GA 211

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INHALT

  1. G211,1986,SE000 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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RUDOLF STEINER Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung Exoterisches und esoterisches Christentum Zwölf Vorträge, gehalten 1922 in verschiedenen Städten 1986 RUDOLF STEINER VERLAG DORNACH / SCHWEIZ Nach vom Vortragenden nicht durchgesehenen Nachschriften herausgegeben von der Rudolf Steiner.Nachlaßverwaltung Die Herausgabe besorgte Robert Friedenthal

1. Auflage in dieser Zusammenstellung Gesamrausgabe Dornach 1963 2. Auflage (photomechanischer Nachdruck) Gesamtausgabe Dornach I986 Einzelausgaben und Ahdrucke in zeitschriften siehe Seite 219

Bibliographie-Nr. 211 Einbandzeichnung von Assja Turgenieff zeichnungen im Text nach Tafelzeichnungen von Rudolf Steiner, ausgeführt von Assja Turgenieff #+ Alle Rechte bei der Rudolf Steiner.Nachlaßverwaltung, Dornach / Schweiz

  1. c 1963 by Rudolf Steiner.Nachlaßverwaltung, Dornach/Schweiz

Printed in Switzerland by Zbinden, Basel lSBN 3-7274-2110-X eine Weltanschauung: Begegnung mit Herder, Reise nach Italien. Niobegruppe und Laokoongruppe. Lessing über Laokoon. Goethe und Shakespeare. Hamlet.

Dornach, 1. April 1922 92 Die Erkundung und Formulierung des Weltenwortes in der Ein- und Ausatmung Veränderung des Ein- und Ausatmungsprozesses in der Neuzeit. Das Haupt als Abbild des Kosmos; die die Erde umkreisenden Strömungen im Brustorganismus; Wirken der Erdkräfte in den Gliedmaßen. Das Geheimnis des AUM. Mauthners «Kritik der Sprache». Dornach, 2. April 1922 104 Exoterisches und esoterisches Christentum Der Auferstandene. In ältesten Zeiten kein Tod. Effahrung des Todes mit der Entwicklung des Intellekts. Ahrirrian als Bringer sowohl des Todes als auch des Intel!ektes. Entsendung des Christus, um Alirimans Macht einzuschränken. AIirimans Einfluß auf das menschliche Bewußtsein. Das Mysterium von Golgatha als Ausdruck eines Kampfes unter Göttern. Die Lehren des Auferstandenen an seine Schüler. Das Damaskus-Erlebnis des Paulus.

Den Haag, 13. April 1922 123 Die Lehren des Auferstandenen Das Mysterium von Golgatha. Vertretung des Anthroposophie vor der Öffentlichkeit und die Arbeit in den Zweigen. Die der Menschheit an ihrem Ursprung offenbarte Urweisheit. Zunehmendes Verblassen des traurnhanen Hellsehens bis zum Mysterium von Golgatha, gleichzeitig zunehmendes Erleben von Geburt und Tod. Es ist Aufgabe des Christentums, den Görtern Kenntnis von Geburt und Tod zu vermitteln. Christi Auferstehung. Das Damaskus-Erlebnis des Paulus. Die Lehre des Auferstandenen. Die Bedeuwng der katholischen Messe.

London, 14. April 1922 141 Erkenntnis und Initiation Anthroposophie ist eine Initiationswissenschaft, die von der Naturwissenschaft ausgeht. Streben der Anthroposophie nach exaktem Hellsehen durch Ausbildung der Grundkräfte des Seelenlebens: des Denkens, Fühlens und Wollens. Die Ergebnisse der übersinnlichen Erkenntnis können n,it dem gesunden Menschenverstand begriffen werden. Erkennen des Seelisch-Geistigen des Weltalls wie des Menschen als Aufgabe der Anthroposophie.

London, 15.April l922 159 Erkenntnis des Christus durch Anthroposophie «ExakLe Ciairvoyance» als Grundlage der modernen Initiationswissenschaft. Das Goetheanum in Dornach, seine Architektur und Malerei. Die Wald, in Stuttgart. Imagination und Inspitation. Die Gedanken- kraft als schnam des Geistig.Seelischen. Das Paulus-Wort «Nicht ich, der Chrisws in mir». Die Bedeutung des Mysteriums von Golgatha für die Retwng dcs erstarkten Ich vor dem Sterben des Geistig.Seelischen zusammen mit dem Leiblichen. Das Mysterium der Geburt. Die «Ungeborenheit>. Nicht-Wissen der Götter vom Tode. Wiederbelebung des Christenrums und die Auferstehung des religiösen Lebens durch die Anthroposophie. London,24.April1922 179 Die dreifache Sonne und der auferstandene Christus Gefahren des Ahrimanischen in der Gegenwart. Die MenschheitsentwickIung von der urpersischen Zeit bis zu den Griechen: Zarathustra, Ositis, Zeus. Die dreifache 5onne in der griechischen und römischen Kultur. Julian Apostata. Durch das Mysterium öyon Gölgatha ist das dreifache Sonnenwesen auf die Erde gekommen. Altere Mysterien: Geheimnis der Geburt; der auferstandene Christus: Geheimnis des Todes. Die Verbindung der christlichen Impulse mit dem «antigeistigen» Römertum. Die moderne Wissenschaft als Grundlage der Freiheit. Kardinal Newman, sein geistiger Hintergrund, sein Leben und sein Streben. Ahrimans Überwindung durch Losreißen des Denkens von der Gebundenheit an das Gehirn. Wien,11.Junil922 195 Anthroposophie als ein Streben nach Durchchristung der Welt Fsoterischer Charakter der anthroposophischen Bewegung. Notwendige Auseinandersetzung mit der Wissenschaft. Kluft zwischen Esoterik und Exoterik. Die Ausbildung des menschlichen Intellekts. Ahrimanische Kräfte im Narurdasein. Das zukünftige lichte Zeitalter. Die verschiedenen Arten von Elementarwesen und ihr Verhä!tnis zu Luzffer und Ahriman. Der Rosenkreuzer.Spruch.

Hinweise 219 Rudolf Steiner über die Vortragsnachschriften 223 DAS MENSCHLICHE SEELENLEBEN IN SCHLAFEN, WACHEN UND TRÄUMEN Bern, 21. März 1922

  1. G211-1986-SE009 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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DAS MENSCHLICHE SEELENLEBEN IN SCHLAFEN, WACHEN UND TRÄUMEN Bern, 21. März 1922

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Wir können als Menschen von den eigentlichen tieferen Seelenrätseln doch nur wissen, wenn wir das Gesamterleben des Menschen ins Auge fassen. Dieses Gesamterleben des Menschen gliedert sich ja in der Zeit, in der der Mensch seine Erdenlaufbahn durchmacht, in das Leben zwischen dem Aufwachen und dem Einschlafen, also in den gewöhnlichen wachen Tageszustand und das Leben zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen, jenes Leben, das der Mensch zubringt in einem dunklen Bewußtseinszustande, aus dem zunächst für das gewöhnliche Bewußtsein nur heraufschlagen die Wellen des Traumlebens. Es handelt sich nun darum, daß man gerade diesen Wechselzustand von Schlafen und Wachen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus, von denen er sich betrachten läßt, auch wirklich ins Auge faßt. Wenn wir ausgehen von der gewöhnlichen Lebensbetrachtung, so können wir sagen: Es zeigt sich eben in dem Traumzustand ein Übergang vom Wachen in das Schlafen. Und prüfen wir den Verlauf des Traumlebens, so müssen wir einen bedeutsamen Unterschied machen zwischen dem Bildinhalte, sozusagen dem Vorstellungsinhalte des Träumens, und dem Verlauf des Träumens. Auch darauf habe ich ja öfters aufmerksam gemacht.

Wir können dem Inhalte nach dieses oder jenes träumen. Wir müssen aber auch sehen, wie der innere Gang des Traumes ist, sagen wir, daß er mit einer gewissen Dramatik sich abspielt, daß wir gewissermaßen eine Art von Spannungszustand zunächst haben im Traume,der immer größer oder stärker und stärker wird, und daß dann eine gewisse Lösung kommt, oder auch daß sich eine solche Lösung zuletzt nicht ergibt, sondern aus der Spannung heraus das Aufwachen erfolgt. Wir müssen diesen dramatischen Vorgang unterscheiden von dem eigentlichen Inhalt des Träumens. Sagen wir zum Beispiel, wir träumten, wir machen einen Weg.

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Wir kommen an eine Bergeshöhle. Wir betreten die Bergeshöhle. Es wird uns immer unheimlicher und unheimlicher, weil es finsterer und finsterer wird. Endlich überfällt uns ein richtiger Angstzustand, und dann kommen wir, trotzdem wir wissen, wir müssen weitergehen, an irgendein Hindernis. Der Angstzustand wird immer größer und größer. Wir sehen, wie sich eine Spannung aufbaut. Der Inhalt, der Vorstellungsinhalt des Traumes ist aber etwas ganz anderes. Wir können zum Beispiel auch folgendes träumen: Wir sehen in der Ferne irgend etwas heranko~men, was uns bedroht. Es kommt immer näher und näher, immer klarer und klarer werden uns die einzelnen Details, und damit wächst unsere Angstlichkeit, entlädt sich zuletzt in einem mächtigen Angstzustand. In bezug auf die Dramatik des Traumes ist in beiden Fällen dasselbe vorliegend: Dasjenige, was innerlich sich als Spannung aufbaut. Die Bilder, in welche sich vorstellungsgemäß der Traum einkleidet, sind etwas davon Verschiedenes. Nun werden wir, wenn wir weiter gehen, wenigstens für das meiste im Traumleben oftmals finden, daß dieses Vorstellungsgemäße des Träumens doch in irgendeiner Form herausgenommen ist aus den Erlebnissen in unserem Erdendasein. Gewiß, manches kann umgewandelt sein, manches kann sehr maskiert zum Vorschein kommen, aber wir werden in irgendeiner Weise dennoch verstehen können, wie Erdenverhältnisse, die wir durchlebt haben, sich als Bilder in den Traum hereinbegeben. Was liegt denn bei einem solchen Träumen, sagen wir, wenn es ein Träumen im Aufwachen ist, eigentlich vor? Nun, wir sind ja in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit unserem seelisch- geistigen Teil - wir nennen es auch den astralischen Leib und das Ich - außer unserem physischen Leib und dem Ätherleib. Wir verweilen mit unserem Ich und unserem astralischen Leib in dieser Welt,in der wir zunächst, so wie unser Bewußtsein im Erdendasein ist, nicht wahrnehmen können, weil der Astralleib und das Ich, in dem wir sind, eben etwas Unbestimmtes ist, seine Organe zur Wahrnehmung nicht ausgebildet hat. Aber deshalb geht doch fortwährend in dem, was im Schlafe außer dem physischen Leibe ist, etwas vor. Während der ganzen Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen

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geht eigentlich ein reicheres Leben in dem astralischen Leib und in dem Ich vor sich als während des Tagwachens. Wir können es nur nicht gewahr werden. Und dasjenige, was sich im Traume als Spannungszustände, als Entladungszustände, als Angst, vielleicht auch als Zorn, Wut und so weiter - das alles kann ja in den Traum hineinspielen - in die verschiedensten Bilder kleiden kann, das geht vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit uns vor. Wir leben eben in diesen außerleiblichen Zuständen in einer Welt, an deren Bewegungen wir teilnehmen, gerade so, wie wir an den Vorgängen der physischen Außenwelt während desTagwachens durch unsere Sinne teilnehmen. Wenn wir nun beim Aufwachen mit unserem Seelisch-Geistigen, also mit dem astralischen Leib und dem Ich, zurückkehren in unseren physischen Leib, da ergreifen wir die Organe unseres physischen Leibes. Wir senken uns in diese Organe ein. In diesem Augenblicke werden wir wiederum fähig, eine Außenwelt wahrzunehmen, die Außenwelt der Naturreiche, Mineralien, Pflanzen, Tiere, des physischen Menschen. Diese Organe, die der physische Leib in sich gliedert, die durchsetzen wir mit unserer Seele. Dadurch stehen wir in Beziehung zu dieser Außenwelt. Wenn wir nun aber nicht gleich vollständig untertauchen in unseren physischen Leib, sondern wenn wir einen Augenblick, ehe wir den ganzen physischen Leib ergreifen, den Ätherleib durchsetzen, dann kommen uns aus diesem Ätherleibe die Kräfte, welche die Bilder des Traumes formen. Diese Bilder trägt den Kräften nach der Atherleib in sich. Es sind Lebensreminiszenzen, Lebenserinnerungen. Wenn wir beim Einschlafen träumen, kann es sein, daß wir unseren physischen Leib verlassen und durch irgendwelche Abnormität nicht gleich den Ätherleib verlassen. Dann leben wir ebenso, bevor wir in die völlige Bewußtlosigkeit hineingehen, in den Bildern des Atherleilees. Aber schon beginnt jenes Gewoge des astralischen Leibes und des Ich, das sich vollzieht während des Zustandes zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Wir müssen also durchaus trennen die Bilder, die der Traum enthält, und den dynamischen, den Kraftverlauf des Traumes, die Dramatik des Traumes. Die beiden müssen wir streng voneinander trennen. Und wenn wir in die Lage

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kommen, durch Seelenübungen diese Trennung, wie ich Ihnen gerade theoretisch geschildert habe, auch praktisch auszuführen, wenn man in die Lage kommt, seinen astralischen Leib und sein Ich durch Übungen so stark zu machen, daß man nicht passiv hinunterschlüpft in den Ätherleib und dann in den physischen Leib, sondern wenn man lernt, sich jetzt außerhalb des Leibes des allgemeinen Weltenäthers zu bedienen, dann kommt man zu Wahrnehmungen, die man sonst eben nicht haben kann. Der Äther, der abgesondert ist und unseren Atherleib bildet, ist ja nur ein Teil des allgemeinen Weltenäthers. Überall ist Äther. Wir gliedern von dem allgemeinen Äther einige Zeit vor unserer Geburt dasjenige ab, was unser Ätherleib wird; den tragen wir dann zwischen Geburt und Tod in uns. Der allgemeine Weltenäther bleibt unwahrnehmbar. Er wird nur wahrnehmbar, wenn wir in die Lage kommen, unseren astralischen Leib und unser Ich so zu verstärken, daß wir sie außerhalb des physischen Leibes, auch wenn wir nicht schlafen, halten können, daß wir aber nicht bloß solche Traumeindrücke bekommen, wie wir sie eben beim Einschlafen und sonst für das gewöhnliche Bewußtsein haben, sondern daß wir im äußerlichen Ätherischen wahrnehmen können. Dann liegt folgendes vor: Ausgebreitet ist um uns die physische Welt. Die geht uns zunächst nichts an. Sie bleibt für uns vorhanden, wenn wir richtige Übungen machen, wie Erinnerungen vorhanden bleiben. Wir überschauen sie, wir treten nicht aus ihr heraus wie der Halluzinierende, aber sie geht uns zunächst nichts an. Wir haben verstärkt unseren Astralleib und unser Ich. Wir nehmen dadurch wahr, was sich in der Äther- weIt, nicht in der physischen Welt abspielt. Und was sich nun in der Ätherwelt abspielt, das heißt, was nun wahrnehmbar wird für uns, das ist tatsächlich nichts anderes, als was Sie finden, natürlich immer teilweise nur, der Art nach wenigstens dargestellt, in meinem Buch « Geheimwissenschaft». Das ist so gesehen, daß man es schaut mit dem verstärkten astralischen Leib und Ich, die aber jetzt, statt daß sie sich der Augen, der Ohren bedienen, um physisch wahrzunehmen außer dem Leibe, eben ätherisch wahrnehmen. Dieses Ätherische stellt sich in solchen Bildern

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dar, die man dann eben so schildern kann, wie ich es in meiner «Geheimwissenschaft» geschildert habe. Ich möchte also sagen: Wenn man in der Lage ist, den astralischen Leib und das Ich in den leibfreien Zustand zu bringen, wie sie sonst ja jede Nacht im Schlafe auch sind, wenn man sie aber durch Übungen so verstärkt hat, daß man im Weltenäther wahrnimmt, so hat man zunächst die Welt in Imaginationen, in Bildern vor sich. Dasjenige, was man sonst nur als einen kleinen Teil der Welt im Physischen sieht, ist da so erweitert, daß man zu dem Erdendasein das Saturn-, Sonnen-, Mondendasein und so weiter darstellen kann. Das ist zunächst das erste, was möglich ist, von der Welt des Übersinnlichen wahrzunehmen. Nun aber liegt in dem überhaupt alles dasjenige, was Inhalt der imaginativen Welt werden kann. Wir kommen schon aus der Ätherwelt hinaus, wenn wir durch das, was ich schildere als leeres Bewußtsein, nun nicht mehr in Imaginationen, die da kommen, bloß leben, sondern wenn wir lernen, die Imaginationen nun auch wiederum zu vertreiben, wenn wir also in die Lage kommen, sowohl, sagen wir, eine Imagination in der Seele aufzunehmen, wie auch sie fallen zu lassen. Dadurch stellt sich ein seelischer Zustand ein, der mit vollständiger Willkür zu beherrschen ist, ein seelischer Zustand, der im Bilde lebt, dann wiederum das Bild unterdrückt, wieder im Bilde lebt, das Bild unterdrückt. Das ist der Zustand des inspirierten Erlebens der Welt. Da erlebt man aber eine Welt, die auch sonst dem Menschen nicht ganz fern liegt. Er durch lebt sie jede Nacht im traumlosen Schlafe. Er ist nur nicht in der Lage, was in ihr spielt, mit seinem Bewußtsein zu erfassen. In dieser Welt nimmt man nun nicht bloß Bilder wahr, sondern indem die Bilder auffluten, abfluten, entstehen, vergehen, indem auch im aufflutenden Bilde es still wird, im abflutenden Bilde 'dafür eine Art innerlichen Tönens erscheint, so daß die Welt auch in bezug auf die Wahrnehmungen mannigfaltig wird, nehmen wir in dieser inspirierten Welt schon wahr, wenn ich so sagen darf, die Handlungen, die Taten von wirklichen geistigen Wesenheiten. Bei einer solchen Schilderung, wie ich sie in der «Geheimwissenschaft» gegeben

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habe, läßt man ja schon hineinspielen diese Taten von geistigen Wesenheiten, obwohl im wesentlichen dort eben die Bilder des Weltenwerdens gegeben sind. Es ist aber hingewiesen auf die Wesen der höheren Hierarchien, Angeloi, Archangeloi und so weiter, welche einem in diesem Weltengewoge von entstehenden und vergehenden Imaginationen erscheinen. Ich möchte sagen, auf den Wellen, die man da erlebt im inspirierten Leben, weben zu gleicher Zeit diejenigen Wesenheiten> die die Wesenheiten der höheren Hierarchien sind. Jetzt merkt man, wie das eigene Dasein, aber jener Teil des Daseins,der eben nur eigentlich frei wird in der Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen während des physischen Erdenlebens, wie dieser wesenhafte Teil des Menschen eingegliedert ist in eine Welt übersinnlicher Wesenhaftigkeiten. Wir sind ja in der Tat zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen durchaus Angehörige dieser Welt. Als Seelen bewegen wir uns zwischen Wesenheiten. Beim imaginativen Bewußtsein ist es so, daß man eigentlich nur eine Anschauung hat von dem, was diese Wesen tun. Ich möchte sagen, die erste Stufe des übersinnlichen Bewußtseins stellt sich so dar, daß diese Wesen uns gewissermaßen ihre Bilder entwerfen. Das sind die Imaginationen. Dann kommt man dazu, daß einem nicht nur Bilder entgegengeworfen werden, sondern daß Bilder aufsteigen, abfluten> und in diesem Aufsteigen und Abfluten vollziehen sich die Taten der Wesenheiten. Aber wir sind selber darinnen jetzt in dieser Welt von geschehender Geistigkeit. Wir sind da, wenn das Bewußtsein durchschlägt, durchaus in einem Zustande, in dem wir so leib frei sind wie sonst für das gewöhnliche Bewußtsein im traumlosen Schlaf, wir sind tatsächlich angehörig einer solchen Welt, in der geistige Taten geschehen. Diese Welt, in der geistige Taten geschehen, in die wir selber einverwoben sind, macht uns eben dasjenige klar, aus dem wir herauskommen, wenn wir zur Geburt hin auf die Erde eilen, um wiederum ein Erdendasein zu beginnen, nachdem wir eine Zeitlang in der geistig-seelischen Welt gelebt haben. Es ist im Grunde genommen der Antritt des Erdendaseins bei der Geburt das Auslöschen dieser Welt. Der Mensch kehrt ja jedesmal beim Einschlafen in diese Welt zurück, aber es ist die innere Aktivität

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des Astralischen und des Ich in ihm so schwach geworden im Laufe des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, daß er genötigt ist, den tiefsten Wunsch, die tiefste Sehnsucht zu haben, daß ihm etwas zu Hilfe kommt, denn er würde im geistigen Nichtstun ersterben müssen, wenn die Geburt wiederum heranrückt und ihm nicht etwas zu Hilfe kommen würde. Nehmen wir also an, der Mensch hat sich hindurchentwickelt vom Tode an durch die geistigen Geschehnisse hindurch. Anfangs ist sein Bewußtsein sehr lebendig, erinnert sogar in den ersten Zeiten an das Erdenbewußtsein. Dann steigt er immer mehr und mehr auf, indem sein Bewußtsein eben teilnimmt an den geistigen Taten. Aber dieses Bewußtsein schwächt sich dann später ab. Der Mensch kommt, wenn die Zeit für eine Erdengeburt wiederum herannaht, in einen Zustand als seelisches Wesen, der sich nur vergleichen läßt, wenn wir ihn durch etwas, was auf der Erde da ist, charakterisieren wollen, mit jemandem, der beginnt an Gedächtnisschwund zu leiden, der also gewissermaßen schnappt nach seinen Erinnerungen und sie nicht finden kann. So schnappt der Mensch, wenn das Erdenleben wiederum herankommt, nach Realität, nach Erfülltsein mit Realität. Denn stark ist in diesem Momente sein Gefühls-, sein Willensleben, aber die Vorstellungen sind dumpf, er kommt zu keinem inneren Inhalte. Er schnappt gewissermaßen nach den Vorstellungen, die immer dumpfer und dumpfer werden, während der Wille immer mächtiger und mächtiger wird. Und dieser Wunsch, der treibt ihn nun zu der Erdenverkörperung hin, zu einem Erdenorganismus, der ihm durch die Vererbungsströmung gegeben wird. Den kann er jetzt als Werkzeug gebrauchen, der gibt ihm die Möglichkeit, wiederum zu denken, allerdings jetzt nur zu denken über eine physische Außenwelt, aber doch das Vorstellungsleben wiederum zu entfalten, das dumpf geworden ist. Durch diesen Wunsch also, wiederum denken zu können, kommt der Mensch in die physische Erdenverkörperung herein. Und da geht er durch den Schlafzustand durch, in dem er sich langsam dazu entwickelt, nun auch als geistigseelisches Wesen wiederum leben zu können, wenn er durch die Todespforte durchgeht, und eben den Kreislauf aufs neue zu beginnen. Was man nunmehr erfährt, indem man sich im leibfreien Zustand

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erhebt zu dieser Wahrnehmung der Welt, die einem sich in Inspiration ergibt, das ist das ganze Geheimnis eben von dem, wie der Mensch lebt in einer übersinnlichen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt: wie diese übersinnliche Welt wirklich ist. Einiges davon, wie der Mensch wiederum hinkommt zu einer Erdenverkörperung, habe ich ja geschildert in dem Wiener Zyklus von 1914, «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt,. Steigt man jetzt noch weiter auf, dann ergibt sich einem dasjenige> wovon eigentlich im gewöhnlichen Bewußtsein von den Menschen nichts gewußt wird. Wir haben im Wachzustand drei deutlich voneinander unterschiedene Seelenzustände: Denken, Fühlen, Wollen. Wir haben auch drei solche Zustände im Schlafen. Aber es wird gewöhnlich nur zwischen den zweien unterschieden, demjenigen, wo der Schlaf so dünn wird, möchte ich sagen, daß wir träumen können, dem leisesten Schlaf, und dem traumlosen Schlaf. Aber die wenigsten Menschen wissen, daß man, wenn man den leisen Schlaf der Träume vergleichen kann mit dem Denken des Wachens, und den traumlosen Schlaf mit dem Fühlen des Wachens, daß es dann noch zu einem Tiefschlaf kommt. Es wird eben verschlafen dieser Unterschied zwischen dem mittleren Schlafzustand und jenem Tiefschlaf, der sich dann mit dem Wollen des Wachzustands vergleichen läßt. Aber diesen Tiefschlafzustand gibt es auch. Manche Menschen werden ganz gewiß dazu kommen, wenigstens im Aufwachen einen gewissen Unterschied zu bemerken. Es kommt ja durchaus vor, daß der Mensch solche Nächte durchmacht, in denen er nur die zwei Schlafzustände absolviert, in denen er nur erlebt den Traumschlaf und den traumlosen Schlaf, aber nicht den tieferen Schlaf> der sich deutlich von dem bloßen traumlosen Schlaf unterscheidet. Im Aufwachen, sagte ich, werden manche Menschen schon bemerken, wenn sie manchmal aus dem Schlafe auftauchen, indem sie sich ganz wie erneut fühlen, daß sie schon aus tieferen Wesenheitsregionen heraufgehen, als das sonst der Fall ist. Es ist nötig> diesen Unterschied anzugeben, der, wie gesagt, im gewöhnlichen Bewußtsein nicht berücksichtigt wird. Das ist so: Wenn wir im Traumschlafe sind, dann leben wir eigentlich in einer Welt - wir sind ja außerhalb unseres

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physischen und unseres Ätherleibes -, welche durchaus sich vergleichen Iäßt mit jener Welt, die sich sonst unsichtbar abspielt in der Erdenumgebung, da, wo die Blüten der Pflanzen sich entfalten, in Wechselwirkung treten mit dem Sonnenlichte. Dieses Weben und Leben der blühenden Pflanzen, das entgeht ja dem gewöhnlichen Bewußtsein. Aber in diese Welt - es ist ja diejenige Welt, die am nächsten angrenzt an die gewöhnliche Tageswelt - taucht der Mensch zuerst unter. Sie ist ja auch wiederum überall, und indem er untertaucht in diese Welt, lebt er im Traumschlafe. Der tiefere, traumlose Schlaf ist dann der, in welchem der Mensch untertaucht in eine Welt, die um uns herum im Innern der Pflanzen sein würde. Wir sind durchaus in einer solchen Welt, wenn wir traumlos schlafen, wie wir wären, wenn wir als Geister in das Innere der Pflanzen kriechen könnten. Wenn wir aber in jenem tieferen Schlafe sind, der ein dritter Schlafzustand ist, dann sind wir vollständig untergetaucht in das mineralische Reich. Dann gehen auch die mineralischen Prozesse - die frühere Alchimie hat sie die Versalzungsprozesse genannt - im menschlichen Organismus am stärksten vor sich. Dann ist gewissermaßen der Mensch nicht nur dem pflanzlichen Sein, s`ondern er ist dem mineralischen Sein hingegeben. Dem, der bewußt eintreten kann in diese Welt, in der der Mensch sonst in diesem tiefsten Schlafzustande ist, wird wirklich klar, was im Innern der Mineralien lebt. Und wenn der Mensch in einer Welt lebt, wie die ist im Innern der Mineralien, ist ihm so, wie wenn er, während er sonst immer ein Mineral von außen anschaut, es nun von innen anschaut. Sie werden nachfühlen, daß das gesagt sein wollte in einer gewissen Schilderung des Geisterlandes in meiner «Theosophie». In dieser Schilderung des Geisterlandes werden Sie durchaus diese Umkehrng finden. Und indem der Mensch sich in diese Umkehrung hineinlebt, lebt er sich in diejenige Welt hinein, in welcher er Anteil nehmen kann nicht nur an den Taten der höheren Hierarchien, sondern an den Wesen der höheren Hierarchien, wo er die Wesen der höheren Hierarchien so kennenlernen kann, wie er hier Menschen ihren Seeleneigenschaften nach in der physischen Welt wahrnimmt. Da sind wir

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nicht mehr in der inspirierten Welt, da sind wir in der Welt der Intuition. Da geben wir uns nicht nur den Handlungen, den Geisthandlungen der geistigen Wesenheiten hin, sondern dem Wesen dieser Wesenheiten selber. Dann sind wir aber auch in derjenigen Welt, in welcher für uns das KarmaTatsächlichkeit wird. Der Mensch würde jedesmal, wenn er in diesen dritten Schlafzustand kommt, wenn er plötzlich bewußt werden könnte> sein Karma wahrnehmen. Er würde wahrnehmen, wie die verflossenen Erdenleben in das gegenwärtige Erdenleben hereinspielen. Der Mensch erlebt sein Karma im Tiefschlafe, und er trägt auch die Ergebnisse dieses Erlebnisses herein in den physischen Leib. Aber der physische Leib ist nicht geeignet zum Wahrnehmen von etwas Derartigem. Er hat dazu zunächst keine Organe. So, wie er die Augen zum Schauen nach außen, die Ohren zum Hören nach außen entwickelt, so müßte er nach innen Wahrnehmungsorgane entwickeln. Diese Wahrnehmungsorgane nach innen würden ihn aber, wenn er sie entwickeln würde, wenn er also körperlich nach innen schauen müßte, töten> denn der menschliche Organismus kann nicht leben, wenn er die Kräfte, die zur Bildung der Sinnesorgane führen, nach innen schickt. Würde er sie nach innen schicken, so würde er gewissermaßen mit physischen Organen sein Karma sehen können. Man kann es nur mit geistigen Organen sehen, eben im intuitiven Erkennen. Aber wir sehen daraus, daß der Mensch während seines Erdenlebens sowohl in denjenigen Kräften lebt, welche seine Umgebung bilden in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, die in ihm arbeiten, um ihn dann in einen physischen Erdenleib einzugliedern, wie er auch in derjenigen Welt lebt, in der sich von Erdenleben zu Erden- leben sein Schicksal abspielt. Dieses Schicksal wird uns für das gewöhnliche Bewußtsein zugehüllt, weil eben der Mensch, wenn er unvorbereitet dieses sein Schicksal wahrnehmen würde, in einen ganz besonderen Zustand kommen würde. Wenn der Mensch sein Schicksal wahrnehmen könnte, ohne daß er dazu Übungen macht - es kann ja nicht eintreten, aber ich will es hypothetisch voraussetzen -, so würde aus dieser Wahrnehmbarkeit sogleich in ihm der Wunsch entstehen, gewissermaßen nach innen hin

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wahrnehmende Organe auszubilden. Er würde gewissermaßen Augen und Ohren, die nach innen sehen und hören, ausbilden wollen. Das würde aber Kräfte bedeuten für seinen Organismus. Er würde nicht nur aufwachen so, wie er jetzt aufwacht, sondern er würde sich aus dem Schlafe die Kräfte mitbringen, seinen Organismus nach innen um zubilden. Das heißt, er würde seinen Organismus töten. Der menschliche Organismus ist eben so eingerichtet, daß das Geistig-Seelische, der Astralleib und das Ich, nur für einen Augenblick untertauchen können in den Ätherleib; dann müssen sie sogleich unter- tauchen in den physischen Leib, nachdem durch das Untertauchen in den Ätherleib Traumbilder aufgestiegen sind. Aber auch da muß gleich der Ätherleib hergeben das, was Inhalt der Bilder ist. Da kann der Mensch nicht hereinnehmen dasjenige, was er sonst draußen erlebt. Dann muß er untertauchen in seinen physischen Leib, den er so lassen muß, wie der physische Leib ist, dem er sich hingeben muß, indem er sich entschlossen hat, ihn zu gebrauchen, als er heruntergestiegen ist aus der geistig-seelischen Welt, eben um sich eines physischen Leibes und seiner Organe zu bedienen. Dasjenige, was da jenseits der Schwelle liegt, was unwahrnehmbar ist, aber doch durchlebt wird, das ist im gewissen Sinne durchaus ein Abglanz desjenigen, was wir durchmachen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Durch eine solche Betrachtung ergibt sich erst das Bild des vollständigen Menschen. Und es ergibt sich zu gleicher Zeit, daß der Mensch, so wie er im physischen Erdenleben wachend ist, geistig ein so schwaches Wesen ist, daß er im dumpfen Schlafe durch die Welt strömen würde, wenn ich so sagen darf, ohne irgend etwas wahrzunehmen, wenn er sich nicht seines physischen Leibes bediente, um wahrzunehmen. Der Mensch kann zwischen Geburt und Tod eigentlich nur so angesehen werden, daß sein Seelisches in einem dumpfen Zustande lebt und erst sich innerlich selbst erhellt, wenn es sich des Leibes bedient. Das ist die relative Berechtigung des Materialismus, der durchaus relativ berechtigt ist für das Erdenleben, denn dasjenige, was eigentlich geistig-seelisch ist, bleibt für das Erden leben dumpf. Nun können wir fragen: Gibt es vielleicht eine Möglichkeit, noch etwas schärfer hinzuschauen auf dasjenige, was da als Geistig-Seelisches

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lebt und teilnimmt an der Welt, wie ich sie Ihnen beschrieben habe, teilnimmt an einer Welt flutender Bilder, abglänzender, ab- und auftönender, abtönender und wiederaufglänzender Bilder, in die sich aber auch - Sie kennen das aus meiner Beschreibung in der «Geheim- wissenschaft» - hineinmischt, was sich mit Geschmackswahrnehmungen und so weiter vergleichen läßt in der physischen Welt. In dieser Welt lebt der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Aus dieser Welt heraus kann ihm auch die Kunde werden, wenn das Bewußtsein in ihm verstärkt wird, wie sein Karma liegt, wie sein Schicksal ist, wie es sich abspielt von Erdenleben zu Erdenleben. Aber wie man genauer in diese Welt hineinsehen kann, das kann man bemerken> wenn man zunächst auf diejenigen Wesen hinschaut, die im Erdenleben im wesentlichen den astralischen Leib, nicht ein ausgesprochenes Ich im Erdenleben haben. Das sind die Tiere. Diese Tiere haben ja auch Schlafen und Wachen. Wenn man an den Tieren nun das Schlafen betrachtet, dann stellt sich folgendes heraus. Nehmen wir also ein einschlafendes Tier. Der astralische Leib bewegt sich heraus. Dieser astralische Leib, indem er sich herausbewegt aus dem Tiere, wird sogleich aufgenommen von einer Welt, die sich dann für die Wahrnehmungen darstellt als diese flutende Welt von herankommenden, wieder verschwindenden Imaginationen, von Tönungen. Dann wiederum> beim Aufwachen, zieht sich das zurück in das Tier. Aber wenn wir genauer zuschauen, so bewegt sich doch, während das Tier schläft, dieses flutende Imaginationsleben mit den Tönungen in der irdischen Luft. Von dem Momente an, wo das Tier aufwacht, bewegt sich das Seelische auf den Wellen des Atmungsprozesses, durch die Atmungsorgane im weitesten Sinne wiederum zurück in den tierischen Leib. Dann regt es die Sinne an, daß die teilnehmen an diesem Leben. Aber beim Aufwachen ist es im wesentlichen ein Hereinfluten des Seelischen> wobei die Hautatmung natürlich durchaus berücksichtigt werden muß,aber man hat den Herausgang durch die Atmungsvorgänge, und dann den Hineingang wiederum durch die Atmungsorgane. Hat man das einmal geschaut, dann beginnt man auch zu verstehen, wie der astralische Leib, wenn das Tier erst entsteht, im Embryonalleben sich mit dem Tier vereinigt. Er vereinigt sich so, daß

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man sagen möchte: Es ist die Umkehrung des Prozesses, bei dem der Astralleib auf den Wogen des Atems nach auswärts geht. Er geht nach Innen und baut sich erst plastisch nach innen den Leib auf. Wenn Sie dies beachten, daß das Tier eigentlich seine Gestalt von seinem Atmungsorgan erhält, so werden Sie viel verstehen lernen von den Formungen des Tieres. Sehen Sie sich Tiere an, wie sie die Folge sind ihrer Atmungsorgane im weiteren Sinne. Es ist aber nur die Art, wIe sich das Seelische der Tiere in sie einlebt. Vergleichen Sie, sagen wir, ein Rüsseltier mit irgendeinem Tiere, dessen Kopforgane mehr mundförmig, nicht rüsselförmig gebildet sind. Die ganze übrige Gestalt des Tieres ist darnach gebildet, und die Art und Weise, wie das Tier atmen kann, ist maßgebend für seine Gestalt. Es lebt das Seelische auf den Wogen des von dem Tier aufgenommenen Luftartigen. Wenn wir den Menschen anschauen, so tritt noch etwas anderes ein. Der Mensch hat, auch wenn er als Kind noch nicht sprechen kann, die Möglichkeit zu sprechen. Daraufhin sind seine Atmungsorgane schon zubereitet. Sie sind anders als die Atmungsorgane des Tieres. Durch diese Form der Atmungsorgane kann die Luft in einer Weise eingehen, daß nun nicht nur ein astralischer Leib, sondern ein Ich den Menschen auskleiden kann, von dem Menschen Besitz nehmen kann. Wer das durchschaut, der lernt allerdings die Wahrheit kennen: Das Tier wird von seinen Atmungsorganen im weitesten Sinne zu seiner Gestalt gebildet, der Mensch aber wird von der zur Sprache, zum Worte modifizierten Atmung zu seiner Gestalt gebildet. In dem Menschen wird das Wort im buchstäblichen Sinne Fleisch, seine Gestalt ist ein Ergebnis des Wortes. Ich habe vorhin geschildert, wie die menschlichen Seelen sich zwischen den Wesenheiten der übersinnlichen Welten bewegen. Die menschlichen Seelen gehören ja zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, diesen selben Welten an wie die höheren geistigen Wesenheiten. Wenn wir diese Menschenseelen betrachten,so ist es tatsächlich so, daß sie sich in einer Weise bewegen, die dann übergehen kann auf die Wogen der Luft, und dasselbe, was der Mensch entfaltet, wenn er spricht, diese Art der Luftbewegung, die er entfaltet, wenn er spricht,

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die entfaltet sich auch in seinem Einatmen, die gestaltet ihn, wenn sie in ihn hineingeht. Man kann tatsächlich, gewissermaßen auf den Luftwogen schwimmend, die menschlichen Seelen auf diese Art erblicken. Das rührt davon her, daß das Ich nicht bloß die Luft erfaßt. Bei dem Tiere ist der Astralleib da, der erfaßt die Luft, und erfaßt die Luft mit ihrenWärmezuständen. Der menschlicheAstralleib erfaßt die Luft, vermag sich auf den Wellen der Luft zu bewegen, aber er erfaßt extra die Wärme, den Wärmeäther. Indem also das Ich auf den Wellen des Wärmeäthers noch extra durch die Welt hinströmt, tingiert es die Atmung, wird von innen nach außen zur Sprache, von außen nach innen zur Menschengestalt. Erfaßt man das Konkrete des Sprachlebens, dann lernt man in dem Sprachleben, in dem kosmischen Bilden der Worte erkennen, was gestaltenbildend in den Menschen eintritt, was plastisch wirkt namentlich im Embryo und dann im Kinde, indem der Mensch sich durch innerliche Kräfte, plastisch wirkend, seine Gestalt gibt. Und dieser Zusammenhang zwischen dem Worte und der menschlichen Gestalt ist etwas, wovon man als einem durchaus Realen sprechen kann, weil man es in der Weise, wie ich es Ihnen jetzt geschildert habe, erschaut. Man kann auch noch das Folgende bemerken. Wenn Sie den ein- schlafenden Menschen nehmen, so bewegt sich sein astralischer Leib auf den Wogen der Luft und bleibt innerhalb des Luftraumes; sein Ich geht ins Unbestimmte fort> verschwindet gewissermaßen in den Wärmezuständen der Außenwelt. In Wärmeäther und Luft vermag schon die Seele zu leben während der Zeit, während der der Mensch zwischen dem Einschlafen und Aufwachen ist. Und so haben wir den physischen Leib des Menschen, der eigentlich ganz der Erde angehört, den Ätherleib des Menschen, der dem wässerigen, dem flüssigen Elemente der Erde angehört, der zu diesem eine besondere Beziehung hat, den Astralleib, der dem luftartigen Elemente angehört, und das Ich,das dem Wärmeelemente, dem Feuerelement angehört. Und das ist es, was man nun wiederum auch wahrnehmen kann, wenn gewissermaßen das Weltenwort einzieht in den Menschen und zusammenholt die Kräfte der Luft, der Wärme, sie verbindet mit den Kräften des Wassers und der Erde. Das alles ist ein Wechselspiel von Kräften,

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das dann von dem Inner-Seelischen entfaltet wird, wenn der Mensch aus der geistig-seelischen Welt heruntersteigt zu einem Erden- dasein. Diese Dinge können natürlich nur innerlich angeschaut werden, aber sie können wirklich innerlich angeschaut werden. Und man möchte sagen: Es ist ja schwierig, weil die heutige Sprache eigentlich ganz für den Materialismus und für eine materialistische Weltanschauung gebildet ist, sich in den Worten der gegenwärtigen Sprachen auszudrücken, aber indem es immer mehr und mehr gelingen muß, dasjenige, was da erschaut wird, wirklich so in Worte zu kleiden, daß daraus überschaubare Gedanken sich einleben können in die menschliche Seele, wIrd für jeden begreiflich werden, was mit der Einweihungswissenschaft über die höhern Welten gesagt werden kann. Es ist tatsächlich so, daß ja nur durch übersinnliche Forschung diese Dinge gefunden werden können, aber die übersinnliche Forschung ist nicht notwendig, um diese Dinge zu begreifen. Ich habe das öfters damit verglichen, daß ich sagte, man kann ein Bild ästhetisch genießend beurteilen, ohne daß man selber ein Maler Ist. So kann man auch die Geisteswissenschaft, die Anthroposophie, beurteilen, ohne daß man selber ein Forscher ist, obwohl das heute bis zu einem gewissen Grade durch die Anleitungen in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» und so weiter jeder werden kann, so daß er auch schon bis zur Kontrolle der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse kommen kann. Aber den eigentlichen Wert für das Leben bekommt der Inhalt der geistigen Wahrheiten nicht dadurch, daß man die Dinge erforscht, sondern dadurch, daß man sie versteht, daß man sie in sich aufnimmt. Wer nun wirklich diejenigen Ideen aufnimmt, in die wahre Geistesforschung gekleidet wird, von dem kann man sagen: Er hat schon, auch wenn er nur den gewöhnlichen gesunden Menschenverstand hat,die Möglichkeit, diese Dinge in sich aufzunehmen, so wie auch derjenige den Geschmack vom Zucker hat, der nicht die chemische Zusammensetzung des Zuckers kennengelernt hat. Dasjenige, was man vom Zucker haben soll, das hat man unabhängig davon, ob man die chemische Zusammensetzung weiß oder nicht. So ist es auch mit den

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übersinnlichen Wahrheiten. Das,was man von ihnen haben soll, das hat man durch die Einkleidung in die Ideenwelt, da nimmt man sie auf. Das andere ist etwas, was ja geschehen muß, um sie zu erlangen, aber was einem ebensowenig hilft, als wenn ich einem Kinde sagen würde: Ich will dir keinen Zucker geben, aber ich will dir eine Anleitung geben, damit du verstehen kannst, in welcher Weise der Zucker chemisch zusammengesetzt ist. - Das Kind wäre nicht zufrieden. Ebensowenig können die Menschen zufrieden sein mit dem bloßen Forschen in die geistigen Welten hinein, sondern es muß erlebt werden die Umsetzung der geistigen Resultate in formulierbare Ideen. Denn die sind erst dasjenige, was dann unser seelisches Wesen so verlebendigen kann, daß wirklich ein Lebensinhalt entsteht durch die Ergebnisse der Anthroposophie. Wenn dann der Mensch dasjenige aufnimmt, was durch die Anthroposophie gegeben wird - er kann ja zunächst aufnehmen, sagen wir, das, was in Imagination geschildert wird -, dann tut er schon seinem gesunden Menschenverstand ein recht Gutes an, denn seine Persönlichkeit wird freier, innerlich selbständiger. Damit erlangt sie etwas, was man für die Gegenwart und die nächste Zukunft gar sehr brauchen wird. Die Menschen sind heute wirklich recht, recht abhängig von unkontrollierbaren Ideen und so weiter, die sie aufnehmen. Ich will nur daran erinnern, wie die Menschen, die heute Versammlungen politischer oder anderer Art besuchen, eigentlich bloß eine Hammelherde sind, die auf die Schlagworte, die ihnen von den Rednern entgegengebracht, entgegengeschleudert werden, hineinfallen und ihnen dann nachlaufen. In dieser Beziehung ist ja die heutige Menschheit furchtbar unselbständig. Sie ist auch unselbständig dadurch, daß sie das einmal Festgesetzte eben aufnimmt. Dadurch kommen die Menschen nach und nach überhaupt dahin, gar nicht mehr in Wirklichkeit denken zu können, sondern nur scheinbar zu denken, weil sich ihr Denken nicht mehr, ich möchte sagen, im geistigen Licht sehen lassen kann. Da erlebt man ja sonderbare Dinge. In Anknüpfung an eine Eurythmie-Vorstellung in Berlin zum Beispiel hat neulich ein geistreicher Kritiker sich folgendes geleistet, er hat gesagt: Da haben die nun zuerst ernste Stücke und nachher humoristische

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Stücke gegeben. Man sieht die Unmöglichkeit der Eurythmie schon daran, daß die humoristischen Stücke mit denselben Bewegungs formen gegeben sind wie die ernsten Stücke. Nun hatte man zuerst auseinandergesetzt, daß die Eurythmie eine sichtbare Sprache ist, daß es also wirklich darauf ankommt, den Inhalt, den die Eurythmie gibt, eben einfach als Sprache aufzufassen. Was wäre denn die Konsequenz desjenigen, was so ein geistreicher Kritiker da sagt? Die Konsequenz wäre, daß er sagen müßte: Wenn zum Beispiel ein Deklamator sich der gewöhnlichen Lautsprache bedient, so darf er für irgendeine, zum Beispiel die deutsche Sprache, die ernsten Gedichte nicht mit denselben Lauten vortragen, mit denen er die komischen Gedichte vorträgt. Darin müßte er ebenso einen Widerspruch finden, wie wenn bei der sichtbaren Sprache dieselben Bewegungen auftreten für die komischen und für die ernsten, für die seriösen Gedichte. Es ist also ein absoluter Unsinn. Die Leute lesen das, merken aber gar nicht, daß das gar keine Gedanken mehr sind, sondern daß das nur eIn Abrollen von Gehirnprozessen ist, die sich als Gedanken zwar spiegeln, aber keine Gedanken mehr sind, es ist die absoluteste Torheit. An so etwas zeigt sich, wie die Menschen ihre innere Aktivität verloren haben. Das wirkliche Leben in Gedanken,das muß gerade dadurch kommen, daß die Menschen sich einleben in das imaginative Leben und was aus dem imaginativen Leben kommt, mit dem gesunden Menschenverstand verfolgen. Der Mensch wird da- durch aktiver, er wird wiederum im vollsten Sinne des Wortes eine Persönlichkeit. Von ganz besonderer Wichtigkeit ist es aber, sich einzulassen auf das, was aus dem inspirierten Bewußtsein heraus geoffenbart wird. Wenn man so mit dem gesunden Menschenverstand das nachlebt, was als Inspiration geschildert wird, dann verwandelt sich allmählich - ich habe das schon verschiedentlich auch in anderen Zusammenhängen angedeutet - das Wahre und Falsche in gesundes und krankes Urteil. Man hat das Gefühl bei etwas, was unwahr ist, daß es etwas Krankhaftes ist. Bei dem, was wahr ist, hat man das Gefühl: Es ist etwas Gesundes. Die Logik des Wahren und Falschen hat eigentlich nur für die physische Welt eine Bedeutung. Sobald wir uns in die geistige Welt

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hineinleben, empfinden wir das Wahre als ein Gesundes und das Falsche, den Irrtum, als etwas Krankes. Dadurch aber, indem wir uns im Nachstudieren der Inspirationswahrheiten den Sinn für das gesunde und kranke Urteil aneignen, bereiten wir uns den Weg, nun das Christus-Ereignis zu verstehen. Denn das Christus-Ereignis trat in die Welt aus dem Grunde ein, weil die Entwickelung der Menschheit drohte, krank zu werden. Von dem Christus-Ereignis, von dem Mysterium von Golgatha geht die Kraft aus, daß sich der Mensch wiederum zur Wahrheit, zur Gesundung hin- wenden kann. Durch die inspirierten Wahrheiten erwerben wir uns wirklich wiederum die Möglichkeit, Sinn zu bekommen für die religiösen Wahrheiten, insbesondere für die Wahrheiten des Christentums, lernen wir wiederum verstehen, warum die Wesenheit des Christus als ein Heiland gefeiert wurde> als einer, der die Menschheit wirklich heilt, heilte und fortdauernd heilt. Das Wort ist wirklich in diesem Zusammenhange entstanden. Weil zur Zeit des Mysteriums von Golgatha noch die alten Hellsehereigenschaften da waren, die dann im vierten Jahrhunderte nach dem Mysterium von Golgatha verglommen sind, dann nur noch dem Begriffe nach da waren, deshalb hat man damals noch eingesehen, was das Mysterium von Golgatha bedeutet. Heute müssen wir uns erst wiederum zu diesem Einsehen durchringen. Christus hat bis zum Mysterium von Golgatha gelebt in der Welt, die wir betrachten im Traumschlaf, so daß der Christus vor dem Mysterium von Golgatha für jeden Menschen wahrnehmbar war im Traumschlafe. Aber kein Mensch durfte denken - das war etwas, was durchaus aus den Mysterienschulen heraus den Menschen klargemacht wurde -, daß dasjenige Wesen, das im Christus lebt, mit irdischen Gedanken erreichbar sein könnte, daß man es auch gefunden haben könnte im Wachzustande. Das wurde erst möglich durch das Mysterium von Golgatha, dadurch daß Christus durch den Tod gegangen ist. Seit jener Zeit darf über ihn gedacht werden als eine Wesenheit, die dem Erdenleben selber angehört. Da wurde eine reale Vorstellung für das Erdenleben der aus dem Traumlande in das physische Land herausgegangene Gott.

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Das ist ein realer Prozeß: Der Gott, der kennengelernt hat dasjenige, was die Götter sonst nicht kennen, der gelernt hat zu sterben,der die Sterbetatsache in sich einbezogen hat, das ist der Christus, der Gott, der eintritt in diejenige Welt, wo es Geburt und Tod gibt, das Heruntergehen des Gottes in die Menschennatur. Gott wird Mensch. Es ist dieses eben die Formel, in der ausgesprochen werden kann, was der Christus geworden ist: Für die Erde das Urbild der Menschheit,für die Erde dasjenige, durch das die Menschheit Sinn bekommt. Und wenn sich das andere vollzogen hätte, wenn in derselben Zeit, in der der Gott Mensch geworden wäre, auch ein Mensch den Drang gehabt hätte, Gott zu werden, das heißt, nicht mehr zu sterben, nicht mehr den Gesetzen des irdischen Lebens unterworfen zu sein, dann würde er natürlich, während der Gott der vollkommenste Mensch wurde, indem er herunterstieg, der elendeste Gott geworden sein. Diesen polarischen Gegensatz haben Sie! Nicht umsonst steht neben dem Christus, der auf Golgatha hinaufsteigt, der Ahasver, der Mensch, der zum Gotte wird, aber zum stümperhaften Gotte, der die Möglichkeit des Sterbens verliert, der nun durch die Welt wandelt, nicht sterben kann, der Gott, der auf dem physischen Plane bleibt, aber auf dem physischen Plane dieselben Eigentümlichkeiten entwickelt, die eigentlich nur im Traumlande entwickelt werden durften. Es ist ein Ungeheures, Geistvolles, das da vor unsere Seele hingestellt wird, daß beigegeben ist dem Gotte der Mensch, der Gott geworden ist, aber allerdings, wie es selbstverständlich ist, in einer ihn elend machenden Weise. Der Mensch, der Gott geworden ist, der er- hält innerhalb der Erdenentwickelung auch das Prinzip, daß die Gottheit nicht herunterkommen soll auf den physischen Plan: das Judentum, die alttestamentliche Weltanschauung. Hier liegt ein Mysterium schon vor. Derjenige, der diese Dinge kennt, weiß: Ahasver ist eine wirkliche Wesenheit, und die AhasverSagen beruhen schon auf realen Eindrücken von Wahrnehmungen des Ahasver, die da oder dort gewesen sind, denn Ahasver ist vorhanden, und Ahasver ist der Pfleger des Judentums, nachdem das Mysterium von Golgatha da war. Es ist der Mensch, der Gott geworden ist. Wir müssen uns durchaus klar sein, daß wir zu einer vollständigen Geschichtserkenntnis

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auch nur dadurch kommen, daß wir das Geistige hereinbeziehen. Wir schauen auf der einen Seite nach der Menschwerdung Gottes im Ereignis von Golgatha, wir schauen nach der Gottwerdung des Menschen in dem Ahasver. Und der Eingeweihte kann wissen, daß der Ahasver wirklich herumwandelt. Man kann ihn natürlich nicht als einen Menschen sehen. Er ist ja ein Gott geworden. Aber er wandelt herum. Er ist im Erdendasein vorhanden. Und wirkliche Geschichtsdarstellungen, die die volle Realität erfassen, die machen es notwendig, daß man hinschaut auf das, was auch als geistige Realität durch das geschichtliche Werden der Menschheitsentwickelung geht. Gewiß sind viele Dinge in Bildern nur vorhanden. Es kommt ja nur darauf an, daß man weiß, daß diese Bilder Realitäten entsprechen. Es ist töricht, zu sagen, man soll sich nicht in solchen Bildern ausdrücken. Indem wir sprechen, drücken wir uns ja immer in Bildern aus. Nehmen Sie das Sanskritwort «Manas». Wer «Manas» versteht, der hat vor sich im Laut malerisch die Schale, den Mond, die Sonne tragend, weil man, indem man «Manas» aussprach in Ur-Sanskrit, den Menschen seinem Willenswesen nach fühlte wie die Schale, die dann das denkende Wesen trug. Alle Worte gehen auch auf Bilder zurück, sind nur elementarere, einfache Bilder. Dasjenige, was man durch die Worte ausdrückt, liegt ja nicht in den Worten drinnen. Wenn es nun kompliziertere Wesenhaftigkeiten gibt, die man nicht mit Worten so ausdrücken kann, muß man eben Bilder formen. Wenn man also von Ahasver spricht und von den Sagen des Ahasver, wie man sonst bei den Bildern spricht, so sind das nur kompliziertere Ausdrucksformen, die auf die geistige Seite hinweisen. Derjenige, der in diesem Sinne über Mythologie schimpft, der sollte nur auch gleich darüber schimpfen, daß die Menschen eine Sprache ausgebildet haben, durch die sie einen Inhalt ausdrücken wollen. Er sollte gebieten, daß sie stumm werden, denn die nächste Stufe nach dem, zu verbieten, daß sie eine Mythologie ausbilden, wäre, daß man dem Menschen verbietet, zu sprechen. Denn es ist ganz derselbe Vor- gang des Verbildlichens in der gewöhnlichen Sprache wie beim höheren Verbildlichen, wenn man so etwas hinstellt wie den Ahasver, der

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als ein Wesen, aber eben als ein Geistwesen durch die Weltenentwickelung geht und fortdauernd verhindert, daß der Mensch auf die Weise,wie es in seiner Entwickelung liegt, durch den Christus wiederum zurückkehrt in die geistige Welt, aus der er herausgegangen ist, als er das atavistische Hellsehen verloren hat. Das wollte ich heute sagen, um auf der einen Seite hinzuweisen auf des Menschen wirkliches Darinnenstehen in der geistigen Welt, durch eine richtige Charakteristik des Schlaf- und Traumzustandes, und andererseits darauf, daß in der Geschichte geistige Wesenheiten leben, die erst den vollen Verlauf der Geschichte verständlich machen. DIE DREI ZUSTÄNDE DES NACHTBEWUSSTSEINS Dornach, 24. März 1922

  1. G211-1986-SE030 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

DIE DREI ZUSTÄNDE DES NACHTBEWUSSTSEINS Dornach, 24. März 1922

  1. TX

Der Wachzustand des Menschen ist ja das zunächst Bekannte, aber innerhalb dieses bekannten Gebietes enthüllen sich eigentlich nicht die Rätsel des Daseins. Würde ohne weiteres aus dem Wachzustande heraus, wie er uns für das gewöhnliche Leben und für die gewöhnliche Wissenschaft dient, die Lösung der Lebensrätsel erfolgen können, so wären sie eigentlich nicht vorhanden, denn sie würden sich fortwährend enthüllen. Der Mensch würde gar nicht dazu kommen, zu fragen. Daß der Mensch frägt: Welches sind die tieferen Gründe des Lebens? - daß er, wenn er auch vielleicht nicht zu einer genauen Formulierung dieser Lebensrätselfrage kommt, doch aus den Tiefen seiner Seele heraus die Sehnsucht hat, etwas zu wissen, was sich nicht durch das gewöhnliche Bewußtsein beantwortet, das bezeugt, daß aus den Unter- gründen der menschlichen Seele, also auf eine mehr oder weniger unbewußte Art etwas heraufkommt, das zum Menschen gehört, das aber erst gesucht werden muß, wenn es zum klaren Bewußtsein kommen soll. Und das führt denjenigen, der das Leben weniger beobachtet, dazu, zu spekulieren, allerlei Philosophien auszubilden. Solche Philosophien bleiben dann zuletzt unbefriedigend. Wer aber mit einer gewissen Unbefangenheit auf die Erscheinungen des Lebens hinblickt, dem muß doch aufgehen> daß sich in dem anderen Zustande, der dem Wachen entgegengesetzt ist, in dem Schlafzustande, irgend etwas verhüllt, und daß aus dem Verständnis des Schlafzustandes heraus Immerhin ein Verständnis des Lebens kommen könne. Wir haben ja oftmals solche Dinge besprochen; allein von den verschiedensten Gesichtspunkten aus muß immer wieder auf diese Dinge zurückgekommen werden, denn Anthroposophie läßt sich nur begreifen, wenn man sie von den verschiedensten Seiten her zu begreifen versucht. Nun wogt aus dem Schlaf heraus zunächst das Traumleben. Das Traumleben verläuft in Bildern. Man kann ja sehr bald bemerken, wenn man sich darauf verlegt, dieses Traumleben zu betrachten, daß die Bilder doch auf irgend etwas aus dem Leben, aus dem gewöhnlichen

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Bewußtseinsleben hinweisen. Wenn man auch oftmals sagen kann, Dinge werden geträumt, die man so nicht erlebt hat, so möchte ich sagen, die Stücke, aus denen sich der Traum zusammensetzt, die Stücke von Bildern, die sind natürlich dennoch aus dem gewöhnlichen Bewußtsein genommen. Etwas anderes aber ist die ganze Dramatik des Traumes, die Art und Weise, wie der Traum seine Spannungen aufbaut, wie er inneres Angstgefühl, inneres Freudegefühl, Schwunggefühl hervorrufen kann. Was der Verlauf der Traumbilder bedeutet, das geht schon tiefer in die menschliche Natur hinein, und man kann das sehen, wenn man etwa folgendes ins Auge faßt. Sie können träumen, Sie machen einen Weg, Sie kommen an einen Berg. Sie betreten eine Bergeshöhle. Zunächst ist es noch dämmerig. Es wird finster. Ein unbekannter Drang aber veranlaßt Sie, immer weiterzugehen. Ängstlichkeit stellt sich ein. Das alles steigert sich, bis Sie zuletzt in dem Furchtzustande stehen, sagen wir, in einen Innerlichen Abgrund hineinzufallen. Sie können dann aus diesem Furcht- zustande erwachen, indem dieser Furchtzustand gleichsam noch andauert beim Erwachen. Sie können aber auch träumen, Sie stünden irgendwo, sähen von ferneher einen Menschen kommen. Er kommt immer näher; aber er hat einen schrecklichen Ausdruck. Und wenn er näher kommt, bemerken Sie, er hat die Absicht, irgendeine Attacke auf Sie auszuüben. Ihre Ängstlichkeit wächst. Er kommt immer näher. Er verwandelt vielleicht das zunächst noch harmlose Instrument, das er Ihnen von ferne gezeigt hat - der Traum ist ja ein Verwandler - in ein furchtbares Mordinstrument. Die Ängstlichkeit steigert sich wiederum zur Furcht, und Sie wachen jetzt mit dieser Furcht auf, indem sich wiederum die Furcht fortsetzt ins wache Tagesleben hinein. Es sind zwei ganz verschiedene Bilder. Das eine Mal eine Bilderreihe, die Sie in das Berginnere hineinführt, das andere Mal eine Bilderreihe, die sich an einen herankommenden Feind anschließt. Die Seele kann dasselbe durchmachen, trotzdem die zwei Bilderreihen ganz verschieden sind. Was die Seele da durchmacht, das ist eben etwas ganz anderes, als was das Bewußtsein im Aufwachen erlebt. Man kann sagen, auf die Bilder kommt es überhaupt gar nicht an,

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sondern es kommt darauf an, wie die Seele eine gewisse innere Dramatik durchmacht: wie die Seele zunächst einen Drang hat, oder wie an die Seele etwas herankommt statt des Dranges, wie das dann aber übergeht in Ängstlichkeit, in Furcht, und dann gewissermaßen den Menschen dazu bringt, sich aufzurütteln aus dem Schlafe und in das gewöhnliche Bewußtsein überzugehen. Was da hinter dem Traume steckt an sich steigernden Krähen, die aber selber nicht wahrgenommen werden, die sich in Bilder kleiden, das ist es, worauf es ankommt. Und die beiden Bilderreihen, die ich charakterisiert habe, könnte ich noch vielfach vermehren; derselbe Seeleninhalt könnte sich in zehn, zwanzig, hundert verschiedene Bilder kleiden. Wir müssen also sagen: Da ist irgend etwas - wenn ich schematisch zeichne -, das in der Seele abläuft (blau, grün. Siehe Zeichnung Seite 46). Aber das, was da in der Seele abläuft, das merkt der Mensch nicht; er weiß es nicht. Was er weiß, das sind Bilder. Ich zeichne sie hier schematisch daran (gelb). Diese Bilder erlebt dann der Mensch in seinem Bewußtsein von dem Traume. Das aber, worauf es ankommt> das ist die Steigerung: schwache Ängstlichkeit, stärkere Ängstlichkeit, höchste Furcht. Die Traumbilder sind mehr oder weniger doch vom Leben genommen, denn sowohl der Berg, wie die Bergeshöhlung> alles ist im Grunde genommen dem Leben entlehnt. Der Feind, der sich naht, ist dem Leben entlehnt, seine Waffe ist dem Leben entlehnt. Die Bilder nehmen ihren Inhalt aus dem Leben. Aber das ist nur die Einkleidung. Wenn man nun durch das, was ich oftmals als das imaginative Bewußtsein charakterisiert habe, die Möglichkeit hat, hinter dieser Einkleidung stehenzubleiben, gar nicht solche Bilder zu bilden, sondern hier drinnen in den Kräften der Seele, die Ängstlichkeit, Furcht, höchste Furcht sind, mit dem imaginativen Bewußtsein zu bleiben, wenn man also in der Lage ist, da drinnen Bilder zu formen, dann kommt etwas ganz anderes zustande. Denn, wenn Sie schlafen, sind Sie ja zunächst mit Ihrem Ich und mit Ihrem astralischen Leibe außerhalb des Ätherleibes und des physischen Leibes. Wenn Sie aufwachen, dringen Sie, wenn Normalzustände vorhanden sind, sehr schnell in Ihren Ätherleib ein - den passieren Sie ganz rasch -, dringen gleich in Ihren physischen Leib ein.

