GA 216

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Grundimpulse
des weltgeschichtlichen Werdens
der Menschheit

Acht Vorträge, gehalten in Dornach
vom 16. September und 1. Oktober 1922

GA 216

1965

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 16. September 1922

Man kann die Tatsachen der geistigen Welt in verschiedener Weise aussprechen, von den verschiedensten Seiten beleuchten. Das klingt dann zuweilen verschieden. Aber gerade durch diese verschiedenen Beleuchtungen werden die Tatsachen der geistigen Welt erst völlig vor die Seele hingestellt. Und so werde ich denn an diesem Abend in einer etwas andern Sprache, in anderer Beleuchtung einiges von dem wiedergeben, was ich in den letzten zwei Vorträgen in dem Goethe­anumbau auseinandergesetzt habe für das Erleben des Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Wir haben gehört, wie der Mensch zunächst, wenn der physische Leib von ihm abgefallen ist, in einen Zustand des kosmischen Erlebens übertritt. Er trägt nach dem Ablösen des physischen Leibes an sich noch seinen ätherischen Organismus; aber er fühlt sich gewissermaßen nicht mehr in diesem ätherischen Organismus darinnen, son­dern er fühlt sich seelisch ausgebreitet in die Weltenweiten. Nur kann er in diesen Weltenweiten, über die sich also jetzt sein Bewußtsein aus­zudehnen beginnt, die Wesenheiten und Vorgänge noch nicht deut­lich voneinander unterscheiden. Er hat ein kosmisches Bewußtsein, aber dieses kosmische Bewußtsein hat noch keine innere Deutlichkeit. Und außerdem ist zunächst für die ersten Tage nach dem Tode dieses Bewußtsein von dem noch vorhandenen ätherischen Leibe ein­genommen. Was zunächst verlorengeht, ist das im Menschen, was an die Kopforganisation gebunden ist. Ich wiil gar nicht irgend etwas Ironisches sagen, sondern etwas ganz Ernstes: Den Kopf verliert man, auch seelisch gemeint, zuallererst, wenn man durch die Todespforte hindurchgeht. Die Kopforganisation hört auf zu wirken.

Nun ist es gerade die Kopforganisation, welche das Denken im Erdendasein vermittelt. Es ist die Kopforganisation, durch die der Mensch während seines Erdendaseins in einer gewissen Aktivität seine Gedanken bildet. Die Kopforganisation verliert man zunächst, wenn man durch die Todespforte geschritten ist, aber die Gedanken verliert

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man nicht, die Gedanken bleiben. Nur werden sie von einer gewissen Lebendigkeit durchsetzt. Sie werden dumpfe, dämmerige, geistige Wesenheiten, die einen in die Weltenweiten hinausweisen. Es ist so, wie wenn sich die Gedanken von dem menschlichen Haupte losgelöst hätten, wie wenn sie noch zurückleuchteten auf den letzten mensch­lichen Lebenslauf, den man als seinen ätherischen Organismus erlebt, aber wie wenn sie zu gleicher Zeit auf die Weltenweiten hinweisen würden. Man weiß noch nicht, was sie einem sagen wollen, diese Menschenideen, die gewissermaßen eingespannt und eingepfercht waren in die Kopforganisation und die jetzt befreit sind und in die Weltenweiten hinausweisen.

Wenn nun aus den Gründen und in der Art, wie ich das gestern drüben im Bau charakterisiert habe, der ätherische Leib sich aufgelöst hat, wenn das kosmische Bewußtsein nicht mehr hingebannt ist in dieser Art auf den letzten Erdenlebenslauf - in der andern Weise, die ich auch charakterisiert habe, bleibt es zunächst hingebannt -, wenn dieser ätherische Leib nun auch abgelöst ist vom Menschen, dann werden die Ideen, die sich der Kopforganisation entrissen haben, gewissermaßen heller, und man bemerkt jetzt, wie diese Ideen einen in den Kosmos, in das Weltenall hinausweisen.

Es ist so, daß man in das Weltenall hinauskommt auf die Art, daß zunächst die Pflanzenwelt der Erde der Vermittler ist. Mißverstehen Sie mich nicht: nicht als ob ich sagen wollte, daß die Pflanzen, die an dem Orte, wo man gestorben ist, den Erdboden bedecken, es gerade seien, die einem den Weg hinaus bereiteten, sondern wenn wir die Pflanzenwelt der Erde betrachten, so stellt sie sich für den geistigen Anblick so dar, daß das, was die physischen Augen sehen, nur ein Teil dieser Pflanzenwelt ist. Ich will, was da stattfindet, in einer schema­tischen Weise auf die Tafel zeichnen (siehe Zeichnung). Nehmen Sie an, das wäre die Erdoberfläche; es wüchsen aus der Erdoberfläche Pflanzen heraus (grün). Es ist natürlich in gar keinem Verhältnis gezeichnet, aber Sie werden verstehen, was ich meine. Man verfolgt diese Pflanze mit den Sinnen bis zu der Blüte (rot). Der geistige An­blick dieser Pflanzen aber zeigt, daß das nur ein Teil der Pflanzenwelt ist, daß von der Blüte nach aufwärts ein astralisches Geschehen und

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#Bild s. 11

Weben beginnt. Gewissermaßen ist über die Erde ein Astralisches aus­gegossen, und aus diesem Astralischen heraus kommen spiralförmige Gebilde (gelb). Wo die Erde die Möglichkeit gibt, daß Pflanzen ent­stehen, da ruft das Herüberströmen dieser Astralweltspiralen das Pflanzenleben hervor.

Diese Weltspiralen umgeben nun die Erde überall, so daß Sie nicht glauben dürfen, daß das Herunterströmen, Herunterglänzen und Her­unterglitzern dieser astralischen Weltspiralen nur dort ist, wo Pflanzen wachsen. Es ist überall in verschiedener Weise vorhanden, so daß man auch in der Wüste sterben könnte und doch Gelegenheit hätte, beim Hinausströmen in das Weltenall diese Pflanzenspiralen anzutreffen.

Diese Pflanzenspiralen sind nun der Weg, auf dem man sich bewegt von der Erde nach der Planetensphäre hin. Man schlüpft also ge­wissermaßen durch die geistigen Fortsetzungen der Pflanzenwelt der Erde aus dem Erdengebiete heraus. Das wird immer weiter und weiter. Diese Spiralen erweitern sich mehr und mehr, bekommen immer weitere Kreise. Sie sind die Fahrstraßen nach der geistigen Welt hinaus. Man würde aber da nicht hinauskommen, man würde ge­wissermaßen immer stillstehen müssen, wenn man nicht die Möglich­keit gewänne, eine Art negativer Gewichte zu haben, Gewichte, die nicht nach unten lasten, sondern Gewichte, die einen hinaufschieben. Und diese Gewichte sind die geistigen Inhalte, die Ideen der in der

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Erde befindlichen mineralischen Gebilde, insbesondere der Metalle; so daß man sich auf den Pflanzenbahnen in die Weltenweiten hinaus-bewegt und unterstützt wird durch die Kraft, welche einen namentlich von den Metallen der Erde nach den Planetensternen hinträgt. Irgend­welche Mineralgebilde haben immer die Eigentümlichkeit, daß die ihnen innewohnenden Ideen gerade zu einem bestimmten Planeten tragen. Man wird also, sagen wir, von zinnartigen Mineralien, das heißt von ihren Ideen, zu einem bestimmten Planeten getragen; von dem, was in der Erde als Eisen ist, das heißt von der Idee des Eisens, wird man zu einem bestimmten Planeten getragen. Was also im Erden-dasein für den physischen Menschen aus der Umgebung hereinspielt als mineralische und pflanzliche Welt, das übernimmt in seinen geisti­gen Gegenbildern das Hinausgeleiten des Menschen nach dem Tode in die Weltenweiten. Und man wird wirklich in die Planeten-bewegungen, in den ganzen Rhythmus der Planetenbewegungen durch das Mineralreich und das Pflanzenreich der Erde hineingetragen.

Indem das Bewußtsein allmählich über die ganze Planetensphäre ausgedehnt wird, so daß man in der eigenen Innenwelt der Seele von dem Planetenleben weiß, durchschwebt man in dieser Weise die ganze Planetensphäre. Man würde in ihr, wenn nichts anderes da wäre als die Ergießungen des pflanzlichen und mineralischen Daseins in den Weiten, alles das erleben, was man in den Geheimnissen des minera­lischen und pflanzlichen Reiches erleben kann. Und diese Geheim­nisse sind außerordentlich mannigfaltig, großartig, gewaltig, sie sind inhaltreich, und niemand braucht zu gkuben, daß das Leben, das da beginnt für den seelisch-geistigen Menschen, wenn er seinen physi­schen Organismus verlassen hat, etwa ärmer sei als das Erdenleben, das wir von Tag zu Tag verbringen. Es ist in sich mannigfaltig, aber es ist auch in sich majestätisch. Man kann an den Geheimnissen eines einzigen Minerals mehr erleben, als man im Erdenleben an allen Reichen des Naturdaseins zusammen erlebt.

Aber es ist in dieser Sphäre, die man als die Planetensphäre durch-wandelt, noch etwas anderes da. Es sind die in den letzten Tagen charakterisierten Mondenkräfte, die geistigen Mondenkräfte. Es ist die Mondensphäre da. Sie wird allerdings, je weiter man sich hineinlebt

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in ein außerirdisches Dasein, in ihrer Wirksamkeit immer schwächer und schwächer. Sie kündet sich in ihrer Wirksamkeit stark an in den ersten Zeiten, die woM nach Jahren zählen, nach dem Tode; sie wird aber immer schwächer und schwächer, je mehr sich das kosmische Bewußtsein weitet. Wenn diese Mondensphäre nicht da wäre, würde man nach dem Tode zweierlei nicht erleben können. Das erste ist jene Wesenheit, die ich in den letzten Tagen erwähnt habe und die man selber während des letzten Erdenlebens ausgebildet hat aus den Kräften, welche die moralisch-geistige Bewertung des eigenen Erdenlebens darstellen. Man hat eine geistige Wesenheit ausgebildet, eine Art geistiger Elementarwesenheit, die zu ihren Gliedern, zu ihren Fangarmengestaltungen das hat, was eigentlich ein Abbild ist des menschlichen moralisch-geistigen Wertes. Wenn ich mich so aus-drücken darf: eine lebendige Photographie, herausgebildet aus der Substanz des astralischen Kosmos, lebt mit der Seele mit, eine Photo­graphie, die aber eine reale, eine lebendige Photographie ist, auf der man sieht, was für ein Mensch man eigentlich im letzten Erdenleben war. Diese Photographie hat man vor sich, solange man in der Mondensphäre ist.

Aber außerdem erlebt man in dieser Mondensphäre allerlei von mannigfaltigen Elementarwesen, von denen man sehr bald bemerkt, daß sie eine Art traumhaftes, aber sehr hell traumhaftes Bewußtsein haben, das mit einem helleren Bewußtseinszustand abwechselt, der sogar heller ist als das menschliche Bewußtsein auf Erden. Diese Wesenheiten pendeln gewissermaßen zwischen einem dumpfen, traum­haften Bewußtseinszustande und einem helleren Bewußtseinszustande, als ihn der Mensch auf Erden hat. Diese Wesenheiten lernt man kennen. Sie sind zahlreich, und sie sind in ihrer Gestaltung außer­ordentlich voneinander verschieden. Man erlebt in dem Lebens-zustande, den ich jetzt schildere, diese Wesenheiten so, daß man sieht, wie sie dann, wenn sie ein dumpferes, traumhaftes Bewußtsein be­kommen, hinunterschweben zur Erde, wie sie gewissermaßen durch die Mondengeistigkeit hinuntergestoßen werden auf die Erde und wie sie wiederum zurückschweben.

Ein reiches Leben stellt sich dar von solchen auf die Erde hinunterschwebenden

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und wiederum zurückschwebenden, auf und nieder strömenden Gestalten solcher Art, wie ich sie eben geschildert habe. Man lernt erkennen, daß das auf der Erde befindliche Tierreich mit diesen Gestaltungen in Beziehung steht. Man lernt erkennen, daß diese Gestalten die sogenannten Gruppenseelen der Tiere sind. Diese Gruppenseelen der Tiere senken sich hinunter. Das bedeutet: irgend­eine Tierform lebt unten auf der Erde. Wenn diese Tierform mehr in einem solchen Zustande ist, wo sie unten schiäft, dann kommt die Gruppenseele in die Höhe hinauf. Kurz, man merkt, daß das Tierreich mit dem Kosmos in einer solchen Beziehung steht, daß innerhalb der Mondensphäre das Lebensfeld für die Gruppenseelen der Tiere ist. Die Tiere haben keine individuellen Seelen, sondern ganze Gruppen von Seelen; die der Löwen, der Tiger, der Katzen und so weiter haben gemeinsame Gruppenseelen. Diese Gruppenseelen führen eben ihr Dasein in der Mondensphäre, auf und nieder schwebend. Und in diesem Aufundniederschweben wird das Leben der Tiere aus der Mondensphäre herein bewirkt.

Es ist eben in der Welt gesetzmäßig bedingt, daß in dieser Sphäre, in der man die Gruppenseelen der Tiere antrifit, also in der Monden­sphäre, auch unser moralisch-astralisches Gegenbild sein Leben hat. Denn wenn man dann mit dem kosmischen Bewußtsein sich weiter in die kosmischen Weiten hinauslebt, läßt man zurück in der Monden­sphäre, wie ich es dargestellt habe, diese lebendige Photographie dessen, wozu man es als moralisch-geistiges Wesen während des letzten Erdenlebens und auch der früheren gebracht hat. Auf diese Weise kommt man, also die pflanzliche, die mineralische und die tierische Welt erlebend, in die Planetensphäre hinein. Man ist von der Mondensphäre noch eingenommen, aber man lebt sich in dieser Weise in die Planetensphäre hinein. Man lebt die Bewegungen der Planeten mit. Man ist auf den Bahnen des Pflanzenwesens in den Kosmos hinausgeschritten. Man ist getragen worden von den Ideen der mine­ralischen, namentlich der metallischen Wesen. Man fühlt, eine be­stimmte Art des Pflanzlichen auf der Erde ist ein irdisches Abbild dessen, was einen da als ein Spiralweg, der sich immer mehr und mehr weitet, hinführt, sagen wir zum Jupiter. Aber daß man zum Jupiter

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geftihrt wird, das ist davon abhängig, daß man die Idee eines be­stimmten Metalles und bestimmter Mineralien der Erde in Lebendig­keit erlebt.

Hat einen nun so der Pflanzenweg zu einem Planeten geführt - man hat immer die Idee des Mineralischen auf der Erde, die einen hinaus­getragen hat, mitgenommen -, ist man an dem betreffenden Planeten angekommen, dann beginnt jetzt diese Idee, die einen aus dem Mine­ralischen hinausgetragen hat, diese Idee, die immer lebendiger und lebendiger geworden ist, beginnt zu klingen in dem betreffenden Planeten. So daß man nach dem Tode ein Hinausgeführtwerden auf dem Pflanzenwege erlebt, ein Sich-Erleben der mineralischen inneren Wesenheiten in immer mehr und mehr lebendigen Ideen. Diese Ideen werden zu geistigen Wesenheiten. Wenn sie ankommen: die eine lebendige Idee bei dem einen Planeten, die andere bei dem andern Planeten, so fühlen sich diese jetzt zu Wesenheiten gewordenen Mine­ralideen wie in ihrer Heimat. Eine Minerals orte fühlt sich heimisch im Jupiter, die andere Mineralsorte fühit sich heimisch im Mars und so weiter. Und das, was auf der Erde nur als unscheinbar angesehen war, das beginnt nun in dem betreffenden Planeten, wenn es angekommen ist, zu tönen und in der mannigfaltigsten Weise zu erklingen. So daß man jetzt das, was auf der Erde mineralische Abbilder hat, die nur mit den Sinnen gesehen werden, aus dem Inneren der Planeten erklingen hört und auf diese Weise sich in die Sphärenharmonie hineinlebt. Denn im Weltenall, im Kosmos, steht alles in einem inneren Zu­sammenhange. Was hier unten auf Erden als Pflanzenwelt dem Erd­boden entwächst, das ist das Abbild dessen, was die Erde wie auf Pflanzenwegen mit dem Planetensystem verbindet. Was im Erdboden als Mineral ist, das ist eigentlich nur ein unscheinbares Abbild von dem, was als Kraft hinaufwirkt auf den Pflanzenwegen, was aber seine Heimat draußen in den Planeten hat und was in den Planeten Welten-töne vorstellt, die sich zu einer großen Weltenharmonie miteinander verbinden.

Man spricht also die Wirklichkeit aus, wenn man, verstehend das, was hier auf Erden ist, zu dem Golde sagt: Ich sehe in dem Golde, das mit seiner eigentümlichen Farbe erglänzt, das Abbild dessen, was in

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der Sonne einen Zentralweltenton für meine Seele miterklingen läßt, wenn ich es auf gewissen Pflanzenbahnen in die Sonne hinauf-getragen habe.

Wenn der Mensch dieses durchgemacht hat, wenn das eintritt, was ich in den letzten Tagen als notwendig bezeichnet habe, dann beginnt für ihn die Möglichkeit, sich über die Planetensphäre hinauszuheben und in die Fixsternsphäre einzutreten. Er kann das nur dadurch, daß er sich der Mondensphäre entwindet. Die muß gewissermaßen hinter ihm bleiben. Aber was er da in der geschilderten Art in der Planeten-sphäre erlebt, was er als den Sinn des mineralisch-metallischen Reiches der physischen Erde, was er als die bahnführenden Richtungen der Pflanzenwelt der Erde erlebt, alles das Großartige, das er da durch-macht, das wird ihm in einer gewissen Art gestört durch die Ein-schläge der Mondensphäre, das wird ihm in einer gewissen Weise dadurch verdunkelt, daß er die elementarischen Wesen erlebt, die zum Tierreiche gehören und die neben jenen eigentlich ganz harmonischen Bewegungen, in denen sie auf- und niedersteigen, also neben diesen Vertikalbewegungen auch Horizontalbewegungen haben. In diesen horizontalen Bewegungen, welche durch die Gruppenseelen der Tiere innerhalb der Mondensphäre ausgeführt werden, spielen sich aller­dings furchtbare Urbilder für disharmonische, diskrepante Kräfte im Tierreiche ab. Da gibt es furchtbare, wüste Kämpfe zwischen den Gruppenseelen des Tierreiches. Durch diesen Einschlag der Monden­sphäre in die Planetensphäre wird das, was sonst in innerer Ruhe und würdevoller, majestätischer Art durch die Urbildlichkeit des pflanz­lichen und mineralischen Reiches erlebt werden kann, in einer ge­wissen Weise zerstört.

Entwindet sich der Mensch der Mondensphäre und gelangt er in die Fixsternsphäre, dann bleibt ihm eine kosmische Erinnerung - so können wir es nennen - an diese gewaltigen, majestätischen Erlebnisse der Planetensphäre mit der Urbildlichkeit des irdischen Mineral- und Pflanzenreiches. Das bleibt ihm als eine Erinnerung. Und er tritt in eine Welt von geistigen Wesenheiten ein, deren, wie ich schon gesagt habe, physisch-sinnliches Abbild die Konstellationen der Sterne sind, jene Sternkonstellationen, die, wenn man sie in der richtigen Weise

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versteht, der Ausdruck dafür sind, gewissermaßen die Schriftzeichen darstellen, aus denen man die Eigentümlichkeit, die Taten und die Willensintentionen der geistigen Wesenheiten in der Sternensphäre erleben kann. Man erlebt jetzt gewissermaßen schauend die geistigen Wesenheiten, die nicht in physischen Leibern auf Erden wandeln, die eben nur in dieser Sphäre der Sterne erlebt werden können. Und man tritt ein in diese Sphäre, um innerhalb derselben das eigene Wesen mit dem kosmischen Bewußtsein - das sich jetzt erweitert hat, für das die räuraliche Anschauung übergegangen ist in eine qualitative An­schauung, für das die zeitliche Anschauung übergegangen ist in die Gleichzeitigkeit -, um dieses eigene Wesen zu durchdringen mit den Taten dieser göttlich-geistigen Wesenheiten.

Während man hier auf der Erde in seiner Haut eingeschlossen ist und die andern Menschenwesen draußen in ihrer Haut das unter­nehmen, was sie zu tun haben, während wir hier auf der Erde alle nebeneinander sind, sind wir in dieser Sternensphäre nicht nur als Menschenseelen ineinander, sondern wir sind auch so, daß sich unser kosmisches Bewußtsein ausweitet und wir die Wesenheiten der gött­lich-geistigen Welt in uns fühlen. Hier auf der Erde sagen wir zu uns «wir», beziehungsweise jeder sagt zu sich «ich». Da draußen sagt er «ich», indem er damit meint: Ich erlebe innerhalb dieses meines Ichs die Welt der göttlich-geistigen Hierarchien; die erlebe ich als meinen eigenen kosmischen Bewußtseinsinhalt. - Das ist selbstverständlich eine noch gewaltigere, ausgedehntere, mannigfaltigere, inhaltsreichere und majestätische Erlebenswelt, in die man nun hineinkommt. Und wenn man sich bewußt wird, welche Kräfte da in das Seelische des Menschen hereinspielen von den mannigfaltigsten Wesenheiten der göttlich-geistigen Hierarchien, dann sieht man: es sind Kräfte, welche alle zusammenspielen, indem sie Absichten, kosmische Absichten haben, die gewissermaßen alle nach einem Punkte hinzielen. Man wird mit einer eigenen geistig-seelischen Tätigkeit eingesponnen in diese Absichten der göttlich-geistigen Hierarchien und ihrer Einzelwesen­heiten. Und alles das, worin man da eingesponnen wird, in das die eigene, im Inneren gefühlte, von kosmischem Bewußtsein umfaßte, selbst kosmische Tätigkeit übergeht, alles das zielt zuletzt darauf hin,

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den Geistkeim, wie ich inn geschildert habe, des menschlichen physi­schen Organismus zu konstruieren.

Es ist in der Tat ein tiefes Wort gewesen, das in alten Mysterien­stätten ausgesprochen worden ist: daß der Mensch ein Tempel der Götter ist. Was da zunächst erbaut wird in gewaltiger, majestätischer Größe aus dem Geistkosmos heraus und sich dann zusammenzieht in den menschlichen physischen Leib, um da so verwandelt zu sein, daß man das Urbild, das gewaltige, majestätische Urbild nicht mehr er­kennt, das ist eigentlich das, was sich der Zusammenhang der göttlich-geistigen Hierarchien erbaut, um in diesem Erbauen sein Ziel zu haben.

Diese Erlebnissphäre ist ja so, daß wir gewissermaßen den Kosmos, den wir, wenn wir auf dem Erdenstandpunkt stehen, von innen an-schauen, von einem Punkt, von dem wir nach allen Seiten hinaus-schauen, daß wir den, wenn wir in dieser Sphäre sind, von außen an­schauen. Denn indem wir in die Sternensphäre eintreten, fühlen wir auch schon im Augenblick, wo wir uns der Mondensphäre entrissen haben, daß wir im Weltenall draußen sind und eigentlich den Kosmos von außen anschauen.

Was da stattfindet, darf ich Ihnen in einer Skizze darstellen (siehe Zeichnung). Nehmen Sie an, hier sei die Erde. Das alles stimmt natür­lich nicht in den Verhältnissen, aber wir werden uns verstehen. Wir schauen hinaus in die Weiten des Kosmos. Wir sehen draußen Sterne, durchwandern die Planeten, haben draußen die Fixsterne. Hier auf der Erde ist unser Bewußtsein wie in einem kleinen Punkt zusammen­gezogen (rot). Wir schauen zentral nach dem Weltenall hinaus. In dem Augenblicke, wo wir der Mondensphäre entronnen sind, kommen wir mit unserem Bewußtsein in der Sternensphäre an. Aber wir gehen gewissermaßen durch die Sternensphäre nur hindurch, indem uns die Erinnerung leitet, die uns aus den Erlebnissen der Planetensphäre geblieben ist, und treten in die Sphäre jenseits der Sterne ein.

In dieser Sphäre jenseits der Sterne, da ist eben der Raum eigentlich nicht mehr vorhanden. Natürlich, wenn ich hier zeichne, muß ich das, was eigentlich qualitativ ist, räumlich zeichnen. Ich kann es dann so zeichnen: Während unser Bewußtsein auf der Erde gewissermaßen in diesem Punkte als unser Ich (rot) zusammengedrängt ist, ist es peripher,

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#Bild s. 19

wenn es jenseits der Sternensphäre angekommen ist (blau). Wir schauen von jedem Punkte nach innen (blaue Pfeile). Dieses Schauen ist eben durch das Raumesbild nur im Abbild dargestellt. Wir schauen nach innen. Haben wir hier das Sternbild des Widders (rot) und sehen wir von der Erde aus die Sonne (gelb) im Sternbild des Widders stehen, so daß die Sonne uns gewissermaßen das Sternbild des Widders bedeckt, und gelangen wir dann in den Weltenraum hinaus, so sehen wir den Widder vor der Sonne stehen. Es heißt aber etwas anderes, aus dem kosmischen Bewußtsein verstehen: Den Widder vor der Sonne stehen sehen - als mit dem irdischen Bewußtsein hinschauen und die Sonne vor dem Widder stehen sehen. Wir schauen eben auf diese Weise alles geistig. Wir schauen das Weltenall von draußen an.

Und in dem Erarbeiten des Geistkeimes des physischen Organismus haben wir eigentlich die Kräfte der geistig-göttlichen Wesenheiten in uns, aber so, daß wir uns im Grunde genommen außerhalb des ganzen Kosmos fühlen, den wir von der Erde aus erleben. Und jetzt erleben wir in unserem kosmischen Bewußtsein das Zusammensein mit den göttlich-geistigen Wesenheiten.

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Wenn wir dann zurückschauen und gewissermaßen die Sternbilder -aber alles eben nicht räumlich, sondern qualitativ - über der Sonne stehen sehen, das eine Mal dieses, das andere Mal jenes, dann erkennen wir in dem, was wir da erleben, indem wir es verbinden mit der Er­innerung, die wir daran haben, wie die Metalle und Mineralien, nach­dem die Pflanzenwege absolviert waren, in den Planeten ertönt hatten, dann erleben wir, daß dieses Tönen, das zunächst eine Weltenmusik war, sich in die kosmische Sprache, in den Logos umsetzt. Wir lesen die Absichten der göttlich-geistigen Wesenheiten, unter denen wir sind, ab, indem wir die einzelnen Zeichen dieser kosmischen Schrift erleben: Das Stehen des Widders vor der Sonne, das Stehen des Stieres vor der Sonne und so weiter - indem wir erleben, wie sich das voll­zieht und wie hineinklingen in diese Schrift diejenigen Töne, welche die Metalle in den Planeten ertönen lassen. Das gibt uns Anweisung, wie wir an dem Geistkeim des physischen Organismus auf Erden zu arbeiten haben.

Solange wir in der Mondensphäre sind, haben wir ein lebendiges Erfühlen dieser Photographie unseres moralisch-geistigen Erden-lebens. Wir haben ein lebendiges Erfühlen dessen, was da unter den Gruppenseelen der Tiere vorgeht. Aber das ist eine Art von dämo­nischen, elementarischen Wesenheiten. Jetzt, wo wir gewissermaßen den Tierkreis auf die andere Seite der Sonne gestellt finden, jetzt lernen wir erkennen, was wir da eigentlich gesehen haben. Denn auch die Erinnerung an diese Tiergestaltungen, an diese Gruppenseelen-gestaltungen der Tiere, bleibt uns bis in das Jenseits der Sternen-sphäre hinein, und wir machen die Entdeckung, daß diese Gruppen-seelen der Tiere gewissermaßen niedrigere - wenn man in der Men­schensprache sprechen will -, ins Karikierte umgesetzte Nachbilder der herrlichen Gestaltungen sind, die jetzt jenseits der Sternensphäre unser kosmisches Bewußtsein durchdringen als die Wesenheiten der göttlich-geistigen Hierarchien.

So haben wir außerhalb der Sternensphäre die Wesenheiten der gött­lich-geistigen Hierarchien, und innerhalb der Sternensphäre, soweit sie durchsetzt ist von dem, was geistig zur Mondensphäre gehört, haben wir die Karikaturen der göttlich-geistigen Wesenheiten in den

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Gruppenseelen der Tiere. Wenn ich sage die Karikaturen, so fassen Sie das nicht im niedrigen Sinne auf. Was vor der menschlich-humo­ristisch-künstlerischen Anschauung eine Karikatur ist, ist natürlich etwas außerordentlich Triviales gegen die grandiose Karikiertheit der göttlich-geistigen Wesenheiten in der Welt der Mondensphäre, die zu gleicher Zeit die Welt der Gruppenseelenwesen des irdischen Tier-reiches ist. Wir verdanken diesem Erlebnis, das wir in dieser Sphäre haben, außerordentlich viel. In einer mehr ideellen Form habe ich das schon in den letzten Tagen gesagt, jetzt will ich es mehr in der imagi­nativen Form aussprechen.

Nehmen Sie an, der Mensch weilt da oben (siehe Zeichnung S. 19, rot). Er schaut also hier zurück. Er hat in den Wahrnehmungen seiner geistig-seelischen Welt jenseits der Sternensphäre sein eigentliches Gebiet. Da hat er das Feld seiner jetzigen Tätigkeit. Wie wenn man gewissermaßen auf einem hohen Gebirge steht, oben den Sonnen­schein und unten den Nebel hat, so hat man bei diesem kosmischen Erleben diese ganze wogende, kämpfende, in Diskrepanz, in Dis­harmonie, aber auch in harmonischem Auf- und Absteigen befindliche Gruppenseelenhaftigkeit der Tiere unter sich. Wie ein Nebel, der viel­gestaltig ist, pflanzt sich das unten fort, lebt sich das da unten aus. Und während man hinschauend auf die Sternenkonstellationen, die Absichten der göttlich-geistigen Wesenheiten erblickt, während man da abliest, welche Absichten die göttlich-geistigen Wesenheiten haben, während man da im kosmischen Bewußtsein verstehen lernt, wie eigentlich der Tempel der Götter, dieser Geistkeim des physischen Leibes, seine Geheimnisse in sich hat, jene Geheimnisse, die der reinen Welt des außerirdischen und außermondlichen Daseins entsprechen, schaut man hinunter und sieht, was da in der Sphäre der Geistigkeit des Tierreiches vor sich geht. Und man bekommt, indem man hin­unterschaut wie von einem sonnenumglänzten Bergesgipfel in eine untere Nebelwolkenmasse, das Erlebnis, das man in den kosmischen Gedanken faßt: Wenn du nicht alle Kraft, mit der du dich jetzt durch­drungen hast, aus dieser göttlich-geistigen Welt mitnimmst bei dem Wiederhinunterstieg, so kommst du durch diese Nebelwolkenwelt der tierischen Gruppenseelen nicht ungeschoren hindurch. Da sollst du

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das Abbild deiner vorigen Erdenieben mit einer moralisch-geistigen Bewertung finden. Das wird in diesem Nebel da unten schwimmen. Du mußt es wieder aufnehmen. Aber da werden alle die wild auf­einanderstürzenden Gruppenseelen der Tiere sein; da wird all das wüste Getriebe sein. Du mußt so starke Kräfte mitnehmen aus deinem Jenseits der Sternensphäre, daß du diese Kräfte der Gruppenseelen­haftigkeit der Tiere so viel als möglich von deinem Schicksal hinweg­bringen kannst. Sonst wird sich, so wie an einen Kristall sich Materie anschließt, das an dich anschließen, was diese Gruppenseelen der Tiere nach deinem moralisch-geistigen Wesenskern hin kosmisch aus-schwitzen. Und du wirst davon mitnehmen müssen alles, was du dann nicht zurückhalten kannst durch die Kräfte, die du angesammelt hast, und du wirst es als allerlei Triebe und Instinkte für dein nächstes Erdendasein eingliedern müssen.

Allerdings wird man nur die Kräfte aus dem Jenseits der Sternen-sphäre entnehmen können, zu deren Entnahme man sich fähig ge­macht hat, indem man sich in der Hinneigung zum Christus entwickelt hat, in der Hinneigung zu dem Mysterium von Golgatha, in dem wahrhaft-religiösen, nicht in dem egoistisch-religiösen, Durch­drungensein der Seele im Sinne des Paulus-Wortes: «Nicht ich, son­dern der Christus in mir.» Das macht einen stark, um sich jenseits der Sternensphäre im Zusammensein mit den göttlich-geistigen Wesen­heiten mit jenen Kräften zu durchdringen, die dann beim Wieder­hinuntergehen durch die Mondensphäre von dem, was man als seinen Schicksalskern mit sich zu nehmen hat, jene Kräfte abhalten, welche sich da in disharmonischem, diskrepantem Spiel der geistig-tierischen Umwelt herumgruppieren und diesen geistig-seelischen Wesenskern durchdringen.

Wenn man schildern will, was die Menschenseele zwischen Geburt und Tod erlebt, was sie mit sich selbst vereinigt, was sie in ihre Vor­stellungen, Gefühle und Willensimpulse aufnimmt, dann muß man die irdische Welt rundherum um den Menschen beschreiben. Wenn man aber schildern will, was der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt erlebt, dann muß man schildern, was die Urbilder dieses auf der Erde Befindlichen sind. Will man wissen, was die Mineralien

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wirklich sind, so muß man ihre Wesenheit in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt aus den Planeten er­klingen hören. Will man wissen, was die Pflanzen wirklich sind, so muß man auf den Bahnen, die vom Pflanzenreiche hinaus in den Weltenraum gehen und die in den Formen der Pflanzenbildungen nachgezeichnet sind, das Wesen dessen studieren, was in einem schwachen Nachbilde in der Pflanze aus dem Erdboden herauswächst. Will man das Tierreich der Erde studieren, dann muß man kennen­lernen, was im Gewoge und Gewelle der Gruppenseelen der Tiere in der Mondensphäre vor sich geht. Und hat man sich alidem ent­wunden, ist man eingetreten in die Sphäre jenseits der Sternenwelt, dann lernt man erst die eigentlichen Geheimnisse des Menschen er­kennen. Und man lernt zurückschauen auf all das, was man in den Urbilderwelten des Mineralischen, des Pflanzlichen, des Tierischen erlebt hat.

Man trägt das hinaus in jene Gebiete des Kosmos, in denen man die eigentlichen Geheimnisse des Menschen nicht nur erkennt, sondern lebendig erschauend durcherlebt und an ihnen gestaltend tätig ist. Man trägt in diese Gebiete hinaus wie eine kosmische Erinnerung alles, was man mit Bezug auf Mineralien, Pflanzen und Tiere beim Hinaufstieg erlebt hat. Im Zusammenfließen dieser Erinnerungen und dessen, was man als die Geheimnisse des Menschendaseins schaut, was man tätig miterlebt, woran man tätig mitarbeitet, in dem Zusammen­strömen dieser Erinnerung und dieser Tätigkeit spielt sich ein reiches, mannigfaltiges Leben ab. Und dieses mannigfaltige Leben ist es, das der Mensch durchmacht zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 17. September 1922

Heute möchte ich die Betrachtung, die ich gestern angestellt habe, dadurch fortsetzen, daß ich sie noch näher an den Menschen selbst heranbringe. Sie können sich ja denken, daß das, was man durch eine solche Schilderung eigentlich darzustellen versucht, ein innerlich so Reiches, so Mannigfaltiges ist, daß jede so weite Gebiete übergreifende Darstellung, wie es die gestrige gewesen ist, nur von einem Gesichts­punkt aus die Sache erfassen kann und daß sich ein Gefühl für das, was eigentlich mit einer solchen Darstellung gebracht werden soll, nur durch Schilderungen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus ergeben kann.

Wenn wir die menschliche Hauptesbildung betrachten, die Kopf-bildung, so müssen wir uns klar darüber sein, daß diese Kopfbildung nicht etwa nur den äußerlich angeschauten, nach unten durch den Hals begrenzten Kopf betrifft, sondern auch die Vorgänge, die innerlichen Organprozesse, die sich im menschlichen Kopf abspielen. Die sind zwar hauptsächlich als Kopfprozesse im Kopfe vorhanden, aber sie setzen sich in den ganzen Organismus hinein fort; so daß im wesent­lichen die Kopforganisation sich im ganzen Menschen findet, aber nach außen hin sich vorwiegend im Kopf, im Haupte offenbart. Ebenso ist es mit der Brustorganisation, die im wesentlichen die Atmung, die Blutzirkulation umfaßt. Auch diese erstreckt sich sowohl in die Kopforganisation als in die Stoffwechsel- und Gliedmaßen-organisation hinein. Wir können vom Menschen zwar so sprechen, daß wir in der Betrachtung seine einzelnen Organisationsglieder aus­einanderhalten, daß wir uns aber klar darüber sein müssen, wie sie im ganzen Menschen ineinanderspielen.

Wenn wir nun diese menschliche Kopforganisation betrachten, so zeigt sie beim Durchgang durch die geistige Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt ganz andere Metamorphosen als die andern Glieder des menschlichen Organismus. Im Kopf haben wir eine eigentliche Nachbildung desjenigen Kosmischen, welches

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sich als Geistkeim durch eine solche Tätigkeit ausbildet, wie ich sie gestern und schon an den vorangehenden Tagen charakterisiert habe. Im menschlichen Haupte haben wir ganz zusammengezogen und mit materiellem Dasein ausgefüllt die Nachbildung eines Univer­sellen.

Würde man nun, nicht mit einem physisch hergestellten Mikroskop, sondern mit geistig-seelischen Vergrößerungsfidiigkeiten das mensch­liche Haupt studieren können, so würde man in seiner physischen, ätherischen, astralischen und Ich-Struktur den ganzen Kosmos nach­gebildet finden. Wir tragen tatsächlich diesen ganzen Kosmos in uns und am meisten eben in unserer Hauptesorganisation, in unserer Kopf-organisation. Für diese Kopforganisation gilt es auch vorzüglich, daß der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt im Verein mit höheren geistigen Wesenheiten der oberen Hierarchien das aus-arbeitet, was die Fortsetzung seiner Entwickelung innerhalb det menschlichen Vererbung findet, was gewissermaßen, nachdem es durch den Menschen selbst im Verein mit den Wesenheiten det höheren Hierarchien in der geistigen Welt bis zu einem gewissen Punkte gebracht worden ist, herabfällt in die physische Welt und seine Entwickelung im mütterlichen Organismus durch die Empfängnis fortsetzt.

Was da als Hauptesbildung, als Kopfesbildung uns entgegentritt, ist tatsächlich aus dem Kosmos heraus entstanden, so daß es selbst in astralischem Zustande, in den es zuletzt durch die Bearbeitung des Menschen hingelangt, zur Erde herunterkommt und da vor der Emp­fängnis bis zum physischen Entwickelungszustande seine Fortsetzung findet, damit sich dann später dasjenige, was vom Menschen selber nun zurückgeblieben ist, mit einem Ätherleib umkleidet, nachdem es erst den Keim des physischen Leibes im Geistigen abgestoßen hat, und sich dann wiederum mit diesem physisch gewordenen Geistkeim verbinden kann.

