GA 212

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DAS MENSCHLICHE SEELENLEBEN IM ZUSAMMENHANGE MIT DER WELTENTWICKELUNG

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ERSTER VORTRAG Dornach, 29. April 1922

Der Vortragszyklus wurde angekündigt unter dem Titel: «Das menschliche Seelenleben im Zusammenhange mit der Weltentwicke­lung». Es ist das menschliche Seelenleben ja zunächst im Menschen selbst so, daß man aus dem Erleben des Seelischen nicht unmittelbar sich veranlaßt fühlt, die Frage nach der Beziehung der menschlichen Seele zu der Weltentwickelung im großen aufzuwerfen, das heißt, sie aufzuwerfen im bewußten Sinne. Dagegen im unbewußten Sinne wirft die menschliche Seele fortwährend gerade diese Frage auf: Wie stehe ich als Mensch zu der allgemeinen Weltentwickelung im großen? -Und man kann sagen, daß im Grunde genommen gerade das religiöse Leben der Menschheit immer ein Ergebnis war dieser unbewußten Frage in den menschlichen Seelentiefen. Denn jene Beziehung, in die sich der Mensch in einer mehr oder weniger klaren Weise in religiöser Art zu dem Ewigen setzt, ist eigentlich der Ausdruck dieser unbe­wußten Frage in den menschlichen Seelentiefen.

Im Bewußtsein verläuft das Seelenleben so, daß der Mensch ge­wissermaßen in seiner Seele sich wie abgeschlossen fühlt, daß er sich fühlt in demjenigen, was er durch die Außenwelt mit Hilfe seiner Seele erlebt, daß er sich fühlt in demjenigen, was zurückbleibt an Erinnerungen in dem Seelenleben durch die Eindrücke der Außen­welt, daß er erlebt, was seine Empfindungen, seine Gefühle ihm gesagt haben bei dem Erleben der Außenwelt, bei dem Erleben der weiteren Schicksale der Außenwelt, in den Erinnerungsvorstellungen und so weiter, daß der Mensch dann, wenn er auf sein Willens-, auf sein Taten-leben hinsieht, sich sagt: Aus dem tiefsten Inneren meines Wesens, aus Tiefen, über die ich mir zunächst gar nicht Rechenschaft geben kann, quellen heraus die Impulse meines Vorstellens, meines Fühlens, meines Wollens.

Von dem Vorstellen in Anlehnung an die äußeren Sinneswahrneh­mungen, von dem Vorstellen, das in Erinnerungen lebt, von den Willensimpulsen, die sich ausleben in äußeren Taten, von alledem

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spricht der Mensch als von etwas Abgeschlossenem, wenn er zunächst hineinblickt in sein Seelenleben, wenn er zu dem kommen will, was man im gewöhnlichen Leben Selbstbeobachtung, Selbstbetrachtung nennt. Allein einem tieferen Einblick in das eigene Wesen wird es sofort klar, daß mit einer solchen Selbstbeobachtung dennoch die tiefsten Seelenbedürfnisse durchaus nicht befriedigt werden können, daß der Mensch in seinem tiefsten Inneren die Frage aufwerfen muß:

Was ist da in mir, das zusammenhängt mit irgendeinem Ursächlichen, mit einem Ewigen vielleicht, das den vorübergehenden Erscheinun­gen, die ich in Natur und Menschenleben vor mir habe, zugrunde liegt?

Der Mensch sucht gewissermaßen nach der tiefsten Wurzel seines eigenen Wesens im Gefühle, in der Empfindung zunächst. Und dar­aus ergibt sich ihm dann die entweder erkennmismäßig oder religiös oder sonst irgendwie gestaltete Frage: Wie ist diese Wurzel nun ein-gewurzelt? Diese Wurzel, die ich in mir fühle, wie ist sie eingewurzelt in einem Objektiven, in einem vielleicht Kosmischen, kurz, in einem Äußeren, das ähnlich ist meinem Inneren, das so ist, daß ich mit die­ser Einwurzelung meines Inneren in ihm befriedigt sein kann? - Im Grunde genommen hängt des Menschen Seelenstimmung davon ab, ob er irgendwie im Leben in der Lage ist, eine in der einen oder anderen Weise geartete Antwort auf diese für das Leben der Seele innerlichst schicksalsmäßige Frage zu gewinnen.

Wir haben mit diesen Worten einleitungsweise ein wenig darauf hingedeutet, wie sich in gewissem Sinne das menschliche Seelenleben widerspruchsvoll ergibt, widerspruchsvoll so, daß man es zunächst wie ein Abgeschlossenes in Denken, Fühlen und Wollen hat, daß man aber damit durchaus nicht befriedigt sein kann, weil man ja äußerlich auch wahrnimmt, wie gewissermaßen das leibliche Gehäuse das Schicksal teilt der anderen Naturobjekte, des Entstehens, des Vergehens, und wie einer äußerlichen Betrachtungsweise durchaus nicht aufgehen kann, inwiefern das Seelische mit einem Ewigen zusammenhän­gen kann, da man es doch zunächst für die äußere Beobachtung hinschwinden sieht mit dem Aufhören des Lebens im physischen Leibe.

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Das innerste Bedürfnis der Seele widerspricht zunächst dem, was die Seele bei einer ersten Selbstbeobachtung, wie sie sich eben im gewöhnlichen Leben ergibt, haben kann. Dann, wenn man so recht tief empfindet dieses Widerspruchsvolle, das aber zusammenhängt mit diesem schicksalsmäßigen inneren Erleben des Menschen als Menschen, dann sieht man sich wohl dieses wogende, webende See­lenleben an, und man ilndet dann, daß es gewissermaßen nach zwei Polen hin besonders geartet ist, daß es nach der einen Richtung hin das Vorstellen, nach der anderen den Willen ausbildet. Zwischen dem Vorstellen und dem Willen findet man das Gemüt, das Fühlen, und man wird gewahr, wie die Vorstellungen, die man, sagen wir, aus der Außenwelt schöpft, von Empfindungen, von Gefühlen begleitet wer­den, die diesen Vorstellungen die innere Seelenwärme, die die Seele braucht, geben. Man wird gewahr, wie auf der anderen Seite das­jenige, was als Willensimpulse aus der Seele fließt, wiederum zusam­menhängt mit Empfindungs- und Gefühlsmäßigem, wie wir aus ge­wissen Gefühlen und Empfindungen heraus die eine oder die andere Willensentschließung fassen, wie wir im Gefühle begleiten, was aus dieser Willensentschließung wird, indem wir entweder mit dem, was wir wollen, beziehungsweise was aus dem Wollen wird, zufrieden sind in uns selbst oder unzufrieden. Wir sehen gewissermaßen an dem einen Pol des Seelenlebens das Vorstellen, an dem anderen Pol das Willensleben, und wir sehen in der Mitte drinnen, sich anschließend an das Vorstellungsleben, sich anschließend an das Willensleben, das Gemüts-, das Gefühls-, das Empfindungsleben.

Und wenn wir das Vorstellungsleben mehr ins Auge fassen - ja, wenn wir ehrlich sind, so müssen wir uns für das gewöhnliche Leben gestehen, daß unser Vorstellungsleben so verffießt, daß es sich zu­nächst anschließt an dasjenige, was wir von außen her erleben, was unsere gesamten Sinne an der Außenwelt erleben. Gewiß, das Seelen-leben setzt in einer gewissen Weise das Erleben der Sinne fort, gibt dem Erleben der Sinne Färbung, bringt manchmal die Erinnerungs­vors teilungen mit einer ganz anderen Färbung heraus aus dem Inneren, als sie erfaßt sind an der äußeren Sinneswelt. Aber derjenige, der sich nicht Träumereien hingibt und der selbst seiner Phantasiewelt so

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gegenübersteht, daß er sich nicht in Illusionen wiegt, der wird doch überall im Vorstellungsleben finden, wie es angeregt ist von der äuße­ren Sinnesempfänglichkeit. Und wenn wir dann gewissermaßen uns abschließen von der äußeren Sinnesempfänglichkeit und, ohne daß wir einschlafen, in unserem eigenen Vorstellungsleben verharren, ohne daß wir den Willen entfalten, dann kommt allerdings in dieses Vor­stellungsleben allerlei hinein, was Erinnerung an äußere Wahrneh­mungen ist, was umgestaltete äußere Wahrnehmungen sind. Allein wir empfinden ganz deutlich den Bildcharakter dessen, was wir da in ihnen erfassen, wenn wir gewissermaßen alle Sinne schließen und im Inneren das bloße Vorstellen erleben. Wir fühlen, daß wir Bilder haben von dem, was diese Vorstellungen ausdrücken. Wir fühlen sogar das Flüchtige dieser Vorstellungen; sie treten in unserem Be­wußtsein auf, sie treten wiederum aus unserem Bewußtsein heraus. Wir können nicht so unmittelbar gewahr werden, ob an ihnen eine Wirklichkeit ist, oder ob sie bloße Bilder sind. Oder wenn wir vor-aussetzen, daß ihnen eine Wirklichkeit zugrunde liegt, so können wir diese Wirklichkeit zunächst nicht erfassen, weil die Vorstellungen sich uns als Bilder ergeben. Wir wissen ganz genau: Indem wir in den Vor­stellungen leben, leben wir in einer Bilderwelt.

Und radikal verschieden von dieser Bilderwelt ist dann dasjenige, was wir in unserer Willenswelt erleben. Das kann nicht durchschaut werden von unserem gewöhnlichen Bewußtsein. Das gewöhnliche Be­wußtsein faßt einen Gedanken oder einen unbestimmten instinktiven Impuls: Jch will das und das, ich will den Arm bewegen. - Nach einer verhältnismäßig kurzen Zeit erfolgt die Armbewegung. Man sieht wiederum die Armbewegung. Man hat zwei Vorstellungen: die Vorstellung, daß man den Arm erheben will, die Vorstellung, daß der Arm erhoben ist. Was dazwischen sich in unserer menschlichen Wesen­heit als Wille entfaltet hat, davon hat man zunächst keine Vorstellung. Das verschwindet in das Unbewußte wie die Zustände des Schlafes. In bezug auf unseren Willen schlafen wir auch wachend. Während die Vorstellungen mit lichter Klarheit in unserem gewöhnlichen Bewußt­sein sein können, während wir bei den Vorstellungen zwar nicht wis­sen, wie sie in einer Wirklichkeit wurzeln, wir sie aber doch ganz

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klar, hell in unserem Bewußtsein haben können, entfällt uns dasjenige, was Wille ist, aus dem Bewußtsein, wenn dieser Wille sich vollzieht.

Aber dafür wissen wir mit Bezug auf diesen Willen etwas anderes. Dieser Wille, wenn er zur Tat wird, wenn er also wirklicher Wille ist, nicht bloßer Wunsch, er drückt sich zweifellos in einer Realität aus. Ich habe zunächst die Vorstellung, sie ist ein Bild: Ich werde den Arm heben. - Was dann geschieht, das gewöhnliche Bewußtsein weiß es nicht, aber der Arm wird gehoben. Ein realer Vorgang der Außen­welt vollzieht sich. Was im Willen lebt, wird äußere Wirklichkeit, wie die anderen Vorgänge der Natur äußere Wirklichkeit sind.

Bei meinen Vorstellungen habe ich den Bildcharakter. Ich weiß zunächst nicht, wie das, was da im Gedanken sich als Vorstellung auslebt, zusammenhängt mit irgendeiner Realität. Bei meinem Willen weiß ich ganz genau: mit der Reabtät hängt er zusammen, aber ich kann ihn nicht hell und klar durchschauen wie die Vorstellungen.

Und dasjenige, was zwischendrinnen ist, die Empfindung, das Ge­fühl, die die Vorstellung färben, die den Willen färben, sie nehmen teil an der Helligkeit, an der lichten Klarheit der Vorstellung auf der einen Seite, und an der Finsternis, an der Unbewußtheit der Wil­lensimpulse auf der anderen Seite. Wir sehen eine Rose. Wir ver­gegenwärtigen sie uns innerlich als Bild. Wir ziehen unser Auge ab von der Rose. Wir haben sie als Bild in der Vorstellung. Wir sind als Menschen nicht von absoluter innerer Kälte durchzogen. Wir emp­finden Freude an der Rose, wir empfinden Gefallen an ihr. Wir sind innerlich befriedigt von dem Dasein der Rose. Zunächst können wir uns allerdings sagen, wie aus unserem menschlichen Wesen heraus dieses Gefühl der Freude, dieses Gefühl der Befriedigung von dem Dasein der Rose, dieses Gefühl des Gefallens entsteht. Wie es ent­steht in unserem Inneren, es bleibt zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein unbestimmt, aber es verbindet sich mit der hellen, lichten Klarheit der Vorstellungen. Es tingiert gewissermaßen, es färbt die Vorstellungen. Wenn wir eine deutliche Vorstellung von der Rose haben, so haben wir auch eine deutliche Vorstellung von dem, was uns gefällt. Es überträgt sich die helle, lichte Klarheit der Rosenvor­stellung auf unser Fühlen.

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Wenn wir aber einen Willensirnpuls haben - wir brauchen uns nur zu prüfen -, so kommt er aus den Tiefen unseres Wesens heraus: Ich will das, ich will jenes. - Aber wie oft sehen wir uns instinktiv zu dem oder jenem gedrängt! Unser Vorstellen sagt uns oft: Das sollte gar nicht geschehen -; unser Vorstellen sagt uns oftmals: Wir sind mit dem, was da geschieht, eigentlich unzufrieden. - Aber dann wie­derum, wenn wir zurückblicken auf unser eigenes Seelenleben und nach unseren Gefühlen fragen, so müssen wir doch sagen: Aus einem bestimmten Gefühl heraus hat sich das vollzogen, womit wir sogar unzufrieden sein können, und was so in den dunklen Seelentiefen wurzelt, daß sogar seine Qualität uns ihrem Ursprunge nach unbewußt bleibt. Und das, was wir dabei empfinden, ich möchte sagen, stürzt sich in einer gleichen Weise in diese Unbewußtheit, in diese Fin­sternis des Wollens hinunter. In welch anderer Weise nimmt unser Fühlen teil auf der einen Seite an der hellen Klarheit des Vorstel­lungslebens, auf der anderen Seite an der Dumpfheit des Willens-lebens!

So erscheint uns unser Seelenleben dreifach: als Denken, als Vor­stellen also, als Fühlen, als Wollen. Aber es ist nach den beiden Polen hin innerlich wesenhaft ganz verschieden gestaltet.

Nun, das Vorstellen verweist uns zunächst auf die Sinneswelt. Ge­wiß, wir nehmen nicht bloß einfache Sinneswahrnehmungen in unser Bewußtsein herein. Einfache Sinneswahrnehmungen wären: rot, blau, Cis, C, G, warm, kalt, wohlriechend, übelriechend, süß, sauer und so weiter. Auch fortlaufende Strömungen dieser Sinnesempfindungen können wir noch unmittelbar der Sinneswelt selber zuschreiben. Allein dann, wenn wir komplizierteren äußeren Vorgängen gegenüberste­hen? Nehmen wir nur einmal an, wenn wir einem Menschen gegen­überstehen: Unzählige Sinnesempfindungen kommen von diesem Menschen zu uns her. Was wir in seinem Antlitz sehen, was wir sonst an ihm sehen, was er spricht, die Art und Weise, wie er sich bewegt -wir könnten viele einfache Sinnesempfindungen anführen; allein das alles formt sich eben zu einem Ganzen, zu demjenigen, was wir dann als Mensch erleben. So daß wir sagen können: Durch die Sinnesemp­findungen erleben wir die Welt.

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Aber nur die Sinnesempfindungen selbst sind im engeren Sinne an uns gebunden. Die einfachen Sinnesempfindungen, rot, blau, Cis, G, warm, kalt und so weiter, stehen uns am nächsten in bezug auf unser seelisches Leben. Dasjenige, was wir in komplizierterer Weise er­leben - wir denken an einen Menschen, wir können aber auch an ein ganz äußeres Ereignis denken -, setzt sich zum Schluß auch als ein Sinneserlebnis zusammen. Das steht uns als ein objektives äußeres Erlebnis gegenüber. Wir wissen, wir sind mit dem Rot der Rose eng verbunden, indem wir unser Auge der Rose exponieren. Aber wenn wir einmal gesehen haben, wie, sagen wir, eine Mutter ihrem Söhn­lein eine Rose geschenkt hat, so haben wir einen komplizierteren Vor­gang. Er sondert sich von uns ab; da sind wir nicht so intim damit verbunden, und erst wenn wir aus dem, was wir etwa wissen über die Rose von Schiras, uns erinnern an Komplizierteres, das wir nicht gesehen haben, das wir nur auf eine andere Weise vernommen haben, auf eine Weise, wo die Sinnesempfindungen gar nicht mehr einen unmittelbaren Bezug haben auf das Äußere, kommt es uns etwas näher. Wir haben es vielleicht gelesen, die Sinnesempfindungen wur­den diejenigen von der Druckerschwärze, von den Formen der Buch­staben auf dem Papier, oder wir haben es gehört, indem es uns jemand erzählt hat, aber diese Sinnesempfindungen weisen uns auf etwas hin, was sich von uns stark absondert. Wir können den Unterschied fin­den zwischen dem Intimen, das die Sinnesempfindungen haben zu unserem Seelenleben, und demjenigen, was sich dann mehr äußerlich abhebt von uns, was wir nur mittelbar durch die Sinnesempfindungen haben.

Ein Ähnliches ist aber auch nach dem anderen Pol des menschlichen Lebens der Fall. Wenn ich einen Arm bewege, ist das eine Willens-entfaltung. Es geschieht nichts anderes als etwas an meinem eigenen Organismus. Ich bin mit dem, was da als Willensentfaltung aus dem Willensimpulse hervorgeht, eng verbunden. Ich bin so intim damit verbunden, wie ich mit einer Sinnesempfindung intim verbunden bin. Aber nun denken Sie daran: Wenn ich nun durch meine Willens-impulse nicht einfach meinen Arm bewege, sondern Holz hacke, dann sondert sich das, was durch meinen Willen geschieht, schon von mir

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ab. Es wird ein äußerlicher Vorgang. Es ist ebenso Ergebnis meines Willensimpulses wie die Bewegung des Armes, aber es sondert sich von mir ab. Es ist äußerlich vorhanden. Und denken Sie, welche kom­plizierteren Vorgänge nun hervorgehen können aus solchen Willens-impulsen! Wenn Sie aber genauer auf die Sache eingehen, werden Sie vergleichen können, was auf der einen Seite in uns hereinkommt, indem die intimen Sinnesempfindungen uns führen zu den äußeren Begebenheiten, die von uns abgesondert sind, und das, was aus uns herauskommt, indem die Willensimpulse sich absondern von dem, was nur Ergebnis des Willensimpulses aus unserem eigenen Organismus ist, indem die Willensimpulse zu äußeren, sich eben von uns abson­dernden Geschehnissen werden. So stehen wir in der Welt drinnen durch die beiden Pole unseres menschlichen Wesens.

Nun werden wir aber gerade, wenn wir eine solche Betrachtung uns vorführen, dazu geführt, auf diesen wesentlichen Unterschied hinzuschauen, der besteht zwischen der Be4ehung unseres Seelen-lebens zu dem, was durch unsere Sinne kommt, was da draußen in der Welt auch vorgeht: irgendein äußeres Ereignis, das da in der Welt vorgeht, das ich durch Sinnesempfindungen wahrnehme, das steht draußen in der Welt; aber irgend etwas, was ich durch meine Wil­lensimpulse bewirkt habe, was aus mir hervorgegangen ist, steht auch draußen in der Welt. Beides sind äußere Vorgänge. Wenn ich mich nun das eine Mal in meinen Sinnesempfindungen wegdenke und nur den äußeren Vorgang mir vorstelle: es ist ja ein äußerer Vorgang; das andere Mal, wenn ich mich wegdenke durch meinen Willens-impuls und hinsehe auf das, was durch mich geschehen ist: es ist auch ein äußerer Vorgang. Ich stehe zu der Außenwelt in einer zweifachen Weise in Beziehung. Aber das, wozu ich in Beziehung stehe, sind eben äußere, von mir abgesonderte Vorgänge. In der Außenwelt läuft das eine in das andere hinein.

Nehmen Sie an, ich hacke Holz. Ich sehe zunächst das Holz vor mir. Vielleicht sehe ich nicht nur das Holz vor mir, sondern einen kom­plizierten äußeren Vorgang. Ich sehe jemanden, der das Holz vor mir herträgt, es vor mir niederlegt, das ich dann zu spalten habe. Jetzt bin ich bereit, das Holz zu hacken, zu spalten. Wiederum führen mich

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bei jedem Stück meine Sinnesempfindungen. Ich habe erst das Stück so; jetzt hacke ich hinein, jetzt ist es so. So war es ohne mich. Dies ist durch mich geschehen (siehe Zeichnung). Die Sinnesempfindungen gehen vom einen ins andere hinein, so daß dasjenige, was durch mich geschieht und durch mich nicht geschieht an äußeren Ereignissen, ein ineiranderfließender Strom ist.

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Man muß nur fühlen, wie sich gerade das Rätsel des Seelenlebens an dieser einfachen Frage entzündet, wie ich auf der einen Seite hin­schaue auf das, was als Welt fertig dasteht, auf der anderen Seite auf das, was durch mich geschieht. So ist zunächst, ich möchte sagen, der simpelste äußere Tatbestand unserer Beziehung als Seele zur Um­welt charakterisiert. Es ist natürlich nichts Besonderes gesagt, indem man es so charakterisiert, aber es ist das Rätsel eben zunächst wenig­stens aufgeworfen von einer gewissen Seite her.

Wir wollen nun von einer anderen Seite her das Problem, das Rät­sel aufwerfen. Wir haben unsere Sinne an uns. Durch diese Sinne wis­sen wir eigentlich zunächst etwas von der Außenwelt. Wir haben unsere Glieder an uns. Durch diese Glieder setzen wir uns in Bewe­gung. Und im Grunde genommen geschieht alles, was wir in die

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Außenwelt hineinbringen durch unsere Willensimpulse, durch Ver­mittelung unserer Glieder. Wir haben also auf der einen Seite unsere Sinneswelt, auf der anderen Seite unsere Glieder. Und schon aus dem ganzen Tatbestand, wie wir ihn dargestellt haben, können wir uns sagen: Die Wesenheit unserer Glieder, die Weseriheit unserer Sinne, sie sind auch polarisch entgegengesetzt. Bei unseren Sinnen hört ge­wissermaßen die Außenwelt auf, ehe sie unser Inneres wird; bei unse­ren Gliedern fängt gewissermaßen eine Außenwelt an, die dann sich von uns absondert, die weiterströmt. Das fordert uns auf, eine Be­ziehung zu suchen zwischen unseren Sinnen und unseren Gliedern. Sie können sich vielleicht ein Wesentlichstes dessen, was in den menschlichen Sinnen sich ausdrückt, vor Augen führen, wenn Sie das Auge betrachten, denn das Auge drückt die Wesenheit des Sinnes viel­leicht am alleranschaulichsten aus. Das Auge ist ein verhältnismäßig selbständiges Organ; es ist als selbständiges Organ eingesetzt in seine Knochenhöhlung. Nur als Stränge, als Fortsetzung nach rückwärts geht in das Innere unseres leiblichen Organismus hinein, was als Ner­venleben, Blutleben des Auges sich entfaltet. Da ist eine Verbindung nut unserem Gesamtorganismus, aber abgesehen davon ist das Auge verhältnismäßig selbständig.

Wir sehen eine ganze Reihe von, ich möchte sagen, zunächst phy­sikalischen Vorgängen im Auge, wenigstens von Vorgängen, die wir physikalisch deuten können. Wenn wir symbolisch sprechen, können wir sagen: Das Licht kommt heran, dringt in unser Auge ein, wird dort in einer gewissen Weise verarbeitet. Ich will jetzt die physischen, die chemischen Vorgänge, die sich abspielen, nicht charakterisieren, denn ich will über das Seelenleben, nicht über Physiologie sprechen. Aber ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, wie wir also zunächst eine Art selbständigen Lebens im Auge haben.

Wir können sogar diese Art selbständigen Lebens vergleichen mit dem, was vorgeht in einer Nachbildung des Auges, rein als physikalischer Apparat, einer Art Camera obscura, in die das Licht ähnlich einfällt wie in das Auge. Wir können gewisse Vorgänge haben, die dann aller­dings nicht mehr im Auge leben, die nicht wie im Auge zur Emp­findung werden, aber wir können gewisse Vorgänge nachbilden, wir

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können sie wie in einem gewissen physikalischen Apparat zur Dar­stellung bringen. Wir sehen daraus, daß da etwas einem physikali­schen Vorgang Ähnliches in einem verhältnismäßig selbständigen Organismus vor sich geht, das nicht unmittelbar zum Bewußtsein kommt. Zum Bewußtsein kommt dann das, was der so und so ge­formte, so und so beleuchtete äußere Gegenstand ist. Dasjenige, was einem physikalischen Vorgange ähnlich ist, das spielt sich gewisser­maßen unbewußt im Menschen ab, spielt sich als ein selbständiger Prozeß im Menschen ab. Daß das so sein kann, das verdankt der Mensch dieser relativen Selbständigkeit seines Sehorgans. Weniger auffällig ist das bei anderen Sinnen, allein es läßt sich für jeden Sinn etwas Ähnliches sagen; aber wir wollen es eben beim charakteristi­schen Sinn des Auges erfassen.

Wir sehen, wie die Sinneswahrnehmung etwas verhältnismäßig Selbständiges ist. Wir können geradezu sagen, wenn wir das Auge in den Vorgängen, die in ihm selbst sind, betrachten (siehe Zeichnung),

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so ist bis zu den Blutleitungen und Nervenleitungen da drinnen der Vorgang etwas wie eine Fortsetzung dessen, was in der Außenwelt geschieht, ebenso stark eine Fortsetzung, daß wir es, wie ich es ange­deutet habe, physikalisch nachbilden können. Es ist, wie wenn die Außenwelt wie in einem Golf sich nach dem Inneren erstreckte; ge­wissermaßen das, was in der Außenwelt geschieht, setzt sich in unser

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Inneres, ich meine, physisch-leiblich Inneres fort. Sehen Sie, das ist die eine Seite der Sinneswahmehmung, daß sich das Äußere fortsetzt nach unserem Inneren; daß wir dann auf eine Weise, die wir gerade in diesem Vortragszyklus besprechen wollen, umfassen mit unserem Innenleben, mit unserer inneren Aktivität das, was sich von außen hineinbildet wie in einen Golf.

Aber es gibt eine andere Seite des Sinneslebens. Es gibt die Seite des Sinneslebens, die man, wenn wir beim Auge stehenbleiben, etwa so charakterisieren kann. Ich will jetzt nicht von Blinden sprechen, sondern die Sache mehr im allgemeinmenschlichen Sinn betrachten; wir kommen auf alle diese Dinge dann vom Standpunkte der anthro­posophischen Geisteswissenschaft intim zurück. Nehmen wir an, wir wären der Welt des Auges beraubt. Wir können uns schon in gewis­sem Sinne Vorstellungen machen darüber, daß wir dann ein Manko haben in unserem Seelenleben, daß uns etwas fehlt, eben das, was durch den Sinn des Auges hereinfließt. Man stelle sich nur vor, wie es ist, wenn es da im Inneren der Seele so dunkel ist, weil das Licht nicht hereinfiießen kann. Wir wissen, daß es für das gewöhnliche See­lenleben oftmals bei gewissen Temperamenten, bei gewissen mensch­lichen Naturen, Furchtzustände hervorruft, wenn sie im Finstern sind. Menschen, welche blind sind oder blind geboren werden, werden aller­dings bewußt nicht in solche Zustände versetzt, aber sie erleben ja objektiv ein Ähnliches wie ein Mensch, der sonst im Finstern lebt. Und daß sich an das Erleben der Finsternis, des Dunkels Furchtzu-stände anknüpfen, kann uns darüber belehren, daß eben unsere Ge­mütsverfassung mit dem zusammenhängt, was durch unser Auge in uns eindringt. Wir können uns aber auch vorstellen, daß solche Ge­mütszustände dann auf unsere organische Verfassung wirken.

Derjenige, der zu einer gewissen Melancholie verdammt ist dadurch, daß er durch das Fehlen des Augenlichtes etwa im Finsteren leben müßte, er wird diese Melancholie auf gewisse feinere Strukturen sei­nes Auges übertragen. Und wir können uns leicht vorstellen, daß der Mensch nicht so wäre, wie er ist, wenn er nicht in seinen Organismus hinein das bekommen hätte, was eben durch das seelische Erleben der Helligkeit in uns hereinkommt. Dieses seelische Erleben der Helligkeit

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gießt sich aus über unser ganzes inneres Wesen. Es setzt sich in uns fort, setzt sich fort bis zu dem Grade, daß wir uns schon Vorstel­lungen darüber bilden können, wie, sagen wir, gewisse Gefäßvor­gänge, gewisse innere Absonderungs- oder sonstige Vorgänge sich anders abspielen dadurch, daß das Erfrischende, das Auffrischende des Helligkeitswahrnehmens unseren Organismus durchwebt, wäh­rend das Dunkelwahrnehmen in einer anderen Weise auch auf unsere innere Absonderung, auf unsere Zirkulation wirkt. Kurz, wir können uns vorstellen, wenn wir uns an das Auge halten, wie wir dem Auge nicht nur verdanken, daß wir gewisse Vorgänge und Wesenhaftig­keiten der Außenwelt in unserem Inneren uns repräsentieren können, sondern auch eine gewisse innere, nicht nur Seelenverfassung, sondern auch physische, körperliche Verfassung. Wir sind in einer gewissen Weise das, was das Licht aus uns macht.

Wenden wir jetzt den Seelenblick ab vom Auge, bei dem wir auf der einen Seite sehen, wie es ein Sinnesorgan ist, wie es rein uns Vor­stellungen gibt für unser inneres Seelenleben, wie es aber auch in allerlei unbewußten, instinktiven Prozessen durch das Erleben der Helligkeit oder Dunkelheit uns bis ins Körperliche hinein Erfrischung oder Verstimmung gibt, wie wir in einer gewissen Weise so sind, wie wir durch das Augenerleben eben sein können. Wenden wir davon den Seelenblick ab, und wenden wir ihn etwa auf unsere Lunge hin.

Die Lunge steht auch mit der Außenwelt in einer Beziehung. Sie nimmt den Sauerstoff aus der äußeren Luft auf; sie verarbeitet ihn. Sie unterhält durch die Atmung unser Leben. Wenn wir nicht gerade ein indischer Jogi sind, nehmen wir für das gewöhnliche Bewußtsein nichts wahr, wenn wir unseren Lungenvorgang vollziehen. Aber je nachdem die Lunge wirkt, ob sie gesund die äußere Luft wahrnimmt, ob sie durch ihren Krankheitszustand nicht in der richtigen Weise die äußere Luft wahrnimmt, das wirkt in uns weiter. Wie wir atmen durch die Lunge, so sind wir. Wir nehmen nicht wahr durch die Lunge für das gewöhnliche Bewußtsein, aber wir haben etwas durch unsere Lunge, was macht, daß wir so und so sind in unserem Organismus.

Für das Auge - und das können wir für jeden der äußeren Sinne -können wir sagen, es lebt auf der einen Seite im sinnlichen Wahrnehmungsvorgange,

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auf der anderen Seite leise in einem anderen Vor-gange, denn wir müssen es uns erst zum Bewußtsein bringen, daß da durch das Helligkeits- oder Dunkelheitserleben in uns auch etwas vor­geht, das nicht so vehement, nicht so radikal ist, so ausgesprochen wie das, was durch die Sauerstoffaufnahme der Lunge in uns vorgeht. Daß der Mensch dasjenige ist, was die Sauerstoffaufnahme der Lunge aus ihm macht, das weiß er, weil das ein robuster, ein starker, inten­siver vitalistischer Vorgang ist. Dasjenige, was wir durch das Auge haben, ist ein intimer, leiser vitalistischer Vorgang neben dem eigent­lichen Sehvorgang. So daß wir sagen können: Bei einem solchen Organ, wie es die Lunge ist, ist das ganz besonders stark ausgeprägt, was beim Auge, bei einem Sinnesorgan, nur leise angedeutet ist.

Nun aber können Sie nachlesen in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und im zweiten Teil meiner «Geheimwissenschaft im Umriß», wie der Mensch Übungen machen kann, durch die er gewisse, in ihm sonst verborgene Erkenntniskräfte zu höheren Fähigkeiten ausbildet. Durch solche Übungen wandelt er sein ganzes Inneres um. Dasjenige aber, was durch diese Umwande­lung geschieht, läßt sich gerade für unser Beispiel so charakterisieren, daß die Lunge einen ähnlichen Charakter annimmt wie das Auge. Es tritt in einem allerdings höheren Schauen der vitalistische Vorgang zunächst zurück. Wir geben uns weniger dem hin, was die Lunge durch Atmung organisch aus uns macht; aber wir wandeln die Lunge so um, daß sie nun auch ein Sinnesorgan wird, allerdings nicht die physische Lunge, sondern einen feineren Teil, den ätherischen Teil der Lunge. Wir machen aus der Lunge in ihrer feineren Gliedrigkeit etwas Ähnliches, wie das Auge ist, ohne daß wir etwas dazu tun. Unser Auge hat die Natur zu einem Schauorgan gemacht, neben einem Organ, das an uns bildet. Die Lunge ist zunächst für unser gewöhn­liches Bewußtsein ein Organ, das an uns bildet. Wir machen sie, in­dem wir in uns Erkenntnisse der höheren Welten erleben, zu einem Schauorganismus, zu einem höheren Sinnesorgan mit ihrem feineren ätherischen Teil.

Und wenn wir dieses ätherische Wesen, das wir jetzt erst gewahr werden, an der Lunge erleben, können wir jetzt die Lunge ebenso

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beschreiben. Wir können sagen: Da ist die Lunge, die ätherische Lunge. Der Ätherleib der Lunge, der nimmt wahr, der ist also ein höheres Sinnesorgan. Und indem er die physische Lunge in sich trägt, ist er ein vitalisierendes Organ. Sie sehen, im Erlangen der Erkenntnis höherer Welten wird die Lunge aus einem gewöhnlichen, nicht wahr-nehmenden Körperorgan, das aber dem Wachstum, der Lebensentfal­tung des Körpers gewidmet ist, ein Sinnesorgan im höheren Sinne.

Solche Betrachtungen können wir für das Herz anstellen, solche Be­trachtungen können wir aber auch für die anderen Organe, für Nieren, für Magen und so weiter anstellen. Alle Organe, die der Mensch in sich trägt, können durch gewisse höhere Entwickelung, indem ihr Ätherisches oder ihr noch Geistigeres, das Astralische, zu Wahrneh­mungsorganen werden, können Sinnesorgane werden.

Wir schauen auf der einen Seite auf die Natur hin, dann auf unsere Sinne und sagen uns: In unseren Sinnen liegt etwas, was auf der einen Seite eben die Sinnesempfindungen vermittelt, auf der anderen Seite unsere Vitalität. Wir schauen auf unsere inneren Organe, Lunge, Herz und so weiter. Wir finden, das sind zunächst Organe, die unsere Vita­lität unterhalten. Wir bilden sie aus durch jene Methoden, die ich be­schrieben habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?»: sie werden Sinnesorgane. Und so wie wir durch das Auge das Licht oder die Farben, das heißt, einen gewissen Teil der äußeren Sinneswelt wahrnehmen, so nehmen wir einen gewissen Teil der äuße­ren geistigen Welt wahr gerade durch das ätherische Lungenorgan, einen anderen Teil der geistigen Außenwelt durch das ätherische Herzorgan. Wir können unseren Gesamtorganismus in einen Sinnes-Organismus umbilden.

Sehen Sie, da haben Sie gewissermaßen real erfaßt, was sonst als Außenwelt nur bis an die Oberfläche der Sinne dringt und dann Vor­stellung wird. Das haben Sie tiefer, aber jetzt als geistige Außenwelt an den Menschen herandringend. Der Mensch wird gewissermaßen, indem er sich zu Erkenntnissen höherer Welten entwickelt, indem er seine inneren Organe zu Sinnesorganen umbildet, nach und nach innerlich so durchsichtig, wie das Auge durchsichtig ist. Wir sehen, wie die Außenwelt ihn durchsetzt.

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Sie sehen aber daraus, daß, wenn wir beim gewöhnlichen Bewußt­sein bleiben, wir nur hinschauen können auf die äußeren Sinne, die wir haben beschreiben können, wie sie sind. Aber denken Sie sich, kann ein Mensch die gesamte Völkerkunde der Erde kennen, wenn er nur drei Völker kennt, wenn er nur von drei Völkern gehört hat? Nein, denn er muß vergleichen können. Denken Sie, was uns zur Ver­gleichung gegeben wird für die Erkenntnis auch der äußeren Sinne, wenn wir uns fragen können: Wie sind unsere inneren Organe, wenn sie auch Sinne werden?

Wir erlangen gerade dadurch eine ganz besondere Art von Men­schenerkenntnis. Wir erlangen eine Erkenntnis von dem, was in uns veranlagt ist, was in uns werden kann. Ja, aber zeigt denn das nicht auf etwas anderes? Wirft denn das nicht eine bedeutungsvolle Frage auf? 0 ja, es wirft die Frage auf: Wenn unsere Lunge durch unsere eigene, durch uns in die Hand genommene höhere Entwickelung ein Sinnesorgan werden kann, wenn also gewissermaßen der Werdegang so ist, daß wir in der Lunge zuerst ein vitales Organ haben, dann ein Sinnesorgan, wie steht dann das zum Beispiel mit dem Auge oder mit einem anderen Sinn? Steht es da vielleicht so, daß es heute Sin­nesorgan ist, aber auch einmal, aber nicht in einem bewußten Prozeß, wie wir es beim Erringen der höheren Erkenntnis machen, sondern einmal in einer früheren Weltentwickelung ein bloßes Vitalorgan war, das Auge also vielleicht ein Organ, das ähnlich dem Organismus ge­dient hat, wie heute die Lunge dient, ohne schon ein Wahrnehmungs­organ zu sein?

Die Frage wird wenigstens zunächst aufgeworfen: Da in unseren Vitalorganen die Möglichkeit der Sinnesbildung steckt, da wir sehen, wie Sinn wird, werden wir da nicht darauf verwiesen, einmal zu achten, ob die Sinne nicht in einer ähnlichen Weise durch äußere Weltentwickelungen erschlossen worden sind, ob wir nicht mit dem Menschenwesen zurückgehen müssen in frühere Zeiten, wo das Men­schenwesen noch nicht diese äußeren Sinne nach außen gewendet hat, sondern wo diese äußeren Sinne Innenorgane waren, Vitalorgane waren, wo also der Mensch in bezug auf seine jetzigen äußeren Sinne blind, taub war, aber seine Augen, die natürlich noch anders gestaltet

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gewesen sein müssen, zu etwas anderem gedient haben, ebenso seine Ohren zu etwas anderem gedient haben?

Zugleich sehen wir, wie das Erringen der Erkenntnisse höherer Welten etwas hinzufügt zu derjenigen Menschenerkenntnis, die wir uns nur auf äußerliche Weise erringen können.

Die meisten von Ihnen haben ja von mir Darstellungen gehört über das Wesen des Menschen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus. Indem ich heute zunächst einleitungsweise wiederum auf einen Gesichtspunkt eben nur hingewiesen habe, sehen Sie daraus, wie anthroposophische Weltbetrachtung von den verschiedensten Ge­sichtspunkten ausgehen kann, und durch das Zusammenfassen der Ergebnisse von diesen verschiedenen Gesichtspunkten aus eben erst zu einer Totalauffassung des menschlichen Wesens kommt.

Man stellt sich eben oftmals vor, anthroposophische Forschung sei so, nun ja, daß man eben einen geraden Weg zu den paar Definitio­nen gibt, die meistens in den Büchern stehen, die in nichtanthroposo­phischen Kreisen über die höheren Welten geschrieben werden. Das ist aber nicht so, sondern das, was man zunächst von einem Gesichts­punkte aus gewinnen kann, der manchmal in einer furchtbaren Weise abgekanzelt wird, weil die Leute eben glauben, es ist nur ein Gesichts­punkt da, das kann eben ergänzend von anderen Gesichtspunkten aus wieder beleuchtet werden, und dann fügt sich das Ganze zusammen zu einem Wahrheitsgebäude der Anthroposophie, das sich eben selbst trägt.

Wer gewöhnt ist an dasjenige, was er seinem Wahrheitswege zu­grunde legt in unserem materialistisch gefärbten Zeitalter, der sagt vielleicht: Ja, diese Anthroposophie baut auf nichts Festem, während-dem die Wissenschaft auf der festen Beobachtung baut. - Das ist so, wie wenn jemand sagen würde: Die Erde kann doch nicht frei im Weltenraum schweben! Jeder Körper muß auf etwas liegen, wenn er nicht herunterfallen soll; also wenn die Erde nicht auf einem mäch­tigen kosmischen Klotz ruht, so müßte sie ja herunterfallen. - Aber der Satz, daß alles auf dem Boden ruhen muß, gilt nur für die Dinge der Erde. Er gilt nicht mehr für die Weltenkörper, und es wäre eine Torheit, das, was für die Erde gilt, auf den Zusammenhang der Weltenkörper

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zu übertragen. Die tragen sich gegenseitig. Und so ist es bei den antliroposophischen Wahrheiten: sie führen eben aus der Welt, in die wir hineingewöhnt sind, zu den anderen Welten, in denen sich die Wahrheiten gegenseitig tragen. Dazu allerdings muß ein Wesentliches beigetragen werden, daß sich die Wahrheiten also selbst tragen.

Das wollte ich heute als Einleitung geben zu den Vorträgen, die ich morgen und dann in der nächsten Woche über das menschliche Seelenleben in seinem Verhältnis zur Weltentwickelung geben werde. Ich wollte heute gerade die Einleitung so gestalten, damit man sieht, daß allerdings das, was dann mit Hilfe der übersinnlichen Forschungs­methode über dieses Seelenwesen gesagt werden kann, durchaus sei­nen Anfang nehmen kann in bezug auf die Betrachtungen von dem­jenigen, was sich eben schon einem vernünftigen Interpretieren des gewöhnlichen Bewußtseins ergibt.

Ich konnte heute nur den ersten Schritt machen von einer äußer­lichen Beschreibung hinein in die Art und Weise, wie das höhere Be­wußtsein, sagen wir, die Lunge sieht heim Übergang in ein geistiges Sinnesorgan, wenn ich den widerspruchsvollen Ausdruck gebrauchen dar£ Wir werden aber gerade auf diesem Wege weiterschreiten, um die angedeuteten Beziehungen des menschlichen Seelenlebens in den nächsten Tagen kennenzulernen.

ZWEITER VORTRAG Dornach, 30. April 1922

#G212-1978-SE031 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

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ZWEITER VORTRAG

Dornach, 30. April 1922

#TX

Ich habe Ihnen gestern von den Sinnesorganen gesprochen, und ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie sich der Anblick der Sinnes­organe dann ausnimmt, wenn wir ihn so fassen, daß wir zu dem, was das gewöhnliche Bewußtsein liefert, dazunehmen die Erkenntnis der übersinnlichen Welten. Ich habe gesagt, daß in dem Augenblicke, wo wir uns aufschwingen zu einem geistigen Schauen der übersinnlichen Welten, daß dann andere Organe - ich führte gestern das Beispiel der Lunge an - ebenso Sinnesorgane werden, wie es unsere gewöhnlichen Sinnesorgane sind. So daß wir gerade dadurch die Anschauung be­kommen müssen, daß unsere Organe in einem Wandel, in einem Wer­den begriffen sind, und daß, wenn wir die Welt ebenso anschauen, wie wir sie - wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf - im Alltag anschauen können, wir eigentlich immer nur etwas bekommen, was festgehalten ist, was uns einen augenblicklichen Zustand zeigt, wäh­rend wir sein Vorher und Nachher nicht überblicken können.

Wir müssen uns ja das Folgende sagen. Wenn uns einfach das Auf­rücken in die imaginative Welt, wie ich sie genannt habe in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», den Übergang zeigt unserer Lunge aus einem bloßen Lebensorgan in ein Sin­nesorgan, so können wir diese Lunge nicht mehr so ansehen, wie wir sie im gewöhnlichen Leben ansehen. Wir müssen uns sagen: Unser ge­wöhnliches Leben zeigt uns einen Zustand, der festgehalten ist. - Und wenn wir diesen Zustand, der festgehalten ist in der Lunge, verglei­chen mit dem Zustand, der festgehalten ist gewissermaßen in unseren Augen, dann bekommen wir die Anschauung: Das, was uns unsere Lunge zeigt, ist gewissermaßen ein jüngerer Zustand als dasjenige, was uns unser Auge zeigt.

Ich habe gestern gesagt - die Frage können wir wenigstens aufwer­fen -: War das Auge in der Weltenentwickelung einmal so ein Lebens-organ, wie es die Lunge heute ist? - Bleiben wir dabei, daß wir, um möglichst vorsichtig zu sein, das zunächst als Frage aufwerfen. Sagen

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wir uns, es gibt wenigstens eine Möglichkeit, daß die Lunge und das Auge sich so verhalten, sagen wir, wie ein Knabe zu einem erwach­senen Menschen, so daß das eine die junge Form ist, das andere die alte Form ist, daß also einmal das Auge in der Weltentwickelung in der Jugend auch ein Lebensorgan gewesen sein könnte, jetzt ein Sinnesorgan

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geworden ist, daß die Lunge jetzt ein Lebensorgan ist, spä­ter ein Sinnesorgan werden könnte. Doch wird sich uns die Wahrheit erst ergeben, wenn wir weiter eintauchen in übersinnliche Erkennt­nisse gerade auf diesem Gebiete. Dazu wollen wir heute die andere Seite, gewissermaßen den anderen Pol des menschlichen Seelenlebens betrachten, den Willenspol. Wir haben ihn gestern, ich möchte sagen, rein äußerlich charakterisiert.

