühl hat, daß man eine Arbeit verrichtet, um die Bretter, mit denen die Welt verschlagen ist seit Jahrhunderten, mit Spaten wegzuschlagen, wenn man die Worte eben als Spaten ansieht, dann kommt man an das Seelisch-Gei­stige heran.

Die meisten Menschen haben das unbewußte Gefühl: solch ein Kapitel, wie das erste Kapitel «Von Seelenrätseln», ist eben mit der Feder geschrieben, aus der die Tinte fließt. Es ist nicht mit der Feder geschrieben, sondern es ist geschrieben mit seelischen Spaten, welche die Bretter, die die Welt verschlagen, niederreißen möchten, das heißt, die Grenzen des Naturerkennens beseitigen möchten, aber beseitigen möchten durch innere Seelenarbeit. Also es muß mitgearbeitet werden in seelischer Betätigung bei dem Lesen eines solchen Kapitels.

Es ist ganz merkwürdig, was für Ideen entstehen gerade an der Iland der anthroposophischen Bücher. Ich begreife diese Ideen, wider­spreche ihnen oftmals nicht, weil sie für den einzelnen ihren Wert ha­ben; aber nehmen wir zum Beispiel die «Geheimwissenschaft ». Es sind Leute gekommen, die meinen, für diese « Geheimwissenschaft» von mir etwas tun zu können, wenn sie die ganze «Geheimwissen­schaft» malen, so daß sie in Bildern vor den Leuten stehen würde. Es ist diese Sehnsucht entstanden. Es sind sogar Proben davon geliefert worden. Ich habe nichts dagegen; wenn diese Proben gut sind, so kann man sie sogar bewundern, es ist ja ganz schön, solche Dinge zu machen. Aber aus welcher Sehnsucht gehen sie hervor? Sie gehen aus der Sehnsucht hervor, das Wichtigste, was an der « Geheimwissen­schaft» entwickelt wird, wegzunehmen und vor den Menschen Bilder hinzustellen, die wieder Bretter sind. Denn worauf es ankommt, das ist - so wie unsere Sprache und wie das scheußliche Schreiben gewor­den ist, dieses furchtbare Schreiben oder gar das Druckenlassen -, das

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nun zu nehmen, wie es einmal ist, sich nicht aufzulehnen gegen das, was die Zivilisation gebracht hat, und das so zu nehmen, daß der Leser es auch sogleich überwinden kann, daß er sogleich herauskommt und nun die ganzen Bilder sich selber macht, die eingeflossen sind in die scheußliche Tinte, sie sich also selber erschafft. Je individueller jeder selber diese Bilder erschafft, desto besser ist es. Wenn das ihm ein an­derer vorwegrrlmt, so vermauert er ihm ja wiederum die Welt. Ich will ja nicht eine Phllippika halten gegen die malerische Ausgestaltung dessen, was in der « Geheimwissenschaft» in Imaginationen darge­stellt ist, selbstverständlich nicht, aber ich möchte nur auf das hinwei­sen, was als ein erlebendes Aufnehmen dieser Sache im Grunde ge­nommen für jeden notwendig ist.

Diese Dinge müssen heute in der richtigen Weise verstanden wer­den. Man muß eben dazu kommen, die Anthroposophie nicht nur als etwas zu nehmen, wo hinein man sich in derselben Weise vertieft, wie man sich in anderes vertieft, sondern man muß sie als etwas nehmen, was ein Umdenken und Umempfinden voraussetzt, was voraussetzt, daß der Mensch sich anders macht, als er vorher war. Man kann also, wenn zum Beispiel aus der Anthroposophie heraus, sagen wir, ein astronomisches Kapitel vorgetragen wird, nun nicht dieses astrono­mische Kapitel nehmen und es vergleichen mit der gewöhnlichen Astronomie und nun anfangen, hin und her zu beweisen und zu wider­legen. Das hat gar keinen Sinn, sondern man muß sich klar sein dar­über: das aus der Anthroposophie geschöpfte astronomische Kapitel ist erst verständlich, wenn eben das Umdenken und Umempfinden da ist. Wenn also irgendwo heute eine Widerlegung irgendeines anthro­posophischen Kapitels erscheint und dann eine mit denselben Mitteln wie die Widerlegung erschienene geschriebene Verteidigung da ist, dann ist dadurch gar nichts getan, eigentlich wirklich gar nichts getan, denn man redet hinüber und herüber mit derselben Denkweise. Dar­auf kommt es gar nicht an, sondern es kommt darauf an, daß von einem neuen Leben die Anthroposophie getragen werde. Und das ist heute durchaus notwendig.

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ERDENWISSEN UND HIMMELSERKENNTNIS. DER MENSCH ALS BÜRGER DES UNIVERSUMS UND DER MENSCH ALS ERDENEREMIT Dornach, 9. Februar 1923 Erster Vortrag

Die vorangehenden Betrachtungen haben sich im wesentlichen damit beschäftigt, zu zeigen, wie sich der Mensch in der heutigen Zeit ein Be­wußtsein verschaffen kann über seine gegenwärtige Stellung in der Menschheitsentwickelung der Erde. Man macht sich ja auch in den Kreisen, die heute nichts wissen wollen von einer Erkeunmis geistiger Welten, irgendeinen Begriff von diesem Bewußtsein eines Verhältnis­ses des Menschen zum Weltenall. Und etwas, was in dieser Beziehung, in dieser Richtung heute viel ausgesprochen wird, wollen wir uns ein­mal vor die Seele rufen. Es wird ja auch da, wo alle Anschauungen über das Weltenall aus dem äußeren Sinnengeschehen und der verstandesmäßigen Erfassung dieses Sinnengeschehens hergeleitet werden, davon gesprochen, wie das ganze Weltbewußtsein des modernen Menschen im Laufe der letzten Jahrhunderte ein anderes geworden ist. Es wird da hingewiesen auf den großen Umschwung, der in diesem Weltbewußt­sein des Menschen eingetreten ist durch die Kopetnikanische Weltan­schauung.

Wir brauchen ja nur in die Jahrhunderte zurückzublicken, die der Kopernikanischen Weltanschauung vorangegangen sind, wir brauchen zum Beispiel nur zurückzublicken auf die auch hier in der letzten Zeit wieder erwähnte scholastische Weltanschauung, und wir finden, daß für diese Weltanschauung in den Sternenwelten geistige Kräfte und geistige Wesenheiten anwesend waren. Wir vernehmen, wie die Scho­lastiker gesprochen haben von den Bewohnern der Sterne, die höheren Hierarchien in der Wesensentwickelung angehören.

Es haben also die Menschen dieser Weltanschauung den Blick hin-ausgerichtet in das Weltenall, haben hingesehen nach den Planeten un­seres Planetensystems, nach den anderen Sternen des Sternenhlmmels, und sie haben ein Bewußtsein davon entwickelt, daß nicht bloß äthe­tisch-materielles Licht aus den Sternenwelten zu ihnen herunterdringt,

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sondern daß gewissermaßen in die Seelen hereinfallen beim Anblicke des Sternenhimmeis die Blicke von geistigen Wesenheiten, deren äußere Verkörperung in den Sternen zu sehen ist. Es ist dannso geworden, daß heute, wenn der Mensch hinausblickt nach den Planeten, nach den an-deren Sternen, er vor allen Dingen sich ein Bild davon macht, wie mate­rielle und von Äther durchdrungene Körper frei im Weltenraume schwebend sind, wie Lichtwirkungen von diesen Sternen ausgehen. Aber keineswegs denkt der Mensch daran, daß ihn von diesen Sternen aus die Blicke von geistigen Wesenheiten höherer Hierarchien treffen.

Entseelt und entgeistet ist das Weltenall für den modernen Menschen geworden. Und im Bereiche des Erdendaseins fand der Mensch der äl­teren Zeit dasjenige, was innig zusammenhing in bezug auf das geistige Leben mit dem geistigen Leben des Universums. In den geistigen We­senheiten der anderen Sterne waren schöpferische Kräfte, die etwas zu tun hatten mit dem, was sich hier im Menschen geistig-seelisch ent­wickelt, geistig-seelisch-körperlich, können wir auch sagen. Die Men­schen haben hinaufgesehen, sagen wir zu dem Saturn. Sie haben in den Kräften, die mit den Lichtstrahlen von dem Saturn zur Erde herunter-kommen, diejenigen Kräfte gesehen, welche in das menschliche Wesen hereinwirken und in diesem menschlichen Wesen die Kraft des Ge­dächtnisses bewirken. Sie haben hinaufgesehen zum Jupiter, haben den Jupiter verbunden gesehen mit geistigen Wesenheiten höherer Hier­archien, die ihre Wirkungen hereinsenden in den Menschen, sodaß die Folge dieser Wirkungen im Menschen die Ausbildung der Kraft der Phantasie ist. Sie haben zum Mars hinaufgesehen: sie waren der An­schauung, daß die Kräfte, die von den geistigen Wesenheiten des Mars in den Menschen hereinwirken, dem Menschen die Kraft der Vernunft geben.

So sah der Mensch einer älteren Menschheitsentwickelung der Erde hinauf zu dem Sternenhimmel und sah im Sternenhimmel die Ursprün­ge desjenigen, was er in sich selber geistig-seelisch-körperllch wahr-nahm. Es fühlte sich der Mensch zusammengehörig mit Wesen höherer Hierarchien, und die äußeren Offenbarungen dieser Wesen höherer Hierarchien sah der Mensch in den Sternen.

Gleichzeitig mit dem Heraufkommen der Kopernikanischen Weltanschauung

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ist auch dieses Weltbild entfallen. Denn man wird es be­greiflich finden, daß eine Erde, welche man unter dem Einflusse uner­meßlich vieler geistiger Wesenskräfte des Universums sah, für den Men­schen, man möchte sagen, auch eine Gabe des ganzen Universums war, daß der Mensch, indem er auf der Erde lebte, in dieser Erde eben den Zusammenfluß der Wirkungen unzähliger Wesenheiten sah. Der Mensch fühlte sich gewissermaßen als Erdenbürger, aber, indem er sich als solcher fühlte, zu gleicher Zeit als ein Bürger des Universums.

Er sah hinauf zu den Göttern, verehrte seine Götter, aber sprach von diesen Göttern so, daß in ihren Absichten es gelegen hat, den Gang der Menschheitsentwickelung auf der Erde zu bestimmen. Die Erde wurde in ihrer Geschichte, die Erde wurde als Wohnplatz des Menschen er­klärlich aus dem, was man vom Kosmos, was man vom Universum be­griff. Vom Himmel aus erklärte man sich die Erde, und bei den Göttern suchte man die Absichten für dasjenige, was man im Umkreise des Erdengeschehens sah, und womit man als Mensch innig zusammen-hing.

Das, was sich aus der Kopernikanischen Weltanschauung herausge-bildet hat, gibt für den modernen Menschen eben ein ganz anderes Wel­tenbild. Der Mensch empfand immer mehr, wie die Erde ein unbedeu­tender Weltenkörper ist, der um die Sonne herunifliegt. Und indem er in der modernen Art nachdachte, welche Beziehung diese Erde zu dem anderen Universum, zum Kosmos hat, konnte er nicht anders, als diese Erde ein Staubkorn im Universum zu nennen. Ihm kamen alle anderen Himmelskörper, deren sein Auge ansichtig wurde, bedeutender vor als die Erde, denn für ihn wurde maßgebend die äußere physische Größe. Und in bezug auf diese kann es die Erde kaum mit wenigen Himmelskörpern aufnehmen.

So wurde für den Menschen immer mehr und mehr die Erde gewis­sermaßen nur ein Staubkorn im Universum, und der Mensch fühlte sich auf dieser dem Universum gegenüber so unbedeutenden Erde auch bedeutungslos im Kosmos, bedeutungslos im Universum. Mit geisti­gen Kräften hing er ja nicht mehr an diesem Universum. Es mußte ihm unmöglich erscheinen, zu glauben, daß mit irgendwelchen Absichten von göttlichen Wesenheiten, die im Universum sind, dasjenige zusammenhinge,

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was auf diesem unbedeutenden Staubkorn des Universums, Erde genannt, vorgeht. Man möchte sagen: All das, was der Mensch auf Erden gesehen hat deshalb, weil er den Himmel von Geistern und geistigen Kräften bevölkett erkannte, all das ging in der neueren Zeit dem Menschen verloren. Das Universum wurde entseelt und entgei­stert. Die Erde schrumpfte zusammen zu einem unbedeutenden Staub­korn in der entgeisterten und entseelten Welt.

Man muß einen solchen Wandel des Weltenbildes nicht nur vom Standpunkt einer theoretischen Welterklärung, sondern vom Stand­punkt des Menschenbewußtseins selbst auffassen. Anders wußte sich der Mensch, der sich auf einer Erde sah, auf die hereinwirkten unzäh­lige geistige Wesenheiten, die ihre Verwirklichung, ihre Absichten im Menschen der Erde hatten, anders wirkten diese Ansichten auf den Menschen, als der geistleere Raum, in dem leuchtende, räumlich ge­formte Weltenkugeln stehen und sich bewegen, von denen man keine andere Tätigkeit ins Auge faßt als die Bewegung im Raume, als die Offenbarung durch das Licht. Wie anders mußte sich der Mensch, der auf einem der kleinsten dieser Weltenkörper sich nun wußte, vorkom­men im geistlosen, im entseelten Raume, als innerhalb früherer Welten-bilder. Und dennoch, einmal mußte dieses Weltenbild im Laufe der Menschheitsentwickelung heraufkommen. Dasjenige, was einmal eine ältere Menschheit über die Himmel gewußt hat und über ihre Bewoh­ner, die göttlich-geistigen Wesen, das war ja die Eingebung, die Imagi­nation eines alten traumhaften Helisehens, das war etwas, was als sol­ches Heilsehen sich ja selber heruntergesenkt hatte von dem Univer­sum in den Menschen hinein. Man muß sich diese Sache nur richtig vorstellen. Wenn der Mensch älterer Zeiten hinaufsah zu Saturn, Ju­piter, Mars, und göttlich-geistige Wirkungskräfte in diesen Welten-körpern sah, so war das deshalb, weil von diesen Weltenkörpern selber die Offenbarungen in sein Inneres drangen und sich in ihm spiegelten, so daß er durch die Einflüsse des Universums, des Kosmos, in sich wußte, was aus dem Kosmos hereinströmt auf die Erde. Und so wurde ihm durch dasjenige, was ihm der Himmel gab, die Erde erklärlich. Der Mensch sah zu seinen Göttern auf und wußte, welches Wesen er auf Erden ist.

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Im modernen Weltenbilde weiß er das alles nicht. Im modernen Wel­tenbilde ist die Erde zusammengeschrumpft zu einem Staubkorn des Universums, und nun steht der Mensch als kleines, unbedeutendes We­sen auf diesem Staubkorn. Nun sagen ihm die Götter der Sterne nichts mehr über die Pflanzen, Tiere und die anderen Reiche der Erde. Nun muß er nur seine Sinne hinlenken auf dasjenige, was im mineralischen, pflanzlichen, im tierischen, im Menschenreiche lebt, was in Wind und Welle webt, was in Wolken, in Blitz und Donner west. Nun kann er keine Offenbarungen empfangen als diejenigen, die ihm seine Sinne geben über die Dinge der Erde, und er kann dann auch nur von den Offenbarungen der Erdensinnesdinge schließen auf dasjenige, was im Universum ist, nach der sinnlich-verstandesmäßigen Offenbarung.

Der Mensch hat diese bedeutsame Wandlung im flinften nachatlanti­schen Zeitraum, welcher die Entwickelung, die Enifaltung der Bewußt­seinsseele eben bedeutet, erfahren. Es mußte gewissermaßen alles, was früher an Kräften aus dem Universum ihm zugekommen war, die dann innerlich in seiner Seele wieder aufleuchteten, aus dem Menschen her-ausgepreßt werden, damit er gewissermaßen dastehen konnte und sich sagen: Ich weiß nichts, als daß ich auf einem Staubkorn des Univer­sums lebe. Nichts gibt mir dieses Universum, was mich aufklärt über ein Geistig-Seelisches, das in mir selber lebt. Will ich ein solches Gei­stig-Seelisches in mir erleben, so muß ich es aus meiner eigenen Wesen­heit herauspressen. Ich muß verzichten darauf; daß mir aus den Weiten des Universums die offenbarenden Kräfte zukommen. Ich muß aus der eigenen Anstrengung, aus der eigenen Aktivität heraus meine Seele er­füllen und kann vielleicht hoffen, daß in dem, was da aus meiner Seele hervorquilit, etwas lebt, was mir umgekehrt, vom Menschen aus, einen Aufschluß über das Universum gibt.

Früher hatte der Mensch die Möglichkeit, durch dasjenige, was ihm das Universum offenbarte, Aufschluß über sich als Mensch zu bekom­men. Er vermochte sich anzusehen als den Himmelssohn, weil die Him­mel ihm sagten, was er als solcher Himmelssohn ist. Jetzt war der Mensch mehr oder weniger der Erdeneremit geworden, der in der Einsamkeit seines Lebens auf dem Staubkorn des Universums sich er­kraften muß, um gewissermaßen in der Verlassenheit dasjenige zu entwickeln,

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was in ihm entwickelt werden kann, und zu warten darauf; ob das, was sich im Innern offenbart, etwas über das Universum Auf­schlußgebendes ist.

Und lange Zeit, durch Jahrhunderte hindurch, war dasjenige, was sich im Innern offenbarte, nichts über das Universum Aufschlußgeben-des. Der Mensch beschrieb das mineralische Reich den räumlich-zeit­lichen Kräften nach. Er beschrieb dann die Wirkungsweise dieses mine­ralischen Reiches in der Geognosie, in der Geologie. Er beschrieb die äußeren Sinnesvorgänge, wie sie sich abspielen, wie Pflanzen heraus­sprießen aus dem mineralischen Grund der Erde. Er beschrieb auch die sinnlichen Vorgänge, die sich abspielen im inneren Wesen des Tierischen und des Physisch-Menschlichen selber. Er sah sich überall um auf der Erde, forschend, was ihm die Sinne über dieses Erdendasein sagten. Sie sagten ihm vor allen Dingen nichts über die eigene Seele, über den eigenen Geist. Gerade aus dieser Weltenstimmung heraus, wenn man sie so recht erfaßte, aus dieser Stimmung, die etwa in die Worte zu fassen ist: Ich Mensch, ich bin ein Erdeneremit auf einem Staubkorne im Universum - gerade aus dieser Stimmung heraus mußte der Impuls kommen, in freier innerer Entfaltung das eigentlich Menschliche zu entwickeln.

Und eine große, eine umfassende Frage mußte entstehen, die Frage:

Ist denn wirklich im ganzen Umkreise desjenigen, was meine Sinne hier auf Erden sehen, fühlen, hören usw., was der Verstand aus ihnen kom­binieren kann, ist denn in diesem Umkreise wirklich nichts, was mir mehr gibt, als diese Sinne mir sagen können? - Der Mensch bildete eine Wissenschaft aus. Aber diese Wissenschaft, so interessant sie sein mag, sie sagt ja nichts über den Menschen, sie zielt auf abstrakte, tote Be­griffe ab, die dann in Naturgesetzen gipfeln. Aber das alles läßt ja gleichgültig über den Menschen. Der Mensch kann doch unmöglich bloß der Zusammenfluß dieser abstrakten Begriffe, ich möchte sagen, dieser Schrank für alle Naturgesetze sein! Denn diese Naturgesetze haben nichts Seelisches, haben nichts Geistiges an sich, obwohl sie aus dem Menschengeiste heraus konzipiert werden.

Sehen Sie, derjenige Mensch, der diese Stimmung in einer für die Weltanschauungsentwickelung bedeutungsvollen Zeit fühlte, war der

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junge Goethe. Und der Ausdruck für das, was er da fühlte, ist dasjenige, was er in der ersten Gestalt, die er seinem «Faust» gegeben hat, hin­geschrieben hat.

Erinnern wir uns, wie Goethe in der allerersten Gestalt, die er seinem «Faust» gegeben hat, wirklich diesen Faust hinstellt, sich noch erin­nernd, was eigentlich der Mensch suchen soll im Weltenall, wie er sich als Geist und Seele innerhalb von Geistern und Seelen gerne fühlen möchte, wie er sich aber zurückgestoßen fühlt durch die entseelte und entgeisterte Weltenwesenheit. Wie er dann nach der alten Offenbarung des Mystischen, des Magischen greift, ein altes Buch aufschlägt, wor-innen er Beschreibungen findet, wie die höheren hierarchischen Wesen in den Sternen und ihren Bewegungen leben, ein Buch, das spricht, wie Himmelskräfte auf- und niedersteigen und sich die goldnen Eimer rei­chen.

Solche Anschauung ist dagewesen, aber solche Anschauung ergreift in der Zeit, in die Goethe den Faust hineinstellt, den Menschen nicht mehr. Und Faust wendet sich ab, wie sich Goethe abgewendet hat von der alten Universumserklärung, die ein Geistig-Seelisches im ganzen Universum gesucht hat, und er schlägt das Zeichen des Erdgeistes auf. Und wir lesen dann die merkwürdigen Worte, die der Erdgeist selberhin­spricht:

In Lebensfluten, im Tatensturm

Wall' ich auf und ab,

Webe hin und her!

Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

Ein glühend Leben,

So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit,

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Aber daß da doch etwas nicht richtig ist, indem dieser Erdgeist dem Faust gegenübertritt, das zeigt Goethe klar dadurch, daß Faust hinfällt unter der Wirkung dieses Erdgeistes, und daß er dann ausgesetzt ist den Einwirkungen des Mephistopheles.

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Wenn man sich vom Standpunkte eines konkreten Weltbildes die monumentalen, lapidaren Worte, welche der Erdgeist spricht, vor die Seele stellt und unbefangen genug ist zu einer Beurteilung, die eigent­lich Goethe selber im Gefühle gelegen hat, indem er ja mit der Erdgeist­szene nicht aufgehört hat, am «Faust» zu schreiben, sondern fortge­fahren hat, wenn man sich das alles vorhält, dann muß man doch in eine Art von Ketzerei verfallen gegenüber vielem, was über «Faust »gesagt und gedruckt worden ist, was aber ganz gewiß nicht die wirk­liche Meinung, die wirkliche Anschauung Goethes wiedergibt. Was ist nicht schließlich in Anknüpfung an den «Faust» alles gesagt worden!

Man blickt ja immer und immer wieder hin auf die Worte, die später im Verlauf der Faust-Dichtung Faust zu dem etwa sechzehnjährigen Gretchen spricht: «der Allumfasser, Allerhalter ... Gefühl ist alles, Name ist Schall und Rauch», und man kommt sich so ungeheuer philo­sophisch vor, wenn man all dasjenige zitiert, was der Ausdruck sein soll für die eigenen Seelenbegriffe, und nun auch das zitiert, was Faust als Unterweisung einem Backfisch gibt. Es ist eine Backfischunterwei-sung. Es ist eigentlich kompromittierend, daß man diese Backfisch-unterweisung von Leuten, die gescheit sein möchten, als die Quint­essenz desjenigen, was man als eine Weltanschauung in Worte faßt, an-führen kann. Dies ergibt doch eben, wenn es auch ketzerisch ist, eine unbefangene Betrachtung.

Aber etwas Ähnliches ist es auch mit den ja lapidaren, monumentalen Worten, die der Erdgeist ausspricht: «In Lebensfluten, im Taten­sturm» und so weiter. Schön sind sie, die Worte, aber doch sehr all­gemein; etwas von einem mystischen Pantheismus von sinnlich-nebu­loser Art finden wir darinnen. Wird es uns denn nicht wolkig zu Mute, möchte ich sagen, wenn wir das vor uns haben sollten:

In Lebensfluten, im Tatensturm

Wall' ich auf und ab,

Webe hin und her!

Geburt und Grab,

Ein ewiges Meer,

Ein wechselnd Weben,

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Ein glühend Leben,

So schaff' ich am sausenden Webstuhl der Zeit,

Und wirke der Gottheit lebendiges Kleid.

Es bewirkt nichts, was uns die Fähigkeit gibt, konkret hineinzu­blicken in das Universum, in den Kosmos.