Nun aber ist es so, daß wir während des Wachaustandes im Kleinen immerfort das fortsetzen, was wir im Großen, im Universellen zwi­schen dem Tode und einer neuen Geburt im Verein mit göttlich­geistigen Wesenheiten vollbracht haben. Diese Tätigkeit, die hier ausgeübt

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wird, geht gewissermaßen hinter dem gewöhnlichen mensch­lichen Bewußtsein vor sich.

Ich möchte Ihnen das skizzenhaft darstellen. Wenn wir das mensch­liche Haupt eines normal funktionierenden Menschen betrachten, so zeigt sich der geistigen Anschauung das Folgende: Während wir wachen, während durch das Wachen fortwährend die Eindrücke der Außenwelt an das menschliche Haupt herantreten, spielt sich für das Bewußtsein alles das ab, was in der Sinnesanschauung lebt. Ich möchte das, was in der Sinnesanschauung lebt, hier dadurch charakterisieren, daß ich zunächst das Auge zeichne (siehe Zeichnung), die Nase, wo

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sich die Geruchsempfindungen, Gaumen, Mund, wo sich die Ge­schmackserlebnisse abspielen. Dieser rot angestrichene Teil soll also schematisch alles das darstellen, was der Mensch eigentlich im ge­wöhnlichen Bewußtsein erlebt. Aber in der Tatsachenwelt, die im Menschen vorgeht, spielt sich nicht nur das ab. Sie wissen ja, daß das

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Gehirn in der mannigfaltigsten Weise gegliedert ist. Ich will das nur schematisch andeuten (blau-grün). Was hier im Gehirn so kombiniert, gegliedert ist, das ist eben ein Abbild des ganzen Universums, das ist das ganze Universum ins Kleine zusammengezogen und mit Stoffen der Erde ausgekleidet. Dadurch, daß dieses Gehirn in seinem Ich-Teil, seinem astralischen und ätherischen Teil dann mit physischem Erdenstoff ausgekleidet ist, hat die Erde mit ihren Kräften, mit ihren Bestandteilen eben Einfluß auf diesen Teil des Menschen.

Während nun unsere Sinneswahrnehmung stattfindet, während die Farben hereinfluten und innerlich sich zu Vorstellungen formen, wäh­rend die Gehörimpulse den menschlichen Organismus durchvibrieren und durch die Einrichtung des Gehörorgans sich zu Gehörvorstel­lungen formen, während ein Ähnliches mit den Geschmacks-, Ge­ruchs- und mit den Tastwahrnehmungen geschieht, während also dieses ganze wache Erleben erhalten wird durch die Einwirkung der äußeren physisch-sinnlichen Welt, lebt sich das als eine Kraft innerhalb der unbewußten Teile der menschlichen Kopforganisation aus. Und während wir eine Farbe wahrnehmen, einen Ton hören oder eine Geschmackswahrnehmung haben, arbeiten wir unbewußt daran, ein Nachbild zu schaffen von dem, wie, sagen wir, Jupiter zur Sonne oder zum Mars steht (gelb). Wir bilden ein kosmisches Verhältnis in unse­rem eigenen Innern ab. Das ganze wache Leben hindurch geschieht etwas, was wir hinter unserem gewöhnlichen Bewußtsein vollbringen, die Nachbildung der kosmischen Tätigkeit. Was da vollbracht wird hinter dem gewöhnlichen Bewußtsein, das ist nichts anderes als der Nachklang dessen, was wir kosmisch durchmachen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt beziehungsweise Empfängnis. Da haben wir es im Großen, im Universellen durchgemacht. Da haben wir es im Geistigen durchgemacht, unbeirrt durch den Erdenstoff. Da brauchten wir nicht den Erdenstoff in feinen Partien auszuziehen, in Spirallinien um Achsen herumzuschlingen und so weiter. Da vollzogen wir alles in einer geistigen Substanz. Da begleiteten uns bei unserer Arbeit die geistig-göttlichen Mächte der höchsten Hierarchien. Was wir da in ihrer Gemeinschaft vollbracht haben, vollbringen wir hier auf eine uns unbewußte Art, indem wir uns nach außen den Sinneswahrnehmungen

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in unserem Gehirn hingeben, indem wir das, was wir draußen auf geistige Art mit geistigen Wesen vollführt haben, auf irdische Art mit irdischen Stoffen nachbilden. Durch diese Tätigkeit tragen wir unser vorirdisches Leben in unser irdisches Leben bis in unsere körperliche Organisation herein.

Was wir durch Farben schauen, durch Töne hören, durch Gerüche riechen, das ist während des Erdendaseins für uns da. Was sich im Hintergrunde abspielt, das sind Gedanken, die eine ätherische Leben­digkeit haben, die in der Stofflichkeit des Gehirns eben nur ihren physischen Ausdruck haben. Das Wesentliche, worauf es ankommt, ist das, was in der feinsten Substantialität des Gehirns ätherisch webt. Da weben ineinander lebendige Gedanken. Unsere Gedanken sind ja nur Reflexbilder, welche gebildet werden an diesem inneren Kosmos, wo das, was wir von außen empfangen, zurückstrahlt und uns dann bewußt wird. Aber hinter der Gedächmisebene spielt sich das ab, was ich eben beschrieben habe. Hinter einem gewöhnlichen Spiegel braucht sich nichts abzuspielen; hinter dem Spiegel, der durch unser Gehirn für unser Bewußtsein unsere abstrakten Vorstellungen zurück-wirft, spiegelt sich im Kleinen ein ganzes Weltendasein in jedem einzelnen Menschen ab. Und diese lebendigen Gedanken, die wir da entwickeln, sind für die dritte Hierarchie, für die Hierarchie der Angeloi, Archangeloi und Archai dasselbe, was unsere abstrakt reflek­tierenden Gedanken für uns sind. Hinter unserem Bewußtsein ent­faltet durch unsere Menschlichkeit die dritte Hierarchie ihre Tätigkeit. Da entwickeln die Wesenheiten der Archai, Archangeloi und Angeloi das, was vollbracht werden muß und nur vollbracht werden kann da­durch, daß der Mensch in den Kosmos herein und auf die Erde gestellt wird. In seiner Gehirnbildung bildet er nicht bloß einen Spiegel aus, welcher ihm sein gewohnliches Erdenbewußtsein, die abstrakten Ideen reflektiert, sondern innerhalb des Kopfes spielt sich etwas ab, was die Hierarchie der Angeloi, Archangeloi, Archai auf Erden und durch das Erdendasein zu vollziehen hat. Das ist ein Geschehen, das ebenso mit dem Erdendasein zusammenhängt wie ein anderes Geschehen.

Sie können das Erdendasein so charakterisieren, daß Sie sagen:

Durch die Mineralien geschieht dies und jenes, durch die Pflanzen

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geschieht es, daß sie blühen, Früchte tragen, durch die Tiere geschieht wieder ein anderes. Durch den Menschen geschieht, daß die Angeloi, Archangeloi und Archal ihre Tätigkeit in die geistige Erdenatmo­sphäre ausgießen. Das aber geschieht auf dem Umwege durch die unterbewußte Tätigkeit der menschlichen Kopforganisation.

Das Erdendasein ist eben nicht damit erschöpft, daß Pflanzen blühen, daß Tiere herumlaufen, sondern das Erdendasein setzt sich fort in ein geistiges Dasein hinein. Über die Pflanzen, über das Tier, über den Menschen hinaus ist eine Tätigkeit der Engelwelt, der geisti­gen Weit, der dritten Hierarchie da, und diese Tätigkeit ist möglich durch den Menschenkopf.

Ich konnte Sie ja schon gestern darauf hinweisen, daß über einer Pflanze (siehe Zeichnung), wenn sie aus der Erde herauswächst (grün

#Bild s. 29

und rosa), ein Astralisches ist. Also auch darüber haben wir ein astralisches Gebilde, ein höheres Geistiges (gelb), als sich in der Pflanzenblüte selber darstellt. So setzt sich die Tätigkeit des menschlichen

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Kopfes in das Geistige hinaus fort, und wenn wir suchen, wohinein sie sich fortsetzt, finden wir die Tätigkeit der Wesenheiten der dritten Hierarchie im Zusammenhang mit dem Erdendasein.

Diese Tätigkeit hat aber auch noch eine ganz tiefe Bedeutung in der kosmischen Entwickelung. Im Hintergrunde des eigenen mensch­lichen Webens auf der Erde, im Hintergrunde dessen, was der Mensch tun muß, ohne daß er es weiß, in seiner organischen Tätigkeit, sind die Wesen der dritten Hierarchie seine Helfer. Der Mensch stirbt im Erdendasein. Wir haben das Sterben betrachtet und zu verstehen ge­sucht. Was aber für den Menschen das Sterben ist, das ist für die Wesenheiten der dritten Hierarchie das Untertauchen in die Men­schennatur. Würden sie nur dieses haben, dieses Untertauchen in die Menschennatur, so würde ihr Bewußtsein herabdämmern; sie würden ihre Wesenheit verlieren. Sie müssen ihre Wesenheit immer wieder und wiederum gewissermaßen ernähren. Es muß der Wesenheit dieser Geschöpfe der dritten Hierarchie aus der Weltensubstanz Nahrung zugeführt werden.

Nun, was da hinter dem menschlichen Bewußtsein gewoben wird, sind, wie ich schon sagte, vorzugsweise ätherische Gebilde. Schon während unseres Erdendaseins besteht nicht eine so scharfe Grenze zwischen dem innerlichen menschlichen Äther und dem äußeren kosmischen Äther, daß nicht fortwährend das, was durch menschliche Gedanken, durch diese menschliche Arbeit am Gehirn hinter den bewußten Gedanken angeschlagen wird, hlnausvibrierte in den kosmi­schen Äther. Der Mensch ist eigentlich um seinen Kopf herum fort­während umgeben von den Schwingungen, die in den Weltenäther hinaus erzeugt werden durch seine im Vereine mit den Wesenheiten der dritten Hierarchie vollbrachte Kopftätigkeit. Und wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, dann ist es so, wie ich gestern gesagt habe: daß die Kopftätigkeit zuerst abfällt, auch in bezug auf das Ätherische. In Realität bedeutet dies aber, daß das, was auch als Unterbewußtes im Kopfe sich abspielt, zuerst in schneller Weise sich zerstreut im Weltenäther. Alles, was auf diese Weise durch den Menschen bewirkt wird, das hat sich ausbildende Gestaltungen im Weltenäther, und von denen ernähren sich die Wesenheiten der dritten

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Hierarchie; so daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie auf der einen Seite dem Menschen in bezug auf seine Kopforganisation helfen, auf der andern Seite wiederum ihre eigene Fortentwickelung haben durch das, was innerhalb dieser Kopforganisation vollzogen wird.

Dadurch, daß der Mensch während seines Erdendaseins in die Erden­entwickelung eingesponnen ist, kommen durch ihn diese Wesenheiten der dritten Hierarchie auch mit dem Erdendasein in Verbindung. Sonst wären diese Wesenheiten der dritten Hierarchie einer Welt an­gehörig, aus der heraus sie mit dem Erdendasein in gar keine Ver­bindung kommen könnten. Aber sie müssen aus dem Erdendasein auf die geschilderte Weise ihre Geistesnahrung ziehen. Der Mensch ist also eingeschaltet in eine durch diese Wesenheiten der dritten Hier­archie vermittelte kosmische Tätigkeit. Diese kosmische Tätigkeit geht gewissermaßen durch sein Wesen hindurch. Diese Wesen der dritten Hierarchie sind unter den höheren Wesenheiten, die unmittel­bar über dem Menschen stehen, die am wenigsten mächtigen. Sie könnten das, was da vom Menschen hinausvibriert in die Welt und ihre Geistnahrung werden mußte, nicht umbilden, wenn es ihrer Natur ganz fremd wäre. Daher ist es auch so, daß in das, was durch die menschliche Hauptesorganisation an menschlicher Wirkung ent­steht, sich möglichst wenig hineinmischt von dem, was der Mensch durch seine andere Wesenheit ist. Unsere Gedanken bleiben logisch, auch dann, wenn der Mensch durch sein Leben viel Böses in bezug auf seine Moralität anhäuft. Die Gedanken bleiben kühl gegenüber der andern menschlichen Wesenheit. Sie bleiben in dem Grade kühl, daß sie eben die erwähnte Nahrung für höhere Wesen werden können.

Wenn alles, was der Mensch in seinen Emotionen hat, auch in diese lebendigen Gedanken übergehen würde, die sich hinter dem Bewußt­sein abspielen, dann würden die Engel, Erzengel und so weiter nicht in der Lage sein, das wiederum aufzunehmen. Es wäre für sie eine unbrauchbare Nahrung. In die gewöhnlichen reflektierten Gedanken spielt es allerdings herauf, ob wir moralische oder unmoralische Wesen sind. Aber, wenn ich jetzt die Sache lokalisierend ausdrücke, was ja nur andeutungsweise sein kann: was sich da in unserem Hinterhaupte hinter dem gewöhnlichen Bewußtsein abspielt, das ist etwas, was sozusagen

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unschuldig bleibt, unberührt von den menschlichen mora­lischen Verirrungen. Diese menschlichen moralischen Verirrungen üben einen Einfluß auf den kosmischen Äther und auf die kosmische Astralität erst aus, insofern das Seelische des Menschen an die Brust-Organisation, an die Atmungsorganisation, an die Blutzirkulations-organisation gebunden ist. Der Kopf ist in gewissem Sinne ein reines Abbild des Kosmos. Und was als ein Abbild der universellen kosmi­schen Tätigkeit während des Erdenlebens hinter dem gewöhnlichen Bewußtsein, wo fortwährend Welten gebildet werden, wo fortwäh­rend Welten sich zerstören, was da vor sich geht, das ist gegenüber der sonstigen menschlichen Natur in einer gewissen Reinheit vorhanden. Aber es ist doch so, daß, wenn man gewissermaßen die Augen um­drehen könnte und sie geistig sehend würden und diese in ihrer Höhle umgedrehten und geistig hellsehend gewordenen Augen in das Innere der menschlichen Schädelhöhle zurückschauen könnten, so würden sie da fortwährend Gestirne aufglänzen sehen, Gestirne, die in Bewegun­gen zueinander sind, eine Fixsternwelt. Es würde sichtbar werden ein ganzer kleiner Kosmos.

In der menschlichen Brustotganisation ist es anders als in der menschlichen Kopforganisation. Da, wo sich die Atmung, wo sich die Blutzirkulation als der rhythmische Mensch abspielen, da spielt zwar auch die Nachbildung aus dem Kosmos herein, aber da haben die irdischen Verhältnisse einen viel größeren Einfluß. Sie verändern das, was als Nachbildung aus dem Kosmos hereinspielt, viel mehr. Wenn unsere Lunge in Tätigkeit ist, so könnten wir das, was im Innern der Lunge vorgeht, als einen Stern, als einen Planeten, als eine Sonnen-und Mondenwelt anschauen, wenn wir uns gewissermaßen umwenden könnten und das, was nur von irdischer Materie ausgekleidet ist, in seinem ätherisch-astralischen Bestande schauen würden. Aber fort­während spielen in dieses innere Dasein die irdischen Verhältnisse herein. Da hat die Erde selbst einen viel größeren Einfluß. Sie müssen bedenken: in die Kopforganisation spielt direkt, unmittelbar für die Gestaltungen, die ich eben beschrieben habe, nur etwas herein, was ebenso fein ist wie das, was die Augen aus der Farbenwelt machen, was aus dem Körper heraus aus der Tonwelt gemacht wird. Das fügt

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sich der kosmischen Tätigkeit ein. Und hineingeschoben wird nur das, was aus dem übrigen Organismus durch die Atemstöße, durch das auch im Gehirn funktionierende Blut bewirkt wird. Das ist eben der ausfüllende Stoff. Der schiebt sich hinein. Aber die Konfiguration, die Plastik, diese innere Plastik, die sich da abspielt, die ist durchaus ein Nachbild des Kosmischen. Da hat die Erde wenig Einfluß.

Die Brustorganisation ist in einer ganz andern Lage. Die Brust­organisation nimmt die Atenaluft auf und verarbeitet sie. Das ist etwas, was in unmittelbarer Umgebung der Erde ist, was nicht in so feiner Weise in den menschlichen Organismus eindringt wie das, was die Augen aus den Farben machen. Die Atemluft ist gröber als das farbige Licht, das in unseren Organismus eindringt. Daher hat die gröbere Atemluft einen viel stärkeren, mehr verändernden Einfluß auf alles, was da an Nachbildung von kosmischen Vorgängen in dem Brust-organismus vorhanden ist. Und gar erst, wenn wir auf die Blutzirku­lation sehen! In die Blutzirkulation spielen hinein alle menschlichen Nahrungsmittel. Die werden zuerst als Nahrungsmittel aufgenommen, durch die Verdauungs- und Ernährungstätigkeit verändert und in das zirkulierende Blut hineingeschickt.

Wenn das Blut bis zum Haupte gelangt, so gelangt es in einem außerordentlich verfeinerten Zustande dahin, in einem Zustande, den alte ahnende Hellseherkunst in richtiger Weise einen phosphorigen Zustand genannt hat. Das ist ein außerordentlich verfeinerter Zu­stand. Da hat die Nachbildung der kosmischen Tätigkeit Gewalt über die Materie, so daß die Materie nicht ihre eigenen Kräfte enifalten kann. Will irgendein Salz, das ins Gehirn hineingeht, seine eigenen Kräfte entfalten, so wird es übertönt, überwuchert von den Rich­tungen, Betätigungen, die die Nachbildung des Kosmos ausübt in der noch dickeren Blutzirkulation, die in den Brustorganen stattfindet. In den Brustorganen hat das, was von dem Menschen hineinkommt, einen viel größeren Einfluß. Da wird das, was den Kosmos nachbildet, in einer viel stärkeren Weise verändert. Und deshalb, wenn man mit geistigem Blick die menschliche Brustorganisation betrachtet, stellt sie sich so dar, wie ich sie skizzenhaft etwa in der folgenden Weise charakterisieren kann (siehe Zeichnung Seite 34).

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#Bild s. 34

Man sieht da, wie in der Einatmung wirklich auch ein Nachbild des Kosmos aufleuchtet. Im Gehirn sieht man tatsächlich einen ganzen spielenden Kosmos. Das ist nur im Schlafleben für das Gehirn unterbrochen. Hier unterbricht zwar das Schlafleben nichts, aber die Sache unterbricht sich fortwährend selber. Mit geisti­gem Blick angeschaut: die Brustorganisation zeigt Sterne, zeigt auch Sternbewegungen, aber gegen rückwärts in Verzerrung und nach vorne ganz undeutlich geworden. Auch in bezug auf seine Brustorganisation ist der Mensch in gewisser Beziehung ein Nachbild des Kosmos, insofern auf unserer Erde Vorgänge sind, die durchaus von dem regelmäßigen Jahres­Monatslauf abhängen. Da kommen die Pflanzen heraus und vergehen wiederum. Da ist Regelmäßigkeit. In den Pflanzenformen leben sich jene Spiralwege aus, die ich beschrieben habe. Da ist mineralische Tendenz, die allerdings über lange Zeiträume verteilt ist, aber auch in einer gewissen Weise in kosmischer Regelmäßigkeit vor sich geht. Da gehen in dem über der Erde befindlichen Luftstrom gewisse Verände­rungen vor sich, die wir zum Beispiel in den Metamorphosen des im Laufe des Jahres eintretenden Witterungswechsels beobachten kön­nen. Aber dahinein fällt alles das, was an Wolkenbildungen unregel­mäßig ist, was tatsächlich sich veränderndes Wetter ist. Dahinein fallen die Launen der Meteorologie. In das Kosmische hinein fallen die Launen der Meteorologie.

So ist in der menschlichen Brust in bezug auf das, was mit dem Rücken zusammengegliedert ist, ein verzerrter Kosmos vorhanden, ein Kosmos, der den Eindruck macht, als ob wir unseren Kosmos, der uns umgibt, einmal in der Nacht nehmen würden, ein Riese auf der einen Seite zerrte, ein anderer Riese auf der andern Seite zerrte, so daß wir statt des gerundeten Kosmos eine in die Länge gezogene Walze bekämen, die in der Mitte etwas verdickt ist. So erscheint vor dem geistigen Blick der Kosmos nach hinten, und nach vorne erscheint er in Verwirrung geraten. Wie das, was über der Erdoberfläche vor sich

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geht, wetterwendisch ist, so erscheint der Kosmos nach vorne in Ver­wirrung geraten. Das Ganze ist so, daß der Kosmos bald aufleuchtet, bald wiederum verschwindet: mit der Einatmung leuchtet er auf, mit der Ausatmung verschwindet er. Geradeso wie der Mensch die physi­schen Vorgänge in sich durch die Atmung bewirkt, so bewirkt das Einatmen das Aufglärzen des verzerrten Kosmos, das Ausatmen wiederum das Verdunkeln des verzerrten Kosmos.

Dieses Aufleuchten und wiederum Verdunkeln des verzerrten Kos­mos suchte der indische Jogi durch seine Jogaübungen nachzuerleben. Und er suchte daraus dann die wirkliche Gestalt der Welt zu er­schließen, indem er das, was er auf diese Weise wahrnahm durch das Beleben des Atmens bis zu einem Wahrnehmungsvermögen dieses innerlichen verzerrten Kosmos, durchdrang mit dem, was er dann durch sein Nachdenken über denselben erkunden konnte. So erleben wir auch als Brustmenschen den Kosmos noch ein zweites Mal, gewissermaßen aber wie in einem Kampfe gegen das Chaos. Und wir erleben den Kosmos noch ein drittes Mal, und zwar so, daß er eigent­lich ganz undeutlich erscheint. So nämlich ist er dem Stoffwechsel-system und dem Gliedmaßensystern des Menschen eingegliedert. Da ist kaum zu erkennen, inwiefern das, was da astralisch und der Ich­Wesenheit nach eingegliedert ist, aus dem Kosmos hervorgegangen ist. Deshalb habe ich während der Vorträge, die ich hier gehalten habe, das, was da eingegliedert ist, «embryonal» nennen müssen, denn es ist eigentlich ein werdender Kosmos. Da ist es so, daß nur dann, wenn der Mensch seine Gliedmaßen in Bewegung bringt, oder wenn der Stoffwechsel tätig ist, dasjenige, was sich wie ein werdender Kosmos ausnimmt, sich ganz ähnlich verhält dem, worin es unter-taucht. Hebe ich ein Bein, so schlägt gewissermaßen das Geistige dieses dritten menschlichen Gliedes in die Beinbewegung und in die inneren Vorgänge, die im Zusammenhang mit der Beinbewegung entstehen, hinein.

Schematisch muß ich dieses Dritte so zeichnen (siebe Zeichnung S.36), daß da gar nichts mehr von einem solchen Kosmos zu sehen ist, wie er ganz deutlich in der menschlichen Kopforganisation vorhanden ist, wie er in der Verzerrung vorhanden ist, in bezug auf das geistige

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Licht abgeschwächt, vernebelt, sowohl in der Armorganisation wie in der Beinorganisation und in der Ernährungsorganisation (rot). Da ist alles eigentlich noch wie in einem Weltennebel. Wir können näm­lich kosmisch die Weltennebel draußen in den Raumesfernen studieren.

#Bild s. 36

Mit geistigem Blick können wir aber auch die Weltennebel im Kleinen, mikrokosmisch studieren, wenn wir den dritten Teil des Menschen betrachten, das Gliedmaßen-Stoffwechselsystem, und wenn wir sehen, wie dieses Nebelgebilde (bläulich) in den Sternen (gelb) so darinnensteckt, wie wenn sie als Lichtschein entstehen wollten, aber dann im Augenblick des Entstehens gleich wieder verglimmen. Wir können sehen, wie das ganz überwältigt wird von dem, was von der Erde ausgeht. Darinnen spielen die chemischen Affinitäten, die chemi­schen Kräfte der Erdenstoffe eine große Rolle.

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Viel wichtiger ist es während des menschlichen Erdendaseins, wie sich die einzelnen Erdenstoffe in ihren chemischen Kräften zueinander verhalten, als wie sich das verhält, was der Mensch aus dem Kosmos mitgebracht hat. Aber dennoch steht der Mensch auch durch diesen Teil seiner Organisation in Beziehung zu geistigen Welten, und zwar steht er durch seine Brustorganisation dadurch zu geistigen Welten in Beziehung, daß erstens in seine Brustorganisation ebenso eine geistige Hierarchie hereinspielt wie bei der Kopforganisation. Bei dem Kopf ist es die dritte Hierarchie; in die Brustorganisation spielt die zweite Hierarchie herein: die Exusiai, Dynamis und Kyriotetes. Diese entwickeln durch den Erdenmenschen eine kosmische Tätigkeit, bei der sie sich dessen bedienen, was in der menschlichen Brustorganisa­tion vor sich geht. Und ihre Tätigkeit ist eine solche, daß sie viel mehr geistig ist als die Tätigkeit der dritten Hierarchie; diese dritte Hier­archie kann daher das, was sich im stofflichen Abbilde ergibt, ertragen. Daher hat man in der menschlichen Kopfbildung wirklich ein stoff­liches Abbild des Kosmos. Hier in der Brustorganisation hat man eine Verzerrung gerade aus dem Grunde, damit der Stoff nicht ein treues Nachbild des Kosmos wird, damit er immer wieder und wiederum zerstört werden, auch aufgelöst werden kann. Die kosmische Bildung wird nicht fertig. Man hat also da Irdisches, das stark hereinspielt, und Kosmisches, das im Menschen nicht fertig wird, was Kosmisches bleibt, so daß den Menschen, insofern er atmet, insofern er eine Zirku­lation hat, eine kosmische Tätigkeit durchdringt, in der webend, schwebend die Wesenheiten der zweiten Hierarchie wirken. Und da-hinein schiebt der Mensch jene lebendige Photographie, von der ich gestern und in den vorhergehenden Vorträgen gesprochen habe, die ein Abbild seiner moralischen geistigen Qualitäten ist.

Indem der Mensch also eine Lunge hat und die Vorgänge der Lunge sich als die Atmungsvorgänge fortsetzen, indem er eine Zirkulation hat und das, was durch die Zirkulation angeschlagen wird, in den Weltenäther, ja sogar in die Weltenastralität hineinvibriert, ist er ein­gesponnen in die Tätigkeit der zweiten Hierarchie. Sein Wesen selber schafft kosmische Wirkungen, und in das, was sich kosmisch durch ihn vollbringt, gliedern sich ein die Wesenheiten der zweiten Hierarchle.

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Aber dahinein schiebt der Mensch immer mehr und mehr, je weitet sein irdischer Lebenslauf geht, das lebendige Abbild seiner moralisch-geistigen Qualitäten, dieses Elementarwesen, von dem ich Ihnen gesagt habe, daß es vom Menschen während seines irdischen Lebenslaufes erzeugt wird. Jede Nacht übrigens schiebt sich dieses Elementarwesen etwas aus dem Menschen heraus, und man kann darin überwiegen sehen die Tätigkeit, die von der zweiten Hierarchie ausgeübt wird. Beim Tagwachen schiebt es sich wiederum in den Menschen zurück, und die wache Tätigkeit durchsetzt es weiter mit den moralisch-geistigen Bewertungen der Menschenqualität.

Mit derjenigen Tätigkeit, die im Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen vor sich geht, hat nun die erste Hierarchie einen Zusammenhang. Den Zusammenhang haben damit in erster Linie Seraphim, Cherubim und Throne. Hier ist der Mensch am meisten physisch, am meisten den physischen Kräften hingegeben. Das Kosmische spielt in ihn nur wie nebelhaft hinein. Aber in dieses, was in ihm nebelhaft als leise kos­mische Tätigkeit vorhanden ist, was durchsetzt ist von einer starken, intensiven Stofftätigkeit im Chemismus, im physikalischen Wirken, in das hinein flammt und wellt und stößt die Tätigkeit der Seraphim, Cherubim und Throne. Denn diese bewältigen durch ihre Geistigkeit das stärkste Stoffliche, und es werden die Wesenheiten dieser Hier­archie sein, welche die irdischen Vorgänge des Chemismus, des Physi­kalischen selbst einmal überführen von der Erdenform in die Jupiter­form, wie ich es in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» be­schrieben habe. Aber in diese Tätigkeit, die sich eigentlich im Kos­mischen abspielt, wird während des Erdenlebens fein eingeschrieben das, was durchzuckt ist von dem Willensteil der Seele, wie ich es in den andern Vorträgen ausgeführt habe, und in dem leise kosmische Vorgänge in losen Zusammensetzungen mit dem eigentlich Irdischen und das Kosmische überwältigende chemische, physikalische Vor­gänge stecken.

Da (siehe Zeichnung S.36), im Gliedmaßen-Stoffwechselsystem, ist die Erde, ich möchte sagen in ihrem vollen Besitze vom Menschen. In diesem Teil überwiegt während des irdischen Lebenslaufes das Irdische das Kosmische. In der Brustorganisation hält das Kosmische

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dem Irdischen die Waage. In der Kopforganisation überwiegt das Kosmische. Dafür kann aber auch die Kopforganisation nur mit der niedersten Art der Wesenheiten der höheren Hierarchien im Zusam­menhang stehen. Da, wo die Erde überwiegt, da arbeiten im Menschen, weil er mehr von der Erde seiner Wesenheit entrissen wird, die stärk­sten geistigen Wesenheiten: Seraphirn, Cherubim und Throne.

Und wenn der Mensch durch die Todespforte geht, wenn der physische Organismus abfällt, wird das, was nur ein nebelhaftes Geistiges ist, aufgenommen in die Tätigkeit der Seraphim, Cherubim, Throne und ihnen allmählich einverwoben. Aber hinuntersinkt in diese Tätigkeit das, was früher im Brustorganismus als das lebendige Abbild des moralisch-geistigen Menschen sich gebildet hat. Dasjenige, was nur, ich möchte sagen, in der Strömung der mittleren Hierarchie war, geht jetzt in die Strömung der ersten Hierarchie ein. Dadurch gewinnt es eine größere Intensität im Zusammenhange des Kosmos; so daß der Mensch in seinem mittleren Gliedteil sein Karma als eine lebendig-elementarische Wesenheit entwickelt. Die wird dann über­nommen von der Strömung der ersten Hierarchie. Und während der Mensch das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durch-lebt, während er, wie ich es Ihnen beschrieben habe, sich seinem kar­mischen Ebenbilde entringt, hinaufgeht in die Welt, wo er tatsächlich an dem geistigen Urbild des physischen Organismus mit höheren Wesen zusammenarbeiten kann, während der Mensch das alles erlebt, was er dann in diesem Abbild beim Zurückgehen wiederfindet, geht noch etwas anderes vor sich. Während der Mensch aus der Seelenwelt in das Geisterland eintritt und dort verweilt, wird jenes lebendige Abbild seines von ihm selbst gemachten Schicksals mittlerweile von den Wesenheiten der höchsten Hierarchie - der Seraphim, Cherubim und Throne -, wiederum zurückgeleitet zu der zweiten Hierarchie und zuletzt der dritten Hierarchie übergeben, den Angeloi, Archangeloi und Archai. Beim Wiederherunterstieg übernimmt der Mensch dieses Abbild, das er bei der ersten Hierarchie zurückgelassen hat, jetzt von der dritten Hierarchie. Tritt er nun wieder in das Leben ein, so wird es einverleibt dem, was sich zwischen der dritten Hierarchie, den Angeloi, Archangeloi und Archai, und seiner Kopforganisation abspielt.

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Alles das, was der Mensch durch seine irdischste Wesenheit erzeugt und nach dem Tode dem Kosmos übergeben hat, was der Mensch dadurch in sich entwickelt hat, daß er eine von der Erde be-herrschte Stofforganisation hat, was er nach dem Tode übergeben muß den Seraphim, Cherubim und Thronen, was er in den Kosmos auf diese Weise einströmen läßt, das emp£ängt er tatsächlich wiederum auf dem Wege, auf dem die Angeloi, Archangeloi und Archai durch seine Kopforganisation in einem neuen Erdenleben arbeiten. Der Mensch übergibt das, was er sich selbst als sein Schicksal bereitet hat, den Seraphim, Cherubim und Thronen und empfängt es wiederum von den Angeloi, Archangeloi und Archai. Die tragen es hinein in diejenige Tätigkeit, die er in einem neuen Erdenleben ausführt. Auf diese Weise wird das in sein neues Erdenschicksal aus der Hand der dritten Hierarchie aufgenommen, was er beim Verlassen des letzten Erdenlebens der ersten Hierarchie überliefert hat.

So sehen Sie, daß man das Weltenail im ganzen nur versteht, wenn man den Zusammenhang, den unsere Sinne hier überschauen und unser Verstand denken kann, hineinstelit in jenen Zusammenhang, der sich dem wirklichen Schauen ergibt. Denn da erscheinen nicht allein wachsende Pflanzen, nicht allein Wasser in Wolkenbildungen, in Strömungen, da erscheinen nicht bloß physische Sterne, da erscheint der ganze Kosmos in seiner lebendigen Wirksamkeit, durchgeistigt von einer Reihe von Hierarchien, die ebenso eine Tätigkeit ausüben, wie es die physische Tätigkeit ist, eine Tätigkeit, die durchwellt und durchwogt diese physische Tätigkeit. Und Ereignisse von der Art spielen sich ab, daß, während der Mensch das Dasein zwischen dem Tode und einer neuen Geburt erlebt, sein Menschenschicksal aus der Hand der Seraphim, Cherubim und Throne übergeht auf die Angeloi, Archangeloi und Archai. Dadurch erhält dann der Mensch das, was er in einem neuen Leben als sein Schicksal zu erleben hat. Was der Mensch der höchsten Hierarchie hinterlassen hat, das empfängt er aus der Hand der dritten Hierarchie wiederum zurück, und zusammen mit der dritten Hierarchie muß er es während seines Erdendaseins durch ausgleichende Taten wiederum in das Weltengleichgewicht bringen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 22. September 1922

Es war in den vorigen Stunden mein Bemühen, den Zusammenhang der physischen und seelischen Menschenwesenheit mit den geistigen Mächten der Welt im einzelnen zu schildern. Ich möchte das Bild, das so entworfen werden konnte, heute dadurch etwas ergänzen, daß ich in einer ähnlichen Weise, wie das für das physische und seelische Da­sein des Menschen geschehen ist, Einzelheiten aus dem geschicht­lichen Leben schildere, Zusammenhänge des geschichtlichen Lebens mit den geistigen Welten.

In unserem materialistischen Zeitalter beschränkt sich die Betrach­tung der Geschichte des Menschengeschlechtes auf die Außenseite. Man sucht einfach zu verzeichnen, was innerhalb der physisch-sinn­lichen Welt spielt, während man keine Aufmerksamkeit darauf wendet, das Hereinspielen der geistigen Welt in das geschichtliche Handeln der Menschheit zu betrachten. Unserem Zeitalter fehlt eigentlich ganz und gar die Möglichkeit, das, was die Menschen im Verlauf der Ge­schichte tun, im Zusammenhange mit den Wesenheiten und Mächten zu betrachten, die hinter dem Dasein des Menschen stehen.

Blicken wir heute einmal in ältere Zeiten der Menschheitsentwicke­lung zurück, zunächst in die Zeiten, die ich in meinem Buche «Die Geheimwissenschaft im Umriß» als das urindische, das urpersische Zeitalter der Menschheit bezeichnet habe. Natürlich ist in diesem Zeitalter Mannigfaltiges von den Menschen getan worden, was wir als den Inhalt von Geschichte bezeichnen. Aber wir müssen uns doch klar darüber sein, daß gerade in jenem Zeitalter die Tatsachen am wenigsten aus dem Bewußtsein der Menschen erfolgten, die dann als die äußerlich geschichtlichen wirkten; denn wir wissen ja, daß gerade in den ältesten Zeiten das Bewußtsein der Menschen von einer Art traumliaften Helisehens durchsetzt und durchzogen war. Den Men­schen erschienen in ihrem Bewußtsein Bilder, in deren Inhalt geistige Wesenheiten hineinspielten, die dann die Menschen anregten, das oder jenes zu tun.

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Nun spielte in der Zeit, von der ich rede, der Vorgang des Ein­atmens eine außerordentlich große Rolle im Menschenleben. Schon daraus, daß der ganze Atemprozeß in jenen älteren Zeiten durch die J ogaübungen zu einem bewußten Prozeß, zu einem Wahrnehmungs-prozeß geworden ist, kann Ihnen hervorgehen, daß in jenen ältesten Zeiten das Atmen eine große Rolle spielte, vor allen Dingen der Ein­atmungsvorgang, mehr als der Ausatmungsvorgang. Wir sind uns in unserem heutigen Zeitalter gar nicht klar darüber, daß außer der groben Stofflichkeit, die wir in der Luft suchen, wenn wir einatmen, noch alle möglichen Stoffe, aber in einer außerordentlich feinen Ver­teilung vorhanden sind. Auch die Stoffe, die wir sonst bei unserem jetzigen Erdendasein in einem festen, mineralischen Zustand auf der Erde antreffen, sind in ganz feiner Weise durch den Luftkreis ver­breitet und der Mensch atmet sie ein. Nur haben diese Stoffe in ihrer sehr feinen Verteilung im Luftkreise die eigentümliche Tendenz, For­men zu bilden. Gewiß, auch innerhalb der Erdensubstanz bilden ja die Stoffe Formen. Wir kennen diese Formen als die Kristalle der Minera­lien. Aber diese Kristalle meine ich jetzt nicht. Ich meine diejenigen Stoffe, die fein verteilt im Luftkreise, wir können auch sagen im Luftäther sind, insofern dieser den Luftkreis durchspielt. Diese Stoffe bilden auch Formen, aber diese Formen sind nicht wie die minera­lischen Formen, sondern sie sind den Formen der menschlichen Organe ähnlich. Das ist eine Eigentümlichkeit des die Luft durchsetzenden Äthers. Wenn wir ihn beobachten können, wie er die Luft durch-spielt und wie er uns für das imaginative Erkenntnisleben erscheinen kann, so nehmen wir wahr, daß in diesem Äther gewissermaßen feine, eben ätherische Gebilde umherfliegen, welche Lungenform, Leber-oder Magenform, jedenfalls die Formen innerer menschlicher Organe haben. Wir können, wenn wir in ätherischer Betrachtung geschult sind, alle menschlichen Formen draußen im Weltenäther beobachten. Nur sind in der Regel diese Organformen im Verhältnis zu den physischen Organen, die wir in uns tragen, riesig groß. Wir sehen mächtige ätherische Leberformen, Lungenformen den Raum, der uns im Kosmos umgibt, durchsetzen.