Wenn wir nun den Willenspol aber auch so betrachten, daß wir uns die Frage vorlegen: Wie ergibt sich sein Anblick, wenn wir uns ima­ginative Erkenntnis erwerben? - Ja, wenn wir uns imaginative Er­kenntnis erwerben, dann ergibt sich das, daß zunächst alles, was Or­gane des Willens sind, abblassen, verblassen vor dem geistigen Schauen. Wir haben an uns als Organe unseres Willens zunächst unsere Gliedmaßen; diese Gliedmaßen blassen ab. Und das ist das

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Charakteristische, daß eigentlich der Mensch, indem er sich zum ima­ginativen Erkennen erhebt, wenn er seinen äußeren Organismus be­trachtet, die Gliedmaßen und dasjenige, was damit zusammenhängt nach innen, das Stoffwechselsystem, verliert; im Anblick verliert er es. Es ist einfach nicht mehr in der Stärke da wie vorher, wie für den sinnlichen Anblick. Und wenn wir alles das, was wir da gewissermaßen verlieren, was sich für den höheren Anblick uns entzieht, vergleichen nut etwas, was in der Sinneswelt vorhanden ist, dann kommen wir zu einem ganz merkwürdigen Ergebnis.

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Ich will Ihnen dies Ergebnis schematisch aufzeichnen. Nehmen Sie an, wir haben hier den Menschen, wie wir ihn in der Sinneswelt sehen (siehe Zeichnung). Jetzt beginnen wir diesen Menschen mit der ima­ginativen Erkenntnis anzuschauen. Die Gliedmaßen werden blaß, ver­lieren sich. Aber auch alles das wird blaß, was Knochensystem ist. Und das wird immer blasser und blasser vor der imaginativen Er­kenntnis.

Nun denken Sie einmal, ich zeichne das heraus, was vor der ima­ginativen Erkenntnis blaß wird; was bekomme ich dann? Ich be­komme immer mehr das Bild des menschlichen Leichnams. Das heißt

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aber nichts anderes als: Das, was vom Menschen nach dem Tode übrig bleibt und was ich in die Erde versenke, wenn ich den Men­schen begrabe, oder was verbrannt wird, wenn der Mensch verbrannt wird, das hört auf, sichtbar zu sein in demselben Maße, in dem man die übersinnliche Erkenntnis anwendet auf den Menschen. Aber etwas anderes wird sichtbar. Da, wo die Arme, die physischen Arme immer mehr und mehr erblassen, da wird allerlei sichtbar, was die ältere in­stinktive Erkenntnis gar nicht so unrichtig gesehen hat, indem sie von Flügeln gesprochen hat, indem sie gesagt hat, daß an der Stelle, wo der physische Mensch Arme hat, das geistige Wesen und natürlich auch der geistige Mensch nach dem Tode dann geflügelt wird. Aber das ist dann eine grobe Vorstellung, ich möchte sagen, eine gespenstisch grobe Vorstellung, wenn man so wie eine Art Symbolum so ein ge­flügeltes Wesen, einen besseren Vogel, an die Stelle des Geistwesens setzt. Denn wenn man die Erkenntnis der höheren Welten fortsetzt, wenn man aufsteigt, so wie ich es beschrieben habe, von der imagi­nativen Erkenntnis zu der inspirierten Erkenntnis, dann merkt man, was das eigentlich ist. Das ist ein ziemlich unregelmäßiges Gebilde beim Menschen, was da grob als Flügel gefaßt werden könnte. Es ist auch gar nicht so leicht herauszubekommen, was das ist, was man da sieht. Wenn man aber darauf eingeht, bekommt man nach und nach durch subtiles Anschauen heraus, was das eigentlich ist, was, sagen wir, an der Stelle meines rechten Armes auftritt und meiner rechten Hand, wenn ich von der imaginativen zur inspirierten Erkenntnis mich hinaufschwinge. Ich will die Sache noch anders sagen: Nicht wahr, die Arme machen ja zum Entsetzen der Herren Materialismus-kritiker, besonders bei der Eurythmie, schreckliche Bewegungen, viele Bewegungen. Das können die Leute nicht leiden, die die Eurythmie nicht verstehen. Aber wenn Sie dasjenige, was in Eurythmie an Bewegungen gemacht wird, mit der inspirierten Erkenntnis betrach­ten - nicht der Arm ist da, nicht die Hand ist da, aber alle Bewegungen sind da, alle einzelnen Bewegungen; das alles ist da. Und weil das alles ineinandergeht, weil das so vieles ist, weil das immer ineinander-greift, so nimmt sich das aus wie Flügel.

Nun, die Menschen, die nicht Eurytltmisten sind, machen ja auch

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mit ihren Armen Bewegungen, und der Mensch macht mit den At­men die meisten Bewegungen. Alle diese Bewegungen, die Bewe­gungsformen, die Bewegungskurven, die werden sichtbar (siehe Zeichnung, orange). Dasjenige, was physisch ist, der Muskel, das

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Fleisch, die Knochen, die hören auf, sichtbar zu sein. Die Bewegun­gen, sie werden sichtbar. Ja, sehen Sie, ebenso ist es mit den Beinen. Aber ich habe Ihnen gestern gesagt: Der Mensch bewegt ja nicht nur sich; ich habe gestern, um nicht gerade Gedankenformen zu erregen, die auf unnützes Leben hinweisen, nicht das Sportwesen genannt, son­dern ich habe das Holzhacken genannt. Nun, da führt der Mensch fort­während Bewegungen aus, wenn er Holz hackt. Alle diese Bewegun­gen sind aber auch da, wenn man von der imaginativen Erkenntnis zu der inspirierten Erkenntnis aufsteigt. Aber der Mensch führt nicht nur durch seinen Leib Dinge aus; er führt gedachte Dinge aus, viel­leicht durch andere Menschen und so weiter. Alles das beginnt nach und nach sichtbar zu werden, namentlich wenn der Mensch dann von der inspirierten Erkenntnis zu der intuitiven Erkenntnis aufsteigt. Kurz, in bezug auf den Willenspol hört nach und nach auf sichtbar zu sein, was wir mit dem Menschen ins Grab legen, während all das,

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was er getan hat, anfängt sichtbar zu werden. Und wenn der Mensch gestorben ist, so ist zunächst hauptsächlich von ihm dasjenige da, was er getan hat. Das ist es, was sich weiter fortbewegt im Leben, was weiter Existenz hat im Leben. Es ist wie eine Willensgeburt, was da durch den Tod hindurchgeht. Sie sehen also, wir müssen einen ande­ten Weg wählen, wenn wir von dem Physischen auf das Seelische kommen wollen mit Bezug auf die Gliedmaßennatur des Menschen. Und mit demjenigen, was Stoffwechsel ist, geht es genau ebenso.

Nun habe ich also in einem gewissen Zusammenhange betrachtet das, was Sinneswesenheit im Menschen ist, und dasjenige, was in ge­wissem Sinne Willenswesenheit, Tatwesenheit ist. Wir werden noch um ein Stück weiterkommen, wenn wir nun wiederum zurückgehen zu der Sinneswesenheit, zu dem einen Pol des menschlichen Wesens, wenn wir mit der entwickelten imaginativen und inspirierten Erkennt­nis zurückschauen auf dasjenige, was nun aus unserem Sinnesorgan, sagen wir aus dem Auge wird, dann noch, wenn wir in dem Stadium leben, daß uns, sagen wir, die Lunge zum Sinnesorgan geworden ist.

Wenn uns die Lunge zum Sinnesorgan geworden ist, dann beginnt nämlich für uns eine Wahrnehmung einer ganz anderen Welt, ich meine, für den höheren Menschen, der sich allmählich loslöst aus dem gewöhnlichen Menschen. Der gewöhnliche Mensch steht immer kon­trollierend daneben - das habe ich ja wiederholt auch öffentlich aus­geführt -, aber ich meine, für den Menschen, der da entsteht, der sich heraus entwickelt aus dem anderen. Nun, sobald unsere Lunge beginnt, Sinnesorgan zu werden, beginnen wir auch die Welt wahrzunehmen so, daß wir ihr Wesen als Rhythmus mehr musikalisch erleben, ja daß wir alles dasjenige erleben, was ich dargestellt habe zum Teil in der Beschreibung der Seelenwelt, zum Teil in der Beschreibung des Gei­sterlandes in meiner «Theosophie». Wir beginnen eben etwas anderes als Umgebung zu erleben, wenn die Lunge Sinnesorgan wird. Ich habe gestern bemerkt, sie wird in ihrem ätherischen Teil Sinnesorgan. Was wird dann aus dem gewöhnlichen Sinnesorgan?

Für die Gliedmaßen-Stoffwechselorgane mußte ich sagen: sie ver­schwinden vor dem Anblick. Bei den Sinnesorganen ist das nicht der Fall; sie verschwinden nicht, sie zeigen sich uns als dasjenige, was sie

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jetzt sind. Sie zeigen sich uns nämlich in ihrer Geistigkeit. Die Sinnes­organe werden wahrnehmbar, sie werden Objekte, aber sie werden etwas wie geistige Wesenheiten. Sie sind da als dasjenige, was - wenn ich mich so ausdrücken darf - nunmehr unsere Geistwelt bevölkert. Und es ist in einem gewissen Sinne die Empfindung stark vorhanden, daß sich diese Sinnesorgane selbst zur Welt vergrößern, daß wir ein Weltenall auferbaut bekommen aus unseren Sinnesorganen. Und die­ses Weltenall, das wir da auferbaut bekommen, das verbindet sich für unser seelisches Erleben jetzt mit etwas anderem. Es verbindet sich für unser seelisches Erleben mit dem in uns, was wir im gewöhnlichen Leben unsere Erinnerungs-, unsere Gedächtnisvorstellung nennen.

Ich muß da auf ein bedeutsames Erlebnis hinweisen, das man hat beim Aufsteigen aus der imaginativen in die inspirierte Erkenntnis. Die Sinnesorgane werden gewissermaßen selbständige Wesenheiten, aber sie nehmen an sich unser Gedächtnis, unseren Erinnerungsinhalt. Und wenn wir dies beachten, dann tritt etwas von dem Wesen unse­res Seelischen ganz deutlich vor uns auf.

Nehmen Sie das menschliche Auge. Dieses menschliche Auge ist zu­nächst ein Organ, so wie ich es gestern beschrieben habe. Jetzt, wenn wir beginnen, imaginative Erkenntnisse zu entwickeln, aufzusteigen zur inspirierten Erkenntnis, dann verschwindet nicht das Auge, aber alles Physische am Auge verschwindet. Das Auge aber wird immer geistiger und geistiger. Wir bekommen einen mächtigen, ich möchte sagen, zum Weltinhalt erweiterten Inhalt. Aber der verbindet sich mit unserem Erinnerungsinhalt (gelb), mit unseren Gedanken, die in der Erinnerung, im Gedächtnisse sind (siehe Zeichnung S.39).

Dadurch ringen wir uns allmählich zu einer ganz bestimmten Er­kenntnis herauf. Sehen Sie, eine sehr triviale Vorstellung der gang­baren Seelenkunde oder Psychologie ist diese, daß der Mensch sinn­lich wahrnimmt, an der sinnlichen Wahrnehmung die Vorstellungen, die Gedanken entwickelt. Dann gehen diese Gedanken - ja, irgendwo hin. Besonders die Herbartsche Philosophie war darin groß, daß sie diese Gedanken unter irgendeine Schwelle hinunter verschwinden läßt; dann, wenn man sich erinnert, spazieren sie wieder herauf und erscheinen wiederum im Bewußtsein.

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Mich erinnert diese Art von Seelenkunde, Psychologie, immer an ein kleines necklsches Kinderspielchen, das ich als ein ganz kleiner Knabe oftmals wahrgenommen habe: man fährt mit den zwei Hän­den einem Kinde über den Rücken des Armes bis hinauf zum Kopfe und sagt dann: Das Mauserl rennt übers Hauserl. Wo wird's rasten? Im Sepperl sein'm Kasten - und so weiter. Nun, dieses Kinderspiel stellt sich dem Kinde so vor, wie wenn ein Mauserl, eine Maus, über den Arm laufen könnte und dann in dem Kasten, also da irgendwo drinnen, im Kopfe, ist. Aber nicht viel gescheiter ist diese Seelen­kunde. Die läßt auch Gedanken an den Sinneswahrnehmungen er­regen; die spazieren dann in diesen Kasten, in diesen Seelenkasten hinein, und aus dieser Sparbüchse stehen sie wiederum auf, wenn sie dann erinnert werden. Nun, es ist eine sehr banale Vorstellung, aber es ist eine Vorstellung, mit der in der Psychologie vielfach eben auch spazierengegangen wird. Aber lernt man so den ganzen Vorgang durch die imaginative und inspirierte Erkenntnis kennen, dann stellt sich erst recht die Wahrheit der Sache heraus. Dann merken wir erst das Folgende.

Das, was die inspirierte und imaginative Erkenntnis anschauen, das haben sie ja nicht gemacht. Es ist ja gerade so, wie wenn man mit dem Auge die Kreide anschaut, das Auge die Kreide ja nicht erschafft; sie ist doch da. So ist auch dasjenige da, was da durch inspirative und imaginative Erkenntnis wahrgenommen wird. Also während das ge­wöhnliche Bewußtsein wirkt, ist das als Realität vorhanden. Es geht ja das alles vor. Es wird nur eben wahrnehmbar durch das übersinn­liche Erkennen. Es geht in jedem wachen Augenblick in dem Men­schen vor. Daß es aber etwas anderes gibt, als was man wahrnimmt durch das gewöhnliche Bewußtsein, daß es einen Parallelvorgang gibt, den man eben erst wahrnimmt, wenn man das höhere Bewußtsein hat, das zeigt sich durch diese Tatsache. Ich will so sagen: Im gewöhn­lichen Leben ist alles das vorhanden, was man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein wahrnehmen kann; aber außerdem ist noch all das vorhan­den, was man erst mit dem imaginativen, inspirierten Bewußtsein er­langt. Das ist also ein Vorgang, den man im gewöhnlichen Leben nicht kennt. Lernt man ihn durch das höhere Erkennen kennen, dann

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stellt er sich so dar, daß jetzt erst die Erinnerungsbilder, die Gedächt­nisvorstellungen, wenn wir sie im gewöhnlichen Bewußtsein haben, eben nur Bilder sind. Ihre Realität zeigt sich erst im höheren Bewußt­sein, tritt jetzt erst hervor im höheren Bewußtsein, so daß also die Ge­dächtnisvorstellungen da nicht heraufspazieren, nachdem sie zunächst als die gewöhnlichen Vorstellungen hinuntergegangen sind. Sondern, wenn ich eine Vorstellung mir bilde an einer Sinneswahrnehmung, mich dann von der Sinneswahrnehmung zurückziehe, so ist die Vor­stellung da. Dann verschwindet sie nach einiger Zeit. Da sie nur ein Bild ist, ist sie vollständig verschwunden; weg ist sie. Aber die Sinne tun noch etwas anderes: sie vollziehen einen Prozeß, den ich nicht wahrnehme, sie vitalisieren mir in mein Inneres den realen Vorgang für das Vorstellen. So daß ich, wenn ich eine sinnliche Wahrnehmung habe, durch diese sinnliche Wahrnehmung mir zunächst die Vorstel­lung bilde (rot), dann aber ein zweiter Vorgang da ist (blau), durch den etwas Reales bewirkt wird, nicht ein bloßes Bild. Nun, das Bild verschwindet, wenn ich es nicht mehr habe. Wenn ich mich erinnere, so wirkt, geradeso wie vorher die Sinneswahrnehmung, diese Vorstel­lung herauf, und ich nehme dasjenige wahr, was real in mir erregt worden ist, als ich die Sinnesvorstellung hatte, was ich nur nicht wußte.

#Bild s. 39

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Aber dieses Reale ist das eigentliche Seelische. Wenn Sie heute einen physischen Menschen vor sich haben und Sie beobachten ihn, sagen wir, nach acht, zehn Jahren wiederum, so ist nichts mehr von dem, was heute physisch in ihm ist, nach etwa zehn Jahren vorhanden. Sie schneiden sich die Nägel, von Ihrer Haut fallen die Schuppen; nach außen fällt immerfort der physische Leib ab. Er zerstäubt. Und nach einer solchen Zeit von sieben bis zehn Jahren ist dasjenige, was heute am tiefsten von Ihnen im Inneren ist, gerade so weit nach außen ge­kommen, daß es als Schuppen oder lange Nägel abstäubt. Sie können ruhig sagen: Dasjenige, was heute irgendwo in der Mitte von Ihnen sitzt, das ist nach und nach außen, wandert, fällt ab. Dieser physische menschliche Leib tropft fortwährend ab. Und was bleibt denn vor­handen? Dasjenige, was einzig und allein vorhanden bleibt von der menschlichen Wesenheit, das ist das, was da als Parallelvorgang (siehe Zeichnung, blau-rot), als das Reale für das Vorstellungsbild nach innen entwickelt wird.

Von dem, was Sie heute sind, sind Sie nach zehn Jahren nichts ande­res, als was Sie aufgenommen haben und was Ihnen in der Erinnerung geblieben ist. Sie sind aus Ihren Erinnerungen gewoben; von dem, was Sie vor zehn Jahren waren, ist in Ihnen nichts mehr anderes vor­handen als dasjenige, was Ihre Erinnerung aus Ihnen gewoben hat. Das Physische ist abgeschuppt, das ist weggetropft. Wenn man in einer vernünftigen Weise bloß zusammenschaut, was jeder schon im gewöhnlichen Bewußtsein haben kann, so bekommt man doch durch­aus mit dem gesunden Menschenverstand eine Vorstellung davon, daß das so sein muß, wie ich es jetzt mit Zuhilfenahme der Imagination und Inspiration vor Jhnen hier entwickelte.

Wenn wir uns nun ein Bild selber machen wollen von der Art und Weise, wie eigentlich menschliche Entwickelung ist mit Bezug auch auf das Seelische, können wir das nach der einen Seite hin - wir be­trachten jetzt, ich bitte das zu berücksichtigen, den einen Pol, den Gedankenpol - nicht anders als so machen (siehe Zeichnung). Zuerst, wenn wir geboren werden, ist von uns irgendein Leib vorhanden (hell). Dahinein füllen sich gewissermaßen die Parallelvorgänge zu den Sinneswahrnehmungen (gelb). Das alles (hell) tropft nach und nach ab.

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#Bild s. 41

Sie essen, Sie nehmen durch die Luft allerlei auf. Das setzt sich da hin­ein in Ihre Gedächtnisvorgänge und bildet Ihnen den Leib immer neu. Aber das, was da als Stoffwechselsystem sich hineinimprägniert in Ihr Seelisches, das ist dasjenige, was Sie nach dem Tode begraben. Aber das eigentlich Seelische ist gewoben aus dem, was die Seele entwickelt an den Vorgängen, die Sie zunächst nur als Vorstellungen empfinden, als Vorstellungen erleben. Also Sie können gut sagen: Ich lebe in Ge­danken, und ich mache mich fortwährend durch meine Gedanken. Dasjenige allerdings, was ich mit dem gewöhnlichen Bewußtsein als Gedanken wahrnehme, das ist nur ein Bild von dem, was ich da mache. Das ist gewissermaßen eine Begleiterscheinung.

Ja, aber daraus geht etwas außerordentlich Wichtiges und Bedeut­sames hervor. Es geht daraus hervor, daß im Grunde genommen es für die menschliche Entwickelung viel wichtiger ist, was da außer dem, was ich durch das gewöhnliche Bewußtsein erkenne, in mir noch vor­geht. Schauen wir die Welt an. Ich erfreue mich an dem, was mir meine Augen zeigen, was mich meine Ohren hören lassen. Ich erlebe das andere, was mich meine Sinne wahrnehmen lassen. Aber während ich da sehe, höre, fühle, da schleicht sich in mein Inneres das herein, was später in der Erinnerung heraufgeholt werden kann; da schleicht sich alles das herein, was mein Seelisches ist. Das ist in einer fortwähren­den Tätigkeit, das ist nicht, das tut immer, das wogt und webt.

Von dem, worauf ich hier hindeute, hat der, der sich in ganzem, vollem Ernste zu geistigen Erkenntnissen zu erheben versucht, eine starke Erlebnisvorstellung. Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Und da man vorzugsweise dieses Getröstetsein haben will in der heutigen Welt, da man die innere Un­ruhe richt sehr liebt, so formt man heute auch alle Erkenntnisse so, daß sie aufgeschrieben werden können, daß sie getrost nach Hause

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getragen werden können. Bloß von den anthroposophischen Vorträ­gen sagt man, daß sie meistens «schlecht nachgeschrieben» werden, und daß man eigentlich nicht viel hat von dem, was da nachgeschrie­ben wird, daß man das nicht so sehr getrost nach Hause tragen kann.

Aber sehen Sie, das ist nur ein Abbild von den Erlebnissen bei den höheren Erkenntnissen. Wenn ein Student heute sich für ein Examen vorbereitet, da ist er wirklich froh, wenn es ihm nun gelungen ist, in &eses Organ etwas hereinzubekommen, und wenn er es vor drei, vier Wochen hereinbekommen hat und dann das Examen ist, dann will er es so, wie er es da hinangerammelt hat, auch wieder herausgeben können. Mit den höheren, mit den übersinnlichen Erkenntnissen ist es eben nicht so. Derjenige, der sich wirkliche übersinnliche Erkennt­nisse erwirbt, der steht dem Leben dieser übersinnlichen Erkennt­nisse gegenüber. Die leben fortwährend; die verhalten sich nicht so starr wie diejenigen Vorstellungen, die man heute als die wissenschaft­lichen Abbilder der äußeren physischen Welt zum Trost sogar auf­geschrieben haben will. Ich will mich ganz radikal ausdrücken, weil dieses radikale Ausdrücken hindeutet auf eine sehr wichtige innere Tatsache.

Nehmen Sie einmal den Fall, irgend jemand hat sich zienilich hoch-gehende übersinnliche Erkenntnisse erworben. Er hat sie nun. Er kann sie durch die Vorgänge, die ich öfter geschildert habe, später wieder haben. Er erlebt sie, sagen wir, wieder nach drei, vier Jahren. Die haben ein Leben gehabt in der Zwischenzeit. Dann, indem er sie jetzt wiederum sich bildet in sich, dringen sie so in seine Seele ein, daß sie behaftet sind mit dem Zweifel. Man lernt allmählich erkennen, daß das gar nichts Besonderes ist, daß das überhaupt die übersinnlichen Erkenntnisse haben, daß sie in ihrer weiteren Entwickelung, wenn sie gewissermaßen alt werden, den Menschen in Zweifel versetzen, und man muß sich ihre Gewißheit wieder neu erringen. Ja, bei den höch­sten Erkenntnissen ist es so, daß sie einem schon am nächsten Tag ungewiß erscheinen, wenn man ihre Gewißheit sich nicht neu erringt, nicht neu erobert. Es sind immer niedere Erkenntnisse, welche im Menschen ersterben, Gespenster werden und dann wiederum auftre­ten. Der Mensch schaut sie an und ist zufrieden, daß er nun auch einmal

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in der höheren Welt etwas erlangt hat, wovon man mit Recht sagen kann: Schreibtafel her! - denn, wenn es da drauf ist, dann bleibt es. Er möchte im Inneren eine solche Schreibtafel haben.

Das ist nicht der Fall bei den wirklichen höheren Erkenntnissen. Die leben; schafft man sie wiederum, und gerade die höchsten Er­kenntnisse, schon am nächsten Tage herauf, dann kommt man in Un­sicherheit über sie, und man muß sich ihre Gewißheit neu erobern. Man muß den Vorgang immer wieder durchmachen. Man kann gar nicht sich zu diesen höheren Erkenntnissen anders verhalten als zu dem, was Abbild der Realität und nicht die Realität selber ist hier in der physischen Welt. Es werden kaum sehr viele unter Ihnen sein, die heute am Sonntag, den 30. April, nicht essen, weil sie sich sagen: Ich habe ja vor acht Tagen ganz gut gegessen, das ist in mir; ich brauche doch heute nicht zu essen, das nährt mich noch heute. - Sie tun das nicht. Das ist ein realer Vorgang. Die physisch-seelischen Inhalte unterscheiden sich davon. Die bleiben, und Sie können sie wieder hervorrufen, unverändert in vieler Beziehung, auch verändert. Aber nicht so ist es bei den geistigen Inhalten. Die sind nicht nur abge­blaßt, sondern die sind immer wiederum in ihrer Gewißheit erschüt­tert, und man muß die Gewißheit immer wieder erobern. Ja, das ist die eine Erscheinung.

Diese eine Erscheinung stellt sich wirklich so dar, daß, wenn man sich übersinnliche Erkenntnisse erworben hat in einer Beziehung, es einem wirklich so vorkommt, wie wenn einem die Welt licht gewor­den wäre durch diese übersinnlichen Erkenntnisse, wie wenn man in einen hellerleuchteten Saal, in den hellerleuchteten Weltensaal getre­ten wäre. Nach acht Tagen hat man etwas in seinem Inneren, was einem - weil man diese höheren Erkenntnisse sich erobert hat, weil man gewissermaßen zu ihnen hingelangt ist, weil sie schon eine Wir­kung auch auf den physischen Menschen gemacht haben - gewisse Erinnerungsreste daläßt; aber aus sich selbst heraus, in ihrem eigent­lichen Wesen, leben sie sich so aus, daß man immer wieder mit ihnen in ein finsteres Zimmer kommt und das Licht immer wieder von neuem anzünden muß. Damit kann man das vergleichen, was das Schick­sal der übersinnlichen Erkenntnisse in der menschlichen Seele ist.

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Derjenige, der sich übersinnliche Erkenntnisse erwirbt, kann gar nicht in derselben Weise Anspruch darauf machen, daß sie im Inneren gleichsam bleibende Gespenster werden, wie man es bei den instinktiv gespensterartigen, heilseherischen Vorstellungen glaubt. Es müssen immer wieder neu erobert werden diese Welten, in die man sich da hineinbegibt. Aber obwohl die Realität sich also nicht bewahren läßt im gewöhnlichen Gedächtnis, bewahrt sich natürlich die Wirkung. Sie bewahrt sich insbesondere dann, wenn derjenige, der übersinnliche Erkenntnisse hat, sie nach einiger Zeit aufgeschrieben oder gar -schreckliche Welt! - gedruckt vor sich sieht, wenn er etwa eine folgende Auflage eines Buches, das er geschrieben hat, vor sich hat; da hat er die äußere Wirkung desjenigen, was er früher erlebt hat, vor sich.

Ich kann mir Privatdozenten denken, die eine innige innere Freude haben, wenn sie nun diesen goldenen Saft dessen vor sich haben, was sie da fabriziert haben, wenn sie später wiederum folgende Auflagen etwa auf Grundlage dieses goldenen Saftes fabrizieren können. Es tut ihnen wohl. Das tun die Erzeugnisse der geistigen Wahrnehmung eben nicht. Die tun weh, die verursachen Schmerz. Denn dasjenige, was konserviert wird, was umgegossen, übergegossen wird in die physische Welt, das verursacht Schmerz, das tut weh. Das ist die andere Seite. Man geht mit seinen übersinnlichen Erkenntnissen nicht nur in ein dunkles Zimmer hinein, das man erst wieder hell machen muß, sondern man geht in ein Zimmer hinein, das Pfeile auf einen schießt von allen Seiten, die Schmerz machen, und man muß sich erst panzern gegen dasjenige, was einem als das Residuum, als der ver­körperte Rest der übersinnlichen Welten entgegentritt.

Damit deute ich Ihnen auf dasjenige hin, was das seelische Leben, das man mit diesen höheren Erkenntnissen erst erreicht, für das ge­wöhnliche Erleben ist. Das gewöhnliche Erleben ist nicht so, daß man das Seelische unmittelbar erlebt. Man erlebt es ja durch den physischen Leib. Es ist angepaßt diesem Erleben in dem physischen Leib. Aber das seelische Leben für sich ist anders, das ist etwas, was in fortwäh­rendem Werden ist, in fortwährender Wandlung, in fortwährender Metamorphose, das einem entschlüpft bei diesen Metamorphosen, wenn man sich nicht jederzeit wiederum in diese Metamorphosen

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hineinlebt, das man nicht ertragen kann, weil es schmerzt, weil es Vergangenheit atmet. Indem es Vergangenheit aufnimmt, schmerzt es. Wenn es nicht Gegenwart ist, schmerzt es; und gegen das muß man sich wappnen. Sie sehen aber zu gleicher Zeit: Wenn man etwas er­lebnisvoll aufgenommen hat von dem, was wirkliche höhere Erkennt­nis ist, so ist diese höhere Erkenntnis nicht so gemütlich wie das­jenige, was sich unsere Studenten heute auf den Hochschulen an­hören. Das tut höchstens weh, wenn sie es vergessen haben und ein schlechtes Examen machen; und vor allen Dingen tun den Studenten ihre eigenen Erkenntnisse nicht weh, sondern wohl, denn wenn sie sie haben, sind sie froh; das tut ihnen wohl. Ihre eigenen Erkenntnisse schmerzen sie höchstens später im Leben, wenn sie sehen, daß es etwas Besseres gibt als ihre eigenen Erkenntnisse, und diese dann wie fixe Ideen in ihnen haften.

Aber wenn man in das Übersinnliche sich hineinlebt, dann wird das eben durchaus lebendig. Dann lernt man erkennen, wie man es erobern muß, wie man es ertragen muß. Man lernt an der Erkenntnis selber die Freude, die Befriedigung, man lernt an der Erkenntnis den Schmerz kennen. Dadurch aber lernt man erst das Seelische in seiner Realität kennen. Das Seelische im gewöhnlichen Alltagsleben ist, ich möchte sagen, so weit heruntergefallen in die Materialität, daß es in blassen Gedanken erscheint, die wir erst in die Wärme des Gefühles hinein-gießen müssen, damit sie überhaupt nicht blasse kalte Gedanken sind, und die außerdem nicht wehe tun. Es sind eben Bilder, und Bilder, die leben nicht. Dasjenige aber, was als übersinnliche Erkenntnisse erworben wird, lebt, ist lebendiger Seeleninhalt.

Und dieser lebendige Seeleninhalt, der gibt uns erst einen wirklichen Begriff von dem, was wir sind. Denn unsere Erinnerungsvorstellun­gen, die sind ein schwaches Abbild dessen, was wir eigentlich sind. Und durchschlagen wir diesen Teppich der Erinnerungen nach innen, so kommen wir eben auf dasjenige, was ich Ihnen jetzt schildere als lustvolles, befriedigendes, lichtvolles Erleben der Welt, als schmerz-volles Erleben der Welt; wo unsere Seele mit dabei ist. Unsere Seele wird also hineingefügt in eine Erkenntnis, die selbst seelisches Leben enthält. Die Vergangenheit gießt sich in den Schmerz. Und dasjenige,

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was wir als freudevoll, lustvoll empfinden, das ist es, wovon wir ge­wahr werden, daß es mit uns durch die Pforte des Todes geht; das ist Zukunft.

In die physische Erkenntnis muß sich ein Abbild davon, aber jetzt ein lebensvolles Abbild hineinergießen von dem, was ich sagte. Ge­schichte, also die rückwärtsgehende Menschheitsentwickelung, in den bloßen kalten Geschichtsideen angesehen, ist eben Bild, Bild, das im Grunde genommen nur so lange Bedeutung hat, als wir es im Kopfe tragen. Geradeso wie die an der Sinneswahrnehmung gebildete Vor­stellung nur so lange Bedeutung hat, als wir sie im Kopfe tragen, wie sie gar nicht herunterspaziert in « Sepperls Kasten», sondern wie sie eben sich verändert, wenn sie nicht mehr im Bewußtsein präsent ist, geradeso haben schließlich diejenigen Vorstellungen, die man rein vor­stellungsgemäß von der Geschichte bildet, nur für den Kopf Bedeu­tung, das, «was ihr den Geist der Zeiten heißt, das ist im Grund der Herren eigner Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln».

Wirkliche Geschichte lernt man erst erkennen, wenn man sich mit solcher lebendigen Erkenntnis in die Realität der Weltenentwickelung und auch der Menschheitsentwickelung einlebt, wenn man Lust und Leid bis zum höchsten Maße empfinden kann in demjenigen, was sich äußerlich in der Welt abspielt; wenn man zum Beispiel den Seelen-blick zurückwendet, sagen wir in die urpersischen, urindischen oder griechischen Zeiten oder in irgendeine Zeit, wenn man zum Beispiel mit den Griechen empfindet, wie sie ihre Tragödie nicht so erlebt haben, wie der heutige Mensch seine Theaterstücke erlebt. Schon Goethe hat noch elementar unterschieden zwischen der griechischen Tragödie und dem modernen Drama, indem er gesagt hat: Das mo­derne Drama ist ein ganz Abgelähmtes, Abgeschattetes. Ein das Welt-geschick Bezwingendes, das war die griechische Tragödie. Aber des­halb hat derjenige, der die griechische Tragödie empfunden hat, auch rucht so empfunden wie der moderne Mensch, der zum Amüsement in das Theaterstück geht und es dann über sich sehr neutral hinströ­men läßt. Der Grieche empfand, indem er seiner Tragödie gegenüber-saß, so, daß ihn das erschütterte, durchrüttelte bis in die physische Leiblichkeit hinein; daß er etwas Wesentliches sah darinnen, ob er

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eine Gänsehaut über den Rücken empfand bei dem oder jenem. Und er empfand in der Tragödie etwas wie ein Heilmittel, denn die Vor­stellung war auch bei den Griechen vorhanden, daß das Leben von der Sünde, von der Schuld, also Krankheit durchzogen ist, daß man in den öffentlichen Schaustellungen Heilmittel braucht, welche das Leben immer wieder und wiederum aus einem schuldhaft kranken Leben hinaufheben in seine eigentliche, ihm gemäße Wesenheit. So war die griechische Tragödie das Heilmittel für dasjenige, was immer wie­derum im sozialen Leben krank wurde, nicht dasjenige, was in der Ecke des Lebens zum Amüsement da war.

Ich möchte sagen: Was ist das moderne Drama für den Menschen der gegenwärtigen Sozietät? Nun, damit ich nicht sage: es ist bloß dasjenige, was je nach dem Geschmack der Friseur und die Friseuse tun, wenn sie den Menschen frisieren, möchte ich sagen: Es ist das­jenige, was der Friseur und die Friseuse tun, wenn sie dem Menschen den Kopf waschen! - Dasjenige aber, was die griechische Tragödie war, war das, was der Arzt tut, der wirklich verständige Arzt, der den kranken Organismus mit innerlich wirkenden, gesundenden Heilmit­telkräften durchsetzt, die diesen kranken Organismus innerlich dyna­misch durch und durch wirksam durchsetzen. Der Grieche appellierte eben noch viel mehr an das Seelische als der moderne Mensch. Ja, wenn man aber die Geschichte so betrachtet, wenn man sich so hin­einversetzt in die Lage, in der ein Grieche war, wenn er der Tragödie zusah, dann ist eine solche geschichtliche Betrachtung schon etwas anderes als diejenige, die man gewöhnlich hat, wobei man ganz unteil­nahmsvoll bleibt.

Wenn man wirklich Geschichte lernt, geht man mit seiner Seele in die alten Zeiten hinein. In der gegenwärtigen Welt leidet man - wenn Sie jetzt nachher hinausgehen und keinen Regenschirm haben, wer­den Sie es schon sehen. Es wird zwar kein ganz schweres Leiden sein, aber aus dem gegenwärtigen Leiden kann es sehr leicht der Fall sein, daß etwas Schlimmes entsteht und Sie wirklich physische Schmerzen erdulden müssen -, aber man gebraucht kein Heilmittel gegen das Leiden. Die Griechenzeit hat es getan; und versetzt man sich wirk­lich hinein in das griechische Zeitalter, so versetzt man sich eben,

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wenn man das Anthroposophische in Betracht zieht, mit seiner Seele hinein. Man geht da hinein mit seiner Seele. Ich möchte sagen, wenn ich mich trivial ausdrücken darf: Auf diese Art fangen Sie erst das Seelische ab, während Sie es sonst heute in der gewöhnlichen Mensch­lichkeit unterdrücken. Sie fangen das Seelische ab, Sie lernen das See­lische erst erleben in der Weltbetrachtung.

Das ist es, was ich schildern wollte, um Ihnen zu zeigen, wie man erst aus seinen Verborgenheiten heraus das Seelische aufsuchen muß, wenn man zu der Betrachtung des Seelischen kommen will, wie man nichts vom Seelischen bekommt, wenn man an die bloßen Bilder sich wendet, die die Menschen zunächst im gewöhnlichen Bewußtsein von der Welt sich machen. Und dann beschreiben das die Psychologen als Seeleninhalt. Schlagen Sie ¼heute ein Buch auf über Seelenkunde, da haben Sie zuerst Kapitel über Vorstellungen, aber so die Vorstellun­gen, wie sie sind im gewöhnlichen Bewußtsein, nicht wie sie da unten sind. Was verlöscht in jedem Augenblick (siehe Zeichnung S.39, rot), das wird einem geschildert, nicht dasjenige, was da unten sich als Parallelvorgang abspielt. Kurz, wenn man heute Seelenkunde be­trachtet, dann ist es ungefähr so, nun, sagen wir, wie wenn man eine Versammlung veranstaltet, wo die Menschen sich beraten sollen.

Nehmen wir an, Engländer beraten sich hier; die haben es gern, wenn Lloyd George mitspricht. Sie sagen: Wir wollen jetzt eine Bera­tung abhalten. Lloyd George soll mitsprechen. - Jetzt holen sie sein Porträt, setzen es auf einen Stuhl, und da haben sie ihn auch als einen Mitberater. Die Franzosen ebenfalls den G/emenceau, die Deutschen so­gar Bismarck. Nun, nicht wahr, das ist auch da! Ja, in bezug auf die Welt verhalten sich diese Bilder so, wie sich das menschliche Vorstel­lungsleben, wenn man es nach dem gewöhnlichen Bewußtsein schil­dert, zur Realität verhält. Man hat es eben bloß mit Bildern zu tun. Man muß erst darauf kommen, was hinter diesen Bildern für eine Realität steckt.

Das habe ich mich bemüht zu zeigen, was hinter diesen Bildern für eine Realität steckt. Man hat nicht das Seelische für das gewöhnliche Bewußtsein; man muß es erst aus seinen Tiefen heraufholen. Das ist das Wichtige. Das ist es, was man eben durchaus ins Auge fassen

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muß, wenn man über die menschliche Seele sprechen will in ihrem Verhältnisse zur Weltentwickelung. Denn man kommt alImählich mit dem Seelischen in die Weltentwickelung selber hinein, wenn man das Seelische in seiner Wahrheit betrachtet.

Ich habe mit diesen zwei ersten Vorträgen versucht, Ihnen zu zei­gen, wie okkulte Erkenntnis sich allmählich das Seelische erobert. Wir werden nun in den nächsten drei Vorträgen das menschliche See­lenleben in seiner Verbindung mit der Weltentwickelung, nachdem die gesunde Grundlage jetzt geschaffen ist, in einer möglichst popu­lären Form betrachten.

DRITTER VORTRAG Dornach, 5. Mai 1922

#G212-1978-SE050 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

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DRITTER VORTRAG

Dornach, 5. Mai 1922

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Wir müssen uns heute einiges vor Augen rücken, das uns von ge­wissen Seiten her schon bekannt ist, um die weiteren Betrachtungen anzustellen, die sich anschließen an das in der vorigen Woche Ge­sagte. Wenn wir den Menschen so, wie er einmal in der Welt zwischen Geburt und Tod steht, betrachten, so zerfällt uns sein Leben in Glie­derungen, die von verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet wer­den können. Wir haben ja oftmals unsere Aufmerksamkeit auf den Wechselzustand gelenkt zwischen Wachen und Schlafen. Wir wissen, daß ein Zwischenzustand zwischen Wachen und Schlafen der des Träu­mens ist. Das sind die drei Zustände, in denen das Bewußtsein des gewöhnlichen Lebens verläuft: Wachen, Träumen, Schlafen. Aber diese drei Zustände, sie finden sich auch sonst als Gliederungen der menschlichen Wesenheit vor. Wenn wir die Jnhalte, die Erlebnisse dieses gewöhnlichen Bewußtseins verfolgen, so haben wir das Erleb­nis des Denkens, des Vorstellunghabens, und ich habe oft gesagt: Wir sind eigentlich nur dann wirklich wach, wenn wir in diesem Zu­stand oder insofern wir in diesem Zustande des Vorstellunghabens sind. Jeder, der sich mit unbefangenem Sinn selbst beobachtet, wird erkennen können, daß das Fühlen einen viel dumpferen Bewußtseins-zustand darstellt als das Denken. Die Gefühle, sie durchwogen unsere Seele, ohne daß wir in einer so bestimmten Weise sie beziehen kön­nen auf irgend etwas in der Außenwelt oder auf Erinnerungen, wie die Vorstellungen. Wir haben auch durchaus das Bewußtsein, oder können es wenigstens haben, daß in dem Augenblicke unseres Wa­chens diese Gefühle kommen und gehen, wirklich so ähnlich, wie in dem Zwischenzustande zwischen Wachen und Schlafen die Träume kommen und gehen. Und wer einen Sinn dafür hat, solche Dinge des Bewußtseins wirklich miteinander zu vergleichen, der wird sich eben sagen müssen: Die Träume sind Bilder; die Gefühle sind etwas wie unbestimmte, in uns wogende Kräfte. Aber in allem übrigen, wenn wir von diesem Inhaltlichen absehen, in allem übrigen kommen und

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gehen die Träume, wie die Gefühle kommen und gehen. Und aus einem, ich möchte sagen, allgemein Finsteren und Dumpfen des Be­wußtseins heraus tauchen die Träume auf, wie aus einem allgemeinen Innenbefinden die Gefühle herauftauchen und wiederum sich hinunter-senken.

Mit dem Wollen ist es so, daß dasjenige, was eigentlich in unserem Inneren vorgeht, wenn wir einen Willensimpuls haben, uns so unbe­kannt bleibt wie das, was wir verschlafen. Klar ist von dem, was beim Wollen vor sich geht, eben nur der Gedanke, der den Zweck einer Willenshandiung in sich hat. Es ist dann die Anschauung etwa unse­rer Bewegung oder desjenigen, was durch unser Wollen äußerlich ge­schieht, wieder vor unserer Seele, in unserem Bewußtsein. Aber das, was, sagen wir, im Bein oder im Arm vor sich geht, während wir das Bein heben, mit dem Bein ausschreiten wollen, odet während wir den Arm heben wollen, das ist etwas, was so unbewußt bleibt wie das­jenige, was sich abspielt zwischen Einschlafen und Aufwachen. So daß wir, auch während wir wachen, schon gleichzeitig in einem gewissen Sinne diese drei Zustände des Bewußtseins erleben: Wachen, Träu­men, Schlafen.

Nun kommen wir aber zu einer vollständigen Erkenntnis des Men­schen nur, wenn wir dies, was uns damit gegeben ist, daß wir auf der einen Seite Schlafen, Träumen, Wachen, auf der anderen Seite Wol­len, Fühlen, Denken betrachten, nun eben einer vernünftigen, wenn ich so sagen darf, Betrachtung unterziehen.

Nehmen wir einmal den schlafenden Menschen einerseits, den wol­lenden Menschen andererseits. Der schlafende Mensch, er ist dadurch charakterisiert, daß derjenige Inhalt des Bewußtseins, der sonst uns eigentlich zum Menschen macht, das Ich-Erlebnis, nicht da ist. Das Ich-Erlebnis also ist nicht da. Wir bezeichnen das gewöhnlich dadurch, daß wir sagen: Das Ich ist vom Einschlafen bis zum Aufwachen außerhalb dessen, was als physischer Mensch vor uns ist.

Nun aber betrachten wir den träumenden Menschen auf der einen Seite und den fühlenden Menschen auf der anderen Seite. Es wird Ihnen ohne weiteres bei einer gewöhnlichen Selbstbeobachtung klar sein, daß die Träume gewissermaßen als neutrale Bilder vor der Seele

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stehen, daß, indem Sie, sagen wir, beim Aufwachen oder vor dem Einschlafen träumen, diese Bilder wie ein Gewebe, man kann nicht gut sagen, vor, aber im Seelischen schweben und weben. Das unter­scheidet sich, was da im Seelischen vorgeht, von demjenigen, was bei vollem Wachen da ist. Beim vollen Wachen wissen wir, daß wir die Bilder, die wir dann auch haben, gewissermaßen innerlich festhalten, daß wir sie mit unserem menschlichen Wesen ergreifen; sie schweben nicht so nebelhaft im Unbestimmten wie beim Träumen. Wir ergrei­fen sie mit unserem menschlichen Wesen.