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Wenn Sie aber in etwas abnormem Zustande nicht gleich in den physischen Leib eindringen, sondern wenn Sie in den Ätherleib eindringen, bevor Sie in den physischen Leib eindringen, also extra in den Äther leib eiiidringen, dann bilden sich diese Bilder aus dem Leben. Denn im gewöhnlichen Bewußtsein hat der Mensch eben keine Vorstellung im Schlafe selbst, und erst mit dem Moment, wo er entweder in seinen Leib eindringt und den Ätherleib passiert, bekommt er Bilder, oder wenn er beim Einschlafen aus dem physischen Leib herausgeht, aber noch etwas im Ätherleib drinnenbleibt, dann hat er wiederum Traumbiider. Also nur in diesen Zwischenzuständen bilden sich solche Traum biider, die aus dem Leben genommen sind. Aber das imaginative Bewußtsein führt dazu, daß man ganz außer halb des Leibes in dem leben kann, was da als Kräfte der Seele hinter dem Traume steht. Und dann lebt man in einer anderen Wirklichkeit. Dann lebt man eben in der Welt, in der der Mensch vom Einschlafen bis zum Aufwachen ist. Der Mensch lebt vom Einschlafen bis zum Aufwachen in einer Welt, in der er bewußtlos wird. Sie können sich bildlich das so vorstellen, wie wenn der Mensch untertauchen würde in Wasser und das Bewußtsein verlieren würde, und erst dann es wieder gewinnen würde, wenn das Wasser ihn herausträgt und ihn wieder freigibt. Dasselbe, was da physisch vorgeht, geht eben seelisch vor,wenn der Mensch einschläft. Er taucht unter in die geistige Welt. Da verliert er das Bewußtsein. Er geht mit seiner Seele aus dem Leibe heraus und verliert das Bewußtsein. Beim Aufwachen taucht er wieder auf und bekommt das Bewußtsein wieder. Das Auftauchen bedeutet aber das Hineingehen in den Leib. Und wenn, wie gesagt, man nicht gleich in seinen Leib hineingeht, sondern noch den Übergang im Ätherleib bemerkt, dann entstehen eben die Traumbilder. Aber wenn man jetzt sich nicht darauf einläßt und einzulassen braucht, solche Traumbilder zu bekommen, sondern wenn man ganz außerhalb des physischen Leibes in der geistigen Welt selber Bilder bekommt, dann komrnen zunächst nicht beliebige Bilder heraus, sondern dann kommen solche Bilder heraus, wie Sie sie als Beschreibung der Weltentwickelung in meiner «Geheimwissenschaft» finden. Und alles, was man so darstellt, wie ich es dargestellt habe in meiner «Geheimwissenschaft»,

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das hat zunächst diesen Ursprung, den ich Ihnen jetzt eben charakterisIere.Wenn Sie sich fragen:Was steht denn da eigentlich in dieser «Geheimwissenschaft»?, - dann werden Sie sich sagen: Nun ja, Gedanken stehen darinnen. Man kann es auch nachdenken. Ich betone es ja immer wiederum, mit dem gesunden Menschenverstand kann man das alles nachdenken. Gedanken stehen darinnen, aber es sind nicht gewöhnliche Gedanken. Es sind die Gedanken, die in der Welt draußen schöpferisch tätig sind. Der Mensch kann in diesen Gedanken leben, wenn er jenseits der Schwelle steht, die in die geistige Welt hineinführt. Der Mensch kann leben in diesen Gedanken, die an der Welt arbeiten. Es ist das erste, was er findet, wenn er in die übersinnliche Welt eintritt. Das sind also nicht Traumbilder, denn die Traumbilder kommen, wie ich Ihnen dargestellt habe, auf ganz andere Weise zustande, sondern es sind Erlebnisse in der geistigen Welt. Ich möchte sagen: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der schläft. Während des Schlafes gehen in der Seele immer die umfassendsten, die intensivsten Prozesse vor. Der Mensch merkt nichts davon, denn er ist während des Schlafes bewußtlos. Des Morgens tritt er in seinen physischen Leib ein, sogleich taucht er darin unter. Er bedient sich seiner Augen, sieht Farben und Licht, er bedient sich seiner Ohren, hört die Töne und so weiter, also er wird bewußt. Aber es gibt diesen Zwischenzustand: er tritt nicht gleich in den physischen Leib ein, er tritt in den Ätherleib ein. Dann hat er einen Traum oder Träume. Aber denken Sie sich, der Mensch würde bewußt, bevor er auch nur in seinen Ätherleib eintritt. Er würde noch im äußeren Ather, der die ganze Welt erfüllt, bewußt. Dann wird er sich dessen bewußt, was in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben ist. Wenn Sie zum Beispiel mitten in der Nacht bewußt würden, ohne in Ihren physischen Leib zurückzukehren, so daß der physische Leib neben Ihnen auftaucht und Sie ihn sehen - denn Sie können ihn dann sehen -, dann nehmen Sie diese Kosmologie wahr, dann nehmen Sie das wahr, was ich in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben habe. Ich darf das, was ich da beschrieben habe, nennen: Bildekräfte der Welt, oder auch Weltgedanken.

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Das stellt sich so dar, daß man sagen kann, wie man sonst einzelne Gedanken im Tagesleben hat: Die Erde ist so und so entstanden, hat früher ein Mondendasein, ein Sonnendasein, ein Saturndasein gehabt,kurz, alles das, was ich in meiner «Geheimwissenschaft» dargestellt habe. Diese Art aber, in der geistigen Welt wahrzunehmen, ist nur eine von dreien. Wenn der Mensch auf seinen Tagesbewußtseinszustand hinschaut, so weiß er, er kann in diesem Tagesbewußtseinszustand unterscheiden Denken, Fühlen und Wollen. Aber gerade so, wie das Tagesbewußtsein diese drei Zustände hat, Denken, Fühlen und Wollen, so hat auch das Nachtbewußtsein, das ja beim gewöhnlichen Menschen Bewußtlosigkeit ist, drei Zustände. Man schläft nicht vom Einschlafen bis zum Aufwachen immer in demselben Zustande, gerade so, wie man nicht immer in demselben Zustand wacht. Man wacht, indem man denkt,oder auch, indem man fühlt, oder auch, indem man will. In drei Zuständen kann man wachen, ebenso kann man in drei Zuständen schlafen. Denn daß derjenige, der ein imaginatives Bewußtsein hat, die Weltenbildekräfte, die Bildekräfte der Welt schaut, das kommt ja nur davon her, daß er sich ein Bewußtsein davon erworben hat, eine Erkenntnis. Aber jeder Mensch schläft in diese Bildekräfte der Welt hinein, in die Weltgedanken. So wahr Sie, wenn Sie ins Wasser springen, untertauchen, so wahr tauchen Sie, wenn Sie einschlafen, zunächst unter in die Bildekräfte der Welt. Aber außer diesem Leben in den Bildekräften der Welt gibt es für den Schlafzustand ebenso noch zwei andere Zustände, wie es für das Wachen außer dem Denken noch Fühlen und Wollen gibt. Wenn wir das Denken betrachten, das Haben von Gedanken, so entspricht dem iIn Schlafe das Leben in den Bildekräften der Welt. Das heißt, wenn Sie sich bewußt werden des leisesten Schlafzustandes, dann leben Sie in diesem leisesten Schlafzustande in den Bildekräften der Welt. Es ist, wie wenn Sie das Weltenall von einem Ende zu dem anderen durchschwimmen wurden, indem Sie durch Gedanken, die aber Kräfte sind, sich strömend bewegen. Das ist der leiseste Schlaf, wo man sich in den Gedankenkräften der Welt bewegt. Es gibt aber einen tieferen Schlaf, einen solchen Schlaf, von dem man, wenn man nicht besondere Seelenübungen

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macht, nichts durch Träume in das Tagesleben bringen kann. Durch Träume kann man nur von dem leisesten Schlaf etwas ins Tagesleben bringen. Dann sind aber die Träume, wie ich Ihnen dargestellt habe, als Bilder nicht maßgebend, denn derselbe Traum kann sich in die verschiedensten Bilder kleiden. Aber immerhin, der leiseste Schlaf kann zum Traume führen, das heißt man kann etwas herüber- bringen ins Bewußtsein, man kann wenigstens spüren: man hat im Schlafe etwas erlebt. Aber man kann nur von diesem leisesten Schlaf spüren, daß man etwas erlebt hat. Von dem tieferen Schlaf kann nur derjenige etwas wissen, der es zum inspirierten Bewußtsein bringt. Ein solcher nimmt dann nicht mehr bioß dasjenige wahr, was ich in meiner «Geheimwissenschaft»beschrieben habe. Ich habe ja allerdings in dieser «GeheimwIssenschaft> auch einiges von dem beschrieben, was aus dem inspirierten Bewußtsein herübertönt, aber wir wollen uns einmal klar machen - was eben nur durch Anthroposophie beschrieben werden kann wie der Übergang ist im Erleben vom leisen Schlafe zu dem tieferen Schlafe, zu dem Schlafe, aus dem der Mensch im gewöhnlichen Leben keine Träume zurückbringen kann. Wenn der Schlaf so leise ist, daß man im gewöhnlichen Leben Träume zurückbringen kann, dann schaut der Mensch, der hineinblicken kann in diese Welten, die wogenden, webenden Gedankenbilder, die Imaginationen der Welt, die ihm die Weltengeheimnisse enthüllen, die ihm enthüllen, welcher Welt der Mensch angehört, außer derjenigen, in der er vom Aufwachen bis zum Einschlafen mit seinem Bewußtsein ist. Denn was ich in meiner «Geheimwissenschaft» beschrieben habe, das ist nicht etwa bloß,wie wenn man etwas aufmalt auf einer Fläche, sondern das ist in fortwährender Bewegung, in fortwährender Regsamkeit. Aber von einem bestimmten Momente an beginnen in dieser Welt, die jeder Mensch in leisem Schlafe durchlebt- er weiß nur nichts davon -,Bilder aufzutreten. Diese Bilder werden deutlich, sie erhöhen ihren Glanz, sie offenbaren gewisse dahinterliegendeWesenhaftigkeiten. Sie fluten wieder ab, diese Bilder. Man hat wiederum nichts im Bewußtsein als eine Art Gefühl, daß die Bilder hinunter abgelähmt worden sind. Dann treten wieder die Bilder auf. Aber während die Bilder regsamer wer-

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den und wiederum vergehen, tritt etwas auf, was man Sphärenharmonie nennen kann, tritt eine Art Weltenmusik auf, aber eine solche Weltenmusik, die nicht etwa bloß in Melodie und Harmonie lebt, sondern die die Taten und Handlungen jener Wesenheiten darstellt, die die geistige Welt bewohnen, die Taten der Engel, der Erzengel, der Urkräfte und so weiter. Man sieht gewissermaßen auf dem wogenden Bildermeere die Wescii sich bewegen, welche aus dem Geiste heraus die Welt dirigieren. Es ist das die Welt, die durch Inspiration wahrgenommen wird, die zweite Welt. Ich kann sie nennen die Erscheinungen der geistigen Weltweeen. Und diese Welt, diese Erscheinungswelt der geistigen Welten- wesen ist ebenso das zweite Element des Schlafens, wie das Fühlen das zweite Element des Wachens ist. So daß also der Mensch während des Schlafes nicht nur in diejenige Welt eintritt, die die Weltgedanken darstellt, sondern innerhalb dieser flutenden Weltgedanken offenbaren sich die Taten der Weltenwesen, die der geistigen Welt angehören. Nun aber gibt es außer diesen zwei Schlafzuständen noch einen dritten. Von dem dritten Schlafzustand ahnt der Mensch meistens überhaupt nichts. Daß der Mensch einen leisen Schlaf hat, das weiß er in der Regel, und er weiß auch, daß aus diesem leisen Schlafe heraus die Träume sich offenbaren. Daß er einen traumlosen Schlaf hat, das merkt er. Aber daß es noch eine dritte Gattung des Schlafes gibt, das ist etwas, was den Menschen höchstens dadurch zum Bewußtsein kommt, daß sie beim Aufwachen fühlen: es ist etwas ganz Schweres in ihnen gewesen während des Schlafes, es ist etwas, das sie erst überwinden müssen in den ersten Stunden, in denen sie wiederum wachen. Ich glaube ja ganz gewiß, daß eine Anzahl von Ihnen diesen Zustand am Morgen kennt, wo der Mensch weiß: Er hat nun doch nicht so gewöhnlich geschlafen, sondern es war etwas in ihm, was ihm eine gewisse Schwere zurückläßt, was er erst überwinden muß durch längere Zeit, wenn er am Morgen bewußt ist. Das weist dann auf eine dritte Gattung des Schlafes hin, deren Inhalt erst durch das intuitive Bewußtsein erfaßt werden kann. Und diese dritte Gattung des Schlafes, die hat überhaupt für den Menschen eine große Bedeutung. Wenn der Mensch im leisesten Schlaf ist, da macht er eigentlich

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sehr vieles von dem mit, was er sonst im Wachzustande durchmacht. Er nimmt noch, wenn auch in anderer Weise, an seiner Atmung teil. Er nimmt noch teil, wenn auch nicht von innen, so von außen, an seiner Blutzirkulation und an den anderen Vorgängen des Körpers. Wenn der Mensch in der zweiten Gattung des Schlafes ist, dann nimmt er zwar nicht mehr an dem körperlichen Leben teil, aber man könnte sagen, er nimmt teil an einer Welt, die gemeinsam ist seinem Körper und seiner Seele. Es spielt noch etwas hinüber von dem Körper in die Seele. Es spielt so etwas hinüber, wie vom Lichte in die Pflanze spielt, wenn die Pflanze am Tage sich im Lichte entwickelt. Wenn nun aber der Mensch in der dritten Gattung des Schlafes ist, dann ist etwas in ihm, was - wenn ich so sagen darf - wie Mineral geworden ist. Die Salze in seinem Leibe lagern sich besonders stark ab. Starke Salzablagerungen sind während dieser dritten Gattung des Schlafes im physischen Leibe des Menschen. Dafür aber ist der Mensch mit seiner Seele im Innern der mineralischen Welt. Nehmen Sie einmal an, Sie könnten das folgende Experiment machen: Sie legen sich ins Bett, schlafen zunächst den leisen Schlaf, von dem noch Träume für das gewöhnliche Bewußtsein herauskommen können, kommen dann in den tieferen Schlaf, von dem keine Träume kommen, aber der doch die Seele des Menschen noch in einem Zu- sammenhang mit dem physischen Leib läßt. Jetzt aber schlafen Sie hinüber so, daß starke Salzablagerungen in Ihrem Leibe sind. Zu dem, was da im Leibe vorgeht, können Sie in der Seele kein Verhältnis ha- ben. Wenn Sie dann aber neben sich auf dem Nachtschränkchen einen Bergkristall gelegt hätten, so würden Sie mit Ihrer Seele ganz im In- nern dieses Bergkristalles sein können. Sie würden hineinschlüpfen in den Bergkristall, von Innen aus ihn wahrnehmen. Das können Sie nicht in der ersten und nicht in der zweiten Gattung des Schlafes. In der ersten Gattung des Schlafes, dessen Inhalt in die Träume hineingehen kann, würden Sie, wenn Sie vom Bergkristall träumen, ihn immer~och als eine Art von Bergkristall erleben. Sie würden zwar etwas Schattenhaftes, aber doch etwas Bergkristalliges erleben. Würden Sie in die zweite Gattung des Schlafes hinuntersinken, so würden Sie den Bergkristall nicht mehr so begrenzt erleben. Wenn Sie dann noch träumen

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könnten - Sie können es ja gewöhnlich nicht, aber nehmen wir an, Sie könnten es -, dann würden Sie erleben, daß der Bergkristall undeutlich wird und sich zu einer Art von Kugel oder Ellipsoid formt

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und dann wiederum sich zurückzieht. Wenn Sie aber träumen könnten, das heißt, wenn Sie zur Intuition kommen könnten aus dem tiefen Schlaf, aus der dritten Gattung des Schlafes heraus, dann würden Sie den Bergkristall so erleben, daß Sie sich vorkommen, wie wenn Sie innerlich diesen Linien entlanglaufen, dann der Spitze zulaufen, wiederum zurücklaufen: Sie erleben dann den Bergkristall im Innern. Sie bewohnen ihn. Und so für andere Mineralien. Und nicht nur, daß Sie die Form erleben, Sie erleben auch die inneren Kräfte. Kurz, die dritte Gattung des Schlafes ist etwas, was den Menschen nun ganz herausbringt aus seinem Leibe, was den Menschen ganz hineinstellt in die geistige Welt. Der Mensch steht während dieser dritten Gattung des Schlafes in der dritten Art der Welt darinnen, in dem Wesen der geistigen Welt selbst. Das heißt, Sie stehen drinnen in der Wesenhaftigkeit der Engel, der Erzengel, aller derjenigen Wesen, die man ja sonst nur äußerlich, das heißt nur in ihren Offenbarungen wahrnimmt. Sie sehen, wenn Sie vom Aufwachen bis zum Einschlafen Ihr Sinnesbewußtsein anwenden, gewissermaßen die äußeren Offenbarungen der Götter in der Natur. Sie dringen während des Schlafes ein, entweder bloß in die Bilderwelt im leisesten Schlaf, oder in der zweiten Gattung des Schlafes in die Welt der Erscheinungen, in die Welt der Offenbarungen,

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oder aber, wenn Sie zur dritten Gattung des Schlafes kommen, in das Innere der göttlich-geistigen Wesenheiten selbst. Also gerade so, wie der Mensch während des Tageszustandes durch Denken, Fühlen und Wollen sich auslebt, so lebt er sich während des Schlafes aus, indem er entweder in den Weltgedanken strömt, oder aus den Weltengedanken heraus sich die Taten der göttlich-geistigen Wesenheiten offenbaren, oder aber diese Wesenheiten selbst den Menschen aufnehmen, so daß er gewissermaßen mit seiner Seele in ihnen ruht. Wie das Denken oder Vorstellen für das Tagesbewußtsein das hellste, das klarste, das deutlichste ist, wie das Fühlen etwas Dumpferes ist - denn das Fühlen ist eigentlich immer eine Art Träumen - und wie das Wollen, der dumpfeste Bewußtseinszustand während des Tages, gewissermaßen ein Schlafen ist, so haben wir drei Schlafzustände: Den Schlafzustand, in dem das gewöhnliche Bewußtsein die Träume und das höhere Bewußtsein, das schauende, das hellsichtige Bewußtsein die Weltengedanken erlebt. Wir haben die zweite Gattung des Schlafes, der schon für das gewöhnliche Bewußtsein unbewußt bleibt, der aber dem inspirierten Bewußtsein so erscheint, daß überall die Taten der göttlich-geistigen Wesenheiten sich Offenbaren. Wir haben die dritte Gattung des Schlafes, der sich dem intuitiven Bewußtsein zeigt, in dem es in den göttlich-geistigen Wesenheiten selber darinnen lebt. Wie gesagt, das kündet sich dadurch an, daß man untertaucht zum Beispiel in das Innere der Mineralien. Aber diese dritte Gattung des Schlafes, die hat für den Menschen noch eine besondere Bedeutung. Wenn Sie zunächst die zweite Gattung des Schlafes nehmen, dann finden Sie darinnen, wie ich gesagt habe, auf den erscheinenden, verschwindenden, wogenden Bildern die Weltenwesen der Engel, der Erzengel und so weiter, aber Sie finden sich selber auch. Sie finden sich selber als Seele darinnen, nur nicht wie Sie jetzt sind, sondern wie Sie vor Ihrer Geburt beziehungsweise vor der Empfängnis waren. Sie lernen sich kennen, wie Sie gelebt haben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Das gehört dieser zweiten Welt an. Und jedesmal, wenn wir traumlos schlafen, leben wir in derselben Welt, in der wir gelebt haben, bevor wir heruntergestiegen sind und einen physischen Leib angenommen haben.

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Aber wenn Sie in die dritte Gattung des Schlafens kommen, und wenn Sie da aufwachen könnten - das intuitive Bewußtsein wacht auf -, also wenn Sie sich vorstellen, Sie kommen in die dritte Gattung des Schlafes und wachen da auf: dann erleben Sie Ihr Schicksal, Ihr Karma. Dann wissen Sie, warum Sie in diesem Leben besondere Fähigkeiten haben, aus der Beschaffenheit Ihrer vorhergehenden Leben. Dann wissen Sie, warum Sie in diesem Leben mit diesen oder jenen Persönlichkeiten zusammengeführt werden. Dann lernen Sie das Karma kennen, dann lernen Sie Ihr Schicksal kennen. Dieses Schicksal iernt man nur erkennen, wenn man - ich greife die Sache jetzt von einem andern Gesichtspunkte auf - in das Innere der Mineralien einzudringen vermag. Sind Sie imstande, einen Bergkristall nicht nur von außen, sondern von innen zu schauen - Sie dürfen ihn natürlich nicht etwa zerhacken, denn dann wäre das, was Sie sehen, immer wieder außen, natürlich -, sondern Sie müssen so, wie ich es beschrieben habe, sich darinnen befinden; wenn Sie das können, wenn Sie den Kristall von innen sehen können, dann können Sie auch begreifen, warum Sie dieser oder jener Schicksalsschlag in diesem Leben trifft. Nehmen Sie irgendeinen Kristall, nehmen Sie einen gewöhnlichen Salzwürfel.

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Sie sehen ihn von außen: so sehen Sie ihn mit dem gewöhnlichen Bewußtsein. Da bleibt Ihnen Ihr Leben undurchsichtig. Wenn Sie in ihn hineindringen können - auf die räumliche Größe kommt es dabei nicht an -, wenn Sie ihn von innen nach allen Seiten sehen können, dann sind Sie in der Welt, in der Sie auch Ihr Schicksal begreifen können. In dieser Welt sind Sie aber jede Nacht, wenn Sie in die dritte Gattung des Schlafes kommen. Diese dritte Gattung des Schlafes, die hat aber doch noch etwas ganz Besonderes. Sehen Sie, die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha - und wir waren es ja alle selber in unseren früheren Erden- leben -, die Menschen in der Zeitentwickelung vor dem Erscheinen des Christus auf der Erde, die kamen schon sehr häufig in diese dritte Gattung des Schlafes. Aber noch bevor sie, ich möchte sagen, hinunter- sanken in diese dritte Gattung des Schlafes, erschien ihr Engel und holte sie wieder herau? Denn das ist das Eigentümliche: Man kann sich aus der ersten und aus der zweiten Gattung des Schlafes als Mensch immer selbst herausholen, aus der dritten aber nicht mehr. In der dritten Gattung des Schlafes hätte ein Mensch vor der Erscheinung des Christus auf Erden sterben müssen, wenn er nicht von Engel- oder anderen Wesenheiten herausgeholt worden wäre. Seit der Erscheinung des Christus ist die Christus-Kraft, wie ich oft betont habe, mit der Erde verbunden, und jedesmal, wenn der Mensch aufwachen muß aus dieser dritten Gattung des Schlafes, dann muß ihm die ChristusKraft, die durch das Mysterium von Golgatha sich mit der Erde vereinigt hat, zu Hilfe kommen. Der Mensch könnte ohne die ChristusKraft nicht mehr aufwachen aus dieser dritten Gattung des Schlafes. Er kann in die Kristalle hereinschlüpfen, aber er kann nicht wieder herauskommen ohne die Christus-Kraft. Wenn man nämlich hinter die Kulissen des Daseins schaut, dann merkt man schon, was dieser Christus-Impuls für das Erdenleben für eine Bedeutung hat. Also ich betone es stark: Der Mensch konnte in die Kristalle herein, aber er konnte nicht wieder heraus. Diese Dinge hat man überall dort besonders stark gefühlt, wo nach dem Mysterium von Golgatha, nach der Erscheinung des Christus auf der Erde, noch ein starkes, altes, heidnisches Bewußtsein vorhan

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den war und dennoch die Christus-Offenbarung schon da war, wie zum Beispiel in mitteleuropäischen Gegenden. Da wußte man von manchen Menschen, daß sie dadurch gestorben waren, daß sie in einen solchen tiefen Schlaf gefallen waren. Sie hätten nicht zu sterben gebraucht, wenn der Christus ihnen zu Hilfe gekommen wäre. So fühlten zum Beispiel Menschen - ich will jetzt nichts anderes als das, was Menschen fühlten, sagen - bei Karl dem Großen oder bei Friedrich Barbarossa. Trotzdem Friedrich Barbarossa für die äußere physische Welt ertrunken ist, wurde dennoch so gefühlt. Aber besonders deutlich wurde es ja bei Karl dem Großen gefühlt. Wo ging für dieses mittelalterliche Bewußtsein solch eine Seele hin? In das Innere der Kristalle. Daher wurde sie in Berge versetzt, und da sollte sie warten, bis der Christus kommt und sie aus dem tiefen Schlaf herausholt. Es hängt diese Art von Sagenbildung mit diesem Bewußtsein zusammen. Das starke Verbundensein mit dem Christus-Impuls seit dem Mysterium von Golgatha auf der Erde, das ist es, was nun die Welt der Angeloi, der Archangeloi und so weiter veranlaßt, den Menschen doch wieder herauszuholen, denn sonst würde er, wenn er in die dritte Gattung des Schlafes versinkt, nicht wieder herausgeholt werden können. Das also hängt mit der Christus-Kraft zusammen, nicht mit dem Glauben an die Christus-Kraft; denn ob einer diesem oder jenem Religionsbekenntnis angehört, das, was Christus auf Erden getan hat, ist im objektiven Sinne getan, und was ich hier als Objektives schildere, findet eben für den Menschen ganz unabhängig vom Glauben statt. Was der Glaube für eine Bedeutung hat, das werden wir in den nächsten Tagen besprechen. Aber dies, was ich jetzt anführe, ist eine objektive Tatsache, die nichts mit dem Glauben zu tun hat. Wodurch aber ist das geschehen? Es ist dadurch geschehen, daß in die Götterwelt selbst ein anderes Schicksal eingezogen ist, als früher darinnen war, ein Schicksal, das ich damit charakterisieren möchte, daß ich sage: Die Menschen hiei- in der physischen Welt werden geboren und sterben. Es ist die Eigentümlichkeit der göttlich-geistigen Wesen, die den höheren Hierarchien angehören, daß sie nicht geboren werden und sterben, sondern sich bloß verwandeln. Der Christus, der bis zu der Zeit des Mysteriums von Golgatha mit den anderen göttlich

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geistigen Wesen lebte, beschloß, den Tod kennenzulernen, auf die Erde herabzusteigen, ein Mensch zu werden, um innerhalb der menschlichen Natur durch den Tod zu gehen, dann wiederum zum Bewußtsein nach dem Tode zu kommen durch die Auferstehung. Das ist überhaupt ein sehr bedeutendes Ereignis innerhalb der göttlich-geistigen Welt, daß ein Gott den Tod durchgemacht hat, um alles das tun zu können, was wir schon kennen oder was ich jetzt wiederum beschrieben habe. Wir können also sagen: Da steht in der Geschichte der Erdenentwickelung das bedeutsame Ereignis, daß der Gott Mensch geworden ist und dadurch seine Kraft in so bedeutsamen Erscheinungen flutet, wie die, die ich Ihnen jetzt charakterisiert habe. Der Gott,der Mensch geworden ist, hat solche Kraft im Erdenleben, daß er die Menschenseelen aus dem Kristallinnern herausholt, wenn sie dort hineingekommen sind. So daß, indem wir von Christus sprechen, wir von einem Weltenwesen sprechen, von dem wir sagen müssen: es ist der Gott, der Mensch geworden ist. Was wäre sein Gegenbild? Sein Gegenbild wäre der Mensch, der Gott geworden ist. Es muß ja nicht ein absolut guter Gott sein; sondern so wie Christus hinuntergestiegen ist in die Menschenwelt und den Tod angenommen hat, das heißt zuerst den menschlichen Leib angenommen hat, um teilzunehmen an dem Schicksal der Menschen, so werden wir zum entgegengesetzten Pol geführt, zu dem Menschen, der sich frei macht von dem Tode, frei macht von den Bedingungen des menschlichen Leibes und ein Gott wird innerhalb der Erdenbedingungen. Der würde also dann aufhören, ein sterblicher Mensch zu sein, aber herumwandeln auf der Erde, allerdings nicht unter denselben Bedingungen wie ein gewöhnlicher sterblicher Mensch, der von Geburt zum Tode und vom Tode zu einer neuen Geburt geht, sondern es würde ein solcher gottgewordener Mensch als ein unrechtmäßig auf der Erde gewordener Gott gefunden werden können. Wie der Christus ein rechtmäßig menschgewordener Gott ist, so würden wir zu suchen haben als sein Gegenbild den auf unrechtmäßige Weise gottgewordenen Menschen, den als nicht mehr sterblich herumwandelnden Menschen, der die Gottnatur auf unrechtmäßige Weise angenommen hat. Und es ist Ihnen ja bekannt: Ebenso wie in der christlichen Überlieferung auf den rechtmäßig menschge

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wordenen Gott, auf den Christus Jesus hingewiesen wird, so wird hin- gewiesen im Zusammenhange mit dem Christus Jesus auf Ahasver, auf den Menschen, der in unrechtmäßiger Weise Gott geworden ist, der die Sterblichkeit der Menschennatur abgelegt hat. Wir haben also den polarischen Gegensatz zu dem Christus Jesus in Ahasver. Das ist die tiefere Begründung, die tiefere Bedeutung der Ahasver-Sage, jener Sage, welche von etwas spricht, wovon gesprochen werden muß, weil es eine Realität ist: von einem Wesen, das herumwandelt auf der Erde. Sie ist da, diese Ahasver-Gestalt. Sie wandelt auf der Erde herum, sie wandelt von Volk zu Volk. Sie läßt unter anderem zum Beispiel gerade den hebräischen Glauben nicht ersterben. Es ist diese Gestalt vorhanden, diese Ahasver-Gestalt, der unrechtmäßig gewordene Gott. Der Mensch hat alle Veranlassung, wenn er die wirkliche Geschichte kennenlernen will, auf solche Ingredienzien dieser Geschichte sein Augenmerk zu lenken, zu sehen, wie aus den übersinnlichen Welten die Kräfte und Wesen herabspielen in die sinnliche Welt, wie der Christus aus den übersinnlichen Welten in die sinnliche Welt gekommen ist, wie aber auch wiederum die sinnliche Welt heraufspielt in die übersinnlichen Welten, wie wir auch in Ahasver eine wirkliche reale Weltenkraft, eine Weltenwesenheit zu sehen haben. Das BewußtseIn von diesem Wandeln des Ahasver, der natürlich nicht mit physischen Augen, sondern nur unter der Voraussetzung einer gewissen Hellsichtigkeit zu sehen ist, war immer vorhanden. Und die Sagen, die auf ihn hinweisen, haben einen guten, einen objektiven Untergrund. Man versteht das Menschenleben nicht, wenn man es äußerlich nur so betrachtet, wie es die Geschichtsbücher beschreiben, wenn man nicht hinblickt auf die besonderen Ausgestaltungen. Denn wahr ist es: So wie in unserem Innern der Christus lebt seit dem Mysterium von Golgatha, und wie der Christus in unserem Innern wahrnehmbar werden kann, wenn wir nach innen hinein den schauenden Blick zunächst beleben, so wird, wenn wir außen herumschauen im Menschenleben, und da der schauende Blick uns aufgeht - bei den meisten Menschen, denen so der schauende Blick aufgeht, ist das der Fall -, so wird uns - wie es ja unverhofft dem Menschen geschieht, der über die Schwelle des Bewußtseins tritt - Ahasverus, der

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ewige Jude erscheinen. Der Mensch wird ihn vielleicht nicht immer erkennen, er wird ihn für etwas anderes halten. Aber es ist ebenso möglich, daß dem Menschen der ewige Jude erscheint, wie es möglich ist, daß dem Menschen der Christus aufleuchtet, wenn er 1n sein Inneres schaut. Diese Dinge gehören zu den Weltengeheimnissen, die eben jetzt in unserer Zeit, wo viele Geheimnisse geoffenbart werden sollten, auch offenbar werden müssen.

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VOM WANDEL DER WELTANSCHAUUNG Dornach, 25. März 1922

  1. G211-1986-SE047 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

VOM WANDEL DER WELTANSCHAUUNG Dornach, 25. März 1922

  1. TX

Wir haben schon öfter unseren Blick zurückgewendet in die Anschauungen älterer Zeiten, wir wollen dies in einem gewissen Sinne auch heute tun, und zwar zu dem Ziele, um einige Gesichtspunkte zu gewinnen für geschichtliche Einblicke in die Menschheit und in die Menschheitsentwickelung. Wenn wir Jahrtausende zurückgehen in der Menschheitsentwickelung, zu den Zeiten zum Beispiel, die wir in unserer Terminologie als die altindische Kulturperiode bezeichnen, so finden wir, daß die Anschauungsweise der Menschen damals eine ganz andere war, als - wenn wir nun gleich einen sehr weit davon abliegenden Zeitraum nehmen - die Anschauungsweise in unserer Zeit. Wenn wir in jene älteren Zeiten zurückgehen, so wissen wir, die Menschen sahen einfach die Natur nicht so, wie wir sie heute sehen. Die Menschen sahen die Natur so, daß sie in allem, in den einzelnen Gliedern der Erdoberfläche, in Berg und Fluß, aber auch in alledem, was zunächst die Erde umgibt, in Wolken, im Lichte und so weiter, noch unmittelbar geistige Wesenheiten wahrnahmen. Es wäre undenkbar gewesen für einen Menschen jener älteren Zeiten, so von der Natur zu sprechen, wie wir es tun. Denn er würde sich so vorgekommen sein, wie wir uns vorkommen würden, wenn wir - das Bild ist etwas grotesk, aber es entspricht durchaus den Tatsachen - einer Sammlung von Leichnamen gegenübersitzen könnten und dann sagen würden, daß wir unter Menschen wären. Was heute dem Menschen sich als Natur darbietet, das würde Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung der Mensch nur als den Leichnam der Natur empfunden haben. Denn in allem, was ihn um- gab, hat er Geistig-Seelisches wahrgenommen. Wir wissen, wenn die heutige Menschheit aus Dichtungen oder aus den Mitteilungen der Mythen und Legenden vernimmt, wie man einstmals geglaubt hat, daß sich in der Quelle, im strömenden Flusse, in dem Berginnern und so weiter Geistig-Seelisches findet, so glaubt sie ja, daß eben die Alten ihre Phantasie haben wirken lassen, daß sie gedichtet haben. Nun, das ist ein naiver Standpunkt. Die Alten haben

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durchaus nicht gedichtet, sondern sie haben das Geistig-Seelische ebenso wahrgenommen, wie man die Farben wahrnimmt, wie man die Bewegungen der Blätter des Baumes wahrnimmt und so weiter. Sie haben unmittelbar das Geistig-Seelische wahrgenommen, und sie würden eben das, was wir heute Natur nennen, nur für den Leichnam der Natur gehalten haben. Aber in einem gewissen Sinne strebten einzelne Menschen bei diesen Älteren danach, eine andere Anschauungsweise zu gewinnen als diejenige, die die allgemeine war. Sie wissen ja, heute, wenn Menschen danach streben, eine andere Anschauungsweise zu gewinnen, als es die gewöhnliche ist, und wenn sie überhaupt dazu in der Lage sind, dann werden sie «studierte Leute», dann bekommen sie Begriffe übermittelt über das, was sie sonst nur äußerUch sehen. Dann nehmen sie Wissenschaft, wie man das nennt, in sich auf. Diese Wissenschaft, die gab es in jenen Zeiten, von denen wir jetzt sprechen, nicht. Wohl aber strebten auch einzelne Menschen über das allgemeine Anschauen, über das, was man eben im alltäglichen Leben wußte, hinaus. Nur studierten sie nicht so, wie heute studiert wird. Sie machten gewisse Übungen. Diese Übungen waren nicht solche, wie die, von denen wir heute in der Anthroposophie sprechen, sondern es waren Übungen, welche gerade in jenen älteren Zeiten mehr an den menschlichen Organismus gebunden waren. Es waren zum Beispiel Übungen, durch welche der Atmungsprozeß zu etwas anderem ausgebildet wurde, als was er von Natur aus ist. Man setzte sich also nicht in Laboratorien, machte nicht Experimente, aber man machte gewissermaßen an sich selber Experimente. Man regulierte seinen Atem. Man atmete zum Beispiel ein, man hielt den Atem zurück und suchte zu erleben, was bei so verändertem Atem im Innern des Organismus vorging. Solche Atemübungen sollen heute nicht nach- gemacht werden. Aber sie waren durchaus einmal ein Mittel, durch welches die Menschen glaubten, zu höheren Erkenntnissen zu kommen, als zu denen sie kommen konnten, wenn sie eben mit ihren gewöhnlichen Anschauungen die Natur betrachteten, wenn sie also die äußeren Naturdinge sahen, wie wir sie sehen, aber außerdem noch in allen Naturdingen das Geistig-Seelische darinnen sahen. Wenn sich Menschen nun solchen Übungen hingaben, deren Wesen

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sich ja, obwohl in Abschwächung, in dem erhalten hat, was heute aus dem Oriente herüber als Joga-Übungen geschildert wird, wenn sie also ihr Atmen gegenüber dem gewöhnlichen Atem veränderten, dann verschwand aus dem Anblicke der Umgebung das Geistig-Seelische, und es wurde gerade durch solches Atmen die Natur für diese Menschen so, wie wir sie selber heute sehen. Also, um die Natur so zu sehen, wie wir sie heute sehen, mußten solche Menschen erst Übungen machen in jenen alten Zeiten. Sonst sprangen ihnen gewissermaßen für ihr Anschauen aus allen Wesen ihrer Umgebung geistig-seelische Wesenhaftigkeiten entgegen. Sie vertrieben gewissermaßen diese geistig-seelischen Wesenhaftigkeiten dadurch, daß sie ihren Atmungsprozeß veränderten. So hatten sie - wenn ich den Ausdruck gebrauche, der heute gebräuchlich ist für diejenigen, die so hinausstreben über das allgemeine Anschauen - als das Bestreben, die Natur nicht mehr durchseelt und durchgeistigt um sich zu haben, sondern sie so um sich zu haben, daß sie sie wie eine Art Leichnam empfanden. Man könnte auch so sagen: Diese Menschen fühlten sich, indem sie hinausschauten in die Natur, wie in einem wellenden, wogenden, seelisch-geistigen Weltenall, aber sie fühlten sich darinnen so, wie sich der Mensch der Gegenwart fühlen würde, wenn er in lebhaften Bildern träumte und aus diesem Träumen kaum aufwachen könnte. So fühlten sie sich. Was erreichten aber diese einzelnen - wir wollen sie also die Gelehrten jener alten Zeit nennen -, wenn sie durch solche besondere Übungen sich heraushoben aus diesem lebendig Wogenden und es abtöteten in der Anschauung, so daß sie wirklich das Gefühl hatten, sie haben nunmehr ein Totes, ein Leichnamartiges um sich? Was strebten sie dadurch an? Sie strebten dadurch ein stärkeres Selbstgefühl an. Sie strebten etwas an, wodurch sie sich selber erlebten, wodurch sie sich selber empfanden. Der heutige Mensch sagt alle Augenblicke: «Ich bin». «Ich» ist für ihn überhaupt ein Wort, das er vom Morgen bis zum Abend sehr häufig im Munde führt, denn es ist ihm natürlich, es ist ihm selbstverständlich. Bei diesen alten Menschen war es für das gewöhnliche alltägliche Er- leben nicht selbstverständlich, das «Ich» oder gar das «Ich bin» auszusprechen. Das mußten sie sich erwerben. Dazu mußten sie erst solche Übungen machen. Und indem sie diese Übungen machten, kamen sie

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zu einem solchen inneren Erleben, daß sie mit einer gewissen Wahrheit sagen konnten: «Ich bin». Sie kamen erst damit zum Bewußtsein ihres eigenen Seins.Also das, was für uns etwas Selbstverständliches ist, das wurde für diese Menschen erst dann ein Erlebnis, wenn sie sich anstrengten in e1nem inneren Atmungsprozesse. Sie mußten erst die Umgebung gewissermaßen für die Anschauung töten, sich selber aufwecken. Dadurch kamen sie zu der Überzeugung, daß sie auch selber sind, daß sie «Ich bin> zu sich sagen konnten. Aber mit diesem «Ich bin» war ihnen etwas gegeben, was uns heute wieder selbstverständlich ist. Es war ihnen die innere Entfaltung des Intellektuellen gegeben. Sie entwickelten dadurch die Möglichkeit, ein innerliches, abgesondertes Denken zu haben. Wenn wir also zurückgehen in Zeiten, in denen für die Zivilisation die alten orientalischen Anschauungen tonangebend waren, so war es eben so, daß die Menschen im alltäglichen Leben eine beseelte Natur empfanden, aber ein ganz schwaches, fast gar kein Selbstgefühl hatten, gar nicht dieses Selbstgefühl in der Überzeugung «Ich bin» zusammen- faßten, daß aber einzelne Menschen, welche durch die Mysterienanstalten geschult wurden, dazu gebracht wurden, dieses «Ich bin» zu erleben. Dann erlebten sie aber dieses «Ich bin» nicht so, wie wir es heute als eine Selbstverständlichkeit hinnehmen, sondern in dem Momente, wo sie durch ihren Atmungsprozeß dazu gebracht waren, überhaupt aus innerlicher Überzeugung, aus innerlichem Erleben heraus sagen zu können, erlebten sie etwas, was auch der heutige Mensch zunächst nicht wirklich erlebt. Denken Sie zurück in Ihre Kindheit: Sie können bis zu einem gewissen Punkte zurückdenken, dann hört es auf. Sie waren einmal ein Baby, und wie Sie da innerlich gelebt haben als Baby, das wissen Sie nicht. Es hört einmal das Erinnerungsvermögen auf. Sie waren ganz gewiß schon da, sind auf der Erde herumgekrochen, sind geliebkost worden von Ihrer Mutter oder von Ihrem Vater. Da haben Sie vielleicht gezappelt, haben die Hände bewegt, aber was Sie da innerlich erlebt haben, das wissen Sie im gewöhnlichen Bewußtsein nicht. Dennoch war es ein regeres, ein intensiveres Seelenleben als das spätere. Denn dieses intensivere Seelenleben hat zum Beispiel Ihr Gehirn plastisch

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ausgestaltet, hat Ihren übrigen Körper durchdrungen und ihn plastisch ausgestaltet. Es war ein intensives Seelenleben vorhanden, und in dieses Seelenleben fühlte sich der alte Inder versetzt in demselben Momente, wo er zu sich «Ich bin» sagte. Stellen Sie sich das nur ganz lebhaft vor, wie das war. Er fühlte sich nicht im gegenwärtigen Augenblicke, wenn er zu sich «Ich bin» sagte, er fühlte sich zurückversetzt in seine Babyzeit, er fühlte sich so, wie er in der Babyzeit gefühlt hat, und sagte von da aus zu seinem ganzen späteren Leben . Er hatte gar nicht das Gefühl, daß er jetzt Aber das ist erst hineingezogen in dieses Innere, nachdem es vorher in der geistig-seelischen Welt gelebt hat. Das heißt, indem dieser alte indische Jogi zuerst sich durch seinen Atmungsprozeß in seine Babyzeit zurückversetzte, wurde er gewahr der Zeit vor seinem Erdendasein. Das kam ihm vor wie eine Erinnerung. Genau so, wie wenn sich der Mensch heute an etwas erinnert, was er vor zehn Jahren erlebt hat, so

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war es wie das Auftreten einer Erinnerung in dem Momente, wo das «Ich bin> durch die Seele schoß, wenn in dieser alten indischen Zeit der Mensch durch Atmungsübungen innerlich sich stärkte und die Außenwelt um sich herum abtötete, dafür aber lebendig machte das,was nicht jetzt seine Außenwelt war, sondern was Außenwelt war, bevor der Mensch in die physische Erdenwelt heruntergestiegen war. Man wurde wirklich dazumal - wenn ich es wiederum mit einem heutigen Ausdruck bezeichnen will, der aber natürlich unendlich philiströs klingt, wenn ich ihn für jene alten Zeiten gebrauche - durch das Jogi-Studium herausgehoben aus dem gegenwärtigen Erdendasein und in das geistig-seelische Dasein hineingehoben. Man verdankte also dem damaligen Studium das Hinaufgehobenwerden in die geistig-seelischen Welten. Man hatte ein etwas anderes Bewußtsein, als wir es heute haben. Aber gerade wenn man im damaligen Sinne ein Joga-Gelehrter war, konnte man denken - die anderen Menschen konnten nicht den ken, die anderen Menschen konnten nur träumen -, aber man dachte hinein in die übersinnliche Welt, aus der man ins Erdendasein herunter- gestiegen war. Das ist zugleich eine Charakteristik jener Zeit der Erdenentwickelung, die, wenn wir es etwas grob charakterisieren> vorangegangen ist zum Beispiel den griechisch-römischen Anschauungen im vierten nach- atlantischen Zeitraum. Da war das «Ich bin» schon mehr in den Menschen hereingedrungen im gewöhnlichen Alltagsbewußtsein. Zwar hatte die Sprache damals noch im Verbum das Ich drinnenliegen, das war noch nicht so abgesondert wie bei uns, aber es war immerhin schon ein deutliches Ich-Erlebnis vorhanden. Dieses deutliche Ich-Erlebnis war nun eine natiirliche, selbstverständliche Tatsache des inneren Lebens. Dafür aber war schon die äußere Natur mehr oder weniger entseelt. Der Grieche hatte immerhin noch die Fähigkeit, die zwei Gesichtspunkte nebeneinander zu erleben, und zwar ohne besondere Schulung. Der Grieche erlebte noch deutlich, wenn auch schwächer als die Menschen älterer Zeiten, in Quelle, im Fluß, im Berg, im Baum das GeistigSeelische. Aber zu gleicher Zeit konnte er absehen von dem Geistig-Seelischen, auch das Tote in der Natur erleben und ein Selbstgefühl haben. Das gibt namentlich dem Griechentum seinen besonderen Charakter.

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Der Grieche hatte noch nicht eine solche Anschauung der Welt wie wir. Er konnte zwar schon solche Begriffe und Ideen von der Welt entwickeln wie wir, aber er konnte zu gleicher Zeit diejenigen Anschauungen ernst nehmen, die noch in Bildern gegeben waren. Er lebte überhaupt anders, als wir heute leben. Wir gehen zum Beispiel ins Theater, um uns zu unterhalten. Um sich zu unterhalten, ging man in Griechenland eigentlich erst ins Theater - wenn ich mich so ausdrücken darf - zu Euripides Zeiten, kaum zu Sophokles Zeiten, und jedenfalls nicht in den Zeiten des Äschylos, oder gar in noch älteren Zeiten. Da ging man zu anderen Zielen in die dramatischen Vorstellungen. Man hatte ein deutliches Gefühl, daß in allem, in Baum und Strauch, in Quelle und Fluß geistig-seelische Wesenheiten leben. Wenn man diese geistig- seelischen Wesenheiten erlebt, da hat man eben Lebensaugenblicke, wo man kein starkes Selbstgefühl hat. Wenn man aber wiederum dieses starke Selbstgefühl entwickelt, was die Alten noch durch Joga-Schulung haben suchen müssen, und was der Grieche nicht mehr durch JogaSchulung zu suchen brauchte, dann wird alles tot um einen herum, dann sieht man gewissermaßen nur den Leichnam der Natur. Dadurch aber verbraucht man sich. Man sagte sich: Das Leben verbraucht den Menschen. Der Grieche fühlte das wie eine Art seelischen und leiblichen Erkrankens, nur die tote Natur anzuschauen. Man empfand das lebhaft in älteren griechischen Zeiten, daß einen das Tagesleben krank macht, daß man etwas braucht, wodurch man wieder gesund wird: und das war die Tragödie. Um gesund zu werden, weil man fühlte, man verbraucht sich, man macht sich in einem gewissen Sinne krank, man braucht, wenn man überhaupt ganz Mensch bleiben will, eine Heilung, deshalb ging man zur Tragödie. Und die Tragödie wurde noch in Aschylos Zeiten so gespielt, daß man denjenigen, der die Tragödie bildete, der sie gestaltete, als den Arzt empfand, der den verbrauchten Menschen in einem gewissen Sinne wieder gesund machte. Die Gefühle, die da erregt 'wurden von Furcht, von Mitleid mit den Helden, die auftraten, wirkten wie eine Arznei. Sie durchdrangen den Menschen, und indem er sie überwand> diese Gefühle von Furcht und Mitleid, bildeten sie in ihm eine Krisis, wie sich zum Beispiel bei der Pneunomie eine Krisis bildet. Und indem man die Krisis überwindet, wird man gesund.

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So wurden die Schauspiele aufgeführt, um die Menschen, die sich als Menschen verbraucht fühlten, gesund zu machen. Das war das Gefühl, das man in der älteren Griechenzeit der Tragödie, dem Schauspiel entgegenbrachte. Und das war aus dem Grunde, weil sich die Menschen sagten: Wenn man sein Ich fühlt, dann wird die Welt entgöttert. Das Schauspiel führt wieder den Gott vor, denn es war Im wesentlichen ein Vorführen der göttlichen Welt und des Schicksals, das selbst die Götter erdulden müssen, also ein Vorführen dessen, was hinter der Welt als Geistiges sich geltend macht. Das war es, was in der Tragödie vorgeführt wurde. So war dem Griechen die Kunst noch eine Art Heilungsprozeß. Und indem die ersten Christen nachlebten, was in der Verkörperung des Christus in dem Jesus gegeben war und was in den Evangelien nachgedacht und nachempfunden werden kann: der Hingang des Christus Jesus zum Leiden und zum Kreuzestod, zur Auferstehung, zur Himmelfahrt-empfanden sie gewissermaßen eine innerliche Tragödie. Deshalb nannten sie auch den Christus, und nannte man ihn immer mehr den Arzt, den Heiland, den großen Arzt der Welt. Der Grieche hat in den älteren Zeiten dieses Heilende bei seiner Tragödie empfunden. Die Menschheit sollte allmählich dazu kommen, das historisch, das geschichtlich Heilende im Anblicke, im Gemütserleben des Mysteriums von Golgatha, der großen Tragödie von Golgatha zu erleben und zu empfinden. Im alten Griechenland ging man, namentlich in der Zeit Vor Äschylos, in der das, was früher nur im Dunkel der Mysterien gefeiert wurde, schon mehr öffentlich geworden war, in die Tragödie. Was sahen die Menschen in dieser älteren Tragödie? Der Gott Dionysos erschien, der Gott Dionysos war es, welcher aus den Erdenkräften, aus der geistigen Erde sich herausarbeitete. - Der Gott Dionysos, weil er sich aus den geistigen Kräften herausarbeitete und an die Oberfläche der Erde drang, machte das Leiden der Erde mit. Er fühlte gewissermaßen als Gott seelisch - nicht so, wie es beim Mysterium von Golgatha war, auch körperlich -, was es hieß, unter Wesen zu leben, welche durch den Tod gehen. Er lernte den Tod nicht an sich selbst erleben, aber er lernte ihn anschauen. Man fühlte, da ist der Gott Dionysos, der tief leidet unter

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den Menschen, weil er den Anblick haben mußte von alledem, was die Menschen erleiden. Es war nur eine einzige Wesenheit auf der Bühne zunächst, der Gott Dionysos, der leidende Dionysos, und um ihn herum ein Chor, der da rezitierend sprach, damit die Leute es hören konnten, was in dem Gotte Dionysos vorging. Denn das war überhaupt die erste Gestalt des Schauspieles, der Tragödie, daß die einzig wirklich handelnde Person, die auftritt, der Gott Dionysos war, und um ihn herum der Chor, welcher rezitierte, was in des Dionysos Seele vorging. Nach und nach nur wurden dann aus der einen Person, die den Gott Dionysos in den älteren Zeiten darstellte, mehrere Personen, und dann aus dem einen Schauspiele das spätere Drama. So erlebte man im Bilde den Gott Dionysos. Und man erlebte später in Wirklichkeit, als eine historische Tatsache der Menschheitsentwickelung, den leidenden und sterbenden Gott, den Christus. Einmal als historische Tatsache sollte sich das vor der Menschheit abspielen, so daß alle Menschen es empfinden konnten, was sonst in Griechenland im Schauspiel erlebt worden war. Aber indem die Menschheit diesem großen Geschichtsdrama entgegenlebte, wurde das Drama, das so heilig war in der alten Grienzeit, daß man in ihm den Heiland, die wunderwirkende Menschheitsarznei empfand, immer mehr und mehr, ich möchte sagen, von seinem Podest herabgeworfen und wurde zum Unterhaltungsstoff, wIe es schon bei Euripides der Fall ist. Die Menschheit lebte entgegen der Zeit, in der sie etwas anderes brauchte, als im Bilde vorgeführt zu bekommen die geistig-seelische Welt, nachdem für das Anschauen die Natur entseelt war. Die Menschheit brauchte das historische Mysterium von Golgatha. Der alte Joga- Schüler der indischen Zeit hatte den Atem aufgenommen, den Atem gewissermaßen in seinem eigenen Leib zurückgehalten, um in diesem Atmen zu empfinden: In dir lebt der göttliche Ich-Impuls. - Der Mensch erlebte als Joga-Schüler den Gott in sich selber durch den Atmungsprozeß. Spätere Zeiten kamen. Der Mensch erlebte nicht mehr in sich den Gottesimpuls im Atmungsprozeß. Aber er hatte denken gelernt, und er sagte: Durch den Atem kam die Seele in den Menschen hinein. - Der alte Joga-Schüler machte das durch. Der spätere Mensch sagte: #SE211-056 er ward eine Seele. - Der ältere Joga-Schüler erlebte das, der spätere Mensch sagte es. Und indem man das im hebräischen Altertum sagte, erlebte man schon in einem gewissen Sinne abstrakt, was man früher konkret erlebt hatte. Aber man schaute auch nicht im hebräischen Altertum, dafür aber im griechischen Altertum. Es spielt sich immer das eine auf dem einen Erdenfleck, das andere auf einem andern Erdenfleck ab. Man erlebte nicht mehr den Gott in sich wie der alte Joga-Schüler, dafür aber erlebte man im Bilde das Dasein des Gottes im Menschen. Und dieses Erleben im Bilde des Daseins des Gottes im Menschen, das war eben im älteren griechischen Drama durchaus vor- handen. Aber dieses Drama wurde nun weltgeschichtliches Ereignis. Dieses Drama wurde das Mysterium von Golgatha. Dafür aber wurde auch das Bild nunmehr abgesetzt. Das Bild wurde bloßes Bild, wie der Atmungsprozeß bloß in Gedanken noch geschildert wurde. Die ganze menschliche Seelenverfassung wurde eine andere. Der Mensch sah die Außenwelt tot, und das war für ihn das Elementare, das Natürliche, daß er die Außenwelt tot sah. Entgöttert sah er sie. Sich selbst als Außenwelt, als leibliche Außenwelt, sah er entgöttert. Aber er hatte den Trost dafür, daß einmal in diese entgötterte Welt der wirkliche Gott heruntergekommen war, der Christus, und in einem Menschen gelebt hatte, und durch die Auferstehung als Christus-Impuls in die ganze Erdenentwickelung übergegangen war. Und so konnte der Mensch eine gewisse Anschauung nunmehr in der folgenden Art entwickeln. Er konnte sich sagen: Ich sehe die Welt, aber sie ist ein Leichnam. - Er sagte es sich freilich nicht, denn es blieb im Unbewußten, der Mensch weiß nicht, daß er die Welt als Leichnam sieht. Aber allmählich bildete sich in seiner Anschauung der Leichnam am Kreuz, der gestorbene Christus Jesus. Und blickt man hin auf den Kruzifixus, auf den gestorbenen Christus Jesus, dann hat man die Natur. Man hat das Bild der Natur, jener Natur, in welcher der Mensch gekreuzigt ist. Und blickt man hin auf den, der aus dem Grabe auferstand, der dann von den Jüngern und von Paulus erlebt worden ist als der in der Welt lebende Christus, dann hat man das, was in älteren Zeiten in der ganzen Natur gesehen worden ist. Gewiß, in einer Vielheit, in vielen geistigen Wesenheiten, in Gnomen und Nymphen, in

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Sylphen und Salamandern, in allen möglichen anderen Wesenheiten der Erden-Hierarchien, erblickte man das Göttlich-Geistige; man erblickte die Natur durchgeistigt und beseelt. Nunmehr aber bekam man den Drang, durch den schon aufkeimenden Intellektualismus das, was zerstreut ist in der Natur, zusammenzufassen. Man hat es zusammengefaßt in dem toten Christus Jesus am Kreuze. Aber man schaut in dem Christus Jesus alles das, was man in der äußeren Natur verloren hat. Alle Geistigkeit schaut man, indem man hinschaut zu der Tatsache: Aus diesem Leibe hat sich erhoben der Christus, der Gottesgeist,der überwunden hat den Tod, und an dessen Wesenheit teilnehmen kann nunmehr jede Menschenseele. Man hat die Fähigkeit verloren, im Umkreise der Natur das Göttlich-Geistige zu sehen. Man hat die Fähigkeit gewonnen, im Hinblick auf das Mysterium von Golgatha dieses Göttlich-Geistige im Christus wieder zu finden. So ist die Entwickelung. Was die Menschheit verloren hat, es wurde ihr in Christus wiedergegeben. In dem, was sie verloren hat, hat sie den Egoismus gewonnen, die Möglichkeit des Selbstgefühles. Wäre die Natur nicht tot geworden für die menschliche Anschauung, so wäre der Mensch niemals zu dem Erlebnis «Ich bin» gekommen. Er ist zu dem Erlebnis «Ich bin» gekommen, er konnte sich erfühlen, innerlich sich erleben, aber er brauchte eine geistige Außenwelt. Die wurde der Christus. Aber das «Ich bin», die Egoität, die ist errichtet auf dem Leichnam der Natur. Das empfand Paulus. Konstruieren wIr uns einmal diese Empfindung des Paulus. Ringsherum der Leichnam dessen, was einstmals die Menschen geschaut hatten in alten Zeiten. Die Menschen haben die Natur geschaut als den Leib des Göttlichen, Seelisch-Geistigen. Wie wir heute unsere Finger sehen, so sahen diese Menschen Berge. Es fiel ihnen gar nicht ein, die Berge als leblose Natur zu denken, so wenig, wie wir den Finger als lebloses Glied denken; sondern sie sagten: Da ist ein Geistig-Seelisches, das ist die Erde; die hat Glieder, und ein solches Glied ist der Berg. - Aber die Natur wurde tot. Der Mensch erlebte das #SE211-058 von außen anschauen, so daß er äußerlich bleibt, er muß ihn nun in das Ich aufnehmen. Er muß sagen können, indem er sich hinweghebt aus dem alltäglichen «Ich bin»: Nicht ich, sondern der Christus in mIr. - Wenn wir schematisch darstellen, was da war, so könnten wir sagen: Der Mensch empfand dereinst um sich herum die Natur (grün), aber diese Natur überall durchseelt und durchgeistigt (rot). Das war In einer älteren Periode der Menschheit.

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In späteren Zeiten empfand der Mensch auch die Natur, aber er empfand die Möglichkeit, gegenüber der nun entseelten Natur das eigene «Ich bin» wahrzunehmen (gelb). Da aber brauchte er dafür das Bild des im Menschen vorhandenen Gottes, und er empfand das in dem Gotte Dionysos, der ihm vorgeführt wurde im griechischen Drama.

  1. Bild b s.058
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In noch späterer Zeit empfand der Mensch wiederum die entseelte Natur (grün), in sich das «Ich bin» (gelb). Das Drama aber wird zur Tatsache. Auf Golgatha erhebt sich das Kreuz. Aber zu gleicher Zeit geht das, was der Mensch ursprünglich verloren hatte, ihm in seinem eigenen Innern auf und strahlt (rot) aus dem eigenen Innern aus: Nicht ich, sondern der Christus in mir.