Goethe hat das ganz gewiß, insbesondere später, gefühlt, denn er ist ja nicht dabei geblieben, er hat den Prolog im Himmel gedichtet. Und wenn wir den Prolog im Himmel nehmen: «Die Sonne tönt nach alter Weise, in Brudersphären Wettgesang» und so weiter, dann erinnert das allerdings viel mehr an die Himmeiskräfte, die auf und nieder schweben und sich die goldenen Eimer reichen, als an das etwas nebulose Fluten und Weben des Erdgeistes. Goethe ist zurückgekommen von der - ja, man kann nicht sagen Verhimmelung des Erdgeistes, aber so etwas ähn-liches. Goethe hat dann später als reiferer Mensch nicht mehr diesen Erdgeist als dasjenige angesehen, an das er sich einzig und allein in der Gestalt des Faust wenden wollte, sondern er hat wieder aufgenommen den Geist der großen Welt, den Geist des Universums. Und wenn nun auch die Worte, die der Erdgeist in der ersten Faust-Fassung spricht, schön, lapidar, monumental sind: eine enifernte Verwandtschaft - ich will, um nicht ganz historisch unhöflich zu sein, von nur entfernter Verwandtschaft sprechen -, eine entfernte Verwandtschaft mit dem «Allumfasser, Allerhalter », mit der Unterweisung des sechehnjährigen Backfisches haben doch diese Worte, die der Erdgeist spricht, auch. Warum sollen sie deshalb nicht schön sein? Man muß sich ja gerade bemühen, wenn man Backfische unterweist, die Sache recht schön zu sagen, selbstverständlich! Warum sollten sie nicht schön sein?

Aber klar muß man sich sein darüber, daß Goethe als reifer Mann eben nicht im nebulosen Pantheismus dasjenige gesehen hat, was dem Menschen ein wirkliches Weltbewußtsein gibt.

Dem liegt aber noch etwas ganz anderes zugrunde. Goethe hätte bei seiner konkreten Art - wenigstens bis zu einem gewissen Grade kon­kreten Art -, die Dinge der Welt anzusehen, nicht vermocht, seinen Faust zu zeichnen in der Art, wie er es getan hat, wenn er ihn als Menschheitsrepräsentanten etwa für das 11., 12. Jahrhundert der abendländischen

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Zivilisation hingestellt hätte. Er hätte dann eine andere Ge­stalt nehmen müssen, aber er hätte niemals vermocht, diese Gestalt so zu zeichnen, wie er seinen Faust gezeichnet hat. Faust hätte nicht das Buch des Nostradamus weglegen dürfen und sich vom Geiste der gro­ßen Welt zu dem Erdgeist wenden, denn damals war das Bewußtsein vorhanden: der Mensch, wenn er sich recht versteht, versteht sich als einen Himmelssohn, ihm haben über sein eigenes Wesen die Geister der Himmel etwas zu sagen. Aber Faust ist eben der Menschheitsreprä­sentant, der dem 16. Jahrhundert angehört, also schon der fünften nach-atlantischen Periode, derjenigen Periode, die sich der Anschauung naht: Ich lebe als der Erdeneremit auf einem Staubkorn des Universums. -Da wäre es nicht mehr ehrlich gewesen von dem jungen Goethe, Faust hinblicken zu lassen zu dem Geiste der großen Welt. Als Menschheits­repräsentant könnte das bei Faust nicht der Fall sein, denn der Mensch hatte in seinem Bewußtsein keinen Zusammenhang mehr mit den Him­melskräften, die auf- und niedersteigen und sich die goldenen Eimer reichen, das heißt, mit den Wesenheiten der höheren Hierarchien. Das war verfinstert, das war nicht mehr da für das Menschheitsbewußt­sein. So konnte sich Faust nur an dasjenige halten, womit er etwa ver­knüpft sein konnte als Erdeneremit: Er wandte sich an den Genius der Erde.

Daß sich Faust an den Genius der Erde wendet, das ist etwas, ich möchte sagen, radikal Grandioses, was bei Goethe auftritt: Denn das ist die Wendung, welche das menschliche Bewußtsein in diesem Zeit­alter genommen hat, hinweg von den sich verfinsternden Himmels-mächten zu dem Genius der Erde, auf den der Geist selber hingewiesen hat, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Denn dieser Genius, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, hat sich mit der Erde verbunden. Er hat dadurch, daß er sich mit der Erden­menscltheitsentwickelung verbunden hat, dem Menschen nun die Kraft gegeben, in der Zeit, da er nicht mehr hinaufblicken kann zu den Geistern der Himmel, hinzusehen zu den Geistern der Erde, und die Geister der Erde sprechen nun im Menschen. Früher waren es die Sterne in ihrem Weben, welche die Himmelsworte offenbarten der Menschenseele, die diese Himmelsworte deuten und erkennen

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konnte. Jetzt mußte der Mensch auf seinen Zusammenhang mit der Erde hinsehen, das heißt, sich selber fragen, ob der Genius der Erde in ihm spricht.

Aber nur noch nebulose Worte, mystisch pantheistische Worte, kann Goethe in seinem Zeitalter dem Genius der Erde noch abringen. Rich­tig ist es, grandios ist es, daß Faust sich zu dem Genius der Erde wen­det, aber ich möchte sagen, ganz grandios ist es, daß Goethe noch nicht irgend etwas, was schon befriedigen kann, diesen Genius der Erde aus­sprechen läßt. Daß der Genius der Erde erst, ich möchte sagen, die Weltengeheimnisse in mystisch pantheistischen Formeln stottert und stammelt, statt sie in scharf umrissener Weise auszusprechen, das zeigt eben, daß Goethe seinen Faust genial hineingestellt hat in das Zeitalter, in welchem er seinen Faust und sich sah.

Aber anfühlen muß man diesem von Goethe so schön gezeichneten Verhältnisse des Faust zum Erdengenius, daß der Erdengenius allmäh­lich immer verständlicher werden wird für den Menschen, daß er im­mer mehr und mehr in deutlichen Konturen dem Menschen offenbar wird, wenn der Mensch aus der Aktivitat seiner eigenen Seele, aus der Aktivitat seines eigenen Geistes sich offenbaren läßt, was in den Him­meln ist. Früher haben die Himmel dem Menschen geoffenbatt, was er für die Erde wissen mußte; jetzt wendet sich der Mensch an die Erde, weil die Erde ja doch ein Geschöpf der Himmel ist. Und lernt man den Genius oder die Genien kennen, die auf der Erde ihre Wohnsitze auf­geschlagen haben, dann lernt man dennoch die Dinge über die Himmel kennen.

Das war ja auch das Verfahren, das zum Beispiel eingeschlagen wurde in meinem Buche «Die Geheimwissenschaft im Umriß». Da wurde alles im Innern des Menschen befragt, was es zu sagen hat. Da wurde eigentlich so recht viel geholt aus dem Geist der Erde. Aber der Geist der Erde spricht über die Saturnzeit, über die Sonnenzeit, über die Mon­denzeit der Erde, über die Jupiterzeit, Venuszeit. Der Geist der Erde spricht einem von dem, was er in seinem Gedächtnis von dem Univer­sum bewahrt hat. Einstmals hat man den Blick hinausgewendet in die Himmelsweiten, um sich für die Erde aufzuklären, jetzt senkt man den Blick hinein in die menschliche Eigenwesenheit, hört auf dasjenige hin,

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was der Erdengeist in der menschlichen Natur aus dem Weitgedächt­nisse zu sagen hat, und bekommt durch das Verstehen des Genius der Erde die makrokosmische Erkenntnis. Man dürfte heute natürlich, wenn man der Geisteswissenschaft, der Geisteserkennmis eine richtige Bedeutung beilegt, das Gespräch des Faust mit dem Erdgeist nicht mehr so darstellen, wie es Goethe dargestellt hat, obwohl es zu seiner Zeit genial war, es so darzustellen.

Heute dürfte der Erdengenius nicht in jenen allgemeinen, abstrakten Worten sprechen, von denen man sagen kann, daß sie irgend etwas aus­drücken, was zu gleicher Zeit eine schwebende Wasserwelle sein kann. Nur ist das mystisch dunkel, weil diese schwebende Wasserwelle nun wieder an einem Webstuhl sitzt und webt! Ich weiß ja zwar, daß sich viele Menschen außerordentlich wohl fühlen, wenn ihnen derlei Un­bestimmtes durch die Seele sich rührt; aber dadurch erlangt man den­noch nicht innere menschliche bewußte Festigung, die man als moder­ner Mensch braucht. Es ist immer etwas von einer Träumerei oder auch von einem Rausch: «Allumfasser, Allerhaiter», «in Lebensfluten, im Tatensturm», man ist immer ein bißchen außer sich, nicht ganz in sich. Das gibt ja gewiß den Menschen ein Wohlgefühl, wenn sie ein bißchen außer sich sein können, am liebsten ist mancher ganz außer sich und läßt sich von allerlei Gespenstern Aufschlüsse geben über die Welt.

Damit möchte ich eben andeuten, daß wir nicht anders können in der modernen Zeit, als uns an den Erdengenius wenden, der in uns selber lebt! Die Sache ist nämlich so: Nimmt man das, was uns die na­turwissenschaftlichen Ideen der neueren Zeit geben, einfach wie es ist, wie es in der äußeren Zivilisation heute niedergelegt ist, dann bleibt es abstrakt, laßt das menschliche Bewußtsein kalt. Wenn man aber an­fängt, mit diesen Begriffen zu ringen, zu ringen selbst mit den Abstrak­tionen Haeckels, dann kommt aus diesem Ringen etwas ganz Konkre­tes, etwas unmittelbar Eriebbares: Dann kommt die große Erkenntnis über uns, daß wir zwar die gleichgültigen naturwissenschaftlichen Ideen zunächst bekommen, aber diese Form ja nur eine Maske ist. Wir müssen erst darauf kommen, daß das, was wir da bekommen, uns der Genius der Erde sagt. Wir müssen erst dasjenige, was wir zunächst mit dem abstrakten Verstande hören, mit dem ganzen Seeienohr behorchen.

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Und wir lernen dadurch in konkreter Weise den Genius der Erde hö­rend verstehen.

Damit nähern wir uns der Art und Weise, wie der Mensch im Zeit­alter der Bewußtseinsseelenentwickelung ein Weltbewußtsein erringen muß. Diese Dinge müssen eben empfindungsgemäß von dem Menschen erfaßt werden, dann kommt er mit der Empfindung, ich möchte sagen, mit seinem Herzbiute heran an das anthroposophische Weltempfinden. Und dieses, nicht bloß einzelne Ideen über die Welt, sondern dieses Weltempfinden muß sich der moderne Mensch erwerben, wenn er sich in der richtigen Weise gemäß den Andeutungen, die ich hier in der jüngsten Zeit getan habe, fühlen, erdenken will.

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DER UNSICHTBARE MENSCH IN UNS. DAS DER THERAPIE ZUGRUNDE LIEGENDE PATHOLOGISCHE Dornach, 11. Februar 1923

In dem Menschen, wie er vor uns steht, sind eigentlich deutlich zwei Wesenheiten zu unterscheiden. Sie erinnern sich, daß ich in verschiedenen Betrachtungen der letzten Zeit ausführte, wie die physische Organisation des Menschen geistig vorbereitet wird im vorirdischen Le­ben, wie sie dann gewissermaßen als geistige Organisation heruntergeschickt wird, bevor der Mensch selbst mit seinem Ich in das irdische Dasein hereinkommt. Diese geistige Organisation ist im wesentlichen auch während des ganzen physischen Erdeniebens nachwirkend, nur drückt sie sich während des physischen Erdenlebens nicht in etwas äußerlich Sichtbarem aus. Das äußerlich Sichtbare wird bei der Geburt im wesentlichen abgestoßen, denn es sind die Hüllen, in welche der Menschenkeim während der Embryonalzeit eingehüllt ist: Chorion und Amnionsack, die Allantois, alles das, was also abgestoßen wird als phy­sische Organisation, wenn der Mensch aus dem Mutterleibe heraus ein freies physisches Dasein gewinnt. Aber tätig bleibt im Menschen diese vorirdische Organisation sein ganzes Leben lang. Nur ist ihre Beschaf­fenheit etwas anders als die Leibes-Seelen-Geistwirksamkeit des Men­schen während des physischen Erdenlebens. Und darüber möchte ich heute etwas sprechen.

Wir haben also gewissermaßen in uns einen unsichtbaren Menschen, der enthalten ist in unseren Wachstumskräften, auch in denjenigen ver­borgenen Kräften, wodurch die Ernährung zustande kommt, der ent­halten ist in alledem, worüber sich die bewußte Tätigkeit des Menschen eigentlich nicht erstreckt. Aber auch in diese unbewußte Tätigkeit, bis in die Wachstumstätigkeit, bis in die tägliche Wiederherstellung der Kräfte durch die Ernährung, geht Wirksamkeit hinein. Und diese Wirk­samkeit ist eben die Nachwirkung des vorirdischen Daseins, das im irdischen Dasein ein Kräfteleib wird, der in uns wirkt, aber der nicht eigentlich zur bewußten Offenbarung kommt. Diesen unsichtbaren

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Menschen, den wir alle in uns tragen, der in unseren Wachstums-, in unseren Ernährungskräften steckt, der auch in den Reproduktionskräf­ten steckt, diesen unsichtbaren Menschen möchte ich Ihnen zunächst seiner Beschaffenheit nach schildern.

Wir können das schematisch tun, indem wir uns sagen: Auch in die­sem unsichtbaren Menschen sind enthalten das Ich, die astralische Or­ganisation, die ätherische Organisation, also der Bildekräfteleib, und die physische Organisation. Natürlich, die physische Organisation steckt bei dem geborenen Menschen in der anderen physischen Organisation drinnen, aber Sie werden im Laufe der heutigen Betrachtungen das Eingreifen des unsichtbaren Menschen in die physische Organisation er­fassen können.

Wenn ich schematisch zeichne, so muß ich es so zeichnen (siehe Zeichnung links):

Zeichnung aus GA 221, S. 76
Zeichnung aus GA 221, S. 76

Wir haben in diesem unsichtbaren Menschen zunächst die Ich-Organi­sation (gelb), wir haben dann die astralische Organisation (rot), dann die ätherische Organisation (blau), und wir haben die physische Orga­nisation (weiß). Diese physische Organisation, die in Betracht kommt für den unsichtbaren Menschen, greift nur ein in die Ernährungs­Ävachstumsprozesse, in alles das, was von dem unteren Menschen, wie

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wir ihn öfter geschildert haben, von dem Stoflwechsel-Gliedmaßen­menschen sich in der menschlichen Organisation geltend macht. Alle Strömungen, alle Kräftewirkungen in diesem unsichtbaren Menschen gehen so vor sich, daß sie ausgehen von der Ich-Organisation, dann in die astralische, in die ätherische und in die physische Organisation ge­hen, und in der physischen Organisation sich dann ausbreiten (siehe Pfeil in Zeichnung Seite 76). Beim Menschenkeim ist dasjenige, was hier physische Organisation genannt wird, in den Häuten, in den Hüllen des Embryo vorhanden, im Chorion, in der Aliantois, in dem Amalon­sack und so weiter. Beim geborenen Menschen ist all das, was hier phy­sische Organisation genannt wird, enthalten in denjenigen Vorgängen, welche Ernährungs-Wiederherstellungsvorgänge im ganzen Menschen sind. Also nach außen hin ist diese physische Organisation hier (siehe Zeichnung rechts) von der anderen physischen Organisation des Men­schen nicht getrennt, sondern mit ihr vereinigt.

Wir haben gewissermaßen neben diesem unsichtbaren Menschen dann den sichtbaren Menschen, den wir vor uns stehen haben, wenn der Mensch eben geboren ist. Diesen sichtbaren Menschen will ich ge­wissermaßen daneben zeichnen. So also würde die gegenseitige Durch­dringung des physischen und des überphysischen Menschen während des Erdenlebens sein. Nun ist es aber während des Erdeniebens so,daß fortwährend diese Strömung stattfindet (Pfeil): vom Ich zum astrali­schen Leib, zum ätherischen Leib, zum physischen Leib. Diese Strö­mung verläuft beim geborenen Menschen in der Gliedmaßen-Stoff­wechselorganisation, in alledem, was Bewegungskräfte sind, und was die innerlichen Bewegungskräfte sind, welche die aufgenommenen Nahrungsmittel in den ganzen Organismus tragen bis zum Gehirn hinauf.

Dagegen gibt es auch ein unmittelbares Eingreifen, eine Kräftewir­kung, die nun von dem Ich direkt in den ganzen Menschen hineingeht (siehe farbige Zeichnung 1). Wir haben also ein Eingreifen einer Tätig­keit, einer Strömung gewissermaßen, die direkt von dem Ich aus in die Nerven-Sinnesorganisation hineingeht, die also nicht erst durchgeht durch den Astralleib, durch den Ätherleib, sondern die direkt in den physischen Leib des Menschen eingreift. Natürlich ist dieses Eingreifen

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ja nur am stärksten am Kopfe, wo die meisten Sinnesorgane konzen­triert sind. Aber ich müßte diese Strömung eigentlich so zeichnen, daß sie sich zum Beispiel über den Hautsinn über den ganzen Menschen wiederum ausbreitet, gerade wie ich auch eine Strömung zeichnen müßte für das Einnehmen der Nahrungsmittel durch den Mund. Aber schematisch ist die Zeichnung so, wie ich sie eben gemacht habe, durch­aus richtig. Wir haben also im menschlichen Haupte eine solche Orga­nisation, die von unten heraufströmt, die vom Ich ausgeht, aber durch­gegangen ist durch das Astralische, Ätherische, Physische und dann zum Ich heraufströmt. Wir haben eine andere Strömung, die direkt in das Physische hineingeht und hinunterströmt.

Wenn wir den menschlichen Organismus prüfen, dann kommen wir dazu, einzusehen, daß diese unmittelbare Strömung, die also vom Ich direkt in das Physische hineingeht und sich dann im Körper verzweigt, entlang den Nervenbahnen geht (siehe farbige Zeichnung 1, gelb). So daß also, wenn die menschlichen Nerven im Organismus sich ausbrei­ten, der äußere sichtbare Nervenstrang das äußere sichtbare Zeichen ist für die Ausbreitung derjenigen Strömung, welche direkt vom Ich nach dem ganzen Organismus geht, aber unmittelbar vom Ich aus in die physische Organisation hineingeht. Längs der Nervenbahnen läuft zunächst die Ich-Organisation. Diese ist für den Organismus eine we­sentlich zerstörende. Denn da kommt der Geist direkt hinein in die physische Materie. Und überall, wo der Geist direkt in die physische Materie hineinkommt, liegt Zerstörungsprozeß vor, so daß also längs der Nervenhahnen, von den Sinnen ausgehend, ein feiner Todesprozeß im menschlichen Organismus sich ausbreitet.

Diejenige Strömung, welche zuerst im unsichtbaren Menschen nach dem astralischen, ätherischen und dem physischen Leibe geht, die kön­nen wir im Menschen verfolgen, wenn wir die Blutbahnen bis zu den Sinnen hin verfolgen (siehe farbige Zeichnung 1, rot), so daß wir also, wenn wir den Menschen, so wie er vor uns steht, prüfen, sagen können: In dem Blute strömt das Ich. - Aber das Ich strömt so, daß es zuerst seine Kräfte durchseelt hat durch die Astralorganisation, durch die ätherische und durch die physische Organisation. Das Ich strömt, nach­dem es zuerst die astralische, die ätherische Organisation mitgenommen

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hat, durch die physische Organisation im Blute von unten hinau£ Es strömt also der ganze unsichtbare Mensch in dem Blutvorgang als ein aufbauender, als ein Wachstumsvorgang, als derjenige Vorgang, der immer von neuem den Menschen erzeugt durch die Verarbeitung der Nahrungsmittel. Dieser Strom strömt im Menschen von unten nach oben, können wir schematisch sagen, ergießt sich dann in die Sinne, also auch in die Haut, und kommt derjenigen Strömung entgegen, die direkt vom Ich aus die physische Organisation ergreift. Allerdings ist die Sache in Wirklichkeit noch komplizierter. In Wirklichkeit müssen wir auch auf den Atmungsvorgang sehen.

Beim Atmungsvorgang ist es so, daß das Ich allerdings bis in den astralischen Leib strömt, dann aber direkt in die Lunge mit Hilfe der Luft. So daß den Atmungsvorgängen auch etwas vom übersinnlichen Menschen zugrunde liegt, aber so, daß nicht wie beim Nerven-Sinnes­prozeß das Ich direkt eingreift in die physische Organisation, sondern das Ich sich noch durchtränkt mit den Astralkräften, den Sauerstoff er­greift, und dann erst, jetzt nicht als reine Ich-Organisation, sondern als Ich-Astralorganisation, in den Organismus eingreift mit Hilfe des At­mungsprozesses (siehe farbige Zeichnung 1, dritter Pfeil). Man könnte also sagen: Der Atmungsprozeß ist ein abgeschwächter Zerstörungsprozeß, ein abgeschwächter Todesprozeß. Der eigentliche Todespro­zeß ist der Nerven-Sinnesprozeß, ein abgeschwächter Zerstörungsprozeß ist der Atmungsprozeß.

Ihm steht dann gegenüber derjenige Prozeß, wo das Ich sich auch noch verstärkt dadurch, daß seine Strömung bis zum Ätherleib geht und dann erst aufgenommen wird (siehe farbige Zeichnung 1, vierter Pfeil). Dieser Prozeß, der schon sehr stark im Übersinilichen liegt, so daß er von der gewöhnlichen Physiologie eben nicht verfolgt werden kann, wirkt im Pulsschlage noch äußerlich vernehmbar. Das ist ein Wiederherstellungsprozeß, der nicht so stark ist wie der direkte Stoff­wechsel-Herstellungsprozeß, sondern ein abgeschwächter Wiederher­stellungsprozeß. Und er begegnet sich dann mit dem Atmungsprozesse.

Der Atmungsprozeß ist bis zu einem gewissen Grade ein Zerstö­rungsprozeß. Würden wir mehr Sauerstoff aufnehmen, so würde unser Leben viel kürzer sein. Unser Leben wird in dem Maße verlängert, je

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mehr der Kohlensäurebildungsprozeß durch das Blut entgegenkommt der Aufnahme des Sauerstoffes im Atmungsprozeß.

So wirkt alles innerlich im Organismus zusammen, und man kann eigentlich dasjenige, was in dem Organismus vor sich geht, nur ver­stehen, wenn man zu diesem Verständnis den übersinnlichen Menschen zu Hilfe nimmt, weil der ja äußerlich sichtbar mit den Hüllen des Em­bryos abgestreift wird und im geborenen Menschen eigentlich nur noch durch unsichtbare Kräfte wirkt, die wir aber genau bezeichnen können, wenn wir von der anthroposophischen Menschenerkenntnis ausgehen.

Wenn wir mit anthroposophischer Menschenerkenntnis zum Bei­spiel in das Auge sehen, so haben wir, im Auge ankommend, den Blut-prozeß, der in den feinen Verzweigungen verläuft (siehe farbige Zeich­nung 2, rot) und der dann ergriffen wird von dem Nervenprozeß (gelb), der nach der anderen Richtung geht. Der Blutprozeß geht eigentlich immer nach der Peripherie, zentrifugal im Menschen. Der Nervenpro­zeß, der eigentlich ein Abbauprozeß ist, geht immer zentripetal, geht gegen das Innere des Menschen zu. Und alle Vorgänge, die im Men­schen stattfinden, sind Metamorphosen dieser zwei Vorgänge.

Wenn der Vorgang, der sich abspielt zwischen Puls und Atem, in Ordnung ist, dann ist der untere Mensch mit dem oberen Menschen in einer richtigen Verbindung, und dann muß eigentlich der Mensch, wenigstens innerlich, wenn nicht äußere Verletzungen an ihn heran-treten, im Grunde gesund sein. Nur wenn der Abbau überwiegt, dann werden übergreifende Zerstörungsprozesse im Organismus sich ab­spielen. Der Mensch ist dadurch krank, daß sich Fremdartiges in seinem Organismus ansammelt, das nicht in der richtigen Weise verarbeitet ist, das zuviel der Abbaukräfte in sich enthält, das zuviel enthält von dem, was verwandt ist der äußeren physischen Natur, die auf der Erde in des Menschen Umgebung ist.