Ich will das, was ich jetzt eben ausgesprochen habe, einmal sche­matisch auf die Tafel zeichnen (Zeichnung links). Nehmen wir ein­fach schematisch den Menschen (hell), und zeichnen wir das, was wir uns vorstellen können als das Schema für die webenden Träume (rot), etwa in der folgenden Weise an den Menschen heran. Man möchte sagen, das, was ich da rot an die Tafel gezeichnet habe, das ist ein Gewebe, das die Seele erlebt, indem es ihr fortwährend entschlüpft, wiederum an sie herankommt.

#Bild s. 52

In dem Augenblicke des Aufwachens hat der Mensch ein solches Gewebe im seelischen Erleben nicht. Dagegen hat er dasjenige, was er so erlebt, jetzt innerlich. Ich will jetzt aufzeichnen (Zeichnung

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rechts), wie es nun beim Wachzustand ist. Er hat dieses Gewebe, das sonst gewissermaßen außerhalb ist, jetzt im Inneren, er faßt es mit seinem Leib, und dadurch ist es nicht ein unbestimmtes Gewebe, son­dern es ist etwas, was der Mensch innerlich beherrscht.

An diesem Verhältnis dessen, was als Traum verwebt und ver­schwebt, und dessen, was dann im Inneren des Menschen der Ge­danke ist, wenn der Mensch völlig wach ist und von sich aus das, was jetzt als solche Bildgedanken in seinem Seelischen lebt, beherrscht, an dem können Sie, ich möchte sagen, bis zum seelischen Greifen wahrnehmen: da ist einfach etwas aus dem Äußeren in das Innere hineingezogen. Und wir schildern, indem wir so etwas darstellen, nichts anderes als den Einzug dessen, was zunächst für das gewöhn­liche Bewußtsein in den Träumen verwebt und verschwebt, was wir den astralischen Leib nennen, in das Innere des Menschen. So daß wir sagen können: Wenn wir nach dem Aufwachen anfangen zu denken, so ist der astralische Leib in unserem Inneren. Wir stellen dann vor. Aber wir wissen, wir haben diese Vorstellungen in unserer Gewalt. Solange sie Träume sind, verschweben sie da draußen. Sie brauchen sich nur vorzustellen eine Art Wolke, die in Ihrer Nähe ist und in der sich die Träume weben. Sie saugen gewissermaßen diese Wolke ein; Sie beherrschen sie von innen aus. Sie ist nicht mehr draußen. Sie träumen daher nicht mehr. Aber so, wie Sie irgendeinen Gegenstand mit den Händen ergreifen, so ergreifen Sie diesen Traum mit Ihrem Inneren. Und Sie haben Ihren astralischen Leib eingesogen, Sie haben ihn jetzt drinnen.

Wir müssen uns allerdings genauer fragen: Was haben wir denn da drinnen? Wenn wir uns das einmal genauer ansehen, was wir da drin­nen haben, so können wir vielleicht einen Anhaltspunkt dafür ge­winnen, indem wir auf manche Träume, die nicht nur Bilder bleiben, sondern die schon beginnen unbestimmte Gefühle zu werden, hin­schauen. Bedenken Sie nur einmal, wie manche Träume recht unange­nehm sind; sie sind einfach ein Bildergewebe. Manche Träume sind mit Angstzuständen verbunden. Sie wachen aus Angstzuständen auf. Sie sehen in diesen unbestimmten Angstzuständen, auch oftmals in unbestimmten Freudenzuständen, aber zumeist sind es eigentlich beängstigende

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Zustände, in denen sehen Sie schon, ich möchte sagen, das Aufglimmen von etwas, was, indem es sich weiter entwickelt, dann beim völligen Erwachen da ist. Was glimmt denn da auf, wenn der Traum Ihnen zum Beispiel Angst macht?

Ja, der Traum verwebt sich mit dem Gefühl. Angst ist ein Gefühl. Der Traum ist noch halb draußen; dadurch ist das Gefühl unbe­stimmt. Aber er verwebt sich schon mit dem Gefühl. Dadurch tritt es auf, das Gefühl. Aber er verweht sich mit dem, was sonst in der Seele lebt beim Fühlen. Und erst wenn Sie den Astralleib nun ganz herinnen haben, dann haben Sie diese bestimmten, in Ihrer physischen Organisation bedingten Gefühle da, die Ihnen jetzt die Vorstellungen des astralischen Leibes durchsetzen können.

Wenn Sie gewisse Alp- und Angstträume richtig ins Auge fassen, so haben Sie es wiederum, ich möchte sagen, bis zum seelischen Grei­fen nahe, was da eigentlich bei diesem Einzug, wie wir es nennen, des astralischen Leibes in den physischen Menschen geschieht. Das­jenige nämlich, was die Beängstigung macht, die zuweilen den Traum begleitet, werden Sie immer entdecken als etwas, was nicht in der Ord­nung ist in Ihrem Atmungsprozeß.

Sie sehen daraus ganz deutlich, daß der astralische Leib durch das, was in der Atmung liegt, einzieht und auch wiederum auszieht. Es ist wirklich nicht so, daß man diese Dinge, wenn man das Leben nur un­befangen beobachten will, nicht beobachten könnte. Man stellt nur rucht gehörig solche Beobachtungen an. Aber es ist etwas da, was uns durchaus die Anleitung dazu gibt, zu erkennen, daß dasjenige, was in den Träumen webt und was in der Wirklichkeit der astralische Leib ist, in unseren Organismus hineingeht, indem es den Atmungsprozeß beim Erwachen ergreift.

Das führt uns zu einer Betrachtung über den Menschen, die außer­ordentlich wichtig ist, die aber gewöhnlich nicht angestellt wird. Man sieht den Menschen gewöhnlich so an, als ob er eigentlich ganz und gar ein Organismus wäre, ein Körper wäre, der aus festen Be­standteilen aufgebaut ist. Das ist aber doch nicht wahr. Der mensch­liche Organismus besteht eigentlich zum geringsten Teile, kaum zu zehn Prozent, aus Festem. Im übrigen ist er ein Wasserorgarismus,

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ein Flüssigkeitsorganismus. So daß wir in Wahrheit diesen Organis­mus uns so aufgebaut denken müssen, daß wir sagen: Da ist der Orga­nismus, und in einer gewissen Beziehung ein Zehntel fest (siehe Zeich­nung, hell); aber dieses Feste ist durchsetzt von dem wässerigen Ele­mente (blau). Und dann erst stellen Sie sich den menschlichen Orga­nismus ordentlich vor, wenn Sie ihn eigentlich aJs Wassersäule vor­stellen, die das Feste eingelagert hat.

#Bild s. 55

Aber das genügt noch nicht. Wir müssen den menschlichen Orga­nismus auch als einen Luftorganismus vorstellen. Die Luft ist drau­ßen; wir atmen sie ein. Da ist ein Teil der Luft, die da draußen ist, nun in unserem Inneren drinnen. Die atmen wir wieder aus. Wir sind zu gleicher Zeit ein Luftorganismus. Wollen wir auch das schematisch zeichnen (rot). Aber gerade dieser Luftorganismus ist es, der beim Aufwachen von dem astralischen Leib ergriffen wird. Wir atmen die Luft ein. Die Luft macht ferner einen Prozeß durch; ihre Wirkungen ergießen sich in den ganzen Organismus. Der Sauerstoff nimmt den

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Kohlenstoff auf, verwandelt sich in Kohlensäure. So ein Luftvorgang findet fortwährend in uns statt.

Beim Wachen ist aber dieser Luftvorgang durchsetzt von dem astra­lischen Leib. Auf denselben Bahnen, die die Luft in unserem Orga­nismus durchmacht, läuft die Bewegung des astralischen Leibes. Der Luftvorgang ist ein Luftvorgang ja nur, wenn wir schlafen; wenn wir wach sind, dann schwimmen gewissermaßen die Bewegungen dieses astralischen Leibes in demjenigen, was als Luftvorgang in uns lebt. Aber jetzt denken Sie sich einmal: indem der astralische Leib da ein­zieht in dasjenige, was ich in Rot schematisch aufgezeichnet habe, und innerhalb des Luftorganismus seine Bewegungen ausführt, dasjenige ausführt, was er überhaupt tut, geht das in dem blau schematisch Ge­zeichneten, in dem wäßrigen Organismus vor sich. Diese Luftvor­gänge, die eigentlich beim Wachen die Vorgänge des astralischen Lei­bes sind, stoßen immer heran an den wäßrigen Organismus.

Im wäßrigen Organismus ist aber nun Tag und Nacht der ätherische Leib des Menschen. Und da haben Sie zu gleicher Zeit eine Wechsel­wirkung des astralischen und des ätherischen Leibes, aber auch das physische Abbild davon: die Luftvorgänge und die Wasservorgänge im Menschen. Sie können sich also durchaus vorstellen, daß im Men­schen zunächst diese physischen Prozesse vorhanden sind, die ablaufen zwischen seinem Atmen und den Bewegungen seiner Säfte, überhaupt alledem, was da flüssig im Organismus vor sich geht. Das aber ist wieder nur ein Abbild von dem, was zwischen astralischem und äthe­rischem Leib vor sich geht.

Nun ist aber alles dasjenige, was nun da fester, flüssiger, gasförmi­ger Organismus ist, wiederum durchzogen von Wärme (Zeichnung S.55, gelb). Der ganze Organismus hat seine eigene Wärme: Wärme-Äther. Ich möchte sagen: Auf den Wellen des Luftigen im Menschen bewegt sich das Astralische, und auf demjenigen, was da als Wärme den Organismus durchspielt, da bewegt sich das eigentliche Ich.

Jetzt haben Sie den physischen Leib als solchen; den flüssigen Leib, der auch physisch ist, aber der nun sich abgrenzt von dem festen phy­sischen Leib, den flüssigen physischen Leib, der einen innigen Zu­sammenhang mit dem ätherischen Leib hat; den gasförmigen Organismus

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des Menschen, der einen inneren Zusammenhang hat mit dem astralischen Leib, und dasjenige, was Wärmevorgänge sind, was mit anderen Worten Wärme-Äther ist im Menschen, das einen innigen Zu­sammenhang hat mit dem menschlichen Ich. So daß wir im Physi­schen, ich möchte sagen, überall das Bild sehen des ganzen Menschen. Das Feste ist sozusagen etwas, was für sich besteht. Aber das Flüs­sige im Organismus, das kann nicht für sich bestehen. Wir haben sehr wenig in unserem Kopfe vom Festen. Dasjenige, was wir Festes haben, schwimmt im Gehirnwasser, also in Flüssigkeit. Sehen Sie auf dieses Flüssige innerhalb des menschlichen Kopfes, so haben Sie in diesem Flüssigen zunächst den Ä therteil des Kopfes.

Das Atmen geht nun so vor sich: Sie atmen ein. Der Atem stößt nach innen, setzt sich fort durch das Rückenmarkswasser nach dem Gehirn. In dieser Stoßbewegung bewegt sich aber zu gleicher Zeit dasjenige, was das Astralische ist, nach dem Ätherischen des Kopfes herauf im Wachzustande. So daß wir auf der einen Seite ein Zusam­menwirken der Bewegungen des Gehirnwassers mit den Atmungsbe­wegungen haben, auf der anderen Seite ein Zusammenwirken des Ätherteiles des Kopfes, von dem das, was im Gehirnwasser vor sich geht, nur ein Abbild ist, mit demjenigen, was Atmungsvorgänge sind, die wiederum nur ein Abbild sind desjenigen, was astralisch ist im Menschen. Und dann haben wir ein fortwährendes Spiel der Wärme-zustände. Und das Blut in seiner Bewegung vermittelt diese Wärme-zustände. Auf diesem Wogen des Wärmemeeres in uns bewegt sich zu gleicher Zeit unser Ich.

Es handelt sich darum, daß wir uns dieses ganz lebendig vorstellen, daß wir uns darüber klar sind. Für sich können wir nur den festen Organismus betrachten. Sobald wir an den flüssigen Organismus her­ankommen, hat er gar nicht mehr die Möglichkeit, etwa bloß sich so zu bewegen, wie sich Wasserwellen draußen bewegen, sondern der bewegt sich so, daß sein Bewegungsspiel ein Abbild ist dessen, was im Ätherleib des Menschen vor sich geht. Wiederum dasjenige, was in den feineren Zuständen der Körperatmung vor sich geht, ist ein Abbild dessen, was astralisch im Menschen vor sich geht. Nun aber, wenn wir das ins Auge fassen, so müssen wir uns sagen: Sehen wir

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nur einmal auf das Gehirnwasser Das hat in sich gewisse Bewegun­gen. Die sind ein Abbild des Ätherleibes. Aber den Ätherleib, den be­kommt der Mensch, indem er aus den geistigen Welten in diese phy­sische Welt heruntersteigt; innerhalb der geistigen Welten hat er ihn noch nicht. Aber indem der Mensch überhaupt seinen physischen Leib ergreift, hat er schon seinen Ätherleib. Er zieht gewissermaßen den Äther aus dem Kosmos heran. Und erst indem er den Äther her­angezogen hat aus dem Kosmos, kann er sich mit dem Physischen, das ihm dann durch die Vererbung vermittelt wird, verbinden. So daß wir dasjenige, was innerlich im Ätherleib des Menschen lebt, schon mitbringen, indem wir unseren physischen Leib ergreifen.

Nehmen Sie also an, im Leib des mütterlichen Organismus entsteht der Menschenkeim. Wir untersuchen dasjenige, was an diesem Men­schenkeim das Flüssige ist. Man tut es nicht in der gewöhnlichen Physiologie. In der gewöhnlichen Physiologie untersucht man nur den Keim insofern, als er Festes enthält oder wenigstens sich so wie das Feste beobachten läßt. Das Flüssige wird gar nicht untersucht. Würde man aber das Flüssige untersuchen, dann würde man entdecken, wie in dem Flüssigen, namentlich im Gehirnwasser, ein Abbild dessen ist, was da hereingeschlüpft ist in den physischen Menschen und was zu­nächst schon im Ätherleib sich ausdrückte, als der Äther herangezo­gen worden ist.

#Bild s. 58

So können wir sagen: Wenn hier der physische Leib ist (siehe Zeichnung), der physische Menschenkeim sich bildet - ich zeichne

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jetzt das Feste gar nicht; was ich da zeichne, soll der flüssige Men­schenkeim sein (rot) -, es kommt aus der geistigen Welt herunter dasjenige, was als Ich und Astralisches vorhanden ist. Was schon an Äther herangezogen ist (gelb), das schlüpft hier hinein. Indem ein­fach der Mensch untertaucht in den physischen Leib, wird im flüssi­gen Organismus aufgenommen das, was der Mensch von außen her-einbringt. Würden Sie also das Gehirnwasser des Kindes in seinen Bewegungen untersuchen, so müßten Sie sagen: Das ist eigentlich eine Photographie dessen, was der Mensch war, bevor er sich mit sei­nem physischen Leib verbunden hat. Sehen Sie, das ist sehr wichtig, daß man eigentlich sagen kann: Im Gehirnwasser, das heißt, in den Bewegungen des Gehirnwassers würde man eine Photographie von dem, was der Konzeption vorangegangen ist, finden.

Nun, vom Gehirnwasser können Sie das gut begreifen, daß Sie da eine Att Photographie finden dessen, was vorangegangen ist. Aber bedenken Sie den Atmungsprozeß. Der Atmungsprozeß tritt uns als ein sehr physischer Prozeß dadurch entgegen, daß unsere Lunge in einer gewissen Beziehung organisiert ist, daß die Luft eingesogen wird, daß der Atmungsprozeß sich sogar abspielt unter dem Einfluß der Aulenwelt, wenn wir schlafen, wenn also unser Ewiges gar nicht mit unserem Zeitlichen verbunden ist. Man möchte sagen, für den Atmungsprozeß ist es ja so: er verläuft sowohl, wenn wir schlafen, als auch wenn wir wachen. Wenn wir schlafen, nun, dann geht eben die Bevegungswelle des Atmungsprozesses durch unseren Organis­mus; wenn wir wachen, trägt diese Welle den astralischen Leib. Sie kann ihn also tragen; sie braucht ihn auch nicht zu tragen. Das tut sie beim Schlafen, da trägt sie ihn nicht.

Was folgt daraus? Daraus folgt, daß das Gehirnwasser, weil das im Inneren abgeschlossen ist, sich fortsetzen kann, eine Art Fortsetzung sein kann dessen, was früher da war. Nicht so innig kann sich aber in dieser selben Art etwa in unserem Atmen irgend etwas fortsetzen von früher. Daher geschieht folgendes: Wenn wir den menschlichen Kopf betrachten und dann den menschlichen Brustorganismus, so finden vir, daß da drinnen im menschlichen Kopf, gewissermaßen sagen vir durch das Gehirnwasser, also im physischen Organismus,

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richtig die Fortsetzung des vorgeburtlichen geistigen Menschen drin­nen ist. Beim Atmungsprozeß ist es nicht so. Da verläuft der physi­sche Atmungsprozeß für sich (siehe Zeichnung, gelb), und das Gei­stige ist viel weniger stark mit dem physischen Prozeß verbunden

#Bild s. 60

(rot). Man möchte sagen: Im Kopf ist der geistige Mensch, der gei­stig-seelische Mensch mit dem physischen Menschen fest zusam­men verbunden; sie sind eine Einheit geworden. Im Brustmenschen ist das nicht so, da sind sie mehr getrennt; da ist der physische Orga­nismus mehr für sich und das Geistig-Seelische auch wiederum für sich.

Aber jetzt vergleichen Sie das mit dem Traumzustande. Im Traum-zustande ist es für den ganzen Menschen so, daß wiederum das Ich und der astralische Leib heraußen sind, daß sie getrennt sind. Aber ein wenig sind sie für den Brustmenschen immer getrennt. Der Brust-mensch, das heißt Atmungs- und Herzmensch, der rhythmische Mensch, der ist aber der Organismus für das Fühlen. Weil also das Geistig-Seelische mit dem physischen Organismus in bezug auf den rhythmischen Menschen nicht so kompakt verbunden ist, nicht so da drinnen ist in dem physischen Menschen, deshalb verläuft das Fühlen so wie das Träumen. Sie sehen, will man den ganzen Menschen betrachten,

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so muß man diese verschiedenen Arten des Zusammenwir­kens des Seelischen mit dem Leiblichen ins Auge fassen.

Nun, wenn man die menschliche Wesenheit 59 grob betrachtet, wie das heute in unserem naaterialistischen Zeitalter geschieht - denn Sie können sich überall überzeugen, wo Sie die heutige Wissenschaft ins Auge fassen, daß man eigentlich so betrachtet, als ob der ganze Mensch eben ein fester Organismus wäre und da drinnen irgendwie das Seelische wirkte -, dann kann man nicht darauf kommen, wie dieses Seebsche, das man erlebt, zum Beispiel der rein seelisch erlebte Willensakt, wie der ein Bein hebt oder einen Arm hebt. Ja, gegenüber dem, was man auf der einen Seite als Seelisches des Willensaktes er­lebt, ist das, was man sich heute in der Anatomie, in der Physiologie unter menschlichem Organismus vorstellt, eigentlich wie ein Stück Holz, so fremd dem Seelischen wie ein Stück Holz. Was Sie heute be­schrieben finden als Beine des Menschen in der Physiologie, ist wirk­lich wie zwei Holzstücke, wie Holzbeine. So verhalten sie sich zum Seelischen. Ebensowenig wie, wenn hier zwei Hölzer liegen, Sie eine Beziehung finden können zwischen diesen zwei Hölzern und einem Seelischen, ebensowenig kann man eine Beziehung finden zwischen dem, was einem die Physiologie heute beschreibt als menschliche Beine und dem Seelischen. Aber diese menschlichen Beine, die die Physiologie beschreibt, die sind durchzogen von dem Wässerigen. Da kommen wir schon zu etwas, von dem sich leichter begreifen läßt, daß da ein Geistiges hineinwirkt. Aber es geht noch schwer.

Kommen wir aber zu dem Gasförmigen, zu dem Luftförmigen, so sind wir in dem Physischen in einer so dünnen Materie, daß wir uns nun da das Seelische leichter drinnen vorstellen können. Und erst wenn wir zu den Wärmezuständen kommen! Bedenken Sie nur, wie naheliegend Sie es haben, diese Wärmezustände des physischen Orga­nismus mit dem Seelischen in Zusammenhang zu bringen. Denken Sie doch nur einmal, wie Sie eventuell da oder dort eine heillose Angst bekommen haben, und es wird Ihnen ganz warm; da haben Sie schon eine innere Anschauung von der Beziehung des Seelischen zu demjenigen, was nun im physischen Organismus als Wärmezu­stände auftritt. Kurz, wenn wir in einer vernünftigen Weise den ganzen

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menschlichen Organismus so erfassen, daß wir ihn in bezug auf sein Festes, Flüssiges, Gasförmiges, Wärmeartiges fassen, dann kom­men wir nach und nach an das Seelische heran.

Wir können sagen: Das Ich greift in den Wärmezustand ein, der astralische Leib in den gasförmigen Zustand, der Ätherleib in den flüssigen Zustand; nur das Feste bleibt unangetastet. Da geht es nicht herein. Denken Sie sich einmal das, wie es nun im menschlichen Or­ganismus ist: Hier haben wir das Gehirn, aber das ist noch wässerig. Jetzt sind da darinnen feste Bestandteile. Da, sagte ich, geht das See­lische nicht herein. Zeichnen wir uns einmal irgendwie schematisch diese festen Bestandteile darinnen (siehe Zeichnung S.60). In Wirk­lichkeit sind es Salzablagerungen. Das, was wir Festes in uns haben, sind ja immer salzartige Ablagerungen. Unsere Knochen sind nur Be­standteile solcher Ablagerungen. Aber in unserem Gehirn geschehen fortwährend ganz feine, sich immer wieder auflösende Ablagerungen. Ich möchte sagen: In unserem Gehirn ist immer die Tendenz vor­handen, sich einfach zu solchen Knochen zu bilden, das Gehirn ganz knöchern zu machen; es löst sich nur immer wieder auf, weil alles beweglich ist. So daß, wenn wir gerade das Gehirn betrachten, da haben wir also zunächst die Wärmezustände des Gehirns, da drinnen lebt die Luft, die fortwährend ein- und ausgeatmet wird, aber die ins Gehirnwasser heraufspielt; der astralische Leib lebt darinnen. Wir haben das Gehirnwasser; der ätherische Leib lebt darinnen. Jetzt be­kommen wir das Feste. Da kann das Seelische nicht herein. Es kann nicht herein, indem wir in uns Salze ablagern. Indem wir dieses nicht ganze Zehntel unseres Organismus, diese Salzbildung da drinnen haben, haben wir in uns etwas, in das unser Seelisches nicht herein kann.

Bedenken Sie: Da stehen Sie als Mensch. Da haben Sie Ihren Orga­nismus. Da haben Sie in Ihrem Organismus die Wärme, das Gasför­mige, das Flüssige: da kann Ihr Seelisches überall herein. Aber da ist etwas drinnen, in das Ihr Seelisches nicht herein kann. Das ist so, wie wenn Sie hier allerlei Gegenstände haben, die vom Lichte bestrahlt werden, das Licht wieder zurückwerfen. Sie haben eine Spiegelfläche, da kann das Licht nicht durch, wird zurückgestrahlt. So haben Sie

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#Bild s. 63

in sich Ihren festen Salzorganismus. Da kann das Seelische nicht her-ein, da wird das Seelische fortwährend zurückgestrahlt.

Ja, wenn Sie das nicht hätten, so würden Sie zunächst überhaupt gar kein Bewußtsein haben können, denn das, was Sie nun in sich als Bewußtsein haben, das sind die von Ihrem Salzorganismus zurück­gestrahlten Seelenerlebnisse. Diejenigen, die hineingehen in Ihr Ich, in Ihren gasförmigen Organismus, in Ihren flüssigen Organismus, die erleben Sie zunächst nicht. Erst weil überall das, was da in der Wärme, was in dem Gasförmigen, was in dem Flüssigen als Seelen-leben vor sich geht, ebenso wie die Lichtstrahlen vom Spiegel zurück-geworfen werden, am Salz zurückgeworfen wird, erst dadurch erleben Sie das, was Seelisches ist. Dadurch haben Sie diese innerliche Spiege­lung, die nun innen als Vorstellungen lebt.

Wenn also ein Mensch zum Beispiel viel Salz absetzt - aber das Salz entsteht überall in Formen -, dann bekommt er viele solche Bil­der, das heißt, er wird gedankenreich. Wenn er zuwenig Salz abson­dert, dann bekommen die Gedanken solche unbestimmte Konturen, wie von einem nicht ordentlichen Spiegel die Bilder die Konturen er­halten. Wir können das auch noch anders aussprechen: Wenn einer überflüssig viel Salz absondert, da überwiegen ihm die Gedanken in seinem Inneren. Sie werden sehr bestimmt, aber er wird ein Pedant. Er glaubt, in seinen Gedanken, weil sie aus so viel Festem in ihm her­rühren, etwas Reales zu haben. Er wird materialistisch. Wenn er zuwenig

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Salz absondert, oder sagen wir, wenn er zuviel Salz in seinen übrigen Organismus absondert und zuwenig in seinen Kopf, dann werden seine Gedanken unbestimmt; er wird ein Phantast oder viel-leicht ein Mystiker. Es hängt schon zusammen mit materiellen Vor­gangen in unserem Inneren, wie unser Seelenleben beschaffen ist.

Es ist zum Beispiel manchmal notwendig, wenn einer zu phanta­stisch ist, daß man ihm Gelegenheit gibt durch irgendwelche Heil­mittel, mehr Salz abzulagern oder das abgelagerte Salz besser zu ge­stalten. Dadurch wird er seiner Phantastik entrissen. Aber das Umge­kehrte ist noch wichtiger; denn das sollte man eigentlich nicht sehr weit treiben, daß man die Menschen auf physischem Wege von Phan­tastik oder von Pedanterie heilt; es ist zunächst auch nicht viel zu machen. Aber das Umgekehrte hat einen großen Wert. Derjenige, der Menschenbeobachtung hat, für das Seelische ebenso wie für das Kör­perliche, der bemerkt genau, wenn zum Beispiel ein Mensch nach der einen oder nach der anderen Richtung, sagen wir im Kopfe oder in den Organen des rhythmischen Organismus oder in den Organen des Stoffwechselorganismus zuviel Ablagerungen hat. Er bemerkt dies daran, daß die ganze Gedankenkonfiguration anders wird, und die Art und Weise, wie der Mensch seine Gedanken verändert, kann zu der Diagnose außerordentlich viel beitragen. Nur beobachten die meisten Menschen solche feinen Vorgänge nicht.

Es wird zum Beispiel sehr häufig nicht beobachtet, wie zusam­menhängt, sagen wir, die Tatsache, daß nun plötzlich einmal ein Mensch sich immer wieder und wieder verspricht. Er hat es sonst nicht in seiner Gewohnheit, aber einmal fängt er an, sich immer wie­der zu versprechen. Es dauert ein paar Tage, dann geht es vorüber. Es ist eine leise Erkrankung in ihm vor sich gegangen, und dieses Versprechen, das ist lediglich ein Symptom für die leichte Erkran­kung. Zuweilen kann man solche Dinge sehr genau beschreiben.

Nehmen wir zum Beispiel an, ein Mensch sondert einmal ein paar Tage, durch irgendwelche Vorgänge, zuviel Magensäure ab. Was ge­schieht? Diese Magensäure, die löst einmal schon im Magen gewisse Stoffe auf, die weitergehen sollten als in den Magen. Jetzt hat er das eben nicht in dem Organismus; jetzt hat er nicht die nötige Schärfe

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seiner inneren Spiegelbilder, jetzt werden seine Gedanken lose, er ver­spricht sich. Merken Sie den Hasen, der da läuft, und merken Sie, wie dieser Hase läuft, dann versuchen Sie eben, ihm irgendwo beizu­kommen, daß er weniger Magensäure hat, dann werden seine Gedan­ken wiederum ordentlich. Im Grunde genommen aber wird seine Verdauung ordentlich, und er hört auch wieder auf, sich zu ver­sprechen.

Oder aber, nehmen wir an, durch irgend etwas - es kann zum Bei­spiel durch Abnormitäten der Milztätigkeiten geschehen - sauge je­mand seine Magensäure zu stark auf, er macht sich ganz zum Magen; er leitet die Magensäure überall hin. Solche Säureablagerungen, die sind eigentlich die Ursache für sehr viele Erkrankungen. Wenn es nicht bis zum Kopfe geht, dann entstehen sogar sehr eigentümliche prickelnde Schmerzen; wenn es bis zum Kopfe geht, entsteht Dumpf­heit des Kopfes. Wenn Sie einen solchen Menschen dann anschauen, so sehen Sie oftmals, daß er in sich dieses ganze Aufsaugen des Säu­reartigen zu einer gewissen Gier macht; er wird ganz durchsäuert. Und wenn der Mensch durchsäuert wird, dann leidet zum Beispiel der freundliche Ausdruck seiner Augen darunter: Sie können es seinen Augen ansehen, wenn der Mensch durchsäuert ist, und Sie können unter Umständen, indem Sie ihm eine Säure beibringen, die er nun wirklich im Magen verarbeitet, weil sie nicht die Neigung hat, in den Organismus überzugehen, diesen Menschen wiederum freundlicher kriegen in seinem äußeren Ausdrucke.

Ich sage das alles aus dem Grunde, um Ihnen zu zeigen, wie die Geisteswissenschaft, die hier gemeint ist, nicht ein unbestimmtes See­lisches bloß ins Auge faßt, sondern das Seelische, das nun wirklich der Herrscher des Leiblichen ist, das der Erbauer des Leiblichen ist, überall hereinwirkt ins Leibliche.

Aber wenn man das, was heute beschrieben wird als menschlicher Organismus so, als wenn dieser Organismus eben durch und durch ein Festes wäre, wenn man das ins Auge faßt, wenn man nicht dazu-nimmt das Flüssige, das Gasförmige, das Wärmeartige des Organis­mus, was sich wenigstens dem Seelenleben nähert, so kommt man eben nicht zu einem Begreifen, wie dieses Seelische im Menschen

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lebt. Denn im festen menschlichen Organismus lebt eben das Seelische nicht. In den festen Organismus geht das Seelische so wenig hinein, wie das Licht durch den Spiegel durchgeht; daher wird es zurück-reflektiert. Und so geht das Seelische gerade am Salz überall zurück.

Wenn wir hier unseren Fuß haben und hier den Knochen, so hat eben gerade das Seelische das Eigentümliche, daß es sich am Knochen bricht (siehe Zeichnung, rot), daß wir unseren Knochen in uns so tra­gen, daß er leer ist vom Seelischen. Da ist es nicht drinnen; aber es strahlt wiederum in den Organismus zurück.

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Unsere Schädelknochen, die sind gar nicht so dumm angebracht an uns; denn das Seelische, das strahlt nach allen Seiten und wiederum nach dem Inneren zurück. Wir sind auch in unseren Schädelknochen, aber nur als physisch-feste Menschen drinnen. Aber unser Seelisches strahlt in uns hinein. So daß wir eigentlich, wenn wir vollständig unseren Kopf aufzeichnen, sagen müssen: Zunächst breitet sich da drinnen das Seelische aus (rot). Aber ich möchte sagen, das würde uns

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in einem dumpfen, unbewußten Zustande lassen. Aber nun, da kann es nicht hlnein, wo die Schädelknochen sind, da wird es überall zurück­gestrahlt, überall hinein in uns (Pfeile). Und erst wenn es da zurück­geht, dann haben wir es als Seelisches. So daß Sie wirklich in Ihrem Inneren Ihr Seelisches wie von allen Seiten an dem Spiegel der Schä­delknochen zurückgeworfen haben. Das ist so.

Geisteswissenschaft schließt nicht etwa das Materielle aus, sondern macht das Materielle erst recht verständlich, indem das Seelische so be­trachtet wird, wie es das Materielle beherrscht. Nicht wahr, den Bäk­ker lernt man auch nicht dadurch kennen, daß er bloße Bewegungen ausführt, sondern die Bewegungen, die er ausführt, machen dann die Semmeln und die Gipferl. Die Seele lernen wir nicht dadurch ken­nen, daß wir sie nur in Abstraktionen betrachten, sondern was die Seele da macht, das tritt uns als Bild in unserem Organismus ent­gegen. Wir müssen gerade verstehen, diesen Organismus in der rich­tigen Weise als ein Bild des Seelischen zu betrachten. Wenn wir nicht den Willen haben, auf den Menschen einzugehen, auch wie er uns ent­gegentritt im Bilde des Physischen, wenn wir sozusagen zu bequem sind, den Menschen kennenzulernen als physischen Menschen, lernen wir auch das Seelische nicht kennen; denn das, was gewöhnlich so als Seelisches beschrieben wird von den Leuten, die das Physische nicht geistig auffassen wollen, das sind eigentlich Dinge, die ebenso real sind, wie wenn Sie eine leckere Speise hier haben und Sie stellen sich einen Spiegel her und dann essen Sie nicht die Speise, sondern das, was Ihnen der Spiegel zurückwirft. Sie werden nicht satt. So wer­den Sie auch nicht seelenkundig, wenn Sie die Seele nicht in ihrem Schöpferischen, Aktiven betrachten, in dem, was sie tut, sondern sie nur betrachten wollen als Bild. Man muß daher durchaus nicht auf dem Standpunkte stehen, daß man ein richtiger Geisteswissenschafter ist, wenn man das Materielle verachtet. Man muß das Materielle eben geistig fassen, dann wird es durch und durch Geist. Sonst lebt man in Abstraktionen, in Intellektualismen; die führen von dem Erkennen ab, nicht zu ihm hin.

VIERTER VORTRAG Dornach, 6. Mal 1922

#G212-1978-SE068 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

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VIERTER VORTRAG

Dornach, 6. Mal 1922

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Es war mir gestern namentlich darum zu tun, zu zeigen, wie die menschliche Seele ein tätiges Wesen ist, wie sie als tätiges Wesen den menschlichen Organismus schöpferisch4ätig durchdringt. Man muß in jedem Augenblicke, in dem man sich über die menschijche Seele Gedanken hingibt, sich auch klar darüber sein, daß man das, was die Seele ist, zu Gesichte bekommt, wenn man den menschlichen Orga­nismus, wie er sich äußerlich darbietet, auffaßt in seiner Gesamtheit als einen Ausdruck, und insofern er ein beweglicher Organismus ist, insofern er innerliche Veränderungen durchmacht, auch als eine Schöpfung der menschlichen Seele. Aber das ist ja nur die eine Seite des Seelenlebens. Auf die andere Seite wollen wir heute beginnen zu deuten.

Betrachten Sie zunächst einmal, anknüpfend an das, was ich schon in den ersten Stunden dieses Zyklus entwickelt habe, den Menschen in bezug auf seine Umgebung. Sie werden sich dann sagen müssen:

Der Mensch ist gegenüber den Wesenheiten, den Gegenständen, die um ihn herum sind, mit seinem Seelischen außerhalb. Wir können nicht sagen, daß wir in dem Stuhl drinnen sind, der uns trägt, oder daß wir in dem Tisch drinnen sind, der vor uns steht. Wir betrach­ten die Außenseite dieser Gegenstände; aber wir sind auch eben mit unserem seelischen Leben außerhalb dieser Gegenstände, und im Grunde genommen sind wir ebenso außerhalb eines Teiles unseres eigenen Organismus.

Sie brauchen nur einmal ganz intensiv und klar durchzudenken, was wir öfter gehört haben über die Impulse unseres Willens. Wir haben, so sagte ich, zunächst den Gedanken, die Vorstellung: Ich werde einen Arm heben. Dann haben wir, nachdem dieser Gedanke irgendwie verschwunden ist in unserem Organismus, die Erscheinung des gehobenen Armes. Aber was da im Organismus vor sich geht, nachdem der Gedanke da ist - ich kann nicht einmal sagen, nachdem der Gedanke gewirkt hat, denn dieses Wirken ist ja schon nicht im

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gewöhnlichen Bewußtsein - bis zu dem Momente, wo die Bewegung des Armes betrachtet werden kann, das liegt zunächst außerhalb der menschlichen Seele, liegt so außerhalb der menschlichen Seele, wie der Tisch oder der Stuhl außerhalb der menschlichen Seele liegen. Ich dringe nicht in den Tisch ein; ich dringe nicht ein in dasjenige, was geschieht, indem ein Wollen sich vollzieht.

Nun aber, sobald im Menschen eine höhere, eine übersinnliche Er­kenntnis eintritt, kommt man dahinter, was da eigentlich vorliegt. Für das gewöhnliche Bewußtsein liegt die Sache so, daß der Mensch die Außenseite der Dinge mit seinen Sinnen wahrnimmt, die Farben, die Töne, Wärmekräfte und so weiter; die setzen sich dann fort in den Vorstellungen, die sich der Mensch von diesen Dingen macht. Das ist so, wenn der Mensch nach außen blickt.

Wenn der Mensch in sich selbst hineinblickt, dann wird er zunächst gewahr, wie er Vorstellungen behalten hat von den Dingen, die er be­trachtet hat, Vorstellungen, die auch wieder auftauchen; wenigstens scheint es so. Wir haben gesehen, daß es anders ist, aber für das ge­wöhnliche Bewußtsein kann man es so charakterisieren. Diese Vorstel­lungen sind durchtränkt von Gefühlen, die wie traumhaft heraufwellen aus unserem menschlichenWesen. Kurz,wir erblicken da auch eineWelt, wenn wir in uns hineinschauen, eine Welt, die uns ebenso von innen ent­gegendringt wie die Farben und Töne von der äußeren Welt. Dann ste­hen wir gewissermaßen ebenso vor irgend etwas, wo wir draußen sind, wie wir vor den äußeren Dingen stehen so, daß wir draußen sind.

Das aber wird nach innen hin anders und auch nach außen hin anders, wenn wir aufsteigen zu einer höheren Erkenntnis. Wenn wir aufsteigen zu einer höheren Erkenntnis in der Art, wie ich das oftmals beschrieben habe in Vorträgen und auch in meinem Buche: «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», dann kommt zuerst die imaginative Erkenntnis, dann die inspirierte Erkenntnis. Das alles kann Ihnen ja bekannt sein. Wenn nun der Mensch zuerst zu der imaginativen Erkenntnis aufsteigt, dann die inspirierte Erkenntnis ein­greift, dann wird das, was man das Außer-den-Dingen-Stehen nennen kann, anders sowohl in bezug auf die Außenwelt als auch in bezug auf das Innere des Menschen.

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In bezug auf die Außenwelt kommen wir zunächst durch die ima­ginative Erkenntnis zu Bildern. Wenn wir dann diese Bilder entspre­chend behandeln, so werden sie zu Bildern desjenigen, was uns als geistige Außenwelt umgibt. Da muß nun schon die inspirierte Er­kenntnis eben eingreifen. Durch Inspiration erlangen wir Erkenntnis einer geistigen Außenwelt, die uns ebenso umgibt, wie uns die sinn­liche Außenwelt in Farben, Tönen, Wärmeimpulsen und so weiter um-gibt. Wenn wir dieser ganzen Welt gegenüberstehen, die jetzt eine geistige Außenwelt ist, so müssen wir uns immer sagen: Das ist etwas anderes als wir selbst. Wir kommen dazu, elementare Wesenheiten, die Wesenheiten der höheren Hierarchien in dieser geistigen Umwelt zu entdecken. Es ist etwas anderes, als wir selber sind. Wir lernen uns dabei selber wohl immer mehr als geistiges Wesen kennen, aber wir lernen uns auch unterscheiden von all dem, was eben andere Wesen sind, als wir selbst sind.

Aber indem wir die Übungen machen, die uns so auf der einen Seite dahin führen, die geistige Außenwelt zu erkennen, kommen wir auch nach innen vorwärts, wir kommen nach innen weiter. Und die­jenige Entdeckung, die wir da zuerst nach innen machen, ist diese, daß wir gewissermaßen lernen, unseren Kopf mit seinen Erkenntnis­sen seelisch etwas gering zu schätzen. Immer mehr wer wird uns da­gegen diejenige Erkenntnis, die sich mehr im Herzen konzentriert, wenn ich mich jetzt auf den Organismus des Menschen beziehe, und zwar nicht, daß wir gerade das physische Herz dabei so stark zu be­achten hätten, sondern das Ätherische und das Astralische des Her­zens; die werden wir sehr stark gewahr. Und jetzt wird uns etwas zu einer ganz hellen, lichten Erkenntnis, was außerordentlich bedeutsam ist.

Sehen Sie, das, was da der Mensch erkennen kann, ich kann es in folgender Weise etwa aufzeichnen (siehe Zeichnung). Nehmen wir einmal an, wir hätten hier das menschliche Herz (rot) und über dem menschlichen Herzen alles dasjenige, was der Mensch so schätzt, in­dem er auf dem physischen Plane sein Gedankenleben erkennt (hell). Das fühlt der Mensch auch im Kopfe, dieses Gedankenweben. Aber indem der Mensch nun, ohne daß er zu einer höheren Erkenntnis

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kommt, sich hingibt seinem ganzen Wesen, so fühlt er die Gedanken allerdings als außerordentlich, ich möchte sagen, vornehmen Teil der menschlichen Wesenheit. Diese Gedanken, sie kümmern sich nicht sehr stark um das eigentlich persönliche Wesen. Nehmen wir einmal an, wir haben den Gedanken eines Dreiecks. Wir müssen uns ihm hingeben, ohne daß dieser Herr Gedanke sich darum kümmert, ob ich gerade Kopfschmerzen oder Magenschmerzen habe. Es ist ihm außer­ordentlich gleichgültig, wie ich persönlich gestimmt bin. Es ist ihm sogar gleichgültig, ob ich irgendwie anders verstimmt bin, traurig oder heiter bin, ob mir etwas weh tut oder wohl tut - der Gedanke des Dreieckes herrscht mit einer gewissen vornehmen Nonchalance in meinem Kopfbewußtsein und kümmert sich nicht um mein subjekti­ves Befinden. Daher Menschen, welche sich bloß um ihr subjektives Befinden kümmern wollen, ja auch sogleich, wenn man von solchen Gedanken spricht, die sich nicht um dieses subjektive Befinden küm­mern, einschlafen.

Nun ja, da ist also in gewissem Sinne eine vornehme Welt, die

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sich um das subjektive Befinden nicht kümmert. Aber wenn der Mensch dann in diese vornehme Welt sein Subjektives hineinmischt, und er fühlt sich nahe dem eigenen Wesen, dann geht dieses Fühlen schon durch das Herz, es strahlt gewissermaßen vom Kopf nach dem anderen Menschen hinunter, und da kommt es dann aus dem anderen Menschen herauf (Pfeile). Was kommt da herauf?

Ja, da kommen herauf eben die Gefühle, die Instinkte, Triebe, Lei­denschaften; da wüstet, möchte ich sagen, alles dasjenige herauf, was da im Menschen wirkt an Trieben, Instinkten, Leidenschaften (rote Pfeile); das wüstet da herauf. Da hat sich der Mensch in diesem so recht Subjektiven. Aber in dem, was da heraufwüstet, ist enthalten auch alles Kochen des Organismus selber. Was im Magen, was in den Gedärmen, was sonst ausgekocht wird in dem Menschen, das wüstet mit diesen Trieben und Instinkten herauf, das kommt dem Menschen entgegen. So daß man sagen kann: Da oben ist gewissermaßen eine vornehme Welt; sie ist sehr vornehm, aber sie wird im Menschen gar nicht seelisch, weil sie sich nicht kümmert um das Subjektive. Es ist schließlich ganz gleichgültig, ob der Müller den Gedanken eines Dreiecks, eines Löwen hat, oder ob ihn der Schulze hat. Die Gedan­ken kümmern sich nicht um das Subjektive. Das Seelische kommt erst zustande, wenn aus dem Inneren des Menschen heraus dasjenige quillt, was diese Gedanken gefühlsmäßig oder instinktmäßig durch­setzt. Wenn zum Beispiel der Müller ein Held ist und er den Gedan­ken des Löwen hat, dann pulsen von unten solche Gefühle herauf, daß er sich vor dem Löwen nicht fürchtet; wenn der Schulze ein Ha­senfuß ist, so daß er schon davonläuft, wenn er an einen Löwen den­ken soll, dann ist das das Subjektive, das hineinkommt. Das ist das Seelische, das hineinkommt. Der Gedanke des Löwen hat ein Allge­meines, das nicht seelisch ist, das ein Geistiges ist. Dadurch, daß ihm entgegenkommt aus dem Menschen dieses Triebmäßige, wird der Ge­danke zum Seelischen. Und das macht auch den Gedanken des Löwen zum Seelischen, ob er nun etwa den Müller dazu verleitet, immer an das Instrument denken zu müssen, wenn er an einen Löwen denkt, mit dem er den Löwen attackiert, sich gegen ihn zur Wehr stellt mei­netwillen, oder ob der Schulze immer denken muß beim Gedanken

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des Löwen, wie er nur am schnellsten davonlaufen kann und so wei­ter. Dadurch wird das Ganze ja nun im gewöhnlichen Leben seelisch. Und das Seelische ist immer in gewisser Weise hineinstrahlend, möchte ich sagen, in das Geistige.