Was da im Raume draußen gewissermaßen als Formen herumfliegt,

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das atmet der Mensch ein. Und es ist gut, daß er es einatmen kann, denn indem er es einatmet, wirken diese Formen, die mit der Luft gewissermaßen in uns hineinkommen, immer ausbessernd, gesundend auf unsere Organe. Unsere Organe werden im Verlaufe des Lebens immer schlechter und schlechter. Und gewissermaßen werden sie, wenn ich es etwas grob ausdrücken darf, durch das, was da eingeatmet wird, wiederum ausgeflickt. Wir wissen, wie schwierig es der The­rapie ist, menschliche Organe auszuflicken. Aber diese hier gemeinte Therapie muß eigentlich fortwährend auf den Menschen wirken und wirkt auch.

Nun war es in jenen ältesten Zeiten der geschichtlichen Mensch­heitsentwickelung den Menschen möglich, ohne besondere Schulung, durch ihr ursprüngliches traumhaftes Helisehen diese ätherischen For­men und namentlich auch ihre Bedeutung für den Menschen zu schauen; zu erschauen, was das zu bedeuten hat, sagen wir, wenn mit dem fein im Ätherischen aufgelösten pepsinartigen Stoffe die mensch­liche Magenform eingeatmet und von dem menschlichen Magenorgan aufgefangen wird. In solchen Dingen wußte man in alten Zeiten außerordentlich gut Bescheid, und je weiter wir in ältere Zeiten zurückgehen, um so mehr wußte man Bescheid, wie der Mensch zu der feinen Organisation der Umwelt steht.

#Bild s. 43

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Aber dieser ganze Vorgang - daß da in den Menschen die Äther-form mit dem Einatmen hereinkam - war nicht bloß ein automati­scher, war nicht bloß ein solcher, daß der Mensch gewissermaßen die Luft in sich einblasen ließ wie in einen ausgepumpten Luftraum, wenn wir ein Loch in den Rezipienten einer Luftpumpe machen. Es war nicht bloß so, daß der Mensch das einatmete, sondern mit diesem Vorgang, mit diesem gewissermaßen Untertauchen der Welten-formen in den Menschen war verbunden eine Tätigkeit geistiger Wesenheiten. Nehmen wir an, hier wäre solch eine Form (siehe Zeich­nung Seite 43), der Mensch atmet sie ein, sie taucht unter in den Menschen (rot); aber gleichzeitig damit ist eine Tätigkeit geistiger Wesenheiten verbunden.

Nun haben wir in den Vorträgen, die ich zum Teil öffentlich, zum Teil hier in der allerletzten Zeit gehalten habe, eine besondere Art geistiger Wesenheiten in ihrer Bedeutung für den Menschen kennen­gelernt. Es sind diejenigen geistigen Wesenheiten hier gemeint, die ihr physisches Abbild in dem Monde und seinem Leuchten haben. Es sind die geistigen Mondenwesen. Diese geistigen Mondenwesen waren es namentlich in jenen Zeiten, von denen ich jetzt spreche, welche ihre Wege aus dem äußeren kosmischen Kreis durch diese Formen in den Menschen hineinbilden konnten. So daß der Mensch also in jenen alten Zeiten seiner geschichtlichen Entwickelung auf der Erde mit dem Einatmungsprozeß den geistigen Mondenkosmos in sich aufsog und die geistigen Mondenwesen zu einer Tätigkeit in sich anregte. Was ich Ihnen da erzähle, das war der Inhalt einer in den ältesten Mysterien der Menschheit viel studierten Wissenschaft und Weisheit. Denn die Eingeweihten dieser Mysterien wußten, daß die Menschen diesem Vorgange unterliegen, daß sie den geistigen Mondenkosmos in sich einsaugen. Sie wußten aber auch, daß dieses Einsaugen vorzugsweise zur Nachtzeit stattfindet, wenn die Menschen schlafen. Aber dadurch, daß bei allen Menschen in der Urzeit ein traumhaftes Heilsehen, ein Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlafen vorhanden war, konnte man auch darauf rechnen, daß diese geistigen Mondenwesen während gewisser Tageszeiten in die Menschen einzogen. Und die ganze Leitung, welche die Eingeweihten der alten Mysterien für die

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Menschheit leisteten, war darauf berechnet, dasjenige, was diese Mon­denwesen auf dem Wege des Einatmungsprozesses in den Menschen hineintrugen, zu beherrschen, so daß der Mensch befähigt wurde, die Kräfte dieser Mondenwesen, die ja dadurch eigentlich ihre Wege in das Innere des Menschen machten, in seinem eigenen Tun auszunutzen.

Sie müssen sich bewußt sein, ein Unterrichten in einer solch in­tellektuellen Art wie heute, war in jener älteren Zeit nicht vorhanden. Dennoch hatten die Initlierten der Mysterien Mittel und Wege, um die Völker in einer viel intensiveren Weise zu lenken und zu leiten, als das später der Fall war und als es namentlich jetzt der Fall ist. Es war zum Beispiel in den alletältesten Zeiten der Menschheitsentwickelung in den Mysterien durchaus die Kunst ausgebildet, mit diesen Monden­wesen, die der Mensch zur Nachtzeit und während der in seinem Tageswachen regsamen heliseherischen Zwischenzeit einatmete, in den Mysterien zu sprechen und sie anzuregen, etwas ganz Bestimmtes in die Menschheit hineinzubringen. Das war der Weg, durch den in einer großartigen Weise die alten Mysterieninitlierten die Menschen leiten konnten, indem die Mondenwesen auf dem Wege des Ein­atmens ihre Helfer waren. Von den besonderen, außerordentlich ge­heimnisvollen Vorgängen, die in allerlei Zeremoniellem ihr äußeres Gegenbild hatten, von diesen Vorgängen, die in älteren Zeiten ver­wendet wurden, um aus den Mysterienstätten heraus die Menschheit zu leiten, macht sich die Menschheit heute nur sehr ungenügende Begriffe.

Nun aber kam mit der fortschreitenden Entwickelung der Mensch­heit eine andere Zeit. Immer mehr und mehr verdunkelte sich das alte Hellsehen, so daß jene besonderen Vorgänge, die in der eben be­schriebenen Art von den alten Initiierten für den urindischen und urpersischen Zeitraum bewirkt werden konnten, immer schwieriger wurden. Gewiß, bis zum Mysterium von Golgatha hin und ein paar Jahrhunderte darüber hinaus gab es, namentlich in gewissen Gegen­den, noch Überreste des alten Hellsehertums. Aber es war doch sehr abgedämpft, und namentlich wurden die Prozeduren, von denen ich jetzt gesprochen habe, schon im 3. und 2. Jahrtausend vor dem Myste­rium von Golgatha nicht mehr in jener intensiven Weise ausgeführt,

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wie das in den urältesten Zeiten der menschlichen Erdenentwickelung, gleich nach der atlantischen Zeit, der Fall war. Ich möchte sagen, die Eingeweihten der Mysterien kamen immer mehr und mehr in Ver­legenheit, wenn sie die Kraft der Mondenwesen benützen wollten, um die Menschheit zu lenken. Und wenn ich Ihnen verständlich machen soll, was sich zwischen den Eingeweihten der Mysterien und den Mondenwesen abspielte, die in älteren Zeiten zu den geschilderten Vorgängen benutzt worden sind, so möchte ich das so ausdrücken:

Wenn zum Beispiel schon ein Eingeweihter der ägyptisch-chal­däischen Zeit an ein Mondenwesen herantrat und ihm einen Auftrag geben wollte, der dahin ging, nach dem Einziehen dieses Monden­wesens durch das Einatmen dies oder jenes der menschlichen Seele einzuprägen, so sagte gleichsam ein solches Mondenwesen oft zu dem Eingeweihten: Wir haben während der tagwachen Zeit kein Obdach mehr auf der Erde, wir finden nur Obdach noch während der Nacht­zeit. - Während der Nachtzeit aber würde es den Eingeweihten außer­ordentlich bedenklich geschienen haben, auf dem Umwege durch die Mondenwesen auf die Menschen der Erde zu wirken, denn da würden die Menschen gleichsam automatisch behandelt worden sein. Da wäre etwas zustande gekommen, was man in einer gewissen Terminologie durchaus als schwarzmagische Kunst bezeichnet. Das haben natürlich die guten Eingeweihten weit von sich gewiesen; so daß es für sie eine ungeheure Bedeutung hatte, wenn ihnen die Mondenwesen, die ihre Helfer in der Leitung der Menschheit sein sollten, die Erwiderung gaben: Wir haben zur Tageszeit kein Obdach auf der Erde. - Und so standen die Initiierten dieser Mysterien vor der Gefahr, keine Helfer zu haben auf den Wegen, die sie zur Lenkung der Menschheit be­treten hatten.

Aber auf der andern Seite war auch noch nicht da, was dann durch das Christus-Mysterium in die Welt gekommen ist; so daß also eine Zwischenzeit vorhanden war zwischen der uralten Hellseherzeit, in der alles das stattfinden konnte, was ich beschrieben habe, und der Zeit, die dann alles veränderte im geistigen Wirken auf der Erde, der Zeit, die durch das Mysterium von Golgatha inauguriert worden ist. Diese Zwischenzeit können wir ganz besonders studieren an der

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ägyptischen Entwickelung. Es folgt ja auf die urpersische Zeit die ägyptisch-chaldäische Entwickelung. Die Initilerten der chaldäischen Menschheit wußten sich nur sehr wenig zu helfen in bezug auf die Fragen, von denen ich jetzt spreche. Sie waren in einer gewissen Weise außerordentlich ratlos und suchten infolgedessen das, was sie zur Lenkung der Menschheit brauchten, auf einem ziemlich äußeren Wege: durch ihre Sternenweisheit, durch ihre Sterndeutekunst. Denn was die chaldäischen Eingeweihten durch ihre Astrologie erfuhren, das konnte man gerade in jenen älteren Zeiten auf einem ganz andern Wege durch jene Mondenwesen erfahren, die mit dem Einatmen in die Menschenleiber hineinzogen. Jetzt aber sagten eben diese Wesen­heiten, sie finden kein Obdach auf der Erde. Und da ersetzte man das, was sie früher gewissermaßen an innerer Kraft gegeben hatten, durch die Kraft einer äußeren Beobachtung.

In einer ganz andern Weise halfen sich die Initüerten der ägypti­schen Welt. Die Initlierten der ägyptischen Welt suchten nach Mitteln und Wegen, den Mondenwesen auf der Erde Obdach zu geben. Den Wesen also, die eigentlich nach den urewigen Gesetzen der Welten-entwickelung jetzt nicht mehr zu einem Obdach auf der Erde be­stimmt waren, denen versuchten die Initiierten der ägyptischen Myste­rien dieses Obdach zu verschaffen. Und gerade die ägyptischen My­sterienpriester, die ägyptischen Initlierten fanden die Möglichkeit, den luziferisch gestalteten Mondengeistern Obdach zu geben auf der Erde.

Dieses Geheimnis zu lösen, die Mondengeister wiederum zum Her­absteigen auf die Erde zu bewegen, trotzdem eigentlich nach der urewigen Weltenentwickelung ihnen das nicht mehr bestimmt war, ist den ägyptischen Priestern dadurch gelungen, daß sie die Grab-stätten mit Mumien bevölkert haben. Ich habe es in früheren Vor­trägen von andern Gesichtspunkten erörtert. Ich möchte es heute von diesem kosmisch-historischen Gesichtspunkt erörtern. Der mumifi­zierte Leichnam des Menschen wurde das Obdach der luziferisch gestalteten Mondengötter. Was sich in alten Zeiten auf natürliche Art dadurch hat beobachten lassen, daß man einfach mit Menschen zu­sammengekommen ist und ihr Atmen hellseherisch beobachtet hat -was jetzt in diesen natürlichen Vorgängen gar nicht mehr stattfindet,

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was aber durch das alte Einatmen der Menschen überall im sozialen Leben gewissermaßen herumschwirrte und eine Rolle in der Mensch­heit spielte -, das fand einen Ersatz an denjenigen Stätten, wo die Geister, die während der Tageszeit kein Obdach in der Menschheit hatten, die obdachlos auf der Erde hätten herumirren müssen und für das historische Erdengeschehen nicht hätten verwendet werden kön­nen, wo diese Geister gewissermaßen untergebracht wurden in den mumifizierten Menschen, in den Mumien. Denn die Mumien waren die Wohnhäuser der Mondenwesen. Und wenn der ägyptische Ein­geweihte mit vollem Verständnis vor der Mumie stand, dann studierte er an der Mumie, was früher draußen am frischen Leben studiert worden war. Er schaute gewissermaßen auf das hin, was die Monden­götter in den Wohnungen verrichteten, die man ihnen gewährt hatte. Und auf diese Art wurde den Eingeweihten das bewußt, was sie dann durch diese Mondengötter dem historischen Werden der Menschheit auf den mannigfaltigsten Wegen einimpfen konnten.

So paradox das einem heutigen materialistisch gesinnten Menschen erscheint, wahr ist es doch: Will man verstehen, was sich als histo­risches Werden innerhalb der ägyptischen Kulturepoche abgespielt hat, so kann man das nicht anders, als indem man nicht bloß die äußeren geschichtlichen Denkmäler studiert, sondern indem man aus jener ewigen Weltenchronik, die im imaginativen und inspirierten Schauen zu lesen ist, studiert, was jene geistigen Mondenwesenheiten getan haben, denen man nicht äußerliche Monumente errichtet hat und die auch nicht historische Dokumente schriftlich hinterlassen haben. Aber was jene Menschen verrichtet haben, denen die äußer­lichen Monumente errichtet sind, das war von den geistigen Monden­wesenheiten auf einem Umwege inspiriert, durch die Atbeit der Initiierten mit den Mondenwesen, denen man in den Mumien während des Tages auf der Erde Obdach gewährt hatte. Und was in den schriftlichen Urkunden steht, lernt man seinem Ursprung nach nur richtig erkennen, wenn man in der Weltenchronik die Wesenheiten aufsuchen kann, die einem sagen: Während der Zeit des 3., 2., 1. vor-christlichen Jahrtausends konnten wir nur dadurch die Erde bewoh­nen, daß uns die ägyptischen initilerten Priester in den Mumien

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Erdenwohnungen gegeben haben. - Von diesen Mondenwesen kön­nen wir erfahren, woraus die Absichten der geschichtlichen Hand­lungen in jener Zeit entsprungen sind.

Will man also den Menschen seiner wahren Wesenheit nach er­kennen, so muß man zu den Sternen und zu den Hierarchien gehen, wie ich in den letzten zwei Vorträgen hier auseinandergesetzt habe. Will man aber das geschichtliche Werden der Menschheit in richtiger Weise erkennen, dann muß man die geistigen Mächte studieren kön­nen, die in dieses geschichtliche Werden der Menschheit herein-spielen. Dann muß man sich dazu bequemen, den Sinn einer so auf­fälligen Erscheinung, wie es die Mumifizierung des Menschen durch die alten Ägypter ist, zu studieren. Dinge, die oftmals der Menschheit vor der heutigen materialistischen Betrachtungsweise nur wie eine Kuriosität, wie ein Gebrauch erscheinen, lernt man in ihrem inneren Sinn kennen, wenn man sie mit wirklich spiritueller Wissenschaft durchforschen kann. Götterhäuser waren einstens die Mumien. Schon luziferisch gewordene Mondengötter hatten in den Mumien ihre Wohnhäuser.

In der griechisch-römischen Zeit, also im vierten nachatlantischen Zeitraum, wurden die Dinge etwas anders. Da hörte überhaupt jenes Überragende der Einatmung auf. Das Einatmen behielt seine Bedeu­tung, aber es hörte das Überragende des Einatmens auf. Und gewisser­maßen wurden Ein- und Ausatmen für den Menschen gleichbedeu­tende Prozesse, gleichbedeutende Vorgänge. Das ist etwas, worauf die griechischen Initiierten wiederum bei ihrer Arbeit ganz besonders achteten. Und jener wunderbare Gleichgewichtszustand zwischen dem Einatmen und dem Ausatmen, der insbesondere das griechische Volk auszeichnete, der konnte dazu führen, daß gerade die griechische Kunst als vorbildlich in der Weise entstanden ist, wie wir sie in der Geschichte verzeichnet finden.

Die Griechen waren nicht veranlagt, durch die Einatmung die Mondenwesen besonders aufzufangen. Ihnen war es aber eigen, durch ihre Eingeweihten ganz besonders diejenigen Wesen wirksam zu machen, die gewissermaßen ein in der Luft halb Fliegendes, halb Schwimmendes entwickelten und die sich am liebsten in dem Gleichgewichtszustande

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zwischen Ein- und Ausatmen wiegten. Und wenn man in jene alten Zeiten der griechischen Entwickelung zurückgeht, in denen eigentlich das inspiriert worden ist, was dann später schon in einer mehr äußerlichen Form zum Vorschein gekommen ist, wenn man zurückgeht in die Zeiten, die eigentlich doch aus grandios primitiven Formen heraus der griechischen bildenden Kunst, der griechischen tragischen Kunst und auch der griechischen Philosophie den Ursprung gegeben haben, so findet man, wie gerade die griechi­schen Mysterieninitlierten die Gabe hatten, jene Wesenheiten bei ihrer Leitung der Menschheit ganz besonders zu benützen, die sich eben leicht wiegten in dem Gleichgewichtsmaß, das zwischen mensch­lichem Einatmen und Ausatmen herbeigeführt wurde. Und im Grunde genommen lernt man die Kunst des Apollo und die orphische Weis­heit nicht kennen, wenn man nicht weiß, daß beide dadurch ihre besondere Beseelung erhielten, daß ihre Helfer elementar-dämonische Wesen waren, welche sich auf diesem Gleichmaß von Ein- und Aus­atmen bewegten. Die Saiten der Leier des Apollo waren gestimmt aus dem heraus, was man beobachten konnte, wenn diese Wesenheiten auf dem Gleichmaß zwischen menschlichem Einatmen und Ausatmen zwischen der Monden- und Erdensphäre da, ich möchte sagen, auf den Saiten des Kosmos, die durch Ein- und Ausatmung im Gleichmaße gewoben wurden, tanzten. Die Tänze der Luftdämonen waren es, die nachgeahmt wurden bei der Stimmung, die den Saiten der Leier des Apollo und anderem ähnlichen gegeben wurde. Wir müssen eben in die geistige Welt hineinschauen, wenn wir erkunden wollen, was sich in der äußeren geschichtlichen Welt zugetragen hat.

Stellen wir uns doch einmal vor, was ich vor einiger Zeit hier sagen konnte: daß das Skandieren, das Ausbilden des alten Rezitativs, das Ausbilden des Hexameters auf jenem Verhältnis beruht, in dem im rhythmischen Menschen der Atmungsrhythmus und der Blutzirkula­tionsrhythmus stehen. Erinnern Sie sich daran, was ich in einem Kurse drüben im Bau in dieser Beziehung gerade mit Bezug auf die Bildung des Hexameters auseinandergesetzt habe. Das Studium, um zu diesem Hexameter zu kommen, war für die griechischen Eingeweihten ein­mal ein durchaus konkretes Studium.

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Indem wir einatmen, nehmen wir die Schwingungen des Kosmos in uns auf und passen sie unserem inneren Menschen an. Indem wir wieder ausatmen, geben wir dem Atmungsrhythmus etwas mit von dem Vibrieren unseres Pulses in der Blutzirkulation; so daß wir sagen können, in unserem Einatmen pulsiert die äußere Welt herein, in unserem Ausatmen lebt die Pulsation unseres eigenen Blutes nach außen. So daß im ätherischen Leib des Menschen gerade für den griechischen Eingeweihten, der auf diese Dinge hin geschult war, zu beobachten war, wie sich um den Menschen herum im ätherischen und astralischen Leibe kosmischer Rhythmus und Pulsationsrhythmus begegneten, die ineinanderschwebten und auf denen sich die Luft-dämonen wiegten und ihre Tänze ausführten. Das war das Studium, dem Homer oblag, als er insbesondere den Hexameter zur höchsten Blüte entfaltete, denn der ist aus dem Zusammenhange des Menschen mit der Welt herausgeboren.

Manches wird erst klar, wenn man mit künstlerischem Erkenner­blick und erkennendem Künstlerblick die Dinge anschaut, die in der Geschichte erhalten sind. Ich will gar nicht davon sprechen, daß schließlich die materialistische Zeitgesinnung, anstatt eigentlich dar­über nachzudenken, auf welche besondere Art etwas wie die home­rischen Gesänge zustande gekommen sind, sich dadurch hilft, daß sie sagt: Einen Homer hat es überhaupt nicht gegeben. - Es ist im Grunde genommen das Allereinfachste, was man machen kann vom Standpunkte der materialistischen Zeitgesinnung. Den Homer zu be­greifen, das ist für diese materialistische Wissenschaft unmöglich; und was man nicht begreift, das darf eigentlich auch nicht vorhanden sein nach der Gesinnung, die in unserer Zeit so furchtbar eitel und hoflärtig geworden ist. Was man mit seinem Professorenverstand nicht ver­steht, das darf es nicht geben und das gibt es eben nicht. Den Homer kann man nicht verstehen, also gibt es ihn eben nicht. Aber vielleicht wäre etwas anderes besser! Sie finden überall noch das Homer-Porträt in Museen. Nun will ich gar nicht sagen, daß dieser Homer-Kopf besonders gut ist, aber er ist noch so gut, daß, wenn Sie diesen als blind dargestellten Homer anschauen, der trotz seiner Blindheit einen ganz besonderen Augenausdruck hat und der namentlich in einer

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gewissen Weise eine merkwürdige Kopfhaltung verrät, wenn Sie sich hineinversetzen in die Haltung dieses Homer-Kopfes, Sie das Gefühl bekommen: der ist vielleicht ganz freiwillig erblindet - ich rede natür­lich in Bildern dabei -, um durch das Sehen in einem gewissen Lau­schen nicht gestört zu werden. Er lauscht dem, was er da in der Pulsation wahrnimmt, die aus dem Pulse des Kosmos und aus dem Pulse des menschlichen Blutes, des menschlichen Ätherleibes zu­sammenschwingt und auf der die Luftwesen ihre harmonisch-melo­dischen Tänze ausführen. Was er da, wo anders geschwirrt wird, als wenn wir einem Mückenschwarm bei seinem Schwirren zuhören, wo eben der Hexameter zum Beispiel geschwirrt wird, was er da bei diesem Schwirren hört, indem er jetzt nicht gestört wird durch das Sehen, durch das gewöhnliche helle Tageslicht, das verdichtet sich für ihn in der Weise, daß er mit seinen Ohren gewissermaßen zugleich tastet.

Sehen Sie sich auf das hin den Homer-Kopf an! Das ist ein tastendes Hören, das ist ein hörendes Tasten, das ist ein ganz besonderes Leben, das durch diese Gips- oder Marmorform geht. Da ist in diesem das blinde Auge noch von innen gleichsam durchzuckenden Kopfes-wesen etwas ausgespannt, was nicht nur hört, sondern was die Töne tastet und den tastenden Ton aufhält, um überzuführen in das skan­dierende Stimmorgan, was aus dem Kosmos in den Menschen in einer Zeit hereingenommen ist, in der nicht das Einatmen auf der einen Seite und das Ausatmen auf der andern Seite eine hervorragende Rolle spielte, sondern in der das Ineinanderklingen der beiden, des Ein- und Ausatmens, vorhanden war.

Die neugierigste Frage, die in dem Menschen entstehen sollte, wenn er diesen Homer-Kopf anschaut, die müßte eigentlich sein: Wie atmete der? - Dieser Kopf ist ganz unbeirrt vom äußeren Lichte. Dieser Kopf ist ganz hingegeben den Mysterien des Atems: Diese Empfindung gegenüber dem Homer-Kopf, der überall gesehen wer­den kann, wäre klüger, als den alten Homer hinwegzudiskutieren. Die Gründe, um den Homer gelehrt hinwegzudiskutieren, waren so ver­lockend und versucherisch, daß selbst Goethe nicht recht damit fertig wurde. Der erste, der zur Goethe-Zeit den Homer wegdiskutierte, der

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da sagte, daß es gar keinen Homer gegeben habe, war der deutsche Philologe Wolf Aber auch Goethe konnte sich nicht den verlockenden, verführerischen Argumenten dieses Philologen entziehen. Und ob­wohl er eigentlich immer einen Horror davor hatte, daß den Homer der Wolf gefressen haben sollte, so war er auf der andern Seite doch wiederum zum Teil bestürzt durch die ungeheuer gescheiten Dinge, die da vorgebracht worden sind. Was vermag moderne Gescheitheit nicht alles! Die Menschen sind ja wirklich außerordentlich gescheit geworden. Aber gescheit sein heißt noch nicht, etwas von der Welt wissen.

Später hat dann Herman Grimm versucht - allerdings nicht den Homer wieder lebendig zu machen, denn der war von dem Wolf gar nicht gefressen worden, sondern es war nur ein Bild des Homer gefressen worden, ein Bild, das allmählich entstanden war -, später versuchte dann Herman Grimm das Folgende. Er sagte: Kümmern wir uns zunächst gar nicht um den Homer, kümmern wir uns auch nicht um den Wolf, der ihn gefressen hat, sondern sehen wir uns die Ilias an, die Iliade, das Epos Homers. Versuchen wir einmal, dieses Epos Homers zu lesen, aber nicht so, wie es ein Philologe liest, son­dern wie es ein gewöhnlicher Mensch liest. Versuchen wir einmal, den ersten Gesang vorzunehmen und zu sehen, nach welcher Kunst der Eingang gemacht worden ist. Beachten wir dann den Fortgang, die weitere Entwickelung. Gehen wir zum zweiten, zu den folgenden Gesängen über: merkwürdig, wir finden, wie immer wieder eine innere Komposition darinnen ist, wie mit einem wunderbaren inneren Kunstgefühl jeder Gesang ähnlich dem vorigen aufgebaut ist.

Solch eine Betrachtungsweise führte Herman Grimm durch die ganze Ilias hindurch fort. Nun sagte er: Es wäre doch etwas höchst Eigentümliches, wenn es gar keinen Homer gegeben hätte, sondern wenn im Laufe der Zeit einmal einer, dann ein zweiter, dann ein dritter ein Stückchen der Ilias gemacht hätte, die dann später ge­sammelt worden wären. So wird vielleicht auch einstmals nach An­sicht der Philologen der «Faust» entstanden sein, weil man Wider­sprüche darin finden wird. Es stellte sich jedenfalls heraus, daß es eine ganz merkwürdige Geschichte wäre, wenn ein so einheitlich komponiertes

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Werk wie die Ilias aus allen möglichen Fetzen, die da oder dort entstanden sind, zusammengetragen worden wäre.

Es ist eben nötig, daß man in die Geschichte sich auch so vertieft, daß man sich wirklich das Hereinweben und Hereinwirken der geisti­gen Wesenheiten in die unmittelbar geschichtlichen Vorgänge vor die Seele führen kann. Das muß auch anthroposophische Geisteswissen­schaft versuchen, und ich habe es Ihnen heute zunächst für die ältere Zeit bis ins Griechentum hinein zu verwirklichen versucht. Wir wollen dann morgen sehen, wie sich seit dem Mysterium von Golgatha in unserer eigenen geschichtlichen Gegenwart diese geistigen Wesen­heiten in das immer freier und freier werdende Menschenhandeln hinein doch auch wirksam erweisen und wie wir darauf kommen können, was wir selber zu tun haben, wenn es etwa nötig ist, uns in einer ähnlichen Weise zu helfen wie die ägyptischen Eingeweihten, die gewissen Mondenwesen Obdach geben wollten. Vielleicht ist es nötig, daß in unserer Zeit aus einer richtigen Geist-Erkenntnis heraus ein Ähnliches Platz greifen muß.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 23. September 1922

Gestern habe ich von geschichtlichen Zusammenhängen gesprochen, insofern diese die Betrachtung des Menschen in die geistigen Welten führen, und ich habe die beiden älteren Zeiträume der Menschheits­entwickelung von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet. Ich habe darauf hingewiesen, wie die älteren Initiierten versuchten, die Men­schen zu lenken sowohl in religiöser wie auch in sozialer und sonstiger Beziehung, indem sie jene geistigen Wesenheiten als ihre Helfer aus­ersahen, die mit der menschlichen Einatmung zusammenhängen. Und wir haben gesehen, daß diese Wesenheiten ihrerseits wiederum im Kosmos mit dem zusammenhängen, was sich äußerlich im Monden-lichte offenbart, so daß wir etwa davon sprechen können, daß gewisse Mondenwesenheiten in der Zeit, als es notwendig geworden war, näm­lich in der ägyptischen Zeit, als Helfer benutzt worden sind, dem religiösen, dem sozialen Leben des alten Ägyptens und überhaupt den weiteren Gebieten der alten geschichtlichen Entwickelung Richtungen zu geben.

Wir haben dann gesehen, wie im Griechentum die Wesenheiten wichtig werden, die ich gestern elementarische luziferische Wesen­heiten genannt habe und die von den griechischen Eingeweihten, zum Beispiel denen der orphischen Mysterien, als Helfer, namentlich zur Inaugurierung der griechischen Kunst, verwendet wurden. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie man selbst heute noch, wenn man eine etwas tiefere und intimere menschliche Empfindung hat, in dem traditionellen Homer-Kopf sehen kann das Lauschen dieser Menschen-individualität auf das, was ich gestern tastendes Hören, hörendes Tasten genannt habe, und das im wesentlichen ein Lauschen auf geistige Wesenheiten war. Das waren die Luftwesenheiten, welche die Gleichgewichtslage zwischen dem, was durch die menschliche Ein-und Ausatmung geschieht, benützten, um einen Rhythmus zwischen dem Atmen und der Blutzirkulation hervorzurufen, wodurch dann durch jenes wunderbare Zahlenverhältnis, das beim Menschen zwischen

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dem Atmungsrhythmus und dem Pulsrhythmus besteht, so etwas wie der griechische Hexameter sich ergeben hat, wie überhaupt alle griechischen Versmaße, die dadurch sowohl ein Geschöpf des Menschen selber sind als auch ein Geschöpf dessen, was als ein ge­heiranisvoller Rhythmus den ganzen Kosmos durchwellt und durch-vibriert. Ich habe gesagt: Wenn die Griechen von der Leier des Apollo sprechen, so kann man geradezu daran denken, wie die Saiten dieser Apollo-Leier gestimmt waren nach jenen Eindrücken, die man aus dem Wahrnehmen dieses also zusammengesetzten Rhythmus hatte.

Seither ist die Menschheit in eine ganz andere Entwickelung ein­getreten, und ich habe auf die besonderen Eigentümlichkeiten dieser Entwickelung immer wiederum von den verschiedensten Gesichts­punkten aus hingewiesen. Namentlich habe ich darauf hingewiesen, wie seit dem 15. Jahrhundert die Menschheit von dem intellektuellen Elemente ergriffen worden ist, das heute eigentlich alle menschliche Kultur und Zivilisation im weitesten Umfange beherrscht und das in der neueren Entwickelung namentlich dadurch heraufgekommen ist, daß allmählich eine ältere Sprachform, die noch in ihrer ersten Ge­staltung mit dem zusammenhing, was ich als dieses Erlauschen des Rhythmus in der griechisch-römischen Zeit bezeichnen konnte, daß die lateinische Sprache bis tief ins Mittelalter hinein sich fortgesetzt hat und sich ganz und gar umintellektualisiert hat. So daß eigentlich durch die lateinische Sprache vielfach die Erziehung der modernen Menschheit zum modernen Intellektualismus bewirkt worden ist.

Dieser Intellektualismus, der auf Gedanken beruht, die ganz und gar von der Entwickelung des physischen Menschenleibes abhängen, bringt eigentlich die ganze Menschheit in Gefahr, von der geistigen Welt abzufallen. Und man kann schon sagen: Wenn die älteren Reli­gionsbekenntnisse von einem Sündenfall in älterer Form sprechen, der mehr als ein moralischer Sündenfall gemeint ist, so muß man von der Gefahr, in die die neuere Menschheit versetzt ist, als von einem intellektualistischen Sündenfall sprechen. - Denn die heute allgemei­nen Menschheitsgedanken, denen gegenüber die Menschheit das größte Autoritätsgefühl hat, die sogenannten gescheiten Gedanken der mo­dernen Wissenschaft, diese durchaus intellektuallstischen Gebilde sind

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ganz und gar begründet auf den physischen Menschenleib. Man darf eben nicht glauben, daß, wenn der moderne Mensch denkt, er etwas anderes als den physischen Menschenleib zu Hilfe nimmt. Die Ge­danken waren eben in früherer Erdperiode etwas ganz anderes. In früheren Perioden der geschichtlichen Entwickelung kamen die Ge­danken der Menschen zugleich mit gewissen spirituellen Schauungen. Spirituelle Schauungen drangen entweder aus dem Kosmos an den Menschen heran, oder aber sie stiegen aus dem Inneren des Menschen auf. Diese spirituellen Schauungen, sie trugen, ich möchte sagen auf ihren Wogen Gedanken. Das waren geistig gegebene Gedanken, das waren Gedanken, die aus der geistigen Welt dem Menschen geschickt waren, Gedanken, die sich eben dem Menschen offenbarten. Solche Gedanken sind dem Intellektualismus nicht zugänglich.

Wenn man aus der bloßen Logik heraus, nach der ja die moderne Menschheit strebt, sich seine Gedanken selber macht, so ist man da­durch mit seinem Bewußtsein an den physischen Leib gebunden. Nicht, als ob die Gedanken selber aus diesem physischen Leib er-stünden. Das ist natürlich durchaus nicht der Fall, aber die Kräfte, die in diesen Gedanken wirken, werden dem modernen Menschen nicht bewußt. Er lernt die Gedanken gar nicht in ihrer wahren Wesenheit kennen. Alle Gedanken, die der moderne Mensch schon in der Schule empfängt durch das, was ihm als populäre Wissenschaft übermittelt wird, was in der populären Literatur enthalten ist, alle diese Gedanken sind ihrer eigentlichen Substanz nach, dem nach, was in ihnen lebt, dem modernen Menschen unbekannt. Er kennt sie nur als Spiegel­bilder. Der physische Leib ist der Spiegel, und der Mensch lernt nicht erkennen, was in seinen Gedanken eigentlich lebt, sondern er lernt nur das erkennen, was ihm der physische Leib von diesen Gedanken zurückspiegelt. Denn würde der Mensch sich hineinleben in diese Gedanken, dann würde er das vorirdische Dasein wahrnehmen kön­nen. Das kann er nicht. Der moderne Mensch kann das vorirdische Dasein nicht wahrnehmen, weil er gar nicht in der Substanz seiner Gedanken, sondern nur in den Gedankenspiegelbildern lebt. Sie sind keine Realitäten, diese Gedanken.

Und das ist gerade das Gefährliche für die moderne Menschheitsentwickelung,

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daß eigentlich in diesen Gedanken substantiell das Gei­stige, das Spirituelle, das vorirdische Leben ist, daß aber der Mensch nichts davon weiß, sondern nur von den Spiegelbildern weiß. Da­durch fällt etwas, was eigentlich für die geistige Welt bestimmt ist -denn diese Gedanken sind für die geistige Welt bestimmt, sie wurzeln in der geistigen Welt -, im modernen Menschen ab von der geistigen Welt und spiegelt sich am physischen Leib. Und was da gespiegelt wird, das ist nur die äußere Sinneswelt, so daß man wirklich für die moderne Zeit von einem Sündenfall sprechen könnte, der auf in­tellektualistischem, intellektuellem Gebiete sich ergibt. Die große Auf­gabe der Zeit - wir haben das ja oftmals charakterisiert - besteht ge­rade darin, daß wiederum Spiritualität, wirklicher Geist auch für das Bewußtsein des Menschen in die Gedankenwelt einzieht. Der Mensch kann sich nicht, wenn er wirklich mit der modernen Welt leben will, seines Intellektualismus entschlagen; aber er muß den Intellektualis­mus spiritualisieren, er muß wiederum geistige Substanz in seine Gedanken hineinbringen.

Dadurch, daß dies unsere Aufgabe ist, stellen wir uns in einen Gegensatz zu dem, was die Eingeweihten der alten Ägypter tun mußten. Die Eingeweihten der vorägyptischen Zeit drüben in Asien konnten ohne weiteres, weil die Menschen ein altes Hellsehen hatten, jene Zwischenzustände zwischen Schlafen und Wachen, die bei den Menschen zu finden waren, dazu benützen, um die Mondengeister, die in den Einatmungen der Menschen leben konnten, als ihre Helfer zu haben. Aber während der ägyptischen Entwickelungsperiode verloren die Menschen allmählich das alte Hellsehen, und die Initiierten waren dazu gezwungen, ihren Helfern auf der Erde eine Wohnung zu ver­schaffen, weil allmählich diese Mondengeister auf der Erde obdachios geworden sind, wie ich es gestern geschildert habe. Und ich habe Ihnen gesagt, die Wohnungen, welche die ägyptischen Initiierten die­sen Mondengeistern verschafften, das waren die mumifizierten Men­schenkörper, das waren die Mumien. Die Mumien spielen wirklich dadurch eine denkbar größte Rolle während des dritten nachatlanti­schen Zeitraums der geschichtlichen Entwickelung. In den Mumien wohnten jene elementarischen Geister, ohne welche die Initiierten auf

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der Erde in sozialer Beziehung mit den Menschen kaum etwas machen konnten. So daß also das, was in alten Zuständen durchaus möglich war: die in der Einatmung des Menschen lebenden Mondengeister zu Helfern der geistigen Leitung der Erdenentwickelung zu machen, dann ersatzweise, stellvertretend im alten Ägypten durch das bewirkt wurde, was die Elementargeister, die in den Mumien ihre Behausung hatten, bewirkten.

Wir sind heute in der entgegengesetzten Lage. Der Eingeweihte Ägyptens blickte auf eine Vorzeit, für deren Eigentümlichkeiten er einen Ersatz zu schaffen hatte. Wir müssen in die Zukunft blicken, wo wiederum Menschen vorhanden sein werden, welche mit der geistigen Welt leben, Menschen, welche die Impulse ihrer Moralität in ihrem individuellen Charakter tragen, wie ich das in meiner «Philosophie der Freiheit» beschrieben habe, wo ich auseinandergesetzt habe, wie die moralischen Impulse in dem einzelnen Menschen geboren werden und aus dem einzelnen Menschen heraus in die Welt wirken müssen. Das werden sie nur können, wenn die Ausatmung dieser Menschen so gestaltet wird, daß die ausgeatmete Luft die Abbilder dieser Moralität und dieser moralischen Gesinnungen dem äußeren kosmischen Leben einprägt. So wie mit der Einatmung, wie ich es gestern charakterisiert habe, die ätherischen Formen des Kosmos in den Menschen herein­kommen und zur Erhaltung seiner Organe wirken, so muß das, was in dem Menschen selber sich ausbildet, was gewissermaßen als die Form seiner inneren Organe sich loslöst dadurch, daß er ein intellektualisti­sches Leben führt, so muß das sich in die Ausatmung hinein als Impuls prägen, muß mit der Ausatmungsluft in den äußeren Kosmos kommen.