Durch das direkte Eingreifen des Geistigen auf dem Umwege des Ich werden im Menschen alle diejenigen Vorgänge von krankhafter Art erzeugt, welche Fremdbildungen sind: Fremdbildungen, die vielleicht nicht gleich in physischen Ansammlungen sichtbar sind, Fremdbildungen, die zum Beispiel im flüssigen, ja sogar im luftförmigen Menschen sein können, die aber Fremdbildungen sind. Die werden sich herausbilden,

Wandtafelzeichnung aus GA 221, nach S. 80
Wandtafelzeichnung aus GA 221, nach S. 80


Wandtafelzeichnung aus GA 221, nach S. 80
Wandtafelzeichnung aus GA 221, nach S. 80


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und denen kommt dann nicht ein gesundender Prozeß, wie er längs der Blutbahnen verläuft, von unten entgegen, so daß diese Fremdbildungen, die zuerst die Tendenz haben, geschwulstartige Anhäufungen im Körper zu bilden und dann innerlich zu zerbröckeln, sich nicht auf­lösen können. Kommt ihnen der Blutbildungsprozeß in der richtigen Weise entgegen, dann können sie sich auflösen, dann gehen sie wieder­um in den Vorgang des allgemeinen Leibeslebens über. Aber wenn eine Stauung dadurch entsteht, daß gewissermaßen von oben herunter ein zu starker Abbauprozeß Platz greift, so ergreift er das eine oder andere Organ. Es bilden sich Fremdkörper, die zuerst exsudatartig, geschwulstartig sind, dann die Tendenz aber haben, geradeso zu verlaufen, wie eben die äußeren Prozesse der irdischen Natur verlaufen, die sich zer­bröckeln. Und da ist es dann notwendig, daß man sich klar darüber ist, daß eben nicht genügend von dem übersinnlichen Menschen auf dem Wege, den ich hier eigentlich neben den physischen Menschen gezeich­net habe, in den Menschen aufgenommen wird.

Man kann eigentlich von Heilen durch Menschenkunst nicht un­mittelbar reden, denn die Sache ist so: In dem Momente, wo zuviel Tätigkeit entwickelt wird nach der Nerven-Sinnesorganisation hin in zentripetaler Richtung, wo also zuviel von den Vorgängen der äußeren Umgebung in den Menschen hineingestopft wird, so daß diese geschwulstartigen Bildungen, die dann zerbröckeln, irgendwo entstehen, in dem Momente wird das andere System, das längs der Blutbahnen verläuft, rebellisch und will die Heilung herbeiführen, wrn dasjenige, was im Organismus ist, durchdringen mit der richtigen astralischen und ätherischen Kraft, die von unten heraufkommen kann, will abhalten das Ich oder den astralischen Leib mit dem Ich, für sich allein zu wirken. Solch einem revolutionären Prinzip im menschlichen Organismus muß der Heiler dann entgegenkommen, und das Heilen besteht eben darin, daß man dasjenige, was im Organismus als ursprüngliche Heilkraft schon vorhanden ist, durch äußere Mittel unterstützt.

Wenn also, sagen wir, eine geschwulstartige Bildung auftaucht, so ist das ein Symptom dafür, daß nicht in richtiger Weise die Ich-Tätig­keit vom Ätherleibe aus eingreift. Sie macht sich geltend, aber kann manchmal nicht herankommen an die Geschwulst. Man muß nach dieser

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Richtung hin gewissermaßen den Ätherleib unterstützen, so daß er zur Wirksamkeit kommt. Denn wenn der Ätherleib in der richtigen Weise zur Wirksamkeit kommt, indem er zuerst vom Ich und vom astralischen Leib durchdrungen ist und dann zur Wirksarnkeit kommt, wenn er heran kann an das, was von oben kommt und nicht die Äther-wirksamkeit aufgenommen hat, sondern höchstens die Ich- und Astral­wirksamkeit, wenn man also der Ich- und Astralwirksamkeit, die ver­giftend in den Organismus eingreifen, die ätherische Wirksamkeit ent­gegensenden kann, dann unterstützt man den Heilungsprozeß, der durch die menschliche Organisation selber da sein will. Man braucht eigentlich nur zu wissen, durch welche Mittel in einem solchen Falle die ätherische Organisation, in der richtigen Weise von astralischer und Ich-Organisation durchzogen, in den Körper eingreifen muß. Man braucht sozusagen der ätherischen Organisation durch die Mittel nur zu Hilfe zu kommen. Man muß also wissen, welche Mittel in einem sol­chen Falle die ätherische Organisation stark machen, so daß sie ihre aufbauende Kraft der zu starken abbauenden Kraft entgegensetzen kann. Was der Therapie als die Pathologie zugrunde liegt, läßt sich eben durchaus nicht begreifen, wenn man nicht zu dem unsichtbaren Menschen seine Zuflucht nimmt.

Es kann aber auch so sein, daß der Mensch, indem er geboren wird, mit seiner Ich- und astralischen, also sagen wir, mit seiner geistig-see­lischen Organisation nicht richtig in die physische Organisation ein­greift, daß also gewissermaßen die geistig-seelische Organisation nicht genügend hineinstößt in die physische Organisation. Dann wird der ganze Mensch fortwährend ein Überwiegen haben desjenigen, was von unten nach oben als Wachstumskräfte vorhanden ist, was aber nicht in genügender Weise Schwere bekommt durch die Eingliederung der physischen Organisation. Der Mensch kann so geboren werden, daß sein physischer Leib nicht genügend von dem unsichtbaren Menschen ergriffen wird, daß also dieser hier gezeichnete unsichtbare Mensch ge­wissermaßen sich weigert, in der gehörigen Weise einzugreifen in den Blutprozeß. Dann kann der Geist des Menschen nicht an den Blutprozeß heran, und wir sehen dann die Folgen daran, daß solche Menschen uns schon von Kindheit auf blaß entgegentreten, mager bleiben, oder wohl

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auch durch die überwiegenden Wachstumskräfte schneli in die Höhe schießen. Dann haben wir das vor uns, daß das Geistig-Seelische nicht richtig hinein kann in den Organismus. Und weil der Körper sich wei­gert, das Geistig-Seelische aufzunehmen, müssen wir dahin wirken, daß wir im ätherischen Leibe, wo dann eine zu starke Tätigkeit vorhinden ist, diese abschwächen. Wir müssen also bei solchen blaß und hager und aufgeschossen auftretenden Menschenkindern dahin wirken, daß wie­derum die im ätherischen Leib hypertrophisch, übermaßig wirkenden Kräfte auf ihr gehöriges Maß zurückgeführt werden, daß der Mensch Schwere in den Leib bekommt, daß das Blut zum Beispiel durch Emp­fangen des nötigen Eisengehaltes die entsprechende Schwere bekommt, sodaß der ätherische Leib weniger nach oben wirkt, in seiner Wirkung nach oben abgeschwächt wird.

Man merkt einen solchen Zustand auch daran, daß bei einem solchen Menschen stärker auftritt etwas, was ich gegenüber den Tagprozessen, den Tagvorgängen, die Nachtvorgänge nennen möchte. Denn man möchte sagen: In der Nacht weigert sich ja bei jedem normalen Men­schen die physisch-ätherische Organisation, das Geistig-Seelische aufzu­nehmen. Diese Nachtorganisation des im Bette liegenden Menschen - nicht des unsichtbaren Menschen, der heraußen ist -, diese Nachtorganisation ist zu stark bei denjenigen, die eine Art angeborener Schwindsucht, wie ich sie eben geschildert habe, in sich tragen. Man muß dann die Tagorganisation unterstützen, das heißt, ihr eine gewisse Schwere geben dadurch, daßman die Abbauprozesse geradezu fördert. Denn wenn man die Abbauprozesse fördert und dann innerlich dieses sich Verhärtende und zuletzt Zerbröckelnde auftritt - es muß natürlich nur in sehr geringem Maße beim Heilen stattfinden -, dann drängt man die überquellende Kraft des Ätherleibes zurück, und man hält das Schwindsuchtsmoment zurück.

So wird aus der Erkenntnis des ganzen Menschen eben dieses eigen­tümliche Zusammenwirken von Gesundheit und Krankheit durch­sichtig, das immer da ist, und das im wesentlichen ausgeglichen wird durch dasjenige, was sich zwischen Puls und Atem abspielt. Und lernt man dann erkennen, durch welche äußeren Mittel man das eine oder das andere fördern kann, dann kommt man eben in die Lage, die ja

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immer vorhandenen, aber nicht immer aufkommenden Naturheilungs­prozesse zu unterstützen. Denn einen ganz fremdartigen Prozeß kann man in den menschlichen Organismus nicht hineinbringen. Was im menschlichen Organismus vor sich geht, ist immer so: Wenn man irgendeinen fremdartigen Prozeß in ihn hineinbringt, so wird er inner­lich sogleich in den entgegengesetzten verwandelt. Essen Sie irgend etwas, so hat das Nahrungsmittel gewisse chemische Kräfte in sich. In­dem der Organismus sie aufnimmt, verwandelt er sie sogleich innerlich in die entgegengesetzten. Und das muß möglich sein. Denn behält zum Beispiel ein Nahrungsmittel, nachdem es aufgenommen wird, zu lange seine äußere Beschaffenheit, dann geht es eben an den Abbauprozeß heran, und das bewirkt äußere, im Menschen zerstörende, todbringende Abbauprozesse. Es muß gewissermaßen dasjenige, was mit den Nah­rungsmitteln in den Menschen hineinkommt, sogleich durch innere Prozesse in Empfang genommen und in sein Gegenteil verwandelt werden.

Sie können diese Prozesse, die ich Ihnen jetzt hier aus dem Ganzen des Menschen heraus entwickelt habe, an Einzelheiten verfolgen. Neh­men Sie einmal an, Sie stechen sich irgendwo einen Fremdkörper ein (siehe farbige Zeichnung 3, gelb). Das Verhalten Ihres Leibes zu diesem Fremdkörper kann in zweierlei Art vor sich gehen. Nehmen wir an, Sie können den Fremdkörper nicht herausziehen, er bleibt drinnen. Dann kann zweierlei geschehen. Rings um den Fremdkörper ist tätig die aufbauende Kraft in dem ffießenden Blute (rot). Die sammelt sich rings um den Fremdkörper an, ist aber von ihrer Stelle gerückt. Das führt dazu, daß die Nerventätigkeit sogleich anfängt zu überwiegen. Es sondert sich um den Fremdkörper eine exsudatartige Bildung ab (blau). Der Fremdkörper wird eingekapselt. Dadurch, daß das geschieht, bil­det sich an der Stelle des Körpers das Folgende: Während sonst, wenn wir keinen Fremdkörper an der Stelle haben, dort in einer gewissen Weise der ätherische Leib in den physischen Leib eingreift, wird der ätherische Leib jetzt in den Fremdkörper nicht eingreifen können, son­dern dadrinnen wird gewissermaßen eine Blase entstehen, die nur vom Ätherischen ausgefüllt ist (rote Striche). Wir haben in uns ein Stückchen Leib, das einen Fremdkörper enthält, und wo ein Stückchen ätherischer

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Leib nicht vom Physischen durchorganisiert ist. Da kommt es dann darauf an, dadrinnen den astralischen Leib so stark zu machen, daß er ohne die Hilfe des physischen Leibes bei dem Stückchen Ätherleib wir­ken kann. Und durch diese Einkapselung hat sich eigentlich unser Leib an die abbauenden Kräfte gewandt, um diese abbauenden Kräfte in einem Stück Leib herauszusondern und da nun den heilenden Äther­leib einzugliedern, der in der entsprechenden Weise aber dann durch eine richtige Behandiung unterstützt werden muß von dem Astrall­schen und dem Ich.

Wir müssen also gewissermaßen sagen, daß in einem solchen Falle dasjenige, was über dem Physischen im Menschen liegt, so stark werden muß, daß es ohne das Physische für diesen kleinen Teil der mensch­lichen Organisation wirken kann. Das geschieht immer, wenn im Sinne einer sogenannten Heilung irgendein Fremdkörper im Menschen, ein Splitter, der eingestochen wird zum Beispiel, sich einkapselt. Da also wird der Mensch für diesen Teil seines Leibes gewissermaßen mit seiner ganzen Organisation ein Stück nach oben gerückt. Nun bildet sich ja natürlich auch Fremdkörperliches rein aus der Organisation heraus. Das muß dann in der gleichen Weise angesehen werden.

Aber nun kann ein ganz anderer Prozeß sich abspielen, wenn wir uns einen Splitter eingestoßen haben. Es kann so sein, daß nun, wenn wir uns den Splitter eingestochen haben (siehe farbige Zeichnung 4, gelb), ringsherum die Nerventätigkeit anfängt stärker zu werden und über die Bluttätigkeit überwiegt. Dann erregt die Nerventätigkeit, wo das Ich oder wohl auch das durch den astralischen Leib verstärkte Ich drinnen wirkt, dann erregt diese Nerven- Sinnestätigkeit, die durch den ganzen Leib geht, die Bluttätigkeit, läßt es nicht zum Gerinnen eines Exsudates kommen, sondern regt dasjenige, was sich aussondert, auf, und es führt das dann zur Eiterbildung (weiß). Und weil die Nerven nach außen stoßen (Pfeile), so wird der Eiter durch den Stoß, der in der abbauenden Tätigkeit durch die Nervenbahnen geht, durch den Stoß auch nach der Peripherie, nach außen des Körpers getrieben, und der Splitter eitert aus, kommt heraus, und das Ganze vernarbt dann.

Sie können also unmittelbar an den Vorgängen der Einkapselung sehen, die ja namentlich dann geschehen wird, wenn der Splitter zu weit

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drinnen sitzt im Organismus, so daß die Stoßkraft des Abbausystems, des Nerven-Sinnessystems nicht ausreicht, um ihn nach außen zu füh­ren, dann wird das Aufbauende in den Blutbahnen stärker sein und zur Einkapselung führen.

Wenn der Splitter mehr an der Oberfläche sitzt, so wird die Nerven-stoßkraft, die abbauende Kraft, stärker sein, sie exzitiert, erregt das­jenige, was Exsudat werden will, wird so die ja sonst immer vorhan­denen Abbaubahnen, welche nach außen führen, abbauend benutzen, und das Ganze wird vereitern. So daß wir eigentlich sagen können: Jm Anfange, gewissermaßen im Momente der Entstehung, im Status nascendi tragen wir eigentlich immer latent die Tendenz in uns, daß unser Organismus verhärten werde nach innen, zentripetal, und daß er wieder aufgelöst werde nach außen, zentrifugal. Nur sind die nach innen wirkende, geschwulstbildende Kraft, und die nach außen wirkende, eiterig entzündliche Kraft im normalen Menschenleibprozeß im Gleichgewichte, gleichen sich aus. Wir entzünden uns immer so stark, daß wir die nach dem Abbau hingehende geschwulstbildende Kraft überwinden. Nur wenn das eine stärker ist als das andere, so entsteht entweder eine wirkliche Geschwulstbildung oder eine wirkliche Ent­zündungsbildung.

Nun dürfen Sie nicht glauben, daß das alles sich in der Wirklichkeit so leicht ausnimmt, wie man es - was man ja muß - im Beschreiben schematisch darstellt. In Wirklichkeit greifen eben die Prozesse durch­aus ineinander. Sie können ja beobachten, daß dann, wenn die entzünd­lichen Kräfte im Menschen stark sind, fiebrige Erscheinungen auftre­ten. Das sind im wesentlichen zu starke, überwiegendeAufbauprozesse, die im Blute liegen. Mit dem, was man im Fieber oftmals an Eigenkraft im Menschen entwickelt, könnte man jedenfalls noch ein starkes Stück von einem zweiten Menschen versorgen, wenn man die Kräfte in der richtigen Weise ableiten könnte.

Auf der anderen Seite, da wo die Abbaukräfre stark wirken, treten eigentlich Erkältungserscheinungen auf, die nur nicht so leicht zu kon­statieren sind wie die Fiebererscheinungen. Aber es treten auch abwech­selnd die einen und die anderen Erscheinungen auf, so daß man es in der Wirklichkeit immer mit einem Durcheinanderwirken desjenigen zu

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tun hat, was man eben auseinanderhalten muß, wenn man die Sache durchschauen will.

Wenn man in der Natur Gifte hat, sagen wir zum Beispiel das Gift, das in der Belladonna, in der Tollkirsche sitzt, dann entsteht ja die Frage:

Was sind gegenüber den gewöhnlichen Stoffen, die wir in unserer Um­gebung finden, und die ja nicht Gifte sind, weil wir sie essen können, was sind denn die eigentlichen Gifte?

Wenn wir unsere Nahrungsmittel essen, dann bekommen wir in den Organismus dasjenige hinein, was in der Natur draußen auf eine ähn­liche Weise gebildet wird wie unser unsichtbarer Mensch. Wir bekom­men dasjenige in uns hinein, was von einer geistigen Tätigkeit ausgeht (siehe farbige Zeichnung 5, gelb), in eine astralische Tätigkeit hineingeht (rot), dann in eine ätherische Tätigkeit (blau) und dann in eine phy­sische Tätigkeit hineingeht (weiß). Wenn eine solche Tätigkeit, die in der Natur von oben nach unten geht, die also gewissermaßen von dem Umkreis herein auf die Erde wirkt, eine Tätigkeit, die unserer inner­lichen Ich-Tätigkeit, die eine rein geistige ist, verwandt ist, wenn also das, was ich hier schematisch gelb gezeichnet habe, herunterfließt, aber sich auf dem Wege vom Astralischen umwandelt, weiterhin auf dem Wege vom Ätherischen umwandelt, dann ins Physische geht, dann nimmt die Pflanze in der Regel eine solche Tätigkeit auf. Die Pflanze wächst dieser Tätigkeit von unten nach oben entgegen und nimmt diese ätherische Tätigkeit auf, die aber schon von oben richtig die astralische und Ich-Tätigkeit, also die seelische und geistige Tätigkeit in sich hat.

Aber es kann auch so geschehen, wie es bei dem Gifte ist. Die Gift­stoffe haben die Eigentümlichkeit, daß sie sich nicht an das Ätherische wenden wie die gewöhnlichen grünen Stoffe in der Pflanze, sondern sich direkt an das Astralische wenden, daß also das Astralische, das ich hier rot gezeichnet habe, in diesen Stoff hineingeht (siehe farbige Zeich­nung 5, unteres Rot im Weiß). Bei der Tollkirsche ist es so, daß die Frucht außerordentlich gierig wird und durch ihre Gier nicht sich damit befriedigt, das Ätherische aufzunehmen, sondern daß die Frucht direkt das Astralische aufnimmt, bevor dieses Astralische die Lebens­kräfte durch das Ätherische beim Herunterströmen in sich aufgenom­men hat. Ich möchte sagen, es tropft immerfort, statt in das Ätherische

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hineinzugehen, auch Astralisches aus der Weltenumgebung auf die Erde nieder. Und solche Tropfen astralischen Wesens, die nicht in der richtigen Weise durch die Ätheratmosphäre der Erde hindurchgegangen sind, linden sich zum Beispiel in dem Gift der Tollkirsche. Auch in dem Gift, sagen wir des Stechapfeis, in dem Hyoszyarnin, dem Gifte des Bilsenkrautes und so weiter, haben wir gewissermaßen ein Niedertropfen des Kosmisch-Astralischen in die Pflanze hinein.

Dadurch aber ist dasjenige, was in diesen Pflanzenstoffen lebt, zum Beispiel was in der Belladonna, in der Tollkirsche lebt, verwandt jener Tätigkeit, die direkt vom Ich oder astralischen Leib hineingeht in die menschlichen Nerven und in den menschlichen Sauerstoffkreislau£ Wir bekommen also, wenn wir das Gift der Tollkirsche aufnehmen, eine wesentliche Verstärkung der Abbauprozesse in uns, derjenigen Prozesse, die sonst vom Ich direkt in den physischen Leib hineingehen. Das menschliche Ich ist nicht so stark, daß es eine solche Verstärkung ertragen kann. Wenn die entgegenwirkende, von unten nach oben in den Blutbahnen gehende Wirkung einmal zu groß ist, dann kann man ihr entgegenschicken solche Abbauprozesse, und es kann in einer kiei­nen Dosierung das Atropin, das Gift der Tollkirsche, ein Gegenmittel sein gegen die zu starken Wachstumsprozesse. Aber in dem Augen­blicke, wo zuviel von diesem Gift kommt, da kann nicht mehr die Rede davon sein, daß ein Gleichgewicht da ist: dann werden zunächst die Wachstumsprozesse zurückgedrängt, und der Mensch wird ganz be­nebelt von einer geistigen Tätigkeit, die er noch nicht mit seinem Ich ertragen kann, die er vielleicht erst in zukünftigen Zuständen, im Ve­nus- und Vulkanzustand, wird ertragen können. Dadurch treten die eigentümlichen Vergiftungserscheinungen auf. Zuerst wird unter­graben der Ausgangspunkt der im Blute wirkenden Tätigkeit. Es tre­ten dann jene gastrischen Erscheinungen auf, die, wenn Tollkirschen-gift genossen wird, den Anfang bilden. Dann werden die Kräfte stark abgehalten, in der richtigen Weise von unten nach oben zu wirken, und es tritt eben die völlige Bewußtlosigkeit, die Zerstörung des Menschen von den Abbauprozessen aus ein.

So können wir richtig verfolgen, wenn wir überall wissen, was vom Geistigen in irgendeiner Substanz, die wir aufnehmen, enthalten ist -

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und am besten ist das ja immer an den Pflanzen zu studieren -, wie eine solche Substanz im menschlichen Organismus wirkt. Es muß sich eben vereinen mit einer richtigen Erkenntnis der äußeren Natur. Wir müssen wissen, was in den einzelnen Pflanzen lebt und werden dann auch wis­sen, wie die einzelnen Pflanzen zum Beispiel in Diätverordnungen auf den Menschen wirken, und wir werden etwas damit erreichen, wenn man zu gleicher Zeit einen solchen sozialen Zustand herbeiführt, daß die Sachen auch wirklich vollzogen werden können. Heute ist man ja, wenn man irgend etwas auch weiß, zumeist in der Lage, daß es nicht beschafft werden kann, weil unsere sozialen Zustände gar nicht ange­paßt sind den Erkenntnissen der Natur. Die Erkenntnisse der Natur werden abgezogen, abstrakt getrieben. Da kommt man nicht dazu, das wirkliche Drinnenstehen des Menschen im ganzen Universum zu er­fassen. Man kommt nicht dazu, in größerem Umfange wirklich etwas so ausführen zu können, daß man sich zum Beispiel sagt: Da hat man einen Menschen, für den ist es notwendig, daß man ihm diese oder jene Pflanzenstoffe in diesem oder jenem Rhythmus beibringt. Ja, damit das in umfassender Weise geschehen kann, muß eben unsere wissenschaft­liche Medizin einen anderen Charakter annehmen. Man muß verbinden die äußeren Einrichtungen im ganzen sozialen Leben mit demjenigen, was man wissen kann über die Beziehungen des Menschen zur umge­benden Natur.

Gewiß, im einzelnen kann ja viel gemacht werden. Man kann Wur­zeln auskochen für einen Menschen, bei dem man weiß, daß die Abbau-prozesse, vom Kopfe ausgehend, zu stark sind. Man kocht bestimmte Wurzeln aus, von denen man weiß, daß da Stoffe drinnen sind, welche dadurch, daß man es eben mit einer Wurzei zu tun hat, in der richtigen Weise nach abwärts gezogen haben das Geistige, das Seelische, das Ätherische, bis in das Physische in der Wurzelbildung hinein. Dadurch bekommt man in den menschlichen Organismus von den Stoffen der Wurzelbildung aus etwas, was, wenn man es im Organismus zur Wirk­samkeit bringt bis in die äußerste Peripherie der Blutbahnen, bis in den Kopf, man dann aufrufen kann, dem zu starken Abbauprozeß des Ner­vensystems entgegenzuarbeiten. Aber man muß eine genaue Vorstel­lung haben, was für Veränderungen etwas durchmacht, was in der

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Pflanzenwurzel sitzt, wenn es aufgenommen wird, sagen wir, durch den Mund und dann verarbeitet wird, um bis in die äußerste Peripherie der Kopforganisation oder auch der Hautorganisation nach außen zu ge­hen. Man wird in einem anderen Falle wissen müssen, sagen wir, wie Stoffe wirken, die man der Blüte einer Pflanze entnimmt, die also schon etwas wackelig sind in ihrem Verhältnis zum Ätherischen, die schon sehr stark das Astralische in sich aufnehmen, die schon in einer gewissen Beziehung, wenn auch leise, an das Giftartige stoßen, wie man, wenn man diese Stoffe Bädern zumischt und dadurch sie auf dem ganz anderen Wege in den Organismus bringt, die zu schwache Aufbauorganisation, die in den Blutbahnen liegt, anregen kann, um dadurch von der anderen Seite dem entgegenzuwirken, was von der Abbauwirkung eben nach außen wirkt.

