GA 214

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Das Geheimnis der Trinität

Der Mensch und sein Verhältnis zur Geistwelt
im Wandel der Zeiten

Elf Vorträge,
gehalten in Dornach, Oxford und London
vom 23. Juli bis 30. August 1922

GA 214

1970

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 23. Juli 1922

Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß das Geistesleben der ersten vier christlichen Jahrhunderte im Grunde genommen ganz verschüttet ist, daß alles, was heute verzeichnet wird über die Anschau­ungen, über die Erkenntnisse der Menschen, die zur Zeit des Myste­riums von Golgatha gelebt haben und die auch noch in den vier nach­folgenden Jahrhunderten lebten, im Grunde genommen doch nur durch die Schriften der Gegner auf die Nachwelt gekommen ist; so daß schon der rückschauende Blick des Geistesforschers notwendig ist, um ein genaueres Bild von dem zu entwerfen, was in diesen ersten vier christlichen Jahrhunderten sich zugetragen hat. Und ich habe ja auch in der letzten Zeit versucht, mit einigen Strichen das Bild Julians des Abtrünnigen zu zeichnen.

Nun aber können wir nicht sagen, daß nach den gewöhnlichen Geschichtsdarstellungen die folgenden Jahrhunderte in einer klareren Weise vor dem Menschen der Gegenwart stehen. Vom 5. bis etwa ins 12., 13., 14. Jahrhundert hinein bleibt eigentlich das, was man nennen könnte das Seelenleben der europäischen Bevölkerung, nach den ge­bräuchlichen geschichtlichen Darstellungen durchaus unklar. Was ist denn im Grunde genommen in diesen gebräuchlichen geschichtlichen Darstellungen da? Und was ist denn selbst dann da, wenn man auf die Dichtungen federflinker sogenannter Dramatiker oder Dichter, etwa vom Schlage des Herrn von Wildenbruch sieht, die in ihren Dichtungen im wesentlichen zu äußerlichen Popanzen die verschie­denen Familiengeschichten von Ludwig dem Frommen oder ähn­lichen Menschen ausstaffierten, die dann als Geschichte fortgetragen werden?

Dennoch ist es von außerordentlicher Wichtigkeit, einmal einen Blick in die Wahrheit des europäischen Lebens zu werfen für diejeni­gen Zeiten, aus denen ja noch so vieles in der Gegenwart stammt, und die man im Grunde doch, namentlich in bezug auf das Seelenleben der europäischen Bevölkerung, verstehen muß, wenn man überhaupt irgend

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etwas von den tieferen Kulturströmungen auch der späteren Zeit ver­stehen will. Und da möchte ich zunächst von etwas ausgehen, was ja vielen von Ihnen ein wenig fern liegen wird, was aber doch heute auch nur im geisteswissenschaftlichen Lichte richtig betrachtet werden kann und deshalb eben hierher gehört.

Sie wissen ja, daß es jetzt so etwas gibt, was man Theologie nennt. Diese Theologie, wie man sie heute anschaut, im Grunde genommen alle heutige Theologie der europäischen Welt, sie ist in ihrer Grund­struktur, in ihrem innerlichen Wesen eigentlich entstanden in der Zeit vom 4., 5. nachchristlichen Jahrhundert, durch die folgenden, recht dunkel bleibenden Jahrhunderte hindurch, bis zum 12., 13.Jahrhun-dert hin, wo sie dann durch die Scholastik einen gewissen Abschluß gefunden hat. Wenn man nun diese Theologie betrachtet, die sich im Grunde genommen erst in der Zeit nach Augustinus in ihrem eigent­lichen Wesen heranbildet - denn Augustinus kann mit Hilfe dieser Theologie nicht oder höchstens noch eben verstanden werden, während alles vorhergehende, was zum Beispiel auch über das Mysterium von Golgatha vorgebracht wurde, nicht mehr verstanden werden kann mit dieser Theologie -, wenn man auf das Wesen dieser Theologie hin-schaut, die da gerade in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, dun­kel für unsere Erkenntnis, für unsere äußere Erkenntnis, entsteht, so muß einem vor allen Dingen klarwerden, wie diese Theologie etwas ganz anderes ist, als etwa die Theologie, oder was man sonst so nen­nen könnte, vorher war. Was vorher Theologie war, ist ja eigentlich nur, ich möchte sagen, wie eine Erbschaft hineinverpflanzt in die Zei­ten, in denen dann die Theologie, wie ich sie jetzt charakterisiert habe, entstand. Und Sie können einen Eindruck gewinnen, wie vorher das­jenige ausgesehen hat, was dann zur Theologie geworden ist, wenn Sie nur den kurzen Aufsatz lesen, den Sie in der dieswöchentlichen Num­mer des «Goetheanum» über Dionysius den Areopagiten finden, der ja auch noch eine Fortsetzung in einer der nächsten Nummern finden wird. Da finden Sie eben dargestellt die ganz andere Art, sich zu der Welt zu stellen in den ersten christlichen Jahrhunderten, als es später, sagen wir, etwa in der Zeit des 9., 10. Jahrhunderts und in den folgen­den Jahrhunderten der Fall war.

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Wenn man in einer skizzenhaften Weise den ganzen Gegensatz -nennen wir es jetzt der alten Theologie - der Theologie, wie sie sich in einem Spätprodukt, möchte man sagen, in Dionysius dem Areopa­giten sogar ausspricht, zu der späteren neuen Theologie charakterisie­ren wollte, so müßte man sagen: Die ältere Theologie hat alles, was sich auf die geistige Welt bezieht, wie von innen angesehen, wie durch einen direkten Hinblick auf das, was in den geistigen Welten vorgeht. Wenn man Einblick gewinnen will, wie diese ältere Theologie gedacht hat, wie sie innerlich seelisch angeschaut hat, so kann man das eigent­lich nur wiederum mit den Methoden der heutigen anthroposophischen Geisteswissenschaft suchen. Da kann man auf folgendes kommen. Ich habe gestern schon von einem anderen Gesichtspunkte ähnliche Sa­chen charakterisiert.

Wenn man zur imaginativen Erkenntnis aufsteigt, so merkt man immer mehr und mehr, daß man mit diesem ganzen Vorgang des Auf­steigens zur imaginativen Erkenntnis in geistigen Vorgängen drinnen schwebt. Dieses Drinnenschweben mit seinem ganzen Seelenleben wäh­rend des Aufsteigens zur imaginativen Erkenntnis, das stellt sich einem so dar, als ob man in Berührung käme mit Wesenheiten, die nicht auf dem physischen Plane leben. Die Anschauung der Sinnesorgane hört auf, und man erfährt, daß gewissermaßen alles, was sinnliche An­schauung ist, entschwindet. Aber der ganze Vorgang stellt sich einem so dar, als ob einem dabei Wesenheiten einer höheren Welt helfen würden, und man kommt darauf, daß man diese Wesenheiten als die-selben aufzufassen hat, welche in der älteren Theologie als die Ange­loi, Archangeloi und Archai angesehen werden. Also ich könnte sa­gen, diese Wesenheiten helfen einem, um hinaufzudringen zu der ima­ginativen Erkenntnis. Dann teilt sich, wie sich Wolken auseinander-teilen, die Sinneswelt auseinander, und man schaut hinter die Sinnes-welt hinein. Und hinter der Sinneswelt tut sich dann auf dasjenige, was man Inspiration nennen kann; hinter dieser Sinneswelt offenbart sich dann die zweite Hierarchie, die Hierarchie der Exusiai, Dynamis, Kyriotetes. Diese ordnenden schöpferischen Wesenheiten, die stellen sich vor der inspirierten Erkenntnis der Seele dar. Und wenn dann ein weiteres Ansteigen erfolgt zur Intuition, dann kommt die erste Hierarchie,

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die Throne, Cherubim, Seraphim. Das sind Möglichkeiten, um jetzt wiederum durch unmittelbare geistige Schulung darauf zu kom­men, was mit solchen Bezeichnungen, wie erste, zweite, dritte Hier­archie, bei älteren Theologien eigentlich gemeint war.

Nun, gerade wenn man noch auf die ja zum größten Teile ausge­rottete Theologie der ersten christlichen Jahrhunderte hinblickt, dann bemerkt man, daß sie in einer gewissen Beziehung noch etwas davon hat, daß eigentlich der Mensch, wenn er seine Sinne nach der gewöhn­lichen sinnlichen Außenwelt richtet, zwar die Dinge sieht und an sie glauben muß, aber sie nicht erkennt. Es ist ein ganz bestimmtes Be­wußtsein in dieser älteren Theologie vorhanden: das Bewußtsein, daß man erst etwas erlebt haben muß in der geistigen Welt, und daß mit dem, was man in der geistigen Welt erlebt hat, sich erst die Begriffe ergeben, mit denen man dann herangehen kann an die Sinneswelt und gewissermaßen die Sinneswelt mit diesen aus der geistigen Welt ge­wonnenen Ideen beleuchten kann. Dann erst wird etwas aus der Sin­neswelt.

Das entspricht auch in gewissem Sinne dem, was sich einem älteren, traumhaft atavistischen Hellsehen ergeben hat. Da haben ja auch die Menschen, wenn auch in traumhaften Vorstellungen, in eine geistige Welt zuerst hineingeschaut und haben das, was sie da drinnen erlebt haben, dann auf die Sinnesanschauung angewendet. Diese Menschen wären sich, wenn sie nur die Sinnesanschauung vor sich gehabt hätten, so vorgekommen wie jemand, der in einem finsteren Zimmer steht und kein Licht hat. Wenn sie aber ihre Geistesanschauung, das Ergebnis des reinen Hineinschauens in die Geisteswelt gehabt haben und es anwen­deten auf die Sinneswelt, wenn sie zuerst etwas geschaut haben, sagen wir, von den schöpferischen Kräften der Tierwelt und das dann an-wendeten auf die äußeren Tiere, dann fühlten sie sich, als wenn sie eben mit einer Lampe in ein finsteres Zimmer treten würden. So fühlten sie sich mit der geistigen Anschauung vor die Sinnesanschauung hin-tretend und sie beleuchtend. Dadurch wird sie erst erkannt. Das war durchaus das Bewußtsein dieser älteren Theologien. Daher ist die ganze Christologie in den ersten christlichen Jahrhunderten eigentlich immer von innen angeschaut worden. Man hat im Grunde genommen den

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Vorgang, der sich abgespielt hat, das Herunterkommen des Christus in die irdische Welt, nicht von außen angeschaut, man hat ihn von innen angeschaut, von der geistigen Seite her. Man hat erst den Chri­stus in geistigen Welten aufgesucht und dann verfolgt, wie er herunter-gestiegen ist in die physisch-sinnliche Welt. Das ist das Bewußtsein ge­wesen der älteren Theologie.

Nun trat als Ereignis dieses ein: Die römische Welt, nach der sich als am weitesten nach Westen der christliche Impuls fortschob, war in ihrer geistigen Auffassung durchsetzt von der Neigung, von dem Hang für das Abstrakte und dafür, das, was Anschauungen waren, in ab­strakte Begriffe zu bringen. Diese römische Welt war aber eigentlich, während das Christentum sich nach und nach gegen Westen schob, am Zugrundegehen, in Fäulnis. Und die nordischen Völker drangen vom Osten Europas herüber gegen Westen und gegen Süden vor. Nun ist es ein Eigentümliches, daß, während auf der einen Seite das römische Wesen in Fäulnis übergeht und die frischen Völker vom Norden her­ankommen, sich jenes Kollegium bildet auf der italienischen Halb­insel, von dem ich schon in diesen Zeiten hier gesprochen habe, das eigentlich sich zur Aufgabe setzte, alle Ereignisse dazu zu benützen, um die alten Anschauungen mit Stumpf und Stiel auszurotten und nur diejenigen Schriften auf die Nachwelt kommen zu lassen, die diesem Kollegium bequem waren.

Über diesen Vorgang berichtet ja die Geschichte eigentlich gar nichts, und dennoch ist es ein realer Vorgang. Würde eine geschichtliche Darstellung davon vorhanden sein, so würde man eben einfach hin­weisen auf jenes Kollegium, das sich als ein Erbe des römischen Ponti­fexkollegiums in Italien gebildet hat, das gründlich aufgeräumt hat mit allem, was ihm nicht genehm war, und das andere modifiziert und der Nachwelt übergeben hat. Geradeso wie man in Rom in bezug auf die nationalökonomischen Vorgänge das Testament erfunden hat, um hinauswirken zu lassen über den einzelnen menschlichen Willen das­jenige, über das der Wille verfügt, so entstand in diesem Kollegium der Trieb, das römische Wesen als bloße Erbschaft, eben als bloße Summe von Dogmen hinfort leben zu lassen in der folgenden Zeit der geschichtlichen Entwickelung durch viele Generationen hindurch. Solange

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als möglich soll nicht irgendwie Neues in der geistigen Welt er­schaut werden, so hat dieses Kollegium gesagt. Das Initiationsprinzip soll mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden. Was wir jetzt modifi­zieren, das soll als Schrifttum auf die Nachwelt übergehen.

Würde man es trocken darstellen, so müßte es in dieser Tatsächlich­keit dargestellt werden. Und dem Christentum hätten noch ganz an­dere Schicksale geblüht, es wäre vollständig erstarrt, wenn eben nicht die nordischen Völker gekommen wären und sich hineingeschoben hätten, sowohl nach Westen hin wie auch nach dem Süden hin. Denn diese Völker brachten sich eine gewisse Naturanlage mit, die ganz anders war als die Anlage der südlichen, der griechischen und der rö­mischen Völker.

Die Anlage der südlichen Völker war immerhin, wenigstens in älte­ren Zeiten - bei den Römern wenig, bei den Griechen aber stark -, da­hingehend, daß sich aus der Gesamtheit der Völker immer einzelne Individuen herausentwickelten, die die Initiation durchmachten und in die geistige Welt hineinschauen konnten; so daß dann solche Theolo­gien entstehen konnten, die eine unmittelbare Anschauung der geisti­gen Welt waren, wie sie dann in ihrer letzten Phase in der Theologie des Dionysius des Areopagiten erhalten worden ist.

Aber die von Norden herunterkommenden Völker hatten zunächst nichts von diesem Triebe, der, wie gesagt, bei den Griechen sehr stark war. Sie hatten aber etwas anderes, diese nordischen Völker. Um aber recht zu verstehen, was da nun in den folgenden Zeiten gerade durch die nordischen Völker, durch die gotischen; germanischen Völker, durch die Angelsachsen, Franken und so weiter, in die europäische Entwickelung hineinkam, muß man sich das Folgende vor die Seele führen.

Geschichtlich sind ja darüber keine Nachrichten vorhanden, aber geisteswissenschaftlich kann man so etwas finden. Nehmen wir einen älteren Theologen, kurze Zeit, etwa im 1., 2. Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha, einen derjenigen Theologen, die noch ge­schöpft haben aus der alten Initiationswissenschaft. Wenn der hätte darstellen wollen, was der Nerv, ich möchte sagen, die Prinzipien sei­ner Theologie waren, so würde er gesagt haben: Erst muß der Mensch,

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um überhaupt eine Beziehung zur geistigen Welt zu haben, entweder direkt, unmittelbar durch seine eigene Initiation oder als Schüler von Initiierten sich Kenntnis verschaffen von der geistigen Welt. Dann, wenn er in der geistigen Welt die Begriffe und Ideen gewonnen hat, kann er diese Begriffe und Ideen auf die Sinneswelt anwenden.

Bitte, halten Sie das recht gut fest. Die Begriffe und Ideen hat diese ältere Theologie gesucht zuerst durch unmittelbares Eindringen in die geistige Welt. Dann, nahm sie an, kann man die aus der geistigen Welt geschöpften Begriffe und Ideen auf die Sinneswelt anwenden. Das waren etwa die abstrakten Prinzipien eines solchen älteren Theo­logen.

Nun waren die Anlagen der gotischen, der germanischen Völker nicht so, daß eine solche theologische Stimmung unmittelbar hätte her­aufkommen können; denn diese theologische Stimmung war ja ganz darauf veranlagt, innerlich die Vorgänge zu sehen, die in der Welt zu sehen sind, das Geistige eben zuerst zu sehen und sich zuzugeben, daß das Sinnliche erst gesehen werden kann, wenn man von dem Geistigen ausgeht. Solch eine Theologie konnte sich ja nur aus dem alten atavisti­schen Hellsehen heraus als das reifste Produkt ergeben, weil atavisti­sches Hellsehen ja auch ein innerliches Anschauen, wenn auch von traumhaften Imaginationen, war. Solche Initiierte, die unmittelbar hin­einschauten in die geistige Welt, um dann von da aus die Sinneswelt zu überschauen, konnten nach den ganzen Anlagen dieser von Norden herstürmenden Völker innerhalb dieser Völker nicht entstehen. Diese Völker waren auch noch etwas atavistisch hellsehend; sie waren ja eigentlich noch auf einer früheren, primitiveren Stufe der mensch­heitlichen Entwickelung. Sie hatten noch etwas mitgebracht, diese Go­ten oder Langobarden und so weiter von dem alten Hellsehen. Aber dieses alte Helisehen bezog sich durchaus nicht auf innerliches An­schauen, sondern zwar auf ein geistiges Anschauen, aber auf das Hin­schauen mehr nach der Außenseite hin. Sie schauten gewissermaßen die geistige Welt von außen an, während die südlichen Völker darauf­hin veranlagt waren, die geistige Welt von innen anzuschauen.

Was heißt das, diese Völker schauten die geistige Welt von außen an? Das heißt, sie sahen zum Beispiel: Ein Mensch ist tapfer in der

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Schlacht, er stirbt in der Schlacht. Nun war für sie das Leben, indem sie das Außerliche von diesem Menschen anschauten, nicht zu Ende, sondern sie verfolgten diesen Menschen weiter, wie er sich in die geistige Welt hineinlebte. Aber sie verfolgten nicht nur, wie sich die­ser Mensch in die geistige Welt hineinlebte, sondern wie er auch noch immer weiter für die Erdenmenschen tätig war. Und so können diese nordischen Völker sagen: Da ist irgendeiner hingestorben, sei es nach dieser oder jener bedeutenden Tat, nachdem er Führer war eines Vol­kes oder Volksstammes. Wir schauen seine Seele, wie sie weiterlebt, wie sie, wenn er zum Beispiel ein Krieger war, empfangen wurde von den «Einheriern», oder wie er in einer anderen Weise weiter­lebt. Aber eigentlich ist diese Seele, ist dieser Mensch noch da. Er ist da, er lebt weiter. Es ist der Tod nur ein Ereignis, das sich hier auf Erden abgespielt hat. Und das, was nun geradezu verschüttet ist für die Jahrhunderte vom 4., 5. an bis zum 12., 13.Jahrhundert, das ist, daß eigentlich immer die Anschauung vorhanden war: Die Seelen der Menschen, die große Verehrung genossen, sind noch immer auch für die irdischen Menschen gegenwärtig; sie führen sie, wenn sie Schlach­ten liefern, sogar noch an. Man stellte sich vor: Diese Seelen sind noch vorhanden, sie sind nicht entschwunden für die Irdischen; sie führen in gewissem Sinne mit den Kräften, die ihnen die geistige Welt gibt, die Funktionen ihres Erdenlebens weiter. Es war dieses atavistische Hellsehen der nordischen Völker so, daß sie gewissermaßen hier auf der Erde das Treiben der Menschen sahen, aber unmittelbar darüber eine Art von Schattenwelt hatten. In dieser Schattenwelt waren die Verstorbenen. Man braucht nur hinzuschauen - so hatten es diese Menschen im Gefühl -, dann leben eigentlich diejenigen, die in der vo­rigen und in der vorvorigen Generation waren, fort, die sind da, mit denen haben wir Gemeinsamkeit; wir brauchen nur hinaufzulauschen, so sind sie da. - Dieses Gefühl, daß die Toten da sind, das war in un­geheurer Stärke vorhanden in der Zeit, welche auf das 4. Jahrhundert folgte, wo sich die nordische Bildung mit der römischen Bildung mischte.

Sehen Sie, in diese Anschauung nahmen die nordischen Völker den Christus herein. Sie blickten zuerst auf diese Welt der Toten, die aber eigentlich erst die richtigen Lebendigen waren. Sie sahen über sich

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schwebend ganze Bevölkerungen von Toten, die aber eigentlich die Lebendigen waren. Hier auf der Erde, unter den in der physischen Welt wandelnden Menschen suchten sie den Christus nicht; aber da suchten Sie den Christus, wo diese lebendigen Toten waren, da such­ten sie ihn wirklich als über der Erde vorhanden. Und das richtige Gefühl über den «Heliand», der von einem sächsischen Geistlichen ge­dichtet sein soll, bekommen Sie erst, wenn Sie diese Anschauungen entwickeln. Da begreifen Sie das völlig Konkrete: wie da geschildert wird der Christus unter den Mannen, und so ganz nach deutscher Sitte geschildert wird, wenn Sie verstehen, daß eigentlich das alles halb ins Schattenreich hineinversetzt ist, wo die lebendigen Toten leben. Aber Sie werden viel mehr begreifen, wenn Sie diese Anlage, die sich dann ausbildete durch die Vermischung der nordischen Völker mit dem römischen Volke, richtig ins Auge fassen. Da wird zum Beispiel in der äußeren Literaturgeschichte immer etwas verzeichnet, worüber die Menschen eigentlich nachdenken sollten, nur haben sich ja die Men­schen in der Gegenwart das Nachdenkenkönnen über solche Erschei­nungen, die gerade als frappierend im geschichtlichen Leben verzeich­net werden, fast ganz abgewöhnt. Da finden Sie zum Beispiel Dich­tungen in der Literaturgeschichte verzeichnet, in denen Karl der Große als ein Anführer der Kreuzzüge erwähnt wird. Karl der Große wird einfach geschildert als ein Anführer innerhalb der Kreuzzüge; ja, über­haupt die ganze Zeit von dem 9. Jahrhundert durch die folgenden Jahr­hunderte wird Karl der Große überall als ein Lebender geschildert. Die Leute berufen sich überall auf ihn. Er wird so geschildert, als ob er da wäre. Und als die Kreuzzüge herankommen, von denen Sie ja wissen, daß sie Jahrhunderte später stattfanden, da werden Gedichte gemacht, die Karl den Großen so schildern, als wenn er eben mit den Kreuzfah­rern gegen die Ungläubigen zöge.

Was da zugrunde liegt, das kann nur verstanden werden, wenn man eben weiß, daß in diesen sogenannten dunklen Jahrhunderten des Mit­telalters, deren wahre Geschichte ganz ausgelöscht ist, vorhanden war dieses Bewußtsein von der lebendigen toten Schar, die da als Schatten fortlebt. Karl den Großen haben die Leute erst später in den Unters-berg hineinversetzt. Nach längerer Zeit, als eben der Geist des Intellektualismus

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so stark war, daß dieses Schattenleben aufgehört hat, da ha­ben sie ihn in den Untersberg oder den Barbarossa in den Kyffhäuser­berg hineinversetzt. Bis dahin haben sie ihn lebend unter sich gewußt.

Aber worin haben denn diese Menschen, die also eine lebendige Welt atavistisch unter sich gesehen haben, worin haben denn diese Menschen ihr Christentum gesucht, ihre Christologie, ihre christliche Anschauung? Ja, sie haben sie darin gesucht, daß sie den Blick gerich­tet haben auf dasjenige, was sich ergibt, wenn so der lebendige Tote, der im Leben verehrt worden war, ihnen vor die Seele trat mit allem, was noch seine Gefolgschaft war. Und so hat man lange Zeiten hin­durch Karl den Großen gesehen, wie er den ersten Kreuzzug gegen die Ungläubigen in Spanien unternommen hat; aber man hat ihn so ge­sehen, daß eigentlich dieser ganze Kreuzzug in die Schattenwelt ver­setzt war. Man hat ihn in der Schattenwelt gesehen, diesen Kreuzzug, nachdem er auf dem physischen Plan unternommen worden war, man hat ihn fortwirken lassen in der Schattenwelt, aber als ein Abbild des in der Welt wirkenden Christus. Daher wird geschildert, daß Christus unter zwölf Paladinen, unter denen ein Judas war, hinunterritt nach Spanien, und wie dieser dann die ganze Sache verrät. So sehen wir, wie der hellseherische Blick auf die Außenseite der geistigen Welt hin gerichtet wurde - nicht so wie früher ins Innere -, sondern jetzt auf die Außenseite, auf das, was sich ergibt, wenn man die Geister eben­so von außen ansieht wie früher von innen. Jetzt ergab sich für die wichtigsten Dinge alles, was da in der Schattenwelt sich abspielte, wie ein Abglanz des Christus-Ereignisses.

Und so lebte eigentlich vom 4. bis zum 13., 14. Jahrhundert in Euro­pa die Vorstellung, daß die Menschen, die gestorben sind, nachdem sie im Leben Wichtiges zu verrichten hatten, sich so anordnen in ihren nachtodlichen Taten, daß sie anzuschauen sind wie ein Abglanz, wie ein Abbild des Christus-Ereignisses. Man sah überall die Fortsetzung des Christus-Ereignisses - wenn ich mich so ausdrücken darf - als Schatten in den Lüften. Wenn die Menschen ausgesprochen hätten die Dinge, die sie gefühlt haben, so würden sie gesagt haben: Über uns schwebt noch der Christus-Strom; Karl der Große hat unternommen, sich in diesen Christus-Strom hineinzuversetzen, und er hat sich mit

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seinen Paladinen ein Abbild geschaffen des Christus mit seinen zwölf Aposteln, er hat in der realen geistigen Welt fortgesetzt die Taten des Christus. - So haben es sich vorgestellt diese Menschen in der soge­nannten dunklen Zeit des Mittelalters. Da war die geistige Welt, von außen angesehen, ich möchte sagen, wie nachgebildet der Sinnenwelt, wie Schattenbilder der Sinnenwelt, während sie früher in denjenigen Zeiten, von denen ein Nachglanz die alte Theologie war, eben von innen angeschaut worden ist. Kurz, der Unterschied zwischen dieser physischen Welt und der geistigen Welt für die bloß intellektuellen Menschen ist ein solcher, daß ein Abgrund zwischen beiden besteht. Dieser Unterschied bestand in den ersten Jahrhunderten des Mittel­alters nicht für die Menschen der sogenannten dunklen Zeit. Ich möchte sagen, die Toten blieben bei den Lebendigen, und besonders hervorra­gende verehrte Persönlichkeiten, sie machten in der ersten Zeit nach ihrem Tode, also in der ersten Zeit, nachdem sie für die geistige Welt geboren waren, gewissermaßen das Noviziat durch für das Heilig­werden.

Und sehen Sie, eine Anzahl dieser Menschen, die lebendige Tote waren - es war für die Menschen der damaligen Zeit nichts Absonder­liches, von diesen lebendigen Toten als von realen Persönlichkeiten zu sprechen, nachdem sie für die geistige Welt geboren worden waren -, sie wurden, wenn sie besondere Auserwählte waren, zu Hütern des Heiligen Grals bestellt. Besonders auserlesene lebende Tote wurden zu Hütern des Heiligen Grals bestellt. Und man wird die Gralssage niemals vollständig verstehen, wenn man nicht weiß, wer eigentlich die Hüter des Grals waren. Zu sagen etwa: Dann waren ja die Hüter des Grals keine wirklichen Menschen -, das wäre den Leuten der da­maligen Zeit höchst lächerlich erschienen. Denn sie hätten gesagt: Glaubt ihr Schattenfiguren, die ihr auf der Erde wandelt, daß ihr mehr seid als diejenigen, die gestorben sind und sich nun um den Gral sammeln? - Das wäre denjenigen, die in diesen Zeiten lebten, ganz lächerlich vorgekommen, wenn sich diese Figuranten hier auf der Erde für etwas Realeres gehalten hätten als die lebendigen Toten. Man muß sich in die Seelen der damaligen Zeit durchaus hineinfühlen: so war es für diese Seelen. Und alles, was das für die Welt sein konnte dadurch,

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daß man das Bewußtsein von einem solchen Zusammenhang mit der geistigen Welt hatte, spielte sich auch in den Seelen ab. Daher sagte man sich: Ja, die Menschen, die hier auf Erden sind, die sind gewiß zunächst herausgebildet aus ihrer Unmittelbarkeit. Aber etwas Rech­tes wird der Mensch der Gegenwart erst, wenn er in sich aufnimmt, was ihm ein lebendiger Toter geben kann. - In einem gewissen Sinne wurden physische Menschen auf der Erde so angesehen, als ob sie ei­gentlich nur die Hülle wären für lebendige Tote in ihrem äußeren Wirken. Das war eine Eigentümlichkeit dieser Jahrhunderte, daß man sagte: Wenn diese lebendigen Toten etwas hier auf Erden verrichten wollen, wozu man Hände braucht, dann gehen sie in einen physisch lebenden Menschen hinein und verrichten durch den etwas.

Aber nicht nur das. Solche Menschen gab es überhaupt in der da­maligen Zeit, die sich sagten: Man kann nichts Besseres tun, als solchen Menschen, die hier auf Erden verehrt worden sind und jetzt so bedeut­same Wesenheiten in der Welt der lebendigen Toten sind, daß sie den Gral hüten dürfen, eine Hülle zu geben. Und es gab in der damaligen Zeit durchaus diese Anschauung unter dem Volke, daß man sagte: Der hat sich gewidmet, sagen wir zum Beispiel dem Schwanenorden. Dem Schwanenorden haben sich diejenigen gewidmet, welche wollten, daß die Gralsritter durch sie hier in der physischen Welt wirken können. Und man nannte einen Schwan solch einen Menschen, durch den ein solcher Gralsritter hier in der physischen Welt wirkte.

Und nun denken Sie an die Lohengrin-Sage. Denken Sie, wie diese Sage berichtet, daß, als Elsa von Brabant in großer Not ist, der Schwan kommt. Es ist der Schwan, das heißt der Angehörige des Schwanen­ritterordens, es ist der Schwan, der aufgenommen hat einen Mitgenos­sen aus der Runde des Heiligen Grals, der da erscheint; man darf ihn um sein eigentliches Geheimnis nicht fragen. Und am glücklichsten fühlten sich zum Beispiel in dem Jahrhundert, aber auch noch in den folgenden Jahrhunderten, sogar solche Fürsten wie Heinrich von Sach­sen, der bei seinem Ungarnzuge diesen Schwanenritter, diesen Lohen­grin, innerhalb seiner Heeresmasse haben konnte.

Aber man hatte mancherlei solche Ritter, welche im Grunde g'e­nommen sich nur als die äußere Umhüllung anschauten derjenigen, die

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von jenseits des Todes herüber in den Heeren noch kämpften. Man wollte verbunden sein mit den Toten; man wußte sich mit ihnen ver­bunden. Welche Bedeutung für die Lebenden diese heute eigentlich ganz abstrakt gewordene Sage für die Realität hatte, das kann man nur ermessen, wenn man sich in die Seelenverfassung der damaligen Zeit hineinlebt. Und diese Auffassung, die einzig und allein zunächst auf die physische Welt hinschaute, wie aus dem physischen Menschen heraus sich hebt der geistige Mensch, der dann zu den lebenden Toten gehört, diese Anschauung beherrschte die Gemüter in der damaligen Zeit, die war das Wesentliche, was in der Seele lebte: Man muß einen Menschen zuerst auf der Erde gekannt haben, dann kann man hinauf-kommen zu seinem Geiste. Es war wirklich so, daß nun gegenüber einer älteren Anschauung die Sache auch im äußeren populären Leben um­gekehrt war. In der alten Zeit hatte man zuerst in die geistige Welt hineingeschaut. Man hatte womöglich das Bestreben, den Menschen als geistiges Wesen zu sehen, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist, und dann, sagte man, begreift man das, was er auf Erden ist. Jetzt, bei diesen nordischen Völkerschaften, nachdem sie sich mit dem Rö­mertum vermischten, bildete sich die Anschauung aus: Man begreift das Geistige, nachdem man es zunächst auf der physischen Welt ver­folgt hat, und es sich dann heraushebt aus der physischen Welt als Geistiges. Es war umgekehrt gegenüber dem Früheren.

Der Abglanz von dieser Anschauung wird nun die Theologie des Mittelalters. Die alten Theologien sagten: Zuerst muß man die Ideen haben, zuerst muß man erkennen das Geistige. Der Glaubensbegriff wäre für diese alten Theologien etwas ganz Absurdes gewesen, denn das Geistige wurde zuerst erkannt, bevor man überhaupt daran den­ken konnte, das Physische zu erkennen. Das mußte man ja erst mit dem Geistigen beleuchten. Jetzt aber war man, nachdem man aus der breiteren Welt davon ausgegangen war, zuerst das Physische kennen­zulernen, dazu gekommen, auch in der Theologie so zu denken: Man muß von der Sinneswelt mit Erkenntnis ausgehen, und dann aus den Sinnesdingen die Begriffe herausschälen; nicht die Begriffe aus der geistigen Welt an die Sinnesdinge herantragen, sondern aus den Sinnes-dingen Begriffe herausschälen.

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Und jetzt stellen Sie sich einmal die untergehende römische Welt vor, und dann, was in dieser Welt noch als Kampf von der alten Zeit her da war: daß man die Begriffe noch in der geistigen Welt erlebte und an die Sinnesdinge herantrug. Das empfanden solche Leute wie, sagen wir Martianus Capella, der im 5.Jahrhundert seine Abhandlung schrieb: «De nuptiis Philologiae et Mercurii», in der er danach ringt, dieses, was immer abstrakter und abstrakter werden will in den Ideen, dennoch in der geistigen Welt zu suchen. Aber es geht diese alte An­schauung unter, weil die römische Verschwörung gegen den Geist in jenem Konsortium, von dem ich Ihnen gesprochen habe, eben alles, was unmittelbar menschlicher Zusammenhang mit dem Geiste ist, aus­rottete.

Wir sehen, wie das allmählich verschwimmt, wie die alte Anschau­ung aufhört. Jene alte Anschauung hatte noch gewußt: Dringe ich hinüber in die geistige Welt, begleiten mich die Engel. - Oder wenn es Griechen waren, haben sie diese «Wächter» genannt. Solch ein Mensch, der hinausgegangen ist auf dem Wege des Geistes, der wußte sich begleitet von einem Wächter.

Das, was in alten Zeiten eine wirkliche geistige Wesenheit, der Wäch­ter war, das war zu den Zeiten, als Capella schrieb, bereits die Gram­matik, die erste Stufe der siebengliedrigen sogenannten freien Künste. In älteren Zeiten wußte man: Dasjenige, was in Grammatik lebt, was in den Worten und Wortzusammenhängen lebt, das ist etwas, was dann weiter hinaufführt in die Imagination. Man wußte im Wortzusammen­hang den Engel wirksam, den Wächter.

Würden wir die Darstellungen bei älteren Zeiten suchen, so würden wir nirgends eine stroherne Definition finden. Es ist ja interessant, daß Capella nicht etwa die Grammatik so schildert wie die spätere Re­naissance, sondern die Grammatik ist da noch eine richtige Person, und die Rhetorik als zweite Stufe wiederum eine Person. Dort sind sie schon stroherne Allegorien, früher waren sie geistige Anschauungen, die nicht bloß eben etwas lehrten, wie zum Beispiel beim Capella gelehrt wird, sondern die schaffende Wesenheiten waren, und das Hineingehen zum Geiste war gefühlt als ein Hineindringen zu schaffenden Wesenheiten. Nun waren das Allegorien geworden, aber immerhin noch Allegorien.

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Es sind immerhin noch, wenn sie auch nicht mehr sehr stattlich sind, wenn sie auch schon ziemlich schmächtig geworden sind, es sind immer­hin noch Damen, diese Grammatik, Rhetorik, Dialektik. Sie sind ja sehr mager und haben eigentlich nur noch, sagen wir, die Knochen der geisti­gen Anstrengung und die Haut der Begriffe, aber es sind immerhin noch respektable Damen, die diesen Capella, den ältesten Schriftsteller über die sieben freien Künste, hineintragen in die geistige Welt. Mit diesen sieben Damen macht er nach und nach sozusagen Bekanntschaft; zuerst mit der Dame Grammatik, dann mit der Dame Rhetorik, mit der Dame Dialektik, mit der Dame Arithmetik, mit der Dame Geo­metrie, mit der Dame Musik, und endlich mit der alles überragenden himmlischen Dame Astrologia. Es sind eben durchaus Damen. Wie gesagt, es sind ihrer sieben. Das siebenfach Weibliche zieht uns hinan -so hätte er schließen können, der Capella, indem er seinen Weg zur Weisheit schilderte. Aber denken Sie daran, was daraus geworden ist! Denken Sie an die späteren mittelalterlichen Klosterschulen. Die ha­ben gegenüber der Grammatik und Rhetorik, wenn sie gebüffelt haben, nicht mehr empfunden: Das ewig Weibliche zieht uns hinan! Es war tatsächlich so, daß aus dem Lebendigen herausgewachsen ist zuerst das Allegorische und dann das Intellektuelle.

Aus jener musenartigen Wesenheit, welche noch gewirkt hat bei demjenigen, der in alten Zeiten den Weg von dem menschlich gespro­chenen Worte zu dem Weltenworte suchte, so daß es durch ihn gehen konnte, so daß er sagen mußte: «Singe, o Muse, vom Zorn mir des Peleiden Achilleus . . . », aus dieser Bekanntschaft mit der Muse, die den Menschen hineinführt in die Geisteswelt, so daß nicht mehr er singt, sondern daß die Muse singt von dem Zorn des Peleiden Achilleus, von dieser Stufe bis zu derjenigen, wo dann die Rhetorik selber im rö­mischen Wesen sprach, und später in der Vermischung mit dem vom Norden herziehenden Wesen, da ist eben ein weiter Weg; da wird alles abstrakt, da wird alles begrifflich, da wird alles intellektuell. Aber je weiter wir herankommen an den Osten und nach den alten Zeiten, desto mehr finden wir alles im konkreten geistigen Leben. Und so war es durchaus, daß der alte Theologe zu den geistigen Wesenheiten ging, um seine Begriffe zu holen. Die wandte er dann auf diese Welt hier

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an. Derjenige Theologe aber, der schon herausgewachsen war aus dem, was aus dem Zusammenfluß der nordischen Völker mit dem Römer­tum entstand, der sagte: Hier in der Sinneswelt muß die Erkenntnis gesucht werden, dann gewinnt man die Begriffe. - Da konnte man aber nicht hinaufkommen in eine geistige Welt. Jetzt aber war eben durch das römische Kollegium gut dafür gesorgt, daß zwar da unten die Men­schen herumfischten in der sinnlichen Welt, aber nicht über diese sinn­liche Welt hinauskamen. Während sie früher zwar diese sinnliche Welt auch hatten, hier oben (es wird gezeichnet) aber die Begriffe und Ideen aufsuchten in der geistigen Welt und dann die physische Welt beleuch­teten, sogen sie jetzt aus der physischen Welt die Begriffe heraus. Die kamen nicht weit hinauf, die kamen nur zu einer Interpretation der physischen Welt. Aber es war ja die Erbschaft da. Man kam nicht mehr durch einen eigenen Erkenntnisweg da hinauf, aber es war ja noch die Erbschaft vorhanden. Die war niedergeschrieben oder durch Tradition erhalten, in Dogmen verkörpert und erstarrt. Das war also da oben (in der Zeichnung), und seine Bewahrung wurde nun die Kon­fession. Da drinnen war dasjenige erhalten, was über Geistiges zu sa­gen war. Das war da. Und immer mehr und mehr gelangte man zu dem Bewußtsein: Das muß unangetastet bleiben, was da gesagt wor­den ist für oben durch irgendwelche Offenbarungen, die nicht mehr nachgeprüft werden können. Die Erkenntnis aber, die muß unten blei­ben: da muß man alles Begriffliche herausholen.

Und so entstand allmählich auch die Erbschaft desjenigen, was noch in den ersten dunklen Jahrhunderten des Mittelalters vorhanden war. Sehen Sie, es war doch noch eine andere Zeit, als in Europa das mittelalterliche atavistische Hellsehen vorhanden war, wo zum Beispiel der sächsische - man nennt ihn einen Bauern, aber er war, das zeigt der «Heliand» selber, jedenfalls ein aus dem Bauernstande herausge­borener Geistlicher -, wo dieser sächsische Bauerngeistliche eben ein­fach hinschaute auf die Menschen seiner Umgebung und die Fähigkeit hatte, zu sehen, wie mit dem Tode das Geistig-Seelische herausgeht und zum tot-lebendigen Menschenwesen wird. Und so schildert er dann in dem Zuge, der da über dem Irdischen schwebt, dasjenige, was er als Anschauung entwickelt über das Christus-Ereignis in dem «Heliand».

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Aber was hier auf Erden lebt, das wurde immer mehr und mehr, ich möchte sagen, herabgezogen in das bloß Unlebendige. Die atavisti­schen Fähigkeiten hörten auf, und im Sinnlichen suchte man nur noch die Begriffe. Und was ergab sich da für eine Anschauung? Diese An­schauung ergab sich: Um das Übersinnliche brauchen wir uns ja mit der Erkenntnis nicht besonders zu kümmern. Das ist ja in den Schrif­ten und in den Traditionen erhalten, wir brauchen nur aufzuschlagen die alten Bücher, nur nachzuschauen in den alten Traditionen. Da ist über das Übersinnliche alles enthalten, was man überhaupt wissen soll. Jetzt beirrt es uns auch nicht, wenn wir nun im Umkreis der Sin­neswelt gerade die in der Sinneswelt selbst liegenden Begriffe nur allein für die Erkenntnis beachten.

Und so wurde immer mehr und mehr das Bewußtsein lebendig: Das Übersinnliche bleibt ein Bewahrtes; will man forschen, muß man sich an die sinnliche Welt halten.

Und ein solcher Geist, der ganz darinnensteckte, der, ich möchte sagen, dieses Herausschälen aus der Sinneswelt des sächsischen Bauern-geistlichen, der den «Heliand» geschrieben hat, fortsetzte, das war noch im 19. Jahrhundert Gregor Mendel. Was soll man sich kümmern um irgend etwas in bezug auf die Vererbung, wie es in alten Zeiten er­forscht worden war! Das steht ja im alten Testament. Da schaue man hinunter auf die Sinneswelt, wie die roten Erbsen und die weißen Erbsen sich miteinander vermischen, wie das dann wieder rote und weiße und scheckige Erbsen gibt und so weiter. Da kann man ein gewaltiger Naturforscher werden, und mit dem, was über das Über­sinnliche zu sagen ist, mit dem kommt man ja in gar keine irgendwie geartete Disharmonie, denn das bleibt ganz unangetastet.

So hat gerade diese moderne Theologie, indem sie sich umgebildet hat zu dem, was ich Ihnen charakterisiert habe aus der alten Theologie heraus, die Leute hingetrieben, die Natur so zu erforschen, wie zum Beispiel Gregor Mendel als echter katholischer Priester die Natur erforscht.

Und was tritt ein? Diejenigen Naturforscher, die voraussetzungs­lose Wissenschaft haben, sie ernennen nun Gregor Mendel, nachdem sie ihn eine Zeitlang despektierlich behandelt haben, sie ernennen ihn nachträglich

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- es ist ja nicht die Sprache solcher Leute, aber wir können es doch mit diesem Ausdrucke bezeichnen - zu ihrem Heiligen nach ihrer Art, indem sie ihn auf allen Akademien einen großen Naturfor­scher heißen. Das hat durchaus inneren Zusammenhang. Die Natur­forschung der Gegenwart ist nur möglich, indem sie so beschaffen ist, daß sie gerade jemanden, der durch und durch auf dem Standpunkt der Theologie des Mittelalters steht, als einen maßgebenden Naturfor­scher ansieht. Die Naturforschung der Gegenwart ist durchaus die Fortsetzung des innersten Nervs der scholastischen Theologie; das an­dere ist bloß etwas, was nachgezogen wird, aber sie ist die richtige Fortsetzung bis in unsere Zeit hinein, sie ist eine Fortsetzung der scho­lastischen Zeit.

Und deshalb ist es ganz in Ordnung, daß Johann Gregor Mendel nachträglich als ein großer Naturforscher anerkannt wird; er ist es auch, aber im gut katholischen Sinne. Bei ihm hatte es einen Sinn, bloß auf die Erbsen zu schauen, die sich miteinander vermischen, weil das katholisches Prinzip ist, weil da alles das, was übersinnlich ist, eben in der Tradition und in den Büchern enthalten ist; bei den Naturfor­schern hat es keinen Sinn, nicht den geringsten, höchstens wenn man bei dem Ignorabimus stehenbleibt und sich dem Agnostizismus ergibt.

Das ist der Grundwiderspruch in unserer Gegenwart. Das ist das­jenige, auf das man aufmerksam sein muß. Wenn man nicht auf diese Dinge hinsieht, dann wird man gar nicht verstehen, woher alle mög­liche Unklarheit, woher das Widerspruchsvolle in unserem gegenwär­tigen Treiben stammt. Aber die Bequemlichkeit der Gegenwart läßt die Menschen nicht dazu kommen, in diese Dinge hineinzuschauen.

Denken Sie nur, wenn das, was heute über die Weltereignisse ge­sagt wird, Geschichte wird - die Menschen der Nachwelt bekommen diese Geschichte! Glauben Sie, daß die viel Wahrheit haben werden? Ganz gewiß nicht! Aber für uns ist eben Geschichte so gemacht worden. Diese Geschichtspuppen, die da in den gebräuchlichen Geschichten dargestellt werden, die geben nicht wieder, was wirklich in der Mensch­heitsentwickelung geschehen ist. Aber wir sind in der heutigen Zeit da angekommen, wo es dringende Notwendigkeit ist, daß die Menschen erkennen lernen, was wirkliches Geschehen ist. Es genügt nicht, daß

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alle die Sagen von Attila und Karl dem Großen und Ludwig dem From­men - da fängt die Geschichte schon an, ganz fabulär zu werden -, daß alle diese Dinge, so wie man es heute tut, in der Geschichte verzeichnet werden. Da übersieht man das Allerwichtigste. Was die Gegenwart eigentlich verständlich macht, was wir brauchen, das sind Seelenge-schichten. In die sich entwickelnden Seelen der Menschen muß anthro­posophische Geisteswissenschaft hineinleuchten. Wir haben dadurch, daß wir verlernt haben, auf das Geistige hinzuschauen, auch keine Ge­schichte mehr. Und es ist eigentlich für jeden empfindenden Menschen so, daß man sagen kann: Nun ja, beim Martianus Capella sind eigent­lich die alten Führer und Wächter, die hineinführten in die geistige Welt, schon recht magere, schmächtige Damen geworden; aber was man heute schließlich kennenlernt als Heinrich I., Otto J., Otto II., Heinrich II. und so weiter, so wie es in der Geschichte verzeichnet wird, das sind im Grunde genommen Geschichtspuppen, die nach dem Muster derjenigen gestaltet sind, die da als die schmächtigen Damen Grammatik, Rhetorik, Dialektik und so weiter sich entwickelt ha­ben. Denn im Grunde genommen, etwas Fetteres hat man auch nicht an den Persönlichkeiten, die da als Geschichte hintereinander darge­stellt werden!

Die Dinge müssen eben angeschaut werden, wie sie wirklich sind Und eigentlich müßten die Menschen der Gegenwart darnach lechzen, die Dinge anzuschauen, wie sie wirklich sind. Deshalb ist es schon eine Pflicht, diese Dinge, wo es möglich ist, darzustellen, und dargestellt können sie heute werden in der Anthroposophischen Gesellschaft. -Ja, ich hoffe, daß wenigstens diese in einer künftigen Zeit einmal auf­wacht!

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 28. Juli 1922

In mancherlei komplizierter Art haben wir bereits gesehen, wie der Mensch eigentlich nur begriffen werden kann aus dem ganzen Uni­versum heraus, aus der Summe des Kosmos heraus. Wir wollen heute einmal, um dann die Sache in den nächsten Tagen nach einer beson­deren Richtung hin gipfeln zu lassen, diese Beziehung des Menschen zu dem Kosmos uns in einer einfacheren Art vor die Seele führen. Wir haben als die nächste Umgebung des Kosmos das zu verzeichnen, was uns als die physische Welt erscheint. Aber diese physische Welt tritt uns eigentlich nur da entgegen, wo sie Mineralreich ist; wenigstens tritt sie uns nur da in ihrer ureigenen Form entgegen. Wir können, wenn wir innerhalb des Mineralreiches im weiteren Sinne, zu dem wir na­türlich auch Wasser und Luft, die Wärmeerscheinungen, die Erschei­nungen des Wärmeäthers rechnen, wir können innerhalb des minera­lischen Reiches die Kräfte, das Wesenhafte der physischen Welt stu­dieren. Diese physische Welt äußert ihre Wirkungen zum Beispiel in der Schwere, in den Erscheinungen, sagen wir des chemischen, des ma­gnetischen Verhaltens und so weiter. Aber wir können doch eigentlich die physische Welt nur innerhalb der mineralischen Welt studieren; so­bald wir in das Pflanzenreich heraufgehen, können wir mit den Ideen und Begriffen, die wir uns von der physischen Welt machen, nicht mehr zurechtkommen. Keiner empfand das eigentlich in der neueren Zeit in einer so intensiven Weise wie Goethe. Goethe, der als verhältnismäßig junger Mensch von der wissenschaftlichen Seite her mit der Pflanzen­welt bekanntgeworden ist, empfand auch sofort, daß die Pflanzenwelt mit einer anderen Art von Anschauung erfaßt werden müsse als die physische Welt. Er trat der Wissenschaft von den Pflanzen, in der Form, wie sie Linné ausgebildet hatte, entgegen. Dieser große schwe­dische Naturforscher hat ja die Pflanzenlehre so ausgebildet, daß er vor allen Dingen darauf gesehen hat, welche Formen im Außeren und auch im Genaueren die einzelnen Pflanzenarten und Pflanzengattun­gen haben. Nach diesen Formen hat er ein Pflanzensystem aufgestellt,

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in dem die ähnlichen Pflanzen zu Gattungen zusammengestellt sind, so daß die Pflanzengattungen und -arten gleichsam nebeneinander ste­hen, wie wir sonst die Gegenstände der mineralischen Natur neben­einander stellen. Deshalb war eben gerade Goethe von dieser Linné­schen Art, die Pflanzen zu behandeln, abgestoßen, weil die einzelnen Pflanzenformen nebeneinander standen. So, sagte sich Goethe, sieht man die Mineralien an, das, was in der mineralischen Natur ist; bei den Pflanzen muß man eine andere Anschauungsweise anwenden. Bei den Pflanzen, sagte Goethe, müsse man zum Beispiel so vorgehen: Da ist, sagen wir, eine Pflanze, welche Wurzeln entwickelt, dann einen Sten­gel entwickelt (siehe Zeichnung), an dem Stengel Blätter und so weiter.

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Aber das muß nicht gerade bei der Pflanze so sein (Zeichnung 1), sagte sich Goethe, sondern es kann zum Beispiel auch so sein (Zeich­nung 2). Hier ist die Wurzel; aber die Kraft, welche sich bei die­ser Pflanzenform (Zeichnung 1) gleich an der Wurzel zu entwickeln beginnt, die bleibt hier (Zeichnung 2) noch in sich beschlossen und entwickelt nicht einen dünnen Stamm, der sich gleich in Blättern teilt, sondern bildet einen dicken Stamm. Dadurch geht die Kraft der Blät­ter in diesem dicken Stamm auf, und es bleibt nur noch wenig Kraft, um dann Blätteransätze und daran vielleicht die Blüte zu entwickeln. Es kann aber auch so sein, daß die Pflanze nur ganz spärlich ihre Wur­zel entwickelt. Von der Kraft der Wurzel bleibt noch etwas übrig. Das entwickelt sich so (Zeichnung 3), und dann entwickeln sich daran

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spärliche Blatt- und Stengelansätze. Das alles ist aber innerlich das­selbe. Hier ist schmächtig ausgebildet der Stengel und sind mächtig ausgebildet die Blätter (Zeichnung 1). Hier (Zeichnung 2) ist der Sten­gel knollig ausgebildet und spärlich ausgebildet die Blätter. Die Idee ist in allen drei Pflanzen dieselbe, aber man muß die Idee innerlich be­weglich halten, um von einer Form in die andere hinüberzukommen. Ich muß hier (Zeichnung 1) diese Form ausbilden: schmächtige Sten­gel, einzelne Blätter: «Blätterkraft zusammennehmen»; in dieser Idee (Zeichnung 2) bekomme ich die andere Form: «Wurzelkraft zusam­mennehmen». In dieser Idee bekomme ich wieder eine andere Form, die dritte. Und so muß ich einen beweglichen Begriff bilden und aus

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dem beweglichen Begriff wird mir das ganze Pflanzensystem eine Ein­heit.

Während Linné die verschiedenen Formen nebeneinander zusam­mengestellt und sie beobachtet hat wie mineralische Formen, wollte Goethe das ganze Pflanzensystem als eine Einheit mit beweglichen Ideen fassen, so daß er gewissermaßen aus einer Pflanzenform mit dieser Idee herausschlüpft, und, indem er diese Idee selber verändert, in die andere Pflanzenform hineinschlüpft und so weiter.

Diese Art der Betrachtungen, diese Art, mit beweglichen Ideen zu betrachten, das war bei Goethe durchaus der Ansatz zu imaginativer Betrachtungsweise. So daß man sagen kann: Als Goethe an das Linné­sche Pflanzensystem herantrat, da fühlte er, wie man mit der gewöhn­lichen gegenständlichen Erkenntnis, die in der physischen Welt des Mineralreiches gut anwendbar ist, nicht ausreicht im Pflanzenleben. Er fühlte dem Linnéschen System gegenüber die Notwendigkeit der imaginativen Betrachtungsweise.

Das heißt mit anderen Worten, Goethe sagte sich: Wenn ich eine Pflanze anschaue, dann ist es gar nicht das Physische, was ich sehe, was ich wenigstens sehen soll, sondern dieses Physische ist unsichtbar geworden, und das, was ich sehe, muß ich mit anderen Ideen erfassen, als es diejenigen des Mineralreiches sind. - Das ist außerordentlich wichtig, daß wir das ins Auge fassen. Denn wir können uns sagen, wenn wir uns das in der richtigen Weise vor die Seele stellen: Im mi­neralischen Reiche ist rings um uns herum äußerlich sichtbar die phy­sische Natur. Im Pflanzenreich ist die physische Natur unsichtbar ge­worden. Natürlich wirkt die Schwere, alles, was in der physischen Na­tur ist, wirkt noch auf das Pflanzenreich; aber es ist unsichtbar gewor­den, und sichtbar geworden ist eine höhere Natur, ist dasjenige, was innerlich fortwährend beweglich ist, was innerlich lebendig ist. - Es ist die ätherische Natur in der Pflanze das eigentlich Sichtbare. Und wir tun nicht gut, wenn wir sagen: Der physische Leib der Pflanze ist sichtbar. - Der physische Leib der Pflanze ist eigentlich unsicht­bar geworden; und das, was wir sehen, das ist die ätherische Form.

Wie kommt denn eigentlich das Sichtbare bei der Pflanze zustande? Nun, wenn Sie einen physischen Körper haben, zum Beispiel einen

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Bergkristall, da sehen Sie unmittelbar das Physische (Zeichnung 4). Wenn Sie eine Pflanze haben, da sehen sie nicht das Physische; da sehen Sie an der Pflanze die ätherische Form (Zeichnung 5). Aber diese ätherische Form ist ausgefüllt mit Physischem, da drinnen leben phy­sische Stoffe. Wenn die Pflanze ihr Leben verliert und in der Erde zu Kohle wird, so sieht man, wie der physische Kohlenstoff übrigbleibt: der ist in der Pflanze drinnen. Wir können also sagen: Die Pflanze ist ausgefüllt mit dem Physischen, aber sie löst das Physische auf durch das Ätherische. Das Atherische ist dasjenige, was in der Pflanzenform eigentlich sichtbar ist. Unsichtbar ist das Physische.

#Bild s. 34

Also das Physische wird uns sichtbar in der mineralischen Natur. In der pflanzlichen Natur wird uns das Physische schon unsichtbar, denn alles, was wir sehen, ist eben nur durch das Physische sichtbar

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gemachtes Ätherisches. Wir würden natürlich nicht mit gewöhn­lichen Augen die Pflanzen sehen, wenn nicht der unsichtbare Äther-leib physische, sagen wir, Körnchen, um grob zu reden, tragen würde. Durch das Physische wird uns die ätherische Form sichtbar; aber diese ätherische Form ist das, was wir eigentlich sehen, das Physische ist so­zusagen nur das Mittel, damit wir das Ätherische sehen. So daß eigent­lich die ätherische Form der Pflanze ein Beispiel ist für eine Imagina­tion, nur für eine solche Imagination, die nicht unmittelbar in der geistigen Welt sichtbar wird, sondern die durch physische Einschlüsse sichtbar wird.

Fragen Sie also, meine lieben Freunde: Was sind Imaginationen? -so kann man Ihnen antworten: Die Pflanzen sind alle Imaginationen. Nur sind sie als Imaginationen bloß dem imaginativen Bewußtsein sichtbar; daß sie dem physischen Auge auch sichtbar sind, das rührt davon her, daß die Pflanzen ausgefüllt sind mit physischen Teilchen, und dadurch wird das Ätherische auf eine physische Art dem physi­schen Auge sichtbar. Wir dürfen aber, wenn wir richtig sprechen wollen, gar nicht einmal sagen: Wir sehen in der Pflanze ein Physisches. - Wir sehen in der Pflanze eine richtige Imagination. Sie haben also die Ima­ginationen rings um sich herum in den Formen der Pflanzenwelt.

Steigen wir jetzt herauf von der Pflanzenwelt zu der tierischen, da genügt es nicht mehr, daß wir uns an das Ätherische wenden. Da müssen wir einen Schritt weitergehen. Sehen Sie, bei der Pflanze kön­nen wir sagen: Sie vernichtet gewissermaßen das Physische und «west» das Ätherische - «wesen» als Verbum gebraucht.