Ja, aber wenn Sie jetzt aufrücken zur imaginativen Erkenntnis und von da zur inspirierten Erkenntnis, dann wird die Sache anders. Dann haben Sie allerdings zunächst die große Mühe, dasjenige, was viel deutlicher, weil ungeschminkt herauf kommt, die Triebe und Instinkte, zurückzuschlagen, diese sich nicht aussprechen zu lassen; die müssen nun zurück, die dürfen sich nicht aussprechen. Aber es kommt etwas anderes herauf. Da kommt diesen Gedanken, die ja angeregt sind von der Außenwelt und die so vornehm im Kopfe ihre Behausung aufge­schlagen haben, entgegen durch das Herz, das in gewissem Sinne jetzt ein wunderbares Sinnesorgan wird - das Herz wird so groß wie der ganze Blutorganismus, und es wird ein großes ätherisches Sinnesor­gan -, da kommt herauf jetzt nicht dasjenige, was in den Trieben und Instinkten lebt, sondern da kommt jetzt herauf eine Summe von Gedanken (helle Pfeile), die den oberen Gedanken entgegenkom­men. Aber diese Gedanken, sie sind mächtige Bilder, und sie spre­chen gar nicht dasjenige aus, was sonst herauf kommt aus dem Orga­nismus; sie sprechen jetzt das aus, was der Mensch vor der Geburt war.

Der Mensch lernt sich erkennen in der geistigen Welt, bevor er hier auf der Erde geboren, beziehungsweise konzipiert worden ist. Das kommt dem Menschen entgegen. Der Mensch wird versetzt da­durch, daß ihm das entgegenkommt, jetzt nicht in seine Triebe, Be­gierden, sondern er wird versetzt, wenn er imaginative und inspi­rierte Erkenntnis hat, in sein Dasein in der geistigen Welt, bevor er heruntergestiegen ist zu einer physischen Verkörperung. Und in­dem sich der Mensch da drinnen erkennen lernt, lernt er auch zu­gleich etwas kennen, was also anders ist vor der imaginativen und inspirierten Erkenntnis als die Außenwelt, die uns sonst umgibt; wo wir Elementarwesen, Engel, Erzengel und so weiter kennenlernen. Wir lernen uns aus der Weisheit selbst kennen in unserer erweiterten Wesenheit über das Erdendasein hinaus.

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Das aber gibt einen sehr bedeutsamen Aufschluß über das seelische Erleben. Wir sagen uns nach und nach: Dieses seelische Erleben, im Kopfe ist es ganz ausgeflossen; da steckt es ganz darinnen im Kopfe, hat den Kopf gebildet als sein Abbild (siehe Zeichnung, blau). Das bietet sich nur der Außenwelt dar, so daß diese die Bilder ein-malen kann, die wir dann bekommen und die wir im Gedächtnisse festhalten. Aber hier unten, da ist dieses Leben darinnen, ohne daß

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es sich - ich habe das schon gestern angedeutet - so intensiv verbin­det mit dem Physischen; da ist es mehr getrennt. So daß wir da hin­unterblicken in uns selber, wenn das Herz das Auge wird für dieses Hinunterbhcken auf diesen Teil, in die flammenden, sengenden, bren­nenden Emotionen, Begierden, Leidenschaften, Triebe auf der einen Seite; auf der anderen Seite aber ist das, was sich nicht mit dem ver­binden mag, was unser ewiges Wesen ist, was nebenher lebt.

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Und jetzt wird uns klar: Für unseren Kopf ist unser Seelisches so, daß es darinnen begraben ist; es ruht da drinnen. Der Kopf ist eigent­lich nur ein äußeres Reflexionsorgan für die physische Umgebung. Da fassen wir nur die Außenwelt. Uns selbst fassen wir, wenn wir durch das Herz tiefer in uns hineinschauen. Das gewöhnliche Leben schlägt uns bloß die Emotionswogen herauf. Lernen wir aber durch höhere Erkenntnis mehr davon kennen, so schlägt uns da unser ewiges Dasein herauf. Jetzt lernt die Seele verbunden sein mit dem Geiste, der wir selbst sind. Die äußere Welt, die wir betrachten als geistige Umge­bung, die sind wir nicht. Das, was wir da drinnen durch unser Herz, das Sinnesorgan wird, erblicken, das sind wir selbst. Der Weg, der sonst nur in das Seelische führt, indem das Seelische seine Außenseite, die Triebe, die Begierden, zeigt, dieser selbe Weg führt uns hinein in das ewige Seelische, das in uns ist und das vom Geistigen durchdrun­gen ist, das ebenso geistig ist wie die geistige Umwelt. Jetzt kommen wir hinein in das Gebiet, wo die Seele mit dem Geiste eins ist.

Sie können noch so sehr zu Ihrem Gehirn zurückblicken - das ist physisch; da sind Sie selber physisch. Aber es ist das Gehirn auch die Hauptdomäne der gegenwärtigen materialistischen Seelenbetrachter. Sie sagen, sie betrachten die Seele, betrachten aber nur das Gehirn. Das können sie auch, weil das Gehirn ein Ausdruck ist für das See­lische. Da ist das Seelische drinnen begraben, da ist es untergetaucht, da ruht der Leichnam des Seelischen drinnen. Dieser Leichnam des Seelischen ist die Domäne der gegenwärtigen Seelenforschung. Aber an sich ist das Seelische so, wie es als Seelisches ist, und mit dem Geiste verbunden, unterhalb des Herzens, und da verbindet es sich nicht innig mit demjenigen, was Triebe, Begierden sind, sondern eben nur äußerlich.

Nun macht man aber noch eine andere Entdeckung. Sehen Sie, wenn Sie irgendeinen Sinn, zum Beispiel das Auge nehmen: Sie schauen zunächst physisch um sich herum. Sehen wir ab davon, daß wir ja meistens hier bei künstlichem Licht sind; wir würden sehr leicht nachweisen können, daß das, nur auf einem Umweg, doch auch mit dem Sonnenlicht etwas zu tun hat, aber darauf wollen wir jetzt nicht sehen. Wir wollen uns nur vorstellen einen schönen Vormittagsvortrag

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auf freiem Felde und würden statt dieser schrecklichen Beleuch­tung das Sonnenlicht draußen haben. Wir wollen uns das vorstellen; das ist ewas, was dem Menschen auch manchmal passiert. Ja, aber da sehen wir überall die Sonne, denn die Sonne ist nicht bloß diese Scheibe da oder diese Kugel, sondern sie strahlt; wenn sie auf eine Blume strahlt, gehen die Strahlen zu uns zurück. Die Sonne ist es, die da in unser Auge eindringt und durch die wir die Blume gewahr wer­den, durch die wir uns auch die Vorstellung bilden von der Blume. Überall, an allen Gegenständen, ist es die Sonne. Aber das begreift ja der Mensch leicht, daß, insofern er die Gegenstände um sich herum beleuchtet sieht, es die Sonne ist, die auf dem Umwege durch seinen Kopf, durch sein Auge alles, was er von diesen Gegenständen äußer­lich physisch weiß, vermittelt. Aber es ist nicht nur das die Sonne, was das Auge wahrnimmt. Es hat schon einen tieferen Wahrheits­gehalt, wenn wir im «Faust» hören: «Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang». Es ist solch eine Weltharmonie vorhanden, und dasjenige, was sich von dieser Weltharmonie in unse­rem Luftkreis geltend macht, ist schließlich auch ein Sonnenreflex, so daß schon auch das Tönende auf einem gewissen Umweg von dem Sonnenhaften kommt. Alles Wahrnehmbare in der äußeren physischen Welt kommt schon von dem Sonnenhaften. Wärme, Ton, alles kommt, nur nicht so direkt wie das Licht, von dem Sonnenhaften.

Und jetzt muß ich etwas sagen, was natürlich für das erste Hören etwas Überraschendes hat, etwas hat, was einem so erscheint, als ob man es nicht gleich verstehen könnte. Aber man kann schon eindrin­gen, wenn man nur die Dinge verfolgt, so wie wir gewöhnt sind, die Dinge durch Anthroposophie zu verfolgen. In dem, was wir da so äußerlich sehen durch das Vorhandensein der Sonne und unser sinn­gemäßes Verbundensein mit dem, was die Sonne uns sehen läßt an der äußeren Welt, sind wir eigentlich da in dem Sonnenhaften drinnen. In dem äußerlich physisch-ätherisch Sonnenhaften sind wir drinnen.

Wenn wir jetzt zu der imaginativen Erkenntnis kommen, zu der inspirierten Erkenntnis - wenn ich mich so ausdrücken darf, aber nur in dem Sinne ist das aufzufassen, wie ich es eben gesagt habe -, wenn wir nun durch unser Herz weiter in unserem eigenen Wesen vordringen,

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so wird es mit diesem Sonnenhaften etwas anderes. Wir bekom­men in einem bestimmten Punkt, wo die inspirierte Erkenntnis auf­tritt, wo wir so weben mit der inspirierten Erkenntnis in einer realen Bilderwelt, nun das Bewußtsein, wie wenn wir plötzlich wie durch einen inneren seelisch-geistigen Ruck in die Sonne selber eingelaufen wären.

Das ist ein Erlebnis, das Sie sich nur seiner Bedeutung nach vor die Seele stellen sollen. Diese Sonne scheint uns auf die Erde. Wir nehmen als Menschen wahr, was um uns herum ist als Rückstrahlung des Sonnenhaften. In dem Momente aber, wo wir zur inspirierten Erkenntnis kommen, wo das Herz Sinneswahrnehmungsorgan wird, wie ich es geschildert habe, für uns selbst, da fühlen wir uns plötzlich in der Sonne drinnen. Wir fühlen uns nicht mehr so, wie wenn wir hinaufschauen würden und die Sonne da so gehen sehen würden -ich nehme jetzt nur die scheinbare Bewegung an -, sondern wir füh­len uns wie mit unserem Herzen in der Sonne drinnen und mit der Sonne selber gehend, indem das Herz unser Sinnesorgan wird. Für uns selbst wird das Herz zu gleicher Zeit wie hinausgerückt in die Sonne, und die Sonne wird unser Auge, mit dem wir jetzt dasjenige, was anfängt, um uns herum zu sein, anschauen. Die Sonne wird jetzt zu unserem Auge, auch zu unserem Ohr, auch zu unserem Wärme-Organ. Wir haben nun nicht mehr das Gefühl, daß wir außerhalb des Sonnenhaften sind, sondern wir haben das Gefühl: Wir sind in das Sonnenhafte hineingerückt, wir stehen innerhalb des Lichtes. Wir sind sonst immer außerhalb des Lichtes. Jetzt, wenn wir mit unserem eige­nen Wesen in unser Herz eingetaucht sind, haben wir der Welt gegen­über das Gefühl: Wir stehen innerhalb des Lichtes, und unser eigenes Wesen ist Licht. Wir berühren mit unseren Lichtorganen, die wir jetzt in dem wallenden, webenden Lichte haben, die geistigen Wesen­heiten. Wir werden mit unserem Seelischen jetzt verwandt der Welt, die nicht außerhalb der Sonne ist, sondern die innerhalb der Sonne ist, und zwar, ich bemerke ausdrücklich: linienhaft werden wir das, wir fühlen uns wie auf dem Weg der Sonne, linienhaft auf dem Weg der Sonne. Und geht jetzt die höhere Erkenntnis nur um ein kleines Stück weiter, dann fühlen wir uns nicht nur in der Sonne drinnen,

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sondern dann fühlen wir uns gewissermaßen da jenseits der Sonne (siehe Zeichnung). Früher waren wir da unten so ein kleiner Mensch und sahen zur Sonne hinauf. Jetzt sind wir in die Sonne hineinge-kommen, fühlen uns mit unserem seelischen Wesen innerhalb der Sonne, und die Welt ist in uns, die bisher um uns herum war (grün).

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Aber erst wenn wir dies errungen haben, beginnen wir zu verste­hen, daß wir, wenn wir im gewöhnlichen Erdenleben schlafen, mit unserer Seele da hinausgehen. Da sind wir, wo wir so eingerichtet sind, daß wir eigentlich nur durch die Sonne wahmehmen sollen. Jetzt gehen wir mit unserem Seelischen da hinaus in die Welt, die uns nur durch die Sonnenreflexion klar werden kann; daher nehmen wir

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da nichts wahr. Wir müßten hinausrücken über das Gebiet der Son­nensphäre. Das geschieht aber erst durch die Inspiration, später durch die Intuition; da nehmen wir erst etwas wahr, weil wir uns gewisser­maßen als menschliche Erdenwesen, wenn wir aus unserem physischen Leib und aus unserem Ätherleib herausgehen, da durch alle die Erden-gegenstände durchquetschen; vom Einschlafen bis zum Aufwachen quetschen wir uns durch alle möglichen Erdengegenstände durch. Da ist zunächst von uns selbst nicht viel wahrzunehmen. Andere Wesen nehmen wir wahr, aber erst, wenn wir uns darauf eingerichtet haben; uns selbst aber können wir erst wahrnehmen, wenn wir durch Schu­lung da hinauskommen in das Gebiet, in dem wir waren zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Was ist es denn eigentlich, was uns abtrennt von diesem Gebiet, in dem wir leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt? Ja, man kann nichts anderes sagen als: Die Sonne ist das. Wir werden als Menschen in die physische Welt hineingeboren. Vor der Konzeption, bevor wir heruntergestiegen sind, haben wir mit der äußeren physi­schen Sonne nichts zu tun, nur mit dem, was hinter der Sonne als Geistiges steht, mit dem haben wir zu tun. Jetzt steigen wir in die physische Welt herunter. Da strahlt überall die Sonne hin. Was sie uns sichtbar macht auf physische Weise, das nehmen wir in unsere Ge­danken, in unsere Vorstellungen auf. Diese physische Sonne verhin­dert uns, das Geistige zu sehen. Und wenn wir nach dem Einschlafen da draußen sind unter den Gegenständen, die sie uns sonst sichtbar macht, sind wir eben, weil wir während des Erdenlebens mit unserem physischen Leib an das Erdenleben gewöhnt sind, zu schwach, um hinauszusehen außerhalb des Sonnengebietes, und im Sonnengebiet können wir nichts sehen, denn da würden wir die anderen Wesen sehen müssen, die uns entweder als elementarische Geister oder als Geister der höheren Hierarchien in der äußeren Welt umgeben.

Sie sehen also, das, um was es sich handelt, ist auch von diesem Gesichtspunkte aus gesehen, daß das Seelische erstens als solches er­kannt werden kann durch eine höhere Erkenntnis, als es die des ge­wöhnlichen Bewußtseins ist, zweitens aber, daß dieses Seelische innig verwandt ist mit demjenigen, was Welt ist. Die Seele hängt mit der

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ganzen Weltentwickelung zusammen, und wenn wir in unserem Leibe sind, dann ist es die Sonne, die uns alles Äußerliche sichtbar macht, auch hörbar macht und so weiter, die uns aber hindert, in die gei­stige Welt hineinzuschauen. Wir kommen gewissermaßen, wenn wir zur geistigen Welt aufsteigen, auf die andere Seite der Sonne. Wir sind hier diesseits des Sonnenwesens; wir kommen auf die andere Seite der Sonne, wenn wir zur geistigen Welt vorschreiten. Und bei dem Übergang von der einen Seite des Sonnenlebens zu der anderen Seite des Sonnenlebens haben wir das Bewußtsein, von dem ich eben gesprochen habe, daß wir uns wie in der Sonne, mit der Sonne füh­len, mit der Sonne die Weltenwege machen und so weiter. So daß wir unser Seelisches gar nicht kennenlernen können, ohne daß wir dieses Seelische in innigem Zusammenhange betrachten mit der gan­zen Weltentwickelung, mit dem ganzen Weltenwesen.

Was uns, ich möchte sagen, einsam an einen bestimmten Ort der Erde stellt, das ist unser physischer Leib, der auf das äußere Sonnen-hafte eingestellt ist und der uns hindert, unser Seelisches zu verbin­den mit dem All, der uns isoliert. Das Isolierende ist ja unser Organis­mus. So lebt denn der Mensch eigentlich im Sonnenhaften. Und Sie wissen, in dieses Sonnenhafte mischt sich - wollen wir jetzt rein den äußeren Tatbestand betrachten - das Mondenhafte herein, äußerlich so: die Sonne bescheint den Mond. In mondhellen Nächten wirft der Mond das Sonnenlicht zurück. Wir haben das Sonnenlicht vom Monde. Das heißt, wir haben eine Art von Abschattung, oder Ab-heIlung könnte man sagen, der Welt in alledem, was nun unter dem Einfluß des Mondenhaften in die Welt kommt.

Nun kommt in die Welt herein nicht nur das silberglänzende Mon­denlicht, das uns bei scheinendem Monde die Gegenstände so im nebel-haften bespiegelt, wie uns sonst klar und hell und begrenzt in Kon­turen das Sonnenlicht bei Tag die Gegenstände spiegelt. Nicht nur dieser Abglanz des Sonnenlichtes von den Gegenständen kommt uns zu, sondern in den Wesen der Erde lebt das Mondenhafte auch da­durch, daß diese Wesen der Erde fortpflanzungsfähig sind. In allem Fortpflanzungsfähigen, was dann mit den Vererbungskräften verbun­den ist, lebt das Mondenhafte.

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Wenn der Mensch nur unter dem Einfluß des Sonnenhaften wäre, so würde er ja schon Mensch sein können auf der Erde, aber er würde nicht einen anderen Menschen hervorbringen können. Wenn bloß das Sonnenlicht immer vorhanden wäre, so würde die Erde gewisserma­ßen einen Dauerzustand darstellen. Es würde kein Wesen vergehen und kein neues entstehen. Alles Vererbbare, alles Fortpflanzungs­mäßige wäre nicht da. So daß man sagen kann: Das Sonnenhafte ist auf der Erde das zunächst physisch Urkräftige. Es vertreibt unser Seelisches an der Kopfseite des Menschen; es macht da alles zum Bilde auf der Kopfseite. Real werden wir im gewöhnlichen Seelenleben erst durch unsere Triebe, durch unsere Emotionen; im höheren See­lenleben, wenn wir durch das Herz den Geist durchschauen, aber auch wenn wir außerhalb des Sonnenhaften kommen. Also das Son­nenhafte ist das in der Sinneswelt Urkräftige, möchte man sagen. Da-mit es nicht ganz allein mächtig ist, damit dieses Sonnenhafte nicht dauernd werde, damit nicht alle Pflanzen dauernd werden, sondern absterben und neue hervorbringen, nicht alle Tiere dauernd werden, sondern absterben und vorher neue hervorgebracht haben, ebenso beim Menschen, ist beigemischt in der Entwickelung der Welt dem Sonnenhaften das Mondenhafte. Und so ist auch dem Menschen das Mondenhafte eingegliedert.

Das Mondenhafte ist immer tätig, wenn ein neues Menschenwesen in die Welt eintritt. Da geht gewissermaßen das Sonnenhafte nicht bloß bis an die Oberfläche, sondern bis ins Innere des Menschen und schließt den Menschen aus einer gewissen Sphäre aus. Beachten Sie dieses auf der einen Seite. Wir haben also gewissermaßen die mäch­tige Sonnengewalt; aus der mächtigen Sonnengewalt herausgeworfen einen gewissen Teil unserer äußeren Weltentwickelung, indem das Mondenhafte da hineinkommt.

Wenn ich schematisch das beim Menschen zeichnen soll (Zeich­nung S.82), so müßte ich sagen: Wenn das ein Menschen-Schema jst, würde das Mondenhafte sich eben eingliedern (orange). Da wird aus dem ganzen menschlichen Wesen, insofern dieses Sonnenhafte daran beteiligt ist, dieses Sonnenhafte herausgeworfen, und das Monden­hafte macht sich geltend. Sie sehen also, es ist dem urkräftigen Sonnenhaften

#SE212-082

#Bild s. 82

in der äußeren physischen Welt etwas genommen. Daher kann sich auch das, was da mondenhaft sich abspielt, in der Fortpflanzung nicht äußerlich in der Welt abspielen - nur bei den allerniedersten Tieren ein Teil davon, indem die Eier ausgelegt werden und von der Sonne dann ausgebrütet werden -, das entzieht sich der äußeren Welt da, wo gerade dieses Mondenhafte recht stark wird.

Aber das hat einen Gegenpol. Das, was der Sonne auf der einen Seite genommen wird und wodurch ermöglicht wird durch das Mon­denhafte, daß auf der Erde irdische Fortpflanzung ist und irdische Vererbung, das wird ihr auf der anderen Seite wieder gegeben. Und indem ihr dies gegeben wird, ist die Sonne nicht bloß jenes physische Wesen, von dem Ihnen erzählt wird in der äußeren Wissenschaft, sondern die Sonne hat ein Geistiges, eine Art Übersonne, was zu ihr gehört (Zeichnung S.83, orange). Diese Übersonne gehört dazu zu der Sonne, aber diese Übersonne wirkt geradeso auf den Menschen wie der Mond, der eine Art Untersonne ist. Und in unserem Zeit­alter wissen die Menschen nichts Vernünftiges über die Art, wie der Mond sich hineinstellt in die Erdenentwickelung; aber sie wissen erst recht nichts von dieser Übersonne, und daß so, wie der Mond seinen mächtigen Einfluß auf das Physische des Menschen hat, die­se Übersonne den mächtigen Einfluß hat auf das Seelische des Menschen.

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#Bild s. 83

Sehen Sie, das haben ältere Menschen aus einem instinktiven Hell­sehen heraus gewußt und daher, wenn sie das andeuten wollten bei besonders für das Geistige begabten Menschen, für das wirklich Gei­stige, für das Spirituelle begabten Menschen, angedeutet, daß die Übersonne auf sie wirkt, kurz, daß sie nicht bloß sind, was sie sind durch Sonne und Mond, sondern daß sie auch das sind, was sie durch die Übersonne sind, daß sie mehr sind als dieser physische Leib. So wie der Mensch physisch mehr ist als sein äußerer physischer Leib in seiner Begrenzung, indem er einen Menschen aus sich hervorbringen kann, indem er also hinausgeht nach der physischen Seite, so ist der Mensch auch mehr nach einer geistigen Seite. Man hat das in einer Zeit instinktiven Hellsehens gewußt und hat deshalb dem Menschen den Heiligenschein gegeben. Geradeso wie der Mensch in der phy­sischen Welt hinausgeht über sein eigenes Wesen, indem er ein fortpflanzungsfähiges

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Wesen ist, geht er durch die Übersonne aus dem gewöhnlichen Seelischen, das an den Körper gebunden ist, hinaus, ragt ins Geistige hinein und trägt nach der Ansicht der Älteren den Heiligenschein. Wenn Neuere den Heiligenschein machen, so ist er immer wie eine aufgesetzte Kappe, weil sie keine Ahnung haben, wie das mit dem Menschenwesen wirklich zusammenhängt. Das ist keine Kappe, sondern das ist etwas, was der Mensch durch die Übersonne hat; das ist eine Erweiterung seines Seelischen in das Geistige hinein bis zu dem Grade, daß diese Erweiterung im Ätherischen sichtbar werden kann.

#Bild s. 84

Da werden wir, indem wir durch Anthroposophie wiederum ver­stehen lernen, warum aus einer älteren atavistischen Anschauung der Heiligenschein gemacht worden ist, tief hineingeführt in das Seelisch-Geistige auf der einen Seite, und auf der anderen Seite werden wir hineingeführt in dasjenige, was ältere, wenn auch traumhaft-atavisti­sche Hellsehererkenntnisse erschauen konnten von der Welt. Wahr­heiten konnten sie erschauen. Und die neuere Menschheit ist ungemein töricht, wenn sie meint, daß aus irgendeiner Phantasie heraus die Menschen in älteren Zeiten gewissen Persönlichkeiten den Heiligenschein

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gegeben haben. Sie haben es nicht aus der Phantasie heraus ge­tan, sondern sie haben damit andeuten wollen, daß solche Menschen vorzugsweise von der Übersonne beeinflußt sind, von demjenigen, was geistig-seelisch in der Sonne ist. Sie sehen also, daß der Mensch, wenn man ihn betrachtet seinem seelischen Wesen nach, wirklich sei­nen Organismus erfüllt; aber indem das Mondenhafte in ihn eindringt und das Mondenhafte da nur in seinem Abglanz erscheinen kann, wird der Mensch fremd seinem eigenen physischen Wesen. Das geht in Vererbungsverhältnisse hinein. Auf der anderen Seite nimmt der Mensch, indem die Sonne wiederum, ich möchte sagen, das, was sie durch den Mond für die Erde verliert, durch die Übersonne bekommt, teil an dem und rankt sich mit seinem Seelischen schon in seinem ätherischen Leib ins Geistige hinauf.

Diese Dinge muß man schon anführen, wenn man darauf hinwei­sen will, wie innig das Seelische des Menschen mit der Weltenentwik­kelung zusammenhängt. Man kann einfach nicht über das Seelische des Menschen reden, wenn man nicht von der Weltentwickelung redet. Denn in dem Augenblicke, wo man zum wirklichen Seelischen vordringt, dringt man auch zu dem Sonnenhaften vor. Und wie der Mensch mit der Materie gerade dadurch intensiv verbunden ist, daß er die Vererbungsmerkmale an sich trägt, daß er also die Impulse der physischen Entwickelung an sich trägt, so ist er mit der geistigen Welt dadurch verbunden, daß er das, was bloße Kopfgeistigkeit ist, die eigentlich etwas Leichnamhaftes, Totes hat, mit dem Übersonn­lichen durchdringt und dadurch diese Kopfgeistigkeit durchseelt wird. Und so ist es beim Menschen so, daß in sein Vorstellungswesen das Seelische hereinragt. Wie beim Müller, wenn er ein tapferer Kerl ist, bei dem Gedanken des Löwen, der Bild im Geistigen ist, die mut-vollen Gefühle hereinragen, beim Hasenfuß Schulze die Fluchtgefühle hereinragen, wie da der Gedanke seelisch wird, seelisch aus dem menschlichen Organismus - denn das, was da hineinflutet in das Vor­stellen, in das Denken, das sind schließlich doch die Kochprodukte des Organismus -, so strömt von der anderen Seite nun nicht Trieb, Begierde, Leidenschaft herein, sondern es strömt Weltenseele herein vom Übersonnlichen.

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Und wir müssen uns schon klar sein darüber: Wenn wir den Men­schen als in Geistesbildern, als in Vorstellungen lebend haben, so strömt in diese Vorstellungen herein von der einen Seite sein Trieb­haftes, sein Animalisches und macht von der einen Seite das Vorstel­len, das sonst kalt und nüchtern wäre, seelisch (siehe Zeichnung,

#Bild s. 86

rot); von der anderen Seite strömt das Übersonnliche herein (gelb). Das ist nun auch seelisch. Es ist nur ein Vorurteil, wenn man glaubt, daß derjenige, der nun nicht bloß in Emotionen lebt, sondern der auf­nehmen kann auch das Übersonnliche aus der Welt in seine abstrakten Gedanken, daß der ein solch trockener Kumpan wird wie derjenige, der nur Gedanken hat.

Die Leute fürchten sich vor dem Spirituellen, wenn es in reiner, kosmischer Form auftritt, weil sie glauben: In bezug auf meine Ge­danken bin ich schon ein genügend kalter Kerl; nehme ich nun noch die Weltgedanken auf, dann werde ich völlig ledern. - Da ist aber das Umgekehrte der Fall. Man wird ebenso innerlich warm, ebenso innerlich durchenthusiasmiert, aber eben in der reinen geistigen Form, wie man durchenthusiasmiert wird von den Trieben, von den Begierden,

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von dem Animalischen, das aus dem Organismus herauf-strahlt in das Gedankenhafte.

Ich habe in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» darauf auf­merksam gemacht, daß man wahrhaftig nicht bloß Wärme in das Ge­dankenhafte hineinbringen kann dadurch, daß man Triebartiges hin-einmischt. Gewiß, die Leidenschaft, der Trieb macht die Gedanken warm, aber animalisch warm. Aber es gibt auch eine Wärme, die aus der Welt kommt, die von der Übersonne kommt, und man kann er-glühen, indem man diese Weltenwärme, die jetzt nicht die animalische, sondern die die Wärme der über den Menschen stehenden Hierarchien ist, in sich aufnimmt. Wenigstens andeuten konnte ich das in meinem Buche «Goethes Weltanschauung», wo ich davon spreche, wie unrecht es ist, daß man einen Menschen, der ideenerfüllt ist, wenn seine Ideen von einer höheren Wärme durchzogen sind, auch als einen so trocke­nen Kumpan auffaßt und glaubt, selber einer zu werden, wenn man solche Ideen aufnimmt, wie das sonst bei den trockenen Ideen, die man eben heute zumeist allein kennt, der Fall ist.

Ich versuchte, Ihnen das Seelische also im Zusammenhänge mit der Weltenentwickelung zu schildern und möchte dann morgen noch besondere Einzelheiten dieses Seelenlebens zur Darstellung bringen.

FÜNFTER VORTRAG Dornach, 7. Mai 1922

#G212-1978-SE088 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

#TI

FÜNFTER VORTRAG

Dornach, 7. Mai 1922

#TX

Es wäre selbstverständlich über unser Thema noch außerordentlich viel zu sagen, allein man kann bei einem solchen Thema nur einzelne Andeutungen geben, und mit denen müssen wir uns auch zunächst begnügen. Ich werde heute versuchen, durch eine Art umfassenderen Überblicks Ihnen das Drinnenstehen der Seele in der ganzen Welt-entwickelung zu zeigen.

Wenn wir als beseelter Mensch zwischen Geburt und Tod die Außenwelt auf uns wirken lassen, so bekommen wir zunächst von dieser Außenwelt eine Summe von Eindrücken. Der heutige Mensch ist ja insbesondere auch durch die wissenschaftliche Erziehung, die bis in die niedersten Schulen hineingeht, seit Jahrhunderten daran ge­wöhnt, diese Außenwelt als das Wesentliche zu betrachten. Man hat in der neueren Zeit sogar angefangen, die Seelenwissenschaft als eine Art Naturwissenschaft zu konstruieren. Das tun nicht nur die Gelehr­ten, das tut im Grunde genommen heute der einfachste Mensch. Alles das rührt davon her, daß der heutige Mensch wenig dazu veranlagt ist, zurückzuschauen in sich selbst. Daher wird er gar nicht leicht auf­merksam auf solche Dinge, wie sie gestern hier besprochen worden sind. Der Mensch der Gegenwart ist wenig geneigt, wenig gewöhnt, auf sich selbst in objektiver Weise zurückzuschauen. Er sieht auf das­jenige hin, was ich gestern als die heraufwellenden und -wogenden Triebe, die Begierden, die Leidenschaften, die Emotionen überhaupt genannt habe. Aber er ist wenig geneigt, in objektiver Weise auf die­ses hinzuschauen, weil von dem, was in seinem Inneren ist, bei einer solchen Selbstschau nicht viel anderes heraufkommt als eben diese Begierde. Wenn sie auch manchmal durch die Erziehung verfeinert wird, sie bleibt doch diese Begierde, die herauf kommt, während der Mensch allerdings von der Außenwelt sich gewisse Ideen bildet, denen gegenüber er nicht persönlich beteiligt ist, die eine gewisse Objektivi­tät haben.

Es gibt viele Leute, die wollen nicht gerne solche Begriffe, die halten

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sich mehr an dasjenige, was in ihrem Inneren subjektiv und per­sönlich lebt. Aber die Zivilisation der Zeit bringt ja überall solche Be­griffe über die äußere Natur, wie wir sie einmal heute und seit Jahr­hunderten schon autfassen, an die Menschen heran. Mit diesen Be­griffen über die Natur füllt dann der heutige Mensch sein Inneres aus. Er lernt heute schon durch die kleinsten lokalen Zeitungsblätt­chen, wenigstens durch die Sonntagsbeilagen, die Welt so betrachten, wie es eben in diesem Sinne geschehen kann. Er weiß nicht, daß er eigentlich schon mit dem kleinsten Zeitungsblättchen die naturwis­senschaftliche Weltanschauung aufnimmt, aber er tut es eben. So daß man sagen kann: Das einzige, womit sich der Mensch heute wirklich befaßt, das sind die Begriffe der äußeren Natur. Ich sage das nicht als Kritik des einzelnen, sondern als Kritik der Zeit oder eigentlich nur als Charakteristik der Zeit, denn zu kritisieren ist dabei nichts; die Sache ist eben einfach ein notwendiges Zeitprodukt. Der Mensch ist so wenig interessiert an dem Menschen selbst, daß es ihm eigent­lich schon gleichgültig geworden ist, ob er den lebendigen Schau­spieler auf der Bühne sieht, oder ob er das Gespenst des Kino sieht, was natürlich in der Realität doch einen beträchtlichen Unterschied gibt. Aber es ist nicht eine tiefe Empfindung, eine gründliche Emp­findung für diesen Unterschied in der heutigen Zeit vorhanden, sonst würde man auch mehr Gefühl, mehr Empfindung haben für den großen Anteil, den an dem Niedergang unserer Zivilisation gerade solche Erscheinungen wie die Kinokultur haben.

Die Ideen, die dem heutigen Menschen für seine Seele vermittelt werden, nimmt er einfach dadurch auf, daß er aus blindestem Autori­tätsgefühl heraus sofort überzeugt ist, wenn man ihm sagt: Die Wis­senschaft hat wiederum das und das gebracht, wiederum das und das konstatiert. - Man muß sich nur klar sein darüber, was das eigentlich heißt, daß man diese Dinge so hinnimmt, wie sie heute geschildert werden. Man weiß durchaus nicht, indem man die Schilderung ent­gegennimmt, was da eigentlich in den Laboratorien und so weiter vorgeht. Kurz, es ist der blindeste Autoritätsglaube an dasjenige vor­handen, was in dieser Weise an Ideen über die äußere Welt den Men­schen mitgeteilt wird.

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Nun war das keineswegs immer so. Ich habe schon oftmals aufmerk­sam darauf gemacht, daß, wenn wir zurückgehen in der Geschichte der Menschheitsentwickelung, wir auf alte Zeiten kommen, in denen bei den Menschen etwas vorhanden war, was ich immer genannt habe ein instinktives traumhaftes Hellsehen. Instinktiv und traumhaft war dieses Hellsehen, aber es war doch geeignet, tiefer in das Wesen der Dinge einzudringen als die sogenannten wissenschaftlichen Ideen von heute. Man lebte sich einfach durch diese Begriffe, durch diese Vor­stellungen, durch diese Bilder, die heute den Leuten nur mehr sym­bolisch oder allegorisch vorkommen oder so, als ob sie aus der Phan­tasie geschöpft wären, in die Wirklichkeit hinein. Ob das einzelne Bild etwa ganz genau einem objektiven Tatbestand entsprach, darauf kam es nicht an, sondern indem man mit dem Bilde in der Wirklich­keit lebte, war man lebensvoll in dem Geistigen drinnen, während heute es natürlich darauf ankommt, ob eine Idee, die man sich macht, genau übereinstimmt mit irgend etwas draußen, denn dieses Überein­stimmen ist das einzige, woran sich der Mensch halten kann.

Nun, wenn wir dies überblicken, dann müssen wir einmal recht schroff vor unsere Seele etwas hinstellen, was für die ganze Beurtei­lung auch unserer heutigen Zivilisation von einer ungeheuren Wich­tigkeit ist. Wir müssen ganz schroff das hinstellen, daß ja der ältere Mensch mit seinem instinktiven Hellsehen etwas in seiner Seele leben­dig hatte, wovon der heutige Mensch sagt: Das ist Phantasie, das ist gar nicht enthalten draußen in den Dingen.

In einem gewissen Sinne müssen wir gerade, wenn wir verständnis-voll auf anthroposophischem Boden stehen, dieses treue Abbilden der äußeren Natur, wo man nicht mehr drinnensteht in der äußeren Na­tur, sondern sie nur abbildet, mitmachen. Und Sie wissen vielleicht, daß wir es wissenschaftlich im extremsten Sinne mitmachen, indem wir ablehnen jede Art von Hypothesenbildung über das, was Erschei­nung der Natur ist, sondern in unserem Phänomenalismus, wie er ge­nannt werden muß, innerhalb der Phänomene bleiben, das heißt inner­halb der äußeren Naturerscheinungen, die sich selbst erklären müssen, um im Goetheschen Sinne zu sprechen; zu denen man sich nicht aller­lei hinzudenkt von Atombombardement, Atomsprengungen und so

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weiter, wie das heute noch, ich möchte sagen, aus der Trägheit einer alten Gewohnheit üblich ist. Wir müssen uns auf antliroposophischem Boden im strengsten Sinne, wenn es sich um die äußere Natur han­delt, gerade an die Erscheinungen selbst halten, es ablehnen, da irgend etwas in die Erscheinungen hineinzudenken.

Der Mensch kann am besten lernen, wie man nichts in die Erschei­nungen hineindenkt, wenn er sich an etwas hält, was ja auch mit der naturwissenschaftlichen Weltanschauung heraufgekommen ist in der neueren Menschheitsentwickelung, wenn er sich hält an die Technik. Wenn wir die Naturgesetze technisch verwerten, so machen wir eigent­lich die Erscheinungen selbst. Gewiß, es bleibt noch immer in den Erscheinungen selbst drinnen, sagen wir zum Beispiel die Kraft der Elektrizität, von der Ihnen der heutige Forscher dann sagt: Ich ver­wende sie, aber ich kenne ihr Wesen nicht. - Er spricht oftmals so, von allen Naturkräften, auch von der Wärme und dem Lichte und so weiter. Es bleiben also Reste. Aber das, worauf es uns eigentlich an­kommt bei der Techmk, was wir beherrschen wollen, das ist dasjenige, was wir im Experimente selber zusammenstellen, wo wir also ein ge­wisses Durchschauen der Sache haben.

Es ist auch durchaus für den, der sich solcher Dinge bewußt sein kann, die Empfindung vorhanden: In dem, was ich technisch kon-struiere, sei es auch auf dem Gebiete der chemischen Technik, liegt etwas drinnen von einer unmittelbaren, überschaubaren Gewißheit -, während, wenn man über die Natur, die man so beobachtet, spricht, man die Möglichkeit hat, in dieser oder jener Richtung verschieden zu denken. So daß man sagen kann: Das Denken der modernen Zeit ist eigentlich am vollkommensten vorhanden bei dem Techniker. Das ist durchaus so. Wer heute an einer Maschinenkonstruktion oder, sagen wir, an der Herstellung eines chemischen Präparates und seiner Verwendung ahnungslos vorbeigeht, der denkt noch nicht im Sinne unserer Zeit; ich möchte sagen: der läßt in seiner Seele die anderen denken, denn die maßgebenden Leute denken eben doch technisch. Und so ist die Weltanschauung der neueren Zeit eigentlich nach und nach das geworden, was man äußerlich verwirklicht findet in der Technik, im Mechanismus, im Chemismus und so weiter. Das hat sich

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allmählich auch ausgedehnt auf das, was man heute noch als Weltan­schauung gelten lassen will.

Was ist denn schließlich unsere Astronomie? Unsere Astronomie war lange Zeit nichts anderes als die Darstellung der Weltmaschinerie. Es war eine große Maschine, wie man sich die Sonne im Verhältnisse zu den Planeten und die Bewegungen da vorstellte. Dazu ist in der neueren Zeit der Chemismus gekommen in der Spektralanalyse. Aber weiter geht eben die Astronomie nicht. Die Astronomie, diese Wis­senschaft des Weltalls, beantwortet sozusagen heute lediglich die Frage: Wie kommen wir mit der Vorstellung des Weltalls zurecht, wenn wir die aus der Technik uns bekannten Vorstellungen einfach auf das Weltenall anwenden, wenn wir uns dasjenige hinausversetzt denken in den Weltenraum, was wir in der Technik beobachten kön­nen? - So daß unsere Wissenschaft eigentlich von wirklich geltenden Ideen mit Ausnahme von den, man möchte fast sagen, Faseleien, wie der Neovitalismus sie enthält, mit Ausnahme von Redereien über Psychoide und dergleichen, brauchbare Vorstellungen in der Weltan­schauung nur so weit hat, als wir Maschinen und chemische Präparate konstruieren können. Die Vorstellungen, die wir an diesem Konstru­ieren gewinnen, übertragen wir dann auf den Weltenauf bau und stel­len uns den auch als eine große Maschine vor, innerhalb welcher noch diese oder jene chemischen Vorgänge stattfinden.

So war es eben durchaus nicht immer. Der Mensch noch bis ins 15. Jahrhundert herein - ich rede da gerade von den zivilisierten Ge­bieten der Erdenentwickelung - lebte in solchen Vorstellungen über das äußere Weltenall, die nicht bloß technisch waren, sondern die so waren, daß der Mensch etwas miterlebte. Das Technische ist ja ganz außerhalb des Menschen. Das ist abgesondert vom Menschen. Es lebte der Mensch früher dasjenige mit, was er wußte. Heute lebt er es nicht mehr mit, was er weiß. Deshalb haben auch unsere gegenwärtigen sehr ges cheiten Leute immer das Gefühl: In älteren Zeiten, da träum­ten eben die Menschen in die Gebiete der Welt alles mögliche hinein, machten sich Phantasievorstellungen. Heute haben wir erst die Mög­lichkeit, die Welt ohne solche Phantasievorstellungen vorzustellen. -Man glaubt eben, die technischen Vorstellungen seien die einzigen,

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die man in die Welt hineindenken dürfe, ohne sich in die Gefahr zu begeben, über die Welt zu phantasieren, sie nicht zu erkennen.

Dem aber, was ich da darstelle, liegt etwas viel, viel Tieferes zu­grunde. Es liegt etwas zugrunde, was die Prophetie der alten Myste­rien schon betont hat für einen gewissen Grad der Einweihung, der Initiation. Das ist gerade das Eigentümliche der Mysterien in jenen Zeiten, in denen das alte Hellseher vorhanden war, daß in den Myste­rien prophetisch vorausgesehen wurde, was für eine Weltanschauung ernmal kommen muß. Man sagte sich in den Mysterien etwa in der folgenden Weise prophetisch das voraus: Wenn wir für die Menschheit die Anschauung, die heute da ist - dieses «heute» war also in sehr frühen Zeiten, wo die Menschen die Umgebung miterlebten in einer instinktiv träumerischen Art -, beibehalten wurden, dann würde der Mensch niemals ein freies Wesen werden können. Dann würde der Mensch immer durch das, was er da in seinem Inneren erlebt über die Weit, auch für seine Handlungen die Impulse bekommen müssen. Es wurde eine göttliche Welt in seinem Herzen aufgehen - so sagte man sich; aber diese göttliche Welt würde ihn unfrei machen. - Die älte­ren Zivilisationen hatten eben durchaus unfreie Menschen. Was sie taten, von dem waren sie sich bewußt, wenn es ihnen nicht die Staats­lenker als Staatsgesetze auferlegten, daß sie göttlichen Geboten folg­ten. Also sie waren sozusagen bloß Wesen, die das vollführten, was das Göttliche in ihnen impulsierte.

So sagte man sich in den Mysterien: Es muß einmal eine Zeit kom­men, wo diese Art des göttlichen Wirkens in dem Menschen aufhört, wo der Mensch dazu kommt, nur in die Außenwelt hineinzuschauen und in der Außenwelt das zu sehen, was mit dem Menschlichen nichts mehr zu tun hat, und auch aufzunehmen in seine Seele nur die Außen­welt. Wenn der Mensch nicht mehr auf die Kräfte des Menschen er­kennend und erlebend hinschauen kann, sondern nur auf die Kräfte, die draußen in der Welt leben, mit denen der Mensch nichts zu tun hat, dann ist er innerlich frei, dann wird er innerlich entlastet, dann füllt seine Seele nichts anderes aus als das, was seine eigene Organisa­tion nichts angeht.

Es mußte diese Phase der Entwickelung für den Menschen einmal

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eintreten, daß er sozusagen die Natur nur außermenschlich anschaute, so daß er frei werden konnte. Das sagte man sich in den älteren Myste­rien. In diesen älteren Mysterien sagte man sich deshalb: Was wir jetzt den Menschen, die uns Verständnis entgegenbringen aus ihrem instinktiven Heilsehen, geben können, das wird man ihnen nicht immer geben können, denn sie würden dadurch unfrei bleiben. Es wird eine Wissenschaft über sie kommen müssen, die zwar in ihnen keine Impulse erregt, die ihnen aber Ideen liefert von demjenigen, was außer ihnen ist, so daß sie sich in ihrem Erkennen immer nur halten an das Äußere, also in bezug auf ihre inneren Impulse zur Frei­heit sich erziehen.

Sehen Sie, vor diesem Tatbestand stand ich ja auch im allerextrem­sten Sinne, als ich mich gedrungen fühlte, zunächst die vorbereiten­den Schriften und dann meine « Philosophie der Freiheit» zu schrei­ben. Die Grundfrage für das Schreiben dieser «Philosophie der Frei­heit» war die folgende: Es handelte sich darum, daß man sich mit aller Klarheit sagte: Wir stehen einfach im technischen Zeitalter. Wir haben, wenn wir nicht laienhaft das Alte fortfaseln, was noch erhalten ist in den Bekenntnissen und so weiter aus den alten instinktiven Welt­anschauungen, keine andere Möglichkeit, als uns zu halten an das, was technisch über die Welt gedacht werden kann, was sich also erschöpft in Mechanismen und so weiter. Wir stehen in der Welt drinnen, in­dem wir sie wie eine große Maschinerie und wie einen großen Che­mismus überblicken. Wir müssen einfach, wenn wir wiederum zum Geistigen kommen wollen, radikal brechen mit alledem, was als Mystik von alten Zeiten überkommen ist, und wir müssen in der, ich möchte sagen, geistlosen, mechanischen Welt, die uns die moderne Wissen­schaft gegeben hat, den Geist finden.