Ebenso ist es, wenn man innerlich verfolgen will die Wirksamkeit desjenigen, was man injiziert. Da hat man es auch im wesentlichen zu tun mit einer Verstärkung der Aufbauprozesse, damit ein richtiges Gleichgewicht gegenüber den Abbauprozessen zustande kommt. Man wird daher insbesondere bei Injektionen immer sehen, wie die Abbauprozesse reagieren müssen. Bei Injektionen hat man keine richtige Wir­kung, wenn man nicht sieht, wie die Abbauprozesse sich zuerst sträu­ben, und erst nach und nach in der richtigen Weise einlaufen in die Auf­bauprozesse. Injiziert man also irgend etwas, so wird man sehen, daß da kleine Sehstörungen oder auch Ohrensausen auftreten, weil da zunächst die Abbauprozesse sich weigern, in das richtige Gleichgewicht zu kommen mit den verstärkten Aufbauprozessen. Aber man hat auch eine Garantie dafür, daß ein Eingreifen in die Prozesse stattfindet, wenn solche Symptome der Reaktion wirklich auftreten.

Sie sehen daraus, daß es sich bei Anthroposophie wirklich nicht darum handelt, für sektiererische Tanten- oder Onkelversammlungen Schematas zu liefern, nach denen sie auseinandersetzen können: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich, sondern daß es sich hier handelt um ein ganz ernsthaftes Erfassen des Menschen und seines Verhältnisses zur Welt, um ein Hineintragen des Geistigen in alles Materielle. Und daß Anthroposophie das Geistige in dem Materiellen verfolgen kann, das ist etwas, was eingesehen werden

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muß, wenn Anthroposophie wirklich sich ihre Stellung in der Welt erobern will. Denn solange man bloß für die Tanten- und Onkelver­sarinnlungen in sektiererischen Zirkeln arbeitet, die da tradieren ihre Einteilungen des Menschen, so lange hat man es nur zu tun mit etwas, was in Streit kommt mit allen möglichen anderen sektiererischen Din­gen. In dem Augenblicke aber, wo man tatsächlich zeigt, wie dasjenige, was man begreift in der Anthroposophie, eingreift in alles übrige Wis­sen, wie es, nach dem Ausspruche, den ich gestern getan habe, alles übrige Erdenwissen beleuchtet, sowie früher die Astrologie alle Erdenvorgänge beleuchtet hat, dann hat man an der Anthroposophie eben etwas, was in den modernen Zivilisationsprozeß eingreifen muß, damit ein wirklicher Aufbau auch gegenüber den von älteren Zeiten her kom­menden Abbauprozessen in dem menschlichen Zivilisationsprozeß Platz greifen kann.

Solcher Ernst ist zu verbinden mit demjemgen,was man sein Bekennt­nis zur Anthroposophie nennen kann. Gewiß kann der einzelne ja nicht immer in derWeise mitwirken, daß er zum Beispiel selber darauf kommt, wie Belladonna auf der einen Seite, Chlor auf der anderen Seite auf den menschlichen Organismus wirkt. Aber darum handelt es sich nicht, daß der einzelne das findet, sondern darum, daß in weiteren Kreisen ein Ver­ständnis, ein allgemeines Gefühis- und Empfindungsverständnis da ist, wie das dem Menschen Heilsame gerade aus anthroposophischer Welt- und Menschenerkenntnis heraus gewonnen werden kann.

Man verlangt ja auch nicht in der Waldorfschul-Pädagogik, daß jeder einzelne Mensch erziehen oder wenigstens die Kinder vom volksschul­pffichtigen Alter an erziehen kann. Man verlangt aber, daß im allge­meinen ein Verständnis dafür vorhanden ist, wie da aus Menschen- und Welterkenntnis heraus eine Pädagogik aufgebaut ist. Was Anthroposo­phie braucht, ist ein ihr entgegenkommendes Verständnis. Es wäre ganz falsch, wenn man glauben würde, jeder einzelne sollte alles wissen. Aber es sollte die Wirksamkeit anthroposophlscher Gemeinschaft darin bestehen, daß sich ein allgemeines, auf den gesunden Menschenver­stand sich bauendes Verständnis findet für dasjenige, was im Sinne von Menschenheil und Menschenzukunft gerade durch die Anthroposo­phie angestrebt und zu verwirklichen versucht wird.

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Notizbucheintragung zum 11. Februar 1923

Zeichnung aus GA 221, S. 92 (a)
Zeichnung aus GA 221, S. 92 (a)

Der Äther wird ähnlich dem des
Nerven-Sinnes-Systems: A


Der Äther wird ähnlich dem des
Stoffwechsel-Systems: B


Eiter = von äußerer zentrifugaler Astr. durchzogenes Organisches (Ätherisches) - auf dem Wege nach Außen -

Geronnene Ausschwitzung = von innerer zentripetaler Astr. durchzo­genes (ätherisch) Organisches - auf dem Wege des Verschwindens aus der phys. Welt -

In der Heilung setzt der Organismus nur einen Prozeß fort, der schon da ist im täglichen Abwehren der in den Menschen eindringenden Außenprozesse, die giftend sind -

Zeichnung aus GA 221, S. 92 (b)
Zeichnung aus GA 221, S. 92 (b)


das untere System (ist es, das diesen Pro­zeß vollzieht), es sondert das Äußere aus, nachdem es dasselbe durchzogen hat mit zentrifugalen Kräften, wie sie imWachsen der Pflanze wirken - wie sie im Schlaft vorhanden sind -

Das Giftende aber ist das zentripetal wir­kende - des Nerven-Sinnessystems - das die Außenwelt nach Innen führt - es führt die Außenwelt nach Innen, nachdem sie sie erkaltet (zur bloßen Form gemacht) hat, so daß durch sie unmittelbar das Geistige nach Innen dringt -

Das verhinderte Einatmen, Ernähren, die zu starken Tagesprozesse; das zu starke Ausatmen, Verdauen, die zu starken Nachtprozesse.


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Der Körper hat den Geist nicht aufgenommen, zu starke Nachtprozesse = man fiebert -: es bilden sich innerlich Erweichungen - eiterig.

Der Körper nimmt den Geist zu stark auf, zu starke Tagprozesse = man friert -: es bilden sich innerlich Verhärtungen innerlich Exsudathaftes - Zerbröckelndes.

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DAS ERFASSEN EINES GEISTESWEGES Dornach, 16. Februar 1923 Erster Vortrag

In Fortsetzung dessen, was ich in den vorangehenden Betrachtungen über die Aufgaben anthroposophischer Weltanschauung in der Gegen­wart und für die Entwickelung der Menschheit gesagt habe, möchte ich heute unseren Betrachtungen noch einiges von einer anderen Seite her ergänzend einfügen: jene Gesichtspunkte, welche sich ergeben können, wenn man sieht, wie die Weltanschauungsentwickelung des 19. Jahr­hunderts gewissermaßen eine Art Führen ins Absurde gefunden hat in Friedrich Nietzsche, und wie dann gerade an der Erscheinung Nietzsches gezeigt werden kann, daß solch eine Anschauung über die Welt und den Menschen, wie sie in der Anthroposophie vorliegt, eine für die Menschheitsentwickelung geschichtliche Notwendigkeit ist. Ich möch­te nicht Dinge, die ich in bezug auf Nietzsche auch hier schon und anderweitig in der anthroposophischen Bewegung ausgesprochen habe, wiederholen, sondern ich möchte auf zwei Einschläge in Nietzsches Weltanschauung heute hinweisen, die ich noch weniger berührt habe.

Durch das ganze Leben Nietzsches hindurch zieht sich ja seine Ten­denz, zu einer Ansicht zu kommen über Wert und Wesen des Mora­lischen im Menschen. Nietzsche war im eigentlichen Sinne des Wortes Moralphilosoph. Über Ursprung der Moral, über Bedeutung der Moral für die Menschheit, über den Wert des Moralischen für die Weltord­nung wollte er mit sich ins klare kommen, und bei diesem Streben nach Klarheit sehen wir, wie eben zwei Einschläge durch sein ganzes Leben hindurchgehen, das ja mit Bezug auf vieles andere die mannigfaltigsten Wandlungen durchgemacht hat.

Das erste ist, daß er sein ganzes Leben hindurch - man kann sagen von demjenigen Lebenspunkte aus, den er schon in seinem zweiten Universitätsjahre durchgemacht hat, bis an sein Lebensende - eine im we­sentlichen atheistische Ansicht hatte. Das atheistische Moment, das ist

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dasjenige, was durch alle Wandlungen Nietzschescher Weltanschauung durchgegangen ist.

Und das zweite ist, daß er gegenüber dem, was ihm eigentümlicher­weise in den Moralimpulsen der Gegenwart entgegengetreten ist, was ihm auch entgegengetreten ist in den intellektuellen, in den praktischen Impulsen des Menschenlebens der Gegenwart, eine Tugend als die prin­zipiellste geltend gemacht hat, und diese Tugend ist die Redlichkeit gegen sich, gegen andere, gegen die ganze Weltordnung. Redlichkeit, Ehrlichkeit, das ist dasjenige, was er als das wichtigste betrachtet hat, was dem modernen Menschen nach dem Innern der Seele zu wie nach außen gegen die Welt hin vor allem notwendig ist.

Nietzsche hat ja einmal vier Kardinaltugenden aufgezählt, die er als die bedeutungsvollsten für das Menschenleben ansah. Unter diesen vier Kardinaltugenden ist diese Redlichkeit, diese Ehrlichkeit gegen sich und andere die erste. Diese vier Kardinaltugenden sindnämlich: Erstens die Redlichkeit gegen sich und seine Freunde; zweitens Tapferkeit gegen seine Feinde; die dritte Kardinaltugend ist Großmut gegen die­jenigen, die man besiegt hat, und die vierte Kardinaltugend ist Höflich­keit gegen alle Menschen.

Diese vier Kardinaltugenden, die Nietzsche als der gegenwärtigen Menschheit ganz besonders notwendig bezeichnet hat, tendieren aber alle hin nach jener, die er als die erste bezeichnet hat, und die er als eine Art von notwendiger Zeittugend angesehen hat, sie tendieren hin zur Redlichkeit, zur Ehrlichkeit. Und man kann sagen: Es ist einVerhältuis zwischen dieser Tugend der Redlichkeit und seinem Atheismus.

Nietzsche ist ja zunächst ganz und gar herausgewachsen aus seinem Zeitalter. Er ist dann in noch viel umfassenderem Sinne aus diesem Zeitalter herausgewachsen. Allein schon einer oberflächlichen Betrach­tung zeigt sich, wie er zunächst Wurzel gefaßt hat in der Schopenhauer­schen Weltanschauung, die ja auch eine atheistische ist, und wie er diese Schopenhauersche Weltanschauung zunächst in der ersten Periode sei­nes Lebens künstlerisch verwirklicht sah in Richard Wagners musika­lischer Dramatik.

Nietzsche ist also von Schopenhauer und Wagner ausgegangen. Er hat dann in sich aufgenommen dasjenige, was man den Positivismus der

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Zeit im wissenschaftlichen Leben nennen kann, also jene Weltanschau­ung, welche lediglich auf das unmittelbar Wahrnehmbare, auf das für die Sinne Wahrnehmbare die ganze Weltgestaltung aufgebaut denkt, welche also in dem sinnlich Wahrnehmbaren das einzige für die Welt­anschauung Maßgebliche sieht.

Und Nietzsche ist dann zu einer gewissen Selbständigkeit gekommen in der dritten Periode, indem er verarbeitet hat den modernen Ent­wickelungsgedanken, den er so ausgestaltet hat, daß er ihn angewendet hat auf den Menschen, indem er wie eine Art positivistisches Ideal sich vor die Seele stellte, daß der Mensch entwickelungsgemäß übergehen muß in den Übermenschen.

So ist Nietzsche ganz und gar herausgewachsen aus verschiedenen Gedankenströmungen, Kulturströmungen seiner Zeit. Aber wie ist er herausgewachsen? In der Beantwortung dieser bedeutungsvollen Frage liegt zu gleicher Zeit Wichtiges in bezug auf die Charakteristik des gan­zen Zeitalters, das das letzte Drittel des ,9. Jahrhunderts einnimmt. Man muß sich die Frage aufwerfen: Warum ist Nietzsche Atheist ge­worden? Er ist es eigentlich aus Redlichkeit, aus innerer Ehrlichkeit geworden. Er nahm dasjenige, was ihm an Erkenntnis das 19. Jahrhun­dert bieten konnte, was er mit heiligem Eifer aus diesem Erkennen des 19.Jahrhunderts aufnehmen konnte, eben mit voller Ehrlichkeit auf. Und er sagte sich ganz empfindungsgemäß: Nehme ich diese besondere Art des Erkennens des ,9. Jahrhunderts ehrlich auf, dann gibt mir das nirgends die Hinwendung zu einem Göttlichen, dann muß ich das Gött­liche aus meiner Gedankenwelt ausschalten.

Da liegt nämlich der erste große Zwiespalt zwischen Nietzsche und seinem Zeitalter, so daß er werden mußte ein Kämpfer gegen seine Zeit. Wenn Nietzsche um sich herumsah bei den Menschen, welche auch auf­genommen hatten die Erkenntnis des 19. Jahrhunderts, so sah er bei den weitaus meisten, daß sie daneben noch Gläubige einer göttlichen Weltenordnung waren. Das empfand er als eine Unredlichkeit. Unred­lich erschien es ihm, auf der einen Seite die Welt so anzusehen, wie die Erkenntnis des 19. Jahrhunderts sie ansah, und dann noch ein Gött­liches irgendwie anzunehmen. Er sprach ja, weil er noch in den ver­schiedenen Gedankenformeln des 19.Jahrhunderts sprach, nichteigentlich

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dasjenige aus, was er instinktiv fühlte gegenüber der Weltanschau­ung des 19. Jahrhunderts. Er fühlte, daß dieses 19.Jahrhundert die Welterscheinungen so betrachtet, wie man den menschlichen Organis­mus betrachtet, wenn man ihn als Leiche Ilat, wenn er verstorben ist. Wenn man sozusagen an diesen menschlichen Organismus im Tode glaubt, wenn man glaubt, daß dieser tote Organismus eine innerliche Wahrheit hat, dann könnte man eigentlich ehrlicherweise nicht daran glauben, daß dieser Organismus nur einen Sinn hat, wenn er von dem lebendigen und durchseelten und durchgeistigten Menschenwesen durchzogen ist. Wer einen Leichnam studiert, der müßte sich eigentlich sagen: Dasjenige, was ich anschauen, was ich studieren kann, hat keine Wahrheit. Es hat nur eine Wahrheit, wenn es durchsetzt ist von dem durchgeistigten Menschen. Es setzt den durchgeistigten Menschen voraus. Aber der ist nicht mehr da, wenn ich den Leichnam vor mir habe.

Das empfand Nietzsche, trotzdem er dies nicht so deutlich aussprach, ganz klar: Wenn man die Natur so betrachtet, wie die moderne Welt-erkenntnis sie betrachtet, so betrachtet man sie leichnamhaft. Man müßte sich eigentlich sagen: Dasjenige, was man da als Natur um sich interpretiert, das hat nicht mehr das Göttliche in sich. Wenn man es aber gelten läßt in seiner Absolutheit, wenn man von dieser Natur so spricht, daß man nur ihre Gesetze verfolgt, so muß man offenbar leug­nen, daß ihr ein Göttliches zugrunde liegt. Denn so, wie sie da vor einem steht, diese Natur, so liegt ihr ebensowenig ein Göttliches zu-grunde, wie dem menschlichen Leichnam ein Menschliches zugrunde liegt.

So etwa sind die Empfindungen gewesen, welche in Nietzsches Seele lebten. Aber es wirkte doch so stark die Weltanschauung des 19. Jahr­hunderts auf ihn, daß er sich sagte: Ja, etwas anderes als diese Natur haben wir ja nicht vor uns, und die neuere Zeit hat uns gelehrt, nichts anderes vor uns zu haben. Halten wir uns an diese Naturerkenntnis, dann müssen wir Gott ablehnen.

Und so lehnte Nietzsche als Schüler Schopenhauers jedes Göttliche ab, betrachtete es als eine Unehrlichkeit, die moderne Erkenntnis zu haben und dabei noch von einem Göttlichen zu sprechen. In dieser Beziehung

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war sein Seelenleben ein außerordentlich interessantes, weil es eben nach so intensiver Redlichkeit strebte. Er empfand es als eine Kulturlüge des 19. Jahrhunderts, daß man auf der einen Seite eine Na­turanschauung hatte, wie sie eben da war, und daß man auf der anderen Seite noch von einem Göttlichen sprach. Aber er nahm auch das Leben innerhalb dieser Naturordnung, an die man doch glaubte, ernst. Und er sah, daß sich eigentlich das Leben des modernen Menschen so ent­wickelt hat, daß es ihm ganz natürlich geworden war, eine solche Natur-ordnung anzunehmen. Die Natur hatte ja den modernen Menschen gar nicht dazu gezwungen, diese Ordnung anzunehmen, sondern das Leben war so geworden, daß es nur eine solche Naturanschauung ertrug. Die Naturanschauung kam eigentlich aus dem Leben. Und dieses Leben empfand Nietzsche eben durch und durch unredlich. Und er strebte nach Redlichkeit.

Er mußte sich sagen: Wenn wir in einer solchen Ordnung leben, wie es die moderne Menschheit als die wahre anerkennt, dann können wir nimmermehr uns innerhalb dieser Wahrheit als Menschen fühlen. - Das war eigentlich die Grundempfindung in der ersten Periode seines Le­bens: Wie kann ich mich als Mensch fühlen, wenn ich doch von dieser Naturordnung, wie man sie jetzt anschaut, umgeben bin? Das, was Wahrheit ist, läßt mich nicht zu meinem Bewußtsein als Mensch kom­men! - So fühlte und empfand wiederum Nietzsche, deshalb sagte er sich in dieser ersten Lebensperiode: Kann man also nicht in der Wahrheit leben, so muß man im Schein leben, in der Dichtung, in der Kunst.

Und als er seinen Blick auf das Griechentum wendete, glaubte er in den Griechen eben dasjenige Volk erkannt zu haben, das aus einer ge­wissen Nalvität heraus zu dieser Unzufriedenheit mit der Wahrheit ge­kommen wäre, und das sich deshalb getröstet hätte mit dem Scb ein, mit dem Schönen. Das drückte er ja aus in seiner ersten, so hymnisch schön geschriebenen Schrift «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik». Er wollte etwa sagen: Mensch, wenn du in dem Bereiche der Wahrheit bist, kannst du nimmermehr als Mensch dich empfinden. Also flieh aus dem Gebiete der Wahrheit in dasjenige Gebiet, wo du dir eine Welt dichtest, die nicht der Wahrheit entspricht. In dieser Welt der

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Dichtung wirst du getröstet sein über das, was dir die Wahrheit nimmer­mehr geben kann.

Die Griechen, so meinte er, hätten als die echten nalven Pessimisten gefühlt, daß man innerhalb der Welt der Wahrheit nicht befriedigt sein könne. Deshalb schufen sie vor allen Dingen ihre wunderbaren Tra­gödien, eine Welt des schönen Scbeins, um in dieser Welt dasjenige zu haben, was den Menschen befriedigen kann.

In Richard Wagners musikalischem Drama glaubte Nietzsche eine Wiedererneuerung dieses schönen Scheins zu sehen, mit dem ausdrück­lichen Ziele, hinwegzuführen über die sogenannte wirkliche Welt in die Welt des Scheines, um als Mensch zur Befriedigung zu kommen. Es gab also für Nietzsche gar nicht die Möglichkeit, sich zu sagen: Neh­men wir die Sinneswelt, vertiefen wir die Betrachtung über die Sinnes­weit, dringen wir von der äußeren Offenbarung zu dem innerlich Gött­lichen vor, so fühlen wir uns als Mensch mit diesem Göttlichen ver­bunden und kommen dazu, uns als Mensch in der Welt wirklich zu fühlen.

Diese Erwägung konnte es für Nietzsche nicht geben. Er sah keine Möglichkeit - weil er eben redlich sein wollte -, aus dem nur, was das 19.Jahrhundert war, zu einer solchen Erwägung zu kommen. Deshalb die andere: Diese ganze Wirklichkeit gibt uns keine Befriedigung, also befriedigen wir uns an einer unwirklichen Welt. Etwa so, wie wenn es irgendwo Wesen gäbe, die auf einen Planeten kämen, wo sie nur Leich­name fänden, und diesen Leichnamen gegenüber nicht Reste des Wirk­lichen, sondern wahre Wirklichkeit sehen müßten, weil sie die Seelen, die diese Leichname einmal durchschwebt haben, nicht schauen, und wie wenn diese Wesen, die also einen Planeten mit Leichnamen träfen, zu diesen Leichnamen, um sich über sie hinwegzutrösten, hinzudich­teten Wesen, welche diese Leichname beseelen. Das war Nietzsches erste Weltempfindung.

Und im Grunde genommen waren die auf die «Geburt der Tragödie» folgenden Schriften: «David Strauß, der Bekenner und der Schrift­steller», «Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben», «Schopenhauer als Erzieher», «Richard Wagner in Bayreuth», Aus­einandersetzungen seiner Redlichkeit mit der Unredlichkeit der Zeit.

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Diese Zeit sprach, trotzdem sie gar keinen Weg hatte aus der Sinnlich­keit in den Geist, sie sprach noch von Geist; diese Zeit sprach vom Göttlichen, trotzdem sie im Grunde genommen nirgends in ihre Er­kenntnis ein Göttliches aufnehmen konnte. Diese Zeit sprach etwa so:

Früher haben die Menschen sich dem Wahne eines Göttlichen hinge­geben, doch wir wissen aus der Naturbetrachtung, daß es ein Göttliches nicht gibt, aber wir haben ja dafür unsere Konzerte, in denen wir Musik machen. - Es ist ja ein Kapitel in David Friedrich Sttaußens «Der alte und der neue Glaube», das Nietzsche besonders geärgert hat, wo eben David Friedrich Strauß diesen Philisterstandpunkt geltend macht. Des­halb hat Nietzsche gegen einen verhältnismäßig ausgezeichneten Mann wie David Friedrich Strauß diese Schrift über Strauß als Philister und Schriftsteller verfaßt, um eben zu zeigen, wie man entweder unredlich ist, indem man noch ein Göttliches annimmt, das man nicht mehr an-nehmen dürfte, oder aber ins Banal-Philiströse verfallen muß, wie er es eben bei David Friedrich Strauß sah.

Nun aber kam die zweite Periode in Nietzsches Leben. Treu blieb er sich mit Bezug auf die Forderung der Redlichkeit, treu blieb er sich mit Bezug auf seinen Atheismus. Aber in der ersten Periode nahm er, wenn auch ästhetisch gefärbte, so dennoch Ideale an, Ideale, die eine Berech­tigung hätten, und mit denen sich die Menschen hinwegtrösten können über die Wirklichkeit der äußeren Sinne.

Nun aber, möchte ich sagen, haftet in der zweiten Periode seines Lebens sein Geist stärker an dem, was eben nach der Zeitmeinung die Welt einzig und allein den Menschen offenbart. Und so sagte er sich:

Wenn der Mensch auch noch so sehr Idealen sich hingibt, aber diese Jdeale sind ja doch aus seiner Physis heraus geboren! Die Menschen gaukeln sich viel Schönes vor, aber dieses Ideal-Schöne ist doch nur ein Allzumenschliches.

Und so kam für ihn die Zeit, in der er besonders die menschliche Schwäche, das Allzumenschliche sah, die Hingabe des Menschen an seine Physis. Und da er die Naturanschauung ernst nahm, so sagte er sich: Der Mensch kann ja gar nicht anders, als sich an seine Physis hin-zugeben! - Ein Ausspruch von Nietzsche ist einmal: Hoch die Physis, noch höher die Redlichkeit im Glauben an die Physis. Seien wir doch

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redlich - sagte er sich in der zweiten Periode seines Lebens -, seien wir uns klar: Wenn der Mensch einen noch so schönen idealistischen Ge­danken hat, so ist dieser doch eine Ausdünstung seiner physischen Na­tur. Gehen wir daher an das Menschenleben heran, schildern wir nicht den Rauch, den es oben macht, sondern schildern wir unten die Brenn­stoffe, aus denen dieser Rauch sich bildet: dann kommen wir nicht an das Idealistisch-Göttliche, dann kommen wir an das Menschlich-Allzu-menschliche.