Die Pflanze: vernichtet das Physische

west das Ätherische

Wenn wir zum Tierischen heraufschreiten, dann dürfen wir auch nicht mehr bloß an dem Ätherischen festhalten, sondern da müssen wir uns die tierische Bildung so vorstellen, daß nun auch das Ätherische ver­nichtet wird. So daß wir sagen können: Das Tier vernichtet das Physi­sche; das tut auch schon die Pflanze, es vernichtet aber auch das Äthe­rische, und es west in demjenigen, was dann sich geltend machen kann, wenn das Ätherische vernichtet wird.

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Wenn das Physische vernichtet wird durch die Pflanze, kann sich das Ätherische geltend machen. Wenn nun auch das Ätherische nur gewissermaßen, grob gesprochen, Ausfüllendes, Körniges ist, dann kann dasjenige, was nun nicht mehr im gewöhnlichen Raume ist, sondern im gewöhnlichen Raume wirkt, dann kann das Astralische wesen. Wir müssen also sagen: Im Tiere west das Astralische. - Wenn wir das Tier ansehen, so west in ihm das Astralische.

Das Tier: vernichtet das Physische

vernichtet das Ätherische

west das Astralische

Nun, Goethe strebte mit aller Gewalt danach, bewegliche Ideen, be­wegliche Begriffe zu bekommen, um dieses fluktuierende Leben in der Pflanzenwelt zu durchschauen. Man hat in der Pflanzenwelt noch das Ätherische vor sich, weil die Pflanze in gewissem Sinne bis an die Oberfläche dieses Ätherische heraustreibt. Es lebt in der Form der Pflanze. Beim Tiere müssen wir uns sagen: Da ist etwas im Tiere, was sich nicht an die Oberfläche heraustreibt. Schon daß die Pflanze an dem Orte bleiben muß, wo sie angewachsen ist, das zeigt, daß da nichts in der Pflanze drinnen ist, was nicht auch an die Oberfläche heraus­tritt für die Sichtbarkeit. Das Tier bewegt sich frei. Da ist etwas in ihm, was nicht an die Oberfläche heraustritt und sichtbar wird. Da ist das Astralische in dem Tiere, das ist etwas, was nicht so erfaßt werden kann, daß wir unsere Ideen bloß beweglich machen, wie ich es Ihnen hier veranschaulicht habe, wo wir in der Idee selbst von Form zu Form gehen (siehe die drei ersten Pflanzenzeichnungen). Das genügt nicht für das Astralische. Wollen wir das Astralische erfassen, dann müssen wir weitergehen, dann müssen wir sagen: In das Ätherische, da geht noch etwas herein, und das, was da drinnen ist, das würde von innen heraus zum Beispiel die Form knollig machen und vergrößern können (Zeichnung 2). - Bei der Pflanze müssen Sie immer im Äußeren die Veranlassung suchen, warum die Form anders wird. Sie müssen mit Ihrer Idee beweglich sein. Aber dieses bloße Beweglichsein genügt nicht, um das Tier zu erfassen. Da müssen Sie in die Begriffe noch etwas an­deres hineinbekommen.

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Wenn Sie sich klarmachen wollen, wie anders die begriffliche Tä­tigkeit sein muß beim Tiere als bei der Pflanze, so müssen Sie nicht nur einen beweglichen Begriff haben, der verschiedene Formen annehmen kann, sondern der Begriff muß innerlich etwas aufnehmen, was er nicht in sich selber hat. Es ist das, was man nennen kann: die Inspira­tion beim Begriffebilden. So wie wir bei unseren Inspirationen, bei un­serer Einatmung von außen die Luft aufnehmen, während wir bei un­serer sonstigen organischen Tätigkeit, die unterhalb des Atmens liegt, in der Tätigkeit in uns verbleiben, müssen wir, wenn wir das Tier be­greifen wollen, nicht bloß bewegliche Begriffe haben, sondern in diese beweglichen Begriffe von außen her noch etwas hineinnehmen.

Wir können - wenn ich mich anders ausdrücken will -, wenn wir die Pflanze richtig verstehen wollen, stehenbleiben, können uns auch in Gedanken als stehenbleibendes Wesen betrachten. Und wenn wir das ganze Leben stehen würden, könnten wir dennoch unsere Begriffe so beweglich machen, daß sie die verschiedensten Pflanzenformen um-faßten; aber wir könnten niemals die Idee, den Begriff eines Tieres bilden, wenn wir nicht selber herumlaufen könnten. Wir müssen sel­ber herumlaufen können, wenn wir den Begriff eines Tieres bilden wollen. Warum?

Ja, wenn Sie, sagen wir, diesen Begriff der Pflanze haben (siehe Zeichnung 2) und ihn umformen in diesen zweiten, dann haben Sie selber diesen Begriff umgeformt. Wenn Sie aber laufen, dann wird Ihr Begriff durch das Laufen ein anderer. Sie selber müssen Leben hin­einbringen in den Begriff. Das ist es, was einen bloß imaginierten Be­griff zu einem inspirierten macht. Bei der Pflanze können Sie sich vor­stellen, daß Sie selber innerlich ganz ruhig sind und die Begriffe nur verändern. Wenn Sie sich einen tierischen Begriff vorstellen wollen -die meisten Menschen tun es ja ganz gewiß nicht gern, weil der Begriff innerlich lebendig werden muß, es krabbelt in einem -, da nehmen Sie die Inspiration, die innere Lebendigkeit auf, nicht nur das äußere Sin­nesweben von Form zu Form, sondern die innere Lebendigkeit. Sie können ein Tier nicht totaliter vorstellen, ohne daß Sie diese innere Lebendigkeit in den Begriff hineinnehmen.

Das war etwas, was Goethe eben nicht mehr erreichte. Er erreichte,

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daß er sich sagen konnte: Die Pflanzenwelt ist eine Summe von Be­griffen, von Imaginationen. Aber bei den Tieren muß man in den Be­griff etwas hineinnehmen, da muß man den Begriff selber innerlich lebendig machen. - Daß die Imagination bei der einzelnen Pflanze nicht lebt, das können Sie schon daraus sehen, daß die Pflanze, wenn sie auf ihrem Boden steht und wächst, ihre Form durch äußere An­lässe verändert, aber innerlich verändert sie die Form nicht. Das Tier ist der wandelnde Begriff, der lebendige Begriff, und da muß man die Inspiration aufnehmen, und durch die Inspiration erst dringt man zum Astralischen vor.

Und wenn wir zum Menschen aufsteigen, so müssen wir sagen: Er vernichtet das Physische, er vernichtet das Ätherische, er vernichtet das Astralische, und er west das Ich.

Der Mensch: vernichtet das Physische

vernichtet das Ätherische

vernichtet das Astralische

west das Ich

Bei dem Tier müssen wir uns sagen: Wir sehen eigentlich nicht das Phy­sische, sondern wir sehen eine physisch erscheinende Inspiration. Da­her wird auch sehr leicht die menschliche Inspiration, die Atmung, wenn sie irgendeiner Störung unterliegt, zur tierischen Form. Versu­chen Sie nur einmal, sich zu erinnern an manche Alptraumgestalten:

was Ihnen da für tierische Formen erscheinen! Die tierischen Formen sind durchaus inspirierte Formen.

Das menschliche Ich können wir erst durch Intuition erfassen. In Wirklichkeit kann das menschliche Ich erst durch Intuition erfaßt werden. Beim Tiere sehen wir also die Inspiration, beim Menschen sehen wir eigentlich das Ich, die Intuition. Wir reden falsch, wenn wir beim Tiere sagen: Wir sehen den physischen Leib. - Wir sehen gar nicht den physischen Leib. Der ist aufgelöst, der ist vernichtet, der veran­schaulicht uns bloß die Inspiration, ebenso der ätherische Leib. Wir sehen beim Tier eigentlich äußerlich durch das Physische und Äthe­rische den astralischen Leib. Und beim Menschen sehen wir schon das Ich. Was wir da sehen, ist nicht der physische Leib, der ist gerade unsichtbar;

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ebenso der ätherische Leib; ebenso der astralische Leib. Was wir beim Menschen sehen, ist - äußerlich geformt, auf physische Weise geformt - das Ich. Daher erscheint auch zum Beispiel für die Augen-wahrnehmung, für die Sichtbarkeit, der Mensch nach außen in seinem Inkarnat in einer Farbe, die sonst nicht vorhanden ist, wie auch das Ich sonst nicht in den anderen Wesenheiten vorhanden ist. Wir müßten also, wenn wir uns richtig ausdrücken wollen, sagen: Den Menschen konnen wir nur dann ganz erfassen, wenn wir ihn bestehend denken aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib und Ich. Das, was wir vor uns sehen, ist das Ich, und unsichtbar darinnen ist der astra­lische Leib, der Ätherleib und der physische Leib.

Nun aber erfassen wir den Menschen doch nur, wenn wir noch etwas genauer auf die Sache hinschauen. Es ist ja zunächst nur die Außenseite des Ich, die wir sehen. Aber innerlich würde ja das Ich in seiner wahren Gestalt nur durch Intuition wahrzunehmen sein. Aber etwas von diesem Ich merkt der Mensch auch im gewöhnlichen Leben, im gewöhnlichen Bewußtsein: Das sind seine abstrakten Gedanken; die hat das Tier nicht, weil es noch kein Ich hat. Abstraktionsfähigkeit hat das Tier nicht, weil es noch kein Ich hat. Wir können also sagen: Wir sehen äußerlich in der menschlichen Gestalt die irdische Verkörperung des Ich. Und wenn wir uns von innen erleben in unseren abstrakten Gedanken, da haben wir das Ich; aber das sind eben nur Gedanken, das sind keine Realitäten; das sind Bilder.

Steigen wir jetzt beim Menschen zu dem in ihm befindlichen, aber in ihm vernichteten astralischen Leib hinunter, dann kommen wir zu dem im Menschen, was nun nicht mehr von außen gesehen werden kann, was wir aber sehen, wenn wir den Menschen in Bewegung se­hen und wenn wir seine Form aus der Bewegung begreifen. Dazu ist folgende Anschauung notwendig. Denken Sie sich einmal einen klei­nen, zwerghaften Menschen, so einen recht dicklichen, der mit kur­zen Beinen dahingeht, Sie schauen seine Bewegung an: Sie werden aus seinen kurzen Beinen, die er fast wie kleine Säulen vorwärtsschiebt, seine Bewegung begreifen. Ein langer Rix mit langen Beinen wird sich anders bewegen. Sie werden in Ihrer Anschauung eine Einheit sehen zwischen der Bewegung und den Formen. Sie werden auch diese Einheit

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finden, wenn Sie sich in solchen Dingen schulen. Wenn Sie sehen, daß irgend jemand eine nach rückwärts verlaufende Stirne, ein vor­stehendes Kinn hat, so ist er auch in der Bewegung des Kopfes anders als jemand, der ein zurückliegendes Kinn und eine weit nach vorne gehende Stirne hat. Sie werden überall beim Menschen einen Zusam­menhang sehen zwischen seiner Form und seiner Bewegung, wenn Sie ihn einfach so, wie er vor Ihnen steht, anschauen und einen Eindruck bekommen von seinem Inkarnat, von dem, wie er sich selbst in Ruhe erhält. Sie schauen auf sein Ich, wenn Sie auf dasjenige achten, was von seiner Form in die Bewegung übergeht, und was von der Bewegung gleichsam wiederum zurückläuft.

Suchen Sie einmal an der menschlichen Hand zu studieren, wie je­mand mit langen Fingern anders dachse]t mit den Fingern als derje­nige, der kurze Finger hat. Die Bewegung geht in die Form über, die Form in die Bewegung: Da machen Sie sich noch, ich möchte sagen, einen Schatten von seinem astralischen Leib klar, allerdings durch äußere physische Mittel ausgedrückt. Aber Sie sehen, so wie ich Ihnen das beschreibe, ist es eine primitive Inspiration. Die meisten Menschen sehen es zum Beispiel solchen Menschen nicht an, die so gehen, wie Fichte durch die Straßen von Jena gegangen ist; sehen nicht, was in ihnen liegt. Wer Fichte durch die Straßen von Jena gehen sah, der empfand auch jene Bewegung und Formung, die in seinen Sprachorga­nen war, und die insbesondere dann, wenn er überzeugend wirken wollte, in der Formung der Sprachorgane sich ausgedrückt hat, und in der Formung des Sprachorgane schon drinnen war. Es gehört eine primitive Inspiration dazu, um das zu sehen.

Aber wenn wir jetzt von innen anschauen, was man so von außen sieht und was ich Ihnen eben beschrieben habe als wahrnehmbar durch diese primitive Inspiration, so ist das im wesentlichen das menschliche, vom Gefühl durchdrungene Phantasieleben, dasjenige, wo schon inner­lich erlebt werden die abstrakten Gedanken. Auch die Gedächtnis-vorstellungen als Bilder, wenn sie herantreten, leben in diesem Ele­mente. Wir können sagen: Von außen angesehen drückt sich zum Bei­spiel im Inkarnat das Ich aus, aber auch in den anderen Formen, die da auftreten. Wir würden sonst von keiner Physiognomie sprechen

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können. Sehen wir zum Beispiel jemanden, der herabgezogene Mund­winkel hat, wenn er das Gesicht ruhig hält, so liegt das durchaus kar­misch in seiner Ich-Gestaltung in dieser Inkarnation. Nach innen ge­sehen sind das aber die abstrakten Gedanken.

#Bild s. 41a

Nehmen wir den astralischen Leib, so ist es nach außen das Charak­teristische der Bewegungen, nach innen die Phantasmen oder Phantasiebilder,

#Bild s. 41b

was ihn kundgibt; der eigentliche astralische Leib entzieht sich schon mehr oder weniger der Beobachtung. Noch mehr entzieht sich beim Menschen der ätherische Leib der Beobachtung. Der ätherische

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Leib ist sozusagen von außen nicht mehr so richtig sichtbar, oder höch­stens in absonderlichen Fällen sichtbar in physischen Manifestationen. Er kann es auch werden, wenn zum Beispiel jemand - mit Respekt zu vermelden - schwitzt, dann ist das ein Sichtbarwerden des ätherischen Leibes nach außen. Aber sehen Sie, dazu gehört schon Imagination, um das Schwitzen mit dem ganzen Menschen in Zusammenhang zu bringen. Paracelsus hat das durchaus getan. Für ihn war nicht nur die Art, sondern das Substantielle des Schwitzens bei einem Menschen nicht dasselbe wie beim anderen Menschen. Für ihn war darin der ganze Mensch ausgedrückt, das Ätherische des ganzen Menschen. Also da tritt schon das Äußerliche sehr stark zurück; aber innerlich tritt das im Erleben um so mehr hervor, nämlich im Fühlen. Das Gefühl inner­lich erlebt, das ganze Gefühlsleben ist eigentlich das, was im ätherischen Leibe lebt, wenn er von innen wirkt, so daß man ihn von innen erlebt. Es ist ja auch immer das Gefühlsleben von der Sekretion nach innen begleitet. Und im wesentlichen stellt sich ja auch die Anschauung des ätherischen Leibes beim Menschen so dar - verzeihen Sie, jetzt wieder­um mit Respekt zu vermelden -, daß zum Beispiel die Leber schwitzt, der Magen schwitzt, daß alles schwitzt, daß alles sekretiert. Gerade in diesem inneren Sekretieren lebt das ätherische Leben des Menschen. Die Leber hat um sich einen fortwährenden Schwitznebel, ebenso hat das Herz einen fortwährenden Schwitznebel: alles das ist Nebel, in Wolken eingehüllt. Das muß imaginativ erfaßt werden.

Wenn Paracelsus vom Schwitzen des Menschen gesprochen hat, so hat er nicht gesagt: Das ist nur an der Oberfläche -, sondern da sagt er: Nein, das 4urchdringt den ganzen Menschen -, das ist sein Äther-leib, was man sieht, wenn man absieht von dem Physischen. Dieses innerliche Erlebnis also des Ätherleibes ist das Gefühlsleben.

Und das äußerliche Erlebnis des physischen Leibes, das ist schon tatsächlich so ohne weiteres nicht wahrnehmbar. Wir nehmen es im­merhin wahr, das Physische der Körperlichkeit, wenn wir zum Bei­spiel ein Kind auf den Arm nehmen: Es ist schwer, wie der Stein schwer ist. Das ist physisches Erlebnis, das ist dasjenige, was der physischen Welt angehört, was wir da wahrnehmen. Wenn uns jemand eine Ohr­feige gibt, so ist außer dem moralischen Erlebnis noch ein physisches da,

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ein Stoß; aber als Physisches ist es eigentlich nur ein elastischer Stoß, wie wenn eine Billardkugel an eine andere stößt. Wir müssen durchaus das Physische dabei von dem anderen richtig sondern. Aber wenn wir dieses Physische nach innen wahrnehmen in derselben Weise, wie ich vorhin gesagt habe, daß wir das Äußere vom Gefühlsleben nach innen wahrnehmen, dann ist in den physischen Vorgängen, in den bloßen physischen Vorgängen, innerlich erlebt, der menschliche Wille. Der menschliche Wille, das ist dasjenige, was in einer einfacheren Weise den Menschen mit dem Kosmos zusammenbringt.

Nun, Sie sehen, wenn wir also Inspiration rings um uns herum su­chen, so haben wir sie in den Tierformen gegeben. Die Mannigfaltig­keit der tierischen Formen wirkt auf uns für unsere Wahrnehmungen in Inspiration. Sie können daraus erkennen, daß ja dann, wenn wir In­spirationen rein sehen, ohne daß sie ausgefüllt sind mit physischer Kör­perlichkeit, daß dann diese Inspirationen etwas wesentlich Höheres als Tiere darstellen können. Das können sie auch. Aber es werden uns auch rein in der geistigen Welt vorhandene Inspirationen in tierähn­lichen Formen auftreten können.

In den Zeiten des älteren atavistischen Hellsehens haben die Men­schen versucht, die Inspirationen, die sie hatten, in geistiger Weise hin­zustellen in tierischen Formen; zum Beispiel die Sphinx hat ihre Form dadurch, daß sie eigentlich etwas nachbilden soll, was man inspiriert gesehen hat. Wir haben es also schon mit übermenschlichen Wesenhei­ten zu tun, wenn wir von tierischen Formen in der rein geistigen Welt sprechen. Während der Zeit des atavistischen Hellsehens, wie es noch vorhanden war in den ersten vier christlichen Jahrhunderten, also je­denfalls noch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, da war es nicht bloß eine äußerlich stroherne Symbolik, sondern ein wirklich inneres Wissen, das höhere geistige Wesenheiten, die zugänglich werden der Inspiration, in tierischen Formen ausdrückte.

Und es ist durchaus diesem entsprechend, wenn der Heilige Geist von denen, die auf Inspiration aufmerksam machten, in der Gestalt einer Taube angedeutet wurde. Wie müssen wir heute es auffassen, wenn uns von dem Heiligen Geiste als in der Gestalt einer Taube ge­sprochen wird? Wir müssen es so auffassen, daß wir sagen: Diejenigen,

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die so sprachen, waren im alten atavistischen Sinne inspirierte Leute. Sie sahen in derjenigen Region, in der sich für sie rein geistig der Hei­lige Geist zeigte, ihn in dieser Form als Inspiration. Und wie werden diese mit atavistischer Inspiration ausgestatteten Zeitgenossen des My­steriums von Golgatha charakterisiert haben den Christus?

Sie haben ihn vielleicht äußerlich gesehen, da haben sie ihn als Men­schen gesehen. Um in der geistigen Welt ihn als Menschen zu sehen, dazu hätten sie Intuitionen haben müssen. Solche Menschen aber, die ihn als Ich sehen konnten in der intuitiven Welt, waren auch in der Zeit des Mysteriums von Golgatha nicht da; das konnten sie nicht. Aber sie konnten ihn noch in atavistischer Inspiration sehen. Dann werden sie auch tierische Formen gebraucht haben, um selbst den Chri­stus auszudrücken. «Siehe, das ist das Lamm Gottes», das ist für jene Zeit eine richtige Sprache, eine Sprache, in die wir uns hineinfinden müssen, wenn wir wiederum darauf kommen, was Inspiration ist, be­ziehungsweise wie man durch Inspiration dasjenige sieht, was in der geistigen Welt auftreten kann: «Siehe, das Lamm Gottes!» Das ist wichtig, daß wir wiederum erkennen lernen, was imaginativ, was in­spiriert, was intuitiv ist, und daß wir dadurch lernen, uns in die Sprach-weise zu versetzen, die aus älteren Zeiten zu uns herauftönt.

Diese Sprachweise stellt in bezug auf die älteren Anschauungen Wirklichkeiten dar; aber wir müssen uns erst da hineinfinden, diese Wirklichkeiten so auszudrücken, wie sie zum Beispiel noch zur Zeit des Mysteriums von Golgatha ausgedrückt wurden, und sie als selbst­verständlich zu empfinden. Nur so werden wir in den Sinn desjenigen einrücken, was zum Beispiel drüben in Asien in den geflügelten Che­rubim, was in Ägypten als die Sphinx dargestellt worden ist, was uns im Heiligen Geist als eine Taube dargestellt wird, was uns selbst in dem Christus als das Lamm dargestellt wird, was ja Inspiration, oder besser gesagt, inspirierte Imagination war, in der immer wieder in den ältesten Zeiten der Christus abgebildet worden ist.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 29. Juli 1922

Gestern habe ich versucht, Ihnen zu zeigen, wie ein einfacher Weg gefunden werden kann, um sich die Beziehungen des Menschen nach Leib, Seele und Geist zum gesamten Kosmos vor die Seele zu führen . Durch die Art und Weise wie ich den gestrigen Vortrag dann in eini­gen imaginativen Bildern gipfeln ließ, wollte ich Sie auf einiges auf­merksam machen. Ich wollte zeigen, wie zum Beispiel in solchen Bil­dern, wie dasjenige von Christus als dem Lamm Gottes, richtig ausge­sprochene, inspirierte Imaginationen liegen, wollte zeigen, daß in den Zeiten, in denen solche Bilder geprägt worden sind, ja, in denen sie noch mit vollem Verständnis ausgesprochen und für das menschliche Seelenleben verwendet worden sind, ein wirkliches Bewußtsein davon vorhanden war, wie der Mensch von den Seelenerlebnissen, die er im gewöhnlichen Bewußtsein hat, sich hinaufarbeitet zu Seelenerlebnissen eines solchen Bewußtseins, das ihn in Verbindung bringt mit der gei­stigen Welt. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie in den vier ersten christlichen Jahrhunderten das, was wir die christliche Lehre nennen können, durchaus noch so geprägt war, daß ihr überall die Anschauung des Geistigen zugrunde lag, daß die Geheimnisse des Chri­stentums selber so dargestellt wurden, wie sie geschaut werden konn­ten von denen, die ihr Seelenleben zum Schauen des Geistigen hinauf-gebracht hatten. Nach dem 4. Jahrhundert ist es ja im allgemeinen Be­wußtsein der Menschen immer mehr und mehr entschwunden, ein Ver­ständnis für den unmittelbaren Ausdruck des Geistigen noch zu haben. Und wir sehen, wie bei der Berührung der nordisch-germanischen mit der lateinisch-griechischen Welt diese Schwierigkeiten eigentlich im­mer größer werden, die sich damals im Verlaufe der abendländischen Kultur ergaben. Wir müssen durchaus uns klarmachen, wie unmittel­bar nach dem 4.Jahrhundert noch mit einer gewissen ehrwürdigen Verehrung hingesehen worden ist zu dem, was in inspirierten Imagi­nationen als Darstellung der christlichen Anschauung aus älteren Zei­ten heraufgekommen war. Man verehrte die Tradition. Man verehrte

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das, was durch Tradition an solchen Bildern eben auf die Nachwelt gekommen war. Allein, der fortschreitende Menschengeist nahm immer mehr Formen an, durch die er sich sagte: Ja, da ist uns so etwas über­liefert, wie zum Beispiel das Bild der Taube für den Heiligen Geist, wie das Bild vom Lamm Gottes für den Christus selbst. Aber wie sol­len wir das verstehen? Wie kommen wir dazu, das zu verstehen? - Und eben gerade aus dieser Unmöglichkeit, oder vielmehr aus dem Glau­ben an die Unmöglichkeit, daß der menschliche Geist durch sich selbst sich in die Anschauung der geistigen Welten hinaufarbeiten kann, ent­stand ja die scholastische Lehre, daß der Menschengeist durch seine eigene Kraft bis zur Erkenntnis des Sinnlichen kommt und auch noch zu Schlüssen, die sich unmittelbar aus dem Begriff vom Sinnlichen er­geben, daß aber hingenommen werden müsse als ein unverstandenes Geoffenbartes dasjenige, was von der übersinnlichen Welt für den Menschen offenbar sein kann.

Aber nicht ohne Schwierigkeiten entwickelte sich wiederum diese, ich möchte sagen, doppelte Art von Glauben an das menschliche See-lenleben: an die auf das Irdische beschränkte Erkenntnis auf der einen Seite, und an die nur im Glauben erreichbare Erkenntnis des Über­sinnlichen auf der anderen Seite. Immerhin wurde, wenn auch mehr oder weniger dunkel, empfunden, daß man zu den übersinnlichen Er­kenntnissen nicht mehr so stehen konnte, wie das in früheren, in alten Zeiten der Fall war. In der ersten Zeit, nach dem 4. Jahrhundert, sagten sich die Menschen in ihrer Empfindung: Diese übersinnliche Welt kann dennoch in einem gewissen Sinne mit dem menschlichen Seelenleben erreicht werden; aber es ist nicht jedem gegeben, das Seelenleben bis zu einer solchen Höhe zu bringen; man muß sich damit begnügen, eben manches von den alten Offenbarungen hinzu­nehmen.

Wie gesagt, die Verehrung dieser alten Offenbarungen war zu groß, als daß man hätte sogleich den Maßstab einer menschlichen Erkennt­nis anlegen wollen, die nicht mehr hinaufreichte zu ihnen, oder von der man wenigstens glaubte, daß sie auf keine Weise hinaufreiche zu den Offenbarungen. Und die strenge Scholastik von der Zwischentei­lung der menschlichen Erkenntnis, die nahm man doch eigentlich erst

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allmählich an. Erst das 10., 11., 12. und 13.Jahrhundert des Mittel­alters war die Zeit, in der man das scholastische Prinzip völlig ange­nommen hatte. Bis dahin schwankte man immer noch in einer gewis­sen Weise: Sollte man nicht dennoch diese menschliche Erkenntnis, so wie sie einmal für diese spätere Zeit zu erringen war, hinauforingen können bis zu dem, was der übersinnlichen Welt angehörte?

Damit aber war gegenüber früheren Zeiten eigentlich ein mächtiger Umschwung vollzogen. Sehen Sie, in früheren Zeiten, sagen wir, in den allerersten christlichen Jahrhunderten, würde sich ein Mensch, an den herangetreten wäre das Geheimnis der göttlichen Voraussicht aller Dinge oder das Geheimnis der Verwandlung von Brot und Wein in den Leib und in das Blut Christi, gesagt haben, wenn er sich durchgerun­gen hatte zum Christentum: Das ist schwer zu verstehen, aber es gibt Menschen, die können ihre Seele so entwickeln, daß sie so etwas ver­stehen. Wenn ich die Allwissenheit des göttlichen Wesens annehme, so muß eigentlich dieses allwissende Wesen auch wissen, ob der eine Mensch ein für allemal verdammt, oder ob der andere Mensch selig wird. Damit - würde solch ein Mensch gesagt haben - stimmt wenig überein, daß der Mensch doch nicht unbedingt sündigen muß, und durch die Sünde wird er ja eigentlich verdammt: Wenn er nicht sündigt, wird er also nicht verdammt; wenn er eine Sünde büßt, wird er auch nicht verdammt. So daß man also sagen muß: Der Mensch kann sich entweder durch seinen Lebenswandel zu einem Verdammten durch die Sünde machen oder zu einem Seligen durch die Sündlosigkeit. Aber wiederum: Der allwissende Gott muß von diesem Menschen jetzt schon wissen, ob er ein Verdammter oder ein Seliger wird!

Also ein Mensch, an den das herangetreten wäre, der würde zu sol­chen Erwägungen gekommen sein. Er würde aber in diesen ersten christlichen Jahrhunderten nicht ohne weiteres gesagt haben: Also muß ich darüber streiten, ob Gott vorhersieht die Verdammnis oder die Seligkeit eines Menschen. - Sondern er hätte sich gesagt: Daß Gott, trotzdem der Mensch sündigen oder nicht sündigen kann, dennoch weiß, wer verdammt ist und wer selig wird, das würde ich einsehen können, wenn ich eben eingeweiht wäre. - So würde sich ein Mensch der ersten christlichen Jahrhunderte gesagt haben.

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Ebenso wenn man ihm gesagt hätte, durch die Transsubstantiation, durch Abendmahlfeier, Meßopfer wird Brot und Wein in Leib und Blut Christi verwandelt, so würde er erwidert haben: Das sehe ich nicht ein, aber wäre ich eingeweiht, so könnte ich das einsehen. - So hatte man in älteren Zeiten gesagt. Denn in älteren Zeiten würde man eben gedacht haben: Was sich in der sinnlichen Welt beobachten läßt, ist Scheingebilde, das ist nicht die Wirklichkeit, die Wirklichkeit liegt in der geistigen Welt dahinter. Solange man in der sinnlichen Welt steht, in dieser Scheinwelt, ist es ein Widerspruch, daß irgend jemand sündigen oder nicht sündigen kann, und daß dennoch der allwissende Gott von vorneherein weiß, ob irgendein Mensch verdammt oder selig wird. Aber sobald man in die geistige Welt eintritt, ist das kein Wider­spruch mehr: Da erfährt man, wie es sein kann, daß Gott es dennoch voraussieht. - Ebenso würde man gesagt haben: In der physisch-sinn­lichen Welt ist es ein Widerspruch, daß etwas, was ja eigentlich für den äußeren Augenschein dasselbe bleibt, Brot und Wein, nach der Ver­wandlung Leib und Blut Christi sein soll; aber wenn man eingeweiht ist, wird man, weil man dann mit seinem Seelenleben in der geistigen Welt steht, das einsehen können. - So würde man in älteren Zeiten gesagt haben.

Nun kamen eben die Kämpfe in den Menschenseelen. Auf der einen Seite sahen diese Menschenseelen sich immer mehr und mehr herausge­rissen aus der geistigen Welt. Die ganze Kultur ging dahin, als Geistes-menschen nur den Verstand gelten zu lassen, der nun allerdings nicht hineinkam in die geistige Welt. Und aus diesen Kämpfen heraus ent­wickelten sich alle Unsicherheiten gegenüber den übersinnlichen Wel­ten. Wir können, wenn wir symptomatologisch Geschichte treiben, die Punkte herausgreifen, an denen wir sehen, daß solche Unsicherheiten besonders stark in die Welt treten.

Ich habe ja öfter in solchen Vorträgen auf jenen schottischen Mönch, Scotus Erigena, aufmerksam gemacht, der im 9. Jahrhundert im Frankenlande am Hofe Karls des Kahlen gelebt hat und dort ge­radezu als ein Wunder der Weisheit angesehen worden ist. Karl der Kahle jedenfalls und alle, die seiner Meinung waren, wandten sich in allen religiösen und auch in allen wissenschaftlichen Fragen an Scotus

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Erigena, wenn sie irgend etwas entschieden haben wollten. Aber gerade an der Art, wie Scotus Erigena anderen Mönchen seiner Zeit gegen­übersteht, sehen wir, wie dazumal der Kampf, ich möchte sagen, wütete zwischen der Vernunft, die sich nur auf die Sinneswelt und einige Schlüsse aus ihr beschränkt fühlte, und dem, was in Form von Dog­men von den übersinnlichen Welten überliefert war.

Und so sehen wir zwei Persönlichkeiten gerade im 9. Jahrhundert einander gegenüberstehen: Scotus Erigena und der Mönch Gottschalk> der in entschiedener Weise die Lehre geltend machte, Gott wisse voll­kommen voraus, ob irgendein Mensch verdammt werde oder selig werde. Man prägte das allmählich in die Formel: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit, einen anderen Teil der Menschen zur Ver­dammnis bestimmt. Man prägte diese Lehre in der Art, wie es ja Augu­stinus selbst schon gemacht hatte, nach dessen Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung ein Teil der Menschen zur Seligkeit, ein Teil zur Verdammnis bestimmt sei. Und Gottschalk, der Mönch, lehrte, es sei so: Gott habe einen Teil der Menschen zur Seligkeit und einen Teil zur Verdammnis bestimmt, keinen aber zur Sünde. Gottschalk lehrte also für das äußere Verständnis einen Widerspruch.

Der Streit tobte dazumal gerade im 9. Jahrhundert außerordentlich heftig. Auf einer Mainzer Synode zum Beispiel wurde die Schrift des Gottschalk geradezu als ketzerisch erklärt, und Gottschalk wurde aus­gepeitscht wegen dieser Lehre. Dennoch, trotzdem Gottschalk ausge­peitscht und eingesperrt worden war wegen dieser Lehre, konnte er sich darauf berufen, daß er ja nichts anderes wollte, als die Augustinische Lehre in ihrer echten Gestalt herstellen. Man wurde auch aufmerk­sam darauf, namentlich französische Bischöfe und Mönche, daß Gott­schalk eigentlich nichts anderes lehrte als das, was schon Augustinus gelehrt hatte. So stand gewissermaßen solch ein Mönch wie Gottschalk vor seiner Zeit so da, daß er aus den Traditionen des alten Mysterien-wissens etwas lehrte, was diejenigen, die nun alles mit dem Verstande, der heraufdämmerte, begreifen wollten, eben nicht begreifen konnten und deshalb bekämpften, während die anderen, die mehr an der Ehr­würdigkeit des Alten festhielten, durchaus einem Theologen wie dem Gottschalk recht gaben.

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Heute werden die Menschen außerordentlich schwer begreifen, daß über so etwas gestritten werden konnte. Es wurde aber nicht bloß ge­stritten. Man wurde dazumal wegen solcher Lehren, wenn sie der einen Partei nicht gefielen, öffentlich ausgepeitscht und eingesperrt, und zu­letzt bekam man doch recht. Denn gerade die Rechtgläubigen stellten sich dann wiederum auf Gottschalks Seite, und die Lehre des Gott­schalk blieb als die rechtmäßige katholische Lehre. - Karl der Kahle wandte sich selbstverständlich aus der ganzen Stellung, in der er zu Scotus Erigena war, an diesen, um eine Entscheidung für sich herbei­zuführen. Scotus Erigena entschied nicht im Sinne von Gottschalk, sondern in dem Sinne, daß in der Entwickelung der Menschheit die Gottheit darinnensteckt, daß das Böse eigentlich nur scheinbar ein Etwas sein kann, sonst müßte ja das Böse in Gott stecken. Da Gott nur das Gute sein kann, so muß das Böse ein Nichts sein; das Nichts aber kann nicht etwas sein, mit dem die Menschen zuletzt vereinigt werden können. - So daß sich Scotus Erigena gegen den Gottschalk aussprach.

Aber die Lehre des Scotus Erigena, die etwa dieselbe ist wie heute die der Pantheisten, ist von der rechtgläubigen Kirche dann wiederum verdammt worden, und die Schriften des Scotus Erigena wurden ja erst später wieder gefunden. Man hat alles verbrannt, was an ihn er­innerte; er galt als der eigentliche Ketzer. Und als er seine Anschau­ung bekanntmachte, die er Karl dem Kahlen vorgelegt hatte, da er­klärte man auf der Seite der Gottschalkianer, die jetzt wiederum zur Anerkennung gekommen waren: Scotus Erigena ist eigentlich nur ein Schwätzer, der sich mit allerlei Federn der äußerlichen Wissenschaft schmückt, und der eigentlich von den inneren Geheimnissen des Über­sinnlichen gar nichts weiß. - Ein anderer Theologe schrieb über den Leib und das Blut Christi: «De corpore et sanguine domini.» Er sprach in dieser Schrift auch dasjenige aus, was für den alten Eingeweihten eine durchschaubare Lehre war: daß tatsächlich Brot und Wein ver­wandelt werden kann in den wirklichen Leib und in das wirkliche Blut Christi.

Wiederum wurde diese Schrift Karl dem Kahlen vorgelegt. Scotus Erigena schrieb nicht gerade eine Gegenschrift, aber in seinen Schriften haben wir vielfach Hinweise darauf, wie er sich entschieden hat, und

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da finden wir, daß diese Lehre, die ja die rechtgläubige katholische ist:

daß Brot und Wein wirklich in den Leib und in das Blut Christi verwan­delt wird, daß diese Lehre modifiziert werden müsse, weil man sie nicht einsehen könne. So sprach sich Scotus Erigena schon damals aus.

Kurz, gerade in diesem 9. Jahrhundert wütete ganz besonders der Kampf um das Verhältnis der Menschenseele zur übersinnlichen Welt, und es war außerordentlich schwierig für die ernsten Geister der da­maligen Zeit, sich zurechtzufinden. Denn in den christlichen Dogmen waren überall Niederschläge alter Initiationswahrheiten vorhanden; aber die Ohnmacht des Verstehens war da. Man prüfte, was man äußer­lich im Worte gegeben hatte. Das Wort hätte man erst verstehen kön­nen nach der Entwickelung der Seelen in die geistige Welt hinein. Man prüfte, was man äußerlich im Worte gegeben hatte, nach dem, dessen man sich bewußt war in der Entfaltung der menschlichen Vernunft der damaligen Zeit. Und aus diesen Prüfungen entstanden damals wirk­lich innerhalb des christlichen Lebens Europas die schwersten Kämpfe.

Wohin tendierten denn diese Seelenerlebnisse? Sie tendierten dahin, daß sich zweierlei im Menschen ausbildete, was ja früher gar nicht vorhanden war. Früher sah der Mensch in die Sinneswelt hinein, und indem er in die Sinneswelt hineinschaute, hatte er durch seine Fähig­keiten zugleich die Anschauung von dem Geistigen, das durch die Sin­neserscheinungen durchschaute: Er sah mit den Sinneserscheinungen Geistiges. So wie es schon die Menschen des 9. Jahrhunderts machten, so sah der alte Mensch ganz gewiß nicht Brot und Wein, denn das wäre ja ein materielles Anschauen gewesen. Es hatte aber der Mensch das materielle Anschauen mit dem spirituellen Anschauen zusammen.

Und ebensowenig hatte der Mensch in diesen alten Zeiten solche intellektualistischen Begriffe und Ideen, wie man sie schon im 9. Jahr­hundert hatte. Die Dünnheit und Abstraktheit dieser Begriffe und Ideen war nicht vorhanden. Was der Mensch als Begriffe und Ideen erlebte, das war noch so, daß es gegenständlich, wesenhaft war. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, wie allmählich so etwas ganz abstrakt geworden ist wie Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arith­metik, Geometrie, Musik, Astrologie. In älteren Zeiten sah man diese Wissenschaften, in die sich der Mensch hineinlebte, so an, daß der

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Mensch in Beziehung kam - so sagte ich dazumal - zu wirklichen rea­len Wesenheiten. Aber schon damals, und noch mehr in späteren Zei­ten, waren diese Grammatik, Rhetorik, Dialektik und so weiter ganz schmächtig abstrakt geworden, ohne Wesenhaftigkeit und so weiter, standen fast nur noch als Kleiderstücke, könnte man eher sagen, dem gegenüber, was in der älteren Zeit vorhanden war. Und das entwickelte sich immer weiter und weiter. Die Abstraktheit wurde immer mehr eine Abstraktheit der Begriffe, und das Konkrete wurde immer mehr zum bloß Äußerlich-Sinnlichen. Und diese beiden Strömungen, die wir im 9. Jahrhundert sehen und unter deren Einfluß dann die Menschen so furchtbare Seelenkämpfe auskämpften, diese Strömungen kamen her­auf bis in die neueste Zeit. Nur treten sie uns an der einen Stelle mehr, an der anderen Stelle weniger entgegen.

Ganz lebendig stehen sie eigentlich vor der Menschheitsentwicke­lung in dem Gegensatz zwischen Goethe und Schiller. Ich habe gestern davon gesprochen, daß Goethe dazu gedrängt worden war, als er die Linnésche Botanik kennenlernte, sich das Pflanzenwesen in lebendigen Begriffen vor die Seele zu führen. Lebendige Begriffe, Begriffe, die sich verwandeln können, die also an das Imaginative herankommen. Aber ich habe auch darauf aufmerksam gemacht, wie Goethe nun strauchelt, als er von dem bloßen Pflanzlich-Lebendigen zu dem Tierisch-Empfin­denden heraufschreiten will. Er kommt noch an die Imagination heran, nicht aber mehr an die Inspiration. Er sieht die äußeren Dinge. Bei den Mineralien hat er nicht die Veranlassung, zur Imagination vorzuschrei­ten, bei den Pflanzen tut er das. Er kommt nicht weiter damit; ab­strakte Begriffe sind nicht seine Sache. Daher faßt er auch dasjenige, was nun ein höheres Geistiges ist als das Pflanzliche, nicht in abstrakte Begriffe. Er philosophiert daher im Grunde genommen nicht in der Art, wie man in seiner Zeit philosophierte.

Schiller philosophiert. Er lernt sogar von Kant das Philosophieren, bis ihm die Kantsche Art dennoch zu bunt wird und er sie wieder läßt. Aber Schiller macht das ohne die Abstraktheit der Begriffe, die wie­derum nicht zum Wesenhaften kommen können. Und wenn wir Goethe und Schiller gegenüberstehen, dann fühlen wir gerade dieses als den Gegensatz, der eigentlich niemals zwischen den beiden überbrückt worden

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ist, der nur ausgeglichen worden ist durch das Großmenschliche, das in beiden lebte.

Aber dieser Gegensatz zeigte sich, als nun in den neunziger Jahren des 18.Jahrhunderts vor beide, vor Goethe und Schiller, die Frage hin-trat: Wie erlangt der Mensch eigentlich ein menschenwürdiges Da­sein? - Schiller legte sich die Frage in seiner Art, in der Form des ab­strakten Denkens vor, und er sprach das, was er auszusprechen hatte, in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» aus. Da sagte er sich: Der Mensch ist auf der einen Seite unterworfen der logischen, der Vernunftnotwendigkeit. Er hat keine Freiheit, wenn er der Vernunftnotwendigkeit folgt. In der Vernunftnotwendigkeit geht seine Freiheit unter. Aber er hat auch keine Freiheit, wenn er sich nur seinen Sinnen hingibt, der sinnlichen Notwendigkeit; da zwingen ihn die Instinkte, die Triebe, da ist er wiederum nicht frei. Nach beiden Seiten, nach dem Geiste und nach der Natur hin wird der Mensch eigentlich zum Sklaven, zum Unfreien. Und es kann der Mensch nur frei werden, meint Schiller, wenn er die Natur so anschaut, als wenn sie ein lebendiges Wesen wäre, als wenn in ihr Geist und Seele wäre, wenn er also die Natur heraufhebt. Aber dann muß er auch die Ver­nunftnotwendigkeit herunterbringen bis zur Natur. Der Mensch muß gewissermaßen die Natur so für sich betrachten, als ob sie Vernunft hätte. Dann verschwindet aus der Vernunft die starre Vernunftnot-wendigkeit, die starre Logik. Andererseits, wenn der Mensch sich bild­lich ausspricht, so gestaltet er, statt daß er logisch analysiert und syn­thetisiert; und indem der Mensch bildet, nimmt er der Natur ihre bloß sinnliche Notwendigkeit. Aber das alles kann man nur ausdrücken, sagte Schiller, im künstlerischen Schaffen und im ästhetischen Genie­ßen. Steht man einfach der Natur gegenüber in irgendeiner Weise, so unterliegt man den Instinkten, den Trieben der Naturnotwendigkeit. Bewegt man sich in seinem Geiste, so muß man der logischen Notwen­digkeit folgen, wenn man nicht dem Menschlichen untreu werden will. Wenn man die beiden verbindet, dann senkt sich die Vernunftnot-wendigkeit und gibt etwas von ihrer Notwendigkeit ab in das Sinn­liche hinein; das Sinnliche gibt von seiner Triebnatur etwas ab. Und wir stellen zum Beispiel den Menschen in den Bildhauerwerken so hin,

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als ob schon in dem Sinnlichen selber Geist enthalten wäre. Wir führen den Geist hinunter in die Sinnlichkeit, indem wir die Sinnlichkeit hin-aufführen zum Geiste, und es entsteht das Bilden, das Schöne. Nur indem der Mensch das Schöne schafft oder das Schöne genießt, lebt er in der Freiheit.

Bedenken Sie, indem Schiller diese ästhetischen Briefe verfaßt hat, hat er mit aller inneren Seelenkraft darnach gestrebt, etwas für den Menschen zu finden, zum Beispiel wann dieser Mensch frei sein könne. Und einzig und allein findet er die Möglichkeit, die menschliche Frei­heit zu verwirklichen - in dem Leben im schönen Schein. Der Mensch muß die grobe Wirklichkeit fliehen - so sagt schon Schiller, wenn er es auch nicht deutlich ausspricht -, wenn er frei werden will, also ein menschenwürdiges Dasein erringen will. Nur im Scheine kann eigent­lich die Freiheit erreicht werden.

Nietzsche, der von all diesen Dingen noch durchsetzt war und eben doch auch nicht zu einer wirklichen Anschauung des Geistes durchdringen konnte, verfaßte ja sein erstes Buch «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik», worin er zeigen wollte: Die Griechen hätten die Kunst erfunden, um etwas zu haben, wodurch sie sich als freie Menschen in Menschenwürde über die Wirklichkeit der äußeren Sinne erheben könnten, in der man niemals seine Menschen­würde erringen kann; sie hätten sich über die Wirklichkeit der Dinge hinweggesetzt, um im Schein, im künstlerischen Schein die Möglich­keit der Freiheit zu erringen. Nietzsche interpretierte das ins Grie­chentum hinein. In dieser Beziehung sprach Nietzsche bloß in radikaler Weise aus, was schon in Schillers «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» liegt. Man kann also sagen, Schiller lebte in einer ab­strakten Geistigkeit, aber in ihm lebte zugleich der Impuls, dem Men­schen seine Würde zu geben. Sehen Sie sich das Großartige, das Herr­liche, das Bewundernswürdige dieser ästhetischen Briefe an. Sie sind im Grunde genommen in bezug auf die Dichtung und in bezug auf die menschliche Seelenkraft größer als alle anderen Schillerschen Werke. Sie sind eigentlich das Größte, was Schiller geleistet hat, wenn wir seine Gesamtleistungen ins Auge fassen. Aber Schiller kämpft damit von seinem abstrakten Standpunkt aus, bei dem er im Sinne des abendländischen

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Geisteslebens auch beim Intellektualismus angekommen war. Von diesem seinem Standpunkt aus zu der wahren Wirklichkeit kom­men, das konnte er nicht. Er konnte nur den Schein der Schönheit er­reichen.

Als Goethe diese «Briefe über die ästhetische Erziehung des Men­schen» bekam, da konnte er nicht leicht sich zurechtfinden. Im abstrak­ten Gang der menschlichen Vernunft war eigentlich Goethe nicht be­wandert. Aber auch für ihn war das ein Problem, wie der Mensch seine Menschenwürde erringt, wie da die geistigen Wesenheiten zusammen­arbeiten müssen, um dem Menschen seine Menschenwürde zu geben, so daß er erwacht gegenüber der geistigen Welt, sich hineinlebt in die geistige Welt. Schiller konnte aus dem Bild nicht herauskommen zu der Wirklichkeit. Goethe wollte nun das, was Schiller in den ästhe­tischen Briefen ausgesprochen hatte, in seiner Art auch aussprechen.

Er sprach es in seiner Art bildhaft aus in dem «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie». In all den Gestalten haben wir ja Seelenkräfte zu sehen, die zusammenwirken, um dem Menschen seine freie Menschenwürde zu geben, seine Menschenwürde in Freiheit zu geben. Aber Goethe konnte den Weg von dem, was er bloß in Imagina­tionen ausdrücken konnte, hinauf zum wirklichen Geistigen nicht fin­den. Daher blieb es bei Goethe beim Märchen, beim Bilde, bei einer Art höherer Symbolik, allerdings einer außerordentlich lebendigen Symbolik, aber doch nur bei einer Art von Symbolik. Schiller prägte abstrakte Begriffe, konnte in keine Wirklichkeit herein, blieb beim Schein. Goethe prägte, indem er den Menschen in seiner Freiheit be­greifen wollte, viele Bilder, die anschaulich waren, sinnlich anschau­lich, aber mit denen er auch nicht hinein konnte in die Wirklichkeit. Er blieb an der Beschreibung des Sinnlichen haften. Sehen Sie, wie wunderschön diese Beschreibung des Sinnlichen im Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie ist; aber eigentlich anschau­lich wird die Befreiung des gelähmten Prinzen nicht, nur symbolisch anschaulich. Die gegensätzlichen Strömungen, die heraufgekommen waren, und die ich Ihnen charakterisiert habe, von denen keine eigent­lich in die geistige Welt hinein konnte, die sprechen sich hier in den zwei Persönlichkeiten aus. Sowohl Schiller wie Goethe strebten im

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Grunde genommen in die geistige Welt hinein von entgegengesetzten Seiten, aber sie konnten nicht hinein.

Was lag da eigentlich vor? Es wird Ihnen sonderbar scheinen, was ich Ihnen sagen werde, und dennoch, wer mit psychologischer Unbe­fangenheit die Dinge anschaut, wird sie so ansehen müssen, wie ich es jetzt sagen werde.

Man nehme die beiden Strömungen, die in der Scholastik vorhan­den sind. Einmal die Vernunfterkenntnis, die aus der Sinnlichkeit ihre Eigenschaften schöpft, aber nicht bis zum Wirklichen vordringt. Durch die mannigfaltigsten Gestaltungen kommt diese Strömung weiter und weiter, von einer Persönlichkeit zu der anderen, auch auf Schiller her­unter. Er wird gewissermaßen hineingezogen in eine solche Erkenntnis-art, von der die Scholastik gesagt hat: Man kann damit nur die Ideen aus dem Sinnlichen gewinnen. - Doch Schiller ist außerstande, dazu ist er ein viel zu starker Vollmensch, in der Sinnlichkeit etwas anzuer­kennen, was der Mensch sein darf, wenn er seine Menschenwürde ha­ben soll. Die scholastische Erkenntnis bringt nur herauf die Ideen aus der Sinnenwelt. Schiller läßt die Sinnenwelt weg, und da bleiben nur die Ideen. In denen bringt er es zu keiner Wirklichkeit, sondern nur zu dem schönen Schein. Er also ringt damit: Was soll man eigentlich ma­chen mit dieser scholastischen, aus dem Menschen gewonnenen Er­kenntnis, um dem Menschen irgendwie seine Würde zu geben? Da kann man sich gar nicht mehr an die Wirklichkeit halten, da muß man zum schönen Schein seine Zuflucht nehmen. - Sie sehen, in welcher Weise bei Schiller sich der Ausläufer der scholastischen Vernunfterkenntnis-Strömung findet.

Goethe hat sich um diese Vernunfterkenntnis nicht viel gekümmert. Er war eigentlich viel mehr angeregt durch die Offenbarungserkennt­nis; wenn Sie das auch sonderbar finden, aber es ist doch so. Das Lo­gisieren lag Goethe nicht. Und wenn er sich auch nicht gerade an die katholischen Dogmen hielt, deren Notwendigkeit ihm später, als er seinen «Faust» vollenden wollte, zur künstlerischen Ausgestaltung den­noch einleuchtete, wenn er auch in seiner Jugend sich nicht an die ka­tholischen Dogmen hielt, so hielt er sich doch an dasjenige, was an die übersinnliche Welt so weit herangeht, als er es erreichen konnte. Goethe

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von einem Glauben zu sprechen - das machte ihn in einem gewissen Sinne wütend. Als ihm in seiner Jugend Jacobi vom Glauben sprach, da sagte er: Ich halte mich ans Schauen. - Vom Glauben wollte Goethe nichts wissen. Diejenigen, die Goethe etwa für einen Glauben in An­spruch nehmen, die verstehen Goethe ganz und gar nicht. Er wollte schauen. Und er war schon auf dem Wege, von seinen Imaginationen herauf auch zu den Inspirationen zu kommen und zu den Intuitionen. Damit hätte er natürlich nicht ein Theologe des Mittelalters werden können, aber er hätte ein alter Gott-Schauer oder ein Schauer der über­sinnlichen Welten werden können. Auf dem Wege dahin war er schon, nur hat er nicht hinauf gekonnt. Er kam bloß bis zur Anschauung des Übersinnlichen in der Pflanzenwelt. So daß er, als er die Pflanzenwelt verfolgte, schon nebeneinander Spirituelles und Sinnliches verfolgte, wie es auch in den alten Einweihungsmysterien war; aber er blieb bei den Pflanzen stehen.

Was konnte er denn da nur tun? Er konnte nichts anderes tun, als für die ganze übersinnliche Welt nun die bildhafte Art, die symbolische, die imaginative Art zu verwenden, die er an den Pflanzen kennengelernt hatte. Und so kam er im Grunde genommen nur eigentlich bis zu einer imaginativen Darstellung der Welt, wenn er in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie vom Seelischen sprach.

Beachten Sie: Da, wo das Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie an das Pflanzenhafte erinnert, an dasjenige, woran man mit Imaginationen herankommt, wie sie Goethe an der Pflanzenwelt entwickelte, da ist das Märchen ganz besonders schön. Versuchen Sie nur alles das auf sich wirken zu lassen in diesem Märchen, was im Stil von Pflanzenimagination gehalten ist, da wird es ganz wunderschön. Und im Grunde genommen hat auch das, was sonst darin ist, immer die Tendenz, Pflanze zu werden. Die weibliche Gestalt, auf die es beson­ders ankommt, die nennt er Lilie. Er kriegt sie nicht mehr zu wirklichem, starkem Leben; er kriegt sie so, daß sie eine Art Pflanzendasein hat. Und wenn Sie alle die Gestalten anschauen, die in dem Märchen vor­kommen, so führen sie eigentlich in Wahrheit ein Pflanzendasein; aber wo sie weiter hinaufgebracht werden müssen, da wird das Höhere nur symbolisch, und da droben, da führen sie eigentlich ein Scheindasein.

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So richtig real sind die Könige, die da auftreten, auch nicht. Auch die bringen es nur bis zum Pflanzendasein, sie sagen es nur, daß sie ein anderes haben. Denn da müßte etwas hineininspiriert sein in den gol­denen König, in den silbernen König, in den ehernen König, wenn sie wirklich leben sollten in der geistigen Welt.

Also Goethe lebt dar, man möchte sagen, ein Leben in Offenba­rungserkenntuis, in übersinnlicher Erkenntnis, das er nur bis zu einer gewissen Stufe bewältigt. Schiller lebt dar die Vernunfterkenntnis, die andere Art, welche die Scholastik ausgebildet hat, die er aber nicht ertragen kann, weil er sie bis zu einer Wirklichkeit bringen will, sie es aber nur bis zur Wirklichkeit des Scheins in der Schönheit bringt.

Man kann sagen: Die ungeheure innerliche Wahrheit in den beiden Persönlichkeiten, die läßt sie so aufrichtig sein, daß keiner mehr sagt, als er sagen kann. Daher stellt Goethe das Seelische dar, wie wenn es eine Vegetation wäre, und Schiller stellt den freien Menschen dar, wie wenn dieser freie Mensch überhaupt nur ästhetisch leben könnte. Die ästhetische Gesellschaft, die ästhetische Sozietät ist das, was Schiller zum Schluß in seinen ästhetischen Briefen als die «soziale Forderung», mdchte man sagen, aufstellt: Werdet so, daß die soziale Gesellschaft sich als schön darstellt - sagt Schiller -, wenn der Mensch frei wer­den soll. - Man sieht in dem Verhältnis von Goethe zu Schiller, wie diese Strömungen herauf fortleben. Was sie gebraucht hätten, das wäre bei Goethe das Heraufheben aus der Imagination zur Inspiration ge­wesen, bei Schiller das Beleben der abstrakten Begriffe mit der imagi­nativen Welt. Dann erst hätten sie völlig zusammenkommen können.

Und wenn Sie beiden in die Seele hineinschauen, so müssen Sie sa­gen: Beide waren dazu veranlagt, sich in eine Welt des Geistes hinein­zubegeben. Wie rang Goethe mit dem, was er das Frommsein nannte! Wie sprach Schiller es aus: Zu welcher der bestehenden Religionen be­kennst du dich? - Zu keiner -, sagt er. Warum? - Aus Religion!

Wir sehen, wie gerade für erleuchtete Geister mit dem Ausbreiten des Übersinnlichen aus dem, was der Mensch erkennend erleben kann, auch das Religiöse fließt. Es wird also auch das Religiöse erst wie­derum erlangt werden müssen durch das Umwandeln der heutigen bloß intellektualistischen Erkenntnis in spirituelle Erkenntnis.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 30. Juli 1922

Noch einmal wollen wir zurückschauen zu dem, wovon ich gestern angedeutet habe, wie es durch die fortschreitende Intellektualisierung der Menschheitskultur abgelähmt worden ist. Wir wollen zurückblic­ken zu den älteren atavistischen Initiationsprinzipien, wollen dann sehen, wie diejenigen Menschen, welche noch mit diesen Initiationsprinzipien lebten, als Eingeweihte dem Christentum entgegengetreten sind und aus ihren Anschauungen heraus das gebildet haben, was dann später dogmatischer Inhalt geworden ist und als solcher, namentlich nach dem 8., 9. Jahrhundert, eben nicht mehr verstanden werden konnte.