Ich möchte schematisch diese Situation, vor der man stand, als ich meine «Philosophie der Freiheit» schrieb, Ihnen auf die Tafel zeich­nen. Wenn das der Mensch wäre (Zeichnung links, hell) und das die Umwelt (gelb), so hätte man für frühere Zeiten sich die Sache so vor­zustellen: Der Mensch sah hinaus in die Umwelt. Dann erlebte er aber auch im Inneren das, was ihm instinktiv traumhaft-heliseherische Vor­stellung lieferte (rot). Das verband er mit dem, was er in der Umwelt

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#Bild s. 95

sah, und er sah die Umwelt deshalb durchgeistigt (rot im Gelb). Er sah in allen Wesen elementare oder auch höhere Wesenheiten dadurch, daß er die Bedingungen aus seinem eigenen Inneren dem entgegen­bringen konnte.

Der neuere Mensch, derjenige Mensch, für den ich also eigentlich als dem zivilisierten Menschen Ende der achtziger Jahre, Anfang der neunziger Jahre meine «Philosophie der Freiheit» schrieb, das war der Mensch (hell), die Umwelt (gelb). Jetzt gibt der Mensch nichts mehr aus sich heraus in die Umwelt hinein, sondern er verfolgt nur dasjenige, was sich eben auch technisch konstruieren läßt; er verfolgt die Gesetzmäßigkeit der Umwelt selbst. Da heraus läßt sich aber kein Moralimpuls finden. Auf diese Art lassen sich nur Naturgesetze bilden. So wie ich das hier gezeichnet habe (links), weil der ältere Mensch noch verbunden war mit dem Äußeren, waren in allem, was er sah, in Stein, Tier, Pflanze, noch wahrzunehmen die Moralimpulse, weil in alledem enthalten waren die göttlich-geistigen Wesenheiten. Davon ist in den Naturgesetzen nichts mehr drinnen. In den Natur­gesetzen ist nur das drinnen, was in die Maschinen oder in den Mecha­nismus übergeht.

Was war daher die notwendige Aufgabe gerade dieser «Philosophie

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der Freiheit»? Ihre notwendige Aufgabe war diese, daß man sagte: Wenn der Mensch, indem er außerhalb der Natur steht, nichts mehr von Moralimpulsen finden kann, weil er nur Naturgesetze auf diese Weise hereinbekommt durch seine Sinne, dann muß halt der Mensch aus sich herausgehen, dann kann er nicht mehr in sich bleiben. Und ich mußte das erste Herausgehen schildern, wo der Mensch seine Leiblichkeit verläßt. Und dieses erste Herausgehen ist im reinen Den­ken, wie ich es dort in der «Philosophie der Freiheit» dargestellt habe. Das heißt: Jetzt rückt der Mensch nicht mit seinem instinktiven Hell­sehen heraus, sondern jetzt rückt er aus seinem Leibe überhaupt her­aus, versetzt sich in die Außenwelt (grün). Und was hat er da? Da hat er, indem er das allererste feinste Hellsehen vollzieht, die moralischen Intuitionen, oder wenn Sie es mit dem Ausdruck bezeichnen wollen, subjektiv, den ich damals gebraucht habe, er hat die moralische Phan­tasie. Da geht der Mensch von sich weg, um nun innerhalb des Tech­nischen - das Geistige ist ja deshalb doch drinnen - dieses Geistige auf dem ersten Gebiet, auf dem Moralgebiet zu finden.

Die Menschen haben nur nicht erkannt, daß das die erste Stufe des modernen Hellsehens ist, die in der «Philosophie der Freiheit» zur Geltung gebracht worden ist, weil die Menschen sich noch gedacht haben: Nun ja, Hellsehertum, das ist etwas, wo man so untertaucht in Unklarheit, wo man in das Unbekannte kommt. - Während hier gerade das Bekannte gesucht wurde, während hier das Herausgehen mit dem Denken, das nun nicht mehr sich an die Materialität hält, sondern das sich in sich selber erfaßt, weil in diesem zuerst, also in der reinen Geistigkeit, sogar in der reinsten Geistigkeit, die Welt erfaßt worden ist.

Und deshalb hatte auch die «Philosophie der Freiheit» das Schick­sal, daß sie den Mystikern zu gedanklich war. Sie sahen nach ihrer Art zuviel Gedanken darinnen. Und die anderen wiederum, die Ratio­nalisten und Naturwissenschafter oder auch Philosophen der neueren Zeit waren, konnten wiederum nichts mit ihr machen aus dem Grunde, weil sie in das Gebiet des Schauens führte, wo sie nicht hereinwollten, denn sie wollten bleiben bei dem bloßen äußeren Beobachten, auch wenn sie von Philosophie sprachen. Es war also gerade mit der ganzen

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Haltung, in dem Habitus der «Philosophie der Freiheit» das er­füllt, was einfach dem modernen Menschen auferlegt war.

Das wäre sozusagen das Elementare von dem, was man in An­knüpfung an das sagen kann, was man in den alten Mysterien pro­phetisch verkündete über das, was da kommen müsse. Aber die alten Initilerten in den Mysterien sahen die Sache doch noch genauer, sahen sie noch mehr im Zusammenhang mit der menschlichen Seele und der Weltentwickelung. Sie sahen nämlich auch das Folgende: Sie erkann­ten klar: Ja, die Welt, die man da einmal entdecken wird durch die spätere Erkenntnis, diese Welt ist eigentlich nicht nur außermensch­lich, sondern sie ist auch außergöttiich, außer dem Gebiete desjeni­gen göttlichen Schaffens, wovon wir - ich meine jetzt die alten Ein­geweihten mit dem «wir» - eigentlich sprechen. Wir suchen die Offen­barung des Göttlichen in dem, was wir erreichen durch unsere Initia­tion; wir verkehren durch u'nsere Initiation mit den Götterwesenhei­ten. - Die verschiedenen heidnischen Völker verkehrten mit ihren Wesenheiten, die Juden zum Beispiel mit ihrem Jahve oder Jehova. Sie verkehrten, insofern sie Initiierte waren, nicht nur in Gedanken, sondern in der Wirklichkeit mit ihren göttlichen Wesenheiten. Man sagt da durchaus etwas Richtiges, wenn man von einem realen Verkehr mit diesen göttlichen Wesenheiten in den alten Mysterien spricht. Ja, die Eingeweihten verkehrten mit diesen göttlichen Wesenheiten; aber wenn sie außerhalb der Mysterien waren, und wenn ihre Schüler außer­halb der Mysterien waren, so sahen diese alle wiederum die Umwelt. In diese Umwelt sahen sie allerdings das hinein, was ihnen ihr instink­tives Hellsehen gab. Aber namentlich die Eingeweihten selber und die Schüler dieser Eingeweihten wußten: Ja, was da draußen ist, das wehrt sich doch in einer gewissen Weise gegen das, was wir da hinein­schauen, und es wird einmal einfach eine Zeit kommen, wo es sich nicht nur wehren wird, sondern wo man nur das anschauen wird, was man ohne solches Hineinschauen wahrnehmen kann.

Wozu der heutige Mensch, weil seine Erkenntnis oberflächlich und nicht tiefgehend ist, gar nicht den Mut hätte, es sich zu gestehen, das gestanden sich eben diese alten Eingeweihten als eine Wahrheit. Sie sagten sich: Die Welt, die wir da draußen sehen, wenn wir nicht erst

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das in sie hineinschauen, was uns unsere Götter mitgegeben haben -denn das, was sie da hineinschauten, hatten ihnen beim Anfang der Weltenentwickelung ihre Götter gegeben -, dann ist diese Welt ja ungöttlich. Also haben wir in der Umwelt eine Welt, die gar nicht herrührt von den Göttern, mit denen wir in den Mysterien ver­kehren.

Das war es, was dann in der besonderen Form der Naturverach­tung und der Askese fortgelebt hat im Mittelalter, und was bis in die neueste Zeit in gewissen Bekenntnissen lebt, wenn auch in manchen Bekenntnissen sehr heuchlerisch lebt. Das ist das, was, aus den alten Mysterien herstammend, der Mensch sich eigentlich sagen muß: Wenn ich in mein Inneres hineinschaue, kann ich mit den Göttern verkehren; aber von den Göttern stammt gar nicht die Welt, die um mich herum ist. Diese Welt ist gar nicht geschaffen von denjenigen Göttern, zu welchen ich mich durchringen will, wenn ich mich einweihen lasse.

Das war überhaupt eine Grunderkenntuis, in die man immer mehr und mehr sich ganz sachlich hineinlebte, daß die äußere Welt gar nicht von den Göttern herrührt, die man durch die Mysterien und die Ein­weihung kennenlernte. Diese Götter haben eigentlich eine ganz andere Welt gewollt. Der Mensch ist durch ein besonderes Ereignis herunter­\gesunken in diese Welt, die seine Götter gar nicht gewollt haben. Alle Ideen vom Sündenfall - man könnte sie jetzt alle entwickeln, aber dazu reicht heute nicht die Zeit - rühren davon her, daß die Menschen er­kannt haben: Die Welt, die wir da als Umwelt kennen, ist ja gar nicht diejenige, die diese Götter geschaffen haben.

Aber man versuchte zu erfassen, was nun dieser von ihnen nicht ge­schaffenen Welt gegenüber diese Götter, mit denen man verkehren wollte, eigentlich wollten mit dieser Welt. Das konnte man von ihnen erfahren. Und man erfuhr von ihnen, daß sie eigentlich die Zerstäu­bung, daß sie die Vernichtung dieser Welt wollten.

Vor diesem Faktum standen auch die Initiierten der älteren Zeiten. Sie standen vor dem Faktum, daß die Götter, nach denen sie hin-strebten, ihnen als ihren Entschluß eigentlich die Vernichtung dieser Welt offenbarten. Und dennoch wiederum wußten sie: Einmal muß sich, damit der Mensch frei werden könne, die menschliche Erkenntnis

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knüpfen gerade an diese Welt', die die Götter reif zum Untergange finden, die die Götter eigentlich vernichten wollen.

In den älteren griechischen Mysterien wurde das dann auf eine ganz eigenartige Weise aufgefaßt. In den ältesten griechischen Mysterien arbeitete man namentlich auf eine künstlerische Gestaltung der Welt hin - von einer naturwissenschaftlichen Auffassung, wie wir sie heute haben, hatte man im alten Griechenland noch keine Ahnung -, man arbeitete in der Plastik, namentlich auch in der Tragödie, kurz, in der Kunst darauf hin, durch den Menschen etwas zu schaffen, was zwar sich anlehnt an diese Welt, was aber über diese Welt doch hinausgeht. Und der eingeweihte G4eche, der hatte die Vorstellung: Die Welt, auf der du stehst, die Welt der Bäume, die du siehst, die Welt der Quellen, die du wahrnimmst und so weiter, die wird zerstäuben; was du aber in deine Venus von Milo, in den Zeus, in die Athene, was du in das Drama des Sophokles hineingeheimnißt hast aus dieser Welt heraus, das wird zwar aus dem sichtbaren Reiche ins Unsichtbare übergehen, es werden nur die Gedanken gleichsam schwebend blei­ben, aber das wird, wenn diese Erde zerstäubt, hinausgehen und wird retten den Fortgang der Erdenwelt, der sonst eben nur darin bestehen könnte, daß diese Erdenwelt einmal radikal zugrunde ginge.

Die Griechen der ältesten Zeit, solange die Kunst noch aus den Mysterien hervorging, stellten sich schon vor: Durch die Kunst wol­len wir retten den Untergang derjenigen Welt, die von den Göttern herrührt, die aber einen Einschiuß bekommen hat, den die Götter sel­ber vernichten wollten. - Und das, was man da wußte, das führte eben dazu, sich folgendes zu sagen. Sehen Sie, gewisse fundamentale natur­wissenschaftliche Tatsachen waren ja, wie auch geschichtlich nachge­wiesen werden kann, den alten Mysterieneingeweihten durchaus be­kannt. Gewiß, wir haben viel Neues im Laufe der letzten Jahrhun­derte, namentlich des 19. Jahrhunderts, in bezug auf technische Kon­struktionen hinzugebracht; aber gewisse fundamentale Dinge, die heute noch fortwirken in der Technik, die waren durchaus den alten Eingeweihten bekannt. Es war ihnen viel mehr bekannt, als dasjenige ausmachte, wovon sie zu den Menschen sprachen, die nicht eingeweiht waren. Aber sie sagten sich folgendes: Wenn wir einfach technisch

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so etwas zusammenstellen, was Naturkräfte kombiniert, so daß wir etwas Maschineriehaftes vor uns haben, so machen wir ja im aller­extremsten Fall etwas, was zerstäubt mit dem Erdenwesen, wovon die Götter selbst den Untergang wünschen. - Denn das weiß ja jeder Eingeweihte, daß diejenigen Götter, zu denen man in den alten Myste­rien hinaufsah, mit denen man in den alten Mysterien verkehrt hatte, mit denen man selbstverständlich auch heute noch verkehren kann, daß diese Götter nichts so sehr hassen wie zum Beispiel eine Loko­motive oder ein Auto! Das ist ihnen etwas Furchtbares. Denn sie sagen, diese Götter: Dasjenige, was wir uns gefallen lassen müssen von Ahriman, daß er uns die Erde gebildet hat in dieser maschine­riehaften Weise, das machen jetzt die Menschen dem Ahriman noch nach; sie machen noch zu dem etwas hinzu. Unsere Arbeit ist schon groß für das, was wir vernichten müssen, wenn wir wenigstens bloß die Werke des Ahriman hätten; aber wir haben zu alledem noch diese Dampfmaschinen, diese elektrischen Maschinen und all das Zeug; das müssen wir noch dazu vernichten.

Also die alten Eingeweihten sagten sich: Das nützt gar nichts, wenn wir einfach die äußeren Naturkräfte, in die nichts mehr Geistiges hin-eingesehen wird, in technischer Maschinerie oder in technischem Chemismus vermehren. - Es war eine Grundüberzeugung der Initiier­ten, daß das so ist. Daher sagten sie: Man muß so viel wie möglich von dieser Welt retten. - Wie gesagt, in Griechenland war es so, daß man durch die Kunst retten wollte; wenn wir mehr nach dem Orient hinüberkommen, war es so, daß die Leute sich sagten: Was bloß nach sogenannten Naturgesetzen verläuft, hat im Grunde genommen für die wahre Menschheitsentwickelung gar keinen Zweck, denn das wer­den die Götter einmal zerblasen; daher kleiden wir das, was wir machen, so, daß darinnen Spirituelles lebt. - Und daraus entstand der Kultus im älteren Sinne, eben nicht die Formung einer Maschinerie oder eines Chemismus, sondern die Kultushandlung. Man sieht in dem, was man tut, etwas Sakramentales, etwas, wo Spiritualität drin­nen ist, wo der Geist mittut. Im religiösen Kultus wollten die Leute eben so viel wie möglich retten von dem, was zu retten ist von der Erdenevolution.

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Ich habe das bei früheren Gelegenheiten oftmals dadurch ausge­sprochen, daß ich ein Bild gebraucht habe: Wir müssen wiederum gegenüber unserer bloßen Technik dahin kommen, daß uns der Labo­ratoriumstisch ein Altar wird, daß wir tatsächlich eine Art göttlichen Dienstes verrichten, indem wir im physikalischen, im chemischen La­boratorium arbeiten, daß also der Laboratoriumstisch zum Altar wird, daß wir tatsächlich da hinein moralisieren und spiritualisieren. - Ich habe das früher so ausgesprochen; es ist im Grunde genommen das­selbe, was ich heute mehr historisch ausspreche.

So also entstand der religiöse Kultus, zu dem heute die Menschen, weil sie sich nicht aufringen können zu einer Aktivität in bezug auf das Geistige, wiederum zurückkehren. Es ist merkwürdig, wie gerade intelligente Menschen heute in großer Zahl in den Schoß der katho­lischen Kirche zurückkehren, aus dem einfachen Grunde, weil sie sich retten wollen zu dem, was von der Erde bleibt, aus demjenigen, was ja spurlos verschwinden muß durch Götterwillen selber. Dieses Hin-strömen gerade gebildeter Menschen heute in den Katholizismus hin­ein wird von denjenigen, die nicht die Gegenwart aufmerksam betrach­ten, eben auch gar nicht beachtet. Das besteht darinnen, daß die Leute heraus wollen aus dem, was vernichtet wird, in etwas hinein, was, wie die katholischen Zeremonien und Kultushandlungen, die auf sehr al­ten Einrichtungen beruhen, formen will wenigstens das, was da bleibt, weil den Leuten fehlt jene Aktivität, wodurch etwas Neues, etwas, was wir brauchen für die Zukunft, wirklich gefunden werden kann. Es feHt den Leuten die innere Kraft. Die ist ihnen schon verlorengegangen innerhalb unseres technischen Zeitalters.

Man hätte sich eben in einem gewissen Momente energisch sagen müssen: Also wir stehen in der negativen Welt der Technik. Da drin­nen lassen sich nicht mehr Impulse finden in der alten Art. Da muß zu der moralischen Phantasie, zu der Intuition geschritten werden. -Das hätte man sich sagen müssen. Diejenigen, die vorbeigehen an die­ser Notwendigkeit der Zeit, die kehren eben zum Katholizismus zu­rück. Erklärlich ist die Sache durchaus aus der Schwäche der Zeit.

Und daher, weil das so war, und weil das eine Erkenntnis war bei den alten Initlierten, fragte man sich: Ja, wie wird es denn nun werden?

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Also die Götter, von denen wir wissen, mit denen wir durch die Mysterien in Verkehr stehen, alle diese Götter wollen die Vernichtung der Erde. Aber die Menschen werden, wenn sie freie Menschen wer­den wollen, immer ähnlicher gerade dem, was da auf der Erde ist; denn nur dadurch, daß technische Erkenntnis wird, können die Men­schen frei werden. - So hätten die alten Eingeweihten, wenn sie das nur allein hätten überschauen können, vor der furchtbaren, sich vor ihnen prophetisch enthüllenden Zukunftstatsache stehen müssen: Die Menschen müssen, um wirklich Menschen zu werden, sich ganz und gar in die ahrimanische Welt der Gottlosigkeit verstricken, und sie müssen zerstieben mit der Erde, wenn die Götter diese Erde auflösen. Denn die Menschen werden selbst nach und nach zur Maschinerie; sie werden den Maschinen immer ähnlicher. Sie werden in ihren Gedan­ken so, daß nur noch die technischen Impulse in den Gedanken wir­ken. Die Astronomie ist im Grunde genommen nichts anderes als das Denken über die große Weltmaschinerie. Da ist also nichts im Men­schen als das Denken über die Maschine; denn schließlich ist es einer­lei, ob man über Schrauben und Räder oder über Venus und Merkur denkt nach demselben rein technisch zu konstruierenden Muster.

Also vor einer iurchtbaren Zukunftstatsache hätten diese Initiierten stehen müssen. Und das war ihnen ganz klar: Ihre alten Götter woll­ten in dieser Weise den Untergang, weil sie den Untergang des Ahri­manischen wollen mußten, und weil sie so, wie die Sachen zunächst waren, die Menschen nicht retten konnten.

Das andere, was nun schon in diesen alten Mysterien wiederum prophetisch entgegengestellt wurde, das war eben das Mysterium von Golgatha, bevor es geschehen war auf der Erde, prophetisch. Nach­dem es geschehen ist, konnte man immer mehr und mehr dazu kom­men, es in irgendeiner Weise aufzufassen. Das war eben einfach die­ses, was die alten Initiierten in den Mysterien von den Göttern, mit denen sie verkehrten, erfuhren. Die Götter wußten alles; von denen konnten sie umfassende Weisheit erzielen. Aber eines konnten sie nie erfahren von diesen Göttern: das waren diejenigen Dinge, die sich auf Geburt und Tod des Menschen bezogen. Namentlich vom Tode als sol­chem wußten diese Götter nichts. Aber man wußte zugleich in diesen

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alten Mysterien, daß einer aus ihren Reihen heruntergeschickt wer­den solle, derjenige, den man später den Christus nannte, und daß er auf der Erde den Tod kennenlernen sollte. So daß das Mysterium von Golgatha darin liegt, daß einer der Götter, die früher den Tod und damit auch die Geburt und die ganzen Vererbungsverhältnisse nicht kannten, diesen Tod kennenlernte und dadurch, daß er ihn kennen­lernte, sich mit der Erdenevolution verbinden und das Gegengewicht bilden konnte gegen dasjenige, was durch die Entwickelung zur Frei­heit hin notwendig hätte geschehen müssen: das immer mehr und mehr Verwandtwerden des Menschen mit der zerstäubenden Erde. In­dem sich der Mensch auf der einen Seite wirklich nun der modernen Erkenntnis hingibt, die modernen naturwissenschaftlichen Erkennt­nisse wirklich aufnimmt, auf der anderen Seite aber sich zu dem Chri­stus wendet, der derjenige der Götter war, der den Tod kennengelernt hat und damit auch die Geburt, damit bildet der Mensch in sich selber den Gegenpol.

Man kann daher auf der einen Seite völlig hinneigen zu demjenigen, was notwendig ist für die Freiheit, muß aber auf der anderen Seite, ich möchte sagen, auch das andere Gebiet auf die Waagschale legen, den Weg hinfinden zu dem Paulinischen Worte: Nicht ich, sondern der Christus in mir. - Dann wird der Mensch wiederum die Möglichkeit finden, indem er die Welt durchchristet, von seiner Seele aus dasjenige umzugestalten, was sonst abfallen müßte von derjenigen Götter-welt, zu der der Mensch eigentlich gehört.

Und so ist den ahrimanischen Mächten, die eigentlich sonst auf der Erde in dem wirken, was abgefallen wäre, der Christus entgegengesetzt worden. Durch einen außerirdischen Götterentschluß ist der Christus entgegengesetzt worden, damit er nun in der Erde wirkt. Er hat es nicht nötig, frei zu werden, er ist ein Gott, bleibt es auch, indem er durch den Tod durchgegangen ist. Er wird nicht ähnlich der Erde. Er lebt als Gott innerhalb des Erdenwesens. Und die Folge davon ist, daß der Mensch nun auf der einen Seite die Möglichkeit hat, auf die Waag­schale der Freiheit so viel als möglich zu legen, da wirklich bis zu den letzten Konsequenzen des Individualismus zu gehen, denn nur im in­dividuellen Menschen wird die moralische Phantasie gefunden. Daher

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hat man eben meine «Philosophie der Freiheit» die Philosophie des Individualismus genannt im extremsten Sinne. Das mußte sie auch sein, weil sie auf der anderen Seite die christlichste der Philosophien ist. Daher mußte man also auf die eine Seite dasjenige legen, was im vollsten Sinne darbietet, was äußere Naturerkenntnis ist, in die man nur hineinkommt mit dem Geistigen, indem man sich zu dem reinen, freien Denken erhebt. Das kann man noch retten innerhalb der rein technischen Erkenntnis. Auf die andere Waagschale muß aber gelegt werden das, was die wirkliche Christus-Erkenntnis, die wirkliche Er­kenntnis von dem Mysterium von Golgatha ist.

Es war daher ganz selbstverständlich, daß ich auf der einen Seite die «Philosophie der Freiheit» versuchte zu schreiben, so schlecht und recht natürlich als sie sein konnte, weil man nicht gleich auf den ersten Anhub alles gut machen kann. Auf der anderen Seite aber mußte ge­rade auf das Mysterium von Golgatha hingewiesen werden durch meine «Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» und durch mein «Chri­stentum als mystische Tatsache». Diese zwei Dinge gehören einfach zusammen. Aber diejenigen Menschen, die nun äußerlich darin einen Widerspruch finden, die finden, ich verfahre eigentlich so, wie wenn sie auf der einen Waagschale Fleisch und auf der anderen Waag­schale Gewichte haben und nun sagen : Was ist das für Unsinn! Das gehört zusammen; kurz, man muß alles durcheinandermischen. - Und nun nehmen sie die Gewichte weg und werfen sie zum Fleisch dazu. Ja, da ist natürlich kein Gleichgewicht. So machen es die heutigen Kritiker. Sie setzen auf die eine Seite Mystik, auf die andere Seite Philosophie, und so schießt, was in der Mystik ist, dann in die Philo­sophie hinein oder umgekehrt. Nun finden sie allerdings, daß die Welt sich in einer furchtbaren Weise benimmt; aber das ist ja mit Ausschluß wirklich alles desjenigen, was für die Gegenwart gefordert wird, für die das durchaus notwendig war. Und so muß eben, wenn die gegen­wärtige Seele sich in richtiger Art hineinstellen will in die Weltent­wickelung, in ihr leben auf der einen Seite ein starker Freiheitsimpuls, auf der anderen Seite muß in ihr leben ein starker Impuls zum inner­lichen Durchleben des Mysteriums von Golgatha.

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Das muß sich aber nach und nach sowohi im einzelnen Menschen­leben ausgestalten, wie es sich ausgestalten muß im Wissenschaftli­chen. Im einzelnen Menschenleben muß der Mensch einmal dazu kom­men, die alten instinktiven Arten des Mystischen und des Heilsehe­rischen zu überwinden und sich ganz und gar eben auf den Stand-punkt einer solchen Erkenntnis zu stellen, wie wir sie haben, wenn wir, sagen wir, eine Dampfmaschine begreifen. Nur solche Ideen für die äußere Naturerkenntnis setzte ich meiner «Philosophie der Frei­heit» voraus, wie man sie notwendig hat, um auch eine Dampfma­schine zu begreifen. Aber man muß, um eine Dampfmaschine zu be­greifen, zwar seinen ganzen Menschen ablegen, aber nicht jetzt das Letzte, das reine Denken. Das muß man schon noch im Menschen ausbilden und dann hinaustragen. Aber das ist zu gleicher Zeit das, was in den Objekten lebt.

Man kann sich also auf der einen Seite ganz und gar auf den Boden der Freiheit stellen, muß aber auf der anderen Seite sich auf den Boden der Christus-Tatsache stellen. Das muß aber auch in die Wissenschaft hinein. Und das wird so in die Wissenschaft hineinkommen, daß man sich sagt : Da ist die äußere Natur. Ich beschreibe sie meinetwillen so Haeckelisch, als es nur sein kann. Aber da bleiben Reste. Da bleiben die Reste, die nie zu begreifen sein werden mit diesen Ideen. - Ver­zeihen Sie, wenn ich mich ein klein wenig deutlich ausdrücke, aber wir sind ja als ernste Leute, die etwas verstehen wollen, beisammen, und nicht beim Five o'clock tea. Also ich möchte sagen : Die zwei Dinge sind notwendig, daß sie in unsere Zivilisation in der richtigen Weise hineingehen, die da lagen darinnen, daß man in älteren Zeiten -wobei man durch sein instinktives Hellsehen sich bewußt war der An­knüpfung des Menschen an die spirituelle Außenwelt - den Heiijgen­schein ausgebildet hatte. Es war in diesen ältesten Zeiten der Heiligen­schein ganz besonders ausgebildet; er tritt vielfach hervor in den ver­schiedensten Formen, auch beim Kultus. Als aber aus dem Mittel­alter heraus in den Gefühien der erste Materialismus erwachte, da wurde etwas anderes besonders gern abgebildet : die schwangere Frau. Sehen Sie sich doch nur viele Bilder des Mittelalters an : die Frauen sind auf diesen Bildern alle schwanger. Sie haben auf der einen

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Seite dasjenige, was über den Tod hinausrettet und was sich im Höch­sten in der Verkündigung der geistigen Welt im Heiligenscheine aus­drückt, und auf der anderen Seite dasjenige, was den Menschen im­mer wieder hereinbringt in die physische Welt : die Geburt.

Diese Dinge hängen alle mit dem inneren geistigen Entwickelungs­motor der Menschen zusammen. Die Seele lebt immer in dem, was innere Entwickelungsmotoren sind. So ist ein Zusammenhang zwi­schen dem seelischen Erleben und der Weltenentwickelung selbst in bezug auf die intimsten Tatsachen, und die Wissenschaft wird sich auch dem nach und nach anbequemen müssen und wird sagen müs­sen : Ich erkenne die Welt so Haeckelisch als möglich, aber zwei Dinge bleiben übrig : das eine ist die Geburt, das andere ist der Tod. Die las­sen sich nicht mit den Ideen aus der Chemie und der Mechanik begrei­fen, also aus dem, was technisch konstruierbar ist. Das sind die beiden Tore, die hinausführen, und da muß man anfangen mit einer anderen Betrachtungsweise. Solange man die Freiheit betrachtet, kann man bleiben innerhalb der Ideen, die sich auch in der Technik ausleben. Und wenn man eine «Philosophie der Freiheit» schreibt - denn die Kinder sind ja noch nicht frei, da wirkt noch das Göttliche in Unfrei­heit in ihnen-, schreibt man unmittelbar für Menschen, die in ihrem mittleren Lebensalter drinnenstehen, denn da wird man ja doch eigent­lich erst frei. Fängt man an, die anderen Teile zu schreiben, dann wird man unmittelbar geführt auf die Auffassung, die der Mensch in seiner Seele haben kann über den Tod. Daher ist das Urmysterium das Er­leben des Todes, und das innerliche Erleben des Todes und die gei­stige Widergeburt dasjenige, was Sie auch in den allerersten Kapiteln meiner mystischen Schriften finden.

Das ist etwas, was einfach aus der gegenwärtigen Weltenbetrach­tung sich von selbst ergibt, aber jetzt nicht in einer nebulosen Weise, sondern in einer solchen Weise, die wirklich das, was nötig ist, durch und durch eben begreifen will. Und so muß man sagen : Mit dem­jenigen, was die menschliche Seele nach der Richtung der Freiheit er­lebt, streift sie in der Welt heran an das Ahrimanische. Mit demjenigen, was sie erlebt nach der Seite des Religiösen, auch wenn es zu dem Mysterium von Golgatha hingeht, streift sie sehr nahe heran an das

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Luziferische. Und da kann sie sehr leicht, wenn sie die bloßen religiö­sen egoistischen Instinkte ausbildet, wie es in der Gegenwart auch in dem Religionsbetrieb sehr leicht der Fall ist, auch in die luziferischen Triebe, Instinkte hineinfallen.

Das ist es, was aus der unmittelbaren Gegenwart heraus für das Seelische berücksichtigt werden muß, und das war es auch, was der Christus unmittelbar nach seiner Auferstehung seinen intimen Schü­lern gelehrt hat. Diese intimen Schüler, die die Fortsetzer der alten Mysterieneinweihung waren, sollten lehren, daß er heruntergestiegen ist aus derjenigen Welt der Götter, die den Tod noch nicht gekannt haben, die daher dem Menschen in der Urerdenzeit vom Tod nichts sagen konnten; daß der Christus heruntergestiegen ist, um die Ge-heimnisse über Geburt und Tod zu erfahren. Daher sind auch so un­klar geblieben die Lehren von Christi Tod und Geburt, weil die Men­schen nicht den Weg fanden, um diese Dinge zu erklären. Aber in den christlichen Urmysterien, deren eigentlicher Sinn, weil zunächst der Freiheitssinn ausgebildet werden sollte, schon im 4. nachchristlichen Jahrhundert verschwunden ist, wurde durchaus von dem Christus selbst seinen ersten eingeweihten Schülern nach seiner Auferstehung dieses Geheimnis von dem Erkennenlernen des Erdentodes durch einen Gott mitgeteilt. Das geschah aber allerdings, nachdem die alte, die ursprüngliche Weisheit von den alten Göttern den Menschen mit­geteilt worden war, dann immer weiter und weiter übertragen wurde auf die späteren Generationen und immer mehr und mehr verwässert wurde. Das, was da der Christus nach seiner Auferstehung seinen intimen Jüngern mitteilte, das war die eigentlichste Uroffenbarung im irdischen Leben, das war es, was nun als das Fundament, als das geistige Fundament das Leben der Seele weitertragen sollte. Denn im Grunde genommen, was die alten Götter, wenn sie in den Mysterien heraufgestiegen sind, den Menschen gelehrt haben, das waren die Ge­heimnisse von Saturn, Sonne, Mond; das eigentliche Erdengeheim­nis - denn auf der Erde erst ist im menschlichen Sinne aufgetreten Geburt und Tod, früher gab es nur Metamorphose, Verwandlung -, mußte ein Gott erst durch das Mysterium von Golgatha auf der Erde selbst erfahren, um es dem Leben der Menschenseele zu vermitteln.

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So daß also durch diese fundamentalste Offenbarung nach Christi Tod auch das Fundament geschaffen wurde, das die Menschenseele in sich aufnehmen muß, um von diesem Fundamente aus eben die Rettung des Erdenlebens zu vollziehen.

So hängen dann die Menschenseelen zusammen mit der Evolution der Erde, mit der Evolution der Welt überhaupt; so hängen sie zu­sammen durch die anderen Tatsachen, wie ich sie Ihnen in diesen Ta­gen dargestellt habe; so hängen sie zusammen, indem sie in richtiger Weise aufnehmen den Impuls des Mysteriums von Golgatha. Das wollte ich Ihnen in diesen Vorträgen ausführen.

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MENSCHLICHES GEISTESSTREBEN IM ZUSAMMENHANGE MIT DER ERDENTWICKELUNG

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 26. Mai 1922

Es ist auch hier des öfteren auseinandergesetzt worden, wie die ersten Lebensalter des Menschen sich in der Entwickelung verhalten. Ich habe vor vielen Jahren schon darauf aufmerksam gemacht, daß bis etwa zum klndiichen Zahriwechsel hin der Mensch sich vorzugsweise als ein nachahmendes Wesen verhält. Alles was in seiner Umgebung geschieht, wird gewissermaßen instinktiv, stark miterlebt, so wie im späteren Lebensalter nur in den Sinnesorganen, aber ohne daß der Mensch es weiß, miterlebt wird, was in der Außenwelt geschieht.

Wir haben in der Tat zum Beispiel in unserem Auge einen Vorgang, der in einer gewissen Weise nachahmt, was äußerlich geschieht, so wie in einer photographischen Kamera nachgeahmt wird, was sich vor dieser Kamera befindet. Der Mensch erlebt dann das, was sich da in seinem Auge nachahmt, und bekommt dadurch seine Kenntnis von der Außenwelt. Ebenso ist es mit den anderen Sinnen. Daß dieses Nach­ahmungsprinzip gewissermaßen auf die Peripherie der menschlichen Wesenheit beschränkt ist, das findet erst im späteren Lebensalter statt. Im kindlichen Alter bis zum Zahnwechsel nimmt, wenn auch in einem geringeren Grade, doch der ganze Leib an dieser Nachahmung teil. Es ist der ganze Leib in einer gewissen Beziehung in einem solchen Verhältnis zur Außenwelt wie sonst die Sinne. Der Mensch ist vor­zugsweise ein nachahmendes Wesen. Er richtet sich innerlich so, wie das Ä ußere auf ihn innerlich wirkt, wenn er es von außen nachahmt. Daher ist es so wichtig, daß wir in der Umgebung des Kindes in diesem Lebensalter bis in die Gedanken und Gefühisformungen hin-ein nichts geschehen lassen, was nicht von dem Kinde aufgenommen und angeeignet werden kann.

Mit dem Zahnwechsel beginnt dann für das Kind die Möglichkeit, sich nicht wie ein Sinnesorgan zu verhalten, sondern das Vorstellungs­mäßige aufzunehmen. Das Kind beginnt - und bildet es dann immer mehr und mehr aus -, das, was man ihm sagt, zur Richtschnur zu nehmen. Vorher nimmt es alles das zur Richtschnur, was man in seiner

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Umgebung tut, nachher kommt es dazu, zu erfassen, was man ihm sagt. Daher wird zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife die Autorität für das Kind maßgebend. Das Kind muß in selbstver­ständlicher Weise das befolgen können, sich nach dem richten kön­nen, was man ihm sagt. Die Sprache selbst lernt das Kind noch durch Nachahmung; aber was in der Sprache ausgedrückt werden kann, was also der Erwachsene durch die Sprache dem Kinde mitteilen kann, das wird maßgebend für das Kind erst vom Zahnwechsel an. Und die eigentliche Urteilsfähigkeit, wo das Kind oder der junge Mann oder die junge Dame, wie man jetzt sagen muß, anfangen, die eigene Ur­teilskraft geltend zu machen, das beginnt mit der Geschlechtsreife. Da erst soll man voraussetzen, daß das Kind aniängt, Urteile zu bilden aus dem eigenen Inneren heraus.

Nun, damit ist zunächst die Sache äußerlich charakterisiert, charak­terisiert, möchte ich sagen, an der Art, wie das Kind in die Welt hin­einwächst, was man durch eine unbefangene Wahrnehmung sich ja immer zum Bewußtsein bringen kann. Das alles hängt aber zusammen mit sehr bemerkenswerten inneren Vorgängen, und von diesen inne­ren Vorgängen möchte ich Ihnen heute sprechen. Ich habe bis jetzt immer darauf aufmerksam gemacht, wie der Atherleib des Menschen in einer innigen Verbindung mit dem physischen Leib lebt bis zu der Zeit, wo eben der Zahnwechsel beginnt einzutreten. Deshalb sagte ich : Den Zahnwechsel können wir auch die eigentliche Geburt des Ätherleibes des Menschen nennen. In der entsprechenden Weise kön­nen wir bei der Geschlechtsreife sprechen von der eigentlichen Ge­burt des astralischen Leibes. Damit sind die Vorgänge aber, wie ge­sagt, nur äußerlich charakterisiert, und wir wollen heute zu einer etwas innerlicheren Charakteristik kommen.

Wenn wir den Menschen betrachten, lange bevor er die Neigung entwickelt, von der geistigen Welt herabzusteigen zu einer physischen Verkörperung, so sehen wir ihn als eine geistig-seelische Wesenheit in einer geistig-seelischen Welt. Das waren wir ja alle, bevor wir her­untergestiegen sind, um uns mit dem zu verbinden, was als physischer Leib im mütterlichen Organismus vorbereitet wurde. Mit diesem phy­sischen Leib verbinden wir uns dann, um unsere Daseinsepoche auf

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der Erde zwischen Geburt und Tod durchzumachen. Längere Zeit also vorher, sage ich, waren wir geistig-seelische Wesen in einer gei­stig-seelischen Welt. Was wir da sind und auch das, was wir da erle­ben, das unterscheidet sich nun ganz erheblich von dem, was wir hier auf Erden zwischen Geburt und Tod erleben. Daher ist es so schwie­rig, die Erlebnisse zwischen dem Tod und einer neuen Geburt darzu­stellen, weil sie schließlich doch sehr verschieden von den irdischen Verhältnissen sind und der Mensch sich seine Vorstellungen nach den irdischen Erlebnissen bildet, und man immer solche Vorstellungen zu Hilfe nehmen muß. Allein wir wollen uns zunächst weniger darin ergehen - das soll morgen und übermorgen darankommen -, wie der Mensch in der geistig-seelischen Welt selber ist, sondern wir wollen jetzt ins Auge fassen, wie er sich nähert seinem Herabstieg auf die Erde, um sich dann mit einem physischen Leib zu durchziehen.

Das, was zunächst geschieht, bevor der Mensch an seinen physischen Leib, an das Embryonale, an das Keimhafte seines physischen Leibes herankommt, ist, daß er die Kräfte der ätherischen Welt an sich her­anzieht. Wir leben hier auf der Erde in der physischen Welt, das ist in derjenigen Welt, die durch alles das charakterisiert ist, was wir durch unsere Sinne sehen und durch unseren irdischen Verstand begreifen. Aber in dieser Welt gibt es nichts, was nicht durchsetzt ist von der ätherischen Welt. Diese physische Welt, die wir sehen, die wir hören und so weiter, ist überall von der ätherischen Welt durchsetzt. An diese ätherische Welt lebt sich der Mensch früher heran als an die physische Welt. Bevor er die Neigung erhält, sich mit der physischen Welt durch den Embryo zu verbinden, zieht er die Kräfte der ätherischen Welt heran. Und er bildet sich, indem er die Kräfte aus der ätherischen Welt heranzieht, seinen Ätherleib.

Damit wir diese Vorstellungen genauer aufnehmen können, wollen wir uns das schematisch auf die Tafel zeichnen. Nehmen wir an, ich wollte das Geistig-Seelische, was da herankommt aus der geistigen Welt, durch diese Figur charakterisieren (Zeichnung S.114, violett). Das ist natürlich nur ganz schematisch gemacht. Nur dasjenige, was der Mensch zunächst an sich heranzieht, das wird zu seinem äthe­rischen Leib. Also er umkleidet sich gewissermaßen, indem er heruntersteigt

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aus der geistigen Welt, mit seinem ätherischen Leib (orange schraffiert). Aber damit, daß man sagt, «der Mensch umkleidet sich mit seinem ätherischen Leib», ist nicht viel gesagt; man muß da schon ein wenig eingehen auf die Beschaffenheit dieses ätherischen Leibes. Dieser ätherische Leib, der sich da im Menschen heranbildet, ist ge­wissermaßen eine Welt für sich. Allerdings, man möchte sagen, eine Welt für sich im Bilde. Es ist so, daß dieser ätherische Leib zum Bei­spiel an seiner Umgebung Sternhaftes zeigt (gelbe Sterne), und daß er in seinem unteren Teile etwas zeigt, was sich mehr oder weniger wie ein Abbild der Erde selber ausnimmt. Ja, er hat sogar eine Art von Abbild des Sonnen- und Mondenhaften in sich.

Das ist außerordentlich bedeutsam, daß, wenn wir so aus der allge­meinen Ätherwelt beim Herunterstieg in die irdische Welt die Äther-kräfte heranziehen, wir in unseren Ätherleib eine Art Abbild des Kos­mos mitnehmen. Wenn wir den Ätherleib des Menschen in dem Mo­mente herausnehmen könnten, wo der Mensch sich mit dem physi­schen Leib verbindet, so würden wir, viel schöner als das jemals

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mechanisch geformt worden ist, eine Sphäre haben mit den Sternen, mit dem Tierkreis, mit Sonne und Mond.

Diese Konfigurationen des Ätherleibes bleiben noch vorhanden, wenn der Mensch mit seinem physischen Leib während der Embryo­nalzeit immer mehr und mehr zusammenwächst. Sie blassen nur etwas ab, aber sie bleiben vorhanden. Und sie bleiben auch vorhanden bis in das siebente Lebensjahr hinein, bis zum Zahnwechsel. Da ist durch­aus im kindlichen Ätherleib noch immer diese Weltensphäre zu erken­nen. Mit dem siebenten Jahre, mit dem Zahnwechsel beginnen die Ge­bilde, die man da drinnen schaut in dem Ä therleib, gewissermaßen strahlig zu werden, während sie vorher mehr sternig waren. Ich zeichne das schematisch für die Zeit von dem siebenten bis ungefähr zum vierzehnten Jahr, vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife (siehe Zeichnung, rote Strahlen). Wie gesagt, es verblaßt während der

#Bild s. 115

Embryonalzeit schon und dann immer mehr, aber es ist noch deutlich vorhanden. Vom Zahnwechsel ab jedoch beginnt es ganz zu verblas­sen, dafür aber Strahliges nach innen zu senden (rot). Ich möchte sagen : die Sterne lösen sich auf im menschlichen Ätherleib, sie werden

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zu Strahlen, die die Tendenz haben, da im Inneren zusammenzu­kommen.

Das alles geschieht langsam und allmählich während des ganzen Lebensabschnittes vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife. Bei der Geschiechtsreife ist es dann so weit, daß, indem diese Strahlen hier zusammengewachsen sind, sie innerlich eine Art eigenes Gebilde, ein ätherisches Gebilde formen (rot). Man möchte sagen : Dasjenige, was die Umfangs sterne waren, das strahlt zuerst nach innen; dann hört es später auf, da werden diese Sterne vollständig blaß. Es bleibt natür­lich immer etwas vorhanden, aber es wird ganz blaß. Es werden auch diese Strahlen blaß. Dagegen wird das, was sich in der Mitte gewis­sermaßen zusammengeballt hat, besonders lebendig. Und in dem, was sich da in der Mitte zusammengeballt hat, in dem hängt in der Zeit, in der auch die Geschiechtsreife eintritt, das physische Herz darinnen. Das ist also an der Stelle des menschlichen Organismus, wo das phy­sische Herz darinnenhängt mit den Adern (blau).

Das ist also das Eigentümliche, daß sich der Stern-Ätherleib nach innen zieht. Er bleibt natürlich als Ätherleib für den ganzen Menschen vorhanden. Er ist nur da dann im Außenraum, also an der Peripherie des Menschen, da ist er später undifferenziert, man kann nicht viel darin unterscheiden. Aber während der Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, da ist er sehr strahlend von außen nach innen.