Und wenn einstmals diese Erde in den Weltenraum zerstäuben wird, dann muß ein Leben vorhanden sein, das zuerst im kosmischen Äther sich dadurch gebildet hat, daß die moralischen Impulse der Menschen, die durch moralische Intuitionen, wie Sie wissen, immer mehr und mehr entstehen müssen, durch die Ausatmungsluft ihre Bilder in den Äther hinausgeschickt haben werden. Dann wird sich eine neue Erde, ein Jupiterplanet, wie ich ihn in meiner «Geheimwissenschaft im Um­riß» beschrieben habe, aufbauen aus den verdichteten Formen, welche

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die Menschen in der Zukunft ausatmen werden. So müssen wir auf eine Menschenzukunft hinschauen, in der die Ausatmung eine hervor­ragende Rolle spielt, wo der Mensch seiner Ausatmung das anvertraut, wodurch er eine Zukunft bilden soll.

Man könnte hier ein Evangelien-Wort ergänzen. Ich habe öfter von dem Worte des Christus Jesus gesprochen: «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen. » Ich habe darauf hingewiesen, daß damit gemeint ist, daß eben das, was uns physisch einschließlich der heutigen Sternenwelt umgibt, einmal nicht mehr sein wird, das aber, was spirituell aus den Menschenseelen heraus kommt, an dessen Stelle treten wird und die zukünftige Ver­körperung der Erde, den Jupiterplaneten, finden wird. Man könnte dieses Christus-Wort so ergänzen: Himmel und Erde werden ver­gehen, aber meine Worte werden nicht vergehen -, wenn die Men­schen so durchchristet werden, daß sie das, was Christi Worte in den Menschenseelen als moralische Impulse anregen, der ausgeatmeten Luft anvertrauen werden, die dann die neue Welt erbauen wird aus den dem Menschen entspringenden Formen.

Nun sind ungefähr seit dem 4., 5. nachchristiichen Jahrhundert elementarische geistige Wesenheiten aus andern Welten in die Erden­welt hereingekommen. Diese Wesenheiten waren früher nicht da. Diese Wesenheiten können wir im Gegensatz zu den Mondenwesen­heiten, die in der urindischen und in der urpersischen Zeit eine große Rolle gespielt haben und dann später in den Mumien ihre Wohnsitze aufgeschlagen haben, und im Gegensatz zu den Luftdämonen, welche in der griechischen Zeit eine große Rolle gespielt haben und auf die Homer gelauscht hat, diese Wesenheiten können wir im Gegensatz zu den andern die eigentlichen Erdwesenheiten nennen. Diese Wesen­heiten, die einstmals gerade die größten Helfer des individuellen Menschen mit seinen individuellen moralischen Impulsen sein werden, die Helfer sein werden im Aufbauen eines neuen Erdenplaneten aus den moralischen Impulsen der Menschen heraus, diese Helfer können wir die Erdgeister nennen, elementarische Erdgeister, denn sie hängen mit dem irdischen Leben innig zusammen. Sie erwarten von dem irdischen Leben, daß sie genügend angeregt werden, um ihre Tätigkeit

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in der zukünftigen Verkörperung der Erde zu vollführen. Diese Wesenheiten sind, wie gesagt, seit dem 4., 5. nachchristlichen Jahr­hundert in die Erdenevolution eingetreten, und ich habe es sowohl in den öffendichen Vorträgen als sonst betont, wie sich noch Reste des alten Helisehens, auch nachdem das Mysterium von Golgatha sich abgespielt hatte, erhalten hatten. Da gab es auch noch äußere mensch­liche Verrichtungen, Kultushandlungen und dergleichen, durch welche diese Wesenheiten, die so in die Erdenentwickelung herein-gezogen waren, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, ihr Fortkom­men fanden. Aber es ist die besondere Tendenz dieser Wesenheiten, den Menschen zu helfen, gewissermaßen recht individuell zu werden, wenn der Mensch eine intensive moralische Idee hat, den ganzen Organismus so zu gestalten, daß diese moralische Idee im Menschen zur Temperamentsanlage, zur Charakteranlage, zur Blutsgestaltung werden kann, so daß man gewissermaßen aus seiner Blutsgestaltung heraus seine moralische Idee, seine ganze moralische Qualität ent­nehmen kann.

Bedeutsame Helfer können diese elementarischen Erdwesen gerade für den immer mehr und mehr in die individuelle Freiheit hineinkom­menden Menschen werden. Aber ein großes Hindernis haben diese Wesenheiten, ein ungeheures Hindernis. Man kann wirklich nicht anders, wenn man nicht aus Theorien heraus, die niemals völlig ernst zu nehmen sind, sondern aus der wirklichen Lebenspraxis über die spirituelle Welt redet, als daß man über diese spirituellen Wesenheiten so redet, wie man über Menschen redet, denn sie sind wirklich auf der Erde da, wie Menschen auf der Erde da sind. Man kann also schon sagen: Diese Wesenheiten fühlen sich insbesondere beirrt durch das, was menschliche Vererbung ist. Und wenn der Aberglaube der menschlichen Vererbung ganz besonders intensiv wirkt, dann geht das gegen alle inneren Stimmungen und Tendenzen dieser Wesen, die sehr leidenschaftlich sind. Wie gesagt, Sie müssen diese Paradoxie hinnehmen, denn man muß über diese Wesenheiten reden wie über Menschen. Als Ibsen zum Beispiel auftrat mit seinen «Gespenstern», durch die der Aberglaube der Vererbungstheorie geradezu fixiert worden ist, da wurden diese Wesenheiten einfach wild. Wenn ich mich

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etwas bildlich ausdrücken darf, so möchte ich sagen: Dieser zerzauste Kopf von Ibsen, dieser wüste Bart, dieser sonderbare Blick, dieser verzerrte Mund, das alles rührte von dem Zerzausen her, das diese Wesenheiten mit Ibsen getrieben haben, weil sie ihn nicht leiden konnten, weil er in dieser Beziehung so recht ein moderner Geist war, der an dem Aberglauben der Vererbung festgehalten hat. Sie wissen ja, wenn man diesem Gespensteraberglauben verfallen ist, meint man, man trägt von seinen Eltern, Großeltern und so weiter im Blute Anlagen vererbt, von denen man nicht loskommen kann, man wird ein so und so gearteter Mensch nur durch das, was man an vererbten Anlagen in sich trägt. Was bei Ibsen in einer grotesk poetischen Form, aber noch mit einer gewissen Grandiosität hervorgekommen ist, das geht durch die ganze moderne Wissenschaft. Die leidet wirklich an dem Aberglauben der Vererbung. Was dem modernen Menschen eigen werden muß, das ist eben, daß er loskommt von den vererbten Eigenschaften, daß er nicht an dem Aberglauben festhält, alles komme nur vom Blute, das von den Ahnen herunterfiießt, sondern daß er wirklich zum Gebrauche seiner Individualität kommt, so daß seine moralischen Impulse an ihm als einzelnem Menschen in diesem Erden-leben haften und er schöpferisch, produktiv werden kann durch seine individuellen moralischen Impulse. Dazu dienen diese Wesenheiten und können einmal Helfer werden.

In der heutigen Welt geht es zwar diesen Wesenheiten nicht so, wie es einst den Mondenwesenheiten ging, die obdachlos geworden waren und die deshalb in den Mumien ihre Häuser finden mußten; sondern diesen Wesenheiten, auf die wir als die Hoffnung der Zukunft für die Menschheit hinblicken, geht es so, daß sie zwar unter der Menschheit nicht obdachlos sind, daß sie aber wie verirrte Pilger herumirren und überall Zustände finden, die ihnen nicht angemessen sind. Sie fühlen sich überall zurückgestoßen, am meisten von den Köpfen der Ge­lehrten. Da wollen sie gar nicht auch nur in die Nähe kommen. Es ist für diese Wesenheiten etwas Ungemütliches auf allen Wegen und Stegen, denn der Glaube an die bloße Allmacht der Materie ist ihnen ganz besonders zuwider. Dieser Glaube an die Allmacht der Materie hängt zusammen mit dem intellektualistischen Sündenfall, mit dem,

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daß der Mensch an Gedanken festhalten will, die ja im Grunde ge­nommen nichts sind, weil sie nur Spiegelbilder sind, weil der Mensch ihres substantiellen Inhalts gar nicht bewußt wird.

So wie nun der ägyptische Initiierte nachdenken mußte, wie man jene Wesenheiten unterbringt, die obdachlos geworden sind, so obliegt es uns, Möglichkeiten zu finden, daß diese Wesenheiten, von denen ich eben gesprochen habe, die ganze Erde für sich wirtlich finden, nicht unwirtlich. Das Allerschlimmste, was diesen Wesenheiten be­gegnen kann, das ist der moderne Mechanismus. Dieser moderne Mechanismus ist gewissermaßen eine zweite Erde, aber eine geistlose Erde. In Mineralien, Pflanzen, Tieren lebt das Geistige, im modernen Mechanismus leben nur diese Spiegelgedanken. Dieser moderne Mechanismus ist etwas, was solchen Wesenheiten einen fortwährenden Schmerz bei ihren Wanderungen auf der Erde verursacht, so daß vor allen Dingen die Nachtausatmung der Menschen heute schon in einer vollständig chaotischen Weise vor sich geht.

Diese Wesenheiten, die eigentlich ihre Wege in der ausgeatmeten Luft, in der Kohlensäureluft, die von den Menschen kommt, finden sollten, finden sich überall abgesperrt durch das, was der Intellektua­lismus in der Welt ausrichtet. So sehr das dem modernen Menschen widerstrebt, so sehr er das auch nicht haben will, dagegen gibt es nur ein einziges: das Hinstreben nach einer Vergeistigung dessen, was der Mensch selber in der Außenwelt tut. Aber dazu muß dieser moderne Mensch erst erzogen werden. Es wird ihm schwer werden. Der bloß intelligente Mensch, der moderne Mensch ist ja sehr intelligent, weiß eigentlich nichts, denn die Intelligenz allein verhilft einem nicht zu einem Wissen. Und ein solcher Mensch, der sich umgibt mit seinen Mechanismen, in denen die Spiegelgedanken leben, ist eigentlich in der Gefahr, sich selbst immer mehr und mehr zu verlieren, sich selbst nicht mehr zu haben, von sich selber nicht mehr etwas zu wissen. Er muß erst wiederum mit einer gewissen Substantialität ausgefüllt wer­den. Was dieser moderne intellektualistische Mensch sich erwerben muß, wodurch er sich erziehen muß, das ist innere intellektuelle Moralität. Ich will Ihnen gleich sagen, was ich damit meine.

Heute sind die Menschen furchtbar gescheit, aber in der Gescheitheit

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lebt eigentlich nicht viel Substantielles. Man kann diese furchtbar gescheiten Menschen alles mögliche reden hören, sie tun sich auch auf ihr Reden außerordentlich viel zugute. Die Beispiele liegen ja nahe. Etwas ganz Kurioses zum Beispiel spielt jetzt in der europäischen Literatur eine Rolle, ein Briefwechsel, der im Russischen verfaßt ist, zwischen zwei Menschen, Herschenson und Iwanow. Die Sache wird literarisch so eingekleidet, daß das zwei Menschen sind, die in einem und demselben Zimmer leben. Aber alle beide sind offenbar so überaus gescheit, daß, wenn sie miteinander reden, ihre Gedanken so auf­einanderplatzen, daß der eine dem andern nicht zuhört, weil sie immer gleichzeitig reden. Ich kann mir sonst gar nicht vorstellen, warum sie sich Briefe schreiben, da sie doch immer zusammensitzen, der eine in der einen Ecke, in der Diagonale des quadratförmigen Zimmers, der andere in der andern Ecke. Die schreiben sich also Briefe. In diesen Briefen steht nichts drinnen, absolut nichts. Sie sind sehr lang, und es werden ungeheuer viel Worte gemacht, es steht aber nichts darin. Was darin gesagt wird, ist etwa, daß der eine meint: Ja, wir sind viel zu gescheit geworden. Kunst haben wir, und Religion haben wir, und Wissenschaft haben wir, und das alles haben wir uns angeeignet. Wir sind fürchterlich gescheit geworden.

Wenn man freilich dann die Ausführungen dieses Menschen liest, der sich mit seiner Gescheitheit so schrecklich großtut, dann ist man nur erstaunt darüber, wie dumm der Betreffende ist, trotzdem er eben im modernen Sinne gescheit ist. Er ist eben nach seiner Meinung so furchtbar gescheit geworden, daß er mit seiner Gescheitheit schon gar nichts mehr anfangen kann und daß er sich wieder zurücksehnt in die Zeiten, wo die Menschen noch nichts von religiösen Ideen, noch nichts von Wissenschaft, noch nichts von Kunst und so weiter gehabt haben und also in ganz primitiver Weise lebten. Und der andere, der kann nicht mitgehen. Aber er findet, es muß das alles, was da als ein solcher Brei der Kultür sich weiterentwickelt, gewisse weiter zu­grunde liegende Ideen aufweisen, damit es doch auf etwas hinaus-komme. Kurz, die beiden Menschen reden eigentlich über nichts, über gar nichts, machen aber viele Worte und sind ungeheuer gescheit. Das ist nur ein solches Beispiel. Es gibt sehr viele solcher Beispiele.

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Man könnte sagen: Endlich ist der Intellektualismus so weit ge­kommen, daß in dieser Weise diskutiert wird. Es ist ungefähr so, wie wenn einer auf einem Acker Hafer bauen will und nun mit einem andern darüber diskutiert, ob man Hafer bauen soll. Keinem fällt es nämlich heute ein, daß er selber in der Kultur und Zivilisation etwas bauen sollte, sondern ein jeder kritisiert nur, was da geworden ist und nicht hat werden sollen und nun anders sein soll nach seiner Idee. Nun fangen sie an, zu diskutieren: Soll man da Hafer bauen? Da ist früher einmal Korn gebaut worden. Soll man auf einem Acker, auf dem früher einmal Korn gebaut wurde, nun Hafer bauen, oder ist der Acker dadurch verdorben, daß einmal Korn darauf gebaut worden ist? Ist nicht der Gedanke, daß man Hafer bauen soll, belastet dadurch, daß früher einmal da Menschen gewohnt haben, die gewußt haben, daß man da Korn gebaut hatte? Und andererseits sind doch wiederum diese Menschen andern als sehr nette Menschen vorgekommen; soll man nun nicht auch berücksichtigen, daß das sehr nette Menschen waren?

So ungefähr verläuft es, weil keiner weiß, daß er den Hafer nun bauen soll. Mag unsere Kultur wert sein, daß man zu Adam wiederum zurückgeht oder das Erdenende herbeisehnt - derjenige, der in sich etwas hat, um es in diese Kultur hineinzubauen, der setze sich nicht hin und schreibe seinem Nachbarn Briefe in der Weise, wie dieser Brief­wechsel geschrieben worden ist! Es ist eines der faulsten Produkte des modernen Geisteslebens. Es ist das richtig symptomatisch für das Durchfaultsein des modernen Geisteslebens.

Diese Dinge müssen mit klarem Auge angeschaut werden. Men­schen, die im Leben darinnenstehen, könnten oftmals recht viel tun; sie müssen aber das tun, was in die betreffende Lebenssituation hinein-gehört. Es gibt nun natürlich unzählige Möglichkeiten, um dreiviertel zwölf Uhr am 23. September 1922 dies oder jenes zu tun, aber jeder einzelne Mensch muß das tun, was die Situation von ihm fordert. Diese Tatsache muß sich auch in das Gedankenleben der Menschen hineinleben. Man muß lernen, daß man sich gewisse Gedanken ver­bieten muß, daß man gewisse Gedanken haben darf. So wie man auch sonst etwas tun und etwas lassen muß, so muß man sich klar sein darüber, daß man sich nicht jeden Gedanken gestatten darf.

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Solch eine Anschauung würde manches in unserem Leben ändern. Zeitungen könnten fast gar nicht mehr im modernen Stil geschrieben werden, wenn so etwas allgemeine Erziehung würde, denn diejenigen, die es etwas strenge mit sich nehmen, würden sich alle die Gedanken verbieten, die da geschrieben werden. Aber so wie in dem Handeln der Menschen durch die reale Welt notwendigerweise Moralität liegen muß, so muß auch in das Gedankenleben der Menschen Moralität einziehen.

Heute hören Sie von jedem: Das ist mein Standpunkt, das denke ich. - Ja, vielleicht ist es gar nicht notwendig, daß er das denkt und daß er diesen Standpunkt einnimmt. Aber im Denken moralisieren die Menschen noch nicht. Sie müssen es lernen. Dann wird nicht ein so wüster Strom von Pseudogedanken auf das Papier fließen wie in dem genannten Briefwechsel. All das hängt eben damit zusammen, daß der Intellektualismus die Menschen vom wirklichen Geiste, vom Verständnis des wirklichen Geistigen ganz abgebracht hat. Dafür gibt es gerade in der Gegenwart ein sehr schönes Beispiel. Und ich will Ihnen dieses Beispiel erzählen, bevor ich weitergehe in diesen Aus­einandersetzungen, die ich dann morgen weiterführen werde.

Es gibt einen Benediktinermönch, Alois Mager. Dieser Benediktiner Mager hat vor kurzem ein recht gutes Büchelchen über den «Wandel in Gottes Gegenwart» geschrieben. Aber dieses Büchelchen beweist nur, daß der Benediktinerorden einmal eine großartige Institution war, unmittelbar nachdem Benedikt ihn begründet hat. Denn was unmittel­bar aus der Ordensregel des Benedikt fließt, das wirkt auch noch in dem Büchelchen dieses Benediktinermönches Mager. Man kann einen gewissen Respekt bekommen vor diesem Büchelchen, und es ist jeden­falls eine Lektüre, die gegenüber manchem, was heute an Schund existiert, manchem empfohlen werden könnte. Nun aber muß man sagen: Das, was von dem Benediktinermönch ausgeht, ist allerdings noch die beste Literatur, die von dieser Seite kommt, aber es ist natür­lich eine ganz und gar veraltete Literatur.

Dieser Mager hat sich nun aber auch bemüßigt gefunden, über Anthroposophie zu sprechen. Über Anthroposophie sprechen ja heute alle möglichen Leute von den mannigfaltigsten Standpunkten aus.

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Verbieten können sie sich das selber nicht in ihrem Denken, weil sie nicht wissen, daß sie nicht das geringste Verständnis dafür haben. Aber eigentlich gehört auch das, was Mager über die Anthroposophie schreibt, nicht einmal zu dem Schlechtesten. Wir müssen es uns näher betrachten, denn es ist charakteristisch für den Intellektualismus unserer Zeit. Mager sagt: Der Anthroposoph möchte seine mensch­lichen Erkenntnisfähigkeiten so entwickeln, daß sie das Geistige wirk­lich anschauen können. - Gewiß, das möchte Anthroposophie und kann es auch. Alois Mager findet nun: Das wäre etwas außerordent­lich Gutes, wenn die Menschen wirklich zur Anschauung der geistigen Welt kommen könnten. Aber sie können es eben nicht - meint er -, es geht eben nicht. Er ist sogar der Ansicht, daß es prinzipiell nicht unmöglich ist, aber daß eben die Menschen im allgemeinen nicht dazu kommen können, die geistige Welt wirklich anzuschauen. Und daß er nicht prinzipiell dagegen ist, das zeigt der Umstand, daß er sagt: Zwei Menschen sind einmal in der Lage gewesen, wirklich ihre menschlichen Erkenntnisfähigkeiten so zu entwickeln, daß sie in die geistige Welt hineinschauen konnten. Und diese zwei Menschen sind nach seiner Ansicht Buddha und Plotin.

Es ist ganz merkwürdig, daß ein katholischer Benediktinermönch die Ansicht hat, die zwei einzigen Menschen, welche wirklich in die geistige Welt hineinschauen konnten, seien Buddha und Plotin ge­wesen: Plotin, den die katholische Kirche selbstverständlich als einen Phantasten und Ketzer anschaut, und Buddha, der ja zu denen gehört, die man im Mittelalter abschwören mußte; unter den drei größten abzuschwörenden Wesenheiten war Buddha die eine. Aber von diesen beiden sagte nun Alois Mager: Die konnten noch ihre Seelen dahin bringen, in die geistige Welt hineinzuschauen. - Er gebraucht sogar einen merkwürdigen Vergleich, ein merkwürdiges Bild, das einen an die Denkgewohnheiten der modernen Menschheit, nämlich an die militaristischen Denkgewohnheiten erinnert. Er vergleicht nämlich die geistige Welt mit einer Stadt, und diejenigen, die an diese geistige Welt herankommen wollen, vergleicht er mit Soldaten, die diese Gottes stadt, diese geistige Welt also, erstürmen wollen. Nun sagt er:

Es ist, als hätte sich ein Heer zum Erstürmen einer Stadt gerüstet,

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aber nur ein paar der kühnsten Soldaten erstiegen die Zinnen der Mauer. Damit bricht der Angriff in sich zusammen.

Von diesem Zusammenbrechen eines Angriffes haben wir während des Weltkrieges immer wieder und wiederum in den Telegrammen gelesen. So lesen wir heute in den Auseinandersetzungen eines Bene­diktinermönches, wie die Geist-Erkenner Soldaten sind, die die Stadt des geistigen Lebens erstürmen wollen, wie aber der Angriff in sich zusammenbricht, mit Ausnahme dessen, was die beiden kühnen Sol­daten, der Plotin und der Buddha, einmal ausgeführt haben.

Und so sehen Sie, daß der Mann nicht in der Lage ist, auch nur irgendwie zuzugeben, daß man an die geistige Welt herankommen könne. Er kann es nicht aus seinem Intellektualismus heraus. Man wundert sich nur, daß er gar keiner christlichen Persönlichkeit die Möglichkeit zugesteht, mit der wirklichen Erkenntnis in die Gottes-nähe zu kommen. Aber er ist in dieser Beziehung ehrlich. Daher würde er selbstverständlich auch so etwas wie meine «Philosophie der Frei­heit» ganz ablehnen müssen, denn die will das, was im menschlichen Individuum selber entspringen kann, als moralische Impulse geltend machen. Aber er findet, so etwas kann es überhaupt nicht geben, denn wenn der Mensch nur sich selbst überlassen ist, dann kommt nichts Geistiges aus dem Menschen heraus. Daher sagt er, daß das private und öffentliche Leben nach und nach ganz nach den Vorschriften des Evangeliums eingerichtet sein muß. Also ohne daß man irgendwie einsieht, warum das Evangelium so oder so spricht, soll einfach nach den Vorschriften des Evangeliums, die man mit menschlichen Er­kenntniskräften nicht verstehen kann, das private und öffentliche Leben eingerichtet werden!

Man braucht sich nicht zu wundern, wenn aus dem Intellektualis­mus der Gegenwart heraus eine solche Anschauung sich in der Weise geltend macht, daß der Mann dann dazu kommt, zu sagen: Meine innerste wissenschaftliche Überzeugung ist es, daß die Anthroposophie Steiners nicht anders charakterisiert werden kann, denn als eine ge­schickte Systematisierung von Halluzinationen zu einem Weltbilde, als eine Materialisierung des Geistigen.

Man kann sich gar nicht vorstellen, wie grotesk kurios das ist, was

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solch ein Mann schreibt, der an sich ehrlich ist, der eigentlich nicht einmal einer der unbedeutendsten Menschen der Gegenwart ist. Ich habe, um ihn in rechter Weise zu charakterisieren, Sie darauf aufmerk­sam gemacht, daß er vor ganz kurzer Zeit ein gutes Büchelchen ge­schrieben hat. Das andere ist nun sein neuestes Elaborat, diese Be­urteilung der Anthroposophie. Nun nehme man einmal diesen Satz:

«Meine innerste wissenschaftliche Überzeugung ist es, daß die Anthro­posophie Steiners nicht anders charakterisiert werden kann, denn als die geschickte Systematisierung von Halluzinationen zu einem Welt­bild. » Auf eine Materialisierung des Geistigen laufe letzten Endes auch die Wiederverkörperungslehre hinaus. - Nun möchte ich sagen: Herr Pater, stellen wir uns einmal vor, Sie nehmen es ernst mit Ihren Gottes- und Geistesvorstellungen. Dann müssen Sie das Geistige irgendwohin versetzen, wenn Sie sich zum Geistigen erheben. Sie geben zwar nicht zu, daß der Mensch das mit seinen Erkenntniskräften kann. Ich weiß aber nicht, warum Sie dann Pater sind und dem Geisti­gen Ihren ganzen Lebensdienst widmen wollen. Wenn Sie überhaupt von Geistigem reden wollen, dann ist doch dieses Geistige das, was das Materielle hervorbringt. Erlangt nun jemand eine Erkenntnis des Geistigen, wie ist dann diese Erkenntnis des Geistigen? Wer bloß an einer Erkenntnis des Materiellen hängt, nun, der hat ja das Materielle vor sich, und das Geistige ist dann so, daß es eben bloße Gedanken sind. Wer sich zum Geistigen wendet, der lebt ganz offenbar in der Intensität, in der Realität des Geistigen. Darinnen sind dann die Dinge, die man mit Augen schauen kann, nur als Andeutungen.

Das kommt dem Herrn Pater vor wie Halluzinationen. Deshalb nennt er das Ganze eine Systematisierung von Halluzinationen. Es ist ja sehr begreiflich, daß es ihm so vorkommen muß, weil man nicht, wenn man vom Geistigen redet, zugleich von einem materiellen Tisch reden kann, denn den sehen die Augen, den greifen die Hände an. Der ist da im Geistigen nur so darinnen wie eine Andeutung. Also kommt es dem Herrn Pater wie eine Halluzination vor. Aber nun gehen wir weiter; man muß zu ihm sagen: Herr Pater, bedenken Sie doch nur, Sie widmen Ihren Dienst dem Geistigen, geben also doch wohl zu, daß im Geistigen der Schöpfer des Materiellen lebt. Was ist

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denn dann die Welt nach Ihrer Ansicht? Die Materialisierung des Geistigen. Wenn er sie also wirklich erkennt, die Welt, was muß er denn erkennen? Die Materialisierung des Geistigen! Ja, aber Herr Pater, Sie tadeln das an der Anthroposophie, lehnen ihr Weltbild ab als eine Materialisierung des Geistigen - woran Sie eigentlich doch glauben müssen als eine Tatsache der Welt: daß sich aus dem Geiste heraus durch Materialisierung diese Welt gebildet hat. Das sucht die Anthroposophie zu durchdringen. Sie tadeln es am allermeisten, weil die Anthroposophie endlich Ernst macht mit dem, womit Sie selber Ernst machen sollten und womit Sie nicht Ernst machen wollen. Des­halb tadeln Sie Anthroposophie. Nach Ihrer Ansicht muß doch Ihr Gott, an den Sie glauben, einmal mit einer Materialisierung des Geistigen Ernst gemacht haben, sonst wäre doch niemals durch diese Schöpfung eine Welt entstanden. Glauben Sie denn an Ihre Religion selber im Ernste, wenn Sie an der Anthroposophie gerade das tadeln, daß sie zu begreifen sucht, wie das Geistige materialisiert werden kann, wie es allmählich zum Materiellen werden kann?

Denken Sie, in welchen Abgrund man hineinblickt, wenn man einen doch ziemlich gescheiten Menschen der Gegenwart, der außerdem ganz gut denken gelernt hat, wenn man einen Mann vor sich hat, der vorher ein gutes Büchelchen geschrieben hat, und nun sieht, wie der an Anthroposophie herangeht! Überlegen Sie sich das einmal, was in einer solchen Beurteilung eigentlich versteckt liegt, und Sie werden sehen, was der Intellektualismus auch derer, die sich heute irgend­einem spirituellen Dienst widmen, für Blüten getrieben hat, und wie man über diesen Intellektualismus hinauskommen muß - in einer andern Weise natürlich, als die ägyptischen Priester über die spirituelle Unmöglichkeit, die in ihrem Zeitalter eingetreten war, hinausgekom­men sind. Welche historischen Mächte es sind, an die sich gerade der Intellektualismus wenden muß, das wollen wir dann morgen weiter besprechen.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 24. September 1922

Ein ägyptischer Weiser sprach zu einem griechischen Weisen einmal Worte, etwa dahingehend: Ihr Griechen seid eigentlich ein Volk, das ohne Geschichte nur in der Gegenwart lebt. Ihr sprecht von dem, was sich unmittelbar um euch herum zuträgt, und macht euch keine Ge­danken über die Art und Weise, wie sich das seit uralten Zeiten ge­staltet und gebildet hat, was in der Gegenwart vorhanden ist.

Was meinte jener ägyptische Weise eigentlich? Er wollte sagen, daß die Ägypter sich Gedanken machten über kosmische Probleme im Großen, über die Entwickelung der Erde durch verschiedene Formen hindurch, und er meinte, daß die Griechen über diese Dinge höchstens in Mythen und Sagen ausgesprochene Bilder haben. Aber eigentlich wollte der Ägypter gerade hindeuten auf das, was aus dem Gebrauche des mumifizierten Menschen hervorging, wie ich das in den beiden vorangehenden Auseinandersetzungen klarzulegen versuchte. Die Ägypter hielten darauf, in ihren Einatmungsrhythmus dasjenige her­einzubekommen, was ihnen dadurch werden konnte, daß sie eben sich den Behausungen gewisser geistiger Wesenheiten gegenüberstellten, denen sie in den Mumien Gestalt zu geben in der Lage waren. Wir müs­sen uns einmal ein möglichst sprechendes Bild machen von dem, was in der Blütezeit der ägyptischen Einweihungskultur die Mumie bedeutete.

Die Mumie war der Mensch in seiner Form, in seiner Gestaltung, nachdem das Geistig-Seelische von dieser Gestaltung, von dieser Form weggenommen war. Während der Mensch lebt, ist das, was in seinem ätherischen Organismus, in seinem astralischen Organismus, in seiner Ich-Wesenheit tätig ist, wirksam in der Form. Die Form wird durchleuchtet von dem, was aus dem Blute und der übrigen Organisation heraus die Form als die Menschenfarbe durchdringt. An der Mumie hatte man die bloße Form, die nur durch den Men­schen auf der Erde da sein kann, die nicht entstehen könnte, wenn der Mensch nicht auf der Erde wäre. Ohne daß unmittelbar das Seelische und Geistige dabei war, brauchte der ägyptische Eingeweihte diese

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Form, um etwas haben zu können, was er, wenn er nicht zur Mumien­kultur geschritten wäre, nicht hätte haben können.

Wir müssen versuchen, uns von diesen Zeiten, die in ganz andern Seelenverfassungen als den heutigen lebten, ein Bild zu machen, das allerdings unserem heutigen Weltbilde sehr unähnlich ist. Wir müssen uns klar darüber sein, daß alles, was bis zur ägyptischen Zeit der Mensch innerlich an Ideen, an Gedanken hatte, was er innerlich im Seelischen erlebte, ihm unmittelbar aus der geistigen Welt gegeben war, daß er also in Offenbarungen der geistigen Welt lebte, auch wenn er sich seinen Gedanken hingab. In der Zeit der urindischen und der urpersischen Kultur hatte der Mensch eben nur solche, ihm vom Geistigen aus geoffenbarte Gedanken. An der äußeren Welt, an Pflan­zen, Tieren, Mineralien machte sich der Mensch keine Gedanken. Er hatte sein Seelenleben voll ausgefüllt mit den aus dem Geistigen heraus kommenden Gedanken; die klärten ihn hinlänglich über die Welt auf. Er lebte mit den Pflanzen, mit den Tieren, er gab ihnen auch Namen. Aber auch diese Namen empfand er so, daß sie ihm von den Göttern geoffenbart waren. Wenn in der urindischen, in der urpersl­schen Kultur ein Mensch einer Blume einen Namen gab, so hatte das für ihn die Bedeutung, daß ihm eine göttliche Stimme gesagt hatte, so daß er es deutlich vernahm: so solle er zu der Blume sagen. Wenn er einem Tiere den Namen gab, dann hatte er das Bewußtsein, in seinem Innern zu hören: so solle er zu dem Tiere sagen. Alle Namen für das, was er bezeichnete, kamen den Angehörigen der urindischen, der urpersischen Zivilisation von innen heraus.

In der ägyptischen Zivilisation wurde es anders. Da kamen die inneren Erlebnisse immer mehr in die Dämmerung. Der Mensch konnte nicht mehr so deutlich überschauen, was sich ihm da aus der geistigen Welt offenbarte. Daher fühlte er immer mehr die Not­wendigkeit, mit der äußeren Natur, mit dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreich zu leben; aber das konnte er auch noch nicht, denn die Zeit war noch nicht gekommen. Diese Zeit kam eigentlich erst nach dem Mysterium von Golgatha. Der Mensch war nicht so weit, daß er mit der Außenwelt hätte leben können. Dadurch war er genötigt, den Menschen zu mumifizieren. Denn aus dem, was jetzt in dem nicht

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mehr beseelten Menschen wohnte, aus dem gerade konnte er Auf­schlüsse gewinnen über die ihn umgebende Natur, über Pflanzen, Tiere, Mineralien. Die ersten Kenntnisse über Pflanzen, Tiere, Mine­ralien sind dem Menschen dadurch geworden, daß jene Geistwesen aus den Mumien zu ihnen sprachen, denen er auf der Erde durch die Mumien Wohnsitze verschafft hatte. Man möchte sagen, in der Zeit, als aus den übersinnlichen Welten die Götter immer mehr aufhörten für die Menschen zu reden, nahm der Mensch seine Zuflucht zu den Helfern, die nun auf der Erde dadurch leben konnten, daß der Mensch die Menschenform konservierte durch die Mumien. Der Vorgang war eigentlich ein ziemlich komplizierter. Für die Eingeweihten wäre es wohl möglich gewesen, unmittelbar durch jene mondgeistigen Wesen­heiten, die in den Mumien wohnten, Aufschlüsse darüber zu be­kommen, was im Menschenleben vor sich gehen sollte, Direktions­linien zum Lenken und Leiten und Erziehen der Menschen zu er­halten. Aber nicht ohne weiteres wäre es auch für die Eingeweihten möglich gewesen - denn dazu waren zunächst keine Fähigkeiten in den menschlichen Seelen vorhanden -, durch die die Mumien be­wohnenden Wesen Aufschlüsse über die Natur zu bekommen, über das Pflanzen-, Tier- und Mineralreich. Und dennoch, gerade darin waren die Ägypter groß. Sie haben zum Beispiel schon eine wunder­bare Medizin gerade mit Hilfe der Mumienkultur begründet.

Natürlich, wenn ein heutiger gescheiter Mensch diese Dinge aus­legt, so sagt er: Die Ägypter haben die Mumien konserviert, dabei haben sie die verschiedenen Organe kennengelernt, die sie konserviert haben, und dadurch eine Anatomie begründet, nicht bloß eine Me­dizin. - Aber das ist bloß eine Scheinansicht, das ist keine wahre Ansicht. Die Wahrheit ist, daß in der damaligen Zeit durch solche logische Erwägungen, durch solche reine Beobachtungsforschungen den Ägyptern gar nicht gedient gewesen wäre; denn in dieser Weise verkehrten sie überhaupt nicht mit der Außenwelt. Ihr Verkehr mit der Außenwelt war ein viel feinerer. Aber eines ist dadurch bewirkt worden, daß in einer so sorgfältigen Weise die Mumienform erhalten wurde: die Seelen der Menschen, die gestorben waren, sind eine Zeit­lang an ihre Mumie gefesselt worden.

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Das ist das Bedenkliche der ägyptischen Kultur, was uns immer dar­auf hinweisen muß, daß diese ägyptische Kultur eigentlich doch eine absteigende war, eine Dekadenzkultur, von der man nicht als von einer Blütekultur innerhalb der Gesamtmenschheit sprechen darf, denn sie griff auch in die übersinnlichen Schicksale der Menschen ein. Sie fesselte in einer gewissen Weise die Menschenseelen nach dem Tode an ihre konservierte Form, an die Mumie. Und während man durch die die Mumie bewohnenden geistigen Wesenheiten über Direk­tionslinien für die Menschheit Aufschluß gewann, konnte man über die Natur, über das Tier-, Pflanzen- und Minerakeich, solche Auf­schlüsse nicht unmittelbar gewinnen, wohl aber mittelbar dadurch, daß diese mondgeistigen Wesenheiten den Menschenseelen, die sich noch bei den Mumien aufhielten, wiederum die Naturgeheimnisse mitteilten. Und von diesen noch bei den Mumien verweilenden Menschenseelen bekamen dann wiederum die Initiierten Ägyptens Aufschlüsse über das Tier-, Pflanzen- und Mineralreich. So war also innerhalb der ägyptischen Kultur eine merkwürdige Stimmung da. Die ägyptischen Eingeweihten sagten sich: Unsere Menschenleiber sind bis zum Tode nicht geeignet, Aufschlüsse über die Natur zu be­kommen. Eine Naturwissenschaft können wir nicht erringen, dazu sind unsere Leiber noch nicht geeignet, das wird erst später, nach dem Mysterium von Golgatha möglich sein. Aber wir müssen doch einen Aufschluß gewinnen. So wie unsere jetzigen Leiber sind, so werden die Menschen erst nach dem Tode geeignet sein, etwas über die Natur zu wissen. Sie leben hier zwar in der Natur, aber sie können ihren Leib noch nicht gebrauchen, um sich Begriffe über die Natur zu machen. Erst nach dem Tode gehen ihnen diese Begriffe über die Natur auf. Daher halten wir die Toten eine Weile fest, daß sie uns Aufschlüsse über die Natur geben. - Es trat also im Grunde genom­men etwas recht Bedenkliches in die geschichtliche Entwickelung der Menschheit gerade durch die ägyptische Kultur ein. Die chaldäische hielt sich in dieser Zeit fern und ist, man möchte sagen, eine reinere Kultur.

Das alles, was ich Ihnen jetzt auseinandergesetzt habe - was natur­lich für die heutige Wissenschaft eine Phantasterei ist, aber vieles

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Wahre ist eben für die heutige Wissenschaft eine Phantasterei -, das wußten vor allen Dingen die Angehörigen des hebräischen Altertums. Daher jene Abneigung, jene Aversion, die Sie im Alten Testament gegen das Ägyptertum finden, obwohl wiederum auf dem Umwege durch Moses sehr vieles Ä gyptisches in das Alte Testament herein­gekommen ist. Sie können aus dem Alten Testament ablesen, wie die Stimmung war gegenüber allem, was ich Ihnen eben als das Wesen der historischen Entwickelung Ägyptens darstellen mußte. Und so war in dem alten Ägypten eben die Stimmung: Wir müssen äußere Mittel schaffen, da wir innere nicht mehr haben, um die die Menschen regierenden und erziehenden Kräfte zu bekommen. Wir müssen aber auch etwas vorausnehmen, was in der Zukunft erst kommen soll, eine Naturwissenschaft. Das können wir nicht anders, als daß wir sie uns von den Toten, die wir an ihre Mumien fesseln, zunächst einmal geben lassen.