Wir brauchen uns ja nur daran zu erinnern, daß vor dem Mysterium von Golgatha in der Menschheitszivilisation der Einschlag des eigent­lichen menschlichen Ich-Prinzips im wesentlichen fehlte. Der Mensch war zwar immer veranlagt, dieses Ich-Prinzip in sich zu haben. Er war auch dazu geschaffen, sein äußeres und inneres Wesen aus diesem Ich-Prinzip heraus zu bilden. Aber nur langsam und allmählich kam der Mensch zur Erfühlung und namentlich zum Bewußtsein dessen, was in ihm die Ich-Wesenheit und die Ich-Kraft ist. So daß man sagen kann: Zwar bestand selbstverständlich auch in den Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha die menschliche Wesenheit aus physischem Leib, ätherischem Leib, astralischem Leib und Ich, aber die Bewußtheit des Menschen hatte nicht in sich diese Ich-Wesenheit. Die Ich-Wesen­heit war mehr oder weniger unbewußt. Im Grunde genommen wan­delten in jenen älteren Zeiten Menschen auf der Erde herum, die nicht im Vollbewußtsein ihres Ich lebten. Aber eigentlich ist es nur möglich, daß das Ich sich auswirkt innerhalb der Menschenwesenheit, wenn der Mensch nicht mehr voll, ich möchte sagen, nicht in voller Frische mehr seinen physischen Leib entwickelt. Diejenigen Menschen, welche noch unbewußt ihres Ich waren, haben in größerer Frische ihren physischen Leib entwickelt als jene, welche dann eingetreten sind in das Vollbe­wußtsein des Ich. Und dieser Eintritt in das Vollbewußtsein des Ich,

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er fand zwar nicht plötzlich statt, er fand in den Jahrhunderten vor und nach dem Mysterium von Golgatha statt, aber er ist deutlich wahr­nehmbar für die geisteswissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Und wir müssen sagen: Das, was der Mensch eigentlich in voller Frische aufrechterhalten kann von seinem physischen Leib und auch von sei­nem ätherischen und astralischen Leib, das ist nur aufrechtzuerhalten, wenn etwas von der göttlich-geistigen Natur in die menschliche We­senheit hereinfließt. Solange die Menschen bei Abwesenheit des Ich-Bewußtseins ein atavistisches Hellsehen hatten, floß ja dieses Göttlich-Geistige aus dem Kosmos in die Menschen ein. Die Menschen hätten nieinals freie Wesen werden können, wenn nicht das Ich dadurch aufgetreten wäre, daß nicht mehr im alten Sinne das Göttlich-Gei­stige in sie einfloß. Die Menschen wurden nur dadurch freie We­sen, daß sie auch im Bewußtsein ihres Ich mächtig wurden. Das aber war nur möglich, wenn die Menschen allmählich sich hinein-entwickelten in das, was die abstrakten Gedanken sind. Die abstrakten Gedanken aber sind eigentlich die Leichname der geistigen Welt. Ich habe ja in diesen Vorträgen schon darauf aufmerksam gemacht: So wie der Leichnam von unserem Physischen übrigbleibt, wenn wir durch den Erdentod hindurchgehen, so bleibt von jener geistig-seelischen We­senheit, die wir in der geistigen Welt sind, bevor wir heruntersteigen in die physische Welt, auch ein Leichnam übrig. Das ist aber erst so seit der Zeit, seit welcher der Mensch mit dem Bewußtsein seines Ich ausgestattet ist. Und die Gedanken, die abstrakten Gedanken stellen diesen Leichnam dar. Indem wir imstande werden, abstrakte Gedan­ken in uns zu fassen, fassen wir den Leichnam unseres geistig-seeli­schen Wesens, wie es war vor dem Herunterstieg in die Erdenwelt. Aber daß wir den Leichnam unseres Geistig-Seelischen fassen, das hat zur Voraussetzung, daß auch etwas vom absterbenden, ablähmenden Prinzip in unseren physischen Leib einzieht.

Ja, die Entwickelung des Menschen ist schon so, daß seine Natur sich im Laufe seiner Erdenentwickelung geändert hat. Die alten Leiber waren anders, als die neuen Leiber sind. Die alten Leiber waren so, daß der Mensch zwar unfrei in ihnen war, daß er sich aber in einer frischen, in einer durch die eigene physisch-ätherisch-astralische Tätigkeit sich

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vollziehenden Eigennatur in seinem Leibe bewegte. So daß man sagen kann: Wir leben innerhalb der zivilisierten Welt bereits in einer Periode der Menschheitsentwickelung, wo der Leib beginnt zu zerfallen. Und gerade durch diesen zerfallenden Leib, der die Grundlage ist für die intellektualistischen, das heißt für die abstrakten Gedanken, gewinnen wir unsere Freiheit. Durch diesen verfallenden Leib hat der Mensch alles das errungen, worauf er heute als der intellektualistisch gefärbte Wissenschafter so stolz ist.

Wenn wir das bedenken, so müssen wir uns sagen: Vor dem Myste­rium von Golgatha lebte also auf der Erde in den Menschen selbst noch nicht das volle Ich-Bewußtsein. Aber es gab eben Menschen, welche schon dazumal dieses volle Ich-Bewußtsein entwickelten, welche es entwickelten durch die Mysterienhandlung. Das waren eben die In­itiierten oder die Eingeweihten. Wir haben ja schon das Verschiedenste darüber gesprochen, was innerhalb der alten Mysterienstätten mit de­nen geschah, welche die Einweihung durchmachten und zu diesem voll-bewußten Ich hinanstiegen, während es allgemeine Menschennatur war, noch nicht ein vollbewußtes Ich zu haben. Allein, der alte Initiierte konnte zu diesem vollbewußten Ich nur hinaufsteigen dadurch, daß durch die heilige Handlung der Mysterien etwas in ihn einzog, was innerhalb aller alten Kulturen und Zivilisationen als der ewige Vater des Kosmos empfunden worden ist. Und der Myste der alten Mysterien, der Initiierte, hatte dieses Erlebnis, wenn er bei einem bestimmten Punkte seiner Initiation angelangt war, daß er sich sagte: Der Vater lebt in mir.

Wenn wir uns etwa vorstellen würden einen solchen Initiierten in­nerhalb der althebräischen Kultur, so müßten wir sagen: Dieser In-itiierte charakterisierte das, was mit ihm selber durch die Initiation geschehen war, in der folgenden Art. Er sagte: Die allgemeine Mensch­heit hat das als ihr Eigentümliches, daß der Vater sie zwar erhält und trägt, daß aber der Vater nicht in das Bewußtsein einzieht und nicht das Bewußtsein zum Ich entfacht. Der Vater gibt dem gewöhnlichen Menschen lediglich den Geist des Atems; er haucht ihm den Atem ein, und der ist die lebendige Seele. Aber es empfand der Initiierte, daß zu dem, was da als lebendige Seele eingehaucht wurde, ein besonderes

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Geistiges, das lebendige Vaterprinzip des Kosmos, in dem Menschen einzog. Und dann, wenn in diesem alten Initiierten der hebräischen Welt dieses göttliche Vaterprinzip eingezogen war und der Mensch dessen bewußt geworden war, dann sprach dieser Mensch mit vollem Rechte aus, was bei ihm «Ich» bedeutete: Ich bin der Ich bin. - Und so sah man auch einen solchen Menschen, der unter den alten Völkern herumging und mit Recht durch die Innewohnung des göttlichen Va­terprinzips das Ich aussprechen konnte, das im ganzen Altertum eigent­lich der unaussprechliche Name der Gottheit, der Vatergottheit war, so sah man den selber als den Stellvertreter des Vaters auf Erden an. Und man nannte diese Initiierten die Väter, die unter den Völkern herumgingen. Väter nannte man sie, denn sie vertraten das göttliche Vaterprinzip unter den anderen Menschen. Und man sagte von ihnen, daß in sie einzog in den Mysterien der göttliche Vater. Daher sah man die Mysterien als etwas an, in dem sich innerhalb des Irdischen ent­wickelt, was sonst nur draußen den ganzen Kosmos durchwallt und durchwebt. Innerhalb der Mysterienstätte und dann wiederum durch die Mysterienstätte im Menschen, wurde dem göttlichen Vaterprinzip eine Hütte gebaut. Der Mensch selber wurde zu dieser Hütte des gött­lichen Vaterprinzips.

So empfand man durch die Mysterien das Wallen und Pilgern Gottes des Vaters innerhalb der Erdenwelt, und man sah hinaus in den Kosmos, in die große Welt, und nannte das, insofern man es durch-wallt und durchwebt auffaßte von dem göttlichen Vaterprinzip, man nannte es den Makrokosmos, die große Welt. Und man sah dann hin zu der Mysterienstätte, in welcher diesem Vatergotte eine Hütte gebaut war, in welcher initiiert wurden diejenigen, die als Menschen selber die Hütte dieses Vatergottes geworden waren, und man nannte das, was die Mysterien waren, man nannte das, was der Mensch selber war durch die Mysterien: die kleine Welt, den Mikrokosmos. Das ist etwas, was sich noch bis auf Goethe herauf erhalten hat; denn als Goethe Mitglied von Logen wurde, eignete er sich den Sprachgebrauch an «Groß' und kleine Welt», und er verstand unter der großen Welt eben den Makrokosmos, unter der kleinen Welt die Loge, die ein Ab­bild der großen Welt für ihn sein soll.

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Das alles kam in ein anderes Stadium, als innerhalb der Mensch­heitsentwickelung das Mysterium von Golgatha heranrückte. Da han­delte es sich um etwas wesentlich anderes. Während dieses Mysteriums von Golgatha waren zuerst diejenigen Menschen auf der Erde wan­delnd, welche etwas in sich fühlten von dem selbständigen Ich. Das Ich-Bewußtsein hatte gewissermaßen angefangen einzuziehen in den Menschen. Damit war aber zu gleicher Zeit ein anderes aufgetreten:

daß der menschliche physische Leib anfing, innerlich brüchig zu wer­den, zu zerfallen. Und so stand die Menschheitsentwickelung in dieser Zeit, in der Mitte der Erdenentwickelung, vor einer großen Gefahr, vor der Gefahr, immer mehr und mehr den Zusammenhang zu ver­lieren mit der geistigen Welt, aber auch vor der Gefahr, daß der phy­sische Leib immer mehr und mehr zerfallen könne.

Um dem abzuhelfen, beschloß eben jenes Wesen, das wir als den Christus kennen, sich nun so in den Jesus von Nazareth hinein zu er­gießen, wie sich früher in die Initiierten das göttliche Vaterprinzip hineinergossen hatte. Dieses göttliche Vaterprinzip hatte sich in die Initiierten hineinergossen. Dadurch war in den Initiierten angefacht worden zu dem physischen Leib, zu dem Ätherleib, zu dem astralischen Leib hinzu das Ich. Diejenigen allein, so sagte ich schon, durften das Ich aussprechen, das eigentlich der unaussprechliche Name des Gottes selber war, in die der göttliche Vater eingezogen war.

Aber jetzt waren Menschen da in der Mitte der Erdenentwicke­lungszeit, die anfingen, zu sich Ich zu sagen, die das Ich ins Bewußt­sein herauf erhoben. In einen solchen Menschen, der da war der Jesus von Nazareth, zog jetzt dasjenige Prinzip ein, welches das Sohnes-prinzip ist, das Christus-Prinzip. Dieses Christus-Prinzip trat also ein in das Ich. Während wir früher haben den Einzug des Vaterprinzips in physischen Leib, Ätherleib, astralischen Leib, so haben wir jetzt das Einziehen des Christus-Prinzips in den Menschen, der sich weiter fort­entwickelt hatte.

Nun erinnern Sie sich, wie ich den Menschen in diesen Tagen be­schrieben habe. Ich habe Ihnen gesagt: Die Pflanzen vernichten in sich die pllysische Natur, korrumpieren sie, könnte man sagen; das Tier korrumpiert die physische und die ätherische Natur, und der Mensch

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korrumpiert die physische, die ätherische und die astralische Natur. Er korrumpierte sie nicht vollständig in der Zeit der Entwickelung der Menschheit vor dem Mysterium von Golgatha; jetzt korrumpierte er sie vollständig, indem sein Ich wirklich einzog in seine Wesenheit. Der Initiierte der alten Mysterien aber, der machte sich völlig frei von physischem Leib, ätherischem Leib, astralischem Leib, indem er das göttliche Vaterprinzip in sich einfließen ließ und schon in jener Zeit ein Ich wurde.

Indem Christus in den Jesus von Nazareth einzog, vernichtete er aber bei diesem Einzug nun nicht nur den physischen Leib, nicht nur den ätherischen Leib und den astralischen Leib, sondern auch mit das Ich, soweit es in der damaligen Zeit in dem Jesus von Nazareth ent­wickelt war. So daß also in dem Jesus Christus eben das höhere Chri­stus-Prinzip wohnte, das sich zu dem Ich so verhält wie sonst das Ich des Menschen zum astralischen Leibe.

Das ist etwas, was gerade noch die alten Initiierten, in denen höhere Fähigkeiten des Schauens entwickelt waren, eben auch schauen konn­ten. Wenn diese alten Initiierten angeschaut haben den Menschen, wie er nun war in ihrer Zeit, dann haben sie in ihm gefunden, wie der Mensch alle Kräfte der übrigen Naturwesen in sich vereinigte, hin­ausragte über die übrigen Naturwesen, sie gewissermaßen zusammen-faßte. Sie haben gesehen, wie man wieder finden kann in dem mensch­lichen physischen Leib das mineralische Reich, in dem menschlichen Ätherleib das Pflanzenreich, in dem menschlichen astralischen Leib das tierische Reich, und dann den eigentlichen Menschen. Indem diese in den älteren Zeiten zum Schauen gebrachten Initiierten, diese Väter der Völker, insofern noch einzelne von ihnen vorhanden waren, jetzt Kunde bekamen von diesem Christus-Ereignis, von dem herannahen­den Ereignis von Golgatha, konnten sie eine Wesenheit in dem Chri­stus sehen, in welchem. nun mehr enthalten war, in welchem nicht nur die irdischen Wesen bis zum Menschen heraufragten, sondern in wel­chem der Mensch wiederum hinaufragte zum göttlich-geistigen Sein.

Wenn als menschlicher Ausdruck im Menschen etwas vorhanden ist, was wir eben kennen als in dem äußeren physischen Leib des Men­schen lebend, so werden wir verstehen, wie diese Initiierten in dem

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Christus Jesus mehr sahen als einen Menschen, wie sie etwas herum­wandeln sahen auf der Erde, was über die Menschheit, über die Mensch­lichkeit hinausragte. Diese Initiierten haben den Christus Jesus eben in einem besonderen Glanze gesehen, nicht nur mit dem menschlichen Inkarnat, sondern mit einem besonderen strahligen Glanze.

Diesen besonderen strahligen Glanz, den konnten allerdings die alten Initiierten auch an ihren Genossen wahrnehmen: es war die Kraft des Vaterprinzipes, das in den Initiierten wohnte. Aber jetzt nahmen sie nicht nur dasjenige wahr, was in den alten Initiierten als das göttliche Vaterprinzip wohnte, jetzt nahmen sie etwas wahr, was von dem Christus Jesus noch in besonderer Weise ausstrahlte, weil in ihm eben nicht bloß physischer Leib, ätherischer Leib, astralischer Leib vernichtet waren, sondern auch das Ich, soweit es in der damali­gen Zeit in einem Menschen vorhanden sein konnte.

Daher kam es, daß den Christus Jesus als eine besonders strahlende Wesenheit nicht nur die Initiierten schauen konnten, sondern auch andere, hierzu besonders begabte Menschen. Und das war das unge­heuer Neue auch für die Initiierten zur Zeit des Mysteriums von Gol­gatha: daß andere Menschen, die nur mit Naturgaben, nicht mit Myste­riengaben ausgestattet waren, wenn es auch nur einzelne waren, eben in dem Christus Jesus die höhere Natur erkannten.

Daraus entstand dann Verständnis dafür, daß jetzt mit dem Myste­rium von Golgatha etwas geschehen sollte, was früher im Grunde nur innerhalb der Mysterien selber geschehen war. In die große Welt, in den Makrokosmos war etwas hinausversetzt worden, das früher nur innerhalb des Mikrokosmos, innerhalb der kleinen Welt vor sich ge­gangen war. Und es ist schon so, daß zunächst innerhalb der letzten Mysterienstätten des Altertums am reinsten, am klarsten das Christus-Geheimnis verkündet worden ist, und daß gerade diese Verkündigung des Christus-Geheimnisses im Laufe der ersten vier Jahrhunderte euro­päischer Entwickelung für die neuere Zivilisation verlorengegangen ist. Diese alten Initiierten wußten, weil in dem Christus Jesus nun nicht bloß das Vaterprinzip, sondern das Sohnesprinzip lebte, daß der Chri­stus Jesus etwas darstellte, was einzig innerhalb der irdischen Ent­wickelung ist, einzig insofern, als eben im weiteren Fortgang nicht etwa

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wieder ein solches Mysterium von Golgatha auftreten könne, nicht wiederum eine solche Innewohnung des Sohnesprinzips in einem Men­schen stattfinden könne, wie sie stattgefunden hat in dem Jesus von Nazareth.

Und es wußten diese Initiierten, daß der Christus in die Menschheit eingetreten ist als der Heiler, als der große Heiler, als derjenige, der verhindert, daß der menschliche Leib Schaden erleidet dadurch, daß er brüchig wird durch das Einziehen des Ich. Denn, was wäre gesche­hen, wenn der Christus nicht als der Heiler erschienen wäre? Wäre der Christus nicht als der Heiler erschienen, so würden, wenn die Menschen sterben, wenn sie ablegen ihren verfallenden Leib, durch das Ablegen des verfallenden Leibes die Verfallserscheinungen zurück-strahlen in ihr Seelisches, das sie nach dem Tode entfalten. Beunruhigt, gequält würden die Toten durch das, was der verfallende physische Leib im Erdendasein darstellte. Sie würden schauen müssen, diese See­len, die durch den Tod gegangen sind, wie die Erde selber, dadurch, daß sie einen verfallenden Leib aufnehmen muß, Schaden leidet. Und es wußten die alten Initiierten, wie diejenigen, die sich im rechten Sinne des Wortes Christen nennen, die zu der inneren Erfüllung mit dem Christus-Prinzip durchdringen, wie diese nun so herunterschauen konnten auf ihren Leib, der ihnen genommen war im Tode, daß sie sagen konnten: Durch unsere Innewohnung des Christus, während wir Erdenkinder waren, haben wir diesen physischen Leib soweit geheilt, daß er in die Erde versenkt werden kann, ohne daß er für die Erde selber ein Verfallsprinzip darstellt. An der Erde mußte geheilt wer­den dasjenige, was der Mensch haben mußte, um ein Ich zu werden. Denn damit er ein Ich werden konnte, mußte er einen verfallenden Körper haben; aber wenn dieser verfallende Körper geblieben wäre, hätte die Erde Schaden genommen. Und die Seelen, wenn sie herunter-schauten auf ihren von der Erde aufgenommenen physischen Leib, wä­ren nach dem Tode gequält worden unter dem Einflusse der Empfin­dung, daß die Erde selber Schaden nähme an diesem verfallenden physischen Leibe.

Das ist es, was durch das Mysterium von Golgatha eingetreten ist, daß die Menschenseelen nun sich sagen konnten, nachdem sie durch

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die Pforte des Todes durchgegangen waren: Ja, wir haben ihn getragen auf der Erde, diesen verfallenden physischen Leib; ihm verdanken wir die Möglichkeit, ein freieres lch in der menschlichen Wesenheit ent­wickeln zu können. Aber der Christus hat durch sein Innewohnen in dem Jesus von Nazareth geheilt diesen physischen Leib, so daß er dem Erdendasein nicht schädlich ist, so daß wir mit Beruhigung hinunter­schauen können in das Erdendasein, wissend, daß nach dem Mysterium von Golgatha nicht ein unrechter Same hineinfällt in dieses Erden­dasein durch denjenigen Leib, den der Mensch zum Gebrauche seines Ich nötig hat. Und so ist der Christus durch das Mysterium von Gol­gatha hindurchgegangen, um den menschlichen physischen Leib für das Erdendasein zu heiligen.

Nun, wenn es dabei geblieben wäre, was wäre dann im Verlaufe der Erdenentwickelung geschehen? Wenn es dabei geblieben wäre, so hätte gesagt werden können: In alten Zeiten ist der Vatergott einge­zogen in die Menschen, damit sie als Seelen zu dem Ich hinaufkom­men konnten und den anderen Menschen als Initiierte verkündigen konnten das eigentliche Wesen des Menschen, das Ich-Wesen. Dann ist der Sohn, der Christus, in die Menschenwesenheit eingezogen. Die­jenigen, die sich dazu aufschwingen, die Innewohnung des Christus in sich zu bewirken, die retten jetzt dadurch für die Erdenentwicke­lung ihren Leib. Wie durch das alte Vaterprinzip und seine Innewoh­nung in der Menschheitsentwickelung durch die Mysterien das See­lische der Menschen gerettet worden ist, so wird das Leibliche der Menschen gerettet durch den Heiler, durch den Heiland, durch den Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist.

Aber würde es nur dabei bleiben, so würden diejenigen, die ihren Leib gerettet wissen, sie würden nun den Christus, als die in ihnen wir­kende Wesenheit, die in ihnen auch leiblich wirkende Wesenheit, in sich tragen müssen. Und damit könnten die Menschen wieder nicht freie Wesen werden. Die Menschen würden sich, wenn es dabei ge­blieben wäre - damals, als die Freiheit heraufzog im 14. nachchrist­lichen Jahrhunderte -, so entwickelt haben, daß sie den Christus hät­ten in sich aufnehmen können zur Beruhigung ihrer Seelen nach dem Tod, damit diese Seelen so auf die Erde hätten herabschauen können,

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wie ich es Ihnen jetzt beschrieben habe; aber die Menschen hätten nicht frei werden können. Wenn sie hätten gut werden wollen, dann hätten sie den Christus so in sich wirken lassen müssen, wie im Alter­tum der Vater gewirkt hatte in den Menschen, die nicht Initiierte wa­ren. Damals sind die Menschen, indem das Ich in ihnen entwickelt wurde, frei geworden. Die Initiierten wurden freie Menschen in alten Zeiten, die anderen waren unfrei, weil der Vater unbewußt in ihnen lebte. Wären nun die Christen des Christus in sich bewußte Wesenhei­ten gewesen, dann hätten sie jederzeit, wenn sie hätten gut werden wollen, auslöschen müssen ihr Ich-Bewußtsein, um den Christus mit Auslöschung dieses Ich-Bewußtseins in sich zu erwecken. Nicht sie selber hätten gut sein können, sondern lediglich der Christus in ihnen hätte gut sein können. Die Menschen hätten herumwandeln müssen hier auf der Erde, der Christus hätte in ihnen wohnen müssen, und indem der Christus sich bedient hätte der Menschenleiber, hätte die Heilung dieser Menschenleiber stattgefunden. Aber die guten Hand­lungen, welche die Menschen verrichtet hätten, die wären Christus-Handlungen gewesen, nicht Menschenhandlungen.

Das war nicht die Aufgabe, die Mission des göttlichen Sohnes, der durch das Mysterium von Golgatha sich mit der Erdenentwickelung verbunden hatte. Er wollte innewohnen der Menschheit, aber er wollte nicht das heraufkommende Ich-Bewußtsein der Menschen trüben. Er hatte das einmal getan in dem Jesus, in dem an der Stelle des Ich-Be­wußtseins von der Taufe an das Sohnesbewußtsein lebte. Aber das sollte bei den Menschen der künftigen Zeiten nicht stattfinden. Bei den Menschen der künftigen Zeiten sollte das Ich sich voll bewußt er­heben können, und der Christus dennoch innewohnen können diesen Menschen.

Dazu war notwendig, daß der Christus als solcher vor der un­mittelbaren Anschauung der Menschen verschwand, daß er zwar vereinigt blieb mit dem irdischen Dasein, aber vor dem unmittel­baren Anblick der Menschen verschwand. Auf ihn wurde anwend­bar derjenige Ausdruck, der ja auch in den alten Initiationsstätten für so etwas üblich war: Wenn ein Wesen, das physisch sichtbar ist, das von den Menschen, die in der physischen Welt ihre Anschauung haben,

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seinem Dasein nach verfolgt werden kann, aufhört sichtbar zu sein, so sagt man, es habe seine Himmelfahrt gehalten. Es ist eben ein­getreten in diejenigen Regionen, in denen die physische Sichtbarkeit nicht mehr stattfindet. So hat der Christus seine Himmelfahrt ge­halten, so ist er unsichtbar geworden. Denn er hätte in einer gewissen Weise seine volle Sichtbarkeit behalten, wenn er den Menschen inne-gewohnt und das Ich ausgelöscht hätte, so daß diese nur hätten gut werden können dadurch, daß der Christus eigentlich in ihnen han­delnd gewesen wäre.

Die Art und Weise, wie der Christus noch den Aposteln, den Jün­gern auch nach seiner Auferstehung sichtbar war, diese Art und Weise verschwand: Der Christus hielt seine Himmelfahrt. Aber er sandte den Menschen diejenige göttliche Wesenheit, die nun nicht das Ich-Bewußtsein auslöscht, zu der man sich erhebt nicht im Anschauen, son­dern gerade im unanschaulichen Geiste. Er sandte den Menschen den Heiligen Geist.

So ist eigentlich der Heilige Geist dasjenige, was von dem Christus gesandt werden sollte, damit der Mensch sein Ich-Bewußtsein behalten könne und der Christus dem Menschen unbewußt innewohnen kann. So daß der Mensch, wenn er nun im vollen Sinne des Wortes sich vor die Seele führt, was er eigentlich für ein Wesen ist, sagen muß: Wenn ich zurückblicke zu dem, was die alten Initiierten wußten, so sehe ich, daß in mir lebt das Vaterprinzip, welches den Kosmos erfüllt, welches in diesen alten Initiierten auftrat und bei ihnen das Ich entfaltete. Das ist dasjenige Prinzip, welches mit uns lebte, bevor wir heruntergestie­gen sind in die physische Welt. - Durch das Innewohnen dieses Vater­prinzips erinnerten sich die alten Initiierten in vollständiger Klarheit an die Art und Weise, wie sie lebten, bevor sie heruntergestiegen waren in die physische Welt. Da suchten sie das Göttliche in dem Vorgeburt­lichen, in dem Präexistenten: Ex deo nascimur.

Nach dem Mysterium von Golgatha hat für den Menschen nicht bleiben können: «Den Christus schaue ich», denn dann hätte er eben nicht gut werden können durch sich selber, dann hätte nur der Chri­stus in ihm gut sein können. Es konnte nur über den Menschen kom­men das: In Christo morimur. Sterben konnte er in den Christus; mit

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demjenigen, was Todesprinzip in ihm ist, konnte er den Christus ver­einigen.

Aber sein neues Bewußtsein konnte erweckt werden durch die We­senheit, die der Christus ihm sandte, durch die Wesenheit des Heiligen Geistes: Per spiritum sanctum reviviscimus.

Sehen Sie, damit haben Sie den Zusammenhang innerhalb der Tri­nität. Sie haben aber damit zugleich das gegeben, daß es durchaus im Christentum liegt, daß man auch ohne die Anschauung des Christus selber in ihm zu der Auferweckung des Geistes kommen kann. Indem der Christus der Menschheit den Heiligen Geist sandte, hat er sie befä­higt dazu, aus dem Intellektuellen heraus selber sich aufzuschwingen zum Begreifen des Geistigen. Es darf daher nicht gesagt werden, der Mensch könne das geistige Übersinnliche nicht durch seinen Geist be­greifen; einzig und allein dadurch könnte der Mensch rechtfertigen dieses Nichtbegreifen des Übersinnlichen, wenn er den Heiligen Geist ignorierte, wenn er nur sprechen würde von dem Vatergott und dem Christus-Gott. Auch im Evangelium ist klar angedeutet für denjenigen, der nur sehen will, der nur lesen will, daß es selber eine Offenbarung ist, daß der Mensch durch den ihm innewohnenden Geist, wenn er sich nur hinneigt zu dem Christus, das Ubersinnliche begreifen kann. Deshalb wird uns mitgeteilt, daß bei der Taufe Christi der Heilige Geist erschien. Und im Erscheinen des Heiligen Geistes ertönen die Worte durch den Kosmos: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, heute habe ich ihn gezeuget.»

Der Vater ist der ungezeugte Zeugende, der den Sohn hereinstellt in die physische Welt. Aber zu gleicher Zeit bedient sich der Vater des Heiligen Geistes, um mitzuteilen der Menschheit, daß im Geiste erfaßbar ist das Übersinnliche, auch wenn dieser Geist nicht geschaut wird, sondern wenn dieser Geist nur innerlich auch sein abstraktes Geistiges zum Lebendigen hinaufarbeitet, wenn er durch den ihm inne-wohnenden Christus den Gedankenleichnam, den wir von unserem vor­geburtlichen Dasein haben, zum Leben erweckt.

Damals war die Mitteilung von dem Heiligen Geist - und die Er­scheinung des Heiligen Geistes selber bei der Taufe - durch den Vater geschehen. Und als der Christus diesen Heiligen Geist den Seinigen geschickt

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hatte, da geschah diese Mitteilung durch den Christus, durch den Sohn. Daher war es ein altes Dogma, daß der Vater der zeugende Ungezeugte ist, daß der Sohn der von dem Vater Gezeugte ist, daß der Heilige Geist der von dem Vater und dem Sohn an die Menschheit Mitgeteilte ist. Das ist nicht etwa bloß ein willkürlich aufgestelltes Dogma, sondern Initiationsweisheit der ersten christlichen Jahrhun­derte, und es ist nur später verschüttet worden, wie überhaupt die Trichotomie und die Trinität verschüttet worden sind.

Innerhalb der sich entwickelnden Menschheit ist das im Sinne des Christentums wirkende göttliche Prinzip nicht ohne die Trinität zu verstehen, und wenn an die Stelle der Trinität eine andere Gottes-mitteilung tritt, dann ist diese im Grunde genommen keine völlig christliche Mitteilung. Man muß den Vater, den Sohn und den Hei­ligen Geist verstehen, wenn man im Konkreten die Gottesmitteilung im echten Sinne verstehen will.

Und so war das Evangelium selber nicht mehr verstanden, als inner­halb der Scholastik dekretiert wurde, daß der Mensch nur eine Offen­barung habe im Glauben, daß er aber mit seiner Erkenntnis sich nicht hinaufentwickeln könne bis zum Übersinnlichen. Dieses Dekret über das menschliche Erkennen, das abgegrenzt wurde vom Glauben, es war selber eine Sünde wider das Christentum, es war eine Sünde wider die Verkündigung des Heiligen Geistes durch den Vater bei der Taufe Jesu, und durch den Jesus selber bei der Aussendung des Heiligen Gei­stes, bei dem Pfingstfeste.

So daß also innerhalb der europäischen Entwickelung in dem, was sich fortwährend Christentum nannte, viel gesündigt worden ist ge­gen die ursprünglichen christlichen Impulse, und daß heute die Mensch­heit wirklich nötig hat, wiederum zu diesen ursprünglichen christlichen Impulsen zurückzukehren.

Diese ursprünglichen christlichen Impulse sind vielfach in den Dog­men verhärtet. Aber wenn man eindringt in den lebendigen Geist, dann wird man wiederum Feuer schlagen aus dem, was Wahrhaftigkeit ist in den Dogmen. Dann werden die Dogmen aufhören, Dogmen zu sein. Das Falsche in der Kirche besteht nicht darin, daß sie die Dogmen fort-gepflanzt hat, sondern es besteht darin, daß sie die Dogmen vereist,

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kristallisiert hat, daß sie sie hinweggenommen hat von der mensch­lichen Erkenntnis. Indem man die menschliche Erkenntnis beschränkte auf das, was nur die Sinneswelt ist, mußten die Dogmen kristallisiert, mußten die Dogmen verhärtet, mußten die Dogmen unverständlich werden. Denn daß der Glaube jemals wirklich ein Verständnis brin­gen könne, das ist eine Unmöglichkeit. Was erlöst werden muß inner­halb der Menschheit, das ist die Erkenntnis selber, das ist die Zurück­führung der Erkenntnis zum Übersinnlichen.

Und diese Aufforderung, sie dringt im Grunde genommen zu uns von Golgatha her, wenn wir es richtig verstehen, wenn wir wissen, wie der Christus - nach dem Durchgang durch das Mysterium von Golga­tha - zu seinem göttlichen Vaterprinzip hinzu den Geist in die Mensch­heit sandte. Wer das Kreuz auf Golgatha schaut, der muß zugleich die Trinität schauen, denn der Christus zeigt in Wirklichkeit in seinem ganzen Verwobensein mit der irdischen Menschheitsentwickelung die Trinität.

Das, meine lieben Freunde, ist es, was ich gerade heute auf Ihre Herzen habe legen wollen, und was uns die Unterlage geben soll für weitere Betrachtungen der nächsten Zeit.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 5. August 1922

Der Mensch kennt, wenn er sich seines gewöhnlichen Bewußtseins be­dient, nur einen Teil dessen, was mit seinem Dasein zusammenhängt. Wir erhalten, wenn wir uns in der Welt umschauen, durch unser ge­wöhnliches Bewußtsein die Bilder der Außenwelt, die wir durch un­sere Sinne in uns erregen können. Und indem wir dann über das, was uns die Sinne geben, denken, indem wir uns Gedanken bilden, bleiben uns von diesen Gedanken Erinnerungsbilder. So daß also das Leben in der Seele so verläuft, daß der Mensch die Außenwelt anschaut, mit ihr lebt, aber, indem er mit der Außenwelt lebt, in sich auch trägt die Erinnerungsbilder an Vergangenes, das er erlebt hat.

Nur wird von dem gewöhnlichen Bewußtsein das, was in der Er­innerung lebt, nicht richtig erkannt. Der Mensch stellt sich das ja un­gefähr so vor: Er hat von der Außenwelt Erkenntnisse, Wahrnehmun­gen erhalten, die haben Bilder in ihm ergeben; diese Bilder bleiben irgendwo zurück, und er kann sie in seinem Seelenleben als Erinnerungs­bilder wiederum heraufrufen. So ist aber die Sache nicht. Betrachten Sie einmal stufenweise, was sich eigentlich mit dem Menschen abspielt. Sie werden schon bemerkt haben, in welcher Weise dasjenige, um das man sich nicht besonders in Gedanken kümmert, sondern was man nur mit den Sinnen, zum Beispiel mit den Augen betrachtet, Nach-bilder gibt. Goethe beschreibt solche Nachbilder, wie sie von den Augen gebildet werden, sehr gut in seiner Farbenlehre: als abklingende Bilder. Man sieht auf irgend etwas hin, schließt die Augen: veränderte Bilder klingen ab. Man beachtet im gewöhnlichen Leben diese abklin­genden Bilder wenig, denn man setzt für das Wahrnehmen eine ener­gischere Tätigkeit ein. Man denkt nach. Wenn der Mensch eine schwache Gedankentätigkeit einsetzt, und die Außenwelt ihm ein Bild gibt im Auge, so klingt ein Nachbild nach. Wenn der Mensch aber jetzt nach­denkt, so nimmt er gewissermaßen die von außen kommende Tätig­keit weiter herein, und es klingt dann sein Gedankenbild nach. Das ist auch ein Nachklingen.

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Diese Gedankenbilder sind stärker, ihr Nachklingen ist auch ein intensiveres als das der bloßen Sinnesnachbilder; aber es ist im Grunde genommen eben doch nur eine höhere Stufe. Diese Gedankennachbilder würden aber dennoch verklingen, so wie die Sinnesnachbilder ver­klingen, wenn sie nur als Gedankenbilder erregt würden. Das ist aber gar nicht der Fall. Denn der Mensch hat ja nicht nur seinen Kopf, sondern auch seinen übrigen Organismus, der nun doch etwas ganz anderes als der Kopf ist. Der Kopf ist eigentlich vorzugsweise ein Nachbild dessen, was mit dem Menschen geschieht, bevor er aus der geistigen Welt in die physische Welt durch die Geburt oder Empfäng­nis heruntergestiegen ist. Er ist viel mehr physisch als der übrige Or­ganismus. Der übrige Organismus ist weniger physisch entwickelt als der Kopf, und man könnte sagen: Das Geistige ist eigentlich im Kopfe nur wie ein Bild vorhanden, während es für den übrigen Organismus geistig stark ist. Sie haben einen starken physischen Kopf, plastisch ausgebildet; da ist wenig Geist darinnen im spirituellen Sinne. Und Sie haben einen Organismus, der ist physisch nicht stark ein Nachbild desjenigen, was der Mensch war vor der Geburt, vor dem Herunter-steigen, aber das Geistige ist im anderen Organismus stärker. Beim Kopfe ist mehr das Physische, bei dem übrigen Organismus mehr das Geistige ausgebildet.

Die Gedanken, die wir haben, die würden nun geradeso verklin­gen wie die Nachbilder der Augen, wenn sie nicht von unserem Geist-Organismus übernommen und von ihm verarbeitet würden. Aber der Geist-Organismus könnte nicht viel mit diesen Bildern anfangen, wenn nicht noch etwas anderes stattfände. Während wir nämlich diese Bil­der wahrnehmen, die wir dann zu diesen flüchtigen Gedanken machen, die eigentlich nur in unserem Kopfe sitzen, bekommen wir geradeso wie wir durch das Auge die Bilder bekommen, die wir dann zu Gedanken verarbeiten, außer dem Bilde noch - denn die Augenbilder erhalten wir ja von der physisch-ätherischen Welt - von der übrigen Welt das Geistige in uns hinein, so daß wir nicht nur in uns den Geist tragen, sondern daß fortwährend auch der übrige Geist der Welt in uns hinein-kommt. Sie können also sagen: Mit dem Auge nehmen Sie aus der phy­sisch-ätherischen Welt irgend etwas wahr, was in Ihnen als Bildwirkung

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ist; aber dahinter steht ein sehr realer geistiger Vorgang, der nur im Unbewußten bleibt. Der Mensch kann ihn mit dem gewöhnli­chen Bewußtsein nicht wahrnehmen. Das ist durchaus parallel laufend der physischen Wahrnehmung ein geistiger Vorgang. Und während Sie das Bild wahrnehmen, das kurze Zeit nachklingt im Auge, während Sie den Gedanken haben, den Sie ein bißchen behalten würden, aber der auch abklingen würde, geht da in Ihnen etwas Geistiges vor, und wenn Sie sich wieder erinnern, so wenden Sie einfach den Blick nach Innen und schauen das an, was geistig im Inneren vorgegangen ist, während Sie wahrgenommen haben.

Ich will es Ihnen noch durch etwas Anschauliches verdeutlichen. Nehmen wir an, Sie sehen irgend etwas in der Außenwelt, sagen wir zum Beispiel eine Maschine. Sie haben das Bild der Maschine. In dem Sinne, wie das Goethe beschrieben hat, gibt das ein Nachbild, das kurz erklingt, dann abklingt. Sie bekommen den Gedanken der Ma­schine, der sich länger hält, der aber auch abklingen würde. Aber die Maschine sendet außerdem in Ihren Geistesorganismus noch etwas hin­ein. Bei der Maschine ist das allerdings etwas sehr wenig Schönes, bei der Pflanze zum Beispiel ist es viel schöner. Die sendet etwas in Sie hinein. Und nun, nach meinetwillen einem Monat, blicken Sie in sich hinein. Die Erinnerung entsteht Ihnen durch das, was damals auch in Sie, ohne daß Sie es gewußt haben, gleichzeitig mit dem hineinge­gangen ist, was den Gedanken erregt hat. Nicht der Gedanke ist da unten herumgewandelt, sondern es ist ein unbewußter geistiger Vor­gang gewesen. Der wird später beobachtet. Erinnerung ist Beobach­tung, späteres Beobachten eines Geistvorganges, der parallel gegangen ist der physischen Wahrnehmung. Sehen Sie, eigentlich leben wir Men­schen so in der Welt: Da ist unser fortlaufender Strom des Daseins; wir sind in dem Meere der Geisteswelt drinnen. Und nun leben wir zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in dieser geistigen Welt darinnen unser Dasein weiter. Nur gibt es Zeiten, da gehen wir aus der geistigen Welt heraus mit dem Kopf. Also wir bewegen uns fort, und zu gewissen Zeiten, wie ein Fisch, der über das Wasser hinaus-schnellt, kommen wir heraus. Das ist das Erdenleben. Dann tauchen wir wieder unter. Dann kommt wieder ein Erdenleben. Wir tauchen

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nämlich nicht mit unserem ganzen Geistwesen aus diesem Meere des geistigen Daseins auf, sondern nur mit dem Kopf. Da unten bleiben wir immer in der geistigen Welt drinnen. Nur wissen wir nicht mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, was vorgeht. Also für die geistige Wahrnehmung ist es eigentlich so, daß wir sagen können: Der Mensch lebt zwischen Tod und neuer Geburt in der geistigen Welt. Dann guckt er herauf mit seinem Kopf in sein Physisches, aber mit dem Hauptteil bleibt er immer noch in der geistigen Welt, auch zwischen der Geburt und dem Tode. Und es ist gut für uns, daß wir dadrinnen schwimmen bleiben, denn wir hätten sonst keine Erinnerungen. Das, was uns die geistige Welt gibt, macht sie uns möglich. Das Erinnern ist schon ein geistiger Vorgang, der durchaus einer objektiven Welt angehört, nicht bloß etwa einer subjektiven. Das gewöhnliche Be­wußtsein gibt sich dabei einem Irrtum hin. Es glaubt nicht, daß mit der Erinnerung ein realer Prozeß verknüpft ist. Aber das gewöhnliche Bewußtsein irrt sich, geradeso wie jemand, der einen Berg mit einem Schloß vor sich hat. Jetzt sieht er das ganz genau, jetzt glaubt er an die Wirklichkeit. Nun entfernt er sich. Die Sache wird immer perspekti­vischer, und er würde sagen, weil das immer perspektivischer wird: Jetzt habe ich nur ein Bild, keine Wirklichkeit mehr. So entfernen wir uns in der Zeit von der Wirklichkeit. Das Schloß, das ändert sich nicht in bezug auf seine Wirklichkeit im Raume, wenn unser Bild sich ändert. Ebensowenig ändert sich in bezug auf seine Realität dasjenige, dem unser Erinnerungsbild entspricht. Das bleibt, wie unser Schloß bleibt. Wir irren uns nur, weil wir unsere zeitliche Perspektive nicht richtig einschätzen können. So sind viele Dinge, die sich auf den Menschen beziehen, einfach richtigzustellen. Was wir als ein in der Zeit verlau­fendes Bewußtsein haben, das ist nämlich nichts anderes als ein per­spektivischer Anblick der Vergangenheit. Vergangenheit vergeht nicht, sie bleibt. Unsere Bilder rücken nur in zeitliche Perspektive.

Nun, aber gerade dieses Verhältnis zu dem in uns, was eigentlich auch zwischen Geburt und Tod geistigere Vorgänge sind, hat sich für die Menschen im Laufe des Erdenlebens ganz wesentlich geändert. Wenn wir den Menschen betrachten, so besteht er ja aus dem physi­schen und dem ätherischen Leibe. Aber das wäre von dem Menschen

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nur das, was in der Nacht, wenn er schläft, im Bette liegt. Bei Tag, da ist hineingesenkt in diesen physischen und ätherischen Leib noch der astralische Leib und das Ich. Das Ich derjenigen Menschen, die vor dem Mysterium von Golgatha gelebt haben - und wir waren ja selbst in früheren Inkarnationen diese Menschen -, dämmerte gegen das Mysterium von Golgatha hin ab. Da wachten die Men­schen in einer anderen Weise auf, als diejenigen nach dem Mysterium von Golgatha. Der astralische Leib geht immer ganz in den Ätherleib hinein. Aber das Ich ging früher auch sehr weit in den Ätherleib hinein. Heute ist das nicht mehr der Fall. Heute geht das Ich nur in den Kopf­teil des Ätherleibs hinein. So daß das Ich bei dem alten Menschen ganz untertauchte und daher auch in die unteren Partien des Ätherleibes kam. Heute geht es nicht dahinunter, sondern nur in den Kopf. Da­durch können wir intellektualistisch denken. In dem Augenblick, wo wir tiefer untertauchen würden, würden wir innerlich instinktive Bil­der bekommen. Und das Ich ist eigentlich noch stark außerhalb des physischen Leibes bei dem Menschen der Gegenwart. So daß gerade sein intellektualistisches Wesen darauf beruht, daß er nun nicht mehr mit seinem Ich in seinen ganzen Ätherleib untertaucht. Würde das ge­schehen, so würde er instinktives Hellsehen haben. Da er aber nicht mehr in seinen ganzen Ätherleib untertaucht, sondern nur in den des Kopfes, so bekommt er nicht dieses instinktive Hellsehen, sondern ein klar bewußtes Sehen, ein klar bewußtes Wahrnehmen der Außenwelt, aber nur ein Kopfwahrnehmen der Außenwelt, so wie eben unser Wahrnehmen ist. Der alte Mensch hat mit seinem ganzen Menschen noch gesehen. Der neuere Mensch sieht nur mit dem Kopfe. Und der Kopf ist eben das am allermeisten physisch Geartete zwischen Geburt und Tod. Daher wird dem Menschen des intellektualistischen Zeitalters nur das gegeben, was er durch seinen physischen Kopf und dasjenige noch, was er durch den Ätherleib des Kopfes wahrnimmt, die Gedan­ken, die er sich machen kann. Schon der Vorgang des Erinnerns, der allerdings dann da unten vorgeht, entzieht sich dem Bewußtsein. Den deutet der moderne Mensch ganz falsch, wie ich ausgeführt habe.

Dadurch sah der alte Mensch um sich herum nicht bloß die physi­sche Außenwelt, sondern hinter ihr das geistige Wesen. Die physische

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Außenwelt wurde ihm gar nicht besonders klar, die hatte für ihn viel mehr Verschwommenes als für den neueren Menschen. Aber dafür sah er überall hinter den Dingen, die da sich in der physischen Welt aus­breiteten, göttlich-geistige Wesenheiten niederer Art, aber auch solche höherer Art. Es ist eine kindlich naive Vorstellung, wenn man glaubt, daß, wenn die alten Menschen ihre Götter in der Natur beschrieben haben, sie da etwas erdichtet hätten. Sie haben nichts erdichtet. Es wäre gerade so naiv, als wenn wir von irgend jemandem hören, er hat das und das im Wachen gesehen, und wir würden sagen: Das hat er bloß erdichtet. - Die Alten haben die Dinge nicht bloß erdichtet, son­dern sie haben sie gesehen, verwoben in die sinnlichen Anschauungen, die deshalb auch viel undeutlicher waren, weil sie gewissermaßen auf dem Hintergrunde des Göttlich-Geistigen, das sich abspielte, gesehen wurden. Es war also ein ganz anderes Weltbild, das der alte Mensch hatte. Er tauchte eben beim Aufwachen tiefer in seinen Ätherleib ein und hatte dadurch ein anderes Weltbild. Er war in sich drinnen, und dadurch zeigten sich ihm die göttlich-geistigen Wesenheiten in ihren Schicksalen.

Der Mensch sah hinein in die Götterwelten, die seiner eigenen Welt vorangegangen waren. Die Götter zeigten dem Menschen ihr Schicksal, und er konnte, indem er in die Götterwelten hineinsah, die Schicksale der Götter wahrnehmen. Er konnte sagen: Ich weiß, woher ich komme, ich weiß, mit welcher Welt ich zusammenhänge. Das war deshalb, weil der Mensch den Ausgangspunkt seiner Perspektive in sich haben konnte. Er machte seinen Ätherleib zu einem Organ, um diese Götterwelt wahrnehmen zu können. Das kann der moderne Mensch nicht. Der kann seine Perspektive nur vom Kopf aus nehmen, und der ist außerhalb des geistigsten Teiles des Ätherleibes. Der Äther-leib des Kopfes ist etwas Chaotisches, ist nicht so durchorganisiert, wie es der Ätherleib des übrigen Organismus ist. Daher sieht der Mensch eben die physische Welt jetzt genauer als früher, aber er sieht nicht mehr die Götter dahinter. Aber dafür ist er im gegenwärtigen Zeitalter in einer gewissen Vorbereitung. Er ist auf dem Wege, ganz aus sich herauszugehen und seine Perspektive außerhalb zu nehmen. Das ist etwas, was dem Menschen beschert ist in der Zukunft. Jetzt ist er ja

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schon auf dem Wege dazu, denn wenn man sonst in nichts drinnen ist als in seinem Kopfe, so ist man eigentlich nur mehr mit den abstrak­testen Gedanken in der Welt drinnen. Man ist in nichts Rechtem mehr drinnen, möchte man sagen; es ist das etwas extrem gesprochen, wenn man sagt: Man ist in nichts drinnen als in einem Menschenkopf. - Denn ein Menschenkopf gibt einem nur Bewußtsein von dem physisch-irdi­schen Dasein. In demselben Maße aber, in dem der Mensch heraus-wächst aus seinem Kopfe, wird er wiederum Kenntnis erlangen, jetzt aber von dem Menschen selber. Als der Mensch noch in sich war, hatte er von dem Schicksale der Götter Kenntnis erhalten. Indem der Mensch aus sich herausrückt, kann er von seinem eigenen Weltenschicksal Kenntnis erhalten. Er kann in sich hineinblicken. Und wenn sich die Menschen nur jetzt schon recht anstrengen würden, so würde der Kopf sie gar nicht so stark hindern, als man gewöhnlich glaubt, an diesem Hineinschauen in das eigene Menschenschicksal, in das Welten-schicksal des Menschen. Das Hindernis ist nur, daß sich die Menschen so darauf versteifen, in gar nichts anderem leben zu wollen als in ihrem Kopfe, und wie man sagt Kirchturmpolitik, so könnte man auch sa­gen Kopfmenschenkenntnis. Es ist ein nicht Hinausschauenwollen über das, was der Kopf erzeugt, wenn die Menschen sich gegenwärtig noch gar nicht dazu herbeilassen wollen, das, was nun Anthroposo­phie als Menschenweisheit bietet, als etwas, was man wissen kann über die Menschen, aus ihrem gesunden Menschenverstand einsehen zu wollen.

So ist der Mensch auf dem Wege, den Menschen kennenzulernen, weil er seinen Ausgangspunkt allmählich von außerhalb des Menschen nimmt. So daß also das allgemeine Menschenschicksal ist, aus dem Ätherleib immer mehr und mehr herauszukommen und den Menschen kennenzulernen. Aber das ist natürlich etwas, was mit einer gewissen Gefahr verbunden ist. Man verliert allmählich, oder wenigstens ist die Möglichkeit vorhanden, den Zusammenhang zu verlieren mit seinem ätherischen Leibe. Es ist eben im Weltenschicksal der Menschheit dem abgeholfen worden durch das Mysterium von Golgatha. Während der Mensch vorher die Götterschicksale außen gesehen hat, ist er seither dazu veranlagt, sein eigenes Welten-Menschenschicksal zu sehen. Aber

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indem er immer mehr und mehr aus sich herausgeht und das Mysterium von Golgatha so verstanden wird, wie es Paulus haben wollte: «Nicht ich, sondern der Christus in mir>, kommt der Mensch durch seine Ver­bindung mit dem Christus wieder in das Menschliche hinein. Also ge­rade durch das Christus-Erlebnis kann er dieses allmähliche Heraus­gehen ertragen. Aber dieses Christus-Erlebnis muß eben immer inten­siver und intensiver werden. Deshalb, als im Verlaufe des Welten-schicksals die äußere Götterwelt immer mehr und mehr abdämmerte, dämmerte im Menschen die Möglichkeit auf, nun ein Götterschicksal zu haben, das sich auf der Erde selbst abgespielt hat, das also mit dem Menschen ganz verbunden ist.

Es ist so, daß, wenn wir den alten Menschen vorstellen, er seine Göt­terwahrnehmungen um sich herum hatte. Er bildete sie sich aus den Bildern. Es war seine Mythologie, der Mythos. Diese Götterwahrneh­mungen sind abgedämmert. Es ist gewissermaßen nur die physische Welt um den Menschen herum. Aber dafür hat er die Möglichkeit, jetzt sich in seinem Inneren zu verbinden mit einem Götterschicksal, mit dem Durchgehen des Gottes durch den Tod, mit der Auferstehung des Gottes. Nach außen hat der Mensch sein Geistesauge gelenkt in alte Zeiten, sah Götterschicksale, bildete sich daraus den Mythos, der in Bildern erlebt wird, in fluktuierenden Bildern, den Mythos, der vielge­staltig sein kann, weil er im Grunde genommen in der Geistwelt in der verschiedensten Weise lebt. Man möchte sagen, es war diese Götterwelt etwas, was mit einem gewissen Grad von Undeutlichkeit schon für den Erdenmenschen wahrnehmbar war, als er es in seinem instinktiven Hellsehen wahrnahm. Daher bildeten die Menschen nach ihren verschie­denen Charakteren die Bilder von dieser Götterwelt verschieden aus. Die Mythen der verschiedenen Völker sind dadurch verschieden ge­worden. Der Mensch nahm eine wahre Welt war, aber diese wahre Welt mehr in Träumen, die jedoch von der Außenwelt kamen. Es wa­ren Bilder von größerer oder geringerer Deutlichkeit, aber die Deut­lichkeit war nicht groß genug, um für alle Menschen eindeutig zu sein.

Nun kam ein Götterschicksal, das sich auf der Erde selber abspielte. Die anderen Götterschicksale waren dem Menschen ferner. Der Mensch sah sie in der Perspektive. Er sah sie daher nicht deutlich. Sie waren

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ihm in seinem Erdenleben ferner. Das Christus-Ereignis ist ihm seinem Erdenleben nach ganz nahe. Die Götter sah er undeutlich, weil er sie gewissermaßen in der Perspektive sah. Er überblickt das Mysterium von Golgatha noch nicht gehörig, weil ihm dieses zu nahe steht. Die Götter hat er in der Perspektive erblickt mit einigen perspektivischen Undeutlichkeiten, weil sie ihm ferne waren, zu ferne, um sie ganz deutlich zu sehen, sonst hätten alle Völker den gleichen Mythos ge­bildet. Das Mysterium von Golgatha ist dem Menschen zu nahe. Er ist mit ihm zu stark verbunden. Er muß erst noch Perspektive bekom­men; dadurch, daß er immer weiter und weiter aus sich herausgeht, muß er Perspektive bekommen für das Götterschicksal auf der Erde, für das Mysterium von Golgatha.

Das ist der Grund, warum diejenigen, die in der Zeit, als das Myste­rium von Golgatha stattgefunden hat, lebten, noch schauen konnten, warum diese den Christus leicht verstehen. Sie konnten ihn leicht ver­stehen, weil sie ja die Götterwelt gesehen hatten und nun wußten: Der Christus ist aus dieser Götterwelt herausgegangen auf diese Erde für sein weiteres Schicksal, das mit dem Mysterium von Golgatha beginnt. Sie haben allerdings auch schon auf das Mysterium von Golgatha un­deutlich hingesehen; aber den Christus konnten sie bis zum Mysterium von Golgatha gut sehen. Sie wußten daher von dem Christus als Gott sehr viel zu sagen. Sie fingen nur an zu diskutieren, was mit diesem Gotte geworden war, als er durch die Johannistaufe im Jordan in einen Menschen untergetaucht ist. Daher haben wir in den ersten Zeiten des Christentums eine sehr ausgeprägte Christologie und keine Jesulogie. Und weil überhaupt die Götterwelt aufhörte, ein Bekanntes zu sein, verwandelte sich zunächst die Christologie in eine bloße Jesulogie. Und die Jesulogie wurde immer stärker bis ins 19.Jahrhundert her­auf, wo der Christus gar nicht einmal mehr mit dem Verstande begrif­fen wurde, sondern wo sich die moderne Theologie sehr viel darauf zugute tat, den Jesus möglichst menschlich zu verstehen und den Christus fahren zu lassen.

Aber es muß wiederum gerade durch geistige Erkenntnis die Per­spektive gefunden werden, um das Wichtige, den Christus in dem Jesus zu erkennen. Denn dadurch wird es erst möglich, statt daß man

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mit dem Menschen gar nicht mehr in Verbindung bleibt und nur von außen sich ihn anschaut, nun auf dem Umwege durch die Verbindung mit dem Christus den Menschen und die Menschheit selber wiederum mit Anteil zu nehmen auf dem Umwege durch das Verständnis des Mysteriums von Golgatha.

So daß wir sagen können: Die Menschheit steht auf dem Wege, im Herausgehen aus sich selber die geistige Realität nach und nach ganz in abstrakte Begriffe und Ideen zu verwandeln. In dieser Beziehung ist die Menschheit ja schon sehr weit gekommen, und es könnte ihr eigent­lich folgendes bevorstehen: Die Menschen könnten im abstrakten, im intellektuellen Vermögen immer weiter und weiter kommen und eine Art von Bekenntnis in sich selber ausbilden, durch das sie sich sagen würden: Ja, wir erleben zwar Geistiges, aber dieses Geistige ist ja eine Fata Morgana, das hat kein Gewicht, das sind bloße Ideen. - Der Mensch muß wiederum die Möglichkeit finden, diese Ideen mit geistiger Sub­stantialität auszufüllen. Das wird er dadurch, daß er den Christus miterlebt mit dem Übergang in das intellektuelle Leben. So daß zu­sammenwachsen muß der moderne Intellektualismus mit dem Christus-Bewußtsein. Wir müssen als Menschen schon etwas gar nicht aner­kennen wollen, wenn wir dieses Christus-Bewußtsein nicht gerade auf dem Wege des Intellektualismus finden können.

Sehen Sie, in alten Zeiten hat der Mensch gesprochen von dem Sün­denfall. Er sprach von diesem Bilde des Sündenfalls in dem Sinne, als ob er seiner Wesenheit nach einer höheren Welt angehört hätte und in eine tiefere heruntergefallen wäre, was ja auch, wenn man es bildlich auffaßt, durchaus der Realität entspricht. Man kann durch­aus im realen Sinne von einem Sündenfall sprechen. Geradeso wie aber der alte Mensch richtig gefühlt hat, wenn er sich sagte: Ich bin hinuntergestürzt aus einer geistigen Höhe und habe mich mit Tieferstehendem vereinigt -, so sollte der neuere Mensch finden, wie ihn die immer abstrakter werdenden Gedanken auch in eine Art von Fall bringen, aber in einen Fall, bei dem es hinaufgeht, wo der Mensch gewissermaßen nach oben fällt, also steigt, aber in demselben Sinne zu seinem Verderben steigt, wie der alte Mensch sich fallen ge­fühlt hat zu seinem Verderben. So wie der alte Mensch, der noch den

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Sündenfall im Sinne des Alten verstanden hat, in dem Christus den­jenigen gesehen hat, der den Menschen in das rechte Verhältnis zu dieser Sünde gebracht hat, nämlich zu der Möglichkeit einer Erlösung; also wie der alte Mensch, wenn er Bewußtsein entwickelt hat, in dem Christus denjenigen sah, der ihn aus dem Fall heraufgehoben hat, so sollte der neuere Mensch, der in den Intellektualismus hineingeht, in dem Christus denjenigen sehen, der ihm Gewicht gibt, daß er nicht geistig fortfliegt von der Erde beziehungsweise von der Welt, in der er drinnen sein soll.