Und dann ballt sich das zusammen, und da ist dann deutlich darin­nenhängend das physische Herz. Sie dürfen nicht glauben, daß der Mensch etwa nicht vorher auch ein Ätherherz hätte; das hat er schon; aber das bekommt er auf eine andere Art als das, was dann Ätherherz wird. Denn in der Tat wird das, was sich da von der Geschlechtsreife an zusammengeballt hat, das Ätherherz. Bis dahin hat er, wie gesagt, auch ein Ätherherz, aber das hat er bekommen als Erbschaft, das hat er bekommen durch die Kräfte, welche im Embryo drinnen sind. Wenn der Mensch nämlich seinen Ätherleib hat, und sich mit seinem Ätherleib nach dem physischen Organismus hin begibt, so wird auch eine Art Ätherherz, ein stellvertretendes Ätherherz gewissermaßen, durch die Kräfte des physischen Leibes zusammengezogen. Dieses Ätherherz aber, das der Mensch in seinem Kindheitsalter hat, das - es

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ist der Ausdruck etwas unschön für die Gewohnheiten, die wir haben, aber es trifft ganz genau das, um was es sich handelt -, das verfault nach und nach, und an seine Stelle setzt sich, gleichsam immerfort ersetzend das, was da ätherisch faulend herausfällt, jenes Ätherherz, welches eine Zusammenballung der ganzen Weltensphäre ist, das wirk­lich ein Bild des Kosmos ist, und das wir uns als ein ätherisches Ge­bilde mitbringen, wenn wir durch Konzeption und Geburt ins irdische Dasein schreiten

Man kann also wirklich eine deutliche Veränderung des ganzen ätherischen Leibesgebildes verfolgen, das der Mensch während der Zeit von der Geburt oder schon von der Konzeption an bis zu der Geschlechtsreife in sich trägt. Man möchte sagen : Mit der Geschlechts-reife eigentlich erst ist des Menschen eigenes, aus seinem ätherischen Leibe herausgebildetes, nicht durch äußere Kräfte provisorisch gebilde­tes Ätherherz vorhanden.

Und alle die Ätherkräfte, die beim Menschen bis zur Geschlechts-reife tätig sind, tendieren dahin, ihm ein solches frisches Ätherherz zu geben. Es ist wirklich etwas, was sich in bezug auf das Ätherische mit dem Zahnwechsel vergleichen läßt. Nicht wahr, im Zahnwechse] haben wir die vererbten Zähne; die werden ausgestoßen, und die anderen Zähne, die dann unsere eigenen sind, ersetzen sie. Und so wird das vererbte Ätherherz, das wir bis zur Geschlechtsreife haben, ausgestoßen, und wir bekommen unser eigenes Ätherherz. Das ist das Wesentliche, daß wir da unser eigenes Ätherherz bekommen.

Nun aber geht parallel mit diesem etwas anderes, was sich im Men­schen vollzieht. Wenn wir den Menschen betrachten so, wie er herein-getreten ist in die physische Welt, also als ganz kleines Kind betrach­ten, dann finden wir, daß in seinem astralischen Leibe außerordent­lich viel einzelne Organe zu unterscheiden sind. Der Mensch setzt sich, wie ich eben geschildert habe, einen Ätherleib zusammen, der ein Abbild der Außenwelt ist. Aber in seinem astralischen Leibe, da bringt er sich ein Abbild dessen mit, was er erlebt hat zwischen dem letzten Tode und dieser Geburt. In diesem astralischen Leibe des Kindes sieht man außerordentlich viel darinnen. Da sind große Geheimnisse einge­schrieben. Da sieht man wirklich viel von dem, was erlebt worden ist

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zwischen dem letzten Tode und dieser Geburt. Dieser astralische Leib ist außerordentlich differenziert und individuell. Und das Eigentüm­liche ist, daß in derselben Zeit, in der sich das abspielt, was ich da für den Ätherleib beschrieben habe, der stark differenzierte astralische Leib immer undifferenzierter wird. Ursprünglich ist er ein Gebilde, von dem man, wenn man es verständig anschaut, sagt : Das ist ein Gebilde aus einer anderen Welt, das ist hereingekommen aus einer Welt, die weder in der physischen Welt noch in der Welt des Äthers ist. Aber alles, was da im astralischen Leib als außerordentlich viele ein­zelne Gebilde lebt, das schlüpft gewissermaßen bis zu der Geschlechts-reife in die physischen Organe hinein, und zwar nur in diejenigen Organe, die, wenn ich mich annähernd ausdrücken soll - es ist nicht ganz genau -, bis zum Zwerchfell liegen. Es schlüpfen wunderbare Gebilde, die in den ersten Lebenstagen im astralischen Leibe glänzend vorhanden sind, nach und nach in die Gehirnbildung hinein, füllen auch die Sinnesorgane aus. Dann schlüpfen andere hinein in die Atmungsorgane, andere in das Herz und durch das Herz in die Arte­rien. In den Magen schlüpfen sie nicht direkt hinein, sondern erst durch die Arterien breiten sie sich dann aus bis in die Organe des Unterleibes hinein. Aber nach und nach sieht man gewissermaßen den ganzen astralischen Leib, den sich der Mensch durch die Geburt ins physische Dasein mit hereinbringt, untertauchen in die Organe. Er schlüpft in die Organe hinein. So daß, wenn man das aussprechen will in einem Sinne, der ganz ein eigentlicher Sinn ist, der durchaus die Wirklichkeit mit ergibt - aber es nimmt sich natürlich paradox aus gegenüber den Vorstellungen, die man sich sonst heute in der Welt macht -, man sagen kann : Wenn wir erwachsen sind, haben unsere Organe die einzelnen Gebilde unseres astralischen Leibes in sich ein­gesperrt. Das ist die intimere Kenntnis der menschlichen Organe, die nur verstanden werden können, wenn man das Astralische des Men­schen, das er sich mitbringt, versteht. Man muß wissen, daß jedes einzelne Organ in einer gewissen Weise ein Astralisches als Erbstück trägt, so wie das Ätherherz zunächst auch ein Erbstück ist, daß aber nach und nach dieses vererbte Astralische ganz durchsetzt wird von dem, was der Mensch sich als seinen astralischen Leib selber mitbringt

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und was Stück für Stück untertaucht in die physischen und ätherischen Organe. Das Herz bildet gewissermaßen eine Ausnahme. Da taucht auch ein Astralisches unter. Im Herzen konzentriert sich das Äther-geschehen ebensowoH wie das astralische Geschehen. Deshalb ist also das Herz dieses ganz besonders wichtige Organ für den Menschen.

Also der astralische Leib wird immer unbestimmter und unbestimm­ter, weil er seine konkreten Gebilde, die er sich aus einem anderen Leben durch die Geburt auf die Erde mitbringt, hinunterschickt in die physischen Organe, so daß sie da drinnen eben eingesperrt sind. Dadurch wird der astralische Leib mehr oder weniger immer eine bloße Nebelwolke.

Aber das Interessante ist jetzt dieses : der astralische Leib wird von dieser Seite her eine Nebelwolke, aber es treten andere Differenzie­rungen erst langsam und von der Geschlechtsreife an dann mit voller Regelmäßigkeit immer mehr und mehr ein.

Wenn das Kind mit seinen Beinchen zappelt, so merkt man von diesem Zappeln außerordentlich wenig im astralischen Leib. Wirkun­gen davon sind in dem astralischen Leib schon vorhanden, aber das, was sich der astralische Leib an Differenzierungen mitgebracht hat,

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ist so stark, daß sich eigentlich die ganze Sache so verhält : Wenn ich hier den astralischen Leib zeichne, so sind da wunderbare Gebilde darinnen. Das ist nur schematisch gemeint, aber doch eben der Wirk­lichkeit entlehnt. Diese Gebilde verschwinden allmählich, sie schlüp­fen hinunter in die physischen Organe. Der astralische Leib wird mehr und mehr eine Nebelwolke. Aber, wie gesagt, wenn das Kind nun zappelt, so ist es schon so, daß von den Zappelbewegungen auch allerlei heraufkommt in den astralischen Leib, aber es stößt an das, was schon da ist, reflektiert sich wieder zurück (rot) und verschwin­det wiederum. Es ist so, wie wenn Sie in einen elastischen Ball einen Eindruck machen; er gleicht sich sofort wieder aus. Diese Zap-pelbewegungen des Kindes, wenn sie auch noch so kräftig sind, machen wohl einen Eindruck in den astralischen Leib, aber er bleibt nicht. Nun, in demselben Maße, in dem das Kind dann sprechen lernt und solche Vorstellungen entwickelt, die in der Erinnerung bleiben, also in demselben Maße, in dem das Kind sprechen und die Erinne­rungen ausbilden lernt, in dem Maße sieht man immer mehr und mehr, wie in der Tat das nicht zurückgeworfen wird, sondern wie die Bewegungen, die das Kind, nun nicht mehr als Zappelbewegun­gen, sondern als verständige Bewegungen macht, als Herumgehen und so weiter, auch die Bewegungen der Arme und so weiter, im astrali­schen Leibe bleiben. Ja, in diesen astralischen Leib kann außerordent­lich viel eingeschrieben werden.

Wenn Sie fünfundvierzig Jahre alt sind, dann sind fast alle Bewe­gungen in Spuren im astralischen Leibe eingeschrieben und auch noch viele andere, wie wir gleich sehen werden. Der astralische Leib kann viel aufnehmen von dem, was sich da abgespielt hat seit dem Spre­chen- und Denkenlernen und seitdem er seine eigene Konfiguration aufgelöst hat. So daß also das wunderbare Gebilde, das der astralische Leib des Kindes darstellt, nach und nach undifferenziert wird, weil all das allmählich in die Organe hinein verschwindet. Der astralische Leib wird ein undifferenziertes Gebilde, natürlich nicht ganz, aber verhältnismäßig undifferenziert. In dieses undifferenzierte Gebilde schreibt sich jetzt alles das ein, was wir an Bewegungen der Arme und der Beine ausführen. Aber es schreibt sich auch ein, was wir durch

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Arme und Beine tun: Wenn wir zum Beispiel eine Feder führen, alles, was wir da in der Außenwelt vollführt haben, schreibt sich ein. Wenn wir Holz hacken, wenn wir jemandem eine Ohrfeige geben, so schreibt sich das ein. Sogar wenn wir nicht etwas selber tun, sondern einem Diener einen Auftrag geben und der es dann ausführt, so schreibt sich durch das Verhältnis unseres Wortinhaltes zu dem, was der Diener tut, das auch ein. Kurz, es schreibt sich die gesamte Tätig­keit eines Menschen, die einen Ausdruck in der Außenwelt findet, jetzt in diesen astralischen Leib ein (rot im Gelb). So konfiguriert sich der astralische Leib also in der mannigfaltigsten Weise durch das, was menschliches Tun ist.

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Das beginnt, wie gesagt, wenn das Kind sprechen lernt, wenn das Kind in der Sprache Gedanken verkörpern lernt. Mit Bezug auf die Vorstellungen, die das Kind aufnimmt, an die man sich aber später nicht mehr erinnern kann, findet das noch nicht statt; erst von der Zeit an, bis zu der man sich später im gewöhnlichen Bewußtsein zurückerinnert. Dann aber wird sozusagen alles, was der Mensch tut, da aufgeschrieben.

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Nun ist das Eigentümliche, daß alles, was da eingeschrieben wird, in einer ähnlichen Weise die Tendenz hat, sich da im Inneren zu tref­fen, wie auch die Strahlungen des Ätherleibes sich im Ätherherzen treffen. Auch alles, was menschliche Taten sind, trifft sich da. Und dieses Sich-Treffen hat eigentlich nun auch eine Art äußerer Veranlas­sung. Wir müssen einfach dadurch, daß wir Menschen sind, von Kind­heit auf in eine gewisse Tätigkeit hineinkommen. Diese Tätigkeit drückt sich so aus, wie ich es eben angedeutet habe, durch den ganzen astralischen Leib hindurch. Aber auf der anderen Seite ist ein fort­währender Widerstand da. Die Wirkungen, die da auf den Organis­mus ausgeübt werden, können, man möchte sagen, sich nicht immer bis da hinauf (oben in der Zeichnung) entwickeln. Es ist überall Widerstand

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da; sie werden hinuntergestoßen. Was wir so tun, wenn wir uns an physische Organe halten, das will bis in den Kopf strömen; aber die menschliche Organisation läßt es da nicht heraufkommen, hält es auf. Und dadurch sammelt sich das auch in einer gewissen Weise hier an (rot) und bildet hier auch eine Art astralischen Mittelpunktes.

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So daß wir - und wiederum in der Zeit der Geschlechtsreife, da ist das sehr deutlich ausgebildet - an derselben Stelle, wo sich die­ses Ätherherz, das nun unser eigenes ist, gebildet hat, auch ein astra­lisches Gebilde haben, das unser gesamtes Tun zentralisiert. Und da­durch, daß das von der Zeit der Geschlechtsreife an so ist, dadurch ist ein Mittelpunktsorgan geschaffen, in dem sich unser gesamtes Tun, unsere gesamte menschliche Tätigkeit zentralisiert. Es ist so, daß in derselben Gegend, wo der Mensch das Herz hat, sich nun weder phy­sisch noch ätherisch, aber astralisch seine gesamte Tätigkeit zentrali­siert. Und das Wichtige ist, daß in der Zeit, wo die Geschlechtsreife eintritt - es fallen ja die astralischen Ereignisse nicht ganz, sondern nur annähernd mit den physischen Ereignissen zusammen -, dieses Ätherherz so weit vorgebildet ist, daß es die Kräfte aufnehmen kann, die sich hier aus der Tätigkeit der äußeren Welt entwickeln. Man kann also sagen, und man trifft damit durchaus ein wirkliches Ereignis im Inneren des Menschen : Von der Geschlechtsreife an schaltet sich auf dem Umwege durch den Astralleib die gesamte menschliche Tätigkeit in das Ätherherz ein, in dasjenige Organ, das aus den Abbildern der Sterne, aus den Abbildern des Kosmos geworden ist. Da schaltet sich das alles ein.

Das ist eine außerordentlich bedeutsame Erscheinung, denn wenn Sie dieses alles betrachten, dann haben Sie den Zusammenschluß des­sen, was der Mensch in der Welt tut, mit dem Kosmischen. Im Her­zen haben Sie, insofern die ätherische Welt in Betracht kommt, einen zusammengezogenen Kosmos; aber zugleich auch, insofern die astra­lische Welt in Betracht kommt, eine Zusammenziehung desjenigen, was der Mensch tut. Hier schließt sich der Kosmos mit seinem Ge­schehen und das Karma des Menschen zusammen. Es ist eine so innige Korrespondenz des astralischen Leibes und des ätherischen Leibes mit dem ganzen menschlichen Organismus nur in der Gegend des Herzens vorhanden. Da ist es in der Tat so, daß die ganze Welt, von der sich der Mensch durch die Geburt in seinem Ätherleib ein Abbild hereingebracht hat, daß diese ganze Welt, die da wie in einer Essenz darinnen ist, alles das, was der Mensch tut, in sich aufnimmt, sich da-mit durchdringt. Und nun ist Gelegenheit durch diese Zusammenschlüsse,

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durch diese Zusammenschaltung, daß während des ganzen menschlichen Lebens fortwährend das menschliche Tun in die Essenz der Abbilder des Kosmos eingeschaltet wird.

Wenn dann der Mensch durch die Pforte des Todes geht, da ist nun in diesem ätherisch -astralischen Gebilde, in dem das Herz, ich möchte sagen, schwimmt, alles das, was der Mensch, wenn er den physischen Leib und jenes Äthergebilde abgelegt hat, in sein wei­teres geistig-seelisches Leben mitnimmt. Und indem er jetzt geistig immer größer und größer wird, kann er - weil ja die Substanz des gan­zen Kosmos da drinnen ist, es ist nur zusammengezogen im Herzen im Ätherleib - sein ganzes Karma dem Kosmos übergeben. Dasjenige, was aus dem Kosmos gekommen und zum Äthergebilde geworden ist, was im Herzen sich zusammengezogen hat und Essenz geworden ist, das will wiederum nach dem Kosmos hin. Der Mensch breitet sich im ganzen Kosmos aus und wird dann in die Seelenwelt aufge­nommen und macht dasjenige durch, was ich in meiner «Theosophie» als den Durchgang durch die Seelenwelt und dann durch das Geister-land beschrieben habe. Aber es ist tatsächlich so, daß, wenn wir die menschliche Organisation in ihrem Werden betrachten, wir uns sagen können : Es findet in der Gegend des Herzens ein Zusammenschluß des Kosmischen mit dem Irdischen statt, und zwar so, daß das Kos­mische in seiner kosmischen Konfiguration in das Ätherische herein­genommen wird und sich da bereitmacht, unsere Taten, alles, was wir tun, aufzunehmen. Und mit dem, was da durch eine innige Durch­dringung des Ätherischen mit dem menschlichen Tun sich gebildet hat, gehen wir heraus und treten wiederum ein in ein neues kosmi­sches Dasein, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind.

Damit beschreibt man in der Tat in einer ganz konkreten Gestal­tung die Art und Weise, wie der Mensch sich heranlebt an seinen physischen Leib und wie er wiederum sich aus diesem physischen Leib herausziehen kann, weil seine Taten ihm die Kraft geben, zu­sammenzuhalten, was er aus dem Kosmos nur als eine Essenz heraus­gebildet hat.

Der physische Leib wird ja innerhalb der physisch4rdischen Welt durch die Vererbungskrafte gebildet, also durch die Kräfte der Embryonalbildung,

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der Keimesbildung. Mit diesen verbindet sich das, was der Mensch herunterbringt aus der geistigen Welt, nachdem er zunächst seinen Ätherleib herangezogen hat. Mit diesem verbindet sich der Mensch auf der einen Seite. In dem Astralischen, das er sich als ein so wunderbares Gebilde mitgebracht hat, da lebt nun aber auch sein Ich darinnen, das durch viele Erdenleben gegangen ist und über­haupt eine Entwickelung hinter sich hat. Und dieses Ich lebt in einer gewissen Sympathieverbindung - indem ich das Wort gebrauche, be­zeichne ich wiederum etwas sehr Wirkliches - mit alledem, was da als Gebilde im astralischen Leibe ist. Und indem diese Gebilde in die Organe des physischen Leibes hineinschlüpfen, so wie ich es be­schrieben habe, behält das Ich die Sympathie und entwickelt diese innere Sympathie auch zu den Organen, breitet sich immer mehr und mehr auch in den Organen aus und nimmt Besitz von ihnen. Gewiß, es ist das Ich auch früher schon vom ersten Kindesalter an in einer gewissen Beziehung zu den Organen. Aber da sind eben diese Ver­erbungsverhältnisse da, von denen ich früher gesprochen habe, da ist die Beziehung des Ichs eine äußerliche. Das Ich schlüpft aber nach und nach schon mit seinem astralischen Leibe in die Organe des phy­sischen Leibes hinein, und indem es da hineinschlüpft, geschieht das Folgende : während vorher das Ich längs des Blutlaufes, ich möchte sagen, äußerlich beim Kinde vorhanden war, verbindet es sich jetzt intensiv innerlich immer mehr und mehr mit dem Blutkreislauf, bis es bei der Geschlechtsreife im vollen Sinne eingetreten ist. Und wäh­rend Sie hier ein astralisches Gebilde um das ätherische, um das phy­sische Herz herum haben, während Sie hier also ein astralisches Ge­bilde haben (Zeichnung 5.115, orange), macht das Ich den anderen Weg durch: es schlüpft, sagen wir, in die Organe der Lunge hinein; mit den Adern, die von der Lunge zum Herzen hingehen, nähert sich das Ich immer mehr dem Herzen. Das Ich folgt immer mehr und mehr, innig verbunden mit dem Blutkreislauf, dem Wege dieses Blutkreis­laufes. So daß wiederum auf dem Umwege durch diese mit dem Blut­kreislaufe laufenden Ich-Kräfte das Ich eingreift in dasjenige, was aus dem Zusammenschluß des ätherischen und des astralischen Herzens gebildet worden ist, wobei überhaupt ein Ätherisches aus dem Kosmos

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mit einem Astralischen von uns selbst zusammenwächst. Ich sagte vorhin : Dieser astralische Leib enthä]t nach und nach außerordentlich viel, weil sich alle die Taten in ihm einschreiben. Aber indem das Ich in einer Sympathiebeziehung zu allem steht, was der astralische Leib macht, schreiben sich auch die Absichten, die Ideen ein, aus denen der Mensch heraus seine Handlungen vollzieht. So daß tatsächlich hier ein voller Zusammenschluß des Karmas mit den Gesetzmäßig­keiten des Kosmos stattfindet.

Man weiß von alldem, was da innerlich im Menschen vor sich geht, eigentlich heute, man möchte, da die Verhältnisse so sind, mit Emphase sagen : «herzlich wenig»; denn es bezieht sich alles das, was man nämlich nicht weiß, auf das Herz. Man weiß heute davon «herz­lich wenig». Man weiß das, was hier in der physischen Welt geschieht und betrachtet es nach Naturgesetzen; und man weiß das, was der Mensch moralisch vollzieht und betrachtet es nach moralischen Ge­setzen. Aber alles das, was im Menschenleben moralisch geschieht, und das, was auf der anderen Seite physisch geschieht, das schließt sich gerade im Menschenherzen zusammen; so daß man diese zwei Dinge, die heute so selbständig nebeneinanderherlaufen beim Men­schen, moralisches Geschehen und physisches Geschehen, in ihrem Zusammenschluß findet, wenn man wirklich die Gesamtkonfiguration des menschlichen Herzens verstehen lernt, das heißt, wenn man ver­stehen lernt, was sich da in diesem Herzen in einer natürlich viel ver­borgeneren Weise vollzieht, als es sich offen vollzieht beim Zahn­wechsel. Wir erben Zähne, und wir bilden dann aus unserem Organis­mus heraus Zähne. Die ersteren fallen ab, die anderen bleiben uns. Die ersteren haben eine gewisse Tendenz unterzugehen, sie würden sich in sich nicht halten können, wenn sie nicht ausfallen würden. Die bleibenden Zähne werden vorzugsweise durch die äußeren Ver­hältnisse zerstört, wozu natürlich auch die äußeren Verhältnisse im Organismus selbst gehören. In einer unsichtbaren Weise wird unser ätherisches Herz mit der Geschlechtsreife dem Zerfall übergeben, und eine Art bleibenden Herzens, eine Art Ätherherz, gewinnen wir. Die­ses bleibende Ätherherz, das ist aber erst ganz geeignet, unsere Tätig­keit voll aufzunehmen. Deshalb ist es in der Tat etwas ganz anderes,

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ob der Mensch vor der Geschlechtsreife stirbt oder erst nach der Ge­schlechtsreife. Wenn der Mensch vor der Geschiechtsreife stirbt, dann ist in ihm nur die Tendenz vorhanden, daß sich dasjenige, was er hier auf der Erde getan hat, karmisch weitervererbt. Es kann sich einzelnes, auch wenn Kinder vor der Geschlechtsreife sterben, dem Karma ein­verleiben, aber es hat das immer etwas Unbestimmtes und Schillern­des. Das richtige Bilden des Karmas geschieht eben erst von dem Momente an, wo das astralische Herz in das ätherische Herz voll ein­greift, wo sich diese zusammenschalten. Aber es ist das auch, wenn ich so sagen darf, der Organismus der Karmabildung. Denn mit dem Tode wird das, was da im Menschen konzentriert ist, was sich da zu­sammengeschlossen hat, immer mehr und mehr kosmisch und wird dann aus dem Kosmos heraus später beim nächsten Erdenleben dem Menschen wiederum einverleibt, so daß alles, was wir tun, nicht uns selbst allein angeht. Sondern es ist so, daß sich uns etwas einverleibt, was aus dem Kosmos kommt und was auch die Tendenz behält, nach dem Tode unsere Taten dem Kosmos zu übergeben, aus dem heraus aber sich die karmischen Gesetze für die Gestaltung unseres Karmas wirksam erweisen, so daß wir dann dasjenige, was der Kosmos aus unseren Taten macht, in seiner Wirkung wiederum ins Erdenleben hereintragen beim Beginn eines nächsten Erdenlebens.

SIEBENTER VORTRAG Dornach, 27. Mai 1922

#G212-1978-SE128 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

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SIEBENTER VORTRAG

Dornach, 27. Mai 1922

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Ich möchte heute auf die Art hinweisen, wie zu verschiedenen Zeiten Menschen dazu gekommen sind, Erkenntnisse zu gewinnen, wie ich sie gestern mit Bezug auf die Entwickelung des menschlichen äthe­rischen und des menschlichen astralischen Leibes hier dargelegt habe. Aus einer Schilderung, wie man zu solchen Anschauungen kommt, wird sich immerhin auch einiges erhellen können über das Wesen des Menschen, über das Verhältnis des Menschen zur Welt und so weiter. Es ist durchaus nicht nötig, daß etwa jeder solche Dinge gewisser­maßen nachmachen kann, aber aus den Schilderungen, wie sie da oder dort vor sich gegangen sind oder noch vor sich gehen, wird man schon einiges gewinnen, das dann wiederum Licht zurückwirft auf die Ergebnisse, die für jeden Menschen so wichtig sind. Die Art und Weise, wie in sehr alten Zeiten die Menschen zu ihren übersinnlichen Erkenntnissen gekommen sind, und die Art und Weise, wie man heute solche Erkenntnisse gewinnt, sind durchaus voneinander ver­schieden. Ich habe ja öfter darauf aufmerksam gemacht, wie in älteren Zeiten der Menschheit ein gewisses instinktives Heilsehen vorhanden war, wie dann dieses Hellsehen sich allmählich durch verschiedene Zwischenphasen zu der Anschauung von der Welt entwickelt hat, die heute der Mensch seine eigene nennen muß, und wie aus diesem all­gemeinen Bewußtsein heraus dann ein gewisses höheres Bewußtsein entwickelt werden kann. Wie heute der Mensch, wenn er seine Zeit und sein Verhältnis zu dieser Zeit richtig erfaßt, zu höheren Erkennt nissen kommen kann, das ist geschildert im zweiten Teil meiner « Ge­heimwissenschaft im Umriß», in dem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?» und in anderen Schriften. Aber heute möchte ich Ihnen eine Schilderung von einem gewissen Gesichts­punkte aus geben, gerade mit Rücksicht auch auf das, was ich gestern hier ausgeführt habe.

Wenn wir in sehr alte Zeiten der Menschheitsentwickelung zurück­gehen und das geistige Streben jener Zeiten ins Auge fassen, dann

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finden wir unter anderem das Geistesstreben, das im alten Orient vor­handen war, in derjenigen Kultur, deren spätere Zeit dann als die indische Kultur bekanntgeworden ist und zu der heute viele Men­schen zurückkehren, weil sie sich nicht dazu aufschwingen können, einzusehen, daß jede Zeit eben ihren eigenen Weg gehen muß, um in die übersinnlichen Welten einzudringen.

Ich habe schon einmal auch hier angedeutet, daß sich aus der Ge­samtmasse der Menschen, die innerhalb jenes Zeitraumes gelebt haben, den ich in meiner «Geheimwissenschaft» den urindischen Zeitraum genannt habe, einzelne Persönlichkeiten so, wie es der damaligen Zeit angemessen war, innere Kräfte der menschlichen Wesenheit zur Ent­wickelung brachten, die sie dann hinaufführten in die übersinnlichen Welten. Einen dieser Wege, den ich in anderem Zusammenhange hier schon angedeutet habe, bezeichnet man als den Weg der Joga.

Der Jogaweg kann am besten begriffen werden, wenn man zunächst auf die übrigen Menschen hinschaut, aus denen heraus sich der Jogi, also derjenige, der auf diesem Wege zu höheren Erkenntnissen kom­men wollte, heraushob. In jenen älteren Zeiten der Menschheitsent­wickelung war das allgemeine Bewußtsein ein ganz anderes, als es heute ist. Wir Menschen von heute schauen in die Welt hinaus, neh­men durch unsere Sinne zum Beispiel die Farben, nehmen die Töne wahr und so weiter. Wir suchen in dieser sinnlichen Welt die Gesetz-mäßigkeiten auf, aber wir sind uns bewußt, daß, wenn wir weiter­gehen, wenn wir uns in die äußeren Dinge gewissermaßen geistig­seelisch hineinleben wollen, daß wir dann aus unserer Phantasie her­aus schöpfen. Das war in jenen älteren Zeiten nicht so. Da sahen die Menschen in der äußeren Welt, wie wir wissen, mehr, als der normale Mensch heute sieht. In Blitz und Donner, in allen einzelnen Gestir­nen, in den Wesen der verschiedenen Naturreiche sahen die alten Men­schen zugleich ein Geistig-Seelisches. Sie nahmen geistige Wesenhei­ten, wenn auch niederer Art, in allem Festen, in allem Flüssigen, im Luftförmigen und so weiter wahr. Heute sagt eine inteilektualistische Gelehrsamkeit: Diese alten Menschen haben eben durch ihre Phanta­sie in die Umgebung, die sie geschaut haben, allerlei Geistig-Seelisches hineingeträumt. Man nennt das Animismus.

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Nun kennt man die menschliche Natur und vor allen Dingen die menschliche Natur jener älteren Zeiten schlecht, wenn man glaubt, daß diese Menschen aus ihrer Phantasie heraus allerlei Wesenheiten in Blitz und Donner, in Quelle und Fluß, in Wind und Wetter hin­eingeträumt hätten. Nein, das ist nicht der Fall. Sie haben sie gesehen. Geradeso wie wir Rot und Blau sehen oder cis und g hören, so haben diese älteren Menschen in den Dingen der Außenwelt Geistig­Seelisches gesehen. Es war ihnen so natürlich, dieses Geistig-Seelische zu sehen, wie es uns natürlich ist, Blau und Rot zu sehen. Aber damit war etwas anderes verknüpft. Damit war verknüpft, daß die Men­schen kein deutliches Selbstbewußtsein hatten.

Das deutliche Selbstbewußtsein, von dem wir heute als normale Menschen durchdrungen sind, das fehlte jenen älteren Zeiten. Der Mensch unterschied sich gewissermaßen nicht von der äußeren Welt. Was etwa meine Hand sehen würde, wenn sie ein Bewußtsein hätte, nämlich daß sie nicht selbständig ist, daß sie nur ein Glied meines Organismus ist, das haben, wenn sie es auch nicht ausgesprochen haben, jene älteren Menschen gefühlt. Sie fühlten sich als Glieder des ganzen Universums. Sie trennten ihre eigene menschliche Wesenheit gar nicht in intensiver Weise von der Umgebung ab. Solch ein älterer Mensch ging meinetwillen den Fluß entlang. Wenn wir heute einen Fluß entlanggehen in der Richtung, wie der Fluß fließt, dann haben wir als heutige gescheite Menschen selbstverständlich das Gefühl: wir schreiten mit unseren Beinen aus und bewegen uns nach abwärts: mit dem Fluß hat das nichts zu tun. - So fühite im allgemeinen der ältere Mensch nicht. Wenn er an dem Ufer des Flusses stromabwärts ging -das ist ihm durchaus natürlich gewesen -, so fühite er die geistigen Wesenheiten, die mit dem Strom-abwärts-Fließen des Flusses verbun­den sind so, wie heute sich etwa der Schwimmer vom Wasser, also von einem Materiellen, getragen fühlt. So fühlte er sich von dem Geistigen hinuntergeführt. Das ist nur ein herausgegriffenes Beispiel. Es war alles, was der Mensch in der Außenwelt erlebte, so von ihm gedacht und empfunden, daß er sich von Wind-, von Stromesgöttern, von allem, was da draußen ist, getragen, getrieben, können wir sagen, fühlte. Er fühlte die Elemente der Natur in sich. Dieses Sich-Hinein-Fühlen

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in die Natur ist dem Menschen verlorengegangen. Er hat sich aber dafür auch sein intensives SelbständigkeitsgefühJ, sein Ich-Gefühl allmählich erobert.

Von der gesamten Masse der Menschen, die so fühlte, hob sich nun der Jogagelehrte, der Jogi, heraus. Er machte gewisse Übungen, und ich habe da von jenen Übungen zu sprechen, die in der späteren Zeit sehr in die Dekadenz gekommen sind, die, während sie einer älteren Menschennatur als etwas Gutes angepaßt waren, später fast bloß, ich möchte sagen, zu schädlichen Zwecken verwendet worden sind. Das sind die Übungen, die ich hier schon öfter angeführt habe:

die Übungen des Joga-Atmens. Was ich also jetzt schildere, gilt sozu­sagen nur für die Menschen einer sehr alten orientalischen Kultur als ein rechtmäßiger Weg, um in die höheren Welten hinaufzukommen. Im gewöhnlichen Leben verffießt das Atmen beim Menschen ja un­bewußt. Der Mensch atmet ein, hält den Atem, atmet aus, und nur, wenn er in irgendeiner Weise nicht ganz gesund ist, wird ihm dieses Atmen bewußt. Im gewöhnlichen Leben bleibt es zum weitaus größten Teil ein unbewußter Vorgang. Der Jogi aber verwandelte durch ge­wisse Zeiten des Übens den Atem dadurch in einen bewußten inne-ren Vorgang, daß er die Zeitstrecken, in denen er einatmete, den Atem hielt und wieder ausatmete, daß er also den ganzen Rhythmus des Atmungsprozesses änderte. Er atmete eine längere Zeit ein, hielt den Atem länger, atmete wiederum anders aus in einer anderen Zeit, kurz, er gab sich einen anderen Atmungsrhythmus, als der gewöhliliche ist. Dadurch wurde ihm der ganze Atmungsprozeß ein bewußter. Er lebte sich sozusagen in sein Atmen hinein. Das Gefühl, das er von sich selbst bekam, war das eines fortwährenden Mitgehens mit dem Einatmen, mit dem Ausbreiten des Atems im Leibe und mit dem wiederum Aus­atmen. Der Mensch zog sich dadurch mit seinem ganzen seelischen Wesen in das Atmen hinein.

Wenn wir einsehen wollen, was dadurch eigentlich erreicht worden ist, so können wir sagen: Wenn wir zum Beispiel einatmen, so geht der Atemstoß in unseren Organismus hinein, er geht dann durch den Rückenmarkskanal in das Gehirn und breitet sich dort innerhalb der­jenigen Vorgänge aus, welche sich im Nervenorganismus, im Sinnesorganismus

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vollziehen. Wenn wir also als Menschen denken, haben wir niemals etwa bloß die Sinne und den Nervenorganismus als Werk-zeuge dieses Denkens, sondern Sinnes- und Nervenorganismus wer­den fortwährend durchrhythmisiert, durchschlagen, durchströmt, durchwellt von dem Atmungsprozeß, von dem Atmungsrhythmus. Wir denken nicht, ohne daß dieser Atmungsrhythmus unseren Ner­ven-Sinnesprozeß rhythmisch durchsetzt. Nur weil der ganze At­mungsprozeß beim heutigen normalen Menschen unbewußt bleibt, bleibt auch das natürlich unbewußt.

Bei dem Jogi wurde dieser veränderte Atem bewußt in den Ner­ven-Sinnesprozeß hineingezogen. Dadurch erlebte der Jogi einen inne­ren Vorgang, der sich zusammensetzte aus dem, was durch den Ner­ven-Sinnesprozeß erfolgte, und dem, was durch das Gehirn und auch durch die Sinne hindurchwellte und hindurchwirbelte durch den ver­änderten Atmungsrhythmus. Er erlebte dadurch aber auch das See­lische seines Denkens in den Atmungsrhythmus hinein.

Dadurch kam an diesen Jogi etwas ganz Besonderes heran. Er strahlte gewissermaßen das Denken, das sonst kaum als ein Kopfes-vorgang gefühlt wird, in seinen ganzen Organismus hinein. Er dachte nicht bloß, sondern er fühlte, wie der Gedanke, ich möchte sagen, wie so ein Tierchen durchlief durch den Atmungsvorgang, den er als einen künstlichen Vorgang hervorgerufen hatte.

Er fühlte also das Denken nicht nur als etwas so logisch Verlau­fendes und Schattenhaftes, sondern er fühlte, wie das Denken mitging mit dem Atmungsprozeß. Wenn er einatmete, da fühlte er, da nimmt er etwas aus der Außenwelt herein; jetzt läßt er den Atmungsprozeß in sein Denken hineinfließen. Da greift er mit seinen Gedanken gewis­sermaßen dasjenige an, was er mit der Atemluft eingesogen hat, und jetzt verbreitet er das durch den ganzen Organismus. Dadurch aber kam über den Jogi ein erhöhtes Ich-Gefühl, ein erhöhtes Selbstgefühl. Er verbreitete sein Denken empfindungsgemäß über sein ganzes inne­res Wesen. Er wurde sich dadurch seines Denkens in der Luft bewußt, und zwar in dem regelmäßigen Luftvorgang, der in seinem Inneren vor sich ging.

Nun, das hatte für ihn eine ganz besondere Folge. Wenn sich der

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Mensch heute in der sinnlichen Welt fühlt, so ist das ja ganz richtig, daß er in seinem Denken etwas hat, auf das er kaum hinschaut. Seine Sinne unterrichten ihn schon über das, was in der Außenwelt ist, und wenn er zurückschaut auf sich, so sieht er wenigstens Teile von sich selber. Er bekommt dadurch ein Bild von der Art und Weise, wie der Mensch in der Außenwelt drinnensteht zwischen Geburt und Tod. Aber der Jogi, der strahlte gewissermaßen sein Seelisch-Gedankliches über den Atmungsprozeß aus. Er trieb mehr in sich hinein dieses ganze seelische Denken. Und die Folge davon war, daß jetzt aus seiner Seele ein besonderes Selbstgefühl, ein besonderes Ich-Gefühl auf­tauchte. Aber er fühlte das jetzt nicht als ein Mensch hier zwischen Geburt und Tod in der natürlichen Umgebung, sondern dadurch, daß er sein Seelisch-Gedankliches in den Atmungsprozeß ausgestrahlt hatte, fühlte er sich wie zurückerinnert an die Zeit, bevor er her­untergestiegen war auf die Erde, an die Zeit, als er ein geistig-see­lisches Wesen innerhalb einer geistig-seelischen Welt war. Geradeso wie der heutige Mensch bei normalem Bewußtsein - wenn er zum Beispiel eine besonders lebhafte Erinnerung hat an etwas, was vor zehn Jahren geschehen ist -, wie er sich da hineinfühlen kann in die­ses Ereignis, aber auch meinetwillen in den Wald, in dem er dieses Ereignis erlebt hat, in die ganze Stimmung von dazumal, so fühlte sich der Jogi durch diesen veränderten Atmungsprozeß in die ganze Stimmung, in die ganze Umgebung hinein, in der er als geistig-see­lisches Wesen innerhalb einer geistig-seelischen Welt gewesen war. Da fühlte er ganz anders gegenüber der Welt, als er hier als Mensch fühlt. Und aus dem, was ihn überkam, aus dem Verhältnis dieses jetzt erweckten Selbstes zu dem ganzen Universum, entstanden dann jene wunderbaren alten Dichtungen, von denen ein schönes Ergebnis zum Beispiel die Bhagavad Gita ist.

Wenn Sie in der Bhagavad Gita diese wunderbaren Schilderungen von dem menschlichen Selbst lesen, wie es mitlebt mit allem, wie es un­tertaucht in alle Vorgänge der Natur, in alle einzelnen Geheimnisse der Welt, wie es in allem darinnen ist, so ist das eben die Wiedergabe jener durch den Joga-Atmungsprozeß hervorgerufenen Erinnerungen an die Art, wie die Seele, als sie noch bloß Seele war, in einem geistigen Universum

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drinnen lebte. Und wenn Sie die Bhagavad Gita mit dem Be­wußtsein lesen, daß eigentlich die in die geistige Welt zurückversetzte Seele mit dem erhöhten Selbstgefühl es war, die das alles sagt, was Krishna oder andere zu solchem Selbstgefühl gekommene alte Einge­weihte aushauchten, dann erst lesen Sie diese alten Dichtungen richtig.

Man kann also sagen: Jene alten Weisen hoben sich heraus aus der Gesamtmasse der damaligen Bevölkerung und sonderten ihr Selbst streng ab von der Außenwelt. Sie sonderten es ab. Aber sie sonderten es nicht etwa durch egoistische Gedanken ab, sondern durch einen verwandelten Atmungsprozeß, der gewissermaßen mit dem Seelischen untertauchte in den inneren Luftrhythmus. Das war jene Art, in der in alten Zeiten ein Weg gesucht worden ist in die geistige Welt hinein.

In späteren Zeiten wurde dieser Weg verändert. Man versetzte sich also in alten Zeiten in ein solch anderes Atmen. Man fühlte, wie die Gedanken durch die Atmungsströmungen gingen, und mit diesem Untertauchen der Gedanken, die da, ich möchte sagen, wie Schlan­gen durch die Atmungsströmungen gingen, fühlte man sein Selbst in dem Allweben der Welt drinnen, und man sprach dann das, was aus dieser Empfindung heraus sich offenbaren konnte, in gewissen Wor­ten und Sprüchen aus. Man merkte, man redet anders, wenn man durch die Sprache offenbart, was in dieser Weise erlebt wurde. Und allmählich kam man davon ab, das, was ich geschildert habe, so stark, so intensiv zu erleben, daß das Erleben im Atmungsprozeß selbst drinnensteckte. Man erlebte nach und nach, wie sich die Worte aus­hauchten, wie sich die Worte von selber zu Sprüchen skandierten, von selber in das Rezitativ hineinkamen.

Und so bildeten sich aus dem veränderten Atmungsprozeß heraus, indem man die Worte, die von diesem Atmungsprozeß getragen wur­den, gewissermaßen abhob, so bildeten sich die mantrischen Sprüche heraus, die Mantrams. Und während in älteren Zeiten das Wesentliche der Atmungsprozeß und sein Erleben war, wurden es dann diese Sprü­che. Das ging in die Tradition, das ging in das historische Bewußt­sein der Menschen über, und daraus entstand im wesentlichen dann der spätere Rhythmus, Takt und so weiter der Dichtung.

Wenn wir aber von dem, was in den älteren griechischen Zeiten

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zum Beispiel schon durchaus Gesetzmäßigkeit, zu erfühlende Gesetz­mäßigkeit der Sprache war, was schon zum Hexameter, zum Penta­meter geworden war, wenn wir von dem zurückgehen, so finden wir ein altes Atmungserlebnis. Das aber war bestimmt, den Menschen herauszutragen aus der Welt, in der er lebt zwischen Geburt und Tod, und hineinzutragen in eine geistig-seelische Welt.

Es kann nicht die Aufgabe des heutigen Menschen sein, auf diese Weise, wie es in älteren Zeiten der Fall war, seinen Weg hinein in die geistige Welt zu suchen. Der heutige Mensch soll nicht auf dem Um-wege durch das Atmen, sondern er soll auf einem seelischeren Wege, auf einem Wege mehr des Gedankens selber sich in die geistigen Wel­ten hinaufleben. Daher ist es heute richtig, wenn der Mensch in der Meditation, in der Konzentration seiner Gedanken und Bilder das, was sonst bloßer logischer Zusammenhang ist, in einen, ich möchte sagen, musikalischen Zusammenhang innerhalb des Gedankens selbst verwandelt. Immer ist aber das heutige Meditieren zunächst ein Er­leben in Gedanken, ein Übergang des einen Gedankens in den ande­ren, ein Übergang der einen Vorstellung in die andere.

Während der alte indische Jogi von einer Atemart zu der anderen übergegangen ist, muß der heutige Mensch versuchen, lebendig sich mit seiner ganzen Seele zum Beispiel hineinzuleben in das Rot. Er bleibt also im Gedanklichen. Er lebt sich dann in das Blau hinein. Er macht den Rhythmus durch: Rot, Blau; Blau, Rot; Rot, Blau - was ein Gedankenrhythmus ist, aber nicht so, wie er im logischen Denken abläuft, sondern als ein viel lebendigeres Denken.

Wenn der Mensch genügend lange solche Übungen macht - ge­nügend lange mußte auch der alte Jogi seine Übungen machen -, wenn er gewissermaßen den Schwung, den Rhythmus, die innere Qualitäts­änderung: Rot, Blau; Blau, Rot; Hell, Dunkel; Dunkel, Hell eriebt -kurz, wenn er solche Anweisungen befolgt, wie Sie ja einzelne in mei­nem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» finden; wenn der Mensch also stehenbleibend im Denken nun nicht gewissermaßen den Atem hineintreibt in den Nerven-Sinnesprozeß, sondern wenn er gleich beim Nerven-Sinnesprozeß beginnt und den Nerven-Sinnesprozeß selber in einen inneren Schwung und Rhythmus

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und in eine Qualitätsänderung hineinbringt, dann erlangt er gerade das Gegenteil von dem, was der alte Jogi erlangt hat. Der alte Jogi schaltete gewissermaßen den Denkprozeß mit dem Atmungsprozeß zusammen; er machte eines aus dem Denkprozeß und dem Atmungs­prozeß. Wir versuchen heute den letzten Zusammenhang zwischen dem Atmungsprozeß und dem Denkprozeß, der ja ohnehin sehr unbe­wußt ist, noch zu lösen. Wenn Sie im gewöhnlichen Bewußtsein sind, wenn Sie im gewöhnlichen Bewußtsein nachdenken über Ihre natür­liche Umgebung, so haben Sie niemals in Ihren Vorstellungen etwa einen bloßen Nerven-Sinnesprozeß, sondern da geht immer noch der Atem hinein. Sie denken, indem fortwährend Ihr Atem Ihren Nerven­Sinnesprozeß durchwellt und durchströmt.

Alle Übungen des Meditierens der neueren Zeit gehen darauf aus, das Denken ganz loszulösen von dem Atmungsprozeß. Dadurch reißt man es aber nicht etwa aus dem Rhythmus heraus, sondern man reißt es nur aus einem Rhythmus heraus, der der innere Rhythmus ist. Aber man verbindet dann allmählich das Denken mit einem äußeren Rhythmus. Indem man das Denken loslöst vom Atmungsrhythmus -darauf gehen unsere heutigen Meditationen aus -, läßt man das Den­ken gewissermaßen hineinströmen in den Rhythmus der äußeren Welt. Der Jogi ging zu seinem eigenen Rhythmus zurück. Der heutige Mensch geht zu dem Rhythmus der äußeren Welt zurück. Lesen Sie gleich die ersten Übungen, welche ich angegeben habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», wo ich zeige, wie man, sagen wir, das Keimen und das Wachsen einer Pflanze verfolgen soll. Die Meditation geht darauf hin, die Vorstellung, das Denken von dem Atmen loszulösen und es untertauchen zu lassen in die Wachs­tumskräfte der Pflanze selber.