Nun kam das Mysterium von Golgatha, nun kamen nachher das 4., 5. Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha. Die alte Seelen-verfassung mit der bildhaften Weltvorstellung dämmerte vollständig hinab. Die Zeit kündigte sich schon an, wo der Mensch sich aus der äußeren Natur heraus Vorstellungen machen sollte über diese Natur, wo er es auch konnte. Die ganze menschliche Organisation wurde innerlich umgestaltet. Der Mensch fühlte immer mehr und mehr, daß seine Seele leer blieb, wenn er auf geoffenbarte Gedanken und Ideen wartete, die unmittelbar aus der geistigen Welt kommen sollten. Dafür aber schaute er die äußeren Dinge und Wesenheiten an, beobachtete sie und bildete sich aus der Beobachtung und später aus den Experi­menten heraus seine Begriffe und Ideen. Und jetzt entstand wiederum die Aufgabe, das, was man noch nicht oder nicht mehr durch eigene menschliche Kräfte haben konnte, auf eine andere Weise zu bekom­men. Immer mehr und mehr seit dem 4., 5. nachchristlichen Jahr­hunderte mußte sich die Menschheit sagen: Es muß eine Zukunft kommen, wo, trotzdem wir durch unseren Verstand uns an den äußeren Naturdingen Ideen und Gedanken machen, wo wiederum eine Art Spiritualisierung des Intellekts eintritt, wo wiederum die Ge­danken und Ideen unmittelbar hinweisen auf ein Göttlich-Geistiges,

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wo das, was in den Ideen als Kraft liegt, in die Ausatmung übergehen kann. Aber sie ist eben noch nicht da, diese Kraft. Vorläufig sind wir angewiesen auf den Intellekt, der nur an den physischen Leib ge­bunden ist.

Aus gewissen traditionellen Vorstellungen heraus, die heute ge­schichtlich fast ganz verglommen sind, von denen man geschichtlich nichts mehr weiß, die aber im Mittelalter vom 4., 5. bis zum 12., 13. Jahrhunderte lebten und dann, obwohl ziemlich im Verborgenen, weiterlebten innerhalb der Menschheitszivilisation, bildete man nun auch eine Art von Mumien, die analog den ägyptischen Mumien sind, die aber, weil sie eben doch etwas anderes als die ägyptischen Mumien sind, nicht als solche empfunden werden.

Von einer Konservierung der menschlichen Form zur Mumie, wie das die Ägypter gemacht haben, hätte die moderne Menschheit nichts gehabt. Sie mußte etwas anderes konservieren, und sie konservierte alte Kulte, vorzugsweise vorchristliche Kulte. Als dann insbesondere vom 14., 15. Jahrhundert herauf die völlig intellektualistische Kultur kam, da wurden in den verschiedensten okkulten Orden alte Kulte konserviert. Und es sind in der Tat wunderbare alte Kultushand­lungen in allen möglichen Orden konserviert. Wir sehen, wie Ge­bräuche, okkulte Zeremonien in den verschiedenen okkulten Logen fortleben. Die sind wahrhaftig ebenso Mumien wie die Menschen­mumien Ägyptens. Sie sind dann Mumien, wenn sie nicht von dem Mysterium von Golgatha durchglüht und durchwärmt werden. In solchen Kulten und Zeremonien ist außerordentlich vieles enthalten, aber sie haben von dem, was einstmals in ganz alten Zeiten in ihnen lag, ebenso nur das Tote bewahrt, wie die Mumie nur die tote Form des Menschen bewahrt hatte. Und das ist vielfach so bis zum heutigen Tage geblieben. Es gibt unzählige Orden, die Zeremonien betreiben, Ritualien haben, alles mögliche, aber das Leben ist daraus gewichen, sie sind mumifiziert. Geradeso wie der gewöhnliche Ägypter nur eine Art von Schauer hatte, wenn er die Mumie anschaute, so hat der moderne Mensch, wenn auch vielleicht nicht gerade einen Schauer, aber doch irgend etwas, was auch kein rechtes Gefühl der Seele ist, wenn er diesen mumifizierten spirituellen Verrichtungen nahekommt.

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Er empfindet sie als etwas Geheiranisvolles, wie die Mumie auch als etwas Geheirnnisvolles empfunden wurde.

Aber geradeso wie unter den ägyptischen Eingeweihten solche waren, die aus den Mitteilungen jener Geister, die die Mumien be­wohnten, etwas Falsches machten in der Menschheitserziehung und Menschheitsdirektion - und es gab durchaus solche unter ihnen -, so ist in den mumifizierten Zeremonien vieler okkulter Orden eben ein falscher Antrieb vorhanden, um dieses oder jenes in der Lenkung und Leitung der Menschheit zu erreichen. Was damals in den Men­schen auf dem Wege der Einatmung hereinkam, das kam aus dem, was er von der Mumie hatte. Ich habe Ihnen gestern gesagt, daß die geistigen Wesenheiten, welche die Ägypter brauchten, kein Obdach hatten, daß in den Mumien Obdach geschaffen werden mußte. Die geistigen Wesenheiten nun, die auf dem Wege der Ausatmung die innere Menschenform in die ätherische Welt tragen sollten, die, habe ich Ihnen gesagt, finden keine Wege draußen in der Welt, aber sie können sich auf dem Wege innerhalb der Zeremonien bewegen, wenn auch unverstandene, mumifizierte Zeremonien verrichtet werden. Die Mondengeister zur Zeit der ägyptischen Zivilisation waren namentlich bei Tag obdachlos. Die Ausatmungsgeister, diese Erdenelementar­geister, die die heutigen Helfer der Menschheit sein sollen, sind bei der Nacht obdachlos, aber sie schlüpfen unter in das, was in solchen Zeremonien vollzogen wird. Da finden sie ihre Wege, da können sie leben. Bei Tag ist es ihnen noch möglich, ich möchte sagen, auf ehr­liche Art mit dem Atem zu leben, denn bei Tag denkt der Mensch, und immerhin sendet er seine intellektualistischen Denkformen mit dem Atem hinaus, der durch das Gehirnwasser durch den Rücken­markskanal getrieben wird und dann wieder ausgestoßen wird. In der Nacht aber, wo der Mensch nicht denkt, gehen keine Denkformen hinaus, leben gewissermaßen keine ätherischen Schifflein, auf denen diese Erdgeister vom Menschen in die Welt hinausgehen könnten, um dort seine Form dem Ätherkosmos einzuprägen.

So schafft der Mensch das, was diese Erddämonen an Wegen, an Richtungen finden sollen, durch solche mumifizierten Zeremonien. Die haben ihren guten Sinn. Was in der neueren Zeit, namentlich seit

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dem Aufkommen des Intellektualismus, alle möglichen okkulten Orden haben, das hat einen ähnlichen Grund wie das Auftreten der Mumien in Ägypten. Denn der Mensch kann das, was in der äußeren Natur ist, nicht ohne sich, ohne seine eigene Form erkennen, und als die Ägypter darauf angewiesen waren, eine Naturerkenntnis zu schaffen, konnten sie durch die Mumien die menschliche Form vor sich hinstellen. Als die neueren Menschen darauf angewiesen waren, nun auch etwas zu bekommen, was nicht bloß passiv machtloser Ge­danke ist, den sich der Mensch intellektualistisch erarbeitet, sondern was in die Welt hinausziehen kann, um wirksam zu werden, da hatte der Mensch nötig, draußen etwas um sich zu haben, was symbo­listisch ist, was eine Ausdeutung von dem ist, was sich spirituell eigentlich in ihm gestalten sollte.

Nun sind diese Formen, die da als Zeremoniell in den Logen ge­trieben werden, ja auch entseelt. Ebensowenig wie in der Mumie die Seele des Menschen lebte, so lebt in diesen Verrichtungen eigentlich jene Beseelung, die einstmals in ihnen vorhanden war, als sie unter den alten Eingeweihten ausgeübt wurden. Damals pulsierte noch durch jene Zeremonien unmittelbares spirituelles Leben, das vom Menschen in die Zeremonie floß. Da waren der Mensch und die Zeremonie eines. Man vergleiche damit, wie äußerlich die Zeremonien und Verrich­tungen unter den modernen Menschen in den modernen Orden sind.

Aber da kommt nun etwas anderes an den modernen Menschen heran. Der moderne Mensch kann aus seinem Intellekt nicht heraus. Ich habe Ihnen gestern an einem Benediktinerpater gezeigt, wie selbst ein Mensch, der berufsmäßig ein Diener des Spirituellen sein soll, aus dem Intellektuellen nicht herauskommt. Der moderne Mensch kann aus dem Intellektuellen nicht heraus, wie der alte Ägypter nicht hineinkonnte in das Intellektuelle. Der alte Ägypter brauchte die Menschenleiber, wenn sie schon tot waren, damit sie ihm eine Natur­wissenschaft vermitteln konnten. Der moderne Mensch braucht etwas, was ihm wiederum eine geistige Wissenschaft, eine Geist-Erkenntnis vermittelt.

Nun will ich dabei ganz von denjenigen okkulten Orden absehen -die ja vielfach bestehen -, die vollständige Mumien sind, die also

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eigentlich mehr aus einer Kulturkoketterie heraus getrieben werden, die tiefere Untergründe nicht haben. Aber es gibt doch auch und hat namentlich bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts herein immer­hin sehr ernsthafte Ordensverbindungen gegeben, die mehr ver­mittelten, als was zum Beispiel ein heutiger Durchschmttsfreimaurer aus seinem Orden erhält. Und die konnten nun auch wirklich mehr vermitteln aus dem Grunde, weil in der geistigen Welt heute gewisse Bedürfnisse unter der Hierarchie der Angeloi herrschen, die uns auf der Erde allerdings weniger interessieren, die uns aber in unserem vorirdischen Dasein sehr wichtig sind. Da haben gewisse Wesen der Hierarchie der Angeloi nun auch gewisse Erkenntnisbedürfnisse, die sie nur dadurch befriedigen können, daß sie gerade dahin, wo solche ernsthafte okkulte Orden sind, gewissermaßen schon probeweise die Menschenseelen hingelangen lassen, bevor sie eigentlich aus dem vor-irdischen Dasein in das irdische Dasein herunterkommen.

Es ist durchaus so gewesen, daß in gewissen mit alten Zeremonien wirkenden Logen derjenige, der die Dinge wirklich verfolgen konnte, sich sagte: Hier ist schon die Seele eines Menschen gegenwärtig, der erst in der Zukunft auf die Erde heruntersteigen wird. - Bevor der Mensch heruntersteigt auf die Erde, kehrt diese Seele in einer solchen okkulten Loge ein, und man kann gefühlsmäßig aus ihr außerordent­lich viel gewinnen. Geradeso wie die Menschenseele die Mumie um-schwirrte, also noch an die Mumie gewissermaßen gebannt war, so schwirren in okkulten Logen die Geister der noch nicht geborenen Menschen wie in einem vorher sich auswirkenden Dasein herum. Es kommt das wiederum nicht durch intellektuelle Gedanken zum Vor­schein, denn die haben die modernen Menschen ohnedies, die brau­chen sie nicht, aber wenn sie mit der richtigen Seelenstimmung in ihren okkulten Logen sind, so bekommen sie da Mitteilungen von noch nicht geborenen Menschen, von Menschen, die noch in dem vorirdischen Dasein sind und die jetzt durch dieses Zeremoniell gegen­wartig sein können. Und sie fühlen die spirituelle Welt, diese Men­schen, und können auch aus der spirituellen Welt heraus reden.

Es gibt etwas in der Goethe-Biographie, das auf einen Menschen, der für solche Dinge ein Gefühl hat, außerordentlich bedeutsam wirkt,

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besonders dann, wenn es von Leuten gesagt wird, die nicht eigentlich das Rechte wissen, die aber aus einer gewissen Erkenntnis heraus sozusagen halbbewußt auf das Rechte hinweisen. In dieser Beziehung war Karijuijus 5chroer, von dem ich Ihnen oftmals erzählt habe, ganz rnerkwürdig, wenn er über Goethe sprach. Wenn er so die Goethe-Biographie mit den Werken von Goethe vor die Seelen seiner Zu­hörer stellte, so kam immer wiederum ein Wort heraus, das einen frappierte, das einen ungeheuer gefangennahm, das Wort: Das hatte Goethe wiedererlebt, und er hatte sich an diesem Erlebnis verjüngt. -Und so hat Schröer eigentlich Goethe so dargestellt, als ob dieser eine Persönlichkeit gewesen wäre, die, nachdem sie einmal mit sieben Jahren jung gewesen ist, dann mit vierzehn Jahren etwas anderes erlebte, und durch dieses Erlebnis eigentlich ein bißchen weiter in die Kindheit zurückgebracht wurde. Goethe verjüngte sich. Und dann, meinetwillen mit einundzwanzig Jahren, verjüngte er sich wiederum. Und so hat tatsächlich Schröer den Goethe so dargestellt, als ob er von Etappe zu Etappe immer solche Verjüngungsprozesse durchgemacht hätte.

Und schauen Sie sich schließlich die Goethe-Biographie an: es ist etwas daran, daß diese Verjüngung in ihm war. Selbst als Goethe in Weimar schon der dicke Geheimrat mit dem Doppelkinn war, selbst in der Zeit, als er gewissen Leuten so gegenübertrat, daß sie in ihm oftmals schon mehr oder weniger einen Sauertopf verspürten - in dieser Beziehung ist ja vieles bekannt, was durchaus im persönlichen Verkehr von Goethe mit andern Menschen nicht ganz nett war -, selbst da kam es immer mehr und mehr über ihn, und er hat eigentlich im spätesten Alter eine Verjüngung durchgemacht. Und schließlich hätte er das, was er im spätesten Greisenalter am zweiten Teile des «Faust» geschrieben hat, wahrhaftig nicht schreiben können, wenn er nicht eine solche Verjüngung durchgemacht hätte. Denn Goethe war so ungefähr im Jahre 1816 oder 1817 eine Persönlichkeit, der man nichts von dem zumuten konnte, was Goethe im zweiten Teile des «Faust» später vom Jahre 1824 an geschrieben hat. Das war wirklich eine Verjüngungskur. Goethe hat das auch geahnt, allerdings in früheren Jahren, da, wo er dem Faust einen Verjüngungstrank geben

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ließ. Das ist auch so etwas wie eine Art Selbstbiographie. Und wenn man nachforscht, wodurch Goethe zu so etwas gekommen ist, dann sieht man: es ist seine Mitgliedschaft zur Loge gewesen. Die andern ehrsamen Weimaraner, höchstens mit Ausnahme von Wieland, Kanzler von Müller und ein paar andern - nun, die waren halt Mitglieder der Loge, wie die Leute es eben sind. Wenn man in Weimar ein ordent­licher Beamter ist, kann man nicht anders, als am Sonntag in die Kirche gehen, und so ist man auch, trotzdem das gerade das Gegenteil ist, Mitglied der Loge. Das war schon einmal so Sitte, in diesen Kreisen wenigstens. Aber bei Goethe war das nicht so, auch bei dem Kanzler von Müller und bei Wieland und bei einigen andern nicht; die machten wirklich solche Verjüngungen durch, weil sie in ihrer Seele den Ver­kehr mit noch ungeborenen Menschenkindern hatten.

Geradeso wie der alte ägyptische Tempelpriester mit den Menschen­seelen nach ihrem Tode verkehrte, so verkehrten solche Leute mit den Menschen vor ihrer Geburt. Und die Menschen können nun, bevor sie geboren sind, etwas von Spiritualität in die Welt der Gegenwart hereintragen. Intellektualistisches tragen sie nicht herein, aber Spiri­tuelles tragen sie herein, was der Mensch dann durch seine Gefühle aufnimmt und was sich in sein ganzes Leben hereinlebt.

So kann man sagen: Das erste von Intellektualismus, was die Menschheit in ihrer geschichtlichen Entwickelung gelernt hat, haben die Ägypter von den Toten gelernt, und das erste, was in der neueren Zeit über Spirituelles gelernt worden ist, das haben wiederum hervor­ragende Persönlichkeiten aus ihrer Initiationslehre in okkulten Logen von ungeborenen Menschen bekommen. Das ist etwas, was einander in einer merkwürdigen Weise entspricht. Sehen Sie nur einmal, wenn Sie Goethes Werke verfolgen, wie Ihnen manchmal daraus etwas ent­gegenblitzt, was in spirituelle Weisheit zu dringen scheint, was er nicht imstande ist, in Gedankenform auszusprechen. Aber er prägt es in ein Bild, und das Bild hat eine große Ähnlichkeit mit irgendeinem Logensymbolum. Er hat es nur auf diese Weise bekommen. Und so gibt es viele, die auf diese Weise etwas bekommen haben. Aber diese ungeborenen Menschen können doch nur über das Aufschluß geben, was eben in der nichtirdischen Welt an Geistigem erfahren werden

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kann, sie können natürlich nur über das Himmlische Aufschluß geben, über das, was außerhalb der Erdenentwickelung liegt. Da­durch aber, daß durch die Zeremonien die elementarischen Erden-geister festgehalten wurden, dadurch können wiederum Mitteilungen gemacht werden von den ungeborenen Menschen an die elementa­rischen Erdengeister. Und ist dann gar noch ein Talent, ein Genie vorhanden, um die elementarischen Erdengeister abzuhorchen über das, was ihnen die ungeborenen Menschen mitteilen, dann sprechen die betreffenden Menschen, die so etwas abhören können, eben das aus, was die ungeborenen Menschen den Naturgeistern, den Erd­geistern sagen.

Versuchen Sie einmal auf das hin so manches wunderbare Natur-bekenntnis Goethes zu verfolgen, manches Naturbekenntnis auch eines andern Menschen dieser Zeit, in dem so etwas besonders rege war, zum Beispiel in dem Dänen Steffens, oder sagen wir in Menschen wie etwa Troxier, Schubert, der so viel über den Traum geschrieben hat, aber eigentlich die besten Anregungen dazu von den Natur-geistern bekommen hat. Verfolgen Sie das bei vielen andern, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch zahlreicher waren als später, dann bekommen Sie Zeugnis für das, was auf diese Weise unter die Menschen gekommen ist. Aber manchmal ist sogar noch etwas anderes zustande gekommen. Manchmal ging die Mitteilung, welche die ungeborenen Menschen auf diese Weise den Naturgeistern auf Erden machten, nicht so in die Menschen über, daß diese aus der Natur und ibren Geheimnissen heraus spirituelle Dinge sprachen, sondern die Menschen nahmen sie manchmal in ihrer ganzen Seelen-verfassung auf. Sie nahmen die Kräfte der Naturgeister in ihrer ganzen Seelenverfassung auf, und das kam dann zum Vorschein in dem Stil, den solche Menschen schrieben. Und wo ein Gefühl für so etwas vor­handen ist, da kann der heutige Mensch sich folgendes sagen: Wenn ich heute einen Historiker lese, wie zum Beispiel Ranke oder Taine oder einen gegenwärtigen englischen Historiker, da wird der Stil schon intellektualistisch. Ranke schreibt ja schon im Stil intellektua­listisch, die Sätze sind schon intellektualistisch gefügt, es ist alles so gescheit, das Subjekt gescheit an seine Stelle gesetzt, das Prädikat

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gescheit an seine Stelle gesetzt, so daß schon fast die Schulmeister sogar mit einem solchen Stil zufrieden sein könnten. Aber man ver­gleiche solch einen Stil zum Beispiel mit dem von Johannes Müller in seinen «24 Büchern allgemeiner Geschichte». Es ist ein Stil, man möchte sagen, wie wenn ein Engel sprechen würde. Und auch in andern Kulturen ist im 18. Jahrhundert eben noch manches in einem solchen Stil geschrieben, der tatsächlich nicht dieses Unindividuelle, dieses beleidigend Objektive eines jetzigen historischen oder natur-wissenschaftlichen Stiles hat, sondern der etwas von dem hat, woran man sieht: es gehen elementare Naturkräfte durch den schreibenden Menschen hindurch und sein Stil ist aus dem Kosmos, aus dem Uni­versum heraus geschrieben.

Da kommt an den modernen Menschen etwas heran, was für die moderne Zeit ähnlich ist wie das, was von den Mumien ausging für den ägyptischen Eingeweihten. Das sind außerordentlich wichtige, hinter den Kulissen der äußeren Geschichte sich abspielende hlsto­rische Begebenheiten, die man eben kennen muß, wenn man über­haupt etwas von der Entwickelung der Menschheit verstehen will. Und so sehen wir, wie auf diese Weise vorbereitet wurde - was jetzt nur eine Weile verkannt wird, weil eigentlich kein Mensch mehr auf so etwas in der richtigen Weise hinhorcht -, wie vorbereitet wurde das Spirituelle, das wiederum auch in den Intellekt hereinkommen soll und in der Zukunft im Intellekt leben muß, wenn die Menschheit der neueren Zivilisation nicht ganz den Spengler-Weg gehen will in den Niedergang des Abendlandes hinein. So können wir sagen: Die alten Ägypter mumifizierten die Menschenform; die neuere Menschheit seit dem 4., 5. nachchristlichen Jahrhunderte mumifizierte die alten Kulte auf allen Gebieten. Aber sie gab dadurch immerhin Veranlassung, daß ein Außerirdisches in dem Zeremoniell der alten Kulte leben konnte. Von dem Menschen lebte ja nicht viel darinnen in diesen Kulten, aber von außermenschlichen Wesenheiten lebt doch manches darinnen.

So ist es ja auch mit den Kirchenkulten, und wer in die Dinge hineinschaut, wirklich der Realität nach hineinschaut, der kann manch­mal ganz gut auch bei den Kirchenkulten die Persönlichkeiten, die mit Fleisch und Blut vor dem Altare stehen, entbehren, weil die geistigen

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Wesenheiten, ganz abgesehen von den zelebrierenden Priestern, da sind, weil er auf die geistigen Wesenheiten, die da eben in den Zeremonien drinnen leben, hinschauen kann. Wenn Sie das alles ins Auge fassen, so werden Sie sich sagen: Man muß schon eine ganz andere Sprache wählen, als es die heutige Menschheit gewöhnt ist, wenn man überhaupt an das herankommen will, was im spirituellen Sinne wirklich um uns herum ist. - Deshalb brauchen Sie sich gar nicht zu verwundern, wenn heute solche Werke erscheinen wie Fritz Mauthners «Kritik der Sprache», in der bewiesen werden soll, daß alles, was die Menschen sich an geistigen Wesenheiten vorgestellt haben, nur in den Worten liegt - und wenn man nicht an die Worte glauben will, so kann man auch nicht an Geister glauben! Das ist ja der Sinn der «Kritik der Sprache» von Fritz Mauthner. Fritz Mauthner hat für einen großen Teil der modernen Menschheit recht, wirklich recht. Ein großer Teil der modernen Menschheit hat nichts als Worte, wenn er von übersinnlichen Dingen spricht. Für diese gilt die « Kritik der Sprache» - leider. Aber es ist ebenso notwendig, daß wiederum in die Worte der substantielle geistige Gehalt hinein­gebracht wird. Und deshalb war es auch in der geschichtlichen Ent­wickelung notwendig, daß eine Zeit hindurch, in der die Menschen selber noch nicht diesen geistigen Gehalt erfassen konnten, dieser ihnen fortentwickelt wurde von außermenschlichen Wesenheiten und von den Menschen, die noch nicht geboren sind, wie ebenso von außermenschlichen Wesenheiten und von Menschen, die nicht mehr irdisch lebten, die schon in dem Leben nach dem Tode standen, den Ägyptern die Intellektualität vorbereitet worden ist. Die Intellek­tualität, in der wir stehen, lernten die Ägypter von den Toten. Wir müssen die Spiritualltät, in der wir noch nicht drinnen sind, in der Gegenwart lernen auf dem Umwege durch den mumifizierten Kultus, den wir uns wieder aneignen müssen, den wir mindestens studieren müssen. Denn dann ist er vielsagend. Wir müssen uns die Spiritua­lität der Zukunft zu unserer Intellektualität hinzu durch diese andere Mumie aneignen. An die Stelle des mumifizierten Menschen ist die mumifizierte menschliche Verrichtung getreten, an die Stelle der mumifizierten menschlichen Form ist die mumifizierte menschliche

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Handlung getreten. In entsprechender Weise hat sich das andere so ausgebildet, wie ich es charakterisiert habe.

So muß man das studieren, was hinter den Kulissen der Welt­geschichte vor sich geht, sonst bleibt alles, was die Leute über ge­schichtliche Vorgänge erzählen, dennoch ein für die Menschheit un­verstandenes Konglomerat von äußeren Zufalistatsachen, reinen Zu­fallstatsachen. Sie sind aber nicht Zufallstatsachen, wenn man ihren Hintergrund kennt. Sie werden erst Zufallstatsachen, wenn die Men­schen es verschmähen, die Hintergründe zu erkennen. Sie werden sozusagen Wellen, von denen man glaubt, daß eine jede neben der andern steht, während sie alle zusammen aus den Tiefen des Meeres heraufspielen. In Wahrheit sind die geschichtlichen Vorgänge Wellen, die aus ungeheuren Tiefen eines spirituellen Meeres der Weltevolution heraufgeworfen werden auf die Oberfläche des unmittelbar von den Menschen zu erreichenden Geschehens. Und man sollte in jeder einzelnen historischen Tatsache eine solche Welle sehen, aber nicht glauben, daß Welle sich neben Welle durch sich selbst stellt, sondern daß jede einzelne Welle, das heißt jede cielne historische Tatsache, aus spirituelien Tiefen der von Zeitenferne zu Zeitenferne gehenden spirituellen historischen Entwickelung herrührt.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 29. September 1922

Ich habe Ihnen in der letzten Zeit von dem Geheimnis der Mumie und dem Geheimnis des Kultus gesprochen, insofern in Mumie und Kultus - wie wir gesehen haben - ganze Mysterien stecken: in der Mumie die Mysterien des ausgehenden Altertums vor dem Myste­rium von Golgatha und in dem Kultus die Mysterien, die sich eigent­lich erst in ihrer vollen Bedeutung in der Zukunft offenbaren werden, eben die Mysterien der kommenden Zeit. Ich möchte nun heute und morgen einiges zu dem schon Auseinandergesetzten hinzufügen. Zu­nächst möchte ich heute mehr in erzählender Form ein Bild vor Ihre Seelen stellen.

Wenn Sie manche Mysterienszene in einem gewissen Zeitalter der ägyptischen Entwickelung, in dem Zeitalter, in welchem das Mumi­fizieren der Leichen in besonderer Blüte stand, hätten belauschen können, dann würden Sie das Folgende erfahren haben. Der lehrende Mysterienpriester versuchte seinen Zöglingen zunächst klarzumachen, wie im menschlichen Haupte eigentlich alle Geheimnisse der Welt verborgen liegen. Aber auf eine ganz besondere Art seien sie ver­borgen, so würde er gesagt haben. Er würde gesagt haben: Schauet die Erde an, so, wie sie der Wohnplatz der Menschen ist, ist sie eigent­lich ein Spiegel, ein Reflex des ganzen Kosmos.

Sie finden in der Tat alles, was Sie im Kosmos finden, auch in der Erde selbst. Sie brauchen nur auf das Folgende hinzublicken. Sie wissen, wenn wir hinausschauen in die Sternenwelt, so ist der Mond zunächst unser Erdennachbar unter den Himmelsgebilden. Wenn wir uns das als Erde vorstellen - hier den Mond kreisend um die Erde - (siehe Zeichnung), so können wir uns die Bahn vorstellen, in der sich der Mond herumbewegt um die Erde, und wir können dann das, was sich zwischen der Erde und der Mondesbahn befindet, etwa mit dieser roten Fläche bezeichnen.

Wer nun richtig die Erscheinungen zu deuten versteht, die ihm da entgegentreten, wenn er in die Erde hineingräbt, der muß in der Tat

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#Bild s. 87

sich sagen : Das, was da in der Umgebung ist, findet sich abgespiegelt, aber nur verdichtet, in einer äußeren Schicht der Erde selbst.

Gehen wir jetzt zu dem nächsten Planeten, der mit der Erde um die Sonne kreist, so können wir uns schematisch - es ist natürlich hier ungenau - diesen Planeten, die Venus in ihrer Bahn vorstellen und können das, was in dem Raum auf eine lufiförmige, ätherische, feinere Art eingeschlossen ist, wiederum in dieser Weise bezeichnen (gelb), und wir müßten, wenn wir die nächste Schicht der Erde zeichnen, diese Schicht wieder als eine Spiegelung dessen zeichnen, was da draußen ist (gelb). Und so würden wir die ganze Erde bekommen als ein Spiegelbild des Universums, nur daß wir immer das, was draußen in ätherischer Verdünnung, in ätherischer Flüchtigkeit ist, zusammen­gedrückt, verdichtet finden würden, wenn wir in die Erde hinein­graben. Und wenn wir dann zu dem äußersten Umkreis des Weltenalls kämen, so würde dieser äußerste Umkreis des Weltenalls im Mittel-punkte der Erde ganz verdichtet in einem einzigen Punkte sein.

Was ich Ihnen jetzt ganz skizzenhaft auseinandergesetzt habe, von dem sprach auch der ägyptische Eingeweihte zu seinen Schülern in der

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Zeit, die ich jetzt meine. Aber er sagte ihnen : Wenn man wiederum verstehen will, wie das Universum, der Kosmos, und sein Spiegelbild, die Erde, gegenseitig aufeinander wirken, dann schaue man den menschlichen Kopf, das menschliche Haupt an. - Das menschliche Haupt wird in der Tat im Leibe der Mutter gebildet durch das Zu­sammenwirken des ganzen Universums und der Erde. Aber - so sagte dieser Eingeweihte weiter zu seinen Schülern - durch keine Betrachtung des menschlichen Kopfes kann man das verstehen, was da eigentlich vorliegt, denn das menschliche Haupt enthüllt in sich selber nicht seine Geheimnisse. - Dieses menschliche Haupt enthält unendliche Geheimnisse, aber es enthüllt seine Geheimnisse keiner Betrachtung, wie man diese auch anstellen mag. Denn dieses mensch­liche Haupt ist allerdings von der ersten Zeit der Menschkeimung an im Leibe der Mutter bis zum Tode auf Erden tätig; aber es hat alles das, was es tut, als Wirkungen eigentlich nicht in sich. Das ist das Geheimnis des menschlichen Hauptes, daß es unendlich viel tut, aber alles, was es tut, geschieht nicht im Haupte selbst, sondern das ge­schieht im ganzen übrigen Organismus.

So, wie ich jetzt zu Ihnen spreche, würde eben auch dieser Ein­geweihte, nur in der damaligen Form des Ausdruckes, zu seinen Schülern gesprochen haben. Er würde ihnen begreiflich gemacht haben : Wenn durch das menschliche Auge eine Farbe angeschaut wird, wenn durch das Anschauen dieser Farbe eine Veränderung im menschlichen Gehirn hervorgebracht wird, so ist das, was da im menschlichen Auge hervorgebracht wird, diese Veränderung des Gehirns, eine Tat der Außenwelt. Was im Gehirn selber geschieht, sind Taten der Außenwelt. Aber das Gehirn tut selber auch etwas. Wenn das Gehirn von außen den Farbeneindruck empfängt und im Innern dadurch einen Nervenvorgang als Wirkung erfährt, so tut das Gehirn in seinem astralischen Leibe und in seiner Ich-Wesenheit etwas. Aber das zeigt sich nicht im Gehirn. Die Wirkung davon ist im übrigen Organismus. Und während die Wirkung der Außenwelt in einer Veränderung des Gehirns vorliegt, wirkt das Gehirn seinerseits zum Beispiel auf das Herz oder auf irgendein anderes Organ des menschlichen Leibes. Was der menschliche Kopf tut, das könnt ihr

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nur dann betrachten - so würde dieser Eingeweihte zu seinen Schülern gesprochen haben -, wenn ihr genau alles das kennt, was im mensch-lichen physischen Leibe vor sich geht.

Die Ägypter wußten das, aber sie mußten, weil sie nicht mehr die Mittel der alten Zeit hatten, zu andern Mitteln greifen als zum Beispiel die urpersischen oder die urindischen Eingeweihten. Die urindischen Eingeweihten haben ihre Schüler Jogaübungen machen lassen; sie haben sie in einer bestimmten Weise atmen lassen. Dadurch, daß die Schüler den Atmungsvorgang zu einem Sinnesvorgang gemacht haben, haben sie den menschlichen physischen Leib kennengelernt. Wie ging das vor sich?

Nun, wir wissen ja, wie in dieser Beziehung der menschliche Orga­nismus geartet ist. Wenn wir eine Einatmung machen, da geht der Atemstoß durch die Lunge in den Körper und geht durch denRücken­markskanal in das Gehirn. Im Gehirn verbindet er sich mit den andern Vorgängen, die da vor sich gehen, stößt zurück, und nament­lich diesen Rückstoß beobachtete der Jogaschüler. Es war also für ihn so, daß er den Atemstoß bekam, der zunächst in die Lunge, dann durch den Rückenmarkskanal in das Gehirn ging und sich da aus­breitete. Er stieß dann wiederum zurück, ging durch die verschiedenen Organe in die Brust und so weiter. Diesen Rückstoß, den beobachtete also vorzugsweise der Jogaschüler. Was konnte er sich sagen? Indem er den Atemstoß, der zurückging in den Organismus, durch seine besondere Atemkunst beobachten konnte, beobachtete er in dem Hinunterwirken des Atems, was das Gehirn in seiner Brust, in seinen Unterleibsorganen und so weiter tut. In dem Zurückstoßen durch den Rückenmarkskanal und in dem Ausbreiten dieses RückstoBes im ganzen Leibe beobachtete der Jogaschüler, was in seinem Organismus durch das Kopforgan bewirkt wird.

Das war die Kunst des Atmens, als es noch so vorhanden war, daß tatsächlich der Atmungsvorgang zu einem Sinnesvorgang gemacht wurde, daß auf dem Umwege des Atmens der Mensch sich die Frage beantwortete : Was tut mein Haupt in meinem Organismus? - Nun habe ich Ihnen schon die letzten Male klargemacht, daß diese Art der Hellseherkunst eben in einer bestimmten Epoche des ägyptischen Zeitalters

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verlorengegangen war, daß die Ägypter zu andern Mitteln grei­fen mußten. Und so führten die Eingeweihten dieses ägyptischen Zeitalters ihren Schülern die Mumie vor, lehrten sie auch, den mensch­lichen Organismus zu mumifizieren, und lehrten sie durch diese An­schauung das, was früher auf eine innerliche Weise durch das Ver­folgen des Atmungsprozesses gelernt worden war.

Aber ich habe Ihnen auch gesagt, wenn diese ägyptischen Schüler der Eingeweihten auch nicht mehr die geistigen Vorgänge innerlich verfolgen konnten - denn auf die Itam es an -, die sich als Taten des Gehirnes am menschlichen Organismus enthüllen, so kamen den alten ägyptischen Eingeweihten, wenn sie mit ihren Schülern sprachen, die geistigen Wesenheiten zu Hilfe, die mit dem Monde, mit der Mondensphäre zusammenhängen. Und diese geistigen Wesenheiten, die eben sonst obdachlos herumgeirrt wären auf Erden, die fanden ihr Obdach, ihr Haus, ihre Wohnung in den Mumien. Die waren es dann, welche man noch beobachten konnte, deren Sprache man sogar noch verstand in diesem Zeitalter der ägyptischen Entwickelung und von denen man die erste Naturwissenschaft lernte, indem man das, was der J ogaschüler noch auf innere Weise durch den kultivierten Atmungs­prozeß wahrgenommen hat, so lehrte, daß man sagte : Sieh dir das menschliche Haupt an! Es ist eigentlich in einem fortwährenden Ver­gehen. - Das menschliche Haupt ist im Grunde genommen in einem fortwährenden Sterben, und in jeder Nacht muß sich der menschliche Organismus bemühen, gegen dieses Sterben des menschlichen Kopfes zu arbeiten. Aber was er während dieses Sterbens zwischen Geburt und Tod ausführt, das ist ein Neubeleben der übrigen Körperorgane, so daß diese, indem sie ihre Kräfte - natürlich nicht ihre Materie, sondern ihre Kräfte - durch die Zwischenzeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in die Zukunft hineinschicken, Haupt werden, Kopf werden in der nächsten Erdenorganisation. Aber - so sagte der Eingeweihte zu seinen Schülern - ihr müßt verstehen, was in den Formen der Organe liegt. - Deshalb suchte man so sorgfältig die Mumie zu bewahren, damit einem an den Formen der Organe der Mumie die eben angeführten Mondengeister erzählen konnten, wel­ches die Geheimnisse dieser Organe sind, wie sie im Zusammenhange

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stehen mit dem menschlichen Haupte, wie sie in sich die Keimkräfte tragen, um selbst im nächsten Erdenleben Haupt zu werden. Diesen Unterricht gab der ägyptische Eingeweihte seinen Schülern an der Mumie.

So hatte man in einem bestimmten Zeitalter auf äußerliche Weise zu lehren, was in den Blütezeiten der Jogaphilosophie und der Joga-religion auf eine innerliche Weise gelehrt worden war. Das war der ungeheure große Übergang, der stattfand von der urindischen und urpersischen Kultur zur ägyptischen Kultur hinüber, daß das, was früher auf innerliche Weise gelehrt worden war, nun auf äußerliche Weise gelehrt wurde. Und so etwa schloß mit einer, ich möchte sagen grandiosen Pointe der ägyptische Eingeweihte diesen Unterricht, in­dem er sagte : Und nun versetzt euch ganz in das, was ihr in der Plastik der Mumie vor euch habt. Ihr habt in der Plastik der Mumie ganz undeutlich vor euch, was im Leben des Menschen auf der Erde in fortwährendem Vergehen ist : das Innere des menschlichen Hauptes. Ihr habt aber mit einer großen Deutlichkeit vor euch, was im übrigen Organismus in der Form ist. Nicht die Lebensprozesse, nicht die Empfindungsprozesse, das alles könnt ihr nicht studieren an der Mumie, aber ihr könnt studieren, was die plastische Form von Herz, von Leber, von Niere, von Magen, von alledem ist, was der mensch­liche Leib in seinem Inneren trägt. Und jetzt stellt euch vor : wenn ihr während des Lebens den Atem zurückgezogen habt in eurem Kopfe und ihn wiederum zurückstrahlt in den Organismus, so liegt in diesem Atem die plastizierende Kraft, Mumie zu werden.