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Wie hat der Mensch der alten Zeiten gesagt? Er hat es nicht sagen köimen, aber er erlebte es: Nicht ich, sondern das Göttlich-Geistige uni mich, in mir, überall. - Der Mensch hat dieses verloren; er hat es in sich wiedergefunden und im bewußten Sinne sagt er jetzt dasselbe, was er ursprünglich unbewußt erlebt hat: Nicht ich, sondern der Christus in mir.- Die Urtatsache» die unbewußt erlebt worden ist in der Zeit, bevor der Mensch sein Ich erlebte, die wird zur bewußten Tatsache, zum Erlebnis des Cbriss Im menschlichen Inneren, im menschlichen Herzen, im menschlichen Seelenhaften. Sehen Sie da nicht, wenn man ein solches triviales Schema aufzeichnet, förmlich das, was man dann darstellen muß in Ideen? Sehen Sie nicht die ganze Welt erfüllt von dem Christus-Geist, der im Innern des Menschen aufgeht, daß der aus dem Kosmos erst hereinzieht in

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den Menschen? Und machen Sie sich klar, was für eine Bedeutung das Sonnenlicht für den Menschen hat, wie der Mensch physisch ohne das Sonnenlicht nicht leben kann, wie das Licht überall uns umgibt, dann werden Sie auch verstehen können, wenn ich Ihnen sage, daß in jenen älteren Zeiten, von denen ich heute gesprochen habe, der Mensch sich durchaus als Licht im Lichte fühlte. Er fühlte sich zum Licht hinzugehörig. Er sagte nicht «Ich bin», er nahm die Sonnenstrahlen wahr, die auf die Erde fielen, und er unterschied sich nicht von den Sonnenstrahlen. Wo er das Licht wahrnahm, nahm er auch sich wahr, denn da drinnen fühlte er sich. Wenn das Licht ankam, fühlte er sich auf den Wogen des Lichtes, auf den Wogen des Sonnenhaften, der Sonne. Mit dem Christus wurde das in seinem eigenen Inneren wirksam. Es ist die Sonne, die in das eigene Innere einzieht und in dem eigenen Inneren wirksam wird. Es steht das natürlich vielfach in der Bibel, dieser Vergleich des Christus mit dem Lichte, aber wenn heute die Anthroposophie wiederum aufmerksam machen will, daß man es da mit einer Wirklichkeit zu tun hat, dann lehnen sich heute am meisten diejenigen Menschen auf, für deren Fakultät in den Verzeichnissen der Universitäten steht: «Gottesgelahrtheit». Sie lehnen das Wissen über diese Dinge eigentlich ab. Und es ist schon eine tief bedeutsame Tatsache, daß es gerade in Basel einmal einen solchen Gottesgelahrten gegeben hat, der auch ein Freund Nietzsches war: Overbeck, der das Buch geschrieben hat über die Christlichkeit der heutigen Theologie. Mit diesem Buche wollte er eigentlich als Theologe konstatieren, daß man noch das Christliche hat, daß es damals, in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, noch dieses Christliche gab, daß aber auch schon vieles unchristlich geworden sei, daß jedenfalls aber die Theologie nicht mehr christlich sei. Das wollte der an der theologischen Fakultät in Basel wirksame Theologieprofessor Overbeck durch sein Buch über die Christlichkeit der heutigen Theologie zum Beweise erheben. Es ist ihm auch in hohem Grade gelungen. Und wer das Buch ernst nimmt, der kommt eben zu der Überzeugung: Es mag heute noch manches Christliche geben, aber die moderne Theologie ist jedenfalls unchristlich geworden. Und es mag heute noch manches Christliche geben, aber wenn die Theologen anfangen, über Christus zu reden,

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so sind ihre Worte jedenfalls nicht mehr christlich. Diese Dinge werden nur gewöhnlich nicht ernst genug genommen. Aber sie sollten ernst genommen werden, denn würden sie ernst genommen, dann würde man nicht nur die Notwendigkeit des heutigen anthroposophischen Wirkens einsehen, sondern man würde auch die ganze Bedeutung der Anthroposophie einsehen. Und man würde sich vor allen Dingen der Verantwortung bewußt sein, die man heute der gegenwärtigen Menschheit gegenüber hat in bezug auf so etwas wie anthroposophisches Wissen. Denn dieses anthroposophische Wissen müßte eigentlich heute allem Wissen zugrunde liegen. Es müßte alles Wissen, insbesondere das soziale Wissen, aus diesem anthroposophischen Wissen herausgeholt werden. Denn indem die Menschen lernen, daß das Licht des Christus in ihnen lebt - Christus in mir -, indem sie das voll erleben, lernen sie, sich als etwas anderes anzusehen als das, was man bekommt, wenn man nur den Menschen als dem Leichnam der Natur angehörig ansieht. Aus dieser Anschauung aber, daß der Mensch der zum Leichnam gewordenen Natur angehört, ist unsere antisoziale, unsoziale Gegenwart entstanden. Und zu einer wirklichen Anschauung, die wiederum die Menschen zu Brüdern machen kann, die wiederum wirkliche Moralimpulse in die Menschheit bringen kann, kann es doch nur kommen, wenn der Mensch zum Verständnis des Wortes vordringt: Nicht ich, sondern der Christus in mir -, wenn der Christus, gerade im Umgange von Mensch zu Mensch, gefunden wird als eine wirksame Kraft. Ohne diese Erkenntnis kommen wir nicht vorwärts. Wir brauchen diese Erkenntnis, und diese Erkenntnis muß gefunden werden. Kommen wir vorwärts bis zu ihr, dann kommen wir auch über diese hinaus vorwärts, dann kommen wir zu der Durchchristung unseres sozialen Lebens. DIE VERÄNDERUNGEN IM ERLEBEN DES ATMUNGSPROZESSES IN DER GESCHICHTE Dornach, 26. März 1922

  1. G211-1986-SE062 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

DIE VERÄNDERUNGEN IM ERLEBEN DES ATMUNGSPROZESSES IN DER GESCHICHTE Dornach, 26. März 1922

  1. TX

Es wird in unserer Zeit viel gesprochen von dem Unterschiede zwischen Glauben und Wissen, und es wird insbesondere auch oftmals behauptet, daß Anthroposophie nach dem, was sie zu sagen hat, sich nicht als Wissenschaft, sondern als Glaubensinhalt bezeichnen müsse, als Glaubensüberzeugung. Im Grunde genommen rühren aber alle Unterschiede, die in diesem Stile gemacht werden, davon her, daß die Menschen sehr wenig Einsicht haben in das, was sich als Glaube im Laufe der Menschheitsentwickelung ergeben hat, und daß sie eigentlich auch nicht sehr viel Einsicht in das haben, was Wissen ist. Aller Glauben, alles, was mit dem Worte Glauben zusammenhängt, geht eigentlich in sehr alte Zeiten der Menschheitsentwickelung zurück. Es geht zurück in diejenigen Zeiten, in welchen der Atmungsprozeß eine viel größere Rolle im Leben des Menschen selbst spielte, als das jetzt der Fall ist. Der Mensch mit seiner gegenwärtigen Seelenverfassung achtet eigentlich nicht auf seinen Atmungsprozeß. Er atmet ein und atmet aus, aber er nimmt dabei nicht irgendein besonderes Erlebnis wahr. Die Glaubensinhalte älterer Zeiten haben immer auf die Bedeutung des Atmens hingewiesen. Man braucht sich nur zu erinnern - ich habe schon in diesen Tagen darauf aufmerksam gemacht -, daß im Alten Testament geradezu des Menschen Schöpfung in Zusammenhang gebracht wird iIööit dem Einhauchen des Atems, und man braucht sich nur zu erinnern an das, was ich ausgeführt habe über jenes Streben, das im alten Indien zum Beispiel vorhanden war, höhere Erkenntnis dadurch zu erringen, daß in einer bestimmten Weise der Atmungsprozeß geregelt wurde. Dieses Streben hatte einen Sinn in derjenigen Zeit, in der der Mensch überhaupt mehr auf seinen Atem achtete. Ich habe gesagt, dieses Streben fand statt in der Zeit, da der Mensch um sich herum nicht nur jene tote Natur wahrnahm, die wir heute wahrnehmen, sondern in der der Mensch in allen Naturdingen und Naturtat

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sachen geistig-seelische Wirksamkeiten sah, in der er in jeder Quelle,in jeder Wolke, im Flusse und im Winde geistig-seelische Tätigkeit wahrnahm. In dieser Zeit wurde angestrebt, den Atem bewußter und be`urußter zu machen: das Einatmen, das Atemhalten, das Ausatmen zu regeln. Und durch diese Regelung des Atmungsprozesses wurde das erzeugt, was man das Selbstbewußtsein nennen kann, das Erlebnis des Ich, des «Ich bin>. Aber es war das eine Zeit, in welcher überhaupt die Wahrnehmung, das Erlebnis des Atmens eine gewisse Rolle spielte im menschlichen Leben. Der Mensch der Gegenwart kann sich aus seinem gewöhnlichen Bewußtsein heraus nicht viel Vorstellungen machen, wie das war. Ich möchte Ihnen eine solche Vorstellung einmal geben. Nicht wahr, der Atmungsprozeß zerfällt ja in das Einatmen, in das Atemhalten und in das Wiederausatmen. Dieser Atmungsprozeß ist zunächst durch die Natur des Menschen geregelt. Die Joga-Gelehrten, von denen ich gesprochen habe, die regelten ihn anders. Wie heute derjenige, der studiert, ein Denken entwickelt, das nicht das Denken des Alltags ist, so entwickelte man in den Zeiten, in denen das Atmen eine besondere Lebensrolle spielte, auch ein anderes Atmen als im gewöhnlichen Leben. Aber wir wollen jetzt einmal nicht das Joga-Atmen, das entwickelte Atmen, sondern das gewöhnliche betrachten. Ich kann Ihnen das am besten schematisch darstellen. Nehmen wir an, das wäre der menschliche Brustorganismus, so können wir sagen: Wir unterscheiden den Einatmungsprozeß, den Atemhalteprozeß - den werde ich nicht besonders zeichnen - und den Ausatmungsprozeß. Indem der Mensch in älteren Zeiten einatmete, erlebte er etwa so, als ob mit dem Einatmen, also mit der eingeatmeten Luft aus der Außenwelt dasjenige hereinkäme, was Geistiges in den Wesen und Tatsachen der Außenwelt war. Also in dem, was ich hier rötlich als die Einatmungsströmung bezeichnet habe, erlebte der Mensch, sagen wir, Gnomen, Nymphen, alles das, was Geistig-Seelisches in der umgebenden Natur war. Und indem er ausatmete (blau), indem er also die Atemluft nach außen schickte, wurden im Ausatmen diese Wesenheiten wiederum unsichtbar. Sie verloren sich gewissermaßen in der umgebenden Natur. Man atmete ein und wußte: da in der Natur draußen ist Geistig-Seelisches, denn man spürte in dem

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Einatmen die Wirkung dieses Geistig-Seelischen. Man fühlte dabei sich verbunden mit dem Geistig-Seelischen der äußeren Natur. Das wirkte auf den Menschen in diesen alten Zeiten - aber es ist nur vergleichsweise gesprochen - in einer gewissen Weise berauschend. Er berauschte sich mit dem Geistig-Seelischen der Umwelt. Und indem er wiederum ausatmete, ernüchterte er sich. So daß er in einem Berauschenden und einem Ernüchternden lebte. Und in diesem Berauschen und Ernüchtern war eine Wechselwirkung mit dem Geistig-Seelischen der Außenwelt. Aber es war noch etwas anderes da. Der Mensch fühlte, indem er einatmete, indem er gewissermaßen sich berauschte mit dem GeistigSeelischen, aus der Atemströmung in seinen Kopf leise heraufziehen,

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wie ihn die geistig-seelischen Wesen innerlich ausfüllten, wie sie sich mit seinem eigenen Leibeswesen vereinigten. So daß das, was da der Mensch verspürte, etwa so ausgedrückt werden kann: Ich atme das Geistig-Seelische der Umwelt ein. Es erfüllt mein Haupt. Ich spüre es, ich empfinde es. Dann wird der Atem gehalten. Und im Ausatmen würde der Mensch sagen: Ich gebe wieder zurück meine Empfindung von dem Geistig-Seelischen. Aber das hatte einen innigen Zusammenhang mit dem Leben. Nehmen Sie einmal nur eine ganz einfache Sache: Hier liegt Kreide. Wenn man diese Kreide heute ergreift, schaut man sie an, man greift hin, nimmt sie auf. So hat das der Mensch der alten Zeitepoche nicht gemacht. Wir haben den Gedanken, indem wir die Kreide anschauen, und heben sie dann auf. Das war bei dem alten Menschen nicht der Fall, sondern der schaute hin, atmete das, was von der Kreide geistig aus- strömt, ein, atmete aus, und erst im Ausatmen ergriff er die Kreide, so daß für ihn Einatmen gleich Beobachten, Ausatmen gleich Tätigsein war. Es war das in einer Zeit, in der eigentlich der Mensch mit der Umwelt immer in einer Art von rhythmischer Wechselwirkung lebte. Diese rhythmische Wechselwirkung hat sich ja erhalten für spätere Zeiten, aber ohne das lebendige, anschauende Bewußtsein der alten Zeiten. Nehmen Sie einmal an, wie noch in unserer Jugendzeit auf dem Lande handgedroschen wurde: anschauen, schlagen, anschauen, schlagen, in rhythmischer Tätigkeit. Diese rhythmische Tätigkeit entsprach einem gewissen Atmungsprozeß. Einatmen = Beobachten Ausatmen = Tun Für eine spätere Entwickelung der Menschheit können wir sagen: ES erlosch im menschlichen Wahrnehmen dieses Erleben des Einatmens,und der Mensch nahm oder nimmt nur dasjenige wahr, was vom Atmen in sein Haupt hinaufgeht. In alten Zeiten also, da nahm der Mensch wahr, wie sich das Eingeatmete, das für ihn ein Berauschen war, ins Haupt fortsetzte und sich dort verband mit den Sinneseindrücken. Das war später nicht mehr der Fall. Später verliert der Mensch das, was in seinem Brustorganismus vorgeht, aus seinem Bewußtsein.

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Er nimmt nicht mehr dieses Heraufströmen des Atmens wahr, weil die Sinneseindrücke stärker werden. Sie löschen aus, was im Atem heraufkommt. Wenn Sie heute sehen oder hören, dann ist in dem Vorgang des Sehens und auch in dem Vorgang des Hörens der Atmungsvorgang drinnen. Beim alten Menschen lebte das Atmen stark im Hören und Sehen, bei dem heuuögen~Menschen lebt das Sehen und Hören so stark, daß der Atem ganz abgedämpft wird. So daß wir sagen können, jetzt lebt nicht mehr das, was da berauschend, den Kopf durch strömend, von dem Alten im Atmungsprozeß in seinem Innern wahr genommen worden ist, so daß er sagte: Ah, die Nymphen! Ah, die Gnomen! Nymphen, die wurlen im Kopfe so, Gnomen, die hämmernim Kopfe so, Undinen, die wellen im Kopfe so! - Heute wird dieses Hämmern, Wellen, Wurlen übertönt von dem, was vom Sehen, vom Hören herkommt und was heute den Kopf erfüllt. Es gab also einstmals eine Zeit, in der der Mensch stärker wahrnahm dieses Heraufströmen des Atmens in sein Haupt. Das ging über in die Zeit, in der der Mensch noch durcheinander wahrnahm, in der er noch etwas von den Nachwirkungen des gnomigen Hämmerns, des undinenhaften Wellens, des nymphenhaften Wurlens, indem er noch etwas wahrnahm von dem Zusammenhang dieser Nachwirkungen mit den Ton-, Licht- und Farbenwahrnehmungen. Dann aber verlor sich alles das, was er vom Atmungsprozeß noch wahrnahm. Und von denjenigen Menschen, die noch eine Spur von Bewußtsein hatten, daß einmal das Atmen das Geistig-Seelische der Welt in den Menschen hereinführte, wurde das, was da nun blieb, was sich festsetzte aus der Sinneswahrnebmung im Zusammenhang mit dem Atmen, «Sophia» genannt. Aber das Atmen nahm man nicht mehr wahr. Also der geistige Atmensinhalt wurde abgetötet, besser gesagt, abgelähmt durch die Sinneswahrnehmung. Dieses wurde insbesondere von den Griechen empfunden. Die Griechen hatten gar nicht die Idee von einer solchen Wissenschaft, wie wir heute. Wenn man den Griechen erzählt hätte von einer Wissenschaft, wie sie heute an unseren Hochschulen gelehrt wird, es wäre ihnen das so vorgekommen, wie wenn ihnen jemand mit kleinen Stecknadeln das Gehirn fortwährend durchstochen hätte. Sie hätten gar nicht begriffen,

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daß das einem Menschen eine Befriedigung geben kann. Wenn sie solche Wissenschaft, wie wir sie heute haben, hätten aufnehmen sollen, dann hätten sie gesagt: Das macht das Gehirn wund, das verwundet das Gehirn, das sticht. - Denn sie wollten noch etwas wahrnehmen von jenem wohligen Ausbreiten des berauschenden Atems, in den sich, hineinströmend, das Gehörte, das Gesehene ergießt. Es war also beiden Griechen ein Wahrnehmen eines inneren Lebens im Haupte vorhanden, solch eines inneren Lebens, wie ich es Ihnen jetzt schildere. Und dieses innere Leben, das nannten sie Sophia. Und diejenigen, die es liebten, diese Sophia in sich zu entwickeln, die eine besondere Neigung hatten, sich binzugeben an diese Sophia, die nannten sich Philosophen. Das Wort Philosophie deutet durchaus auf ein inneres Erleben. Jene greulich pedantische Aufnahme von Philosophie, wobei man Philosophie eben - wie man es im Studentenleben nennt -, jenes Sich-bekannt-Machen mit dieser Wissenschaft, das kannte man in Griechenland nicht. Aber das innere Erlebnis des «Ich liebe Sophia», das ist es, was sich in dem Worte Philosophie zum Ausdrucke bringt. Aber ebenso, wie im Haupte von den Sinneswahrnehmungen aufgenommen wird der in den Leib einlaufende Atmungsprozeß, so wird von dem übrigen Leib das aufgenommen, was ausströmt als ausgeatmete Luft. Im Gliedmaßen-Stoffwechsel-Organismus strömen ebenso, wie sonst die Sinneswahrnehmungen durch das Gehörte, wie das Gesehene in das Berauschende der eingeatmeten Luft in das Haupt hineinströmt, die körperlichen Gefühle, die Erlebnisse mit der ausgeatmeten Luft zusammen. Das Ernüchternde der ausgeatmeten Luft, das Auslöschende für die Wahrnehmung, das floß zusammen mit den körperlichen Gefühlen, die im Gehen, im Arbeiten erregt wurden. Das ~fl~ötigsein, das Tun war mit dem Ausatmen verknüpft. Und indem der Mensch sich betätigte, indem er etwas tat, fühlte er gewissermaßen, wie von ihm fortging das Geistig-Seelische. So daß er fühlte, wenn er irgend etwas tat, irgend etwas arbeitete, wie wenn er das GeistigSeelische einströmen ließe in die Dinge hinein. Ich nehme auf das Geistig-Seelische: es berauscht mein Haupt, es verbindet sich mit dem Gesehenen, mit dem Gehörten. Ich tue etwas, ich atme aus. Das GeistigSeelische geht fort. Es geht hinein in das, was ich hämmere, es geht

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hinein in das, was ich ergreife, es geht hinein in alles das, was ich arbeite. Ich entlasse das Geistig-Seelische aus mir. Ich übertrage es, indem ich zum Beispiel die Milch sprudele, indem ich irgend etwas äußerlich mache, ich lasse einströmen das Geistig-Seelische in die Dinge. - Das war das Gefühl, das war die Empfindung. So war es also in den alten Zeiten. Aber dieses Wahrnehmen des Ausatmungsprozesses, dieses Wahrnehmen der Ernüchterung hörte eben auf, und es war nur noch eine Spur vorhanden in der Griechenzeit. In der Griechenzeit fühlten die Menschen noch etwas, wie wenn sie, indem sie sich betätigten, noch etwas Geittiges den Dingen übergaben. Aber dann wurde doch alles das, was da im Atmungsprozeß war, abgelähmt von dem Körpergefühl, von dem Gefühi der Anstrengung, der Ermüdung im Arbeiten. Ebenso wie der Einatmungsprozeß nach dem Haupte abgelähmt wurde, so wurde der Ausatmungsprozeß nach dem übrigen Organismus abgelähmt. Dieser geistige Ausatmungsprozeß war abgelähmt durch das Körpergefühl, also durch das Gefühl der Anstrengung, des Erhitztwerdens und so weiter, durch das, was im Menschen lebte, so daß er seine eigene Stärke fühlte, die er anwendete, indem er sich betätigte, indem er etwas tat. Er fühlte in sich jetzt nicht den Ausatmungsprozeß als Ermüdung, er fühlte in sich eine Kraftwirkung, er fühlte den Körper durch drungen mit Energie, mit Kraft. Diese Kraft, die da im Innern des Menschen lebte, das war Pistis,der Glaube, das Fühlen des Göttlichen, der göttlichen Kraft, die einen arbeiten läßt: Pistis, der Glaube. Sophia = der geistige Atmungsinhalt, abgelähmt durch die Sinneswahrnehmung Pistis = der geistige Ausatmungsprozeß, (Glaube) abgelähmt durch das Körpergefühl So floß im Menschen zusammen die Weisheit und der Glaube. Die Weisheit strömte nach dem Haupte, der Glaube lebte im ganzen Menschen. Es war die Weisheit nur eben der Ideeninhalt. Und es war der Glaube die Kraft dieses IdeeninhalIes. Beide gehörten zusammen. Daher auch diese einzige gnostische Schrift, die erhalten ist aus dem Altertum,

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die Pistis-Sophia-Schrift. So daß man in der Sophia eine Verdünnung der Einatmung, in dem Glauben eine Verdichtung der Ausatmung hatte. Dann verdünnte sich die Weisheit weiter. Und in der weiteren Verdünnung ist die Weisheit die Wissenschaft geworden. Und dann verdichtete sich die innere Kraft weiter. Der Mensch fühlte nur noch seinen Leib: es entschwand ihm das Bewußtsein, was Glaube, Pistis eigentlich ist. Und es kam dann eben dazu, daß die Menschen, weil sie den Zusammenhang nicht mehr erfühlen konnten, das trennten, was als bloßer Glaubensinhalt gewissermaßen subjektiv vom Innern aufsteigen sollte, und dasjenige, was sich mit der äußeren Sinneswahrnehmung verbindet. Erst war Sophia, dann Scientia, die gewöhnliche Wissenschaft, die eine verdünnte Sophia ist. Man könnte auch sagen: Ursprünglich war die Sophia ein wirkliches Geisteswesen, das der Mensch als einen Bewohner seines Kopfes fühlte. Heute hat er von diesem geistigen Wesen nur noch das Gespenst. Denn die Wissenschaft ist das Gespenst der Weisheit. Das ist etwas, was eigentlich dem heutigen Menschen wie eine Art Meditation durch die Seele ziehen sollte, daß die Wissenschaft das Gespenst der Weisheit ist. Und ebenso nach der anderen Seite der Glaube - den man heute gewöhnlich so nennt; hier hat man nicht eigentlich einen besonderen Unterschied erfaßt in den Worten -, der Glaube, der heute lebt, ist nicht der innerlich erlebte Glaube des Altertums, Pistis, sondern er ist das mit dem Egoismus eng verbundene Subjektive. Er ist der verdichtete Glaube der alten Zeiten. In dem noch nicht verdichteten Glauben hat man noch das objektive Göttliche im Menschen erfühlt. Heute findet man den Glauben nur noch subjektiv gewissermaßen heraufsteigend als Rauch aus dem Körper. So daß man sagen könnte, so wie die Wissenschaft das Gespenst der Weisheit ist, so ist der heutige Glaube das Schwergewordene des ehemaligen Glaubens, der Kloß des ehemaligen Glaubens. Diese Dinge muß man eben so zusammenhalten, dann wird man nicht mehr so oberflächlich urteilen, wie es heute viele Menschen tun, die da sagen: Anthroposophie sei nur ein Glaubensinhalt. Solche Menschen wissen nicht, wovon sie reden, weil sie den ganzen Zusammenhang des Glaubens mit der Weisheit, dieses innerliche Eins-Erleben von Glaube und Weisheit sich eben niemals aus der wirklichen Geschichte der

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Menschheit heraus zum Bewußtsein gebracht haben.Wo redet man denn heute von Geschichte so, wie wir es hier darstellen müssen? Wo redetman denn heute davon, was der Atmungsprozeß für den Menschen einmal war, wie er ein ganz anderes Erleben darstellte, als es das heutige ist? Wo wird man sich denn bewußt, wie abstrakt auf der einen Seite und robust materiell auf der anderen Seite dasjenige geworden ist, was einmal ein wirkliches Geist-Seelisches nach der einen Seite und ein wirkliches Seelisch-Leibliches nach der anderen Seite war? Als die Glaubensentwickelung an einem bestimmten Punkte angelangt war, da wurde es eben für die Menschheit notwendig, in diesen Glaubensinhalt etwas ganz Bestimmtes aufzunehmen. In alten Zeiten hatte ja der Mensch das Göttliche in dem Glaubensinhalte drinnen. Er erlebte das Göttliche im Ausatmungsprozeß. Aber der Ausatmungsprozeß ging ihm für sein Bewußtsein verloren. Er hatte nicht mehr das Bewußtsein, daß da das Göttliche in die Dinge hinaus übergeht. Der Mensch brauchte für sein Bewußtsein eine Wiederbelebung des Göttlichen, und er bekam diese Wiederbelebung dadurch, daß er nun eine Vorstellung in sich herein bekam, die auf der Erde keine äußere Wirklichkeit hat. Auf der Erde hat es keine äußere Wirklichkeit, daß die Toten aus den Gräbern aufstehen. Aber das Mysterium von Golgatha hat für den Menschen nicht einen wirklichen Inhalt, wenn er den Lebensgang des Jesus schildert, bis Jesus stirbt. Das ist schließlich nichts Besonderes. Daher ist der Jesus auch für die moderne Theologie nichts Besonderes mehr. Denn daß ein Mensch irgendwelche Erlebnisse durch- macht und dann stirbt, wie die moderne Theologie das Leben Jesu darstellt, das ist ja nichts Besonderes. Das Mysterium beginnt erst mit der Auferstehung, mit dem lebendigen Leben des Christus-Wesens, nachdem der physische Leib durch den Tod gegangen ist. Und - das ist ja auch entsprechend dem Paulusworte - wer diese Vorstellung der Auferstehung nicht aufnimmt in sein Bewußtsein, der hat gar nichts vom Christentum aufgenommen, daher die moderne Theologie ja eigentlich nur eine Jesulogie, eigentlich gar kein Christentum ist. Das Christentum braucht eine solche Vorstellung, die sich auf eine Wirklichkeit bezieht, die nicht auf dieser Erde sich abspielt als unmittelbare

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Anschauung der Sinne, sondern die als Vorstellung schon den Menschen hinaufhebt ins Übersinnliche. Durch ein innerliches Erleben wurde der alte Mensch hinaufgehoben in das Übersinnliche. Ich habe Ihnen in diesen Tagen dargestellt, wie der Joga-Schüler hingeführt wurde zu dem innerlichen Erleben des Babyseins. Man erlebte die ersten Eindrücke des Babyseins, dasjenige,was plastisch an dem Menschen gestaltet. Das, wovon man sonst nichts weiß, das wurde durch die Joga-Übungen, von denen ich Ihnen gesprochen habe, bewußt, damit aber gleichzeitig das ganze Vorgeburtliche, beziehungsweise das Leben, das vor der Empfängnis liegt, wo die Seele des Menschen in der geistigen Welt oben war, bevor sie herunter- stieg und einen physischen Leib annahm. Davon blieb nur eine Vorstellung zurück. Diese Vorstellung ist auch in den Evangelien enthalten: So ihr nicht werdet wie die Kindlein, könnet ihr nicht eindringen in die Reiche der Himmel. - Dieses Wort bezieht sich darauf, nur hatte es in jener Zeit kein unmittelbares Leben mehr. Es war dieses Wort gewissermaßen eine Erinnerung, daß man einstmals sich zurückversetzen konnte in die Kindleinszeit und da die Reiche der Himmel erleben konnte, aus denen man heruntergestiegen ist durch die Geburt ins physische Dasein. Es ist wohl kaum so, daß der Mensch heute, wenn er aus den Evangelien oder aus einer sonstigen alten Sprache von den Reichen der Himmel hört, sich etwas Bedeutsames darunter vorstellt. Er denkt dann wohl: Nun ja, das habe ich hier auf Erden gesehen - Frankreich, England und so weiter, das ist in Reiche gespalten. Was da auf Erden an Reichen vorhanden ist, das ist auch da oben, da sind auch die Reiche der Himmel. - Sonst kann ja der Mensch nicht recht eine konkrete Vorstellung von den Reichen der Himmel bekommen, wenn er nicht das, was da unten ist, auch oben vorstellen kann. Ich glaube, man sagt im Englischen sogar, wenn ich nicht irre: die Königreiche der Himmel. Ja, da bekommt man keine Vorstellung von dem, was in dem heute modernisierten Ausdruck «die Reiche der Himmel» liegt. Das Evangelium sagt sogar gewöhnlich so, daß man es noch weniger irgendwie sehen kann, was es eigentlich bedeutet, es sagt so- gar: das Gottesreich. Dabei denkt sich der Mensch wohl schon kaum noch irgend etwas, sondern er läßt eben ein Wort erklingen.

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Aber die Himmel waren in alten Zeiten ganz genau dasjenige, was sich - wenn etwa hier die Erde ist (Mitte) - ausbreitete als Sphäre der Welt (weiß, blau). Und «Reich» - was war denn das? Wir wollen von aller Philologie absehen und hier die Beobachtung zu Hilfe nehmen, welche durch anthroposophische Methode selbst gegeben werden kann.

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«Reich» = dasjenige, was hinreicht, was umreicht, was umringt, das ist das Reichende, das Tönende, das Sprechende, so daß man sich zur Vorstellung aufschwingen muß: Durch diese Himmel tönt hindurch für den, der es wahrnehmen lernt, das Geistig-Seelische. Er nimmt nicht nur wahr die Himmel, sondern das die Himmel durchklingende, durch reichende Weltenwort.

Wer nicht werden kann wie die Kindlein, kann nicht wahrnehmen das Wort der Himmel, das Wort, das überall aus den Himmeln spricht. Wenn man irdische Reiche «Reiche» nennt, und die irdischen Herrscher «Herrscher dieser Reiche», so müßte man ja die geheime Vorstellung haben, daß diese Herrscher so laut sprechen oder singen könnten, daß ihre Stimme durch ihr ganzes Reich erklingt. In älteren, legendenhaften Vorstellungen gibt es auch so etwas wie ein Ertönen des Reiches. Und symbolisch kam das dadurch zum Ausdrucke, daß Gesetze gegeben wurden, die nach den Himmelsgegenden hin mit Posaunen verkündet wurden, wodurch das Reich eine Wirklichkeit wurde.

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Das Reich war nicht die Fläche, auf der die Menschen wohnten, sondern das Reich war das, was die Posaunenengel als den Inhalt der Gesetzmäßigkeiten hinaustrugen in die Weiten. Aber es war eine Erinnerung. Es mußte eine andere Vorstellung kommen, die sich mehr auf den Willen bezog - das Vorherige bezog sich auf die Idee, auf den Gedanken -, auf dasjenige, was mit dem Menschen geht, wenn er durch das Tor des Todes geht. Da bleibt ja als seine Energieentwickelung der Wille. Der geht mit ihm durch die Pforte des Todes mit dem Weltgedankeninhalt. Der menschliche Wille, erfüllt mit Weltengedanken, geht mit ihm in die geistigen Welten ein, wenn der Mensch stirbt. Und an diesen Willen wandte sich nun die neue Vorstellung von dem auferstandenen Christus, von dem, der lebt, auch wenn er irdisch gestorben ist. Das war die kräftige, gewaltige Vorstellung, die nicht bloß zurückerinnerte an die Kindheit, die hinwies auf den Tod, und die im Menschen an das appellierte, was mit ihm durch die Pforte des Todes hindurchgeht. So finden wir durchaus begründet in der Menschheitsentwickelung selbst das Hereinbrechen der ChristusVorstellung, des ganzen Christus-Impulses. Nun kann man aber allerdings sagen: Auch heute sind doch noch viele Menschen auf der Erde, die nichts wissen vom Christus. Diejenigen Menschen, die heute von ihm wissen, wissen es ja meistens schlecht, aber sie lernen etwas vom Christus, wenn sie auch nach dem Sinn des heutigen Materialismus die Vorstellung vom Christus, die Empfindung vom Christus, die sie in sich haben, nicht richtig haben. Aber es gibt doch auf der Erde viele Menschen, die eben in anderen, älteren Religionsformen leben. Und da entsteht die große Frage, die ich schon gestern andeutete. Ich sagte, das Mysterium von Golgatha ist eine Tatsache. Der Christus ist für alle Menschen gestorben. Der ChristusImpuls ist eine Kraft der ganzen Erde geworden. In diesem objektiven Sinne, abgesondert vom Bewußtsein, ist der Christus da für Juden, Heiden, Christen, Hindumenschen, Buddhisten und so weiter. Er ist da. Er lebt seit dem Mysterium von Golgatha in den Kräften der Erden-Menschheitsentwickelung. Aber es macht doch einen Unterschied, ob die Menschen innerhalb eines christlichen Bereiches oder eines nichtchristlichen Bereiches leben. Welcher Unterschied da besteht,

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das kann man nur studieren, wenn man den Zusammenhang erblickt zwischen dem Leben, das der Mensch entfaltet zwischen dem Tod und einer neuen Geburt und dem Erdenleben. Wenn der Mensch durch den Tod gegangen ist und im Leben, sagen wir, Buddhist oder Hinduist war, wenn er also gar keine Vorstellung, keine Empfindung von dem Christus aufgenommen hat, so nimmt er für das Weltenall hinter den Tod dasjenige mit, was der Mensch eben hier auf der Erde erfahren kann von der äußeren Umgebung, von der Natur. Man würde in den Himmeln nichts von der Natur wissen, wenn der Mensch dorthin nicht - wenn er durch den Tod in die Reiche der Himmel eintritt - die Kunde von der Erde bringen würde. Der Mensch trägt,was er hier auf der Erde aufnimmt, hinüber in das Reich des Über- sinnlichen, indem er durch den Tod geht, denn dadurch haben die übersinnlichen Welten überhaupt erst eine Kenntnis von dem Mineralischen, von dem Pflanzlichen, von dem Tierischen auf der Erde. Derjenige aber, der von Christus etwas weiß, der namentlich die Vorstellung haben kann, daß Christus in ihm lebt, der das Paulinische Wort erlebt: «Nicht ich, sondern der Christus in mir» -, der trägt nun nicht bloß die Kunde von der Erde in die übersinnlichen Welten hin- ein, sondern die Kunde von dem irdischen Menschen. So wird beides hineingetragen auch noch von dem heutigen Menschen. Die Christen tragen in die übersinnliche Welt die Kunde von dem Erdenmenschen hinein, von der leiblichen Erdengestaltung des Menschen. Die Hindumenschen, die Buddhisten und so weiter tragen in die Himmel hinein die Kunde von dem, was um den Menschen herum ist. Es ergänzen sich schon heute die Menschen in dem, was sie als Beitrag liefern für die übersinnlichen Welten, indem sie durch den Tod gehen. Es wird natürlich immer mehr und mehr notwendig, daß alle Geheimnisse, die der Mensch in sich selber, durch sich selber erleben kann, hineingetragen werden in die Himmel, daß der Mensch also immer mehr und mehr durchchristet werde. Aber vor allen Dingen ist es wichtig, daß das, was der Mensch nur als Mensch mit Menschen hier auf der Erde erlebt, mittelst des Christentums durch den Tod getragen wird. Bedenken Sie, daß das eigentlich eine außerordentlich wichtige Wahrheit ist, eine ganz wesentliche Wahrheit. Nehmen Sie zum Beispiel

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den Hinduisten, den Buddhisten. Was er erlebt im Anschauen der Welt, im Empfinden der Welt, im Erfühlen der Welt, was er erlebt an Gedanken über Mineralien, an Empfindungen über Pflanzen, an Gefühlen über Tiere, er trägt das alles durch die Pforte des Todes und bereichert das Götterwissen in der übersinnlichen Welt mit dem, was er also erlebt. Das, was der Christ erlebt, indem er mit seinen Mitmenschen in ein soziales Verhältnis tritt, indem er soziale Zusammenhänge entwickelt, also das, was man nur als Mensch unter Menschen erleben kann, was in menschlicher Bruderschaft auf Erden erlebt wird, das trägt seinerseits der Christ durch die Pforte des Todes. Man möchte sagen: Der Buddhist trägt die Schönheit der Welt durch die Pforte des Todes, der Christ trägt die Güte durch die Pforte des Todes. Sie ergänzen einander schon. Aber der Fortschritt des Christentums besteht darin, daß gerade die sozialen irdischen Verhältnisse eine Bedeutung für die himmlischen Welten bekommen. Die morgenländischen Tyrannen mochten noch so viele Menschen enthaupten, das rührte gewissermaßen die jenseitigen Welten wenig. Es rührte sie nur insofern, als der Mensch dadurch äußere Eindrücke empfing: die äußeren Eindrücke des Abscheus und so weiter, die wurden durch die Pforte des Todes getragen. Das, was heute durch jämmerliche soziale Verhältnisse an Unliebe zwischen Menschen entfaltet wird, was durch Verkennung der sozialen` Zusammenhänge auf der Erde als falscher Sozialismus sich ausbreitet, da`s hat eine große Bedeutung auch für die übersinnlichen Welten, in die der Mensch durch die Pforte des Todes eintritt. Und wenn heute unter der Flagge der Verwirklichung des Sozialismus im Osten von Europa eine furchtbare, zerstörerische Gewalt entwickelt wird, so wird auch das, was da erlebt wird, hineingetragen als furchtbares Ergebnis in die jenseitigen Welten. Und wenn entwickelt werden lieblose Verhältnisse unter den Menschen in der Zeit des Materialismus, so wurde das hineingetragen zum Abscheu der göttlich-geistigen Welten durch die Pforte des Todes in die übersinnlichen Welten. Durch das Christentum soll der Mensch gerade dazu kommen, Ergebnisse der Erdenentwickelung, die durch ihn entstehen, auch in die übersinnlichen Welten hineinzutragen. Das, was der Mensch auf

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der Erde selber ausbildet, das wird er durch den Gedanken an den auferstandenen Christus, an ein lebendes Wesen, das durch den Tod gegangen ist und doch lebt, fähig, in die geistigen Welten hineinzutragen. Daher haben auch diejenigen Menschen, die nicht möchten, daß ihre sozialen Taten durch den Tod getragen werden, heute einen solchen Horror davor, den auferstandenen Christus anzuerkennen. Es hängt eben durchaus die sinnlich-physische Welt mit der übersinnlichen Welt zusammen, und man versteht die eine nicht, wenn man sie nicht im Zusammenhang mit der anderen versteht. Wir müssen wiederum dazu kommen, das, was auf der Erde vorgeht, dadurch zu verstehen, daß wir die geistigen Ereignisse des Weltenalls verstehen. Wir müssen lernen, nicht abstrakt zu reden von Geist und Materie, sondern wir müssen lernen, hinzuschauen auf den Menschen, wie er einmal im Atmungsprozeß einen Zusammenhang erfühlte mit dem Göttlich-Geistig-Seelischen der Welt, und müssen dadurch dazu kommen, selber wiederum das Geistig-Seelische der Welt nun auf die Art zu erleben, wIe wir es eben in unserer Zeit erleben können. Auf eine andere Weise kann auch keine Gesundung der sozialen Zustände der Erde erfolgen. Man wird nach sozialer Verbesserung schreien, wird aber nichts erreichen, sondern im Gegenteil: Es wird alles immer mehr dem Niedergange zugehen, wenn nicht diese Durchchristetheit unter den Menschen Platz greift, die aber auf das Reale gehen muß, nicht auf das bloße Aussprechen von inhaltlosen Worten, an denen man sich berauscht. Am Atem durften sich die Alten berauschen. An Worten dürfen sich die Neueren nicht berauschen. Worte dürfen für sie kein Berauschendes sein, sondern ein im Sinne der Sophia gehaltenes, den Menscheii weisheitsvoll Durchdringendes. Das sind die Dinge, durch die Anthroposophie auch auf das hinweist, was in sozialer Beziehung heute wichtig ist. Und sie möchte schon in ihrem Namen etwas davon ausdrücken, diese Anthroposophie, Anthroposophia, die ja auch eine Weisheit ist. Während der Griechenzeit war der Mensch etwas Selbstverständliches. Sophia war schon eine Menschen-Weisheit, weil der Mensch noch licht-weisheitsvoll war. Heute, wenn man sagt: Sophia, da denken die Menschen bloß an das

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Gespenst der Sophia, an die Wissenschaft. Man muß deshalb schon appellieren an den Menschen, den man heranruft, an den Anthropos: Anthroposophia. Man muß aufmerksam machen, daß das etwas ist, was aus dem Menschen heraus kommt, was aus dem Menschen heraus leuchtet, was aus den besten Kräften des Menschen heraus blüht. Darauf muß man schon hinweisen. Aber dadurch wird auch Anthroposophie etwas, was das menschliche Erdendasein belebt. Denn sie ist etwas, was nur in einer geistigeren, aber nicht minder konkreten Weise vom Menschen erlebt wird, als die alte Sophia erlebt wurde, und was zu gleicher Zeit eben mitbewirken soll dasjenige, was dann im ganzen Menschen war, der Inhalt des Glaubens, Pistis. Es ist Anthroposophie durchaus nicht etwa ein Glaubensinhalt, sondern ein wirklicher Wissensinhalt, aber ein solcher, der den Menschen eine Kraft gibt, wie sie in älteren Zeiten nur der Glaube enthalten hat. DAS WESEN DES MENSCHEN UND SEIN AUSDRUCK IN DER GRIECHISCHEN KUNST Dornach, 31. März 1922

  1. G211-1986-SE078 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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DAS WESEN DES MENSCHEN UND SEIN AUSDRUCK IN DER GRIECHISCHEN KUNST Dornach, 31. März 1922

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Vergegenwärtigen wir uns heute einmal die Kräfte, welche die menschliche Wesenheit während des Erdenlebens zusammenhalten, um dadurch in diesen Tagen einen Ausblick in einiges Kosmologische bekommen zu können. Wir wissen ja, da der Mensch sich gliedert, wenn wir das Nächste betrachten, was ihn im Erdenleben hier ausmacht, in den physischen Leib, in den Bildekräfteleib, den man auch den Ätherleib nennen kann, in den astralischen Leib und in das Ich. Stellen wir uns einmal vor Augen, wie wir etwa diese vier Glieder der menschlichen Wesenheit charakterisieren können. Der physische Leib ist ja das, was dem Menschen dadurch zukommt, da gewissermaßen die Erdenkräfte für ihn arbeiten. In der Zeit, die der Mensch durchmacht zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, hat er es ja nicht mit diesem physischen Leib zu tun. Aus den Bemerkungen, die ich in den unmittelbar vorangehenden Vorträgen gemacht habe, haben wir gesehen, daß die menschliche Wesenheit, wenn sie heruntersteigt aus geistig-seelischen Gebieten zu einer physischen Verleiblichung, gewissermaßen geistig abgestorben ist und ihre Kraft in Innerlichkeit wiederum gewinnen muß durch das Untertauchen in die physische Leiblichkeit. Diese physische Leiblichkeit selber aber wird gewissermaßen aus den Kräften der Erde heraus geboren und verbindet sich mit dem, was aus der geistig-seelischen Welt herunterkommt. Aber kurze Zeit, bevor der Mensch zur physischen Erdenverkörperung gelangt, hat er auch noch nicht den Bildekräfte- oder ätherleib. Dieser wird ebenso erst mit der menschlichen Wesenheit verbunden für das Erdendasein wie der physische Leib. Nur hat dieser ganze Bildekräfte- oder Ätherleib ein anderes Verhältnis zum Weltenall als der physische Leib. Wenn wir den physischen Leib des Menschen in bezug auf seine Kräfte durchsuchen, so finden wir in ihm eben die Kräfte des Erdenplaneten selber. Wenn wir aber an den Äther- oder Bildekräfteleib des Menschen herangehen, so finden wir in ihm mehr die Kräfte des Kosmos

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die Kräfte des gesamten Weltenalls. Dagegen sind im menschlichen astralischen Leib und im menschlichen Ich solche Kräfte enthalten, die eigentlich in dem äußeren Raum des Weltenalls gar nicht angetroffen werden, die, wenn wir uns des Ausdrucks bedienen dürfen, nicht von der Welt sind, der die Erde angehört. Es ist eigentlich so, daß die Erde fortwährend das Bestreben hat, den physischen Leib des Menschen für sich in Anspruch zu nehmen, ihrem eigenen Wesen einzuverleiben. Dagegen hat das Weltenall fortwährend die Tendenz, den Bildekräft- oder Ätherleib des Menschen in die ganze Welt zu zerstreuen. Wenn der Mensch in dem Zustande ist zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen, dann wirken in dem, was im Bette bleibt, in dem physischen und in dem Bildekräfteleib, eigentlich die Kräfte so, daß der physische Leib fortwährend, ein ich mich so ausdrücken darf, sich mit der Erde verbinden will. Er will der Erde ähnlich werden, er will ganz irdisch werden. Der Bilderkarte- oder Ätherleib will sich in das Weltenall zerstreuen. Und wenn wir des Morgens beim Aufwachen unseren physischen Leib und unseren Ätherleib wiederfinden, so ist es eigentlich so, daß, indem wir da in den physischen Leib hineinkommen, er uns sagt: Mich hat die Erde in Anspruch genommen während der ganzen Nacht, mich wollte die Erde zu Staub formen. Nur dadurch, daß du mich den gestrigen Tag und die vorhergehenden Erdentage zusammengehalten hast durch dein Ich und durch deinen astralischen Leib, bin ich noch ein physischer Leib geblieben; es wirkten in mir die Kräfte des Zusammenhaltens fort. - Ebenso sagt der Bildekräfte- oder Ätherleib: Eben nur, weil ich die Gewohnheit angenommen habe, dir ähnlich zu sein, habe ich die menschliche Form behalten. Eigentlich haben mich die Kräfte des Weltenalls während der Nacht, während du schliefest, während du außer mir warest, in alle Wände zerstreuen wollen. Wir haben jedesmal, wenn wir aufwachen, im Grunde genommen die Anstrengung zu machen, unseren physischen Leib wiederum richtig in unseren Besitz zu nehmen. Er will eigentlich uns abhanden kommen vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Das tun wir durch das Ich. Das Ich kann, wenn es dazu geschult ist, sich wirklich so empfinden, als ob es jeden Morgen neuerdings von dem physischen Leib Besitz er-

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greifen möchte. Der astralische Leib, der kann spüren beim Auf- wachen, daß er den Ätherleib sich ähnlich machen muß. Der wollte schon eine unmenschliche Form annehmen. Der astralische Leib muß ihn wiederum in die menschliche Form zurückdrängen. Man möchte sagen: Der physische Leib verliert während des Schlafens die Neigung, sich von dem Ich besitzen zu lassen, und der Ätherleib verliert die Neigung, menschenähnliche Gestalt zu haben. Er flattert aus. So daß tatsächlich die Gestalt, die unser physischer Leib hat, nur ein Ergebnis der Ich-Wirkung in unserer menschlichen Wesenheit ist. In der gegenwärtigen Seelenverfassung haben die Menschen ja nicht viel Empfindung für so etwas, das sich in den Worten ausdrücken läßt: Wenn ich im Aufwachezustand in meinen physischen Leib zurückkehre, dann muß ich ihn erst wiederum in Besitz nehmen. Er wollte mir abhanden kommen, und der Ätherleib wollte zerflattern. Nehmen wir aber an, es hätte einmal eine Zeit gegeben, in welcher die Menschen noch eine deutliche Empfindung gehabt hätten von diesem Kampf, der sich abspielt bei jedem Aufwachen zwischen dem Ich und dem astralischen Leib einerseits, und dem physischen Leib und dem Ätherleib andererseits. Dann hätten sie ja auch, eben weil sie diese deutliche Empfindung hatten, eine Empfindung davon gehabt, daß es etwas ganz Besonderes sein müßte, wenn der Mensch etwa dazu käme, durch irgend etwas ganz plötzlich seinen physischen Leib und seinen Ätherleib verlassen zu müssen. Wenn unter normalen Erdenverhältnissen der Mensch seinen physischen Leib und seinen Ätherleib verläßt, so geschieht ja das dadurch, daß der physische Leib, sei es durch Krankheit, sei es durch Alter, in einem hohen Grade erdenähnlich geworden ist, so daß er sich mit der Erde vereinigen will, oder aber der Mensch hat durch irgendwelche Verletzungen seinen physischen Leib dahin gebracht, daß das Ich ihn nicht mehr besitzen kann und so weiter. Aber nehmen wir an, es käme ganz plötzlich dazu, daß das Ich und der astralische Leib aus dem vollgesunden unverletzten physischen Leib und Ätherleib heraus müßten, so daß also diese im höchsten Sinne noch die Tendenz hätten, vom Ich besessen zu werden und dem astralischen Leib ähnlich zu sein, was müßte dann geschehen?

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Der Gedanke könnte in dem alten Menschen aufgedämmert sein: Ja, dann könnte dieser physische Leib nicht ohne weiteres zerfallen.- Er kann nur zerfallen, wenn er schon in sich die Tendenzen zum Zerfall hat, wie durch Krankheit oder Altern oder dergleichen. Aber wenn aus dem vollgesunden menschlichen Organismus, in dem der Bildekräfteleib darinnen ist, plötzlich der astralische Leib und das Ich heraus müßten, dann müßte die menschenähnliche Form bleiben, denn es ist noch voll die Tendenz vorhanden, von dem Ich und dem astralischen Leib besessen zu werden. Es müßte voll die menschliche Form dableiben. Der Mensch müßte so werden wie eine Bildsäule. Der physische Leib könnte nicht zerfallen, der Ätherleib könnte nicht unähnlich werden, weil die Trennung zu rasch gewesen wäre. Es müßte der Mensch eine Bildsäule werden. Solch eine Empfindung scheint tatsächlich einmal dagewesen zu sein. Sie kennen ja alle die griechische Sage von Niobe, welche sieben gesunde Söhne und sieben gesunde Töchter hatte und die einmal aus einer Fülle von Gesundheit heraus die Mutter des Apollo und der Artemis verhöhnte, weil diese, trotzdem sie eine Göttin ist, nur zwei Kinder habe: Apollo und Artemis. Sie weigerte sich zu opfern, und die Rache des Gottes oder der Götter kam über sie. Sie mußte es erleben, daß von den Pfeilen des Apollo und der Artemis getroffen ihre sieben Töchter und ihre sieben Shne ganz pltzlich dahinstarben, gettet wurden. Sie sah das ganze Leichenfeld ihrer vierzehn Sprálinge vor sich, und ihr Ich und ihr astralischer Leib verbanden sich im Schmerze mit dem, was sie um sich herum sah. Sie kennen die Giebelfiguren der Niobe, die zur Bildsule wird, um sie herum die sieben Shne, die sieben Tchter, wie sie an den Tod kommen. Sie selbst wird zur Bildsule. Der physische Leib, der ?therleib mssen sich trennen von dem Ich und dem astralischen Leib. Aber dieser physische Leib und der ?therleib, weil sie so voll von strotzendem Leben waren, daá Niobe selbst die Gttin mit ihren zwei Sprálingen verhhnen konnte, konnten nicht den Hang zum Ich verlieren, und der ?therleib konnte nicht unhnlich werden dem astralischen Leibe. Niobe wurde zur Bildsule. Solch ein Kunstwerk ist durchaus hervorgegangen aus einer tiefen

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Weltanschauungsempfindung, aus etwas, das man aus der damaligen Weltanschauung heraus wie eine Wahrheit empfunden hat. Man hat eben empfunden: Wre Niobe nicht von so strotzendem Leben gewesen, daá sie zur Verhhnung der Gttin Latona kommen konnte, dann htte sie so sterben knnen, daá ihr physischer Leib zerfallen wre. Aber sie ist eben von so strotzendem Leben gewesen, daá sie sich selbst gegen die Gtter auflehnte, daá sie also voll in diesem physischen Leib drinnen lebte. Und so sehen wir, daá der griechische Genius empfindet: Wegen des schnellen Herausgehens des Ich und des astralischen Leibes aus dem physischen und dem ?therleib wird die Niobe zur Bildsule. Wenn man nmlich zurcksieht in der Menschheitsentwickelung, dann schlieát sich immer die Kunst durchaus an das Empfinden an, welches mit der Weltanschauung einer betreffenden Zeit zusammen- hngt. Wir knnen das aber auch noch an vielem anderen sehen. Lenken wir noch einmal unseren Blick darauf, wie der Mensch beim Aufwachen wiederum Besitz ergreifen muá von seinem physischen Leibe, weil dieser physische Leib der Erde hnlich werden will. Htte Niobe auch nur eine Nacht schlafen knnen, nachdem sie ihren Schmerz erfahren hatte, dann htte sie nicht mehr zur Bildsule werden knnen, denn der physische Leib wrde dann schon die Krfte in sich aufgenommen haben, der Erde hnlich zu werden, das heiát zu zerfallen. Die menschliche Wesenheit muá also an jedem Morgen wiederum von dem physischen Leib Besitz ergreifen, und der astralische Leib muá jeden Morgen den ?therleib sich hnlich formen, ihn wiederum plastisch gestalten, so daá er menschenhnliche Form annimmt. Es gab innerhalb der griechischen Entwickelung eine Zeit, wo man das recht lebendig empfunden hat, daá der Mensch jeden Morgen Krfte entwickeln muá, um starken Besitz von seinem physischen Leib zu nehmen. Der Grieche hat eine gewisse Befriedigung gehabt an dem Besitz seines physischen Leibes, und da er gewuát hat: jeden Morgen mUá neu Besitz ergriffen werden vom physischen Leib, so hat er das Bedrfnis empfunden, die Krfte, welche Besitz ergreifen knnen vom physischen Leib, und auch diejenigen, welche den astralischen

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Leib stark machen, zu verstrken, um sich den ?therleib jeden Morgen wiederum hnlich zu machen. Wenn der Mensch wachend, bewuát den ganzen Vorgang verfolgen wrde, der beim Aufwachen sich abspielt, so wrde er im Aufwachen sich jeden Morgen sagen: Daá mir nur ja mein physischer Leib nicht abhanden kommt, daá ich nur ja wiederum in diesen physischen Leib richtig hineinkomme! - Furcht htte der Mensch davor, nicht richtig in den physischen Leib hineinkommen zu knnen. Der Grieche in der lteren Zeit wuáte viel von dieser Furcht, und er wuáte ebensogut: Der ?therleib bekommt jede Nacht eine eigentmliche Neigung, in vier verschiedene Gestalten auseinander zu flattern, zu etwas zu werden, was engelartig ist, was lwenartig ist, was adlerartig ist und was ochsenartig ist. Man muá jeden Morgen vom astralischen Leib aus sich wieder bemhen, diese vier Glieder des ?therleibes, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, so durcheinander zu synthetisieren, daá wiederum ein richtiger Mensch daraus wird. Aber die Griechen hatten das Leben im physischen und im ?therleib gern. Ich habe Ihnen ja fter jenen Ausspruch angefhrt, der uns aus Griechenland herauf- tnt: ®Lieber ein Bettler auf der Erde als ein Knig im Reiche der Schatten¯, in der Unterwelt. - Der Grieche liebte dieses physische Dasein. Er wollte also auch gestrkt werden in dem Besitzergreifen seines physischen Leibes, in dem ?hnlichwerden des ?therleibes dem Menschen. Und sehen Sie, mit aus dieser Tendenz heraus entstand die Tragdie. Und Aristoteles noch gibt eine Definition von der Tragdie, von dem Trauerspiel, die deutlich darauf hinweist, daá im Grunde genommen die Griechen nicht die Tragdie sich so gedacht haben, wie der moderne Mensch sie sich denkt. Ich weiá nicht, ob jemand andere Erfahrungen hat, aber ich habe zumeist die Erfahrung gemacht, daá die Leute heute glauben, Trauerspiele gibt es aus dem Grunde, weil, wenn man den ganzen Tag ber sich abgegeben hat mit dem, was eben der Tag bringt, man sich abends gern ein paar Stunden hinsetzt, um in einer mehr oder weniger aufregenden Art etwas zu erleben, was kein wirkliches Erlebnis, sondern nur ein Bild ist. So hat der Grieche in der Zeit, als die griechische Kultur eigentlich nach und nach entstanden ist, durchaus nicht gedacht. Dem Griechen

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war das Leben Eines, und alles, was er in das Leben hineingesetzt hat, das war ihm etwas, das eben wirklich der Gesamtheit dieses Lebens auch lebendig angehren sollte. Und die Tragdie war ihm das Mittel, damit der Mensch richtig seinen physischen Leib besitzen und seinen ?therleib formen knne. Und die Tragdie wurde so ausgebildet, daá, indem der Mensch sie ansah, er Furcht und Mitleid empfinden sollte. Warum sollte der Mensch da in der Tragdie Furcht erleben? Er sollte Furcht erleben, weil durch das Erleben dieser Furcht gestrkt wird seine Kraft, den physischen Leib in der richtigen Weise an jedem Morgen in Besitz zu nehmen. Und Mitleid sollte er empfinden, weil dadurch sein astralischer Leib an jedem Morgen strker gemacht wird, um den Atherleib in der richtigen Weise zu formen. Setzt mir Tragdien vor, sagte der Grieche, dann bin ich imstande, meinen physischen Leib richtig in Besitz zu nehmen, meinen ?therleib richtig aufzubauen, dann bin ich im vollsten Sinne des Wortes imstande, ein rechter Mensch zu sein. Der Grieche wollte ein rechter Mensch im Erdendase1n sein. Dazu sollte ihm neben dem anderen, daá er in seine Kultur sich hin- einstellte, auch das Trauerspiel, die Tragdie dienen. Natrlich setzt das voraus, daá man in jenen lteren Zeiten gewuát hat, wie das Geistig-Seelische, das Ich und der astralische Leib des Menschen, zusammenhngt mit dem Physischen und dem ?therischen des Menschen. Aristoteles gibt eine Definition des Trauerspieles. Er sagt: Das Trauerspiel, die Tragdie ist die Nachahmung einer Handlung, durch die Furcht und Mitleid erregt werden, damit der Mensch durch die Erregung von Furcht und Mitleid die Katharsis, die Krisis von Furcht und Mitleid erlebt. - Krisis, Katharsis, das ist ein Ausdruck, welcher der lteren griechischen Medizin, der Heilkunst entlehnt ist, und es wird eben die Tragdie selbst da noch, als Aristoteles schon das Griechentum in die Pedanterie hinaus entwickelte, so von ihm empfunden, daá sie etwas Heilendes, etwas Strkendes fr den Menschen haben soll. Versuchen wir einmal diesen Ausdruck ®Katharsis¯, der ja auch aus den Mysterien kommt - und was er in den Mysterien bedeutet, haben wir ja fter erklrt -, uns im gewhnlichen Leben klar zu machen. Wenn der Mensch innerlich krank wird, was geht da eigentlich vor?

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Es treten im Menschen Leiden, Schmerzen auf, die sonst nicht vor- handen sind. Er beginnt seinen Organismus zu spren, in irgendeiner Weise zu empfinden, so zu empfinden, wie er ihn im normalen, im sogenannten gesunden Leben eben nicht empfindet. Im gesunden Leben tut einem nichts weh zunchst, glaubt man. Wenn man krank wird, beginnt etwas weh zu tun, Schmerzen zu machen. Das bedeutet aber nichts anderes, als daá das Ich und der astralische Leib nich,t in der richtigen Weise - verzeihen Sie den etwas groben Ausdruck - eingehngt sind in den physischen Leib und in den ?therleib.Wird nun der Mensch zur Heilung, zur Gesundung wieder gefhrt, so bekommt das Ich und der astralische Leib die Kraft, sich wiederum in der richtigen Weise einzuhngen. Das Ich und der astralische Leib bekommen eine gráere Kraft ber den physischen Leib in der Heilung, als sie vor der Heilung gehabt haben. Nehmen wir an, der Mensch verfllt einer Lungenkrankheit. Sein Ich und sein astralischer Leib sind nicht richtig in den ?therteil der Lunge und in den physischen Teil der Lunge eingeschaltet. Was bei der Heilung vorgeht, ist wiederum die richtige Einschaltung. Und die Krisis besteht eben darin, daá auáerhalb der richtigen Einschaltung das Ich und der astralische Leib die Kraft bekommen, sich nachher wieder richtig einzuschalten. Das, was da in der Krankheit in einer uáerlichen Weise vor sich geht, das sah der Grieche fortwhrend in einer innerlichen Weise in dem Menschen vor sich gehen. Der Grieche empfand so: Wenn der Mensch gar nichts fr sich tut, d;ann werden sein Ich und sein astralischer Leib immer fremder dem physischen und dem ?therleib. Die knnen immer weniger vom physischen Leib Besitz ergreifen und immer weniger den ?therleib nach sich formen. Man muá sie herausbringen, damit sie sich dann wiederum in der richtigen Weise hineinstellen. Man muá den astralischen Leib durchstrmen von angeschauten Leiden, von Mitleiden. Und man muá das Ich durchstrmen von Furcht. Wenn das Ich die Furcht erlebt, dann strkt es sich. Und das Ich bersteht diese Furcht, weil sie eben nur durch das Bild vorgefhrt wird. Das Ich also geht nicht zugrunde unter der Furcht, es bersteht die Furcht, es macht die Krisis, die Katharsis durch, und hat dadurch eine verstrkte Kraft, um den

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physischen Leib wiederum jeden Morgen in Besitz zu nehmen. Ebenso wird durch das Mitleid, durch das Anschauen des Leides, der astralische Leib verstrkt, sich den ?therleib immer hnlicher unj, hnlicher zu machen. Das also kann Ihnen zeigen, wie man in Griechenland in der Kunst etwas gesehen hat, was auf der einen Seite voll zusammenhngt mit dem menschlichen Wesen, wie die Niobe-Gestalt zeigt, oder was im Menschenwerden und im Menschenerziehungs-Prozesse wirken soll. Des Griechen Blick war eben immer auf den konkreten Menschen hin gerichtet und man kann sagen: Seit der Griechenzeit wurde eigentlich das Wesen des Menschen vom Menschen selber verloren. Das tritt einem ja besonders stark entgegen, wenn man den Blick wendet auf den jungen Goethe. áoethe lernt wirklich schon in seinen jungen Jahren viel von der Welt kennen, von der Welt seiner Umgebung, von der Art und Weise, wie die Menschen denken, wie sie empfinden. Und er lernt sogar sehr viel von dem kennen, wie auáerordentlich bedeutende, genialische Menschen versuchen, sich die Welt vorzustellen. Aber es ist fr Goethe - ich habe das hier schon einmal auseinandergesetzt - ein Kampf, hineinzuwachsen in seine Kulturumgebung. Denn wir wissen ja, seit den letzten vier bis fnf Jahrhunderten ist die Kulturwelt intellektualistisch geworden, und Goethe empfand 'diesen Intellektualismus> der ber alles sich ergossen hat. Er drckte das im ®Faust¯ aus: Philosophie ist intellektualistisch geworden, Juristerei ist intellektualistisch geworden, Medizin ist intellektualistisch geworden, Theologie sogar ist intellektualistisch geworden. Faust hat alles das studiert. Aber der bloáe Gedanke, der in dem allem lebt, der ist ihm etwas Wirklichkeitsfremdes. Er will die geistigen Grundlagen des Daseins zu sich in Beziehung bringen. - Das ist im Grunde genommen Goethes Empfindung. Dieses IntellektualistischWerden des modernen Menschen, das muáte natrlich Goethe zugeben, denn es war so die Zeitentwickelung. Die Menschheitsentwickelung war eben an diesem Punkte angelangt. Aber fr ihn war es ein Kampf, weil der Gedanke doch nicht das volle Menschliche intensiv umfaát. Er fhlte sich der Welt fremd, indem er die Welt ringsherum als eine gedankliche sich entwickeln sah.