Hat der alte Mensch vorzugsweise das Christus-Ereignis im Sinne der Willensentwickelung angesehen, was ja zusammenhängt mit dem Sündenfall, so sollte der neuere Mensch lernen, den Christus anzusehen im Zusammenhange mit dem Gedanken, der aber die Realität verlieren muß, wenn der Mensch ihm nicht Gewicht zu geben vermag, so daß im Gedankenleben selber wiederum Realität zu finden ist.

Man muß sich schon sagen: Die Menschheit macht eine Entwicke­lung durch. Und wie der Paulus sprechen durfte von dem alten Adam und von dem neuen Adam, von dem Christus, so darf das in gewissem Sinne der moderne Mensch auch; nur muß er sich klar sein darüber, daß der Mensch, der noch das alte Bewußtsein in sich hatte, sich durch den Christus aufgehoben fühlte, daß der neuere Mensch sich durch den Christus vor dem Hinausschnellen in das Wesenlose der bloßen Abstraktion, des bloßen Intellektualismus geschützt wissen soll. Der moderne Mensch braucht den Christus, um seine in die Wei­ten gehende Sünde zu dem zu machen in sich, was wiederum gut wer­den kann. Und der Gedanke wird dadurch gut, daß er sich wiederum mit der wirklichen Realität, mit der geistigen Realität verbinden kann. So gibt es gerade für denjenigen, der die Geheimnisse des Weltenalls durchschaut, durchaus die Möglichkeit, den Christus auch in die aller­modernste Bewußtseinsentwickelung hineinzustellen.

Und nun gehen Sie zu unserem früheren Bilde zurück, das ich an­gelehnt habe an die menschliche Erinnerungsfähigkeit. Da können wir sagen: Ja, wir leben fort als Menschenwesen in der geistigen Welt, er­heben uns über die geistige Welt, indem wir mit unserem Kopf heraus­gucken in die physische Welt. Wir tauchen aber nicht ganz heraus, sondern

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nur mit unserem Kopf. Wir bleiben so in der geistigen Welt, daß selbst unsere Erinnerungen immer in ihr spielen. Unsere Erinnerungs­welt bleibt unten im Meere der geistigen Welt. - Sehen Sie, solange wir zwischen Geburt und Tod stehen und nicht mächtig genug sind in unserem Ich, um all das zu sehen, was da unten selbst mit unseren Er­innerungen vor sich geht, so lange merken wir nichts davon, wie es eigentlich mit uns in der neueren Zeit als Menschheit steht. Wenn wir aber sterben, dann wird es mit dieser geistigen Welt, aus der wir uns wie ein luftschnappender Fisch heraus erheben im physischen Dasein, sehr ernst. Und da blicken wir nicht so zurück, daß wir glauben, we­senlose Erinnerungsbilder zu sehen, indem wir uns dem Irrtum hin­geben, daß die Zeitperspektive auch die Realität tötet. Der Mensch gibt sich der Erinnerung für die Zeit so hin, wie einer, der das, was er in der Entfernung sieht, weil eine Raumperspektive da ist, nicht für Realität hält, sondern bloß für Bilder; der also sagen würde: Ja, wenn ich weit fortgehe, so ist das Schloß dort ja so klein, so furchtbar klein, daß es doch keine Realität haben kann, denn in einem so kleinen Schloß können doch nicht Menschen drinnen wohnen, also kann es auch keine Realität haben. - So ungefähr ist auch hier die Schlußfolgerung. Wenn der Mensch zurückblickt in der Zeit, da hält er die Erinnerungsbilder nicht für Realitäten, weil er die Zeitperspektive nicht berücksichtigt. Das aber hört auf, wenn alle Perspektive aufhört, wenn wir aus Raum und Zeit heraußen sind. Wenn wir gestorben sind, dann hört das auf. Da tritt das, was in der Zeitpemspektive lebt, sehr stark als Realität auf.

Es ist nun möglich, daß wir in unser Erleben das hineingebracht haben, was ich das Christus-Bewußtsein nenne. Dann blicken wir nach dem Tode zurück, und wir sehen, daß wir uns im Leben mit Realität verbunden haben, daß wir nicht bloß abstrakt gelebt haben. Die Per­spektive hört auf, die Realität steht da. Sind wir aber beim bloßen ab­strakten Erleben geblieben, dann steht freilich auch die Wirklichkeit da, aber wir haben im Emdenleben Luftschlössem gebaut. Wir haben etwas gebaut, was keine Festigkeit in sich hat. Mit dem intellektuellen Erkennen und Wissen kann man allerdings bauen, aber die Sache hat keine Festigkeit, ist brüchig.

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So daß der moderne Mensch die Durchsetzung mit dem Christus­Bewußtsein braucht, damit er sich mit Realitäten verbindet, damit er nicht Luftschlösser baut, sondern Geistesschlösser. Für die Erde sind Luftschlössem etwas, wo das, was darunter liegt, zu wenig dicht ist. Für das geistige Leben sind Luftschlösser etwas, was unter dem Geist liegt. Luftschlössem liegen immer an ihrem Orte. Nur für das Erden-dasein sind sie zu dünn, für das geistige Dasein sind sie zu dicht phy­sisch. Die Menschen können dann nicht los von dem dicht Physischen, das dem Geistigen gegenüber aber eigentlich eine geringere Realität hat; sie bleiben erdengebunden, bekommen kein freies Verhältnis zum irdischen Dasein, wenn sie Luftschlösser gebaut haben durch den In­tellektualismus.

Sie sehen also, gerade für den Intellektualismus hat das Christus-Bewußtsein eine sehr reale Bedeutung, eine Bedeutung im Sinne einer wirklichen Erlösungslehre, der Erlösung von dem Bauen von Luft-schlössern, für unser Dasein, nachdem wir durch die Todespforte ge­schritten sind.

Diese Dinge sind für Anthroposophie nicht Glaubensartikel, es sind Erkenntnisse, die nun ebenso gewonnen werden können, wie die mathe­matischen Erkenntnisse von demjenigen, dem die mathematischen Me­thoden zu handhaben weiß.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 6. August 1922

Als vom einigem Zeit dem erste Band von Spenglers «Der Untergang des Abendlandes» erschien, da konnte man in dieser literarischen Erschei­nung etwas sehen, was den Willen in sich barg, eindringlichem sich zu beschäftigen mit den elementaren Verfalls- und Niedemgangserschei­nungen in unserem Zeit. Man konnte sehen, wie jemand in vielem, das in unserer gegenwärtigen Zeit im gesamten Abendlande wirkt, ein Ge­fühl dafür entwickelt, daß diese Impulse eigentlich nach und nach führen müssen zu einem völligen Chaoswerden der abendländischen Zivilisation mit ihrem amerikanischen Anhange; und daß jemand, dem ein Gefühl dafür entwickelte, auch sehr kenntnisreich mit Beherr­schung vieler wissenschaftlicher Ideen eine Amt von Beurteilungen die­sem Erscheinungen abzugeben sich bemühte.

Man sah ja allerdings, daß Oswald Spengler das Niedergehende sieht. Man konnte auch dazumal schon finden, wie er, weil er in sei­nem ganzen Denken in diesem Niedergehen selber drinnensteckte, ge­rade deshalb auch eine Empfindung für alles Niedergehende hatte, und daß er, weil er, ich möchte sagen, in seiner eigenen Seelenvemfas­sung die Dekadenz fühlte, sich nichts mehr versprach - das konnte man begreifen - von alledem, was aus dem Massenzivilisation noch her­vorgehen kann. Er glaubte, das Abendland werde eben einer gewissen Amt von Cäsamismus verfallen, einer gewissen Amt von Machtentfal­tung einzelner, welche anstelle dem differenzierten, vielfach geglieder­ten Kulturen und Zivilisationen ein einfaches Brutales setzen werden.

Man konnte sehen, daß ein Mann wie Spengler nicht die geringste Empfindung dafür hatte, daß aus dem Willen der Menschheit heraus eine Rettung für diese Kultur und Zivilisation des Abendlandes kom­men kann, wenn diesem Wille dahin geht, gegenüber alldem, was in den Niedergang mit voller Wucht hineinsegelt, geltend zu machen, was immerhin, wenn dem Mensch heute will, aus dem Inneren des Men­schen als eine neue Kraft hervorgeholt werden kann. Für solch eine neue Kraft, die natürlich eine geistige Kraft sein muß, die beruhen muß

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auf einem Herausarbeiten aus einem Spirituellen, hatte Oswald Speng­ler nicht die allergemingste Empfindung.

So konnte man sehen, wie ein sehr kenntnisreicher, geistreichem Mensch, dem so gute Aperçus prägen kann aus einem gewissen ein­dringlichen Sehen, eigentlich zu gar nichts anderem kommen kann als zu einer gewissen Hoffnung auf eine brutale Machtentfaltung, die ab­seits liegt von allem Geistigen, die abseits liegt von allem innemlichen Menschheitsstmeben, die nur beruht auf einer Entfaltung eben dem äußeren brutalen Kraft.

Dennoch konnte man, als der erste Band erschienen war, wenigstens eine gewisse Achtung haben vom dem - ich muß das Wort noch einmal gebrauchen - eindringlichen Geistigkeit, abstrakten, intellektualisti­schen Geistigkeit gegenüber dem Stumpfen, das den treibenden Ge­walten dem Geschichte so gar nicht gewachsen ist und das heute so vielfach gerade im Literarischen den Ton angibt.

Nun ist vor kurzem Zeit dem zweite Band Oswald Spenglems erschie­nen, und dem zeigt nun allerdings in einer viel stärkeren Weise alles dasjenige, was in einem Menschen der Gegenwart lebt, der nun selber mit einem gewissen Brutalität alles wirklich Geistige zumückstößt, als Weltanschauung und Lebensauffassung entstehen kann.

Geistreich ist ja auch dieser zweite Band. Aber trotz dieser geist­reichen Aperçus, die darinnen sind, zeigt er eigentlich nichts anderes als eine furchtbare Sterilität eines bis zum Exzeß abstrakten und intel­lektualistischen Denkens. Die Sache ist deshalb so außerordentlich be­merkenswert, weil man daraus sieht, zu welch einer besonderen Gei­stesformung eine immerhin bedeutende Persönlichkeit der Gegenwart kommt.

Es ist in diesem Buche, in diesem zweiten Band von Spenglers «Un­tergang des Abendlandes», vom allen Dingen schon der Anfang und das Ende außerordentlich interessant. Aber traurig interessant ist dieser Anfang und das Ende; sie charakterisieren eigentlich die ganze Seelen-verfassung dieses Menschen. Man braucht vom Anfange an nur ein paar Sätze zu lesen, um sogleich drinnenzustehen in der Seelensitua­tion Oswald Spenglers ebenso wie in der Seelensituation vielem Men­schen der Gegenwart.

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Das, was darüber zu sagen ist, hat nicht bloß eine deutsch-litera­rische Bedeutung, sondern eine durchaus internationale Bedeutung. Spengler beginnt mit dem folgenden Satze: «Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach dem andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhaftem Angst vom diesem blinden, traumhaften, dem Erde verbun­denen Dasein. Dem stumme Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Dem Wind ist es, dem mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei. Sie tanzt noch im Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will» und so weitem.

Der Ausgangspunkt von den Blumen, von den Pflanzen - nun, ich fand mich immer wieder und wieder genötigt, wenn ich auf das­jenige hinweisen wollte, was gerade dem Denken dem Gegenwart seine Signatur gibt, anzufangen von jener Amt des Begreifens, die dem Mensch zuwendet heute der leblosen der mineralischen, dem unorganischen Na­tur. Vielleicht werden sich manche von Ihnen erinnern, wie ich immer wieder und wieder gebraucht habe, um das Streben des heutigen Den­kens nach Durchsichtigkeit des Anschauens zu charakterisieren, das Beispiel von dem Stoß zweier elastischem Kugeln, bei denen man aus dem gegebenen Zus. taind dem einen Kugel durchsichtig rechnerisch den Zustand der anderen Kugel abletien kann.

Es kann natürlich jemand von Oswald Spenglemischem Seelenkali-bem sagen: Man durchschaut ja mit dem gewöhnlichen Denken auch nicht, wie die Elastizitätskmaft da drinnen wirkt, wie da drinnen die Zu­sammenhänge im tieferen Sinne sind. Ja, derjenige, dem so denkt, weiß eben nicht, worauf es bei dem Durchsichtigkeit des Denkens gegenwärtig ankommt. Denn ein solcher Einwand wäre nicht mehr wert und auch nicht wenigem wert als dem, den jemand machte, wenn ich sage: Ich verstehe einen Satz, dem auf Papier niedergeschrieben ist - und er antwortet mir: Du verstehst ihn doch nicht, denn du hast nicht unter­sucht die Beschaffenheit dem Tinte, mit der dem Satz aufgeschrieben ist! - Es kommt eben immer darauf an, daß man das herausfindet, um was es sich handelt. Bei dem Überblicken der_unorganischen Natur handelt es sich nicht um dasjenige, was man eventuell als Kraftimpulse dahinter noch finden kann, wie es hinter dem Aufgeschmiebenen sich

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auch noch um die Tinte handeln kann, sondern um das, was man durch­sichtig in seinem Gedankprozesse drinnen hat.

Das ist dasjenige, was sich die Menschheit seit der Galilei-Koper­nikus-Zeit errungen hat als eine bestimmte Amt des Denkens, die er­stens darstellt, daß man mit ihr nur die leblose, die unorganische Na-tur begreifen kann, daß man auf der anderen Seite aber, indem man sich diesem Denken zunächst als dem einfachsteint.. und primitivsten reinen Denken hingibt, in ihr zuerst entfalten kann die Freiheit der menschlichen Seele, die. Frei ihet it des Menschen überhaupt. Erst wem die_Natur des gegenständlichen Denkens mit seiner Durchsichtigkeit, wie sie in dem leblosen Natur waltet, durchschaut, kann dann auf­steigen zu den anderen Prozessen des Denkens und Anschauens, zu demjenigen, was das Denken durchsetzt mit Anschauen: mit Imagi­nation, mit Inspiration, mit Intuition.

Es ist also die erste Aufgabe desjenigen, dem heute im intimsten Sinne mitreden will in bezug auf die äußerste Konfiguration unseres Kulturlebens, daß er merkt, worauf eigentlich die Kraft gerade des heutigen Denkens beruht.

Und derjenige, der so diese Kraft des heutigen Denkens verspürt hat, weiß, wie dieses Denken in dem Maschine wirkt, wie dieses Denken uns die moderne Technik hemaufgebracht hat, in dem wir aus diesem Denken heraus äußere, unorganische leblose Zusammenhänge konstru­ieren, die alles an Durchsichtigkeit haben, was sie zum Behuf der äußeren Betätigung des Menschen haben sollen.

Erst wem das versteht, rückt dann weitem ein in die Erkenntnis, daß in dem Augenblicke, wo wir die Pflanzen überschauen, wir mit diesem zunächst in seiner Abstraktion ergriffenen Denken in die reine Wuselei hineinkommen. Wer dieses kristallisch durchsichtige Denken für die mineralische Welt allein in seiner Abstraktheit haben will, nicht bloß als Durchgangsptunkt für die Entwickelung der Fr. reiheit de des Men­schen, sondern wem nun allein im Denken mit diesem Denken seine Blicke auf die Pflanzenwelt richtet, der hat in der Pflanzenwelt ein Nebuloses, Dunkles, Mystisches vor sich, das er nicht durchblicken kann. Denn in dem Augenblicke, wo wir zum Pflanzenwelt hinauf­schauen, müssen wir uns klar sein, daß hier, wenigstens in dem Grade,

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wie das Goethe gewollt hat mit seiner Urpflanze und mit dem Prinzip, durch das er die Urpflanze metamomphosiert durch alle Pflanzenfom­men hindurch, wenigstens in diesem Goetheschen Sinne muß einer, der aufrückt mit einem Erkennen zur wirklichen Kraft des im Unomgani­schen waltenden Denkens, in dem Pflanzenwelt verspüren, daß sie dun­kel und mystisch im schlechtesten Sinne unserem Zeit bleibt, wenn man nicht aufmückt zu einem imaginativen Betrachtung, wenigstens eben in dem Sinne, in dem Goethe seine botanischen Anschauungen begründet hat.

Wenn jemand wie Oswald Spengler die imaginative Erkenntnis abweist und dennoch beginnt mit dem Pflanzenwelt, so beginnt zu schildern, dann kommt er nicht zu irgend etwas, das Klarheit und Kraft gibt, dann kommt er zu einer Gedankenwuselei, zur Mystik im allemschlimmsten Sinne des Wortes, nämlich zum materialistischen My­stik. Und wenn man das vom Anfange sagen muß, so ist gerade durch diesen Anfang wiederum das Ende dieses Buches charakterisiert.

Das Ende dieses Buches handelt von der Maschine, von demjenigen, das der neueren Zivilisation gerade die Signatur gegeben hat, dem Ma­schine, die auf der anderen Seite dem Menschen gegenübersteht als dasjenige, was allerdings als Ding zunächst seinem Natur fremd ist, an dem er aber gerade das durchsichtige Denken entwickelt hat.

Ich habe vor einiger Zeit - unmittelbar nach dem Erscheinen von Oswald Spenglems Buch - unter dem Eindruck der Wirkung, den Speng­lers Buch gemacht hat, an der Technischen Hochschule in Stuttgart ei­nen Vortrag gehalten über Anthroposophie und die technischen Wis­senschaften, um da zu zeigen, wie gerade im Untemtauchen in die Tech­nik dem Mensch diejenige Konfiguration seines Seelenlebens entwickelt, die ihn dann frei macht. So daß er dadurch, daß er in der maschinellen Welt alle Geistigkeit ausgelöscht erlebt, den Antrieb erhält - gerade innerhalb dem maschinellen Welt -, durch inneres Aufraffen die Gei­stigkeit aus seinem Inneren zu holen; so daß derjenige, der heute das Darinnenstehen der Maschine in unserer ganzen Zivilisation begreift, sich eben sagen muß: Diese Maschine mit ihrer impertinenten Durch­sichtigkeit, mit ihrem brutalen, schauderhaften, dämonischen Geist-losigkeit, zwingt den Menschen, wenn er sich nur selber versteht, aus

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seinem Inneren herauszuholen diejenigen Keime von Spiritualität, die in ihm sind. Durch den Gegensatz zwingt die Maschine den Menschen, spirituelles Leben zu entwickeln.

Dasjenige, was ich damals habe sagen wollen, ist allerdings, wie ich aus den Nachwirkungen habe sehen können, von niemandem verstan­den worden.

Spengler stellt am Schlusse seines Werkes eine Betrachtung an über die Maschine. Nun, das, was Sie da lesen über die Maschine, das klingt zuletzt aus in einer Art Verherrlichung dem Furcht vor der Maschine. Dasjenige, was über die Maschine gesagt wird, ist geradezu etwas, was man empfinden kann als den Gipfelpunkt des Aberglaubens des mo­dernen Menschen gegenüber der Maschine, die er dämonisch empfin­det, wie gewisse Menschen abergläubischer Art die Dämonen empfin­den. Er schildert die Erfinder dem Maschine; er schildert, wie nach und nach die Maschine heraufgekommen ist, wie nach und nach die Ma­schine die Zivilisation ergriffen hat. Er schildert die Menschen, in deren Zeitalter die Maschine eingetreten ist: «Aber für sie alle bestand auch die eigentlich faustische Gefahr, daß der Teufel seine Hand im Spiele hatte, um sie im Geist auf jenen Berg zu führen, wo er ihnen alle Macht dem Erde versprach. Das bedeutet der Traum jenem selt­samen Dominikaner wie Petmus Peregrinus vom perpetuum mobile, mit dem Gott seine Allmacht entrissen gewesen wäre. Sie erlagen die­sem Ehrgeiz immer wieder; sie zwangen der Gottheit ihm Geheimnis ab, um selber Gott zu sein.»

Also Oswald Spengler faßt die Sache so auf, daß, weil der Mensch dazu gekommen ist, die Maschine zu dirigieren, er gerade durch dieses Dirigieren sich einbilden, lernen kann, ein Gott zu sein, weil dem Gott der Maschine des Weltenalls nach seiner Meinung die Maschine diri­giert. Wie sollte der Mensch nicht zum Gotte sich erhoben fühlen, wenn er nun einen Mikrokosmos dirigiert!

«Sie belauschten die Gesetze des kosmischen Taktes, um sie zu ver­gewaltigen, und sie schufen so die Idee der Maschine als eines kleinen Kosmos, dem nur noch dem Willen des Menschen gehorcht. Aber damit überschritten sie jene feine Grenze, wo für die anbetende Frömmigkeit dem andern die Sünde begann, und daran gingen sie zugrunde, von

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Bacon bis Giordano Bruno. Die Maschine ist des Teufels: so hat der echte Glaube immer wieder empfunden.»

Nun, selbstverständlich meint er es an dieser Stelle bloß ironisch. Aber daß er es nicht bloß ironisch meint, das sieht man dann, wenn er in seiner geistreichen Amt Worte gebraucht, die etwas altertümlich klin­gen. Das zeigt die folgende Stelle: «Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus die Erfindung dem Dampfmaschine, die alles umstürzt und das Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste geleistet, jetzt wird sie als Sklavin ins Joch gespannt und ihre Arbeit wie zum Hohn nach Pfemdekmäften bemessen. Man ging von dem Muskelkraft des Negems, die in organisierten Betrieben angesetzt wurde, zu den organischen Reserven dem Erdrinde über, wo die Lebenskraft von Jahrtausenden als Kohle aufgespeichert liegt und richtet heute den Blick auf die anorganische Natur, deren Wasser­kräfte schon zur Unterstützung dem Kohle herangezogen sind. Mit den Millionen und Milliarden Pferdekmäften steigt die Bevölkerungs­zahl in einem Grade, wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Dieses Wachstum ist ein Produkt der Maschine, die bedient und gelenkt sein will und dafür die Kräfte jedes einzelnen verhundertfacht. Um der Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. Arbeit wird das große Wort des ethischen Nachdenkens. Es verliert im 18.Jahr-hundert in allen Sprachen seine geringschätzige Bedeutung. Die Maschine arbeitet und zwingt den Menschen zur Mitarbeit. Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt.»

«Was sich nun im Laufe eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein Schau­spiel von solchem Größe, daß den Menschen einer künftigen Kultur mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl überkommen muß, als sei damals die Natur ins Wanken geraten. Auch sonst ist die Politik über Städte und Völker hinweggeschmitten; menschliche Wirt­schaft hat tief in die Schicksale dem Tier- und Pflanzenwelt einge­griffen, aber das rühmt nur an das Leben und verwischt sich wieder. Diese Technik aber wird die Spur ihrer Tage hinterlassen, wenn alles andere verschollen und versunken ist. Diese faustische Leidenschaft hat das Bild dem Erdoberfläche verändert.»

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«Und diese Maschinen werden in ihrem Gestalt immer mehr ent­menschlicht, immer asketischem, mystischer, esoterischem. Sie umspinnen die Erde mit einem unendlichen Gewebe feinem Kräfte, Ströme und Spannungen. Ihm Körper wird immer geistiger, immer verschwiegener. Diese Räder, Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles was entschei­dend ist, zieht sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuf­lisch empfunden, und mit Recht. Sie bedeutet in den Augen eines Gläu­bigen die Absetzung Gottes. Sie liefert die heilige Kausalität dem Men­schen aus und sie wird schweigend, unwiderstehlich, mit einem Art von vorausschauender Allwissenheit von ihm in Bewegung gesetzt.»

«Niemals hat sich der Mikrokosmos dem Makrokosmos überlegener gefühlt. Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch ihre geistige Kraft das Unlebendige von sich abhängig gemacht haben. Nichts erscheint diesem Triumph zu gleichen, dem nur einer Kultur geglückt ist und viel­leicht nur für eine kleine Zahl von Jahrhunderten.»

«Aber gerade damit ist der faustische Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung geworden.»

Wir sehen, es taucht hier die völlige Ratlosigkeit des Denkers ge­genüber der Maschine auf. Nichts ahnt diesem Denker davon, wie die Maschine dieses alles nicht ist, was irgendwie mystisch sein könnte vor demjenigen, der gerade das Unlebendige in seinem mystikfmeien Art erfaßt.

Und so sehen wir, daß Oswald Spengler mit einem verwuselten Darstellung des Pflanzlichen beginnt, weil er eigentlich doch über die Amt und den Charakter dem gegenwärtigen Erkenntnis, die innig zu­sammenhängt mit der Entwickelung des maschinellen Lebens, gar kei­nen Begriff hat, weil ihm das Denken nur eine Abstraktion bleibt, und er deshalb auch die Funktion des Denkens im Maschinellen nicht ver­spüren kann. Das Denken wird da ganz und gar zum wesenlosen Bilde, damit der Mensch im maschinellen Zeitalter um so mehr zum Wesen-haften werden könne, seine Seele, seinen Geist durch den Widerstand gegen das Maschinelle aus sich selber hervorrufen könne. Das ist die menschliche Bedeutung, das ist die Weltentwickelungsbedeutung des maschinellen Lebens!

Derjenige, der, indem er mit einer metaphysischen Klarheit beginnen

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will, mit einer verwuselten Darstellung des Pflanzlichen beginnt, dem tut das aus dem Grunde, weil er in dieser Stimmung gegen die Ma­schine ist.

Also Oswald Spengler hat die Funktion des neueren Denkens nur in seinem Abstraktheit begriffen, und er macht sich an das, was ihm dunkel bleibt, an das Pflanzenhafte.

Nun, wenn man das Minemalische, das Pflanzliche, das Tierische, das Menschliche nimmt, so charakterisiert sich für die Gegenwart das Menschliche dadurch, daß wir seit der Mitte des 15.Jahrhunderts ganz zum mineralisch-durchsichtigen Denken vorgeschmitten sind. So daß, wenn wir den Menschen dem heutigen Zeit anschauen, wie er in seinem Inneren ist als Anschauer dem Außenwelt, wir sagen müssen: Er hat als Menschliches gerade heute die Anschauung des Mineralischen entwik­kelt. Dann muß man aber die Bedeutung dieses mineralischen Denkens so charakterisieren, wie ich das eben jetzt gemacht habe.

Wenn aber jemand nichts vom Wesen des Mineralischen weiß, dann kommt er, wenn er beim Pflanzlichen anfängt, bloß bis zum Tierischen. Denn das Tierische trägt das Pflanzliche in demselben Form in sich, wie wir heute das Mineralische. Das ist das Charakteristische bei Os­wald Spengler, daß er beim Pflanzlichen anfängt und in seinen Begrif­fen überhaupt nicht über das Tierische hinauskommt, den Menschen nur auffaßt, insofern der Mensch ein Tier ist, und daß ihm eigentlich das Denken, das in Wirklichkeit in seiner eigentlichen Bedeutung erst seit dem 14.Jahmhundemt begriffen werden kann - das so begriffen wer­den kann, wie ich es jetzt dargestellt habe -, als etwas außerordentlich Verständliches erscheint. Daher läßt er es, soweit als er es nur kann, hinunterkollern in das Tierische. So daß wir zum Beispiel ihn auf­suchen sehen, wie er gleich dem Tier auch ein Sinneswahrnehmen hat, wie dann dieses Sinneswahrnehmen im Tiere schon zu einem Art von Urteil wird. Und so versucht er, das Denken num als etwas wie eine Steigerung des tierischen Wahrnehmungslebens hinzustellen.

Im Grunde genommen hat keiner in so radikaler Weise wie gerade Oswald Spengler gezeigt, daß dem Mensch heute mit dem abstrakten Denken überhaupt nur bis zu dem außermenschlichen Welt kommt, die menschliche Welt nicht mehr begreift! Und das eigentlich Charakteristische

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des Menschen: daß der Mensch denken kann, das empfindet Oswald Spengler eigentlich nur als so eine Art Beigabe, die unerklärlich und im Grunde genommen eigentlich überflüssig ist für den Menschen. Denn im Grunde genommen ist - nach Spengler - dieses Denken doch etwas höchst Überflüssiges im Menschen: «Das vom Empfinden abge­zogene Verstehen heißt Denken. Das Denken hat für immer einen Zwie­spalt in das menschliche Wachsein getragen. Es hat von früh an Ver­stand und Sinnlichkeit als hohe und niedere Seelenkraft gewertet. Es hat den verhängnisvollen Gegensatz geschaffen zwischen der Licht-welt des Auges, die als Scheinwelt und Sinnentrug bezeichnet wird, und einem im wörtlichen Sinne vor-gestellten Welt, in dem die Begriffe mit ihrem nie abzustreifenden leisen Lichtbetonung ihr Wesen treiben.»

Nun, indem Spengler diese Dinge auseinandersetzt, entwickelt er eine außerordentlich kuriose Idee: nämlich die, daß im Grunde ge­nommen die ganze geistige Zivilisation des Menschen vom Auge ab­hängt, eigentlich nur von der Lichtwelt abgezogen ist, und die Be­griffe sind eigentlich nur etwas verfeinerte, etwas destillierte Anschau­ungen im Lichte, die durch das Auge vermittelt werden. Oswald Spengler hat eben keine Ahnung davon, daß das Denken, wenn es mein wirkt, nicht etwa bloß die Lichtwelt des Auges in sich aufnimmt, son­dern daß das Denken diese Lichtwelt des Auges zusammenbringt mit dem ganzen Menschen. Es ist etwas durchaus anderes, ob wir an eine Entität denken, die mit der Wahrnehmung des Auges zusammen-hängt, oder ob wir von Vorstellungen sprechen. Spengler redet auch vom Vorstellen, aber gerade damit will er den Beweis liefern, daß das Denken eigentlich nur so eine Art Hirntraum und verfeinerte Licht-welt in dem Menschen ist.

Nun möchte ich einmal wissen, ob man mit irgendeinem zwar nicht abstrakten Denken, aber gesunden Menschenverstand das Wort «stel­len», wenn es richtig erlebt wird, jemals zusammenbringen kann mit irgend etwas, was der Lichtwelt angehört! - «Stellen» tut man sich mit seinen Beinen; man nimmt den ganzen Menschen dazu. Wenn einer sagt: «vorstellen», so verbindet er dynamisch das Lichtding mit demjenigen, was er in sich erlebt als Dynamisches, als Kraftwimkung, als etwas, was hineintaucht in die Wirklichkeit. Mit dem realistischen

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Denken tauchen wir durchaus in die Wirklichkeit hinein. Sehen Sie sich die wichtigsten Gedanken an. Abgesehen von den mathemati­schen, überall führen sie, die Gedanken, zu so etwas hin, woraus Sie ersehen können, daß wir in den Gedanken nicht bloß einen Licht-, Luftorganismus haben, sondern auch dasjenige, was der Mensch als seelisches Erlebnis hat, indem er es vom Lichte beleuchtet sein läßt, zu­gleich auf die Erde beide Beine stellt.

Daher ist alles das, was hier Oswald Spengler entwickelt über diese ins Denken umgewandelte Lichtwelt, im Grunde genommen nichts als ein außerordentlich geistreiches Geschwätz! Das ist dasjenige, was durchaus einmal ausgesprochen werden muß: die Einleitung zu diesem zweiten Bande ist geistreiches Geschwätz. Dieses geistreiche Geschwätz erhebt sich dann zu solchen Behauptungen, wie: «Diese Verarmung des Sinnlichen bedeutet zugleich eine unermeßliche Vertiefung. Mensch­liches Wachsein ist nicht mehr die bloße Spannung zwischen Leib und Umwelt. Es heißt jetzt: Leben in einer rings geschlossenen Lichtwelt. Der Leib bewegt sich im gesehenen Raume. Das Tiefenerlebnis ist ein gewaltiges Eindringen in sichtbare Fernen von einer Lichtmitte aus:

es ist jener Punkt, den wir Ich nennen. ist ein Lichtbegriff.»

Derjenige, der behauptet, das Ich sei ein Lichtbegriff, der hat keine Ahnung davon, wie innig das Ich-Erlebnis verknüpft ist zum Beispiel mit dem Schwere-Erlebnis im menschlichen Organismus, der hat über­haupt keine Ahnung von der erlebten Mechanik, die schon im mensch­lichen Organismus auftreten kann! Dann aber, wenn sie auftritt, be­wußt, dann ist auch der Sprung gemacht von dem abstrakten Denken zu dem konkreten, realen Denken, das in die Wirklichkeit hineinführt.

Man möchte sagen: Oswald Spengler ist so richtig ein Beispiel da­für, daß das abstrakte Denken «luftig» geworden ist, sogar «lichtig» geworden ist und den ganzen Menschen wegträgt von der Wirklich­keit, so daß er da draußen irgendwo im Lichte herumtaumelt und nun keine Ahnung davon hat, daß es auch zum Beispiel eine Schwere gibt, daß es auch etwas gibt, was erlebt werden kann, nicht bloß angeschaut. Der Anschauerstandpunkt zum Beispiel des John Stuart Mill ist hier bis zum Extrem gebracht. Deshalb ist das Buch außerordentlich cha­rakteristisch für unsere Zeit.

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Ein Satz, auf Seite 13, scheint ungeheuer geistreich zu sein, aber im Grunde genommen ist er «windig-lichtig»: «Man bildet Vorstel­lungen über Vorstellungen und gelangt endlich zu einer Gedanken-architektur großen Stils, deren Bauten in voller Deutlichkeit gleich­sam in einem inneren Lichte daliegen.»

So geht denn Oswald Spengler aus von dem Phrasenhaften. Das Pflanzliche findet er «schlafend»; das stellt zunächst die Welt dar, die da um uns herum richtig schläft. Er findet, daß die Welt «wach» wird im Tierreiche, daß das Tier in sich eine Art Mikrokosmos ent­wickelt. Er kommt über das Tier nicht herauf; er entwickelt nur die Beziehung zwischen dem Pflanzlichen und dem Tierischen, findet das Pflanzliche in dem Schlafen, das Tierische in dem Wachsein.

Schlafen: Mineralisches

Pflanzliches

Wachen: Tierisches

Menschliches

Aber alles dasjenige, was geschieht in der Welt, geschieht eigentlich unter dem Einfluß desjenigen, was schläft. Das Tier - damit für Os­wald Spengler auch der Mensch - hat das Schlafen in sich. Das hat er auch. Aber alles dasjenige, was Bedeutung hat für die Welt, geht aus dem Schlafen hervor, denn das Schlafen hat die Bewegung in sich. Das Wachsein hat nur Spannungen in sich, Spannungen, die allerlei Diskrepanzen im Inneren erzeugen, aber eben nur Spannungen, die gewissermaßen als ein etwas Äußerliches zu dem Weltenall hinzukom­men. Im Grunde genommen ist eine selbständige Wirklichkeit dieje­nige, die aus dem Schlafen kommt.

Und in dieser Suppe, da schwimmen allerlei solche mehr oder we­niger überflüssige oder schmackhafte und unschmackhafte Fettaugen -das ist das Tierische. Aber die Suppe könnte auch ohne diese Fettaugen bestehen. Nur bringen diese Fettaugen etwas in die Wirklichkeit hin­ein. Im Schlaf, da findet man nicht das Wo und Wie darinnen, da fin­det man nur das Wann und Warum. So daß wir auch beim Menschen, der ja als Tier noch das Pflanzliche in sich enthält - welche Rolle das

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Mineralische im Menschlichen spielt, davon hat Oswald Spengler keine Ahnung -, so daß wir beim Menschen folgendes finden: Insofern er pflanzlich ist, lebt er in der Zeit; er stellt sich hinein in das Wann und in das Warum, indem das Frühere das Warum des Späteren ist. Das ist das Kausale. Und indem der Mensch so in der Geschichte weiterlebt, lebt er eigentlich in der Geschichte das Pflanzliche aus. Das Tierische, und damit auch das Menschliche, das nach dem Wo und Wie frägt: das sind eben die Fettaugen; die kommen dazu. Das ist ja ganz interes­sant für die inneren Spannungen; aber sie haben nicht eigentlich etwas zu tun mit demjenigen, was in der Welt wirklich geschieht. So daß man sagen kann: durch die Weltenzusammenhänge ist der Welt eingepflanzt das Wann und Warum für die Zeitenfolge.

Und in dieser fortströmenden Suppe, da schwimmen eben die Fett-augen mit ihrem Wo und Wie. Und wenn der Mensch - ein solches Fettauge - da schwimmt, so geht das Wo und Wie eigentlich nur ihn an und seine inneren Spannungen, sein Wachsein. Dasjenige, was er als geschichtliches Wesen tut, das kommt aus dem Schlaf.

Früher hat man als eine Art Religionsphantasie gesagt: Den Seinen gibt's der Herr im Schlafe. - Dem Spenglerschen Menschen gibt es die Natur im Schlafe! So ist das Denken einer der bedeutendsten Per­sönlichkeiten der Gegenwart, das aber, um sich ja nicht über sich selber klar zu werden, zuerst in das Pflanzliche hinein verstrudelt, um aus dieser Strudelei nicht wiederum weiter herauszukommen als bis zum Tierischen, in das auch das Menschliche hineingestrudelt wird.

Nun könnte man glauben, diese Strudelei vermeide in ihrer Geist­reichigkeit die ärgsten Fehler, die das Denken in der Vergangenheit gemacht hat; sie sei sich also irgendwie treu darinnen. Wenn schon das Pflanzensein auch über die Geschichte der Menschheit ausgegossen werden soll, so bleibe sie beim Pflanzensein. Aber es ließe sich doch nicht gut mit dem Menschen des Pflanzenreiches eine geschichtliche Betrachtung anstellen. Nun, Oswald Spengler stellt, sogar sehr geist-reich, geschichtliche Betrachtungen an über dasjenige, was die Mensch­heit in ihrer Entwickelung im Schlafe pflanzlich macht. Aber damit er doch über dieses Schlafen der Menschheit etwas zu sagen hat, be­dient er sich der schlechtesten Art des Denkens, deren man sich nur

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bedienen kann: nämlich des Anthropomorphismus, alles in künstlicher Weise zu verzerren, überall das Menschliche hineinzuphantasieren. Er redet daher, schon auf Seite 9, von der Pflanze, die kein Wachsein hat, weil er an ihr erfahren will, wie er nun Geschichte schreiben soll, und nun auch eine Beschreibung dessen liefern soll, was aus dem Schlafe heraus die Menschen tun.

Aber nun lese man die ersten Sätze auf Seite 9:

«Eine Pflanze führt ein Dasein ohne Wachsein.» Gut.

«Im Schlaf werden alle Wesen zu Pflanzen», meint er. Also der Mensch ebenso wie die Tiere! Schön. -«die Spannung zur Umwelt ist erloschen, der Takt des Lebens geht

weiter. »

Und jetzt kommt ein kapitaler Satz:

«Eine Pflanze kennt nur die Beziehung zum Wann und Warum.» Nun fängt die Pflanze an, nicht nur zu träumen, sondern zu «ken­nen» in ihrem seligen Schlaf. Man steht also etwa vor der Vermutung:

Dieser Schlaf, der sich da als Geschichte fortströmend verbreiten soll in der menschlichen Entwickelung, der könnte nun auch eigentlich an­fangen zu wachen. Denn mit demselben Rechte könnte dann Oswald Spengler eine Geschichte schreiben, wie er der Pflanze ein Kennen von Wann und Warum andichtet. Ja, dieses Schlafeswesen der Pflanze hat sogar höchst interessante Eigenschaften:

«Das Drängen der ersten grünen Spitzen aus der Wintererde, das Schwellen der Knospen, die ganze Gewalt des Blühens, Duftens, Leuch­tens, Reifens: das alles ist Wunsch nach der Erfüllung eines Schicksals und eine beständige sehnsüchtige Frage nach dem Wann.»

Ja, man kann sehr leicht die Geschichte als Pflanzenleben schildern, wenn man sich erst durch Anthropomorphismen dazu vorbereitet!

Und weil das alles so ist, so sagt Oswald Spengler weiter: «Das Wo kann für ein pflanzenhaftes Dasein keinen Sinn haben. Es ist die Frage, mit welcher der erwachende Mensch sich täglich wieder auf seine Welt besinnt. Denn nur der Pulsschlag des Daseins dauert durch alle Ge­schlechter an. Das Wachsein beginnt für jeden Mikrokosmos von neuem: das ist der Unterschied von Zeugung und Geburt. Das eine ist Bürgschaft der Dauer, die andere ist ein Anfang. Und deshalb wird

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eine Pflanze erzeugt, aber nicht geboren. Sie ist da, aber kein Erwa­chen, kein erster Tag spannt eine Sinnenwelt um sie aus.»

Man muß wirklich, wenn man die Spenglerschen Gedanken nach­denken will, wie ein Stehaufmännchen zuerst auf den Kopf sich stel­len und dann umspringen, um dasjenige, was im menschlichen Sinn gerade gedacht ist, wieder umzudenken! Aber sehen Sie, dadurch, daß sich Oswald Spengler eine solche Metaphysik, eine solche Philosophie zurechtlegt, kommt er nun dazu, zu sagen: Dieses Schlafende im Menschen, das, was im Menschen wie eine Pflanze ist, das macht Geschichte. Was ist das im Menschen? Das Blut, das Blut, das durch die Geschlechter rinnt.

Nun, so bereitet sich Oswald Spengler eine Methode vor, um sagen zu können: Die wichtigsten Ereignisse, die in der Menschengeschichte sich entwickeln, die geschehen durch das Blut. Dazu muß er allerdings noch einige Gedankenbocksprünge machen: «Insofern ist Wachsein gleichbedeutend mit , ob es sich nun um das Tasten eines In­fusors oder um menschliches Denken vom höchsten Range handelt.»

Ja, wenn man so abstrakt denkt, dann findet man eben den Unter­schied nicht heraus zwischen dem Tasten eines Infusors und dem Den­ken eines Menschen von allerhöchstem Range! Und dann kommt man zu allerlei außerordentlich merkwürdigen Behauptungen; zu dem, daß eigentlich dieses Denken eine Beigabe des gesamten Menschenlebens ist: Aus dem Blut herauf geschehen die Taten, aus dem Blut herauf werde Geschichte gemacht. Und wenn dann auch noch einige da sind, die über das nachdenken, so ist es eben ein abstraktes Nachdenken und hat mit dem Geschehen nicht das geringste zu tun: «Daß wir nicht nur leben, sondern um wissen, ist das Ergebnis jener Be­trachtung unseres leibhaften Wesens im Licht. Aber das Tier kennt nur das Leben, nicht den Tod.»

Und so führt er aus, daß eigentlich dasjenige, worauf es ankommt, aus dem Dunkeln, Finstern, aus dem Pflanzenhaften, aus dem Blute hervorkommen muß, und daß alle diejenigen Menschen, die etwas in der Geschichte gemacht haben, nun ja nicht irgend etwas aus einer Idee, aus einem Denken heraus gemacht haben, sondern die Gedanken, auch die Gedanken der Denker, die gehen nur so nebenher. Über dasjenige,

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was das Denken leistet, hat Oswald Spengler nicht genug her­abwürdigende Worte.

Und dann stellt er dagegen alle diejenigen, die wirklich handeln, weil sie das Denken Denken sein lassen, das Denken das Geschäft der anderen sein lassen: «Es gibt geborene Schicksalsmenschen und Kausa­litätsmenschen. Der eigentlich lebendige Mensch, der Bauer und Krie­ger, der Staatsmann, Heerführer, Weltmann, Kaufmann, jeder, der reich werden, befehlen, herrschen, kämpfen, wagen will, der Organi­sator und Unternehmer, der Abenteurer, Fechter und Spieler, ist durch eine ganze Welt von dem Menschen» - «geistigen» setzt Spengler in Anführungszeichen - «getrennt, dem Heiligen, Priester, Gelehrten, Idealisten und Ideologen, mag dieser nun durch die Gewalt seines Denkens oder den Mangel an Blut dazu bestimmt sein. Dasein und Wachsein, Takt und Spannung, Triebe und Begriffe, die Organe des Kreislaufs und die des Tastens - es wird selten einen Menschen von Rang geben, bei dem nicht unbedingt die eine Seite die andre an Be­deutung überragt.»

« ... der Tätige ist ein ganzer Mensch: im Betrachtenden möchte ein einzelnes Organ ohne und gegen den Leib wirken.»

«Denn nur der Handelnde, der Mensch des Schicksals» - also der­jenige, den die Gedanken nichts angehen - «lebt letzten Endes in der wirklichen Welt, der Welt der politischen, kriegerischen und wirt­schaftlichen Entscheidungen, in der Begriffe und Systeme nicht mit-zählen. Hier ist ein guter Hieb mehr wert als ein guter Schluß und es liegt Sinn in der Verachtung, mit welcher der Soldat und Staatsmann zu allen Zeiten auf die Tintenkleckser und Bücherwürmer herabge­sehen hat, die der Meinung waren, daß die Weltgeschichte um des Gei­stes, der Wissenschaft oder gar der Kunst willen da sei.»

Das ist deutlich gesprochen! Aber auch so deutlich, daß man er­kennt, wer es gesprochen hat: daß es doch nun schließlich ein «Tinten­kleckser und Bücherwurm» geschrieben hat, der sich nur aufspielt zu Händen anderer. Und ein «Tintenkleckser und Bücherwurm» muß es schon sein, der da schreibt: «Es gibt geborene Schicksalsmenschen und Kausalitätsmenschen. Der eigentlich lebendige Mensch, der Bauer und Krieger, der Staatsmann, Heerführer, Weltmann, Kaufmann, jeder,

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der reich werden, befehlen, herrschen, kämpfen, wagen will, der Orga­nisator und Unternehmer, der Abenteurer, Fechter und Spieler, ist durch eine ganze Welt von dem Menschen getrennt, dem Heiligen, Priester, Gelehrten, Idealisten und Ideologen.» Als ob es niemals Beichtstühle gegeben hätte und Beichtväter gegeben hätte! Ja, es gibt sogar noch andere Wesen, bei denen alle diese Sorten von Men­schen sich die Gedanken holen. Man hat sogar schon in der Gesell­schaft von all solchen Leute, die da angeführt werden, Staatsmänner, Heerführer, Weitmänner, Kaufleute, Fechter, Spieler und so weiter sogar schon Wahrsagerinnen und Kartenschlägerinnen gefunden! So daß also durchaus die Welt, durch die der Staatsmann, der Politiker und so weiter getrennt sein soll von dem «geistigen» Menschen, eine so ungeheure Weite nicht hat in der Wirklichkeit. Derjenige, der das Le­ben betrachten kann, der wird eben finden, daß so etwas hingeschrie­ben wird mit Ausschluß jeder Lebensbetrachtung. Und Oswald Speng­ler, der ein geistreicher Mann und eine bedeutende Persönlichkeit ist, macht es gründlich. Nachdem er gesagt hat, daß im Reich des wirk­lichen Geschehens ein Hieb mehr wert ist als ein logischer Schluß, da fährt er fort also: «Hier ist ein guter Hieb mehr wert als ein guter Schluß und es liegt Sinn in der Verachtung, mit welcher der Soldat und Staatsmann zu allen Zeiten auf die Tintenkleckser und Bücherwür­mer herabgesehen hat, die der Meinung waren, daß die Weltgeschichte um des Geistes, der Wissenschaft oder gar der Kunst willen da sei. Sprechen wir es unzweideutig aus: das vom Empfinden freigewor­dene Verstehen ist nur eine Seite des Lebens und nicht die entschei­dende. In einer Geschichte des abendländischen Denkens darf der Name Napoleon fehlen, in der wirklichen Geschichte aber ist Archi­medes mit all seinen wissenschaftlichen Entdeckungen vielleicht we­niger wirksam gewesen als jener Soldat, der ihn bei der Erstürmung von Syrakus erschlug.»

Nun, wenn dem Archimedes ein Ziegelstein auf den Kopf gefallen wäre, dann wäre nach dieser Theorie dieser Ziegelstein mehr wert als all dasjenige, was von Archimedes ausgegangen war, im Sinne der wirk­lichen, der logischen Geschichte! Aber so schreibt heute nicht etwa der gewöhnlichste Journalist, so schreibt einer der gescheitesten Menschen

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der Gegenwart. Das ist gerade das Bedeutsame, daß so etwas einer der gescheitesten Menschen der Gegenwart schreibt.

Und nun, was ist also eigentlich das Wirksame? Das Denken, das schwimmt so obenauf. Was ist das Wirksame: das Blut.

Einer, der vom geistigen Gesichtspunkte aus über das Blut redet, wissenschaftlich redet, der wird zunächst die Frage stellen, wie das Blut entsteht, wie das Blut mit der Nahrung zusammenhängt, die der Mensch aufnimmt. In den Gedärmen ist das Blut noch nicht vorhan­den; das Blut wird erst im Menschen selber geschaffen. Das Herunter­rinnen des Blutes durch die Geschlechter - nun, wenn irgendeine schlechte mystische Vorstellung gebildet werden kann, so ist es diese. Alles dasjenige, was jemals nebulose Mystiker, wenigstens einigerma­ßen, wenn auch verschwimmend, deutlich von innerem Seelenleben gesagt haben, ist nicht so schlechte Mystik gewesen als diese Speng­lersche Mystik des Blutes. Es wird auf etwas hingewiesen, wo über­haupt jede Möglichkeit aufhört nicht nur davon, daß man nicht dar­über denken kann - das würde ja bei Oswald Spengler nichts machen, weil man ja eigentlich nicht zu denken braucht, es ist ja eigentlich nur Lebensluxus -, das würde also nichts machen. Aber man sollte auf­hören zu reden, wenn man noch ein vernünftiger Mensch oder selbst nur ein vernünftiges höheres Tier sein will, von so etwas, woran man so wenig heran kann wie an das Blut.

Von diesem Gesichtspunkte aus ist es dann allerdings möglich, eine Geschichtsbetrachtung zu inaugurieren mit dem folgenden Satze: «Alle großen Ereignisse der Geschichte werden durch solche Wesen kosmi­scher Art getragen, durch Völker, Parteien, Heere, Klassen, während die Geschichte des Geistes in losen Gemeinschaften und Kreisen, Schu­len, Bildungsschichten, Richtungen, verläuft. Und hier ist es wieder eine Schicksalsfrage, ob solche Mengen in dem entscheidenden Augenblick ihrer höchsten Wirkungskraft einen Führer finden oder blind vorwärts getrieben werden, ob die Führer des Zufalls Menschen von hohem Range oder gänzlich bedeutungslose Persönlichkeiten sind, die von der Woge der Ereignisse an die Spitze gehoben werden wie Pompejus oder Robespierre. Es kennzeichnet den Staatsmann, daß er all diese Massenseelen, die sich im Strome der Zeit bilden und auflösen,

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in ihrer Stärke und Dauer, Richtung und Absicht mit vollkommener Sicherheit durchschaut, aber trotzdem ist es auch hier eine Frage des Zufalls, ob er sie beherrschen kann oder von ihnen mitgerissen wird.»

Damit inauguriert man dann eine Geschichtsbetrachtung, welche Sieger sein läßt über alles dasjenige, was durch den Geist in das ge­schichtliche Werden hineinkommt: das Blut!

Nun: «Eine Macht läßt sich nur durch eine andere stürzen, nicht durch ein Prinzip, und es gibt dem Geld gegenüber keine andere» - als das Blut, meint er -. «Das Geld wird nur vom Blut überwältigt und aufgehoben. Das Leben ist das erste und letzte, das kosmische Dahin-strömen in mikrokosmischer Form. Es ist die Tatsache innerhalb der Welt als Geschichte. Vor dem unwiderstehlichen Takt der Geschlechter­folgen schwindet zuletzt alles hin, was das Wachsein in seinen Geistes-welten aufgebaut hat. Es handelt sich in der Geschichte um das Leben und immer nur um das Leben, die Rasse, den Triumph des Willens zur Macht, und nicht um den Sieg von Wahrheiten, Erfindungen oder Geld. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht: Sie hat immer dem stär­keren, volleren, seiner selbst gewisseren Leben Recht gegeben, Recht näm­lich auf das Dasein, gleichviel ob es vor dem Wachsein recht war, und sie hat immer die Wahrheit und Gerechtigkeit der Macht, der Rasse geopfert und die Menschen und Völker zum Tode verurteilt, denen die Wahrheit wichtiger war als Taten, und Gerechtigkeit wesentlicher als Macht. So schließt das Schauspiel einer hohen Kultur, diese ganze wun­dervolle Welt von Gottheiten, Künsten, Gedanken, Schlachten, Städten, wieder mit den Urtatsachen des ewigen Blutes, das mit den ewig krei­senden kosmischen Fluten ein und dasselbe ist. Das helle, gestalten-reiche Wachsein taucht wieder in den schweigenden Dienst des Da­seins hinab, wie es die chinesische und römische Kaiserzeit lehren; die Zeit siegt über den Raum, und die Zeit ist es, deren unerbittlicher Gang den flüchtigen Zufall Kultur auf diesem Planeten in den Zufall Mensch einbettet, eine Form, in welcher der Zufall Leben eine Zeitlang dahin-strömt, während in der Lichtwelt unserer Augen sich dahinter die strö­menden Horizonte der Erdgeschichte und Sternengeschichte auftun.»

«Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augen­blick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten

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Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist damit in einem engumschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben, ohne das es sich nicht zu leben lohnt.»

So weist Oswald Spengler auf den kommenden Cäsarismus hin, auf dasjenige, was vor dem völligen Untergange der Kulturen des Abend­landes eben heraufziehen wird, und in das sich die heutige Kultur ver­wandeln wird.

Ich habe vor Sie das heute hingestellt aus dem Grunde, weil ja der wache Mensch - Oswald Spengler kommt zwar nichts auf den wachen Menschen an! -, aber weil ja doch der wache Mensch, auch selbst wenn er Anthreoposoph ist, etwas hinschauen soll auf dasjenige, was wirklich geschieht. Und so wollte ich von diesem Gesichtspunkte aus gerade auf ein Zeitproblem Sie hinweisen. Aber es wäre ein schlechter Ab­schluß, wenn ich Ihnen über dieses Zeitproblem nur dieses sagen würde. Daher werde ich, bevor wir eine längere Pause haben müssen, am näch­sten Mittwoch noch einmal vor meiner Oxforder Reise einen Vortrag halten.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 9. August 1922

Der Schriftsteller, von dem ich das letzte Mal hier gesprochen habe, sollte eigentlich gerade denen, die sich zur anthroposophischen Bewe­gung zählen, außerordentlich viel zu denken geben. Denn wir sehen in Oswald Spengler eine Persönlichkeit, welche außerordentlich viel von dem wissenschaftlich beherrscht, was heute beherrscht werden kann. Man kann geradezu sagen: Die verschiedenen Gedanken, welche im Laufe der letzten Jahrhunderte das Eigentum der zivilisierten Mensch­heit geworden sind, werden von Spengler durchaus beherrscht. Man kann ihn geradezu wie jemanden betrachten, der eine ganze Reihe von Wissenschaften oder wenigstens von Gedanken aus den Wissenschaften aufgenommen hat.

Die Gedankenkombinationen, die er zustande bringt, sind zuweilen blendend. Er ist in höchstem Maße das, was man in Mitteleuropa - nicht in Frankreich, aber in Mitteleuropa - einen geistreichen Menschen nennen kann. Für westlich-französische Geistreichigkeit ist allerdings das, was Oswald Spengler an Gedanken beingt, zu schwer und zu dicht. Aber wie gesagt, im mitteleuropäischen Sinne kann er durchaus als ein geistreicher Denker gelten. Man kann ihn kaum irgendwie einen ele­ganten Denker im besten Sinne des Wortes nennen, denn die Einklei­dung seiner Gedanken hat durchaus - trotz aller Geistreichigkeit - etwas arg Pedantisches. Und man kann sogar an den verschiedenen Stellen sehen, wie aus den Satzmaschen dieses geistreichen Mannes ein Philisterauge stark hervorlugt. Jedenfalls aber ist in den Gedanken selber etwas Grobes.

Nun, das sind mehr, möchte ich sagen, ästhetische Betrachtungen der Gedanken. Das Wichtige ist aber dieses, daß da eine Persönlich­keit vor uns steht, die nun schon einmal Gedanken, und zwar zeitge­mäße Gedanken hat, die aber eigentlich von dem gesamten Denken nichts hält. Denn Oswald Spengler hält ja für das wirkliche Geschehen in der Welt nicht dasjenige, was aus dem Denken kommt, als maß­gebend, sondern er hält die mehr instinktiven Lebensimpulse für das

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Maßgebende. So daß eigentlich bei ihm das Denken immer wie etwas Luxuriöses, möchte man sagen, über dem Leben schwebt, so daß bei ihm die Denker solche Leute sind, die über das Leben nachsinnen; aber aus dem, was in ihrem Ersonnenen ist, kann ins Leben nichts einflie­ßen. - Das Leben ist eben schon da, wenn die Denker kommen, um ihre Gedanken über das Leben zu haben.

Und es ist dabei durchaus so, daß man sagen muß: In dem weltge­schichtlichen Augenblicke, in dem einmal ein Denker die besondere Form der Gedanken der Gegenwart mit einiger Universalität be­herrscht, in diesem selben Augenblicke empfindet dieser Denker eigent­lich die Gedanken als steril, als unfruchtbar. Er wendet sich an etwas anderes als an diese unfruchtbaren Gedanken; er wendet sich an das­jenige, was im instinktiven Leben sprudelt, und er sieht von dem Ge­sichtspunkte aus, der sich ihm auf diese Weise ergibt, nun die gegen­wärtige Zivilisation.

Er sieht sie eigentlich so, daß er sagt: Was diese gegenwärtige Zi­vilisation hervorgebracht hat, ist überall auf dem Wege, unterzuge­hen. Man könne nur hoffen, daß einmal wiederum aus dem, was Spengler «das Blut» nennt, etwas Instinktives herauftaucht, das alles dasjenige, was gegenwärtige Zivilisation ist, nicht mitmacht, sogar kurz und klein schlägt und eine ausgebreitete, nur aus dem Instinkti­ven hervorgehende Macht an die Stelle setzt.