Das Denken soll in den Rhythmus hinausgehen, der die äußere Welt durchzieht. In dem Momente aber, wo das Denken wirklich in dieser Weise sich befreit von den leiblichen Funktionen, wo es sich losreißt vom Atem, wo es sich allmählich zusammenbindet mit dem äußeren Rhythmus, da taucht es unter, jetzt nicht in die sinnlichen Wahrnehmungen, in die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, sondern da taucht es unter in das Geistige der einzelnen Dinge.

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Wenn Sie eine Pflanze anschauen - sie ist grün, sje ist in der Blüte rot. Das sagt Ihnen Ihr Auge. Darüber denkt dann Ihr Verstand nach. Von dem lebt unser gewöhniiches Bewußtsein. Ein anderes Bewußt­sein entwickeln wir, wenn wir das Denken losreißen vom Atem, wenn wir es verbinden mit dem, was da draußen ist. Dieses Denken, das lernt mitvibrieren mit der Pflanze, wie sie heranwächst, wie sie sich in der Blüte entfaltet, wie sie, bei einer Rose zum Beispiel, aus dem Grün in das Rote hinübergeht. Das vibriert hinaus in das Geistige, das allen einzelnen Dingen der Außenwelt zugrunde liegt.

Sehen Sie, das ist der Unterschied des modernen Meditierens von den Jogaübungen einer sehr alten Zeit. Dazwischen gibt es natürlich vieles, aber ich erwähne diese beiden Extreme. Und dadurch, daß der Mensch sich in diesen äußeren Rhythmus allmählich hineiniebt, ge­schieht nun folgendes.

Der Jogi tauchte unter in seinen eigenen Atmungsprozeß. Er senkte sich selber in sich hinein. Dadurch bekam er das Selbst wie eine Erin­nerung. Er erinnerte sich gewissermaßen an das, was er früher war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen war. Wir gehen mit unserer Seele aus unserem Leibe heraus. Wir verbinden uns mit dem, was da draußen im Rhythmus also geistig lebt. Dadurch schauen wir jetzt dasjenige an, was wir waren, bevor wir auf die Erde heruntergestiegen sind.

Sehen Sie, das ist der Unterschied. Ich will es schematisch aufzeich­nen: wenn das der Jogi war (Zeichnung 1, hell), so entwickelte er sein starkes Ich-Gefühl (rot). Mit diesem Ich-Gefühl erinnerte er sich an dasjenige, was er war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist, wo er in einer geistig-seelischen Umgebung war (blau). Es ging der Strom der Erinnerung zurück.

Wenn das hier der moderne übersinnliche Erkenner ist (Zeichnung 2, hell), so entwickelt er einen solchen Vorgang, daß er aus seinem Leibe herausgeht (blau), dadurch in dem Rhythmus der äußeren Welt lebt, und jetzt als einen äußeren Gegenstand dasjenige anschaut (rot), was er vorher war, bevor er auf die Erde heruntergestiegen ist.

So ist die Erkenntnis des vorgeburtlichen Zustandes für die alten Zeiten etwas wie ein Erinnern gewesen. So ist das Erkennen des vorgeburtlichen

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Zustandes, wenn es richtig entwickelt wird, in der Ge­genwart ein Anschauen dessen, wie man war (rot). Das ist der Unter­schied.

Nun ist das die eine Art gewesen, wodurch der Jogi sich in die geistigen Welten hinauflebte. Eine andere Art war diese, daß er sei­nem Leib bestimmte Stellungen gab. Er machte zum Beispiel die Übung: Mit seinen Armen ausgestreckt längere Zeit zu verharren, oder er nahm eine ganz bestimmte Stellung an, indem er ein Bein über das andere kreuzte und sich auf seine eigenen Beine setzte und so weiter. Was erlangte er dadurch?

Dadurch, sehen Sie, kam er in die Möglichkeit hinein, wahrzuneh­men, was diejenigen Sinne wahrnehmen, die man heute kaum berück­sichtigt. Wir wissen ja, der Mensch hat nicht nur fünf, sondern zwölf Sinne. Er hat, wenn wir von den gewöhnlichen Sinnen absehen, zum Beispiel den Gleichgewichtssinn - ich habe über das öfter gespro­chen -, durch den er wahrnimmt, wie er sich im Gleichgewicht erhält, daß er nicht nach links, rechts, rückwärts, vorne fällt. Geradeso wie

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man Farben wahrnimmt, so muß man auch sein Gleichgewicht wahr­nehmen, sonst würde man nach allen Seiten gleiten und umfallen. Der Betrunkene oder der Ohnmächtige nimmt das eben nicht wahr, daher taumelt er auch. Nun, um sich diesen Gleichgewichtssinn zum Be­wußtsein zu bringen, nahm der Jogi gewisse Attitüden des Organis­mus ein. Dadurch entwickelte er ein feines, starkes Gefühl für die Richtungen. Wir reden von oben und unten, rechts und links, vorne und hinten, als ob das alles ganz einerlei wäre. Das wurde für den J ogi allmählich etwas, was er sehr stark und fein empfand dadurch, daß er seinem Körper längere Zeit gewisse Stellungen gab. Er ent­wickelte dadurch gerade ein feines Gefühl für diese anderen Sinne, die ich außer den fünf Sinnen angeführt habe. Aber wenn diese ande­ren Sinne erlebt werden, haben sie einen viel geistigeren Charakter als die gewöhnlichen Sinne. Und der Jogi lebte sich dadurch wiederum hinein in ein Wahrnehmen für die Richtungen des Raumes.

Das müssen wir uns wieder erringen, aber auf eine andere Weise. Wir können, aus Gründen, die ich bei einer anderen Gelegenheit wei­ter ausführen werde, nicht in solcher Weise üben, wie es in der alten Joga geschah. Aber indem wir solche Übungen des Denkens vorneh­men, wie ich sie eben beschrieben habe, die sich loslösen können vom Atmen, die sich einleben in den äußeren Rhythmus, da erleben wir auf

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diese Weise den Unterschied in den Richtungen. Wir erleben, was es heißt, daß das Tier lebenslänglich sein Rückgrat horizontal hat und daß der Mensch sein Rückgrat vertikal hat. Für die gewöhnliche

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unorganische Natur wissen die Menschen, daß die Magnetuadel nur nach der Richtung Nord-Süd weist, daß diese Nord-Süd-Richtung im Irdischen etwas Besonderes bedeutet für die Entwickelung der magnetischen Kraft, weil die Magnetnadel, die sich sonst neutral ver­hält, sich in diese Lage hineinfindet; daß das also eine besondere Richtung ist. Indem wir uns in den äußeren Rhythmus mit unseren Gedanken hineinfinden, lernen wir erkennen, wie anders es ist, die Horizontallinie mit dem Rückgrat einzuhalten als die Vertikallinie. Wir lernen das alles im Gedanken selber, indem wir im Gedanken bleiben. Der indische Jogi lernte das auch, indem er seine Beine kreuzte, sich auf die eigenen Beine setzte und dabei die Arme hoch-hielt. Er lernte also aus dem Körperlichen heraus das unsichtbare Bedeutungsvolle von Raumrichtungen. Der Raum ist nicht ein belie­biges Nebeneinander, sondern nach allen Seiten hin so organisiert, daß die Richtungen verschiedenen Wert haben. Solche Übungen also, die den Menschen hineinführen in die höhere Welt, wie ich sie jetzt geschildert habe, sind mehr Übungen, die nach der Gedankenseite hin­gehen.

Es gibt aber auch Übungen, die nach der anderen Seite hingehen, und da finden wir unter den mannigfaltigen Übungen, die auf diesem Felde vorhanden sind, die des asketischen Lebens, wo die Funktio­nen des physischen Leibes heruntergestimmt wurden, wo dem physi­schen Leibe geradezu allerlei Entbehrungen, Leidensvolles zugefügt wurde. Dadurch wurde der physische Leib gewissermaßen aus seinen normalen Funktionen herausgebracht. Was ältere Asketen nach dieser Richtung geleistet haben, davon macht sich der moderne Mensch keine Vorstellungen, denn der moderne Mensch, der will so gründlich als möglich in seinen Organismus hinein. Jedes Mal, wenn der alte Asket diese oder jene körperlichen Funktionen schmerzvoll unterdrückte, zog sich sein Geistig-Seelisches aus dem Organismus heraus.

Nicht wahr, wenn Sie leben, so wie eben im normalen Leben ge­lebt wird, dann ist das Geistig-Seelische mit dem physischen Organis­mus so verbunden, wie das eben zwischen Geburt und Tod nach der menschlichen Organisation sein soll. Wenn Sie die körperlichen Funk­tionen in asketischer Weise herabdrücken, dann geschieht etwas Ähnliches,

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wie es heute in minderem Grade bei den Menschen geschieht, die sich irgendwo etwas verletzen.

Nun, wenn man weiß, wie der heutige Mensch ist, wenn ihm nur ein klein wenig etwas weh tut, dann ist es klar, daß es von da ein weiter Abstand ist zu dem, was zuweilen alte Asketen ertrugen, um nur ihren seelischen Organismus freizubekommen. Dann erlebten sie aber mit dem seelischen Organismus, der durch die Askese aus dem Körper herausgetrieben wurde, in der geistigen Welt. Im wesentlichen sind eigentlich auf diesem Wege alle älteren großen Religionsvorstel­lungen gewonnen.

Die modernen Erklärer des religiösen Bewußtseins machen sich die Sache etwas leicht. Sie erklären die religiösen Vorstellungen für eine Dichtung, weil sie vor allen Dingen an dem Satze festhalten: Das­jenige, was der Mensch über die Welt an solchen Erkenntnissen gewin­nen soll, das darf nicht weh tun. Auf diesem Standpunkt standen eben die alten Religionssucher nicht, sondern sie waren sich klar:

Wenn der Mensch in seinem physischen Organismus voll drinnen-steckt - was für seine irdische Arbeit selbstverständlich das Richtige ist; es soll nicht ein falsches, weltfremdes Wesen etwa als das Richtige geschildert werden -, kann er nichts erleben in der geistigen Welt. Dieses Erleben in der geistigen Welt, das suchten eben die alten Aske­ten dadurch, daß sie den Körper abstumpften, ihm sogar Schmerz zu-fügten. Denn jedesmal, wenn sie aus einem Glied durch Schmerz das Geistig-Seelische heraustrieben, erlebte dieses Stück Geistig- Seelisches in der geistigen Welt. Und die großen Religionen sind eben nicht schmerzlos errungen, sondern sie sind durch gründliches Erleiden er­rungen.

Dasjenige, was sich da als Ergebnisse der menschlichen Entwicke­lung mitgeteilt hat, das wird heute durch den Glauben aufgenommen. Heute trennt man hübsch voneinander ab: Wissen auf der einen Seite, das Wissen soll Naturwissen der äußeren Welt sein. - Nun, das erwirbt man durch den Kop£ Der Kopf ist dickschädelig, dem tut das nicht weh, insbesondere weil auch die Erkenntnisse durch außerordentlich dünnmaschige Begriffe gewonnen werden. Und auf der anderen Seite:

Was sich erhalten hat als ehrwürdige Traditionsvorstellungen, das

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nimmt man, wie man sagt, durch den Glauben auf. Aber eigentlich müßte man von einem gewissen Gesichtspunkt aus sagen: Der Unter­schied zwischen dem Wissen und dem Glauben ist der, daß man heute den Willen hat, als Wissen nur dasjenige gelten zu lassen, was nicht weh tut, wenn man es erringt, und daß man durch den Glauben, der auch nicht weht tut, dasjenige zu erringen sucht, was einmal als ein Wissen, das allerdings nicht der sinnlichen Welt angehört, auf sehr schmerzvolle, leidvolle Art errungen worden ist.

Nun, auch der asketische Weg kann nicht der Weg des Menschen der Gegenwart sein, trotz alledem, was ich eben gesagt habe. Warum, das werden wir bei einer anderen Gelegenheit betrachten. Aber es ist heute durchaus möglich, durch eine innere Selbstzucht, durch eine Willenszucht, dadurch, daß man seine Entwickelung, die sonst nur das Leben und die Erziehung bringt, selbst in die Hand nimmt, in der eigenen Persönlichkeit in die Willenswachstumsktäfte einzugrei­fen. Wenn man sich zum Beispiel sagt: Du mußt in fünf Jahren dir etwas angewöhnt haben, und du willst diese fünf Jahre alle Gewalt deines Willens darauf lenken, dir dieses anzugewöhnen - wenn man dann so die Enifaltung des Willens nach der inneren Vervollkomm­nung treibt, dann löst man das Geistig-Seelische auch ohne Askese aus dem Leiblichen heraus, dann fühlt man zunächst das, was man in dieser Selbstvervollkommnung unternehmen muß, als etwas, was unter fortwährender Eigentätigkeit vollzogen werden soll.

Jeden Tag muß man irgend etwas innerlich verrichten. Es sind manchmal kleine Verrichtungen, aber sie müssen mit eisernem Fleiß und mit einer unwiderstehlichen Geduld ausgeübt werden. Man kann es ja öfter erleben, daß, wenn man den Leuten solche Übungen emp­fiehlt wie: Du sollst zum Beispiel an jedem Morgen einen ganz be­stimmten Gedanken haben -, sie voller Feuereifer sind, das zu tun. Aber es dauert nicht lange, da erlahmt wiederum alles, und da soll die Sache von selber gehen. Da merken sie, das wird mechanisch, weil sie die stärkere Kraft, die immer mehr und mehr nötig wird, nun nicht anwenden wollen. Erstens hat man also diesen Widerstand der eigenen Trägheit zu überwinden; dann aber kommt der andere Wider­stand, der von dem Objektiven herrührt. Es ist, wie wenn man sich

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durch etwas Dichtes hindurcharbeiten müßte, und dann kommt wirk­lich jenes innere Erlebnis, daß das Denken, das sich allmählich ent­wickelt hat, das lebendig geworden ist, das jetzt Raumrichtungen, überhaupt Lebendiges wahrnimmt, das in den Rhythmus der äußeren Welt sich hineinfindet, daß das einem weh tut, daß jede Erkenntnis, die errungen wird, schmerzt.

Ich kann mir ganz gut moderne Menschen vorstellen, die den Weg in die höheren Welten hinein gehen wollen. Sie fangen an. Die aller-erste leise Erkenntnis kommt. Das tut weh. Also bin ich krank, sagen sie. Es ist selbstverständlich, wenn einem etwas weh tut, so ist man krank. Äber wenn man höhere Erkenntnisse erringt, dann kann es einem manchmal sehr viel weh tun, und man ist doch nicht krank. Es ist allerdings bequemer, anstatt fortzuschreiten auf dem Wege, den die höhere Erkenntnis notwendig macht - denn die seelischen Leiden werden immer größer -, es ist leichter, statt zu streben, diese seelischen Leiden zu überwinden, sich kurieren zu lassen. Man läßt sich etwas verschreiben, statt daß man auf dem Wege weitergeht. Selbstverständ­lich ist dies bequemer. Aber man kommt in der Erkenntnis nicht weiter dadurch. Für den modernen Menschen ist es so, daß auch die­ses Hineintauchen in den Schmerz, in das Leiden ein innerer seelischer Weg wird, so daß es sich rein seelisch abspielt, daß der Körper daran zunächst nicht eigentlich teilnimmt, insofern als der Körper robust und stark und der Außenwelt gewachsen bleibt, wie er es sonst bei den Menschen heute ist. Dadurch aber, daß der Mensch beginnt, seine Erkenntnisse wie etwas an sich herankommen zu lassen, das Leid be­deutet, dadurch kommt er heute wiederum in diejenigen Regionen des geistigen Lebens hinein, aus denen einstmals die großen Religions­wahrheiten geholt worden sind. Die großen Religionswahrheiten, das heißt diejenigen Wahrheiten, die religiös stimmen durch den Ein­druck, den die höhere Welt, die übersinnliche Welt, die Welt, in der unsere Unsterblichkeit zum Beispiel wurzelt, macht, diese Wahrheiten können nicht ohne schmerzliche innere Erlebnisse errungen werden.

Wenn sie so errungen werden, können sie dann wiederum dem all­gemeinen Menschenbewußtsein übergeben werden. Die Menschen sträuben sich heute gegen solche Wahrheiten aus dem einfachen

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Grunde, weil sie den Dingen anspuren, sie sind nicht so, wie man es gerne haben möchte.

Denken Sie doch nur einmal, daß manchem schon recht fatal sein könnte, daß ich gestern gesagt habe: In diesen sich umwandelnden Astralleib, der dann im Herzen eingreift in den Ätherleib, da wird alles eingeschrieben, was der Mensch an Tätigkeit vollbringt, sogar dasjenige, was er einem anderen aufträgt, schreibt sich ein. Schon die­ser Gedanke macht manchen zappelig im Inneren. Und die großen Wahrheiten fordern eben auch in gewissem Sinne einen inneren Mut der Seele, der sich dazu aufschwingt, sich zu sagen: Erlebst du diese Dinge, dann muß du bereit sein, Erkenntnis dir zu erringen durch Entbehrung und Schmerz.

Das soll nicht zur Entmutigung gesprochen sein, obwohl es heute für viele Menschen zur Entmutigung gesprochen ist, aber es ist eben einfach aus der Wahrheit heraus gesprochen. Was nützt es, den Men­schen zu sagen, sie können im Wohlergehen in die höchsten Welten einziehen, wenn es doch nicht wahr ist, wenn das Eindringen in die höheren Welten erfordert, daß Überwindungen geschehen, daß Leid­volles überwunden werde.

Und so versuchte ich Ihnen heute zu schildern, meine lieben Freunde, wie man zu dem Menschlichen vordringt. Dieses Mensch­lich-Seelisch-Geistige ist ja tiefinnerlich im Menschen verborgen. Man muß erst zu ihm vordringen. Aber der Mensch muß auch, wenn er nicht selber vordringt, wissen, daß da in ihm ein Verborgenes ist, Lind er muß kenneniernen aus den Anforderungen der heutigen Zeit heraus, wie solche Dinge, wie sie gestern geschildert worden sind, in Wahrheit verlaufen.

Finden kann man solche Dinge nur auf solchen Erkenntniswegen, wie ich sie heute wieder angedeutet habe und wie sie in verschiedener Weise gegangen worden sind in alten und in neuen Zeiten.

Morgen wollen wir dann die gestrigen und die heutigen Betrach­tungen verbinden in eine solche, die uns weiter hineinführen soll in die geistigen Welten, wie wir das auch heute versuchten.

ACHTER VORTRAG Dornach, 28. Mal 1922

#G212-1978-SE145 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

#TI

ACHTER VORTRAG

Dornach, 28. Mal 1922

#TX

Ich möchte zunächst heute in Anknüpfung an die Auseinandersetzun­gen von gestern und vorgestern einiges vortragen über die Entwicke­lung der Menschheit in die Zukunft hinein, insofern diese Mensch­heitsentwickelung abhängig ist von einem gewissen Verhältnis, in das der Mensch selber im Laufe der Erdenzukunft kommt zu gewissen geistigen Mächten. Wir haben vorgestern gesehen, wie vor einer ge­naueren fletrachtung sich das menschliche Innere ausnimmt; wie man tatsächlich für eine solche genauere Betrachtung Ansichten darüber gewinnen kann, wie sich zusammenschließt im Menschen, im phy­sisch-seelisch-geistigen Menschen dasjenige, was gewissermaßen der Außenwelt angehört, namentlich insofern diese Außenwelt als die Welt der ätherischen Kräfte und Wesenheiten aufgefaßt wird, die der Mensch für seinen eigenen Ätherleib heranzieht im Herabsteigen in die irdische Welt. Und wir haben gesehen, wie sich mit dieser mehr der Außenwelt angehörigen und im Menschen sich einlebenden Wesenheit dann zusammenschließt dasjenige, was der Mensch sel­ber auf der Erde vollbringt, seine Taten, sein Karma mit anderen Worten.

Wir haben dann gestern gesehen, wie in verschiedenen Zeiten der Menschheitsentwickelung in verschiedener Art der Mensch ein Ver­hältnis, ein erkennendes Verhältnis gewinnen kann und soll zu der gei­stigen Welt.

Nun habe ich öfter schon erwähnt, wie die gegenwärtige Zeit eine solche ist, in der eine neue Strömung geistigen Lebens einfach herein-will in das menschliche Erdendasein. Es ist jetzt in der Menschlieits­entwickelung eine Zeit, die den Übergang bilden soll zwischen dem vorzugsweise intellektualistischen Zeitalter, das eingesetzt hat im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts und das im wesentlichen jetzt eigentlich abgelaufen ist, und einer dem Spirituellen hingegebenen Zukunft. In diesem intellektualistischen Zeitalter kam es vorzugs­weise darauf an, daß die Menschheit den Verstand entwickelte, den

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Verstand selber als solchen entwickelte, in Aniehnung an die äußere Naturbeobachtung und an die techmsche Praxis.

In dieser Beziehung ist ja Großartiges und Gewaltiges geleistet worden in den letzten Jahrhunderten. Aber alles dasjenige, was ge­leistet worden ist, ist eigentlich so geleistet worden, daß der Ver­stand, das intellektuelle Element in der Menschheitsentwickelung die Hauptsache war. Und die Erbschaft dieses intellektuellen Elementes lebt heute noch unter uns. Aber, ich möchte sagen, diese Erbschaft des intellektuellen Elementes ist nicht mehr schöpferisch.

Schöpferisch im höchsten Grade war dieses intellektuelle Element zur Zeit des Kopernikus, Galilei, Giordano Bruno, bis herauf dann ins 19. Jahrhundert. Aus dem schöpferischen Intellekt gingen die gro­ßen Taten der Menschheit, namentlich innerhalb der abendländischen Zivilisation in den letzten Jahrhunderten, hervor.

Wer unbefangenen Sinn hat, wird schon äußerlich bemerken kön­nen, daß das Schöpferische der Intelligenz gerade in den letzten Jahr­zehnten wesentlich abgenommen hat. Die Menschheit ist nicht mehr in derselben Weise dabei, ich möchte sagen, Enthusiastisches mit dem Intellekt, mit dem Verstande zu verbinden. Dasjenige, was man durch Jahrhunderte geübt hat an Verstandes-Seelenhaftigkeit, das lebt sich, ich möchte sagen, wie durch eine gewisse Kulturträgheit weiter. Die Menschen denken in den alten Balinen, aber der Intellekt bringt nichts Neues mehr hervor. Das ist insbesondere an unserer Jugend stark zu bemerken. Wie gesagt, wenn man nur unbefangen genug ist dazu, wird man das bemerken können. Wer zurückblickt etwa wie noch in den achtziger Jahren unsere akademische Jugend war - und es bezieht sich das wohl auf die ganze Zivilisation des Abendlandes; es war gewiß nicht bei allen der Fall, aber bei denjenigen, auf die es ankam -, dann kann man sagen: Wenn ein junger Mensch, der etwas gelernt hatte, anfing zu reden, dann hatte man eine gewisse Freude daran, und man war begierig, wie er weiterreden würde. Das ist heute nicht mehr so. Man kann ganz genau den Umschwung in den letzten Jahrzehnten sehen. Wenn heute gerade ein jüngerer Mensch, der, sagen wir, frisch aus den Hörsälen kommt, anfängt zu reden, dann ist man nicht neugierig, was er weiter sagen wird, denn

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man weiß es voraus. Es läuft automatisch ab. Der Mensch zeigt sich nicht mehr so, als ob sein ganzes Gehirn rege wäre, indem er seinen Intellekt entwickelt. Man hat das Gefühl, die intelligente Tätigkeit ist etwas aus dem Kopfe in tiefere Regionen herabgerutscht. Das ist dasjenige, was der, der unbefangen die Welt betrachtet, heute durch­aus schon durch eine äußerliche Wahrnehmung erkunden kann. Etwas Maschinenhaftes hat die menschliche Intelligenz bekommen, und es quillt diese Intelligenz aus Regionen der menschlichen Organisation hervor, die eigentlich nicht mehr so recht der Kopf sind. Nun, das ist eben aus dem Grunde so, weil, wie gesagt, die Intelligenz ursprüng-lich elementar war, und weil im ganzen, in der ganzen Weitgesetz­mäßigkeit das begründet ist, daß durch dieses Zeitalter vom 15. bis zum 19. Jahrhundert vorzugsweise die Menschheit die Intelligenz aus­bilden sollte.

Jetzt aber will aus den höheren Regionen des Weltendaseins herein in das irdische Leben der Menschen eine spirituelle Strömung. Jetzt soll dasjenige, was als Verstand sich nicht weiter entwickeln soll, be­fruchtet werden von dieser geistigen, von dieser spirituellen Strö­mung. Und von den Menschen muß es abhängen, ob sie sich in ihren Herzen, in ihren Seelen öffnen demjenigen, was da, ich möchte sagen, durch viele Tore hereinwill aus der geistigen Welt in die irdische Welt. Dieses macht aber notwendig, daß die Menschen eine Emp­fänglichkeit erhalten wiederum für die Wahrnehmung des Geistigen in der ganzen Natur.

Beachten Sie einmal, wie beim Zurückgehen in ältere Menschheits­kulturen wir gestern erwähnen mußten, daß die allgemeine Mensch­heit Geistig-Seelisches in den Dingen der Außenwelt, in jedem Stern, in jeder ziehenden Wolke, in Blitz und Donner, in den Wesen der Naturreiche wahrnahm.

Gerade daraus hat sich die alte Jogaübung herausgehoben. Der J ogi suchte, wie ich gestern dargelegt habe, zu dem Selbst vorzu­dringen. Er suchte gewissermaßen dasjenige durch innere Übungen auf, was uns heute selbstverständlich ist, denn wir werden damit ge­boren und werden hinerzogen, ein gewisses Selbstgefühl, ein Ich-Bewußtsein zu haben. Das mußte der Jogi erst in sich heranbilden.

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Nun, meine lieben Freunde, denken Sie nicht, daß Sie jetzt mit dem gewöhnlichen Ich-Bewußtsein der Gegenwart sich gleich einem Jogi halten dürfen! Das wäre ein großer Fehler. Es ist nämlich ein Unter­schied, ob man durch eigene menschliche Anstrengung sich zu etwas hinaufarbeitet, oder ob man es als eine Selbstverständlichkeit hat. Wenn man sich so wie der Jogi zum Selbstbewußtsein erst hinauf-arbeiten mußte, dann nahm man durch diese innere Übung teil an den großen, gewaltigen Weltenprozessen und Weltengesetzmäßigkeiten. Wenn man einfach in die Sphäre des Selbstbewußtseins hineinver-setzt wird, so ist das nicht der Fall. Stehen auf einer Stufe der Mensch­heitsentwickelung bedeutet durchaus nicht dasselbe, wie diese Stufe durch innere Übungen erringen.

Und aus den gestrigen Darstellungen kann Ihnen hervorgehen, wie die Menschheit allmählich zu Erkenntnissen kommen muß, die her-vorgehen aus einer Befreiung zum Beispiel des ganzen Denksystems von dem Atmungsprozeß, weil dann das Denksystem sich hineinlebt -wie ich gestern auseinandergesetzt habe - in den äußeren Rhythmus des Kosmos, weil das Denksystem dadurch, daß es sich loslöst von der Subjektivität, untertaucht in die Rhythmen des Kosmos. Wäh­rend also der Jogi durch die Zusammenkoppelung - wenn man sich so ausdrücken darf - seines Denksystems mit dem Atmungssystem in sich selber hineinkroch und sich identifizierte mit demjenigen, was das Geistig-Seelische im Menschen ausleben kann auf den Wogen des inneren Atmungsrhythmus, müssen wir uns heute mit unserem Den­ken in die Welt hinausergießen, uns an die Welt hingeben, um teilzu­nehmen an allen Rhythmen, welche durch die mineralische, durch die pflanzliche, durch die tierische, durch die menschliche Welt bis hinauf zu der Welt der Hierarchien gehen. Wir müssen uns einleben in den äußeren Rhythmus des Daseins. Dadurch aber, daß wir uns einleben in diesen äußeren Rhythmus des Daseins, werden wir auch zu Erkennt­nissen kommen, die der Menschheit wiederum etwas geben über das­jenige, was den äußeren Naturerkenntnissen zugrunde liegt.

Wir treiben heute Physik, Chemie, Biologie, und die Menschen be­kommen durch Tausende und aber Tausende populäre Darstellungen, die heute schon bis in das äußerste Dorf hinausgehen, Mitteilungen

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von dem, wie sich die Welt ausnimmt für die Sinnesbeobachtungen in Verbindung mit dem Intellekt. Aber es muß das Zeitalter begin­nen, wo die Menschheit wiederum erkennen lernt, was hinter alledem steckt, was da durch äußere Beobachtung und durch den Intellekt gegeben werden kann.

Es ist gleichgültig, ob wir mit den Alten sprechen von den vier Elementen: Erde, Wasser, Feuer, Luft, oder ob wir mit den Neueren sprechen von den festen Körpern, von den flüssigen Körpern, von den luftförmigen Körpern und dem Wärmezustand, wenn wir ganz physikalisch reden wollen, es ist gleichgültig, welche Namen wir die­sen Dingen geben für den Zweck, den wir heute verfolgen. Denn wenn heute geredet wird von der äußeren Welt, von dem Festen, dem Flüssigen, dem Lufiförmigen, so redet man eben im Sinne der äußeren Stoffzusammensetzung, Stoffentmischung, Stofftrennung und so weiter. Aber festzuhalten ist, daß allem festen Irdischen ein ele­mentarisch Geistiges zugrunde liegt. Es mag der heutige aufgeklärte Mensch lachen, wenn erinnert wird daran, daß eine ältere Mensch­heit in allem Erdigen Gnomenhaftes gefunden hat. Allein gerade wenn wir wiederum Erkenntnisse gewinnen auf dem Weg des Einiebens in den Rhythmus der Welt, nicht bloß in den logisch-abstrakten Ge­dankenzusammenhang, dann entdecken wir in dem Fest-Irdischen wie­derum jene elementarischen Wesenheiten, welche in allem Festen ent­halten sind. Diese elementarischen Wesenheiten, die in dem Festen, Erdigen enthalten sind, bei denen ist das hervorstechendste Element gerade die Klugheit, die Schlauheit, die Listigkeit, die einseitige Aus­bildung des Intellekts. Man möchte sagen: Im Festen, Erdigen leben geistig-elementarische Wesenheiten, die gescheiter sind als die Men­schen, viel gescheiter. Die im intellektualistischen Sinne gescheitesten Menschen sind nicht so gescheit wie diejenigen Wesen, welche als übersinniiche das feste Irdische, das feste Erdenreich bewohnen. Man möchte sagen: diese Wesen bestehen nur aus Gescheitheit. So wie der Mensch aus Fleisch und Blut besteht, so bestehen diese Wesen eben aus Gescheitheit, aus Übergescheitheit. Und diese Wesenheiten haben noch das Eigentümliche, daß bei ihnen vorzugsweise die Viel­heit herrscht. Wenn man in der Lage ist, sagen wir, gerade ein geeignetes

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Erdenelement daraufhin zu prüfen, was da an solchen elemen­tarischen Klugheitswesen drinnen läuft: man kann es wie einen Schwamm auspressen, möchte ich sagen, geistig-seelisch gemeint, dann kommen sie heraus, diese Wesen. Sie nehmen gar kein Ende. Eine ungeheure Fülle ist darin.

Man möchte sagen, selbst mit dem Zählen wird es diesen Wesen­heiten gegenüber, die in dem erdig-festen Elemente leben, etwas schwierig, denn zählt man diese gnomenhaften Wesen: eins, zwei, drei, vier, fünf - da merkt man, daß man eigentlich Kirschen und Eier mit eins, zwei, drei, vier, fünf zählen kann, aber diese Wesen, die lassen sich nicht so zählen. Denn hat man bis drei gezählt, dann sind es nicht mehr drei, dann sind es schon viel mehr als drei. So daß man mit dem Zählen, das man vom physischen Plane her kennenlernt, gegenüber diesen Wesenheiten gar nicht auskommt. Und wollte man gar die üblichen Rechnungsarten anwenden, dann würden einem diese Wesenheiten die sonderbarsten Schnippchen schlagen. Man würde zwei Wesenheiten auf der einen Seite, zwei Wesenheiten auf der ande­ren Seite nehmen und würde sagen: zwei mal zwei ist vier. Das wäre aber gar nicht wahr, denn diese Wesenheiten würden mittlerweile durch ihre Übergescheitheit sieben oder acht darstellen, so daß man würde sagen müssen: zwei mal zwei ist acht oder so etwas dergleichen.

Also es trotzen die Eigentümlichkeiten dieser Wesenheiten auch dem Zählen sogar. Das ist schon so, daß man sich eben durchaus da-mit bekanntmachen muß: Der Intellekt, wie er sich entwickelt hat in der Menschheit in der neueren Zeit, ist etwas sehr Schönes; aber diese Wesen, die überintelligent sind, die zeigen selbst dem Intellekte gegenüber noch eine gewisse Herrschaft. Sie beherrschen den Intel­lekt selbst da, wo er sich bloß im Zählen ergeht.

Wenn wir dann zum flüssigen Elemente kommen, zum Wasser, dann haben diese Wesenheiten vorzugsweise dasjenige ausgebildet, was der Mensch in seinem Gefühl, in seiner Empfindung ausgebildet hat. Wir Menschen mit unserer Empfindung sind eigentlich sehr weit zurück gegenüber diesen Wesenheiten, die das wässerige, das flüssige Element bewohnen. Wir stellen uns hin; uns gefällt eine rote Rose. Wir haben ein gewisses Gefühl, wenn das Laub an den Bäumen

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rauscht. Aber diese Wesenheiten, die gehen mit allem Flüssigen in den Pflanzensäften, die in der Rose aufsteigen, bis zu der Rosenblüte, da erleben sie das Rot mit. In einer viel intimeren Weise machen sie gefühlsmäßig die Vorgänge der Welt mit. Wir stehen außerhalb der Dinge mit unserer Empfindung. Die aber stehen im Geschehen drinnen und machen das mit.

Die Luftwesen sind vorzugsweise solche Wesen, welche zu einer höheren Fähigkeit ausgebildet haben, was wir in unserem Wollen haben. Es ist ja sehr schön, wenn der Chemiker ausfindig macht, wel­ches das Atomgewicht des Wasserstoffes, des Sauerstoffes, des Stick­stoffes ist, wie sich Wasserstoff und Sauerstoff verbinden, wie man sie wiederum analysiert, wie man das Wasser zum Beispiel analysiert oder den Chlorkalk oder dergleichen. Das ist alles sehr schön, aber hinter dem leben eben geistig-elementarische Wesenheiten. Und aneignen wird sich der Mensch müssen eine Erkenntnis von den Eigentüm­lichkeiten gerade dieser elementarischen Welt. Denn in der Zeit, in der der Mensch den Intellekt ausgebildet hatte, da waren diese elementa­rischen Wesenheiten gewissermaßen ein wenig aufs Trockene gesetzt. Die Menschheit bildete, wie gesagt, seit dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts bis zu dem Ende des 19. Jahrhunderts den Intellekt aus, und indem innerhalb der menschlichen Kultur der Intellekt eine schöp­ferische Rolle spielte, konnten diese Wesenheiten nicht viel machen, die da in den Elementen leben. Dadurch, daß sich die Elementar-wesen des Festen gewissermaßen zurückhalten mußten und den Intel­lekt den Menschen überlassen mußten, dadurch hielten diese Wesen­heiten auch die anderen Elementarwesen, die Wesenheiten des Flüs­sigen und des Luftförmigen zurück. Aber jetzt, wenn die Menschheit in der Zeit, in der der Intellekt in die Dekadenz kommt, und er kommt in die Dekadenz, wir leben schon in dem Zeitalter, wo der Verfall des Intellekts in der zivilisierten Welt beginnt, wenn jetzt die Menschheit sich nicht öffnet der aus dem Geistigen hereinkommen-den Strömung des Spirituellen, dann wird durch diese Stumpfheit der_Menschheit gegenüber der spirituellen Strömung dasjenige ent­stehen können, was heute schon deutlich bemerkbar ist, daß diese ele­mentarischen Wesenheiten eine Art Union schließen, sich zusammenschließen

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und sich unter die Führung der ja vorzugsweise intellek tualistischen Macht, unter die Führung Ahrimans stellen.

Dann aber würde, wenn diese elementarischen Wesenheiten mit der deutlichen Absicht, sich gegen die menschliche Entwickelung zu stel-len, sich in die Führung Ahrimans stellen würden, die Menschheit ihren Fortschritt nicht weiter entwickeln können. Dann würde es mög­lich sein, daß die ahrimanischen Mächte in Verbindung mit den ele­mentarischen Wesenheiten der Elemente aus der Erde etwas ganz anderes machen, a]s wozu sie von vornherein bestimmt war. Die Erde würde nicht das werden, was ich in Anlehnung an die Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenzeit in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» von der Erde ausgeführt habe. Denn die Erde wird dasje­nige, was sie werden sollte nach den Absichten des Anfangs nur dann, wenn eben der Mensch seine Aufgabe in einem jeglichen Zeitalter in der richtigen Weise ergreift.

Man kann heute schon wahrnehmen, wie die Dinge eigentlich sind. Sehen Sie, diejenigen, die heute schon ein gewisses Alter erreicht haben, die wissen, daß man in der früheren Zeit sich doch überall mit den anderen Menschen so unterhalten hat, daß man, wenn man wissen wollte, was in ihrem Inneren ist, sich das durch die gewöhn­liche Sprache, durch den gewöhnlichen Sprachverkehr mitteilen ließ. Man rechnete eben darauf, daß der Verstand, der Intellekt da im Oberstübchen sitzt, und daß dasjenige, was im Oberstübchen sitzt, dann durch die Sprache dem anderen mitgeteilt wird.

Heute gibt es schon Leute, welche gar nicht mehr voraussetzen, daß bei manchen ihrer Zeitgenossen der Verstand da im Oberstüb­chen ist, sondern sie nehmen schon an, daß der Verstand tiefer hin­untergerutscht ist, und dann analysieren sie, statt daß sie sich von ihnen erzählen lassen. Das ist schon, nur eben aus einer mißverständ­lichen Ecke heraus, ich möchte sagen, ein Zugeben, daß der Ver­stand etwas hinuntergerutscht ist, wenn man die Leute, statt sie reden zu lassen, psychoanalysiert. Denn psychoanalysieren muß man eben dasjenige, was schon hinuntergerutscht ist in die tieferen Regionen der Menschennatur. Da will man es wieder heraufheben, weil man annimmt, daß es hinuntergerutscht ist. Und in diesem Zeitalter des

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Verfalls des Intellekts, da ist es auch schon so, daß die Menschen es eigentlich gar nicht mehr lieben, wenigstens es beginnen einzelne es gar nicht mehr zu lieben, daß man sich an ihren Intellekt wendet. Sie lassen sich gern analysieren, weil sie mit ihrem Kopf nicht teilnehmen wollen an demjenigen, was ihre Seele eigentlich äußert.

Diese Dinge nur so zu betrachten, daß man sich, ich möchte sagen, äußerlich, oberflächlich zu ihnen stellt, das führt zu gar nichts. Es kommt nicht viel dabei heraus, wenn diese Dinge äußerlich, oberfläch­lich betrachtet werden. Man muß sie so betrachten, wie wir das eben jetzt getan haben, daß man sie in den ganzen Weltenzusammenhang hineinstellt. Nur dann werden sie einem klar. Die Psychoanalyse mag ja manches Gute haben von dem Standpunkte, den ich auch gestern auseinandersetzte. Man will gewisse Dinge, die früher die Menschen als selbstverständlich hingenommen haben, nicht mehr hinnehmen, also läßt man sich kurieren. Und so viele Kuren sind schon gar nicht mehr zu erfinden, wie der Mensch heute braucht. Also da die äußeren materiellen Kuren nicht mehr ausreichen, erfindet man psychische Kuren, nicht wahr! Aber all das muß eben in einem größeren Zusam­menhang betrachtet werden.

Äußerlich betrachtet, braucht man gar nicht aufzukommen gegen all die guten Gründe, gegen all das Bestechende, was die Psycho­analytiker haben. Das ist nicht schwer einzusehen, selbst nicht schwer einzusehen vor einer berechtigten größeren Weltenbetrachtung, die man heute noch so sehr flieht, vor der Weltenbetrachtung, die dazu führt, anzuerkennen, daß eine spirituelle Strömung heute in unserer gegenwärtigen Zivilisation hereinwill, um sich an die Stelle des in den Verfall kommenden Verstandes, des in den Verfall kommenden Intel­lektes zu setzen.

Dieses einzusehen, das ist dasjenige, was heute eigentlich Aufgabe der Menschheit wäre und was die Menschen heute in einer gewissen Weise durchaus fliehen. Aber erst da enthüllt sich eben das, um was es sich bei solchen Dingen handelt, deren äußere Berechtigung man gerade im Zeitalter des verfallenden Verstandes sehr leicht beweisen kann. Man wird nach und nach sehr vieles beweisen können, weil eben der Intellekt in den Verfall kommt und der verfallende Intellekt

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nach und nach außerordentlich vieles wird als berechtigt erwei­sen können. Dasjenige aber, was wirklich berechtigt ist, das wird man immer mehr und mehr nur einsehen können aus denjenigen Er­kenntnissen heraus, die durch Spiritualltät zu der Menschheit kom­men.

Sehen Sie, das ist die eine Seite, durch die wir hingewiesen werden können auf dasjenige, was in der Erdenzukunft der Menschheitsent­wickelung droht. Auf der anderen Seite müssen wir auch darauf hin­weisen, daß ebenso wie die niedrigen Elemente, Erde, Wasser, Luft, so auch die höheren Elemente, die ätherischen Elemente, Licht, der chemische Äther, der Lebensäther, gewissermaßen bewohnt sind von elementarischen Wesenheiten. Nur unterscheiden sich diese elementa­rischen Wesenheiten sehr stark von den Elementarwesenheiten der niederen Elemente. Die Wesenheiten des Lichtes, aber namentlich die Wesenheiten des Lebens, die streben eben nicht nach der Vielheit. Am stärksten streben nach der Vielheit eben die Wesenheiten des erdigen Elementes. Die Wesenheiten der ätherischen Elemente, die streben nach der Einheit. Man kann sie gar nicht eigentlich so richtig von­einander unterscheiden. Die Individualitäten sind da nicht ausgeprägt. Diese Wesenheiten streben das eine in das andere hinein sich zu ver­binden.

Eine ältere Einweihungskraft eben gewisser Eingeweihter oder Jnitiierter, von denen dann die tieferen Lehren des Alten Testamen­tes herrühren, die hat die Erkenntnis vorzugsweise nach diesem äthe­rischen Elemente hingewendet. Und nach diesem Zusammenstreben des ätherischen Elementes in das eine bildete sich der Eindruck, der dann im Monotheismus, in dem strengen Monotheismus des Juden­tums sich auslebte.

Diese Jahve-Religion ist ja zunächst vorzugsweise durch die gei­stige Anschauung der Ätherregion entstanden. Aber in den Äther-regionen leben geistige Wesenheiten, die nun nicht so auseinan­derstreben, viele Individualitäten werden wollen, sondern die ineinan­der verschwinden, verwachsen wollen, die zur Einheit sich bilden wollen.

Nun, wenn diese Wesenheiten wiederum unbeachtet gelassen werden

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von den Menschen, wenn die Menschen sich nicht zur Spiritualität hinwenden und sich sagen: Da oben ist nicht nur die Sonne, sondern mit Sonnenwärme und Sonnenlicht dringen aus dem Äther Wesen­heiten auf die Erde herunter -, wenn die Menschen eben beim äußeren Erfassen des Materiellen stehenbleiben, dann finden diese Wesen­heiten die Möglichkeit, sich mit dem Luziferischen zu verbinden. So daß, wenn die Menschheit nicht erfaßt auf der einen Seite die Gefahr, die von dem Ahrimanischen droht durch die Verbindung des Ahri­manischen mit denjenigen Wesenheiten, die in den niederen Elemen­ten leben, und diejenige Gefahr, die von dem Luziferischen droht durch die Verbindung des Luziferischen mit dem Einheitsstreben der ätherischen Elemente, dann würde die Möglichkeit bestehen, daß in der Erdenzukunft aus der Erde etwas ganz anderes würde, als nach den Anfangsabsichten aus der Erde eigentlich werden soll.

Man kann gar nicht genug, meine lieben Freunde, immer wieder und wieder darauf hinweisen, daß Erfassung des Spirituellen ein Er­denmenschheitsschicksal bedeutet, daß tatsächlich mit der Erde etwas anderes geschehen würde, als geschehen soll, wenn sich die Menschen nicht zu dem Spirituellen herbeilassen. Denn es ist eben schon so, daß wir um uns herum haben die Welt des Materiellen. Aber so sehr wir auch heute mit unserer entwickelten Chemie und Physik diese Welt des Materiellen untersuchen, wir untersuchen ja da doch nur das­jenige, was mit dem Erdendasein vergehen soll. Was hat denn eigent­lich diese ganze Chemie, diese ganze Physik für einen Wert anders als bis zum Ende des Erdendaseins? Denn bis zum Ende des Erdenda­seins sollen die mineralisch zerstäubten Stoffe eben sich in der Welt auflösen, und nur das Pflanzliche, Tierische, Menschliche soll in das Jupiterdasein hinübergehen. Also all dasjenige, was man gerade mit den so großartigen, gewaltigen heutigen Wissenschaften erlangt, das bezieht sich nur auf ein Vergängliches. Die Menschheit braucht aber eine Erkenntnis, die sich nicht auf dieses Irdisch-Vergängliche be­zieht, sondern die zu tun hat mit dem, was hinausgeht über das Irdisch-Vergängliche.