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Einer derjenigen Menschen, die damals, als Goethe jung war, mit einer gewissen Selbstverstndlichkeit und in energischer Weise hinein- strebten in das Intellektualistische, war Lessing. Goethe htte Lessing begegnen knnen in Leipzig. Er hat es vermieden, weil ihm Lessing zu intellektualistisch war. Herder, spter in Straáburg, war es nicht. Herder war trotz des Intellektualismus voll Empfindung und voll Gefhl zu einer umfassenden Weltanschauung gekommen. Da konnte Goethe heran. Lessing war ihm etwas unheimlich Verstndiges. Den vermied er. Aus dieser Stimmung heraus kann man auch begreifen, wie Goethe in einem bestimmten Alter nicht mehr anders konnte als herauszukommen aus dieser Welt, in der man ber alles denken will. Goethe wre zu einer bestimmten Zeit in Weimar am liebsten aus seiner ganzen Haut herausgefahren, trotzdem es ihm auáerordentlich gut ging; trotzdem er vergttert wurde am Weimarischen Hofe, konnte er es nicht aushalten. Er konnte die ganzen Verhltnisse nicht aushalten. Er konnte auch das nicht aushalten: Dieser Herder, der studierte ja den Spinoza. Spinoza aber ist im Grunde genommen eine ganze 'Gedankenmaschinerie, eine wunderbare, aber man kommt ja weg von der Welt, wenn man sich in diese Gedankenmaschinerie hineinverspinnt. Und so muáte er nach Italien, denn er wollte den Menschen entdecken. Er wollte in dem Empfinden der griechischen Kunst, der antiken Kunst, den Menschen entdecken, der dem modernen Menschen fremd geworden war. Goethe lechzte nach der Entdeckung, nach dem Erleben des Menschen. Und im Grunde genommen ist ja die ganze Anthroposophie nichts anderes als eine Weltanschauung, die der Sehnsucht entspringt, den Menschen in seinem ganzen Wesen zu f`inden, sich die Frage zu beantworten: Was ist eigentlich dieser Mensch? Wie steht er drinnen im Leben? Dadurch aber werden allmhlich auch immer mehr und mehr anschaulich die Dinge, die aus vollem Erfhlen der menschlichen Wesenheit sich in die Zivilisationsentwickelung hineingestellt haben, wie die Tragdie, oder solch ein Kunstwerk wie die Niobe-Gruppe. Nehmen Sie diese Niobe-Gruppe. Niobe, in ihrer Seele, das heiát in ihrem Ich, in ihrem astralischen Leib, lebt ganz drauáen; die strahlen ganz

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aus, hinaus in die Sphre, woher ihr Schmerz kommt. Die Seele wird durch den Schmerz herausgerissen. Der Krper ist noch durchsetzt von den Krften des Ich und des Astralischen. Die Form bleibt, die Form hlt fest zusammen. Bildsule wird sie, die Niobe. Nehmen Sie den entgegengesetzten Fall: Es sei gar keine Veranlassung da, daá das Ich und der astralische Leib aus dem physischen und aus dem ?therleib heraus sollen, und dennoch, sie werden heraus- getrieben, weil der physische und der ?therleib von auáen zerstrt werden, weil sie genommen werden dem Ich und dem astralischen Leibe. Da mssen also dieses Ich und der astralische Leib heraus. Aber indem von auáen zerstrt werden physischer Leib und ?therleib, bekommen sie eine Form, welche auf der einen Seite der Zerstrungskraft folgt, auf der anderen Seite frmlich sichtbar macht, wie das Ich und der astralische Leib herausgedrngt werden. Bei Niobe braucht das nicht zu sein; da ist es pltzlich. Aber nehmen Sie an, Niobe wrde nicht dadurch, daá sie das Leichenfeld ihrer Sprálinge ansieht, herauseilen aus ihrem physischen und dem ?therleib, sondern es wrde irgend etwas geschehen mit ihrem physischen und mit ihrem ?therleib, daá die Seele herausgedrngt wrde. Da wrde man sehen an dem physischen und an dem ?therleib nicht, wie sie zur 'Bildsule werden, nicht, wie sie erstarren gewissermaáen in der Materie, in der geformten Materie, sondern man wrde sehen, wie das Ich da drinnen noch wirkt, wie der astralische Leib sich noch bemht, den therischen Leib zu formen. Das haben Sie ja auch in Griechenland gebildet: Das ist der Laokoon. Den Laokoon knnen Sie verstehen, wenn Sie sich durchdringen mit der Erkenntnis, daá es da entgegengesetzt ist wie bei der Niobe, daá da von auáen der physische Leib und der ?therleib zerstrt werden und wie das Ganze kmpft mit dem Ich und mit dem astralischen Leib, die da herausgedrngt werden. So daá Sie in jeder Formung, in der Formung des Mundes, in der Formung des Gesichtes, in dem Halten der Arme, in den Formen, die die Finger annehmen, es dem Laokoon ansehen, daá die Situation wiedergegeben ist, von der ich eben jetzt spreche. Wir mssen wiederum zu solchen Erkenntnissen kommen, denn sonst wird eben der ja fr die neuere Zeit tief berechtigte Intellektua

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lismus den Menschen von einer wahren Anschauung, von einer wahren Erkenntnis der Natur, von der Wirklichkeit entfernen. Denken Sie sich nur, wie Lessing sich bemht hat, die Laokoon-Gruppe zu erklren. Er hat sie eben im Grunde genommen ganz uáerlich erklrt. Selbstverstndlich sage ich das mit allem schuldigen Respekt vor dem groáen Lessing. Aber wenn man seine Erklrung nimmt, so besagt sie: Wenn ein Dichter vom Laokoon redet, da darf der Laokoon schreien> denn das sieht man nicht, wie er beim Schreien das Maul aufreiát. Aber wenn der Bildhauer ihn bildet, da sieht man, wie er das Maul aufreiát. Das darf man nicht, das Maul aufreiáen. - Das ist ganz uáerlich: Der Dichter soll es so machen, der Bildhauer soll es anders machen! Selbstverstndlich ist das, was Lessing geleistet hat, etwas auáerordentlich Bedeutendes. Man kann schon sagen: Mit allem schuldigen Respekt muá man diese Dinge behandeln, aber man muásich klar darber sein, daá eben in der Lessingschen Behandlung der Laokoon-Gruppe nichts von dem vorliegt, was nun die ganze Gestalt des Laokoon aus der Situation heraus erklrt. Dazu ist eben notwendig, daá man die Krfte, die den Menschen in seinen vier Gliedern zusammenhalten, wie ich in der Einleitung zu diesen Betrachtungen sagte, in der entsprechenden Weise berschaut. Dieses berschauen ist dem Zeitalter des Intellektualismus voll- stndig verlorengegangen. Dieses Zeitalter des Intellektualismus wuáte im Grunde mit dem, was der Mensch ist, gar nichts Rechtes mehr anzufangen. Und so verlor man gerade im Zeitalter des Intellektualismus die Abschtzung aller Dinge. Das ist dasjenige, was Goethe so entschieden gefhlt hat und was ihn dazu gebracht hat, daá er es eigentlich nicht hat ausstehen knnen, wenn das Intellektualistische selbst in die Kunst hineinragte. Der junge Goethe konnte die ganze Art der cOrneille-Racine-Kunst nicht leiden, weil da der Intellektuallsmw das Dramatische intellektualistisch formt. Dagegen wendet sich Goethe zu Shakeseare hin, der aus allen Widersprchen der Natur heraus gestaltet. Daher findet Goethe, daá Shakespeare so etwas ist wie der Interpret des Weltengeistes selber. Das empfindet Goethe ganz tief deshalb, weil er dieses Hereinbrechen des Intellektualismus fhlt. Nicht wahr, ich habe schon fter auf-

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merksam gemacht darauf, daá man Hamlet wie einen Schler des Faust ansehen kann. Daá Hamlet - natrlich der Shakespearsche Hamlet, nicht der des Saxo Grammatikus - da die zehn Jahre, wo Faust seine Schler kreuz und quer an der Nase herumgefhrt hat, als Schler zu Fáen des Faust in Wittenberg gesessen haben knne, das war Goethe unmittelbar anschaulich. Er sprach natrlich die Dinge im einzelnen nicht aus; aber derjenige, der nun sagen wrde: Habe nun, Gott sei Dank, Philosophie, Juristerei, Medizin und zu meinem Heil auch Theologie studiert - der wrde natrlich nicht ein inniges Behagen empfinden knnen, wenn er, sagen wir, den Dnenprinzen vor sich knstlerisch gestaltet findet, der den Monolog spricht: Sein oder Nichtsein - und der von jenem Land spricht, aus dem noch kein Wanderer zurckgekehrt ist, trotzdem er kurz vorher den Geist vom alten Hamlet selber gesprochen hat, der also von furchtbar kurzem Gedchtnis sein muá, wenn er sich in dem Momente, wo er den Monolog spricht, nicht erinnern kann, daá er ja just mit seinem Vater geredet hat, der aus jenem unbekannten Lande zurckgekommen ist! Ein Intellektualist wrde natrlich das nicht machen. Und ich habe solche Intellektualisten schon kennen gelernt. Die haben dann gesagt: Ja, der ®Hamlet¯ ist eben auch nicht von einem einzigen Dichter geschrieben, den Monolog hat ein anderer geschrieben, und dann ist das durcheinander geworfen worden. So hat man es ja beim Homer auch gemacht! Man kann sehr leicht beweisen, daá am ®Hamlet¯ eine ganze Reihe von Personen geschrieben haben knnten, weil berall solche Widersprche sind, denn solche Widersprche sind eben in Wirklichkeit vorhanden. Und Goethe empfand das Reichere der Wirklichkeit gegenber dem ?rmeren des Intellektualismus. Und so ist er eben auch durchaus zu verstehen. Wenn Sie sich einmal amsieren wollen ber all das, was im ®Hamlet¯ entsetzlich ist, und was eben bezeugt, daá da Shakespeare alle Augenblicke auf einem Widerspruch ertappt werden kann, dann brauchen Sie nur den Professor Rmelin, den berhmten Heidelberger Rmelin, zu lesen, der in seinem Aufsatz ber Shakespeare auf alle diese Dinge in allen Einzelheiten hingewiesen hat. Aber es ist eben

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doch ein Unterschied zwischen dem, was Goethe als Kunst so empfand, daá er den sprechenden Knstler den Interpreten des Weltgeistes nannte, und dem, was - sei es selbst in Heidelberg - als Wissenschaft tradiert wird. Und wenn Sie vergleichen, was Lessing ber den Laokoon gesagt hat, und die schnen Bemerkungen Goethes darber, so werden Sie in den Goetheschen Bemerkungen natrlich noch nicht das finden, was zu einem wirklichen Verstndnis fhrt, denn Goethe hatte ja noch nicht Anthroposophie, aber Sie werden einen bedeutenden Fortschritt finden gegenber den Lessingschen Auseinandersetzungen. Sie werden berall bei Goethe schon Hinweise entdecken auf das, was ich jetzt ausgefhrt habe. So daá Sie zum Beispiel sagen knnen: Aus dem, was Goethe an der Laokoon-Gruppe bemerkt hat, springt schon all das heraus, was ich darber gesagt habe. Und deshalb darf man schon sagen: Bis in die Einzelheiten hinein ist es so, daá Goetheanismus in richtiger Fortsetzung unbedingt zur Anthroposophie fhrt. DIE ERKUNDUNG UND FORMULIERUNG DES WELTENWORTES IN DER EIN- UND AUSATMUNG Dornach, 1. April 1922

  1. G211-1986-SE092 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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DIE ERKUNDUNG UND FORMULIERUNG DES WELTENWORTES IN DER EIN- UND AUSATMUNG Dornach, 1. April 1922

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Gewisse Dinge können nur dargestellt werden, wenn man versucht, durch Bilder an die entsprechende Wirklichkeit heranzukommen. Man muß gewissen Dingen gegenüber darauf verzichten, in jener abstrakten, intellektualistischen Weise zu sprechen, in der zu sprechen man heute gewöhnt ist. Man würde in dieser intellektualistischen Weise dasjenige, von dem ich Ihnen heute gerade sprechen will, gar nicht darstellen können. Das also sei durchaus vorausgesetzt für die ganze Art der Darstellung, die ich heute geben will. Nehmen Sie einmal, sagen wir, einen gewissen Innenraum. Ich will die Sache so einfach wie möglich machen. Nehmen wir einen Innenraum, der vielleicht hier ein Fenster hat (siehe Zeichnung a, b). Durch

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dieses Fenster, nehmen wir an, fiele in diesen Innenraum Licht herein, dieses Licht breitete sich in verschiedener Weise innen aus. Aber der Innenraum, nehmen wir an, sei ausgefüllt mit allerlei durchlässigen Wänden, einer Art durchlässigem Gewölbe. Wir hätten also einen Innenraum, der in der verschiedensten Weise ausgefüllt wäre mit solchen 
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Gewölben, wodurch in der verschiedensten Weise das Licht zum Teil durchgelassen, zum Teil zurückgeworfen wird, so daß dieser Innenraum erfüllt wäre mit einem in der verschiedensten Weise aufgehaltenen, zurückgeworfenen Lichte. Nun denken Sie sich, ich würde durch diesen Innenraum Dämpfe strömen lassen, würde sie dann hinaufströmen lassen (rot). Dieser Dampf aber, der wäre lebendig, der wäre ein lebendiges, fühlendes Wesen. Der strömt hinauf und hätte wiederum, sagen wir, einen Abzugskanal, würde also wiederum wegströmen können. Er strömt also durch dieses Licht hindurch und strömt hinein in diesen Innenraum, in glitzerndes Licht, in verschiedentlich durch diese Gewölbe hier verändertes, durchfallendes, zurückgeworfenes, glitzerndes Licht. Der Dampf, der würde also fühlen, was er da in dem Lichte wahrnehmen würde, und dann abströmen. Das heißt aber mit anderen Worten: Dieser Dampf würde abtasten mit seinem Gefühl das, was da als Lichtglitzern in dem Innenraum vorhanden wäre, und er würde auf diese Weise ein inneres Bild bekommen. Er würde in seiner Empfindung ein Bild bekommen von dem, was da lichtglitzernd im Innern ist. Nehmen wir nun an, der Dampf würde nach einiger Zeit, indem er wiederum ausströmt, wiedergeben können, was er da drinnen erfahren hat (violett). Wir könnten eine Art von Instrument haben, durch das der Dampf irgendwie, sagen wir durch Anschlagen von musikalischen Tönen oder dergleichen, zum Ausdrucke bringen würde, was er da drinnen im glitzernden, glimmenden Lichte erfahren hat. Stellen Sie sich dieses Bild vor. Und nun will ich Ihnen dieses Bild auf eine andere Art aufzeichnen. Sie sehen, ich habe Ihnen statt des Gewölbes hier das Innere des menschlichen Hauptes aufgezeichnet, statt des Fensters das Auge, durch das gesehen wird, durch das also die Lichteindrücke kommen. Das, was ich da als Gewölbe gezeichnet habe, sind die Windungen des Gehirnes, die sich ausbreitenden Nerven. Das Licht kommt da herein und breitet sich aus. Statt des Dampfes, den ich dort gezeichnet habe (siehe Seite 92), denken Sie sich die eingeatmete Luft, die heraufströmt und die abtastet, was im Gehirn durch das Licht glitzern, glimmen kann, was im Gehirn sich daim zu Gedanken gestaltet. Die Luft strömt wiederum

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durch den Rückenmarkskanal herunter. Statt daß da ein Instrument ist, ist der menschliche Kehlkopf da und kann zum Ausdrucke bringen, was erlebt worden ist. Da haben Sie ein Bild von dem, was tatsächlich vorgeht im menschlichen Haupte. Nun aber sagen wir: Jetzt machen wir das nicht so, sondern wir machen einmal das Fenster hier zu, stellen ein innerlich ganz finsteres Gewölbe her. Wir machen also das Fenster zu, haben nun diese inneren Gewölbe hier, und lassen wiederum Dampf hinaufströmen (rot). Jetzt wird nicht das Licht wahrgenommen, was hereinfällt (siehe erste Zeichnung) und in der verschiedensten Weise abgeschwächt wird, zurück- fällt, sondern jetzt werden die Formen, die da drinnen sind, als solche wahrgenommen. Und indem der empfindende Dampf aufströmt, wird er da drinnen die Formen wahrnehmen können, die jemand einmal gemacht hat, sagen wir, die einmal ein Baumeister gemacht hat. Es wird also dieser Dampf empfinden können die Taten dieses Baumeisters. Wenn der Dampf dann abströmt, so kann er wiederum zum Ausdrucke bringen (rot), was da wahrgenommen worden ist als die Taten des Baumeisters. Aber nehmen wir an, dieser Baumeister hätte in einer ganz besonderen Weise gebaut. Nehmen wir an, dieser Baumeister wäre ein ganz außerordentlich universeller Baumeister, und er hätte das, was er da hineingebaut hat, zu einem Abbild des ganzen Weltenalls gemacht. Dann würde, wenn man nur das Fenster zuschließt, der Dampf da

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drinnen abtasten die Geheimnisse des ganzen Weltenalls. Sonst nimmt er wahr, was da von außen hereinglitzert; wenn man aber zuschließt, nimmt er dasjenige wahr, was innerlich ein Abbild des ganzen Weltenalls ist. Stellen Sie sich also vor, wir haben hier ein Abbild des Weltenalls (siehe Zeichnung). Im menschlichen Haupte, in den wunderbaren Windungen des Gehirnes haben wir ja wirklich ein Abbild des ganzen Welte-nalls. Und wenn wir die Sinne zuschließen und dann die Atemluft, die ja durch den Rückenmarkskanal in das Haupt geht, durch- strömen lassen, so gibt es eine Möglichkeit, die Geheimnisse dieses Gehirn-Innenraumes abzutasten. Nur darf man da nicht die Atemluft einfach in einer ungeordneten, chaotischen Weise tasten lassen - dann bekommt man nichts heraus -, sondern das muß in einer geordneten Weise geschehen. Sie wissen, wenn man, sagen wir, Seide konstatieren will, so muß man ja auch in einer bestimmten Weise tasten. Man muß entgegenkommen dem, was man ertasten will. Aber wenn man das kann, wenn man entgegenkommen kann dem, was man ertasten will, dann kann man eben durchaus dasjenige finden, was da zu ertasten ist. In der Zeit, von der ich Ihnen gesprochen habe in diesen Tagen, wo die Menschen durch eine Regulierung ihres Atemprozesses zu den höheren

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Erkenntnissen kommen wollten, in der Zeit, in der das alteJogaSystem des Orients nun wirklich in seiner Blüte stand - denn das, wovon heute als der Joga-Übung gesprochen wird, das ist ja vielfach ein bloß Sekundäres -, da war tatsächlich das Bewußtsein vorhanden: Wenn du einatmest, wenn du die Atemluft in dein Haupt schickst, so kannst du die Geheimnisse des Weltenalls in dem Abbild dieses Weltenalls, in der besonderen Ausbreitung des Nervensystems in deinem Haupte ergreifen. Du mußt nur in der entsprechenden Weise dich mit dem Einatmungsprozesse verhalten. Ich spreche jetzt nicht von dem, was später in einer dekadenten Weise da war, sondern von dem Ursprünglichen. Und das Ursprüngliche war dieses. Man sagte sich: Wenn man einatmet und den Atem so gestaltet, daß man ihn hinaufschickt in dieses innere Gewölbe des Hauptes, das ein Abdruck des ganzen Weltenalls ist, aber so, daß man in die Atemluft hineinlegt einen Laut, der zwischen a und o ist oder zwischen a und u, wenn man also a-u hineingibt in die Atemluft, dann formt man sie so, daß so, wie die Hand geeignet ist außen etwas abzutasten, der Ton geeignet wird, das Weltengeheimnis da drinnen abzutasten. Und man bekommt es in das Bewußtsein herein, wenn man dann diesen Atemprozeß so fortsetzt, daß man ihn auslaufen läßt in absolut devotionelle Stimmung gegenüber dem, was man da abgetastet hat. Wenn man also das hat, was man erlangt, indem man einatmet, indem man die Atemluft ausschickt und in dem a-u mit ihr abtastet, wenn man dann in die devotionelle Stimmung sich versetzt, hingebungsvoll zur Welt wird, und dasjenige, was man da erkundet hat, ausgießt in eine absolute Hingabe, dann den Atmungsprozeß auslaufen läßt in «m>, so hat man in einem solchen Atmungsprozeß, der sich innerlich formt zu dem «aUm», dann aufgefangen - aus der Nachbildung, aus der Nerven-Nachbildung des Weltenalls im Innern - das Geheimnis des Weltenalls. Und man hat es zum Leben gebracht, das bewußt werden kann in der, in dem Laute «m» aUsgehauchten Luft. Sie haben in dem, was ich jetzt auseinandergesetzt habe, einen Hinweis darauf,wovon ausgegangen ist einmal die ursprünglicheJoga-Schulung. Diese Joga-Schulung sagte sich: In meinem Haupte ist das Geheimnis des ganzen Weltenalls. Ich kann es abtasten, indem ich einatme.

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Im Einatmen wird das Geheimnis des Weltenalls durch mich selbst enthüllt. Ich erfasse es, dieses Geheimnis des Weltenalls. Aber ich kann es nur behalten - es bleibt sonst im Unbewußten liegen -, wenn ich in absolut devotioneller Hingabe an das Weltenall mich dann auslebe. Und so wird denn erkannt, indem gestaltet wird der Einatmungsprozeß zu dem Weltenworte, zu dem, was schöpferisch schaffend die Welt durchwellt und durchwebt, und indem das erfaßt wird und in der absoluten Hingabe an das Weltenall ausgehaucht wird: Einatmung, das ist Offenbarung des Weltenwortes, Ausatmung, das ist innerliche Verdichtung des Weltenwortes, das Bekenntnis zum Weltenwort. So wird zusammengefaßt die Erkundung des Weltenwortes durch den Menschen und die Formulierung des Weltenwortes durch den Menschen, indem erkannt wird: Einatmung ist Offenbarung, Ausatmung ist Bekenntnis, und «aum» ist die Zusammenfassung von Offenbarung und Bekenntnis, das Beleben des Weltengeheimnisses in sich, das Sich- bekennen zu diesem Weltengeheimnis in sich. Bei uns heute, in unserer gegenwärtigen Epoche, ist der Ton weiter heraufgerückt. Der Ton lebt sich aus in den wirklichen, konkreten, nicht in den intellektualistischen Gedanken. So daß wir sagen können: Die Einatmung wird zum Gedanken, und die Ausatmung wird zu dem willentlichen Ausleben des Gedankens. Das heißt, wir zerlegen dasjenige, was einstmals Einatmung als Offenbarung, Ausatmung als Bekenntnis war, in Gedankenübung und Willensübung, und bekommen dadurch - ebenfalls in Gedanken, aber in dem in der Meditation erübten Gedanken - die Offenbarung, und in den Willensübungen, die ja auf der anderen Seite ausgeführt werden, das Bekenntnis zu dem Geoffenbarten. Für die neuere Menschheit ist es so: Was vorher im bloßen Atmungsprozesse erlebt worden ist, und was im Einatmungsprozesse zum Vokalton, im Ausatmungsprozesse zum Konsonantenton geformt worden ist, das lebt sich auf mehr seelische Art aus in d`em innerlich kontemplierten Gedanken, der aber vom Willen durchdrungen wird in devotioneller Hingabe an das Weltenall. So ist der Prozeß derselbe, nur verseelischt, verinnerlicht. Aber auch hier besteht der Prozeß dar- in, daß wahrgenommen wird das innerliche Erleben des Weltenalls innen

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Geheimnissen und das Bekennen zu diesem Weltenall, zu der istigen Grundlage dieses Weltenalls. Wir können auch noch folgende Gedanken vor uns hinstellen. Wir innen sagen: Der Mensch wird aus dem Lichte heraus geboren, und .'n Inneres, das Innere seines Hauptes ist Ergebnis des Lichtes. Das ,nze Nervensystem ist ja Ergebnis des Lichtes. Nicht bloß durch das ~ge, sondern auch durch die anderen Sinne wird Licht vermittelt. is Auge ist nur dasjenige, was im hauptsächlichsten Sinne Licht ver~ttek. Wir können von blinden Menschen nicht sagen, daß sie vom chte ganz abgeschlossen sind. Das Licht arbeitet in ihnen; es ist nur re bewußte Wahrnehmung des Lichtes weg. Und der Ton, der lebt eigentlich im ganzen Organismus. Der Ton lebt in uns. Der Ton lebt nicht nur im Ohre, das Ohr ist nur ein Wahrnemungsorgan für den Ton. Indem wir einen Ton erleben, erleben wir n mit dem ganzen Organismus. Eine Symphonie erleben wir immer it dem ganzen Organismus. Wenn wir einem Musikstück zuhören, ist eigentlich der innere Vorgang der folgende: Wir versetzen unsen ganzen Atmungsprozeß in eine ganz bestimmte Rhythmik, in ganz Stimmte musikalische Vorgänge, die eben durch die Komposition .ranlaßt werden. Diese Gestaltungen unseres luftförmigen Inneren klagen an die Formen des Gehirnes an; wie sie da zurückgestoßen werden, das gibt uns den musikalischen Eindruck. Es ist eigentlich ~mer in uns ein Abtasten des Lichtes durch den Ton. Halten Sie das fest, daß in uns fortwährend stattfindet ein Abtasten .s Lichtes durch den Ton. Die Tonwelt in uns, der tönende Organisus, der ist eigentlich ein Tastorgan für das Licht. Das Licht ist eigent:h immer das Äußere, der Ton ist eigentlich immer das Innere. Gedanken Einatmung: Offenbarung

Willen Ausatmung: Bekenntnis

Abtasten des Lichtes durch den Ton Äußeres Inneres Abtasten der Weltgedanken durch den Menschenwillen.

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Das Iiinere tastet das Äußere ab. Wir fassen uns unserem Wesen nach eigentlich auch nur in der richtigen Weise, wenn wir uns als ein Spezialwesen, herausgehoben aus der Sphärenharmonie der Welt, er- fassen. Dieses Wesen, das tastet im Lichte herum, und in den Konfigurationen des Lichtes erkennt der Ton das Wesen der Welt. Nur in unserer Epoche ist es so, daß wir eigentlich ein Abtasten der Weltgedanken durch den Menschenwillen haben (siehe Schema). Wir tasten mit dem Willen die Weltgedanken ab. Der Wille steht hier statt des Tones. Der Gedanke steht nach der anderen Seite statt des Lichtes. Wie gesagt, diese Dinge sind sehr schwer in intellektualistisch-abstrakte Formen zu bringen. Aber das, was ich bildlich vor Sie hinzustellen versuchte, das wird Sie in diese Dinge hineinbringen, wenn Sie ein wenig darüber nachsinnen, weim Sie sich klar werden, daß das Darinnenstehen des Menschen in der Welt wirklich so ist, daß der Mensch in seinem Haupte ein Abbild hat des ganzen Kosmos. Der Mensch ist in der Tat in bezug auf sein Haupt ein Abbild des ganzen Kosmos. Indem der menschliche Embryo im Mutterleibe gebildet wird, wird er auch zunächst als ein Abbild des Kosmos gebildet. Das erste ist, daß ja im Leibe der Mutter der Mensch als ein Abbild des Kosmos gebildet wird. Zuerst ist der Mensch im Grunde genommen Gehirn, Abbild des Kosmos. Sie können den Kosmos studieren, indem Sie den menschlichen Embryo in seinen ersten Stadien studieren. Erst später kommt über ihn das, was nun nicht mehr ein Abbild des Kosmos ist, sondern

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was man so beschreiben muß: Wenn Sie hier die Erde haben, darauf den Menschen, so tritt - indem ein Stück genommen wird vom Embryo - hinzu das, was an Kräften, parallel der Oberfläche, die Erde

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in Rhythmen umkreist. Es wird der Brustorganismus gebildet, der eigentlich aus Strömungen geschaffen wird, die um die Erde herum- kreisen. Sie haben ja, wenn Sie wollen, diese Strömungen noch in den Rippen nachgebildet. Zuallerletzt kommt die Wirkung des Erdenorganismus selber. Da werden die Strömungen von unten heraufgeschickt: Sie haben ja in den beiden Beinen ganz genau den Ausdruck davon, wie diese Strömungen verlaufen. So daß ich den Menschen zeichnen kann als Strömungen, die von der Erde ausgehen, als Strömungen, die die Erde umkreisen, die mit seiner Brustorganisation zusammenhängen, und oben als Kopf, das Abbild des ganzen Weltenalls.

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Was sich im Kopfe abspielt, ist eigentlich immer ein Abbild des ganzen Weltenalls, durch das ganze Leben hindurch. Der Mensch, in- dem er die Kopforganisation hat, trägt in sich ein Abbild des ganzen Weltenalls. Er muß es nur wahrnehmen. Er würde es nicht wahrnehmen, wenn er nicht von der Erde aus dazu organisiert wäre. Eigentlich nimmt die Erde das Weltenall durch den Menschen wahr: der Brustorganismus ist die Vermittelung. Vom Kosmos herein wird die Einatmung bewirkt, von der Erde wird die Ausatmung bewirkt. Der Kosmos gibt uns den reinen Sauerstoff, die Erde bewirkt, daß sich

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dieser Sauerstoff durchdringt mit Kohlenstoff und so zu der totmachenden> ausgeatmeten Luft formiert wird. Aber indem diese Totenluft da gebildet wird, wird begriffen. Das Begreifen hat immer zu tun mit dem Absterbenden im Menschen. Wir sterben eigentlich durch unser Begreifen, wir leben durch den Kosmos. Aber wir würden sehr rasch leben, wenn wir nur dem Kosmos hingegeben wären. Der Kosmos versorgt uns am meisten mit Leben noch während unseres Embryozustandes, dann nimmt uns all- mählich der Umkreis der Erde in Arbeit, später das, was von der Erde heraufströmt. Dadurch wird dasjenige vermittelt, was der Kosmos unserem Organismus an Leben gibt, bis das Quantum von Leben, das uns der Kosmos gibt, eben aufgezehrt ist. Der Kosmos belebt uns, die Erde tötet uns als physischen Organismus und auch als ätherischen Organismus. Nur ist es so, daß an unserem ätherischen Organismus vorzugsweise der Kosmos seinen Anteil hat, an unserem physischen Organismus hat vorzugsweise unsere Erde ihren Anteil. Wenn Sie das alles bedenken und sich sagen: Einmal wurde zur Pflege des höheren Wissens ein geregelter Atmungsprozeß vollzogen, zu dem Zwecke vollzogen, um die Geheimnisse des Weltenalls im Menschen zu erkunden, dann werden Sie darauf kommen, wie in den Zeiten ursprünglicher Menschenbestrebungen der Mensch innerlich fühlte, wie er zusammenhängt mit dem ganzen Weltenall, und wie er erleben wollte das Weltenwort durch den Einatmungsprozeß, opfern wollte dem Weltenworte durch den Ausatmungsprozeß; wie er sich hineinstellen wollte im Joga-Atmen in den Weltenprozeß mit seinem Bewußt

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sein. Unbewußt steht er ja natürlich stets drinnen in diesem Weltenprozeß. Aus der äußeren Beschreibung, die heute gegeben wird von diesem Joga-Atmen, erlangt man keine wirkliche Erkenntnis darüber, was damit eigentlich angestrebt worden ist. Aber man erlangt eine solche wirkliche Erkenntnis dadurch, daß man sich durch die heutige anthroposophische Geisteswissenschaft zu solcher Erkenntnis durchringt. Die Menschen haben keine Dokumente über die Art und Weise, wie das ursprünglich war. In den Zeiten, aus denen man Dokumente darüber hat, da waren diese Dinge schon nicht mehr in der ursprünglichen Weise vorhanden. Auf die eigentlichen Geheimnisse des Menschenursprungs auf der Erde muß man ohne Dokumente kommen, sonst muß man darauf verzichten. Wer also nur durch äußere Dokumente, die sich erhalten haben aus älteren Zeiten, auf die Dinge kommen will, der kommt eben nicht darauf, sondern lediglich der wird darauf kommen, der zurückschauen kann auf viel ursprünglichere Zustände als diejenigen, die durch äußere Dokumente bekundet werden. Auf das Geheimnis des orientalischen Aum-Gebetes, wenn ich es so nennen darf - ich könnte ebensogut sagen: der Aum-Erkenntnisformel, denn beides war darinnen -, kommt man nur, wenn man den Zusammenhang des Menschen mit der Welt in Ein- und Ausatmen wirklich kennt. Wenn man weiß, daß, wie die Luft, die sonst eben durchaus nicht bestimmte Töne gibt, zu bestimmten Tönen geformt wird, sobald man verschieden gestimmte Saiten hat, daß ebenso die eingeatmete Luft, die man mit dem Aum-Laute durch das Gehirn schickt, innerlich das ganze Weltengeheimnis ausdrückt, wenn man das weiß, dann kennt man den Menschenzusammenhang mit dem Weltenall. Man tastet ab, wie man eigentlich geworden ist. Indem der Mensch vor seiner Empfängnis in der geistig-seelischen Welt gelebt hat, war er ja eben in der Geist- weIt. Aber indem er jetzt heruntersteigt, geht er durch die ganze Konfiguration des Kosmos im Äther durch, sammelt sich den Äther. In diesem Momente nimmt er alle Geheimnisse des Weltenalls auf, prägt sie dann nach und nach in sein Gehirn ein. Und das ganz kleine Kind prägt eigentlich noch das, was die Seele vom Gesamtgeheimnis des Weltenalls erlebt hat, nach und nach in das Gehirn hinein. Und später findet man wiederum dieses Geheimnis, wenn man - in alten Zeiten

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in der Atemluft und jetzt mit dem Gedanken - innerlich dieses Weltengeheimnis wiederum zu erleben strebt. Es konfiguriert sich auch die Gedankenkraft, die ja nichts anderes ist als eine verdünnte Atemkraft, wenn sie wirklich durch das Gehirn geleitet wird. Der moderne Mensch tut das nicht. Der moderne Mensch leitet eigentlich nicht Gedankenkraft durch das Gehirn, sondern er hört überall die Worte, die in seiner Sprache gesprochen werden und in denen auch so die Gedanken drinnen leben, und dann leitet er das, was er innerlich nachplappert aus seinem Nationalbestand, durch sich durch. Und dabei erobert er sich gar nichts an inneren Erkenntnissen, sondern schreibt höchstens dann Buööcher darüber, daß man ja nur die Sprache hat, und durch die Sprache nichts erkennen kann. Er schreibt dann eine Kritik der Sprache, weil er keine Ahnung davon hat, worauf die Gedankenkraft stößt, weil er nur weiß, was gewissermaßen aufgezeichnet ist in den Worten. Der moderne Mensch ist ja nur ein Resonanzboden für die Worte. Und wenn er dann scharfsinnig ist, wie Fritz Mauthner, dann schreibt er eben Bücher darüber, daß die Worte ja eigentlich nichts vom Wesen der Welt enthalten. Aber damit kommt man dem Menschen nicht nahe. Und man kommt der Welt nicht nahe, insbesondere nicht dem Verhältnis des Menschen zur Welt. Man muß sich schon klar darüber sein, daß es ein tiefes Wahrwort ist, daß der Mensch «Mensch» ist durch den göttlichen Odem, durch die eingeatmete Luft. Denn dadurch, durch diese eingeatmete Luft, entdeckt er die ganze Welt in sich, entdeckt er, wie er ein Mikrokosmos ist. Wenn Sie das, was ich gerade heute dargelegt habe, nach allen Seiten durchsinnen, dann werden Sie sehen, daß Sie auf ganz bedeutsame Zusammenhänge nach und nach gestoßen werden. Sie müssen nur nicht glauben, es sei so eine Schrulle, daß ich zunächst bloß ein Bild hingemalt habe. Es ist schon notwendig, daß man nicht mit unseren abstrakten Worten diese Dinge charakterisiert, sondern daß man dem Tatbestande durch Bilder nahezukommen sucht. Damit habe ich Ihnen, wie ich glaube, ein sehr wichtiges Kapitel der anthroposophischen Geisteswissenschaft angedeutet und werde es dann morgen weiter ausgestalten. EXOTERISCHES UND ESOTERISCHES CHRISTENTUM Dornach, 2. April 1922

  1. G211-1986-SE104 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

EXOTERISCHES UND ESOTERISCHES CHRISTENTUM Dornach, 2. April 1922

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Die Entwickelung der Menschheit ist aufbewahrt in denjenigen Urkunden, die als religiöse Urkunden oder auch als sonstige Weltanschauungsurkunden erhalten sind. Man muß aber immer wieder betonen, daß zu diesen Urkunden, welche durch die Zeiten hindurch zu der ganzen Menschheit sprechen, und die durchaus in ihrem äußeren Wirken ihre tiefe Berechtigung haben, hinzukommen diejenigen, die wir esoterische Urkunden nennen können. Da, wo man In einem tieferen Sinne von Menschenerkenntnis und menschlicher Weltanschauung gesprochen hat, hat man ja immer unterschieden zwischen einer exoterischen Lehre, durch die man die Dinge mehr äußerlich erkennt, und einer esoterischen Lehre, die erst derjenige durchdringen kann, der sich in seinem eigenen Gemüte die entsprechende Vorbereitung dazu angeeignet hat. Und so muß auch für das Christentum selbst, namentlich für den geistigen Mittelpunkt desselben, für das Mysterium von Golgatha, unterschieden werden zwischen der exoterischen Anschauung und den esoterischen Erkenntnissen. Die exoterische Anschauung ist ja in den Evangelien für alle Welt enthalten. Neben dieser exoterischen Anschauung hat es immer ein esoterisches Christentum für diejenigen gegeben, die sich in entsprechender Weise in ihrem Gemüte für das Empfangen eines solchen esoterischen Christentums vorbereiten wollten. Das Wichtigste nun in diesem esoterischen Christentum ist das, was gewußt werden kann über den Umgang des auferstandenen Christus, des Christus also, der durch den Tod hindurchgegangen ist, mit denjenigen seiner Schüler, die ihn eben verstehen konnten. Sie wissen ja, daß über den Verkehr des Christus mit seinerJüngerschar in den Evangelien eigentlich nur andeutend und vorübergehend gesprochen wird. Das, was über diesen Verkehr des auferstandenen Christus mit seinen Jüngern in den Evangelien mitgeteilt wird, gibt zwar den Menschen eine Ahnung, daß der Erdenentwickelung etwas ganz Besonderes einverleibt worden ist durch den auferstandenen Christus, allein es bleibt

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doch eben, wenn nicht zum Esoterischen vorgeschritten wird, bei bloßen Ahnungen. Diese Ahnungen finden allerdings eine wichtige Ergänzung, wenn wir hinzufügen das Bekenntnis des Paulus. Dieses Bekenntnis des Paulus erscheint von ganz besonderer Wichtigkeit, denn Paulus spricht seine Überzeugung dahin aus, daß er an den Christus erst glauben konnte von demjenigen Augenblicke an, wo ihm der Christus durch das Ereignis von Damaskus erschienen war, wo er also die Anschauung gewinnen konnte davon, daß der Christus durch den Tod hin- durchgegangen ist und nach dem Tode in Verbindung mit der Erdenentwickelung noch lebt. Die Anschauung von dem lebendigen Christushat Paulus durch das Ereignis von Damaskus bekommen, und man muß nur einmal in Erwägung ziehen, was das gerade aus dem Munde des Paulus bedeutet. Warum konnte denn Paulus vorher, bevor er durch das Ereignis von Damaskus gegangen war, eine Überzeugung von der Wahrheit des Christus-Wesens nicht erlangen? Man muß sich klarmachen, was es für Paulus, den in einei gewissen Weise in die hebräischen Lehren Eingeweihten, bedeutet hat, daß nach menschlichem Urteil dasjenige Wesen, das als der Christus Jesus da war, verurteilt worden ist zu schmachvollem Kreuzestod. Das konnte sich Paulus zunächst nicht denken, daß irgendwie die alten Weissagungen einem Wesen gegenüber in Erfüllung hätten gegangen sein können, das von Menschen nach Rechts wegen hat yerurteilt werden können zum schmachvollen Kreuzestode. Das konnte sich Paulus zunächst nicht denken. Es war gewissermaßen für Paulus bis zum Ereignis von Damaskus ein vollgültiger Beweis, daß der Jesus von Nazareth nicht der Messias hat sein können, weil er hat den schmachvollen Kreuzestod erleiden müssen. Und erst als Paulus erlebt hatte die Erscheinung von Damaskus, trotzdem der Jesus von Nazareth, beziehungsweise das Wesen, das in dem Jesus von Nazareth verkörpert war,durch den schmachvollen Kreuzestod hindurchgegangen war, erst nachdem Paulus diese Gewißheit aus dem Ereignis, aus der Erscheinung von Damaskus hatte gewinnen können, kam er zu der Überzeugung von der Wahrheit des Mysteriums von Golgatha. Das bedeutet

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also gerade, indem Paulus es als seine Überzeugung offenbart, etwas außerordentlich Großes. Nun, die Überlieferungen, die in den ersten christlichen Jahrhunderten noch vorhanden waren, sind heute nicht mehr vorhanden. Sie sind höchstens noch als äußere historische Notizen in einzelnen Geheimgesellschaften, die sie aber nicht verstehen, vorhanden. Das, was über die spärlichen Mitteilungen über den Christus nach dem Mysterium von Golgatha hinausgeht, das muß heute durch anthroposophische Geisteswissenschaft wieder gefunden werden. Man muß gewissermaßen wieder finden: Was sprach denn der auferstandene Christus? Was sprach er zu denjenigen Jüngern, die vorhanden waren, die nicht in den Evangelien verzeichnet sind? - Denn,was in den Evangelien ver zeichnet wird von den Jüngern, die etwa auf dem Gange nach Emmaus den Christus Jesus trafen, oder was sonst verzeichnet wird von der Apostelschar, das ist ja immer getaucht in eine solche Tradition, daß man es zu tun hat mit möglichst einfachen Gemütern, die nicht bis zu dem Esoterischen vordringen konnten. Man muß also über das hinausgehend fragen: Was sprach denn der Christus nach seiner Auferstehung zu seinen wirklich eingeweihten Schülern? Wenn man das verstehen will, muß man ausgehen davon, wie in bezug auf das eigentliche Geheimnis von Golgatha die Menschen in alten Zeiten in ihrer ganzen Seelenverfassung gestimmt sein konnten, und wie sie durch dieses Ereignis von Golgatha dann gestimmt werden konnten. Es ist für den heutigen Menschen schon außerordentlich schwer verständlich, wenn man eine wichtige Wahrheit für die ältesten Zeiten der irdischen Menschheitsentwickelung ausspricht, die Wahrheit, daß zunächst die ersten Menschen, die auf der Erde gewandelt haben, nicht ein solches Wissen gehabt haben, wie das ist, was wir eben heute Wissen nennen. Durch ihre atavistischen Hellseherfähigkeiten waren diese ersten auf der Erde wandelnden Menschen in der Lage, Götterweisheit zu empfangen. Das heißt doch nichts Geringeres als: sie konnten belehrt werden durch die Götterwesen, die aus dem Reiche der höheren Hierarchien auf die Erde herunterstiegen, selbstverständlich auf spirituelle

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Art, auf geistige Art herunterstiegen, und dann auch auf geistige Art die Seelen lehrten. Solches Belehrtwerden durch die göttlichen Wesen selbst, die herunterstiegen von den geistigen Welten auf die Erde, kannte man durch aus in den alten Zeiten der irdischen Menschenentwickeiungen. Es war ein Zustand der Entrücktheit, in dem sich die Menschen, zumeist solche,die durch die Mysterieneinweihung hindurchgegangen waren, versetzen kornten, wo sie also zum großen Teil außerhalb ihres Leibes mit ihrer Seele waren, so daß sie nicht angewiesen waren auf äußere Sinneswahrnehmungen, nicht angewiesen waren etwa auf ein äußeres Gespräch, das mit dem Munde hätte geführt werden müssen, sondern wo sie in der Lage waren, auf geistige Art Göttermitteilungen zu empfangen. Sie empfingen nicht in dem, was wir heute Traum nennen, sondern in einem lebendigen Verkehr auf geistige Art mit den göttlich-geistigen Wesenheiten das, was diese ansahen als ihre eigentliche Weisheit. Diese Weisheit erstreckte sich zunächst auf Mitteilungen, welche die Götter dem Menschen machten über den Aufenthalt der menschlichen Seelen in der göttlich-geistigen Welt vor dem Heruntersteigen in den irdischen Leib. Das, was die Seelen erlebten, bevor sie durch die Empfängnis heruntergestiegen waren in einen irdischen Leib, lehrten die Götter die Menschen in dem Zustande, den ich geschildert habe. Die Menschen hatten dabei das Gefühl, daß sie eigentlich nur an etwas erinnert wurden. Sie meinten, indem die Götter ihnen diese Mitteilungen machten, sie würden erinnert an das, was sie eben vor der Geburt, beziehungsweise vor der Empfängnis in der geistig-seelischen Welt erlebt haben. Es klingt noch bei Plato durch, daß so etwas in älteren Zeiten durchaus der Fall war. So daß wir zurückschauen können heute auf eine göttlich-geistige Weisheit, welche die Menschen hier auf der Erde empfingen in den charakterisierten Zuständen, man darf eben durchaus nicht im uneigentlichen Sinne, sondern im ganz eigentlichen Sinne sagen: von den Göttern selbst. Diese Weisheit war von ganz besonderer Art. Sie war nämlich so, daß die Menschen auf der Erde nichts wußten, so sonderbar das dem heutigen Menschen klingt, von dem Tode. Wie gesagt, es wird Ihnen

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heute sonderbar klingen, und dennoch ist es so, daß die ältesten Erdenbewohner nichts wußten von dem Tode; denn das Kind weiß nichts von dem Tode. Die Menschen, die in dieser Weise unterrichtet wurden, wie ich es angedeutet habe, und die diesen Unterricht wiederum auf die anderen Menschen, die auch noch atavistisches Hellsehen hatten, ausdehnten, diese Menschen bekamen sogleich ein Bewußtsein, daß ihr Seelisches heruntergestiegen ist aus göttlich-geistigen Welten, in einen Körper hineingekommen ist, wiederum aus dem Körper hinausgehen wird, und sie sahen auf diesen Fortschritt des seelisch-geistigen Lebens. Die Geburt und der Tod kamen ihnen als eine Verwandlung vor, nicht als irgend etwas, was Anfang und Ende von etwas Ist. Wenn man schematisch zeichnen wollte, so möchte man sagen: Man sah die menschliche Seele, wie sie sich fortentwickeln kann, und das irdische Leben empfand man als einen Einschnitt.

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Aber man sah nicht den Punkt a und den Punkt b als Anfang und Ende, sondern man sah das fortströmende geistig-seelische Leben. Man sah zwar auch, daß die Menschen starben. Sie werden mir nicht zumuten, daß ich gerade diese ältesten Menschen mit Tieren vergleiche, denn diese ältesten Menschen hatten, trotzdem sie in bezug auf ihr Äußeres den Tieren nahestanden, gerade ein höheres Geistig-Seelisches inne. Ich habe das einmal hier ausgeführt. Aber so wenig heute ein Tier von dem Tode etwas versteht, wenn es ein anderes totes Tier sieht, ebensowenig verstanden diese Menschen, die nur den Begriff bekamen von dem fortströmenden Geistig-Seelischen, etwas von dem Tode. Der Tod war das, was zur Maja, zu der großen Täuschung gehörte. Er machte keinen besonderen Eindruck auf die Menschen. Sie kannten nur das Leben. Sie kannten, trotzdem sie den Tod sahen, den Tod nicht. Sie waren mit ihrem geistig-seelischen Leben eben nicht in den Tod verstrickt. Sie sahen das menschliche Leben nur von innen

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an. Wenn sie nach der Geburt hinschauten, so dehnte sich dieses menschliche Leben über die Geburt hinaus in das Geistige hinein. Wenn sie nach dem Tode hinschauten, so dehnte sich das geistig-seelische Leben wiederum über den Tod in das Geistige hinein. Geburt und Tod waren von keiner Bedeutung für das Leben. Man kannte nur das Leben, man kannte nicht den Tod. Aus diesem Zustande kamen die Menschen allmählich heraus. Und wenn man die Menschheitsentwickelung in ihrem Fortschreiten von den ältesten Zeiten bis gegen das Mysterium von Golgatha verfolgt,so kann man sagen: Die Menschen lernten immer mehr und mehr den Tod als etwas, was einen Eindruck auf sie machte, kennen. Ihre Seele verstrickte sich mit dem Tode, und es wurde eine Gefühlsfrage: Was wird denn nur mit der Seele, wenn der Mensch durch den Tod geht? So standen die Menschen in den ältesten Zeiten überhaupt nicht vor der Frage nach dem Tode als einem Ende. Sie haben höchstens nach der besonderen Art der Verwandlung gefragt. Sie haben gefragt, ob es der Hauch ist, der aus dem Menschen hinausgeht und fortströmt, und damit die Seele in die Ewigkeit hinübergeht, oder sie haben sich eine andere Vorstellung gemacht, wie da das geistig-seelische Leben fort- strömt. Über die Art dieses Fortströmens haben sie nachgedacht, aber über den Tod als ein Ende haben die Menschen nicht nachgedacht. Als das Mysterium von Golgatha herannahte, da fühlten eigentlich erst die Menschen, daß der Tod eine Bedeutung hat, daß das irdische Leben etwas ist, was ein Ende hat. Natürlich wurde das nicht eine philosophisch formulierte wissenschaftliche Frage, aber es legte sich auf die Seele als eine Empfindung. Zu dieser Empfindung mußten die Menschen im irdischen Leben kommen, denn in das irdische Leben mußte eindringen für die Menschheitsentwickelung der Verstand, der Inte!lekt. Der Intellekt ist aber abhängig davon, daß wir sterben können. Ich habe das öfter ausgeführt. Der Mensch mußte also in den Tod hinein verstrickt werden. Der Mensch mußte den Tod kennenlernen. Die alten Zeiten, in denen die Menschen den Tod nicht kannten, waren alle unintellektualistisch. Die Menschen bekamen die Vorstellungen durch Eingebungen aus der geistigen Welt, dachten sie nicht aus. Einen Intellekt gab es nicht. Aber

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der Intellekt mußte Platz greifen. Der Intellekt kann nur dadurch Platz greifen, daß - sprechen wIr es auf geistig-seelische Art aus - der Mensch sterben kann, daß er fortwährend die Absterbekräfte in sich trägt. Auf physische Weise könnte man sagen: Der Tod kann nur dadurch eintreten, daß der Mensch nicht nur in seinem übrigen Leibe, sondern auch innerhalb seines Gehirns Salze ablagert, das heißt mineralisch-feste Bestandteile, tote Bestandteile ablagert. Das Gehirn enthält fortwährend die Tendenz nach Salzablagerungen, nach nicht zustande gekommenen Knochenbildungen. So daß das Gehirn fortwährend die Tendenz nach dem Tode hin enthält. Diese Einimpfung des Todes mußte über die Menschheit kommen. Und nur das, was hervorging aus dieser Notwendigkeit, daß der Tod wirklich eine Rolle spielte Im menschlichen Leben, das war die äußere Bekanntschaft mit dem Tode. Wären die Menschen so geblieben, wie sie in alten Zeiten waren, daß sie eigentlich den Tod gar nicht gekannt haben, dann hätten sie niemals einen Intellekt entwickeln können, denn der Intellekt ist nur möglich in einer Welt, in welcher der Tod waltet. So ist das anzusehen von seiten der Menschen. Man kann das aber auch ansehen von seiten der höheren Hierarchien. Da stellt es sich etwas anders dar. Die höheren Hierarchien enthalten in ihrem Wesen die Kräfte, welche gebildet haben Saturn, Sonne, Mond und zuletzt die Erde. Wenn die höheren Hierarchien nun ihre Lehre gewissermaßen unter sich ausgesprochen hätten bis zum Mysterium von Golgatha hin, so würden sie gesagt haben: Wir können aus Saturn, Sonne und Mond heraus die Erde gestalten. Aber die Erde würde, wenn sie nur das in sich enthielte, was wir dem Saturn, der Sonne, dem Monde haben einverleiben können, niemals Wesen entwickeln können, welche vom Sterben etwas wIssen, welche daher Intellekt in sich entwickeln können. Wir höheren Hierarchien sind imstande, aus dem Monde hervorgehen zu lassen eine Erde, in der die Menschen nichts vom Sterben wissen, in der sie aber auch nicht den Intellekt entwickeln können. Es ist uns höheren Hierarchien unmöglich, die Erde so zu gestalten, daß sie die Kräfte hergibt, damit Menschen zum Intellekt kommen. Da müssen wir uns ein- lassen auf ein ganz anderes Wesen, auf ein Wesen, das von anderen

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Wegen herkommt, als wir hergekommen sind, auf das ahrimanische Wesen. Ahriman ist ein Wesen, das nicht zu unserer Hierarchie gehört. Ahriman kommt auf anderem Wege in die Evolutionsströmung herein. Wir müssen uns mit diesem Ahriman einlassen. Wenn wir den Ahriman dulden innerhalb der Erdenentwickelung, wenn wir ihm einen Anteil gewähren, dann bringt er uns den Tod und damit den Intellekt, und wir können in die menschliche Wesenheit Tod und Intellekt aufnehmen. Ahriman kennt den Tod. Ahriman kennt ihn, weil er verquickt mit der Erde ist, weil er Wege gegangen ist, durch die er mit der Erdenentwickelung zusammenhängt. Er ist ein Wissender, ein Weiser des Todes. Er ist daher auch der Herr des Intellektes. Die Götter mußten sich - wenn man so sagen darf - einlassen mit Ahriman. Sie mußten sich sagen: Die Evolution kann ohne Ahriman nicht fortschreiten. Es handelt sich darum, daß Ahriman in die Evolution aufgenommen werden kann. Aber wenn Ahriman in die Evolution aufgenommen wird und er nun der Herr wird über den Tod und damit über den Intellekt, dann entfällt uns die Erde, dann nimmt Ahriman, der nur ein Interesse daran hat, die ganze Erde zu verintellektualisieren, die Erde für sich in Anspruch. Die Götter standen vor der großen Frage, die Herrschaft über die Erde an Ahriman in einem gewissen Sinne zu verlieren. Da ergab sich nur die eine Möglichkeit, daß die Götter selber etwas kennenlernten, was sie in ihren Götterwelten, die nicht von Ahriman durchdrungen waren, nicht haben kennenlernen können, daß die Götter durch einen ihrer Abgesandten, den Christus, den Tod auf der Erde selber kennenlernten. Es mußte ein Gott sterben auf der Erde, und er mußte so sterben, daß das nicht in der Götterweisheit, sondern in dem menschlichen Irrtum begründet ist, der Platz greifen würde, wenn Ahriman allein die Herrschaft hätte. Es mußte ein Gott durch den Tod gehen, und er mußte den Tod überwinden. So daß das Mysterium von Golgatha für die Götter bedeutete: die Bereicherung ihres Wissens durch die Weisheit vom Tode. Wäre kein Gott durch den Tod gegangen, so wäre die Erde ganz intellektualistisch geworden, ohne jemals in die Evolution hineinzukommen, die die Götter von vorneherein für sie bestimmt haben.

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Die Menschen haben den Tod nicht gekannt in alten Zeiten. Sie haben den Tod aber kennengelernt. Sie mußten vor der Empfindung stehen: Mit dem Tode, das heißt mit dem Intellekt, gehen wir in eine ganz andere Entwickelungsströmung hinein, als die ist, von der wir hergekommen sind. Nun lehrte der Christus seinen Eingeweihten, er sei aus einer Welt gekommen, in der man den Tod nicht kannte; er habe auf der Erde den Tod kennengelernt, er habe den Tod besiegt. - Versteht man diesen Zusammenhang der irdischen Welt mit der göttlichen Welt, dann weiß man den Intellekt wiederum zurückzuführen zu der Spiritualität. So ungefähr könnte man aussprechen das, was der Inhalt jener esoterischen Lehren war, die der Christus seinen eingeweihten Schülern gegeben hat. Das, was er ihnen gegeben hat, war eben die Lehre von dem Tode, wie er sich von dem Schauplatze der Götterwelt ausnimmt. Man muß, wenn man die ganze Tiefe dieser esoterischen Lehre einsehen will, sich klar sein darüber, daß es für den Menschen, der die ganze Menschheitsevolution versteht, eine Erkenntnis ist: Die Götter haben Ahriman besiegt, indem sie seine Kräfte für die Erde nutzbar gemacht haben, aber abgestumpft haben sie seine Macht, indem sie selber den Tod kennenlernten in der Wesenheit des Christus. Die Götter haben zwar den Ahriman eingefügt in die Erdenentwickelung, aber sie haben, indem sie ihn benutzt haben, ihn gezwungen, herunterzukommen in die Erdenentwickelung, nicht seine eigene Herrschaft bis zum Ende durchzuführen. Derjenige, der nun Ahriman kennenlernt seit dem Mysterium von Golgatha, und der ihn vorher kennt, der weiß, daß Ahriman gewartet hat auf den welthistorischen Augenblick, in dem er so eingreifen kann, daß diese Wirkung nicht nur, wie es schon seit der atlantischen Zeit war - das wissen Sie aus meiner «GeheimwIssenschaft» -, auf das Unbewußte und Unterbewußte der Menschen ausgeübt wurde, sondern wIe er eingreifen konnte auch in das Bewußtsein der Menschen. Wenn man menschliche Ausdrücke auf göttliches Wollen anwenden möchte, so möchte man sagen: Ahriman wartete mit Sehnsucht auf den Augenblick, wo er in das menschliche Bewußtsein mit seiner Macht eindringen konnte.

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Nun wurde er überrascht davon, daß er früher nicht gewußt hat,daß ein göttlicher Entschluß vorlag, ein Wesen auf die Erde zu senden, den Christus, der durch den Tod ging. Dadurch war zwar das Eingreifen des Ahriman möglich, aber seiner eigentlichen Herrschaft war die Spitze abgebrochen. Seit jener Zeit benützt Ahriman jede Gelegenheit, um die Menschen zum bloßen Gebrauche des Intellektes zu bringen; Ahriman hat noch heute die Hoffnung nicht aufgegeben, daß es ihm gelingen werde, die Menschen zum bloßen Gebrauch ihres Intellektes zu bringen. Was würde das bedeuten? Wenn es Ahriman gelingen könnte, den Menschen die Überzeugung restlos beizubringen, so daß jede andere Überzeugung von der Erde hinschwinden würde, daß der Mensch nur in seinem Leibe leben kann, daß er nicht trennbar ist als geistig-seelisches Wesen von seinem Leibe, so würde die menschliche Seele so ergriffen werden von der Todesidee, daß Ahriman leicht seine Pläne verwirklichen könnte. Darauf hofft Ahriman immer. Und man darf zum Beispiel sagen, daß in Ahrimans Gemüt - wenn man bei Ahriman von Gemüt sprechen darf, aber es ist ja vergleichsweise - besondere Freude herrschte - immer gebrauche ich menschliche Ausdrücke für das, wofür eigentlich andere ersonnen werden müßten -, daß in Ahrimans Gemüt besondere Freude herrschte in der Zeit von den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bis gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts, denn in der vorwiegenden Herrschaft des Materialismus konnte Ahriman wieder hoffen für seine Herrschaft über die Erde. Es ist doch sogar gelungen, daß in dieser Zeit die Theologie materialistisch geworden ist. Ich habe erwähnt, wie die Theologie unchristlich geworden ist, wie der Basler Theologe Overbeck ein Buch geschrieben hat, in dem er zu beweisen versuchte, daß die moderne Theologie gar nicht mehr christlich ist. Da konnte Ahriman wiederum hoffen. Und eine Gegnerschaft gegen Ahriman ist eigentlich heute nur in solchen Lehren vorhanden, wie sie durch die Anthroposophie fließen. Wenn durch die Anthroposophie wiederum den Menschen klar wird die Selbständigkeit des geistig-seelischen Wesens, unabhängig von dem körperlichen Wesen, dann muß Ahriman zunächst seine Hoffnung

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aufgeben. Dieses Kämpfen des Christus gegen Ahriman ist schon wiederum möglich, so daß eine Ahnung davon entstehen kann im Evangelium in der Versuchungsgeschichte. Aber ganz verstehen wird man die Sache eben nur, wenn man das, was ich auch schon öfter hier ausgeführt habe, durchdringt, daß für die ältere Menschheitsentwickelung mehr Luzifer eine Rolle spielt und Ahriman auf das menschliche Bewußtsein erst einen Einfluß gewinnt seit der Zeit des Mysteriums von Golgatha. Vorher hatte er auch einen Einfluß auf die Menschheit, aber nicht eigentlich auf das Bewußtsein. Wenn man in das menschliche Gemüt hineinschaut, so muß man sagen: Es ist der wichtigste Punkt der irdischen Menschheitsentwickelung da, wo der Mensch erkennen lernt, daß in dem Christus-Impuls eine Kraft lebt, durch die er selbst, wenn er sich mit ihr verbindet, den Tod in sich überwindet. Von der geistigen Außenwelt angesehen, bedeutet das, daß von der Seite der zu Saturn, Sonne, Mond, Erde und so weiter gehörigen Hierarchien Ahriman hereingezogen worden ist in die Erdenentwickelung, aber seine Herrschaftsansprüche beschränkt worden sind, indem sie in den Dienst der Erdenentwickelung hereingestellt werden. Gewissermaßen ist Ahriman hereingezwungen worden in die Erdenentwickelung. Ohne ihn hätten die Götter nicht den Intellektualismus in die Menschheit hineinbringen können. Wenn sie nicht durch das Christus-Ereignis es dahin gebracht hätten, daß der Herrschaft des Ahriman die Spitze abgebrochen wäre, so würde Ahriman die ganze Erde innerlich verintellektualisiert, äußerlich vermaterialisiert haben. Wir haben eben in dem Mysterium von Golgatha nicht bloß ein inneres mystisches Ereignis zu sehen, sondern wir haben durchaus ein äußeres Ereignis zu sehen, das aber nicht im Sinne der äußeren materiellen Geschichtsforschung dargestellt werden darf, sondern das dargestellt werden muß so, daß es das Aufnehmen des Ahrimanismus in die Erdenentwickelung bedeutet, aber zu gleicher Zeit in einer gewissen Weise das Überwinden des Ahrimanismus. Wir haben also einen Götterkampf, der sich abspielte durch das Mysterium von Golgatha. Daß sich da ein Götterkampf abgespielt hat, das war eben etwas, was auch zu dem Inhalte der esoterischen

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Lehren gehörte, die der Christus seinen eingeweihten Schülern nach seiner Auferstehung beibrachte. Wenn man das bezeichnete, was da als esoterisches Christentum waltete, so kann man sagen, daß die Menschen in alten Zeiten der Erdenentwickelung gewußt haben: sie hingen zusammen mit den Götterwelten. Sie wußten von den Götterwelten durch die Offenbarungen, die ich Ihnen charakterisiert habe. Aber aus diesen Götterwelten konnte ihnen keine Mitteilung kommen von dem Tode, denn in diesen Götterwelten gab es den Tod nicht, und für den Menschen selber gab es den Tod nicht, indem man nur das gleichmäßige, kontinuierliche Fortschreiten des Geistig-Seelischen durch die Götterinstitutionen erkennen konnte. Der Mensch sah herankommen die Bedeutung des Todes hier. Er konnte sich erringen eine gewisse Kraft, sich zu halten an den Christus, um den Tod zu überwinden,Das ist innermenschliche Entwickelung. Aber das Esoterische, das der Christus seinen eingeweihten Schülern gegeben hat, bestand eben darin, daß er ihnen gesagt hat: Was sich auf Golgatha vollzogen hat, ist der Abglanz von überirdischen Ereignissen, von einem Verhältnis, das sich abspielte zwischen den Götterwelten, die mit Saturn, Sonne und Mond zusammenhängen und mit der bisherigen Erde, und Ahriman. Daß man auf das Kreuz von Golgatha nicht bloß so hinschauen kann, als ob damit etwas Irdisches zum Ausdrucke käme, sondern daß das Kreuz von Golgatha eine Bedeutung hat für den ganzen Kosmos, das war das, was Inhalt des esoterischen Christentums war. Vielleicht kann man sich eine Empfindung verschaffen von dem, was da mit dem esoterischen Christentum gemeint sein soll, wenn man die Sache etwa so ausspricht: Man nehme an, zwei esoterische Schüler des Christus, die immer weiter und weiter vorrückten unter Aufnahme des esoterischen Christentums, sprachen initeinander während sie sich noch aus Zweifeln herausrangen. Der eine hätte zu dem anderen das Folgende sagen können: Der Christus, der uns lehrt, ist aus denjenigen Welten heruntergestiegen, die man aus alten Zeiten kennt. Man wußte von den Göttern, aber von denjenigen Göttern, die nicht reden konnten von dem Tode. Wenn wir nur bei ihnen stehen geblieben wären, hätten wir niemals von dem Wesen des Todes etwas erfahren. Die Götter mußten selbst erst ein Wesen herunterschicken auf die Erde,

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um durch einen der ihrigen kennenzulernen das Wesen des Todes. Was die Götter tun mußten, um die Erdenentwickelung zum richtigen Ende zu führen, das scheint uns der Christus nach seiner Auferstehung zu lehren. Wenn wir uns an ihn halten, so erfahren wir etwas, was die Menschen bisher nicht haben wissen können. Wir erfahren, was die Götter gemacht haben hinter den Kulissen des Weltendaseins, um die Erdenentwickelung in der richtigen Weise zu fördern. Wir erfahren, wie sie die Kräfte des Ahriman hereingeführt haben und sie nicht zum Verderben der Menschen werden ließen, sondern zum Nutzen der Menschen. Es war etwas tief Ergreifendes, was da als esoterische Lehre von dem auferstandenen Christus an die eingeweihten Schüler herangegebracht worden ist. Und solch ein Schüler, wie ich ihn Ihnen jetzt angeführt habe, hätte weiter sagen können: Wir würden ja heute überhaupt gar nichts mehr wissen von den Göttern, denn wir sind in den Tod verstrickt, wenn der Christus nicht gestorben und auferstanden wäre und nach seiner Auferstehung uns die Göttererfahrungen über den Tod mitgeteilt hätte. Wir würden als Menschen in eine Zeit versinken, wo wir von den Göttern gar nichts mehr wissen können. Die Götter haben sich einen Weg gesucht, um wiederum zu uns sprechen zu können. Und dieser Weg ging durch das Mysterium von Golgatha. Daß die Menschen dem Göttlichen wiederum nahe gekommen sind, von dem sie sich entfernt hatten, das war das Wesentliche, was überging aus dem esoterischen Christentum in die Jünger. Die Jünger waren in den ersten Zeiten der christlichen Entwickelung von dieser erschütternden Lehre durchdrungen. Und mancher, von dem uns in der Geschichte nur erzählt wird durch äußere Angaben, der trug in sich das Wissen, das ihm nur hat kommen können dadurch, daß er entweder in den ersten Zeiten den Unterricht des auferstandenen Christus selbst gehabt hat, oder aber in Beziehung gestanden hat zu Lehrern, die eben diesen Unterricht gehabt haben. Später wurden alle diese Dinge veräußerlicht. Sie wurden so veräußerlicht, daß die ersten Verkünder des Christentums ja allerdings einen großen Wert darauf legten, sagen zu können, sie hätten einen Lehrer gehabt, der wäre noch Schüler eines Apostelschülers gewesen. Es war ein kontinuierliches Fortentwickeln,

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so daß derjenige, der sie gelehrt hat, noch einen gesehen hatte, der einen Apostel und damit einen gesehen hatte, der den Herrn selber nach seiner Auferstehung kennengelernt hatte. Auf dieses lebendige Fortentwickeln legte man in den ersten Jahrhunderten noch einen Wert; aber so, wie das dann auf die spätere Menschheit gekommen ist, war es schon veräußerlicht. Es war zu einer äußerlichen historischen Darstellung gekommen. Aber im wesentlichen geht es zurück auf dasjenige, was ich Ihnen hier eben charakterisiert habe. Und die Einverleibung des Intellektes, die ja insbesondere schon im vierten, fünften Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha beginnt, die dann den besonderen Umschwung erlebt im fünfzehnten Jahrhundert, wo der fünfte nachatlantische Zeitraum beginnt, diese Entwickelung des Intellektes brachte es dahin, daß man die alte Weisheit nicht mehr hatte, durch die man so etwas noch einsehen konnte, und die neue Weisheit noch nicht entwickelt war. Die Menschen vergaßen gewissermaßen ein Zeitalter hindurch dasjenige, worauf es esoterisch im Christentum ankam. Wie gesagt, Notizen blieben darüber vorhanden in Geheimgesellschaften, deren Mitglieder aber jedenfalls in der heutigen Zeit nicht mehr verstehen, worauf sich diese Notizen beziehen; in Wirklichkeit beziehen sie sich darauf, daß Lehren erteilt wurden von dem auferstandenen Christus an gewisse eingeweihte Schüler. Nehmen wir einmal an, die alte hebräische Lehre hätte nicht eine Regeneration erfahren durch das Christentum, es hätte ja dasjenige herauskommen müssen, was für Paulus eine unbedingte Überzeugung vor dem Ereignis von Damaskus war. Paulus hat etwa so gedacht: Es gibt eine althergebrachte Lehre. Ursprünglich war sie vorhanden als eine göttlich-geistige Offenbarung, die an die Menschen geistig heran- gekommen war in Urzeiten, so wie ich es eben heute charakterisiert habe. Dann ist sie durch das Schrifttum aufbewahrt worden. Unter den hebräischen Menschen gab es Schriftgelehrte, die aus der Schrift wußten, was da noch aufbewahrt worden war von der alten Götterweisheit her. Aus diesen Schriftgelehrten heraus entstand das Urteil,das den Christus Jesus zum Tode verurteilt hat. Solch ein Mensch wie Paulus, als er noch Saulus war, sieht also hinauf zu der Urgötterweisheit.