Oswald Spengler sieht, wie die Menschen der neueren Zivilisation allmählich zu Sklaven des maschinellen Lebens geworden sind. Er sieht aber nicht, wie innerhalb dieses Maschinenlebens, der Technik überhaupt, weil sie im Grunde genommen dem Geistigen gegenüber leer ist, gerade durch Reaktion das Erlebnis der menschlichen Freiheit kommen kann. Von dem hat er keine Ahnung. Und warum hat er von dem keine Ahnung?

Ja, sehen Sie, ich habe das letzte Mal, ich möchte sagen, mehr spaß­haft darauf hingedeutet, daß ja Spengler sagt: Der Staatsmann, der Praktiker, der Kaufmann und so weiter, sie alle handeln aus anderen Impulsen heraus als aus demjenigen, was im Denken erobert werden kann. - Spaßhaft sagte ich: Oswald Spengler scheint niemals be­achtet zu haben, daß es auch Beichtväter gibt und ähnliche Beziehungen.

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- Oswald Spengler hat auch nicht im ordentlichen Sinne etwas an­deres beobachtet, von dem das Verhältnis zum Beichtvater nur eine weltgeschichtlich dekadente Seitensache darstellt.

Wenn wir zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, finden wir überall, wie die sogenannten Tatmenschen, diejenigen Menschen, die äußerlich in der Welt etwas zu tun haben, wie diese sich wenden, sei es in späteren Zeiten an die Orakel, sei es in früheren Zeiten an das, was innerhalb der Mysterien als die Ratschlüsse der geistigen Welt erkannt werden kann. Man braucht nur die ältere ägyptische Kultur ins Auge zu fassen, wie da diejenigen, die in den Mysterien die Ratschlüsse der geistigen Welt erkundeten, übertrugen das, was sie auf geistige Art fanden, auf diejenigen, die nun Tatmenschen werden wollten und sollten. So daß gerade dann, wenn man zurückgeht in der Menschheits­entwickelung, man darauf kommt, wie aus der geistigen Welt heraus -nicht aus dem Blute, denn diese ganze Theorie des Blutes ist ja so my­stisch-nebulos wie nur irgend etwas -, wie also nicht aus einem dunk­len Untergrunde des Blutes heraus, sondern wie aus dem Geiste heraus geschöpft wurden die Impulse, die dann in die irdischen Taten ein­gingen.

In gewissem Sinne waren dann die sogenannten Tatmenschen eben die Werkzeuge für die großen geistigen Schöpfungen, deren Richtun­gen man erkannte innerhalb der geistigen Forschung der Mysterien. Und ich möchte sagen, Nachklänge der Mysterien, die sehen wir ja überall in der griechischen Geschichte, in der römischen Geschichte spielen; wir sehen sie aber auch durchaus noch spielen die erste Zeit des Mittelalters hindurch.

Ich habe Sie aufmerksam gemacht, wie man zum Beispiel die Lohen­grin-Sage doch nur versteht, wenn man sie zurückzuverfolgen weiß von der äußeren physischen Welt in die Gralsburg des früheren oder eigentlich mittleren Mittelalters hinein.

Es ist also eine vollständige Verkennung des wirklichen Ganges der Menschheitsentwickelung, wenn Oswald Spengler glaubt, daß irgend­wie aus dem Blute herauswachsen die weltgeschichtlichen Ereignisse, und daß dabei dasjenige, was in den Menschen doch hereinkommt durch den Gedanken, eben nichts zu tun habe.

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Wenn wir in die älteren Zeiten zurückgehen, so finden wir ja, daß die Menschen in einem hohen Grade abhängig sind von der Erfor­schung der geistigen Welt, wenn sie etwas tun wollen. Es müssen dann, wenn man das so ausdrücken darf, die Absichten der Götter erforscht werden. Und dieses Abhängigkeitsverhältnis der Menschen zu den Göttern, auf das wir hinschauen, das machte für ältere Zeiten die Menschen unfrei. Die Gedanken der Menschen waren durchaus darauf gerichtet, daß sie gewissermaßen wie Gefäße behandelt wurden, in welche die Götter ihre Substanzen, die geistigen Substanzen hinein-gossen, unter deren Einflüssen die Menschen handelten.

Damit die Menschen frei werden konnten, mußte dieses Hinein-gießen der Substanzen in die menschlichen Gedanken von seiten der Götter aufhören. Die menschlichen Gedanken wurden dadurch immer mehr und mehr zu Bildern. Die älteren Gedanken der Menschheit waren viel, viel mehr Realitäten. Und was Oswald Spengler dem Blute zuschreibt, sind eben die Realitäten, die in den Gedanken der älteren Menschheit steckten, jene Substanzen, die noch das Mittelalter hin­durch eben durch die Menschen wirkten.

Dann kam die neuere Zeit herauf. Die Gedanken der Menschen verloren ihren göttlichen, ihren substantiellen Inhalt. Die Gedanken der Menschen wurden bloß abstrakte Gedankenbilder. Aber nur diese sind nicht drängend und zwängend. Nur durch ein Leben in solchen Gedankenbildern kann der Mensch frei werden.

Nun hat der Mensch durch die neueren Jahrhunderte hindurch, bis ins 20. Jahrhundert herein, in sich selber kaum etwas anderes gefun­den als die organische Anlage dazu, solche Gedankenbilder auszuge­stalten. Es war das die Erziehung der Menschheit zur Freiheit. Der Mensch hatte keine, wie es in der alten Zeit noch der Fall war, atavisti­schen Imaginationen oder Inspirationen. Er hatte nur Gedankenbilder. In diesen Gedankenbildern konnte er immer mehr und mehr frei wer­den, weil Bilder nicht zwingen können. Hat man in Bildern die sittli­chen Impulse, so sind diese sittlichen Impulse nicht mehr zwingend, wie sie waren, als sie in der alten Gedankensubstanz lagen. Sie wirkten damals eben wie Naturkräfte auf den Menschen. Die neueren Ge­dankenbilder wirken nicht mehr wie Naturkräfte. Man mußte sie daher,

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damit sie überhaupt einen Inhalt haben, entweder anfüllen auf der einen Seite mit demjenigen, was die Naturerkenntnis durch die bloße sinnliche Beobachtung weiß. Daher bekam man eine sinnliche Beob­achtungswissenschaft, welche die Gedanken von außen anfüllte; von innen wollten sie sich aber immer weniger und weniger nilt etwas an-füllen. So daß die Menschen da greifen mußten, wenn sie überhaupt noch angefüllte Gedanken haben wollten, zu den alten Traditionen, wie es entweder der Fall war in den traditionell gewordenen Religions­bekenntnissen, oder in den traditionell gewordenen, verschieden ge­arteten Geheimgesellschaften, wie sie ja über die ganze Erde hin blüh­ten. Die große Masse der Menschen wurde zusammengefaßt in den ver­schiedensten Religionsbekenntnissen, wo man vor diesen Menschen etwas vorbrachte, dessen Inhalt aus älteren Zeiten stammte, wo noch den Gedanken ein Inhalt eben gegeben worden war. Oder aber man entfaltete - kultushaft oder auch anders - in Geheimgesellschaften wiederum dasjenige, was mehr oder weniger aus alten Zeiten durch Tradition stammte. Man füllte von außen die Gedanken mit sinnlichem Beobachtungsinhalt an. Man füllte sie von innen an mit den alten, dogmatisch traditionell gewordenen Impulsen.

Das mußte auch vom 16. Jahrhundert bis herauf ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts durchaus geschehen, denn da wirkte im mensch­lichen Zusammenarbeiten über die ganze zivilisierte Welt hin noch dasjenige geistige Prinzip, das man, wenn man einen alten Namen ver­wenden will, das Prinzip des Erzengels Gabriel nennen kann; des­jenigen Wesens also - es ist nur eine Terminologie, ich will auf eine geistige Macht hindeuten -, das, allerdings in der modernen Zivilisa­tion unbewußt, in die Menschenseelen hineinwirkte. Die Menschen hatten innerlich selbst keinen Inhalt. Sie nahmen nur einen traditio­nellen Inhalt für ihr geistig-seelisches Leben auf. Aber das bewirkte, daß die Menschen gar nicht hätten fühlen können dieses Dabeisein bei diesem geistigen Inhalte.

Der erste, der dieses Nichtdabeisein bei dem geistigen Inhalte fühlte, aber es nicht dazu bringen konnte, eine neue Geistigkeit zu erleben, war eigentlich Friedrich Nietzsche. Daher ging im Grunde genommen für den geistig-seelischen Inhalt ihm jeder Impuls verloren. Und er suchte

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dann nach möglichst unbestimmten Impulsen, nach Machtimpulsen und dergleichen.

Die Menschen brauchen nämlich nicht bloß einen geistigen Inhalt, den sie nun in abstrakte Gedanken fassen, sondern sie brauchen die innerliche Durchwärmung, die bei diesem geistigen Inhalte eintreten kann. Diese innerliche Durchwärmung ist etwas außerordentlich Wich­tiges.

Diese innerliche Durchwärmung wurde für die große Masse eben durch die verschiedenen Kultus- und ähnlichen Handlungen, die inner­halb der Bekenntnisse ausgeübt wurden, bewirkt. In den Freimaurer­gemeinschaften oder anderen Geheimgesellschaften der neueren Zeit wurde denn auch diese Wärme in die Seelen hineinergossen.

Das war in dieser Gabriel-Zeit aus dem Grunde möglich, weil eigentlich überall auf der Erde die elementarischen Wesen, die noch aus dem Mittelalter geblieben waren, vorhanden waren. Nur war es, je mehr das 19.Jahrhundert heraufkam, und schon ganz im 20.Jahr-hundert, diesen elementarischen Wesen, die in allen Naturerscheinun­gen drinnen waren, immer unmöglicher geworden, gewissermaßen im sozialen menschlichen Leben Parasiten zu sein. Es war da vieles, was im Unbewußten dem entgegenwirkte, gerade in der neuesten Zeit.

Sehen Sie, wenn da in solchen Geheimgesellschaften nach alter Tradition - es ist ja unglaublich, wie «alt» und «geheiligt» alle diese Kulte der Geheimgesellschaften sein sollen -, wenn da im Sinne alter Tradition. Kulte veranstaltet wurden, oder Lehren gegeben wurden, wenn man da dasjenige entwickelte, was so heraufgetragen war als ein nicht mehr verstandener Nachklang der alten Mysterien, so war das gewissen elementarischen Wesen gerade recht. Denn indem die Men­schen allerlei verrichteten, sagen wir, indem sie vor irgendeiner Messe saßen, die zelebriert wurde, und nichts mehr davon verstanden, so hatten die Menschen ja etwas ungeheuer Weisheitsvolles vor sich: sie waren dabei, verstanden zwar nichts, aber ihr Verstehen wäre möglich gewesen. Da kamen dann diese Elementarwesen, und wenn die Men­schen nicht dachten über eine Messe, da dachten diese Elementarwesen dann mit dem menschlichen Verstand, den die Menschen nicht an­wendeten. Die Menschen hatten immer mehr und mehr den freien

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Verstand ausgebildet, aber sie brauchten ihn nicht. Sie setzten sici½ lieber hin und ließen sich durch Tradition etwas vormachen. Sie dach­ten nicht, die Menschen. Es ist ja heute noch immer so, obwohl heute durchaus die Verhältnisse ganz anders werden, daß die gegenwärti­gen Menschen ungeheuer viel denken könnten, wenn sie sich ihres Ver­standes bedienen wollten. Aber sie mögen es nicht, sie tun es nicht, sie sind einem scharfen Denken abgeneigt. Sie sagen gern: Ah, da muß man sich anstrengen, das ist abstrakt, das ist etwas, wo man innerlich arbeiten muß!

Wenn die Menschen das Denken liebten, würden sie nicht so gerne sich heute in alle möglichen Kinovorstellungen und dergleichen hinein-begeben, denn dabei kann man nicht und braucht man nicht zu denken, da rollt alles ab. Das ganz kleine Bisselchen, das man noch denken sollte, das wird auf große Tafeln aufgeschrieben und kann abgelesen werden. Das ist so, daß sich langsam und allmählich im Laufe der neueren Zeit diese Nichtsympathie mit dem innerlich aktiven Denken herausgebildet hat. Die Menschen haben sich fast ganz das Denken ab-gewöhnt. Wenn irgendwo ein Vortrag gehalten wird, der keine Licht-bilder hat und wo man etwas denken sollte, da ziehen es doch die Leute mehr oder weniger vor, ein wenig zu schlafen. Sie gehen ja viel­leicht noch hin, aber sie schlafen, weil das aktive Denken eben nicht dasjenige ist, das heute sich einer außerordentlichen Beliebtheit erfreut.

Und gerade diesem Nichtdenkenwollen durch Jahrhunderte hin­durch, paßte sich eben an das Mannigfaltigste, was in diesen oder je­nen Geheimgesellschaften geübt wurde. Und solche Elementarwesen, die noch da waren, die noch mit dem Menschen verkehrten in der ersten Hälfte des Mittelalters, wo man sogar noch Laboratoriumsversuche anstellte, alchimistische Versuche, bei denen in ganz bewußter Weise die Menschen daran dachten, wie da geistige Wesen mitwirkten, diese geistigen Wesen waren dageblieben, überall waren sie da.

Und warum sollten sie nicht die gute Gelegenheit benutzen! Die Menschen bekamen allmählich in der neuesten Zivilisation ein Gehirn, das gut denken konnte, aber nicht denken wollte. So kamen diese Ele­mentarwesen heran, und sie dachten sich: Wenn die Menschen selber ihr Gehirn nicht benutzen, können wir es benutzen. Und in denjenigen

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Geheimgesellschaften, die nur Traditionelles liebten, immer nur Altes und Altes an die Oberfläche brachten, da war es so, daß diese Elemen­tarwesen herankamen und die menschlichen Gehirne zum Denken be­nutzten. So ist außerordentlich viel an Gehirnsubstanz seit dem 16. Jahrhundert benutzt worden von Elementarwesen.

Es ist ja ohne Zutun der Menschen in der Menschheitsentwickelung viel hereingekommen, auch an guten Einfällen, namentlich an guten Einfällen, die sich bezogen haben auf das menschliche Zusammenleben.

Wenn Sie bei Menschen nachsehen, welche in dieser Zeit ein biß­chen sich über die Zivilisation aufklären wollten, so werden Sie fin­den, für diese Menschen wurde das eine große Frage: Ja, was wirkt denn da eigentlich von Mensch zu Mensch? Die Menschen sollten ja denken, aber sie denken nicht. Was wirkt denn da von Mensch zu Mensch?

Das war zum Beispiel eine große Frage für Goethe. Und aus dieser Stimmung heraus hat er seinen «Wilhelm Meister» geschrieben. Da werden Sie überall hingeführt auf allerlei dunkle Gesellschaftszusam­menhänge, die dem Menschen unbewußt bleiben, die da aber walten, die von dem einen oder anderen halb bewußt aufgefangen, weiterge­tragen werden. Es werden allerlei Fäden gewoben. Goethe versucht, solche Fäden zu finden. Nach solchen Fäden suchte er. Und insofern er sie finden konnte, hat er sie gerade zur Darstellung bringen wollen in der Romankomposition seines «Wilhelm Meister».

Aber das war etwas, was dann im ganzen 19. Jahrhundert in Mittel­europa spielte. Wenn heute irgendwie die Menschen noch eine Nei­gung hätten, länger bei einem Buche zu verweilen als zwischen zwei Mahlzeiten - nun, das ist figürlich gesprochen, denn die meisten, die schlafen ein zwischen zwei Mahlzeiten, wenn sie einen Drittel gelesen haben; dann lesen sie das nächste Drittel zwischen den zwei nächsten Mahlzeiten, und das übernächste Drittel zwischen den übernächsten zwei Mahlzeiten, und dadurch, nicht wahr, verzettelt sich das ein we­nig. Aber es wäre den Menschen doch gut, wenn selbst diejenigen Ro­mane und Novellen, die man zwischen zwei Mahlzeiten oder zwischen zwei Bahnstationen lesen kann, sie zum Nachdenken anregten. Man kann das der heutigen Zeit ja nicht zumuten, aber wenn Sie nachsehen würden,

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wie zum Beispiel Gutzkow in seinem Buch «Der Zauberer von Rom» und in seinem «Die Ritter vom Geiste» solche Zusammenhänge gesucht hat, wenn Sie die außerordentlich sozialen Verkettungen neh­men, wie sie George Sand in ihren Romanen gesucht hat, so werden Sie überall bemerken können, wie im 19. Jahrhundert solche Fäden spielen, die von unbestimmten Mächten herkommen und in das Un­bewußte hineinspielen; daß die Autoren diese verfolgen, und daß sie, wie zum Beispiel George Sand, darin in der verschiedensten Weise durchaus auf der richtigen Spur dabei sind.

Aber im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde das allmählich so, daß nun erstens diese elementarischen Wesen, die mit dem mensch­lichen Gehirn dachten und dann, indem sie sich der menschlichen Gemüter bemächtigten und die sozialen Zusammenhänge im 19.Jahr-hundert bewirkten, diese Fäden eigentlich spannen, daß diese Wesen nun endlich genug hatten. Sie hatten ihre welthistorische Aufgabe, man möchte besser sagen, ihr welthistorisches Bedürfnis befriedigt. Und namentlich kam da etwas anderes, was sie hinderte, diese Art Parasitentätigkeit fortzusetzen. Diese ging sogar außerordentlich gut so gegen das Ende des 18.Jahrhunderts, dann vorzüglich im 19.Jahr-hundert; aber immer weniger und weniger kamen dann diese elementa­rischen Wesen zu ihrem eigentlichen Rechte. Und zwar aus dem Grunde, weil immer mehr und mehr Seelen herunterstiegen von der geistigen Welt auf den physischen Plan mit großen Erwartungen in bezug auf das Erdenleben.

Nicht wahr, wenn die Menschen, nachdem sie kleine Kinder ge­wesen sind und geschrieen und gezappelt haben, in der neueren Zeit nun eben notdürftig erzogen worden sind, dann sind sie sich allerdings nicht bewußt geworden, daß sie mit außerordentlich großen Erwar­tungen ausgerüstet waren, bevor sie heruntergestiegen sind. Aber das hat doch in den Emotionen, in der ganzen Seelenverfassung weiterge­lebt und lebt auch noch heute weiter. Eigentlich steigen die Menschen­seelen mit außerordentlich starken Erwartungen in die physische Welt herunter. Und daher kommen ja auch die Enttäuschungen, die das Unbewußte in der Seele der Kinder schon seit längerer Zeit erlebt, weil diese Erwartungen nun doch nicht befriedigt werden.

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Auserlesene Geister, die besonders kräftige Erwartungsimpulse hat­ten, ehe sie heruntergestiegen auf den physischen Plan, das waren zum Beispiel diejenigen, die dann diesen physischen Plan sich betrachtet und gesehen haben, daß diese Erwartungen da nicht befriedigt wer-den, und so haben sie Utopien geschrieben, wie es sein sollte, wie man es machen könnte.

Und es wäre außerordentlich interessant zu studieren, wie eigent­lich, mit Bezug auf das Hereintreten durch die Geburt ins physische Dasein, die Seelen der großen Utopisten, und auch der kleineren und der mehr oder weniger Querköpfigen, die da allerlei ausgedacht ha­ben, was nicht einmal eine Utopie genannt werden kann, aber außer­ordentlich viel guten Willen verrät, den Menschen auf Erden ein Para­dies zu gestalten, wie diese Seelen, die da herunterstiegen aus den gei­stigen Welten, eigentlich beschaffen waren mit Rücksicht auf ihren Eintritt auf den physischen Erdenplan.

Dieses erwartungsvolle Heruntersteigen, das macht aber den Wesen, die nun das Gehirn solcher erwartungsvollen Menschen benützen sollen, Pein. Da gedeiht ihnen dann das Benützen des Gehirns nicht, wenn die Menschen mit solchen Erwartungen herunterkommen. Bis ins 18.Jahr-hundert sind die Menschen noch mit viel geringeren Erwartungen her­untergestiegen. Da ging es gut mit der Benutzung des Gehirns von sei­ten anderer, nicht menschlicher Wesenheiten. Aber gerade als das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts kam, da wurde es den Wesenheiten, die nun dieses menschliche Gehirn benutzen sollten, außerordentlich heiß bei den Menschen, die mit den Erwartungen heruntergekommen sind. Diese Erwartungen, die führten zu unterbewußten Emotionen, und das verspürten dann diese geistigen Wesen, wenn sie die menschlichen Gehirne benutzen wollten. Daher tun sie es eben nicht mehr. Und es ist nun so, daß im weitesten Umfang sich immer mehr und mehr eine ge­wisse Stimmung verbreitet unter der modernen Zivilisationsmensch­heit, das ist diese, daß die Menschen Gedanken haben, aber diese Ge-danken unterdrücken. Das Gehirn ist allmählich ruiniert worden, ins­besondere bei den höheren Ständen, durch Unterdrücken der Gedan­ken. Andere, nicht menschliche Wesen, die sich dieser Gedanken be­mächtigten, die kommen nicht mehr.

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Und jetzt, jetzt haben zwar die Menschen Gedanken, aber sie wis­sen nichts damit anzufangen. Und der bedeutendste Repräsentant die­ser Art von Menschen, die mit ihren Gedanken nichts anzufangen wis­sen, das ist Oswald Spengler. Er unterscheidet sich von den anderen dadurch, daß die anderen - ja, wie soll man das im Grunde genommen ausdrücken, um nicht gar zu stark Anstoß zu erregen, wenn, wie es ja doch immer geschieht, diese Dinge dann wiederum draußen erzählt werden -, da muß man vielleicht sagen: Also die anderen, die vernegli­gieren schon ganz ihr Gehirn in den früheren Lebensjahren, so daß dieses Gehirn dann geeignet ist, die Gedanken in sich verschwinden zu lassen; Spengler unterscheidet sich wohl dadurch von den anderen, daß er das Gehirn frischer erhalten hat, so daß es nicht so öde ist, daß er nicht immer nur in sich versinkt, nicht immer nur sich mit sich selbst beschäftigt.

Nicht wahr, es ist ja ein großer Teil der Menschheit heute innerlich -wenn ich mich eines mitteleuropäischen Ausdruckes bedienen möchte, den vielleicht viele nicht verstehen - versulzt. Sulze das ist etwas, das man beim Schweineschlachten aus den verschiedenen Ergebnissen des Schweineschlachtens, die zu nichts anderem zu gebrauchen sind, macht, und auch mit den geleeartigen Bestandteilen vermischt, die nicht zu anderem zu gebrauchen sind, was nicht einmal zum Wurstmachen ge­braucht werden kann, das verwendet man dann zur Sulze, nicht wahr. -Und ich möchte sagen: Unter den mannigfachen verwirrenden Einflüs­sen der Erziehung wird nun das Gehirn bei den meisten Menschen so versulzt. Sie können ja nichts dafür, die Menschen. Man redet ja da durchaus nicht im anklagenden Sinne, sondern vielleicht eher sogar in einem entschuldigenden Sinne, und in dem Sinne, daß man sehr viel Mitleid hat mit den versulzten Gehirnen.

Also ich meine, wenn die Menschen dann so sind, daß sie nur den einen Gedanken haben: sie wissen nicht, was sie mit sich anfangen sollen, sie sind wie in sich selber zusammengematscht, zusammenge­drückt und zusammengesulzt, nicht wahr, dann können diese Gedan­ken sich so hübsch in diese Gehirnunterwelten und von diesen Gehirn­unterwelten dann weiter in die unteren Regionen der menschlichen Organisation versenken und so weiter.

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Aber das ist nun bei solchen Menschen wie Oswald Spengler wie­derum nicht der Fall. Die können die Gedanken ausbilden. Und da­durch ist Spengler ein geistreicher Mann, er hat die Gedanken. Aber diese Gedanken, die der Mensch haben kann, die werden erst etwas, wenn sie einen geistigen Inhalt bekommen. Dazu braucht man einen geistigen Inhalt. Man braucht den Inhalt, den Anthroposophie geben will; sonst hat man Gedanken, aber man weiß nichts damit anzufan­gen. Es ist mit den Spenglerschen Gedanken wirklich so - ja, fast möchte ich sagen, ein unmögliches Bild kommt einem - wie bei einem Mann, der gelegentlich einer zukünftigen Verheiratung mit einer Dame sich alle möglichen wunderschönen Gewänder, nicht für sich, sondern für die Dame angeschafft hat, und nun entläuft sie ihm vor der Ver­heiratung, und er hat nun alle diese Gewänder, aber er hat niemanden, der sie anziehen soll!

Und so sehen Sie: Was an wunderschönen Gedanken da ist; sie sind ja alle nach dem modernsten wissenschaftlichen Kleiderschnitt zuge­schnitten, diese Spenglerschen Gedanken, aber es fehlt die Dame, welche die Kleider anziehen sollte. Der alte Capella, der hatte doch wenigstens noch, wie ich vor einigen Wochen sagte, die etwas dürr gewordene Rhetorik, Grammatik und Dialektik. Nicht wahr, die waren dann nicht mehr so üppig wie die Musen des Homer oder die Musen des Pindar, aber es waren immerhin noch die ganzen sieben freien Künste, die dann das Mittelalter hindurch figurierten; man hatte noch jeman­den, dem man die Kleider anziehen konnte.

Aber nun ist die Zeit herangekommen - ich möchte das, was da heraufgekommen ist, schon weil es etwas Bedeutendes ist, den Speng­lerismus nennen -, die Zeit, in der sozusagen Kleider zustande gekom­men sind, aber nun fehlen wirklich alle die Wesen, denen man diese wunderschönen Gedankenkleider anziehen soll, und so, nicht wahr, ist die Dame nicht da! Die Muse kommt nicht, die Kleider sind da. Und so erklärt man eben, man könne nichts anfangen mit der ganzen Klei­derstube der modernen Gedanken. Das Denken ist gar nicht dazu da, daß es ins Leben irgendwie eingreifen soll.

Es fehlt eben nur das Substantielle, dasjenige, was aus der geistigen Welt kommen sollte. Das fehlt eben. Und so erklärt man: Ach was,

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das ist doch alles Unsinn, diese Kleider sind doch nur da, daß sie an­geschaut werden. Hängen wir sie also lieber auf Kleiderständer und warten wir ab, wie aus der mystischen Unbestimmtheit heraus nun eine dralle Bauerndirne kommt, die nun wiederum, ja, die braucht nun keine schönen Kleider, die wird aus dem Ursprünglichen heraus eben dasjenige sein, was man erwarten kann.

So geht es nun dem Spenglerismus: Er erwartet aus dem Unbestimm­ten, Undefinierten, Undifferenzierten Impulse, die keine Gedanken-kleider brauchen, und die ganzen Gedankenkleider, die hängt er auf Holzständern auf, daß sie da sind zum Anschauen höchstens; denn wenn sie auch nicht einmal zum Anschauen wären, so könnte man nicht begreifen, warum Oswald Spengler schon zwei so dicke Bücher schreibt, die ja ganz unnötig sind. Denn, was soll man anfangen mit zwei dicken Büchern, nicht wahr, wenn das Denken nicht mehr sein soll? Spengler gibt nur keinen Anlaß dazu, sentimental zu werden, sonst würde man manches drollig finden. Da muß der Cäsar kommen! Aber der mo­derne Cäsar ist derjenige, der nun möglichst viel Geld geschafft hat und alle möglichen Ingenieure, die aus dem Geiste heraus die Sklaven der Technik geworden sind, zusammenfaßt - und nun auf dem blut-getragenen Geld oder auf dem geldgetragenen Blut, den modernen Cä­sarismus begründet. Das Denken, das hat dabei gar keine Bedeutung, das Denken sitzt so hinten und beschäftigt sich mit allerlei Gedanken.

Aber nicht wahr, nun schreibt der gute Mann zwei dicke Bücher, in denen ja ganz schöne Gedanken drinnen sind. Doch die sind ja ab­solut unnötig. Man kann nach dieser Sache gar nichts damit anfangen. Es wäre ja viel vernünftiger, wenn er dieses sämtliche Papier dafür ver­wendet hätte, um, sagen wir, auszudenken ein Rezept, nach dem die günstigsten Blutmischungen zustande kommen könnten in der Welt, oder dergleichen. Das wäre ja das, was man nach seiner Ansicht tun sollte.

Es stimmt gar nicht, was man tun sollte, mit dem, was er in seinen Büchern vertritt, überein. Die Bücher sind so, wenn man sie liest, daß man das Gefühl hat: Nun, der Mann, der weiß etwas zu sagen, weiß, wie der Untergang des Abendlandes ist, denn er hat diese ganze Untergangs-stimmung rein aufgefressen;er ist ganz selber erfüllt davon. Man könnte ja, wenn man den Untergang des Abendlandes beschleunigen wollte,

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nichts Besseres tun, als den Oswald Spengler zum Oberhauptmann, ja, zu dem Anführer zu machen für diesen Untergang. Denn er versteht das alles, er selber ist durchaus innerlich geistig von diesem Kaliber. Und so ist er außerordentlich repräsentativ für seine Zeit. Er findet, daß diese ganze moderne Zivilisation zugrunde geht. Nun ja, wenn es alle so machen wie er, so geht sie sicher zugrunde. Also muß es auch wahr sein, was er schreibt. Ich finde eben, es hat eine ungeheure innere Wahrheit.

So stehen die Sachen. Und es müßte eigentlich derjenige, der auf dem Boden der Anthroposophie steht, aufhorchen gerade auf einen sol­chen Geist wie Oswald Spengler. Denn das Ernstnehmen des Geistigen, das Ernstnehmen des spirituellen Lebens, das ist ja gerade dasjenige, was Anthroposophie will. Es kommt in der Anthroposophie wahr­haftig nicht darauf an, ob diese oder jene Dogmen genommen werden, sondern es kommt darauf an, daß dieses geistige Leben, dieses substan­tielle geistige Leben wirklich ernst, ganz ernst genommen werde, und daß das den Menschen aufweckt.

Es ist sehr interessant, sehen Sie, Oswald Spengler sagt: Beim Den­ken, da ist der Mensch wach - das kann er nun nicht leugnen -, aber das eigentlich Wirksame, das kommt aus dem Schlaf, und das ist in den Pflanzen enthalten und in dem Pflanzlichen im Menschen ent­halten. Was da im Menschen als Pflanzliches drinnen ist, das bringt er eigentlich lebendig hervor: das Schlafen, das ist das Lebendige. Das Wachen, das bringt die Gedanken hervor; aber mit dem Wachsein sind nur innere Spannungen gegeben.

Ja, so ist es wirklich dahin gekommen, daß einer der geistreichsten Menschen der Gegenwart so etwa andeutet: Was ich tue, das muß in mir gepflanzt werden, während ich schlafe, und aufwachen brauche ich ja eigentlich gar nicht. Das ist ein Luxus, daß ich aufwache, das ist ein völliger Luxus. Ich müßte eigentlich nur herumgehen und dasjenige, was mir im Schlafe einfällt, eben auch schlafend verrichten. Traum-wandeln müßte ich eigentlich. Es ist Luxus, daß, während ich da her-umgehe traumwandelnd, da noch ein Kopf oben sitzt, der sich fort-während in diesen Luxus einläßt, über das ganze Ding zu denken. Wozu das? Wozu wach sein?

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Aber es ist das eine Stimmung. Und Spengler, der bringt im Grunde genommen recht scharf diese Stimmung zum Ausdruck: Der moderne Mensch liebt nicht dieses Wachsein! Ja, es kommen da allerlei solche Bilder! Man möchte sagen: Wenn im Beginne der Anthroposophischen Gesellschaft so vor Jahren ein Vortrag gehalten wurde, da gab es im­mer in den vorderen Reihen Leute, welche sogar äußerlich das Schla­fen so ein bißchen markierten, damit richtige Teilnahme da auch sicht­bar würde im Auditorium, richtig hingegebene Teilnehmer sichtbar würden. Das Schlafen, das ist schon etwas, was außerordentlich be­liebt ist, nicht wahr. Nun, die meisten machen das aber still ab; bei den Gelegenheiten, die ich erwähnt habe, waren in dieser Beziehung die Leute artig. Wenn nicht gerade eigentümliche Töne des Schnarchens er­klingen, sind die Leute dann artig, nicht wahr, also wenigstens ruhig. Aber der Spengler, der ist ein merkwürdiger Mensch: der poltert über dasjenige, worüber die anderen ruhig sind. Die anderen, die schlafen; der Spengler aber sagt: Man muß schlafen, man darf gar nicht wach sein. - Und sein ganzes Wissen, das benützt er nun dazu, eine ganz adäquate Rede für das Schlafen zu halten. Und so ist dasjenige, wozu es also gekommen ist, das: daß ein außerordentlich geistreicher Mensch der Gegenwart eigentlich eine adäquate Rede für das Schlafen hält!

Aber das ist etwas, wo man aufpassen muß. Man braucht nicht zu poltern, wie der Spengler, aber man sollte sich dieses anschauen und dann darauf kommen, wie es notwendig ist, daß das Wachen verstan­den werde, dieses immer mehr und mehr Aufwachen, was gerade durch so etwas, wie die spirituellen Impulse der Anthroposophie, gegeben werden soll.

Es ist notwendig - immer wieder und wiederum muß es betont werden -, daß das Wachen, das wirkliche, innerlichste seelische Wa­chen allmählich geliebt werde. Deshalb wird eigentlich dieses Dorn-ach als so unsympathisch empfunden, weil es zum Wachen anregen will, nicht zum Schlafen, und weil es das Wachen ganz ernst nehmen möchte, wirklich in alles Wachheit hineingießen möchte, Wachheit in die Kunst, Wachheit in das soziale Leben, Wachheit vor allen Dingen in das Erkenntnisleben, Wachheit in die ganze Lebenspraxis, in alles dasjenige, dem überhaupt das menschliche Leben zugeneigt ist.

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Und, sehen Sie, es ist ja schon wirklich notwendig, daß ab und zu auf solche Dinge aufmerksam gemacht wird. Denn wenigstens in sol­chen Momenten, wie diesem jetzt, in dem wir wiederum zusammen sind, um auf eine kleine Weile diese Vorträge zu unterbrechen bis zur Zurückkunft von dem Oxforder Kursus, bei solchen Gelegenheiten muß schon, wie so oft, hingewiesen werden darauf, daß gerade unter uns eine gewisse Neigung für dieses Wachsein Platz greifen muß, ein Aufnehmen desjenigen, was in der Anthroposophie da ist, um es nach dem Wachsein des Menschen hin zu orientieren. Denn das brauchen wir auf allen unseren Gebieten: wirkliches Wachsein.

Und Wachsein ist nicht ohne Emsigkeit und Fleiß zu erreichen. Wenn nicht ein Interesse für dieses Wachsein, das Anthroposophie eigentlich will, Platz greift, so werden wir vielleicht noch weitere Kongresse veranstalten, ja, vielleicht sehr schön weiter nachtwandeln, aber wir werden nicht eigentlich aufwachen, sondern wir werden mit den anderen schlafenden Menschen der gegenwärtigen Zivilisation wei­terschlafen. Und wir werden nicht einmal solche bedeutungsvolle Symptome, die auftreten, im richtigen Sinne fassen wie diesen Polterer für den Schlafzustand in der menschlichen Entwickelung, diesen Os­wald Spengler, denn er ist der Polterer für das Schlafen. Er ist der­jenige, der eigentlich immer ableugnet, daß er selber wacht, aber er schreit so für dieses Schlafen. Es ist ein so unruhiger Schlaf. Er wälzt sich so furchtbar herum und macht solchen Spektakel aus dem Schlafe. Er redet immer aus dem Schlafe, und sehr schön sogar, aber es ist doch nicht das Richtige, aus dem Schlafe zu reden. Die Menschheit muß er­wachen.

Und das gerade könnte man von Spengler lernen, daß die Mensch­heit erwachen muß; sonst, sonst geht es immer weiter, sonst werden immer mehr und mehr Leute auftreten, die eigentlich aus dem Schlafe heraus reden, und Wunderschönes aus dem Schlafe heraus reden. Aber es wird damit nichts für eine Weiterentwickelung der Menschheit zu­stande kommen. Es würde nur das zustande kommen, daß wir unsere abendländische Kultur mit ihrem amerikanischen Anhang weiter und weiter entwickeln, immer mehr und mehr hinein in diese Lazarettan­stalten, in denen die Menschen nicht mehr aufstehen wollen, sondern

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immer schlafen wollen, und in denen sie aus dem Schlafe heraus reden, wunderschöne Reden halten, die dann bewundert werden von anderen; aber die Bewunderung ist dann auch nur ein Schlafen. Dasjenige, was bewundert, schläft, und dasjenige, was bewundert wird, schläft.

Also ist es durchaus notwendig, daß wir uns dieser Notwendigkeit des Aufwachens bewußt werden. Innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft müßte das wirklich wie eine Art intimstes Programm ge­faßt werden: Wir wollen aufwachen! Dann werden wir die Men­schen, viele Menschen, ganz anders herumgehen sehen, auch unter den Anthroposophen, wenn sie ganz, ganz wach sein wollten, wach und frisch. Man kann das sein, denn Anthroposophie kann frisch ma­chen. Fühlen Sie nur, wie Anthroposophie frisch machen kann, und wie sie gar nicht geeignet ist, daß man da so sich wälzt auf dem Lager und aus dem Schlafe heraus redet, sondern wie man, wenn man An­throposophie in ihrem Wesen sozusagen faßt, frisch werden kann, frisch auf allen Gebieten, auf dem Gebiete von Kunst, Religion und Wissenschaft, auf dem Gebiete der gesamten Lebenspraxis.

Versuchen Sie darüber nachzudenken, während der Zeit gerade, während der wir nicht zusammen sind, wie man nun Beratungen pfle­gen kann über ein vernünftiges Wachwerden, über eine Überwindung des Spenglerismus. Spengeln sie etwas Besseres zusammen, als dieser Spengler zu spengeln in der Lage ist, und spengeln Sie etwas, was in die Zukunft hineinwirken kann, während Spengler doch nur den Un­tergang des Abendlandes mit seiner Spenglerei zustande bringt.

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ACHTER VORTRAG Oxford, 20. August 1922

Der so freundlichen Einladung, heute abend hier zu sprechen, will ich dadurch nachkommen, daß ich einiges davon mitteile, wie man durch unmittelbare Forschung zu jener spirituellen Erkenntnis kommt, von der ja hier die erzieherischen Konsequenzen auseinandergesetzt werden sollen. Ich bemerke von vornherein, daß ich heute vorzugsweise zu sprechen haben werde von der Methode, forschend in übersinnliche Welten hineinzukommen; vielleicht wird sich bei einer anderen Ge­legenheit noch die Möglichkeit bieten, etwas von übersinnlichen For­schungsresultaten mitzuteilen. Aber außerdem muß ich einleitend sa­gen, daß alles das, was ich heute zu sagen habe, sich im strengen Sinne auf die Erforschung der spirituellen, der übersinnlichen Welten bezieht, nicht auf das Verstehen der übersinnlichen Erkenntnisse. Die übersinn­lichen Erkenntnisse, die erforscht sind und mitgeteilt werden, können mit dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand eingesehen werden, wenn sich dieser gesunde Menschenverstand nur nicht die Unbefangen­heit nimmt dadurch, daß er von dem ausgeht, was man für die äußere sinnliche Welt Beweise, logische Ableitungen und dergleichen nennt. Nur wegen dieser Hindernisse wird sehr häufig gesagt, daß man die übersinnlichen Forschungsresultate nicht verstehen könne, wenn man nicht selber ein übersinnlicher Forscher werden kann.

Was hier mitgeteilt werden soll, ist ja Gegenstand der sogenannten Initiationserkenntnis, derjenigen Erkenntnis, die in älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung in einer etwas anderen Form gepflegt wor­den ist, als wir sie heute in unserem Zeitalter pflegen müssen. Nicht Altes - ich habe das schon in den anderen Vorträgen bemerkt - soll wieder heraufgeholt werden, sondern im Sinne des Denkens und Emp­findens unseres Zeitalters soll der Forschungsweg in die übersinnlichen Welten angetreten werden. Und da kommt es vor allen Dingen gerade mit Bezug auf die Initiationserkenntnis darauf an, daß man imstande ist, eine prinzipielle Umorientierung mit der ganzen menschlichen See­lenverfassung zu vollziehen.

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Derjenige, der Initiationserkenntnis hat, unterscheidet sich von dem, der andere Erkenntnis im heutigen Sinne des Wortes hat, nicht etwa nur 4adurch, daß seine Initiationserkenntnis eine höhere Stufe der ge­wöhnlichen Erkenntnis ist. Sie wird allerdings auf der Grundlage der gewöhnlichen Erkenntnis erreicht; diese Grundlage muß da sein; das intellektuelle Denken muß voll entwickelt sein, wenn man zur Initia­tionserkenntnis kommen will. Dann aber ist eine prinzipielle Umorien­tierung notwendig, so daß der Besitzer von Initiationserkenntnissen überhaupt von einem ganz anderen Gesichtspunkte aus die Welt an­schauen muß, als sie angeschaut wird ohne diese Initiationserkenntnis. Ich kann in einer einfachen Formel ausdrücken, wodurch sich prinzi­piell die Initiationserkenntnis unterscheidet von der gewöhnlichen Er­kenntnis. In der gewöhnlichen Erkenntnis sind wir uns bewußt unseres Denkens, überhaupt unserer inneren Seelenerlebnisse, durch die wir uns Erkenntnisse erwerben, als Subjekt der Erkenntnis. Wir denken zum Beispiel und glauben, durch die Gedanken etwas zu erkennen. Da sind wir, wenn wir uns als denkende Menschen auffassen, das Subjekt. Wir suchen die Objekte, indem wir die Natur beobachten, indem wir das Menschenleben beobachten, indem wir experimentieren. Wir suchen immer die Objekte. Die Objekte sollen an uns herandringen. Die Ob­jekte sollen sich uns ergeben, so daß wir sie mit unseren Gedanken um­fassen können, daß wir unser Denken auf sie anwenden können. Wir sind das Subjekt; das, was an uns herantritt, sind die Objekte.

Bei demjenigen Menschen, der Initiationserkenntnis anstrebt, tritt eine völlig andere Orientierung ein. Er muß gewahr werden, daß er als Mensch Objekt ist, und er muß zu diesem Objekte Mensch das Sub­jekt suchen. Also das völlig Entgegengesetzte muß eintreten. In der gewöhnlichen Erkenntnis fühlen wir uns als Subjekt, suchen die Ob­jekte, die außer uns sind. In der Initiationserkenntnis sind wir selber das Objekt und suchen dazu das Subjekt; beziehungsweise in der wirk­lichen Initiationserkenntnis ergeben sich dann die Subjekte. Aber das ist dann erst Gegenstand einer späteren Erkenntnis.

Sie sehen also, es ist gerade so, wie wenn wir schon durch die bloßen Begriffsdefinitionen einsehen müßten, daß wir eigentlich in der Initia­tionserkenntnis aus uns herausflüchten müssen, daß wir so werden

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müssen wie die Pflanzen, die Steine, wie der Blitz und der Donner, die für uns Objekte werden. Wir selber schlüpfen gewissermaßen aus uns heraus in der Initiationserkenntnis und werden zum Objekt, und suchen die Subjekte dazu. Wenn ich mich etwas paradox ausdrücken darf, so möchte ich sagen, indem wir gerade auf das Denken abzielen: In der gewöhnlichen Erkenntnis denken wir über die Dinge nach. In der Initiationserkenntnis müssen wir suchen, wie wir gedacht werden im Kosmos.

Das sind ja nichts anderes als abstrakte Richtlinien, aber diese abstrakten Richtlinien werden Sie nun in den konkreten Tatsachen der Initiationsmethode überall verfolgt finden.

Zunächst geht, wenn wir eben heute nur von der modernen, von der heute gültigen Initiationserkenntnis Mitteilungen empfangen wollen, diese Initiationserkenntnis vom Denken aus. Das Gedankenleben muß voll entwickelt sein, wenn man heute zur Initiationserkenntnis kom­men will. Dieses Gedankenleben kann ja besonders herangeschult wer­den, wenn man sich in die naturwissenschaftliche Entwickelung der letzten Jahrhunderte, insbesondere des 19. Jahrhunderts, vertieft. Mit diesem naturwissenschaftlichen Erkennen geht es ja den Menschen in verschiedener Weise. Die einen nehmen die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf, hören selbst mit einer gewissen, ich möchte sagen, Naivität, wie sich die organischen Wesen von den einfachsten, primitiv­sten heraufentwickelt haben sollen bis zum Menschen. Sie bilden sich über diese Entwickelung Ideen aus, und sie sehen wenig zurück auf sich selber, daß sie da nun eine Idee haben, daß sie da in sich selber etwas in der Anschauung der äußeren Vorgänge entwickeln, was Ge­dankenleben ist.

Derjenige aber, der nicht die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse entgegennehmen kann, ohne auf sich selbst kritisch zu sehen, der muß sich allerdings fragen: Was bedeutet das, was ich da selber tue, indem ich Wesen für Wesen vom Unvollkommenen zum Vollkommenen ver­folge? Oder aber, er muß sich fragen: Indem ich mathematisiere, indem ich die Mathematik ausbilde, da bilde ich ja Gedanken rein aus mir heraus. Die Mathematik ist im richtigen Sinne ein Gespinst, das ich aus mir selber heraushole. Ich wende dann dieses Gespinst auf die äußeren

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Dinge an, und es paßt. Da kommen wir zu der großen, zu der, ich möchte sagen, für den Denker geradezu tragischen Frage: Wie steht es mit dem, was ich bei aller Erkenntnis anwende, mit dem Denken selber?

Nun kann man nicht finden, wie es mit diesem Denken steht, wenn man noch so lange nachdenkt; denn da bleibt das Denken nur immer auf demselben Flecke stehen, da dreht man sich sozusagen nur immer um die Achse, die man sich schon gebildet hat. Man muß mit dem Denken etwas vollziehen. Man muß dasjenige mit dem Denken aus­führen, was ich in meiner Schrift: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» - «The Way of Initiation» im Englischen -, be­schrieben habe als Meditation.

Über die Meditation soll man nicht «mystisch» denken, aber man soll auch nicht leicht über sie denken. Die Meditation muß etwas völlig Klares sein in unserem heutigen Sinne. Aber sie ist zugleich etwas, zu dem Geduld und innere Seelenenergie gehört. Und vor allen Dingen gehört etwas dazu, was niemand einem anderen Menschen geben kann: daß man sich selber etwas versprechen und es dann halten kann. Wenn der Mensch einmal beginnt, Meditationen zu machen, so vollzieht er damit die einzige wirklich völlig freie Handlung in diesem mensch­lichen Leben. Wir haben in uns immer die Tendenz zur Freiheit, haben auch ein gut Teil der Freiheit verwirklicht. Aber wenn wir nachdenken, werden wir finden: Wir sind mit dem einen abhängig von unserer Ver­erbung, mit dem anderen von unserer Erziehung, mit dem dritten von unserem Leben. Und fragen Sie sich, inwiefern wir imstande sind, das, was wir durch Vererbung, durch Erziehung und durch das Leben uns angeeignet haben, plötzlich zu verlassen. Wir waren ziemlich dem Nichts gegenübergestellt, wenn wir das plötzlich verlassen wollten. Wenn wir uns aber vornehmen, abends und morgens eine Meditation zu machen, damit wir allmählich lernen, in die übersinnliche Welt hineinzuschauen, dann können wir das jeden Tag unterlassen. Nichts steht dem entgegen. Und die Erfahrung lehrt auch, daß die meisten, die mit großen Vorsätzen an das meditative Leben herangehen, es sehr bald wiederum unterlassen. Wir sind darin vollständig frei. Es ist die­ses Meditieren eine urfreie Handlung.

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Können wir uns trotzdem treu bleiben, versprechen wir uns, nicht einem anderen, sondern nur uns selber einmal, daß wir diesem Me­ditieren treu bleiben, dann ist das an sich eine ungeheure Kraft im Seelischen.

Nun, nachdem ich das auseinandergesetzt habe, möchte ich auf­merksam machen darauf, wie die Meditation selber in ihren einfachsten Formen vollzogen wird. Ich kann mich ja heute nur mit dem Prinzi­piellen beschäftigen.

Es handelt sich darum, daß wir irgendeine Vorstellung oder einen Vorstellungskomplex in den Mittelpunkt unseres Bewußtseins rücken; es kommt gar nicht darauf an, welches der Gehalt dieses Vorstellungs­komplexes ist; aber er soll unmittelbar sein, so daß er keine Remi­niszenzen aus der Erinnerung oder dergleichen vorstellt. Daher ist es gut, wenn wir ihn nicht aus unserem Erinnerungsschatze heraufholen, sondern uns von einem anderen, der erfahren ist in solchen Dingen, die Meditation geben lassen, nicht, weil der auf uns irgendeine Sugge­stion ausüben will, sondern weil wir sicher sein können, daß dasjenige, was wir dann meditieren, etwas Neues für uns ist. Wir könnten ebenso­gut irgendein altes Werk, das wir ganz sicher noch nicht gelesen haben, nehmen, und uns einen Meditationssatz daraus suchen. Es handelt sich darum, daß wir uns nicht aus dem Unterbewußten und Unbewußten einen Satz heraufholen, der uns überwältigt. Das ist nicht überschau­bar, weil sich alle möglichen Empfindungsreste und Gefühlsreste hin-einmischen. Es handelt sich darum, daß es so überschaubar sein soll, wie ein Mathematiksatz überschaubar ist.

Nehmen wir etwas ganz Einfaches, den Satz «Im Lichte lebt die Weisheit». Das ist zunächst gar nicht darauf zu prüfen, ob es wahr ist. Es ist ein Bild. Aber es kommt nicht darauf an, daß wir irgendwie mit dem Inhalte als solchem uns anders beschäftigen, als daß wir ihn innerlich seelisch überschauen, daß wir darauf ruhen mit dem Bewußt­sein. Wir werden es anfangs nur zu einem sehr kurzen Ruhen mit dem Bewußtsein auf einem solchen Inhalte bringen. Immer länger und län­ger wird die Zeit werden.

Worauf kommt es denn an? Es kommt darauf an, daß wir den gan. zen seelischen Menschen zusammennehmen, um all das, was in uns

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Denkkraft, Empfindungskraft ist, auf den einen Inhalt zu konzen­trieren. Geradeso wie die Muskeln des Armes stark werden, wenn wir mit ihnen arbeiten, so verstärken sich die seelischen Kräfte dadurch, daß sie immer wieder und wieder auf einen Inhalt gerichtet werden. Möglichst sollte dieser eine Inhalt durch Monate, vielleicht durch Jahre derselbe bleiben. Denn die seelischen Kräfte müssen zur wirk­lichen übersinnlichen Forschung erst gestärkt, erkraftet werden.

Wenn man in dieser Weise fortübt, dann kommt der Tag, ich möchte sagen, der große Tag, an dem man eine ganz bestimmte Beobachtung macht. Die Beobachtung macht man, daß man allmählich in einer see­lischen Tätigkeit ist, die ganz unabhängig ist vom Leibe. Und man merkt auch: Vorher war man mit allem Denken und Empfinden vom Leibe abhängig, mit dem Vorstellen vom Sinnes-Nervensystem, mit dem Fühlen vom Zirkulationssystem und so weiter; jetzt fühlt man sich in einer geistig-seelischen Tätigkeit, die völlig unabhängig von jeder Leibestätigkeit ist. Und das merkt man daran, daß man nunmehr in die Lage kommt, etwas im Kopfe selber in Vibration zu versetzen, das vorher ganz unbewußt geblieben ist. Man macht jetzt die merk­würdige Entdeckung, worin der Unterschied des Schlafens vom Wa­chen besteht. Dieser Unterschied besteht nämlich darin, daß, wenn man wacht, etwas in dem ganzen menschlichen Organismus vibriert, nur nicht im Haupte: da ist dasselbe, was sonst im übrigen mensch­lichen Organismus in Bewegung ist, in Ruhe.

Um was es sich da handelt, werden wir besser einsehen, wenn ich Sie darauf aufmerksam mache, daß wir ja als Menschen nicht diese robusten, festen Körper sind, die wir gewöhnlich zu sein glauben. Wir bestehen nämlich zu neunzig Prozent ungefähr aus Flüssigkeit, und die festen Bestandteile sind nur zu etwa zehn Prozent in diese Flüssigkeit eingetaucht, schwimmen da drinnen. So daß wir vom Festen im Men­schen nicht anders als in einem unbestimmten Sinne sprechen können. Zu neunzig Prozent sind wir, wenn ich so sagen darf, Wasser. Und zu einem gewissen Teile pulsiert in diesem Wasser Luft, und dann wiederum Wärme.

Wenn Sie sich so vorstellen, daß der Mensch, der zum geringen Teile ein fester Leib ist, zum großen Teile Wasser, Luft und die darinnen

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vibrierende Wärme, so werden Sie es auch nicht mehr so sehr unglaubhaft finden, daß da etwas noch Feineres in uns ist. Und dieses Feinere will ich jetzt den Atherleib nennen. Dieser Atherleib, der ist feiner als die Luft. Er ist so fein, daß er uns durchzieht, ohne daß wir im gewöhnlichen Leben etwas davon wissen. Dieser Atherleib, der ist es, welcher im Wachen in innerlicher Bewegung ist, in einer regelmä­ßigen Bewegung im ganzen übrigen menschlichen Leib, nur nicht im Kopfe. Im Kopfe ist der Atherleib innerlich ruhig.

Im Schlafe ist das anders. Das Schlafen beginnt damit und dauert dann in der Art und Weise an, daß der Atherleib auch im Kopfe an­fängt in Bewegung zu sein. So daß wir im Schlafe als ganzer Mensch, nach Kopf und übrigem Menschen, einen innerlich bewegten Ather­leib haben. Und wenn wir träumen, sagen wir, beim Aufwachen, dann ist es so, daß wir die letzten Bewegungen des Atherleibes gerade im Aufwachen noch wahrnehmen. Die stellen sich uns als die Träume dar. Die letzten Kopf-Atherbewegungen nehmen wir beim Aufwachen noch wahr; beim schnellen Aufwachen kann das nicht der Fall sein.

Wer lange in der Weise, wie ich es angedeutet habe, meditiert, der kommt aber in die Lage, in den ruhigen Atherleib des Kopfes allmäh­lich Bilder hineinzuformen. Das nenne ich in dem Buche, das ich ange­führt habe, Imaginationen. Und diese Imaginationen, die unabhängig vom physischen Leibe im Atherleib erlebt werden, sind der erste über­sinnliche Eindruck, den wir haben können. Der bringt uns dann in die Lage, ganz abzusehen von unserem physischen Leibe, und unser Leben bis zu der Geburt hin in seinem Handeln, in seiner Bewegung wie in einem Bilde anzuschauen. Was oftmals von den Leuten beschrie­ben wird, die im Wasser untergesunken, am Ertrinken waren: daß sie ihr Leben rückwärtsschauend in bewegten Bildern gesehen haben - das kann hier systematisch ausgebildet werden, so daß man alle Ergebnisse unseres gegenwärtigen Erdenlebens darinnen sehen kann.

Das erste, was die Initiationserkenntnis gibt, ist die Anschauung des eigenen seelischen Lebens. Das ist allerdings anders, als man es gewöhnlich vermutet. Gewöhnlich vermutet man in der Abstrak­tion dieses seelische Leben als etwas, das aus Vorstellungen gewoben ist. Wenn man es in seiner wahren Gestalt entdeckt, da ist es etwas

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Schöpferisches, da ist es zugleich dasjenige, was in unserer Kindheit gewirkt hat, was unser Gehirn plastisch gebildet hat, was den übrigen Leib durchdringt und in ihm eine plastische, bildsame Tätigkeit be­wirkt, indem es unser Wachen, sogar unsere Verdauungstätigkeit jeden Tag bewirkt.

Wir sehen dieses innerlich Tätige im Organismus als den Ätherleib des Menschen. Das ist kein räumlicher Leib, das ist ein zeitlicher Leib. Daher können Sie auch als Raumesform den Atherleib nur beschreiben, wenn Sie sich bewußt sind, Sie tun dabei dasselbe, wie wenn Sie einen Blitz abmalen. Wenn Sie den Blitz abmalen, malen Sie natürlich einen Augenblick; Sie halten den Augenblick fest. Den menschlichen Äther-leib kann man auch nur so räumlich festhalten, daß das ein Augen­blick ist. In Wirklichkeit haben wir einen physischen Raumesleib und einen Zeitleib, einen Atherleib, der immer in Bewegung ist. Und es bekommt nur einen Sinn, von dem Ätherleib zu sprechen, wenn wir von diesem als Zeitleib sprechen, den wir als Einheit überschauen bis zu unserer Geburt hin, von dem Augenblick ab, wo wir in die Lage kom­men, diese Entdeckung zu machen. Das ist das erste, was wir an über­sinnlichen Anlagen in uns selbst zunächst entdecken können.

Was in der Entwickelung der Seele bewirkt wird durch solche See­lenvorgänge, wie ich sie geschildert habe, das zeigt sich vor allen Din­gen an der ganzen Veränderung der Seelenstimmung, der Seelenver­fassung desjenigen Menschen, der nach der Initiationserkenntnis hin-strebt. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen. Ich meine nicht, daß der zur Initiation Kommende nun plötzlich ein vollständig ausgewechsel­ter, anderer Mensch wird. Im Gegenteil, die moderne Initiationser­kenntnis muß den Menschen voll in der Welt drinnen stehen lassen, so daß er auch, wenn er zu ihr kommt, sein Leben so fortzusetzen ver­mag, wie er es einmal begonnen hat. Aber für diejenigen Stunden und Augenblicke, in denen übersinnliche Forschung getrieben wird, ist der Mensch allerdings durch die Initiationserkenntnis ein anderer gewor­den, als er im gewöhnlichen Leben ist.