Und so tötete in der zweiten Periode seines Lebens Nietzsche gerade­zu, weil er redlich sein wollte gegen sich und andere, alles Idealistische im Leben. So sagte er sich: Was die Leute gewöhnlich Seele nennen, ist eigentlich nur eine Lüge. Dem liegt zugrunde die Einrichtung des Lei­bes, und etwas, was aus dieser Einrichtung des Leibes kommt, offenbart sich eben so, daß man ihm den Namen Seele gibt.

Und Nietzsche sah in diesem Hinneigen einzelner moderner Men­schen, zum Beispiel zu Voltalre, die wahre Aufklärung, jene wahre Auf­klärung, die darin besteht, daß der Mensch nicht mehr sich auf irgend­eine Scheinwelt einläßt, um sich über die Wirklichkeit hinwegzuheben, sondern daß er geradezu die Wirklichkeit in ihrer physischen Natur be­trachtet und aus dem Physischen alles Moralische hervorgehen sieht.

Und wenn man dann auf die dritte Periode in Nietzsches Leben sieht, dann muß es einem eben auffallen, wie er, man möchte sagen, schon aus einer hochpathologischen Natur heraus diese Redlichkeit bis zurnrEx~ zeß trieb, wie er sagte: Nimmt man ernst und redlich, das, was man über die Natur und die Naturgesetze im modernen Sinne wissen kann, dann muß man sagen: Alles, was da als Geist in des Menschen Wesenheit leben soll, das ist eben die Ausdünstung seines physischen Wesens. Da­her kann derjenige Mensch nur der Vollkommene sein, der das phy­sische Wesen im Vergleiche zu anderem als das Vollkommenste zeigt; das heißt, der, welcher eine solche physische Natur hat, daß in ihm die stärksten Instinkte leben.

Das instinktive Leben gegenüber allem seelisch-geistigen Leben sah Nietzsche zuletzt als dasjenige an, was in der Entwickelung den Men­schen über sich selbst hinausführt, indem die Instinkte immer stär­ker und stärker werden, Instinkte bleiben, aber immer mehr und mehr

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über das Tier hinauswachsen: da geht der Mensch in den Übermenschen über.

Was war es denn eigentlich, was Nietzsche in dieser Weise vorwärts-getrieben hat, daß er zunächst das Idealische im Scheine als für den Menschen notwendig anerkannte, daß er dann dieses Idealische, wie er sich ausdrückte, aufs Eis führt, weil er sah, wie es aus dem Physischen entspringt, und daß er dann den Menschen zum Übermenschen leiten wollte aus einer höheren Entwickelung seiner Physis, seines instink­tiven Lebens? Es war die Unmöglichkeit, wenn man innerhalb der Welt­anschauung des 19. Jahrhunderts stand, das Physische im Sinne dieser Weltanschauung zu fassen, und dann noch aus ihm herauszukommen, wenn man redlich bleiben wollte. Man mußte eben drinnenbleiben.

Und Nietzsche entwickelte, wenn man so sagen darf, eine eiserne Redlichkeit, sich nun mit allem, was er hatte, ins Physische hineinzu-stellen. So daß in der Tat eigentlich sein Zukunftsideal, wenn man da noch von Ideal sprechen darf für die menschliche Zivilisation darinnen bestanden haben müßte, daß der Mensch sich aufgeklärt hätte über die große Illusion, einen Geist zu haben. Daß man diese Untergründe bei Nietzsche, der aber selbst so ehrlich als möglich sich herausgearbeitet hat, gewöhnlich nicht sieht, davon ist nur das der Grund, daß er mitso viel Geist den Geist in Abrede gestellt hat, daß er in einer so glänzenden, brillanten, geistreichen Weise die geistige Armut der Menschheit ver­herrlicht hat.

Es wird eben unmöglich, Moralphilosoph zu sein, wie es Nietzsche durch seine ganze Anlage geworden war innerhalb der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts, wenn man diese redlich nehmen will. Denn wenn man nicht mehr in der Lage ist, davon zu sprechen, daß es des Menschen Aufgabe auf der Erde ist, ein Geistig-Überirdisches in diese Erdenwelt hereinzutragen, wenn man sich genötigt glaubt, innerhalb der bloßen Erdenwelt stehenzubleiben, dann will man, wenn man Moral errichten will, sie ohne Berechtigung errichten. Die Moral wird vogeifrei, wenn man die Weltanschauung des 19. Jahrhunderts in voller Redlichkeit hinnimmt. Und das hat Nietzsche wirklich tief innerlich erlebt, daß die Moral vogelfrei wurde. Moralphilosoph wollte er sein. Allein, woher die Moralimpulse nehmen? Das war für ihn die große Frage. Findet

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man im Menschen die Leuchtkraft eines Übersinnlichen, dann tritt die Moral auf als Forderung dieses Übersinnlichen an das Sinnliche, dann ist die Moral möglich. Findet man im Menschen kein Übersinnliches, wie das bei der Weltanschauung des 19. Jahrhunderts der Fall war, dann gibt es nirgends eine Quelle, aus der man die Moralimpulse holen könnte. Will man gut und böse unterscheiden, dann braucht man das Übersinnliche. Aber das Übersinnliche mußte für Nietzsche, der die Weltanschauung des 19.Jahrhunderts redlich nahm, abgewiesen wer­den. Und so tastete er sich im Menschenleben herum, um nun doch etwas wie den Ursprung der Moralimpulse zu finden.

So sah er auf die Kulturentwickelung der Menschheit hin, fand, wie starke Rassemenschen als Eroberer gegenüber schwächeren Menschen auftraten, wie diese stärkeren Rassemenschen den schwächeren die Richtung ihres Handelns aufdrängten, wie sie aus ihrer instinktiven Natur heraus von jenen, denen gegenüber sie als Eroberer aufgetreten waren, forderten: So und so sollt ihr tun! - An irgendwelchen katego­rischen Imperativ, an Moralgebote konnte Nietzsche ja nicht glauben. Er konnte nur glauben an die instinktiven Rassemenschen, die sich sel­ber als die guten ansahen, die anderen als die schlechten, das heißt als die minderwertigen Menschen, denen sie die Richtung des Handelns aufdrängten.

Und dann kam es einmal dazu, daß diejenigen, welche die Minder­wertigen waren nach der Ansicht der Eroberer, sich gewissermaßen zusammentaten und nun ihrerseits, jetzt nicht mit den brutaleren älteren Mitteln, aber mit den feineren Mitteln des Seelisch-Geistigen, mit List und Schlauheit, sich zu Eroberern über die anderen machten. Und die­jenigen, die sich erst als die Mehrwertigen, als die Guten bezeichneten, nannten sie die Schlechten, weil sie Eroberer waren, Machtmenschen, Kraftmenschen, militaristische Menschen waren; sie nannten sie die Bö­sen. Und sich selber, die früher die Minderwertigen, die Schlechten genannt worden waren, nannten sie die Guten. Arm sein, beschränkt sein, bedrückt sein, schwach sein, überwunden werden und dennoch sich halten in der Schwachheit, im Überwundenwerden, das ist das Gute. Und Eroberer sein, den anderen überwinden, das ist das Böse.

So entstand Gut und Böse aus Gut und Schlecht. Aber Gut und

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Schlecht hatten noch nicht den späteren moralischen Beigeschmack, sondern bloß den Beigeschmack von Erobernden, Machtmäßigen, Adeismenschen gegenüber dem Heer der Skiavenmenschen, welche die Minderwertigen, die Schlechten waren. Und was da später zwischen Guten und Bösen unterschieden wurde, das kam nur von dem Sklaven­aufstand der vorher Schlechten, Minderwertigen, die jetzt die anderen Verbrecher und Böse nannten, aus Rache für dasjenige, was ihnen wider­fahren war. So erschien Nietzsche diein die Begriffe «gut>) und «bös» ge­kleidete spätere Moral als die Rache, welche die Unterdrückten an den Unterdrückern genommen haben. Aber eine innere Begründung des Moralischen fand er nirgends. Er konnte sich nur jenseits von Gut und Böse stellen, nicht in das Gute und Böse hinein. Denn um eine innere Begründung von Gut und Böse zu finden, hätte er ja zum Übersinn­lichen greifen müssen. Das aber war ihm ein Wahn, war ihm bloß der Ausdruck der schwachen Menschennatur, die sich nicht gestehen wollte, daß in der Physis ihre wahre Wesenheit erschöpft ist.

Wenn man Nietzsche charakterisieren will, möchte man eben sagen:

Eigentlich hätten alle denkenden Menschen seiner Zeit so sprechen müssen wie er, wenn sie so redlich gewesen wären wie er. Und er machte sich das zum Ziel, ganz redlich zu sein. Deshalb wurde er ein Kämpfer gegen seine Zeit, und deshalb seine scharfen geistigen Waffen, deshalb sein Bestreben nach einer Umwertung aller Werte. Die Werte, unter denen er lebte, sah er ja von der Unredlichkeit gemacht. Jahrhunderte hatten schon daran gearbeitet, die modernen naturwissenschaftlichen Begriffe heraufzubringen, und sie auch in alle Historie eingeführt. Aber dieselben Jahrhunderte hatten noch dasjenige, was damit nicht mehr vereinbar war, in den menschlichen Seelen gelassen: die göttlichen und moralischen Vorstellungen. Da waren Werte herausgekommen, die nun umzuwerten sind.

Es ist eine ungeheure Tragik, dieses Nietzsche-Leben. Und ich glaube nicht, daß jemand wirklich das Wesen der menschlichen Zivilisation im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts und wie sie noch nachgewirkt hat im 20. Jahrhundert, in der richtigen Weise erfaßt, der nicht einmal hin-eingesehen hat in eine solche Tragik, wie sie sich in einer diese Zivilisa­tion miterlebenden Seele, wie in Nietzsche, abgespielt hat. Es ist wirklich

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so, daß wir allen Zusammenbruch, den wir jetzt erleben, als eine Folge anzusehen haben dessen, was Nietzsche die Unredlichkeit der neueren Zivilisation nennt. Man möchte sagen, daß Nietzsche deshalb ein Kämpfer gegen seine Zeit wurde, weil er sich empfindungsgemäß sagen mußte: Wenn diese Unredlichkeit fortdauert, dann kann nur der zerstörerische Kampf einschlagen in die Völker, welche dieser moder­nen Zivilisation angehören. Und diese Tragik im Nietzsche-Leben, sie ergab sich eben daraus, daß Nietzsche die Grundlagen der Moral finden wollte, aber mit der Bildung seiner Zeit sie nicht finden konnte. Es er­gab sich ihm nirgends eine Quelle, aus der er die moralischen Impulse schöpfen konnte. Und so tastete er sich durch und verwundete sich überall bei dem Durchtasten die Finger. Und aus dem Schmerze heraus schilderte er seine Zeit, so wie er sie eben geschildert hat.

Was suchte er? Er suchte etwas, was sich überhaupt nur im Über­sinnlichen finden läßt, was sich im Bereiche des Sinnlichen nicht finden läßt. Das suchte er. Denn, denken Sie sich noch so schöne, große, hehre Moralprinzipien aus: eine Maschine können Sie damit nicht heizen, ein Rad können Sie damit nicht drehen, den elektrischen Apparat können Sie damit nicht in Bewegung setzen. Aber wenn man in seinem Er­kennen nur dasjenige anwendet, was die Maschine in Bewegung setzt, den elektrischen Apparat in Bewegung setzt, das Rad dreht, wenn man nur das in seine Erkenntnis einführt, dann kann man niemals verstehen, wie das, was im Menschen als moralischer Impuls lebt, nun in den eige­nen menschlichen Organismus hineingreifen soll. Man kann sich die hehrsten Ideale ausdenken: Rauch und Nebel können sie nur sein, denn es gibt ja keine Möglichkeit, daß sie irgendwo eingreifen in einen Mus­kel, in irgendeine Geschicklichkeit oder dergleichen. Es gibt nirgends etwas in der Sinneswelt, wo man sieht, daß moralische Ideale in das Organische eingreifen. Denke dir die schönsten moralischen Ideale aus

- konnte sich Nietzsche nur sagen -, wenn du sie in deinem Kopfe hegst, so bist du deinem eigenen Organismus gegenüber wie der Maschine gegenüber. Der Maschine gegenüber kannst du Plakate machen, darauf-schreiben « Moralische Ideale»: sie wird nicht damit geheizt, sie dreht sich nicht. Aber sollst du dich drehen, wenn du so bist, wie es dir die Natur­wissenschaft sagt, sollst du dich darnach drehen, wie deine moralischen

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Ideale sind? Du kannst sie ausdenken, sie mögen sehr schön sein, aber eingreifen in das Weltengetriebe können sie nirgends! Daher sind sie genüber der Wirklichkeit eine Lüge. Nicht derjenige Mensch, der sich Idealen hingibt, ist der wirksame, sondern derjenige, der seine Ma­schine heizt, so daß die Instinkte mächtig werden: «die blonde Bestie», wie es Nietzsche paradigmatisch ausdrückt.

Und so stand Nietzsche mit seinen Problemen vor dem Menschen, der ihm nur moralisch hätte sein können, wenn die moralischen Impulse in ihm einen Angriffspunkt gefunden hätten. Den fanden sie nicht. Da­her kein Gutes und Böses, sondern «Jenseits von Gut und Böse».

Aber nun bedenken Sie: Diese ganze moderne Welterkenntnis, wir haben sie immer dadurch charakterisieren müssen, daß wir sagten, sie komme an den Menschen nicht heran, sie kann keine Anschauung, keine Vorstellung vom Menschen gewinnen. Man hat also den Men­schen nicht, wenn man im Sinne der modernen Weltanschauung erlebt in seiner Seele. Dennoch tendierte in Nietzsche alles nach dem Men­schen hin. Nach etwas, was er nicht haben konnte, tendierte alles hin! Und nun wollte er noch ganz im Sinne des modernen Entwickelungs-gedankens den Menschen in den Übermenschen überführen, nur hatte er den Menschen nicht. Wie sollte denn an dem, was man gar nicht hatte, gezeigt werden, wie es in den Übermenschen übergeht! Der Mensch war ja nicht da für die Anschauung, für die Empfindung, für das Ge­fühl, für die Willensimpulse. Nun erst der Übermensch! Es war ja so, als ob man nur aus alter Gewohnheit zu sprechen, diese Worte geformt hätte: Mensch und Übermensch - und nun erstickte, weil diese Worte keinen Inhalt haben, so wie wenn man in einem luftleeren Raum er­stickt.

Nietzsche stand vor der Notwendigkeit, in die übersinnliche Welt einzutreten mit den moralischen Problemen, und konnte nicht eintre­ten. Das war seine innere Tragik. Und damit ist er zugleich die reprä­sentative Seele vom Ende des 19. Jahrhunderts, jene repräsentative Seele, welche auf die Notwendigkeit hinweist: Wenn ihr redlich bleiben wollt als Menschen, müßt ihr, um die Ideale der Moral nicht zur Lüge zu erklären, in die übersinnliche Welt eintreten.

Nietzsche wird wahnsinnig, weil er unmittelbar vor der Notwendigkeit

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steht, in die übersinnliche Welt einzutreten, und nicht eintreten kann. Viele andere Menschen werden nicht wahnsinnig; aber ich will die Gründe nicht auseinandersetzen, warum sie es nicht werden, denn man muß ja selbst bei der Schilderung von Zivilisationseigentümlich­keiten gewisse Grenzen der Höflichkeit einhalten. Aber aus Nietzsches Leben geht eines hervor: Ehrlich, redlich kann der moderne Mensch gegen sich und andere nur sein, wenn er in die übersinnliche Welt ein­tritt. Das heißt mit anderen Worten: Ehrlichkeit und Redlichkeit gibt es in einer nichtübersinnlichen Weltanschauung nicht. Auch den Weg vom Menschen zum Übermenschen findet man nicht, wenn man nicht den anderen gehen kann vom Sinnlichen ins Übersinnliche. Und gehört die Moral in einem gewissen Sinne dem Übermenschen an, dann for­dert sie, daß dieser Übermenseh nicht im Sinnlichen, sondern im Über­sinnlichen gesucht werde, sonst ist es ein bloßes Wort, das Wort «Über-mensch», das hinausgerufen wird, dem aber nichts entgegentönt aus der Welt.

Morgen will ich das Thema von der anderen Seite betrachten, von der Seite, wie nun weiter ausgeführt werden muß dasjenige, was Nietz­sche angetroffen hat, damit die Moralwerte in der richtigen Weise im Menschenleben verstanden werden und in Einklang gebracht werden können mit der Erkenntnis unserer Zeit.

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DAS ERFASSEN EINES GEISTESWEGES Dornach, 17. Februar 1923 Zweiter Vertrag

Ich versuchte gestern an dem Beispiel Nietzsches, der Moralphilosoph sein wollte, auseinanderzusetzen, wie der Mensch, der ganz in der äu­ßeren heutigen Zivilisation lebt, und dennoch so wie eben Nietzsche Moralimpulse aus der vollen menschlichen Natur heraus suchen will, daran scheitern muß, daß aus der gegenwärtigen Erkenntnisart nicht gefunden werden kann, wie moralische Impulse in das physische Le­ben eingreifen. Wir haben ja heute eine Zivilisation, die auf der einen Seite naturwissenschaftliche Gesetze gelten läßt, welche auch unsere Erziehung schon so gestalten, daß wir von Kindheit auf Anschauun­gen über Zusammenhänge in der Natur aufnehmen. Wir haben an­dererseits eine moralische Weltanschauung, die für sich dasteht. Wir fassen die moralischen Impulse als Gebote oder als im Zusammenhange des sozialen Menschenlebens sich ergebende konventionelle Ver­haltungsmaßregeln auf. Aber wir können das sittliche Leben auf der einen Seite und das physische Leben auf der anderen Seite nicht in einem innigen Zusammenhange denken. Und ich machte ja gestern darauf aufmerksam, wie Nietzsche aus dem heraus, was er zu seiner obersten Tugend machte, aus der Redlichkeit, aus der Ehrlichkeit gegen sich und andere, zuletzt doch dazu kam, am Menschen nur das Physische gelten zu lassen, und aus dem Physischen, das er als ein Menschliches-Allzumenschliches empfand, dann auch das Moralische hervorgehen zu lassen. Weil er ehrlich sein wollte gegenüber der Welt­anschauung seiner Zeit, scheiterte er mit seiner Moralphilosophie dar­an, daß er nicht dazukommen konnte, zu sehen, wie Moralisches und Physisches in eins zusammenwirken.

Dieses Zusammenwirken kann man auch nicht sehen, wenn man nicht eintritt in jenes Gebiet, das man im richtigen Sinne das Über­sinnliche nennt. Man muß sich darüber klar sein, daß nur im Men­schenleben selber gewissermaßen der Kontakt hergestellt wird zwischen

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dem, was mal als moralische Antriebe empfindet, zwischen den moralischen Idealen meinetwilien, und der physischen Wirksamkeit, den physischen Vorgängen im Menschenwesen selber. Und die große Frage ist heute diese: Wenn ich einen moralischen Impuls habe -bleibt er etwas ganz Abstraktes, oder kann er eingreifen in die physi­sche Organisation?

Ich sagte Ihnen gestern: Wenn wir vor einer Maschine stehen, dann können wir sicher sein, in das Getriebe der Maschine greift ein mo­ralischer Impuls nicht ein. Zwischen dem, was moralische Weltord­nung ist und dem Mechanismus der Maschine, ist zunächst keine Verbindung. Wird nun, wie es immer mehr der Fall ist in der moder­nen naturwissenschaftlichen Weltanschauung, der menschliche Orga­nismus auch maschinenartig dargestellt, dann gilt das ja auch für den Menschen, dann bleiben die moralischen Impulse Illusionen. Der Mensch kann höchstens hoffen, daß irgendein Wesen, das ihm durch eine Offenbarung gegeben wird, in die moralische Weltordnung ein­greift, die Guten belohnt und die Bösen bestraft; aber er kann nicht irgendwie aus der Weltordnung selbst heraus einen Zusammenhang zwischen den moralischen Impulsen und den physischen Vorgängen erschauen.

Nun möchte ich heute auf dasjenige Gebiet hinweisen, wo dieser Zusammenhang, zwischen dem, was der Mensch in sich als Morali­sches erlebt und dem Physischen, wirklich auftritt. Um die Ausfüh­rungen, die ich zu machen haben werde, besser zu verstehen, nehmen wir zunächst das Tier.

Im Tier haben wir ein Zusammenwirken von dem physischen Or­ganismus, einem ätherischen Blldekräfteorganismus und dem astra­lischen Organismus. Das eigentliche Ich ist ja nicht in der tierischen Organisation selber unmittelbar verkörpert, sondern greift von außen als ein Gruppen4ch in die tierische Organisation ein. Nun müssen wir beim Tier uns klar darüber sein, daß in seiner Organisation zwei Richtungen deutlich zu unterscheiden sind. Wir sehen den tierischen Kopf. Auch bei den höheren Tieren ist, wie beim Menschen, der Kopf der vorzüglichste Träger des Nerven-Sinnesorganismus. Wir sehen, wie alles das, was das Tier von der äußeren Sinneswelt aufnimmt,

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durch die Organe seines Hauptes im wesentlichen in das Tier ein­dringt.

Gewiß, das gilt durchaus, was ich immer wieder betont habe, daß wir nicht auf einen physischen Teil eines Organismus die Gliederung des Organismus unmittelbar beziehen dürfen. Wir müssen sagen: Das Tier ist in einer gewissen Beziehung ganz Kopf, denn es kann überall längs seines Körpers wahrnehmen. Aber vorzugsweise ist das Tier eben Ner­ven-Sinnesorganismus am Kopfe. Da bewirkt es sein Verhältnis zu der äußeren Welt. Wenn wir dann das Tier in seiner Gesamtorganisation so betrachten, daß wir es in bezug auf seinen übrigen Organismus an­sehen, wie es gewissermaßen den anderen Pol der Kopforganisation gegen das Schwanzende zu hat, so haben wir, wenn wir die Glie­derung des Tieres in seiner physischen, ätherischen und astralischen Organisation betrachten, die Sache so, daß gewissermaßen von rück-wärts nach vorne die astralische Beweglichkeit des Tieres fließt. Fort­während gehen die astralischen Ströme, die Strömungen seines astra­lischen Organismus, von rückwärts nach vorne, und sie begegnen sich mit den Eindrücken, welche die Sinne am Kopfe erfahren. So daß wir ein Ineinanderströmen von rückwärts nach vorne und von vorne nach rückwärts im Tiere haben. Ich möchte schematisch dieses Ineinander-strömen so zeichnen, daß von rückwärts nach vorne die astralischen

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Strömungen beim Tiere gehen (rötliche Pfeile), daß ihnen entgegen-strömen die Sinneseindrücke vom Haupt nach rückwärts (gelbliche Pfeile). Zwischen diesen beiden Strömungen ist beim Tiere ein über den ganzen Organismus ausgebreitetes Zusammenwirken.

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Sie können am Hunde dieses Zusammenwirken deutlich sehen. Der Hund sieht seinen Herrn und wedelt. Wenn der Hund seinen Herrn sieht und wedelt, so bedeutet das, daß er den Eindruck von seinem Herrn hat, und daß diesem Eindruck, der von vorn nach rückwärts geht, also der Impression von außen das Astralische von innen ent­gegenströmt. Und dieses Entgegenströmen des ganzen Organismus von rückwärts nach vorne drückt sich im Wedeln des Hundes aus. Da ist ein völliges Zusammenstimmen. Und derjenige, der fragen wollte nach der Hundephysiognomie beim Ausdruck der Freude, der müßte eigentlich nicht so sehr das Gesicht des Hundes, wenn er seinen Herrn ins Auge faßt, anschauen, sondern er müßte das wedelnde Entgegen­kommen des Schwanzes ins Auge fassen: da ist Physiognomie darinnen.

Das ist im Grunde genommen bei jedem Tiere so. Nur, sagen wir, wenn wir zu den Fischen heruntergehen, wird das nicht so bemerkt, weil da der astralische Leib eine große Selbständigkeit hat. Aber dem schauenden Bewußtsein ist es um so anschaulicher. Dem schauenden Bewußtsein wird ganz klar, daß, wenn der Fisch irgendwie durch sei­nen Nerven-Sinnesapparat etwas wahrnimmt, was ihm in der Strö­mung entgegenkommt, er selbst von rückwärts nach vorne seine ei­gene astralische Strömung dem entgegensendet, und dann ist ein wun­derbares Ineinanderglitzern dessen, was der Fisch sieht, und dessen, was er entgegenbringt. Dieses innige Ineinandergreifen des astrali­schen Stromes von außen - denn es ist ein astralischer Strom von außen, den ein Wesen empfängt mit den Sinneseindrücken - und des astralischen Stromes von rückwärts nach vorne, das ist beim Menschen unterbrochen dadurch, daß der Mensch ein aufrechtes Wesen ist.