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Aus der strömt herunter bis zu den Schriftgelehrten seiner Zeit dasjenige, was diese Götterweisheit dem Menschen geworden ist. Indem hervorragende Menschen sich hingegeben ha,ben dem Schrifttum, konnte diese Götterweisheit nur dazu führen, daß gerechte Urteile gesprochen wurden. Ein Unschuldiger> der zum Kreuzestod verurteilt wird: unmöglich, unmöglich! wenn sich alles so vollzog, wie es sich vollzogen hat bei der Verurteilung des Christus Jesus. Nur der römische Landpfleger Pontius Pilatus, der war schon instinktiv hineinverstrickt in eine ganz andere Weltanschauung, der konnte das inhaltsvolle Wort aussprechen: Was ist Wahrheit? - Für Paulus, als er noch Saulus war, war keine Möglichkeit, auch nur daran zu denken, daß das, was nach gerechtem Urteile sich vollzogen hat, nicht hätte Wahrheit sein sollen. Zu welcher Überzeugung mußte sich denn Paulus durchringen? Zu der Überzeugung, daß bei den Menschen Irrtum sein kann dasjenige, was einmal von den Göttern als Wahrheit gekommen ist, daß die Menschen es haben zum Irrtume machen können, zu solch starkem Irrtum, daß der Schuldloseste durch den Kreuzestod geht. Um ganz klar zu werden, machen wir uns davon eine schematische Zeichnung:

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Ursprüngliche Götterweisheit, sie strömt herunter bis zu der Weisheit der Schriftgelehrten, die die Zeitgenossen des Mysteriums von Golgatha innerhalb des Hebräertums waren (weiß). Da kann nur die Wahrheit drinnen sein, so mußte Saulus denken. Aber man mußte anders denken. Paulus, als er noch Saulus war, sagte sich: Ist das wirklich der Christus, der Messias, der durch den Kreuzestod gegangen ist, so muß da drinnen in dieser Strömung (rot) Irrtum sein. Da muß Irrtum zugemischt sein der Wahrheit, denn der Irrtum muß es sein, der den Christus ans Kreuz gebracht hat; das heißt, die einstige Götterwahrheit muß in den Menschen zum Irrtum geworden sein. Selbstverständlich konnte der Saulus sich nur überzeugen durch die Tatsache, daß das so ist. Nur der Christus selbst konnte ihn überzeugen, wenn er ihm erschien, wie das durch das Ereignis von Damaskus geschehen ist. Was bedeutete das aber für den Saulus? Das bedeutete, daß eben nicht mehr die alte Götterweisheit war, sondern daß in diese das Ahrimanische hereingeströmt war. So kam Paulus dazu, einzusehen, daß die Menschheitsentwickelung von einem Feinde ergriffen war, und daß dieser Feind der Quell des Irrtums auf der Erde ist. Indem er den Intellekt bringt, bringt er zugleich die Möglichkeit des Irrtums, und indem der Irrtum in seiner größten Ausbildung erschien, wird er zu demjenigen Irrtum, der den Schuldlosen ans Kreuz bringt. Man mußte ja erst diese Überzeugung gewinnen können, daß der Schuldlose ans Kreuz kommen kann. Dadurch empfing man erst eine Anschauung darüber, wie Ahriman in die Menschheitsentwickelung herein seinen Weg gefunden hat, und wie in der menschlichen Ich-Entwickelung, indem das Mysterium von Golgatha sich abspielte, eben ein übersinnlich-überirdisches Ereignis vorhanden war. Das Esoterische kann niemals ein bloßes Mystisches sein. Es ist immer ein gewaltiges Mißverständnis, wenn man die bloße Mystik zur Esoterik umdeutet. Das Esoterische ist immer ein Erkennen von Tatsachen, die sich in der geistigen Welt als solche abspielen, die hinter dem Schleier des Sinnlichen stehen. Und hinter dem Schleier der Sinnlichkeit steht die Ausgieichung zwischen der Götterwelt und der ahrimanischen Welt, wie sie sich abspielt durch den Kreuzestod des Christus Jesus.

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Nur in einer Welt - so konnte jetzt Paulus empfinden -, in welcher ergriffen wird die menschliche Wesenheit von den ahrimanischen Mächten, kann der Irrtum eintreten, der zum Kreuzestod hat führen können. Und jetzt, als er das begriffen hatte, erkannte er eben erst die Wahrheit des esoterischen Christentums. Paulus war also durchaus einer von denjenigen, die in diesem Sinne zu den Eingeweihten gehörten. Aber diese Einweihung verglomm allmählich gerade unter dem Einfluß des Intellektualismus. Und heute haben wir nötig, wiederum zurückzukehren zu einer Erkenntnis des esoterischen Christentums. Heute haben wir nötig, wiederum zu wissen> daß nicht nur dasjenige zum Christentum gehört, was exoterisch ist, wovon die Evangelien Ahnungen zwar erwecken können. Vom Esoterischen wird heute noch wenig geredet. Aber die Menschheit muß zurückkehren zu dem, wofür ja kaum äußere Dokumente vorhanden sind, was eben durch anthroposophische Geisteswissenschaft durchschaut werden muß, was der Christus selber nach seiner Auferstehung seinen eingeweihten Schülern gelehrt hat unter der Voraussetzung, daß er es nur lehren konnte, nachdem er auf Erden ein Erlebnis gehabt hat, das er in der Götterwelt oben nicht hätte haben können, denn in der Götterwelt gibt es keinen Tod bis zu dem Mys`t`erium von Golgatha. Da war niemals ein Wesen durch den Tod gegangen. Christus ist der Erstgeborene, der durch den Tod gegangen ist aus der Welt der Hierarchien, die mit der Erdenentwickelung in Saturn, Sonne und Mond zusammenhängen. Die Aufnahme des Todes in das Leben, das ist das Geheimnis von Golgatha. Vorher hatte man das Leben ohne den Tod gekannt, jetzt lernte man den Tod als einen Bestandteil des Lebens kennen, als ein Erlebnis, welches verstärkt das Leben. Es war ein schwächeres Leben, durch das die Menschheit gegangen ist, als sie noch nicht den Tod gekannt hat. Die Menschheit muß stärker leben, wenn sie durch den Tod durchgehen will und dennoch leben will. Und der Tod bedeutet in dieser Beziehung zugleich den Intellekt. Die Menschen hatten ein verhältnismäßig schwaches Lebensgefühl notwendig, als sie sich noch nicht mit dem Intellekt zu plagen hatten. Die älteren Menschen, die in ihre inneren Offenbarungen bildhaft hereinbekamen das Wissen von

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den göttlichen Welten, die starben innerlich nicht. Sie blieben immer lebendig. Sie konnten lachen über den Tod, weil sie ja doch innerlich lebendig blieben. Die Griechen erzählen noch davon, wie glücklich die Alten waren, weil sie, bevor sie ans Sterben kamen, so innerlich betäubt wurden, gewissermaßen, daß sie nicht merkten, daß es dem Tode entgegenging. Das war aber schon der letzte Ausläufer dieser Weltanschauung, die nichts von dem Tode wußte. Der neuere Mensch erlebt den Intellekt. Der Intellekt macht uns innerlich kalt, macht uns innerlich tot. Der Intellekt lähmt uns. Wir leben eigentlich nicht, wenn wir den Intellekt entwickeln. Man muß das nur empfinden, daß man ja eigentlich nicht lebt, wenn man denkt, daß man sein Leben ausgießt in tote Verstandesbilder, und daß man ein starkes Leben braucht, um dasjenige, was in der toten Verstandesbildung ist, nun dennoch als schaffendes Leben zu empfinden, wenn man sich auf dasjenige Gebiet begibt, wo aus der Kraft des reinen Denkens heraus die sittlichen Impulse kommen, wo man die Freiheit des Menschen verstehen lernt aus den Impulsen des reinen Denkens heraus. Das habe ich versucht darzustellen in meiner «Philosophie der Freiheit>. Diese «Philosophie der Freiheit» ist eigentlich eine Moralanschauung, welche eine Anleitung dazu sein will, die toten Gedanken als Moralimpulse zu beleben, zur Auferstehung zu bringen. Insofern ist innerliches Christentum durchaus in einer solchen Freiheitsphilosophie. Ich wollte Ihnen mit diesen Auseinandersetzungen heute einmal von einem gewissen Gesichtspunkte aus etwas von dem esoterischen Christentum vor die Seele stellen. Es ist nötig in unserer Zeit, wo ja so viel an Streit herrscht gerade über das Wesen des Christentums exoterisch-historisch, auf diese esoterische Lehre des Christentums hinzu weisen. Das ist dasjenige, was ich heute gewollt habe. Ich hoffe, daß gerade diese Dinge nicht leicht hingenommen, sondern daß sie mit der nötigen Schwere empfunden werden. Man hat ja immer das Gefühl, wenn man gerade über solche Dinge spricht, daß es schwer ist, in die schon abstrakt gewordenen Worte der heutigen Sprache diese Dinge hineinzubringen. Deshalb versuchte ich gestern, Ihre Seelen dafür zu stimmen dadurch, daß ich in Bildern die inneren Vorgänge des Menschen darstellte, um heute gewissermaßen von dem einzelnen Menschen

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hinauszuführen zu demjenigen, was nun im esoterischen Sinne diejenige historische Entwickelung der Menschheit ist, die das Mysterium von Golgatha als etwas Wesentliches in sich aufnimmt. Wenn ich von der Reise zurückkomme, so wollen wir dann gerade vielleicht die Möglichkeit haben, auf einer anderen Ebene das Verhältnis der menschlichen Seele zur Weltenentwickelung zu betrachten. DIE LEHREN DES AUFERSTANDENEN BETRACHTUNGEN ÜBER DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA Den Haag, 13. April 1922

  1. G211-1986-SE123 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

DIE LEHREN DES AUFERSTANDENEN BETRACHTUNGEN ÜBER DAS MYSTERIUM VON GOLGATHA Den Haag, 13. April 1922

  1. TX

Dasjenige, worüber ich heute sprechen möchte, ist eine gewisse Seite des Mysteriums von Golgatha, über das ich ja öfter gerade in intimeren anthroposophischen Versammlungen gesprochen habe. Allein dasjenige, was zu sagen ist über dieses Mysterium von Golgatha, ist etwas so Ausgebreitetes, gehört einem so wichtigen und reichen Gebiete an, daß man immer neue und neue Seiten dieses größten Geheimnisses in der menschlichen Erdenentwickelung wird beleuchten müssen, um nur annähernd von den verschiedensten Seiten her sich zu nähern eben diesem Mysterium von Golgatha. Man wird das Mysterium von Golgatha nur dann in der richtigen Weise würdigen, wenn man die ganze Menschheitsentwickelung, die vorangegangen ist diesem Mysterium von Golgatha, und die andere Menschheitsentwickelung, die nun schon nachgefolgt ist oder während des Restes der Erdenzeit nachfolgen wird, wenn man diese zwei Entwickelungsströmungen des menschlichen Erdendaseins sich vor das Seelenauge stellt. Wir müssen uns eben durchaus klarmachen, daß, wenn man vom Anfange des Erdenwerdens spricht, das heißt von demjenigen Anfang, von dem man schon so sprechen kann, daß eine Art von Denken-wenn auch ein träumendes, ein träumend-imaginatives Denken, aber doch eben eine Art von Denken - schon vorhanden war, daß wenn man von diesen älteren Zeiten der menschheitlichen Erdenentwickelung spricht, man sich durchaus klar darüber sein muß: die Menschen hatten damals Fähigkeiten, durch die sie, wenn ich mich so ausdrücken darf, in Verkehr treten konnten mit Wesen einer übergeordneten Weltenordnung. Sie kennen ja aus meiner «Geheimwissenschaft» und aus anderen Darstellungen, welcher Art diese Wesen der höheren Hierarchien sind. Heute ist es ja für das gewöhnliche Bewußtsein des Menschen so, daß er eigentlich nicht viel weiß von diesen Wesenheiten der höheren Hierarchien.

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Gewissermaßen ist sein Verkehr mit ihnen abgeschnitten. Das war nicht so in den älteren Zeiten der Menschheitsentwickelung. Es wäre natürlich falsch, wenn man sich vorstellen wollte, daß die Begegnung mit einem solchen Wesen der höheren Hierarchien in diesen alten Zeiten etwa so war, wIe wenn sich heute zwei Menschen begegnen, die im physischen Leibe verkörpert sind. So war das natürlich nicht. Es war ein ganz anderer Verkehr. Man konnte eben auch nur mit geistigen Organen auffassen, was diese Wesenheiten in der irdischen Ursprache dein Menschen mitteilen. Und dasjenige, was diese Wesenheiten dem Menschen mitteilen konnten, es waren gewaltige Geheimnisse des Daseins. Es waren Geheimnisse des Daseins, welche in das menschliche Gemüt der damaligen Zeit hineinflossen unU in dem Menschen das Bewußtsein hervorriefen: Nach oben hin, gewissermaßen nach jener Seite hin, nach der wir heute nur Wolken und Sterne sehen, steht das irdische Dasein in Zusammenhang mit Götterwelten. - Mitglieder dieser Götterwelten stiegen eben herunter auf geistige Weise zu den Erdenmenschen und offenbarten sich ihnen so, d,aß die Menschen dasjenige, was man Urweisheit nennen kann, durch die Vermittelung dieser überirdischen Wesenheiten erhielten. Innerhalb dieser Offenbarungen der Urweisheit, welche diesen Wesenheiten entstammt, war eben unendlich viel von dem enthalten, was die Menschen in ihrem Erdenleben von sich aus selber nicht hätten ergründen können. Im Anfange des Erdenwerdens, so wie ich es hier meine, konnten ja die Menschen eigentlich herzlich wenig von sich aus ergründen. Dasjenige, was in ihnen als eine Anschauung, ein anschauendes Wissen entzündet wurde, das erhielten sie eben von ihren göttlichen Lehrern. Diese göttUchen Lehren, sie enthielten viel, allein sie enthielten eines nicht, das für die damaligen Menschen ja auch nicht notwendig war, das aber für die gegenwärtige Menschheit zu den wichtigsten Bestandstücken der Erkenntnis gehört. Die göttlichen Lehrer sprachen den Menschen von den allerverschiedensten Wahrheiten und Erkenntnissen, aber sie sprachen ihnen niemals von dem, was eigentlich zugrunde liegt den beiden Grenztatsachen des menschlichen Erdenlebens, sie sprachen ihnen niemals von Geburt und Tod. Es kann natürlich heute in der kurzen Zeit nicht meine Aufgabe

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sein, von alledem zu sprechen - vieles davon wissen Sie ja -, von dem die göttlichen Lehrer dem Menschengeschlecht in jenen alten Zeiten gesprochen haben. Aber ich möchte eben scharf betonen, daß innerhalb all dieser Lehren keine enthalten waren über Geburt und Tod, und zwar aus dem Grunde, weil ja die Menschen jener älteren Zeiten und noch lange im Verlauf der menschlichen Erdenentwickelung - die Weisheiten über Geburt und Tod nicht zu wissen brauchten. Das ganze Bewußtsein der Menschheit hat sich ja verändert im Laufe der Erdenentwickelung. Und obzwar wir niemals gleichstellen dürfen das tierische Bewußtsein von heute, auch das höhere tierische Bewußtsein von heute mit demjenigen, was das menschliche Bewußtsein in primitiven alten Zeiten war, so können wir uns doch vielleicht Anhaltspunkte vor Augen stellen aus dem heutigen Tierleben, das nur eben unter dem Niveau des Menschlichen liegt, während das Anfangsleben des primitiven Menschen sogar in einer gewissen Weise über dem Niveau des heutigen Menschlichen lag, trotzdem er gegenüber dem heutigen Menschen eine Art tierische Gestaltung hatte. Wenn Sie das Tier heute betrachten mit unbefangenem Blicke, so werden Sie sich sagen: dieses Tier hat kein Interesse, weil es im mittleren Lebenszustande ist, an Geburt und Tod. Wenn wir von der Geburt absehen, obzwar es auch da ja ersichtlich ist, brauchen wir nur daran zu denken, mit welcher Sorglosigkeit, mit welchem Uninteresse, mit welcher Interesse- losigkeit das Tier dem Tode entgegenlebt. Das Tier läßt eben den Tod über sich ergehen, nimmt diese Verwandlung seines Daseins, das heißt den Ubergang vom individuellen Dasein zum Gruppenseelen-Dasein einfach hin, ohne einen so tiefen Einschnitt in das Leben dadurch zu gewahren, wie das beim menschlichen Wesen der Fall ist. Nun, wie gesagt, in gewisser Beziehung stand der Urmensch der Erde, trotz seiner tierartigen Gestaltung, über dem Tier, er hatte ein instinktives Hellsehen, und durch dieses instinktive Hellsehen konnte er auch wiederum in Verkehr treten mit seinen göttlichen Lehrern. Aber er hatte ebenso wie das heutige Tier kein Interesse an dem Herankommen des Todes. Wenn ich mich so ausdrücken darf: Er dachte eben nicht daran, den Tod besonders ins Auge zu fassen. Warum auch? Er hatte ja in sich ein deutliches Erlebnis noch in seinem instinktiven Hellsehen

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von dem, was ihm zurückgeblieben war, nachdem er durch die Geburt aus der geistigen Welt heruntergestiegen ist in die physische Welt. Erkannte das in seiner eigenen Wesenheit, was 1n seinen physischen Leib eingezogen war, und da er das kannte, da er, wenn ich so sagen darf, genau wußte: in mir lebt ein Ewiges -, so interessierte ihn nicht jene Verwandlung, die sich mit dem Tode vollzieht. Sie kam ihm höchstens vor, wie das Ablegen der Haut der Schlange vorkommen muß, wenn sie eben diese abgelegte Haut wieder durch eine neue ersetzen soll. Es war etwas Selbstverständlicheres und nicht so vehement ins menschliche Leben Einschlagendes, was da als Eindruck vorlag von Geburt und Tod. Die Menschen hatten eben noch eine starke Anschauung von dem Seelischen. Heute haben die Menschen keine Anschauung von dem Seelischen. Heute ist kaum ein stark bemerkbarer Übergang vorhanden zwischen Schlafen und Wachen im Traume. Der Traum liegt ja mit seinen Bildern durchaus heute auf der Seite des Schlafzustandes, er ist noch ein halber Schlaf, während dasjenige, was in traumartigen Bildern die Urmenschen erhalten hatten, eigentlich ins Wachen hineinfiel, ein noch nicht voll gestaltetes Wachen war. Der Mensch wußte: das, was er in diesen Traumbildern erhielt, ist Wirklichkeit. So fühlte und erlebte er sein Seelisches. Und er konnte gar nicht in der Stärke, mit der es heute geschehen muß, die Fragen aufwerfen nach Geburt und Tod. Dieser Zustand war in den ältesten Zeiten der menschlichen Erden entwickelung ganz besonders stark, aber er nahm immer mehr und mehr ab. Wenn ich es so ausdrücken darf: Die Menschen bemerkten nach und nach immer mehr und mehr, daß das Sterben einen starken Einschnitt macht in das menschliche Leben, auch in das seelische Leben. Und von da aus wiederum mußten sie den Blick wenden auf das Geborenwerden. Das Erdenleben nahm gewissermaßen mit Bezug auf diesen Unterschied einen Charakter an, der für die Menschen immer wichtiger und wichtiger wurde, weil ihnen daneben immer mehr und mehr das Drinnenleben im seelischen Dasein verblaßte, weil sie sich dadurch immer mehr und mehr herausgehoben fühlten aus dem seelisch-geistigen Dasein, während sie auf der Erde weilten. Und das wurde immer stärker und stärker, je mehr die Menschen dem Mysterium

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von Golgatha entgegenlebten. Bei den Griechen war das ja schon so stark, daß sie überhaupt das Leben außerhalb des physischen Leibes wie ein Schattenleben für den Menschen empfanden, daß sie mit einer gewissen Tragik hinschauten auf den Tod. Aber dasjenige, was die Menschen hatten als Lehren ihrer ältesten göttlichen Lehrer, das verbreitete sich eben nicht über das Geborenwerden und das Sterben. Und die Menschen waren vor dem Mysterium von Golgatha der Gefahr ausgesetzt, daß Erlebnisse eintreten sollten in ihr Erdenleben, daß die Auffassung, die Anschauung von Erlebnissen hereintreten sollte in ihr Erdenbewußtsein - Geburt und Tod -, die sie nicht verstanden, die ihnen wie etwas ganz Unbekanntes waren. Nun stellen wir uns vor, es wären zur Zeit des Mysteriums von Golgatha jene älteren, göttlichen Lehrer der Menschheit herabgestiegen, sie hätten sich vielleicht einigen, durch die Mysterien besonders vorbereiteten Schülern oder Lehrern der Menschheit offenbaren können, sie hätten den Umfang der alten göttlichen Weisheit, die ja tatsächlich in die Urweisheit eingeflossen ist, vorbereiteten Mysterienpriestern mitteilen können: innerhalb des ganzen, weiten Umfanges dieser Lehren wäre nichts gewesen über Geburt und Tod. Das Todesrätsel wäre gar nicht innerhalb dieser zu offenbarenden göttlichen Weisheit her- angebracht worden an die Menschen, auch in den Mysterien nicht, und draußen im Erdenleben wäre für die Menschen etwas beobachtbar gewesen - das Geborenwerden und das Sterben -, was für sie wichtig, von fundamentalem Interesse gewesen wäre, und die Götter hätten ihnen nichts darüber gesagt! Warum nicht? Ja, auf diese Sache müssen Sie schon mit einer gewissen Vorurteilslosigkeit schauen, müssen manche von den Vorstellungen, die einfach heute traditionelle Religion geworden sind, ablegen, und müssen sich klar werden über Dinge, wie das Folgende: Diejenigen Wesen der höheren Hierarchien, welche die göttlichen Lehrer des Urmenschen waren, die hatten ja in ihren Welten Geburt und Tod niemals erlebt. Denn Geburt und Tod in der Form, wie sie auf der Erde erlebt werden, wer- den eben nur auf der Erde erlebt und zwar nur vom Menschen auf der Erde erlebt. Der Tod des Tieres und der Tod der Pflanze sind etwas ganz anderes als der Tod des Menschen. Und in den Götterwelten,

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in denen die ersten großen Lehrer der menschlichen Entwickelung lebten, da gibt es nicht Geburt und Tod, da gibt es nur Verwandlung, Metamorphose von einem Dasein in das andere. So daß ein innerliches Verständnis - man muß es so charakterisieren - für das Sterben und Geborenwerden bei diesen göttlichen Lehrern gar nicht vorhanden gewesen ist. Und zu diesen göttlichen Lehrern gehört die ganze Schar derjenigen, welche in einem Zusammenhang standen mit der JahveWesenheit, in Zusammenhang standen mit den Bodhisattva-Wesenheiten, mit all den älteren Begründern von menschlichen Weltanschauungen. Machen Sie sich nur einmal klar, wie zum Beispiel gerade im Alten Testament mit einer gewissen Tragik das Todesgeheimnis - man kann es greifen - immer mehr und mehr vor den Menschen hintritt, und wie eigentlich all dasjenige, was noch als Lehre im Alten Testament übermittelt wird, dem Menschen keinen genügenden, namentlich keinen inneren Aufschluß über den Tod gibt. So daß, wenn nichts an- deres geschehen wäre zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, als was im Bereiche der Erde und den mit der Erde zusammenhängenden Über- weIten vor dem Mysterium von Golgatha geschehen ist, wenn dieses nicht gekommen wäre, die Menschen in ihrer Erdenentwickelung vor einer furchtbaren Lage gestanden hätten: sie hätten erlebt auf der Erde die Übergänge von Geburt und Tod, die jetzt sich anders darstellten als eine bloße Metamorphose, die jetzt sich als schroffen Übergang darstellten im gesamten Leben der Menschen, und sie hätten nichts erfahren können von der Bedeutung des Todes und der Geburt im menschlichen Erdenleben. Damit in die Menschheit hinein allmählich auch Lehren haben kommen können über Geburt und Tod, mußte nach und nach sich dasjenige Wesen ins Erdenleben einleben, das wir als den Christus bezeichnen, der ja angehört denjenigen Welten, aus denen auch die älteren großen Lehrer gekommen sind, der aber aus dem Ratschluß dieser Götterwelten heraus sich ein anderes Schicksal auserwählte als die anderen Wesenheiten der mit der Erde zusammenhängenden Götterhierarchien. Er fügte sich gewissermaßen dem göttlichen Ratschluß höherer Welten, in einem Erdenleibe sich zu verkörpern und mit der eigenen göttlichen Seele durch Erdengeburt und Erdentod hindurchzugehen.

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Sie sehen also: Dasjenige, was mit dem Mysterium von Golgatha geschehen ist, das ist nicht bloß eine innere menschliche oder innere irdische Angelegenheit, das ist zugleich eine Götterangelegenheit. Durch dasjenige, was auf Golgatha geschehen ist, haben die Götter den Tod und das Geburtsgeheimnis der Erde erst innerlich kennengelernt, denn sie haben es nicht früher mitgemacht. So daß wir das Bedeutsame vorliegen haben, daß ein göttliches Wesen den Entschluß gefaßt hat, durch Menschenschicksal auf diesem Gebiete zu gehen, um mit dem Menschen gleiche Erlebnisse des Irdischen, gleiche Schicksale zu haben. Nun, von dem Mysterium von Golgatha ist den Menschen ja man- cherlei bekannt geworden. Eine Tradition ist da, die Evangelien sind da, das ganze Neue Testament ist da, und die heutige Menschheit nähert sich ja vorzugsweise dem Mysterium von Golgatha dadurch, daß sie eben durch das Neue Testament und durch die heute mögliche Er- klärung des Neuen Testamentes hindurchgeht. Aber man bekommt da eigentlich zunächst, so wie die Erklärung des Neuen Testamentes heute getrieben wird, sehr wenig wirkliche Einsichten in das Mysterium von Golgatha. Es ist notwendig, daß die heutige Menschheit durch diese auf äußerliche Art zu erlangende Erkenntnis hindurchgeht, aber es ist eben nur eine äußerliche Erkenntnis. Man weiß heute namentlich gar nicht, wie ganz anders die Menschen zurückgeschaut haben in den ersten Jahrhunderten nach dem Mysterium von Golgatha, wie ganz anders diejenigen, die eingeweiht wurden in dieses Mysterium von Golgatha, zurückgeschaut haben zu diesem Mysterium von Golgatha, als die späteren das konnten, weil eben in der Zeit des Mysteriums von Golgatha - wenn auch alles das geschehen ist, was ich auseinandergesetzt habe - doch noch Reste eines alten, instinktiven Hellsehens bei einzelnen Menschen vorhanden waren; Reste allerdings nur, aber sie waren vorhanden, diese Reste, durch die man in ganz anderer Weise zurückschauen konnte bis zum vierten nachchristlichen Jahrhundert zu diesem Mysterium von Golgatha als später. Es ist nicht umsonst, daß diejenigen, die als Lehrer dann aufgetreten sind - man kann das, obwohl sehr mangelhaft nur, aber doch noch etwas konstatieren aus den geschichtlichen Überlieferungen der ältesten sogenannten Kirchenväter

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und christlichen Lehrer -, mehr Wert als auf alle schriftlichen Überlieferungen darauf gelegt haben, daß sie die Kunde von dem Christus Jesus-Wandel empfangen haben von solchen Lehrern, die ihn noch von Angesicht zu Angesicht gesehen haben, solchen, die wiederum die Schüler waren von Apostelschülern selber noch in den ältesten Zeiten, oder eben die Schüler von Schülern der Apostelschüler und so weiter. Die Sache ging eben bis in das vierte nachchristliche Jahrhundert, und so berief man sich darauf, daß überall eben noch ein lebendiger Zusammenhang war derjenigen, die auch noch im vierten nachchristlichen Jahrhundert lehrten. Wie gesagt, die geschichtlichen Dokumente sind größtenteils ausgetilgt, nur derjenige, der sie aufmerksam studiert, kann noch auf äußerliche Weise darauf kommen, wie Wert darauf gelegt worden ist: ich habe einen Lehrer gehabt, der hat einen Lehrer gehabt und so weiter, und an das Ende der Reihe stellte man eben noch einen Apostel, der noch den Herrn selber von Angesicht zu Angesicht geschaut hat. Schon von dem ist außerordentlich viel verlorengegangen. Aber noch mehr ist verlorengegangen von den eigentlichen esoterischen Weistümern, die immerhin noch vorhanden waren, dank der Reste der alten, hellsichtigen Einsichten, in den ersten vier christlichen Jahrhunderten. Verlorengegangen für die äußere Tradition ist nahezu alles, was man Immerhin damals gewußt hat über den auferstandenen Christus, über denjenigen Christus, der durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist, und dann in einem Geistleib, so wie die älteren Lehrer bei der Urmenschheit, einzelne der auserwählten Schüler nach seiner Auferstehung unterrichtet hat. Es wird höchstens durch die Evangelien, aber auch da in notdürftiger Weise, bei der Begegnung des Christus Jesus mit den Jüngern, die nach Emmaus gingen und so weiter, angedeutet, wie wichtig die Lehren waren, die der Auferstandene seinen Jüngern gegeben hat. Und schließlich ist auch das Paulus-Erlebnis bei Damaskus von Paulus selbst gemeint als eine Unterweisung, die der Auferstandene ihm gegeben hat, wodurch dann aus dem Saulus ein Paulus geworden ist. Man hat eben in jenen älteren Zeiten durchaus ein Bewußtsein davon gehabt, daß der auferstandene Christus Jesus den Menschen ganz besondere Mysterien mitzuteilen gehabt habe. Es

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lag ja nur an den Menschen, daß sie sie später zunächst nicht haben konnten, diese Mitteilungen. Die Menschen mußten jene Seelenkräfte ausbilden, die dann zum Gebrauche der menschlichen Freiheit und des menschlichen Intellekts wurden. Besonders stark tritt das auf seit dem fünfzehnten Jahrhundert, vorbereitet wurde es aber schon seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert. Die Frage muß nun entstehen: Welches war denn der Inhalt der Lehren, die der auferstandene Christus seinen auserwählten Schülern geben konnte? - Erschienen war er ihnen ja auf dieselbe Weise, auf welche die göttlichen Lehrer der Urmenschheit erschienen waren. Aber sagen konnte er ihnen jetzt, wenn ich es so ausdrücken darf, in der Göttersprache dasjenige, was er erlebt hatte, und was seine anderen Göttergenossen ja nicht erlebt hatten, sagen konnte er ihnen etwas von seinem göttlichen Gesichtspunkte aus über das Geheimnis der Geburt und des Todes. Beibringen konnte er ihnen, daß zwar für den Erden- menschen in der Zukunft ein solches tagwachendes Bewußtsein eintreten werde, das das Ewig-Seelische im Menschenleben nicht unmittelbar wahrnehmen kann und das ausgelöscht ist im Schlafe, so daß auch im Schlafe dieses Ewig-Seelische nicht vor das Seelenauge selbst tritt, aber aufmerksam konnte er machen darauf, daß es möglich ist, das Mysterium von Golgatha in die menschliche Anschauung hereinzubeziehen. Klarmachen konnte er ihnen das, was ich etwa in die folgenden Worte kleiden möchte. Es sind schwache, stammelnde Worte, in die ich es kleiden kann, weil unsere Sprachen mehr nicht hergeben, aber ich will versuchen, es in schwache stammelnde Worte zu kleiden. Der menschliche Leib ist nach und nach so dicht geworden, die Todeskräfte sind in ihm so stark geworden, daß der Mensch zwar nun seinen Intellekt und seine Freiheit ausbilden kann; das kann man aber nur in einem Leben, das deutlich durch den Tod geht, in dem der Tod einen deutlichen Einschnitt bildet, in dem ausgelöscht ist während des Wachbewußtseins der Hinblick auf das Ewig-Seelische. Aber aufnehmen könnt Ihr in Eure Seele eine gewisse Weisheit: das ist die Weisheit, daß sich durch das Mysterium von Golgatha in meiner eigenen Wesenheit - so sagte der göttliche Lehrer, der Christus zu seinen eingeweihten Schülern - etwas vollzogen hat, mit dem Ihr Euch selber

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erfüllen könnt, wenn Ihr Euch nur aufschwingen könnt zu der Einsicht, daß der Christus aus außerirdischen Sphären heruntergekommen ist zu den Erdenmenschen, wenn Ihr Euch nur aufschwingen könnt zu der Anschauung, daß es auf Erden etwas gibt, was nicht mit den Erdenmitteln angeschaut werden kann, was nur mit höheren Mitteln als den Erdenmitteln angeschaut werden kann; wenn Ihr das Mysterium von Golgatha als Götterereignis, hereingestellt in das Erdenleben, anschauen könnt, wenn Ihr anschauen könnt, daß ein Gott durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist. Ihr könnt durch alles andere, was sich auf der Erde vollzieht, irdische Weisheit erringen. Die würde Euch nichts nützen, um den Tod auf menschliche Art zu verstehen, würde Euch nur dann nützen, wenn Ihr Euch ebenso wie die älteren Menschen nicht mehr für den Tod in intensiver Weise interessieren könntet. Da Ihr Euch aber dafür interessieren müßt, so müßt Ihr in Eure Einsicht eine Kraft aufnehmen, die stärker ist als alle Erden-Einsichtskraft, die so stark ist, daß sie sich sagen kann: Mit dem Mysterium von Golgatha ist etwas geschehen, das alle Erden-Naturgesetze zerbrochen hat. Wenn Ihr nur dasjenige in Euern Glauben aufnehmen könnt, was irdische Naturgesetze sind, so werdet Ihr den Tod zwar sehen können, aber Ihr werdet ihn niemals in seiner Bedeutung für das menschliche Leben erfassen können. Wenn Ihr Euch aber auf- schwingen könnt zu der Einsicht, daß die Erde einen Sinn erst damit bekommen hat, daß in der Mitte der Erdenentwickelung mit dem Mysterium von Golgatha etwas Göttliches vorgegangen ist, was nicht mit irdischen Einsichtsmitteln verstanden werden kann, dann bereitet Ihr daniit eine besondere Weisheitskraft - und die Weisheitskraft ist ja dasselbe wie Glaubenskraft -, eine besondere Pistis-Sophia-Kraft, eine Glaubens-Weisheitskraft. Denn es ist eine starke Kraft der Seele, wenn man sagt: Ich glaube, ich weiß durch den Glauben dasjenige, was ich niemals Init Erdenmitteln glauben und wissen kann. Es ist eine stärkere Kraft, als wenn ich nur mir zuschriebe zu wissen dasjenige, was mit Erdenmitteln ergründet werden kann. Der Mensch ist schwach - und würde er auch alle Wissenschaft der Erde bekommen -, der nur das festzuhalten weiß in seiner Weisheit, was mit Erdenmitteln festgehalten werden kann. Derjenige Mensch muß eine viel größere

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innere Aktivität entwickeln, der zugeben will, daß Überirdisches im Irdischen lebt. Eine Anspornung, eine solche innere Aktivität zu entwickeln, liegt in dem Hinblicken auf das Mysterium von Golgatha. Und immer wieder in neuen Variationen wurde diese Lehre, daß ein Gott durch Menschenschicksale gegangen ist - weil die Götter früher Menschenschicksale in ihrer eigenen Sphäre nicht erlebt haben - und sich durch diese Menschenschicksale mit dem Erdenschicksal verbunden hat, im- mer wieder und wieder wurde dies den ursprünglichen Schülern von dem auferstandenen Christus verkündigt. Und eine große Gewalt übte das aus. Machen Sie sich nur einmal klar, was das für eine Gewalt ausüben kann, machen Sie es sich aus den Verhältnissen von heute klar. Man stellt einen geringeren Anspruch an einen Menschen, der alles das begreifen kann, was er in seinem Denken sich herausgeholt hat aus den irdischen Verhältnissen und auch aus den traditionellen religiösen Vorstellungen, die gewöhnlich zugegeben werden, als an einen solchen Menschen, dem man zumutet, sich mit seiner Einsicht aufzuschwingen zum Erfassen dessen, daß gewisse Götterkategorien eine Weisheit vom Tode und von der Geburt bis zum Mysterium von Golgatha gar nicht gehabt haben, sondern selbst sich da erst diese Weisheit zum Heile der Menschheit angeeignet haben. Es gehört eine gewisse Kraft dazu, um - so könnte man sagen - sich hineinzumischen in die göttliche Weisheit. Es gehört ja wahrhaftig gar keine besondere Kraft dazu, sich aus irgendeinem Katechismus vortradieren zu lassen: Gott ist allwissend, allmächtig, allgegenwärtig und so weiter. Man braucht vor alles nur das Wörtchen «all» zu stellen, und man hat dann die Definition des Göttlichen, aber in möglichst nebulosem Zustande, fertig. Es wagen die Menschen heute nicht, wenn ich so sagen darf, in Götterweisheit sich einzumischen. Das muß aber geschehen. Und eine solche Götterweisheit ist eben die, welche die Götter selber sich angeeignet haben dadurch, daß einer der ihrigen durch Menschengeburt und Menschentod durchgegangen ist. Und daß das als Geheimnis anvertraut worden ist den ersten Schülern, das war das ungeheuer Wichtige. Und das weitere ungeheuer Wichtige, das sich daran schloß, das ist das andere, daß nämlich klargemacht wurde diesen Schülern: Ja, im Menschen

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lebte einstmals die Kraft, Einsichten zu haben von dem Ewigen seiner Seele selbst. Diese Einsichten, diese eigentlichen Einsichten in das Ewige der Menschenseele, man kann sie niemals durch das Hirnwissen bekommen, das heißt durch dasjenige intellektuelle, denkerische Wissen, das sich des Gehirns als Instrument bedient, man kann sie nicht einmal in Wirklichkeit bekommen, wenn einem nicht, wie den älteren Menschen, die Natur zu Hilfe kommt durch dasjenige Wissen, das noch durch eine besondere Ausbildung des rhythmischen Menschensystems erlangt wird. Der Joga erlangte ja viel, als ihm das alte instinktive Hellsehen noch beistand, als die letzten instinktiven Hellseher noch Joga ausübten. Der heutige Morgenländer, der Inder, nach dem heute in so phantastischer Weise zahlreiche Abendländer schauen, erlangt ja, wenn er seine Übungen macht, lange nicht dasjenige, was eine wirkliche An- schauung des ewigen Wesens der Menschenseele ist. Er lebt zum größten Teil in Illusionen dadurch, daß er vorübergehend etwas erlebt,wenn es auch etwas Elementares für das Erdenleben ist, und daß er im übrigen aus seinen heiligen Büchern etwas hineininterpretiert in das Erlebte. Ein wirkliches Wissen, ein gründliches Wissen, ein fundamen ales Wissen von dem Göttlichen der Menschenseele kann ja nur erlangt werden auf zweifache Weise. Es kann erlangt werden entweder so, wie es die Urmenschheit erlangt hat, oder so, wie es der Mensch wiederum erlangen kann auf eine viel geistigere Weise: durch intuitives Wissen, durch dasjenige Wissen, das sich aufbaut auf imaginativer, inspirierter Erkenntnis und dann gelangt bis zur intuitiven Erkenntnis. Warum? Nun, in dem, was menschliches Nerven-Sinnessystem ist, ist ja während des Erdenlebens ausgeflossen der denkerische Teil der Seele, er ist nicht mehr für sich da, er hat dieses plastische Gebilde gebildet und ist nicht mehr für sich da. Und im rhythmischen System ist er nur zur Hälfte da. Man würde daran also höchstens Anhaltspunkte gewinnen, aus denen man weiter schließen könnte. Erst im Stoffwechselsystem, diesem Materialistischsten des Erdenlebens, ist verborgen der eigentliche ewige Teil der Menschenseele. Was hier auf der Erde als das Stofflichste angesehen wird, was im Stoffwechselsystem lebt, das ist zwar nach

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außen hin das Stofflichste, aber weil es das Stofflichste ist, bleibt von ihm getrennt das Geistige. Von dem anderen Stofflichen, dem Gehirn und dem rhythmischen System wird das Geistige aufgesogen, absorbiert, es ist nicht da. Bei dem Grob-Stofflichen ist es da. Nur muß der Mensch mit diesem Grob-Stofflichen sehen, wahrnehmen, schauen können. Das war bei der Urmenschheit vorhanden und ist heute zwar nicht erstrebenswert, aber im krankhaften Zustand zuweilen noch vorhanden. Die wenigsten Menschen wissen zum Beispiel, daß das Geheimnis des Nietzscheschen Zarathustra-Stiles darauf beruht, daß er gewisse Stoffe, Gifte zu sich genommen hat, und diese Gifte in ihm den eigentümlichen Rhythmus, den eigentümlichen Stil des «Zarathustra» hervorgebracht haben. In Nietzsche dachte ja eine ganz bestimmte Stofflichkeit. Das ist natürlich etwas Krankhaftes, wenn es auch in gewisser Beziehung wieder etwas Großartiges ist. Über diese Dinge darf man aber ebensowenig Illusionen haben, wenn man sie verstehen will, wie man über das Entgegengesetzte, über Intuition und so weiter sich Illusionen machen darf. Man muß sich schon klar darüber sein, was es bedeutet, daß Nietzsche gewisse Gifte zu sich nahm - was ihm nicht nachgemacht werden darf -, die einfach im menschlichen Organismus so wirken, daß sie zu einer Ätherizität, zu einer ätherischen Art des Bestehens im menschlichen Organismus führen, daß sie durchsprühen das Denksystem und dadurch hervorrufen dasjenige, was wir verfolgen können in Nietzsches «Zarathustra». Die Intuitionen machen sich fähig, das Geistig-Seelische abgesondert vom Stoffe als solches wahrzunehmen. Da wirkt nichts Stoffliches mehr, wo diese Intuition geschildert wird wie in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» oder in der «Geheimwissenschaft». Es sind die zwei entgegengesetzten Pole. Aber in jenen Mysterien, in die der auferstandene Christus hineingesprochen hat, da wußte man noch: Es war einmal vorhanden beim Menschen ein höchstes Stoffwissen, Stoffwechselwissen. Nicht mehr auf dieselbe Art, wie es die Urmenschheit getan hat, auch nicht auf degenerierte Art, wie es dann die Haschisch-Esser und andere getan haben, um aus den Wirkungen des Stofflichen heraus Erkenntnisse zu gewinnen, die man ohne dieses nicht gewinnen kann, nicht auf diese

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Art wollte man für eine gewisse Sache das alte Stoffeswissen auferwecken, wohl aber auf eine andere Art: dadurch, daß man einhüllte in Kultus, in bestimmte mantrische Formeln einhüllte vor allen Dingen in die ganze Struktur des Mysteriums des Offertoriums, des Opfers, der Transsubstantiation, der Kommunion, daß man einhüllte in diese Strukturformen das Mysterium von Goigatha, dem Menschen das Abendmahl reichte als Brot und Wein. Nicht indem man ihm Gift gab, aber indem man ihm das Abendmahl reichte und erst dieses Abendmahl einhüllte in dasjenige, was ausgeht von den mantrischen Formeln des Meßopfers, und ausgeht von dem, was in der vierfachen Gliederung der Messe - Evangelium, Opferung, Wandlung und Kommunion - liegt. Denn nach der Kommunion, nachdem der vierte Teil des Meßopfers vorbei ist, sollte ja stattfinden die eigentliche Kommunion der Gläubigen, und man wollte wenigstens einen Anhaltspunkt geben dafür, daß wiedererlangt werden muß ein Wissen, welches hinführt zu dem, wozu das alte Stoffwechselwissen in instinktiver Art hingeführt hat. Ja, dieses Stoffwechselwissen, die Menschen können sich heute nur schwer einen Begriff davon machen, weil sie nämlich keine Ahnung davon haben, wie viel zum Beispiel ein Vogel - wenn auch nicht in intellektualistischer, abstrakter, verstandesmäßiger Form - mehr weiß als ein Mensch, wie viel auch ein Kamel sogar mehr weiß als ein Mensch, ein Tier, das ganz im Stoffwechsel drinnen lebt. Es ist nur ein dumpfes Wissen, ein Traumw1ssen. Degenerierung desjenigen, was der Urmensch in seinem Stoffwechsel hatte, ist heute vorhanden. Aber das Altarsakrament ist eben durchaus als Hinlenkung gedacht, aus den ersten christlichen Lehren als Hinlenkung gedacht darauf, daß wieder zu erringen ist ein Wissen von dem Ewigen in der Menschenseele. Dazumal, als der durch den Tod gegangene Christus seine eingeweihten Schüler lehrte, da konnten die Menschen von sich selbst aus zu einem solchen Wissen nicht kommen. Er hat es sie aber gelehrt. Und in den vier ersten christlichen Jahrhunderten war dieses Wissen In einer gewissen Weise noch lebendig. Dann verknöcherte es in der römisch-katholischen Kirche, indem diese zwar das Meßopfer beibehielt, aber keine Interpretation mehr dafür hat. Das Meßopfer, so gedacht

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als Fortsetzung des Abendmahls, wie 'das Aben`dmahl in der Bibel geschildert ist, das gibt natürlich keinen Sinn, wenn man nicht erst einen Sinn hineininterpretiert. Daß gerade das Meßopfer mit seinem wunderbaren Kultus, seiner Nachahmung der vier Mysterienkapitel, eingesetzt worden ist, das geht eben durchaus auf das zurück, daß der auferstandene Christus auch der Lehrer war derjenigen, die diese Lehren in einem höheren esoterischen Sinn empfangen konnten. Für die folgenden Jahrhunderte konnte ja nur bleiben dasjenige, was sozusagen eine Art kindlicher Unterricht war über das Mysterium von Golgatha. Eine Fähigkeit wurde ausgebildet, die zunächst verhüllte, zudeckte diese Erkenntnis über das Mysterium von Golgatha. Die Menschen sollten erst sich voll befestigen in demjenigen, was mit dem Tod zusammenhängt. Das ist die erste mittelalterliche Zivilisation. Traditionen haben sich erhalten. In manchen Geheimgesellschaften der Gegenwart versammeln sich noch Leute, die in ihren Schriften Formeln haben, die für den, der diese Formeln versteht, der erst die Sache wieder erkennt, durchaus erinnern an dasjenige, was die Lehren waren des auferstandenen Christus an seine eingeweihten Jünger. Aber diejenigen Menschen, die sich heute in allerlei Freimaurergesellschaften und allerlei Geheimgesellschaften vereinigen, sie verstehen ja nicht, was in ihren Formeln lebt, sie haben im Grunde keine Ahnung davon. Man würde aber aus diesen Formeln vieles herauslesen können, weil in ihnen doch in toten Buchstaben manches lebt, nur geschieht es nicht. Aber nachdem die Menschheit eine Weile in ihrer Entwickelung durchgegangen ist durch eine Zeit, die gewissermaßen gegenüber dem Mysterium von Golgatha eine Art Finsternis war, ist heute eben der Zeitpunkt heran- gekommen, wo die menschliche Sehnsucht verlangt, nun auch über das Mysterium von Golgatha ein tieferes Wissen zu erlangen. Und das kann nur auf die anthroposophische Art geschehen. Das kann nur da- durch geschehen, daß eben ein neues Wissen auftritt, das auf rein geistige Art arbeitet. Da wird man wiederum zurückgelangen zu einem volimenschlichen Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Da wird man wiederum verstehen lernen, daß die wichtigsten Lehren der Menschheit gegeben worden sind nicht von dem Christus, der im physischen Leibe lebte bis zum Mysterium von Golgatha hin, sondern

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nach dem Mysterium von Golgatha von dem auferstandenen Christus. Man wird ein neues Verständnis gewinnen für die Worte eines solchen Eingeweihten, wie Paulus es war: Ist der Christus nicht auferstanden, so ist Euer Glaube eitel. - Er wußte seit dem Erlebnis von Damaskus,daß alles darauf ankam, den auferstandenen Christus zu begreifen, die Kraft des auferstandenen Christus mit dem Menschen so zu vereinigen, daß der Mensch dann sagen kann: Nicht ich, sondern der Christus in mir. Demgegenüber ist es nur allzu charakteristisch, daß ja im neunzehnten Jahrhundert eine Theologie heraufgekommen ist, die von dem auferstandenen Christus überhaupt nichts Rechtes mehr wissen will. Es ist immerhin ein bedeutsames Symptom der Zeit, daß ein für die Theologie angestellter Lehrer in Basel in der Schweiz, Nietzsches Freund Overbeck, als Theologe ein Buch geschrieben hat über die Christlichkeit der heutigen Theologie, in dem er den Nachweis zu bringen versucht, daß diese heutige Theologie nicht mehr christlich ist. Es mag manches Christliche noch geben - so meint auch solch ein Versteher des Christentums -, die Theologie aber, welche von den christlichen Theologen gelehrt wird, die ist jedenfalls nicht christlich. Das ist so ungefähr die Anschauung des christlichen Theologen Overbeck, und sie ist sehr geistvoll in seinem Buche bewiesen, diese Ansicht. Es ist eben die Menschheit in bezug auf die Auffassung des Mysteriums von Golgatha so weit gekommen, daß heute am wenigsten zu sagen wissen über dieses Mysterium von Golgatha diejenigen, die offiziell angestellt sind von ihrer Kirche, um über das Mysterium von Golgatha den Menschen etwas zu sagen. Daraus entspringt dann die Sehnsucht, die menschliche Sehnsucht, über das, was jeder doch in seinem Inneren erleben kann, das Christus-Bedürfnis, etwas erfahren zu können. Mancherlei Dienste - das ging ja aus den letzten Vorträgen hervor hat Anthroposophie der Menschheit heute zu leisten. Ein wichtiger Dienst wird der religiöse Dienst sein. Nicht eine neue Religion soll gestiftet werden. Mit dem Ereignis, das darin besteht, daß ein Gott durch das Menschenschicksal der Geburt und des Todes gegangen ist, hat die Erde ihren Sinn bekommen so, daß dieses Ereignis niemals überboten

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werden kann. Nach dem Christentum - das ist ganz klar für den, der die Begründung des Christentums kennt - kann eine neue Religion nicht mehr begründet werden. Man würde das Christentum unrichtig verstehen, wenn man glauben würde, daß eine neue Religion begründet werden könne. Aber indem die Menschheit selber immer mehr und mehr vorrückt im übersinnlichen Wissen, wird das Mysterium von Golgatha und damit die Christus-Wesenheit immer tiefer und tiefer verstanden werden. Zu diesem Verstehen möchte eben gerade Anthroposophie dasjenige beitragen, was in der Gegenwart vielleicht nur sie beitragen kann. Denn kaum kann an einem anderen Ort so gesprochen werden über das Verhältnis in uralten Zeiten der göttlichen Urlehrer der Menschheit, die von allem sprachen, nur nicht von Geburt und Tod - weil sie selbst nicht durchgemacht hatten Geburt und Tod und über denjenigen Lehrer, der noch seinen eingeweihten Schülern erschien in der Gestalt, wie die göttlichen Urlehrer der Menschheit erschienen waren, aber an wichtigen Unterweisungen und Lehren gerade die hatte, wie ein Gott miterlebte das Menschenschicksal der Geburt und des Todes. Aus dieser Mitteilung eines Gottes an die Menschheit soll den Menschen die Kraft werden, den Tod, für den sie jetzt sich interessieren müssen, so anzusehen, daß sie sich sagen können: Er ist da, dieser Tod, aber er kann der Seele nichts anhaben. Daß sich die Menschen das sagen können, dazu war das Mysterium von Golgatha da. Paulus wußte: Wäre es nicht da, wäre der Christus nicht auferstanden, so würde in das Schicksal des Leibes, das heißt der Auf- teilung der Elemente des Leibes in die Elemente der Erde, die Seele verstrickt werden. Wäre Christus nicht auferstanden, hätte er sich nicht verbunden mit Erdenkräften, dann würde die menschliche Seele sich zwischen Geburt und Tod mit dem menschlichen Leibe so vereinigen, daß mit all den Molekülen, welche mit dem Menschenleibe durch Feuer oder durch die Verwesung mit der Erde sich verbinden, diese Seele sich auch verbinden würde. Es würde einstmals das geschehen, daß am Ende des Erdenwerdens die Menschenseelen den Weg machen würden, den der Stoff der Erde macht. Indem aber der Christus durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist, entreißt er die menschlichen Seelen diesem Schicksal. Die Erde wird im Weltenall

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ihren Weg gehen. Aber ebenso, wie von dem einzelnen menschlichen Leibe herauskommen kann die menschliche Seele, ebenso wird die Summe der Menschenseelen sich loslösen von der Erde und einem neuen Weltendasein zugehen können. In dieser intimen Weise ist der Christus mit dem Erdendasein verknüpft. Nur kann man das erst verstehen, wenn man sich eben so dem Geheimnis nähert. Es ist vielleicht der Gedanke verbleibend bei manchem: Wie ist es nun mit denjenigen, die nicht an Christus glauben können? Da möchte ich zur Beruhigung am Schlusse noch sagen: Der Christus ist für alle gestorben, auch für diejenigen, die heute sich nicht mit ihm verbinden können. Das Mysterium von Golgatha ist ein Objektives, zu dem Menschenwissen nichts tut. Aber dieses Menschenwissen verstärkt die inneren Kräfte der menschlichen Seele. Und angewendet werden müssen alle Mittel der menschlichen Erkenntnis, des menschlichen Fühlens, des menschlichen Wollens, damit im Laufe der weiteren Erdenentwikkelung auch subjektiv, durch das unmittelbare Wissen, in dem Menschen die Gegenwart des Christus in der Erdenentwickelung vorhanden sei. ERKENNTNIS UND INITIATION London, 14. April 1922

  1. G211-1986-SE141 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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ERKENNTNIS UND INITIATION London, 14. April 1922

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Anthroposophie, so wie sie von mir vertreten werden soll, beruht für unsere gegenwärtige Zeit auf denselben Grundlagen, wie jede Initiationswissenschaft irgendeines der vergangenen Zeitalter. Aber die Menschheit hat im Laufe ihrer Entwickelung in bezug auf ihre Seelenverfassung die mannigfaltigsten Metamorphosen durchgemacht. Jedes Zeitalter bietet innerhalb der Zivilisationsentwickelung der Menschheit eine besondere, hauptsächlichste Seelenverfassung dar, und nach dieser Seelenverfassung muß sich auch die Initiationswissenschaft richten, welche bestrebt ist, das Ewige des menschlichen Wesens und das Ewige der Welt zu erforschen. Für unsere Zeit ist eine andere Initiationswissenschaft notwendig als sie zum Beispiel notwendig war für das Mittelalter, für das griechische Altertum, oder gar noch für weiter zurückliegende menschliche Zivilisationszeitalter. Eine Initiationswissenschaft, wie sie entsprechen muß den Bedürfnissen und Sehnsuchten der gegenwärtigen Menschenseele, will Anthroposophie sein. Sie muß im Sinne unseres Zeitalters davon ausgehen, daß der Mensch mit der gegenwärtigen naturwissenschaftlichen Weltanschauung weder sein eigenes Ewiges, noch das Ewige der Welt selbst erkennen kann. Sie muß auch davon ausgehen, daß, wenn nun der Mensch von der äußeren Wissenschaft in sich selbst zurückkehrt, und sich in sich mystisch zu versenken sucht, er auch auf diesem Wege zu keinem befriedigenden Ergebnis kommen kann. Denn die äußere Wissenschaft schreitet nicht bis zu dem Ewigen, und inneres Versenken liefert zwar mystischen Glauben, aber keine Erkenntnis, wie sie der Mensch der Gegenwart braucht. Dasjenige, was ich nun einleitend mit ein paar Sätzen angedeutet habe, ließe sich ausführlich beweisen. Allein ich setze voraus, daß heute nur solche verehrte Zuhörer hier anwesend sind, welche aus ihrem eigenen Seelenleben heraus erfahren haben, daß ihnen die äußere Naturwissenschaft keine befriedigenden Aufschlüsse über ihr eigenes Ewiges und das Ewige der Welt gibt, wenn sie wirkliche Erkenntnis

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erlangen wollen und nicht bloß eine innere mystische Illusion. Daher will ich vorziehen, ausführlich darüber zu sprechen, in welchem Verhältnis die hier gemeinte Anthroposophie zur Naturwissenschaft auf der einen Seite, und zur Mystik, wo man sie oftmals sucht, auf der anderen Seite steht. Ich will nur sagen, daß aus dem Geiste und der Seelenverfassung des zivilisierten Menschen heraus diese Anthroposophie etwas erstrebt, was ich nennen möchte exakte Clairvoyance, exaktes Hellsehen. Weil sie dieses anstrebt, deshalb findet sie heute so außerordentlich viele Gegner. Und sie wird so schwer verstanden, trotzdem im Grunde genommen alle Seelenkräfte der Gegenwart nach ihr Verlangen tragen. Warum wird sie mißverstanden? Sie wird mißverstanden, weil man eben aus den Urteilen, Empfindungen und so weiter, die man in der Gegenwart bewußt hat, noch nicht vordringt zu den unbewußten Sehnsuchten, die schließlich doch heute schon in jeder denkenden Menschenseele sind. Diese unbestimmten Sehnsuchten, diese unbewußten Ziele, sie fordern, daß ein tieferes Wissen, eine höhere Erkenntnis des Ewigen heute angestrebt werde, und zwar auch durch ganz besondere Übungen, durch eine ganz besondere Entwickelung der menschlichen Seele und des Erkenntnisvermögens, daß aber diese Übungen oder diese Entwickelungen so gestaltet werden können, wie man heute gewohnt ist, Erkenntnis überhaupt im exakten Sinne zu gestalten. Diese Anthroposophie, sie möchte so> nach dem Muster der exakten NaturwIssenschaft und mit naturwissenschaftlicher Gewissenhaftigkeit, vor die Zeitgenossen hintreten. Und zugleich möchte sie eine Erkenntnis sein für jedes, auch das allereinfachste, das naivste Menschengemüt, so daß keinem Gemüte die Erkenntnis desjenigen, was das Ewige, das Unvergängliche im Menscheninnern betrifft, verschlossen bleiben braucht. Und so möchte ich, nachdem ich dies einfach vorbereitend gesagt habe, ohne weiteres heute zunächst schlicht hinstellen, wie diese Anthroposophie, die moderne Initiationsw1ssenschaft, zu ihrem Erkenntniswege kommt. Sie beruht zunächst darauf, daß man sich klar werde darüber, in welchem Verhältnis die drei Grundkräfte des Seelenlebens, das Den- ken, Fühlen und Wollen, im menschlichen Innern zueinander stehen.

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Wir reden im gewöhnlichen Leben, indem wir in unser Seelisches hineiiiblicken, vom Denken, Fühlen und Wollen. Wenn wir vom Denken, vom Vorstellen reden, sind wir uns auch klar darüber, daß wir dann auf etwas in uns reflektieren, das uns als Menschen eigentlich wach macht. Dieses Vorstellungsleben schweigt während des Schlafzustan des, es schweigt vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Des Menschen ganzes Bewußtsein ist dann in einem dumpfen Zustande. Wir erblikken die Welt gewissermaßen in einem klaren Lichte, soweit wir ein solches klares Licht in uns aufnehmen können mit dein gewöhnlichen Bewußtsein, wenn dieses Bewußtsein durchsetzt wird von den wachen Vorstellungen. Wir sprechen sodaiin von unseren Gefühlen. Obwohl sie innerlich für uns das menschlich Wichtigste vielleicht sind, sind sie weniger klar als die Vorstellungen. Sie wogen schon herauf aus unbekannten Tiefen des Seelenlebens, werden gewissermaßen von unseren Vorstellungen, von unseren Gedanken beleuchtet, aber sie werden nicht durchsetzt von derselben Klarheit, wie die Vorstellungen selbst. Und wie unklar - wir werden später noch davon zu sprechen haben -, wie dunkel ist alles dasjenige, was mit den menschlichen Willensimpulsen yerknüpft ist! Die dringen, möchte ich sagen, aus unbekannten Tiefen herauf, durchdringen uns und veranlassen uns zum menschlichen Handeln. Und nur in den seltensten Fällen wissen wir eigentlich klar anzugeben, was in uns vorgeht, wenn ein Willensimpuls da ist. Es können schon durch ihre verschiedene Klarheit und durch noch manch anderes unterschieden werden diese drei Grundkräfte des menschlichen Seelenlebens. Aber sie bilden doch eine Einheit innerhalb dieses gesamten menschlichen Seelenlebens. Wir können sagen, das Vorstellungsleben ist der eine Pol. Aber wir wissen auch, daß wir etwas wollen, wenn wir Vorstellung an Vorstellung reihen, wenn wir eine Vorstellung aus der anderen hervorgehen lassen. Unser Wille spielt hinein in das Vorstellungsleben. Und wiederum der andere Pol - das FiiMen steht zwischen diesen beiden mitten drinnen - ist das Willenshafte, sind die Willensimpulse. Wir würden nicht Menschen sein, wenn wir nicht unsere wichtigsten Lebenshandlungen wissend gestalten würden, wenn wir nicht von Vorstellungen uns impulsieren ließen. Und

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so können wir sagen: Es ist nach der anderen Seite wiederum der Wille durchsetzt von dem Vorstellungsleben. Die Ausbildung, die Entwickelung des Vorstellungslebens auf der einen Seite, des Willenslebens auf der anderen Seite, obliegt demjenigen, der im Sinne der Anthroposophie zur modernen Initiationsw1ssenschaft, zu dem, was ich exakte Clairvoyance genannt habe, kommen will. Denkübungen auf der einen Seite, Willensübungen auf der anderen Seite muß man machen, wenn sich das Tor öffnen soll zur übersinnlichen Welt, in die wir eintreten müssen, wenn wir uns unsererseits, als Menschen, nach unserem Ewigen erkennen wollen, und wenn wir die Welt nach dem Ewigen erkennen wollen. Die Denkübungen, sie werden gerade dadurch vollzogen, daß wir uns darauf besinnen, wie immer Willensartiges in das Denken hineinspielt; die Willensübungen,indem wir das Hineinspielen des Denkens in den Willen beachten. Nur im gewöhnlichen Leben beachten wir dieses Willensartige nicht. Um zur modernen Initiation zu kommen, müssen wir gerade den leisen Willen, der in dem Vorstellungsleben darinnen ist, beachten. Das müssen wir nach und nach erreichen durch die Übungen, die ich beschrieben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wehen?».Das ist es gerade,was ich hier andeuten will: Wir müssen das, was für gewöhnlich gerade das Wichtigste ist, den Gedankeninhalt zurücktreten lassen und den Willen im Denken bewußt gebrauchen lernen. Das wird in der folgenden Weise gemacht. Aber wie gesagt, ich kann nur das Prinzipielle hier andeuten, alles Weitere finden die verehrten Zuhörer in der Man denke an eine Vorstellung, die man leicht überschaut, die einem vollständig klar ist, wie, ich möchte sagen, ein mathematisches Dreieck. Das stellt man in die Mitte eines Vorstellungskomplexes. Es kommt gar nicht darauf an, was diese Vorstellung für einen Inhalt hat, sondern daß man in dieser Weise das ganze Seelenleben auf diesen einen Vorstellungskomplex konzentriert, in einer Denk-Meditation. Wir müssen uns in die Lage bringen, daß wir absehen können von der ganzen übrigen Welt, so daß nichts anderes da ist für unser Bewußtsein als

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nur die eine Vorstellung, als der eine Vorstellungskomplex. Es erfordert eine energische Seelenanstrengung, wenn man das durchführen will. Aber gerade so, wie der einzelne Muskel, wenn wir ihn immer wieder und wiederum gebrauchen, erstarkt, erkraftet, so erkraftet unsere Seelenkraft, wenn wir sie immer wieder und wiederum gebrauchen. Der eine braucht monate-, der andere jahrelang. Wenn wir diese gesamte Seelenkraft immer wieder und wiederum, energisch konzentriert, auf einen Vorstellungskomplex, auf eine Vorstellung konzentrieren, erstarkt sie nach einiger Zeit. Nach einiger Zeit kann man ein zunächst innerliches, ein erschütterndes Erlebnis haben. Dieses erschütternde Erlebnis wird darinnen bestehen, daß man nunmehr sich innerlich erkraftet> energisiert hat zu einem ganz neuen Denken, zu einem Denken, das man früher nicht gehabt hat. Was man da erlangt hat, wird sich am leichtesten in der folgenden Weise beschreiben lassen. Wenn wir der gewöhnlichen Welt gegenüberstehen, so sind die Sinneseindrücke, die wir bekommen, sehr lebhaft. Wir leben energisch in diesen Sinneseindrücken, energisch leben wir in der farbigen Welt, der Tonwelt, der Wärme- und Kältewelt, oder den übrigen Sinnesanregungen. Dagegen sind die Gedanken des gewöhnlichen Bewußtseins schWach. Es braucht sich jeder nur zu erinnern daran, wie viel schwächer sein Gedankenleben ist als sein Leben in Sinneswahrnehmungen. Endlich kommen wir dahin, das Gedankenleben so lebhaft, so energisch zu haben, wie sonst nur das Sinnesleben ist. Das ist ein wichtiger Ubergang auf der Bahn menschlicher Erkenntnis, denn dann tritt auch dieses Gedankenleben nicht mehr linienhaft auf, wie man es gewöhnlich, im gewöhnlichen Bewußtsein hat, sondern es tritt so bildhaft, so innerlich intensiv, so innerlich gesättigt auf, wie die äußeren Sinneswahrnehmungen selber. Man ist vorgeschritten zu demjenigen, was man, gegenüber dem gewöhnlichen abstrakten oder gegenständlichen Denken, das imaginative Denken nennen kann, nicht weil man dabei sich ergehen kann in dem, was man sich einbildet, oder in dem, was man sehen kann, wenn man sich der Phantasie hingibt, sondern weil man Welten schauen kann, von denen man weiß, daß sie so leicht in der Seele leben wie die Traumbilder. Aber sie sind nicht Traumbilder, sondern sie sind von innerlicher Realität erfüllt.