Vor allen Dingen möchte ich ein wichtiges Moment hervorheben, das die Initiationserkenntnis auszeichnet. Das ist dies, daß der Mensch immer mehr und mehr fühlt, je weiter er vordringt in dem Erleben des

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Übersinnlichen, wie ihm seine eigene Leiblichkeit entschwindet, das heißt mit Bezug auf das, woran diese Leiblichkeit im gewöhnlichen Leben beteiligt ist. Fragen wir uns einmal, wie unsere Urteile im Leben zustande kommen. Wir wachsen auf, entwickeln uns als Kind. Es setzt sich in unserem Leben Sympathie und Antipathie fest. Sympathie und Antipathie mit Naturerscheinungen, Sympathie und Antipathie vor allen Dingen mit anderen Menschen. An alledem ist unser Körper be­teiligt. Wir legen selbstverständlich da hinein diese Sympathie und Antipathie, die zum großen Teil sogar in physischen Vorgängen unseres Leibes ihren Grund haben. In dem Augenblicke, in dem der zu In­itiierende in die übersinnliche Welt aufsteigt, lebt er sich in eine Welt ein, worin ihm diese Sympathie und Antipathie, die mit der Körper­lichkeit zusammenhängen, für das Verweilen im Übersinnlichen immer fremder und fremder werden. Er ist demjenigen entrückt, womit er durch seine Leiblichkeit zusammenhängt. Er muß, wenn er wiederum das gewöhnliche Leben aufnehmen will, sich gewissermaßen erst wie­der hineinstecken in seine gewöhnlichen Sympathien und Antipathien, was sonst ja selbstverständlich geschieht. Wenn man des Morgens auf­wacht, steckt man in seinem Leibe darinnen, entwickelt dieselbe Liebe zu den Dingen und Menschen, dieselbe Sympathie oder Antipathie, die man vorher gehabt hat. Das geschieht von selbst. Wenn man nun im Übersinnlichen verweilt und wiederum zu seinen Sympathien und Antipathien zurück will, dann muß man das mit Anstrengung tun, muß man gewissermaßen untertauchen in seine eigene Leiblichkeit. Dieses Entrücktwerden der eigenen Leiblichkeit, das ist eine der Er­scheinungen, die zeigt, daß man wirklich etwas vorwärtsgekommen ist. Überhaupt ist das Auftreten von weitherzigen Sympathien und Antipathien das, was dem Initiierten allmählich sich einverleibt.

In einem zeigt sich die Entwickelung zur Initiation hin ganz be­sonders stark, das ist in der Wirkung des Gedächtnisses, der Erinne­rung während der Initiationserkenntnis. Wir erleben uns im gewöhn­lichen Leben. Unsere Erinnerung, unser Gedächtnis ist manchmal ein bißchen besser, manchmal ein bißchen schlechter; aber wir erwerben uns das Gedächtnis. Wir haben Erlebnisse, wir erinnern uns später an sie. Mit dem, was wir in den übersinnlichen Welten erleben, ist es

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nicht so. Das können wir erleben in Größe, in Schönheit, in Bedeut­samkeit; wenn es erlebt worden ist, ist es vorbei. Und es muß wieder erlebt werden, wenn es wiederum vor der Seele stehen soll. Es prägt sich nicht im gewöhnlichen Sinne der Erinnerung ein. Es prägt sich ihr nur dann ein, wenn man erst mit aller Mühe das, was man im Übersinnlichen schaut, in Begriffe bringt, wenn man seinen Verstand mit hinüberschickt in die übersinnliche Welt. Das ist ganz schwierig. Man muß drüben nämlich geradeso denken, ohne daß einem der Leib bei diesem Denken hilft. Daher muß man vorher seine Begriffe ge­festigt haben, muß vorher ein ordentlicher Logiker geworden sein, da­mit man diese Logik nicht immer vergißt, wenn man hineinsieht. Ge­rade die primitiven Hellseher können manches schauen, aber sie ver­gessen die Logik, wenn sie drüben sind. Und so ist es, daß gerade dann, wenn man übersinnliche Wahrheiten jemand anderem mitzuteilen hat, man diese Veränderung des Gedächtnisses in bezug auf übersinnliche Wahrheiten merkt. Und man sieht daran, wie unser physischer Leib daran beteiligt ist bei der Ausübung des Gedächtnisses, nicht beim Denken, aber bei der Ausübung des Gedächtnisses, das ja ins Über­sinnliche immer hineinspielt.

Wenn ich etwas Persönliches sagen darf, so ist es das: Wenn ich selbst Vorträge halte, so ist es anders, als man sonst Vorträge hält. Da wird aus der Erinnerung oftmals gesprochen; was man gelernt hat, was man gedacht hat, wird aus der Erinnerung oftmals entwickelt. Derjenige, der wirklich übersinnliche Wahrheiten entwickelt, muß sie eigentlich immer in dem Momente, wo er sie entwickelt, erzeugen. So daß ich selber dreißig-, vierzig-, fünfzigmal denselben Vortrag halten kann, und er ist für mich nie derselbe. Das ist auch natürlich schon sonst so; aber in erhöhtem Maße ist es der Fall, dieses Unabhängigsein vom Gedächtnis, dieses Hineintragen in ein inneres Leben, wenn eine innere Stufe des Gedächtnisses erreicht ist.

Was ich Ihnen jetzt erzählt habe von der Fähigkeit, in den Äther­leib seines Hauptes die Formen hineinzubringen, die einem dann möglich machen, den Zeitleib, den Ätherleib bis zu seiner Geburt hin zu durch­schauen, das bringt schon überhaupt in eine ganz besondere Stimmung gegenüber dem Kosmos. Man verliert sozusagen seine eigene Leiblichkeit,

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aber man fühlt sich hineinlebend in den Kosmos. Das Bewußtsein dehnt sich gewissermaßen in der Weite des Äthers aus. Man schaut keine Pflanze mehr an, ohne daß man untertaucht in ihr Wachstum. Man verfolgt sie von der Wurzel bis zur Blüte. Man lebt in ihren Säf­ten, in ihrem Blühen, in ihrem Fruchten. Man kann sich vertiefen in das Leben der Tiere nach ihrer Form, insbesondere aber in das Leben des anderen Menschen. Der leiseste Zug, der einem entgegentritt am anderen Menschen, führt einen sozusagen hinein in das ganze Seelen-leben, so daß man fühlt, man ist jetzt nicht in sich, sondern man ist, während dieses übersinnlichen Erkennens, außer sich.

Aber man muß immer wieder - das ist notwendig - zurückkehren können, sonst ist man ein träger, nebuloser Mystiker, ein Schwärmer und kein Erkenner der übersinnlichen Welten. Man muß zu gleicher Zeit in den übersinnlichen Welten leben können und zu gleicher Zeit sich wiederum zurückversetzen können, so daß man fest auf seinen beiden Beinen stehen kann. Daher muß ich schon, wenn ich solche Dinge über die übersinnlichen Welten auseinandersetze, betonen, daß für mich eigentlich zu einem guten Philosophen noch mehr als die Logik dies gehört, daß man weiß, wie ein Schuh oder ein Rock genäht wird, daß man praktisch im Leben wirklich drinnensteht. Man sollte eigentlich nicht über das Leben denken, wenn man nicht praktisch im Leben wirk­lich drinnensteht. Das aber ist in einem noch erhöhten Maße der Fall für denjenigen, der übersinnliche Erkenntnisse sucht. Übersinnliche Er-kenner können keine Träumer, keine Schwärmer werden, keine Men­schen, die nicht auf beiden Beinen dastehen. Sonst verliert man sich, weil man ja tatsächlich außer sich kommen muß. Aber dieses Außer-sich-Kommen darf nicht dazu führen, daß man sich verliert. Aus einer solchen Erkenntnis, wie ich sie geschildert habe, ist das Buch ge­schrieben das im Deutschen heißt: «Geheimwissenschaft im Umriß» und im Englischen: «Occult Science - An Outline».

Dann aber handelt es sich darum, daß man in dieser übersinnlichen Erkenntnis weiterdringen kann. Das geschieht dadurch, daß man die Meditation jetzt weiter ausbildet. Man ruht zunächst mit der Medi­tation auf bestimmten Vorstellungen oder Vorstellungskomplexen und verstärkt dadurch das Seelenleben. Das genügt noch nicht, um völlig

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in die übersinnliche Welt hineinzukommen, sondern dazu ist notwen­dig, daß man sich auch noch darin übt, nicht nur auf Vorstellungen zu ruhen, nicht nur gewissermaßen die ganze Seele hin zu konzentrieren auf diese Vorstellungen, sondern sie immer nach Willkür auch aus dem Bewußtsein hinauswerfen zu können. So wie im sinnlichen Leben man auf irgend etwas hin- und wieder wegschauen kann, so muß man lernen, in der übersinnlichen Entwickelung sich auf einen Seeleninhalt scharf zu konzentrieren und ihn wiederum aus der Seele hinauswer­fen zu können.

Das ist manchmal schon im gewöhnlichen Leben nicht leicht. Den­ken Sie, wie wenig der Mensch es in der Hand hat, seine Gedanken im­mer wieder wegzutreiben. Manchmal verfolgen Gedanken, namentlich wenn sie unangenehm sind, den Menschen tagelang. Er kann sie nicht wegwerfen. Es wird das aber noch viel schwieriger, wenn wir uns erst daran gewöhnt haben, uns auf den Gedanken zu konzentrieren. Ein Gedankeninhalt, auf den wir uns konzentriert haben, der beginnt uns zuletzt festzuhalten, und wir müssen alle Mühe aufwenden, ihn wie­der wegzuschaffen. Wenn wir uns darin lange geübt haben, dann bringen wir uns dahin, diesen ganzen Rückblick auf das Leben bis zur Geburt hin, diesen ganzen Ätherleib, wie ich ihn nenne, diesen Zeitleib, auch wegzuschaffen, hinauszuwerfen aus unserem Bewußtsein.

Das ist natürlich eine Entwickelungsstufe, zu der wir es bringen müssen. Wir müssen erst reif werden; durch Wegschaffen von meditier­ten Vorstellungen müssen wir uns die Kraft aneignen, diesen seelischen Koloß, diesen seelischen Riesen wegzuschaffen; der ganze furchtbare Haifisch unseres bisherigen Lebens zwischen unserem jetzigen Augen­blick und der Geburt steht vor uns - den müssen wir wegschaffen. Schaffen wir ihn weg, dann tritt für uns etwas ein, was ich nennen möchte «wacheres Bewußtsein». Dann sind wir bloß wach, ohne daß in dem wachen Bewußtsein etwas darinnen ist. Aber das füllt sich jetzt. Geradeso wie einströmt in die Lunge die Luft, deren sie bedürftig ist, so strömt jetzt in das leere Bewußtsein, das auf die Weise, wie ich es geschildert habe, entstanden ist, die wirklich geistige Welt ein.

Das ist die Inspiration. Da strömt jetzt etwas ein, was nicht etwa ein feinerer Stoff ist, sondern was sich zum Stoffe verhält, wie sich zu

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dem Positiven das Negative verhält. Was das Entgegengesetzte des Stoffes ist, das strömt jetzt in die vom Äther frei gewordene Mensch­lichkeit herein. Das ist das Wichtige, daß wir gewahr werden können:

Geist ist nicht nur ein noch feinerer, ein noch ätherischer gewordener Stoff; das ist nicht wahr. Wenn wir den Stoff das Positive nennen -wir könnten ja auch den Stoff das Negative nennen, darauf kommt es nicht an, die Dinge sind relativ -, dann müssen wir den Geist in bezug auf das Positive das Negative nennen. Es ist so, wie wenn ich, sa­gen wir, das große Vermögen von fünf Shilling im Portemonnaie habe. Ich gebe einen heraus, dann habe ich noch vier Shilling; ich gebe noch einen heraus, habe noch drei und so weiter, bis ich keinen mehr habe. Dann kann ich Schulden machen. Wenn ich einen Shilling Schulden habe, habe ich weniger als keinen Shilling.

Wenn ich durch die Methode, die ich ausgebildet habe, den Äther­leib weggeschafft habe, komme ich nicht in einen noch feineren Äther hinein, sondern in etwas, was dem Äther entgegengesetzt ist, wie die Schulden dem Vermögen. Und jetzt weiß ich erst aus Erfahrung, was Geist ist. Der Geist kommt durch Inspiration in einen herein, und das erste, was wir jetzt erleben, das ist dasjenige, was vor der Geburt be­ziehungsweise vor der Empfängnis mit unserer Seele und mit unserern Geiste in einer geistigen Welt war. Das ist das präexistente Leben unseres Seelisch-Geistigen. Vorher haben wir es im Äther geschaut bis zu unserer Geburt hin. Jetzt schauen wir über die Geburt beziehungs­weise Empfängnis hinaus in die geistig-seelische Welt, und kommen dazu, uns wahrzunehmen, wie wir waren, bevor wir heruntergestie­gen sind aus geistigen Welten und einen physischen Leib durch die Vererbungslinie angenommen haben.

Diese Dinge sind für die Initiationserkenntnis nicht philosophische Wahrheiten, die man erdenkt, sie sind Erfahrungen, aber Erfahrungen, die erst erworben werden müssen, indem man sich so für sie vorbereitet, wie ich es jetzt angedeutet habe. Und so ist das erste, was uns wird, indem wir in die geistige Welt eintreten, die Wahrheit von der Prä­existenz der Menschenseele beziehungsweise des Menschengeistes, und wir lernen jetzt das Ewige unmittelbar anschauen.

Seit vielen Jahrhunderten hat die europäische Menschheit die Ewigkeit

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immer nur nach der einen Seite angesehen, nach der Seite der Un­sterblichkeit. Sie hat immer nur gefragt: Was wird aus der Seele, wenn sie den Leib verläßt mit dem Tode? Es ist das ja das egoistische Recht der Menschen, denn die Menschen interessieren sich dafür, was dann folgt, wenn der Tod eingetreten ist, aus egoistischen Gründen. Wir werden gleich nachher sehen, daß wir auch über die Unsterblichkeit sprechen können, aber zumeist wird über die Unsterblichkeit aus ego­istischen Gründen gesprochen. Das, was vor der Geburt war, dafür in­teressieren sich die Menschen weniger. Sie sagen sich: Wir sind ja da. Was vorhergegangen ist, hat nur einen Erkenntniswert. - Aber einen wahren Erkenntniswert gewinnt man nicht, wenn man nicht seine Erkennt­nisse auf das richtet, was unser Dasein vor der Geburt beziehungs­weise vor der Konzeption enthält.

Wir brauchen in den modernen Sprachen ein Wort, wodurch das Ewige erst vollständig wird. Wir sollten nicht nur von Unsterblichkeit reden, wir sollten auch - das wird etwas schwer zu übersetzen sein -von Ungeborenheit sprechen; denn die Ewigkeit besteht aus Unsterb­lichkeit und Ungeborenheit, und die Ungeborenheit entdeckt die Ini­tiationserkenntnis vor der Unsterblichkeit.

Eine weitere Stufe der Entwickelung nach der übersinnlichen Welt hin kann dadurch erreicht werden, daß wir in unserer geistig-seelischen Betätigung noch weiter loszukommen suchen von der leiblichen Stütze. Das kann dadurch geschehen, daß wir nun die Übungen der Meditation und Konzentration mehr hinüberlenken nach Willensübungen.

Nun möchte ich Ihnen eine einfache Willensübung als konkretes Beispiel vor die Seele führen, an der Sie das Prinzip, das hier in Be­tracht kommt, studieren können. Wir sind im gewöhnlichen Leben dar­an gewöhnt, mit dem Verlauf der Welt zu denken. Wir lassen die Dinge, wie sie geschehen, an uns herantreten. Das, was früher an uns herantrat, denken wir früher, was später an uns herantrat, denken wir später. Und selbst wenn wir in dem mehr logischen Denken nicht mit dem zeitlichen Verlauf mitdenken, so ist doch im Hintergrunde die Bemühung vorhanden, uns an den äußeren, wirklichen Verlauf der Tatsachen zu halten. Um uns im geistig-seelischen Kräfteverhält­nisse zu üben, müssen wir loskommen von dem äußerlichen Verlauf

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der Dinge. Und da ist eine gute Übung, die zugleich eine Willensübung ist, diese, wenn wir versuchen, unsere Tageserlebnisse, wie wir sie vom Morgen bis zum Abend erleben, eben nicht vom Morgen bis zum Abend, sondern vom Abend zum Morgen hin rückwärts durchzudenken und da­bei möglichst auf die Einzelheiten einzugehen.

Nehmen wir an, wir kommen bei einer solchen Rückschau auf das Tagesleben dazu: Wir gingen eine Treppe hinan. Wir stellen uns vor, wir sind zuerst oben, dann auf der letzten, vorletzten Stufe und so weiter. Wir gehen umgekehrt herunter. - Wir werden anfangs nur in der Lage sein, uns Episoden vom Tagesleben auf diese Weise rückwärts vorzustellen, etwa von sechs bis drei, von zwölf bis neun Uhr und so weiter, bis zum Momente des Aufwachens. Aber wir werden uns all­mählich eine Art Technik aneignen, durch die wir in der Tat wie in einem rückwärtsgewendeten Tableau am Abend oder am nächsten Morgen in der Lage sind, das Tagesleben oder das vorherige Tages-leben vor unserer Seele in Bildern nach rückwärts vorüberziehen zu lassen. Wenn wir in der Lage sind - und darauf kommt es an -, mit unserem Denken ganz loszukommen von der Art, wie die Wirklichkeit verläuft, dreidimensional, dann werden wir sehen, wie eine ganz un­geheure Verstärkung unseres Willens eintritt. Wir werden das auch erreichen, wenn wir in die Lage kommen, eine Melodie umgekehrt zu empfinden, oder wenn wir uns vorstellen ein Drama von fünf Akten, rückwärts verlaufend vom fünften, vierten Akt und so weiter zum ersten. Durch alle diese Mittel stärken wir den Willen, indem wir ihn innerlich erkraften und äußerlich losreißen von seinem sinnlichen Ge­bundensein an die Ereignisse.

Dazu können solche Übungen treten, wie ich sie schon in vorigen Vorträgen angedeutet habe, daß wir uns anschauen, wie wir die eine oder die andere Gewohnheit haben. Wir nehmen uns fest vor und wenden eisernen Willen an, um dann in ein paar Jahren in dieser Rich­tung eine andere Gewohnheit angenommen zu haben. Ich erwähne zum Beispiel nur, daß jeder Mensch in der Schrift etwas hat, was man den Charakter derselben nennt. Wenn wir uns anstrengen, eine andere Schrift zu bekommen, die gar nicht mehr der früheren ähnlich ist, so gehört dazu eine innere starke Kraft. Nur muß uns dann die zweite

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Schrift ebenso habituell, ebenso geläufig werden wie die erste. Das ist nur eine Kleinigkeit. So gibt es vieles, wodurch wir die ganze Grund-richtung unseres Willens durch unsere eigene Energie ändern können. Dadurch bringen wir es allmählich dahin, nun nicht nur die geistige Welt als Inspiration in uns hereinzubekommen, sondern wirklich mit unserem vom Leibe frei gewordenen Geiste in die anderen geistigen Wesen, die außer uns sind, unterzutauchen. Denn wirklich geistiges Erkennen ist ein Untertauchen in die Wesenheiten, die geistig um uns sind, wenn wir physische Dinge anschauen. Wenn wir Geistiges er­kennen wollen, müssen wir erstens aus uns heraus. Das habe ich ge­schildert. Dann aber müssen wir uns auch die Fähigkeit aneignen, uns wiederum in die Dinge, nämlich in die geistigen Dinge und Wesen­heiten hinein zu versenken.

Das können wir nur, nachdem wir auch solche initiationsübungen gemacht haben, wie ich sie eben jetzt beschrieben habe, wo wir in der Tat gar nicht mehr gestört werden durch unseren eigenen Körper, son­dern wo wir in das Geistige der Dinge untertauchen können; wo uns auch nicht mehr die Farben der Pflanzen erscheinen, sondern wo wir in die Farben selber hineintauchen, wo wir nicht mehr die Pflanzen gefärbt, sondern sich färben sehen. Indem wir wissen, daß die Zichorie, die am Wege wächst, nicht nur blau ist, wenn wir sie anschauen, son­dern daß wir in die Blüte innerlich untertauchen können und das Blau-werden mitmachen, stehen wir intuitiv in diesem Prozesse drinnen, und dann können wir, von da ausgehend, unsere geistige Erkenntnis immer mehr und mehr ausdehnen.

Daß wir wirklich vorwärts gekommen sind mit solchen Übungen, können wir dann an einzelnen Symptomen sehen. Ich möchte zwei an­führen, aber es gibt viele. Das erste besteht darin, daß wir über die moralische Welt ganz andere Anschauungen bekommen als vorher. Die moralische Welt hat für den reinen Intellektualismus etwas Un­reales. Gewiß, der Mensch fühlt sich verpflichtet, wenn er noch an-ständig geblieben ist innerhalb der materialistischen Zeit, das, was alt­hergebrachtes Gutes ist, pflichtgemäß zu tun; aber er denkt doch, wenn er es sich auch nicht gesteht: damit, daß man das Gute getan hat, ist nicht so etwas geschehen, wie wenn ein Blitz durch den Raum fährt,

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oder ein Donner durch den Raum rollt. An Reales in solchem Sinne denkt er nicht. Wenn man sich in die geistige Welt hineinlebt, wird man gewahr, daß die moralische Weltordnung nicht nur eine solche Realität hat wie die physische, sondern daß sie eine höhere Realität hat. Man lernt allmählich verstehen, daß diese ganze Zeit mit ihren physischen Ingredienzen und Vorgängen zugrunde gehen kann, sich auflösen kann; aber das, was moralisch aus uns fließt, besteht fort in seinen Wirkungen. Die Realität der moralischen Welt geht uns auf. Und physische und moralische Welt, Sein und Werden, das wird Eines. Wir erleben wirklich, daß die Welt auch moralische Gesetze als ob­jektive Gesetze hat.

Das steigert die Verantwortlichkeit gegenüber der Welt. Das gibt uns überhaupt ein ganz anderes Bewußtsein, ein Bewußtsein, das die moderne Menschheit gar sehr braucht. Diese moderne Menschheit, die hinschaut auf den Erdenanfang, wie die Erde sich herausgebildet hat aus einem Urnebel, wie da aufgestiegen ist aus diesem Urnebel das Le­ben, der Mensch, und aus diesem heraus wie eine Fata Morgana die Ideenwelt. Diese Menschheit, die hinschaut auf den Wärmetod, so daß alles, worin die Menschheit lebt, wiederum untergetaucht wird in ein großes Gräberfeld desjenigen, worin die Menschheit lebt, diese Mensch­heit braucht die Erkenntnis von der moralischen Weltordnung. Sie wird im Grunde genommen durch spirituelle Erkenntnis voll errun­gen. Das kann ich nur andeuten.

Das andere aber ist, daß man nicht zu diesem intuitiven Erkennen, zu diesem Untertauchen in die äußeren Dinge kommen kann, ohne daß man durch ein gesteigertes Leiden durchgegangen ist, gesteigert ge­genüber demjenigen Schmerz, den ich schon früher bei der imaginati­ven Erkenntnis charakterisieren mußte, indem ich sagte, daß man sich ja mit Mühe erst wiederum hineinfinden muß in seine Sympathien und Antipathien, was eigentlich immer, wenn es geschehen muß, schmerzt. Jetzt wird der Schmerz zu einem kosmischen Miterleben alles Leidens, das auf dem Grunde des Daseins liegt.

Man kann leicht fragen, warum die Götter oder Gott das Leiden schaffen. Das Leiden muß da sein, wenn sich die Welt in ihrer Schön­heit erheben soll. Daß wir Augen haben - ich will mich populär ausdrücken -,

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das rührt nur davon her, daß zuerst in einem noch undiffe­renzierten Organismus gewissermaßen ausgegraben worden ist das­jenige an Organischem, was zur Sehkraft und dann umgewandelt zum Auge geführt hat. Würden wir heute noch die kleinen, unbedeutend­sten Prozesse wahrnehmen, die in unserer Netzhaut beim Sehen vor sich gehen, so würden wir wahrnehmen, daß selbst das ein auf dem Grunde des Daseins ruhender Schmerz ist. Auf dem Grunde des Lei­dens ruht alle Schönheit. Schönheit kann sich nur aus dem Schmerz heraus entwickeln. Diesen Schmerz, dieses Leiden, man muß es fühlen können. Nur dadurch kann man sich wirklich hineinfinden in die übersinnliche Welt, daß man durch Schmerz hindurchgeht. Das kann man schon in einem minderen Grade auf einer niederen Stufe der Erkenntnis sagen. Jeder, der sich ein wenig Erkenntnis erworben hat, wird Ihnen ein Geständnis machen können; er wird Ihnen sagen: Für das, was ich Glückliches, Erfreuliches im Leben gehabt habe, bin ich meinem Schicksal dankbar, meine Erkenntnisse aber habe ich nur durch meine Schmerzen, nur durch meine Leiden errungen.

Fühlt man das schon im Anfange niederer Erkenntnis gegenüber, so kann man es durchleben, indem man sich überwindet, indem man sich durch den Schmerz, der als kosmischer Schmerz gefühlt wird, hindurchwindet zum neutralen Erleben im geistigen Kosmos. Man muß sich zum Miterleben des Geschehens und Wesens aller Dinge hin­durcharbeiten, dann ist die intuitive Erkenntnis da. Dann ist man aber auch vollständig in einem erkennenden Erleben drinnen, das nicht mehr an den Leib gebunden ist, das frei zurückkehren kann zum Leibe, um wiederum in der sinnlichen Welt zu sein bis zum Tode, das aber jetzt voll weiß, was es heißt, real sein, geistig-seelisch wirklich sein außerhalb des Leibes.

Hat man das begriffen, dann hat man ein Erkenntnisbild desjeni­gen, was geschieht, wenn man im wirklichen Tode den physischen Leib verläßt, dann weiß man, was es heißt, durch die Pforte des To­des zu gehen. Die Realität, die einem entgegentritt, daß das Geistig-Seelische in eine geistig-seelische Welt übertritt, indem es den Leib zu­rückläßt, das erlebt man erkennend vor, wenn man bis zur intuitiven Erkenntnis aufgestiegen ist, das heißt, wenn man weiß, wie es ist in

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der Welt, wenn man keinen Leib hat, der zur Stütze dient. Man kehrt dann mit dieser Erkenntnis, wenn man sie zum Begriffe gebracht hat, wiederum in den Leib zurück. Aber das Wesentliche ist, daß man auch ohne den Leib leben lernt, und damit sich auch eine Erkenntnis er­wirbt, wie es ist, wenn man einmal den Leib nicht mehr brauchen kann, wenn man ihn ablegt mit dem Tode und übertritt in eine geistig­seelische Welt.

Wieder ist es nicht eine philosophische Spekulation, die von der Initiationserkenntnis über die Unsterblichkeit gegeben wird, sondern eine Erfahrung, die, ich möchte sagen, eine Vorerfahrung, ein Vorer­lebnis ist. Man weiß, wie es dann sein wird. Man erlebt nicht die volle Realität, aber man erlebt ein reales Bild, das sich in einer gewissen Weise deckt mit der vollen Realität des Sterbens. Man erlebt die Un­sterblichkeit. Es ist also auch in dieser Beziehung ein Erlebnis, das hereingeholt wird in die Erkenntnis.

Nun, ich habe versucht, Ihnen zu schildern, wie man aufsteigt durch Imagination zur Inspiration und Intuition, und wie man dadurch zu­nächst sich selbst als Menschen in seiner vollen Realität kennenlernt. Im Leibe lernt man sich erkennen, solange man eben im Leibe ist. Mit dem Geistig-Seelischen frei werden muß man vom Leibe, dann löst man erst den ganzen Menschen. Denn, was man erkennt durch den Leib, durch seine Sinne, durch das, was sich anschließt an die Sinnes-erfahrungen als Denken, und was für das gewöhnliche Denken doch an den Leib, nämlich an das Sinnes-Nervensystem gebunden ist: mit dem lernt man nur ein Glied des Menschen kennen. Den ganzen vollen Menschen lernt man nur erkennen, wenn man den Willen hat, aufzu­steigen zu denjenigen Erkenntnissen, die eben aus der Initiationswis­senschaft kommen.

Noch einmal möchte ich betonen: Sind die Dinge erforscht, dann kann jeder, wenn er mit unbefangenem Sinn an sie herangeht, sie mit dem gewöhnlichen gesunden Menschenverstand einsehen, ebenso wie man das, was die Astronomen, was die Biologen über die Welt sagen, mit dem gesunden Menschenverstand nachprüfen kann. Und man wird dann finden, daß dieses Nachprüfen die erste Stufe der Initiationser-kenntnis ist. Man muß zuerst, weil der Mensch nicht auf Unwahrheit

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und Irrtum, sondern auf Wahrheit angelegt ist, einen Wahrheitsein­druck haben von der Initiationserkenntnis; dann wird man, soweit es das Schicksal möglich macht, schon in diesem Erdenleben immer weiter in die geistige Welt eindringen können. Es muß sich auch in der neueren Zeit, und zwar in einer höheren Weise erfüllen, was über dem griechischen Tempel als Aufforderung stand: «Mensch, erkenne dich selbst! » Damit war gewiß nicht gemeint ein Hineintreten in das mensch­liche Innere, sondern eine Aufforderung, zu forschen nach der mensch­lichen Wesenheit: nach dem Wesen der Unsterblichkeit = Leib, nach dem Wesen der Ungeborenheit = unsterblicher Geist, und nach der Vermittlung zwischen der Erde, dem Zeitlichen und dem Geiste = See­lisches. Denn der wahre, der wirkliche Mensch besteht aus Leib, Seele und Geist. Den Leib kann der Leib, die Seele kann die Seele, den Geist kann nur der Geist erkennen. Daher muß versucht werden, selber den Geist in sich als tätig zu finden, damit der Geist auch in der Welt er­kannt werden kann.

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NEUNTER VORTRAG Oxford, 22. August 1922

Heute wollen wir einiges betrachten, was manche von den uns bekann­ten Wahrheiten für einen weiteren Kreis von Anthroposophen zusam­menfassen kann. Sie kennen vielleicht die Art der Beschreibung, die ich in meinem Buche «Theosophie» gegeben habe, von jenen Welten, die der Mensch zu durchleben hat zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Ich will heute einiges aus diesen Welten zunächst von einem etwas anderen Gesichtspunkte aus schildern, als es in jenem Buche ge­geben ist.

In jenem Buche sind zum größten Teil Imaginationen gebraucht für die seelische und für die geistige Welt, durch die der Mensch durchgeht, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist, um sich hinauf zu entwickeln zu einem neuen Erdenleben. Ich will heute nicht so sehr von einem imaginativen Standpunkte aus Ihnen die Sache schildern, als von dem Standpunkte, der sich mehr der Inspiration ergibt. Da kön­nen wir, um überhaupt die Möglichkeit eines Verständnisses zu ge­winnen, von den Erlebnissen, die wir innerhalb des Erdenlebens haben, ausgehen.

Da stehen wir in irgendeinem Zeitpunkte zwischen Geburt und Tod in unserem physischen Leib der Welt gegenüber. Wir nennen das­jenige, was innerhalb unserer Haut ist, was innerhalb unseres physi­schen Leibes ist, eben unseren Menschen, unser Menschenwesen. Wir setzen voraus, daß dieses Menschenwesen nicht nur die anatomischen und die physiologischen Vorgänge birgt, sondern setzen voraus, daß da drinnen auch irgendwie die seelischen und geistigen Vorgänge spie­len. Aber wir sprechen von uns, indem wir dabei dasjenige meinen, was innerhalb unserer Haut liegt, und wir sehen in die Welt hinaus, die Welt ist um uns herum, die nennen wir unsere Außenwelt. Nun wissen wir, daß wir uns Vorstellungsbilder machen von dieser Außen­welt, diese Vorstellungsbilder leben dann in uns. So daß wir um uns herum die Außenwelt haben und gewissermaßen Spiegelbilder der Außenwelt in unserem Seelenleben drinnen.

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Wenn wir nun in dem Leben sind zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, da sind wir in derselben Welt drinnen, die jetzt unsere Außenwelt ist hier auf Erden. Alles dasjenige, was Sie genauer sehen können oder nur ahnen können als Außenwelt, das ist dann Ihre In­nenwelt. Zu dem sagen Sie dann: Mein Ich. - So wie Sie jetzt zu Ihrem Ich gehörend Ihre Lunge ansehen, so sehen Sie dann zwischen dem Tode und einer neuen Geburt die Sonne und den Mond als Ihre Organe an, als dasjenige, was in Ihnen drinnen ist. Und die einzige Außenwelt, die Sie dann haben, das sind Sie selbst, wie Sie auf Erden sind: Das sind Ihre irdischen Organe.

Wenn wir hier auf der Erde sagen: In uns eine Lunge, in uns ein Herz; außer uns eine Sonne, außer uns ein Mond, außer uns ein Tier­kreis -, so sagen wir in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt: In uns ein Tierkreis, in uns die Sonne, in uns der Mond, außer uns Lunge, außer uns Herz. - Alles dasjenige, was wir jetzt innerhalb unserer Haut tragen, das wird immer mehr und mehr zwischen dem Tode und einer neuen Geburt unsere Außenwelt, unser Universum, unser Kosmos. Es ist die Anschauung über das Verhältnis von Welt und Mensch völlig entgegengesetzt, wenn wir leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Und so ist es, daß, wenn wir den Tod durchleben, wenn wir also durch die Pforte des Todes schreiten, wir zunächst ein deutliches Bild haben von dem, was da war, wie wir auf Erden waren - nur ein Bild. Sie müssen sich vorstellen, daß dieses Bild auf Sie den Eindruck der Außenwelt macht. Zuerst haben Sie dieses Bild als eine Art Erschei­nung in sich. Und Sie haben nach dem Tode zuerst noch ein Bewußt­sein von dem, was Sie auf Erden hier als Mensch waren, in der Gestalt von irdischen Erinnerungen und irdischen Bildern.

Aber die hören immer mehr und mehr auf, und Sie schreiten immer mehr und mehr fort in der Anschauung des Menschen: Ich, Welt -Universum, Mensch. Das steigert sich immer mehr und mehr. Nur müs­sen Sie nicht sich vorstellen, daß dann die Lunge so aussieht, wie sie jetzt aussieht. Es würde nicht ein Anblick sein, der Ihnen ersetzen könnte den schönen Anblick von Sonne und Mond; aber dasjenige, was dann Lunge ist, was Herz ist, das ist etwas viel Großartigeres, etwas

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viel Gewaltigeres, als was jetzt Sonne und Mond vor dem mensch­lichen Auge sind.

Man bekommt auf diese Weise wirklich erst einen Eindruck von dem, was eigentlich Maja ist. Die Menschen sprechen von Maja, von der großen Täuschung, die die irdische Welt hier ist, aber sie glauben nicht recht daran; die Menschen, sie glauben doch immer im Ge­heimen, daß alles so ist, wie es hier vor irdischen Augen ausschaut. Das ist aber nicht der Fall. Die Lunge ist nur ein Scheingebilde, das Herz ist nur ein Scheingebilde. In Wahrheit ist unsere Lunge nur ein großartiger Teil unseres Kosmos, und unser Herz erst recht; denn un­ser Herz ist in seiner Wahrheit etwas viel Majestätischeres, etwas viel Großartigeres als eine Sonne.

Wir sehen allmählich tatsächlich eine ungeheure kosmische Welt aufgehen, von der wir so sprechen, daß wir dann auch sagen: Unten ist der Himmel. Aber wir meinen eigentlich: Unten ist dasjenige, was das menschliche Haupt vorbereitet in der nächsten Inkarnation; oben, sagen wir dann, ist das Untere. Es kehrt sich alles um. Dort sind alle die Kräfte, welche den Menschen vorbereiten, um zu der Erde zu ge­hen, um gewissermaßen im nächsten irdischen Leben auf seinen zwei Beinen zu stehen.

Das können wir dann zusammenfassen in die Worte: Je mehr wir uns einem neuen Erdenleben nähern, desto mehr zieht sich gewisser­maßen das Universum Mensch für uns zusammen. Wir werden immer mehr und mehr gewahr, wie dieses zuerst majestätische Universum -majestätisch ist es insbesondere in der Mitte zwischen dem Tode und einer neuen Geburt -, wie dieses majestätische Universum Mensch ge­wissermaßen zusammenschrumpft, wie aus den Planeten, die wir in uns tragen, aus dem Weben der Planeten dasjenige wird, was dann im menschlichen Ätherleib vibriert, pulsiert; wie aus demjenigen, was die Fixsterne im Tierkreis sind, dasjenige wird, was unser Sinnes-Nerven-leben ausbildet. Das schrumpft zusammen, das bildet sich, wird ein zuerst geistiger, dann ätherischer Leib. Er wird erst dann aufgenom­men vom mütterlichen Schoß und mit irdischer Materie umkleidet, wenn er ganz klein geworden ist.

Und da kommt dann der Augenblick, wo wir uns dem irdischen

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Leben nähern, wo wir gewissermaßen entschwinden fühlen das Uni­versum, das wir früher gehabt haben. Es schrumpft zusammen, es wird kleiner. Und das erzeugt in uns die Sehnsucht, wiederum herunterzu­kommen auf die Erde, uns wiederum zu verbinden mit einem physi­schen Leib, weil gewissermaßen vor dem geistigen Blick dieses Uni­versum sich zurückzieht. Wir sehen hin, wie wir Mensch werden. Und wir müssen da mit ganz anderen Zeiträumen rechnen. Das Leben zwi­schen Tod und neuer Geburt ist Jahrhunderte lang, und wenn ein Mensch im 20. Jahrhundert geboren ist, so bereitet sich langsam, etwa schon im 16. Jahrhundert, sein Herunterstieg vor. Und da ist er es, der Mensch, der dann in einer gewissen Beziehung auf die irdischen Verhältnisse herunterwirkt.

Ein Ururgroßvater von Ihnen hat im 16. Jahrhunderte sich verliebt in eine Ururgroßmutter; die fühlten einen Drang, zueinander zu kom­men. Da, in diesem Drang zusammenzukommen, da wirkten Sie schon aus den geistigen Welten herein. Und als dann im 17. Jahrhundert ein weniger ferner Ururgroßvater eine weniger ferne Ururgroßmutter liebte, da waren Sie wiederum in gewissem Sinne der Vermittler. Sie suchten sich die ganze Generation zusammen, damit zuletzt dasjenige herauskomme, was Ihre Mutter und Ihr Vater sein konnten.

Und in diesem mysteriösen Unbestimmten, das in den irdischen Liebe-verhältnissen liegt, sind die Kräfte im Spiele, die von denen ausgehen, welche künftige Inkarnationen suchen. Daher ist auch niemals völlige Freiheit, völliges Bewußtsein bei dem, was für die äußeren Verhältnisse zusammenführt die männlichen und die weiblichen Personen. Das sind Dinge, die heute ganz außerhalb des Verständnisses der Menschen liegen.

Was wir heute Geschichte nennen, ist ja eigentlich nur etwas ganz Äußerliches. Von der Seelengeschichte der Menschen haben wir ja im äußeren Leben heute nicht viel drin. Daß die Seelen der Menschen ganz anders gefühlt haben im 12., 13.Jahrhundert noch, davon wissen ja die heutigen Menschen nichts. Nicht so deutlich, wie ich es jetzt ausgesprochen habe, mehr traumhaft wußten die Menschen im 10., 11., 12. Jahrhunderte noch von solchen geheimnisvollen Kräften, die aus der geistigen Welt hereinwirken, aber von Menschenseelen hereinwirken. Man hat nicht viel im Abendlande ausgesprochen von den wiederholten

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Erdenleben, von der Reinkarnation. Aber überall hat es Menschen gegeben, die von diesen Dingen gewußt haben. Nur die Kirchen haben immer alle Gedanken gerade an wiederholte Erdenle­ben ausgeschaltet, verdammt. Und Sie müssen sich eigentlich eine Vor­stellung darüber machen, daß viele Menschen in Europa bis ins 12., 13. Jahrhundert herein gewußt haben, daß der Mensch wiederholte Erden-leben durchmacht.

Dann kam die Zeit, in welcher die Menschheit des Abendlandes sich entwickeln sollte durch die Intellektualität hindurch. Der Mensch muß sich allmählich seine Freiheit erwerben. Freiheit gab es nicht in alten Zeiten, wo traumhaftes Helisehen war. Freiheit gibt es auch nicht in jenen Menschenverhältnissen - höchstens einen Glauben an die Frei­heit -, die, sagen wir, von der irdischen Liebe beherrscht sind, wie ich sie jetzt eben geschildert habe. Da ist immer das Interesse der auf die Erde herabkommenden Seelen im Spiele.

Aber die Menschheit muß doch innerhalb der Erdenentwickelung immer freier und freier werden. Nur dann erreicht die Erde das Ziel der Entwickelung, wenn die Menschheit immer freier und freier wird. Dazu ist aber Intellektualität in einem bestimmten Zeitalter notwen­dig gewesen. Dieses Zeitalter ist das unsrige. Denn wenn Sie zurück­schauen in frühere Erdenverhältnisse, wo die Menschen ein traumhaf­tes Hellsehen gehabt haben, da lebten in dem traumhaften Hellsehen immer geistige Wesenheiten darinnen. Der Mensch konnte damals nicht sagen: Ich habe meine Gedanken im Kopfe. - Das wäre falsch gewe­sen. Er mußte in alten Zeiten sagen: Ich habe das Leben von Engeln im Kopfe. - Und später mußte er sagen: Ich habe das Leben von Ele­mentargeistern im Kopfe. - Dann kam erst das 15. Jahrhundert, und im 19., 20., da hat der Mensch gar nichts mehr von Geistigem im Kopfe, nur Gedanken hat er im Kopfe, Gedanken.

Dadurch, daß er nichts mehr von einem höheren Geistigen in sich hatte, nur Gedanken, dadurch konnte er sich Bilder von der Außen­welt machen. Aber konnte der Mensch frei sein, solange die Geister in ihm lebten? Das konnte er nicht. Die dirigierten ihn ganz und gar, gaben alles. Der Mensch konnte erst frei werden, als keine Geister ihn mehr dirigierten, als er nur Gedankenbilder hatte.

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Gedankenbilder können Sie zu nichts zwingen. Wenn Sie sich vor den Spiegel stellen - die Spiegelbilder können noch so böse Menschen sein, sie werden Ihnen nie eine Ohrfeige geben; eine wirkliche Ohr­feige nie, weil sie keine Realität haben, weil sie Bilder sind. Wenn ich mich zu etwas entschließen will, so kann ich das im Spiegelbild nach-bilden lassen; aber das Bild kann sich zu nichts entschließen.

In dem Zeitalter, wo die Intellektualität nur Gedanken in unseren Kopf setzt, da entsteht die Freiheit, denn Gedanken können nicht zwin­gen. Wenn wir unsere moralischen Impulse nur reine Gedanken sein lassen, wie ich es in meiner «Philosophie der Freiheit» dargestellt habe, dann können wir uns die Freiheit in unserem Zeitalter erringen. So mußte die intellektualistische Zeit heraufkommen. Es klingt sonderbar, aber es ist so: Im wesentlichen ist die Zeit vorüber, in der die Menschen die bloße Intellektualität, das bloße Bilddenken ausbilden durften. Das ist mit dem 19. Jahrhundert vorübergegangen. Und wenn jetzt die Menschen weiter diese bloßen Bildgedanken ausbilden, dann verfallen die Gedanken den ahrimanischen Mächten, dann finden die ahrimani­schen Mächte den Zugang zum Menschen, dann verliert er seine Frei­heit wiederum an die ahrimanischen Mächte. Und vor dieser Gefahr steht die Menschheit gegenwärtig.

Die Menschheit steht gegenwärtig vor der Eventualität, entweder das spirituelle Leben zu begreifen, zu begreifen, daß so etwas Realität ist, wie ich es heute im Anfang dieser Auseinandersetzung geschildert habe, oder es zu leugnen. Dann kann man aber nicht mehr frei denken, wenn man es heute leugnet, sondern dann fängt Ahriman, die ahrima­nischen Mächte fangen dann an, in der Menschheit zu denken. Und dann geht die ganze Menschheit in einer absteigenden Entwickelung vor sich.

Es ist also im höchsten Grade notwendig, daß immer mehr und mehr Menschen der Gegenwart begreifen: Man muß wiederum zum spirituellen Leben zurück. Und dieses Fühlen, daß man wiederum zum spirituellen Leben zurück muß, das ist das, was heute die Menschen in sich suchen sollten. Wenn sie es nicht suchen, so verfällt die Mensch­heit dem Ahriman. So ernst ist von einem höheren Gesichtspunkte an­gesehen heute die Lage der Erdenmenschen. Und man sollte jedem anderen

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Gedanken eigentlich diesen Gedanken voranstellen, jeden an­deren Gedanken im Lichte dieses Gedankens betrachten.

Das wollte ich als den ersten Teil der heutigen Betrachtung geben. Vielleicht ist Herr Kaufmann so liebenswürdig, den ersten Teil zu übersetzen. Ich werde dann weitersprechen.

Durch solche Darstellungen wird es vielleicht anschaulich, daß das Leben, das wir durchmachen in der geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, durchaus verschieden ist von dem, was wir hier zwischen Geburt und Tod durchmachen. Daher genügen auch Bilder, die von dem Erdenleben genommen sind, wenn sie noch so geistreich sind, nicht dazu, das eigentliche Geistesleben des Menschen zu charakterisieren, sondern man kann nur langsam und allmählich zu einem Verstehen desjenigen hinführen, was in der geistigen Welt Realität ist. Ich will dafür Beispiele anführen.

Nehmen Sie an, der Mensch verläßt hier seinen irdischen Leib und geht mit seinem seelisch-geistigen Leben über in die geistig-seelische Welt. Und nehmen wir an, es wird jemandem, der sich im intimeren Sinne Initiationserkenntnis erworben hat, hier möglich, die Seelen in ihrem Leben nach dem Tode weiter zu beobachten. Dazu sind viele Vorbereitungen notwendig, dazu ist ein bestimmtes Karma notwen­dig, das den Menschen hier mit dem Menschen drüben verbindet. Da handelt es sich darum, daß man nun eine Verständigungsmöglichkeit gewinnt mit einem Verstorbenen. Ich rede Ihnen dabei von außer­ordentlich schwierigen geistigen Erlebnissen, denn es ist im allgemeinen leichter, die Welt geistig zu beschreiben, als nur im geringsten an einen Toten heranzukommen. Die Menschen glauben leicht, daß es nicht schwer wäre, an einen Toten heranzukommen; es ist viel schwerer, an den Toten wirklich heranzukommen, als allgemeine spirituelle Er­kenntnisse zu gewinnen.

Nun möchte ich Ihnen einige Eigentümlichkeiten des Verkehrs mit den Toten angeben. Zunächst ist es ja nur möglich, mit den Toten zu verkehren, indem man sich versetzen kann in ihr Erinnerungsvermö­gen an die physische Welt. Die Toten haben noch einen Anklang an die menschliche Sprache, sogar an die besondere Sprache, die sie hier

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auf der Erde hauptsächlich gesprochen haben. Aber es verändert sich Ihr Verhältnis zur Sprache. So zum Beispiel bemerkt man, wenn man mit einem Toten verkehrt, daß er sehr bald kein Verständnis, nicht das geringste Verständnis mehr hat für Hauptwörter, für Substantiva. Die Substantiva sind Wörter, die der Lebende hier an den Toten rich­ten kann, der Tote, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, hört sie einfach nicht. Dagegen behält der Tote für alle Verben, also Tätig­keitswörter, verhältnismäßig lange noch ein Verständnis.

Sie bekommen in der Regel nur eine Verständigung mit dem To­ten, wenn Sie verstehen, in der richtigen Weise Fragen an ihn zu stel­len. Man muß manchmal mit diesen Fragen so vorgehen, daß man an einem Tage möglichst in vollständiger Ruhe sich auf den Toten kon­zentriert, mit ihm in etwas lebt, was recht konkret ist - denn Bilder hat er nach dem Tode mehr in seiner Seele als abstrakte Vorstellungen -, also man muß sich auf etwas konzentrieren, was ein reales konkretes Erlebnis ist, das er gern hier gehabt hat im Leben, da kann man all­mählich an den Toten herankommen.

Man bekommt in der Regel nicht gleich Antwort. Man muß oft­mals darüber schlafen, vielleicht mehrmals schlafen, und man be­kommt nach Tagen Antwort. Aber man bekommt eigentlich nie von Toten Antwort, wenn man die Frage an sie stellt mit Substantiven. Man muß versuchen, alles Substantivische in Verbalform zu kleiden. Diese Vorbereitung ist durchaus notwendig. Das beste, was der Tote versteht, sind Verben, die man recht anschaulich macht. Also der Tote versteht zum Beispiel niemals das Wort «Tisch»; aber wenn es einem gelingt, etwas lebhaft vorzustellen von dem, was in Tätigkeit ist, wenn ein Tisch gemacht wird, was also ein Werdendes ist, dann kann man allmählich für den Toten so verständlich werden, daß er die Frage auf­faßt und daß man Antworten bekommt, die immer in Verbalform sind, die aber sehr häufig nicht einmal in Verbalform sind, sondern die in dem sind, was wir hier auf der Erde als Interjektion, als Emp­findungswörter ansprechen würden.

Namentlich spricht der Tote in Buchstaben-, in Lautzusammenset­zungen. Und er kommt, je länger er in der geistigen Welt verweilt nach dem Tode, desto mehr dazu, in einer Sprache zu sprechen, die man

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sich erst aneignet, wenn man für die irdische Sprache ein Unterschei­dungsverständnis sich erwirbt, wenn man sich nicht mehr hält an die abstrakte Bedeutung der Worte, sondern wenn man eindringt in den Empfindungsgehalt der Laute.

Es ist ja so, wie ich auch in den Vorträgen über Erziehung gesagt habe: Bei A empfinden wir etwas wie Staunen. Das Staunen nehmen wir gewissermaßen in unsere eigene Seele herein, wenn wir nicht bloß A sagen, sondern Ach. Das heißt: A = ich staune, und das Staunen geht in mich herein: ch. Und wenn ich jetzt noch m voranstelle und sage: mach - so habe ich ein Verfolgen desjenigen, was mich erstau­nen macht, so wie wenn es in Schritten - m - herankäme, und ich bin völlig drin! In diesen Lautverständnissen kommen oftmals die Ant­worten der Toten. Die sprechen nicht englisch, die sprechen nicht deutsch, nicht russisch, die sprechen so, daß es nur Seele und Herz ver­stehen kann, wenn Seele und Herz mit den Ohren zusammenhängen.

Ich habe Ihnen vorhin gesagt: Das Herz ist majestätischer als die Sonne. Für die irdische Anschauung ist das Herz da irgendwo drinnen, und wenn wir es anatomisch herausschneiden, bietet es keinen schönen Anblick. In Wahrheit ist das Herz im ganzen Menschen, durchdringt alle übrigen Organe, sitzt auch im Ohre. Wir müssen uns immer mehr gewöhnen an diese Herzenssprache der Toten, wenn ich sie so nennen darf.

Daran gewöhnen wir uns, wenn wir nach und nach alles Substan­tivische wegwerfen, ins Verbale hineinkommen. Die Tätigkeit, das Werden, das versteht der Tote noch ziemlich lange nach dem Tode. Aber später versteht er eine Sprache, die keine wirkliche Sprache ist. Das, was wir dann vom Toten empfangen, müssen wir erst rücküber­setzen in eine irdische Sprache.

So wächst der Mensch heraus aus seinem Leibe und wächst allmäh­lich in die geistige Welt hinein, indem sein ganzes Seelenleben ein an­deres wird. Und wenn nun die Zeit allmählich herankommt, wo der Mensch zur Erde heruntersteigt, da muß er wiederum sein ganzes See­lenleben ändern, denn da rückt immer mehr und mehr der Augen­blick nahe, wo er vor einer gewaltigen Aufgabe steht, wo er zuerst die Astralform und dann die Ätherform des ganzen künftigen, hier auf

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der Erde physisch stehenden Menschen selber zusammensetzen muß. Was wir hier auf der Erde tun, ist äußerliche Arbeit. Es betätigen

sich unsere Hände an irgend etwas, was äußerlich geschieht. Wenn wir zwischen dem Tode und einer neuen Geburt sind, da beschäftigt sich unsere Seele damit, unseren Leib zusammenzustellen. Daß der Mensch durch Vererbung entsteht, ist nur scheinbar. Durch Vererbung wird ihm nur die alleräußerste physische Hülle umkleidet, aber die Form seiner Organe sogar muß der Mensch entwickeln. Dafür will ich Ihnen ein Beispiel geben, möchte aber dazu einen Handschuh haben.

Wenn der Mensch sich nähert dem irdischen Leben, dann hat er ja Sonne und Mond noch in sich. Aber allmählich schrumpfen Sonne und Mond zusammen. Sie empfinden dann in sich so, wie wenn Sie in sich die beiden Lungenflügel zusammenschrumpfen fühlen würden. So füh­len Sie dann Ihr kosmisches Dasein, Ihr Sonnen- und Mondorgan zusam­menschrumpfen. Und dann löst sich etwas von der Sonne los, und etwas vom Monde los. Nun hat man dann - statt daß man früher Sonne und Mond in sich gehabt hat - vor sich etwas, das eine Art Ab­bild ist von Sonne und Mond. Erglänzend, glitzernd hat man vor sich zwei zunächst riesige Kugeln, wovon die eine Kugel die vergeistigte Sonne, die andere Kugel der vergeistigte Mond ist: die eine Kugel in hellglänzendem Lichte, die andere Kugel glimmend, mehr in sich warm, wärmend feurig und mehr das Licht wie egoistisch an sich haltend.

Diese zwei Kugeln, die sich loslösen von dem kosmisch umgewan­delten Menschen - von diesem heute noch bestehenden Adam Kad­mon -, diese zwei Kugeln, die sich loslösen, die nähern sich immer mehr und mehr. Man sagt dann, wenn man herunterkommt zur Erde:

Sonne und Mond werden eins. Und das ist dasjenige, was einen führt, das ist dasjenige, was einen - schon von Urururgroßmutter, Ururgroß­mutter, Urgroßmutter, Großmutter her und so weiter - hinführt, hin-leitet bis zuletzt zu derjenigen Mutter, die einen gebären soll. Da lei­ten einen Sonne und Mond, die sich aber dabei immer mehr und mehr nähern.

Und dann sieht man eine Aufgabe vor sich. Dann sieht man gewis­sermaßen wie einen einzigen Punkt dasjenige, was noch fern ist im menschlichen Embryo. Und man sieht das, was da aus Sonne und Mond

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wie ein Einheitliches entstanden ist, sich der Mutter nähernd. Aber man sieht eine Aufgabe vor sich, die ich so charakterisieren kann.

Denken Sie sich, dieses hier [der Handschuh] wäre nun dasjenige, was als vereinigte Sonne und Mond vor einem herzieht, und man weiß:

Wenn nun dein kosmisches Bewußtsein ganz geschwunden sein wird, wenn du durch eine Finsternis durchgehen wirst - das ist nach der Empfängnis, nach der Konzeption, wenn der Mensch untertaucht in den Embryo -, so wirst du das umstülpen müssen, so daß das Innere nach außen kommt. Das, was Sonne und Mond gewesen sind, mußt du umstülpen, und da entsteht eine kleine Öffnung, durch diese mußt du hinein mit deinem Ich, und dies wird im Abbild dann dein Men­schenkörper auf der Erde sein.

Sehen Sie, das ist die Pupille im menschlichen Auge. Aus demjeni­gen, was da dieses Eins ist, wird dann die Zwei gemacht, wie wenn zwei Spiegelbilder entstehen würden: Das sind die beiden menschlichen Augen, zunächst vereinigt für sich, aber als vereinigte Sonne und Mond, dann da sich umstülpend.

Es obliegt einem diese Aufgabe, die man unbewußt vollzieht: Man muß das Ganze umdrehen, das Innere nach außen stülpen und durch die kleine Öffnung hineingehen. Dann geht das auseinander: Es wer­den im embryonalen Zustande zwei physische Abbilder gebildet. Denn die physischen embryonalen Augen sind zwei Bilder: dasjenige, was aus Sonne und Mond entstanden ist.

So arbeitet man - indem man dasjenige, was man als das ganze Universum erlebt, zusammennimmt, indem man eine bestimmte Form dem gibt - die einzelnen Teile des menschlichen Organismus aus, die dann nur aus dem plastischen Material, aus der Materie sich durchklei­den und umkleiden. Das nehmen sie nur an. Aber die Kräfte, die bildet man aus: die bildet man aus dem Universum heraus.

Es ist zum Beispiel so, daß wenn man in der zwischen Geburt und Tod zurückliegenden Zeit durch die Sonne so durchgeht, daß die Sonne im Zeichen des Löwen steht - es braucht das nicht bei der Geburt zu sein, es kann weiter zurückliegen -, man sich in dieser Zeit nicht aus Sonne und Mond das Auge macht, das geschieht zu einer anderen Zeit; in dieser Zeit aber vereinigt man sich mit dem Inneren der Sonne. Dieses

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Innere der Sonne, wenn man es betreten würde, würde ganz an­ders ausschauen, als sich die Physiker heute vorstellen. Jene physische Vorstellung ist so ahnungslos! Dieses Innere der Sonne ist nicht ein Gasball, sondern etwas, was weniger ist als Raum, wo der Raum so­gar weggenommen ist. Wenn man sich den Raum als etwas ausgedehnt denkt, was drückt, so müßte man sich das Innere der Sonne als saugend vorstellen, negativer Raum, leerer als der Raum! Die wenigsten Men­schen kommen zu einer adäquaten Vorstellung. Wenn man da durch­geht, dann erlebt man etwas, was nun wiederum ausgebildet werden kann, und was sich zum Beispiel dann weiter formt zum menschlichen Herzen.

Es ist nicht so, daß etwa aus Sonne und Mond nur die Augenform gebildet wird; es wird auch die Herzform aus der Sonne gebildet, aber nur, wenn die Sonne zugleich die Kräfte in sich enthält, die von der Sonne aus dem Sternbilde des Löwen her kommen.