Der Atemstoß, der vom Kopfe nach dem Körper geht, will sich zur Mumie formen (siehe Zeichnung S.92). Und nur dadurch, daß der Kör-per entgegenwirkt und wiederum die Ausatmung bewirkt, wird diese Mumie zurückverwandelt. Was man da vom menschlichen Haupte gegen den übrigen menschlichen Organismus zu sich bilden sieht, indem der Atem vorstößt, diese schnell wie eine Mumie sich bildende Gestalt, die sich aber sogleich wiederum auflöst, indem der Atem ausgeatmet wird (weiß), das bleibt nur zurück in einem fast fort­während, namentlich während des Wachens, bleibenden Schein des ätherischen Leibes (rot). Wenn man den ätherischen Leib betrachtet,

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#Bild s. 92

bekommt man das Gefühl : vom Kopf aus will er sich fortwährend zur Mumie formen und wiederum auflösen in eine Art von Ähnlich­keit mit dem menschlichen physischen Organismus (blau). Das ist die innere bewegliche Plastik, diese Tendenz des menschlichen ätherischen Leibes, die Mumiengestalt anzunehmen und wiederum zurück­zukehren, so daß er wieder ähnlich wird dem menschlichen physischen Organismus.

Diese Eigentümlichkeit des Menschen wurde zuerst gelehrt, wie ich sagte, als die grandiose Pointe von all den einzelnen vielgestaltigen Lehren, die der ägyptische Eingeweihte mit Hilfe übersinnlicher, elementarischer Wesenheiten, die man als Mondengeister ansprechen kann, seinen Schülern gab.

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Worauf wies denn dieser Eingeweihte seine Schüler hin? Er wies seine Schüler auf das hin, was in älteren Zeiten die Menschen innerlich erlebt haben : auf die Vergangenheit. Das war in der Tat das Eigen­tümliche dieser ägyptischen Kultur, die heute so rätselhaft vor uns steht, wenn wir uns die Sphinxe, Pyramiden, Mumien vergegen­wärtigen. Rätselhaft steht das vor uns. Aber es enthüllt sich dem geisteswissenschaftlichen Blicke, wenn wir wissen, daß die Sphinxe zurückweisen auf die Gestaltungen, die während der atlantischen Zeit auf der Erde für den damaligen Blick der Menschen durchaus sichtbar waren, und wenn wir bedenken, daß in den Lehren, die der ägyptische Eingeweihte seinen Schülern über die Mumie geben konnte, ein Nach-klang enthalten war von dem, was zum Beispiel der urindische Ein­geweihte seinen Jogaschülern auf eine leichte Weise beibringen konnte, weil in diesen alten Erdenzeiten schon durch einen geringen Anstoß jeder Mensch dazu zu bringen war, das wahrzunehmen, was ich nennen möchte : den Augenblick des Entstehens der Äthermumie und die Rückgestaltung in einen menscblichen physischen Organismus.

Es ist außerordentlich interessant, sich in die Art und Weise zu ver­tiefen, wie diese Mysterien enthüllt wurden in den ägyptischen Lehr­stätten, die sich ja deshalb mit dem menschlichen Tode in eine innige Verbindung setzten, weil der menschliche Tod eben die Formen, wenn sie so bearbeitet werden, wie das in Ägypten geschah, beibehält, diese Formen, die sich während des Lebens der Beobachtung ent­ziehen und die im Grunde genommen dennoch erkannt werden müssen, wenn man wirklich in die menschliche Wesenheit eindringen will.

Nun habe ich Ihnen gesagt, daß in dem, was vielfach seit dem Mysterium von Golgatha als Kultus bewahrt worden ist, etwas Ähn­liches vorliegt wie für den Ägypter in der Mumie. Ich habe Ihnen gesagt, wie in der Zeit, als man es brauchte, schon vom 4., 5. nach­christlichen Jahrhundert an, leise in Anfängen, aber dann später immer deutlicher und deutlicher begonnen wurde, alte Kuliformen im Grunde zu mumifizieren. Denn wenn wir hinschauen auf die Art und Weise, wie in gewissen okkulten und sonstigen Brüderschaften Ritualien beobachtet werden, so sehen wir in diesen Ritualien eigentlich

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nirgends etwas Neues, sondern überall alte Formen, alte Ritual-formen konserviert. Wir sehen sogar, wie diejenigen Persönlichkeiten, welche solche Ritualien und Zeremonien zu bewahren und das, was mit ihnen vorgenommen wird, zu leiten haben, den größten Wert darauf legen, daß solche Zeremonien in uralte Zeiten zurückweisen, also gewissermaßen konservierte Gebräuche aus uralten Zeiten sind. Und wir sehen auch überall, wie diese Zeremonien, die Wirksamkeiten dieser Ritualformen eigentlich nicht mehr verstanden werden. Denn was heißt es eigentlich, solche Zeremonien verstehen? Was heißt das, die Handlungen zu verstehen, die im Ritus vor sich gehen? Wenn wir uns diese Frage beantworten wollen, müssen wir uns vergegenwärti­gen, wie Handlungen, die mit Rituallen zusammenhingen in alten Zeiten, zum Beispiel in der urpersischen und in der urindischen Zeit, verstanden wurden.

Der Mensch nimmt heute einen Unterschied wahr, wenn er, sagen wir, mit der Hand eine Rose aus Papiermaché und eine wirkliche Rose berührt. Er nimmt ja schließlich auch diesen Unterschied wahr, wenn er sich mit der Nase an diese Rose heranmacht. Und er bezeichnet diesen Unterschied dadurch, daß er die Rose aus Papiermaché eben als etwas Totes und die Rose, die er am Rosenstrauch gepflückt hat, als ein Lebendiges bezeichnet. Jemand, der in der richtigen Weise die Welt in jenen alten Zeiten, die ins 4., 5. vorchristliche Jahrtausend zurückführen, ansah, der würde das, was zum Beispiel jemand tut, wenn er mit einer Maschine Holz zuschneidet und dergleichen, als einen toten Vorgang bezeichnet haben, denn er sah ja, auch wenn er geistig hinsah, nicht die physische Materie, sondern so etwas wie ein totes Schattenbild. Aber bei einer Handlung, die im Ritus ausgeführt wurde, bei einer Zeremonie, da sah er, wie in dem, was sich da vollzog, sogleich aus der umliegenden elementarischen Welt geistige Wesen­haftigkeiten heranrückten und durch all die Formen durchgingen, welche sich in der ritusmäßigen Handlung vollzogen. Geistigkeit sah er in diesen Handlungen.

Heute können Sie überall herurafragen, wo man irgendeine von Ritualien getragene Handlung ausführt, in Logen oder auch in Kir­chen, ob die Leute in solchen rituellen Handlungen noch geistige

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Wesenheiten sehen, die diese Handlungen durchströmen und durch­pulsen. Es ist nicht der Fall. Es ist ebensowenig in diesen Hand­lungen heute geistiges Leben, wie in der ägyptischen Mumie das Leben dessen war, den man mumifiziert hatte. Diese Ritualien wurden nun bewahrt. Gewissermaßen wurden so, wie in der ägyptischen Mumie der menschliche Körper seiner Form nach mumifiziert worden ist, menschliche Handlungen, menschliche Verrichtungen traditionell auf­bewahrt und werden, indem man sie nun vornimmt, gewissermaßen eben auch mumifiziert; wurde doch in ihnen etwas bewahrt, was wieder auferweckt werden kann und was auch wieder auferweckt werden wird, wenn man einmal den Weg gefunden haben wird, um die Kraft, die von dem Mysterium von Golgatha ausgeht, wiederum in alles menschliche Tun hineinzubringen.

Dieses Hineinbringen der Kraft des Mysteriums von Golgatha, das verstehen die Menschen eigentlich heute sehr wenig. Einzelne Men­schen gab es noch immer im Laufe der Zeiten, die einen Begriff davon hatten, wenn dieser Begriff auch nicht mehr so klar war wie in alten Zeiten, aber einzelne Menschen gab es noch immer, die einen Begriff hatten, wie das, was im Menschen als geistiger Impuls leben kann, hineingeleitet werden kann in alle menschlichen Handlungen, wie der Mensch ein Vermittler sein kann zwischen dem Geiste und dem, was äußerlich durch ihn selbst geschieht. Man muß natürlich dazu den rechten inneren Impuls haben. Man braucht nur auf einen solchen Geist wie Paracelsus hinzuweisen. Da ist noch solch ein Einsamer da, der wenigstens noch eine Ahnung davon hatte, daß das Geistige unter den Menschen so leben muß, daß es wirklich von den Menschen ausströmt und in die Handlungen hineingeht. Es ist ein großer Unter­schied zwischen dem, was heute die Menschen gelten lassen und dem, was zum Beispiel noch Paracelsus ahnungsvoll wollte. Heute trennen die Menschen, was sie auf gewissen Gebieten des Lebens tun. Sie treiben zum Beispiel Medizin; aber sie wird nach materialistischer Auffassung getrieben. Nun kann man als Mediziner auch ein religiös frommer Mann oder eine religiös fromme Frau im heutigen Sinne sein. Aber man trennt das. Man verrichtet die Medizin äußerlich nach materialistischen Grundsätzen und sucht dann, was man für seine

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Seele braucht, in einer abgesonderten Religion. Dadurch bekommt die Religion etwas außerordentlich Egoistisches, denn eigentlich geht der Mensch an die Religion nur heran, wenn er wissen will, wie es ihm nach dem Tode ergeht oder wie seine Taten zusammenhängen mit dem, was ein Gott aus ihnen macht.

Paracelsus war in seiner ganzen Gesinnung noch anders. Paracelsus wollte als Arzt ein religiös frommer Mensch sein. Die einzelne medi­zinische Tat, die therapeutische Tat sollte eine religiöse Tat sein. Für ihn war gewissermaßen das, was er am Kranken tat, ein Zusammen­fügen der äußeren physischen Menschentat mit einer religiösen Ver-richtung. Im Grunde genommen war für ihn das Heilen noch Kultus­handlung. Und es war sein Ideal, es zur Kultushandlung zu machen.

Das verstanden seine Zeitgenossen schon recht wenig, und in der Gegenwart wird es noch weniger verstanden. Es tut einem immer das Herz weh, wenn man nach Salzburg kommt und hört, wie die Tradi­tion davon lebt, daß Paracelsus ein Säufer gewesen sei, daß er einmal spät nachts betrunken nach Hause gegangen, über einen Felsen her­untergefallen sei und sich den Schädel zerschlagen habe, daß er auf diese Weise zugrunde gegangen sei. Würde man das Richtige er­zählen, so würde man natürlich darauf hinweisen, was seine Feinde getan haben; denn für dieses Schädelzerschlagen hat nicht die Be­trunkenheit des Paracelsus gesorgt, sondern diejenigen haben es getan, die dann auch die Märe von seiner Betrunkenheit aufgebracht haben.

Nun, heute sind die Sitten milder in dieser Beziehung, nicht gerade sehr viel anders, aber milder. Um was es sich handelt, ist, daß die Zeit schon herankommen wird, in der eine vertiefte Auffassung alles Kultus, aller Kultushandlungen Platz greifen wird. Und dann werden die richtigen Lehrer den richtigen Schülern etwas Ähnliches klar­machen können, wie es der ägyptische Eingeweihte seinen Schülern an den Mumien klarmachen konnte. Wie dazumal der ägyptische Ein­geweihte seinen Schülern hat klarmachen können, daß sie etwas an der Mumie sehen, was in alten Zeiten durch den zu einem Sinnes-prozeß umgestalteten Atmungsprozeß innerlich erlebt wurde, so wird, wenn wiederum der Kultus in der richtigen Weise verstanden werden kann, der Eingeweihte seinen Schülern klarmachen können, daß die

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Kultushandlung etwas ist, was im Vergleiche zu den äußeren Taten, die sonst der Mensch mit Hilfe von Werkzeugen verrichtet - und auch bei den Kultushandlungen spielen Werkzeuge ja eine Rolle -, eine ungeheuer viel größere Bedeutung im Zusammenhang mit dem Kosmos, mit dem Universum hat.

Einstmals wird der Eingeweihte an den, allerdings nicht im heutigen Sinne verlaufenden, sondern an den wieder richtig gestellten Kultus­handlungen seinen Schülern folgendes klarmachen können. Er wird ihnen sagen können : Wenn Ihr eine Kultushandlung verrichtet, so ist das ein Appell an die geistigen Mächte des Universums, ein Appell an diejenigen Mächte, die gerade durch das, was der Mensch tut, sich mit der Erde verbinden sollen. - Solch eine Handlung, die nach einem gewissen Ritus ausgeführt wird, unterscheidet sich wesentlich von einer bloß technischen Handlung. Eine Handlung, die bloß tech­nisch ist, bewirkt irgend etwas. Mit einer Maschine macht man irgend etwas. Das, was man macht, wird verwendet im Leben. Man macht, sagen wir, heute mit der Nähmaschine Kleider, die Kleider trägt man, sie gehen zugrunde. Damit ist aber auch das, was durch die Maschine geschieht, getan. So ist es nicht bei der Kultushandlung. Ich habe Ihnen das letztemal gezeigt, wie der Mensch, wenn die Kultushand­lung in der richtigen Weise aufgefaßt wird, in die Möglichkeit kommt, mit andern geistigen Wesenheiten verkehren zu können, mit Wesen­heiten, die der Erde so nahestehen, wie die Geister, welche zu den Ägyptern aus den Mumien sprachen, dem Monde nahestanden. Durch die Maschine, durch die äußere Technik verkehrt man mit den physi­schen Naturkräften der Erde; durch die Kultushandlungen verkehrt man mit den geistig-elementarischen Mächten der Erde. Mit den­jenigen Mächten der Erde verkehrt man, welche in die Zukunft hinweisen.

Und so wird der Eingeweihte seinen Schülern sagen können : Indem ihr euch einlebt in eine Kultushandlung, indem ihr verfolgt, was da geschieht, verfolgt ihr etwas, wovon der materialistische Phantast sagt : Das ist ja nichts Wirkliches! -, oder gar, wenn er zynisch ist, sagt : Das ist ja ein Spiel! - So mag es sein, aber alles, was nach dem richtigen Ritus ausgeführt wird, birgt Geistiges in sich. Die geistigelementaren

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Wesenheiten, welche in die Gegenwart herein berufen werden, wenn eine Kultushandlung ausgeführt wird, brauchen diese Kultushandlung, denn aus ihr ziehen sie ihre Nahrung, ihre Wachs­tumskräfte.

Einmal wird eine Zeit kommen, in der die Erde nicht mehr sein wird. Es ist so, daß alles, was wir um die physischen Sinne ringsherum haben, alles, was wir im heutigen Minerafreich, Pflanzenreich, Tier­reich sehen, alles, was an Luft und Wolken, selbst das, was an dem Glanze der Sterne vorhanden ist, daß alles das vergehen wird. Dann wird die Erde sich angeschickt haben, das zu werden, wovon ich im Umriß einer «Geheimwissenschaft» gesprochen habe. Die Erde wird sich anschicken müssen, in einer gewissen Zukunft zum Jupiterdasein hinüberzugehen. Dieser Jupiter wird ebenso eine folgende Verkörpe­rung der Erde sein, wie unser eigenes künftiges Erdenleben eine Wiederverkörperung unseres gegenwärtigen Erdendaseins sein wird, nur daß die Zeiträume wesentlich größer sind. Kein Stäubchen wird von der Materie, die heute in Mineralien, Pflanzen, Tieren, in Wind und Wolken ist, kein Stäubchen von dieser Erde wird in einer ge­wissen Weise in der Zukunft mehr vorhanden sein. Alle Vorgänge, die auf äußerlich technische Weise geschehen, die mit den technischen Maschinen vor sich gehen, die werden ihre Aufgabe getan haben. Das alles wird Vergangenheit sein.

Aber in dem, was da war, in dem, was menschliche äußere tech­nische Kultur war, darinnen wird etwas anderes vorbereitet sein. Zeichnen wir uns das schematisch hin (siehe Zeichnung). Nehmen wir

#Bild s. 98

an, das sei unsere heutige Erde. Dadrinnen gehen die verschiedensten Naturpro­zessevorsich(grün) ; Pflan­zendecke und so weiter, Wolken umgeben die Erde (hell), Maschinen sind da, mit denen allerlei geschieht auf der Erde (lila); Tiere laufen herum, physische

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Menschenkörper (rötlich). Das alles wird weg sein. Aber auf dieser Erde werden in der Zukunft solche Kultushandlungen vollzogen werden, welche aus einem richtigen Erfassen der geistigen Welt her­vorgehen. In alledem, was dadrinnen ist, werden Kultushandlungen vollzogen.

Ich will sie hier schematisch in der verschiedensten Weise zeichnen (siehe Zeichnung). Dadurch, daß diese Kultushandlungen vollzogen

#Bild s. 99

werden, werden in die Sphäre dieser Kultushandlungen elementar-geistige Wesenheiten hereingerufen. Ich will sie hier gelb zeichnen. Sie sind unsichtbar für das äußere Auge. Aber eine Zeit wird kommen, in der alles, was an Stoffen heute die Mineralien, die Pflanzen, die Tiere, die Wolken ausfüllt, was da wirkt in Wind und Wetter, fort sein wird. Alles, was Pflanzendecke ist, wird fort sein, zerstäubt sein im Weltenall, selbstverständlich auch die Geräte, mit denen die Kultus­handlungen verrichtet werden. Aber was an elementaren geistigen Wesenheiten in die Sphäre der Kultushandlungen gerufen worden ist, das wird darinnenstecken, das wird, wenn diese Erde ihrer Voll­endung zugeht, in vollkommener Ausbildung ebenso innerhalb der

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Erde sein, wie im Herbst der Pflanzenkeim des nächsten Jahres ver­borgen in der Pflanze steckt. Und wie von der Pflanze die welk ge­wordenen, dürren Blätter abfallen, so wird in das Weltenall hinein-zerfallen all das, was im Mineral-, im pflanzlichen, im tierischen Reiche ist. Und wie ein Same für die Zukunft werden die elementaren Wesen, die sich dann vervollkornranet haben, da sein, weiterlebend ins Jupiterdasein.

Und dann kann wiederum, ich möchte sagen, in einer grandiosen Pointe zusammengefaßt werden, was solch ein Eingeweihter seinen Schülern zu sagen hat. Er kann sagen : So wie der ägyptische Ein­geweihte an der Mumie alle Geheimnisse des menschlichen Hauptes und damit alle Geheimnisse der Erde und ihrer kosmischen Umgebung seinen Schülern klarmachen konnte, so kann ich euch klarmachen, wie die Erde in ihrer Vernichtung auferstehen wird aus den elemen­tarisch sich erlebenden Wesenheiten, die in dem richtig verstandenen Kultus sich in die Zukunft hinein entwickeln. - Und es gibt in der Entwickelung unserer Zeit für diese Auffassung einen grandiosen Anfang. Dieser Anfang kann sich so vor die Seele hinstellen : Men­schen haben ihren Hunger und Durst befriedigt, indem sie vor sich auf ihrer Tafel hatten, was den Hunger und den Durst befriedigt. Dann aber kam das Wesen, das in dem Leibe des Jesus von Nazareth wohnte, versammelte seine intimsten Jünger um sich und sagte zu ihnen : Hier ist das Brot, hier ist der Wein. Seht jetzt nicht auf das, was eure äußeren Augen im Brote und Weine sehen, was eure Gaumen schmecken, was euer physischer Leib verdauen kann. Was auf der Erde ist, das trägt den Keim des Unterganges in sich. Aber wenn ihr in euch den rechten Impuls habt, könnt ihr es erfüllen mit dem, was Geist der Erde ist. Denn das ist dann nicht Brot, das ist nicht Wein, das ist, was als das Tiefste im Menschen selber leben kann, das ist, was im menschlichen Leibe lebt und west, was der Mensch vergeistigen kann und was hinübergetragen wird in die Zukunft, wenn alles das, was hier auf Erden lebt, vergangen ist. - Der Christus ist eingezogen in den Leib des Jesus von Nazareth; alles ist geistig geworden an diesem Jesus von Nazareth. Er konnte hinweisen auf das Brot und auf den Wein und konnte sagen : Das ist nicht die wahre Gestalt von Brot

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und Wein, die wahre Gestalt ist diese, die im Menschen wohnt. Dies ist mein Leib, dies ist mein Blut. - Die Worte bekommen ihre rechte Bedeutung dann, wenn man sie interpretiert durch das andere Christus-Wort.

Ich mußte heute und schon früher oftmals zu Ihnen sagen, daß alles, was auf der Erde als Pflanzenreich, als Tierreich, als Mineralreich ist, was in Wind und Wetter, in Wolken und so weiter lebt, selbst was im Sternenscheine lebt, daß alles das zerstieben wird. Es wird nichts davon da sein, nicht ein Stäubchen. Es zerstiebt im Weltenall. Aber das, was der Mensch geistig vorbereitet, das wird da sein.

Der heutige Mensch meint, durch unsere Sprachorgane bewegen wir die Luft, und da werden in der Luft Schwingungen angeschlagen, die trommeln dann auf das Trommelfell, das davon auch den Namen hat, sonst würde man es nicht Trommelfell nennen, wenn nicht darauf getrommelt würde, und da geschieht so etwas wie die Umsetzung in Nervenbewegung - und da hört es dann auf. Es gab eine Zeit in der Menschheitsentwickelung, in der man noch wußte, wie auf den Wor­ten die elementarischen Geister sich bewegten, in der man noch wußte, daß, wenn der Mensch zum Beispiel das Wort ausspricht in der rituellen Handlung, dasjenige, was er im Worte ausspricht, sich hinein­strömend bewegt in die äußere Handlung, die äußere Handlung durchsetzt, und daß der Geist, der im Menschen lebt, sich mit dem, was die äußere Handlung ist, verbindet und dadurch eben das alles geschieht, was ich so ausdrückte : Es werden elementarische Geister, die in die Zukunft hinein sich vervollkommnen, in der Sphäre der Ritualhandlung gegenwärtig sein. - Wer das verfolgt, der kann auch verstehen, was man einstmals meinte, wenn man von dem «Wort» sprach. Heute meint man Schall und Rauch. Daher konnte Goethe mit einem gewissen Recht von Schall und Rauch sprechen lassen. Aber ehedem meinte man mit dem Worte nicht Schall und Rauch; sondern das, was als Geist in dem Worte lebt, nicht das abstrakt begriffliche Vorstellungsmäßige, sondern das wirklich Spirituelle, das im Worte lebt. Und im Worte lebte eben viel Spirituelles. Der Christus machte darauf aufmerksam, daß dasjenige, was der Mensch also im Worte leben läßt, eben in dem steckt, was sich mit der Ritualhandlung als

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eine Vervollkommnung elementarischer Geister ergibt, und er konnte sagen : «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.»

Und jetzt nehmen Sie den Ausgangspunkt des Johannes-Evange­liums : Im Urbeginne war der Logos, das Wort. - Stellen Sie sich vor, wie der Logos mit dem Christus eines ist; was sind dann Brot und Wein bei der Einsetzung des Abendmahles? Leib und Blut des Logos. Und wir haben hingeschaut, wie der Logos das Vergehende verläßt, das Werdende ergreift, die Zukunft vorbereiten will.

So kann gerade auf das Mysterium von Golgatha von einer solchen Betrachtungsweise aus ebenso grandios hingewiesen werden, wie einstmals hingewiesen worden ist auf das Bild des Ätherleibes als einer Mumiengestalt und sein sofortiges wiederum Sich-Verwandeln in eine Gestalt, die ähnlich ist dem menschlichen physischen Leib. Aber der Mensch - das habe ich ja in allen möglichen Zusammen­hängen schon betont - wird wiederum seinen Zusammenhang mit der geistigen Welt erringen müssen, wenn die Erde ihr Ziel erreichen soll. Ebenso wie diejenigen, die den Ägyptern vorangegangen sind, inner­lich dieses Mumiewerden erlebt haben, das sich gleich wiederum auf­löst und das die Wahrnehmung des Atemstoßes darstellte, der in den Organismus sich ausbreitet, so wird in der Zukunft wahrgenommen werden müssen der Ausatmungsprozeß, das Hinaustreten der aus-geatmeten Luft in den äußeren Weltenraum, die Mitteilung von dem, was sich im menschlichen Organismus bildet, die Anschauung der Vergeistigung unserer Umgebung durch den Menschen selber. Der Ägypter sagte sich : Die Mumie stellt mit jedem Atemzuge eine Form dar, die der Mensch innerlich geistig werden will. - Künftige Ein­geweihte werden sagen : Jede Ausatmung stellt dar, wie der Mensch ein ganzer Kosmos, eine ganze Welt werden will. Stößt aus dem Kopf die eingeatmete Luft nach dem Organismus, dann wird der Mensch verstanden. Stößt aus dem Menschen die Luft wiederum hinaus in die Welt, so wird im Anstoß der Luft an die Welt der Kosmos ver­standen. - Man wird den Kosmos dadurch wieder verstehen, daß man in der Imagination die Welt umfassen wird. Und man wird in der Imagination dasjenige erkennen, was der Mensch selber mit seiner

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Atemluft in die Außenwelt versetzt. Es wird aber nichts anderes sein als das, was er in dieser Weise für die Zukunft vorbereitet.

So schließt sich zusammen, was der Mensch geschichtlich tut, mit dem, was im Kosmos geschieht. Ohne daß man diese Dinge zu­sammenschließen kann, kann man zu keinem Weltverständnis kom­men, denn der Mensch muß die Geschichte wiederum kosmisch ver­stehen und den Kosmos geschichtlich verstehen.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 30. September 1922

Wir haben gesehen, wie sich die Grundimpulse des geschichtlichen Werdens der Menschheit in solchen Erscheinungen ausdrücken wie das merkwürdige Hinneigen der ägyptischen Kultur zu der Mumifizierung der menschlichen Form und in der neueren Zeit zu der Konservierung alter Kultformen, die auch in einer gewissen Bezie­hung eine Art Mumifizierung, aber eine Mumifizierung des Kulturgeschehens darstellt. Wenn wir noch einmal mit einigen Gedanken zu der ägyptischen Kultur zurückgreifen, wie sie sich in der Mumie äußerlich offenbart, so müssen wir das, was wir da als eine An­schauung gewonnen haben, mit einer Darstellung verbinden, die ich während des Kursus gegeben habe, der vor kurzem drüben im Goetheanum gehalten worden ist, die ich aber auch hier schon öfter gegeben habe. Ich meine die Darstellung von der gewöhnlichen menschlichen Denktätigkeit, wie sie vom Menschen ausgeübt wird so, daß er sie allmählich während seiner Kindheitszeit in sich heranerzieht, darinnen eine gewisse Fähigkeit erlangt und sie dann durchführt zwischen seinem Jugendalter und dem Tode. Diese Denktätigkeit, dieses, wie ich es öfter genannt habe, intellektualistische Sich-Betäti­gen haben wir kennengelernt als eine Art inneren Seelenleichnams.

Wir haben es uns wiederholt vor die Seele geführt, daß das Denken, so wie es im Erdenleben von dem Menschen ausgeführt wird, nur dann in der richtigen Weise angeschaut wird, wenn man es zu seinem eigentlichen Wesen in die gleiche Beziehung zu setzen versteht, wie der Leichnam, den der Mensch übriggelassen hat, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, im Verhälmis zu dem lebendigen Erdenmenschen steht. Das, wodurch der Mensch Mensch ist, fährt eigentlich aus dem Menschen heraus, und im Leichnam bleibt etwas übrig, das nur diese Form haben kann, die uns entgegentritt, wenn sie eben von einem lebenden Menschen übriggelassen ist. Niemand könnte so einfältig sein zu glauben, daß durch irgendein Zusarnmenkommen von Kräften der menschliche Leichnam in seiner Form entstehen

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könnte. Er muß ein Rest sein, es muß ihm etwas vorangegangen sein, es muß ihm der lebendige Mensch vorangegangen sein. Die äußere Natur, die wir studieren, hat zwar die Macht, die Form des mensch­lichen Leichnams zu zerstören, sie hat aber nicht die Macht, sie zu bilden. Diese menschliche Form wird gebildet durch das, was dem Menschen an höheren Wesensgliedern eigen ist. Aber diese sind fort mit dem Tode. Geradeso wie wir einem Leichnam ansehen, daß er von einem lebendigen Menschen herrührt, so sehen wir es dern Den­ken an, wenn wir es in der richtigen Weise anschauen, daß es nicht durch sich selbst so sein kann, wie es uns im Erdenleben entgegentritt, sondern daß es eine Art Leichnam in der Seele ist, und zwar der Leichnam von dem, was es war, bevor der Mensch aus geistig-seeli­schen Welten in das physische Erdendasein heruntergestiegen ist. Da war die Seele etwas im vorirdischen Dasein, das gewissermaßen mit der Geburt gestorben ist; und der Leichnam dieses seelisch Gestorbe­nen ist das Denken.

Wie sollte es auch nicht so sein, da doch gerade die Menschen, die mit dem Denken am meisten zu leben verstanden, diese Totheit, dieses Gestorbensein des abstrakten Denkens fühlten! Ich brauche Sie nur zu verweisen auf jene ergreifende Stelle, mit der Nietzsche beginnt, die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen zu schildern, da, wo er schildert, wie die griechische Gedankenwelt in den vorsokrati­schen Philosophen, wie etwa in Parmenides oder in Heraklit, zu den abstrakten Gedanken des Seins und Werdens aufsteigt. Da, sagt Nietzsche, fühlt man eine eisige Kälte über sich kommen. Und so ist es auch. Vergleichen Sie nur damit, wie die Menschen des alten Orients in lebendigen, innerlich regsamen, allerdings mehr traum-haften Seelengebilden diese äußere Natur zu begreifen versuchten. Gegen dieses in sich regsame Denken, dessen Blüte uns entgegentritt in der Vedantaphilosophie, in den Veden, gegen dieses sich regende Denken, gegen dieses überall sprießende und sprossende Denken, das den ganzen Menschen innerlich lebendig durchwebt, ist tatsächlich das, was in späterer Zeit als abstrakter Gedanke auftritt, toter Leich­nam. Das empfand Nietzsche, indem er sich gedrungen fühlte, die vorsokratischen Philosophen zu schildern, die zu solchen abstrakten

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Gedanken eigentlich in der Menschheitsentwickelung zuerst auf­gestiegen sind.

Aber sehen Sie hin auf diese orientalischen Weisen, die den griechi­schen Philosophen vorangegangen sind. Sie werden da nichts von einem Zweifel daran finden, daß der Mensch zuerst ein seelisches Da­sein hatte, bevor er auf die Erde niedergestiegen ist. Man kann nicht das Denken als lebendiges erleben und nicht zugleich an das vor-irdische Dasein des Menschen glauben. Wer das Denken als ein lebendiges erlebt, ist eben so wie einer auf der Erde, der den lebendi­gen Menschen erkennt. Wer nicht mehr das Denken als lebendiges erlebt, wie es die griechischen Philosophen auch schon vor Sokrates getan haben, der kann meinen, daß der Mensch ein Wesen ist, das erst mit der Geburt geboren wird, wie es Aristoteles getan hat. Also wir müssen unterscheiden zwischen dem einstmals orientalischen innerlich regsamen und lebendigen Denken, wodurch man wußte, daß man eben aus geistigen Welten in das Erdendasein eingezogen ist, und demjenigen Denken, das dann als das tote Denken, das Leichnam-denken aufgetreten ist, wodurch man nichts anderes kennenlernt als das, was einem eben zwischen Geburt und Tod zugänglich ist.

Versetzen Sie sich nun in die Lage eines solchen Menschen inner­halb Ägyptens, sagen wir im 2. Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha. Der mußte sich sagen: Da drüben im Orient waren emmal Menschen, die haben das Denken als ein lebendiges gehabt. - Aber dieser ägyptische Weise war noch in einer besonderen Lage. Er hatte noch nicht das Seelenleben, das wir heute haben. Stellen Sie sich nur ganz lebendig vor, wie das Seelenleben eines solchen ägyptischen Weisen war. Lebendiges Denken zu fühlen, das war schon aus der Seele entwichen, das konnte man nicht mehr, und das abstrakte Denken war noch nicht da. Man schuf Ersatz durch das Einbalsamie­ren der Mumien, wodurch man in der Art, wie ich es geschildert habe, zu dem Formbegriff, zu den Formvorstellungen des Menschen kam. Man bändigte sich hin zum Begreifen dieser toten Menschen-form in der Mumie, und daran erlernte man zuerst das abstrakte Denken, das tote Denken.

Dem steht in der neueren Zeit gegenüber, daß in einzelnen okkulten

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Gemeinschaften namentlich rituale und Kuliformen, zeremonielle Handlungen bewahrt worden sind, die einmal in der Art, wie ich es gestern charakterisiert habe, ganz lebendig waren in der Menschheit, die aber jetzt als tote aufbewahrt werden. Sie brauchen sich nur daran zu erinnern, was Sie vielleicht von den Ritualien, sagen wir, des Frei­maurerordens gelesen haben. Da werden Sie finden, daß Zeremonien des ersten Grades, des zweiten Grades, des drirten Grades entwickelt werden. Diese Zeremonien werden in äußerlicher Weise gelernt und beschrieben oder auch verrichtet. Das war einstmals eine volle Lebendigkeit; darinnen lebten einstmals Menschen so, wie die Pflanze in ihrem Lebensprinzip lebt. Heute sind sie ein Totes geworden. Auch das Mysterium von Golgatha hat nur in einzelnen priesterlichen Naturen die innerliche Lebendigkeit hervorrufen können, die etwa verknüpft ist mit dem Kultus der Kirchen, die nach dem Mysterium von Golgatha entstanden sind. Aber die Menschheit hat bis jetzt nicht die Möglichkeit errungen, in das Kultusartige das volle Le­bendige hineinzubringen. Dazu ist eben ein anderes notwendig.

All das Denken, das die Menschheit gegenwärtig hat, geht eigent­lich auf das Tote hin. Für das lebendige Denken, das einmal vorhanden war, ist vorläufig gar kein Verständnis vorhanden. Das intellektua­listische Denken, das die Menschheit namentlich seit der Mitte des 14. Jahrhunderts betreibt, das ist ein Leichnam. Deshalb ist dieses Denken auch so sehr bestrebt, sich nur auf die tote Natur zu be­schränken, das Mineralreich kennenzulernen. Und man möchte auch die Pflanzen, man möchte die Tiere, man möchte den Menschen selber nur nach den mineralisch-physikalisch-chemischen Kräften studieren, weil man nur dieses tote Denken, diesen Gedankenleichnam hand­haben will, den der rein intellektualistische Mensch mit sich herum-schleppt.

Ich mußte in diesen Vorträgen, die ich jetzt in dieser Serie vor Ihnen halte, einmal Goethe nennen. Goethe war ja, wie Sie wissen, Mitglied der Freimaurergemeinschaft. Er hat den Kultus der Freimaurer-gemeinschaft erlebt, aber er hat ihn so erlebt, wie ihn eben nur Goethe erleben konnte. Aus den sonst nur traditionell bewahrten Kultus­formen ging für ihn ein unmittelbares Leben hervor. Für ihn war es

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wirklich, daß er sich in Verbindung setzen konnte mit jener geistigen Wesenheit, die sich hereinlebt in der Art, wie ich es dargestellt habe, aus dem vorirdischen Dasein in dieses irdische Dasein; was für Goethe immer, wie ich sagte, eine Art Verjüngungskraft war, denn Goethe hat sich oftmals in seinem Leben wirklich verjüngt. Und aus diesem inneren Leben ist aus Goethe das hervorgegangen, was im Grunde genommen eine der größten, eine der bedeutendsten Erscheinungen im modernen Geistesleben ist, was aber eben bis heute nicht gewürdigt wird: das ist der Metamorphosegedanke.

Was hat denn Goethe eigentlich getan, indem er den Metamorphose-gedanken gefaßt hat? Das war eben das Wiederaufleuchten eines innerlich lebendigen Denkens, eines Denkens, das in den Kosmos eintreten kann. Goethe hat sich aufgelehnt gegen die Linnésche Botanik, wo man eine Pflanze neben die andere hinstellt, von jeder einzelnen Pflanze sich einen Begriff macht und der Meinung ist, man müsse das alles hübsch in ein System bringen. Goethe konnte das nicht mitmachen. Goethe wollte nicht allein diese toten Begriffe haben, er wollte ein lebendiges Denken haben. Das hat er dadurch erreicht, daß er zunächst in der Pflanze selber nachgesehen hat. Und

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für ihn wurde die Pflanze nun so, daß sie unten grobe, ungestaltete Blätter entwickelt, weiter dann gestaltete Blätter, die aber Um­formungen, Metamorphosen des andern sind, dann die Blumenblätter mit einer andern Farbe, dann die Staubgefäße, in der Mitte den

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Stempel - alles Umwandlungen der einen Grundform des Blattes selber. Goethe hat nicht das Pflanzenblatt so angesehen, daß er etwa gesagt hat: Das ist ein Pflanzenblatt, und das ist ein anderes Pflanzen­blatt. - So hat Goethe nicht die Dinge angesehen, die an der Pflanze wachsen, sondern er hat gesagt: Daß dieses Blatt so und jenes Blatt so aussieht, das ist eine Äußerlichkeit. Innerlich angesehen ist es so, daß das Blatt innerlich selber eine Verwandelungskraft hat, daß es

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äußerlich ebensogut so ausschauen kann (rechts) wie so (links). Es sind gar nicht zwei Blätter, es ist eigentlich ein Blatt, in zwei ver­schiedenen Weisen dargestellt.

Und wenn ich eine Pflanze habe (siehe Zeichnung S.110), sagte sich Goethe: Da unten das grüne Blatt, da oben das Blumenblatt (rot)-; der intellektualistische Philister sagt: Das sind zwei, das sind eben zwei Blätter. - Was könnte denn auch für den intellektualistischen Philister selbstverständlicher sein, als daß dies zwei Blätter sind, denn es ist sogar das eine rot, das andere grün. Aber wenn der Mensch einen grünen Rock und eine rote Jacke hat, das sind allerdings zwei, denn in bezug auf die Bekleidung gilt zunächst, wenigstens in der modernen Zeit, die Philistrosität; da ist diese Philistrosität ja am Platze. Aber die Pflanze macht diese Philistrosität nicht mit, sagte sich Goethe, das rote Blatt ist dasselbe wie das grüne Blatt. Es sind gar nicht zwei Blätter, es ist eigentlich nur ein Blatt in verschiedenen Gestaltungen;

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das eine Mal wirkt dieselbe Kraft da unten an der Stelle A. Da wirkt sie so, daß die Kräfte hauptsächlich aus der Erde herausgezogen werden. Die Pflanze zieht die Kräfte aus der Erde heraus, saugt sie da

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hinauf, und das Blatt muß unter dem Einfluß der Erdenkräfte wachsen und wird grün. Und indem die Pflanze weiterwächst (violett), kommt die Sonne und bestrahlt sie immer stärker als da unten. Die Sonne überwiegt, derselbe Impuls wächst in die Sonne hinein und wird rot.