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Wenn man nun einige Zeit exakt gelernt hat, im imaginativen Denken zu leben, innerlich seinen ganzen Menschen zu engagieren innerhalb dieses imaginativen Denkens, dann wird man finden, daß man diesem imaginativen Denken in eine Realität eintaucht, sich hineinversenkt in eine Realität, die man bisher nicht gekannt hat. Denn jetzt ist mit diesem imaginativen Denken die erste Stufe der übersinnlichen Welt zu erlangen. Man findet allmählich, daß man jetzt in sich, durch dieses imaginative Denken, einen zweiten Menschen erlebt, einen Menschen, der so real ist, wie sonst nur der äußere physische Raumesmensch. Und so, wie dieser äußere physische Raumesmensch ein Organismus ist, dessen einzelne Glieder in wechselweiser Beziehung zu- einander stehen, wie der Kopf abhängig ist von der Hand, und wiederum die Hand abhängig ist vom Kopfe, wie die rechte Hand abhängig ist von der linken, wie alle Glieder des menschlichen Raumesorganismus voneinander abhängig sind, so entdeckt man einen zweiten Menschen in sich, den ich nun einen Zeitorganismus nennen muß. Das ist ein Zeitorganismus, das ist nichts Räumliches. Dieser steht aber wie ein gewaltiges Tableau vor unserem Seelenblicke. Sind wir in 'der imaginativen Erkenntnis weit genug gelangt, dann blicken wir nicht mehr aus der Erinnerung an einzelne Reminiszenzen zurück> sondern dann blicken wir zurück auf unser bisheriges Erdenleben, seit den ersten Jahren unserer Kindheit zunächst. Wir blicken zurück, indem wir alles auf einmal, wie in einem einzelnen Bilde überschauen, aber in einem Bilde, von dem wir wissen, es ist kein Raumesbild. Wenn wir es hin- malen würden, würden wir etwas malen wie den Blitz, wie etwas, was nur in einem Augenblicke festgehalten werden kann. Es ist das, was ich den Bildekräfteleib, den Ätherleib genannt habe. So kann es aber nicht einfach hingemalt werden, sondern wir müssen uns bewußt sein: wir malen einen Querschnitt eines Zeitorganismus hin. Und wir sehen nun, wie wir in unserer Kindheit ausgerüstet waren mit übersinnlichen Kräften, die uns eingeboren waren, die in unserem Gehirn gearbeitet haben wie ein Bildhauer, die den Übergang gefunden haben vom Gehirn aus in den Atmungsorganismus und Zirkulationsorganismus, um immer mehr und mehr in den ganzen Raumesorganismus hineinzuarbeiten, bis sie ihn beherrschen. Das Kind nimmt immer mehr und mehr

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in Besitz durch dasjenige, was wir hier als Zeitorganismus in der imaginativen Erkenntnis erfahren lernen, den gesamten Raumesorganismus. Dieser Ätherleib erfüllt uns seinen Kraftentfaltungen nach. Wir werden uns im gewöhnlichen Bewußtsein seiner Wirkungen, nicht seiner selbst, bewußt. Aber durch imaginative Erkenntnis werden wir uns dieses Zeitorganismus bewußt. Wir lernen erkennen, warum wir gerade ein Mensch mit einem bestimmten Charakter geworden sind, warum wir, um nur einzelnes zu erwähnen, gewissermaßen mehr veranlagt sind, der eine zum Maler, der andere zum Mathematiker, wie da etwas Übersinnliches an uns arbeitet, an unserem Erdendasein. Wir lernen das erste Übersinnliche in uns auf diese Weise erforschen. Man kann ganz exa;kt durch systematische Übung des Denkvermögens die exakte Clairvoyance ausbilden. Das ist die erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis: die imaginative Erkenntnis. Man gelangt zu der ersten übersinnlichen Wesenheit, zu der der Mensch gelangen kann, zu seinem übersinnlichen Leib, den er im Erdenleib hier in diesem physischen Raumesleib darinnen trägt. Bisher habe ich versucht darzustellen, wie der Mensch zu dem ersten Übersinnlichen durch imaginative Erkenntnis gelangt. Es ist ein Übersinnliches, das zunächst im Sinnlichen darinnensteht. Wir sind noch nicht hinausgekommen aus dem Erdenleib. Aber schon in diesem Erdenleib findet sich ein übersinnliches Glied, das ich hier wenigstens seinem Prinzip nach beschrieben habe. Wir lernen es durch imaginative Erkenntnis kennen. So haben wir die erste Stufe übersinnlicher Erkenntnis beschrieben. Nun müssen wir weitergehen. Wir finden nun, daß wir hinauskommen können in gewissem Sinne zu der höheren menschlichen Natur, zu dem, was jenseits der Geburt, jenseits des Todes steht: zu der ewigen Menschennatur. Im gewöhnlichen Leben ist das Hineinarbeiten des Willens in das Denkvermögen, in die Denkkraft damit verbunden, daß man es zu dieser imaginativen Erkenntnis gebracht hat. Weiter auf den Wegen in die übersinnliche Welt hinein kann man gehen, wenn man in einem gewissen Sinne nun die Übungen nach der entgegengesetzten Seite macht. Wir wissen ja aus dem gewöhnlichen Leben, daß wir uns nicht nur die notwendige Aufmerksamkeit aneignen müssen, um uns konzentrieren

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zu können auf eine Vorstellung oder auf einen Gegenstand, sondern daß wir es auch wiederum in unserer Gewalt haben müssen, die Seele abzuziehen von demjenigen, worauf wir sie zunächst einmal gelenkt haben. Das ist nun dasjenige, was zur nächsten Übung führen muß. Wenn man innere Seelenkraft angewendet hat zum systematischen Konzentrieren, die einen zur imaginativen Erkenntnis geführt hat, dann hat man auch darauf eine größere Kraft anzuwenden, um gewissermaßen nicht festgehalten zu werden bei der betreffenden Vor- stellung oder dem betreffenden Vorstellungskomplex. Man muß diese größere Kraft anwenden, wenn man weiterkommen will auf dem Pfade der Erkenntnis. Diese größere Kraft ist notwendig, wenn man solche lebhafte Gedanken errungen hat, daß man diese Gedanken ganz willkürlich, mit vollem Bewußtsein, aus dem bewußten Leben herausschiebt, daß man sie wiederum herausfegt. Dadurch kommt man immer weiter und weiter, und man kommt dazu, nunmehr imstande zu sein, alles, was man auch so an verstärkten Vorstellungen durch Konzentration, durch Meditation in das Bewußtsein hereingebracht hat, wiederum aus dem Bewußtsein herauszusetzen und zuletzt zu leben in vollstem wachen Zustand, aber mit leerem Bewußtsein. Man mache sich nun einmal klar, was es heißt: mit leerem Bewußtsein leben. Man weiß es, wenn wir im gewöhnlichen Leben keine Sinneseindrücke haben, wenn unsere Erinnerungen nicht aus unserem Innern kommen, dann schläft man ein, man geht in bewußtlosen Zustand über. Davor behütet man sich durch Verstärken des Vorstellungslebens und dadurch, daß man dieses verstärkte Vorstellungsleben wieder auslöscht. Man bleibt wach und lebt zu gleicher Zeit mit leerem Bewußtsein für alles dasjenige, was uns entgegentritt. Es kann uns jetzt zunächst nicht entgegentreten äußere Sinneswahrnehmung. Die ist ausgelöscht mit dem verstärkten Denken. Auch die Erinnerungen treten nicht entgegen dem verstärkten Denken. Ich habe schon gesagt, wir kommen im imaginativen Denken dazu, das Bisherige dann nicht als Erinnerung zu haben, sondern als Tableau. Mit gleichzeitigem Blick können wir es übersehen als eine Einheit. Dasjenige, was jetzt in unser Bewußtsein tritt, es ist etwas ganz Neues, was der Mensch in seiner Umgebung nicht vermutet hat. Jetzt tritt für dieses leere Bewußt

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sein die Anschauung auf einer übersinnlichen Umgebung, in der der Mensch darinsteht, wie er sonst in Farben, in Tönen der Welt darinnensteht. Jetzt sprießen gewissermaßen aus allem wahrhaft geistige Wesenhaftigkeiten heraus. Jetzt stehen wir nicht mehr vor den Wolken, wie sie dahinziehen, wenn wir sie mit unseren Augen sehen; jetzt nehmen wir in allem solchen Sinnlichen ein Ubersinnliches wahr. Nicht eine jenseitige Welt haben wir vor uns, aber eine Welt, die ebenso vor uns liegt, wie die unserige, wie die sinnliche Welt vor uns liegt, die aber eine durch die Initiation zu erringende, wahre übersinnliche ist. Jetzt lernt man, indem man mit seinem Bewußtsein eintaucht in eine übersinnliche Welt, ein neues Denken, ein neues Vorstellen kennen. jetzt lernt man ein Vorstellen, ein Denken kennen, das nicht abhängig ist vom gewöhnlichen Denken, vom Nervensystem. Man weiß: Du mußtest dich deines Nervensystems bedienen, aber jetzt denkst du die Gedanken, zu denen du kein Gehirn brauchst; jetzt denkst du die Gedanken, die nur durch seelische Kraft in deinem Bewußtsein rege ge.macht werden. Können wir das, dann machen wir allerdings noch manche Entdekkung, die uns klarmachen kann, wie wir ein neues Denken aus dem alten herausgeleitet haben mit neuen Erlebnissen. Jetzt wird klar, daß dieses neue Denken außerhalb des Gehirns sich nicht vergleichen läßt mit dem alten Denken, das an das Gehirn gebunden ist, weil dieses neue Denken im gewöhnlichen Sinne keine Erinnerung, kein Gedächtnis hat, während das Denken des gewöhnlichen Lebens nur gesund ist, wenn es Erinnerung und Gedächtnis nach sich zieht. So sonderbar und paradox es erscheint, so wahr ist es, daß zunächst keine Erinnerung von dem neuen Erlebnis hervorgerufen wird. Das ist manchmal die Überraschung der Schüler der Initiationswissenschaft: Sie kommen zu einer gewissen Clairvoyance, sie glauben, sie können dasjenige, was sie in dieser Weise erfahren haben, in der Erinnerung, im Gedächtnis bewahren und es wie andere Gedanken aus dem Gedächtnis heraufholen; sie sind dann unglücklich, weil sie das nicht können. Sie wissen nur: Ich habe darin gestanden, aber jetzt kann ich mich nicht daran erinnern, innerhalb meines physischen Organismus. - Das ist gerade das Charakteristische für das Erleben einer Realität, nicht bloß

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eines Gedankens. Wenn ich ein Sinneserlebnis habe, dann kann ich mich erinnern an die Gedanken, die mit diesem meinem Sinneserlebnis in Verbindung stehen. Im Gedächtnis bewahren kann ich die Gedanken an eine Rose. Will ich aber die Rose in aller Röte vor mir haben, dann muß ich zur Rose wieder zurückkehren. Habe ich es aus meInem gewöhnlichen Bewußtsein durch Anstrengung in der Initiation dahin gebracht, daß ich zu einem neuen Sehen gekommen bin, so muß ich, um das geistige Erlebnis selber vor mir zu haben, diejenigen Schritte wieder gehen, die ich früher gegangen bin, so daß, wie eine Rose wIederum als Sinneswahrnehmung vor mich hintritt, dieses geistige Erlebnis wiederum an mich hintreten muß. Jemand, der aus der geistigen Welt heraus spricht, der nicht bloß spricht, was er darüber gelernt hat, sondern was er aus eigenem Schauen heraus kennt, der weiß, selbst wenn er über die elementarsten Dinge spricht, daß durch exakte Clairvoyance jedesmal etwas Neues in der Seele geschaffen werden muß. Derjenige, der aus gewöhnlicher Wissenschaft arbeitet, kann aus dem Gedächtnis heraus arbeiten. Der Geistesforscher aber hat wiederum dieselben Schritte zu machen, welche ihn einmal zu dem Erlebnis geführt haben. Dann muß der Vorgang wiederum wIe ein ursprüngliches Erlebnis hervorkommen. Also auch die Bedingungen des geistigen Erlebnisses sind andere wie im gewöhnlichen Bewußtsein des gewöhnlichen Lebens. Um uns in geistigen Welten orientieren zu können, um nun wirklich in der geistig-übersinnlichen Welt wahrzunehmen, dazu brauchen wir aber noch eine besondere innere Charaktereigenschaft. Wir brauchen dasjenige, was ich Geistesgegenwart nennen möchte. Das ist im gewöhnlichen Leben das, was man braucht, um in einer bestimmten Situation ohne Zögern eine bestimmte Entscheidung treffen zu können. Man muß viele Übungen in solcher Geistesgegenwart machen, damit man in der übersinnlichen Welt beobachten lernt. Denn ohne diese Geistesgegenwart hätte man nicht Zeit, das Erlebnis zu erfassen, man würde bei dem geistigen Erlebnis erst so spät ankommen, daß es vorbei wäre. Die ungeheure Schnelligkeit, diese schnelle Besonnenheit, sie muß eintreten in dem Augenblick, wenn man zum gehirnfreien Denken vorgeschritten ist.

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Dann aber, wenn man in dieser Weise durch das leere Bewußtsein hindurch in vollem Wachzustand zu den übersinnlichen Wesenhaftigkeiten kommt in unserer Umgebung, dann kann man noch etwas anderes - man braucht nur diese Kraft etwas zu entwickeln. Übt man diese Kraft weiter, dann kann man diesen Bilderleib, den Ätherleib, auslöschen. Man löscht nicht nur einzelne Vorstellungen aus, man löscht den ganzen Ätherleib aus. Dann tritt im höheren Sinne ein leeres Bewußtsein ein, und vor diesem leeren Bewußtsein tritt unser seelisch- geistiges Leben auf, wie es war in einer seelisch-geistigen Welt, bevor wir als Seele heruntergestiegen sind aus übersinnlichen Welten in diesen Erdenleib. Wir lernen das vorgeburtliche Leben kennen durch inspirierte Erkenntnis, die ich Inspirations-Erkenntnis nennen möchte. So wie die äußere Luft durch Inspiration in die Lunge einzieht, so zieht die geistige Welt durch das leer gewordene Bewußtsein ein. Dann atmen wir, jetzt geistig gemeint, gewissermaßen die geistigen Welten ein, wie wir sie kannten, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigen Höhen in das physische Erdendasein. Wir lernten kennen die eine Seite unserer Wesenheit, die andere Seite ist die geistige Unsterblichkeit, worüber wir im dritten Teil unseres Vortrages reden werden. Die Unsterblichkeit negiert den Tod. Von Ungeborenheit redet man nicht; wir müßten von ihr sagen, daß sie die andere Seite der Menschenseele ist. Wir sind als Mensch ungeboren, wie wir unsterblich sind. Anthroposophie als moderne Initiationswissenschaft geht nicht wie eine Philosophie vor, indem sie Schlüsse zieht, und indem sie von dem, was man schon weiß, weiteres wissen will, vielmehr will sie die Seele bereit machen dazu, daß sie sich zu einem höheren Erkenntiiisstandpunkt hinaufübt. Wenn die Seele höher entwickelt ist als im gewöhnlichen Leben, dann gelangt sie durch An- schauung zu der Erkenntnis ihres ewigen Wesens. Das ist zunächst die eine Seite der inspirierten Erkenntnis, welche sich auf unsere eigene Menschlichkeit bezieht. Die andere Seite möchte ich auf die folgende Art darstellen. Wir lernen durch inspirierte Erkenntnis auch die Außenwelt erkennen. Nur skizzenhaft kann ich das darstellen. Wenn wir die äußere sinnliche Welt, zum Beispiel die Sonne, vor uns haben, dann haben wir die Sonne in der gewöhnlichen Wissenschaft als abgeschlossenen

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Körper im Raume vor uns. Das ist aber nur ein Glied des gesamten Sonnenwesens, wie der physische Leib nur ein Glied des gesamten Menschenwesens ist. Beim Menschen sprechen wir davon, daß das Geistig-Seelische hier innerhalb des Körpers wohnt. Wir müssen bei der Sonne davon sprechen, daß das Übersinnliche, das Geistige der Sonne außerhalb der Sonne ist, und den ganzen Weltenraum als Sonnenhaftes erfüllt. Was überall ist, in Mineral, in Pflanze und Tier, was in uns selbst als Mensch ist als Sonnenhaftes, das erblicken wir physisch konzentriert, wenn wir sinnlich zur Sonne hinaufschauen. Nun lernt man auf diese Weise in inspirierter Erkenntnis dieses Sonnenhafte in Pflanze, Tier und Mensch erkennen. Man lernt es erkennen in jedem einzelnen im Menschen, in Lunge, Herz, Leber, Gehirn und so weiter. Man lernt aber nicht nur dieses Sonnenhafte kennen, sondern man lernt in bezug auf alle äußeren Wesen das Geistige kennen. Wie die Sonne nicht nur scharfe Konturen hat, so ist es auch beim Mond. Der äußere physische Mond ist nur die physische Konzentration, während das Mondenhafte den ganzen Raum durchströmt. Heute sieht man diese Dinge als Aberglaube an. Sie sind ebenso exakte Wissenschaft wie anderes, aber man muß sie durchschauen. Die Pflanzen, Tiere und Menschen, insofern sie physischer Organisation sind, erblicken wir als etwas im äußeren physischen Kosmos; aber durch inspirierte Erkenntnis lernen wir ihr inneres Wesen kennen. Ebenso erkennt man auch jede einzelne Hand, Lunge, Leber und so weiter. In ihnen lebt das Sonnenhafte und das Mondenhafte weiter: Das Sonnenhafte im Sprießen, im Wachsen, im Gedeihen; das Mondenhafte aber auch in dem, was wir haben müssen im Degenerieren, im Abnehmen. Wir würden ohne das Sonnen- und Mondenhafte nicht leben können. So lange wir erkennen eine aufsteigende Sonnenentwickelung, ein absteigendes Mondenhaftes, lernen wir in der Außenwelt das Sonnen- und Mondenhafte erkennen. Aber wir lernen auch das Kranke in der Außenwelt erkennen. Wir lernen erkennen, wie im krankhaften Organ das Sonnenhafte oder Mondenhafte überwiegt, wir lernen erkennen, wie aus dem Kosmos heraus der Mensch seine Gesundheit verlieren kann. Und wir lernen auch erkennen, wie in Pflanze, Tier und Mineral Sonnenhaftes und Mondenhaftes lebt, wie Gegenkräfte, ebenso

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wie einzelne äußere Naturkräfte zu finden sind, die uns die Heilmittel andeuten für bestimmte innere Erkrankungen. Hier greift die Anthroposophie in das äußere praktische Leben ein, wie eine äußere Medizin. Sie kann ausgebildet werden dadurch, daß wir hineinschauen in den Geist des Kosmos und so den Menschen in seinem kranken, in seinem gesunden Zustand aus dem Kosmos heraus erkennen. Was ich hier Ihnen andeute, das sind nur ein paar Worte über das, was heute schon besteht als anthroposophische Medizin, anthroposophische Heilkunde. Es gibt keine Medizin, keine Psychologie, keine Therapie, die etwas anderes ist als das Ergebnis des Probierens, wenn man nicht vorwärts- schreitet zu einer geistigen Erkenntnis des Weltenalls. Ich habe gezeigt, wie wir zur wahren menschlichen Selbsterkenntnis kommen durch inspirierte Erkenntnis, wie uns diese inspirierte Erkenntnis aber auch im praktischen Leben, für ein praktisches Gebiet behilflich sein kann. Ich habe dies für ein Gebiet gezeigt, für andere ist es auch möglich, dies zu zeigen. So daß wir sagen können: Initiationswissenschaft liefert auf der einen Seite die Grundlage für die tiefste Sehnsucht des menschlichen Seelenwesens, liefert das, was wir brauchen, um in einem tieferen Sinne als es durch äußere Sinneswissenschaft geschehen kann, in das Weltenall praktisch arbeitend einzugreifen. Dies müssen wir sagen über den zweiten Teil der menschlichen Erkenntnis, die inspirierte Erkenntnis, die hineinführt in den Geist des Kosmos. Weiter hinaus führt das, was uns führt zu der Erkenntnis des Menschen, wenn er durch die Todespforte geht. Durch die eben geschilderte inspirierte Erkenntnis lernt man ja eigentlich erst das wirklich Seelische des Menschen kennen, jene seelische Wesenhafuögkeit, welche vom Menschen auch dann besteht, wenn er außerhalb seines Leibes ist, ja bevor er aus geistig-seelischen Welten heruntergestiegen ist und den physischen Erdenleib angenommen hat. Einseitig aber bleibt zunächst die Erkenntnis dieser seelischgeistigen Wesenheit des Menschen, wenn man nur bis zur inspirierten Erkenntnis vorschreitet. Man erkennt nur dasjenige vom seelisch-geistigen Wesen des Menschen, was vor der Geburt liegt. Hat man aber dasjenige kennenzulernen, was nach dem Tode liegt, dann müssen die Übungen zur Entwickelung menschlicher übersinnlicher Erkenntniskräfte

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weiter fortgesetzt werden. Das geschieht dadurch, daß man nun nach der anderen Seite hin das Gedankenhafte in den Willen hineinträgt, wie man vorher den Willen in den Konzentrationsübungen in die Gedanken hineingetragen hat. Ich will nun schlicht wiederum schildern, wie es einem gelingen wird, die Gedankenkraft in den Willen allmählich hineinzutragen, wie ich das bei den Konzentrationsübungen gesagt habe. Gehen wir von einem einfachen Beispiel aus. Jeder einzelne Mensch kann es jeden Tag vollziehen. Wir setzen uns zur Ruhe hin und wir denken dann nach über etwas, was wir während des Tages erlebten, aber nicht so, daß wir am Morgen beginnen und die Ereignisse an uns vorüberziehen lassen, wie sie aufeinander gefolgt sind im äußeren Zeitverlauf, sondern so vollziehen wir die Rückschau auf unser Tagesleben, indem wir bei den letzten Erlebnissen, am Abend beginnen, vorschreitend zu den früheren bis zum Morgen, in möglichst kleinen Partien zurückschreiten. Es ist anfangs durchaus möglich, daß wir nur eine Episode aus dem Tage nehmen, später ordnet sich das Erinnerungstableau von selbst an. Worauf es ankommt, das ist dies: Wir sind gewohnt, unser Denken ganz passiv hinzugeben an die äußere Folge der Ereignisse; wir denken immer das Spätere im Anschluß an das Frühere. Dadurch bilden wir nur schwache Willens- kraft durch das Denken aus. Einen stärkeren Willen bilden wir aus dadurch, daß wir entgegengesetzt gehen, daß wir losreißen das Denken von der Folge des äußeren Naturverlaufs durch ein von rückwärts nach vorne Gehen. Wir üben unseren Willen dadurch, daß wir die Ereignisse von rückwärts nach vorne empfinden. Ebenso kann man eine Melodie von rückwärts nach vorne denken, ein Drama kann man vor sich vorübergleiten lassen vom fünften bis zum ersten Akt, von rückwärts nach vorne. Darauf kommt es an, daß wir uns durch starken Willen losreißen von der äußeren Aufeinanderfolge der Ereignisse. Dadurch verstärken wir den Willen und entwickeln in uns die Kraft, das Denken in den Willen hineinzutreiben, wie wir bei Konzentrationsund Meditationsübungen den Willen in das Denken hineingetrieben ha- ben. Das habe ich weiter in den schon genannten Büchern beschrieben. Ich will noch einiges anführen, um es mehr verständlich zu machen. Wenn man so starke Selbsterziehung des Willens treibt, wenn man

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sich nicht nur hingeben kann an das, was äußeres Leben ist, was die Erziehung und Umgebung aus einem gemacht haben, sondern wenn man gewissermaßen seine Selbsterziehung ausbildet in reifer Erkenntnis, wenn man sich so ganz selbst in die Hand nimmt bis zu dem Grade, daß man sich etwas abgewöhnt und sich dafür etwas anderes angewöhnt durch solche Übungen, die über Jahre hingehen. Wenn man sich sagt: Rein durch die Kraft deines Denkens, durch die Kraft deines ~illens, der in deinem Vorstellungsleben ist, versuchst du eine besnmmte Eigenschaft, die du gar nicht hast, zu einer bleibenden Eigenschaft zu erarbeiten - wozu vielleicht sieben Jahre gebraucht werden. Wenn wir dieses immer wieder machen, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wenn wir es immer wiederholen, dann verstärken wir den Willen. Und noch manch andere Willensübungen gibt es, wodurch wir im gleichen Maße von anderer Seite in die übersinnliche Welt hineinkommen. Wie steht es nun aber für unser Bewußtsein mit diesen Willensimpulsen? Darüber können wir uns in der folgenden Art verständigen. Ich habe einen Willensimpuls, wenn ich meine Hand oder meinen Arm emporhebe. Dann geht dieser Willensimpuls in die Untergründe meiner Wesenheit. Dies entzieht sich dem gewöhnlichen Tagesbewußtsein, so wie es gewöhnlich im Schlafe dem Bewußtsein sich entzieht. Auch wenn wir in unseren Gefühlen träumen, so schlafen wir doch in bezug auf unsere Willensimpulse. Wir können also sagen: Wir sind im gewissen Sinne seelisch undurchsichtig. Denn wie wir für das physische Licht diesen oder jenen Gegenstand undurchsichtig finden, so finden wir unseren Körper undurchsichtig, wenn wir auf den Willen hinschauen. Wir können in den Willen nicht hineinschauen, während wir mit dem Auge, dem physischen Sinne, dadurch sehen, daß das Auge durchsichtig ist. Wenn wir an Star krank sind, können wir nicht mehr sehen. Ich will durchaus nicht behaupten, daß wir in bezug auf unseren physischen Organismus für das gewöhnliche Leben krank seien, eine falsche Askese will Anthroposophie nicht treiben - aber wenn wir dazu gelangen würden, natürlich nicht physisch, aber seelisch, den Körper durchsichtig zu machen, würden wir wirklich dazu gelangen, aus den Gedanken hineinströmen zu schauen in den physischen Organismus die Willensimpulse. Wir würden dazu gelangen, die Willensimpulse zu

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durchschauen, weil unser physischer Organismus durchsichtig wäre. So schauen wir uns als Willensmenschen und schauen zugleich hinein in die geistige Willenswelt, der wir angehören, in jene Äußerlichkeit, welche wir durch Willensübungen durchsichtig machen. Dann aber verschwindet für denjenigen, der eine Erkenntnisstufe erlangt, für die der physische Leib seelisch durchsichtig ist, da der Wille durchschaut wird, angeschaut wird, für den verschwindet zunächst in der Anschauung dieser physische Leib, und er gelangt dadurch, wenn er immer weiter und weiter blicken will, auf die geschilderte Weise erkraftet, dazu, den Moment des Todes vor sich zu haben im Bilde, jenen Moment, wo wir den physischen Leib der Erde übergeben und mit dem GeistigSeelischen durch die Pforte des Todes schreiten. Dieses Bild des Überschreitens der Todespforte haben wir vor uns, wenn wir dazu gelangen, unseren physischen Leib durchsichtig zu machen, um ins Geistige hineinzuschauen. Dann begreifen wir, was dieser physische Leib nicht mehr hat, und daß wir nicht nur hineinschauen in die geistige Welt, sondern uns wirklich hineinleben, indem wir in die geistige Welt hin- eingehen. Diese Stufe ist die intuitive Erkenntnis, die wahre intuitive Erkenntnis. Diese Stufe gibt uns die Anschauung der Unsterblichkeit. Wir wissen, indem wir uns diese Stufe erwerben, durch das Imaginative und Inspirierte hindurch, daß wir dem Weltenall als ewiges Geisteswesen angehören, daß wir schauen das Geistige des Weltenalls mit der ewig geistigen Seele in uns selber. Dazu steigt die Initiationswissenschaft auf, auch wenn sie sich ganz anpaßt dem modernen Bewußtsein, wie sie in alten Zeiten aufgestiegen ist tief atavistisch träumend, heute aber vollbewußt, vom Vergänglichen zum Ewigen. So kann sie auch herausgehoben werden und aus der modernen Seelenverfassung heute heraufsteigen. Aber das Gesagte wird dann nicht nur derjenige erkennen in dieser Anthroposophie, der alle Übungen durchmacht, um sich gewissermaßen durch eigene Anschauung von dieser Welt und ihrem Wesensleben im Ewigen zu überzeugen. Nein, um zu erforschen, dazu sind Imagination, Inspiration und Intuition notwendig. Der Geistesforscher hat dasjenige, was er erforschen kann, hervorgeholt. Er hat es eingekleidet in die gewöhnliche Logik und Sprache, und so hingestellt vor seine Mitmenschen, in eine neuere Zeit. So wird sein Ergebnis

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verständlich, wenn der Mensch nur gesunde Empfindung hat. Wie man kein Maler zu sein braucht, um ein Kunstwerk zu verstehen, wie man dafür nur gesunde Empfindung zu haben braucht, so kann man mit dem allgemeinen Menschensinn alle Ergebnisse verstehen, wenn sie nur in der richtigen Weise vor die Welt hingestellt und wenn sie unbefangen aufgenommen werden. Nur muß nicht von uns selbst Mißverständnis über Mißverständnis geschaffen werden, wie es überall so vielfach geschieht. Dann verwechselt man vielfach dasjenige, was als imaginative, inspirierte und intuitive Erkenntnis heute geschildert worden ist, mit dem halluzinatorischen Leben, wie es heraufkommt aus pathologischen Zuständen. Und man kann sagen: Es könnte ja vielleicht auch dasjenige, was hier als Imaginationen angestrebt wird, nichts anderes sein, als Imaginiertes, Illusioniertes, als Vision, Halluzination und so weiter, oder auch als mediumistischer Zustand. Es ist aber gerade das Gegenteil dieser Zustände, was hier von Meditation, Konzentration und so weiter geschildert wird. Der halluzinierende Mensch lebt sich ganz in jene Zustände hinein. Wer aber durch geistige Übungen hinaufsteigt, durch Imagination, Inspiration und Intuition, er geht nicht halluziniert hinauf, sondern bleibt auf der einen Seite stehen, eben durch seinen gesunden Menschenverstand und entwickelt sich höher. Denn der, welcher mit gesundem Menschenverstand vorgeht, steht als derjenige da, der immer im Leben kontrolliert und kritisiert, so daß er sich nicht verlieren kann in wesenlose Phantastik, in wesenlosem Halluzinieren. Es ist das Entgegengesetzte der krankhaften Zustände, was eintritt bei der Imagination, Inspiration und Intuition, so daß dasjenige eintritt, durch das man hindurchgeht, wenn man aus dem modernen Bewußtsein heraus zu einer Überzeugung von dem übersinnlichen Leben kommt, auf die Art, wie sie sich zeigt als eine Fortsetzung des modernen Bewußtseins. So gewinnt man in anthroposophischer Initiationswissenschaft eine übersinnliche Erkenntnis, die dem modernen Leben angepaßt ist. So müssen wir durchgehen durch das moderne Bewußtsein, denn wir müssen die vollen Triumphe der Erkenntnis der äußeren Welt durchgemacht haben. Wir brauchen eine Erkenntnis der übersinnlichen Welt, im Dienste der Zivilisation der Gegenwart und besonders der

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Zukunft. Laut kündigt es sich bereits an bei zahlreichen Menschen, daß sie die übersinnliche Erkenntnis auch erlangen möchten - und man könnte sie erlangen - in bezug auf das Religiöse, durch die Anthroposophie. Dienen möchte die Anthroposophie diesem neuen Rufe. Über ein solches Gebiet werde ich mir dann morgen erlauben zu sprechen, indem ich über die Wege der anthroposophischen Initiationswissenschaft zu dem Mysterium von Golgatha, zu einer richtigen Erfassung des Christentums spreche. Heute aber wollte ich nur hindeuten auf das, was im allgemeinen die Aufgabe der anthroposophischen Initiationswissenschaft ist. - Wenn wir einen Menschen vor uns haben und ihn anschauen mit den sinnlichen Augen, so bekommen wir einen Eindruck seiner äußeren Physiognomie. Es ist kein vollständiger Eindruck von dem Menschen. Erst wenn wir mit Herz und Seele hineinblicken können in das Geistig-Seelische, haben wir den totalen Menschen vor uns. So wie der Mensch mit dem sinnlichen Auge nicht vollständig vor uns steht, so stehen die Welt und die Menschheit im allgemeinen nicht vollständig vor uns, wenn wir sie nur mit der äußeren Erkenntnis anschauen. Denn wir brauchen ein Bewußtsein, das die äußere Er- kenntnis nicht geben kann; wir brauchen eine Erkenntnis, eine Initiationserkenntnis, für das Seelisch-Geistige des Weltalls. Das muß uns zur Überzeugung werden. Und erst mit dieser Überzeugung können wir die tiefsten Bedürfnisse der Menschenseele wirklich befriedigen. Dann aber erst werden wir in solcher Weise hinstreben zu der Befriedigung der Menschenseele, wenn wir etwas hinzufügen zu der äußeren so großartig fortgeschrittenen Naturwissenschaft - die Anthroposophie erkennt diese Fortschritte voll an -, wenn wir hinzufügen das, was wir hinzufügen müssen: Eine Erkenntnis des inneren Seelenhaften und Geistigen des Kosmos und des Menschentums. Das aber möchte die hier gemeinte Anthroposophie erkenntnisvoll der äußeren Erkenntnis an die Seite stellen, sie möchte wahrhaft hinzufügen zu dieser äußeren Erkenntnis die innere geistige, zu dieser sinnlichen die übersinnliche. So wie die vollständige Anschauung des Menschen zum äußeren Leben auch die innerliche Seele hinzufügen muß, so möchte Anthroposophie die Seele, der Geist, das Innere moderner Erkenntnis überhaupt sein. ERKENNTNIS DES CHRISTUS DURCH ANTHROPOSOPHIE London, 15. April 1922

  1. G211-1986-SE159 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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ERKENNTNIS DES CHRISTUS DURCH ANTHROPOSOPHIE London, 15. April 1922

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Gestern erlaubte ich mir über den Weg zu sprechen, der aus der physisch-sinnlichen Welt heraus in die übersinnliche hineinführt, über den Weg, der von der heutigen Anthroposophie als derjenige charakterisiert werden muß, der zu einem gewissen exakten Hellsehertum, zu einer exakten Clairvoyance führt. Ich sprach von einer exakten Clairvoyance, weil in der Tat unsere Zeit eine solche exakte Clairvoyance fordern muß. Alle Zeiten haben Clairvoyance, die Grundlage der Initiationswissenschaft, gehabt, aber sie haben diese Clairvoyance wie etwas auf elementarische Weise aus dem Menschen Herauskommendes, oder wenigstens auf eine elementare Weise aus dem Menschen heraus Erzeugtes, hingenommen, und diejenigen Persönlichkeiten, welche zu solcher Geisteswissenschaft gekommen sind, waren ja dann zumeist auch angewiesen auf die Autorität derjenigen, die ihnen vorangegangen waren in dem Besitz solcher Initiationswissenschaft. Wir würden innerhalb der heutigen Entwickelungsepoche der Menschheit auf solches Autoritätsprinzip nicht mehr bauen dürfen, denn das würde widersprechen demjenigen, was heute der Mensch nach seiner Seelenverfassung fordern muß. Wir haben seit drei, vier, fünf Jahrhunderten eine exakte Wissenschaft. Selbstverständlich ist diese exakte Wissenschaft noch nicht Initiationswissenschaft. Aber diese exakte Wissenschaft übt eine gewisse Kontrolle aus über die Forschungsme thode, über die Denkmethode. Sie übt eine Kontrolle aus der vollständigen Bewußtheit der menschlichen Persönlichkeit heraus, und eine solche Kontrolle muß heute derjenige fortwährend üben, welcher als ein Geistesforscher zur exakten Clairvoyance im anthroposophischen Sinne kommen will. Wenn wir dasjenige, was erreicht werden kann an Einsicht über den Kosmos, an Einsichten über die menschliche Wesenheit aus einer solchen Clairvoyance heraus auf uns wirken lassen, so wirkt es nicht bloß so, wie eine theoretische Weltanschauung wirken kann, nicht

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bloß als eine Summe von Ideen, die man weiß über die geistigen, über die übersinnlichen Welten, sondern es wirkt diese moderne Initiationswissenschaft zugleich als eine Kraft, eine geistig-lebendige Kraft, die den ganzen Menschen in allen seinen Fähigkeiten durchdringen und befruchten kann. Das haben wir in einer gewissen Weise schon zeigen dürfen, indem wir in künstlerischer Arbeit wirksam gemacht haben dasjenige, was sonst nur in der Form von Ideen über die geistige Welt auftritt. Das Goetheanum in Dornach, diese Freie Hochschule für Geisteswissenschaft, sie wurde durch die Opferfreudigkeit einer Anzahl von Freunden der anthroposophischen Sache begründet, sie ist im Bau, sie ist so weit, daß in ihr schon heute, ja sogar schon seit längerer Zeit, Arbeiten geleistet werden können, obwohl sie noch nicht fertig ist. Hätte eine andere geistige Bewegung Veranlassung gehabt, einen solchen Bau aufzuführen, dann wäre es selbstverständlich gewesen, daß diese Bewegung sich gewandt hätte an einen bekannten Baumeister, der im antiken, im Renaissance- oder gotischen Stil oder aus irgendeiner anderen Stilform heraus einen Bau aufgeführt hätte, wie man eben heute einen Bau aufführen will. Das konnte beim Goetheanum in der Schweiz nicht so gemacht werden. Das hätte widersprochen der anthroposophischen Weltanschauung, die nicht bloß in Ideen sich einführen will, die Leben sein will auf dem Gebiet des menschlichen Wirkens. Es ist kaum notwendig zu sagen, daß es unvollkommen ist. Ich bin selbst in dieser Beziehung mein strengster Kritiker. So unvollkommen das Goetheanum aber heute ist als Bauwerk, als Kunstwerk, als ein Ganzes, so ist es dennoch notwendig gewesen, dieses Goetheanum, weil die Anthroposophie es als ein Vorbild in die moderne Menschheit hineintragen will, in einem neuen Baustil, einem neuen Kunststil zu errichten. So trifft man denn in Dornach im Goetheanum architektonische Formen an, die herausgeschöpft sind aus demselben Leben, aus dem die Ideen über das Übersinnliche geschöpft sind, wie sie durch das Wort verkündet werden. So ist alles, was man in Dornach finden kann an Bildhauerei, an Malerei, von einem neuen Stil getragen, aus dem im modernen Leben die Anthroposophie herausgeboren sein soll. Wer diese Freie Hochschule für Geisteswissenschaft besucht, der wird finden, daß auf der einen Seite von

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ihrem Podium herunter in Worten die anthroposophische Weltanschauung verkündet wird, daß aber die Bauformen, die malerischen Kunstwerke, dasselbe ausdrücken auf künstlerische Weise, was ausgedrückt wird durch das Wort. Das, was von der Bühne herunter wirken kann, soll nur eine andere Form der Offenbarung sein als dasjenige, was durch das Wort geschehen kann. Anthroposophie soll nicht nur im Worte sich ausdrücken, sondern aus tiefer menschlicher Wurzel hervorkommen, von der die theoretische Anthroposophie nur ein Zweig ist, von der das Künstlerische, das Erzieherische, andere Zweige sind. So ist anthroposophisches Leben ein Faktor auf den verschiedensten Gebieten des menschlichen Daseins. Sie finden heute in Stuttgart die sogenannte Waldorfschule, in welcher nicht etwa Anthroposophie, so wie sie gewöhnlich gelehrt wird, von Erwachsenen den Kindern beigebracht werden soll, denn sie ist keine Weltanschauungsschule. Es wird dort der Religionsunterricht katholisch von katholischen Priestern, evangelisch von evangelischen Pastoren gemäß ihren religiösen Anschauungen unterrichtet. Diejenigen, die keine besondere religiöse Erziehung verlangen, von denen so viele in Deutschland sind, die werden von uns in bezug auf das Religiöse mit einer besonders für sie bereiteten religiösen Ubersetzung des Anthroposophischen versorgt. Das aber, was erreicht werden soll durch die Waldorfschule, tritt dann ein, wenn das Anthroposophische ins Leben übergeht, in die wirklich praktische Erziehungskunst, in die Pädagogik und die Didaktik, in alles Erzieherische und Unterrichtliche überhaupt. Das, was der Lehrer tut, wie er erzieht, wie er unterrichtet, das ist es» was lebendig ist in seiner ganzen Persönlichkeit. Entzündet wird es durch die Anthroposophie. Ich hebe dieses zweite Gebiet heraus, um zu zeigen, wie Anthroposophie auf die verschiedensten Gebi«e des menschlichen Daseins lebensvoll wirken will. Besonders lebensvoll aber kann sie wirken, und hat ja bereits in vieler Beziehung gewirkt auf dasjenige, was religiöse Bedürfnisse der Menschheit sind. Darüber, wie sie auf diese religiösen Bedürfnisse wirkt insofern die zivilisierte Menschheit sich anschließt an ein Auffassen des Mysteriums von Golgatha, möchte ich gerade durch die heutige Betrachtung zu Ihnen sprechen. Ich werde anzuknüpfen haben

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an dasjenige, was ich gestern als den anthroposophischen Weg in die übersinnliche Welt hinauf charakterisiert habe. Ich habe gezeigt, daß man durch gewisse Übungen der Seele dazu kommen kann, sich zuerst imaginative Erkenntnis zu erwerben. Diese imaginative Erkenntnis, sie lebt so in der menschlichen Seele, daß der Mensch in die Lage kommt, durch seine bloße Denkkraft, die ihm sonst nur schattenhafte, abstrakte Gedanken liefert, Bilder zu erhalten, die ebenso energisch in der Seele leben, ebenso intensiv sind, wie die Bilder, die bei der Sinneswahrnehmung an den Menschen herantreten. Wie wir sonst in Farben denken, wenn wir uns den Eindrücken unserer Augen hingeben, wie wir sonst in Tönen denken, wenn wir uns den Eindrücken unserer Ohren hingeben, so erleben wir unsere Gedanken in der imaginativen Erkenntnis. Wenn wir unsere Gedanken innerlich erleben können, wenn sie nicht bloß in abstrakten Konturen auftreten, sondern als inhaltsvolle Bilder, dann sind wir in imaginativer Erkenntnis. Ich habe gestern angedeutet, daß man den Zeitorganismus, den Bildekräfteleib des Menschen durch die imaginative Erkenntnis anschauen könne. Aber wir müssen uns bewußt sein, daß wir, wenn wir zu dieser imaginativen Erkenntnis aufsteigen, etwas Imaginatives in uns haben. Dadurch unterscheidet sich der anthroposophische Forscher von dem Halluzinierenden oder von dem Medium, daß er zur exakten Clairvoyance kommt, daß er imstande ist zu erkennen, zu durchschauen, daß da erst Bilder sind, die zunächst nur im Menschen selber leben. Auch wenn wir den Bildekräfteleib haben, durch den wir erkennen, wie eine plastische Bildekraft seit unserer Geburt an unserem Erdenorganismus gearbeitet hat, kennen wir damit nur etwas Subjektives. Dann habe ich aber angedeutet, wie man gewissermaßen sich absuggerieren, auslöschen kann das, was man an Bildern hat, wie man das kann zum Beispiel beim leeren Bewußtsein. Dann hat man aber nicht mehr diese subjektiven Bilder, die man zuerst gehabt hat. Dieses leere Bewußtsein enthält aber die Kraft, solche Bilder von außen zu empfangen. Es ist wichtig, daß wir uns als anthroposophische Forscher bewußt sind, daß man die erste Form der Imaginationen austilgen muß; daß man dann ein leeres Bewußtsein hat, das aber in sich so wach ist, daß

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es die energische Kraft hat, nur solche Bilder, rein geistige Bilder, nun von der Außenwelt zu empfangen. Wir haben so zunächst das Bild unseres eigenen seelisch-geistigen Lebens, bevor wir heruntergestiegen sind aus geistigen Welten, um unseren physischen Körper zu bewohnen. Wir können dann aber auch bemerken objektive Bilder von demjenigen, was Geistig-Seelisches in unserer Umgebung ist. Ein solches objektives Bild wird man dann hineinfügen, wenn man inspirierte Erkenntnis hat. Dem anthroposophischen Forscher fließen da Offenbarungen der geistigen Welt in sein leeres Bewußtsein, von objektiven Bildern jetzt, wie er sie früher subjektiv in sich durch Erkraftung seines Denkens durch exakte Übungen erzeugt hat. Was erfahren wir über uns selbst, wenn wir in solcher Weise das leere Bewußtsein angefüllt erhalten mit objektiven Imaginationen durch die inspirierte Erkenntnis? Wir erfahren, was uns bekannt war, bevor wir heruntergestiegen sind aus der geistigen Welt in eine physische Welt. Aber wir erfahren auch noch etwas anderes. Wir erfahren, was wir hereingetragen haben aus der geistigen Welt in unser physisches Dasein: Für unser Bewußtsein ist das zunächst nur die Kraft des Denkens. Es ist eine bedeutsame Entdeckung, die wir da machen. Die Philosophen denken viel darüber nach, wie dieses Denken zustande gekommen ist, der Anthroposoph weiß, daß dieses Denken niemals aus dem physischen Leib herauskommen könnte, sondern daß es die Kraft ist, die er hereingetragen hat aus der geistigen Welt, bevor er zur Erde heruntergestiegen ist. Dort war dieses Denken etwas ganz anderes als es im gewöhnlichen Erdenbewußtsein ist. Hier sind unsere Gedanken abstrakt, eben geeignet, das Tote zu denken. Hier muß derjenige, der es ernst meint mit der Initiationswissenschaft der modernen Zeit, etwas vor die Menschheit hinstellen, was vielleicht heute nicht gern gehört wird. Ich will das, was ich hingestellt habe, durch einen Vergleich verdeutlichen. Auf der der Geburt entgegengesetzten Seite des begrenzten menschlichen Erdendaseins, da steht ja das Tote. Durch den Tod lassen wirden Leichham zurück. Der irdische Leichnam ist dasjenige, was nach dem Tode von unserem physischen Leib bleibt, aber der Leichnam wird durch die Bestattung, sei es durch Feuer, sei es durch Erde in sein

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Element, die Erde, übergehen. Er hört auf, nachdem er durch den Tod gegangen ist, denjenigen Gesetzen zu folgen, die ihm vom menschlichen Seelendasein seit der Geburt aufgeprägt worden sind. Der Leichnam folgt nunmehr den irdischen Gesetzen. Er trägt nichts Seelisches,nichts Geistiges mehr, im Sinne des Menschen, des Menschlichen in sich, er folgt denselben Naturgesetzen, denen draußen die Mineralien folgen, indem sie im Reiche der Natur ihr Dasein haben. Das ist, wenn unser Tod eintritt, das physische Schicksal des menschlichen physischen Leibes. Solch ein Tod - das muß erkannt werden - tritt auch ein,wenn die Seele aus dem geistig-seelischen Dasein heruntersteigt, um sich durch die Geburt einem physischen Körper einzuverleiben. Die Seele dringt in diesen physischen Körper des Menschen so ein, wie eindringt der physische Leib des Menschen nach dem Tode in die Erdenelemente. Dasjenige aber, was wir zunächst bemerken aus der geistigen Welt für unser Bewußtsein, es sind unsere Gedanken, es ist unsere Gedankenkraft. Und unsere Gedankenkraft, sie ist der Leichnam des Seelisch-Geistigen. Während dieses Seelisch-Geistige vor dem Erdendasein des Menschen sein eigenes Leben in der seelisch-geistigen Welt hatte, nimmt der Mensch von seiner Denkkraft, die er vorher gehabt, nur den Leichnam auf. Wir tragen mit uns in unserem physischen Leib - so wie die Erde nach unserm physischen Tode den physischen Leichnam - unsere Gedanken, den seelischen Leichnam aus dem seelischen Dasein. Weil das so ist, deshalb ist die heutige Erkenntnis so unbefriedigend, denn der Mensch, während er den Leichnam seiner Seele in sich trägt, faßt in gewissem Sinne nur die leblose Natur, und es ist eine Illusion, wenn er glaubt, daß er durch Experimente heute etwas anderes erreichen wird als nur die leblose Natur. Gewiß, man wird weiter kommen, als bloß Lebloses darzustellen, man wird organische Körperhaftigkeiten darstellen. Aber man wird sie mit dem nicht entwickelten Denken, mit dem Denken des persönlichen Bewußtseins nicht verstehen, selbst wenn man sie im Laboratorium selber erzeugt hätte. Mit diesem Denken, das der Leichnam der Seele ist, das geistig tot ist, wird nur das Tote begriffen. Das ist eine Wahrheit, die man mit voller Unbefangenheit annehmen muß, denn man muß sich klar darüber sein, daß es einmal eine

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Entwickelungsepoche der Menschheit gab, in der die Menschen dieses tote Denken, dieses abstrakte Denken in sich aufnahmen. Aber nur durch dieses abstrakte Denken, das keine innere Lebendigkeit hat, das keinen Zwang auf den inneren Menschen ausübt, kann der Mensch zur Freiheit kommen. Daher entwickelt sich die Freiheit, seitdem der Tod da ist. Wir werden es im späteren ersehen, was wir nun durch das Denken erreichen von Imagination, Inspiration und Intuition, wie ich es gestern angedeutet habe. Das ist die wirkliche Verlebendigung des toten Denkens. Wenn wir es durch Übungen so weit bringen, daß die Imagination vor uns steht, dann lebt das Denken wieder in uns so, daß wir uns sagen können: Vorher gab uns die Denkkraft keine Vorstellung darüber, was wir waren, bevor wir aus dem Geistigen in das Irdische herabgestiegen sind; jetzt, da unser Denken wieder lebt, schauen wir zurück durch imaginiertes und inspiriertes Denken in unser vorgeburtliches Dasein in der geistigen Welt, jetzt erkennen wir, daß wir, bevor wir auf der Erde bei der Empfängnis, bei der Konzeption irgendwie aufgenommen worden sind in das Physisch-Leibliche, gelebt haben in einem geistigen Dasein. Darin ist das Dasein lebendig. So wie wir es denken im einmaligen Bewußtsein im physischen Leibe, so ist es tot. Durch Imagination wird es` wieder lebend. Wir beleben dasjenige, was die ungeborene Seele ist. Und so ist dasjenige, was durch Imagination und Inspiration errungen wird, diese geistige Welt, in der wir nun leben, diese höhere wahrhafte Fähigkeit des Denkens, diese Wahrnehmung von geistigen Gestalten, geistigen Wesenheiten, geistigen Geschehnissen, sie ist nichts anderes als eine Belebung desjenigen, was für das gewöhnliche Bewußtsein tot ist. Aber nun tritt innerhalb dieses Belebens des gewöhnlichen Denkens zur Imagination und Inspiration für den heutigen Menschen etwas ein, was für den alten Griechen, namentlich für den alten Ägypter oder alten Perser, was für alle diejenigen Menschen in die Initiationswissenschaft noch nicht eingetreten wäre, die diese Initiationswissenschaft vor dem Mysterium von Golgatha aufgenommen haben. Ganz anders ist das Beleben in der Initiationswissenschaft, bevor der Christus aus geistigen Höhen auf die Erde heruntergestiegen ist, als nachher bei unserer heutigen Menschheit. Die Geschichte wird heute nach den äußeren Taten

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betrachtet. Wie aber die menschlichen Seelenzustände im Verlaufe der Geschichte sich geändert haben, wird heute nicht beachtet. Das kann aber nur durch Initiationswissenschaft, durch Clairvoyance im exakten Sinne bekannt werden. Nachdem der Mensch Imagination und Inspiration erlangt hat, muß er sich sagen: In mir ist etwas eingetreten, was mich beunruhigt. - Ich erwähne das als eine ungewöhnliche Tatsache, denn es tritt das Erschütternde ein, daß der Mensch heute, wenn er sich aufschwingt zur Imagination und Inspiration, eine wirkliche Beunruhigung hat. Dies kommt daher, weil heute der Mensch, wenn er zum clairvoyanten Menschen wird, sich sagen muß: Ich bin durch meine Entwickelung zu stark egoistisch geworden, mein Ich ist zu intensiv geworden, mein Ich ist zu stark geworden. Kein Mensch, der von diesen Dingen in richtiger Weise unterrichtet ist, wird etwas anderes sagen, wenn er nicht Illusionen erzählt, denn er weiß, daß diese Beunruhigung über das Gemüt des Menschen kommt, daß der Mensch sich sagt: Mein Ich wirkt zu stark. - Bei den Menschen, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen sind, war dieses Erlebnis das Entgegengesetzte. Sie mußten sich sagen: Ich bin durch die Initiationswissenschaft schwächer geworden in meinem Ich. Ich bin unbewußt geworden in einem gewissen Sinne, ich bin weniger darin in mir, ich habe mich als Mensch weniger, aber als Ich stärke ich mich, wenn ich keine Initiationswissenschaft habe. - Es ist das ein naturgemäßer gesunder Egoismus, der da sein muß im gewöhnlichen Leben, und der in gewissem Sinne durch die Initiation ausgelöscht wurde beim Menschen, der vor dem Mysterium von Golgatha gelebt hat. Er fühlte sich durch sie wie ausgegossen in der Welt; die Höhe, die Stärke seines Bewußtseins war herabgedämpft. Der heutige Mensch wird durch die Einweihung bewußter: das Ich wird bewußter, wird stärker. Derjenige Mensch, der zuerst gefühlt hat, daß, wenn man initiiert wird, das Ich etwas braucht, damit es nicht in gefahrvoller Weise zu stark werde, war Paulus. Paulus hat dies gewußt seit demjenigen Ereignis, das im Neuen Testament von ihm erzählt wird als das Erlebnis von Damaskus. Ich brauche das nicht zu erzählen, da es bekannt ist. Dasjenige aber, was Paulus gewußt hat durch seine Erkenntnis, durch das Mysterium von Golgatha, das ist,

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daß er Einsicht bekommen hat in die geistige Welt. Damit er diese Einsicht ohne Gefahr ertragen konnte, mußte er sein Ich schwächer machen. Und eine universelle Formel hat Paulus vor die Welt hingestellt, die aussagen kann, was der neue Initiierte sagen muß. Sie lautet: Nicht ich, sondern der Christus in mir. So wirkt man im Sinne dieser Kraft des Christus: wenn man erkennt, daß man den Christus in sich aufnimmt in das zu stark gewordene Ich, so durchdringt man sich mit der Christus-Kraft, die durch das Mysterium von Golgatha in die Erde gekommen ist. Dann wird das Ich wieder in der richtigen Weise in den Menschen ein geschaltet. Es ist ein universell bedeutsames Wort, dieses Paulus-Wort: Nicht ich, der Christus in mir - es ist richtunggebend, orientierend für denjenigen, der die Kraft des Christus durch die moderne Initiation erlebt. Was ich darstellte in bezug auf das heutige abstrakte Denken: daß es gegenüber seiner Wesenheit im vorgeburtlichen Dasein ein in unserem physischen Leibe wohnender Leichnam ist - das ist, wie ich ja schon angedeutet habe, nur der Fall bei dem Menschen der gegenwärtigen Zeit. Allerdings muß man sich vorstellen unter diesem Menschen der gegenwärtigen Zeit den Menschen, der sich nach und nach in der heutigen Seelenverfassung vorbereitet hat seit dem Mysterium von Golgatha. Leise fing das Denken an, den Charakter zu bekommen, den es heute hat, eigentlich erst ein paar Jahrhunderte nach dem Mysterium von Golgatha, etwa im dritten, im vierten Jahrhundert. Vorher, bei allen alten Völkern, hatte das Denken nämlich noch Leben, noch innere Lebendigkeit sich mitgebracht in das irdische Dasein herunter. Es hatte sich mitgebracht eine Lebendigkeit, die es vorher im geistig-seelischen Dasein gehabt hat. Wer wirklich mit vollem inneren Sinn studiert die Entwickelung der Menschheit in bezug auf die innere Seelenverfassung, der kann leicht darauf kommen, daß das so ist. Mansehe sich alle alten Weltanschauungen an, diejenigen, die von Initiationswissenschaft ausgegangen sind, und auch diejenigen, die keine Initiationswissenschaft gehabt haben: Alles, was da an Weltanschauung gelebt hat, es ist noch so, daß der Mensch, wenn er hinausschaute in die Mineralwelt, zu den Flüssen, Quellen, zu den Wolken, dem

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Blitz und dem Donner, den Pflanzen und Tieren, daß der Mensch darauf hinschaute wie auf etwas Geistiges. Es ist nur eine triviale Vorstellung, wenn man heute meint, aus der bloßen dichterischen Phantasie wäre die Vergeistigung der Natur hervorgegangen, das was man so gewöhnlich Animismus nennt. Dieser Animismus hat niemals existiert, wohl aber existierte in den menschlichen Seelen ein Denken, das, indem es die Pflanzen angeschaut hat, zu gleicher Zeit ein Geistiges walten sah. So wie der Mensch heute aus dem gewöhnlichen Bewußt sein auf die grüne Blattfarbe oder rote Blumenfarbe sieht, so sah der Mensch in alten Zeiten ein Geistig-Seelisches walten; er sah es in Wolken, in Flüssen, in Berg und Tal. Er sah alles dasjenige, was heute nurmehr ungeistig gesehen wird, innerlich durchgeistigt. Warum sah er es innerlich durchgeistigt? Weil er in sich eine lebende Kraft hatte, die in ihn eingezogen war. Dieses Denken streckte sich geistig so hinaus auf die Dinge, wie wenn wir heute unsere Hände ausstrecken, wenn wir Dinge berühren. So erfaßt man, ich möchte sagen, von leben digen Denkorganen ausgehend zu geistigen Tastorganen das Geistigseelische der Dinge. Aber immer weniger und weniger wurde das Lebendige des Denkens, das ganz intensiv war in uralten Zeiten menschlicher Vergangenheit, auf das ja einzig die Initiationswissenschaft hinweist. Immer mehr und mehr wurde dieses Lebendige des Denkens abgedämpft, und seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert ergibt sich allmählich dasjenige, daß unser Denken inne4ich in sich tot ist, daß, wenn man hinausschaut, man durch das leblose Denken auch nur Totes schauen kann in dem Lebendigen, im pflanzlichen, im tierischen Dasein, ja im äußerlich-menschlichen Dasein. Und so erfuhr der Mensch alter Zeiten, indem er sich selber beobachtete, daß in ihm etwas lebte, was lebendiges Denken war, was nur die Fortsetzung war desjenigen, was sein Wesen ausmachte in der geistigen Welt vor seiner Geburt, so daß er bewußt sich sagen konnte: Ich lebe in demselben lebendigen Element, in dem ich gelebt habe, bevor ich auf der Erde Leben gehabt habe. Er fühlte das in sich, was mit ihm geboren ist und nur in den physischen Leib eingezogen ist. Das ist anders beim Menschen seit dem dritten, vierten nachchristlichen Jahrhundert. Wenn dieser in sich hineinschaut, so fühlt er das tote Denken. Es ist das ein

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allerwichtigstes, ein allerbedeutsamstes historisches Ereignis, dieses all- mähliche innere Ersterben des Denkens. Nun können wir uns vorstellen, es wäre nichts im Erdendasein geschehen, als daß dieses Denken allmählich in der menschlichen Seelenverfassung als ein Ersterbendes erschiene. Denken wir uns für einen kurzen Augenblick, daß die Erdenentwickelung so fortbestanden hätte, wie sie begonnen hat, daß die Erdenentwickelung so über das dritte, vierte nachchristliche Jahrhundert fortgegangen wäre, wie sie fort- gegangen wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht auf der Erde eingetreten wäre. Was wäre dann geschehen für die menschliche Seele, wenn kein Kreuz auf Golgatha erhöht worden wäre? Dann wäre geschehen, daß die Menschen sich tot gefühlt hätten im Erdenleib, daß sie sich hätten sagen müssen beim Hinschauen auf den Tod des physischen Leibes: Mit der Erdengeburt beginnt mein Seelisches zu sterben, es nimmt teil an dem Tod des physischen Leibes. - Wenn kein Mysterium von Golgatha dagewesen wäre, dann wäre für die Erdenmenschheit das eingetreten, daß mit dem Tod der physischen Leiber das Seelische mitgestorben wäre, anfangs in weniger intensivem Sinne, aber dann wäre es weitergegangen über die ganze Erde. Wir können immer mehr erkennen, wie tragisch es wäre, wenn wir uns sagen müßten: Wir Menschen sind mit der Erde so verbunden, daß wir dem Leibe nachsterben. Das Lebendige, das wir gehabt haben bis zum dritten, vierten Jahrhundert, jetzt können wir es nicht mehr haben. Jetzt können wir unser Seelisches nur an dem Schicksal unseres Leiblichen teilhaftig werden lassen, es wird sterben. Höchstens würden sich die Menschen sagen können: Es wird auf der Erde noch eine Weile fortgehen, weil der Tod noch nicht alle ergriffen hat; aber das Absterben wird für alle eintreten. - Nun ist es aber nicht so. Das Mysterium von Golgatha hat sich vollzogen, und es wird nicht im alten Stil fortgeschritten. Derjenige, der durch die Initiationswissenschaft gegangen ist, sieht aber noch in anderer Weise hin auf das Mysterium von Golgatha, als das gewöhnliche Gemüt hinschauen kann durch das Evangelium, womit nichts gesagt werden soll gegen diese Art des Hinschauens durch die Evangelien. Es ist dies die Art, die man zunächst gehen muß, wenn