So baut der Mensch tatsächlich, sei es aus den Bewegungen, sei es aus den Konstellationen der Sterne im Universum, seinen ganzen menschlichen Organismus auf. Dieser menschliche Organismus ist ein Abbild der Sternenwelt, und ein großer Teil der Arbeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt besteht darinnen, daß wir aus dem Uni­versum unseren Leib herausarbeiten. Das menschliche Wesen, wie es dasteht auf der Erde, ist ein Universum, aber ein zusammengeschrumpf­tes. Und die Naturwissenschaft ist so naiv, daß sie meint, der Mensch entstehe nur aus dem physischen Menschenkeim! Das ist gerade so naiv, wie wenn einer eine Magnetnadel sich anschaut, die immer nach Norden mit dem einen Ende zeigt, mit dem anderen Ende nach Süden -und er sucht die Kräfte, durch die sie sich gerade so stellt, nur in der Magnetnadel darinnen, sieht nicht die ganze Erde als einen Magne­ten an.

So ist es, wenn einer sagt: Aus dem physischen Menschenkeim ent­steht der Mensch. - Er entsteht gar nicht aus dem physischen Menschen-keim, sondern aus dem ganzen Universum heraus. Und sein Geistig­Seelisches zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist ein Mitar­beiten an der «übersinnlich-ätherisch-seelischen Menschenform, die dann nur so zusammenschrumpft, daß sie sich mit der physischen Materie

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umkleiden kann. Der Mensch ist wirklich nur der Schauplatz desje­nigen, was das Universum und was er selber mit seinen umgewandelten Kräften an seinem Physischen vollzieht.

So entwickelt sich der Mensch allmählich. Mit der Sprache fängt es an, indem er mit dem Gebrauch der Substantiven aufhört und in eine besondere Sprache, in das Verbale hineingeht. Dann geht es von der Sprache über zum innerlichen Anschauen der Sternenwelt, dann lebt er in der Sternenwelt. Und dann fängt er an, aus der Sternenwelt heraus abzugliedern, zu formen dasjenige, was er wird, was er in der nächsten Inkarnation wird. So geht es aus dem Physischen durch das Umformen der Sprache ins Geistige hinein; so geht es wiederum zu­rück durch das Umformen des Universums zum Menschen. Und in der Tat, nur wenn man begreift, wie das Geistig-Seelische, das sich in der Sprache so verliert, eins wird mit der Sternenwelt und dann sich wiederum zurücknimmt aus der Sternenwelt, begreift man diesen gan­zen Lebenskreis des Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Diese Dinge, sie waren vielen Menschen noch klar zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha auf der Erde sich vollzogen hat. Da hat man eigentlich niemals die Meinung gehabt, der Christus Jesus sei haupt­sächlich dasjenige Wesen, das sich auf der Erde entwickelt hat, son­dern da hat man die Meinung gehabt: Der Christus Jesus war früher in derjenigen Welt, der man selber zwischen dem Tod und einer neuen Geburt angehört - und man hat nachgedacht, wie er da herunterge­stiegen ist und in die Erde übergegangen ist.

Die Initiationswissenschaft wurde gerade von der römischen Welt ausgerottet; da sollten nur die alten Dogmen bleiben. Eine besondere Körperschaft, die im 4. Jahrhunderte unserer Zeitrechnung nach dein Mysterium von Golgatha in Italien war, die hat alle Anstrengungen gemacht, daß die alten Initiationsmethoden sich nicht in neue ver­wandeln sollten; es sollte den Menschen nur die Erkenntnis der äuße­ren physischen Welt bleiben, und von den übersinnlichen Welten soll­ten nur die alten Dogmen künden, die sie allmählich mit ihrem In­tellekt nur als Begriffe aufnehmen und nicht einmal mehr begreifen, sondern nur an sie glauben sollten. Und so wurde zerrissen das Wissen,

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das es schon einmal gegeben hat, in ein Wissen von der irdischen Welt und in ein Glauben an eine andere Welt, bis dann dieses Glauben so zusammengeschrumpft ist, daß es für die einen nur noch aus einer Summe von Dogmen besteht, die nicht mehr verstanden werden, die für die anderen überhaupt nur ein Anhaltspunkt sind, um glauben zu können. Was glaubt denn der moderne Mensch, der nicht mehr an den Dogmen der Trinität festhält? Er glaubt etwas Verschwommenes, ganz allgemein Geistiges. Aber wir müssen wiederum zurückkommen zu der wirklichen Anschauung, bei der wir uns hineinleben ins Geistige; das heißt, wir brauchen wiederum eine Initiationswissenschaft, eine Wis­senschaft, die uns aber von solchen Dingen spricht wie: Bewundere das menschliche Auge, das ja eine kleine Welt für sich ist. - Es ist nicht ein bloßes Bild, es ist etwas Reales aus den Gründen, die ich Ihnen jetzt eben gesagt habe. Denn dieses Auge war einmal, als wir zwischen Tod und neuer Geburt waren, eines, und diese Einheit, die sich dann um-gestülpt hat, die war eigentlich ein Zusammenfluß der Abbilder von Sonne und Mond. Und wir haben aus dem Grunde zwei Augen, weil, wenn wir veranlagt wären, nur mit einem Auge zu sehen wie die Zy­klopen, wir niemals das Ich in einer sichtbaren Welt entwickeln könn­ten; wir würden es nur in der Gefühlswelt entwickeln.

Helen Keller hat eine andere Gefühls-, eine andere Vorstellungs­welt als die anderen Menschen; sie kann sich nur verständigen, weil ihr die Sprache klargemacht worden ist. Ohne diese würden wir nicht eine Ich-Vorstellung entwickeln. Wir entwickeln sie ja dadurch, daß wir die rechte Hand über die linke Hand legen können, insbesondere wenn wir die symmetrischen Glieder übereinanderlegen. So entwickeln wir auch eine feine Vorstellung vom Ich, weil wir mit den zwei Augen die Augenachse kreuzen beim Visieren. Geradeso wie wir die Hände kreuzen, so kreuzen wir die zwei Augenachsen. Immer, wenn wir etwas anschauen, kreuzen wir die Augen.

Die materiellen zwei Augen sind im Geistigen eines. Und das sitzt hier hinter der Nasenwurzel, dieses eine Auge, dieses geistige, das sich abbildet und zu den zwei Augen wird. Dadurch, daß der Mensch ein rechter und ein linker Mensch sein kann, kann er sich als Mensch füh­len. Wenn er nur rechts oder nur links wäre, nicht ein symmetrisches

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Wesen wäre, so würde alles Vorstellen in die Welt hinauslaufen; man würde nicht zu einem geschlossenen Ich kommen.

Indem wir die zwei Abbilder von Sonne und Mond in eines bilden, erbilden wir uns so für die künftige Inkarnation. Wir sagen uns: Du kannst aber doch nicht in die ganze Welt zerfallen; du kannst doch nicht ein Sonnenmensch werden und neben dir den Mondenmenschen haben. Du mußt ein einheitlicher werden. - Dann aber, damit man dieses Einheitliche auch fühlen kann, entsteht wiederum jenes einheit­liche Sonnenmond-Menschenauge. Das Sonnenmond-Menschenauge ist das Umwandeln in der Gestalt desjenigen, was wir dann als Auge an uns tragen, und unsere zwei Augen sind eben die Abbilder des einheit­lichen Sonnenmond-Menschenauges.

Das ist dasjenige, was ich Ihnen heute sagen wollte, meine lieben Freunde, über die ganz andersartige Erfahrung, die wir haben, wenn wir in der geistigen Welt sind, als hier in der physischen. Und doch wiederum hängen die Dinge zusammen. Aber sie hängen so zusammen, daß wir ganz umgestülpt sind. Wenn wir hier den Menschen so um-stülpen könnten, daß wir sein Inneres nach außen wenden würden, daß also zum Beispiel das Innere, das Herz dann die Oberfläche des Menschen wäre - er würde dabei nicht leben bleiben als physischer Mensch, das können Sie ja glauben -, aber wenn man ihn umstülpen könnte, im Herzen innerlich anfassen und ihn so wie einen Hand­schuh umstülpen, dann bliebe er nicht ein solcher Mensch, wie er hier ist, dann vergrößerte er sich zu einem Universum. Denn wenn man sich in einem Punkt ins Herz hinein konzentriert und dann die Fähigkeit hat, im Geiste sich selber umzustülpen, dann wird man diese Welt, die man sonst erlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das ist das Geheimnis des menschlichen Inneren, welches nur in der physi­schen Welt nicht nach außen gestülpt werden kann. Aber das mensch­liche Herz ist eine umgestülpte Welt auch, und so hängt wiederum zusammen die physische Erdenwelt mit der geistigen Welt. Wir müs­sen uns gewöhnen an dieses Umstülpen. Wenn wir uns nicht daran ge­wöhnen, so bekommen wir nie eine richtige Vorstellung von dem, wie sich eigentlich die hiesige physische Welt zu der geistigen Welt verhält.

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ZEHNTER VORTRAG Oxford, 27. August 1922

Die Menschheit muß wieder dazu kommen können, mit allen Kräften, die in der Seele des Menschen leben, das Mysterium von Golgatha zu begreifen, nicht bloß so zu begreifen, wie das aus der heutigen Zivilisation heraus möglich ist, sondern so, daß das ganze menschliche We­sen verbunden werden kann mit dem Mysterium von Golgatha. Das aber wird der Menschheit erst dann möglich sein, wenn sie von dem Gesichtspunkt einer spirituellen Erkenntnis aus sich wiederum nähern kann dem Mysterium von Golgatha. Keine intellektualistische Erkennt­nis ist in Wirklichkeit imstande, das Christentum mit seinem vollen Impuls in der Welt geltend zu machen, denn jede intellektualistische Erkenntnis ergreift bloß das menschliche Denken. Und wir müssen dann, wenn wir eine Erkenntnis haben, die bloß zu dem Denken spricht, unsere Willensimpulse - und das sind die wichtigsten Impulse innerhalb des wahren Christentums - aus unseren Instinkten heraus suchen; wir können sie nicht aus der Welt heraus empfinden, in der sie wirklich vorhanden sind, aus der spirituellen Welt. Es wird in der gegenwärti­gen Zeit nicht anders möglich sein, als den Blick wiederum hinzuwenden auf die große Menschheitsfrage: Inwiefern ist das Mysterium von Golgatha der Sinn der ganzen Erdenentwickelung?

Man möchte das, was damit ausgesprochen werden soll, am liebsten in ein Bild bringen, in ein vielleicht etwas paradoxes Bild. Wenn irgend­ein Wesen von einem anderen Planeten auf die Erde herunterkäme, würde dieses Wesen wahrscheinlich, weil es nicht ein Mensch im Erdensinne sein könnte, alles auf der Erde recht unverständlich finden; aber es ist meine tiefste Überzeugung, geschöpft aus der Erkenntnis der Er­denevolution heraus, daß ein solches Wesen, auch wenn es vom Mars oder Jupiter käme, tief ergriffen würde von dem Bilde Leonardo da Vin­cis' dem «Heiligen Abendmahl». Denn es würde ein solches Wesen in diesem Bilde etwas finden, was ihm sagt: Ein tieferer Sinn ist mit der Erde und ihrer Entwickelung verbunden. - Und von diesem Sinne aus, der umfaßt das Mysterium von Golgatha, würde ein Wesen aus

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einer ganz anderen Welt die Erde mit ihren sonstigen Erscheinungen verstehen können.

Wir Menschen der Gegenwart wissen gar nicht, wie sehr wir in die intellektualistische Abstraktion hineingekommen sind. Daher können wir uns nicht mehr hineinfinden in die Seelen der Menschen, die eine Weile gelebt haben vor dem Mysterium von Golgatha. Diese Men­schenseelen waren ganz anders als die heutigen Menschenseelen. Man stellt sich ja die Geschichte der Menschheit viel zu ähnlich denjenigen Vorgängen vor, die heute geschehen. Aber die Seelen der Menschen haben eine bedeutsame Entwickelung durchgemacht, und sie waren in den Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha so, daß alle Menschen, selbst diejenigen, die nur primitive Bildung in ihrer Seele hatten, in sich selber etwas erblickten, was seelische Wesenheit war, was man nennen kann Erinnerung an die Zeit, welche die Menschenseele durch-lebt, bevor sie in einen irdischen Leib, in einen irdischen Körper herab-steigt. So wie wir uns heute im gewöhnlichen Leben an das erinnern, was wir etwa seit unserem dritten, vierten, fünften Jahre erlebt haben, so hatte die alte Menschenseele eine Erinnerung an ihr vorgeburtliches Leben in der geistig-seelischen Welt. Der Mensch war sich in gewissem Sinne durchsichtig in seelischer Beziehung, er wußte: Ich bin eine Seele und ich war eine Seele, bevor ich auf die Erde heruntergestiegen bin. -Und er wußte auch, namentlich in älteren Zeiten, gewisse Einzelheiten seines geistig-seelischen Lebens vor seinem Niederstieg auf die Erde! Er erlebte sich selber in Weltenbildern. Er sah hinauf zu den Sternen, und er sah die Sterne nicht bloß in der abstrakten Konfiguration, wie wir heute die Sterne sehen, er sah sie in traumhaften Imaginationen. Er sah die ganze Welt durchsetzt von traumhaften Imaginationen, und er konnte sich sagen: Das ist der letzte Schein jener geistigen Welt, aus der ich heruntergestiegen bin, und indem ich als Seele aus dieser gei­stigen Welt heruntergestiegen bin, bin ich eingekehrt in einen mensch­lichen Leib. - Und niemals verband sich dieser Mensch der älteren Zeiten so intensiv mit seinem menschlichen Leibe, daß er nicht ein Er­lebnis von dem Seelischen gehabt hätte.

Was erlebte dieser Mensch der älteren Zeit? Er erlebte das, daß er sich sagen konnte: Da war ich, bevor ich auf die Erde heruntergestiegen

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war, in einer Welt, in welcher die Sonne nicht bloß ein licht­verbreitender Himmeiskörper ist, in welcher die Sonne der Versamm­lungsort höherer geistiger Hierarchien ist. Ich lebte nicht in einem physischen, sondern in einem geistigen Raume, in einer Welt, in wel­cher nicht die Sonne bloß Licht verbreitet, sondern strahlende Weis­heit aussendet. Ich lebte in einer Welt, in welcher die Sterne Wesen­haftigkeiten sind, die ihren Willen geltend machen. Aus dieser Welt bin ich herausgestiegen. - Und mit einer solchen Empfindung verban­den sich für diesen Menschen der älteren Zeit zwei Erlebnisse: das Erlebnis der Natur und das Erlebnis der Sünde.

Dieses Erlebnis der Sünde, der moderne Mensch hat es nicht mehr, weil Sünde für ihn nur in der Welt des abstrakten Daseins lebt, weil Sünde für ihn nur eine Übertragung ist, etwas, was er als Moralisches nicht in Vereinigung bringt mit den Naturnotwendigkeiten. Für den alten Menschen gab es diese zwei Strömungen im Weltendasein nicht:

Naturnotwendigkeit auf der einen Seite, moralische Notwendigkeit auf der anderen Seite. Alle moralische Notwendigkeit war für ihn auch eine Naturnotwendigkeit; alle Naturnotwendigkeit war auch eine moralische Notwendigkeit.

So konnte sich der Mensch sagen: Ich mußte heruntersteigen aus der göttlich-geistigen Welt. Aber indem ich in einen menschlichen Leib ein-gezogen bin, bin ich gegenüber jener Welt, aus der ich heruntergestie-gen bin, eigentlich krank. - Und der Begriff der Krankheit und der Sünde, sie banden sich zusammen für den alten Menschen. Der Mensch fühlte sich hier auf dieser Erde so, daß er in sich finden mußte die Überwindung der Krankheit. Deshalb kam immer mehr und mehr das Bewußtsein über diese älteren Seelen: Wir brauchen als Erziehung etwas, was Heilung ist. Die Erziehung ist Medizin, die Erziehung ist Therapie. Und es erschienen solche Gestalten, wie die Therapeuten, kurz vor dem Mysterium von Golgatha als die Heiler. Auch in Grie­chenland wurde in Verbindung gedacht alles geistige Leben mit einem Heilen der Menschen, weil man fühlte: Der Mensch war im Beginne der Erdenentwickelung mehr gesund, und er entwickelte sich allmäh­lich so, daß er sich immer mehr von dem göttlich-geistigen Wesen entfernte. Das war der Begriff des Krankseins, der war - das ist vergessen

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worden - ein solcher, der sich verbreitete über diejenige Welt, in die sich dann geschichtlich das Mysterium von Golgatha hinein-stellte. Denn der Mensch empfand in jenen älteren Zeiten alles Gei­stige durch einen Hinblick in die Vergangenheit; er sagte sich: Vor meine Geburt muß ich hinblicken, wenn ich nach dem Geistigen sehen will, zurück in die Vergangenheit, da ist der Geist. Aus diesem Geiste bin ich geboren, und diesen Geist muß ich wieder finden. Aber von diesem Geiste habe ich mich entfernt.

Und so empfand der Mensch der Vergangenheit den Geist, von dem er sich entfernt hatte, als den Geist des Vaters. Und in den Mysterien war der höchste Initiierte derjenige, der in sich selber, in seinem Herzen, in seiner Seele, jene Kräfte entwickelt hatte, durch die er äußerlich als Mensch den Vater darstellen konnte. Und wenn die Mysterienschüler die Pforte der Mysterien überschritten, hineintraten in diejenigen An­stalten, die zu gleicher Zeit Kunst-, Erkenntnis- und Weihekultanstal­ten waren, und wenn sie dann vor dem höchsten Initiierten standen, dann erblickten sie in dem höchsten Initiierten den Repräsentanten des Vatergottes. Die Väter waren höhere Initiierte als die «Sonnenhel­den». Das Vaterprinzip herrschte vor dem Mysterium von Golgatha.

Und die Menschheit fühlte, wie sie sich immer mehr und mehr von dem Vater - gegenüber dem man sagen kann: Ex deo nascimur -entfernt hatte, und wie sie geheilt werden mußte. Die Menschheit er­wartete in dem Erkennenden den Heiler, den Heiland. Uns ist der Christus nicht mehr lebendig als der Heiland; aber erst wenn man ihn wiederum als den Weltenarzt empfindet, als den großen Heiland, wird man ihn wieder richtig in die Welt hineinstellen können.

Das war die Grundempfindung, welche die alten Seelen vor dem Mysterium von Golgatha hatten von ihrem Zusammenhange mit der übersinnlichen Welt des Vaters. Und was in Griechenland gefühlt wurde, was in dem merkwürdigen Ausspruche lebte: Besser ein Bett­ler zu sein auf Erden hier, als ein König im Reiche der Schatten -, das will sagen, daß die Menschheit hat tief fühlen lernen, wie weit sie sich entfernt hatte in ihrem ganzen Wesen von der übersinnlichen Welt. Eine tiefe Sehnsucht lebte zugleich in dem Menschen nach dieser über­sinnlichen Welt.

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Aber niemals hätte die Menschheit, wenn sie sich so weiter ent­wickelt hätte mit dem Bewußtsein nur vom Vatergotte, zu dem vollen Selbstbewußtsein des Ich, der innerlichen Freiheit kommen können. Denn, um zu dieser innerlichen Freiheit zu kommen, mußte dasjenige in den Menschenwesen Platz greifen, was gegenüber vorigen Zustän­den als eine Krankheit betrachtet wurde. Die ganze Menschheit fühlte in einem gewissen Sinne die Lazarus-Krankheit. Aber es war eben die Krankheit, die nicht zum Tode führt, sondern zur Befreiung und zum neuen Erkennen des Ewigen im Menschen.

Man kann sagen: Immer mehr hatten die Menschen vergessen jene geistig-seelische Vergangenheit vor der Geburt, ihr Blick war immer mehr und mehr hingerichtet auf die physische Umwelt. Hatte eine ältere Seele durch den Leib in diese physische Umwelt geblickt, so sah sie eben in den Sternen überall die Bilder des Geistigen, das sie verlassen hatte, indem sie durch die Geburt auf die Erde gekommen war. Sie sah in dem Lichte der Sonne die strahlende Weisheit, in der sie als in ihrer Lebensatmosphäre gelebt hatte, sah in der Sonne selbst den Chorus der höheren Hierarchien, von denen sie herniedergeschickt worden war auf die Erde. Aber das hatte die Menschheit vergessen.

Und das fühlte man, als das 8., das 7. und die folgenden Jahrhun­hunderte vor dem Mysterium von Golgatha heranrückten. Wenn die äußere Geschichte davon nichts erzählt, so ist das eben ein Mangel der äußeren Geschichte. Wer die Geschichte spirituell zu verfolgen ver­steht, dem erscheint sie so, daß ein mächtiges Bewußtsein vom Vater­gotte im Ausgangspunkte der Menschheitsentwickelung vorhanden war, und daß dieses Bewußtsein allmählich gelähmt worden ist, daß der Mensch um sich nurmehr die entgeistete Natur sehen sollte.

Vieles wurde damals nicht ausgesprochen, vieles war in den unter­bewußten Tiefen der Menschenseelen. Aber was am meisten in den unterbewußten Sphären der Menschenseele wirkte, das war eine Frage -die Menschen faßten sie nicht in Worte, die fühlten sie nur mit ihren Herzen -, die Frage: Um uns ist die Natur, wo ist der Geist, dessen Kinder wir sind? Wo schauen wir den Geist, dessen Kinder wir sind? -In den besten Seelen des 4., 3., 2., 1.Jahrhunderts lebte unbewußt, ohne daß sie formuliert wurde, diese Frage.

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Es war eine Fragezeit, die Zeit, in der die Menschheit die Entfer­nung vom Vatergotte fühlte, gewissermaßen in den Tiefen der Seelen wußte: Es muß so sein - Ex deo nascimur! -, aber wissen wir es denn noch, können wir es wissen?

Wenn wir noch tiefer hineinschauen in die Seelen der Menschen, die in dem Zeitalter lebten, als das Mysterium von Golgatha herannahte, so zeigt sich uns das Folgende. Da waren die einfacheren, primitiveren Seelen, welche nur tief in ihrem Unterbewußten empfinden konnten, wie sie nunmehr getrennt waren von dem Zusammenhang mit dem Vater. Denn sie waren die Nachkommen von jenen Urmenschen, die keineswegs so tierhaft waren, wie wir uns das heute naturwissenschaft­lich vorstellen, sondern die innerhalb ihrer tierhaften Gestalt eine Seele trugen, durch die sie im alten traumhaften Hellsehen wußten:

Wir sind heruntergestiegen aus der göttlich-geistigen Welt, haben einen menschlichen Leib angenommen. In die Erdenwelt herein hat uns ge­leitet der Vatergott. Aus ihm sind wir geboren.

Aber die ältesten Seelen der Menschheit hatten gewußt: Sie haben verlassen in den geistigen Welten, aus denen sie heruntergestiegen wa­ren, etwas, das wir nun nennen, oder das man später überhaupt nannte den «Christus». Deshalb sagten die ersten christlichen Schriftsteller, daß die ältesten Seelen Christen waren; diese Seelen haben wirklich auch den Christus anzubeten verstanden. Aber in den geistigen Wel­ten, in denen sie waren, bevor sie auf die Erde heruntergestiegen wa­ren, da war der Christus der Mittelpunkt ihres Anschauens, da war der Christus die zentrale Wesenheit, zu der sie ihre Seelenblicke hin-wandten. Und an dieses Zusammensein mit dem Christus im vorirdi­schen Leben erinnerten sich die Menschen auf der Erde.

Dann gab es andere Gegenden - und Plato zum Beispiel spricht von ihnen in einer ganz besonderen Art -, wo Schüler in den Myste­rien eingeweiht wurden, in denen das Schauen der übersinnlichen Wel­ten erweckt wurde, in denen aus der Menschenwesenheit die Kräfte los­gebunden wurden, durch die man hineinschauen kann in die geistigen Welten. Diese Schüler der Initiierten lernten in der Tat nun nicht bloß aus einer dunklen Erinnerung heraus den Christus kennen, mit dem alle Menschen gelebt hatten, bevor sie auf die Erde heruntergestiegen

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waren, der nun schon in den Menschenseelen wie eine halbvergessene Vorstellung war hier auf der Erde, sie lernten den Christus wiederum in der vollen Gestalt kennen. Aber sie lernten ihn kennen als eine We­senheit, die in den überirdischen Welten gewissermaßen ihre Aufgabe verloren hatte.

In den Mysterien des 2. und 1. Jahrhunderts vor dem Mysterium von Golgatha schaute man nämlich in einer ganz besonderen Weise zu jener Wesenheit der übersinnlichen Welten hin, die dann später die Christus-Wesenheit genannt worden ist. Man schaute so hin, daß man sagte: Diese Wesenheit, wir schauen sie in den überirdischen Welten, aber ihre Aktivität hat immer mehr und mehr abgenommen. - Sie war ja die Wesenheit, welche in die Seelen hineingepflanzt hat die Erinne­rung an die vorgeburtlichen Zeiten, die dann im Erdendasein aufge­lebt ist. Diese Wesenheit war in übersinnlichen Welten der große Lehrer für das, was die Seele noch in der Erinnerung hatte, nachdem sie auf die Erde heruntergestiegen war. Wie eine Wesenheit, die ihre Aktivi­tät verloren hat, weil die Menschen diese Erinnerungen allmählich nicht mehr haben, nicht mehr bekommen konnten, so kam den Initiier­ten die Wesenheit vor, die man später die Christus-Wesenheit nannte.

Und so lebten diese Initiierten weiter, indem in ihnen immer mehr und mehr das Bewußtsein aufstieg: Diese Wesenheit, an die sich die Urmenschheit im Erdendasein erinnert hat, diese Wesenheit, die wir jetzt sehen mit einer immer geringeren Aktivität in den geistigen Wel­ten, die wird sich eine neue Lebenssphäre suchen. Sie wird auf die Erde herabkommen, um in den Menschen wiederum die übersinnliche Gei­stigkeit zu erwecken.

Und man fing an, von jener Wesenheit, die man später als den Christus bezeichnete, als von jenem zu sprechen, der in der Zukunft kommen werde auf die Erde herunter, Menschenleib annehmen werde, wie er ihn dann angenommen hat in dem Jesus von Nazareth. Und dieses Sprechen von dem Christus als einem Zukünftigen, das war einer der Hauptinhalte des Sprechens in den letzten Jahrhunderten vor dem Mysterium von Golgatha. Wir sehen in der bildhaften Groß­artigkeit jener drei Magier oder drei Könige aus dem Morgenlande, Repräsentanten solcher Initiierter, die in ihren Initiationsstätten gelernt

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hatten: Der Christus wird kommen, wenn die Zeiten erfüllt sein werden und die Zeichen am Himmel ihn ankündigen werden. Dann müssen wir ihn suchen an seiner verborgenen Stätte. - Und in den Evangelien tönt überall durch als ein tieferes Geheimnis, als ein tie­feres Mysterium, was in der Menschheitsevolution sich enthüllt, wenn man es wiederum mit dem spirituellen Blicke anschaut.

So schauten die primitiven Menschen wie verloren nach dem Über­sinnlichen auf. Sie sagten sich in ihrem Unterbewußten: Wir haben den Christus vergessen. - Und sie sahen die Natur um sich herum. Die Frage, die ich vorhin angedeutet habe, entstand in ihren Herzen: Wie finden wir die übersinnliche Welt wieder? - Und die Initiierten in den Mysterien wußten: Es wird diese Wesenheit, die man später den Christus nannte, kommen, menschliche Gestalt annehmen, und was vorher die Seelen in ihrem vorirdischen Dasein erlebt haben, das wer­den sie erleben in der Anschauung des Mysteriums von Golgatha.

Dadurch ist nicht in einer intellektualistischen Art, sondern durch die gewaltigste Tatsache, die auf der Erde jemals geschehen ist, die Antwort gegeben auf die Frage: Wie kommen wir wieder zu dem Übersinnlichen? - Und die Menschen, die damals eine Empfindung entwickelt hatten für das, was geschah, die lernten von denen, die da wußten, daß in dem Menschen Jesus ein wirklicher Gott lebte, der heruntergestiegen ist, der Gott, den die Menschheit vergessen hatte, weil die Kräfte des Leibes, des Körpers sich nach der Freiheit hin ent­wickelten. Er erschien in einer neuen Gestalt, so daß man ihn schauen, ihn sehen konnte, und weiterhin die Geschichte von ihm reden konnte als von einem Erdenwesen. Der Gott, den man gekannt hatte nur drü­ben in der Geistwelt, war heruntergestiegen, war gewandelt in Pa­lästina, hatte die Erde geheiligt dadurch, daß er selber in einen Men­schenleib eingezogen war. Daher war die große Frage derjenigen, die in dem damaligen Sinne gebildete Menschen waren: Welchen Weg hat der Christus genommen, um zu dem Jesus hinzukommen?

Die Frage nach dem Christus war in den ersten Zeiten des Christen­tums eine rein spirituelle. Man forschte nicht nach dem Jesus, man forschte nach dem Christus, wie er heruntergestiegen ist. Man sah zu den übersinnlichen Welten hinauf, man sah den Herabstieg des Christus

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auf die Erde, man fragte sich: Wie ist das überirdische Wesen ein irdisches geworden? - Und deshalb hatten die schlichten Menschen, die den Christus Jesus als Jünger umgaben, die Möglichkeit, mit ihm als Geist auch nach dem Tode zu sprechen. Und es ist das Wichtigste, was er sagen konnte nach dem Tode, nur in einigen Fragmenten er­halten. Aber die spirituelle Wissenschaft, die spirituelle Erkenntnis kann erkunden, was der Christus zu denen, die seine Nächsten waren, gesprochen hat nach dem Tode, da er ihnen in seiner Geistigkeit er­schienen ist.

Da hat er zu ihnen als der große Heiler gesprochen, als der Thera­peut, der ein Tröster war, der da wußte um das Geheimnis, daß die Menschen einmal eine Erinnerung an ihn selbst gehabt haben, weil sie mit ihm zusammen waren in übersinnlichen Welten im vorirdischen Dasein. Und jetzt konnte er ihnen sagen: Ich habe euch früher gegeben die Fähigkeit, euch zu erinnern an euer übersinnliches, vorirdisches Dasein. Ich gebe euch jetzt, wenn ihr mich aufnehmt in eure Seelen, wenn ihr mich aufnehmt in eure Herzen, die Kraft, mit dem Bewußt­sein der Unsterblichkeit durch die Pforte des Todes hindurchzugehen. Und ihr werdet nicht mehr allein den Vater erkennen - Ex deo nas­cimur -, ihr werdet den Sohn fühlen als denjenigen, mit dem ihr sterben könnt und doch lebendig bleibt - In Christo morimur.

Das war natürlich nicht in die Worte getaucht, die ich jetzt aus­spreche, aber dem Sinne nach war es das, was der Christus beibrachte denjenigen, die ihm nahestanden nach dem Leibestode. Die Menschen kannten ja das Sterben nicht, als sie Urmenschen waren, denn sie tru­gen von der Zeit an, in der sie das Bewußtsein erlangten, ein inner­liches Erkennen ihres Seelischen; sie wußten von dem, was nicht ster­ben kann. Sie konnten die Menschen um sich herum sterben sehen -das Sterben war ihnen ein Schein in den Tatsachen um sie herum. Das Sterben haben die Menschen nicht empfunden. Erst als das Mysterium von Golgatha herannahte, fühlten die Menschen die Tatsache des Ster­bens, denn ihr Seelisches war allmählich mit dem Körperlichen so verbunden, daß nun der Zweifel darüber entstehen konnte, wie die Seele weiterleben kann, wenn der Körper verfällt. Das wäre gar keine Frage in älteren Zeiten gewesen, weil die Menschen die Seele erkannten.

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Jetzt kam der Christus als derjenige, der da sagte: Ich will mit euch auf der Erde leben, damit ihr die Kraft habt, eure Seelen wieder so anzufachen, so innerlich zu impulsieren, daß ihr sie als eine lebendige Seele durch den Tod hindurchtraget. - Das war dasjenige, was Paulus nicht gleich begriffen hatte, was Paulus erst begriff, als ihm selber der Zugang zu den übersinnlichen Welten eröffnet worden war, als er hier auf dieser Erde die Impressionen des Christus Jesus erhalten hatte. Deshalb wird heute das Paulinische Christentum immer weniger geschätzt, weil es den Anspruch macht, daß man den Christus schaut als von überirdischen Welten kommend und seine überirdische Kraft mit dem irdischen Menschen verbindend.

So fügte sich für die Evolution der Menschheit im Bewußtsein zu dem Worte: «Aus Gott» - nämlich aus dem Vatergotte - «sind wir geboren», das Lebens-, das Trostes-, das Kraftwort hinzu: «In Christo sterben wir», - das heißt: Wir lehen in ihm.

Was der Menschheit durch das Mysterium von Golgatha geworden ist, am besten wird es sich uns vor die Seele stellen, wenn ich nun die Evolution der Menschheit in der Gegenwart - und wie wir sie erhoffen müssen für die Zukunft -, von dem Gesichtspunkte des gegenwärtigen Initiierten schildere. Versucht worden ist von mir, den Gesichtspunkt des alten Initiierten, den Gesichtspunkt des Initiierten zur Zeit des Mysteriums von Golgatha vor Ihre Seele zu stellen; jetzt möchte ich versuchen, den Gesichtspunkt zu schildern des Initiierten der Gegen­wart, desjenigen, der heute nicht bloß mit einer äußeren Erkenntnis von der Natur an das Leben herantritt, sondern in dem erwacht sind jene tieferen Erkenntniskräfte, die wir aus der Seele heraus erwecken können mit denjenigen Mitteln, die ja in der spirituellen Literatur an­gegeben sind.

Wenn dieser Initiierte sich die Erkenntnisse erwirbt, die heute der Triumph der Zeit sind, der Glanz, in denen sich zahlreiche Menschen, wenn sie sie erwerben, auch mit einem gewissen höheren Bewußtsein wohlfühlen, dann fühlt er sich mit diesen Erkenntnissen in einer tra­gischen Situation. Denn der neuere, der moderne Initiierte fühlt die­jenigen Erkenntnisse, die heute in der Welt besonders gelten und be­sonders wertvoll sind, wenn er sie mit seiner Seele verbindet, als ein

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Sterben. Und je mehr sich der moderne Initiierte, dem die Welt der überirdischen Sphäre vor der Seele auferstanden ist, durchdringt mit dem, was heute alle Welt Wissenschaft nennt, desto mehr fühlt er seine Seele ersterben. Die Wissenschaften sind für den modernen Initiierten das Grab der Seele; die fühlt sich schon lebend mit dem Tode ver­bunden, indem er nach Art der modernen Wissenschaft über die Welt sich Erkenntnisse erwirbt. Und er fühlt dieses Sterben oftmals tief und intensiv. Und dann sucht er wohl den Grund, warum er immer, wenn er im modernen Sinne erkennt, stirbt, warum er etwas wie eine Art von Leichengeruchsempfindung hat, gerade wenn er zu den höch­sten modernen Erkenntnissen sich aufschwingt, die er wahrlich zu schätzen weiß, aber die ihm ein Vorgefühl sind des Todes.

Dann sagt er sich aus seinen Erkenntnissen der übersinnlichen Welt etwas, was ich Ihnen ausdrücken möchte durch ein Bild. Wir leben geistig-seelisch, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind. Von dem, was wir da in voller Realität geistig-seelisch durchleben im vor-irdischen Dasein, haben wir in unserer Seele hier auf Erden nur Ge­danken, Begriffe, Vorstellungen. Die sind in unserer Seele. Aber wie sind sie in unserer Seele?

Sehen wir hin auf den Menschen, wie er im Leben zwischen Geburt und Tod steht, voll lebendig, mit Fleisch und Blut sein Leib durch­zogen. Wir nennen ihn lebendig. Die Pforte des Todes wird von ihm durchschritten. Vom physischen Menschen ist der Leichnam da, der dann der Erde, den Elementen übergeben wird. Wir schauen den phy­sisch toten Menschen an. Wir haben den Leichnam vor uns, den Rest des lebendigen, von lebendigem Blut durchzogenen Menschen. Der Mensch ist physisch tot. Wir schauen zurück, aber mit dem Blick der Initiation, in unsere eigene Seele. Wir schauen auf unsere Gedan­ken, die wir jetzt haben im Leben zwischen Geburt und Tod, auf die Gedanken, die wir haben als die heutige moderne Weisheit und Wis­senschaft, und wir sehen: Sie sind der Leichnam desjenigen, was wir waren, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind. Wie der Leich­nam eines Menschen sich zum voll lebendigen Menschen verhält, so ver­halten sich - das lernen wir erkennen - unsere Gedanken, die wir heute als die höchsten Reichtümer verehren, die uns die Erkenntnisse der

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äußeren Natur bringen, als die Leichname desjenigen in uns zu dem, was wir waren, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind. Das ist dasjenige, was der Initiierte erleben kann. Er erlebt in dem Gedanken nicht sein wirkliches Leben, er erlebt in dem Gedanken den Leichnam seiner Seele. Das ist eine Tatsache, das ist etwas, was nicht aus Senti­mentalität heraus gesprochen wird, sondern was gerade einer tatkräf­tigen Erkenntnis heute mit voller Stärke vor die Seele tritt. Das ist dasjenige, was sich heute nicht der sentimentale, mystische Träumer etwa sagt; der will gerade etwas empfinden aus irgendwelchen dunk­len, mystischen Tiefen der eigenen Wesenheit heraus. Derjenige aber, der heute durch die Pforte der Initiation schreitet, der entdeckt in seiner Seele diese Gedanken, die allein, weil sie unlebendig sind, die lebendige Freiheit möglich machen können. Diese Gedanken, welche die ganze Grundlage der menschlichen Freiheit sind, zwingen den Men­schen nicht, eben weil sie tot sind, weil sie nicht lebendig sind. Der Mensch kann heute ein freies Wesen werden, weil er es nicht mit le­bendigen, sondern mit toten Gedanken zu tun hat. Die toten Gedanken können vom Menschen erfaßt und zur Freiheit verwendet werden. Aber man erlebt sie auch mit voller Weltentragik als Leichname der Seele. Bevor die Seele heruntergestiegen ist in die irdische Welt, da war alles, was heute Leichnam ist, voll lebendig, war regsam. In den gei­stig-übersinnlichen Welten bewegten sich zwischen den Menschenseelen, die entweder schon durch den Tod gegangen waren, nun auch in der geistigen Welt lebten, oder die noch nicht zur Erde heruntergestiegen sind, die Wesenheiten der höheren Hierarchien, die über dem Menschen stehen, bewegten sich auch innerhalb dieser Sphäre jene Elementar-wesen, die der Natur zugrunde liegen. Da war alles in der Seele le­bendig. Hier ist in der Seele die Erbschaft aus den geistigen Welten, der Gedanke ist tot.

Aber verstehen wir als moderne Initiierte, mit dem Christus, wie er sich dargelegt hat in dem Mysterium von Golgatha, uns zu durch­dringen, verstehen wir im tiefsten, innersten Sinne das Pauluswort:

«Nicht ich, sondern der Christus in mir», dann führt uns der Christus auch durch diesen Tod; dann dringen wir mit unseren Gedanken in die Natur ein, aber der Christus wandelt geistig mit uns, und er versenkt

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unsere Gedanken in das Grab der Natur. Denn indem wir sonst die toten Gedanken haben, wird die Natur zu einem Grabe. Gehen wir aber mit diesen toten Gedanken an die Mineralien, die Tiere, die Sternen­welt, an die Welt der Wolken, an die Berge, an die Ströme, gehen wir an sie mit diesen toten Gedanken heran, aber begleitet von dem Chri­stus nach dem Worte: «Nicht ich, sondern der Christus in mir», dann erleben wir in der modernen Initiation, wenn wir untertauchen in den Quarzkristall, daß der Gedanke aus der Natur, aus dem Quarzkristall nun als ein lebendiger aufsteigt. Wie aus dem mineralischen Grabe er­hebt sich der Gedanke als ein lebendiger. Die mineralische Welt läßt in uns aufsteigen den Geist. Und führt uns der Christus durch die Pflanzennatur überall heraus aus dem, wo sonst nur die toten Gedan­ken leben würden, so erstehen die lebendigen Gedanken.

Wir würden uns als krankhaft empfinden, wenn wir hingingen zu der Natur, in die Sternenwelt hinausschauten nur mit dem Blicke des rechnenden Astronomen, und diese toten Gedanken sich hineinsenken würden in die Welt, wir würden uns krank fühlen, und die Krank­heit würde zum Tode führen. Lassen wir uns aber von dem Christus begleiten, tragen wir unsere toten Gedanken in Begleitung des Christus in die Sternenwelt hinein, in die Welt der Sonne, des Mondes, der Wolken, der Berge, der Flüsse, der Mineralien, der Pflanzen und der Tiere, tragen wir sie hinein in die ganze physische Menschenwelt, alles wird im Anschauen der Natur lebendig, und es ersteht wie aus einem Grabe aus allen Wesen der lebendige, der uns heilende, der uns vom Tode erweckende Geist, der Heilige Geist. Und wir fühlen uns begleitet von dem Christus, mit dem, was wir als den Tod erlebt haben, wieder belebt. Wir fühlen den lebendigen, den heilenden Geist aus allen We­sen dieser Welt zu uns sprechen.

Das müssen wir in einer spirituellen Erkenntnis, in einer neuen In­itiationserkenntnis wieder gewinnen. Dann werden wir das Mysterium von Golgatha als den Sinn des ganzen Erdendaseins erfassen, werden wissen, wie wir geführt werden müssen in der Zeit, da sich durch die toten Gedanken die menschliche Freiheit entwickeln muß, wie wir ge­führt werden müssen zur Erkenntnis der Natur durch den Christus. Wir werden wissen, wie der Christus nicht nur sein eigenes Schicksal

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hingestellt hat auf die Erde in dem Sterben innerhalb des Mysteriums von Golgatha, sondern wie er die große Pfingstfreiheit der Erde be­schieden hat, indem er der Erdenmenschheit verheißen hat den leben­digen Geist, der durch seine Hilfe aus allem, was auf der Erde ist, er­stehen kann. Unsere Erkenntnis bleibt eine tote, bleibt selbst Sünde, wenn wir nicht durch den Christus so auferweckt werden, daß aus aller Natur, aus allem kosmischen Dasein zu uns wiederum der Geist spricht, der lebendige Geist.

Es ist nicht bloß eine ausgeklügelte Formel, die Trinität von dem Vatergotte, von dem Sohnesgotte und von dem Gotte, dem Heiligen Geist, es ist etwas, was tief mit der ganzen Evolution des Kosmos ver­bunden ist und was uns wird als eine lebendige, nicht als eine tote Erkenntnis, wenn wir den Christus selber als einen Auferstandenen in uns lebendig machen, der der Bringer des Heiligen Geistes ist.

Dann verstehen wir, daß es wie eine Krankheit wäre, wenn wir das Göttliche nicht sehen könnten, aus dem wir geboren sind. Der Mensch muß im Geheimen krank sein, wenn er Atheist ist. Er ist nur gesund, wenn seine physische Natur sich so zusammenfaßt, daß er das: «Aus Gott bin ich geboren!», als die Zusammenfassung seines eigenen Wesens aus dem Inneren erfühlen kann. Und es ist ein Schicksalsschlag, wenn der Mensch in seinem Erdenleben nicht findet den Christus, der ihn führen kann, der ihn durch den Tod am Ende des Erdenlebens führen kann, der ihn durch den Tod zur Erkenntnis führen kann. Denn füh­len wir also das «In Christo morimur», dann fühlen wir auch dasjenige, was an uns herankommen will durch die Geleitung des Christus, durch die Führung des Christus, dann fühlen wir, wie aus allem der Geist aufersteht, aufersteht noch in diesem Erdenleben. Wir fühlen uns wie­der lebendig in diesem Erdenleben, schauen hin durch die Pforte des Todes, durch die uns der Christus führt, schauen hin auf jenes Leben, das jenseits des Todes liegt, und wissen jetzt, warum der Christus den Geist, den Heiligen Geist geschickt hat: weil wir uns verbinden können schon hier im Leben mit diesem Heiligen Geiste, wenn wir uns der Führung des Christus überlassen. Wir dürfen dann mit Sicherheit sagen: Wir sterben in dem Christus, indem wir durch die Pforte des Todes schreiten.

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Was wir mit unserer Erkenntnis hier in der Natur erlebt haben, ist schon eine Vorbedeutung für die Zukunft. Denn was sonst tote Wis­senschaft wäre, wird auferweckt durch den lebendigen Geist. Deshalb können wir auch sagen, wenn an die Stelle des Todes der Erkenntnis der wirkliche Tod tritt, der uns den Körper nimmt, haben wir recht verstanden das: Aus dem Vater sind wir geboren -, In dem Christus sterben wir -, so dürfen wir sagen, hindurchblickend durch die Pforte des Todes: In dem Heiligen Geiste werden wir wiederum auferweckt -Per spiritum sanctum reviviscimus.

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ELFTER VORTRAG London, 30. August 1922

Da man, wenn man so selten zusammensein kann, möglichst viel in einer Betrachtung zusammenfassen möchte, so könnte leicht dadurch zuviel zusammengefaßt werden. Allein, ich will dennoch heute ver­suchen, von einem gewissen Gesichtspunkte aus Ihnen das zu charak­terisieren, was man nennen kann die andere Seite des menschlichen Daseins auf Erden. Und ich möchte das dann in Zusammenhang brin­gen mit der Bedeutung tieferer Erkenntnisse, geistiger Erkenntnisse für unsere Zeit.

Wieviel kennt denn schließlich der Mensch von demjenigen, was zu seinem Dasein gehört, wenn er sich zur Erkenntnis nur seiner Sinne bedient und des Verstandes, der an seine Sinne gebunden ist? Wir ver-leben durch das gewöhnliche Sinnesbewußtsein ja eben bewußt nur den wachen Teil des menschlichen Daseins. Allein die geistig führen­den Mächte der Welt haben in das menschliche Dasein wahrhaftig nicht umsonst eingefügt den Schlafzustand.

Vom Einschlafen bis zum Aufwachen geschieht außerordentlich viel mit dem Menschen. Und zwar von demjenigen, was der Geist durch den Menschen zu tun hat im irdischen Dasein, geschieht sogar das aller­meiste während des Schlafzustandes.

Während des Wachzustandes geschieht ja auf Erden nur dasjenige, was der Mensch mit sich selbst und den Dingen vornehmen kann. Während des Schlafzustandes geschieht in der menschlichen Entwicke­lung alles dasjenige, was geistige höhere Wesen mit der Menschenseele vornehmen, um den Menschen zu seiner Gesamtentwickelung innerhalb des irdischen Daseins zu bringen. Und man darf ja durchaus nicht sich aus dem Auge rücken, daß zwar auch der modernen Initiationserkennt­nis es möglich ist, genauer hineinzuschauen in die bedeutungsvollen Tat­sachen, die mit dem Menschen sich abspielen zwischen dein Einschla­fen und dem Aufwachen, daß aber diese Tatsachen sich doch nicht nur für den Initiierten abspielen, sondern für alle Menschen; daß die Entwickelung aller Menschen von diesen Tatsachen abhängt. Der Initiierte

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kann nur aufmerksam machen auf diese Tatsachen. Fühlen und empfinden deren Bedeutung sollten aber immer mehr und mehr alle Menschen im Erdendasein, die überhaupt über die Bedeutung dieses Erdendaseins nachdenken.

Nun möchte ich Ihnen heute schlicht schildern, was alles in den Schlafzustand des Menschen hineinspielt. Wenn der Mensch hinüber-schläft - Sie wissen ja, man charakterisiert das äußerlich dadurch, daß man sagt: Sein astralischer Leib und sein Ich lösen sich los vom phy­sischen Leib und dem Atherleib -, so sind dann dieses Ich und dieser astralische Leib in der geistigen Welt und durchdringen nicht den physischen Leib und den Atherleib, wie sie das in dem Zustande vom Aufwachen bis zum Einschlafen tun.

Wenn man aber nun hinschaut auf dasjenige, was mit dem Men­schen wirklich geschieht im Schlafzustande, so wird man darauf hin­gewiesen, wie er während des Wachens mit dieser Erde zusammenhängt. Er hängt mit dieser Erde zusammen zunächst durch seine Sinne, indem er die Erscheinungen der verschiedenen Naturreiche durch seine Sinne wahrnimmt und erkennt. Er hängt aber auch mit ihr zusammen, indem er Unterbewußtes während des Wachseins vollzieht. Er vollzieht zum Beispiel sein Atmen, und in die Atemluft spielt - wenn man so sagen darf - die ganze Erde hinein. In der Atemluft sind ungeheuer viel Sub­stanzen in einem sehr, sehr fein verteilten Zustande. Allein gerade in diesem fein verteilten Zustande wirken sie, wenn sie durch die Atem­luft aufgenommen werden in den menschlichen Organismus, außer­ordentlich bedeutungsvoll. Und ebenso wie es bewußt in den Men­schen hineinkommt, was er wahrnimmt durch seine Sinne, ebenso kommt unterbewußt schon während des Wachens zahlreiches in den Menschen, ich möchte sagen, mehr substantiell hinein als durch den ab­strakt-ideellen Zustand des Wahrnehmens und Denkens; substantieller kommt durch das Atmen die Umwelt in den Menschen hinein.

Und wenn Sie erst Rücksicht nehmen würden darauf, wie stark doch die menschliche Organisation abhängt von alldem, was sie mit den verschiedenen Substanzen der irdischen Nahrungsmittel aufnimmt, so würden Sie sich eben sagen können: Vieles wirkt auf den Menschen in seinem Wachzustande. - Allein das soll uns heute weniger interessieren.

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Es soll uns viel mehr interessieren, was auf den Menschen in seinem Schlafzustande wirkt. Und da müssen wir sagen: Geradeso wie wir die äußeren Substanzen, das Irdische, mit dem Menschen in Ver­bindung sehen während seines Wachzustandes, so kommt er, wenn er in den Schlafzustand übergeht, in eine gewisse Verbindung mit dem gesamten Kosmos.

Nicht als ob der Mensch so aufzufassen wäre, daß er jede Nacht die Größe des Kosmos mit seinem astralischen Leibe annehmen würde -das ware ein Übertriebenes, wenn man das behaupten wollte -, allein der Mensch wächst in den Kosmos hinein jede Nacht. Geradeso wie wir hier mit den Pflanzen, mit den Mineralien, mit der Luft zusam­menhängen, so hängen wir während der Nacht mit den Bewegungen der Planeten und mit den Konstellationen der Fixsterne zusammen. Der Sternenhimmel wird vom Einschlafen bis zum Aufwachen gerade-so unsere Welt, wie die Erde unsere Welt im Wachzustande ist.

Nun, da ist es denn zunächst so, daß wir verschiedene Sphären un­terscheiden können, durch die wir hindurchwandern zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Die erste Sphäre, durch die wir hin­durchwandern zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen, das ist die Sphäre in der sich das menschliche Ich und der menschliche astralische Leib, also sagen wir, die im Schlafe befindliche Menschen-seele, in Verbindung fühlt mit den Bewegungen der Planetenwelt. Ge­radeso wie, wenn wir am Morgen wiederum aufwachen und in unseren physischen Leib hineinschlüpfen, wir dann sagen können: Wir haben in uns unsere Lunge, unser Herz, unsere Leber, unser Gehirn -, so müs­sen wir während des Schlafzustandes sagen: Wir haben in der ersten Sphäre, mit der wir sogleich in Berührung kommen nach dem Ein­schlafen und mit der wir wiederum in Berührung sind unmittelbar vor dem Aufwachen, in uns die Kräfte der Bewegung der Planeten.

Es ist nicht, als ob wir die ganze Bewegung der Planeten jede Nacht in uns aufnehmen würden, aber das, was wir als Abbild in uns tragen, ist ein kleines Bild, in dem tatsächlich abgebildet sind die Bewegungen der Planeten. Und bei jedem Menschen ist das anders. So daß wir sagen können: Jeder Mensch erlebt die Planetenbewegung zunächst, wenn er eingeschlafen ist, in der Weise, daß er alles das, was draußen

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im Weltenraume zwischen den Planeten vorgeht, indem sie sich be­wegen, innerlich in einer Art von Planetenglobus in seinem astralischen Leibe nacherlebt. Das ist das erste Erlebnis, das der Mensch durch-macht nach dem Einschlafen.

Und sagen Sie nicht, meine lieben Freunde: Was geht mich das alles an, das nehme ich doch nicht wahr! - Sie sehen das nicht mit Ihren Augen, hören das nicht mit Ihren Ohren. Aber in dem Augenblicke, in dem Sie in den Schlafzustand übergehen, in dem Augenblicke wird tatsächlich derjenige Teil Ihres astralischen Leibes, der während des Wachens ins Herz eingegliedert ist, ein Herzauge; der wird sehend für dasjenige, was in dieser Weise vorgeht. Und dieses Herzauge, das nimmt wirklich wahr - wenn auch die Wahrnehmung bei der gegen­wärtigen Menschheit eine sehr dumpfe ist -, das nimmt wahr, was der Mensch da erlebt.

Und was er da erlebt, das wird von diesem Herzauge so wahrge­nommen, daß dieses Herzauge in den nächsten Zeiten nach dem Ein­schlafen zurücksieht zu dem Menschen, der als physischer Leib und als Ätherleib im Bette liegt. Zu dem schauen das Ich und der astralische Leib zurück mit dem Herzensauge. Und dasjenige, was Sie da inner­lich erleben als das Bild der Planetenbewegungen in Ihrem Leibe, das strahlt Ihnen zurück von Ihrem eigenen Ätherleibe, so daß Sie davon das Spiegelbild aus Ihrem eigenen Ätherleibe sehen.

Es ist nur für die gegenwärtige Konstitution der Menschen so, daß die Menschen sogleich, wenn sie aufwachen, das dumpfe Bewußtsein, das sie durch ihr Herzensauge in der Nacht gehabt haben, vergessen. Es ist ein dumpfes Bewußtsein, schwingt höchstens nach in solchen Träumen, die zwar noch etwas haben in ihrer innerlichen Beweglich­keit von der planetarischen Bewegung, in die sich aber hineinsetzen die Bilder aus dem Leben, die im Grunde genommen eben nur hineinkom­men in diese eigentlich von der Planetenbewegung abhängigen Träume. Die Bilder kommen hinein, weil der astralische Leib in den Ätherleib untertaucht und der Ätherleib die Erinnerung an das Leben bewahrt.

So daß es durchaus so sein kann: Sie wachen am Morgen auf, sind wieder zurückgegangen durch die Sphäre der Pianetenbewegungen, sa­gen wir, Sie haben dadrinnen erlebt - weil das mit Ihrem Schicksal, mit

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Ihrem Karma besonders zusammenhängt - ein besonderes Verhältnis zwischen Jupiter und Venus. So kann es sein, Sie können erlebt haben ein besonderes Verhältnis zwischen Jupiter und Venus. Würden Sie dasjenige in das Tagesleben heraufbringen, was da erlebt wird zwischen Jupiter und Venus, dann würde Ihnen vieles aufgehen über Ihre menschlichen Fähigkeiten; denn die sind nicht von der Erde, die sind aus dem Kosmos heraus. Wie Sie mit dem Kosmos zusammenhängen, so sind Sie begabt, so sind Sie gut, oder zu Gutem und Bösem wenigstens geneigt. Und Sie würden sehen, was da Jupiter und Venus miteinander gesprochen haben, und was Sie mit Ihrem Herzensauge wahrgenom­men haben, oder ich könnte auch sagen Herzensohr, denn das kann man so genau nicht unterscheiden. Allein das wird, weil es ja ohnedies nur sehr dumpf wahrgenommen wird, vergessen. Aber indem dadrin­nen noch dieses Wechselverhältnis zwischen Jupiter und Venus statt­findet, die in Ihrem astralischen Leib eine gegenseitige Bewegung aus­führen, mischt sich jetzt dasjenige hinein, was Sie einmal, sagen wir, als Sie siebzehn Jahre oder fünfundzwanzig Jahre alt waren, etwa in Oxford oder in Manchester oder irgendwo um zwölf Uhr mittags er­lebt haben. Die Bilder mischen sich hinein in kosmische Erlebnisse. Die Bilder sind daher bei den Träumen ja gewiß von einer gewissen Bedeutung; aber sie sind nicht dasjenige, was in erster Linie wichtig ist. Sie sind gewissermaßen das Kleid, das sich über die kosmischen Erlebnisse hinüberwebt.

Das Erleben nun, das auf diese Weise zustande kommt, das ist für diese Herzenswahrnehmung, von der ich gesprochen habe, etwas, wo­von man sagen kann: Es ist mit einer ziemlichen Ängstlichkeit verbun­den. Bei fast allen Menschen mischen sich gewisse Empfindungen spi­ritueller Art von Ängstlichkeit in dieses Erleben hinein, und insbeson­dere dann, wenn zurückleuchtet und zurücktönt von dem menschlichen Ätherleib dasjenige, was kosmisch erlebt wird. Wenn also zum Beispiel dasjenige zurückstrahlt, was von Jupiter und Venus bewirkt wird durch ihr besonderes Verhältnis, auf das ich jetzt hingewiesen habe, indem Ihnen ein Strahl - der aber sehr vielsagend ist für Ihre Herzens-wahrnehmung - zurückkommt von der menschlichen Stirne, und ein anderer Strahl seinen Ton und sein Licht damit vermischt, der aus

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der Gegend unter dem Herzen kommt, dann entsteht diese Ängstlich­keit für die Herzenswahrnehmung, von der zunächst gesprochen wer­den muß, und in der jede Seele, die nicht ganz verhärtet ist, eigentlich im Schlafe zu sich sagt: Der Weltennebel hat mich aufgenommen. - Es ist wirklich etwas gleich dem Selbst-so-Dünnwerden wie der Welten­nebel, und ein Schwimmen als Weltennebelwolke in dem Weltennebel drinnen. So ist zunächst das unmittelbare Erlebnis nach dem Schlafe.

Und dann kommt - aus dieser Ängstlichkeit heraus und aus diesem sich selbst als ein Stück vom Weltennebel drinnen im Weltennebel er­leben - dasjenige in die menschliche Seele hinein, was man nennen könnte die Hingabe an das die Welt durchschwebende Göttliche. Das sind die beiden Grundempfindungen, die in der ersten Sphäre nach dem Einschlafen an den Menschen herankommen: Ich bin in dem Wel­tennebel, und ich möchte ruhen im Schoße der Gottheit, um gegen das Aufgelöstwerden im Weltennebel gesichert zu sein.