Dadurch, daß der Mensch ein aufrechtes Wesen ist, ist er nicht in der Lage, in derselben Weise wie etwa der Hund den astralischen Strom so unmittelbar den Sinneseindrücken entgegenzusenden. Der Hund hat ein horizontales Rückgrat. Die Bewegung des Astralischen von rückwärts nach vorne führt unmittelbar durch seinen Kopf durch. Beim Menschen ist der Kopf herausgehoben. Dadurch ist das ganze Verhältnis derjenigen astralischen Strömungen, die von rückwärts nach vorne strömen, die das eigentliche innere Wesen ausmachen, das Zusammenstimmen dieser Strömungen mit denjenigen Strömungen,

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die durch die Sinneseindrücke kommen, nicht so einfach, wie es beim Tiere ist. Und gerade, was die moralische Wesenheit des Menschen betrifft, so muß man das, was ich jetzt eben vorausgesetzt habe, genau studieren, um das Eingreifen des Moralischen in das Physische beim Menschen zu begreifen. Beim Tiere reden wir nicht von Moralität, weil eben beim Tiere dieses Strömen des Astralischen von rückwärts nach vorne und von vorne nach rückwärts durch nichts unterbrochen ist. Beim Menschen tritt das Folgende ein.

Es hebt ja der Mensch sein Haupt geradezu heraus aus der astrali­schen Strömung, die von ihm kommt, und die von rückwärts nach vorne geht. Dieses Herausheben des Hauptes bedeutet eben die Ver­körperung des eigentlichen Ich. Daß das Blut gewissermaßen nicht bloß den horizontalen Weg macht, sondern daß das Blut hinaufströ­men muß als Träger der inneten Ich-Kräfte, das macht, daß der Mensch dieses Ich als sein Ich, als sein individuelles Ich erlebt Das macht aber auch, daß beim Menschen zunächst das Haupt, also der hauptsächlich­ste Träger der Sinneseindrücke, rein hingegeben ist der Außenwelt. Der Mensch ist eigentlich viel mehr so organisiert, daß er seinen Tast­sinn in einer loseren Verbindung hat mit dem Gesichtssinn zum Bei­spiel als das Tier. Beim Tier ist ein inniger Kontakt des Tastsinnes und des Gesichts sinnes. Wenn das Tier etwas sieht, so hat es unmittel­bar das Gefühl, daß es auch das, was es sieht, tastet. Die Tastorgane fühlen sich erregt auch durch das Sehen. Diese Erregung der Tast­Organe, die kommt dann zusammen, namentlich mit dem Strom, der von rückwärts nach vorne geht. Beim Menschen ist das Haupt heraus­gehoben und rein hingegeben der äußeren Welt. Das drückt sich ins­besondere beim Gesichtssinn aus. Der Gesichtssinn des Menschen ist, man möchte sagen, eine Art ätherischer Sinn. Wir lernen ja nur all­mählich durch das Urteil abschätzen, was in der physischen Welt zum Beispiel Distanzen sind oder dergleichen. Wir sehen vorzugsweise als Menschen dasjenige, was im Farbigen und in den Abtönungen des Farbigen sich ausdrückt.

Bedenken Sie nur, daß der Mensch erst in derjenigen Zeit, in wel­cher der Intellektualismus geboren worden ist, auch zu der Perspektive im Malen übergegangen ist. Bei den älteren Malern finden Sie ja keine

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Raumperspektive, weil erst in dieser Zeit, auf dem Umwege durch das Urteil, durch den Intellektualismus, die Augen sich gewöhnt haben, dasjenige Wirkliche zu sehen, was sich in der Perspektive, also in Di­stanzierungen ausdrückt.

Für das Auge ist vorzugsweise Farbiges, Helidunkel, Abstufüng des Helldunkels da. Das aber - indem es über die Gegenstände ausge­breitet ist - stammt ja eigentlich aus dem Weltenraum. Die Sonne sen­det das Licht, und indem das Licht, das aus dem Weltenraume kommt, auf die Dinge der Erde fällt und zurückgeworfen wird, schaut das Auge eigentlich die Dinge nicht mit Hilfe der irdischen Kräfte, son­dern mit Hilfe der kosmischen, der Weltenkrafte.

Das ist aber überhaupt symptomatisch für das menschliche Haupt. Es ist mehr hingegeben dem Ätherischen der Welt als dem Physischen. Der Mensch findet sich in die physische Welt eigentlich dadurch hinein, daß er in ihr herumgeht, daß er sie betastet. Aber er findet sich in die physische Welt weniger hinein durch das, was die Sinne seines Hauptes sind.

Denken Sie nur einmal, wie gespenstig die Welt wäre, wie ätherisch­gespenstig, wenn wir nicht durch den Tastsinn die Räumlichkeiten er­faßten, sondern wenn wir nur dasjenige von der Räumlichkeit erfaß­ten, was uns das Auge überliefert! Die tierische Organisation in be­zug auf das Haupt ist eben durchaus anders als die menschliche Or­ganisation. Die tierische Organisation hängt mit der physischen Wirk­lichkeit durch das Haupt viel mehr zusammen als die menschliche Or­ganisation. Wenn der Mensch die Wahmehmungen seines Hauptes nimrnt, so hat er darin etwas Idealisches, weil Ätherisches. Er lebt ei­gentlich ganz in der Ätherwelt durch sein Haupt.

Nun ist ja auch das Haupt äußerlich - und das ist nicht etwas bloß Oberflächliches, was ich da erwähne -, sondern es ist auch das Haupt äußerlich beim Menschen nachgebildet dem Kosmos. Nehmen Sie die einzelnen tierischen Kopfgestaltungen. Sie sind unmittelbar ein Aus-druck der eigenen tierischen Körperlichkeit. Sie können jenes kos­misch Gerundete der Hauptesbildung beim Menschen nicht bei den Tieren finden. Der Mensch ist tatsächlich in seinem Haupte ein Ab­bild des Kosmisch-Sphärischen, und er ringt sich auf zu dieser Abbildlichkeit

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des Kosmisch-Sphärischen dadurch, daß er eben zu sei­ner Körperlinie nicht die Horizontale hat wie beim Tier, sondern die Vertikale; daß er sich heraushebt aus der Horizontalen in die Vertikale.

Das drückt sich aber insbesondere aus, wenn man die ganze Or­ganisation des Menschen ins Auge faßt. Die physische Organisation des menschlichen Hauptes ist an eine ätherische Organisation gebun­den, die wirklich ganz die Reinheit des Kosmos in sich spiegelt. Die Organisation des menschlichen Hauptes im ätherischen Leibe ist durch das ganze Erdenleben des Menschen hindurch etwas, was wenig be­rührt wird von dem Irdischen, was gerade in seinem Ätherischen und noch mehr in seinem Astralischen durchaus kosmisch bleibt. Es ist ja auch so, daß, wenn der Mensch von einem Erdenleben zu dem nächsten übergeht, die Organisation, die außerhalb seines Hauptes liegt, also das, was unterhalb seines Kopfes ist - der Kopf verliert sich ja als Kraftsystem nach dem Tode -, sich umwandelt, natürlich nicht die physische Materie, sondern der Kraftzusammenhang, sich meta­morphosiert und zum Haupt in der nächsten Inkarnation, im näch­sten Erdenleben wird. Es muß also die menschliche Organisation, um Hauptesorganisation zu werden, erst durch den Kosmos hindurchge­hen. Auf Erden kann die menschliche Hauptesorganisation sich gar nicht ausbilden. Durch sein Haupt ist der Mensch durchaus hingege­ben an das Kosmische, nur durch seine übrige Organisation ist der Mensch an das Irdische gebunden. Daher können wir sagen: Beim Tiere geht die ganze Konfiguration des Kopfes aus seiner übrigen Or­ganisation hervor, beim Menschen hebt sich der Kopf mit einer ge­wissen Selbständigkeit aus der übrigen Organisation heraus. Diese übrige Organisation aber drängt sich in das Haupt des Menschen hin-ein in alledem, was im Menschen Geste und Mienenspiel des Gesich­tes wird. Wenn Sie nämlich eine innere Erregung haben, sagen wir ein Angstgefühl, da drückt sich dasjenige, was innerhalb des Stoff­wechselgebietes, im Blutzirkulationssystem liegt, durch die Kräfte des menschlichen Organismus im Blaßwerden des Gesichtes und im Mie­nenspiel aus. Und ähnlich ist es bei anderen inneren Erregungen. Wir sehen beim Menschen das, was in dem übrigen Organismus ist, sich geistig-seelisch, das heißt aber astralisch, in das Haupt hinein ergießen,

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und bis in die Färbung der Haut, aber namentlich bis in das Mienen­spiel hinein, drückt sich physiognomisch, könnte man sagen, beweg­lich-physiognomisch im Haupte aus, was astralisch in dem übrigen Organismus lebt.

Marl hat ein sehr interessantes Studium, wenn man zum Beispiel sieht, wie der Mensch das, was er spricht - das kommt ja aus seinem Ich -, mit einem gewissen Mienenspiel begleitet, wie sich in seinem Gesichte ausdrückt, was in seinem astralischen Leibe lebt. Sieht man einem Men­schen, der spricht, ins Antlitz, dann empfängt man mit den Worten, die er ausspricht, sein Ich, und mit dem Mienenspiel die begleitenden Vor­gänge in seinem astralischen Organismus. Aber mit diesem astralischen Organismus des Hauptes, der das Mienenspiel ins Leben ruft, ist nun auch verbunden der ätherische Organismus des Hauptes, und dieser ätherische Organismus des Hauptes ist ein wunderbares Abbild des Kosmos. Es ist etwas sehr Merkwürdiges, wenn man durch übersinn­liches Schauen einen sprechenden Menschen beobachtet. Da sieht man, wie in seinem Mienenspiel der astralische Organismus sich überall an-kündigt, wie aber der ätherische Organismus des Hauptes wenig er­griffen wird von diesem Mienenspiel. Der ätherische Organismus des Hauptes sträubt sich, in sich, in seine Gestaltungen, das Mienenspiel auf­zunehmen. Es ist sehr interessant, zu sehen, daß gewisse hyrnnische Gesänge zum Beispiel, in denen der Mensch vom Gefühl der Heiligkeit durchzogen ist in seinem astralischen Leibe, leicht in den ätherischen Leib des Hauptes hinein aufgenommen werden, und zwar zeigt der ätherische Leib gegen das Antlitz zu, bei jedem Mienenspiel ein Licht-spiel; aber in den weiter rückwärts gelegenen Partien zeigt der ätheri­sche Leib einen scharfen Widerstand gegen das Aufnehmen irgendwel­cher Vorgänge aus dem Mienenspiel.

Aus diesem ersehen Sie, daß das menschliche Haupt zwar in einer gewissen Beziehung zu dem übrigen Organismus steht, daß aber diese Beziehung gewissen Gesetzen unterliegt, weil der ätherische Leib nachgebildet ist dem Kosmos, und in dieser Konfiguration des Kos­mos bleiben möchte, sich nicht beirren lassen möchte, namentlich nicht durch das, was aus den Leidenschaften, aus den Trieben, aus den In­stinkten der menschlichen Natur kommt.

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Nun gibt es etwas anderes höchst Bedeutsames. Im Antlitze sehen wir ein gewisses Mienenspiel, das sich nach außen beim Menschen offenbart. Dieses Mienenspiel ist vom Temperament, vom Charakter des Menschen, von verschiedenen seelisch-physischen Eigenrümlich­keiten abhängig. Aber es gibt ein anderes Mienenspiel im Menschen, sogar ein viel lebendigeres Mienenspiel, nur liegt dieses Mienenspiel nicht in seinem Bewußtsein, sondern es liegt im Unterbewußten. Es ist außersinnlicher Natur. Es liegt in einem Gebiet, wohin der Mensch mit seinem sinnlichen Beobachten nicht kommt. Wenn Sie nämlich den astralischen Leib des Menschen betrachten, nicht wie er dem Haupte angehört, sondern wie er namentlich dem Stoffwechsel-Glied­maßenorganismus angehört, wenn Sie also den astralischen Leib des Menschen betrachten, wie er die Beine umschließt und durchdringt, wie er den Unterleib umschließt und durchdringt, dann bekommen Sie in diesem Teil des astralischen Organismus für übersinnliches Schauen auch ein Mienenspiel zu sehen, ein sehr lebendiges Mienen­spiel, eine Physiognomie, die sich da ausdrückt. Und das Merkwür­dige ist, daß dieses Mienenspiel, diese Physiognomie, von außen nach innen sich offenbart. Während also das Mienenspiel, welches das menschliche Sprechen oder sonst den menschiichen Anteil an der Um­gebung äußert, sich nach außen offenbart, offenbart sich ein Mienen­spiel, das der Mensch nicht in seinem gewöhnlichen Bewußtsein hat, nach innen. Das ist eine seht interessante Tatsache.

Ich möchte Ihnen das schematisch vor Augen führen. Nehmen Sie an, Sie haben hier den Menschen. Dann haben wir hier den astralischen Leib (rot), welcher der Veranlasser des Mienenspieles ist, der sich nach außen offenbart. Wir haben denselben astralischen Leib, aber einen anderen Teil davon hier (gelb), und während wir hier (oben) in diesem astralischen Leib das Mienenspiel sich nach außen offenbarend haben, haben wir hier (unten) ein Mienenspiel, das sich ganz nach innen offen­bart: dieser Teil des astralischen Leibes wendet gewissermaßen ein Antlitz nach innen. Der Mensch weiß im gewöhnlichen Bewußtsein nichts davon, aber es ist so. Wenn wir das Kind betrachten, so finden wir, wie es fortwährend dieses Mienenspiel von diesem Teil des astra­lischen Leibes nach innen wendet, und wenn wir den mehr erwachsenen

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Menschen betrachten, so werden die Mienen sogar mehr oder weniger bleibend. Der Mensch bekommt da eine Physiognomie nach innen. Und was ist dieses Mienenspiel? Ja, diesem Mienenspiel llegt folgendes zugrunde.

Wenn der Mensch als Impuls hat, was man im gewöhnlichen Leben, aber mit Recht, eine gute Handiung, eine moralische Handlung nennt, dann ist ein anderes Mienenspiel nach innen vorhanden, als wenn man eine böse Handiung als Impuls in sich hat. Es ist gewissermaßen ein häßlicher Ausdruck, ein häßlicher Gesichtsausdruck, wenn ich so sa­gen darf, nach innen, wenn der Mensch eine egoistische Tat vollbringt. Denn es reduzieren sich im Grunde alie moralischen Taten auf das Unegoistische, alle unmoralischen Taten auf das Egoistische. Nur daß im gewöhnlichen Leben diese wirkliche moralische Beurteilung da­durch maskiert ist, daß jemand eigentlich sehr unmoralisch, nämlich durch und durch von egoistischen Motiven durchzogen sein kann, aber konventionell gewissen Moraltegeln folgt. Das sind dann gar nicht seIne eigenen. Da ist er eingefädelt in dasjenige, was ihm anerzogen ist,

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oder was er deshalb tut, weil er sich geniert vor dem, was die anderen sagen. Er ist eingefädelt als ein Glied in eine Kette. Aber das wirklich Moralische, das an der menschlichen Individualität eigentlich haftet, in ihr lebt, ist schon so beschaffen, daß das Gute von jenem Interesse kommt, das wir an dem anderen Menschen haben; von jenem Interesse, das wir dadurch gewinnen können, daß wir das, was andere fühien und empfinden, als unser Eigenes fühien und empfinden können, während das Unmoralische im Ursprünglichen etwas ist, wo der Mensch sich verschließt, wo er nicht mitempfindet, was andere Menschen empfin­den. Gut denken heißt im Grunde genommen, sich in andere Menschen hineinversetzen können, böse denken heißt, sich in andere Menschen nicht hineinversetzen können. Das kann dann zu Gesetzen werden, zu konventionellen Regeln, zu Dingen, über die man sich geniert oder nicht geniert. Dann kann das, was eigentlich ein Egoistisches ist, sehr zurückgedrängt werden unter der Konvention. Aber es ist im Grunde genommen für die moralische Bewertung doch nicht dasjenige maß­gebend, was der Mensch tut, sondern man muß tiefer in den mensch­lichen Charakter, in die menschliche Natur hineinschauen, um den eigentlichen moralischen Wert des Menschen beurteilen zu können.

Der moralische Wert drückt sich im astralischen Leibe dadurch aus, daß dieser Teil des astralischen Leibes ein schönes Antlitz nach innen wendet, wenn unegoistische Handiungen, altruistische Impulse im Menschen leben, und einen häßlichen Gesichtsausdruck nach innen wendet, wenn eben egoistische, wenn böse Impulse im Menschen le­ben. So daß ein Geist, der in dem Menschen drinnen liest, genau eben­so nach dieser Physiognomie beurteilen kann, ob ein Mensch gut oder böse ist, wie man den Menschen nach anderen Eigenschaften an seinem Mienenspiel beurteilen kann. Das alles steht nicht im gewöhnlichen Bewußtsein, aber es ist unweigerlich da. Es gibt keine Möglichkeit, daß die Unehrlichkeit nicht tief in diesen Menschen hineingeht. Man könnte sich einen abgefeimten Schurken denken, der sein ganzes Ge­sichtsmienenspiel, das, was nach außen geht, in seiner Gewalt hätte, der das unschuldigste Gesicht von der Welt hätte, indem er die schur­kischesten Impulse entfaltet; aber in dem, was da in seinem astrali­schen Leibe ist und ihm nach innen eine Physiognomie, eine Mimik

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gibt, da kann er nicht unredlich sein, da macht er sich in dem Momente zum Teufel, wo er eben seine unmoralischen Motive hat. Nach außen kann er unschuldig wie ein Kind schauen, nach innen hinein, in sich selber sieht er aus wie ein Teufel; und der reine Egoist schaut sein Herz mit teuflischem Grinsen an. Das ist einfach ebenso Gesetz, wie die Naturgesetze Gesetze sind.

Aber nun kommt dasjenige, was das Ausschiaggebende ist. Wenn hier eine häßliche Physiognomie sich entwickelt (unten), dann stößt der an den Kosmos gewöhnte Kopf diese Physiognomie zurück, nimmt sie nicht auf, und der Mensch bildet in seinem Ätherischen solch einen Leib aus, wie er beim Ahriman gemacht worden ist, wo das Haupt verkümmert ist, verinstinktiviert ist. Es geht alles in die unteren Glieder des ätherischen Leibes hinein. Das Haupt nimmt das nicht auf, und der Mensch macht sich ahrimanisch in seinem unteren ätherischen Leibe, und durchzieht dann auch sein Haupt mit dem, was dieser ahrimanische Leib noch in das Haupt hineinstößt. Das ist nämlich das Merkwürdige, daß der Mensch in seinem Haupt, schon in dem Wärmeäther des Hauptes, die Physiognomie des Unmorali­schen abstößt, sie nicht hinaufläßt. So daß also der unmoralische Mensch einen ätherisch-ahrimanischen Organismus in sich trägt und sein Haupt unbeeinflußt bleibt von dem, was in ihm ist. Es bleibt zwar ein Abbild des Kosmos, aber es gehört ihm eigentlich immer we­niger und weniger an, weil er es nicht mit seiner eigenen Wesenheit durchdringen kann.

Ein unmoralischer Mensch kommt dadurch wenig über sein Leben in der vorigen Inkarnation hinaus. Was sein Haupt geworden ist in der Umbildung aus dem übrigen Leib der vorigen Inkarnation, das bleibt das Haupt auch, und stirbt er, so ist er in bezug auf sein Haupt gar nicht sehr weit gekommen. Dagegen das, was die moralische Phantasie nach innen bewirkt, das strömt beim Menschen bis zum Haupte herauf. Es bewirkt die vertikale Richtung. In der vertikalen Richtung strömt nämlich eigentlich kein Unmoralisches. Dieses schoppt sich zusammen und ahrimanisiert den Menschen. In der ver­tikalen Richtung strömt nur das Moralische. Und zwar ist das so, daß schon in dem Äther, in dem Wärmeäther des Blutes in vertikaler Richtung

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die Physiognomie des Unmoralischen zurückgestoßen wird. Das Haupt nimmt das nicht auf. Das Moralische aber geht mit der Blut-wärme schon im Wärmeäther in das Haupt hinauf, noch mehr im Lichtäther, und namentlich im chemischen und Lebensäther. Der Mensch durchdringt mit seinem eigenen Wesen sein Haupt.

Es ist wirklich ein Hineinwirken des Moralischen in das Physische, indem man sagen kann: die ätherische Hauptesorganisation des Men­schen hat wohi Mfinität zum Moralischen im Menschen, nicht aber zum Unmoralischen. Und niemand sieht ein, wie die moralischen Im­pulse ins Physische hineinwirken auf dem Umwege durch das Äthe­rische, der bei der bloßen physisch-sinnlichen Beobachtung der Welt stehen bleibt. Man muß den Gesamtmenschen nach ätherischer und astralischer Organisation nehmen, dann hat man das Gebiet, wo man sieht, wie das Moralische eingreift in die ganze Organisation des Menschen.

Nun können Sie sich denken, wie das anders aussieht, wenn der Mensch stirbt. Hat sein Haupt die Kräfte seiner übrigen Organisation zurückgestoßen, dann ist ja in dem Ätherleib, den er nach einigen Ta­gen abwirft, in seinem Haupte nichts von ihm eigentlich drinnen. Da macht er keinen besonderen Eindruck auf die Welt. Da arbeitet er nicht mit an der Fortentwickelung der Erde, weil er keine Kräfte hin­einschickt in dasjenige, was in die Zukunft hineinreicht. Hat der Mensch moralische Impulse in sich entwickelt, die sein Haupt aufge­nommen hat, dann verläßt ihn sein Ätherleib als ein Mensch. Der Un­moralische wird von seinem Ätherleib verlassen, indem der Ätherleib wirklich richtig ahrimanisch aussieht. Man bekommt einen guten Ein­druck von der ahrimanischen Form, auch sogar ohne daß man sich bemüht, Ahriman selbst zu begegnen, wenn man den Ätherleib der unmoralischen Menschen in den Kosmos übergehen sieht. Der ist ahrimanisiert in seiner Form. Dagegen vermenschlicht, menschlich gerundet und abgeklärt ist der Ätherleib, der sich zwei, drei Tage nach dem Tode loslöst von dem astralischen Leib und dem Ich bei einem Menschen mit moralischen Impulsen.

Ein solcher Mensch verarbeitet dasjenige, was er als Mensch auf der Erde erlebt, auch in seinem Haupte, nicht bloß in seinem übrigen Organismus,

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und er übergibt es durch die Ähnlichkeit des Hauptes dem Kosmos. Das Haupt ist ja dem Kosmos ähnlich, der übrige Organis­mus ist nicht sehr ähnlich dem Kosmos; der wird nach einiger Zeit, nachdem er übergeben ist dem Kosmos, man möchte sagen, wie eine Wolke zerstreut und fällt auf die Erde mehr oder weniger nieder, oder wird wenigstens in Strömungen hineingetrieben, die um die Erde herumkreisen. Was der Mensch aber von seinem Moralischen in sein Haupt hineingeprägt hat, das wird in die Weiten des Kosmos ausge­gossen, dadurch arbeitet der Mensch an einer Neugestaltung des Kos­mos mit. Und so können wir sagen: An der Art und Weise, wie der Mensch moralisch oder unmoralisch ist, arbeitet er mit an der Zukunft der Erde. Der unmoralische Mensch übergibt den Kraften, welche die Erde umgeben - und die sind wichtig für alies Wirken, denn aus dem Ätherischen entsteht später das Physische der Erde -, dasjenige, was ätherisch auf die Erde niederrieselt und sich wiederum mit der Erde verbindet, oder was in dem Umkreise der Erde lebt. Der moralische Mensch dagegen, indem er in sein Haupt aufgenommen hat die Kräfte, die sich gerade durch die moralischen Impulse entwickeln, übergibt dem ganzen Kosmos das, was er auf der Erde erarbeitet hat.