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man im Christentum Wurzel faßt. Aber was dem einfachsten Gemüt durch das Evangelium vermittelt wird, wird weiter ausgebildet, wenn die Menschen an die Initiationswissenschaft herankommen. Für diejenigen, die nicht festhalten an dem bloßen Glauben, erhebt sich, wenn die Menschen aufsteigen von der Inspiration zur Intuition, eine geistige Welt, die nun das Mysterium von Golgatha gerade für den Initiierten wie den großen Trost im Weltendasein hat. Der Initiierte hat vorher gefühlt, wenn er in richtiger Weise fortgeschritten ist durch Imagination und Inspiration, daß sein Ich zu stark geworden ist, zwar nicht insofern, als es die Anlage zur menschlichen Freiheit bildet, aber indem dieses zu starke Ich sich in die Entwickelung drängen kann, die den Menschen retten muß vor demjenigen, was durch das tote Denken eintreten würde. Man sieht von dem Gesichtspunkt der Initiationswissenschaft erst recht die Tragik des ersterbenden Denkens. Aber es erhebt sich im Hintergrunde die Wahrheit von dem Mysterium von Golgatha. Ich möchte sagen, während auf der einen Seite dasteht im menschlichen Gemüt der Pol, der uns sagt: Dein Ich ist zu stark geworden, da stehst du gefestigt als geistige Wesenheit da, erscheint auf der andern Seite, und zwar im richtigen geschichtlichen Zeitpunkt als historisches Ereignis, aber übersinnlich geschaut, der Durchgang des Gotteswesens Christus zuerst durch den Leib des Jesus von Nazareth, dann durch den Tod auf Golgatha. Wenn man in der richtigen Weise durch die Initiation durchgeht, erlebt man auf der einen Seite eine Verstärkung des Ich auf dem einen Pol, auf der andern Seite die Wahrheit des Mysteriums von Golgatha. Es erhebt sich hinter den Evangelien, hinter dem, was man durch gewöhnliches Lesen dem Inhalte nach erkennen kann, ein intuitives Schauen und Blicken, aus dem ja schließlich die Evangelien selber hervorgegangen sind. Der Initiierte ist nicht angewiesen auf dasjenige, was ihm die Evangelien sagen. Durch dieselbe Kraft, durch die er das geschilderte Bewußtsein von seinem eigenen Dasein nach dem Tode erhält, durch Inspiration und Intuition, erhält er die Imagination und die Wahrheit von der Außenwelt objektiv gegeben, so daß er das Evangelium selbst schreiben könnte, wenn es nicht geschrieben wäre. Er erhält sogar über die Evangelienschreiber das richtige

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Bewußtsein. Er sagt sich: Es war in den ersten drei bis vier christlichen Jahrhunderten noch so viel Lebendiges aus der alten Zeit vorhanden, daß einzelne Menschen, dazumal noch ohne daß sie in der Initiationswissenschaft selbst gestanden hatten, auf das Mysterium von Golgatha hinschauen und es in der richtigen Weise interpretieren konnten. Hätten nicht die alten Initiierten in den ersten vier christlichen Jahrhunderten in der damaligen Gnosis, die nicht identisch, sondern nur ähnlich ist der heutigen Anthroposophie, das Mysterium von Golgatha interpretiert, es würde auch keine Evangelien geben, denn heraus aus solcher Initiationswissenschaft im alten Stil sind die Evangelien geschrieben. Man lernt erkennen das Mysterium von Golgatha und zu gleicher Zeit den Ursprung der Evangelien, indem man geistig die Ereignisse vor sich hat, die die ersten Evangelienschreiber in die Evangelien hineingeschrieben haben. So lernt man das Mysterium von Golgatha erkennen, man lernt erkennen, wie Paulus wirklich sagen konnte: Wäre der Christus nicht auferstanden, so bliebe eitel unser Glaube und damit unsere Seele tot. - Ja, man lernt jetzt erkennen, was geschehen wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre, wenn nicht ein Gott herabgestiegen wäre, um durch einen Menschenleib zu gehen, im Menschenleibe den Tod zu erleiden und dann sich mit den Kräften der Erde zu verbinden. Denn er hat sich seither mit den Kräften der Erde verbunden, und es leben die Christus-Kräfte seit dem Mysterium von Golgatha mit der Erde, namentlich mit der irdischen Menschheitsentwickelung, in welcher sie früher nicht darinnen waren. Was Paulus meinte mit dem auferstandenen Christus, war, daß der Christus den Tod zu erleben hatte und erlebt hat, daß er aber über den Tod siegte, daß er als Geistig-Lebendiges siegreich mit der Auferstehung aus dem Tode hervorgegangen ist und seither mit der Menschheit weiterlebt für diese Menschheit, die ohne den Christus nur das tote Denken hätte. Er kann daher sich erinnern, daß ein Gott, der Christus, auf die Erde heruntergestiegen ist und auf der Erde lebt. Während früher das Denken in alten Zeiten selber noch seinen lebendigen Charakter auf das Erden- leben heruntergetragen hat, kann sich die Erdenseele seit dem dritten, vierten Jahrhundert - vorher war es leichter - im unmittelbaren

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Anblick des Mysteriums von Golgatha das Denken auferwecken lassen. Es ist durch den Tod und die Auferstehung des Christus diese Seele in ihrem Denken so verlebendigt worden, daß die Menschen nun nicht mehr mit ihren Leibern zu sterben haben, wie sie sterben müßten, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Der Initiierte kann dadurch, daß er aufschaut von seinem zu stark gewordenen Ich und die Bilder des Mysteriums von Golgatha schaut, gewissermaßen aus der geistigen Welt herauslesen die Entwickelung der Menschenseele. Er weiß durch seine Einsicht in dieses spezielle Kapitel der Initiationswissenschaft, daß der Christus durch seine Auferstehung die Seelen der Menschen wieder lebendig gemacht hat. So führt die moderne Initiationswissenschaft im anthroposophischen Sinne zu einer innerlich lebendigen Erfassung des Mysteriums von Golgatha. So ist sie nicht ein Weg hinweg von dem Christus, sondern ein Weg zu dem Christus. Der Christus wird durch sie auf eine geistige Weise gefunden. Nun, gestatten Sie mir am Schluß, daß ich in einer kurzen, flüchtigen Skizze hinstelle eine Entwickelung der Menschheit, wie sie sich aus der modernen Initiationswissenschaft ergibt unter dem Einfluß des Mysteriums von Golgatha. Wenn wir zurückschauen in sehr alte Zeiten menschlicher geschichtlicher Entwickelung, so finden wir, daß sich das gewöhnliche Bewußtsein durchaus in dem Sinne gestaltet, wie ich es eben charakterisiert habe. Das Denken ist lebendig; der Mensch findet um sich herum in allen Wesen der Natur neben dem Physischen ein Geistiges. Allerdings ist sein Bewußtsein ein traumhaftes, wenn er dieses Geistige wahrnimmt. Aber in diesem traumhaften Bewußtsein, ich möchte sagen, in diesem instinktiven Hellsehen, ist eben durchaus noch ein ursprünglicher Zusammenhang mit der geistigen Welt durch das lebendige Denken gegeben. Aus der Menge der Menschen hoben sich aber dazumal in der Urzeit, wie heute gelehrte Wissenschafter, diejenigen heraus, die eben eine gewisse Initiationswissenschaft im alten Sinne hatten, und man kann alles Wissen für die ältere Zeit Initiationswissenschaft nennen, weil schon der gewöhnliche Mensch eine Art Clairvoyance hatte. Sie hatten nicht das, was ich geschildert

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habe, erworben, aber sie hatten es gebracht zu einer gewissen Imagination, Inspiration und Intuition. In der Intuition aber jeglicher Art erlebte der Mensch nicht nur die Bilder der geistigen Welt, er erlebte auch dasjenige, was die geistigen Wesen selber sind. Er strömte gewissermaßen mit seinem Ich-Wesen in das Geistige hinüber. Dieses erlebte man durch die Initiationswissenschaft in alten Zeiten der Menschheitsentwickelung, so daß man gerade diejenigen Wesen erlebte, die da herunterstiegen aus geistigen Welten zu den Menschen. Es waren keine physischen Wesen, es waren auch keine Wesen, die mit physischen Sinnen hätten wahrgenommen werden können, die etwa Worte gebraucht hätten, die mit physischen Ohren gehört werden können. Es waren Wesen, mit denen man nur durch Geistes- schauen in Verkehr treten konnte. Aber in solchem mächtigen Geistesschauen waren eben die Initiierten der Urzeit mit Wesenheiten in Berührung, die zu ihnen herunterstiegen im geistigen Leibe - nicht Im physischen Leibe -, die sie in gewisser Weise unterrichteten über das, was sie durch physisches Denken von sich aus nicht erreichen konnten, über ein geistig-seelisches Dasein. Das aber ist das Wesentlichste dieser alten Erkenntnis. Wenn wir es ausdrücken wollen in eInem übersichtlichen Satze, so müssen wir sagen: Die ersten großen Lehrer der Menschheit waren geistige Wesenheiten, die auf geistige Art mit den ersten Initiierten in Verkehr traten, die ihnen beibrachten die Geheimnisse der Geburt des Menschen, die Geheimnisse der lebenden Seele, die ungeboren heruntergestiegen ist aus den übersinnlich-geistigen Welten. Dasjenige, was man unmittelbar wußte in jenen alten Zeiten durch Offenbarungen der geistigen Welt selber, das waren die Mysterien der Geburt. Der Mensch lernte, was er schon ahnte durch sein instinktives Hellsehen, in voller alter hellseherischer Erkenntnis einsehen: daß er ungeboren ist. Er lernte zurückschauen durch die alte Initiationswissenschaft in seine Schicksale in seiner geistigen Seele, bevor er Ins Physische heruntergestiegen ist. Es waren die Mysterien der Geburt des Menschen, die in alten Zeiten gelehrt worden sind. Wenn das auch in den Mysterien äußerlich behandelt wurde durch gewisse Kulte, durch Kultushandlungen, dasjenige, was gewissermaßen prophetisch

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durch das Mysterium von Golgatha geschehen sollte, es war da noch nicht so, wie es später dann für den Menschen wurde nach dem Mysterium von Golgatha. Vor dem Mysterium von Golgatha sah der Mensch auf das Sterben noch nicht so hin wie später. Er wußte, er ist ungeboren, er ist mit einer lebendigen Seele begabt, wie er es war, bevor er in das physische Leben heruntergestiegen war. Er rechnete damit, daß diese lebendige Seele durch den Tod ging. Der Tod stand noch nicht mit der vollen Tragik vor seiner Seele. Er sagte sich noch nicht: Mit dem Tode könnte meine Seele sterben. - Er wußte, daß seine Seele lebendig ist. Aber, indem die Zeit heranrückte, in der das Denken immer unlebendiger und unlebendiger wurde, in der das abstrakte Denken als der Leichnam herunterstieg aus der geistigen Welt, indem der Mensch dann erfuhr, was innerlich immer bedeutsamer wurde, daß der äußerliche Mensch stirbt: durch die Kulte, die gepflogen wurden und die auf das Mysterium von Golgatha hindeuteten, tröstete man sich darüber hinweg. Man sagte sich: Die Götter, und daher auch die göttlichen Menschenseelen, die können nicht sterben, sie müssen wieder auferstehen. - Das war ein nur durch den Kultus herbeigeführter Trost, das war noch nicht Wissen. Wissen trat erst ein, über den Tod hinaus, durch das Mysterium von Golgatha. Da schauten wir hin auf diese alten geistigen Lehrer, die heruntergestiegen waren aus geistigen Welten. So paradox das für den Menschen der Gegenwart klingt, aus der Initiationswissenschaft heraus muß gesagt werden: Diese geistigen Lehrer, die als geistige Wesen in der übersinnlichen Welt lebten, sind nur dann heruntergestiegen, wenn die Menschen ihre Seelen ihnen öffneten. Diese geistigen Lehrer der Menschheit waren solche, die in der göttlichen Welt lebten und nur zu den Menschen herunterstiegen als Lehrer, aber nicht teilnahmen an menschlichen Schicksalen, und die selber das Mysterium des Todes nicht kannten. Das ist selber ein wichtiges Mysterium, daß im wesentlichen die Menschen in ganz alten Zeiten Lehren empfangen haben aus höheren Welten, die handelten von dem Mysterium der Geburt, aber nicht von dem Mysterium des Todes. Von Seelen, die selber nur durch die Geburt gegangen waren, erfuhren die Menschen das Mysterium des

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Lebens. Und indem die ersten christlichen Eingeweihten hin schauen konnten auf das Mysterium von Golgatha, vernahmen sie etwas, was man durch keine alte Mysterienweisheit hat vernehmen können: Sie vernahmen, daß es in denjenigen Welten, aus denen heraus ihnen jene Weisheiten kundgemacht wurden, selber kein Wissen über den Tod gab, weil noch keines dieser Wesen menschliche Schicksale durchgemacht hatte, nämlich selber durch den Tod gegangen war. Von der Geburt wußten diese geistig-göttlichen Lehrer der Menschheit, nicht aber von dem Tode. Durch ein außer-göttliches Schicksal ist das Denken so geworden, daß die Menschen mit der Furcht leben mußten, mit dem Tod des Leibes zugleich den Tod ihrer Seele zu erleben. Und es wurde beschlossen im Reiche der Götter, einen Gott herunterzuschicken auf die Erde, damit er als Gott durch den Tod ginge und in Götterweisheit das Erlebnis von dem Tode aufnehme. Das ist dasjenige, was sich enthüllt durch das intuitive Anschauen des Mysteriums von Golgatha, durch das nicht nur etwas geschehen ist für die Menschen, durch das etwas geschehen ist für die Götter. Die Götter sahen gewissermaßen, während sie früher nur sprechen konnten von dem Mysterium der Geburt zu den Erdenmenschen, wie die Erde allmählich entwuchs denjenigen Kräften, die sie selber hineingelegt hatten, und wie der Tod die Seele ergreifen würde. Und so schickten sie den Christus auf die Erde, damit ein Gott den Menschentod kennenlerne und mit seiner Götterkraft den Menschentod besiege. Das ist das göttliche Ereignis: Die Götter haben um ihrer eigenen Schicksale willen das Mysterium von Golgatha als ein göttliches Ereignis eingeleitet in die Evolution des Kosmos, die Götter haben auch um der Götter willen dieses Mysterium von Golgatha geschehen lassen. Während früher alle Ereignisse in geistig-göttlichen Welten geschehen sind, stieg jetzt ein Gott herunter und es wurde auf der Erde vollzogen ein überirdisches Ereignis in eIner irdischen Gestalt selber. Dasjenige, was sich auf Golgatha vollzog, war also ein auf die Erde versetztes geistiges Ereignis. Das ist das Wichtige, was man durch die moderne anthroposophische Geisteswissenschaft über das Christentum erfährt. Wenn der Mensch dann seinen Blick hinrichtet zu dem Mysterium von Golgatha, so daß er sehen kann, wie teilnimmt das Göttliche an der

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Entwickelung der Erde, was es für die Erde, für das Erdenschicksal vollzogen hat, dann wird er hinschauen auf etwas, was die Götter angeht. Solange er mit seinem Wirken nur hier im Erdenleben lebt, lernt er das ausbilden, was die Erde und den Menschen angeht. Solange hat man nur geringe Kräfte, die nicht ausreichen, das stärkere Ich zu überwinden. Wenn man aber hinausgehen muß zu einem Verstehen und Begreifen des Mysteriums von Golgatha, dann kommt man zu dem, was überirdisch ist und was mit dem Erdenverstand nicht mehr begriffen werden kann, wozu man einen Verstand braucht, der über das Irdische hinausgeht. Also bloß auf Anregung der Initiationswissenschaft können wir zu dem innerhalb des Erdendaseins vollzogenen Ereignis von Golgatha hinschauen als zu etwas, was zugleich als ein Kosmisches und als ein Irdisches in die Erde hereingestellt worden ist. Dadurch bringt man in sich selber hinein die starke Kraft der Erkenntnis, die nun wirklich dahin führen kann, daß man sich sagt: Durch gewöhnliche irdisch-menschliche Kräfte nehme ich von der Erde alles dasjenige, was die Erde mir als Mensch für mein Ich gibt. Schaue ich zu dem Mysterium von Golgatha hin, so nehme ich etwas auf, was mich hinweghebt von dieser Erde, was in mir ein Leben entzündet, das sonst nicht entzündet werden könnte: ich nehme auf ein Ubersinnliches durch meine Hinneigung zu diesem Mysterium von Golgatha. Ich erkenne, daß die Menschheit auf eine neue Art ein übersinnliches inneres Fühlen und Erkennen haben muß, gegenüber der alten Art, wo die Menschen noch das lebendige Denken fühlten; daß der Mensch noch eine solche Erkenntnis durch das Mysterium von Golgatha erhalten kann, wodurch er erlebt sein totes Denken, das er bewußt einführt in übersinnliches Dasein, so daß er sagen kann: Nicht ich, sondern der Christus in mir macht mich in Wirklichkeit jetzt lebendig nach dem Mysterium von Golgatha. Daß der Mensch so etwas sagen kann, dazu will gerade die moderne Initiationswissenschaft, die moderne Anthroposophie, lebendige Anregung geben. Weil wir diese Anregung selber erhalten durch die moderne Initiationswissenschaft, werden wir aus ihr hervorgehen sehen nicht ein anti-religiöses, irreligiöses Leben, sondern ein vertieftes religiöses Leben der Menschen, indem wir bewußt abkommen von

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dem, was aus alten Zeiten herübergekommen ist. Aber der Mensch wird durch die geisteswissenschaftliche Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha hinweggeführt über alle Zweifel, die heute so kräftig enthalten sind im religiösen Leben, beim Unterricht in der äußeren Wissenschaft, die uns allerdings zu freien Menschen gemacht hat, die auf der einen Seite große äußere Triumphe erlangt hat, die auf der andern Seite aber in das Herz des Menschen begreifliche Zweifel setzt in bezug auf seinen religiösen Sinn und auf die Erkenntnis seiner übersinnlichen Wesenheit. Anthroposophie setzt sich zur Aufgabe, die stärksten Zweifel, die nur durch äußere Wissenschaft in die menschliche Seele gesetzt werden können, hinwegzufegen aus dieser menschlichen Seele und Wesenheit, weil die anthroposophische Wissenschaft gerade aus dem Geist der Wissenschaft heraus dasjenige zu überwinden hat, was die äußere Wissenschaft nicht überwinden kann. Diese anthroposophische Wissenschaft wird in die menschliche Seele wiederum wahrhaft religiöses Leben pflanzen können. Sie wird nämlich nicht beitragen können zur Ertötung des religiösen Sinnes, sondern sie kann zu der Menschheitsentwickelung das hinzufügen, daß der Mensch wiederum einen religiösen Sinn für alles erhält, daß der Mensch ein neues Verständnis des Christentums erhält durch seine Hinneigung zu dem Mysterium von Golgatha, das von allen Menschen eigentlich erst durch sie richtig verstanden und angenommen werden kann. Dadurch, daß der Mensch nicht nur eine Belebung des alten religiösen Sinnes, sondern daß er einen neuen religiösen Sinn durch Erkenntnis auf diesem Wege erhält, kann man daher sagen, daß Anthroposophie durchaus nicht etwas Sektiererisches anstrebt. Das will sie nicht, ebensowenig wie eine andere Wissenschaft. Nicht Sekten bildend will Anthroposophie auftreten; eine Dienerin will sie sein der Religionen, die schon da sind, eine Wiederbeleberin des Christentums will sie sein in diesem Sinne. Damit will sie nicht nur alten religiösen Sinn bewahren, nicht nur dazu berufen sein, das alte fortstrebende religiöse Leben weiter fortzubringen; nicht nur zur Belebung, sondern zur Auferstehung des religiösen Lebens will sie beitragen, weil dieses religiöse Leben durch das moderne Dasein, durch die

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moderne Zivilisation gar zu sehr gelitten hat. Darum möchte die Anthroposophie ein Liebesbote sein, nicht nur eine Wiederbeleberin des alten religiösen Sinnes, sondern eine Erweckerin zur Auferstehung des inneren religiösen Sinnes der Menschheit. DIE DREIFACHE SONNE UND DER AUFERSTANDENE CHRISTUS London, 24. April 1922

  1. G211-1986-SE179 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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DIE DREIFACHE SONNE UND DER AUFERSTANDENE CHRISTUS London, 24. April 1922

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In der Gegenwart ist es durchaus notwendig, daß eine Anzahl von Menschen wissen, wo die gegenwärtige Menschheit in der geistigen Entwickelung steht, und welcher Weg zu nehmen ist, damit unsere Zivilisation nicht zugrunde gehe. Denn - und ich will heute ganz in anthroposophischen Formen zu Ihnen sprechen - diejenigen geistigen Kräfte, die wir die ahrimanischen Kräfte nennen und die in sich schließen alles, was materialistisch gedacht und getan wird in der Menschheit, diese ahrimanischen Kräfte möchten durch alles das, was bloß intellektualistisch ist, den Menschen an die Erde fesseln. Diese ahrimanischen Kräfte sind in unserer Zeit sehr stark, und sie suchen auf jede Art in die Menschenseelen Zugang zu gewinnen, um die menschlichen Seelen zu materialistischer Gesinnung zu verführen, zu einer bloß intellektualistischen Erfassung der Welt. Daher muß eine Anzahl von Menschen wissen, wie die Entwickelung der Menschheit auf der Erde vor sich zu gehen hat, damit die Menschheit ihr Ziel als Erdenmenschheit erreiche. Dazu aber ist erforderlich, daß man ein wenig zurückblicke in die Entwickelung der Menschheit. Wir könnten weiter zurückgehen, allein es ist für heute nicht notwendig, daß wir weiter zurückgehen als in das dritte und vierte Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha und dann die Entwickelung der Menschheit bis in unsere Zeit von einem gewissen Gesichtspunkte aus verfolgen. In jener alten Zeit, von der ich zuerst sprechen möchte, entwickelte sich im 0rient, in Asien eine Kultur, die ich in meinem Buche «Die Geheimwissenschaft> die urpersische Kultur genannt habe. Der Lehrer der Menschheit während dieser urpersischen Kultur war Zarathustra, Zoroaster. Es ist nicht jener Zarathustra, von dem die Geschichte erzählt, und der in etwas späterer Zeit lebte. Es ist ein viel älterer Lehrer der Menschheit. Aber es ist in jenen alten Zeiten durchaus so, daß die Schüler eines hohen bedeutenden Lehrers lange dessen Namen

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angenommen haben. Und so ist derjenige Mensch, der in der Geschichte Zarathustra genannt wird, der letzte der großen Zarathustra-Schüler. Zarathustra war in einer ganz besonderen Weise in die Geheimnisse des Daseins eingeweiht, und er konnte als ein großer Eingeweihter, als ein hervorragender Initiierter die Menschheit der damaligen Zeit lehren. Zarathustra wußte durch seine Initiation, daß an derjenigen Stelle des Raumes, wohin wir blicken, wenn wir die Sonne sehen, ein großer umfassender Weltengeist lebt. Zarathustra sah überhaupt nicht zuerst die physische Sonne, sondern Zarathustra sah an der Stelle, wo wIr heute durch das gewöhnliche Bewußtsein die physische Sonne sehen, einen großen umfassenden Weltengeist. Und dieser Weltengeist, der übte auf eine spirituelle Art seinen Einfluß auf Zarathustra aus. Und Zarathustra wußte dadurch, wie mit dem Schein, mit dem Glanz der Sonne, mit den Strahlen der Sonne auf die Erde auch die göttlich- geistigen Gnadenstrahlen kommen, welche in der Seele, in dem Geist des Menschen entzünden den höheren Menschen, zu dem sich der gewöhnliche Mensch hinaufringen soll. Und da man in jenen alten Zeiten die Initiierten nicht mit äußeren Namen nannte, sondern mit den- jenigen Namen, die ihnen zukamen durch das, was sie wußten, so wurde dieser große Eingeweihte von seinen Schülern genannt und so nannte er sich: Zarathustra, Zoroaster, der strahlende Stern. Aber gemeint war die strahlende Gottheit, die die Strahlen der Weisheit auf die Erde sendet. Es war im Verhältnis zu allen späteren Einweihungen, zu allen späteren Initiationen eine höhere Initiation. Denn in dem- jenigen, was Zarathustra in der geistigen Weltensonne sah, lagen ja alle Kräfte, welche auf der Erde die Steine erhärten lassen, welche die Pflanzen aus ihren Keimen hervorwachsen lassen, welche die verschiedenen Tierarten über die Erde ausbreiten, welche den Menschen wachsen und gedeihen lassen. Alles dasjenige, was auf der Erde geschah, wußte der älteste Zarathustra - der strahlende Stern - durch dasjenige, was er von der Sonne als geistiges Wesen erlebte. Und dann kam eine spätere Zeit, in der man nicht mehr so tief hineindringen konnte in die Weltengeheimnisse. Es war diejenige Zeit, die ich in meiner «Geheimwissenschaft» die chaldäisch-ägyptische Menschheitskultur nannte. Auch da blickte man noch hinauf zur

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Sonne, aber man sah jetzt die Sonne nicht mehr als die strahlende, man sah das bloß Leuchtende, das bloß Glänzende. Und Ra, dessen irdischer Repräsentant Osiris war, erschien als die eigentlich um die Erde sich bewegende Sonne, die da glänzte. So waren gewisse Geheimnisse dadurch verlorengegangen, daß man nicht mehr als Initiierter der alten Zeit in vollständiger innerer Klarheit den strahlenden Weltengott sehen konnte, sondern daß man jetzt nur dasjenige sehen konnte, was mehr aus Urkräften heraus, aus astralischen Kräften heraus von der Sonne kommt. Zarathustra sah in der Sonne noch ein Wesen; er konnte zu jener Zeit noch in der Sonne ein Wesen sehen. Die ägyptischen, die chaldäischen Initiierten, sie sahen in der Sonne nur die Kräfte, welche als Lichtkräfte, welche als Bewegungskräfte von der Sonne nach der Erde kamen. Sie sahen schon nurmehr etwas niedrigeres als ein geistiges Wesen: sie sahen geistige Taten, aber nicht ein geistiges Wesen. Und als denjenigen, der auf der Erde das repräsentiert, was man von den Kräften der Sonne als Mensch in sich trägt, bezeichneten diese alten ägyptischen Eingeweihten den Osiris. Und wenn wir in die griechische Zeit kommen, also schon in das achte, siebente, fünfte Jahrhunderz und so weiter vor dem Mysterium von Golgatha, da sah man nicht mehr in die Geheimnisse der Sonne, da sah man nur noch dasjenige, was sich um die Erde herum als Wirkung der Sonne zeigte. Da sah man gewissermaßen nur die Wirkung der Sonne in dem Äther, der den Raum um die Erde herum erfüllt. Und das, was sich als Äther um die Erde herum ausbreitet, was auch den Menschen durchdringt, das bezeichneten die griechischen Initiierten - nicht das Volk, aber die griechischen Initiierten - als den Zeus. Und so gab es eine Stufe der menschlichen Kulturentwickelung, In welcher die Initiierten in der Sonne ein göttlich-geistiges Wesen sahen, dann diejenige Stufe, in welcher die Initiierten in der Sonne Kräfte sahen, die da wirken, und eine dritte Stufe, in welcher die Initiierten nurmehr die Wirkungen des Sonnenwesens im Äther der Erde sahen. Sehen Sie, die Lehre von diesen drei Sonnenaspekten, dem Sonnenaspekt des Zarathustra, dem Sonnenaspekt des Osiris, dem Sonnenaspekt des Pythagoras, Anaxagoras, diese drei Sonnenaspekte kannte

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in der späteren Zeit noch einer, der so nahe an die Einweihungslehren herangekommen war, als man nur in der damaligen Zeit an sie herankommen konnte. Diese drei Aspekte kannte noch, nicht durchschauen, aber als Lehre, als eine Tradition, die durch die Mysterienschule ging, Julianus der Apostat. Und Julian Apostata war so überwältigt von diesem dreifachen Sonnenaspekt, daß ihm dasjenige, was das Christentum brachte, demgegenüber als klein erschien. Er lernte noch etwas von der unsagbaren Herrlichkeit kennen, in welche Zarathustra hineingeschaut hat, er lernte noch etwas kennen von jener Wirksamkeit von Feuer, Licht, von kosmisch-chemischen Kräften, von kosmischen Lebenskräften, wie man sie in den alten Mysterien zuerst geschaut hat, und wovon er nur durch Traditionen noch hat lernen können. Diese Lehre kam ihm so großartig, so gewaltig vor, daß er sich zum Christentum nicht bekehren konnte. Aber er wollte dafür etwas an- deres: er wollte die alten Mysterien, in die er bis zu eInem gewissen Grade noch eingeweiht war, der allgemeinen Menschheit verkünden. Daher wurde für ihn jener Dolch geschliffen, welcher ihm den gewaltsamen Tod brachte. Jener Dolch wurde geführt von einer der Persönlichkeiten, die in jenen alten Zeiten der Meinung waren, daß man nicht der allgemeinen Menschheit die hohen Lehren der Initiation mitteilen dürfe. Geführt war jener Dolch von einer jener Persönlichkeiten, welche wollten, daß nur so, wie man eben im damaligen Zeitalter äußerlich über die Sonne sprach, zu den Menscheii gesprochen werden solle. Julian Apostata sagte, daß die Sonne drei Aspekte habe: einen des irdischen Athers, einen des dahinterstehenden Himmelslichtes und der chemischen und Wärme oder Feuer- und Lebenskräfte, und einen Aspekt ganz geistiger Wesenheit. Dafür wurde er hinweggeräumt. Und in der Tat, man muß ja sagen, in der damaligen Zeit war durchaus noch ein Augenblick in der Menschheitsentwickelung, in dem die allgemeine Menschheit nicht reif genug war, um solche bedeutsamen Wahrheiten zu empfangen. Aber etwas anderes, etwas außerordentlich Bedeutsames können wir sehen. In die griechische äußere, exoterische Kultur ist vieles übergegangen von dem, was enthalten war 1n diesen dreifachen Lehren des Zarathustra, des Osiris, des Anaxagoras,

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von der geistigen Sonne, von der elementarischen Sonne, von Zeus,dem sonnenhaften Erdenäther. Und wir haben nur deshalb eine so hohe griechische Kunst, eine so hohe griechische Philosophie, nur deshalb einen Plato und Aristoteles, weil vieles eingeflossen ist von jener alten Weisheit in diese Persönlichkeiten. Aber es war damals schon jene Zeit, in welcher die Initiationswahrheiten des Altertums nicht mehr genügend geschützt waren vor der Profanierung. Und so ist es gekommen, daß vieles von den Initiationsweisheiten übergegangen war an hervorragende Römer, namentlich an die römischen Kaiser,an die hervorragenden Führer des römischen Volkes. Höchstens noch Augustus aber hat zu schätzen gewußt dasjenige, was ihm mit der Initiationsweisheit übergeben worden war. Und deshalb war es auch, daß man im Römertum nicht erkennen konnte, wie in der griechischen Kunst, wie in der griechischen Weisheit esoterisch etwas enthalten war, was, richtig verstanden, in die ältesten Weisheitslehren zurückführte. Und so kam es, daß von dem ganz und gar prosaischen, ganz und gar halb-barbarischen Römertum aus, der äußere Glanz der griechischen Kultur übernommen worden ist, daß aber die Römer nicht in der Lage waren, dasjenige, was in der griechischen Kultur lebte, auf die Nachwelt in seiner wahren Gestalt zu überbringen. Und so ist es gekommen, daß dann mit dem Römertum jene alte Kultur nicht mehr übergehen konnte in das aufkommende Christentum, das sich anschloß an das Mysterium von Golgatha. Wenn man so etwas ausspricht, wie ich es jetzt eben ausgesprochen habe, darf man es nicht als Tadel, nicht als Kritik aussprechen, denn alle diese Dinge sind notwendig für die Entwickelung der Menschheit. Man muß sich aber klar sein darüber, daß die eigentlichen alten Initiationswahrheiten durch das Römertum, das die Initiation nicht zu schätzen wußte, nicht auf das Abendland übertragen werden konnnen, und daß wir als Menschen des gewöhnlichen Bewußtseins der neueren Zeit getrennt sind von der heiligen Wahrheit der alten Zeiten durch das Römertum, das diese Wahrheiten nicht verstehen konnte, wodurch ja auch bewirkt wurde, daß eine Persönlichkeit, die hervorgegangen war aus diesem Römertum, die letzten griechischen Philosophen vertrieben hat, so daß diese nach dem Orient flüchten mußten.

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Ich führe Ihnen das alles an aus dem Grunde, weil es für die verschiedenen Betrachtungen, die ich dann anstellen werde, notwendig ist, daß wir einen flüchtigen Blick auf jene Zeit wenden, wo die alten geistigen Lehrer hinaufblicken konnten nach dem gestirnten Himmel und oben die dreifache Sonne sahen. Von diesem Wissen ist der Nachwelt nichts anderes geblieben als das Symbol davon in der dreifachen Krone des römischen Papstes. Das Äußere ist geblieben, das Innere verlorengegangen, und nur die neuere Initiation kann wiederum zurückblicken in jene alten Zeiten. Durch diese neuere Initiation, von der auch die Anthroposophie sprechen muß, können wIr wiederum zurückschauen in jene alten Zeiten der Menschheitsentwickelung, in denen der Sonne selbst abgelauscht war dasjenige, was man auf Erden als die Geheimnisse der Menschheitsentwickelung erfahren wollte. Wenn dann diejenigen, welche die Schüler der alten Initiierten waren, hinaussahen in das Weltenall und über dasjenige sprachen, was außerhalb der Erde in den Wirkungen der Sonne, in der Sonne selbst lebte, in dem großen Zarathustrischen Geisteswesen der Sonne, dann meinten diese alten Initiierten im Grunde genommen dasselbe, was man später als den Christus bezeichnet. So daß in aller Form gesagt werden muß, daß die alten Initiierten außerhalb der Erde im Kosmos, und zwar in demjenigen Kosmos, der durch die Sonne repräsentiert wird, den Christus geschaut haben. Und das Wesentliche des Mysteriums von Golgatha ist nicht die Lehre von dem Christus, denn diese Lehre von dem Christus, die haben auch die alten Initiierten gehabt. Sie haben nur etwa von dem Christus so gesprochen, daß er nicht auf der Erde lebt, daß er nicht in den Kräften der Erde ist, sondern daß er in den Kräften der Sonne lebt. Aber es ist durchaus falsch, zu glauben, daß die alten Initiierten nicht von dem Christus-Wesen gesprochen haben. Es ist auch eine von jenen Wahrheiten, die der Menschheit ganz verlorengegangen sind, daß vor dem Mysterium von Golgatha von dem Christus immer gesprochen worden ist als von einem außerirdischen Wesen. Heute nennt man eine solche Anschauung sogar unchristlich. Aber warum nennt man eine solche Anschauung unchristlich, da doch die ersten Kirchenväter durchaus diese Anschauung gehabt haben?

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Die ersten Kirchenväter haben gesagt: Die Weisen der alten Zeit, die man oftmals auch als Heiden bezeichnet, sind in einem tieferen Sinn Christen! Die ersten Kirchenväter haben durchaus von Heiden als von Christen vor dem Mysterium von Golgatha gesprochen. Dasjenige, was durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist, es ist eben dieses, daß jenes Wesen, das man vorher nicht hat auf der Erde finden können, das nur außerhalb der Erde gefunden werden konnte, wenn man in die Mysterien der Himmel eingeweiht war, sich dann selber verkörpert hat in dem Jesus von Nazareth, auf der Erde gelebt hat in dem Jesus von Nazareth, gekreuzigt worden ist, in die Erde gelegt worden ist, und im geistigen Leibe seinen eingeweihten Schülern als Auferstandener erschienen ist. Das wirkliche Herunter- steigen des hohen Sonnenwesens von kosmischen Höhen auf die Erde, das ist dasjenige, was sich in dem Mysterium von Golgatha vollzieht. Und dieser Christus, der heruntergestiegen ist aus geistigen Welten, der durch den Tod gegangen ist, der in bezug auf seinen Leib in die Erde gelegt worden ist, dieser Christus hat nach seinem Tode, nach seiner Auferstehung auch eingeweihte Schüler gehabt. Dasjenige, was er seinen eingeweihten Schülern gelehrt hat, das sollten heute eigentlich viele Menschen schon wissen, damit man teilnehmen könne an den Kräften der Fortentwickelung der Menschheit. Alle alten Eingeweihten sind im Grunde genommen in Wirklichkeit von außerirdischen Wesen unterrichtet worden. Der Unterricht in den ältesten Mysterien der Menschheit ist so vollzogen worden, daß die Schüler der Mysterien dazu vorbereitet worden sind, außerhalb ihres Leibes schauen zu können. Durch dieses Schauen lernten sie solche Wesen kennen, wie der Zarathustra den Christus als hohes Sonnenwesen kennenlernte. Durch dieses Schauen lernten sie aber auch andere Wesen der verschiedenen Hierarchien kennen. Wir müssen uns durchaus vorstellen, daß die geistige Sprache, die da geführt wird von einem solchen Wesen, das herunterstieg und die Eingeweihten lehrte, eben eine Sprache ist, durch welche man in alten Zeiten die Menschen lehren konnte. Die Menschen hatten in alten Zeiten göttliche Lehrer. Ein solcher göttlicher Lehrer war auch der Christus für die Menschen, welche er nach seiner Auferstehung unterrichtete.

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Aber er konnte noch etwas anderes lehren als die älteren göttlichen Lehrer. Die älteren göttlichen Lehrer sprachen zu den Menschen viel von den Geheimnissen der Geburt, sprachen ihnen aber nicht von den Geheimnissen des Todes, denn in der göttlichen Welt hatte man den Tod nicht durchgemacht. Es gab in der Welt, aus der die alten göttlichen Lehrer zu den alten Initiierten herunterstiegen, keine Wesen, weiche den Tod durchgemacht hatten. Der Tod war etwas, was nur auf der Erde durch Menschen durchgemacht werden konnte. Die Götter sahen herunter auf die Menschen, aber sie wußten im Grunde genommen vom Tode nur äußerlich. Der Christus lernte den Tod auf der Erde kennen, indem er in einem Menschen nicht nur als eine Erscheinung zu gewissen Zeiten verkörpert war, wie das der Fall war bei den alten Lehrern, sondern der Christus lernte den Tod dadurch kennen, daß er als Gott wie die menschliche Seele in einem physischen Menschenleibe auf der Erde lebte. Er lernte den Tod wirklich kennen, er ging durch den Tod. Und er lernte noch mehr kennen. Wenn der Christus nur alles dasjenige durchgemacht hätte, was von der Johannestaufe im Jordan sich abspielte bis zur Kreuzigung und bis zu dem Sterben am Kreuze, da würde der Christus nicht von denjenigen Geheimnissen haben reden können, von denen er geredet hat zu seinen eingeweihten Schülern nach seiner Auferstehung. Denn sehen Sie, für diejenigen göttlichen Lehrer, die heruntersteigen konnten auf die Erde, und für die alten initiierten Lehrer gab es in der ganzen weiten Welt keine Geheimnisse außer im Innern der Erde. Im Innern der Erde, wußten sie, herrschen geistige Wesenheiten, die anderer Art sind als die Götter, die vor dem Mysterium von Golgatha zu den Menschen herunterstiegen. Es kannten sie zum Beispiel die Griechen und gaben ihnen in ihrer Mythologie den Namen der Titanen. Aber derjenige der oberen Götter, der zuerst das Innere der Erde kennenlernte, weil er in sie hineinversenkt wurde, das war der Christus. Das ist wichtig, daß der Christus ein Gebiet für die oberen Götter kennengelernt hat, das früher diese oberen Götter nicht gekannt haben. Und dieses Geheimnis, daß auch die Götter eine Entwickelung durchmachen, dieses Geheimnis teilte der Christus seinen eingeweihten Schülern

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mit nach seiner Auferstehung. Und dieses Geheimnis erfuhrPaulus durch seine natürliche Einweihung vor Damaskus. Das war das Erschütternde für Paulus, daß er erfuhr: mit den Kräften der Erde ist jetzt verbunden die Kraft, die man früher nur in der Sonne gefunden hat. Was war es denn, warum Paulus als Saulus die Christus-Anhänger verfolgte? Das war es, daß Paulus als Saulus in der alten hebräischen Einweihung erkennen gelernt hatte: der Christus lebt nur draußen im Kosmos, und diejenigen sind im Irrtum, die behaupten, der Christus lebe in der Erde. Als Paulus vor Damaskus die Erleuchtung hatte, da erfuhr er zuerst, daß er im Irrtum war, weil er nur dasjenige glaubte, was früher wahr gewesen ist. Aber was früher wahr gewesen ist, war jetzt anders geworden, was früher nur in der Sonne gewohnt hat, ist auf die Erde heruntergestiegen und lebt fortan in den Kräften der Erde. Und so war das Mysterium von Golgatha für diejenigen, die es zuerst den Menschen bekanntgaben, nicht ein Erdenereignis allein, sondern ein Weltenereignis; ein Weltenereignis, das in den ersten nachchristlichen Zeiten von den eigentlichen Initiierten in der folgenden Weise gelehrt wurde. Sie wurden so tief eingeweiht, diese ersten christlichen Initiierten, daß sie wußten: Der Christus, der heute als das Wesen erscheint, das im Anfang der Zeitrechnung durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, der Christus ist aus noch weiteren Höhen zur Sonne heruntergestiegen, da hat ihn Zarathustra geschaut. Dann ist seine Kraft übergegangen in die Strahlen der Sonne, da wurde er von den ägyptischen Eingeweihten geschaut. Dann lebte seine Kraft in dem Umkreis der Erde, da haben ihn die griechischen Eingeweihten geschaut. Jetzt soll er so geschaut werden, wie er selber als ein Wesen mit dem Erdenleibe unter den Menschen gewandelt ist, jetzt soll er so geschaut werden, daß man seine richtige Gestalt erblickt in dem Auferstandenen, in demjenigen, der in der Erde darin ist, der das Geheimnis der Erde geschaut hat, der dieses Geheimnis nun allmählich in die Menschheitsentwickelung überfließen lassen kann. Es ist eine ungeheure Wärme der Diktion, mit welcher in sehr einsamen Schulen in dem ersten christlichen Jahrhundert - vom Orientherüber

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immer mehr sich verbreitend, aber sehr im Geheimnisvollen - diese esoterische Lehre des Christentums wirkte. Ja, es gab eine solche esoterische Lehre des Christentums! Diese ersten Kirchenväter, sie wußten noch etwas davon, aber sie sahen auf der andern Seite den Ansturm des Römertums. Mehr als die Geschichte heute ahnt, war gewaltig jener Zusammenstoß der ersten christlichen Impulse mit dem antigeistigen Römertum. Dieses Römertum hat gewissermaßen einen Mantel von Äußerlichkeit über die tiefsten Geheimnisse des Christentums gebreitet. Man ahnt ja heute mit dem gewöhnlichen Bewußtsein im Grunde genommen gar nicht, welche Art von Verhältnis in der älteren Menschheit zu den Kräften des Weltenalls vorhanden war. Der alte Mensch des dritten, vierten, fünften Jahrtausends, er wußte, daß wenn er die- sen oder jenen Stoff aß, in ihm dieser oder jener Stoff in Seinem Leibe weiterwirkt, daß die Kräfte des Kosmos in ihm zum Vorschein kommen. Wie lehrt zum Beispiel Zarathustra seine Schüler? Zarathustra lehrt seine Schiiler so: Ihr esset die Früchte des Feldes. Sie sind von der Sonne beschienen, aber in der Sonne lebt das hohe Geisteswesen. Von dem Kosmos, von außen kommt die Kraft des hohen Geisteswesens mit den Strahlen in die Früchte des Feldes hinein. Ihr esset die Früchte des Feldes, dasjenige, was in euch den Stoff auslöst. Laßt euch erfüllt sein von den geistigen Kräften der Sonne; die Sonne geht in euch auf, indem ihr die Früchte des Feldes genießt. Tut das in besonders feierlicher Stunde, nehmt euch in besonders feierlicher Stunde etwas, was bereitet ist aus den Früchten des Feldes. Meditiert ihr darüber, wie die Sonne darinnen ist, meditiert ihr, bis euch das Stückchen Brot strahlend wird, und genießt ihr es, dann seid euch bewußt: aus dem weiten Weltenall ist der Geist der Sonne in euch eingezogen und in euch lebend geworden. Nun, von alledem ist nur die Äußerlichkeit geblieben: das Essen des Brotes im Meßopfer und in der Kommunion. Diejenigen, welche diese Äußerlichkeit fortpflanzen im Sinne dessen, was das Römertum in das Christentum hineingebracht hat, sind die, welche es am stärksten bekämpfen, daß man kosmische Weisheit haben muß, um das Christentum zu verstehen. Das sind aber auch jene, die am wenigsten die Lehren

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des Paulus verstehen, denn Paulus schaute einfach strahlend diejenige Kraft, die aus den Wolken hereinkommt, die Sonnenkraft war, die das überkörperliche Wesen war: den Christus, der durch das Mysterium von Golgatha heruntergesIiegen ist auf die Erde, die kosmische Gottheit der Sonne vereint mit den Kräften der Erde. In den ersten drei bis vier Jahrhunderten der christlichen Entwickelung wußte man noch viel von diesem eigentlichen Geheimnisse. Dann wurde die äußere Weltenerkenntnis so stark, daß selbst durch die Nachrichten, die auf die spätere Zeit kamen, nicht mehr zu erkennen ist, wie hoch spirituell in den ersten Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung das Ereignis von Golgatha aufgefaßt worden ist. Heute ist aber die Zeit, wo die Menschheit sich unbedingt zurückerinnern muß an dieses spirituelle Erfassen des Christentums in den ersten christlichen Jahrhunderten. Der Mensch hat durchgemacht seit den [ersten] nachchristlichen Jahrhunderten dasjenige, was ihn zu einer hohen Erdenweisheit gebracht hat. Dadurch ist er ein freies Wesen geworden. Selbst die alten Eingeweihten waren nicht frei, da sie ja, wenn sie die tiefsten Impulse gewollt haben, sich leiten ließen von den Gottheiten. Frei kann man nur werden durch diese besonders hohe [Erden-] Weisheit. Dies wird in nächsten Zeiten immer mehr die Menschheit dahin bringen, daß die widergöttlichen Kräfte, die wider-christlichen Kräfte die Seelen der Menschen erfassen können. Diese wider-christlichen Kräfte, ich nenne sie die ahrimanischen Kräfte. Wir haben eine hohe Wissenschaft, aber sie ist noch nicht durchchristet. Wir reden über die Natur, und niemand findet eine Veranlassung, diese Naturwissenschaft zu durchchristen. Das muß aber geschehen. Diese Naturwissenschaft muß durchchristet werden, sonst geht alles dasjenige verloren, was der Mensch aus dem Kosmos heraus braucht. In jenen alten Zeiten waren die Menschen noch empfänglich, hatten noch ein Verständnis [für die kosmischen Einflüsse] durch die allgemeine Nahrung, die der Mensch genießt. Immer fremder und fremder wurden die Menschen dem kosmischen Leben. In der späteren ägyptisch-chaldäischen Kultur konnten die alten Eingeweihten immer noch von den Kräften der Götter sprechen, von den Kräften, die in die Pflanzen, die Steine hineingehen. Daher kam in dieser Zeit zuerst die

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Heilwissenschaft, die Medizin besonders auf. Das Wirksamste stammt noch immer aus jenen alten Zeiten, man weiß es nur nicht. Wir müssen aber auch da zu den Quellen zurückkehren, wir müssen eine Medizin bekommen, welche wirklich in die tieferen Kräfte der Wesen hinein- schaut. Die Lösung obliegt der neueren Initiationswissenschaft, und Anthroposophie möchte ja nichts anderes, als der Menschheit geben, was man heute erlangen kann. Es ist so, daß seit dem Jahr 1899 das finstere Zeitalter - Kali Yuga, wie es die alten Propheten nannten - vorbei ist. Es lebt um uns herum die geistige Welt, die sich offenbaren kann. Wir können sie bemerken, und es ist unsere Aufgabe, auf diese Offenbarung zu hören. Darauf möchte unsere Anthroposophie die Menschheit hinweisen. Was vorliegt mit der Anthroposophie, es ist nicht nur eine Menschheitsangelegenheit, sondern eine allgemeine Weltenangelegenheit. Wenn man Erkenntnisse der InitiatIonswissenschaft im einzelnen, im Konkreten mitteilt, dann muß man auch gewärtig sein, daß unter Umständen über das eine und das andere gespottet werden kann. Allein gerade aus dem, was ich heute im Eingang gesagt habe, daß wir Menschen brauchen, die aus der Initiationswissenschaft heraus einzelnes wissen über die Entwickelung der Menschheit, kann zugleich hervorgehen, wie notwendig es ist, daß wir heute nicht bloß mit allgemeinen Erkenntnissen gewissermaßen in Wolken schweben, sondern daß wir diese Erkenntnisse beleben dadurch, daß wir wirklich ins Menschenleben eintreten mit diesen Erkenntnissen. Das wird man nur dann tun, wenn diese Erkenntnisse auch von dem menschlichen Leben ganz lebenskräftig sprechen. Da möchte ich denn folgendes erzählen. Während eines der späteren Kreuzzüge lebte in einem der italienischen Klöster ein junger Mönch. Er war außerordentlich begabt, Und er konnte sich namentlich vertiefen in dasjenige, was aus alten christlichen Zeiten, nicht aus der Schrift, aber von Mensch zu Mensch, fortgepflanzt worden war als Tradition, und namentlich in manchen Klöstern weiterlebte. Da erzählte davon in manch einsamer Stunde ein älterer Mönch dem jüngeren, und vieles von der Art hatte dieser junge Mönch gehört. Er hatte sich dann einem der späteren Kreuzzüge angeschlossen und wurde in Palästina, oder wenigstens in Vorderasien krank,

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ikam in eine Pflege, in der er einen noch älteren, in die Geheimnisse des Christentums eingeweihten Mönch kennenlernte. Da wurde in ihm viel erregt von Sehnsucht, die tieferen Mysterien des Christentums zu empfinden und zu erkennen. Und eben im Orient starb zunächst dieser junge Mönch; und er wurde wiedergeboren in unserem Zeitalter, wurde wiedergeboren als eine Persönlichkeit, in der aus diesem früheren Erdenleben diese Kräfte waren und in einer merkwürdigen Weise aufgingen. Wie gesagt, diese Dinge sind natürlich so, daß man spotten kann, allein es ist eben durchaus eine Notwendigkeit, aus der Initiationswissenschaft heraus heute auch über konkrete Dinge zu sprechen. Man wird schon einmal dazu kommen, einzusehen, daß über diese Dinge aus der geistigen Anschauung heraus ebenso historisch gesprochen werden kann, wie von äußeren wissenschaftlichen Tatsachen. Diese Persön lichkeit ist jene, die bekannt ist als die des Kardinal Newman. Verfolgen Sie sein Leben von Jugend auf, sein Wissen, was er gesagt hat, dann werden Sie sehen, wie in ihm eine starke Persönlichkeit lebte, von einem andern Christentum erfüllt, als er es in seiner Umgebung hatte, und warum diese Persönlichkeit heraus wollte aus der intellektualistischen Form des Christentums, warum diese Persönlichkeit von einer andern Bewußtseinsart träumte, welche die ersten Jünger des auferstandenen Christus auf der Erde hatten. Wenn Sie dann dies Leben weiter verfolgen und sehen, wie der Kardinal Newman bei seiner Einkleidung den bedeutenden Ausspruch tat: Es gibt keine Rettung für die Religion, wenn nicht eine neue Offenbarung kommt -, wenn Sie dies ins Auge fassen, dann werden Sie dieses Suchen aus einer starken, von früheren Erdenleben kommenden Sehnsucht begreifen. Newman fühlte, was herausdrang von jenen geistigen Kräften, von denen ich im zweiten Teil des Vortrages gesprochen habe, er ahnte, daß man eine neue Initiationswissenschaft durch besondere Entwickelung, und dadurch eine neue geistige Offenbarung erhalten könne. Er kam nicht weiter als zu einem gewissen Traditionalismus in bezug auf seine christliche Auffassung. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, wozu er gekommen ist, das können Sie ja in Ihrem Lande über den Kardinal Newman nachlesen. Er strebt über den Nebel hinaus nach einem Lichte, während er aber eigentlich in dem Nebel stehenbleibt.

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Eine tiefere Erkenntnis seines Wesens zeigt uns, daß in ihm eigentlich nicht die Schuld lag, sondern daß er in dieser Beziehung wirklich ein Opfer seiner Zeit war, dessen, was ich hier die ahrimanischen Kräfte genannt habe. Diese wirkten außerordentlich stark auf ihn, wie Attacken, und nahmen seine Denkkraft gefangen, so daß sie sich nicht frei in Spiritualität hineinentwickeln konnte. Derjenige, der aber heute frei sich entwickeln will, muß aus dem Gebundensein an das Gehirn die Denkkraft frei bekommen. Ahr1man erreicht seine großen Erfolge dadurch, daß er die zweite Hälfte des menschlichen Lebens vom Tode bis zu einer neuen Geburt verkürzt. Nicht wahr, es verfließt ja eine gewisse Zeit vom Tode bis zu eIner neuen Geburt. Diese Zeit, die in meinen Mysterienspielen dar- gestellt ist, sie besteht aus zwei Hälften. Das, was nach demjenigen verläuft, was ich die kosmische Mitternacht genannt habe, ist die zweite Hälfte. Diese zweite Hälfte, von der Mitte bis zu einer neuen Geburt hin, sucht Ahriman [für den Menschen] abzukürzen. Dadurch ergreift er mit einer starken Hast, mit einer starken Energie das menschliche Gehirn mit seiner Denkkraft. Er hakt sich gewissermaßen in das Gehirn hinein. Ahriman sucht die Menschen immer mehr an die Erde zu bannen. Das ist die Art, wie ahrimanische Kräfte immer mehr an den Menschen wirken, wie sie die Denkkraft immer mehr hereinbringen wollen in das Erdenleben in bezug auf die geistige Welt: die Menschen kommen ein bis zwei Jahrhunderte zu früh. Das ist aber dasjenige, was durch eine starke Energie überwunden werden muß. Eben in der Zeit, wo Kardinal Newman noch am Ruder war, konnte er trotz seiner starken Energie nicht dazu kommen, die Denkkraft genügend frei zu bekommen, sonst hätte er nicht von etwas gesprochen, was da kommen muß, sonst hätte er die Bahn zu einer neuen Offenbarung selbst gefunden. Von einer solchen Persönlichkeit muß man sprechen, wenn man hinweisen will auf dasjenige, was die Menschen zu einem neuen Leben bringen will, wenn man von Spiritualität sprechen will. Denn diese Spiritualität wird in der Weise, wie ich es angedeutet habe, das Mysterium von Golgatha wiederum den Menschen verständlich machen, daß sie es mit ihrer ganzen Menschlichkeit durchdringen können, so daß es im tiefsten Innern leben kann. Ich wollte hier diesen Kardinal

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Newman als Beispiel anführen, aber an diesen tragischen Persönlichkeiten soll man studieren, was nötig ist. Und vieles in dieser Richtung ist gerade in diesem Lande zu studieren. Daher sollte es auch in diesem Lande begriffen werden, daß eine innere Notwendigkeit vorliegt, jenes spirituelle Leben, aus dem Kardinal Newman herausgerissen wurde durch ahrimanische Kräfte, jenes spirituelle Leben und jene spirituelle Erkenntnis wieder verständlich zu machen für die Menschheit, damit diese Zivilisation gerettet werde vor dem Untergang. Und es darf ja gesagt werden: Aus der Einsicht in solche konkrete Zusammenhänge, wenn man diese Zusammenhänge erkennt, geht das Ideal hervor, soviel als möglich zu tun zur Verbreitung des spirituellen Lebens der Menschheit. Das ist die einzige Möglichkeit. Seien wir uns aber des einen bewußt: daß die ahrimanischen Kräfte sehr stark sind. Dasjenige aber, was durch Anthroposophie Zeugnis ablegen will, hat sehr starke Feinde, die von den ahrimanischen Mächten inspiriert sind. Immer stärker und stärker werden diese Kräfte! Das möchte ich Ihnen gerade am heutigen Tage sagen, damit Sie sich nicht verwundern, wenn das, was als anthroposophische Bewegung in die Welt treten will, mit furchtbaren feindlichen Kräften immer mehr und mehr zu kämpfen haben wird. Gewissermaßen muß es ein wirkliches Ergebnis dessen werden, daß wir einsehen, was mit diesen anthroposophischen Bestrebungen gewollt wird, daß wir ein waches Auge auch haben für die furchtbar verleumderischen oder sonstige Attacken ausführenden Feinde, die nicht aufkommen lassen wollen diese Bewegung. Aber wie stark sie auch sein mögen, so stark muß auch sein die Kraft im Menschen durch das Positive seiner eigenen Energie. Es ist notwendig, die anthroposophische Weltanschauung in ehrlicher und klarer Weise zu verbreiten, wenn das auch so vor die Welt gestellt werden wird, daß viele nicht an dasjenige glauben werden, was gerade durch die anthroposophische Bewegung gepflegt sein will. Und so möchte ich, daß sich doch viele finden, welche die Kraft in sich beleben, trotz der Entstellungen und Verfinsterungen, die eintreten werden gegenüber dem, was gerade die anthroposophische Bewegung will, gerade durch das Ergreifen ihres Positiven fortzuschreiten in bezug auf die Geltendmachung dieser Spiritualität vor der

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Welt. Und das heißt zu gleicher Zeit erkennen, daß sie eine Notwendigkeit für die Entwickelung der Menschheit ist. Wenn wir uns in dem gegenseitigen Verständnis in bezug auf diesen Innersten Charakter des anthroposophischen Wesens und seiner Bedeutung für unsere Zeit treffen, wenn wir uns darin in bezug auf das gegenseitige Verständnis etwas nähergekommen sind, dann hat uns dieses Zusammensein, auf das wir warten mußten durch den Lauf der Zeit, diejenigen Früchte getragen, die wenigstens ich für meine Seele als die schönsten Früchte ansehen möchte. Und im Geiste dieser Früchte, und im Gedanken an dieses gegenwärtige Verständnis wollen wir, auch wenn wir räumlich auseinandergehen, seelisch zusammenbleiben. ANTHROPOSOPHIE ALS EIN STREBEN NACH DURCHCHRISTUNG DER WELT Wien, 11. Juni 1922

  1. G211-1986-SE195 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
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ANTHROPOSOPHIE ALS EIN STREBEN NACH DURCHCHRISTUNG DER WELT Wien, 11. Juni 1922

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Einige einleitende Worte muß ich der heutigen Betrachtung zuerst vorausschicken. Es wird ja für viele unserer älteren Mitglieder zum Teil eine schmerzliche Empfindung sein, daß sich innerhalb der anthroposophischen Bewegung in den letzten Jahren manches verändert hat, gewandelt hat. Ich möchte nur kurz darauf hinweisen, worinnen sich diese Verwandlung vom Gesichtspunkt eben vieler unserer älteren Mitglieder darstellt. Vor Jahren war es so, daß wir ja in ähnlich gearteten Kreisen, die dazumal nur kleiner waren als heute, zusammengekommen sind, und daß dann gewissermaßen so gesprochen werden konnte, wie dies möglich ist, wenn vorausgesetzt werden darf, daß mit dem Grundelemente anthroposophischen Denkens und namentlich anthroposophischen Empfindens die Mitgliederzuhörerschaft vertraut ist. Ich meine damit nicht, daß dieses Vertrautsein gerade bestehen muß in bestimmten Vorstellungen oder dogmatischen Ideen, sondern dieses Vertrautsein bestand ja und besteht darinnen, daß Menschen sich hier innerhalb der anthroposophischen Bewegung zu engerem Kreise zusammenschließen, die aus ihrem Herzen heraus die Sehnsucht nach einem Hineinleben in die geistige Welt haben. Und das ist das Wesen des esoterischen Sprechens, daß man immer die Voraussetzung hat, Menschen mit solchen Sehnsuchten als Zuhörer vor sich zu haben. Auch wenn sogenannte öffentliche Vorträge in früheren Jahren gehalten worden sind, so waren sie so geordnet, daß dieser esoterische Charakter wenigstens in einem gewissen Sinne durchaus gewahrt wurde. Gewiß, öffentlich mußte man in den Denk- und Sprachformen sprechen, die nun einmal diejenigen des heutigen Zeitalters sind, so wie sich dieses Zeitalter von außen darstellt, aber unsere älteren Mitglieder werden doch empfunden haben, daß auch bei den größeren Veranstaltungen es sich immer handelte um eine Fortsetzung des in esoterischen Kreisen Gepflogenen. Heute werden aber diese älteren Mitglieder, wenn sie zu unseren

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größeren Veranstaltungen kommen, eben mit einem gewissen Schmerz erfahren, daß, scheinbar wenigstens, eine andere Sprache gesprochen wird, als dies früher der Fall war. Was früher unmittelbar aus dem, ich möchte sagen, Esoterisch-Elementarischen heraus gesprochen worden ist, das hört man gegossen in die Formen des heutigen wissenschaftlichen Lebens. Und ich weiß es ganz gut, daß es viele unter unseren älteren Mitgliedern gibt, die sagen: Ja, wir sind ja früher auf einem viel schnelleren Weg zu den Erkenntnissen und zu den Impulsen der geistigen Welt, viel schneller und auf eine innerlich wahrere Weise in das Erleben dieser geistigen Welt hineingekommen, und uns interessiert es im Grunde genommen gar nicht, ob das, was so Herzensgut werden kann, sich nach allen Seiten in strengen Gedankengängen rechtfertigen läßt. - Viele dieser älteren Mitglieder sagen: Das ist im Grunde genommen etwas, was uns weniger interessiert. Und sie empfinden es gewissermaßen als einen Verlust, daß die anthroposophische Bewegung nicht stehengeblieben ist bei der älteren Form. Aber das hing ja nicht von der anthroposophischen Bewegung ab. Man darf schon sagen: Diese anthroposophische Bewegung,die hat, wenigstens was mich anbetrifft, niemals darauf gesehen, dasjenige, was zu sagen ist, in einer solchen Weise zu sagen, daß gewissermaßen jeder das hört, was er ohnedies schon weiß, und darin eine gewisse Popularität zu suchen. Die anthroposophische Bewegung hat dieses Ziel nie verfolgt. Sie hat immer so gesprochen, wie sie sprechen mußte aus dem innersten Charakter ihres Wesens heraus. Und besonders befriedigt hat es mich immer, wenn die Leute sagten, man könne ganz gewiß der Anthroposophie nicht vorwerfen, daß sie versuche, auf die vorgefaßten Empfindungen der Menschen zu rechnen, irgendwie eine unlautere Begeisterung durch Vorurteile, auf die sie spekuliert, hervorzurufen. Denn es wird eigentlich in einer viel entlegeneren Weise gesprochen, als eben in denjenigen Bewegungen gesprochen wird, die danach streben, sich irgendwie bewußt populär zu machen. Dasjenige, was heute gekommen ist, ist eben wirklich nicht gesucht worden. Denn trotzdem ich oftmals antworten mußte, wenn Menschen gekommen sind und gesagt haben: Man könnte Ihre Theorie popularisieren, sie so umschreiben, daß sie jeder versteht und sich die