Und das ist etwas, was die Herzenswahrnehmung herübertragen muß am Morgen, wenn der Mensch wiederum untertaucht mit seiner Seele in seinen physischen und seinen Ätherleib Denn würde dieses Erlebnis nicht herübergenommen in das Leben, so würden alle die Sub­stanzen, die am nächsten Tag vom Menschen aufgenommen werden zur Nahrung, oder die sonst in ihm durch den Stoffwechsel verarbeitet werden - auch wenn er hungert, werden ja immerfort dann aus seinem eigenen Leibe die Stoffe genommen -, es würden diese ihren ganz irdi­schen Charakter annehmen, und sie würden den ganzen menschlichen Organismus in Unordnung bringen.

Es ist in der Tat die Bedeutung des Schlafes für den menschlichen Wachzustand eine ungeheuer große und bedeutungsvolle. Und wir können nur sagen: Es ist ja nicht in dieser Epoche der Erdenentwicke­lung dem Menschen noch abgenommen, dafür selber zu sorgen, daß das Göttliche herübergetragen wird. Denn so wie die Menschen im gegenwärtigen Zeitalter veranlagt sind, würden sie kaum die Kraft aufbringen, diese Dinge von der anderen Seite des Daseins mit vollem Bewußtsein herüberzutragen in diese Seite des Daseins

Dann kommt der Mensch, wenn er dies erlebt hat, in die nächste Sphäre. Er verläßt die erste dabei nicht, die bleibt ihm für seine Herzenswahrnehmung.

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Aber die nächste Sphäre, die ist eine viel kompli­ziertere, und die wird wahrgenommen mit demjenigen Stück des astra­lischen Leibes, der bei Tag, beim Wachen eingegliedert ist in das mensch­liche Sonnengeflecht, eingegliedert ist namentlich auch in die gesamte Gliedmaßenorganisation des Menschen. Sonnengeflecht und Gliedma­ßenorganisation des Menschen, dasjenige vom astralischen Leib, was den Solarplexus durchsetzt und Arme und Beine durchsetzt, nimmt während der Nacht das wahr, was in der nächsten Sphäre ist.

Und in der nächsten Sphäre ist es so, daß der Mensch nun die Kräfte fühlt in seinem astralischen Leibe, die von den Tierkreisbildern kom­men: die eine Form von Kräften kommt direkt von den Tierkreis-bildern, die andere, indem die Tierkreiskräfte durch die Erde durch­gehen, je nachdem die Tierkreisbilder oberhalb oder unter der Erde sind. Das macht den großen Unterschied.

Der Mensch nimmt also wahr mit dem, was ich jetzt seine Sonnen-wahrnehmung nennen möchte, weil es sich um das Stück des astrali­schen Leibes als Wahrnehmendes handelt, das mit dem Sonnengeflecht und mit den Gliedmaßen zusammenhängt: sein Sonnenauge möchte ich es nennen. Durch dieses wird er aber sein ganzes Verhältnis zum Tier­kreis gewahr und zur Planetenbewegung. Das Bild also erweitert sich, der Mensch wächst mehr hinein in das Bild des Kosmos.

Und wiederum ist es so, daß der Mensch das jetzt gespiegelt be­kommt von seinem eigenen physischen und Atherleib, auf den er den Blick zurückrichtet. So daß der Mensch jede Nacht dasjenige, was aus seinem Leibe herausgeht, in den Zusammenhang hineinbekommt mit dem gesamten Kosmos, mit Planetenbewegung und Fixsternkonstella­tion.

Es ist aber das Erlebnis mit den Fixsternen - das bei dem einen Menschen eine halbe Stunde nach dem Einschlafen, bei dem anderen nach längerer Zeit, bei manchen ganz kurz nach dem Einschlafen auf­treten kann - so, daß der Mensch sich in allen zwölf Fixsternen dar­innen erlebt. Nun sind die Erlebnisse mit den Fixsternen außerordent­lich kompliziert.

Meine lieben Freunde, ich glaube, Sie könnten die wichtigsten Ge­genden der Erde als ein Weltreisender absolviert haben, Sie würden

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die Summe von Erlebnissen nicht haben, die Sie jede Nacht von einem einzigen Sternbilde des Tierkreises für Ihr Sonnenauge haben! Und es ist zunächst so, daß für die Menschen älterer Zeiten, die noch stark traumhafte Hellseherkräfte in sich gehabt haben und vieles von dem, was ich jetzt erzähle, traumhaft bewußt wahrnahmen, dies verhält­nismäßig weniger verwirrend war. Heute kann der Mensch kaum zu irgendeiner Klarheit für sein Sonnenauge kommen - und dazu muß er kommen, wenn er es auch bei Tag vergessen hat -, kaum zu irgendeiner Klarheit über das kommen, was er nun in zwölffach komplizierter Weise während der Nacht erlebt, wenn er nicht in sein Gemüt aufge­nommen hat dasjenige, was der Christus hat der Erde werden wollen durch das Mysterium von Golgatha. Einfach gefühlt zu haben, was das für das Erdenleben bedeutet, daß der Christus durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, Gedanken sich gemacht zu haben im ge­wöhnlichen Erdenleben über den Christus: das bringt auf dem Um­wege durch den physischen und durch den Ätherleib in den astralischen Leib eine solche Tingierung, eine solche Tinktur hinein, daß der Chri­stus der Führer wird in dem Tierkreis vom Einschlafen bis zum Auf­wachen.

Da ist es tatsächlich so, daß der Mensch wiederum fühlt: Soll ich denn in der Zahl der Sterne und in ihren Ereignissen untergehen? -Und wenn er dann zurückblicken kann auf dasjenige, was er wäh­rend des Tagwachens an Gedanken und Empfindungen und Gefühlen und Willensimpulsen zum Christus hingewendet hat, dann ersteht ihm in dem Christus eine Art Führer zum Ordnen der verwirrenden Ereig­nisse dieser Sphäre.

So daß wir tatsächlich sagen müssen: Wenn wir die andere Seite des Lebens betrachten, dann geht uns erst die volle Bedeutung des Christus für das Erdenleben der Menschheit seit dem Mysterium von Golgatha auf. Und es versteht sonst eigentlich niemand, was der Chri­stus noch werden muß für das Erdenleben innerhalb der heutigen ge­wöhnlichen Zivilisation.

Nun legt man sich alle diese Dinge, die ja heute noch nicht viele durchmachen, in einer falschen Weise aus. Die Art und Weise, wie die heute noch nicht vom Christus-Ereignis berührten Menschen die nächtlichen

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Erlebnisse ungeordnet ins wache Tagesbewußtsein hereinbrin­gen, die versteht man erst, wenn man das weiß, was ich eben jetzt aus­einandergesetzt habe. In der Tat, wenn wir zuerst das nebelhafte Da­sein durchgemacht haben im Schlafzustande, stehen wir gewisserma­ßen vor einer uns verwirrenden Welt, in welcher der Christus als eine geistige Sonne heraustritt und unser Führer wird, so daß die Verwirrung sich in einer Art harmonischen Verständnisses löst.

Das ist wichtig, weil in dem Augenblicke, wo wir diese Sphäre be­treten, in der wir Durcheinanderwirbelndes haben, Fixsternkonstella­tion des Tierkreises und Planetenbewegung, tatsächlich vor unser Son­nenauge unser Karma tritt. Alle Menschen nehmen ihr Karma wahr, aber nur im Schlafzustande. In den Wachzustand schleicht sich nur die Nachbildung dieser Wahrnehmung gefühlsmäßig herein.

Manches von jenem Befinden, das ja ein einigermaßen nach Selbst­erkenntnis trachtender Mensch in sich antreffen kann, ist der ganz dumpfe Nachkiang dieses Erlebens, wo der Christus als Führer auf­tritt und von Widder durch Stier, Zwillinge und so weiter leitet, und den Menschen in der Nacht die Welt erklärt, so daß sie wieder Kraft bekommen zum Tagesleben. Denn es ist nichts Geringeres, was wir in dieser Sphäre erleben, als daß durch die verwirrenden Ereignisse des Tierkreises hindurch der Christus unser Führer wird, wie die führende Wesenheit dasteht und von Sternbild zu Sternbild den Menschen leitet, damit er in sich geordnet die Kräfte aufnehmen kann, die er geordnet eben wiederum für das Wachleben braucht.

So erlebt der Mensch im Grunde jede Nacht zwischen dem Ein­schlafen und dem Aufwachen; er erlebt dieses aus seiner Verwandt­schaft mit dem Kosmos als Seele und Geist. So wie er durch den physi­schen und den Ätherkörper mit der Erde verwandt ist, so ist er mit seiner Seele und seinem Geist und seinem astralischen Leibe dem Kos­mos verwandt. Der Mensch würde nun, wenn er sich getrennt hat von seinem physischen und Ätherleibe und so hinausgewachsen ist in die kosmische Welt, in sich eine starke Verwandtschaft gewissermaßen zu ihr fühlen in seinem innerlichen Bild-Erleben, das ihm zurückstrahlt von dem, was im Bette liegengeblieben ist; eine starke Tendenz würde er fühlen, weiter über den Tierkreis hinauszuleben.

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Das kann er zunächst zwischen der Geburt und dem Tode nicht, weil sich in alle diese Erlebnisse, die ich Ihnen bis jetzt geschildert habe, während der Schlafenszeit des Menschen ein anderes Element hinein­mischt, ein Element, das ganz anderer Art ist als alles dasjenige, was von den Planeten und von den Fixsternen kommt. Und das ist das Mondenelement.

Das Mondenelement tingiert gewissermaßten während der Nacht den gesamten Kosmos - auch währenddem Neumond ist - mit einem besonderen Substantiellen, das der Mensch auch erlebt. Aber er erlebt es so, daß ihn diese Mondenkräfte, ich möchte sagen, zurückhalten in­nerhalb der Tierkreiswelt und wiederum zurückführen zum Aufwachen. Dieses Mondenelement erlebt der Mensch, schon schwach ahnend, während der ersten Sphäre. Aber besonders stark erlebt der Mensch während der zweiten Sphäre, die ich geschildert habe, die Geheim­nisse der Geburt und des Todes. Er erlebt da - mit einem noch tiefer-liegenden Organ, als das Herzensauge und das Sonnenauge sind -, mit einem Organe, das gewissermaßen seinem ganzen Menschen zugeteilt ist, tatsächlich jede Nacht, wie das Geistig-Seelische heruntersteigt, beziehungsweise heruntergestiegen ist aus der geistig-seelischen Welt und durch die Geburt eingezogen ist in ein physisches Dasein und wie nach und nach der Leib in den Tod übergeht. Man stirbt ja eigentlich immer, in jedem Augenblick, überwindet nur den Tod, bis der Tod dann wirklich als ein einziges Ereignis eintritt. Aber in demselben Momente, in dem man so erlebt, wie die Seele gewissermaßen durch­geht durch das Irdisch-Leibliche, in jenem Momente erlebt man durch dieselben Kräfte seine Zusammenhänge mit der übrigen Menschheit.

Sie müssen nur bedenken: Auch nicht die unbedeutendste Begeg­nung, das unbedeutendste Verhältnis, ebensowenig wie das allerein­schneidendste, sind ohne Zusammenhang mit dem gesamten Schicksal, mit dem gesamten Karma des Menschen. Und ob nun die Seelen, mit denen wir jemals im verflossenen Erdenleben in Beziehung gestanden haben, oder mit denen wir jetzt in diesem Erdenleben in Beziehung stehen, jeweilig in der geistigen Welt sind, oder ob sie hier auf Erden sind, alles dasjenige, was der Mensch mit Menschen zu tun hat, alle menschlichen Verhältnisse, die ja eine innige Beziehung zu dem Geheimnis

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von Geburt und Tod haben, die treten da, ich möchte sagen, vor das spirituelle Menschenauge. Der Mensch fühlt sich in seinem gesamten Lebensschicksale darinnen.

Das hängt damit zusammen, daß gewissermaßen alle anderen Kräfte, die der Planeten und die der Fixsterne, uns hinausziehen wol­len in den Kosmos. Der Mond will uns wiederum hineinstellen in die Menschenwelt, er reißt uns aus dem Kosmos im Grunde heraus. Er hat Kräfte, die entgegengesetzt sind sowohl den Sonnenkräften wie den Sternenkräften; er macht unsere Verwandtschaft zur Erde aus. Daher bringt er uns in gewissem Sinne jede Nacht von den Tierkreiserlebnissen zurück in die Planetenerlebnisse und wiederum in die Erdenerlebnisse, indem wir in den physischen Menschenleib zurückgebracht werden.

Das ist von einem gewissen Gesichtspunkte aus der Unterschied zwischen dem Schlafen und zwischen dem Sterben, daß der Mensch, wenn er einschläft, in starker Beziehung stehenbleibt zu diesen Mon­denkräften. Diese Mondenkräfte sind es, die gewissermaßen ihn auf die Bedeutung seines Erdenlebens auch jede Nacht erneut hinweisen. Das kann aber nur deshalb der Fall sein, weil der Mensch alles zurück­gestrahlt erhält, wie ich geschildert habe, von seinem Ätherleib Im Tode zieht er den Ätherleib aus seinem physischen Leibe heraus: die Rückerinnerung an das letzte Erdenleben tritt auf, und dieser Äther­leib ist es jetzt, der für die kurze Weile von wenigen Tagen die Wolke durchsetzt, von der ich gesprochen habe. Ich sagte: Jede Nacht leben wir selber als Wolke, als Nebelwolke in eine Nebelwelt uns hinein. Aber diese Nebelwolke, die wir selber sind, ist in der Nacht ohne un­seren Ätherleib Wenn wir sterben, ist sie zunächst in den ersten Tagen nach dem Tode mit unserem Ätherleib Dann löst sich der Ätherleib nach und nach in das Kosmische auf, die Erinnerung schwindet. Und jetzt haben wir zum Unterschiede von früher, wo wir alles, was wir an Sternenerlebnissen hatten, nur zurückgestrahlt hatten von dem Men­schen, der im Bette liegen geblieben war, jetzt nach dem Tode haben wir ein unmittelbar inneres Erlebnis der Planetenbewegung und der Fixsternkonstellation.

Sie finden von einem gewissen Gesichtspunkte aus geschildert, wie diese Erlebnisse sind, wenn Sie meine «Theosophie» lesen. Da ist dasjenige

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eben geschildert, was der Mensch zwischen Tod und neuer Ge­burt so hat, wie wenn es um ihn herum wäre. Aber so wie Sie nicht Farben hätten, wenn Sie nicht im Inneren des Leibes ein Auge hätten, ein Ohr hätten, wie sie nicht atmen könnten, wenn Sie nicht im Inne­ren des Menschen eine Lunge und ein Herz hätten, so könnten Sie nach dem Tode das, was ich da beschrieben habe als Seelenwelt und Geister­land, als Ihre Umgebung im Geistigen, nicht wahrnehmen, wenn Sie in sich nicht hätten Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Widder, Stier, Zwil­linge und so weiter. Das ist dann Ihr Organismus: mit Ihrem kosmi­schen Organismus erleben Sie das. Der Mond kann Sie nicht mehr zu­rückbringen, weil er nur zum Ätherleib hin zurückbringen kann; der aber hat sich in den Kosmos aufgelöst.

Aber in dem Menschen ist so viel noch vorhanden von jener Kraft, die der Mond auf ihn vererbt hat, daß er eben in der Seelenwelt eine Zeitlang bleibt, wie ich das geschildert habe in der «Theosophie». Er hält noch seinen Blick zur Erde hin gespannt, dann geht er über in dasjenige, was ich als das Geisterland geschildert habe. Da ist er dann in einem Erleben, das auch außerhalb des Tierkreises, außerhalb des Fixsternhimmels von ihm selber gefühlt wird. Und so durchlebt er dann die Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Es ist in den Einzelheiten dieses Hineinleben in die geistige Welt so, daß wenn ich es Ihnen schildere für die Nacht, so könnte ich es Ihnen etwa in der folgenden Weise schildern - aber Sie müssen natür­lich dabei die Begriffe nur ja nicht pressen, weil man mit irdischen Be­griffen diese Dinge fast nicht zum Ausdruck bringen kann. Doch ich kann es Ihnen so schildern.

Denken Sie sich eine Wiese, auf dieser Wiese Pflanzen; es geht von jeder Pflanzenblüte, auch von denjenigen Blüten, die auf Bäumen sind, zunächst eine Art Spirallinie aus, die sich in den Weltenraum hinaus­schwingt. Diese Spirallinien enthalten die Kräfte, durch welche der Kosmos auf der Erde das Pflanzenwachstum regelt und bewirkt. Denn die Pflanzen wachsen nicht bloß aus ihrem Keim heraus, die Pflan­zen wachsen aus den kosmischen, spiralig die Erde umgebenden Kräf­ten. Aber diese Kräfte sind auch im Winter da, auch in der Wüste da, auch wenn die Pflanzen nicht da sind. Um in die Planetenbewegungen

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hineinzukommen, muß der Mensch diese Pflanzenspiralkräfte jede Nacht benützen wie eine Leiter. Er steigt also durch das Leiterhafte der Pflanzenstrahlkräfte in die Bewegungen der Planetenwelt hinauf. Und mit jener Kraft, welche die Pflanze aus ihrer Wurzel heraus nach oben wachsen läßt - sie muß ja eine Kraft anwenden, damit sie nach oben wachsen kann-, mit dieser Kraft wird der Mensch in die zweite Sphäre, die ich geschildert habe, hineingetragen. So daß in der Tat, wenn wir für diejenigen Erlebnisse, die ich Ihnen geschildert habe, wo der Mensch in eine gewisse Ängstlichkeit kommt und sagt: Ein Nebelgebilde im all­gemeinen kosmischen Nebel bin ich, ich muß im Schoße der Gottheit ruhen. - Wenn wir das mit Bezug auf die Erdenverhältnisse ins Auge fassen, so sagt sich wiederum die Seele: Ich ruhe in all dem, was als der kosmische Segen über einem Saatfelde liegt, wenn es blüht, was über der Wiese liegt, wenn sie blüht. Alles dasjenige, was sich da zu den Pflanzen heruntersenkt und in spiraligen Kräftelinien sich auslebt, alles das ist im Grunde genommen der Gottheitsschoß, der in sich be­lebte, regsame Gottheitsschoß, in den sich der Mensch zunächst in jeder Schlafenszeit eingebettet fühlt.

Und der Mond ist es, der ihn zu seinem Tierischen wieder zurück-führt. Denn die Pflanzenkräfte haben stets das Bestreben, den Men­schen immer weiter hinauszutragen ins Universelle. Aber da der Mensch sein Animalisches mit dem Animalreich teilt, bringt ihn der Mond wiederum an jedem Morgen in sein Animalisches zurück.

So hängt der Mensch mit dem Kosmos zusammen. So wirkt der Kosmos gerade zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Und Herzensauge, Sonnenauge, Menschenauge, sie machen das in der Nacht so durch, daß sie ähnlich fühlen, wie wenn der eine Mensch, sagen wir, irgendeine Beziehung zu einem anderen fühlte, erlebte. Aber das wird ihm nicht so gesagt, das ist auch von ihm nicht ausgedacht, sondern das sagen ihm die Aussprüche der Pflanzen, durch die er gerade über eine Leiter hinaufsteigt in die Planetenwelt zuerst, und dann hinausgetrie­ben wird in die Tierkreiswelt

Und so kann etwa ein Erlebnis so sein: Ich habe ein Verhältnis zu diesem Menschen, die Lilien sagen es mir, die Rosen sagen es mir, denn die Rosenkraft, die Lilienkraft, die Tulpenkraft hat mich gerade dahin

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getrieben. - Die ganze Erde wird gewissermaßen zum Lebensbuch, das aufklärt über die Menschenwelt, Seelenmenschenwelt, in die man sich hineinlebt.

Und sehen Sie, diese Erlebnisse haben ja die Menschen verschiedener Zeitalter, verschiedener Epochen in verschiedener Weise gehabt. Wenn Sie noch hinschauen nach dem alten Indien: Die, welche etwas erfahren wollten durch den Schlafzustand, durch die Beziehung zur Sternen­weit, die wollten nur erfahren von denjenigen Fixsternen, von denje­nigen Sternbildern, die jeweilig über der Erde sind, nicht immer, aber jeweilig, das ändert sich ja. Aber sie wollten nie Beziehungen haben zu den Sternbildern, die unterhalb sind, deren Kräfte dann durch die Erde durch gehen.

Sehen Sie sich daher eine Buddha-Position an oder überhaupt die Position eines orientalischen Weisen, der nach spiritueller Weisheit strebt durch Exerzitien! Sehen Sie sich an, wie er die Beine überein­andergeschlagen hat und auf den übereinandergeschlagenen Beinen sitzt: weil er nur dasjenige, was Oberleib ist und was in Beziehung zu den oberen Sternbildern steht, in sich regsam haben will, und nicht dasjenige, was durch das Sonnenauge auch durch ihn hindurchwirkt, was durch die Gliedmaßen wirkt. Er will die Gliedmaßenkräfte gewis­sermaßen ausgeschaltet haben. Daher können Sie in der Position eines jeden orientalischen nach Weisheit Strebenden sehen, wie er nur zu dem, was über der Erde ist, eine Beziehung entwickeln will. Er will nur nach dem Seelischen hin Erkenntnisbeziehungen entwickeln.

Die Welt wäre unvollkommen geblieben, wenn nur diese Art Er­kenntnisstreben dagewesen wäre, wenn immer nur die Buddha-Posi­tionen eingehalten worden wären, um zur Erkenntnis zu kommen. Schon innerhalb der Griechenzeit mußte der Mensch auch in Beziehung zu denjenigen Kräften treten, zu denen man in Beziehung kommt, wenn man nach den Sternbildern hin sich entwickelt, die unterhalb der Erde jeweilig sind.

Das ist in der griechischen Sage wunderbar intim angedeutet. Denn in der griechischen Sage wird Ihnen von einer gewissen Art Initiation immer erzählt: Der Betreffende stieg in die Unterwelt hinab. - Von gewissen Heroen Griechenlands können Sie immer wissen, der erlebt

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die Initiation, wenn von ihm erzählt wird, er ist in die Unterwelt hin­abgestiegen. Das heißt, er hat diejenigen Kräfte des Kosmos kennen­gelernt, die durch die Erde hindurch wirken, er hat die chthonischen Kräfte kennengelernt.

So hat jedes Zeitalter seine besondere Aufgabe. Und so lernte der orientalische Initiierte, damit er das den anderen Menschen mitteilen konnte, vorzugsweise dasjenige kennen, was vor der Geburt bezie­hungsweise der Konzeption, also im seelisch-geistigen Gebiete lag, wel­ches der Mensch durchlebt, bevor er heruntersteigt in die irdische Welt. Und was in einer so großartigen Weise in der orientalischen Weltan­schauung, in der orientalischen Dichtung an die Menschen herantritt, das tritt im wesentlichen dadurch heran, daß dazumal die Menschen hineinschauen konnten in das Leben, das die Menschen durchmachen, bevor sie zur Erde heruntersteigen.

In Griechenland fing man an, dasjenige kennenzulernen, was von der Erde selbst abhängt: Uranus und Gäa. Gäa, die Erde, steht am Ausgangspunkte der griechischen Kosmologie. Und immer trachtete der Grieche, die Mysterien der Erde selbst kennenzulernen, die natür­lich auch die kosmischen Mysterien sind, die durch die Erde hindurch-wirken. Die Mysterien aber der eigentlichen Unterwelt, auch die wollte der Grieche kennenlernen. Und so entwickelte sich in Griechenland eine richtige Kosmologie.

Sehen Sie an, wie wenig eigentlich der Grieche noch - der Orientale hatte sie gar nimmer - hat von dem, was wir Geschichtserkenntnis nen­nen. Ihn interessiert ja viel mehr, was damals war, als die Erde gewis­sermaßen im Kosmos sich bildete, dann, als die inneren Erdenkräfte, die titanischen Kräfte andere Kräfte bekriegten, worauf der Grieche als auf große, gewaltige spirituelle Kräfte hinwies, die den irdischen Verhältnissen zugrunde liegen, in die der Mensch hineinversponnen ist. Wir in der neueren Zeit sind darauf angewiesen, die Geschichte zu verstehen, hinweisen zu können, daß der Mensch ausgegangen ist von einem alten, traumhaften Hellseherzustand, daß er jetzt zu seinem in­tellektualistisch gefärbten und nur vom Mythischen tingierten Bewußt­sein gekommen ist, aus dem er sich wieder herausarbeiten muß zum Hineinschauen in die geistige, in die spirituelle Welt.

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Diese gegenwärtige Zeitepoche ist ja der Übergang zu einem bewuß­ten Erringen eines Erlebens in der geistigen Welt. Dazu müssen wir vor allen Dingen den Blick auf die Geschichte werfen. Daher ist es in unserer anthroposophischen Bewegung immer wieder und wiederum geschehen, daß die verschiedenen Geschichtsepochen betrachtet wur­den bis dahin zurück, wo die Menschen noch von höheren, überirdi­schen Wesenheiten die Erkenntnisse empfingen, und daß dann weiter bis zu unserer Zeit diese geschichtliche Entwickelung des Menschen verfolgt worden ist.

Und diese geschichtliche Entwickelung des Menschen wird ja von der heutigen äußeren Erkenntnis erst recht ganz abstrakt betrachtet. Welche abstrakten Linien werden gezogen, wenn man heute Geschichts­erkenntnis entwickelt! Jene Geschichte verfolgten die alten Menschen noch, die sie in den Mythus kleideten, wo sie die Geschichte mit der ganzen Natur und ihren Ereignissen in Zusammenhang brachten. Das können wir nicht mehr. Aber die Menschen haben noch nicht den Sinn sich angeeignet, zu fragen: Wie war es, als die ersten Menschen von höheren Wesenheiten die Weisheit empfingen, und dann allmäh­lich das herabdämmerte? Wie war es, als ein Gott selber herabstieg, um sich durch das Mysterium von Golgatha in einem menschlichen Leibe zu verkörpern und eine kosmisch grandiose Mission mit der Erde zu vollbringen, so daß dadurch die Erde erst ihren Sinn bekommt?

Die ganze Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts krankt ja daran, daß sie den Christus in seiner geistigen Bedeutung nicht verstehen kann. Das, sehen Sie, das muß die moderne Initiationswissenschaft bringen. Es muß eben eine moderne Initiationswissenschaft geben, die wiederum hineindringen kann in die geistige Welt, die wiederum so sprechen kann über Geburt und Tod, über das Leben zwischen der Geburt und dem Tode und zwischen dem Tode und einer neuen Ge­burt, und über das Leben der Menschenseele im Schlafe, wie wir heute hier zueinander gesprochen haben. Das muß möglich sein, daß der Mensch wiederum auch diese geistige, andere Seite des Daseins kennen-lernt. Aller Fortschritt der Menschheit in die Zukunft wird nur mög­lich sein, wenn der Mensch diese andere Seite des Daseins auch kennenlernt.

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Geradeso wie einstmals die Menschen ihre Erkenntnis den oberen Welten nur zugewendet haben - was Sie in der Position des Buddha gut beobachten können -, wie die Menschen nachher, um zu einer Kosmologie zu kommen, diese von der Erdenentwickelung abgelesen haben und in die griechischen, chthonischen Mysterien eingeweiht wor­den sind, was der griechische Mythus an bedeutender, hervorragender Stelle immer wieder erzählt, so brauchen wir, nachdem die Menschen also die Geheimnisse des Himmels und die Geheimnisse der Erde in der alten Initiationswissenschaft studiert haben, eine moderne Initia­tionswissenschaft, die gewissermaßen im Rhythmus sich hin- und her­bewegen kann zwischen Himmel und Erde, die den Himmel frägt, wenn sie über die Erde Aufschluß haben will, und die Erde frägt, wenn sie über den Himmel Aufschluß haben will.

Und so ungefähr sind - ich darf das hier in aller Bescheidenheit sagen - die Fragen gestellt und zu einer vorläufigen Antwort geführt in dem Buche «Geheimwissenschaft im Umriß», das unter dem Titel:

«An Outline of Occult Science» ins Englische übersetzt ist. Da ist ver­sucht, dasjenige zu schildern, was eben der moderne Mensch so braucht, wie der alte Orientale die Mysterien des Himmels brauchte, wie die Griechen die Mysterien der Erde brauchten. Und wie es sich nun ver­hält mit dieser modernen Initiation und ihrem Verhältnis zu den Men­schen, das sollte man auch in der Gegenwart beobachten.

Um mit einigen Strichen zu charakterisieren, welche Aufgaben der modernen Initiation zugrunde liegen, werde ich etwas auch hier zu sa­gen haben, was ich drüben in Oxford in diesen Tagen einigen wenigen von Ihnen ja schon sagen konnte. Ich möchte nämlich zunächst darauf hinweisen, daß, während für den ältesten Initiierten vorzugsweise das Hinaufschauen in die geistigen Welten galt, aus denen der Mensch ja heruntersteigt, wenn er sich mit einem irdischen Leib umkleidet, wäh­rend für den späteren Initiierten dasjenige galt, was ich Ihnen dadurch zu charakterisieren suchte, daß ich Sie hinwies auf die griechische Dar­stellung vom Hinuntersteigen in die Unterwelt, es modernen Initiierten obliegt, wie ich eben schon sagte, die rhythmische Beziehung des Him­mels zur Erde als Erkenntnis zu suchen.

Das wird aber nur erlangt, wenn man folgendes ins Auge faßt. Gewiß,

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man muß den Himmel kennen, muß die Erde kennen, dann aber muß dasjenige ins Auge gefaßt werden, in dem zunächst als unter den Wesen, die um uns herum sind, Himmel und Erde zusammenwirken zu einer Ganzheit - ins Auge gefaßt muß werden, das heißt ins Her­zensauge, ins Sonnenauge und ins ganze Menschenauge: der Mensch selbst. Der Mensch selbst! Denn der Mensch enthält unendlich viel mehr Geheimnisse als diejenigen Welten, die wir mit äußerlichen Sin­nen wahrnehmen können, die wir mit dem an die Sinne gebundenen Verstand uns erklären können. Den Menschen spirituell kennenzuler­nen, das ist die Aufgabe der gegenwärtigen Initiationserkenntnis. Man möchte sagen: Alles will diese Initiationserkenntnis kennenlernen aus dem Grunde, um aus der ganzen Welt, aus dem ganzen Kosmos heraus den Menschen zu verstehen.

Vergleichen Sie nun die Lage des gegenwärtigen Initiierten mit der Lage des alten Initiierten Durch die ganzen Seelenfähigkeiten der älteren Menschen konnte Erinnerung erweckt werden an die Zeit, be­vor wir heruntergestiegen sind in einen irdischen Leib. Daher war es namentlich für die älteren Initiierten ein Auferwecken der kosmischen Erinnerungen. Für die Griechen war es dann ein Hineinschauen in die Natur. Für den modernen Initiierten handelt es sich darum, daß er den Menschen unmittelbar als ein spirituelles Wesen kennenlernt. Da muß er die Fähigkeit bekommen, sich loszulösen von seinem irdischen Er-fassen dessen, was den Menschen mit der Welt in Zusammenhang bringt. Davon möchte ich eben das eine Beispiel, das ich schon neulich erwähnt habe, wieder anführen.

Es gehört ja zu den schwierigsten Aufgaben der Initiationserkennt­nis, Beziehung zu gewinnen zu den Seelen, die vor kürzerer oder länge­rer Zeit die Erde verlassen haben, die durch die Pforte des Todes ge­gangen sind. Es ist aber möglich, solche Beziehungen durch Erweckung tieferer Seelenkräfte zu gewinnen. Da muß man zunächst sich aber klar sein darüber, daß man sich eigentlich erst hineinzugewöhnen hat durch Exerzitien in die Sprache, die man mit den Toten zu sprechen hat. Diese Sprache ist, ich möchte sagen, in einer gewissen Weise ein Kind der Menschensprache. Aber man würde ganz fehlgehen, wenn man glaubt, daß einem diese Menschensprache hier etwas helfen würde, um

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Verkehr mit den Toten zu pflegen. Denn das erste, was man gewahr wird, das ist dieses, daß die Toten nur ganz kurze Zeit noch verstehen dasjenige, was hier in der Erdensprache als Hauptwörter, als Substan­tive lebt. Dasjenige, was ein Ding ausdrückt, ein abgeschlossenes Ding, das durch ein Substantiv bezeichnet wird, das ist in der Sprache der Toten nicht mehr vorhanden. In der Sprache der Toten bezieht sich alles auf Regsamkeit, auf innere Beweglichkeit. Daher finden wir, daß nach einiger Zeit, nachdem die Menschen durch die Pforte des Todes gegangen sind, sie nur noch für die Verben, für dasjenige, was wir Tä­tigkeitsworte nennen, eine wirkliche Empfindung haben. Wir müssen ja, um mit den Toten zu verkehren, zuweilen die Fragen an sie richten, indem wir sie so formulieren, daß sie den Toten verständlich sind. Dann kommt nach einiger Zeit, wenn wir darauf acht zu geben verstehen, die Antwort. Gewöhnlich müssen mehrere Nächte vergehen, bis der Tote uns antworten kann auf Fragen, die wir an ihn stellen. Aber wir müssen, wie gesagt, uns in die Sprache der Toten hineinfinden, und zuletzt erst findet sich die Sprache für uns ein, die der Tote eigentlich hat, in die er sich hineinleben muß, weil er ja mit seinem ganzen Seelenleben von der Erde sich entfernen muß. Da finden wir uns hinein in eine Sprache, die überhaupt nicht mehr nach irdischen Verhältnissen geformt ist, in eine Sprache, die aus der Empfindung, aus dem Herzen heraus ist, in eine Art Herzenssprache. Da formen wir so das Sprachliche, wie wir etwa in der Menschensprache nur die Empfindungslaute formen, wo wir ein «Ach» aussprechen, wenn wir verwundert sind, wo wir ein «I» aus­sprechen, wenn wir auf uns selber zurückleiten wollen. Da bekommen die Laute und die Lautzusammensetzungen erst ihre große, ihre wirk­liche Bedeutung. Und von diesem Momente an geht uns auch die Spra­che über in etwas, wo sie nicht mehr organhaft klingt, wo die Sprache sich verwandelt in dasjenige, was eben so ist, wie ich es vorhin geschil­dert habe, wo die Sprache so ist, daß dasjenige, was aus den Blumen aufsteigt, uns über den Menschen Auskünfte gibt, und wir selber an­fangen mit dem, was aus den Blumen kommt, zu sprechen. Wir werden selbst zur Blume, und wir blühen gewissermaßen mit den Blumen. Und indem wir in die Tulpenblüte hinein uns mit unseren Seelenkräften be­geben, drücken wir in der Imagination der Tulpe aus dasjenige, was

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hier auf der Erde in der Gestaltung des Wortes ausgedrückt ist. Wir wachsen wiederum hinein in dasjenige, was das Spirituelle von allem ist.

Aber Sie sehen daran, indem ich Ihnen gerade das Beispiel der Spra­che charakterisiere, daß der Mensch ja in ganz andere Verhältnisse hin­einwächst, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, daß wir wirklich wenig vom Menschen kennen, wenn wir nur seine Außenseite hier kennen, daß die moderne Initiationswissenschaft diese andere Seite des Menschen kennen muß. Das beginnt schon mit der Sprache. Und der Körper des Menschen selbst, wie er ja auch geschildert wird - lesen Sie die Literatur darüber nach -, wird uns etwas ganz anderes, wird uns selber eine Welt, wenn wir in die Initiationswissenschaft hineinwachsen. Während der alte Initiierte mehr eine verlorengegangene Fähigkeit in den Menschen wieder aufwecken, zur Erinnerung bringen mußte, das, was die Menschen gelebt haben, bevor sie heruntergestiegen sind auf die Erde, muß der Initiierte der Gegenwart dasjenige machen, was ganz neu, was Fortschritt ist im Menschen, was noch Bedeutung haben wird für den Menschen, wenn der Mensch selber einmal die Erde verlassen hat, ja, die Erde gar nicht mehr da sein wird im Kosmos. Das ist die Aufgabe der modernen Initiationswissenschaft. Aus dieser Kraft her­aus muß sie reden, diese moderne Initiationswissenschaft.

Sie wissen ja, die Initiationswissenschaft trat von Zeit zu Zeit in die geistige Entwickelung der Erde ein. Sie hat immer wieder stattgefun­den. Diejenige Initiationswissenschaft, die wir brauchen, die eigentlich in dem, was die heutige Wissenschaft annimmt, nur einen Anfang für Menschenerkenntnis sehen kann, wird auch immer mehr und mehr be­kämpft werden. Sie werden Kraft gebrauchen, um durch dasjenige hin­durchzukommen, was der modernen Initiation entgegensteht. Denn bevor die moderne Initiation, die wiederum eine Unterredung ist mit den übersinnlichen Mächten, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eigentlich erst die richtige Gewalt bekam, waren schon die gegnerischen Mächte am Werke, die einen Zustand der menschlichen Kultur und Zi­vilisation herbeiführen, vielfach unbewußt, der eigentlich darauf hin­ausläuft, die moderne Initiation mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Denken Sie nur einmal, wie populär es heute geworden ist, allem, was als eine Erkenntnis in der Welt auftritt, entgegenzuhalten: Dies ist

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mein Standpunkt. - Und: Dies ist mein Standpunkt - sagen die Leute, ohne daß sie irgendwie eine Entwickelung durchgemacht haben. Jeder soll seinen Standpunkt von dem Punkte aus eben geltend machen, den er gerade eben in dem Momente, wo er das spricht, in der Welt ein­nimmt. Und es ist heute für die Leute das Verletzendste, das Aufrei­zendste, wenn überhaupt von höherer Erkenntnis, von einer Erkennt­nis gesprochen wird, zu der man sich erst hinentwickeln soll.

Wenn im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hauptsächlich die Mög­lichkeit aufgetaucht ist, die moderne Initiation zu erringen, so waren schon vorher die gegnerischen Mächte am Werke, die vor allen Dingen die große Gleichmachung, das große Nivellement unter den Menschen auch auf geistigem Gebiete herbeiführen wollten. Viele könnte man als Menschen anführen, in denen diese Gegnerschaft gegen die moderne Initiation gewirkt hat.

Meine lieben Freunde, glauben Sie, daß, wenn aus dem Geiste dieser Initiationswissenschaft zu Ihnen gesprochen werden muß, die Worte ebenso klingen müssen, wie sie auf Erden hier klingen müssen für die gewöhnlichen irdischen Verhältnisse. Wenn ich Ihnen versuche begreif­lich zu machen, wie die menschliche Lautsprache anders wird, wenn Sprache entfaltet werden soll gegenüber den Wesen der geistigen Welt, so werden Sie mich auch nicht mißverstehen, wenn ich Ihnen sage: Ich selber werde niemals die große Bedeutung verkennen, die - vom bloßen irdischen Standpunkte aus gesprochen - zum Beispiel Rousseau hat, und ich werde mich anschicken, wenn ich von dem bloßen Erdenstand­punkt aus spreche, mit all jenem Elan und mit all jenen Erhebungen und mit all der guten Kritik von Rousseau zu sprechen, wie eben andere sprechen. Soll ich mich aber zu dem Versuch aufschwingen, in irdische Worte zu kleiden dasjenige, was die Initiationserkenntnis über Rous­seau gibt, so muß ich Ihnen sagen: Rousseau stellt sich der Initiations­wissenschaft mit seiner Gleichmacherei, mit seinem geistigen Nivelle­ment als der Generalschwätzer der modernen Zivilisation mit vielen anderen Genossen dar!

Das ist dasjenige, was natürlich die Menschheit nicht so ohne wei­teres aufnimmt, daß man vom irdischen Standpunkte aus jemanden einen großen Geist nennen kann, will man aber den Menschen wirklich

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kennenlernen und das, was ich gesagt habe, daß die moderne Initia­tionswissenschaft Himmel und Erde kennen muß und den gegenseiti­gen Rhythmus schildern muß zwischen beiden, dann muß eben auch ausgesprochen werden, daß, was etwa auf der Erde als eine große Per­sönlichkeit geschildert werden kann, wie Rousseau, gerade vom Initia­tionsstandpunkte aus der Generalschwätzer des modernen Geistesle­bens genannt werden muß. - Erst im Zusammenklingen dessen, was von der einen Seite und von der anderen Seite ertönt, ergibt sich das­jenige, was zu wirklicher Menschenerkenntnis führt. Denn diese wirk­liche Menschenerkenntnis muß auferbaut sein auf dem, worauf die alten Initiierten gebaut haben, auf dem: Ex deo nascimur. Alle Erinne­rung, sie muß aufgebaut sein auf demjenigen, was uns entgegentreten kann, wenn wir hinausschauen in die Welt, wo Christus unser Führer wird unbewußt, wie ich es heute geschildert habe.

Aber wir müssen ihn immer mehr und mehr ins Bewußtsein herein­bringen, so daß wir dasjenige, was in der Welt ist, der das Sterben eig­net, erkennen als unter der Führung des Christus stehend, erkennen, daß wir mit dem Christus in die tote Welt hineinleben: In Christo morimur.

Dadurch aber, daß wir mit dem Christus untertauchen in das Grab des Erdenlebens, erfolgt mit ihm die Auferstehung und die Sendung des Geistes: Per spiritum sanctum reviviscimus.

Dieses «Per spiritum sanctum reviviscimus» muß vor allen Dingen der moderne Initiierte anstreben. Wenn Sie dieses bedenken und verglei­chen mit dem, was heute Gesinnung ist gerade aus der Wissenschaft her­aus, so werden Sie sich sagen: Es wird noch ungeheure Gegnerschaft geben, vielleicht eine solche, von der Sie sich heute noch keine Vorstel­lung machen, die sich auch in Taten ausleben wird, die sich vor allen Dingen ausleben wird in der Tendenz, Initiationswissenschaft ganz un­möglich zu machen. Und was ich, wenn ich in solch einem engeren Kreise zu sprechen habe, gern in die Herzen, in die Seelen hineinlegen möchte, das ist dieses: durch Schilderungen, wie sie sich ergeben aus der modernen Initiationswissenschaft heraus, Kraft zu erwecken, damit wirklich einige Menschen da sind, welche die richtige Stellung finden zwischen dem, was in die Welt will von geistigen Welten aus, und dem,

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was von der Welt aus die Unmöglichkeit dieses Eindringens der Spiri­tualität in das Erdenleben will. Das ist dasjenige, worauf ich in solch einem engeren Kreise jetzt hinweisen will, da ja Gelegenheit geboten war zu externeren Vorträgen, wie wir sie zu meiner großen Befriedi­gung jetzt in Oxford gehabt haben. Da ja die Möglichkeit dadurch da ist, auf die Außenseite hinzuweisen, so muß schon in diesem engeren Kreise auf das Esoterische hingewiesen werden, muß auch dieses be­handelt werden.

Und so glaube ich, daß es richtig wäre, wenn Sie hinauskommen würden darüber, daß manches ja heute noch paradox klingen kann, wenn von den geistigen Welten aus gesprochen wird. Aber es muß paradox klingen, denn die Sprache der geistigen Welten ist eben eine andere, ist so verschieden von der irdischen Sprache, und man muß mit aller Mühe und mit aller Gewalt dasjenige, was eigentlich anders ausgedrückt werden sollte, in die irdische Sprache hereinbringen. So daß es eben schon verstanden werden muß, wenn manches schockieren könnte, weil es als schlichte Erzählung von den geistigen Welten so un­mittelbar auftritt.

Indem ich Ihnen damit die Gesinnung, die auch dem heutigen Vor­trag zugrunde lag, charakterisieren wollte, spreche ich Ihnen meine tiefe Befriedigung aus, daß ich wiederum unter Ihnen, meine lieben Freunde, hier in London habe sprechen können. Es ist mir das immer eine Befriedigung. Ich habe schon gesagt, wir sind sehr selten zusam­men hier. Möge aber auch dasjenige, was wir in unseren Herzen, in un­seren Seelen begründen können bei einem so seltenen Zusammensein, wirken zu einem Zusammensein, das ja bei denen, die sich zur Anthro­posophie bekennen, immer da sein soll: dem Zusammensein in den Her­zen, in den Seelen über die ganze Welt hin. In dieser Gesinnung, daß wir solch kurzes Zusammensein benützen zur Anregung des großen Beisammenseins, das alle unsere Herzen, alle unsere Seelen verbindet, aus dieser Qesinnung heraus ist der heutige Vortrag gesprochen. Und um diese Gesinnung zu dokumentieren, wollte ich diese Worte noch anfügen, aus dieser Gesinnung heraus möchte ich das Wort gesprochen haben: Bleiben wir so zusammen, meine lieben Freunde, auch wenn wir noch so weit auseinandergehen.

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HINWEISE

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

In Zeitschriften sind folgende Vorträge erschienen:

23. Juli1922 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht - Nachrichten

für deren Mitglieder» 1930, 7. Jahrg. Nrn. 4-8

28. Juli1922 in «Das Goetheanum« 1930, 9. Jahrg. Nrn. 3-5

29. Juli1922 in «Das Goetheanum» 1936,15. Jahrg. Nrn. 16-18

5. August 1922 in «Das Goetheanum» 1929, 8. Jahrg. Nrn. 31-33

6. und 9. August 1922 in «Das Goetheanum« 1936, 15. Jahrg. Nrn. 28-34

20. August 1922 in «Das Goetheanum» 1929, 8. Jahrg. Nrn. 14-17

27. August 1922 in «Das Goetheanum» 1938, 17. Jahrg. Nr.16.

Der Duktus der Dornacher Vorträge, insbesondere der vier ersten, dürfte mit­bestimmt gewesen sein von der Anwesenheit der Begründer der Bewegung für reli­giöse Erneuerung, die am 2. August 1922 vor den Mitgliedern der Anthroposophischen Gesellschaft über die bevorstehende offizielle Gründung sprachen.

Zu den beiden Vorträgen vom 6. und 9. August 1922 über Oswald Spenglers «Der Untergang des Abendlandes» vergleiche auch die gleichzeitig geschriebenen Auf-sätze für die Zeitschrift «Das Goetheanum», innerhalb der Gesamtausgabe enthalten in dem Band «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart», Bibl.-Nr. 36, Gesamtausgabe Dornach 1961.

Im Anschluß an die in Dornach gehaltenen Vorträge dieses Bandes reiste Rudolf Steiner zu der in Oxford im Manchester College stattfindenden «Holiday Confe­rence: Spiritual Values in Education and Social Life», bei welcher er eingeladen war, einen 12 Vorträge umfassenden Kursus zu halten. Siehe «Die geistig-seelischen Grundkräfte der Erziehung», Bibl.-Nr. 305, Gesamtausgabe Dornach 1956. Neben diesem Kursus hielt er noch einige, auch im vorliegenden Band enthaltene Vorträge für Mitglieder; der Vortrag vom 20. August 1922 wurde jedoch auf Einladung einer gleichzeitig in Oxford stattfindenden theologischen Tagung, ebenfalls im Manchester College, gehalten. Rudolf Steiner trug in deutscher Sprache vor, gliederte seine Vor­träge meistens in drei Teile, die unmittelbar anschließend in freier Rede von George Kaufmann-Adams übersetzt wurden.

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11 ich habe... in der letzten Zeit versucht, ... das Bild Julians des Abtrün gen zu zeichnen: Im Vortrag vom 16. Juli 1922 in «Menschenfragen und Welten-antworten«, Bibl.-Nr. 213, Gesamtausgabe Dornach 1969.

Julian Apostata, 332-363, römischer Kaiser von 361-363.

Ernst von Wildenbruch, 1845-1909. Schrieb u. a. «Die Karolinger» und die

Doppeltragödie «Heinrich und Heinrichs Geschlecht».

12 wenn Sie nur den kurzen Aufsatz lesen: «Dionysius der Areopagite und die Lehre von den Hierarchien» von Dr. Günther Wachsmuth im «Goetheanum« Nr.50, vom 23. Juli 1922 (1. Jahrg.).

13 Ich habe gestern... ähnliche Sachen charakterisiert: Im Vortrag vom 22. Juli

1922 in «Menschenfragen und Weltenantworten», Bibl.-Nr. 213, Gesamtaus­gabe Dornach 1969.

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15 jenes Kollegium..., von dem ich schon in diesen Zeiten hier gesprochen habe:

Im Vortrag vom 16. Juli 1922, siehe Hinweis zu S.11.

16 wie sie... in der Theologie des Dionysius des Areopagiten erhalten worden ist:

In den Schriften «Von den göttlichen Namen», «Von der mystischen Theolo­gie», «Von der himnlllschen Hierarchie», «Von der kirchlichen Hierarchie».

18 «Einherier»: In der nordischen Mythologie die im Kampfe gefallenen und in Walhall aufgenommenen Helden.

[9 «Heliand«: Eine Evangelienharmonie in alliterierenden Versen, abgefaßt zwi­schen 825 und 835, vielleicht auf Geheiß Ludwig des Frommen.

Da finden Sie zum Beispiel Dichtungen in der Literaturgeschichte: Um 968 wird von einem Zug Karls des Großen nach Konstantinopel und Jerusalem in der Chronik des Benedikt von St. Andres auf dem Mons Soracte berichtet; im 11. Jahrhundert in der Sage «Pélerinage de Charlemagne» und im 13. Jahr­hundert in der «Gran Conquista de Ultramar».

Karl der Große, 742-814, König der Franken und römischer Kaiser.

20 Barharossa = Rotbart, Beiname für Friedrich I., geb. um 1123, gest. 1190.

Paladinen: Name für die Ritter der Tafelrunde des Königs Artus; später der Helden Karls des Großen.

22 Heinrich L, von Sachsen, um 876-936. Erster deutscher König aus dem Hause Sachsen (919), zog 933 gegen die Ungarn und besiegte sie.

24 Martianus Capella: Lateinischer Schriftsteller, lebte im 5. Jahrhundert n. Chr. in Afrika. Die Schrift «De nuptiis Philologiae et Mercurii» ist eine abwechselnd in Prosa und in Versen verfaßte Enzyklopädie der sieben freien Künste in neun Büchern.

25 «Singe, o Muse,. »: Beginn der «Ilias« von Homer.

27 Johann Gregor Mendel, 1822-1884. Katholischer Priester, später Lehrer und Botaniker; stellte Versuche über Pflanzenkreuzungen an. Seine Schriften: «Ver­suche über Pflanzenhebriden«, 1865, und «Über einige aus künstlicher Befruch­tung gewonnene Hieracium-Bastarde», 1869. - Über J. G. Mendel siehe auch den Vortrag vom 22. Juli 1922 in «Menschenfragen und Weltenantworten», Bibl.-Nr. 213, Gesamtausgabe Dornach 1969.

30 Goethe trat der Wissenschaft von den Pflanzen, in der Form, wie sie Linné aus­gebildet hatte, entgegen: Vgl. dazu Goethes Schrift «Geschichte meines bota­nischen Studiums» im ersten Bande der Naturwissenschaftlichen Schriften, hg. von Rudolf Steiner in «Kürschners Deutscher Nationalliteratur» Bd. 114, wo es auf S.68 wörtlich heißt: «Linnés Philosophie der Botanik war mein tägliches Studium, ... - Wie es mir dabei ergangen, und wie ein so fremdartiger Unter­richt auf mich gewirkt, kann vielleicht im Verlaufe dieser Mitteilungen deutlich werden; vorläufig aber will ich bekennen, daß nach Shakespeare und Spinoza auf mich die größte Wirkung von Linné ausgegangen, und zwar gerade durch den Widerstreit, zu welchem er mich aufforderte. Denn indem ich sein schar­fes, geistreiches Absondern, seine treffenden, zweckmäßigen, oft aber willkür­lichen Gesetze in mich aufzunehmen versuchte, ging in meinem Innern ein

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Zwiespalt vor: das, was er mit Gewalt auseinanderzuhalten suchte, mußte nach dem innersten Bedürfnis meines Wesens zur Vereinigung anstreben.»

30 Karl von Linné, 1707-1778, schwedischer Naturforscher.

31 bei den Pflanzen muß man eine andere Anschauungsweise anwenden: Siehe Goethes «Die Metamorphose der Pflanzen», 1790; im gleichen Bande wie oben.

42 Paracelsus, 1493-1541.

48 Johannes Scotus Erigena, um 810-877. Mit der Schrift «De divina praedesti­natsone« widerlegt er die Prädestinationslehre des Mönches Gottschalk.

Karl II., der Kahle, 823-877. Sohn Ludwig des Frommen.

49 Gottschalk von Orbais, Mönch. Wurde wegen seiner strengen Auffassung der Lehre von der Erbsünde und Prädestination vom Erzbischof von Mainz, Hra­bajius Maurus, 848 zum Ketzer verdammt und zu lebenslänglicher Kerker­haft verurteilt.

50 Ein anderer Theologe schrieb: Ratramnus, Mönch in Corbie, gestorben nach

868. Ratramnus vertrat eine spirituelle Abendmahlslehre im Anschluß an Augustinus und schrieb gegen die Wandlungslehre seines Abtes Radbertus «De corpore et sanguine domini»; diese wurde 1050 als ein Werk des Scotus Eri­gena verdammt und verbrannt, 1532 wurde sie wiederum herausgegeben, dies­mal gedruckt, aber unter entstelltem Namen (Bertramus); 1559 wurde sie auf den Index gesetzt. Im Prädestinationsstreit stand Ratramnus auf seiten Gott­schalks.

53 Friedrich Schiller, 1759-1805. «Über die ästhetische Erziehung des Menschen» erschien 1795. Diese Schrift ging aus Briefen in den Jahren 1793-1795 hervor, die Schiller an den Herzog von Augustenburg gerichtet hatte.

54 Friedrich Nietzsche, 1844-1900. «Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik» erschien 1872.

55 Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie» erschien

1795 in den Horen als Abschluß der Erzählung «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten».

57 Als ihm in seiner Jugend Jacobi vom Glauben sprach: Antwortete Goethe aus Ilmenau am 5. Mai 1786: «Ich halte mich fest und fester an die Gottesver­ehrung des Atheisten (Spinoza) und überlasse euch alles, was ihr Religion heißt und heißen müßt. Wenn du sagst, man könne Gott nur glauben, so sage ich dir, ich halte viel aufs Schauen.»

58 Wie rang Goethe mit dem, was er das Frommsein nannte: Zum Beispiel in der

«Trilogie der Leidenschaft II»:

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,

Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten,

Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,

Enträtselnd sich den ewig Ungenannten:

Wir heißens fromm sein...

Wie sprach Schiller es aus: «Welche Religion ich bekenne? Keine von allen, die du mir nennst. Aus Religion.» - Votivtafeln: Mein Glaube.

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71 Dieses Dekret über das menschliche Erkennen: VgL hierzu die Darstellung in dem Aufsatz «Das menschliche Leben vom Gesichtspunkte der Geisteswissen­schaft», abgedruckt in «Philosophie und Anthroposophie», Bibl.-Nr. 35, Ge­samtausgabe Dornach 1965.

86 Oswald Spengler, 1880-1936. «Der Untergang des Abendlandes», Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. 1. Band: «Gestalt und Wirklichkeit», Mün­chen 1920; 2. Band: «Weithistorische Perspektiven», München 1922. Die im fol­genden angeführten Zitate finden sich auf S.3, 628, 629, 630, 631, 12, 10, 13, 9, 17, 19,20,21,21/22,24, 634f.

90 Ich habe vor einiger Zeit... an der Technischen Hochschule in Stuttgart einen Vortrag gehalten: Vor Studenten am 17. Juni 1920 unter dem Titel «Geistes­wissenschaft, Naturwissenschaft, Technik», vorgesehen in Bibl.-Nr. 335.

96 John Stuart Mill, 1806-1873, englischer Philosoph und Nationalökonom. Einer der Begründer des Positivismus.

113 aus dieser Stimmung heraus, hat er seinen «Wilhelm Meister» geschrieben: Er­schien in zwei Teilen: «Wilhelm Meisters Lehrjahre», 1795-96, und «Wilhelm Meisters Wanderjahre oder die Entsagenden«, 1829.

114 Karl Ferdinand Gutzkow, 1811-1878. «Der Zauberer von Rom», erschien Leipzig 1858-61, und «Die Ritter vom Geiste«, Leipzig 1850-52.

George Sand (Aurore Dupin), 1803-1876, französische Romanschriftstellerin.

117 Capella: Siehe Hinweis zu S.24.

149 Herr Kaufmann: George Kaufmann-Adams, 1894-1963. Vgl. Einleitung zu den Hinweisen auf Seite 197.

155 Eine besondere Körperschaft: Siehe Hinweis zu S.15.

156 Helen Keller, 1880-1968, amerikanische Schriftstellerin schweizerischer Ab-stammung. Sie wurde im Alter von 19 Monaten blind.

160 wie die Therapeuten: Die Therapeuten waren wie die Essäer eine Sekte, welche eine gewisse Seelenentwickelung anstrebten. Vgl. Rudolf Steiner «Das Mat­thäus-Evangelium» Bibl.-Nr. 123, Gesamtausgabe Dornach 1959.

161 «Sonnenheld» bezeichnet den sechsten Grad der morgenländischen Einweihung. Besser ein Bettler zu sein . . .: im XI. Gesang der «Odyssee» von Homer.

163 andere Gegenden ... wo Schüler in den Mysterien eingeweiht wurden: Vgl. dazu Rudolf Steiner «Das Christentum als mystische Tatsache und die Myste­rien des Altertums», Bibl.-Nr. 8, Gesamtausgabe Dornach 1959.

166 In Christo morimur: Vgl. Röm. 6, 8.

167 ich will mit euch auf der Erde leben: Vgl. Matth. 28,20.

«Aus Gott sind wir geboren»: Vgl. Joh. 1,13.

169 «Nicht ich, sondern der Christus in mir»: Vgl. Gal. 2,20.

189 was ich drüben in Oxford ... sagen konnte: Siehe den Vortrag vom 20. August

1922 auf Seite 123 ff. dieses Bandes.

193 Jean-Jacques Rousseau, 1712-1778, französischer Schriftsteller und Philosoph. 195 zu externeren Vorträgen ... in Oxford: Vgl. Seite 123 ff.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.