Man mag noch so sehr, wie gesagt, heute die Atomgewichte der einzelnen Elemente untersuchen, man mag chemische Formeln aufstellen,

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physikalische Gesetze, die beschäftigen sich ja nur mit demjeni­gen, was für das Erdendasein eine vergängliche Bedeutung hat. Hin­auswachsen muß der Mensch über dieses Erdendasein durch die Er­kenntnis von solchem, wie ich es eben jetzt auseinandergesetzt habe. Das ist eine außerordentlich wichtige und wesentliche Sache.

NEUNTER VORTRAG Dornach, 17. Juni 1922

#G212-1978-SE157 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

#TI

NEUNTER VORTRAG

Dornach, 17. Juni 1922

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Es wird mir heute obliegen, einiges auseinanderzusetzen aus einem dem Menschen naheliegenden Gebiete der Anthroposophie. Morgen werde ich Ihnen dann einiges mitteilen in Anknüpfung an den eben abgelaufenen Wiener West-Ost-Kongreß. Heute jedoch möchte ich einiges Anthroposophische besprechen.

Nicht wahr, wir stehen in Verbindung mit der Welt als Menschen zunächst durch unsere Sinne, und zwar, wie ja für jeden ganz offen­sichtlich ist, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Wir nehmen durch die verschiedenen Sinne die verschiedenen Gebiete des Daseins wahr und setzen durch eine gewisse seelische Tätigkeit uns dadurch ein Weltbild zusammen. Ich will das nur andeuten. Jeder wird durch eine sol­che Andeutung aufmerksam daraufgemacht, wie er den wachenden Ver­lauf des Lebens selber betrachten kann und was in ihm enthalten ist.

Nun aber sind wir als Menschen nicht bloß wachend in die Welt hineingestellt, sondern auch schlafend. Und schlafend sind wir mit unserem Ich und unserem seelischen Wesen außerhalb unseres Leibes in eine Weltumgebung hineingestellt, die für das gewöhnliche Be­wußtsein dem Menschen zunächst unbekannt ist.

Alles, was ich jetzt sage, ist zunächst für den Menschen der Gegen­wart gesagt, das heißt für den Menschen, wie er sich in seinem see­lischen Leben herausgebildet hat seit jenem Zeitpunkte, den wir oft­mals als einen so außerordentlich wichtigen für die neuere Mensch­heitsentwickelung bezeichnet haben, seit dem 15. Jahrhundert.

Nun müssen wir uns aber doch fragen: Wie stehen wir zu einer Welt, die allerdings dem gewöhnlichen Bewußtsein verschlossen ist, als schlafender Mensch in Beziehung? Da allerdings kommen wir ge­rade in diesem Zeitraum der Menschheitsentwickelung, in dem wir heute leben, gleich in eine Schwierigkeit der Beschreibung hinein, wenn wir nicht Rücksicht darauf nehmen, daß die Menschheit eben sich entwickelt hat und in ihrem Seelenieben die verschiedensten Zustände durchgemacht hat.

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Wenn wir das Seelenieben des Menschen betrachten, dann finden wir, daß der Mensch unserer heutigen, wie wir es nennen, zivilisierten Welt sich die mannigfaltigste Mühe geben muß, seine Vorstellungen, seine Begriffe zu bilden. Wir schauen oftmals recht gedankenlos in frühere Menschheitsperioden zurück, in denen ein solches Erzie­hungswesen, wie es heute für den Menschen notwendig ist, nicht vorhanden war. Wir schauen gewissermaßen gedankenios auf jene menschliche ältere Kultur, die sich im Oriente drüben entwickelt hat, und die ihren Bestand hatte, ohne daß der Mensch von Kindlieit auf in einer solchen Weise durch die Erziehung hindurchgeführt wurde, wie es heute der Fall ist. In Europa selber ist es heute fast unmöglich, sich auch nur eine Vorstellung davon zu machen, wie anders über die Erziehung gedacht worden ist in früheren orientalischen Zeiten, in denen aber doch so Gewaltiges, Herz und Geist des Menschen so Erhebendes geschaffen worden ist, wie das orientalische Schrifttum, wie die Veden, wie alles das, was in der orientalischen Weisheit ent­halten ist. Man beurteilt eben heute alles, was im Geiste zustande kommt, darnach, wie der heutige Mensch von Kindlieit auf aufwach­sen, wie er erzogen und unterrichtet werden muß, und was er dann aus dieser Erziehung, aus diesem Unterricht heraus weiter durch das Leben unserer heutigen Außenwelt wird. Und da stellt sich zunächst für das Vorstellungsleben dieses heraus, daß wir erzogen und unter­richtet werden müssen, weil wir uns unsere Gedanken über das Leben selber machen müssen. Wir wären heute hilflos in der Welt, wenn wir nicht in der Lage wären, uns selber Gedanken über das Leben zu machen. Der Mensch ist eigentlich heute noch nicht sehr weit in der Kunst, möchte ich sagen, sich Gedanken zu machen. Und gerade im Unterrichts- und Erziehungswesen muß darauf gesehen werden, daß wir immer weiter und weiter kommen in der Kunst, aus unserer eige­nen Anstrengung heraus uns Gedanken zu machen über die Dinge der Welt.

In der Griechenzeit wurde das schon vorbereitet. Das griechische Leben war das erste kulturelle Leben innerhalb Europas, war aber in einer gewissen Beziehung durchaus noch vom Oriente beeinflußt und entwickelte daher ein solches Erziehungswesen, das auf die Ausbildung

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der Kräfte des Vorstellens hinging erst in den allerersten Sta­dien. Es strömte noch hinein in dieses griechische Kulturleben die orientalische Art, die den Menschen nicht dazu brachte, sich gedan­kenhaft anzustrengen, um, wenn ich es trivial ausdrücken darf, nun selber Vorstellungen über die Dinge zu machen.

Man bewundert heute innerhalb des abendländischen Geisteslebens -mit einem gewissen Recht - Sokrates als einen der ersten, der die Menschen dazu angehalten hat, sich selber Vorstellungen über die Dinge zu machen. Aber es wäre durchaus falsch, wenn man daraus nun etwa den Schluß ziehen wollte: weil Europa gezwungen worden ist, aus der menschlichen Anstrengung heraus sich selber Vorstellun­gen zu machen über die Dinge, daß der Orient kein Gedankenleben gehabt hätte. Der Orient hat ein ganz mächtiges Gedankenleben ge­habt, und wir finden dieses Gedankenleben um so mächtiger ausge­bildet, je weiter wir zurückgehen in dem orientalischen Kulturleben. Und gehen wir zurück in die Zeiten, in denen die Veden und die Vedantaphilosophie noch nicht da waren - denn die Veden und die Vedantaphilosophie zeigen, wie ich oftmals erwähnt habe, nicht die allerersten Stufen des orientalischen Geisteslebens; die sind nie aufge­schrieben worden -, da war ein mächtiges Gedankenleben im Oriente der alten Zeit schon da. Alles das ist durchaus schon seit zwei bis drei Jahrtausenden im Orient selbst in die Dekadenz gekommen, ist durchaus schon im Niedergang begriffen. Der Orientale bewundert heute die letzten Reste, möchte ich sagen, eines einstmals ganz wun­derbaren Gedankenlebens. Aber dieses Gedankenleben, das war nicht so wie das unsrige, bei dem wir - verzeihen Sie den materialistischen Ausdruck, er ist nur als Bild gemeint -, bei dem wir innerlich schwit­zen müssen, um es zustande zu bringen, bei dem wir uns anstrengen müssen, damit es wird. Das orientalische Gedankenleben war ein in­spiriertes. Dem Orientalen gaben sich die Gedanken in ihrer Zusam­mentügung wie von selbst. Er bekam sein Weltbild so, daß dieses Weltbild durchaus einer Eingebung entsprach. Er hatte auch immer das Gefühl: Das, was ich denke, ist mir gegeben. - Und die Anstren­gung, die innerliche Seelenanstrengung, Gedanken zusammenzuset­zen, kannte er nicht. Vom Aufwachen bis zum Einschlafen fühlte er,

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daß ihm Gedanken geschenkt wurden. Es hatte auch sein ganzes Seelenleben eine entsprechende Färbung. Wenn er Gedanken hegen durfte, war er den Göttern dankbar, weil sie ihm Gedanken schenk­ten. Er fühlte es wie ein Einströmen der göttlich-geistigen Mächte, wenn er sich sagen konnte: In mir als Mensch leben Gedanken. - Es war eine ganz andere Stellung zum Gedankenleben.

Daher war auch das orientalische Gedankenleben der älteren Zeit nicht so abgetrennt vom Fühlen und Empfinden, von den Herzens­angelegenheiten der Menschheit, wie es heute für das normale Bewußt­sein ist. Gerade weil der Mensch sich so fühlte, daß ihm die Gedan­ken geschenkt waren, fühlte er sich auch bei jedem Gedanken als Mensch gehoben, und mit jedem Gedanken war zugleich ein religiöses Empfinden verknüpft. Der Mensch fühlte, daß er mit einer Art reli­giöser Frömmigkeit den Mächten entgegenkommen müsse, welche ihm fertige Gedanken schenkten, nicht so sehr einzelne Gedanken als vielmehr die Zusammenfügung von Gedanken.

Was war denn aber die objektive, die äußerliche Ursache, daß das für den orientalischen Menschen so war? Die äußerliche objektive Ursache war, daß der Mensch in diesen älteren Zeiten anders schlief, als wir heute schlafen. Wir verlassen ja als Ich und als seelischer Mensch im Schlafe vorzugsweise das Haupt, den Kopf. Nicht in dem­selben Maße stark getrennt vom Menschen sind die vorzüglichsten Stoffwechselorgane und die Gliedmaßen. In den Gliedmaßen-Stoff­wechselleib ragt noch, wenn der Mensch schläft, das Seelische und das Ich hinein. Man sollte nicht eigentlich die Vorstellung haben, daß das Ganze des Menschen verlassen ist im Schlafe vom Ich und von dem Seelischen, sondern man sollte sich vorstellen, daß vorzugsweise das Haupt es ist, das da verlassen ist. Ich habe das öfter auseinander­gesetzt, und ich möchte es schematisch noch einmal vor Sie hinstel­len, so daß etwa das der wachende Mensch sei (siehe Zeichnung links), daß Ich und Seelenwesen, die ich rot zeichne, den physi­schen Leib und den Ätherleib durchsetzen. Es wäre falsch, wenn ich jetzt den schlafenden Menschen so zeichnen würde, daß ich hier den physischen Leib und den Ätherleib habe, die im Bette liegen bleiben, und nun einfach daneben zeichnen würde das Ich und den astralischen

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Leib oder das Seelische. Ich möchte es so zeichnen, daß wenn hier (bell) die physischen Organe sind, die Gliedmaßen sind - aber die Arme gehören eigentlich dazu -, daß ich eigentlich nur beim Haupte zeichne, wie sich das Ich und das Seelische des Menschen außerhalb des Menschen befinden, denn ganz streng genommen ist nur in bezug auf das Haupt der Mensch im Schlafe von seinem physischen Leibe und von seinem Ätherleib getrennt (rot).

Wenn wir nun in jene älteren Zeiten zurückgehen, von denen ich eben gesprochen habe, so ist es so, daß damals während des mensch­lichen Schiafzustandes die menschlichen Hauptesorgane, also im wesentlichen das Nerven-Sinnessystem und ein Teil des Atmungs­systemes, das das Haupt durchsetzt, der Schauplatz waren, auf dem die göttlich-geistigen Wesenheiten, die mit der Erde etwas zu tun hatten, ihre Angelegenheiten abwickelten.

Man kann durchaus, ohne bildlich zu sprechen, wenn man ganz ernsthaft auf Wirklichkeiten hindeutet, sagen: In den ältesten Zeiten der Menschheitsentwickelung wirkten die göttlich-geistigen Wesen auf der Erde so, daß sie sich von den Menschen zurückzogen, wenn diese wachten. Wenn aber die Menschen schliefen, so nahmen sie Wohnung in den Häuptern der Menschen. Das menschliche Ich und das menschliche Seelenwesen hatten das Haupt verlassen; die götdich­geistigen Wesenheiten ordneten dort ihre Angelegenheiten. Und wenn

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der Mensch dann am Morgen wieder aufwachte, wenn er also wieder untertauchte in sein Haupt, dann fand er dort die Ergebnisse dessen vor, was zurückgeblieben war unter dem Elnflusse der Taten der göttlich-geistigen Wesen, die vom Einschlafen bis zum Aufwachen in seinem Haupte so tätig waren, daß sie seine Nervenvorgänge nach ihren Gesetzen ordneten und bis in die Blutzirkulation hinein auf das Geschehen, auf das organische Geschehen im Ätherleib und im physischen Leib Wirkungen ausübten. Aber der Mensch sah nicht etwa deutlich jenen Tatbestand ein, den ich jetzt eben beschrieben habe - den sahen diejenigen ein, die in den Mysterien geschult wur­den -, die große Masse der Menschheit sah diesen Tatbestand nicht em, aber sie erlebte ihn. Der Mensch fand also beim Aufwachen die Taten der Götter in seinem Haupte vor. Und wenn er dann wachend lebte und die Gedanken in ihrer Zusammenfügung wahrnahm, so kam das dadurch, daß die Götter während des Schlafes in seinem Haupte tätig gewesen waren. Es fand gewissermaßen jeden Morgen der altorientalische Mensch das Erbe desjenigen vor, was die Götter als ihre Angelegenheiten während seines Schlafes abgemacht hatten. Und das nahm er dann wahr als Inspiration mit Gedanken. Es war also nicht so, daß ihn während des Wachens die göttlich-geistigen Wesenheiten unmittelbar inspiriert hätten, sondern sie inspirierten ihn während der Zeit seines Schlafens, indem sie ihre eigenen Angelegen­heiten da abwickelten. Und alles, was dazu führte, daß sich in jenen älteren Zeiten der Mensch sozial so oder so benahm, das war im Grunde genommen Inspiration. Man möchte sagen: die göttlich-gei­stigen Wesen hatten damals durchaus die Möglichkeit, die irdischen Angelegenheiten so zu ordnen, daß sie von dem Schlafzustande aus das gegenseitige Vertrauen der Menschen zueinander, daß sie den Ge­horsam, den die große Masse ihren Führern entgegenbrachte, ordneten und so weiter. Es war also durchaus gerade auf die Weise ein Zusam­menwirken der göttlich-geistigen Welt mit der irdischen Welt in je­ner alten orientalischen Zeit vorhanden. Das war aber nur dadurch möglich, daß die ganze menschliche Organisation damals noch anders war.

Ich habe es öfter erwähnt, wie sich der Mensch heute vorstellt, daß

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eigentlich alles bei ihm, das heißt, solange der Mensch auf Erden ge­schichtlich lebt, immer so war, wie es heute ist, das Physische des physischen Organismus, das Seelische der Seele, das Geistige des Ich. Wenn heute der Geschichtsschreiber daran geht, über das alte Ägypten zu schreiben und seine Urkunden enträtselt, dann denkt er sich, daß die Menschen zwar noch nicht so gescheit waren wie er, aber daß sie im wesentlichen doch so gedacht, gefühlt und gewollt haben, wie er es selber tut. Man hat die Anschauung: Wenn man ganz weit zurück­geht, dann werden die Menschen zu einer Art von höheren Affen, und von diesem Stadium gingen sie dann über zu dem - nun ja, was man ja nicht weiß, wie der Geschichtsschreiber es sich denkt. Aber als die Zeit begann, die einen geschichtlich interessieren kann, so ist die Ansicht, da muß man die Menschen schon so hinnehmen, wie sie auch heute sind in ihrem Denken, Fühlen und Wollen, in der Art und Weise ihrer heutigen ätherisch-physischen Organisation.

So ist es eben nicht. Die Menschen haben sich auch in geschicht­lichen Zeiten ganz wesentlich geändert. Sie brauchen sich nur an das­jenige zu erinnern, was ich zum Beispiel als Einzelheit schon früher angeführt habe, wie der Grieche die Weltumgebung rein physisch an­sah. Der Grieche sah noch nicht so das Blau, wie wir es heute sehen; er sah eigentlich nur die rötliche Farbnuance. Und wenn sich heute ein Mensch vorstellt, daß der blaue Himmel ja so schön ist, und daß daher der Grieche, weil er in Schönheit lebte, vorzugsweise diesen blauen Himmel gesehen haben müsse, so irrt sich der Mensch. Der Grieche hat gerade die warmen, die rötlichen, die gelben Farben ge­schaut, und Grün und Blau hat er schon nicht wesentlich vonein­ander unterschieden. Er hat daher den Himmel ganz anders gesehen, als ihn heute ein normales Bewußtsein sieht. Auch die Augen selber sind im Laufe der Menschheitsentwickelung durchaus anders gewor­den, wenn das auch nur in intimeren und feineren Zügen der Fall ist. Die ganze Sinnesorganisation ist überhaupt im Laufe der geschicht­lichen Zeit eine andere geworden. Und in jenen alten orientalischen Zeiten, von dinen ich jetzt eben gesprochen habe, war in der Tat die Sinnesorganisation so, daß der Mensch nicht durch sie beirrt, ge­hindert wurde, sich dem hinzugeben, was da, wenn er wachte, aus

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seinem Organismus herauskam an Göttertaten, und was ihm geblieben war aus seinem Schlafzustande.

Allmählich wurde die Sinnesorganisation der Menschheit so, daß der Mensch so lebendig durch seine Sinne mit der Außenwelt ver­bunden wurde, daß diese lebendige Verbindung ihn gleich, wenn er aufwacht, daran hinderte, auch nur aufmerksam zu sein auf dasjenige, was etwa dasein könnte als Erbschaft aus dem Schlafe heraus. Selbst wenn die Götter noch ihre Angelegenheiten während des Schlafes in seinem Kopfe ordnen würden - sie tun es nicht mehr, weil der Mensch eben umorganisiert ist und es keine weitere Bedeutung mehr für die Entwickelung der Menschheit hat -, so würde der Mensch gar nichts mehr davon haben für seinen Fortschritt und seine Fortentwickelung. Im Gegenteil, er würde, weil, wenn er aufwacht und er sogleich der Außenwelt durch seine jetzt entwickelten Sinne mächtig hingegeben ist, gar nicht aufmerksam sein können auf dasjenige, was er etwa an Erbschaft aus dem Schlafe übernehmen könnte. Und dadurch würde es zurückgehen in den Körper, statt daß es aufgenommen würde vom Bewußtsein. Der Mensch würde heute in sich nicht fühlen können durch das Inspirierte, was im Schlaf die Götter auf dem Schauplatze seiner Hauptesorganisation taten. Es würde in ihm zurückgehen und seinen Organismus früh altern machen.

In älteren Zeiten wurde das eben aufgenommen von dem Menschen im wachenden Zustande, was er schlafend erlebt hatte, weil seine Sinne nicht so hinorientiert waren auf die Außenwelt, wie das heute der Fall ist; und so konnte damals der Mensch im Vereine mit der Götterwelt leben. Dieses Leben war aber ein wirkliches Leben mit der Götterwelt. Die Götter kann man mit den Sinnen ohnedies nicht anschauen, und der alte Mensch war dazu veranlagt, nun wenigstens die Göttertaten zu erleben, dadurch daß seine Sinne noch nicht so hin-orientiert waren auf die Außenwelt, wie die heutigen es sind.

Nun kam aber später eine Zeit - es war im wesentlichen das Jahr­tausend vor dem Mysterium von Golgatha -, da begannen auch in der orientalischen Welt die Sinne, namentlich die Augen der Menschen empfänglich zu werden für die Eindrücke der Außenwelt, so wie das eben später der Fall war. Der Mensch kam dazu, die spätere Sinnes-Organisation

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immer mehr und mehr anzunehmen und sie dem hinzu­zufligen, was ihm innerlich noch geblieben war von älteren Zeiten, von seiner Nervenorganisation, die es ihm noch möglich machte, die göttlich-geistigen Taten zu erleben. In den älteren Zeiten hatte er die göttlich-geistigen Taten rein erlebt, ohne das Sinnliche hineinzumi­schen. Jetzt erlebten die Menschen zwar auch noch etwas, weil die Götter noch nicht ganz von ihnen fortgegangen waren, aber das nahm die Sinnesorganisation gleich in sich herein, und die Folge davon war, daß über einen großen Teil der Menschheit dieses Eigentümliche kam, daß die Götter, die geistigen Wesenheiten, gewissermaßen her-eingeholt wurden in die sinnliche Organisation. Ich kann das so aus-drücken, daß ich sage: aus der ehemaligen rein geistigen Anschauung der göttlich-geistigen Wesenheiten wurde der Glaube an Gespenster.

Der Glaube an Gespenster ist nicht etwa etwas, was uralt ist in der Menschheit. Uralt ist das Anschauen der göttlich-geistigen Wesen­heiten. Der Gespensterglaube entstand erst durch das Einmischen der Sinneswahrnehmung in die Anschauung des Göttlichen. Und als die Mysterienkultur des Orientes nach Europa herüberkam und zum Bei­spiel auch angenommen wurde von dem wunderbaren griechischen Geistesleben in der Kunst, in der Philosophie, da kam mit den gro­ßen Massen eben auch das Gespensterschauen herüber.

Man kann sagen: In diesem letzten Jahrtausend vor dem Mysterium von Goigatha war die rein orientalische Anschauung schon in den Niedergang hineingekommen, und es war eine Art von Gespenster-schauen gerade bei vielen Gliedern der großen breiten Masse vorhin-den. Es wanderte herüber nach Europa der Gespensterglaube, die in das Sinnesgemäße verwandelte echte geistige Anschauung des Orients. So daß man sagen kann: der Gespensterglaube ist der letz­te Ausläufer, das Ende einer hohen, wenn auch träumerischen gei­stigen Anschauung, die einmal eine hohe Kalturblüte in der Ent­wickelung der Menschheit bedeutet hat.

Sehen Sie, dasjenige, was ich da geschildert habe, wie der alte orientalische Mensch im Schlafzustande sein Haupt als den irdischen Schauplatz der Götterwelt empfinden mußte, das erlebte man eben nur als Mensch; der Mysterieneingeweihte wußte es aber. Das hat

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seinen Gegensatz nun schon heute in dem Aufkommen einer neuen Kultur.

Diese neue Kultur ist noch im Anfange, und sie drückt sich um so stärker aus, je weiter wir nach Westen hinüberkommen. Es hätte für den alten orientalischen Menschen keinen Sinn gehabt, etwa zu sagen:

Die menschlichen Gedanken durchpulsen den menschlichen Willen nicht. - Denn er wußte, was in seinem Willen, selbst in seinem Blute lebte, das kam ihm von den Göttern. Die Götter machten seine Gedanken, und die Götter entwickelten eine mächtige Kraft in seinem Schlafzustande. Er empfand das als Inspiration.

Heute noch, wenn wir hinüberschauen nach dem Osten, nach den Letzten Resten dessen, was zum Beispiel in Solowjow vorhanden ist als Philosophie, so gibt es etwas gerade bei diesem Solowjow, das zeigt, wie er gar nicht versteht, gar nicht verstehen würde, wenn man etwa sagen würde: Die Gedanken sind nicht impulsierend im Menschen, sie tragen nicht den Willen.

Das aber ist durchaus die heutige Meinung des westlichen, nament­lich des amerikanischen Menschen. Der amerikanische Mensch schil­dert dasjenige, was sich ihm in diesem Sinne ergibt, bis in die Züge seiner Physiologie, seiner Biologie hinein. Die Wissenschaft Amerikas ist in dieser Beziehung, wenn man auf ihre intimeren Grundzüge eingeht, etwas ganz anderes als die europäische oder gar als die Wis­senschaft des Ostens.

Der Westmensch schildert, wie wenig Bedeutung eigentlich die Ge­danken für den Willen des Menschen haben. Er weiß eben zu stark, daß es der Mensch ist, der die Gedanken macht. Der kann aber doch nicht die Gedanken aus dem Blauen heraus machen. Deshalb sagt sich zum Beispiel der Amerikaner von heute: Viel wichtiger, als was der Mensch an Gedanken aufnimmt, ist die Art und Weise, wie er in eine gewisse Familie, in eine Parteirichtung hineingewachsen ist durch seine sozialen Lebensverhältnisse, wie er in eine Sekte hineingewach­sen ist. Das alles übt Emotionen auf ihn aus, das alles bestimmt sei­nen Willen. Und man kann eigentlich gar nicht von dem Gedanken aus den Willen bestimmen. Aus solchen Untergründen des Lebens her­aus wie Familie, Parteirichtung, Land, Sekte und so weiter wird der

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Wille bestimmt. - Und der Amerikaner, der Westmensch überhaupt, sagt: Die Gedanken sind eigentlich nicht der Herrscher im Menschen; sie sind eigentlich nur der oberste Minister des Herrschers, der menschlichen Organisation, die Wille, Trieb, Instinkt ist, wenn sie auch - was dann Garlyle nachgesprochen wird - ein teurer Minister sind, diese Gedanken, aber sie sind nur das ausführende Organ.

Und wir müssen eigentlich sagen, daß beute jene breiten Menschen­massen, die heranstürmen, um ihre eigenen Ansichten gegenüber dem Altüberkommenen in der Welt zur Geltung zu bringen, eigentlich auch so denken. Daher kommt es, daß man heute so gern studiert, wie der primitive Mensch gelebt hat, weil man meint, er habe in Instinkten, in Trieben gelebt, und seine Gedanken wären nur wie eine Art Spiegelbild der Instinkte, der Triebe gewesen.

So sieht man heute als Westmensch in den Menschen hinein und sagt, ihn treiben die Instinkte, die Triebe. Warum das? Weil er noch nicht organisiert ist, in diesen Trieben, Instinkten, das Geistige wahr­zunehmen. Es gibt für ihn nichts als einen Trieb, als einen Instinkt, hinter dem nicht Geistiges steckt. Aber wenn im Menschen sich ein Instinkt, ein Trieb geltend macht, es mag meinetwillen etwas sehr bösartig Geistiges sein, was sich da geltend macht bei dem einen und bei dem anderen Menschen, aber selbst wenn es der brutalste Trieb ist, Geist ist es, der dahintersteckt. Nur kann der Mensch diesen Geist heute noch nicht fassen. Das Menschengeschiecht ist eben durchaus in Entwickelung begriffen. Es muß sich erst hinbewegen zu einer sol­chen Geistigkeit, daß wenn der Mensch in sich hineinschaut, und er seine Triebe, Instinkte, Begierden wahrnimmt, er in ihnen überall Geistiges wahrnimmt. Das wird er einmal in Zukunft tun. Dabei macht es gar keinen Unterschied, ob der Mensch etwa böse oder gute In­stinkte hat; es sind dann halt ahrimanische oder luziferische Geistig­keiten, die in ihm stecken, wenn es böse Instinkte sind, aber es sind Geistigkeiten.

Mit diesem Vorgeben, daß wir Triebe, Instinkte haben als die trei­benden Motoren im Menschen, ist es nämlich gar nicht anders, als es mit den Gespenstern in bezug auf die Geistigkeit von früher war. Sehen Sie, da war einmal in der Anschauung von dem Orientalen eine

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alte Geistigkeit vorhanden (siehe Zeichnung). Das hat sich weiterent­wickelt und ist als Endprodukt, also wie gesagt, in dem letzten Jahr-tausend vor dem Mysterium von Golgatha, zum Gespensterglauben, zum Gespensteranschauen geworden (siehe Zeichnung, blau).

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Jetzt stehen wir in der Weltentwickelung so drinnen, daß wir auf der einen Seite hinschauen, wie der Gespensterglaube aus einer alten Geistigkeit herausgekommen ist; aber wir schauen zu gleicher Zeit in der Perspektive nach einer Zukunft hinein; da wird einstmals wie­derum eine reine Anschauung kommen. Aber jetzt ist noch ein Ge­spensterglaube da, ein innerer Gespensterglaube. So wie der Gespen­stergläubige meint, die Gespenster seien sinnlich, schauen so aus, wie man mit dem Auge sieht, so sieht der heutige Mensch, der West-mensch, noch nicht die Geistigkeit, wenn er in sich selber hinein-schaut, sondern nimmt das Gespenstische wahr. Alle Triebe, Instinkte, Begierden, das sind Gespenster, die heute vorangehen einer Geistig­keit (rot); während die alten Gespenster nachgefolgt sind einer frühe­ren Geistigkeit (blau). Man kann also sagen: Vom Osten nach dem Westen entwickelte sich eine alte reine Geistigkeit; es folgt der Ge­spensterglaube im Laufe der Zeiten, und die Reste sind noch immer unter uns. Vom Westen herein gegen den Osten zu entwickelt sich, an uns herankommend und in einer fernen Zukunft sich realisierend, eine spätere Geistigkeit, die sich in ihren Anfängen zeigt durch etwas, was genauso gespenstig ist wie die alten Gespenster, nämiich Triebe,

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Instinkte, Begierden und so weiter, so wie sie der heutige Mensch ansieht. Der heutige Gelehrte muß aus der Anschauung heraus, die er hat, den Menschen Triebe, Instinkte, Begierden beilegen und sieht mit Verachtung auf den Gespensterglauben der großen Masse herab. Er weiß nicht, daß dieser Gespensterglaube der großen Masse genau ebensoviel Erkenntniswert und Erkenntniswesenheit hat wie sein Glaube an Begierden, Triebe und Instinkte. Er ist gespenstergläubig für die Gespenster des Anfangs, wie die große Masse gespenstergläu­big ist für die Gespenster des Endes. Und unsere europäische Zivi­lisation ist deshalb so chaotisch geworden, weil in ihr zusammen-stießen die alten Gespenster mit den neuen Gespenstern.

Ich habe das in einem Aphorismus der «West-Ost-Aphorismen», die Sie in der dieswöchigen Nummer des «Goetheanum» vorliegen haben, kurz charakterisiert, wie in der Tat die neuere Menschheit schon seit längerer Zeit auf der einen Seite berührt wurde von einer altvererbten orientalischen Geistigkeit, die zum Gespensterglauben sich verinnerlicht hatte, und auf der anderen Seite berührt wird von etwas jetzt Anfangendem, Keimendem, das aus dem Gespensterglau­ben an die Triebe, Instinkte und Begierden noch nicht entsinnlicht ist. Die Gespenster, die man gewöhnlich so nennt, sind durch die menschliche Organisation versinnlichte Geister, und die Triebe, In­stinkte, Begierden und Leidenschaften sind noch nicht bis zur Geistig­keit gebrachte, noch nicht entsinnlichte, auf die Zukunft hinweisende moderne Gespenster.

Das innere Seelenleben gerade des europäischen Menschen lebt in dieser besonderen chaotischen Form des Zusammenwirkens der alten und der neuen Gespenster, und es muß eine geistige Anschauung gefunden werden, welche über beides zur vollen Klarheit kommt. Nicht nur etwa das menschliche Weltanschauungsleben hängt mit diesen Dingen zusammen, sondern es hängt damit zusammen das uni­verselle menschliche Leben auf der Erde. Und wie sollte es auch anders sein, als daß nicht nur das geistige Leben, sondern auch das rechtliche, das juristische Leben, das staatliche Leben und das ökono­mische, das wirtschaftliche Leben damit zusammenhängen, da ja alle diese aus der besonderen Beschaffenheit des Menschen hervorgehen.

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Aber woher kommt denn diese ganze Entwickelung ? - Das müssen wir uns fragen. Die Götter, sagte ich, die göttlich-geistigen Wesenheiten, haben ihre irdischen Angelegenheiten im menschlichen Haupte. Wir unterscheiden ja den dreifachen Menschen, den Nerven-Sinnesmen­schen vorzugsweise im Haupte, den rhythmischen Menschen, der in der Mitte lebt, und den Stoffwechsel-Gliedmaßenmenschen, der in den Gliedmaßen und in den Fortsetzungen nach innen, in den eigent­lichen Stoffwechselorganen enthalten ist (siehe Zeichnung). Wir

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unterscheiden diesen dreigliedrigen Menschen, und wir wissen also jetzt, daß die Götter ihre irdischen Angelegenheiten während des Schlafzustandes auf der Erde durch die ältere Menschheit so geordnet haben, daß sie gewissermaßen ihre Werkstätte im Kopfe des Menschen aufschlugen, während der Mensch im Schlafzustand war. Was ist beim heutigen Menschen der Fall?

Auch beim heutigen Menschen schlagen die Götter ihre Werkstätte während des Schlafzustandes im Menschen auf, aber nicht mehr im Kopfe, sondern im Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus. Aber der Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus - das ist jetzt das Wesentliche, das Bedeutungsvolle - bleibt auch während des Wachens dem Menschen

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unbewußt. Denken Sie doch, wie oft ich es gesagt habe: Die Vorstellungen, in denen wacht der Mensch. Aber was da vorgeht, wenn ich die Vorstellung habe: ich werde meinen Arm heben, ich werde meine Hand bewegen, was dann da unten vorgeht, damit der Muskel wirklich diese Bewegnngen ausführt, das weiß der heutige Mensch und das normale Bewußtsein nicht. Es bleibt ihm dunkel dieses ganze Hineinwirken seines Vorstellungslebens in seinen Orga­nismus. Das führt zum unbewußten Leben auch während des Wach-zustandes. Die Götter haben also heute den Schauplatz ihres Wirkens auf der Erde so, daß der Mensch im Wachzustande zunächst durch seine eigene natürliche Entwickelung nicht die Erbschaft beim Auf­wachen übernehmen kann.

Es ist auch heute so, daß ein göttlich-geistiges Geschehen im Menschen vor sich geht vom Einschlafen bis zum Aufwachen, aber durch seinen natürlichen Zustand ist der Mensch nicht in der Lage, beim Aufwachen Eindrücke zu haben von dem, was die Götter getan haben. Der alte Mensch war einfach durch seine Organisation so be­schaffen, daß er sich mit seinen Gedanken inspiriert fühlte. Der heu­tige Mensch macht seine Gedanken. Aber in diese Tätigkeit wirken noch nicht die göttlich-geistigen Taten hinein. Das muß erst entwik­kelt werden in der Menschheit. Und das ist die Aufgabe, die sich, ich möchte sagen, als eine kosmische Aufgabe eben die Geisteswissen­schaft stellen muß. Sie muß den Menschen zu einer solchen Ent­wickelung bringen. Und auch das Erziehungswesen muß eingeschlos­sen werden in eine solche Entwickelung, so daß der Mensch mit vollem Bewußtsein die göttlich-geistigen Taten aus sich heraus er­kennen kann. Gleichzeitig damit wird es geschehen, daß er nicht mehr etwas sieht wie diese inneren Gespenster, denn wie man sich heute Triebe, Instinkte vorstellt, so sind das gegenüber dem wirklichen menschlichen Inneren eben geradeso Gespenster, wie man äußerlich Gespenster sieht. Die sind ja auch nicht bloße Einbildungen, son­dern sind göttlich-geistige Kräfte, die nur von den Sinnen versinn­licht werden und unrichtig, unwahr vorgestellt werden.

Ebenso werden aber auch die göttlich-geistigen Kräfte, die im Menschen wirken, unwahr vorgestellt, wenn sie im Sinne der heutigen

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Triebe, Instinkte vorgestellt werden. Das was man heute verachtet, sind die äußerlichen Gespenster. Das was man heute als eine Wissen­schaft ansieht, ist eben auch nichts anderes als Gespenster, nur inner­liche Gespenster, und der Mensch muß eben durchaus, ich möchte sagen, diese Umwandelung, die ihm durch die kosmische Entwicke­lung vorgezeichnet ist, mitmachen. Unsere ganze Kultur muß durch­drungen werden von Impulsen, die nach dieser Richtung gehen. Darin liegt eine Möglichkeit, aus Niedergangskräften - oder aus einem chaotischen Zusammenwirken von Niedergangs kräften mit Aufgangs­kräften, gegen die sich die Menschheit heute noch wehrt - heraus-zukommen und, vom Geistigen inspiriert und impulsiert, den mög­lichen Zukunftsentwickelungsstadien der Menschheit entgegenzuge­hen und in der Richtung nach diesen möglichen Zukunftsstadien der Menschheitsentwickelung vorwärtszukommen. Das ist es, worauf es ankommt.

Was ich Ihnen heute geben wollte, ist auch eine Art Ost-West-Betrachtung, nur mehr für das Esoterische, möchte ich sagen, geprägt. Diese Ost-West-Betrachtungen sind heute schon durchaus «zeit­gemäß», wobei ich das Wort nicht so trivial gebrauche, wie es viel­fach gebraucht wird, denn nur dadurch, daß solche Betrachtungen angestellt werden, kommt die Menschheit zu einem gewissen Bewußt­sein.

Man muß also sagen: Einstmals, in älteren Zeiten der Erdenent­wickelung, war der Mensch auch im Schlafe - denn er ist ja Mensch, auch während er schläft, wenn er seinen Leib äußerlich nicht mit sich herumträgt - in einem solchen Verhältnisse zu den Göttern, daß er sogar hinblicken konnte mit Seelenaugen, mit Geistesaugen, wie die Götter in seinem Haupte Wohnung nahmen. Dann blieb mehr oder weniger nur das Nachgefühl beim Aufwachen zurück. Der Mensch kam immer mehr und mehr heraus aus der göttlich-geistigen Welt, die er allerdings traumhaft wahrnahm, indem er nach dem Heraustauchen aus dem Leibe zurückschaute. Das war früher, später nahm er sie dann bei dem Hineintauchen in den Leib nur als eine Inspiration wahr.

Aber indem die Götter gewissermaßen weiter heruntergezogen sind in seine physische Gestalt, ist der Mensch jetzt in einen solchen

#SE212-173

Zusammenhang mit den Göttern einbezogen, daß diese sich in seinem Gliedmaßen-Stoffwechselorganismus ihre Werkstätte für das Erden-wesen ausgesucht haben. Dieses Erdenwesen aber verläßt der Mensch nicht vollständig im Schlafe. Und weil er es im Schlafe nicht voll­ständig verläßt, wird der Mensch wieder aus der Götterwelt heraus einen Impuls für seinen Willen, für sein soziales Wesen erleben kön­nen, aber nicht im Schlafe, sondern er muß so ihn als ganzer Mensch erleben auch während des Wachens. Das heißt, immer mehr und mehr muß der Mensch sich bewußt Erkenntisse der geistigen Welt aneig­nen. Das ist dasjenige, dem wir zusteuern müssen. Das wollte ich Ihnen als den Beitrag einer West-Ost-Betrachtung heute geben. Mor­gen will ich Ihnen dann von diesem West-Ost-Kongreß berichten, so wie er sich mir dargestellt hat.

HINWEISE

#G212-1978-SE175 - Menschliches Seelenleben und Geistesstreben ...

#TI

HINWEISE

#TX

Die Textgrundlage dieses Bandes bildeten die Vortragsnachschriften nach Stenogrammen von Frau Helene Finckh (1883-1960). Zur Prüfling einzelner Stellen wurden die Original-Stenogramme zum Vergleich herangezogen.

Folgende Vorträge wurden in Zeitschriften veröffentlicht:

29. April bis 7. Mai 1922: «Das Goetheanum» 7.Jahrgang, 1928, Nrn.44-51 und 8.Jahr-

gang, 1929, Nrn. 1-3, 5-11; sowie in «Blätter für Anthropo­

sophie» 8.Jahrgang, 1956, Nrn.7-11 und 9.Jahrgang, 1957,

Nrn. 1 und 2.

26. Mai 1922: «Nachrichtenblatt» 5. Jahrgang, 1928, Nrn. 32-35.

27. und 28. Mai 1922: «Das Goetheanum» 11. Jahrgang, 1932, Nrn. 7-10.

17. Juni1922: «Das Goetheanum» 20. Jahrgang, 1941, Nrn. 28-30.

Bei den in den Hinweisen angeführten Werken Rudolf Steiners, welche innerhalb der

Rudolf Steiner Gesamtausgabe erschienen sind, ist neben der Bibliographie-Nr. jeweils das

Erscheinungsjahr der letzten Auflage (GA 19..) angegeben. Siehe auch die Übersicht am

Schluß des Bandes.

zu Seite:

19 Rose von Schiras: Stadt im südlichen Iran, bekannt durch ihre Rosenzucht.

37 fohan« Friedrich Herbart, 1776-1842, Philosoph und Erzieher.

41 «... was man schwarz auf weiß besitzt...»: Goethe, «Faust» I, Osternacht.

46 Schon Goethe hat noch elementar unterschieden: Konnte bis jetzt nicht nachgewiesen

werden.

48 Lloyd George, 1863-1945, liberaler britischer Staatsn'ann, von 1916 bis 1922

Mini sterpräsident.

48 Georges Ckmenceau, 1841-1929, französischer Staatsmann, Ministerpräsident 1906

bis 1909 und 1917 bis 1920.

48 Otto, Fürst von Bismarck: Herzog von Lauenburg, 1815-1898, Kanzler des

Deutschen Reiches.

76 wenn wir im «Faust» haren: « Die Sonne ....... »: «Faust» I, Prolog.

90 um im Goetheschen Sinn' zu sprechen: « Man suche nur nichts hinter den Phänomenen,

sie selbst sind die Lehre». Vergleiche « Goethes Naturwissenschaftliche Schriften»,

herausgegeben und kommentiert von Rudolf Steiner in «Kürschners Deutsche

National-Litteratur», 5 Bände, Bibl.-Nr. la-e, fotomechanischer Nachdruck

Dornach 1975; Band V «Sprüche in Prosa», S.376.

92 Spektralanalyse: Methode des Nachweises von Stoffen (u.a. auf den Himmels­

körpern) durch das Lichtspektrum, entwickelt von Robert Wilhelm Bunsen

(1811-1899), deutscher Chemiker, und Gustav Robert Kirchhoff (1824-1887),

deutscher Physiker.

#SE212-176

Zu Seite:

92 Neovitalismus: Entwickelt von Hans Driesch (1867-1941), deutscher Biologe. Hauptwerk: Philosophie des Organischen, 2 Bde. 1909, 4. Aufl. 1930.

92 Psychoid: Begriff des Vitsllsmus für seelenattige Ganzheiten, auch von C. G. Jung als Bezeichnung für gewisse Seeienschichten verwendet.

105 Haeckelisch: Ernst Haeckel, 1834-1919, Naturwissenschafter. Begründer des Mo nismus, kämpfte für Darwins Abstammungslehre.

106 meiner mystischen Schriften: Siehe «Die Mystik im Aafgsnge des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weitanschauung», Bibl.-Nr. 7, GA 1960;« Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Alter­tums», Bibl.-Nr. 8, GA 1976.

135 Hexameter: Griechischer Vers aus sechs Daktylen.

135 Pentameter: Fünffüßiger Vers: zwei Daktylen - Hiatus - zwei Daktylen.

138 . .. der Mensch .. hat zwölf Sinne: Siebe u.a. «Anthroposophie, Psychosophie, Pneumatosophie», zwölf Vorträge, Berlin 23. Oktober 1909 bis 16. Dezember 1911, Bibl.-Nr. 115, GA 1965; ferner die Aufstellung über die Sinnesanordnungen Rudolf Steinen in «Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Heft 14 (1965),

5. 22i

156 Der zweite Teil des Vortrages schildert Verhältnisse in der anthroposophischen Bewegung und nimmt Stellung zu Presseäußerungen. Er wird in Bibli-Nr 255 veröffentlicht werden.

157 Wiener West-Ost-Kongreß: Dieser Kongreß wurde abgehalten in Wien vom

1.-12. Juni 1922 als Zweiter internationaler Kongreß der antroposophischen Bewegung und stellte den Höhepunkt der öffentlichen Wirksamkeit Rudolf Stel­nert dar. Siehe «Westliche und östliche Weitgegensitzlicbkeit», Zyklus von zehn Vorträgen, Bibl.-Nr. 83, GA in Vorbereitung.

159 Sokrates, um 470-399 v.Chr, athenischer Philosoph.

163 ... was ich zum Beispiel ... schon frsher a>'gefi1920 in Dornach, erschienen als Einzelheft unter dem Titel «Anthroposophie und gegenwärtige Wissenschaften. Methodologische, der naturwissenschaftlicben Welt­anschauung», Dornach 1950, S. 27ff. und 32 ff. (geplant für Bibl.-Nr. 334).

166 Wladimir Solowjow> 1835-1900, russischer Philosoph.

167 Thomas Carlyle, 1795-1881, englischer Kultutphilosopb und Historiker. Der Aus­spruch, der Carlyle nachgesprochen wurde, konnte noch nicht nachgewiesen werden.

169 West-Ost-Aphorismen: In «Der Goetheanum.Gedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1921-1925», Bibl.-Nr. 36, GA 1961; Einzel-ausgabe Dornach 1971.

173 Morgen will ich Ihnen dann von diesem West-Ost-Kongreß berichten: Vergleiche Hinweis zu S.157. Der Bericht wird in Bibl.-Nr. 255 veröffentlicht werden.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.