Goethe hätte etwa sagen können: Wenn wir einen Menschen sehen, der einen andern furchtbar viel essen sieht und er selbst hat nichts, nun, da wird er eben blaß vor Neid. Ein andermal gibt ihm einer einen Puff und da wird er rot. Ja, nach demselben Prinzip, nach dem man das hier zwei Blätter nennt, könnte man auch sagen: Das sind zwei Menschen; das eine Mal ist er blaß, das andere Mal ist er rot, also sind es zwei Menschen. - Ebensowenig wie das zwei Menschen sind, ebensowenig sind das zwei Blätter. Es ist ein Blatt, das eine Mal ist es dieses, an einem andern Orte ist es jenes. Das ist ja auch nichts be­sonders Wunderbares für Goethe, denn schließlich kann der Mensch auch von einem Ort zum andern laufen, und es sind doch nicht zwei verschiedene Menschen, die Sie an verschiedenen Orten sehen! Kurz, Goethe kam darauf, daß dieses Nebeneinanderbetrachten der Dinge

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keine Wahrheit, sondern eine Täuschung ist, daß dies ein Blatt wäre, das grüne hier und das rote dort.

Aber so wie er die verschiedenen Organe an der Pflanze sah, so sah er auch die verschiedenen Pflanzen an. Nehmen wir einmal die Sache so: Wir haben da irgendeine Pflanze. Sie hat es gut, sie kann aus dem

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Keim heraus eine ordentliche Wur­zel bilden, einen Stengel, am Stengel ordentliche Blätter, eine ordentliche Blüte, sogar Staubge£äße und den Stempel in den Staubgefäßen drin­nen (siehe Zeichnung). Goethe sagte: Die Staubgefäße sind auch nur dasselbe Blatt. - Er hätte sagen können: Ja, der Intellektualist be­hauptet, die roten Blumenblätter sind so breit, die Staubgefaße sind wie ein Faden so dünn, nur haben sie oben so eine Narbe. - Und dennoch sah Goethe im breiten Blumenblatt und im ganz schmalen Staubgefäß auch nur verschiedene Gestaltungen ein und desselben Blattes. Er hätte auch wieder bildlich sagen können: Habt ihr nicht schon einmal gesehen, daß ein Mensch einmal in seinem Leben ganz schlank war wie eine Gerte, nachher auseinandergegangen und ganz dick geworden ist? Das sind ja auch nicht zwei Menschen. - Also Blurnenblätter und Staubgefäße sind eins, und wie gesagt, daß sie an verschiedenen Stellen sind, macht auch nichts aus, und das war auch für Goethe nichts Wesentliches. Der Mensch, der nicht so schnell laufen kann, kann nicht gleichzeitig an zwei Orten sein. Ein gebildeter Bankier in Berlin sagte einmal, als er von allen Seiten furchtbar ankrakeelt wurde: Glauben Sie, daß ich ein Vöglein bin, das an zwei Orten zugleich sein kann? - Ja, das kann eben der Mensch nicht, sondern hier handelt es sich darum, daß eben das Prinzip der Metamorphose, das Zeigen der Einheit in der Vielheit, der Einheit in der Mannigfaltigkeit überall von Goethe gesucht worden

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ist. Dadurch hat dann Goethe den Begriff der Metamorphose ins Leben gebracht.

Wenn Sie das, was ich jetzt gesagt habe, erfassen, dann bekommen Sie eine Idee vom Geist. Denn denken Sie sich alles das, was ich Ihnen jetzt gesagt habe: Dieses, daß eigentlich die ganze Pflanze ein Blatt ist, in verschiedener Art gestaltet, das ist ganz gewiß nicht körperlich zu fassen. Da müssen Sie etwas geistig fassen, das sich in der verschieden­sten Weise verändert. Es ist Geist, der im Pflanzenreich lebt. Und wir können weitergehen, wir können, wie gesagt, eine Pflanze nehmen, die es gut hat, die also in der richtigen Weise ihren Samen in die Erde versetzt bekommt, dann wiederum zur richtigen Zeit die schwache Frühlingssonne hat, dann die Sonne des Hochsommers, dann wieder­um an der schwächer werdenden Sonne den Samen entwickeln kann. Aber nehmen wir an, die Pflanze wird in solche Naturverhältuisse versetzt, daß sie gar nicht Zeit hat, eine Wurzel zu entwickeln, auch keinen vernünftigen Stamm, keine vernünftigen Blätter, sondern daß sie alles das, was sonst eben in den Blumenblättern sich entwickelt, ganz furchtbar rasch und undeutlich entwickeln muß, weil sie gar nicht Zeit hat, das alles so schnell auszubilden. Da wird es ein Schwamm, ein Pilz.

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Da haben Sie zwei äußerste Extreme: eine Pflanze, die Zeit hat, sich in alle Einzelheiten hinein zu differenzieren, entwickelt Wurzeln, Stengel, Blätter, Blüten, Früchte, alles mögliche. Aber eine Pflanze, die in solche Naturverhältnisse versetzt wird, daß sie gar nicht Zeit

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hat, eine Wurzel zu bilden, bei der bleibt alles nur angedeutet, Stengel und Blätter kann sie auch nicht entwickeln, und das, was im Blüten­prinzip ist und das Fruchtbilden, muß sie schnell und undeutlich machen. Sie setzt sich kaum auf der Erde auf, entwickelt mit furcht­barer Schnelligkeit das, was die andern Pflanzen langsam entwickeln. Denken Sie an den Klatschmohn, der, nachdem er die grünen Blätter so langsam hat vorangehen lassen, behutsam langsam die roten Mohn­blätter ausbilden kann, dann die Staubgefäße, dann das kokette Pistill, das in der Mitte des Klatschmohns drinnen ist. Beim Pilz muß das rasch und überhastet gemacht werden; man hat nicht Zeit zu diffe­renzieren, hat nicht Zeit, sich der Sonne auszusetzen, weil die auch gar nicht da ist, daß man so hübsch färben könnte, kurz, es wird ein Pilz. Im Pilz haben wir eine ganz undeutliche, rasch überhastet hin-geworfene Blüte. Wiederum haben wir eins; zwei ganz verschiedene Pflanzen sind eigentlich ein und dasselbe.

Aber man muß innerlich ein wenig anders werden, wenn man das alles wirklich denken will. Denn der Intellektualist - Goethe würde vielleicht gesagt haben: der steife Philister -, der schaut sich den saftig roten Klatschmohn an, mit dem bauchigen, wohlausgebildeten Pistill in der Mitte, und jetzt soll er sich einen Pilz anschauen. Gleichzeitig soll er sich den Begriff, den er sich von diesem Klatschmohn gebildet hat, so beweglich erhalten, daß er undeutlich werden kann und daß er im Klatschmohn selber schon der Anlage nach den Eierschwamm oder den Kalserling oder so irgend etwas sieht; das geht nicht, nicht wahr? Damit sich sein Intellekt nicht zu bewegen braucht, so daß er eigentlich nicht den Verstand lebendig zu machen braucht, sondern höchstens den Kopf ein bißchen hinüberzulatschen hat, muß man ihm extra den Eierschwamm oder den Kaiserling vorführen. Dann kann er sie nebeneinander vorstellen - sehen Sie, dann gelingt es ihm!

Das ist eben der Unterschied zwischen dem toten Denken und dem innerlich belebten, lebendigen Denken, das Goethe für die Metamor­phose geformt hat. Es war schon eine innerliche Entdeckung von großartigster Art, die da durch Goethe in die Welt gekommen ist. Daher habe ich im allerersten Band von «Goethes naturwissenschaft­lichen Schriften», den ich im Anfange der achtziger Jahre des vorigen

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Jahrhunderts erscheinen ließ, in der Einleitung den Satz nieder­geschrieben: Goethe ist zu gleicher Zeit der Kopernikus und Kepler der organischen Naturwissenschaft, und was Kopernikus und Kepler für die äußere tote Natur getan haben, den Begriff gereinigt, um im gereinigten Begriff das Astronomische und Physikalische zu fassen, das hat Goethe durch den lebendigen Begriff, den Begriff der Meta­morphose, für die organische Naturwissenschaft geleistet. Und das ist seine zentrale Entdeckung.

Und wenn man will, so dehnt sich eben dieser Begriff der Meta­morphose dann über die ganze Natur aus. Goethe hat sich natürlich sofort gedacht, als er die Pflanzenformen aus diesem Metamorphose-gedanken heraus bekommen konnte: Das muß sich auch auf das Tier anwenden lassen. - Aber da geht es eben schwerer. Ein Blatt aus dem andern in Gedanken hervorgehen zu lassen, das hat Goethe ganz gut zustande gebracht. Aber wie man, sagen wir, einen Ringknochen aus dem Rückgrat sich der Gestalt nach metamorphosiert denken soll, daß ein Kopfknochen daraus wird, so daß man auch für das Tier und den Menschen die Metamorphose anwenden kann, das ging eben doch schwerer. Und dennoch ist es Goethe gelungen, wie ich Ihnen schon öfter erzählt habe, als er in einem Kirchhof in Venedig, 1790, das Glück hatte, einen besonders günstig auseinandergefallenen Schaf-schädel vor sich liegen zu sehen. Es war ein Schafschädel, in die ein­zelnen Knochen auseinandergefallen. Da ging ihm auf: Die schauen doch aus, wenn sie auch sehr verwandelt sind, wie die Ringknochen des Rückgrats. - Und da bildete er sich diesen Gedanken, daß wenig­stens die Knochen auch so vorgestellt werden können, daß sie alle eigentlich einen Knochenimpuls darstellen, der nur in verschiedenen Formen auftritt.

Aber in bezug auf den ganzen Menschen ist eben Goethe doch nicht sehr weit damit gekommen, weil es ihm nicht gelungen ist, von seiner Metamorphoseidee zur wirklichen Imagination zu gelangen. Kommt man aber zur wirklichen Imagination und von da aus zur Inspiration, Intuition, dann ergibt sich einem die Einheit noch viel bedeutsamer. Und ich habe auch schon hinweisen können, wie sich diese Einheit am Menschen ergibt, wenn man den Metamorphosegedanken richtig

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faßt. Da muß man von demselben Gesichtspunkte, von dem aus Goethe in der Blüte der Dikotyledonenpflanzen, indem er sie immer einfacher und einfacher, verworrener und verworrener dachte, den Pilz sah, den Menschenkopf studieren, wie er heute uns entgegentritt; dann kann man ihn als eihe Metamorphose des übrigen Skeletts denken.

Versuchen Sie einmal so, mit einem künstlerischen Blick, einen halben Unterkiefer am Menschenskelett anzuschauen. Wenn Sie es mit künstlerischem Blick anschauen, werden Sie kaum anders können, als das, was Sie da unten haben, was hier ansitzt und dann so hinunter-geht, mit den Arm- und mit den Beinlinochen zu vergleichen. Wenn Sie sich die Beinknochen und die Armknochen verwandelt denken, dann haben Sie hier auch zwei Beine - Unterkiefer -, nur sind diese verkümmert. Der Kopf ist ein fauler Kerl, der nicht geht, der immer sitzt. Daher sitzt er auch auf seinen zwei Beinen, die in der Dekadenz sind, die verkümmert sind. Aber wenn Sie sich denken, daß zum Bei­spiel der Mensch die Beine so mit einem Bindfaden zusammen-gebunden bekäme, so kann man schon fast nachahmen, was hier ist. Und wenn Sie mit künstlerischem Blick das ansehen, so könnte man sich schon denken, wie man die Beine dahin kriegen könnte, daß sie auch so wie die untere Kinnlade unbeweglich wären.

Aber wie sich die Sache verhält, darauf kommt man erst, wenn man wirklich das Menschenhaupt als einen umgebildeten andern Menschen-leib ansieht. Ich habe Ihnen dargestellt: dieses Menschenhaupt, das wir in dem gegenwärtigen menschlichen Erdenleben tragen, ist der um-gestaltete Leib ohne Kopf, wie wir ihn im vorigen Erdenleben an uns getragen haben. Der Kopf von dazumal ist uns verlorengegangen -manchen Menschen vermutlich schon während des Erdenlebens -, aber jedenfalls nach dem Erdenleben sind auch die Kräfte des Kopfes verlorengegangen. Der Kopf erhält sich nicht. Ich meine jetzt die Kräfte, natürlich nicht die Materie, sondern die Kräfte, aber diese Kräfte, die Sie jetzt in Ihrem Haupte tragen, die haben Sie früher, wenn Sie sich geköpft denken, an Ihrem übrigen Leib getragen. In einem vorigen Erdenleben haben Sie wiederum den Kopf aus dem vorvorigen Erdenleben getragen. Und das, was Sie jetzt als Leib

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haben, das wird wirklich metamorphosiert, umgestaltet, und Sie wer­den es als Ihren Kopf im nächsten Erdenleben tragen. Daher ist es auch zuerst da. Sehen Sie sich den menschlichen Embryo im mensch­lichen Mutterleibe an: der Kopf kommt zuerst, das übrige setzt sich an, weil es Neubildung ist; der Kopf aber stammt aus dem vorigen Erdenleben, der ist der umgestaltete Körper, ist Form, ist durch das ganze Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt herüber-getragen, bildet sich als Kopf und setzt sich die andern Glieder an.

Und so können wir sagen: Wir sehen, indem wir die wiederholten Brdenleben dazunehmen, in dem Menschen nun die letztlich aus­gebildete Metamorphose. In dem, worauf Goethe gekommen ist im Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts, in dem Pflanzen­Metamorphosegedanken, da ruht das, was einen nun zum lebendigen Begriff vom Werden führt, durch das ganze Tierreich hinauf bis zum Menschen, und zwar so, daß es auch noch die Idee hergibt, durch die wir die wiederholten Erdenleben in ihrer Form begreifen. Goethe ist das Denken innerlich dadurch so belebt worden, daß er das Zere­moniell seines Kultus mitgemacht hat. Da hat er, wenn ihm das auch nicht klar zum Bewußtsein gekommen ist, doch eine Ahnung davon bekommen, wie der noch ganz seelische Mensch im vorirdischen Dasein das herüberträgt, was vom Körperskelett an Kräften aus dem früheren Erdenleben geblieben ist; wie das von dem Menschen in dieses Erdenleben hereingetragen und zur Kopfform ausgestaltet worden ist unter der schützenden Hülle des mütterlichen Leibes.

Goethe hat das nicht gewußt, aber er hat eine Ahnung bekommen und hat das zunächst auf das Einfachste, das Pflanzenleben, angewandt. Er konnte das, weil seine Zeit dazu noch nicht reif war, eben nicht so weit ausdehnen, wie es heute ausgedehnt werden kann, nämlich bis zum Begreifen der Menschenverwandlung von einem Erdenleben bis zum andern. Gewöhnlich wird es mit einem Gefühl von Mitleid ge­sagt, daß Goethe diese Metamorphose ausgebildet hat, weil ihm da seine Künstlernatur in die Quere gekommen sei. Das sagen die Pedan­ten, die Philister, aus Mitleid heraus. Wer kein Pedant und Philister ist, der muß mit Begeisterung sagen: Goethe konnte eben zur Wissen­schaft das Künstlerische hinzufügen und konnte gerade dadurch zu

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beweglichen Begriffen kommen. - Aber so kann man doch nicht, sagt jetzt der philiströse Dialektiker, die Natur begreifen. Da muß man steif logische, streng logische Begriffe, wie er sagt, haben. - Aber wenn die Natur eine Künstlerin wäre, dann könnte der ganzen Natur­wissenschaft, die die Kunst ausschließt und nur auf äußere Begriffe geht, passieren, was mir einmal ein Münchner Künstler, der noch ein Zeitgenosse des großen Ästhetikers Carriére war und mit dem wir über Carriére ins Gespräch kamen, erzählt hat. Er sagte: Wir Künstler dazumal in unserer Jugend, wir gingen nicht in die Vorlesungen des Carriére. Sind wir einmal hereingegangen, dann gingen wir wieder heraus und sagten: Das ist der ästhetische Wonnegrunzer! - So, wie es dem Ästhetiker passierte, daß der Künstler ihn einen Wonnegrunzer nennt, so könnte die Natur, wenn sie selber über ihre Geheimnisse sprechen würde, den bloß logischen Naturforscher vielleicht nicht einmal einen Wonne-, sondern einen Jammergrunzer nennen, denn die Natur schafft eben künstlerisch. Und man kann der Natur nicht befehlen, sie dürfe sich bloß logisch begreifen lassen, sondern man muß die Natur so begreifen, wie sie ist.

So ist einmal die historische Entwickelung. Einstmals im alten Orient waren lebendige Begriffe. Ich habe Ihnen geschildert, wie zu­nächst durch die Umgestaltung, die Metamorphose des Atmungs­prozesses diese lebendigen Begriffe zu einem Wahrnehmungsprozeß geworden waren. Die Menschen mußten sich zu den toten Begriffen hindurcharbeiten. Die Ägypter konnten es noch nicht. Sie bändigten sich heran zu den toten Begriffen, indem sie zunächst den Menschen selbst in seiner Totheit in der Mumie entwickelten. Jetzt aber sind wir in der Lage, daß wir den Begriff neu erwecken müssen. Und das kann nicht geschehen dadurch, daß wir nur alte okkulte Formen traditionell entwickeln, sondern indem wir uns wirklich hineinleben, immer weiter und weiter nicht nur uns hineinfinden, sondern es ausbilden, was als erster Goethe als den Metamorphosegedanken gefaßt hat: den leben­digen Begriff. Wer den lebendigen Begriff, das heißt, die seelische Handhabe des Geistigen beherrscht, der ist auch imstande, aus dem Geiste heraus wiederum die äußere Handlung des Menschen zu be­leben. Dann kommt es dahin, daß wirklich einmal erreicht werden

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kann, wovon ich öfter vor unseren anthroposophischen Freunden gesprochen habe, daß man sich nicht in einer solchen gleichgültigen materialistischen Weise an den Laboratoriumstisch oder an den Sezier­tisch stellt und da herumfuhrwerkt, sondern daß man empfindet, was man der Natur als ihre Geheimnisse ablauscht, als Taten des Geistes, der durch die Natur durchströmend sich betätigt: daß der Laborato­riumstisch zum Altar wird. Ehe nicht Verehrung, religiöses Emp­finden in unsere Wissenschaft hineinkommt, solange eine abgeson­derte Religion neben der Wissenschaft sich auftut und bloß dem menschlichen Egoismus dient, ehe nicht die Wissenschaft selber wiederum, was sie erforscht, verehren lernt - so wie die alten Myste­rienschüler verehren gelernt haben, wie ich das in meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» nachgewiesen habe -, eher kommen wir nicht wieder zu aufsteigenden Kräften in der Menschheit. Wir müssen wiederum alles Forschen als einen Verkehr mit der geistigen Welt begreifen lernen. Dann werden wir der Natur dasjenige ablauschen, was die Menschheit wirklich in ihrer Entwickelung weiter-bringt. Und dann werden wir den Mumifizierungsprozeß, den die Menschheit einmal durchmachen mußte, im umgekehrten Sinne durchmachen. So wie der Ägypter den Leichnam des Menschen ge­nommen hat, um ihn einzubalsamieren, so daß jetzt noch in einer, ich möchte sagen, fast schauererregenden Weise ganze Kolonien von Mumien geschaut werden können in den Museen, wohin sie die Europäer verschleppt haben, so wie da einstmals das Denken der Menschen in der Mumie erstarrt ist, so muß es in der Zukunft wieder erweckt werden. Der alte Ägypter nahm den menschlichen Leichnam, balsamierte ihn ein, konservierte den Tod. Wir müssen fühlen, daß wir den Seelentod in uns tragen, wenn wir die bloß abstrakten, in­tellektualistischen Gedanken haben. Wir müssen fühlen: Das ist die Seelenmumie. Wir müssen verstehen lernen, was noch als eine Ahnung in Paracelsus lebte, als er, wenn er eine gewisse Substanz aus dem menschlichen Organismus nahm, dies die «Mumie» nannte. Er sah in einem kleinen substantiellen Rest des Menschen die Mumie. Er brauchte nicht den einbalsamierten Leichnam, um die Mumie zu sehen, denn für ihn war die Mumie die Summe der Kräfte, die den

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Menschen in jedem Augenblick zum Tode bringen konnten, wenn er sich nicht in der Nacht wiederum belebte.

In uns waltet das tote Denken. Das Denken stellt den Seelentod dar. Wir tragen in unserem Denken die seelische Mumie in uns. Sie bildet gerade das, was man in der gegenwärtigen Kultur am meisten schätzt. Man kann, wenn man will, in den Museen, wo eine Mumie nach der andern ausgestellt ist, wenn man mit einem etwas universelleren Blick ausgestattet ist, mit dem Goetheschen Blick zum Beispiel, Metamor­phosen sehen. Man kann da durch die Säle gehen und dann auf die Straße treten mit dem Gefühl: Da ist in der heutigen Zeit des In­tellektualismus gar kein Unterschied, denn daß die Mumien nicht gehen und daß draußen auf der Straße die Menschen gehen, das ist ja nur ein Zufall, ist nur eine Äußerlichkeit. Die Menschen, die heute, im intellektuellen Zeitalter, draußen auf der Straße gehen, sind seelisch Mumien, Seelenmumien, weil sie ganz von toten, intellektualistischen Gedanken ausgefüllt sind, von Gedanken, die nicht leben können. Wie ein ursprüngliches Leben in den ägyptischen Mumien erstarrt ist, so ist das Seelenleben erstarrt, und es muß für die Zukunft der Menschheit wiederum lebendig gemacht werden. Wir dürfen es nicht so weitertreiben, wie wir es mit der Anatomie und Physiologie ge­trieben haben. Das war den Ägyptern gestattet mit den physischen Menschenleichnamen. Aber den abstrakten Seelenleichnam, den wir im intellektualistischen Denken in uns tragen, dürfen wir nicht weiter mumifizieren. Es ist heute überhaupt die Lust vorhanden, das Denken einzubalsamieren, damit es nur recht pedantisch logisch wird und nicht irgendwie ein Fünkchen von enthusiastischem Leben in dieses Denken hineinkommt.

Wenn die Mumien photographiert werden, so sind es eben auch steife Bilder. Man kann so ein Mumienbild von der Mumie selbst in der Steifheit nicht gut unterscheiden. Wenn man aber heute ein Lite­raturwerk aus diesem oder jenem Fache in die Hand nimmt, so ist das eine Photographie der mumifizierten Seele. Da hat man ein Abbild der Seelenmumie, da ist die Seele einbalsamiert. Vielleicht könnte man noch ein bißchen im Zweifel sein, weil die Menschen außer ihrem Verstande, der eben mumifiziert ist, auch noch etwas anderes an sich

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haben. Deshalb laufen sie eben herum: sie haben so allerlei fleischliche und andere Antriebe. Es kommt dieses Bild von der Mumie nicht ganz deutlich heraus, aber bei den Büchern kommt es heute schon sehr deutlich heraus, da merken wir schon die Einbalsamierung sehr stark. Aber wir müssen weg von diesem Balsamieren, wir brauchen statt dieses Balsamierens der Ägypter, das sie für die Mumien ver­wendet haben, ein anderes Ingredienz, wir brauchen ein Lebens-elixier. Nicht in der Weise, wie es sich heute vielleicht mancher denkt, um den physischen Körper zu vervollkommnen, sondern etwas, was die Gedanken lebendig macht, das sie entmumifiziert. Und wenn wir das verstehen, haben wir einen tiefen, einen bedeutenden historischen Impuls vor die Seele hingestellt. So wie die Menschheit ihre Geist-kultur im Mumifizieren erstarren ließ, als sie die Mumien einbalsa­nuerte, so müssen wir wiederum dasjenige, was nun einmal mumifi-ziert bei dem geistigen Menschen zur Welt kommt, im Laufe seiner Erziehung, seiner Entwickelung, mit geistig-seelischem Lebenselixier durchdringen, damit es weiter in die Zukunft hineindringen kann. Es sind zwei Kräfte: das Einbalsamieren der Ägypter und das Entbalsa­mieren, das die neuere Menschheit lernen muß.

Die neuere Menschheit hat sehr nötig, das Entbalsamieren der ver­steiften, der toten Seelenkräfte zu lernen. Es liegt darin eigentlich eine ganz besonders wichtige Aufgabe. Denn sonst kommen solche Er­scheinungen heraus wie die, von der ich Ihnen auch schon vor einiger Zeit hier gesprochen habe. Da merkt jemand wie Spengler, daß es mit diesen einbalsamierten Begriffen nicht geht, daß die einbalsamierten Begriffe eben zum Tode der Kultur führen. Ich habe in einem Artikel des «Goetheanums» gezeigt, was beim Spengler passiert. Er hat zwar gemerkt, wie die Begriffe alle tot sind, aber seine Begriffe leben auch nicht. Ihm ist es gegangen wie jener Frau aus dem Alten Testament, die sich umgeschaut hat. Der Spengler hat sich umgeschaut nach all-dem, was an toten, mumienhaften Begriffen vorhanden ist, und so ist er zur Salzsäule geworden. Diese lebt ebensowenig. Es ist Spengler gegangen wie jener Frau des Lot. Er ist zur Salzsäule erstarrt, denn seine Begriffe leben ebensowenig wie die anderer.

Es ist ein alter okkulter Satz, daß im Salz Weisheit lebt, aber nur,

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wenn es im menschlichen Merkur und im menschlichen Phosphor auf­gelöst ist. Die Weisheit, die im Salze erstarrt, die hat Spengler, aber es fehlt sowohl der Merkur, der dieses Salz in Bewegung bringt und es dadurch universell, kosmisch macht, und noch mehr fehlt der Phos­phor. Denn anzünden - ich meine seelisch durch Begeisterung an­zünden -, das kann man nicht mit Spenglers Begriffen, wenn man ihn mit Gefühl, namentlich mit künstlerischem Gefühl liest. Sie bleiben alle salzig-steif und schmecken sauer, und man muß erst hinterher sich ordentlich durchmerkurialisieren und durchphosphorisieren, wenn man diesen Salzklotz, der sich « Untergang des Abendlandes» nennt, verdauen will. Wir müssen aus dem Salze, aus der Erstarrung heraus. Wir müssen Lebenselixier auch gerade in bezug auf die Seelenmumie, die abstrakten Begriffssysteme anwenden. Das ist es, was uns nötig ist.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 1. Oktober 1922

Wir haben in den letzten Betrachtungen auf umfassende Impulse inner­halb der weltgeschichtlichen Entwickelung der Menschheit hin­gewiesen. Solche umfassende Impulse müssen für die geschichtliche Betrachtung gewissermaßen als die leuchtenden Sterne dastehen, welche das einzelne, das im Laufe der Menschheitsentwickelung ge­schehen ist, für die Erkenntnis beleuchten können. Jede einzelne geschichtliche Epoche kann ja eigentlich nur in einer ganz äußerlichen Weise kennengelernt werden, wenn man nicht diese dahinterstehenden Impulse zu empfinden und zu durchschauen vermag. Diese Impulse wirken. Sie wirken zumeist durch die unbewußten Kräfte der mensch­lichen Seele am allerstärksten. Und das, was sich äußerlich für die Menschen vor deren Bewußtsein abspielt, erscheint eben erst im rechten Lichte, wenn man es auf solche Impulse zurückzuführen vermag.

Nehmen wir einmal ein Ereignis, das ja allen aus der Geschichte wohlbekannt ist, ein Ereignis oder besser gesagt eine Ereignisreihe, welche in der Mitte des Mittelalters für das ganze Leben des Abend­landes tief einschneidend war, eine Ereignisreihe, die ja äußerlich ver­hältnismäßig bald, nach ein oder anderthalb Jahrhunderten, vorübergegangen ist, die aber in ihren Wirkungen fortdauerte und eigentlich für den, der tiefere Strömungen im weltgeschichtlichen Werden ver­stehen kann, noch heute andauert: Nehmen wir die Ereignisreihe der Kreuzzüge, die im 11. Jahrhundert - gewöhnlich wird das Jahr 1096 genannt - ihren Anfang nehmen und dann äußerlich sich erstrecken bis zu jenem Jahre, das gewöhnlich als 1270 angenommen wird. Wir sehen ja auch, daß schon in der äußerlichen Geschichte darauf auf­merksam gemacht wird, wie sich aus der Ereignisreihe der Kreuzzüge Mannigfaltiges an Lebenseinrichtungen herausgestaltet.

Es werden zum Beispiel die Tempelritter genannt, die während der Kreuzzüge erst ihre richtige Bedeutung für das äußere Leben erhalten haben; es werden genannt solche Ordensgemeinschaften wie die

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Johanniter, die späteren Malteserritter, und andere. Und was durch solche Lebens- und Geistesgemeinschaften aus der Kreuzzugsstim­mung heraus den Anfang genommen hat, das entwickelte sich später so, daß sein Ursprung aus dieser Kreuzzugsstirnmung heraus weniger genannt wurde, daß aber doch die Wirkungen im abendländischen Leben deutlich vorhanden waren.

Wenn wir das äußere Geschichtliche zunächst uns vor die Seele rücken, so wissen wir ja, daß die Kreuzzüge dadurch entstanden sind, daß jene christlichen Angehörigen des Abendlandes, welche ihre christlichen Impulse immer wieder durch Pilgerzüge nach Palästina aufzufrischen glaubten, Widerstand fanden dadurch, daß Palästina, Jerusalem, allmählich in die Hände einer ganz andersartigen Bevölke­rung, der türkischen Bevölkerung gekommen war, daß sich die Pilger, die nach Jerusalem zogen, durch diese türkische Bevölkerung mißhandelt fanden, was dann zu einer allgemeinen Klage in Europa wurde. Wir sehen, wie aus dieser allgemeinen Klage heraus sich eben die Kreuzzugsstimmung, die in anderer Art schon lange vorhanden war, dadurch entlädt, daß sich Menschen finden, welche aufforderten, die heiligen Stätten des Morgenlandes, die christlichen Stätten von der Türkennot zu befreien. Es wird erzählt, wie zunächst Peter von Amiens, der selbst diese Türkennot kennengelernt hatte, im Westen von Europa wallfahrtend herumgezogen ist, wie er durch seine innigen Reden das Herz von vielen gewonnen hat, die sich aufmachen woll­ten, um Jerusalem von der Not der Türken zu befreien. Wir wissen aber auch, wie das zunächst zu nichts geführt hat und wie dann ein erster Kreuzzug dadurch zustande gekommen ist, daß sich eine ganze Anzahl von Rittern des Abendlandes unter der Anführung von Gott­fried von Bonil/on zusammengefunden hat, der es dann wirklich wenig­stens bis zu einer teilweisen Befreiung Jerusalems von den Türken gebracht hat.

Diese äußeren Ereignisse braucht man nur anzuschlagen, sie sind aus der äußerlichen Geschichte genugsam bekannt. Aber es handelt sich darum, auch innerlich einmal wirklich verstehend zu betrachten, was da mehr oder weniger unbewußt durch die Seelen hindurch ge­wirkt hat, so daß in einer so langen Zeit fortwährend zahlreiche Menschen

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in zum Teil außerordentlich hingebungsvoller, tapferer Weise diese sieben Kreuzzüge nach dem Morgenlande unternommen und die Führung der angesehensten Fürsten des Abendlandes gefunden haben. Wir müssen uns vor allen Dingen fragen, woher denn dieser Enthusiasmus der Kreuzzüge gekommen ist, der namentlich am An­fange der Kreuzzüge innerhalb des europäischen Lebens geherrscht hat. Später allerdings, als einmal die Sache, wenn ich mich so aus­drücken darf, eingeleitet war, schon vom vierten Kreuzzuge ab, haben sich dann auch andere Interessen in die Sache hineingemischt. Euro­päische Fürsten zogen dann aus ganz andern Untergründen heraus nach dem Oriente, zum Beispiel um ihr Ansehen, ihre Macht zu be­festigen und dergleichen. Aber es ist doch ein außerordentlich bedeu­tungsvolles historisches Ereignis, das den Anfang der Kreuzzüge darstellt.

Es ist namentlich historisch außerordentlich bedeutsam, wenn man hinschaut auf die ungeheure Gewalt, die da plötzlich eine große Zahl von europäischen Menschen aller Stände ergriff, um etwas zu unter­nehmen, was mit den heiligsten Herzensangelegenheiten der euro­päischen Menschheit zusammenhängen sollte. Man fühlte allerdings, daß diese heiligsten Herzensangelegenheiten durchaus zusammen­hingen mit der Befreiung Jerusalems von den Türken, mit der Er­öffnung der Möglichkeit, daß die europäischen Christen wiederum die freien Wege nach der Grabstätte ihres Erlösers fanden. Wenn so trocken die historischen Tatsachen erzählt oder in den Büchern ge­lesen werden, so fühlt man zumeist nicht das ungeheure Feuer, das dazumal durch Europa brannte, als die edle Ritterschaft im ersten Kreuzzuge die Fahrt unternahm und als dann aus der ganzen Innigkeit und dem Feuer seines Seelenwesens heraus etwa ein Bernhard von Clair­vaux oder andere wiederum dieses Feuer, diese Strömung angefacht haben. Es ist etwas ungeheuer Großes in der ersten Entstehung dieser Kreuzzüge. Und fragen muß man sich schon: Was wirken da für Impulse in den europäischen Herzen, in den europäischen Seelen, Impulse, die dann eben in die Kreuzzugs stimmung einliefen?

Diese Impulse kann man nur in der richtigen Weise verstehen, wenn man durch die Jahrhunderte zurückverfolgt, wie sie sich eigentlich

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entwickelt haben. Ich möchte sagen, ein Knotenpunkt historischer Entwickelung innerhalb Europas, an dem man außerordentlich viel sehen kann von dem, was später bedeutend und einschneidend ge­worden ist, ein solcher Knotenpunkt europäischer Entwickelung ist die Regierungszeit des Papstes Nikolaus I., etwa in der Mitte des 9. Jahrhunderts, gewesen. Nikolaus I., er regierte von 858 bis 867, war jener römische Papst, der vor seiner Seele drei geistige Strö­mungen stehen sah, die, ich möchte sagen, wie große Fragezeichen der Zivilisation vor ihm auftraten.

Die eine Strömung bewegte sich wie in einer Art geistiger Höhe von Asien herüber nach Europa. Wir können sagen: diese Strömung setzt in einer sehr modifizierten, veränderten Form orientalische Religions­erkeunmisse über den Süden von Europa, über den Norden von Afrika fort nach Spanien, nach Frankreich, nach den Britischen Inseln, aber namentlich nach Irland. Nehmen wir also ihren Ausgangspunkt an etwa von den arabischen Gegenden Asiens. Dann zieht sie herüber über Griechenland, Italien, aber auch über Afrika nach Spanien hinein und über den Westen herauf, aber verschiedentlich ihr Wesen auch nach dem übrigen Europa ausstrahlend.

Diese Strömung spricht sich wenig in dem aus, was als äußerliche Geschichte erzählt wird. Diese Strömung, die eigentlich ungeheuer vieles enthält, wollen wir heute nur nach zweien ihrer Eigentümlich­keiten charakterisieren. Das eine, das in ihr lebt, ist etwas, was man nennen könnte eine esoterische Auffassung des Mysteriums von Gol­gatha. Ich habe Sie öfters darauf aufmerksam gemacht, wie diejenigen Persönlichkeiten, die noch Reste der alten, vor dem Mysterium von Golgatha liegenden Initiationserkeunmisse bewahrt hatten, das Myste­rium von Golgatha aufgefaßt haben. In der Bibel selbst ist das in der Erscheinung der drei Magier oder Könige aus dem Morgenlande zu erkennen, die aus dem Geheimnis der Sternenwelt heraus das Christus-Ereignis erahnen und suchen, die also vorzugsweise zu denjenigen gehören, denen die irdische Persönlichkeit des Jesus von Nazareth weniger bekannt war, denen vor allen Dingen die Tatsache wichtig war, daß eine geistige Wesenheit, der Christus, heruntergestiegen war aus geistig-seelischen Welten, in dem Leibe des Jesus von Nazareth

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Wohnung genommen hatte und einen Impuls auf die fernere Erden­entwickelung ausüben sollte. Ganz übersinnlich schauten diese Men­schen das Ereignis von Golgatha an, und diese übersinnliche An­schauung konnte nur in solchen Seelen stattfinden, die noch die alten Initiationsprinzipien bewahrten. Denn mit Hilfe dieser Initiations­prinzipien ließ sich so etwas verstehen, was ja innerhalb der natür­lichen und der historischen Erdenwelt nicht verstanden werden kann. Innerhalb dieser Initiationsprinzipien ließ sich dieses rein übersinn­liche Ereignis verstehen.

Es wurde aber im Verlaufe der Zeiten immer schwieriger, diese alten Initiationsprinzipien festzuhalten, und so wurde es immer weni­ger möglich, sich überhaupt auszudrücken, wenn man sagen wollte, wie der Christus aus überirdischen Welten heruntergestiegen ist und das Mysterium von Golgatha so vollendet hat, daß seine Wirkung durch die geschichtliche Erdenentwickelung fortdauert. Die Men­schen hatten einfach keine Möglichkeit, ihre Begriffe so auszubilden, ihre Ideen so zu gestalten, daß sie in einer ideellen Form hätten Worte finden können, um zu sagen, was durch den Christus mit Hilfe des Mysteriums von Golgatha geschehen ist.

Und so war man immer mehr und mehr genötigt, um dieses Ge­heimnis auszudrücken, zu bildhaften Darstellungen zu greifen. Eine solche bildhafte Darstellung ist die Erzählung von dem Heiligen Gral, von jener kostbaren Schale, von der einerseits gesagt wird, daß in ihr der Christus Jesus mit seinen Aposteln das Abendmahl genommen hat, und andererseits, daß es dieselbe Schale sei, mit der der römische Krieg sknecht unter dem Kreuze das Blut des Erlösers aufgefangen hat. Diese Schale wird dann von Engeln nach dem Montsalvatsch ge­tragen. Sie sehen, es wird da auf Übersinnliches angespielt, und man stammelt, was alte Initiierte noch in konturierten Begriffen hätten aus­drücken können und was man jetzt nur noch ausdrücken konnte, indem man zu Bildern griff. Engel trugen also diese Schale herüber nach dem spanischen Berge Montsalvatsch, wo sie von dem erhabenen König Titurel empfangen wurde, der dieser Schale einen Tempel gründete, den dann die Ritter des Heiligen Grals bewohnten, um so zu bewachen und zu bewahren, was eigentlich der Hort des Fortwirkens

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jenes Impulses ist, der von dem Mysterium von Golgatha ausgegangen war.