Auf der Erde kann man, wenn man an ihr haften bleibt, nicht sehen, wie die moralischen Impulse eigentlich wirken; da bleiben sie Ab­straktionen. Nehmen Sie bei irgendeinem Moralphilosophen, sagen wir zum Beispiel Herbart, die moralischen Impulse. Er führt fünf mo­talische Impulse an: die innere Freiheit, das Wohlwollen, die Voll­kommenheit, die Billigkeit und die Rechtlichkeit. Wenn also ein Mensch nach diesen fünf Tugendarten sich richtet, ist er ein morali­scher Mensch. Aber Herbart kann eigentlich nicht angeben, was das mehr ist als etwas Abstraktes: er ist halt ein moralischer Mensch. Aber was das für die Welt bedeutet, das gibt solch ein Philosoph nicht an. Seine Tugenden - nun ja, man kann ja auch die Tugenden anders be­nennen, je nachdem man gewisse menschliche Impulse so oder so zu­sammenfaßt.

Ich habe Ihnen gestern die vier Kardinaltugenden Nietzsches ange­führt, der wiederum etwas anders gruppiert. Er unterscheidet, wie ich gesagt habe, Redlichkeit gegen sich und seine Freunde, Tapferkeit

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gegen seine Feinde, Großmut gegen die Besiegten und Höflichkeit gegen alle Menschen. Und andere Moralphilosophen haben wieder­um andere Tugenden angeführt. Aber alle diese Tugenden bleiben Abstraktionen, wenn man vom Menschen nur das Physische weiß. Dann steht man mit diesen Tugenden als Impulsen vor den Menschen, wie man mit einem Befehl vor der Maschine steht: Sie können einer Maschine noch so gut zureden, es fällt ihr gar nicht ein, etwas von Ihren Impulsen anzunehmen. Ebenso kann die Menschennatur, von der die heutige Weltanschauung spricht, nichts annehmen von den moralischen Impulsen. Man muß, um die Wirklichkeit, die Wirksam­keit des Moralischen einzusehen, eben das Gebiet des Übersinnlichen betreten.

Ein Übersinnliches ist die nach innen gewendete Mimik, die nach innen gewendete Gebärde, die, je nachdem sie moralisch oder unmo­ralisch ist, vom Haupte aufgenommen oder zurückgestoßen wird und dadurch in die Welt übergeht, oder auf der Erde zerschellt, zerberstet, zersplittert wird.

So hängt selbst ein Moralphilosoph von jener inneren Kraft wie Nietzsche vollständig in der Luft mit seinen Moralprinzipien und kann nur auf die Art zu einer Festigung kommen, wie ich es Ihnen ge­stern erzähit habe. Aber das ist keine wirkliche Festigung. Er mußte trotz allem «Jenseits von Gut und Böse» zuletzt auf die menschliche Physis zurückgehen. Daran scheiterte er. So muß man, wenn man die Wirksamkeit des Moralischen ins Auge fassen will, über die bloße physische Weltordnung hinausgehen, muß das Gebiet des Übersinn­lichen betreten, muß sich klar sein darüber, daß das Moralische zwar abstrakt hereinscheint in das Physische, daß aber seine Wirksamkeit nur im Übersinnlichen geschaut und beurteilt werden kann.

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DAS ERFASSEN EINES GEISTESWEGES Dornach, 18. Februar 1923 Dritter Vortrag

Es wurde öfter betont, daß der gegenwärtige historische Zeitpunkt der Menschheitsentwickelung der ist, in dem das intellektuelle Leben ton­angebend geworden ist. Für diesen gegenwärtigen Zeitpunkt war vor­bereitend die Zeit, die wir im Zusammenhange charakterisiert haben als den vierten nachatlantischen Zeitraum, als die griechisch-römische Zeit. Und Sie wissen ja: nach gewissen inneren Seeleneigentümlich­keiten der Menschen, die sich in diesen Zeitepochen entwickelt haben, rechnen wir den griechisch-römischen Zeitraum vom 8. vorchrist­lichen Jahrhundert bis zum 15. nachchristlichen Jahrhundert. Und seit jener Zeit nehmen wir denjenigen Zeitraum an, in dem wir mit der Seelenentwickelung der abendländischen Menschheit voll drinnenste­hen, der uns also als der gegenwärtige historische Zeitmoment zu gelten hat.

Nun war das ganze Verhältnis des Menschen zu der intellektuallsti­schen Welt vor dem i 5. Jahrhundert ein ganz anderes als später. Und wenn auch schon seit dem 4. nachchristlichen Jahrhundert die Fär­bung in der Menschenseelenstimmung zum intellektuellen Leben, die in Griechenland vorhanden war, in der Abendröte sich befand, so kommt doch überall auch noch in diesem zweiten Zeitraum des vierten nachatlantischen Zeitalters etwas von jener griechisch-römischen See­lenstimmung zum Ausdrucke, die allerdings nur voll erfaßt werden kann, wenn man sich gemütvoll fühiend hineinversetzt in das beson­ders charakteristische des griechischen Menschen, wie er namentlich in jener Zeit war, die von der Geschichte ziemlich äußerlich geschildert wird im Ausgange des griechischen Lebens, in der Zeit etwa von So­krates und Plato bis zum Ausgang des Griechentums.

Man kann aus allem, was hindurchleuchtet durch die äußerliche, man möchte sagen, oberflächliche geschichtliche Darstellung, auch ohne geisteswissenschaftliche Vertiefung erkennen, daß der Grieche,

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wenn er das erreichte, was wir heute eine intellektuelle Anschauung von der Welt nennen, darin seine Freude, zum mindesten seine Befrie­digung hatte, daß er glaubte, wenn er durch die verschiedenen damali­gen Bildungsstufen hindurchgegangen war und imstande war, durch die Kraft des Intellektes sich ein Weltbild zu machen, mit dem Besitz dieses Weltbildes eine Erhöhung seines Menschtums erreicht zu haben. Er glaubte in einem besseren Sinne Mensch zu sein, wenn er die Welt intellektuell erfassen konnte, als wenn er nicht dazu imstande war. Die innere Freude und Befriedigung am intellektuellen Leben, die war in diesem vierten nachatlantischen Zeitraum vollständig vorhanden.

Und man kann das auch noch bei späteren Persönlichkeiten sehen. Man kann zum Beispiel bei dem Ihnen oft erwähnten Johannes Scotus Erigena aus dem 9. nachchristlichen Jahrhundert sehen an der Art und Weise, wie er seine Ideen faßt, wie er seine Ideen darstellt, daß er glaubt, in dieser Ideenerfassung etwas zu haben, worüber im Menschen eine innerliche Begeisterung aufleben kann. So war es ja, wenn auch dann eine etwas kältere Diskussion eingegriffen hat, durchaus noch der Fall bei denjenigen, die oftmals in Einsamkeit gegenüber der übrigen Welt in der Scholastik versuchten, auf intellektualistische Weise ein Weltbild zu erhalten. Und erst in den letzten Jahrhunderten ist es so geworden, daß eigentlich der Mensch glaubt, seine innere Seelenwärme zu verlieren, wenn er zum Intellektuellen aufsteigt. Wenn wir gar nicht weit zurückgehen, wenn wir zum Beispiel zurückgehen bis zu einer solchen intellektualistischen Weltauffassung, wie sie zum Beispiel bei Schiller vorliegt, ja selbst in der außerordentlich exakten Morphologie, wie sie Goethe ausgebildet hat, können wir noch sehen, wie solche Per­sönlichkeiten in auffälliger Weise zu einer ideell intellektualistischen Ausmalung des Weltbildes kamen, wie sie glaubten, erst da wahrhaft Mensch zu werden, wo sie innerliche Wärme in die Ideen hineintragen können. So blaß und kalt, wie die Ideenwelt heute oftmals empfunden wird, so wurde sie eben vor gar nicht langer Zeit noch nicht empfun­den. Und das hängt allerdings zusammen mit einem bedeutsamen Ent­wickelungsgesetz der Menschheit. Es hängt damit zusammen, daß der Mensch zu der Ideenwelt, die intellektualistisch ausgebildet wird, sel­ber ein ganz anderes Verhältnis bekommen hat, als er es früher hatte.

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Die Ideenwelt ging in einer früheren Zeit auf das Lebendige. Das Weltall wurde als ein Lebendiges angesehen. Man braucht nur eine wirkliche Einsicht in ältere Begriffsgebilde zu bekommen, so weiß man, daß das Tote eigentlich etwas war, was aus dem Lebendigen, das aus­gebreitet gedacht wurde über die ganze Welt, herausfallend gedacht wurde, sowie wir etwa die Asche aus dem Verbrennenden herausfallend finden. Es war eine ganz andere Empfindung gegenüber dem Weltall beim Menschen vorhanden. Er sah das Weltenall als einen großen lebendigen Organismus an, und das Tote, also zum Beispiel die ganze Summe des mineralischen Reiches, sah er an wie die Asche, die heraus-gefallen ist aus dem Weltenprozesse, und die tot geworden ist, weil sie Abfall ist des Lebendigen.

Diese Empfindung gegenüber der Welt ist nun allerdings in den letz­ten Jahrhunderten wesentlich anders geworden. Wissenschaftliches Erkennen zum Beispiel wird voll geachtet, oder wurde wenigstens im­mer voll geachtet, insofern es sich über das, was tot ist, verbreiten kann. Und immer mehr und mehr kam die Sehnsucht herauf, das Lebendige selbst nur als eine etwa chemische Verbindung aus Totem anzusehen. Die Idee einer Überzeugung aus Totem, die kam herauf.

Ich habe es schon öfter erwähnt: Wenn manim Mittelalter trachtete, in der Retorte den Homunkulus darzustellen, so war dieser Gedanke der Darstellung eines Wesens aus Ingredienzien nicht als Urzeugung gedacht in dem Sinne, wie etwa die spätere Naturforschung von der Urzeugung gesprochen hat, sondern es war wie ein Herauszaubern eines bestimmten Lebendigen aus dem unbestiminten lebendigen All gedacht. Man dachte noch nicht das Weltenall als Mechanismus, als Totes. Deshalb glaubte man an die Möglichkeit, aus dem allgemeinen Lebendigen ein spezielles Lebendiges herausholen zu können. Aber an eine Zusammenfügung des Unlebendigen zum Lebendigen dachte ei­gentlich das mittelalterliche Gemüt noch nicht. Diese Dinge sind heute außerhalb der Geisteswissenschaft außerordentlich schwer zu durch­schauen, weil der Mensch heute gewohnt ist, seine Begriffe so zu fas­sen, als ob sie eigentlich, nachdem die Menschheit Kindheitsstufen durchgemacht hat, nun so geworden wären, daß sie heute eben absolut richtig seien.

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So sehr man über den heutigen Fortschritt spricht, es ist doch der Fall, daß der Mensch noch nieso starr war in seinen Begriffsbildungen, wie in diesem Zeitalter. Und es ist zuletzt im Grunde genommen ein subjektives Element, das den Menschen namentlich im Erkennen diese Starrheit gibt. Wenn der Mensch seine Begriffe, seine Ideen auf das Tote richtet, so ist das Tote ein rein Passives. Er, der Mensch, ist in der Lage, seine Begriffe hübsch bequem formen zu können, denn das Tote rührt sich nicht, und er kann seine physikalischen Begriffe ausbilden, ohne daß er, wenn er nun mit diesen Begriffen an die Natur geht, da­durch gestört wird, daß die Natur selbst in lebendiger Beweglichkeit ihn auffordert, in seinen Begriffen ebenso beweglich zu sein.

Goethe hat noch dieses Gefühl gehabt, daß man innerlich lebendige, nicht mit scharfen Konturen ausgestattete Begriffe haben müsse, die, wenn man sich an den Umkreis der Dinge begibt, um die einzelnen Dinge durch die Ideen zu erfassen, sich dem lebendigen beweglichen Sein und dem lebendigen beweglichen Wesen anpassen.

Der Mensch liebt heute, wenn man sich etwas paradox ausdrücken darf, in seinen Begriffen das Bequeme. Es ist so, daß dieses Ilinneigen zum starren Begriff, zu dem Begriff, der in scharfen Konturen gefaßt werden kann, nur auf das Tote anwendbar ist, das sich nicht rührt und daher den Begriff starr sein läßt. Aber es ist doch so, daß dieses Leben in den starren Begriffen, die sich eigentlich um nichts äußerlich Leben­diges mehr kümmern, dennoch dem Menschen die Möglichkeit gege­ben hat, innerlich das Bewußtsein der Freiheit zu erringen, wie ich das ja öfter ausgeführt habe.

Zweierlei ist es eben, was heraufgekommen ist dadurch, daß der Mensch in seinen Begriffen völlig tot geworden ist. Auf der einen Seite das Bewußtsein der Freiheit, auf der anderen Seite die Möglichkeit, nun die starren Begriffe, die vom Toten genommen werden und nur auf das Tote anwendbar sind, in der großartigen triumphalen Technik anzuwenden, die ja darauf angewiesen ist, eine Verwirklichung des starren Ideensystems zu sein.

Das ist die eine Seite der Entwickelung, welche die neuere Mensch­heit durchgemacht hat. Man muß ebenso verstehen, wie der Mensch aus dem Lebendigen gewissermaßen sich herausgeschnürt hat, wie

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ihm das Lebendige fremd geworden ist, wie man auch einsehen muß:

Wenn der Mensch dem Toten gegenübetzustehen hat, so hat er, wenn er nicht in dem Toten verbleiben will, sondern in sein Gemüt den Im­puls des Lebendigen aufnehmen will, aus seiner eigenen Kraft dieses Lebendige zu finden.

Wir können in alte Zeiten zurückgehen, da finden wir, daß dem Men­schen jede Wolkenformung, der Blitz, der aus der Wolke zuckte, der Donner, der da rollte, die Pflanze, die wuchs und so weiter, daß die alle dem Menschen das Lebendige herbeitrugen, daß der Mensch gewisser-maßen erkennend das Lebendige atmete und sich daher unwillkürlich im Lebendigen befand. Er brauchte das Lebendige nur von außen aufzu­nehmen. In der heutigen Zeit ist der Mensch, weil ihm das Äußere eben nach seiner Entwickelungs stufe, nach welcher seine Begriffe nur das Tote erfassen können, dieses Lebendige nicht mehr gibt, genötigt, dieses Le­bendige aus dem innersten Wesen seines Lebens selber hervorzuholen, sich selber lebendig zu machen. Man kann eben nicht bloß theoretisch mit dem Verstande Geschichte erfassen. Da erscheint die Geschichte zu einförmig. Man muß sich mit der ganzen Seele hineinversetzen in die Art und Weise, wie die Menschen in verschiedenen Zeitepochen Ge­schichte erlebten. Und da wird man dann finden, welch gewaltiger Um­schwung eingetreten ist von allen, wenn ich mich jetzt so ausdrücken darf, vorgriechischen Zeitaltern an, diewirjain unserer Anthroposophie zurückverfolgen bis zur atlantischen Zeit, also bis ins 7., 8. vorchristliche Jahrtausend, durch die griechische Zeit hin bis zu uns. Und ich möchte Ihnen heute diesen Umschwung in bezug auf das Fühien des Menschen im Weltenall einfach einmal gegenständlich schildern. Ich möchte Ihnen schildern, wie sich dieser Umschwung im Fühien der Menschen-seele gegenüber dem Weltenall vor die geistige Anschauung hinstellt.

Wenn wir zurückgehen in ältere Zeiten - die äußere Geschichte zeigt nur noch Spuren davon, man muß da schon geisteswissenschaftlich durch die Methoden, die wir ja kennengelernt haben, in die Sache ein­dringen, um das einzusehen-, wenn wir zurückgehen zu dem Menschen der vorgriechischen Zeit, etwa zur ägyptischen Kultur, zur babyb­nisch-chaldäischen Kultur oder gar zur urpersischen Kultur, finden wir überall, daß beim Menschen die Empfindung vorliegt, er sei aus

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einem vorgeburtlichen, aus einem vorirdischen Leben auf die Erde heruntergestiegen. Und was Götter in ihn verpflanzt hatten im vorir­dischen Leben, das trägt er noch als eine Nachwirkung in sich.

Der Mensch fühlte sich damals eigentlich soauf der Erde, daß er sich sagte: Hier auf der Erde stehe ich. Bevor ich auf der Erde stand, war ich in einer geistig-seelischen Welt, bildhaft gesprochen in einer Licht-welt. In meinem Innern leuchtet geheimnisvoll noch jenes Licht fort. Ich bin gewissermaßen als Mensch die Umhüllung des göttlichen Lich­tes, das noch in mir fortlebt. - Und so war sich der Mensch bewußt, daß ein Göttliches mit ihm selber auf die Erde heruntergestiegen war. Er sagte eigentlich nicht - das ist selbst philologisch nachzuweisen: Ich stehe hier auf der Erde -, sondern er sagte eigentlich: Ich Mensch um­hülle den Gott, der sich auf die Erde gestellt hat. - Das war eigentlich sein Bewußtsein. Und je weiter wir zurückgehen in der Menschheits­entwickelung, desto mehr finden wir dieses Bewußtsein: Ich Mensch auf der Erde umhülle den Gott, der herabgestiegen ist. - Denn das Göttliche war ein Vielfältiges. Und man möchte sagen: Die letzten Götter in der Götterhierarchie, die bis zur Erde herabreichten, waren für das alte Bewußtsein die Menschen selbst. Und derjenige, der nicht in äußerlicher Weise, in der schauerlich äußerlichen Weise etwa, wie Deußen die orientalische Kultur für Europa verballhornt hat, sondern wer in einer wirklich nachfühlenden Art gewahr wird, mit welchem Bewußtsein der alte Inder gesprochen hat, wenn er sein Brahman in sich fühlte, das er umhüllte, der wird auch nachempfinden können, wie das im menschlichen Seelenleben in alten Zeiten eigentlich war.

Daraus aber entwickelte sich dasjenige Bewußtsein, welches im Menschen gegenüber dem göttlichen Vater, dem Vatergotte, vorhan­den war. Der Mensch selber fühite sich als eine Art Göttersohn. Nicht das am Menschen fühlte er so, was in Fleisch und Blut dastand, aber dasjenige, was Fleisch und Blut umhüllte, was ja nach der Anschauung verschiedener Menschen der alten Zeit allerdings sich nicht würdig machte, den Gott zu umhüllen. Nicht diesen Menschen in Fleisch und Blut betrachtete er als ein Göttliches, aber dasjenige, was hereinragte aus einer geistigen Welt in diesen physisch4rdischen Menschen, in den Menschen aus Fleisch und Blut.

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Und so war vor allen Dingen das Verhälmis zum Vatergotte etwas was als das religiöse Verhältnis empfunden wurde. Und die höchste Würde in den alten Mysterien war diejenige des Vaters. In den meisten orientalischen Mysterien unterschied man ja sieben Grade, durch die der Einzuweihende aufzusteigen hatte. Der erste Grad war derjenige, durch den er sich bloß vorzubereiten hatte, wo er sich eine Seelenver­fassung anzueignen hatte, durch die er überhaupt erst verstehen konnte, was ihm in den Mysterien gezeigt worden ist. Die folgenden Grade bis zum vierten Grade hatten ihn dann dazu gebracht, vollständig zu er­fassen, was seine Volksseele war, so daß er sich nicht mehr als der ein­zelne Mensch fühlte, sondern als der Angehörige einer Menschen-gruppe. Und indem er dann zu den höheren Graden, zu dem fünften, sechsten Grad aufschritt, fühite er sich immer mehr und mehr als der Umhüller des Göttlichen. Und der höchste Grad war der Vater. Es waren diejenigen Persönlichkeiten, die in ihrem äußeren Leben und in ihrem äußeren Dasein gewissermaßen eine Verwirklichung sein sollten dessen, was der Mensch als das göttliche Urprinzip fühlte, das er in einem wirklichen Sinne zu sich selbst in eine Beziehung setzte. Es war die äußere geistige Kultur ganz angepaßt diesem Mittelpunkte des re­ligiösen Lebens: im Bewußtsein des Menschen ein Verhältnis zum vä­terlichen Schöpfungsprinzip zu fühlen. Und dementsprechend fühite der Mensch alles dasjenige, was er auch im Innern begreifen konnte; das Licht der Erkenntnis, das ihm aufgehen konnte, fühlte er wie ihm übermacht von Gott dem Vater. Er fühlte gewissermaßen in seinem eigenen Verstande fortwirkend Gott den Vater. Daraufhin war aller Kultus eingerichtet, der ja nur ein Abbild war von dem, was in den Mysterien als Erkenntnisweg gegangen werden konnte.

Nun kam die griechische Zeit. Im Griechen haben wir den reinsten Repräsentanten dieser Menschheitsstufe, die sich herausentwickelte aus den Menschen mit jenen älteren Seelenverhältnissen, die ich eben geschildert habe. Der Grieche fühlte den Menschen mehr als Mensch, nicht mehr bloß als die Hülle des Göttlichen. Aber es ist dieses griechi­sche Gefühl so, daß derjenige, der durch die griechische Schulung, sa­gen wir jetzt durch die griechische Vernunftschulung durchgegangen war, oder auch, der durch das griechische Künstlertum, oder durch das

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griechische religiöse Leben durchgegangen war, gewissermaßen fühl­te, daß das Göttliche restlos in dem Menschen aufgegangen war. Der Grieche fühlte sich nicht mehr als die Umhüllung des Gottes, sondern fühlte sich als die Darstellung des Gottes. Nur wurde das nicht mehr in derselben unverhüllten Weise ausgesprochen, wie in den älteren Zeiten das andere. In Griechenland war es so, daß eigentlich erst dem Myste­rienschüler auf einer bestimmten Stufe enthüllt wurde: Du bist als Mensch ein göttliches Wesen, ein Göttersohn. - Und man betrachtete es als unmöglich, dem unvorbereiteten Menschen dieses Geheimnis der Menschwerdung darzustellen. Aber der eingeweihte Grieche sah das so an; daher diese Grundempfindung. Es war eben nicht eine Idee, die in klaren Konturen auftrat, sondern eine seelische Grundempfindung.

Diese seelische Grundempfindung finden wir dann in der griechi­schen Kunst, welche die Götter so darstellt, daß sie eben idealisierte Menschen werden. Dieses Darstellen des Göttlichen durch idealisierte Menschen geht durchaus aus dieser Grundempfindung hervor. So daß der Grieche, man möchte sagen, in die Keuschheit des Gefühles und Gemütes sein Verhältnis zum Göttlichen zurückgenommen hat.

Nun tritt, nachdem die griechische Weltanschauung völlig in ihre Abendröte getaucht war, mit dem i 5. Jahrhundert eine ganz andere Seelenstimmung auf. Der Mensch fühlt sich auf der Erde nicht mehr als eine Umhüllung des Göttlichen, auch nicht mehr als eine Darstellung des Göttlichen wie der Grieche, sondern er fühlt sich als ein Wesen, das mehr von unteren unvollkommenen Stufen zu der Menschwerdung aufgestiegen ist, und das nur aufschauen kann zu einem jenseitigen Göttlichen. Und der neuere Mensch gründet eine Naturwissenschaft, die zwar aus dieser Grundempfindung hervorgeht, deren Verhältnis aber zu sich selbst er noch nicht finden konnte. Und es ist gerade Auf­gabe der Anthroposophie, dieses Verhältnis des Menschen zu sich sel­ber und zum Göttlichen wiederum zu finden. Wir können uns dieses Finden in der folgenden Weise vergegenwärtigen. Wir können uns einmal versetzen in die Seele des vorgriechischen Menschen. Er wird sagen: Ich umhülle ein Göttliches. Ich kann dieses Göttliche, indem ich es mit menschlichem Fleisch und Blut umhülle, auf der Erde nur unwürdiger darstellen, als es in Wahrheit ist. Ich kann es gewissermaßen

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nur herabwürdigen. Ich muß mich, wenn ich das Göttliche in mir rein darstellen will, reinigen. Ich muß eine Art Katharsis durch­machen, mich reinigen, damit der Gott in mir möglichst gut zur Gel­tung kommt. - Aber im Grunde genommen ist es ein Zurückgehen zu dem väterlichen Urprinzip, was ja auch in manchem religiösen Leben des Altertums dadurch zum Vorschein kommt, daß die Menschen die Ideen haben, sie gehen zurück nach dem Tode zu den Vorfahren, zu weit zurückliegenden Vorfahren. Es ist durchaus im religiösen Leben dieser Zug nach dem väterlichen Urschöpfungsprinzip. Der Mensch fühlt sich noch nicht ganz heimisch auf der Erde. Es ist aber auch noch nicht vorhanden das Streben, aus einer fremden Menschenposition heraus, möchte ich sagen, zu dem jenseitigen Göttlichen hin. Es ist das Streben vielmehr, den Menschen rein darzustellen, weil man meint, dann komme der Gott zum Vorschein.