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Leute nicht erst große Mühe geben müßten -: Das ist etwas, was ich als verderblich betrachte, denn es gehört dazu, daß man Mühe haben muß, hinter das zu kommen, was hier vertreten wird -, und es ist eigentlich niemals mit meinem Willen eine solche Bewegung angestrebt worden, wie sie oftmals da angestrebt wird, wo gesucht wird, das zu sagen, was die Menschen schon wissen und wozu sie daher sehr leicht mit ihrem Herzen und ganzen Menschen hinneigen. Trotzdem aber ist die anthroposophische Bewegung in der letzten Zeit ihrer Entwickelung so gewesen, daß sie sich eigentlich rascher verbreitet hat als eine solche Bewegung sonst. Die Literatur wurde einfach aufgenommen, und man kann so schwer geschriebene Bücher, wie die anthroposophischen es sind, sonst durchaus nicht finden, die eine so rasche Verbreitung gefunden haben wie diese. Das aber bewirkte, daß, indem die Menschen unsere Literatur in die Hand bekamen, sie von ihrem Gesichtspunkte aus sie beurteilten. Wissenschafter verglichen das, was da in die Welt gekommen war, mit dem, was sie gewohnt sind, als ihre strenge Wissenschaft anzusehen. Kein Wunder also, daß auch die Notwendigkeit auftrat, sich mit der Wissenschaft auseinanderzusetzen. Und weiter kein Wunder, daß eine größere Anzahl von Freunden, die, wissenschaftlich geschult, sich es als eine besondere Aufgabe setzten, zu zeigen, daß wirklich mit jedem Grad von Wissenschaftlichkeit heute die Anthroposophie auf allen Gebieten vor die Welt hintreten kann und als gerechtfertigt erscheinen kann. Es ist also die Wirklichkeit, die das gefordert hat. Und wenn Sie heute in wissenschaftlichen Klängen dasjenige verkünden hören, was früher in anderer Form verkündet worden ist, so ist das nicht die Schuld der anthroposophischen Bewegung, sondern ihr Schicksal. Es wurde von der Welt dieses gefordert. Wir mußten gewissermaßen die Anthroposophie vor das größere Publikum hinstellen, und das konnte nur dadurch geschehen, daß wirklich mit den führenden Persönlichkeiten die Auseinandersetzung erfolgt. Es handelt sich nicht darum, die Anthroposophie der Wissenschaft anzunähern, sondern die Wissenschaft mit Anthroposophie zu durchdringen. Und so haben wir es auf der anderen Seite zu unserer tiefsten Befriedigung zu erleben, daß fachlich geschulte Freunde gekommen sind, die nach allen Seiten hin in der

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Lage sind, dasjenige, was durchaus dem Keime nach schon in der Anthroposophie liegt, wissenschaftlich zu vertreten. Aber gerade dadurch hat sich in den letzten Jahren eine gewisse Kluft ergeben, die noch nicht überbrückt ist. Man kann aber nicht sagen, daß dann, wenn wir nun doch in solch engeren Kreisen zusammenkommen, das Esoterische nicht weiterlebte. Derjenige, der teilgenommen hat an unseren kleineren Versammlungen, der wird sich schon sagen: Das, was früher gelebt hat innerhalb unserer esoterischen Strömung, das lebt weiter. Namentlich derjenige, der nach Dornach kommt, wird sehen, wieviel von neuem Geistesgut zu dem alten auch in Esoterik durchaus hinzugetragen worden ist. Dennoch aber ist ein Abgrund zwischen demjenigen, was man heute draußen in der Uffentlichkeit hört, und demjenigen, was mehr im esoterischen engeren Kreis gepflegt wird. Und diese Kluft, die waren wir noch nicht imstande auszufüllen, weil uns dazu die Arbeitszeit und die Arbeitskräfte fehlen. Auf der einen Seite muß man sich widmen der Fortbildung des Esoterischen, auf der anderen Seite haben namentlich unsere jüngeren Mitarbeiter ungeheuer viel damit zu tun, auf allen Gebieten des sozialen Wissens und Lebens die anthroposophische Weltanschauung auszubauen. Doch kann dasjenige durchaus auch geleistet werden, was möglich macht, daß man die Kluft überbrückt, die da besteht zwischen dem, was innerhalb des Esoterischen gegeben werden muß, und dem, was dann ganz exoterisch einem entgegentritt in äußeren Veranstaltungen. Es ist aber notwendig, diese Kluft auszufüllen. Sie muß ausgefüllt werden, und es muß jeder empfinden können, daß zwischen dem> was rein aus der geistigen Welt heraus gesprochen ist, und dem, was im Einklang mit der äußeren Wissenschaft gelehrt wird, die Brücke gebaut werden kann, wenn nur dazu die nötige Arbeitszeit und die nötigen Arbeitskräfte innerhalb unserer Bewegung da sein werden. Nun, das wird Ihnen ein Bild davon geben, wie ich selber die Situation innerhalb des gegenwärtigen Wirkens in der anthroposophischen Bewegung ansehen muß. Ich möchte sagen: die anthroposophische Bewegung ist uns in einer gewissen Weise über den Kopf gewachsen; aber das ist doch wiederum äußerlich, scheinbar der Fall, und es steht zu hoffen, daß aus den Kreisen unserer Freunde heraus

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immer mehr und mehr auch diejenigen kommen, welche die angedeutete Brücke bauen können. Ich mußte das vorausschicken, weil Ton und Sprache innerhalb des Esoterischen doch ganz verschieden sein müssen, wenigstens in den Formen, von dem, was vor die große ~ffentlichkeit so hintreten muß, daß eben in diesen Formen der Zeitkultur gesprochen wird. Denn das unmittelbar Esoterische würde durchaus nicht zu den Herzen der Zeitgenossen kommen können, die doch immer wieder und wiederum als vollständige Neulinge an die Bewegung herankommen. Uns aber muß es darum zu tun sein, allen, die seit Jahrzehnten teilnehmen an dieser Bewegung, und allen denjenigen, die etwas hören wollen über das Anthroposophische, dieses auch, so gut es eben möglich ist - ohne Popularität zu suchen - zugänglich zu machen. Das ist etwas, was wir uns alle mehr oder weniger in unsere Herzen schreiben sollen, denn ein jeder kann im allgemeinen auch ein solcher Mitarbeiter werden. Wenn wir jetzt, ich möchte sagen, aus dem Exoterischen in das Esoterische eintreten, so möchte ich gerade heute etwas besprechen, was unseren übrigen Veranstaltungen außerordentlich naheliegt. Wir sind ja genötigt, heute zu sprechen davon, was äußere Wissenschaft, äußere Physik, äußere Chemie, äußere Biologie, auch äußere Seelen- kunde werden können, wenn sie anthroposophisch durchdrungen werden. Dadurch allein wird die Brücke geschlagen zwischen dem, was Erkenntnis ist und dem religiösen Leben der Menschheit. Aber indem wir in dieser Weise untertauchen in das gegenwärtige Wissenschaftsleben, verlieren wir auf der anderen Seite in einem gewissen Sinn den Zusammenhang mit demjenigen, was doch geistig die Welt durchflutet und durchwallt und durchwebt. Wir müssen auch hinschauen auf die materiellen Gestaltungen des Lebens; aber in allen materiellen Gestaltungen ist zu gleicher Zeit Geistiges. Und der Mensch kann nicht ohne die Teilnahme an diesem Geistigen in den verschiedensten Gestaltungen des Lebens bestehen. Heute müssen wir begreifen, daß dieses Geistige nicht bloß aus den menschlichen Sehnsuchten heraus zur Welt sprechen will, sondern daß es etwas ist, was aus einer anderen Welt in unsere irdische Welt hereinfluten will. Begreifen müssen wir, daß überall gewissermaßen nicht von uns Menschen allein, sondern von

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einer sie umgebenden geistigen Welt die Fenster aufgemacht worden sind, durch welche diese andere Welt zu uns hereinfluten will. Das war noch anders im neunzehnten Jahrhundert. Es hat eine Anzahl von geistigen Mächten, die im Außerirdischen sind, den übermenschlichen Entschluß gefaßt, eine Welle geistigen Lebens auf die Erde hereinfließen zu lassen. Wir müssen unsere Zeitgeschichte auch so betrachten können, daß die Menschen, wenn sie nur empfangen wollen die geistige Welt, sie heute empfangen können. So daß die Aufgabe, Geistiges zu pflegen, heute eine überirdische Aufgabe ist, eine Aufgabe, die durchaus dem geistigen Leben selber angehört. Gerade so, wie in den Menschen dunkel die Sehnsucht erwacht, hinzukommen irgendwie zum Geistigen, so kommt - was auch noch im letzten Drittel des verflossenen Jahrhunderts oft nicht der Fall war - dieser Sehnsucht der Menschheit, wenn sie ein wirkliches Wollen äußert, eine Offenbarung aus geistigen Welten entgegen. Wenn wir dieses Gefühl bekommen können, dann haben wir die richtige Grundstimmung gegenüber dem anthroposophischen Leben. Aber gerade dadurch ist die Menschheit heute vor eine bedeutungsvolle Entscheidung gestellt, vor die Entscheidung, die an das Herz jedes einzelnen Menschen herandringt. Die Menschheit hat durch Jahrhunderte hindurch ihr intellektuelles Leben entwickelt. Dieses intell~ktuelle Leben hat sie allmählich herausgeführt aus der Geistigkeit. Der Intellekt ist Geist, ist sogar der allerreinste Geist, hat aber nicht mehr einen geistigen Inhalt, sondern sucht zu seinem Inhalt die äußere Natur, das äußere Naturdasein. So ist der Intellekt Geist, füllt sich aber mit etwas aus, was ihm nicht als Geist erscheinen kann. Das ist die große Tragik, das heutige Welttrauerspiel, daß der Mensch in sich hineinblicken kann und sich sagen muß Indem ich intellektuell tätig bin, bin ich geistig tätig, aber zugleich ohnmächtig, das Geistige unmittelbar in diesen Geist hereinzunehmen. Ich fülle diesen Geist mit dem Naturdasein aus. - Das zersplittert und verödet die menschliche Seele heute. Und wenn man diese Zersplitterung und Verödung auch nicht zugeben will, sie ist doch in den geistigen Regionen der menschlichen Seele vorhanden, und sie bildet das Grundübel und die Grundtragik unseres Zeitalters. Und wenn wir in einer uns gebräuchlichen

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Form zum Ausdruck bringen dasjenige, was ich eben jetzt gesagt habe, so muß das so getan werden, daß wir hinweisen auf alle diejenigen geistigen Mächte, die nun doch walten in allem Naturdasein, die in uns dadurch hereinkommen, däß wir unseren Geist erfüllen mit diesem Naturdasein. Diese Mächte können wir ahrimanische Mächte nennen. Und so ist der Intellekt der großen Gefahr ausgesetzt, den ahrimanischen Mächten zu verfallen. Diese ahrimanischen Mächte, sie haben, als der Intellekt sich entwickelt hat in den letzten Jahrhunderten, als er noch die Erbschaft des alten Geistigen hatte, noch nicht jene große Gewalt über den Menschen gehabt, wie sie sie heute haben. Scheinbar breitet sich das Naturdasein um uns herum aus. Aber dieses ist nur scheinbar: in dieser Natur lebt Ahriman. Und indem wir die Natur aufnehmen, glauben, sie sei bloß von neutralen Naturgesetzen beherrscht, nehmen wir in der Tat, ohne daß wir es wissen, geistige Mächte auf, ahrimanisch-geistige Mächte, jene ahrimanischen Mächte, welche sich eine bestimmte Aufgabe gesetzt haben innerhalb des Weltendaseins, der ganzen Weltenentwickelung. Nun aber, wenn man von einer solchen Aufgabe geistiger Mächte spricht, kommt der Mensch leicht dazu, zu sagen: Ja, warum läßt die göttliche Weltregierung solche Mächte zu? Und man muß erwidern: Dasjenige, was innerhalb des Irdischen ist, kann mit dem gewöhnlichen Verstand begriffen werden, wenn es sich aber geisteswissenschaftlich darum handelt, das, was über die Erde hinausgeht, zu erfassen, so muß das durch Anschauung geschehen. - Wir müssen also erwidern: Diese Mächte sind da, aber wie sie zusammenhängen mit dem, was wir die zu uns gehörigen göttlich-geistigen Mächte nennen, das ist etwas, was der Mensch erst im Laufe langer Zeiten begreifen wird, was vielleicht sich überhaupt dem Begreifen des Menschlichen entzieht, was begriffen werden muß eben von denjenigen Kräften, die dem Ubermenschlichen angehören. - So daß wir nur sagen können: Diese Mächte sind eben da, zeigen sich der Geist-Erkenntnis. Diese ahrimanischen Mächte aber haben zu ihrer Aufgabe diese: die Erde sich nicht weiter so entwickeln zu lassen - wie ich das in meiner «Geheimwissenschaft» dargestellt habe - wie die Erde sich entwickeln muß im Sinne der göttlich-geistigen Mächte, mit denen

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wir von Anfang an als Menschenseelen verbunden sind. Ich habe die künftige Entwickelung unserer Erde als die Jupiter- und Venus-Entwickelung angedeutet in meiner «Geheimwissenschaft». Diese Entwickelung zu verhindern, das setzten sich die ahrimanischen Mächte zur Aufgabe. Sie wollen die Erde in sich verhärten, in sich verfrieren lassen, die Erde so gestalten, daß mit dieser Erde zugleich auch der Mensch ein bloßer Erdenmensch bleibe, daß er gewissermaßen in der irdischen Materialität verhärtet und weiterlebt in die Zukunft der Welt hinein wie eine Art Bildsäule seiner Vergangenheit. Gewisse Weltenziele haben diese Mächte, welche das durchaus als ein Glied ihrer eigenen Bestrebungen erscheinen lassen. So also würde die Erde nicht an ihr Ziel kommen, wenn den ahrimanischen Mächten der Sieg zufallen würde, und der Mensch würde entfremdet werden von seinen Anfängen, von denjenigen Mächten, die gerade seine Entwickelung im Anfang bedingt haben. Der Mensch würde gewissermaßen äußerlich eine Gestaltung erfahren, die dem Irdischen noch voll angemessen ist, die aber seine Keimanlage unterdrücken würde, welche über das Irdische hinausgehen muß. Solange unser Intellekt, wie in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, noch im Geistigen wurzelte durch eine alte Erbschaft, so lange konnten an den Menschen diese ahrimanischen Mächte nicht heran. Das ist aber gerade seit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts anders geworden. Schon die altindische Weisheit hat das geahnt und hat den Ablauf des finsteren Zeitalters, des Kali Yuga, angesetzt mit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts, hat also ein neues Zeitalter geahnt. Mit diesem neuen Zeitalter sollte aber nichts anderes angedeutet werden, als daß es vom Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts an in die Herzen der Menschen gelegt ist, nicht an der alten Erbschaft festzuhalten, sondern das neue Licht, das reine Licht in unser irdisches Leben wirklich aufzunehmen. Wodurch aber kann dem Menschen dieses geistige Licht verlorengehen? Dadurch, daß er seinen Willen nicht hinlenkt nach dem Empfangen dieses Lichtes. Solange im Intellekt noch das alte Erbgut herrschte, konnte ihm das nicht so schädlich werden wie heute. In diesem Zeitalter hat er ausgebildet seine Anschauung über das Feste, das Flüssige, Luftförmige, auch über das Atherische. Er hat diese

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Ansicht ausgebildet so, daß er hinschaut auf das Irdische und seine Elemente, wie wenn diese gar nicht von Geist durchdrungen wären. Aber indem wir hinschauen auf Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff und so weiter, auf die uns überlieferten physikalischen Gesetze, bekommt gerade das Ahrimanische den richtigen Angriffspunkt innerhalb der Weltenentwickelung. Wir achten nicht darauf, daß in unserer ganzen Umgebung Geist ist; dadurch kann sich ohne unser Wissen das Ahrimanische in uns einschleichen und sich gerade desjenigen Geistigen bemächtigen, von dem wir nichts wissen wollen in unserer Umgebung. Daher müssen wir wissen lernen von dem Geistigen in unserer Umgebung. Wir dürfen nicht bloß reden von den festen Elementen, Natrium, Kalzium und so weiter, sondern von dem, was mit allem Festen, Irdischen als Geistiges verbunden ist. Da müssen wir sagen: Dasjenige, was uns in der Außenwelt als Festes, Irdisches entgegentritt, ist durchaus so geartet, daß Geist damit verbunden ist, und zwar ein Geist, welcher eine besondere Neigung zur Vielheit hat, so zur Vielheit sie hat, daß wir diese Vielheit gar nicht ermessen können. t3berall, wo wir hinschauen auf das Feste, da finden wir auch, wenn wir es in der richtigen Weise anschauen, Geistiges, und zwar viele und mannigfaltige geistige Wesenheiten. Eine alte instinktive Weisheit hat hier von Gnomen und dergleichen gesprochen. Wir brauchen, um nicht gar zu sehr zu schockieren, gar nicht diese alten Ausdrücke beizubehalten, wir können durchaus in einer Sprache reden, die uns geläufig ist, müssen aber dennoch hin- schauen auf das, was uns in gewissen Gegenden der Erde ganz besonders aus jedem Klumpen der Materialität als Geistiges entgegenleuchtet. Und wenn wir also, wie heute, etwas mehr esoterisch beisammen sind, dann darf es in dieser schnelleren Form ausgesprochen werden: Derjenige, der heutigen Tages mit geistiger Anschauung ausgerüstet ist, der tritt dann diesem Klumpen Erde so entgegen, daß geistige Wesenheiten herausspringen, die nicht im Physischen verkörpert sind, so daß wir sie mit äußeren Augen nicht sehen, die aber geistig wahrgenommen werden können. Und man kann sagen, sie sind so sehr auf die Vielheit hin angelegt, daß aus dem kleinsten Klumpen unermeßlich viele solcher Wesenheiten herausspringen können. Sie sind so

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geartet, daß sie fast ganz bestehen aus dem, was im menschlichen Verstand wirkt, sind listige, kluge, überverständige Wesen. So daß um uns herum waltet, ich möchte sagen, geistig-lebendige Klugheit, Listigkeit, schnelleres geistiges Erfassen als in intellektueller, verständiger Form, denn dieses wie zur Substanz gewordene Intellektuelle lebt in allem festen irdischen Element. Und ehe man nicht wissen wird, wie zusammenarbeiten diese geistigen Wesenheiten, die in dem festen irdischen Element sind, wird es auch keine wahre Chemie geben. Was wir heute als Chemie haben, dem kann Anthroposophie begreifend gegenüberstehen, aber die Wahrheit wird erst erfaßt werden, wenn das, was für übersinnliches Schauen faßbar ist, wenn Geistiges in all dem Irdischen gefunden werden kann. Da müssen wir dann den Willen haben, selbst die festesten Grundsäulen der Intellektualität bei menschlicher Besonnenheit zu verlassen. Wenn wir dem Irdischen gegenüberstehen, sei es was auch immer zu zählen haben: 1, 2, 3, 4..., so sind wir gewohnt, wenn wir bis vier gezählt haben, zu sehen, daß eben die Summe von vier vor uns liegt. Dasjenige, was wir aus Festem an geistigen Wesenheiten herauslösen, was uns in seiner Erpichtheit auf die Mannigfaltigkeit entgegentritt, das können wir beginnen zu zählen, aber dann stellt sich heraus, daß das gar nicht mehr drei oder vier ist, sondern schon sieben geworden ist: All unser Zählen verläßt uns bei dieser Gelegenheit. Innerhalb dessen, was die Menschheit als atomistische Welt kennt, kann man abzählen; innerhalb der wirklichen Welt ist alles auf eine viel größere Mannigfaltigkeit gestellt, da ist alles lebendig, da müssen wir gewahr werden, daß selbst unserem Zählen von der höheren Intelligenz Hohn gesprochen wird. Da müssen wir mit unserem Intellekt, trotzdem er bei Besonnenheit bleibt, nicht in die Gedankenflüchtigkeit hineinkommen, da müssen wir mit dem Intellekt voll gegenüberstehen demjenigen, was uns die Wirklichkeit bietet. Viele werden sagen: Wenn einem so etwas in der Wirklichkeit entgegentritt, da kann man ja wahnsinnig werden! - Deshalb wird eben die große Bedeutung darauf zu legen sein, daß, bevor der Mensch eintritt in diese Welt, er zur vollen Besonnenheit gekommen ist und die irdischen Verhältnisse mit aller Trockenheit zu beurteilen in der Lage ist.

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Wenn Sie bedenken, daß unser waches Leben nicht in der Ordnung sein kann, wenn wir nicht in der richtigen Weise schlafen, wenn Sie sich überlegen, daß dasjenige, was wir hier auf der Erde erleben, wie ein Schlaf ist gegenüber dem, was das Reale ist beim Eintreten in die geistige Welt, so müssen Sie sagen: Derjenige, der hier auf der Erde nicht voll feststeht, der trägt, wenn er hier phantastisch, spiritistisch und so weiter ist, krankhafte Elemente in das Geistige hinein. Und es ist so, wenn er sich in der geistigen Welt bewegt, wie wenn sich ein Mensch im wachen Zustand mit der Nervosität bewegt, die er aus einem kranken Schlafe bekommt. Das ist jedoch, was durch einheitliches harmonisches Streben durch alle anthroposophische Bewegung geht: Die anthroposophische Bewegung kann zu größerer Gesundung des Menschen führen, nicht aber zu einem Nicht-darinnenstehen im vollen Menschenleben zwischen Geburt und Tod. Aber wenn wir heraufdringen zu dem Flüssigen, so finden wir wiederum eine andere Art von geistigen Wesenheiten. Während mit unserem Verstande ähnlich sind die Elementarwesen des Festen, sind mehr unserem Gefühl ähnlich die Elementarwesen, die im Flüssigen leben. Wir stehen ja mit unseren Empfindungen außerhalb der Dinge. Der schöne Baum ist draußen, ich stehe hier, ich bin von ihm getrennt; ich lasse das, was er ist, in mich einfließen. Das, was an Elementar- wesen im Flüssigen ist, durchströmt den Baum in seinem Safte selber. Es strömt hinein mit seiner Empfindung in jedes Blatt. Es empfindet nicht nur von außen das Rot, das Blau, es erlebt innerlich diese Farbe, es trägt seine Empfindungen in alles Innerliche hinein. Dadurch ist wiederum das Empfindungsleben viel intensiver bei diesen geistigen Wesenheiten, als das sehr intensive Verstandesweben bei den Elem~ntarwesen des Festen. Und ebenso ist im Luftförmigen eine Summe von Elementarwesen enthalten. Alle diese Wesenheiten verlieren, je mehr sie sich dem Luftförmigen nähern, immer mehr und mehr ihre Sehnsucht nach Mannigfaltigkeit. Wir haben das Gefühl, daß selbst die Zahl uns nichts mehr hilft, indem wir zu dem Luftförmigen heraufdringen. Einheit wird erstrebt immer mehr und mehr. Dennoch leben in einer großen Mannigfaltigkeit - und verwandt mit dem menschlichen Willen

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die Elementarwesen der Luft. Mit dem menschlichen Verstand sind verwandt, innerlich verwandt, die Elementarwesen des Festen, mit dem menschlichen Gefühl die Elementarwesen des Flüssigen, mit dem menschlichen Willen die Elementarwesen des luftförmigen Elementes. Aber dieser ganze Chor von Wesenheiten, der ebenso um uns herum ist wie Steine, Pflanzen, Tiere und physische Menschen, dieser ganze Chor, der kann entweder offenbarend an uns herandringen, indem wir das Geistige heute willig aufnehmen, oder aber er kann sich unserem Bewußtsein verschließen. Wollen wir nichts wissen von der geistigen Welt, dann ist dieser ganze Chor verfallen den ahrimanischen Mächten, dann kommt das Bündnis zwischen Ahriman und den Naturgeistern zustande. Das ist heute das, was in der geistigen Welt schwebt als überragender Entschluß das Bündnis zustande zu bringen zwischen den ahrimanischen Mächten und den Naturkräften. Es ist sozusagen der Kompromiß im Werke zwischen den ahrimanischen Mächten und den Naturgeistern, und es gibt keine andere Möglichkeit, dies zu verhindern, als dadurch, daß sich die Menschen in ihrer Erkenntnis an die geistige Welt wenden und dadurch bekannt werden mit den Naturgeistern, ebenso wie sie bekannt wurden mit Sauerstoff, Stickstoff, Wasserstoff, Kalzium, Natrium und so weiter. Es muß also hingesetzt werden neben eine Wissenschaft des Sinnlichen, des Physischen, eine Wissenschaft des Geistes. Und zwar müssen wir mit dieser Wissenschaft des Geistigen absolut Ernst machen. Indem wir bloß in pantheistischer Weise herumreden vom Geist, kommen wir ihm nicht nahe. Wir dürfen nicht jene Mutlosigkeit haben, die sich davor zurückhält, von konkreten geistigen Wesenheiten zu reden. Wohin wäre die Menschenentwickelung gekommen, wenn zum Beispiel das Volk des Alten Testaments und andere Völker so mutlos gewesen wären, nicht zu sprechen von einzelnen geistigen Wesenheiten, sondern von einer verschwommenen allgemeinen geistigen Wesenheit in pantheistischer Weise? Für die Menschheit wurde der Übergang geschaffen in der Entwickelung, indem die katholische Kirche zu den Heiligen gegriffen hat, gewissermaßen dasjenige zum Ausgangspunkt ibrer Verehrung genommen hat, was als Geistig-Seelisches geblieben

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ist von den Menschen selber in der geistigen Welt. Sie legt das nach ihrer Art aus, ein tiefer Impuls liegt dem aber zugrunde. Wir müssen uns jedoch in die Lage versetzen, nicht nur im Menschen dar zu finden, was wir so in die geistige Welt versetzen können, sondern den Mut haben, in der ganzen Umgebung den Geist zu suchen, wie wir das Natürliche durch die Sinne suchen. Wenn wir das tun, dann kommen wir zu dem hinauf, was uns als Licht entgegentritt, als das die Welt durchpulsende Leben, da kommen wir hinauf zu den Wesen, die nach der Einheit streben, die eben gerade den Menschen dazu verführen, ein bloß Einheitliches in der Welt zu empfinden. Der Monotheismus ist entsprungen der Offenbarung der ätherischen Welt an die Erdenmenschheit. Aber indem wir zu diesen Lichtwesen hinaufgehen, zu den elementarischen Wesen des Athers, kommen wir zu einer anderen äußeren Welt. Diese Welt ist jedoch nicht nur im physischen Licht enthalten, sondern auch in demjenigen, was als Geistiges zu uns herniederströmt mit jedem Sonnenstrahl: Da finden wir solche Wesenheiten, wie wir sie in den irdischen Elementen finden. Aber in jenen ätherischen Elementen finden wir Wesenheiten, die nun wiederum die Menschheit nicht so mit der Erde verbinden wollen, wie es in der Absicht der ahrimanischen Mächte liegt, welche die Erde in ihrer Entwickelung aufhalten, sondern sie wollen den Menschen nicht zur vollen Erkenntnis des Irdischen kommen lassen, sie möchten dessen Entwickelung aufhalten, bevor die Erde an ihr Ziel gelangt. Die ahrimanischen Wesenheiten möchten die Erde so weit bringen als es ihren Zwecken dienlich ist; die anderen Wesenheiten sind darauf aus, das, was in der Menschheitsentwickelung vom Anbeginn veranlagt ist, nicht bis zur vollen Entfaltung kommen zu lassen, es in früheren Stadien festzuhalten. Da aber konnten sie den Entschluß fassen - und das ist der andere Entschluß, der uns entgegentritt, wenn wir hinauf- schauen in die höheren Sphären - eines Bündnisses nun zwischen Luzifer und den Elementarmächten des Atherischen. Während Ahriman mit seinen Mächten einziehen kann in die menschliche Wesenheit, wenn sich der Mensch der Erkenntnis des Geistigen verschließt, kann Luzifer mit den Mächten, die im Atherischen sind, in den Menschen einziehen, wenn der Mensch die rechte Vertiefung in sein Inneres versäumt.

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Und so stehen heute die feindlichen Mächte von oben und unten da vor dem Menschen. Und die Mächte, die in der Wärme leben, die im Wechsel von Sommer und Winter fluten, diese in der flutenden Wärme lebenden Feuergeister, die aber auch in unserem Blute leben, das uns mit Wärme durchpulst, die bilden die Vermittler zwischen dem luziferischen und ahrimanischen Element. Aber gerade so kreist in der äußeren Welt - nur nicht so unregelmäßig, wie es die Meteorologie darstellt, sondern so, wie unser Blutkreislauf ist -, so kreist in der Welt das Wärmeelement auf und ab, die Vermittlung bildend zwischen ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten. Und wir stehen darinnen in der Objektivität des Blutkreislaufes, in seinem Wärmewallen und Weben, wir stehen darinnen in dem Wogenden nicht nur dieser Elementargeister, sondern der ganzen elementarischen Welt. Wir kommen nur heraus, wenn wir uns in die geistige Welt mit voller Bewußtheit hineinleben. Wir können uns aber nur da hineinleben, wenn wir nicht davor zurückschrecken, dieser geistigen Welt wirklich unbefangen ins Auge zu schauen. Das aber tritt uns gerade als eine Schwierigkeit in dem gegenwärtigen Zeitpunkt unserer anthroposophischen Bewegung entgegen. Da tritt uns etwas entgegen in dieser anthroposophischen Bewegung, was, ich möchte sagen, das Fortleben dieser anthroposophischen Bewegung ganz besonders schwierig macht. Das möchte ich Ihnen an einem konkreten Beispiel andeuten, es könnte auch an jedem anderen Beispiel dasselbe angedeutet werden. Heute müssen wir durch das, was die Welt von uns fordert, sagen wir zum Beispiel auf dem Gebiet des Medizinischen, so sprechen, daß das, was wir aussprechen, anknüpft an die äußere Medizin. Da müssen wir davon reden, wie irgendwelche Krankheiten entstehen, mit welchen äußere materielle Naturmächte zusammenhängen; da müssen wir darstellen, wie zum Beispiel die Rachitis zusammenhängt mit dem, was an den Menschen herandringt als das Luftelement. Wir müssen das benützen, was heute aus der materialistischen Weltanschauung heraus die Statistik sagt: wir müssen abzählen, wieviel Menschen nach Norden und Süden leben. Wir werden uns dabei vielleicht gar nicht bewußt, in

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welches Element wir da untertauchen. Betrachten Sie dasselbe Element im Versicherungswesen. Wir können uns statistisch und müssen es statistisch ausrechnen, wie lang die wahrscheinliche Lebensdauer eines Menschen ist, damit er sich in eine Lebensversicherung einschreiben kann. Die Lebensversicherungen, in der äußeren physischen Wirklichkeit können sie ihre Tätigkeit nur entfalten dadurch, daß man ausrechnen kann die wahrscheinliche Lebensdauer des Menschen. Nehmen wir nun an, sie sei ausgerechnet. Wird irgendein Mensch sagen: Bis zu diesem Zeitpunkt, der da ausgerechnet worden ist, kann ich nur leben? - Kein Mensch wird sich das sagen, weil er sich bewußt ist dessen, daß da etwas in der Wirklichkeit ist, was aller Statistik Hohn sprechen kann. Indem wir das einsehen, müssen wir dennoch die Statistik gebrauchen, um sozusagen äußerlich im Einklang mit der Wissenschaft dieses oder jenes zu charakterisieren. Es ist dies ganz richtig, denn wir müssen heute so sprechen, daß es mit Wissenschaft übereinstimmt. Ich habe aber nun festgestellt: Die Rachitis kommt an den Menschen heran, indem er entfalten muß die Kräfte des unteren Menschen wie in einem tiefen Kellerloch, weil ihm die Kräfte des Lichtes entzogen sind. Aber da steht auf der anderen Seite, daß wir als geistig- seelische Wesenheiten heruntersteigen aus einer geistigen Welt und uns umkleiden mit dem Physischen. Dieses Umkleiden bedeutet nicht bloß, daß wir uns in einer beliebigen Weise einen Körper nehmen, sondern daß wir heruntersteigen in die Erde, in ein bestimmtes Volk, in eine bestimmte Familie hinein, weil wir eine Sympathie haben gerade zu den einzelnen Kräften, die in dieser Familie herrschen, die an diesem Orte herrschen. Bis in diese Einzelheiten hinein ist in den Sympathien der Seele das enthalten, was sie hinzieht zum irdischen Leben, bis in die Einzelheiten hinein ist in den Seelen enthalten, was sie hinzieht zu einem Leben, das sie als Kinder verleben müssen, vielleicht in einem Zimmer, das nach Norden liegt, oder in einem Zimmer, das nach Süden liegt. Das wird erstrebt von der Seele, daß sie sich unter Umständen in der Dunkelheit entfalten kann. Wir dürfen nicht sagen, daß wir nur hinschauen dürfen auf das eine, ob da Licht und Luft fehlt, sondern müssen hinschauen auf das Geistig-Seelische, das sich in diese Umgebung hineingesehnt hat. Daher müssen wir uns fragen:

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Können wir nur nach den physischen Voraussetzungen, die uns die physische Erkenntnis gibt, das heilen wollen, was uns da als Rachitis entgegentritt? Wir können es nicht, sondern müssen uns sagen: Wenn es uns gelänge, das Heilmittel so zu nehmen, daß der Mensch einfach physisch gesund würde, so müßte er noch in die tiefsten Tiefen seines seelischen Lebens zurückschieben dasjenige, was in seinem Schicksal liegt und weswegen er sich in die nicht-lichterfüllte Welt hineingesehnt hat. Und nur wenn es uns gelingt, auch das zu treffen, was sich in das Unterbewußte hinunterstellte, wenn wir den Menschen in die Lage setzen, zum Bewußtsein zu bringen, was er zu tun hat, nur wenn wir auf den ganzen Menschen nach Leib, Seele und Geist sehen können, nur dann können wir eine volle Wissenschaft auch des Medizinischen begründen. Sie müssen bedenken, daß wir in dieser Tragik gerade im gegenwärtigen Moment der anthroposophischen Bewegung darinnen leben, daß daher Widerspruch über Widerspruch innerhalb dieser anthroposophischen Bewegung gefunden werden kann, daß es ein Leichtes ist, einem das eine oder das andere vorzuwerfen. Aber gerade dadurch, daß man es wirklich in seiner Wahrheit anschaut, findet das eine und andere seinen Ausgleich. Daher haben diejenigen, die innerhalb unserer anthroposophischen Bewegung wirken, überall, wo sie anknüpfen an das Materielle, auch ihre geistigen Aufgaben. Daher müssen diejenigen, die Arzte werden, eben andere Menschen werden, aus einem anderen Geist heraus die Welt ansehen, sich nun nicht angewöhnen, dadurch, daß sie in die äußere Wissenschaft unter- tauchen, dieser immer ähnlicher und ähnlicher zu werden, sondern sie müssen sich gerade, wenn sie die Kompromisse, die nötig sind, mit ihr schließen, aus ihr erheben. Das ist das, was wir uns sagen können und auch sagen müssen, wenn wir eine Zeitlang innerhalb der anthroposophischen Bewegung gelebt haben. Und solche Schwierigkeiten wie die, welche ich jetzt geschildert habe, gibt es viele. Die sind nicht dazu da, daß man sie kritisch beleuchtet, sondern daß man sich vollends in sie hineinlebt und sie so zu verstehen lernt, daß an ihrer Stelle die völlige Harmonie sich ergibt. Und so müssen wir in allen Zweigen des Lebens in Wirklichkeit heute zusammenwirken. Wenn ein Lehrer der Waldorfschule einem

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Arzt des Klinisch-Therapeutischen Instituts heute etwas sagt, so ist das etwas anderes, als wenn sich andere Menschen draußen etwas sagen. Wenn ein solcher Lehrer sich ausspricht, so spricht er gewissermaßen das Hygienische des Seelischen aus, so spricht er aus demjenigen heraus, was man an den Kindern tun muß, um Heiler der Kinder zu sein. Da tönt dann etwas herauf, was wiederum ungeheures Licht werfen kann in den Kopf und in die Seele dessen, der sich im Klinisch- Therapeutischen Institut beschäftigt. Und umgekehrt: was in diesem Klinisch-Therapeutischen Institut entwickelt wird, muß hineingreifen in das, was die Waldorflehrer wirken. So muß seelische Harmonie sich entwickeln, die durch die Sache selbst gefordert wird. Wenn jeder Mensch für sich handelt, so entstehen Disharmonien. Wenn auf unserem Gebiet die einzelnen Menschen, die aus diesem oder jenem heraus wirken, nicht zusammengehen, sich nicht zusammenfinden, so entsteht gar nicht Anthroposophie innerhalb der Menschheit. Anthroposophie erfordert als Sache wirklich menschliche Brüderlichkeit bis in die tiefsten Tiefen der Seele hinein. Sonst kann man sagen: Ein Gebot ist die Brüderlichkeit. Bei Anthroposophie muß man sagen: Sie wächst nur auf dem Boden der Brüderlichkeit, sie kann gar nicht anders erwachsen als in der Brüderlichkeit, die aus der Sache kommt, wo der einzelne dem anderen das gibt, was er hat und was er kann. Das ist es aber, was uns von Grund auf immer mehr und mehr dazu führt, auch anderes einzusehen. Es ist ja heute dahin gekommen, daß im Grunde doch ernst hingesehen werden muß auf das Wort eines Basler Theologie-Professors, der ein Freund Nietzsches war, und der das Buch geschrieben hat, das auch auf Nietzsche einen so großen Eindruck gemacht hat, das Buch über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie. Hier spricht nicht ein Anthroposoph, auch nicht ein Atheist, hier spricht ein Mensch, der angestellt war an der Universität, um Theologie zu lehren. Und das Fazit dieses Buches ist ungefähr, daß Overbeck> der Verfasser, sagt: Es mag noch vieles Christliche geben unter den Menschen, die Menschen verhalten sich vielfach noch christlich, jedenfalls aber ist die Theologie nicht mehr christlich. - Das heißt, sie hat den wahren Christus-Begriff verloren, besonders da, wo sie aufgeklärte Theologie sein will. Das ist das Ergebnis, zu dem

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nicht ein ketzerischer Anthroposoph, sondern ein lehrender Theoldge der christlichen Kirche gekommen ist. Das ist das eine. Das andere ist das, was Ihnen schon gut bekannt ist - und nun nicht aus Tradition heraus, sondern aus der wirklichen Erkenntnis heraus -: die Stellung des Anthroposophen zum Mysterium von Golgatha. Das, was darüber zu sagen ist, Sie können es an den verschiedensten Stellen der sogenannten Zyklen finden. Das aber, was ich heute noch besonders sagen will, ist das Folgende: Wie wenig schaut gerade heute der aufgeklärte Theologe hin auf denjenigen, der als ein außerirdisches Christus-Wesen durch das Mysterium von Golgatha durchgegangen ist und nachher mit den Eingeweihten und Schülern verkehrt hat. Wie wenig schaut die Theologie auf denjenigen hin, der nach der Auferstehung lebte, noch sichtbar seinen eingeweihten Schülern! Aber derjenige, der sich der Anthroposophie nähert, er kann gerade allmählich zu einem Anschauen, zu einem lebendigen Anschauen dieses Mysteriums von Golgatha kommen und darauf kommen, was der Christus nach seiner Auferstehung seinen eingeweihten Schülern noch beigebracht hat. Und findet man sich in das hinein, dann wird einem auch immer mehr und mehr die geistige Welt um einen herum faßbar. Denn um das Mysterium von Golgatha selbst zu verstehen, ist ein geistiges Verständnis notwendig. Deshalb wird es den Menschen so schwer, das Mysterium von Golgatha zu verstehen, weil sie es materialistisch auffassen möchten. Vieles ist aber, was sogar noch fortlebt bei den ersten Kirchenvätern von demjenigen, was der Christus selbst seinen eingeweihten Schülern nach seiner Auferstehung gewährt hat. Und aus dem Vielen möchte ich heute nur dieses herausheben. Sehen Sie, die Menschheit vor dem Mysterium von Golgatha lebte ja durchaus in einer Art von Urweisheit. Wenn wir in die Anfangszustände der Erde gehen, haben wir ja nicht jenen primitiven Menschen, welcher mehr oder weniger tierisch war - das war er nur seinem äußeren Aussehen nach -, wir haben jenen primitiven Menschen, der vom göttlich-geistigen, übermenschlichen Wesen eine Urweisheit empfangen hat. Die da und dort wieder besonders betonte Urweisheit der Erde, die ist durchaus nicht eine Chimäre, sondern etwas, was

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vorhanden war. Die Menschen gingen von Weisheit aus, nicht von Unweisheit. Diese Urweisheit, die wir heute ganz besonders bewundern, wenn wir sie bewußt wiederfinden auf dem Boden der Anthroposophie, war eine mehr traumhafte. Die Menschen erlebten sie in Bildern, die nicht verbunden waren mit einem starken Ich-Gefühl. Eine Art von ungeheuer tiefgehender, man darf sagen, von den göttlich-geistigen Wesenheiten empfangenen Urweisheit steht im Beginn der Erdenentwickelung da unter den Menschen, die nach außen ein mehr tierisches Aussehen hatten. Die Menschen wußten von dieser Urweisheit nur in Bildern. Allerdings, wenn die Menschen einmal hineinschauen werden in das volle Gefüge des Natürlichen, dann werden sie auch über das Tierische anders urteilen, als sie heute urteilen. Dann wird man hinschauen zum Beispiel auf die wie gelähmt daliegende verdauende Schlange und wird sehen, daß in dem, was da bloß der Länge nach geringelt liegt, ein inneres Leben ist, das in Bildern wie in einem Weltentraum ungeheuer viel erlebt, so daß selbst die Verdauung der Schlange aus der Bilderwelt, aus dem Kosmos besorgt wird. Auch innerhalb des Ahrimanischen wird man das Geistige schon noch entdecken. Aber diese Urweisheit war eben eine traumhafte. Das bedingte, daß die Menschen etwas nicht im vollen Umfange fühlten, was heute der Mensch, einfach indem er auf die äußere Wahrnehmung hin organisiert ist, in seiner vollen Stärke empfindet: das ist der Tod. Obzwar unsere Vorfahren vom Anfang der Erde nicht tierische Vorstellungen über ihre Mitmenschen und sich selbst hatten, so hatten sie doch noch ganz und gar nicht jene Anschauung des Todes bis ins Innere der Menschenseele, welche die spätere Menschheit hat. Die Menschen lebten dahin, sie hörten zu leben auf, ohne daß sie irgendwie berührt wurden von diesem Aufhören des Lebens, aus dem Grunde, weil sie während des Lebens durch die Urweisheit das Hereinleuchten des Geistigen empfingen. Sie fühlten sich nie ganz heraus aus dem Geistigen. Daher erlebten sie das nicht als ein besonderes Ereignis, was der Tod ist, sondern nur als ein Abstreifen, wie das Abstreifen einer Schlangenhaut. Sie erlebten nicht den Tod mit der Schärfe, mit der eben wir den Tod erleben müssen. Das heißt, es sind, um den Tod so

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anzuschauen, wie ihn die neuere Menschheit anschauen muß, auch andere geistige Kräfte notwendig, als die Urmenschheit sie hatte. Aber das Rätsel des Todes in der Weise, wie es heute vor der Menschheit steht, es trat immer mehr und mehr hervor, war aber doch noch nicht ganz da in den alten Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha. Nun nahte es heran. Aber denken wir jetzt einen Augenblick, es wäre nicht gekommen, es wäre gar nicht das geschehen, was uns die Evangelien verkünden, nehmen wir diese Hypothese einmal an: dann wäre die Entwickelung der Menschheit so gekommen, daß der Mensch die Urweisheit immer mehr und mehr in das Unbewußte hinunter gedrängt hätte. Angeschaut würde er nur das Außere haben. Der furchtbare Tod mit allem übrigen, was das Anschauen des Todes im Gefolge hat, wäre vor der Menschheit trostlos gestanden. Und als das Jahrtausend, das Jahrhundert an die Menschenentwickelung der Erde heranrückte, in das dann das Mysterium von Golgatha gefallen ist, da stand dann immer mehr und mehr alles das vor der Menschenseele, was mit der Anschauung des Todes zusammenhing. Und das war es, was der auferstandene Christus seinen eingeweihten Schülern mitteilte. Er sagte ihnen: Der Mensch hat eine Urweisheit von den göttlich-geistigen Wesenheiten erhalten zu einer Zeit, als die Götter noch selber den Tod nicht gekannt haben. In der Urweisheit ist keine Anschauung vom Tode und von der Überwindung des Todes enthalten, denn innerhalb der göttlichen Welten war nur Metamorphose, war nicht der Tod. Ich aber, so sagte der Christus nach der Auferstehung, bin abgesandt worden von denjenigen, die dem Vatergott er- geben sind, um das auf der Erde zu erleben, was in der Götterwelt nicht erlebt werden kann: ich umkleidete mich mit einem physischen Leibe. - Er sagte nach der Auferstehung zu seinen eingeweihten Schülern, was sich aber dann fortpflanzte - erst im vierten Jahrhundert ist ja das Christentum veräußerlicht worden -: Ich bin heruntergestiegen, um eine Göttererfahrung vom Tod zu haben, damit die Götter wissen vom Tod, damit derjenige, der das Christentum in der Wahrheit ergreift, auch den Sieg alles Geistigen über das Irdische im Tod begreifen lerne. Dazumal ging der große Ruf an die Menschheit, so zu begreifen

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den Tod, daß dadurch sich gerade die Geistigkeit freimacht vom Menschen, nachdem sie eine Weile in der irdischen Welt war. Das aber ist dasjenige, was die Götter durch das Mysterium von Golgatha sich selber als Erkenntnis angeeignet haben. Das erhöhte Kreuz ist deshalb auch ein Ereignis innerhalb des Kosmos. Der Kosmos hat seine Angelegenheiten hier so abgewickelt, daß ein Wichtigstes auf der Erde geschehen ist. Das Kreuz ist nicht nur von der Erde aufgerichtet, das Kreuz ist heruntergesenkt auf die Erde, damit die Götter etwas, was sie in der Götterwelt abzumachen hatten, auf die Erde stellten, auf daß es die Menschen anschauen können. So muß der Mensch auch den wahrhaften Christus erkennen, während heute, wenn Sie die Theologie anschauen, die Christus-Anschauung verschwimmt. Sie können zum Beispiel bei Harnack überall den Christus-Namen ausstreichen und überallhin den allgemeinen Gottesnamen setzen, denn es wird nicht von dem lebendigen auferstandenen Christus gesprochen und dadurch das Mysterium von Golgatha nicht in seiner überirdischen Bedeutung erkannt. Wenn sich der Mensch mit dieser Bedeutung verbindet, dann bekommt er mehr und mehr die Vorstellung, daß die Geistigkeit zwar den Tod braucht, daß der Mensch aber sonst, wenn er nicht durch die Pforte des Todes immer wieder und wiederum gehen würde, nicht zu seiner vollen Entwickelung kommen könne. Es muß aber auch, nachdem für alle künftige Erdenentwickelung der Anfang gemacht worden ist, den Menschentod durch das Mysterium von Golgatha zu begreifen, noch weitergegangen werden. Wir müssen noch anderes begreifen. Um uns liegt heute die ganze tote Natur. Wir gratulieren uns förmlich, wenn wir diese Natur begreifen können. Wir möchten nicht die Steine nur, sondern auch die Pflanzen durch ihren Chemismus begreifen, und auch die Tierheit. Wir möchten das Tote in alles hineintragen. Und wenn die Menschen in ihrer heutigen Erkenntnis ein Ideal aufstellen, so ist es, an die Stelle des Lebens einen toten Mechanismus und Chemismus zu stellen. Sie möchten sagen können: Da ist eine Pflanze, die ganz kleine, winzige Prozesse entfaltet, die sich so zusammensetzen, daß wenn man hinschaut auf die Pflanze, einem das, was an einzelnen chemischen Prozessen erlebt wird, verschwommen

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erscheint, und das nennen wir dann Leben! Doch so ist es nicht, da ist wirkliches Leben drinnen. Wir müssen uns klar sein, daß um uns herum der Tod ist, und daß sich unsere Erkenntnis auf den Tod orientieren will. Wie aber das Christentum uns herausgerissen hat aus dem Verbundensein mit dem Tod, wie es uns gelehrt hat: derjenige, der nicht die Auferstehung begreift, der nicht den Christus als den Lebendigen begreift, der ist in seiner Seele selber tot - so müssen wir auch begreifen: Wenn wir uns nur mit dem Toten verbinden, dann werden wir selber tot und ahrimanisch, wenn wir aber den Mut haben und die Liebe zu allen Wesen um uns, das zu verbinden, was die Wesen selber sind, nicht, was unsere tote Idee von ihnen ist, dann finden wir den Christus überall, dann finden wir den Sieg des Geistes überall. Dann werden wir vielleicht noch sprechen müssen in einer Weise, wie es unseren Zeitgenossen paradox vorkommt, von den einzelnen Wesen, die im Festen, Flüssigen und so weiter leben, aber solange wir nicht davon sprechen, reden wir von einer toten, undurchchristeten Wissenschaft. Erst dann tun wir es nicht mehr, wenn wir uns entschließen, so von diesen Dingen zu reden, wie wir im wahren Christentum reden. So müssen wir auch alles Wissenschaftliche durchchristen, müssen das, was wir uns heranbilden können durch unsere Gemeinschaft mit dem Christus, in alles Wissen, alle Erkenntnis, in all unser Leben hinein- tragen. Dadurch aber wird das Mysterium von Golgatha erst wirklich fruchtbar gemacht durch Menschenkraft und Menschenstreben und Menschenliebe unter den Menschen selber. Und in diesem Sinn können wir sagen: Anthroposophie ist in allen Einzelheiten ein Streben nach der Durchchristung der Welt. Wir richten über uns auf das Zeichen des Christus. Wir können, indem wir hinschauen auf die äußere Natur, nur durch innere Krankhaftigkeit sagen: Da ist kein Gott in der Natur. Wenn wir aber mit wirklich sinnender Seele auf die Natur schauen, dann finden wir in ihr überall Gott, und wir sagen dann einfach aus der Natur heraus: Ex deo nascimur. Es ist eine Krankheit, wenn wir das in unserem innersten Wesen nicht sagen. Aber im Verlauf unseres Erdenlebens müssen wir durch unsere eigenen Seelenkräfte den Christus finden, sonst können wir

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nicht richtig sterben, weil das Leben im Sterben der neueren Menschheit nur der Christus vermittelt. Und es ist einfach eine Schicksalsfrage des menschlichen Lebens, ob wir den Christus in uns aufnehmen können, ob wir den Christus finden, ob wir das Mysterium von Golgatha verstehen lernen, ob wir in unserem innersten Wesen sagen lernen: In Christo morimur. So wie es eine Art von Krankheit des Menschen ist, nicht zum Vatergott kommen zu können, so ist es ein elendes Schicksal, nicht zum Sohnesgott zu kommen. Aber es ist zugleich eine Schwäche des Geistes, die daraus hervorgeht: denn durchdringen wir uns mit der Erkenntnis und Liebe zum Vatergott und Christus, dann wird in uns etwas auferweckt, was uns trotz allen Todes, trotz aller toten Natur in die lebendige Geistigkeit hineinführt. Und dann sagen wir durch die Kraft des Vatergottes, durch die Kraft des Christus-Gottes: Per spiritum sanctum reviviscimus, in dem Heiligen Geiste werden wir wiedergeboren. Und so schließt sich in klarer Erkenntnis, nicht aus dumpfem nebulosem Streben, das, was man wissen kann, in das Wort zusammen: Ex deo nascimur - aus Gott sind wir geboren. In Christo morimur - in Christo sterben wir. Per spiritum sanctum reviviscimus - durch den Heiligen Geist werden wir wiedererwachen im Geistselbst. HINWEISE

  1. G211-1986-SE219 Das Sonnenmysterium und das Mysterium von Tod und Auferstehung
  2. TI

HINWEISE

  1. TX

Textuntedagen: Die Vorträge wurden von verschiedenen Stenographen mitgeschrieben, die ersten sieben von der Dornacher Stenographin Helene Finckh. Die Stenogramme wurden von den Stenographen in Klartext übertragen, der dem Druck zugrundeliegt. Einige kleinere sinn gemalle Korrekruren gegenüber der Vorauflage ergaben sich bei der erneuten Prüfung des Tettes und bedürfen keiner besonderen Erklärung. Der Titel des Bandes und die Titel der Vortrage stammen nicht von Rudolf Steiner, aus genommen diejenigen der beiden halbeffentlichenVortrlge in I,ondon vom 14. und 15. April 1922. Die Titel der Vorträge, die früher als Einzelausgaben erschienen waren (vergleiche unten), stammen von Marie Steiner. Einzelausgaben Dornach 1. April 1922 , Dornach 1936 Den Haag 13. April 1922 , Dornach 1933 Ixlondon 24. April 1922 , Dorn. ach 1939 Wien 11. Juni 1922 , Dornach 1984, 2Witschnftenabdrucke Bern, 21. M1rz 1922 in 1929, 8. Jg. Nr.23-26, und in XX1II.Jg. Nr.1 (April 1961) Dornach, 24. Mirz 1922 in 1925, 4. Jg. Nr.23-25 Dornach, 25., 26., 31. Mar~z 1922 in 1928, 7. Jg. Nr.14-22, und in XxJII. Jg. Nr.2. 3 und 8 (Mai.juni, November 1961) Dornach, 1., 2. April 1922 in XXIII. Jg. Nr.9, 10-11 (Dezember 1961, Januar-Februar 1962). Werke Rudolf Steinerr innerhalb der Gesamtausgabe (GA) werden in den Hinweisen mit der Bibliographie.Nummer angegeben. zu Seite 43 Karl der Große, 742-814. 768 König der Franken, 800 Römischer Kaiser. Friedrich Barbarossa, Friedrich 1. von Hohenstaufen, um 1123-1190, deutscher König und Römischer Kaiser. 55 60 Franz Overbeck, 1837-1905, , 1873.

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69 Pistis Sophia: Titel einer dem Gnostiker Valentinus zugeschriebenen Schrift, die durch Askew nach England kam und erstmals 1851 in lateinischer Übertragung in Berlin veröffentlicht wurde. Siehe Carl Schmidt, «Koptisch-Gnostische Schriften>, Leipzig 1905, Bd. 71 So ihr nicht werdet wie die Kindlein...: Matthäus 18,3. 74 i der Christus in mir>: Paulus an die Galater 2,20. 82 Göttin Latona: Der römische Name von Leto, der Mutter Apollons und der Artemis. 83 Anstotetes... Definition der Tragödie: Poetik: (Zitiert nach Wilhelm Nestle, , KrönerVerlag, Leipzig). 87 Über Goethes Verhältnis zu Herder und Spinoza vergleiche Rudolf Steiner , 4 Vorträge in Srurtgart vom 21.-24. Mai 1921, 1.Vortrag, GA Bibl.-Nr.325. 89 Laokoon-Gruppe: Lessing: I,aokoon, oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, 1766. Goethe: Über Laokoon, 1798 (Schriften zur Kunst) sowie in Dichtung und Wahrheit, 11. Buch (Schluß) und Reise in die Schweiz, 1797, 14. Juli ff. 90 Saxo Grammaticus, ca. 1150-1220, dänischer Chronist. Gustav Rümelin, 1815-1889, Schriftsteller und Staatsmann: (3 Bände 1875-94). , Stuttgart 1866. Habe nun, Gott sei Dank...: Anspielung auf die Szene in I, Srudierzimmer () 103 Fritz Mauthner, 1849-1923. (3 Bände 1901-02). 107 Plato. 427-347 v. Chr. 122 we** ich von der Reite zuruckkomme, so wollen ..... betrachten: Rudolf Steiner: , neun Vorträge, Dornach 29. April bis 17. Juni 1922, GA Bibl.Nr.212. 123 Die Einleitung des Vortrages, betreffend Belange des Gesellschaftslebens, ist in der Gesamtausgabe vorgesehen für die Abteilung . Zum Vortrag selbst vergleiche auch die Ausführungen des Vortrages vom 7. Mai 1922 (siehe Hinweis zu Seite 122). 132 Pistis-Sophia: Siehe Hinweis zu S. 69. 138 letzte Vortiage: , sechsVorträge in Den Haag, 7.-12.April 1922, GA Bibl.-Nr.82. 221 141 zu den Londoner Vortragen: Die Nachschriften sind teilweise uneben und eventuell auch lückenhaft, jedoch im ganzen zu wertvoll, als daß auf sie verzichtet werden möchte. Zu der Veröffentlichung des dritten Londoner Vortrages - 14. April 1922 - schrieb Marie Steiner folgende Vorbemerkung: Nach langer Abwesenheit, infolge des Weltkrieges und der daran sich knüpfenden Ereignisse, besuchte Rudolf Steiner im April 1922 wiederum England. Es war die Einladung an ihn ergangen, Vorträge zu halten in Stratford, im Rahmen der Gesellschaft für anläßlich der Geburtstagsfeierlichkeiten zu Shakespeares Gedächtnis. Es konnten zwei Vorträge gehalten werden über , zwei andere über , und zwar durchaus aus dem Anthroposophischen heraus und in Anknüpfung an den ungeheuren erzieherischen Einfluß, den Shäkespeare auf Goethe gehabt hat. Goethe hat in bezug auf Shaltespeare den Ausspruch getan: Das sind keine Gedichte, da ist etwas wie das allgewaltige Schicksalsbuch, das aufgeschlagen vor einem liegt, wo der Sturmwind des Lebens die Blätter hin und wider wendet. - Die Vorträge konnten, wenn auch auf Grund einer etwas gekürzten Nachschrift, im (14. Jahrgang, 1935, Nr. 1-7) erscheinen. * Der Aufenthalt in Strarford, der eine Woche lang dauerte, wurde verschönt durch die Wanderungen zu den Stätten, die mit den Erinnerungen an den unsterblichen Dichter verknüpft sind, und durch den allabendlichen Besuch der Schauspiele, die dort mit viel weniger Auf~rand als in Deutschland, aber mit herzhaltem und gesundem Humor gespielt wurden und überaus erfrischend wirkten. In London hatten schon vor dem Besuch in Strarford öffentliche Vorträge stattgefunden. Er sprach über folgende Themen: am 14. April über ; am 15. April über . Nach der Rückkehr von Stratford sprach Rudolf Steiner noch einmal in London - nur für Mitglieder - über die drei Aspekte der Sonne und den auferstandenen Christus. Der Vortrag ist knapp gehalten, da er in drei Teilen gegeben wurde und, wie alles andere in England Gesprochene, übersetzt werden mußte. Die Nachschrift zeigt manche Unebenheiten. Doch ist der Inhalt ein so gewaltiger, daß wir ihn in die Reihe jener esoterischen Vorträge einfügen, die unserm ausgedörrten modernen Verstand das Licht der Osterbotschaft wiederum haben bringen können. Rudolf Steiner hat uns ja erst die Möglichkeit des Verständnisses für das Mysterium der Auferstehung wieder gegeben. 182 Julianus der Apostat, 331-363, eigentlich Flavius Claudius Julianus, von den Christen , der Abtrünnige genannt. 183 Persönlichkeit ... aus dem Römertum: Jwtinian, oströmischer Kaiser von 527-565, schloß 529 die Philosophenschulen in Athen, worauf die sieben letzten athenischen Philosophen das Römische Reich verließen und nach Persien auswanderten. Vergl. Ernst von LasauIx , 1854. 191 John Hen,y Newman, 1801-1890, ursprünglich anglikanischer, dann katholischer Geistlicher und Theologe. bedeutenden Ausspruch: Erwähnt in dem Werk von C. G. Harrison, «The Transcendental Universe>, London 1894, Einleirung.

  • Shakespeare und die neuen Erziehungsideale. Zwei Vorträge, Stratford 19., 23. April 1922, jetzt in , GA Bibl.-Nr.304.

222 191 im zweiten Teil: Der Vortrag wurde in mehreren Teilen ins Englische übersetzt. 192 meine Mysterienspiele: (1910-1913), GA BibI.-Nr. 14. 194 dieses Zusammensein, auf das wir warten mußten: Vergleiche hierzu Hinweis zu Seite 141. 211 K1inisch-Therapeutisches Institut: Jetzt Ita Wegman-Klinik in Arlesheim bei Dornach, gegründet 1921 von der Ärztin Dr. Ita Wegman. Overbeck: Siehe Hinweis zu Seite 60. 215 Adelf Harnack, 1851-1930, , 1900. 223 ÜBER DIE VORTRAGSNACHSCHRIFTEN

Aus Rudolf Steiners Autobiographie

Es liegen nun aus meinem anthroposophischen Wirken zwei Ergebnisse vor; erstens meine vor aller Welt veröffentlichten Bücher, zweitens eine große Reihe von Kursen, die zunächst als Privatdruck gedacht und verkäuflich nur an Mitglieder der Theosophischen (später Anthroposophischen) Gesellschaft sein sollten. Es waren dies Nachschriften, die bei den Vorrtägen mehr oder weniger gut gemacht worden sind und die - wegen mangelnder Zeit - nicht von mir korrigiert werden konnten. Mir wäre es am liebsten gewesen, wenn mündlich gesprochenes Wort mündlich gesprochenes Wort geblieben wäre. Aber die Mitglieder wollten den Privatdruck der Kurse. Und so kam er zustande. Hätte ich Zeit gehabt, die Dinge zu korrigieren, so hätte vom Anfange an die Einschränkung nicht zu bestehen gebraucht. Jetzt ist sie seit mehr als einem Jahre ja fallen gelassen. Hier in meinem ist notwendig, vor allem zu sagen, wie sich die beiden: meine veröffentlichten Bücher und diese Privatdrucke in das einfügen, was ich als Anthroposophie ausarbeitete. Wer mein eigenes inneres Ringen und Arbeiten für das Hinstellen der Anthroposophie vor das Bewußtsein der gegenwärtigen Zeit verfolgen will, der muß das an Hand der allgemein veröffentlichten Schriften tun. In ihnen setzte ich mich auch mit alle dem auseinander, was an Erkenntnis- streben in der Zeit vorhanden ist. Da ist gegeben, was sich mir in immer mehr gestaltete, was zum Gebäude der Anthroposophie - allerdings in vieler Hinsicht in unvollkommener Art - wurde. Neben diese Forderung, die aufzubauen und dabei nur dem zu dienen, was sich ergab, wenn man Mitteilungen aus der Geist-Welt der allgemeinen Bildungswelt von heute zu übergeben hat, trat nun aber die andere, auch dem voll entgegenzukommen, was aus der Mitgliedschaft heraus als Seelenbedürfnis, als Geistessehnsucht sich offenbarte. Da war vor allem eine starke Neigung vorhanden, die Evangelien und den Schrift-Inhalt der Bibel überhaupt in dem Lichte dargestellt zu hören, das sich als das anthroposophische ergeben hatte. Man wollte in Kursen über diese der Menschheit gegebenen Offenbamngen hören. 224 Indem interne Vortragskurse im Sinne dieser Forderung gehaften wurden, kam dazu noch ein anderes. Bei diesen Vorträgen waren nur Mitglieder. Sie waren mit den Anfangs-Mitteilungen aus Anthroposophie bekannt. Man konnte zu ihnen eben so sprechen, wie zu Vorgeschrittenen auf dem Gebiete der Anthroposophie. Die Haltung dieser internen Vorträge war eine solche, wie sie eben in Schriften nicht sein konnte, die ganz für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Ich durfte in internen Kreisen in einer Art über Dinge sprechen, die ich für die öffentliche Darstellung, wenn sie für sie von Anfang an bestimmt gewesen wären, hätte anders gestalten müssen. So liegt in der Zweiheit, den öffentlichen und den privaten Schriften, in der Tat etwas vor, das aus zwei verschiedenen Untergründen stammt. Die ganz öffentlichen Schriften sind das Ergebnis dessen, was in mir rang und arbeitete; in den Privatdrucken ringt und arbeitet die Gesellschaft mit. Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge. Es ist nirgends auch nur in geringstem Maße etwas gesagt, was nicht reinstes Ergebnis der sich aufbauenden Anthroposophie wäre. Von irgend einer Konzession an Vorurteile oder Vorempfindungen der Mitgliedschaft kann nicht die Rede sein. Wer diese Privatdrucke liest, kann sie im vollsten Sinne eben als das nehmen, was Anthroposophie zu sagen hat. Deshalb konnte ja auch ohne Bedenken, als die Anklagen nach dieser Richtung zu drängend wurden, von der Einrichtung abgegangen werden, diese Drucke nur im Kreise der Mitgliedschaft zu verbreiten. Es wird eben nur hingenommen werden müssen, daß in den von mir nicht nachgesehenen Vorlagen sich Fehlerhaftes findet. Ein Urteil über den Inhalt eines solchen Privatdruckes wird ja allerdings nur demjenigen zugestanden werden können, der kennt, was als UrteilsVoraussetzung angenommen wird. Und das ist für die allermeisten dieser Drucke mindestens die anthroposophische Erkenntnis des Menschen, des Kosmos, insofern sein Wesen in der Anthroposophie dargestellt wird, und dessen, was als in den Mitteilungen aus der Geist-Welt sich findet.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.