So haben wir, ich möchte sagen, in ein Geheimnisvolles auslaufend, eine tief esoterische Strömung. Wir sehen auf der einen Seite, wie diese Strömung in Asien drüben Schulen begründet, die den alten griechi­schen Philosophen Aristoteles studieren, die dort mit Hilfe der griechi­schen Begriffe des Aristoteles das Ereignis von Golgatha verstehen wollten. Wir sehen, wie aus der europäischen Zivilisation heraus später in einer Dichtung wie im « Parsifal» versucht wird, in bildhafte Worte zu fassen, was in dieser Strömung lebte. Wir sehen, wie in den Lehren, die namentlich in den Schulen Irlands auftreten, all das durch­schimmert, was in dieser Strömung lebte. Wir sehen, wie in diese Strömung hineingegossen ist das Beste, was von den Arabern ge­kommen ist, wie da aber zu gleicher Zeit ein fremdes Element durch die Araber hineinkommt, das in Asien drüben durch das türkische Element noch ganz besonders vergröbert und verbarbarisiert wird.

Welchen Charakter diese Strömung hier durch die Araber annahm, durch den immer weiteren Fortgang vom Osten nach dem Westen, das wollen wir gleich nachher erörtern, wenn wir die andern Strö­mungen haben auf uns wirken lassen. Aber wenn wir den Grund-charakter dieser Strömung angeben wollen, so müssen wir ihn etwa so charakterisieren: Diejenigen, die irgendwie innerhalb dieserGeistes­strömung lebten, die sahen eigentlich alles Heil darin - und man kann das noch nachlllingen hören in der Parzival-Dichtung des Wolfram von Eschenbach -, von dem Sinnlichen aus sich hinaufzuheben ins Über­sinnliche, also eine Art von wenigstens annäherndem Schauen der übersinnlichen Welten zu haben, den Menschen an den übersinnlichen Welten Anteil nehmen zu lassen, ihn wissen zu lassen, daß seine Seele einer Strömung angehört, die nicht unmittelbar wahrgenommen wer­den kann, wenn man die Sinne auf die irdischen Ereignisse richtet. Das war das Eigentümliche: dieses Hinaufschauen in überirdische, in übersinnliche Regionen, dieses Empfinden, daß der Mensch, wenn er ein vollständiger Mensch sein will, Welten angehören müsse, die gewissermaßen über dem Sinnlich-Natürlichen dahinschweben, in denen Ereignisse geschehen, die sich dem äußeren Auge so verbergen

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wie die Taten der Gralsritter. Für das äußere Auge sollte das Ge­heimnis nicht zu schauen sein, das innerhalb dieser Strömung dahin­flutete. Das war die eine Strömung, die im 9. Jahrhundert nur ganz leise, aber doch als etwas Feindliches wahrgenommen wurde inner­halb des Rom, in dem Nikolaus I. dazumal Papst war. Es war schon in Rom vollständig die Stimmung vorhanden, diese Strömung als eine feindliche zu betrachten, als eine solche, welche eigentlich den abend-ländischen Menschen unheilsam ist, wenn sie sich ihr hingeben. Nichts Esoterisches und nichts, was auch nur vom Esoterischen herstammt, sollte innerhalb des Religiösen und des Erkenntnislebens in Europa sein.

Es war ganz ohne Zweifel das erste, aber auch das furchtbarste Fragezeichen gerade für Nikolaus I., denn er empfand noch das Gran­diose des spirituellen Lebens in dieser Strömung, die ja schon seit dem 3., 4. Jahrhundert stark verglommen war - man hatte sogar in Italien eine Gesellschaft zur Ausrottung aller spirituellen Erkenntniswege begründet -, die aber dennoch auf mancherlei geheimnisvollen Wegen in die Herzen der Menschen hereinleuchtete und sich da und dort zeigte. Was da oftmals aus geheimnisvollen Untergründen des welt-historischen Geschehens durchbrach in den Erlebnissen der Men­schenseelen, das klagte man der Ketzerei an. Man hatte auch das Ge­fühl, daß sich allmählich das römisch-lateinische Wesen so entwickelt hatte, daß es in seinen Begriffen, die sich immer mehr aus der früheren griechisch-orientalischen Innigkeit zu der römisch-lateinischen Rhe­torik, also zu einer gewissen Äußerlichkeit, gebildet hatten, nicht mehr aufnehmen konnte, was da noch von verglimmender Esoterik lebte. Auf der andern Seite aber war wiederum das Aufleben im einzelnen Menschen und in einzelnen Gemeinschaften, die man als Sekten denunzierte, doch ein außerordentlich Mächtiges.

Das zweite Fragezeichen, das in welthistorischer Beziehung vor Nikolaus I. stand, war dieses, daß er nach allem, was die katholisch-christliche Kirche bis dahin an Erfahrungen gesammelt hatte, die Bevölkerung des europäischen Abendlandes für nicht geeignet halten mußte, die hochgeistige Spannung zu ertragen, die in den Seelen be­wirkt wird, wenn sie sich in der geschilderten Weise zu einem spirituell-esoterischen

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Erfassen hinaufranken sollen. Man möchte sagen, in der Seele dieses Nikolaus I. lagerte sich ab der große Zweifel: Was soll werden, wenn zu viel von dieser esoterisch-spirituellen Strömung in europäische Seelen hineinkommt?

Im Orient selbst verwirrte sich immer mehr und mehr, was da vor­handen war. Eigentlich am reinsten hielt sich diese eine Strömung, die sich bis nach Irland hinein erstreckte, und in Irland waren wirklich eine Zeitlang spirituelle Schulen, welche die heiligen Geheimnisse dieser Strömung in einer hohen Reinheit bewahrten.

Nun aber sagte sich Nikolaus I.: Für die europäische Bevölkerung taugt das nichts. - Er wollte im Grunde genommen nur dasselbe, was in einer etwas andern Weise schon Bonifatius gewollt hatte, der es als eine europäische Eigentümlichkeit angesehen hatte, daß die euro­päische Bevölkerung nicht geeignet sei, das spirituelle Leben in die Seelen aufzunehmen. Und so stellt sich denn das Eigentümliche heraus, daß im Orient der eigentliche esoterische Gehalt abschmolz. Die Menschen im Orient, auch im europäischen Orient nach dem heutigen Rußland herein, konnten ihre Seelen nicht zusammenbringen mit diesem esoterisch-spirituellen Gehalt. Sie hatten aber ein Emp­finden dafür, insofern solche Empfindungen nicht von den heran­rückenden turanischen Bevölkerungen gründlich ausgerottet wurden, die dann eben sich als die Türken offenbarten. Es hatten diese Men­sehen des Ostens ein dumpfes, stumpfes Gefühi davon, daß alles das, was hohe Esoterik ist und vom Menschen mit seinem heranrückenden Intellekt nicht erfaßt werden kann, im Kultus strömt und flutet, aber nur dann, wenn der Kultus zu gleicher Zeit einen äußerlich realen Mittelpunkt, gewissermaßen ein geographisches Zentrum hat.

So entstand im Osten von Europa, wo das eigentlich Esoterisch­Spirituelle vergessen wurde, die Hinneigung zum Kultus, verbunden aber mit einem ungeheuren Hängen an dem, was man als den Mittel­punkt des Kultus empfand, mit einem Hängen an dem Grab des Er­lösers. Da an dem Grab des Erlösers in Jerusalem war die Stätte, wo der Erlöser mit seinen Aposteln zusammen das Abendmahl zuerst gefeiert hatte, jenes Abendmahl, das dann in seiner weiteren Meta­morphose zu dem Tode auf Golgatha geworden war, sich durch den

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Tod auf Golgatha erst erfüllt hatte, und das dann fortlebte in der Mittelpunktszeremonie, in dem Meßopfer und in dem übrigen Zere­moniell. Und indem man gewissermaßen sich von dem eigentlichen Spirituellen entfremdete, weil man nicht hinaufgelangte bis zum eso­terischen Erfassen, hing man mit dem Herzen an dem Kultus und an dem, womit dieser Kultus äußerlich zusammenhing, an dem Grab des Erlösers, an der Stätte in Jerusalem. Das Pilgern nach Jerusalem sollte, ich möchte sagen, krönen die zeremoniellen Festlichkeiten, die an jenen Orten begangen werden konnten. All die Zeremonien mit ihren Ritualien, die an den einzelnen Orten begangen werden konnten, sollten für den einzelnen Menschen die Krönung finden dadurch, daß er gewissermaßen das, was er im Abbilde, im Zeremoniell erlebte, dann mit seinem Herzen durchdrang, indem er selber einmal hin-pilgerte zu dem Grabe des Erlösers.

Was sich schon die alten Ägypter mit einem riesigen Zwang heraus­gebildet hatten, so wie ich es an der Betrachtung der Mumie, des mumifizierten Menschen dargestellt habe, die Begriffe: einzelne Schulen drüben in Asien konnten es noch erfassen, aber der Bevölke­rung ging es verloren. Man konnte sich nicht hinaufringen zu dem, was das Geheimnis des Menschen und damit das Geheimnis der gött­lichen Welt ist.

Je weiter man daher in der Zeit des Papstes Nikolaus I. vorrückte, um so mehr sah man im Osten eine innige, herzliche Verehrung des Kultus und ein inniges, herzliches Hängen an dem Zusammenwirken des Kultus und alles dessen, was man am Kultus erleben, empfinden konnte, mit dem, was man dann als die Krönung dieser Empfindun­gen, gewissermaßen als die größte Kultushandlung empfand: das Hinpilgern zu dem Heiligen Grabe. Wenn man von dem Rom des 9. Jahrhunderts, von dem Rom des Papstes Nikolaus I. nach Osten hinübersah, da sah man das eine, wovon sich Nikolaus I. und seine Ratgeber sagten, daß das nicht für die europäische, nicht für die mittel-und nicht für die westeuropäische Bevölkerung tauge. Diese mittel-und diese westeuropäische Bevölkerung habe zuviel von dem in der Menschheitsentwickelung heranstürmenden Intellekt, um an dem bloßen, allerdings durch das Herz innig durchtränkten Anschauen

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des Zeremoniells und an dem Gange nach dem Heiligen Grabe zu hängen. Zuviel habe die europäische Menschheit von heraufkommen­dem Intellektualismus, um in einer solchen Weise ganz Mensch sein zu können. Man sah, daß das im Osten möglich ist, aber mutete es der Menschheit Mitteleuropas und des Westens nicht zu.

Auf der andern Seite sah man auch das erste Fragezeichen. Man sah es als eine ungeheure Gefahr an, wenn nach Europa herüberkommen sollte, was innerhalb dieser Strömung lag, die so viel von Esoterik, so viel von dem in sich hatte, was nun wirklich durch die spirituali­sierten Ideen eigentlich erst völlig begriffen werden kann. Und so möchte ich sagen: Wenn man von dem Rom des Papstes Nikolaus I. nach dem Westen hinüber Ausblick hielt, dann sah man Gefahr; blickte man nach dem Osten, sah man Gefahr. Im Osten sah man eine Strömung sich ausbreiten, die tief nach Europa hereinging - eigentlich eine Reihe von Strömungen -, die Strömung des esoterischen Kultus, im Gegensatz zu jener andern esoterischen Strömung. Mitteleuropa kann und darf nicht ergriffen werden, weder von der einen noch von der andern Strömung - so sagte man sich an dem päpstlichen Hofe von Nikolaus I. Was hat zu geschehen? Es muß dasjenige Gut, das die richtigen Angehörigen dieser esoterischen Strömung schauten, es muß dieses spirituelle Gut in dogmatische Formen gebracht werden. Man muß Worte, Sätze dafür haben, es muß ausgesprochen werden. Aber man muß die Menschen davor behüten, daß sie das Aus­gesprochene schauen können, erkennen können.

Es entstand die Glaubensvorstellung. Es entstand die Vorstellung:

man muß den Menschen, ohne ihnen die Möglichkeit des Schauens zu geben, in abstrakt-dogmatischer Form den Inhalt geben, an den sie glauben können. Und so entstand diese dritte Strömung, die Mittel-und Westeuropa religiös und auch wissenschaftlich ergriff, die zu­nächst für den heranstürmenden Intellekt die Dogmen hatte, aber nicht so, daß diese Dogmen in Begriffe gefaßtes Schauen gewesen wären, sondern diese Strömung hatte die Dogmen so, daß sie aus­gesprochen wurden. Das, was sie darstellten, schaute man nicht mehr, man sollte nur daran glauben.

Hätte diese esoterische Strömung, die bis nach Irland hineingereicht

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hat und da in den neueren Zeiten verglommen ist, sachgemäß verfolgt werden sollen, dann hätten die Menschen sich innerhalb ihrer ein-leben müssen in einer Veremigung der Seele mit der spirituellen Welt. Denn im Grunde genommen war das, was in dieser esoterischen Strömung lebte, die große Frage: Wie gelangt der Mensch dazu, in der ätherischen Welt, im ätherischen Kosmos sich zurechtzufinden? -Denn die Schauungen, die auch das Geheimnis von Golgatha in der Art einschlossen, wie ich es gerade vorhin wiederum charakterisiert habe, bezogen sich auf das Ätherische des Kosmos. So daß man sagen konnte: Hier war die große Frage nach der Eigentümlichkeit des ätherischen Kosmos. Aber was sich auf den ätherischen Kosmos bezog, das wurde für die mittlere Strömung, für diejenige Strömung, die vorzugsweise in die Form des Lateinertums, bis tief ins Mittelalter hinein, gefaßt worden ist, zum dogmatischen Inhalt.

Im Westen war die Frage, unbewußt, nach dem Geheimnis des ätherischen Kosmos. Im Osten war die große Frage innerhalb der Menschheit heraufgetaucht: Wie verhält es sich mit der ätherischen Organisation, mit dem ätherischen Menschenorganismus?

In alien in Kultus, Zeremonie und Ritual ablaufenden Stimmungen und Erkenntnissen des Ostens lebte unbewußt die Frage: Wie kommt der Mensch mit seinem ätherischen Leibe zurecht? - In der südwest­lichen Strömung lebte die Frage: Wie kommt der Mensch mit dem ätherischen Kosmos zurecht? - Früher hatte der Mensch die Wahr­heiten über die übersinnliche Welt durch ein traumhaftes Hellsehen wie von selbst erlangt; er brauchte sich nicht des Ätherischen in der Welt und in sich selbst bewußt zu werden. Das war das Bedeutsame, was die neuere Zeit herauf brachte, daß an den Menschen die große Frage nach dem Inhalt des Ätherischen herantrat - im Westen die Frage nach dem ätherischen Kosmos, im Osten die Frage nach dem eigenen ätherischen Leibe.

Die Frage nach dem ätherischen Kosmos ruft den Menschen zu höchster Entfaltung seiner Geistigkeit auf. Er muß die stärkste Kraft der Ideen entwickeln, um in die Geheimnisse des Kosmos einzudrin­gen. Ich habe Ihnen gestern angedeutet, wie man sie zuerst findet, wenn man in Goethescher Form die Pflanzenmetamorphose betrachtet,

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dann aber aufsteigt zu jener umfassenden Metamorphose, die von einem Erdenleben ins andere Erdenleben hinüberführt. Aber das wurde in Rom für gefährlich gehalten, namentlich in der angedeuteten Zeit des Papstes Nikolaus I. Es sollte gewissermaßen ausgefüllt und zugedeckt werden, was in dieser Strömung lebte.

Aber auch die andere Strömung, die östliche Strömung, bestand in einer Auseinandersetzung mit dem Ätherischen, nur mit dem Ätheri­schen der eigenen Organisation, mit dem eigenen ätherischen Men­schenleib. Mit dem, was sich in dem äußeren Naturreich darlebt, mit Tieren, Pflanzen, Mineralien, lebt der physische Menschenleib, mit alidem, was der Mensch an Maschinen fabriziert, lebt der physische Menschenleib. Will der Mensch aber mit seinem ätherischen Leib hier auf der Erde leben, dann kann er das nur in äußerlicher Weise, wenn er in Zeremonien, wenn er innerhalb des Ritualismus lebt, wenn er innerhalb von Geschehnissen lebt, die nicht irdisch-sinnlich-reale sind. In solche Geschehnisse wollte man sich im Osten einleben, um die innere Eigentümlichkeit des eigenen menschlichen ätherischen Orga­nismus zu erleben.

Auch das fand man in dem Rom des 9. Jahrhunderts, in dem Rom des Papstes Nikolaus I., nicht geeignet für Europa. Vom Westen be­hielt man bloß - und erstreckte es dann wieder weiter zum Westen hin, so daß diese esoterische Strömung ganz verdeckt wurde - das­jenige, was der Intellekt bis zur Dogmatik heraufbringt, wo an die übersinnlichen Wahrheiten nur noch geglaubt wird, wo sie nicht mehr geschaut werden. Aber auch jenes innere Verhältnis zum Kultus, das in Osteuropa sich entwickelt hatte, glaubte man für die mittel- und westeuropäische Bevölkerung nicht geeignet, und daraus entstand dann jene Modifikation des Kultus, die man eben in der römisch-katholischen Kirche hat.

Wenn Sie einmal den Kultus, wie er in der östlichen, in der russisch-orthodoxen Kirche ist, mit der Art und Weise des Kultus vergleichen, wie er in der römisch-katholischen Kirche lebt, dann finden Sie fol­genden Unterschied: In der römisch-katholischen Kirche ist mehr ein angeschautes Symbolum, im Osten ist mehr etwas, in das sich die Seele mit einer vollen Inbrunst hineinlebt. Im Westen war stets das

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Bedürfnis vorhanden, von dem Kultus, der sich mit der dogmatischen Auffassung verband, immer wieder zu den Dogmen hinüberzugehen und von den Dogmen aus den Kultus zu beleuchten. Im Osten wirkte der Kultus für sich. Und das, was nach dem Westen ging, beschränkte sich schließlich darauf, allmählich zu dem zu werden, was dann in äußerlicher Weise in verschiedenen okkulten Gemeinschaften bewahrt wurde, die ja auch heute noch vorhanden sind, die heute zwar eine große Rolle spielen, aber von aller Esoterik der alten Zeit ent­blößt sind.

In Europa einen Kultus zu inaugurieren, der nicht so in das Äthe­rische der Menschennatur eingreift, wie es im Osten geschieht, und eine Dogmatik einzurichten, die es dem Menschen ersparen soll, sein Schauen zu der spirituellen Welt hinaufzuführen, eine solche Doppel-strömung einzuführen, das war das dritte große Fragezeichen, das vor Nikolaus I. stand. Und daran arbeitete er. Dadurch ist es ge­schehen, daß später die griechisch-orientalische Kirche sich voll-ständig von der römisch-katholischen getrennt hat. In dem, was ich angeführt habe, liegen eigentlich die inneren Gründe.

Das alles, was ich Ihnen hier auseinandergesetzt habe, ist eigentlich auf dem Grunde der Seelen sehr deutlich noch zur Zeit der Regierung des Papstes Nikolaus I. in der Mitte des 9. nachchristlichen Jahr­hunderts vorhanden gewesen. Da waren auch durchaus noch Reste von Esoterik im Westen vorhanden. Da waren, namentlich in Spanien, in Frankreich, in Irland, esoterische Schulen. Da waren Menschen, die in die geistigen Welten hineinschauen konnten, die auch ein Christentum hatten, das durch Schauen gelehrt war. Später erhielten sich von dem, was da als Schauen vorhanden war, eben nur die in Andeutungen vorhandenen, in geheimnisvoller Weise immer wieder und wiederum geprägten Hinblicke auf den Heiligen Gral oder auf sein verweltlichtes Gegenbild, auf die Tafelrunde des Königs Artus. Aber man hatte schon das Gefühl: dadrinnen liegt etwas, was mit einem Schauen überirdischer Welten, was mit einem Erleben über­irdischer Welten zusammenhängt.

In Mitteleuropa und übergreifend dann in die Stätten, wo im Westen noch Esoterik vorhanden war, lebte eben dasjenige, was innige, Glauben

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tragende Dogmatik in Verbindung mit einer nicht voll mit dem menschlichen Ätherleib zusammenhängenden Zeremonienwelt ergab. Und im Osten lebte, was ich ja charakterisiert habe. Man müßte, wenn man für das 9. Jahrhundert die europäische Seele schildert, überall in den verschiedenen Varianten diese drei verschiedenen Seelenstimmungen charakterisieren. Das andere, was in der Ge­schichte erzählt wird, ist alles nur ein flüchtiger äußerer Ausdruck dessen, was in den Tiefen auf solche Art waltete.

Aber nun kamen die späteren Zeiten. Es kamen jene Zeiten, in denen di ieser esoterischen Strömung sozusagen nachgeschoben wurde, was im Arabismus immer mehr und mehr sich veräußerlichte. Man möchte sagen, was da in Asien drüben aus dem Aristoteles gemacht worden war, das strömte auch herüber; und in diesetn späteren Nach-strömen vermaterialisierte sich diese esoterische Strömung, die aus einer sehr spirituellen Auffassung kam. Und wir sehen, daß zum Bei­spiel schon im 11., 12. Jahrhundert die Esoterik immer mehr und mehr hinunterglimmt, abschmilzt, und daß gerade diese esoterische Strö­mung jene materialistische Denkungsform annimmt, die dann in späterer Metamorphose zum Materialismus in der Naturwissenschaft wurde; denn der ist eigentlich aus dem Arabismus heraus ent­sprungen.

Die mittlere Strömung, die eigentliche Schöpfung des Papstes Niko­laus I., die aber schon von Bonifatius genährt worden war, die eine wesentliche Stütze an den Merowingern und an den Karolingern ge­funden hatte und die Jahrhunderte hindurch nur noch wenig tingiert war von dem, was durch die Gralssage und die andern heiligen Sagen den Blick der Menschenseele in die übersinnliche Welt lenkte, sie kam immer mehr und mehr dazu, den Kultus und die Dogmatik zu ver­materialisieren. Aus jenen reineren Anschauungen, die man zum Bei­spiel in den älteren Zeiten von der Transsubstantiation, von dem Ver­laufe der Messehandlungen und so weiter hatte, wurden dann jene derbmateriellen Auffassungen, die einzig und allein dazu führen konn­ten, daß man anfing, sich über das Abendmahl zu streiten. Die Streite über das Abendmahl waren ein Beweis dafür, daß man es nicht mehr so verstand, wie es ursprünglich aufgefaßt war. Man kann es eben nur

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verstehen, wenn es von spiritueller Erkenntnis durchzogen ist. So vermaterialisierte sich diese westliche, ost-südwestliche Strömung, die mittlere Strömung, und immer mehr und mehr vermaterialisierte sich in wesentlicher Art auch die östliche Strömung. Die Welie des Mate­rialismus kam herau£ Aber überall bäumte sich dennoch die Mensch­heit gegen diese Welle des Materialismus in einer gewissen Weise auf.

Und nun gehen wir aus dem Zeitalter des 9. Jahrhunderts, aus dem Zeitalter des Papstes Nikolaus I., herauf bis in das 11. Jahrhundert. Wir müssen uns durchaus vorstellen, daß die drei Fragezeichen wirk­lich wie drei furchtbare, seelenquälende Gewalten vor einer solchen Persönlichkeit wie dem Papste Nikolaus I. standen. Denn er konnte nicht etwa sagen, wie man es später in Kongressen gemacht hat, wo man Landkartenstriche gezogen hat, so wie man es aus äußeren Ver­hältnissen heraus für richtig hielt, er konnte nicht sagen: Ich befehle, daß hier und hier eine Grenze ist. - Das konnte er nicht sagen, denn so ließen sich die Seelen nicht abgrenzen. Er konnte gewissermaßen Richtungen angeben und der einen, der mittleren Richtung, eine be­sondere Stärke verleihen. Darin war Nikolaus I. ganz besonders genial, der mittleren europäischen Strömung eine besondere Stärke zu gewähren. Aber das war dennoch der Fali, daß zum Beispiel die Stimmung, die im Osten war, bis weit in den Westen hereinging, jene Stimmung, welche die innere Glut des menschlichen ätherischen Organismus an den heiligen Weihehandlungen des Kultus ent­zündete und die zu gleicher Zeit, jetzt in einer mehr westeuropäischen Weise, den Ablauf dieser Weihehandlungen mit dem Zentrum in Jerusalem verband.

Was noch vom Osten nach Mitteleuropa und nach dem Westen hereinragte an Pilgerstimmung, an Hinneigung zu dem realen Mittel­punkte, dem konnte ein Peter von Amiens zunächst ein wenig, nach­her aber ein Bernhard von Clairvaux mit einer wirklichen blendenden Glut das Kreuz predigen. Und dem, was in Europa an solcher Pilger-strömung vorhanden war, mischte sich die Strömung bei, die übrig­geblieben war aus diesem Westlichen auf dem Umwege durch das Gralstum, durch das Artustum: was da übriggeblieben war als die Esoterik, welche ausgeflossen und eigentlich der Mensch war mit

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seiner äußeren Form, jener Mensch, dem die Erde nicht eigentlich die Erde war, sondern ein besonderer Ort im ganzen Kosmos.

So etwas lebte tatsächlich als Anschauung in dem westeuropäischen und mitteleuropäischen Rittertum, das dann sich der Kreuzzugsstim­mung anschloß. Und nur wie ein leiser Unterton, der allerdings dann, als die Kreuzzüge weitergingen, immer stärker und stärker wurde, mischte sich da hinein, was Nikolaus I. als die eigentliche europäische Zivilisationsstimmung in Religion und Erkenntnis begründet hatte. Deshalb muten uns die Kreuzzüge als etwas an, was aus den späteren Verhältnissen heraus eigentlich gar nicht mehr voll zu verstehen ist. Denn die mittlere Strömung hat sich dann ausgebreitet. Daneben ist die osteuropäische Strömung geblieben, die innerhalb Europas eben als eine zurückgebliebene Religionsströmung angesehen wird. Die westeuropäische Strömung hat sich verwandelt in die Ranken des Okkult-Esoterischen, in allerlei okkulte Gesellschaften, Freimaurer-orden und so weiter. Die mittlere hat endlich auch die Wissenschaft ergriffen in der Scholastik, in der neueren Naturwissenschaft.

Wer nut das sieht, was da in der neueren Zeit geworden ist, der be­greift die Kreuzzugsstimmung nicht. Die Kreuzzugsstimmung be­greift nur, wer fassen kann, was von jenem Impuls gerade vom 4., 5. nachchristlichen Jahrhundert bis in das 12., 13. Jahrhundert lebte und was Papst Nikolaus I. im 9. Jahrhundert besonders stark emp­funden hat, die Frage: Wie verbindet man dasjenige, was in der äußeren Welt vorhanden ist an Geschehnissen, in die der Mensch selbst eingreift und von denen die Kultushandlungen die vorzüg­lichsten sind, mit dem lebendigen Strom des spirituellen Lebens, des Lebens der spirituellen Wesenheiten? Man möchte sagen, beim euro­päischen Menschen fing es im 9., 10., 11.Jahrhundert an: so wie ihm die Realitäten des Kultus auf der einen Seite entfallen mußten, ent-fielen ihm die Realitäten des spirituellen Schauens auf der andern Seite. Während die Realitäten des Kultus in das Unbestimmte Asiens hinüber entschwanden und in der Eroberung durch die Türken den heiligen Ort zudeckten, an den für den Christen diese Kultushand­lungen anknüpfen sollten, fielen durch die Entdeckung Amerikas -wenn ich mich bildlich ausdrücken darf - die esoterischen Geheimnisse

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der westlichen Strömungen in den Atlantischen Ozean hinein. Es entstand als eine Reaktion die Stimmung: Wie erfüllt man das, was doch da sein muß, die heiligen Weihehandlungen und ihr Zentrum, den Ort in Jerusalem, wie erfüllt man das mit spirituellem Leben?

Wer die Reden Bernhard von Clairvaux' liest, kann heute noch füh­len, wie aus ihm heraus das inbrünstige Hängen an dem Kultus spricht, an dem äußerlich-sinnlichen, in welchem Esoterik lebt, und wie andererseits sein Herz durchglüht ist von dem, was einmal in jener esoterischen Stimmung des Westens gelebt hat. In die Predigten, in die Reden des Bernhard von Clairvaux tönt, wenn er es auch nicht ausspricht, aber indem er es grandios künstlerisch anklingen läßt, das hinein, was der ätherische Kosmos dem Menschen enthüllen möchte und nicht mehr enthüllen kann, und gleichzeitig das, was in dem eigenen menschlichen ätherischen Organismus von der Erde aus wirken möchte. Das treibt die Menschen nach Asien hinüber, um wiederum zu suchen, was sie nach Westen hinüber verloren hatten.

Die Esoterik war dennoch der treibende Impuls. Was man nach Westen hinüber verloren hatte, dessen wollte man ansichtig werden, indem man sich wiederum mit dem Grab des Erlösers verband. Darin besteht die Tragik der nachfolgenden Zeit, daß man das nicht be­griffen hat, daß man zum Beispiel nicht hören konnte auf so etwas, wie es dann die rosenkreuzerische Stimmung - ich meine in ihrer wahren Gestalt - geworden ist, die allerdings den Christus in geistigen Höhen, nicht am physischen Grabe hat suchen wollen. Heute aber ist die Zeit gekommen, wo die Menschheit begreifen soll, daß ebenso wie den Persönlichkeiten, die nach dem Tode des Erlösers an das Grab gekommen sind, gesagt worden ist: «Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier, suchet ihn wo anders», daß auch den Kreuzfahrern gesagt worden ist: «Der, den ihr suchet, ist nicht mehr hier, suchet ihn wo anders.» Heute ist die Zeit, wo man wieder woanders suchen muß den, der nicht mehr hier ist, wo man ihn suchen muß durch eine neue Erschließung der geistigen Welten.

Das ist es, was als die Aufgabe vor dem Menschen der Gegenwart dasteht, das ist es, was ich gewissermaßen im Anschlusse an die Be­trachtungen, die in den letzten Tagen hier gepflogen worden sind,

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noch sagen wollte. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich doch nicht versäumen, anschließend an das, was ich nun versucht habe, wenn auch ganz skizzenhaft, aus der anthroposophischen Esoterik heraus­zuholen, Ihnen zu sagen, daß doch wirklich in den Seelen, die sich zur Antliroposophischen Gesellschaft zählen und die Anthroposophie als ihr Bekenntnis haben wollen, leben möge die Empfindung von der ungeheuren Bedeutung des gegenwärtigen historischen Momentes, der Bedeutung von dem Aufsuchen der spirituellen Welten. Und des­halb möchte ich heute im Anschlusse an diese einschneidenden Betrachtungen, die ich eben gepflogen habe, sagen: Möchte es doch innerhalb der einzelnen Kreise der Anthroposophischen Gesellschaft versucht werden, sich des Ernstes des gegenwärtigen historischen Momentes bewußt zu werden und sich selber und die Verhältnisse zu fragen, ob es nicht möglich wäre, diese Anthroposophische Gesellschaft in einem gewissen Sinne wiederum zu galvanisieren, so daß sie aus einem gewissen schläfrigen Zustande herauskommen und erwachen würde zu einem wirklichen Leben. Wir brauchen es heute, wo einzelnes Bedeutungsvolles auf den verschiedensten Gebieten des wissenschaft­lichen und des praktischen Lebens aus der Anthroposophischen Gesellschaft herauskommen soll, wir brauchten es heute, daß die Anthroposophische Gesellschaft im weitesten Umfange Seelen habe, in denen reges Leben ist, die von der Einsicht in die Wichtigkeit des historischen Momentes befeuert sind.

Wenn es irgend geht, dann fragen Sie sich und fragen Sie andete, ob es nicht doch in der nächsten Zeit möglich ist, die alte Anthro­posophische Gesellschaft wiederum etwas zu durchpulsen und ihr Leben zuzuführen von dem Leben ihrer Einzelseelen. Notwendig wäre es! Gekonnt werden, das ist auch eine Möglichkeit! Aber die Menschenseelen, die ihr Leben an der Einsicht in den wichtigen historischen Moment entzünden möchten, müssen sich auf unserem Grund und Boden finden. Tun Sie für die anthroposophische Be­wegung, was für sie zu tun in der letzten Zeit doch mehr oder weniger von vielen vergessen worden ist.

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HINWEISE

Zu Seite:

9 in den letzten zwei Vorträgen: Die Vortrage vom 14. und 15. September 1922 wurden innerhalb des «Französischen Kurses» gehalten. Rudolf Steiner: «Philosophie, Kosmologie und Religion», zehn Vorträge in Dornach vom 6.-15. September 1922, Bibl.-Nr. 215, Gesamtausgabe Dornach 1962; ferner «Kosmologie, Religion und Philosophie», Auto-Referate zu den zehn Vortragen des «Französischen Kurses», Bibl.-Nr. 25, Gesamtausgabe Dornach 1956.

21 schon in den letzten Tagen: Siebe Hinweis zu Seite 9. Rudolf Steiner hat die in diesem Band enthaltenen Vorträge vom 16. und 17. September 1922 selber als «Nachträge zum Französischen Kurs» bezeichnet.

38 in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß»: Bibl.-Nr. 13, Gesamtausgabe Dornach 1962.

44 Vorträge hier in der allerletzten Zeit: Siehe u.a. den fünften Vortnsg am 10. September 1922 während des «Französischen Kurses», siehe Hinweis zu Seite 9.

47 Mumien... in früheren Vorträgen von andern Gesichtsponkten erörtert: Rudolf Steiner: «Welt, Erde und Mensch», elf Vorträge vom 4.-16. August 1908 in Stuttgart, Bibl.-Nr. 105, Gesamtausgabe Dornach 1960; «Ägyptische Mythen und Myste­rien», zwölf Vorträge in Leipzig vom 2.-14. September 1908, Bibl.-Nr. 106, Ge-samtausgabe Dornach 1960.

50 was ich vor einiger Zeit hier sagen konnte: In «Die Kunst der Rezitation und Deklama­tion», Bibl.-Nr. 281, Gesamtausgabe.

53 Friedrich August Wolf, 1759-1824. In «Prolegomena ad Homerum», 1795.

Herman Grimm, 1828-1901. «Homers Ilias», zwei Bände, 1890, 1890-95.

59 Rudolf Steiner: «Die Philosophie der Freiheit», Bibl.-Nr. 4, Gesamtausgabe Dornach 1962.

eine neue Erde, ein Jupiterplanet: Siehe hierzu Rudolf Steiner: «Das künftige Jupiterdasein und seine Wesenheiten», Vortrag in Dornach am 3: Januar 1915, und «Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen», Vortrag in Dornach am 3. Juni 1915.

61 Henrik Ibsen, 1828-1906. «Gespenster», erschienen 1881.

64 Herschenson und Iwanow: Das Buch erschlen 1921. Die Verfasser lebten damals in einem Zimmer des Erholungsheimes für Schriftsteller in Moskau.

66 Alois Mager: Alois Mager O.S.B.: «Der Wandel in Gottes Gegenwart», Augsburg-Stuttgart 1921; «Theosophie und Christentum», Berlin 1922, Seite 52. Siehe auch

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Zu Seite:

66 Rudolf Steiner: Alois Magers Schrift «Theosophie und Christentum». Mein Er­lebnis beim Lesen dieser Schrift, in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesamrnelte Aufsätze 1921-1925», Bibl.-Nr. 36, Ge­samtausgabe Dornach 1961.

71 Ihr Griechen sprecht von dem: Plato, « Timaios». Siehe über Timaios Rudolf Steiner: «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums», darin: Plato als Mystiker; Bibl.-Nr. 8, Gesamtausgabe Dornach 1959.

81 bei Goethe war das nicht so: Siebe auch Rudolf Steiner: «Innere Entwicklungsimpulse der Menschheit. Goethe und die Krisis des neunzehnten Jahrhunderts», Bibl.-Nr. 171, Gesamtausgabe Dornach 1964, besonders darin die Vorträge vom 2. bis 30. Oktober 1916.

82 Henrik Steffens, 1773-1845, Naturphilosoph.

Ignaz Paul Vitalis Troxler, 1780-1866. Siehe Willi Aeppli: «Paul Vital Troxler, Aufsätze über den Philosophen und Pädagogen», Basel 1929; ferner Iduna Belke: «Ignaz Paul Vital Troxler, sein Leben und sein Denken», Separatdruck Bero­münster 1948, nach der im Krieg 1943 vernichteten Originalausgabe (Berlin 1935).

Gotthilf Heinrich von Schubert, 1780-1860, Naturphilosoph.

Leopold von Ranke, 1795-1886.

Hippolyte Taine, 1828-1893.

83 Johannes von Müller, 1752-1809. Siebe Willy Stokar: «Johannes von Müller, sein Leben und sein Werk», Zürich 1938.

der Spengler-Weg in den Niedergang des Abendlandes: Oswald Spengler, 1880-1936. «Der Untergang des Abendlandes» erschien 1918-22.

84 Fritz Mauthner, 1849-1923. «Beiträge zu einer Kritik der Sprache», 1901-02.

95 wenn man einmal den Weg gefonden haben wird: In mehreren Vortragszyklen erschloß Rudolf Steiner den an ihn herantretenden jungen Theologen den lebendigen Quell, der innerhalb einer neu begründeten «Christengemeinschaft» zur Erneuerung des christlichen Kultus In der Gegenwart führen könnte (Marie Steiner).

Theophrastus Paraceleus von Hohenheim, 1493-1541. Siehe den Vortrag vom 16. No­vember 1911 von Rudolf Steiner in «Menschengeschichte im Lichte der Geistes-forschung», Bibl.-Nr. 61, Gesamtausgabe Dornach 1961.

101 Schall und Rauch: Goethe: «Faust 1» in der Szene «Marthens Garten».

104 des Kursus, der vor kurzem: Siehe Hinweis zu Seite 9.

105 jene ergreiftude Stelle, mit der Nietzsche: In «Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen», 1873.

142

Zu Seite:

113 «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften»: Von Rudolf Steiner mit Binleitungen, Fußnoten und Erläuterungen im Text herausgegeben, 1.Auflage (1883) in «Deutsche National-Litteratur» herausgegeben von Joseph Kürschner. Erster Band, 3.Auflage (photomechanischer Nacbdntck) Bem 1949, Scitc LXXIII.

117 Moriz Carriére, 1817-1895, von 1853 ab Professor in München.

118 Rudolf Steiner: «Das Christentum als mystische Tatsache ond die Mysterien des Alter­tums», Berlin 1902, Bibl.-Nr. 8, Gesamtausgabe Dornach 1959.

120 in einem Artikel des «Goetheanums»: 2. Jahrgang 1922 Nrn. 2-5. Enthalten in Rudolf Steiner: «Der Goetbeisnumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesan,melte Aufsätite 1921-1925», Bibl.-Nr. 36, Gesamtausgabe Dornach 1961.

123 Johanniterorden: um 1100 in Jerusalem entstanden, 1291 t't,ich Zypern verlegt, 1309 ruich Rhodos, 1530 nach Malta, daher «Malteser» (katholischer Zweig).

124 Bernhard von Clairvaux, 1090-1153, rief 1147 zum zweiten Kreuzzug auf.

129 Bonifatius, um 680-754, schottischer Benediktinermönch, dann Erzbischof, Primas der Fränkischen Kirche. 754 von heidnischen Friesen erschlagen.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.