Das wird im griechischen Leben anders. Im griechischen Leben fühlt sich der Mensch nicht mehr so eng mit dem göttlichen Vater-prinzip verbunden, wie das in früheren Zeiten der Fall war. Der Mensch fühlt sich als Mensch so recht mit dem Göttlichen verbunden, aber zu gleicher Zeit auch mit dem Irdischen. Er fühlt sich gewissermaßen in einer Gleichgewichtslage zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen. Das ist der Zeitabschnitt, in den das Mysterium von Golgatba fällt. Das ist der Zeitabschnitt, wo nicht mehr bloß gesagt werden kann:

«Im Urbeginne war der Logos, und der Logos war bei Gott » - man meinte den Vatergott - «und ein Gott war der Legos », sondern wo ge­sagt werden mußte: «Und das Wort ist Fleisch geworden.» Der Logos, der ursprünglich nur als die Vereinigung mit dem Vatergotte angese­hen wurde, er wurde angesehen so, daß er gewissermaßen voll in dem Menschen sein Haus gefunden hat, daß der Mensch ihn in sich selber suchen muß. Dieser Menschenstimmung kam das Mysterium von Golgatha entgegen. Der Vatergott konnte eigentlich niemals in mensch­licher Gestalt gedacht werden. Der Vatergott mußte rein geistig ge­dacht werden. Der Christus, der Gottessohn, wurde als göttlich-menschlich gedacht. Und im Grunde genommen haben wir das, was der Grieche wie eine Sehnsucht empfindet, oder wie eine künstlerische Verwirklichung auslebt, für das Volimenschliche erfüllt in der Gesamtdarstellung

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des Mysteriums von Golgatha. Wir müssen uns dabei nicht an irgendwelche Nebensächlichkeiten halten, wir müssen uns an das Hauptsächliche halten, an das Einkehren des Göttlichen in den Men­schen selber, so wie der Mensch auf Erden dasteht.

Damit stellt sich das Mysterium von Golgatha in den Mittelpunkt der ganzen Menschheitsentwickelung auf Erden. Und man darf es durchaus nicht als einen historischen Zufall betrachten, daß das Myste­rium von Golgatha in die Geschichte trat da, wo das Griechentum sozu­sagen von außen her, von der Erde aus, das Göttliche im Menschen darstellen will. Man möchte sagen, womit man mehr als ein poetisches Bild meinen darf: Der Grieche mußte aus den Erdeningredienzien heraus den Gott als einen Menschen künstlerisch darstellen, und der Kosmos schickte den Gott herab auf die Erde in den Menschen hin-ein, um im kosmischen Sinne die Antwort zu geben auf die wunderbare Frage, die das Griechentum gewissermaßen in die Weitenweiten hin­ausgeschickt hat. Man möchte sagen, man fühlt es der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit an, wie das Griechentum in seinen menschlich dargestellten Göttern an den Kosmos die Frage stellt: Kann der Gott Mensch werden? - Und der Kosmos antwortete: Der Gott kann Mensch werden - indem er das Mysterium von Golgatha gesche­hen ließ.

Aber ich habe es ja öfter begreiflich gemacht, wie dieses Verstehen des Mysteriums von Golgatha in seiner Urwesenheit eigentlich nur möglich ist, wenn man nun nicht mit der Erkenntnis des Toten, die in der neueren Zeit üblich geworden ist, an dieses Mysterium von Gol­gatha herantritt, sondern mit einer neuen, lebensvollen Erkenntnis, mit einer Erkenntnis, die wiederum vom Geiste durchdrungen sein kann.

Damit kommen wir dazu, uns jetzt sagen zu müssen: Zwar hat der Mensch auf der einen Seite sein Freiheitsbewußtsein, auf der anderen Seite seine mechanistischen Fortschritte in der äußeren Kultur durch die toten Begriffe erreicht, allein er kann bei dieser inneren Totheit nicht stehenbleiben. Er muß aus der eigenen Kraft der Seele heraus den Impuls eines Lebendigen, eines Lebendig-Geistigen gewinnen, das heißt, er muß in der Lage sein, wiederum zu Ideen zu kiommen, die in­nerlich lebendig sind, zu Ideen, die aber nicht nur den Verstand ergreifen,

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sondern die den ganzen Menschen ergreifen. Es muß dem moder­nen Menschen wirklich möglich werden, was ich angedeutet habe in meinem Buche «Goethes Weltanschauung», wiederum dazuzukom­men, nicht von toten Ideen zu sprechen, nicht von Ideenabstraktio­nen zu sprechen, sondern sich aufzuschwingen zu jener Geistigkeit, in der er sich mit Ideen erfüllt, aber mitzunehmen in diese Ideenregion alle lebendige Wärme, die in seiner Seele erglimmen kann, alles hellste Licht, das seine Begeisterung in der Seele erwecken kann. Der Mensch muß wiederum hinauftragen können zu den Ideen alle seine Seelen­wärme und all sein Seelenlicht. Er muß innerlich wiederum seinen gan­zen Menschen mitnehmen können in die Geistigkeit der Ideenwelt. Das haben wir eigentlich in der Gegenwart verloren.

Und man darf sagen, vielleicht ergreift einen weniges in der neuen Literatur so tief wie das erste Kapitel von Nietzsches Darstellung der griechischen Philosophie im «tragischen Zeitalter der Griechen», wie er es nennt. Nietzsche schildert die Philosophen der vorsokratischen Zeit, Thales, Heraklit, Anaxagoras, und es ist etwas furchtbar Ergrei­fendes für denjenigen, der für so etwas einen richtigen Sinn und ein of­fenes Herz hat, wenn Nietzsche da schildert, wie in einer gewissen Zeit der griechischen Entwickelung der Grieche sich emporgeschwungen hat zu der Abstraktion des bloßen Seins, von der Vieiheit der den Men­schen mit Wärme erfüllenden Natureindrücke zu dem blasser Gedan­ken des Seins. Etwa so sagt Nietzsche an der Stelle: Dann fühlt man, wie einen fröstelt, fühlt man, in welch eisige Regionen man gerät, wenn man aufsteigt mit einem alten griechischen Philosophen, etwa mit dem Parmenides, zu dieser abstrakten Idee des allumfassender Seins. Wie in Gletscherregionen des Seelenlebens versetzt, so fühlt sich Nietzsche aus jener moderner Kultur heraus, in die er ganz hineinversetzt war, wie ich vorgestern hier dargestellt habe.

Aber daran ist Nietzsche ja auch gescheitert, daß er nur roch bis zu der Kälte, man möchte sagen, bis zu dem Gletscherhaften der mensch­lichen Ideenwelt gehen konnte, während das Hellseher in wirklicher Geistigkeit Seelerwärme und Seelerlicht in das Intellektualistische hin­einzutragen vermag, so daß man jene Reinheit im Begriff erreichen kann, von der ich gesprochen habe in meiner «Philosophie der Freiheit»,

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aber mit dieser Reinheit der Begriffe nicht ein innerlich ausge­trockneter Mensch, sondern ein innerlich begeisterter Mensch wird. Ein Mensch, welcher, indem er die Erdenwärme der Sinnlichkeit ver­läßt, durch die kalten Regionen des Intellektualismus hindurch die warme Sonnenwärme des Kosmos empfindet, ein Mensch, welcher, indem er die leuchtenden Erdengegenstände verläßt und es erlebt, wie es durch die intellektualistische Begriffsweit innerlich dunkel wird, durch seine lebendigen Seelenimpulse, die er hineinträgt in diese Dun­kelheit, nun imstande wird, das kosmische Licht zu empfangen, nach­dem er, man möchte sagen, überwunden hat die irdische Dunkelheit.

In Nietzsche sieht man überall die Sehnsucht nach diesem kosmi­schen Lichte, nach dieser kosmischen Wärme. Er kann sie nicht errei­chen. Daran scheitert er. Anthroposophie möchte den Weg weisen da­hin, wo man nicht verliert die Erdenwärme, nicht verliert das Erden-licht, wo man den frischen Anteil und das frische Interesse behält an allem einzelnen Konkreten des Irdischen, wo man in Liebe zugetan bleibt allem Irdischen und dennoch heraufsteigen kann zu jener Höhe der Begriffe, wo sich in reinen Begriffen das Göttliche enthüllt, das man nun als moderner Mensch nicht mehr in sich fühlen kann wie der alte Mensch auf Erden, sondern zu dem man erst hinzukommen muß.

Das ist die Stimmung, die in der richtigen Weise empfinden läßt das Geheimnis von dem Heiligen Geiste. Und das ist der Unterschied im Leben im Geistigen zwischen dem modernen Menschen und dem älte­ren Menschen. Der ältere Mensch sog seine Geistigkeit aus allen ein­zelnen Wesen der Natur. Die Wolke sprach ihm vom Geistigen, die Blume sprach ihm vom Geistigen. Der moderne Mensch muß durch seine eigene Kraft seine kalt und tot gewordenen Begriffe verlebendi­gen, dann gelangt er an jenen Heiligen Geist, durch den er auch das My­sterium von Golgatha in der richtigen Weise sehen kann. Denn man nimmt etwas mit aus dem Menschentum, wenn man in dieser Weise -ich darf jetzt trocken sagen - anthroposophisch seine Ideen mit See­lenwärme und Seelenlicht durchsetzt, man nimmt etwas mit aus dem Menschentum. Man kann nicht über das Trockene, Banale, Abstrakte der Ideenwelt hinausdringen, wenn man nicht dieses mitnimmt. Steigt man auf durch jene Erkenntnisse, von denen ich in den anthroposophischen

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Büchern gesprochen habe, zu einem Welterfassen, dann bleiben die Ideen gerade so exakt, wie sie in der Mathematik sind, oder wie sie in den anderenWissenschaften sind. Man denkt nicht unexakter, als der Chemiker in seinem Laboratorium oder der Biologe in seinem Kabinet­te denkt, nur bedingen die Begriffe etwas, was vom Menschen mitgeht. Wenn der Anthroposoph in Imagination, wenn er in Inspiration spricht, und der gesunde Menschenverstand wirklich diese Imagina­tion, diese Inspiration begreift, so stehen sie vor ihm tatsächlich wie die mathematischen oder geometrischen Gebilde vor dem Mathematiker. Aber der Mensch muß etwas mitbringen, sonst begreift er diese Ideen nicht richtig. Das, was er mitbringen muß, ist die Liebe.

Ohne die Erkenntnis mit Liebe zu durchdringen, kann man sich nicht die Erkenntnis, welche durch Anthroposophie gegeben wird, an-eignen, sonst bleibt sie eben etwas, was ganz gleichwertig ist mit ande­rem. Es ist ganz gleichwertig, ob Sie mit irgendeinem materialistischen Naturforscher sagen: Beuteltiere, Menschenaffen, Affenmenschen, Menschen, oder ob Sie sagen: Der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich. - Es ist nur ein anderer Ge­danke, aber der Status der Seele ist kein anderer. Der Status der Seele wird erst ein anderer, wenn innerlich lebendig dieses geistige Erfassen des Menschen in der Natur wird. Aber es geht nicht, wenn nicht das-selbe Gefühl, dieselbe Empfindung, derselbe Seelenstatus, die in der Liebe leben, mit der Erkenntnis mitgehen. Und durchdringt man also seine Erkenntnis mit dem Erlebnis der Liebe, dann dringt diese Er-kenntnis heran an das Mysterium von Golgatha. Und dann haben wir nicht nur die an sich ganz berechtigte naive Hinneigung zu dem Chri­stus - wie gesagt, ganz berechtigt ist ja diese naive Hinneigung -, son­dern wir haben dann auch eine Erkenntnis, die sich ausbreitet über den ganzen Kosmos, und die sich vertiefen kann zu der Erfassung des My­steriums von Golgatha. Mit anderen Worten: Das Leben in dem Hei­ligen Geiste führt zum Leben in dem Christus, oder vor den Christus, vor den Sohn Gottes hin.

Und dann lernen wir begreifen, wie in der Tat der Logos übergegan­gen ist durch das Mysterium von Golgatha von dem Vater auf den Sohn. Und dann wird uns das Wichtige enthüllt, daß es für die alten

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Menschen richtig war, zu sagen «Im Urbeginne war der Logos. Und der Logos war bei Gott, und ein Gott war der Logos», daß aber dann angefangen werden mußte in der griechischen Zeit, zu sagen: «Und der Logos ist Fleisch geworden.» Und der moderne Mensch muß hin­zusetzen: Und ich muß finden ein Verständnis des im Fleische lebenden Logos dadurch, daß ich meine Begriffe und Ideen, daß ich meine ganze Welterfas sung ins Geistige erhebe, so daß ich durch den Heiligen Geist den Christus, und durch den Christus erst den Vatergott finde.

Das ist ganz gewiß nichts Theoretisches, das ist etwas, was ins un­mittelbare Erleben des modernen Menschen eingehen kann, und das ist die Stellung zum Christentum, die sich auf ganz naturgemäße Weise aus der Anthroposophie heraus ergibt.

Es ist schon so, daß dieses Erfassen eines Geistesweges dem moder­nen Menschen unerläßlich ist. Er braucht dieses Erfassen eines Geistes­weges gerade gegenüber der toten Kultur, die in dem durchaus nicht herunterzusetzenden, sondern von der anderen Seite aufs höchste zu schätzenden Mechanismus unseres heutigen Lebens besteht. Aber es gehört, ich möchte sagen, ein innerer Ruck dazu, damit der moderne Mensch auf diesen Geistesweg komme. Und diesen inneren Ruck - ich habe es vor kurzem hier einmal ein wirkliches Aufwachen genannt -möchten viele nicht entwickeln. Und das macht eigentlich die moderne Gegnerschaft gegen die Anthroposophie aus, daß dieser Ruck nicht mitgemacht werden will in der Seele. Es hat etwas Unbequemes, diesen Ruck mitzumachen. Man wird gewissermaßen durch diesen Ruck in den Strudel des kosmischen Werdens hineingerissen. Man möchte ru­hig bleiben mit seinen starren, scharf konturierten Begriffen, die nur auf das Tote gehen, das sich nicht wehrt im Erfassen der Welt, während das Lebendige, wenn man es mit den toten Begriffen erfassen will, sich wehrt, sich bewegt und aus den Begriffen herausschlüpft. Das ist dem modernen Menschen unbequem. Er fühlt das. Er kleidet es in allerlei andere Dinge, und er wird geradezu wild, wenn er hört, daß man von einer gewissen Seite aus ein ganz anderes Erfassen der Welt auf denver­schiedensten Gebieten des Lebens will.

Nur aus dieser Stimmung heraus sind die ja ganz absonderlichen Dinge zu erklären, die gerade bei der Gegnerschaft der Anthroposophie

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auftreten. Man braucht nur einige Erscheinungen der allerletzten Zeit zu erwähnen, und man wird dieses Absonderliche durchaus fühlen können.

Wir haben hier das große Unglück des Verlustes unseres Goethe­anum. Wir können ganz gut wissen, daß, was auch immer möglich ist an Wiederaufbau, dieses alte Goetheanum uns nicht mehr erstehen kann, daß dieses alte Goetheanum nur eine Erinnerung bleiben kann, und daß es ein wirklich ungeheurer Schmerz ist, sich sagen zu müssen: Es ist versucht worden mit diesem Goetheanum, jenen Kunst-stil zu finden, der der neuen Geistigkeit entspricht, und dieser Kunst-stil, von dem man gewollt hat, daß er anregend wirkt, ist eigentlich mit diesem Goetheanum zunächst vom Erdboden verschwunden. Man braucht die Tatsache nur auszusprechen, um das ungeheuer Schmerz-volle, das in dem Untergang des Goetheanum liegt, zu empfinden.

Nun ist es ja sonst üblich, daß dem Unglück gegenüber selbst die Gegner aufhören, eine pietätlose und höhnische Sprache zu führen. Just dem Unglück des Goetheanum-Brandes gegenüber finden es aber die Gegner richtig und angemessen, ihre Gegnerschaften noch höhnender und noch schimpfender zu enifalten. Das ist eben das Absonderliche. Und das ist etwas, was sich in würdiger, aber eigentlich unwurdiger Weise an das andere anreiht.

Die anthroposophische Bewegung wurde begonnen als eine rein positive Wirksamkeit. Niemand wurde attackiert, niemand wurde an-gegriffen, keine Agitation wurde sonst getrieben, als daß gesagt wurde, was eben als anthroposophische Art erforscht werden kann. Gewartet wurde ruhig bis diejenigen Seelen, die nun eben in der Gegenwart vor­handen sind, aus den Impulsen ihrer Seelen herbeikoramen, um Ver­ständnis zu haben für das, was aus der geistigen Welt heraus gesagt werden soll. Auf das hin war die ganze anthroposophische Arbeit ver­anlagt: nicht in wüster Weise zu agitieren, nicht Programme aufzu­stellen, sondern eiufach zu sagen, was ist, nach den Erforschungen der geistigen Welt, und zu warten, in welchen Seelen die Sehnsucht nach Erkenntnis dieses Seienden vorhanden ist.

Nun gibt es heute zahlreiche Menschen, welche Gegner der Anthro­posophie sind, ohne daß sie überhaupt wissen warum, die nur mitlaufen

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mit anderen, von denen sie angeführt werden. Aber es gibt immerhin einige, die wissen sehr gut, warum sie Gegner der Anthroposophie sind. Sie wissen es, weil sie sehen, daß auf anthroposophischem Boden Wahrheiten herauskommen, die jenen eben charakterisierten Ruck for­dern. Und das will man nicht. Das will man aus den verschiedensten Gründen nicht, weil man so geartete Wahrheiten einfach immer in en­gen Kreisen bewahren wollte, um durch den Besitz solcher Wahrheiten als eine Art kleiner geistiger, aristokratischer Gruppen hinauszuragen über die allgemeine Menschheit. Daher wird vorzugsweise derjenige gehaßt, der gegenüber dem, was einfach im Geiste der heutigen Zeit liegt, die Wahrheit aus der geistigen Welt für alle Menschen holt. Aber zu gleicher Zeit wissen diese Gegner - ich meine diese führenden Geg­ner -, daß ja gegen die Wahrheit als solche nichts gemacht werden kann, daß diese ihren Weg durch die engsten Felsenspalten hindurch findet, welche Hindernisse ihr auch entgegentreten mögen. Daher wird zu­meist nicht der Weg eingeschlagen, gegen diese Wahrheiten zu kämp­fen; da würden diese Wahrheiten schon die Mittel und Wege finden, den Gegner aus dem Felde zu schlagen. Sehen Sie sich die Gegnerschaf­ten an - und es wäre gut, wenn in anthroposophischen Kreisen man recht viel die Gegnerschaften ansehen würde -, man sieht ab von der Bekämpfung der Wahrheiten und legt das Hauptgewicht auf die per­sönlichen Angriffe, persönlichen Verdächtigungen, persönlichen Be­schimpfungen, persönlichen Verleumdungen. Der Wahrheit glaubt man nichts antun zu können, man will sie aber aus der Welt schaffen; deshalb glaubt man sie aus der Welt schaffen zu können durch den Weg der persönlichen Verunglimpfung. Das ist etwas, was in der Art des Kampfes gerade hinweist darauf, wie gut die führenden Gegner wis­sen, in welcher Weise sie vorzugehen haben, damit sie einen zeitweili­gen Sieg erringen.

Das aber ist etwas, was gerade unter Anthroposophen gewußt wer-den sollte; denn noch immer glauben Anthroposophen, daß man durch eine gewöhnliche Diskussion mit dem Gegner etwas erreichen kann. Es kann uns ja nichts mehr schaden, als wenn es uns in Diskussionen gelingt, unsere Wahrheit darzustellen, denn wir werden nicht deshalb gehaßt, weil wir die Unwahrheit sagen, sondern weil wir die Wahrheit

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sagen. Und je mehr es uns gelingt zu zeigen, daß wir die Wahrheit sa­gen, desto mehr wird das der Fall sein.

Natürlich kann es einen davon nicht abhalten, für die Wahrheit ein­zutreten. Aber abhalten kann es einen davon, die Naivität zu bewahren, daß man durch Diskussionen vorwärtskommt. Man kommt nur durch positlve Arbeit vorwärts. Man kommt nur dadurch vorwärts, daß man so stark als möglich die Wahrheit vertritt, damit so viel als möglich prädestinierte Seelen, die viel mehr, als man meint, in der Gegenwart vorhanden sind, herbeikommen, um an ihr die Geistesnahrung zu fin­den, die notwendig ist, wenn für die Zukunft der Menschen nicht Ab­bau, sondern Aufbau getrieben werden soll, wenn eine Aufwärtsent­wickelung, nicht eine Abwärtsentwickelung stattfinden soll.

Aus dem Chaos der Gegenwart ist nicht herauszukommen auf ma­teriellem Wege. Aus dem Chaos der Gegenwart ist nur herauszukom­men auf dem geistigen Wege. Aber auf den geistigen Weg kann man sich nur begeben, wenn man den Geist als Führer wählt. Und in rech­tem Sinne den Geist als Führer zu wählen, zu verstehen, wie man ihn wählt, das ist es, was Anthroposophen in tiefstem Sinne erkennen und durchschauen müssen.

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HINWEISE

Die in diesem Band gesammelten Vorträge erscheinen erstmals in dieser Zusammenstellung. Die Vorträge waten von Rudolf Steiner nicht zum Druek hestimmt und er hat sie selbst nicht durchgesehen. Deshalb stammt auch der Titel des Bandes sowie die Titel der einzelnen Vorträge nicht von ihm. Die Titel der einzelnen Vorträge gehen auf die Herausgaben der Einzelbroschüren durch Marie Steiner (vergleiche Seite 4) zurück. Die Schlüsse der Vorträge vom 3., 4., 9., 16.Februar 1923 finden sich in Bibliographie Nr.259. Textänderungen im Vortrag vom 11. Februar 1923 «Der unsichtbare Mensch in uns. Das der Therapie zugrunde liegende Pathologische» gegenüber der früheren Ausgabe gehen auf den neuen Vergleich mit dem Stenogramm zurück.

Zu Seite

16 sogenannter Französischer Kurs: Rudolf Steiner: «Philosophie, Kosmologie und Reli­gion.» 10 Vorträge. Dornach, 6. - 15. September 1922, Gesamtausgabe Dornach 1962.

Ferner die Autoreferate «Kosmologie, Religion und Philosophie.» Gesamtausgabe Dornach 1956

20 letzte Mal hier gehört: In den Vorträgen «Lebendiges Naturerkennen, intellektueller Sündenfall und spirituelle Sündenerhebung». 6 Vorträge, Dornaeh 19. - 28.Januar 1923, Gesamtausgabe Dornach 1966.

24 Karl Rosenkranz, 1805-1879. «Aus einem Tagebuch» Leipxig 2854, S.328 ff.

25 Gotthilf Heinrich von Schubert, 1780-1860. «Die Symbolik des Traumes» Leipzig 2840.

16 Johann Georg Gichtel, 1638-1710.

28 Ich habe neulich diesen Jakob Böhme ein wenig charakterisiert: in den Vorträgen Dornach, 12.-14. Januar 1923 «Das Suchen nach der Welt im Menschen, nach dem Menschen in der Welt». Dornach 1943.

63 Homer-Zitat: Beginn der «Ilias».

69 Novalis-Zitat: Frei wiedergegeben. Vgl. Novalis', mathematische Fragmente in der Ausgabe Kluckhohn, 4. Band, S.226f.

70 Schwaben-Vischer: Friedrich Theodor Vischer, 1807-1887. «Faust. Der Tragödie drit­ter Teil. Eine Parodie» 1862.

92 Notizbucheintragung: Aus Notizbuch Nr.313.

95 Nietzsches vier Kardinaltugenden: «Die guten Vier. - Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; großmütig gegen den Besiegten; höflich - immer: so wollen uns die vier Kardinaltugenden.» Morgenröte, 5. Buch, 556.

100 David Friedrich Strauß, 1808-1874. «Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis» 1872.

Ausspruch Nietzsches: Wörtlich «Hoch die Physik und höher noch das, was uns zu ihr zwingt - unsere Redlichkeit!». Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch, 335.

106 «blonde Bestie»: Nietzsche, Zur Genealogie der Moral.

121 Johann Friedrich Herbart, 1776-1841.

128 Paul Deußen, 1845-1919, Philosoph und Indologe.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.