GA 209

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DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE NORWEGENS UND SCHWEDENS Erster Vortrag, Kristiania (Oslo), 24. November 1921

#G209-1968-SE009 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE

NORWEGENS UND SCHWEDENS

Erster Vortrag, Kristiania (Oslo), 24. November 1921

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Da ich wiederum hier unter Ihnen sein darf, begrüße ich Sie in der allerherzlichsten Weise, in einer Art, die wirklich tief innerlich gefühlt ist. Es wird begreiflich sein, daß heute dieser mein Willkommensgruß noch eine besondere Färbung dadurch haben muß, daß wir leider so lange nicht hier zusammensein konnten. Aber ich denke, wenn wir in dieser Zeit auch räumlich getrennt waren, die Herzen, die sich ja im Aufblick zu den höheren Welten zusammengefunden haben, die fühlten sich in der ganzen schweren Zeit eben durchaus zusammengehörig, und aus dieser Zusammengehörigkeit heraus möchte ich Sie ganz besonders be­grüßen. Es war ja wirklich eine schwere Zeit, die wir durchgemacht haben, allein zu gleicher Zeit eine Zeit der Prüfung, eine Zeit, aus der nur dann Günstiges hervorkommen kann, wenn sie als eine Prüfungszeit in weitesten Kreisen aufgefaßt wird. Auch ich muß heute der Vor­träge gedenken, die ich hier an derselben Stelle vor Jahren, vor der Katastrophe, vor Ihnen halten durfte. Diejenigen von Ihnen, welche sich in einer etwas intensiveren Weise auf manches besinnen werden, was in diesen Vorträgen da oder dort eingestreut worden ist, werden in diesen Einstreuungen gar wohl finden, wie stark doch der Hinweis in jenen Vorträgen war auf die furchtbare Zeit, der man damals entgegen­ging, und in der wir heute - ich sage nicht, daß wir sie überwunden haben, aus vollem Bedacht heraus - eben darinnenstehen. Ich habe vor Ihnen hier die Vorträge gehalten über europäische Völkerseelen, und ich möchte in Erinnerung daran, damit Sie vielleicht noch verstärkt empfinden können, wie diese Vorträge gemeint sind, eine kleine Episode hier einleitungsweise erzählen.

Es war im Januar 1918. Da hatte ich eine Unterredung in Mittel­europa mit einer Persönlichkeit, die dann, als für Mitteleuropa die Katastrophe eine gefährliche Gestalt annahm, im Herbste desselben Jahres innerhalb der katastrophalen Ereignisse eine kurze, aber bedeutsame

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Rolle spielte. Diejenigen, welche die Ereignisse verfolgen konnten, wußten aber schon im Januar, daß, wenn es einmal zur Entscheidung kommen werde, gerade diese Persönlichkeit eine gewisse Rolle spielen würde. Schon im Januar also hatte ich ein Gespräch mit dieser Persön­lichkeit. Dieses Gespräch führte auch darauf, daß von seiten dieser Per­sönlichkeit bemerkt wurde, wie notwendig es eigentlich sei, eine Psycho­logie, eine Seelenkunde der europäischen Völker zu haben; denn das große Chaos, in das man hineinsegelt, werde fordern, daß diejenigen, die einigermaßen führend sein wollen, sich auskennen in der Wirksam­keit, in den Kräften der europäischen Völkerseelen. Und es wurde von dieser Persönlichkeit sehr bedauert, daß eigentlich keine Möglichkeit sei, bei der Behandlung der öffentlichen Angelegenheiten so etwas wie eine Seelenkunde der Völker zugrunde legen zu können. Ich erwiderte, daß ich über diese Seelenkunde der europäischen Völker hier in Kris­tiania einen Vortragszyklus gehalten habe, und ich habe dann dieser Persönlichkeit diesen Vortragszyklus mit einer aus der damaligen Situa­tion - Januar 1918 - heraus geschriebenen Vorrede geschickt. Ja, ich kann nur durch die Erzählung dieser Episode darauf aufmerksam machen, wie dieser Vortragszyklus dazumal gemeint war. Er sollte wirklich richtunggebend sein gegenüber den in die Verwirrung hinein­steuernden Kräften. Deshalb mußte ich ihn auch 1918 in dieser eben erzählten Weise gebrauchen. Genützt hat es allerdings nichts. Genützt hat es - trotz der aus der Situation heraus geschriebenen Vorrede - aus dem Grunde nichts, weil jene Reife, die notwendig wäre, um wirklich einzusehen, wie stark die Niedergangskräfte sind, die Reife, die schon in einer großen Anzahl von Seelen da wäre, eben von diesen Seelen nicht bewußt angestrebt werden will. Man hat heute eben noch eine große Furcht davor, sich das, was an in das Chaos hineinsteuernden Kräften wirklich vorhanden ist, in wahrer Gestalt vor die Seele zu rufen. Die Menschen mögen es so gern, statt auf diese wahre Gestalt der Niedergangsströmungen hinzuschauen, sich allerlei Nebelgebilde vor das geistige Auge zu setzen, und sie glauben dann, wenn sie diesem Nebelgebilde sich hingeben, können sie eben beruhigt weiterleben. Das kann natürlich derjenige nicht, der solche Nebelgebilde nicht haben will, und sich der wahren Wirklichkeit gegenüberstellt.

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Es war tatsächlich gerade hier in Norwegen eine gewisse Schicksals­notwendigkeit, über die Beziehungen der europäischen Völkerseelen zu sprechen. Sie werden sich erinnern, daß ich auch, mehr oder weniger ausführlich, eine gewisse Bemerkung in den verschiedenen Variationen durch die Jahre hindurch gemacht habe. Ich habe nämlich aufmerksam gemacht, daß schon einmal eine europäische Zeit kommen werde, in der es sehr notwendig sein wird, daß diese europäische Ecke hier, diese nor­wegische Ecke ganz besonders, Menschen zu ihren Bewohnern zähle, die im vollsten Sinne des Wortes mit dem wahren Fortschritt der Menschheit sympathisieren und ihre Kräfte - insoweit es gerade in einer solchen geographischen Ecke nötig und möglich ist - für diesen Menschheitsfortschritt einsetzen sollten. Vieles kann hier reifen durch das Entrücktsein gegenüber den andern europäischen Verhältnissen. Aber es muß auch das, was hier reifen kann, nach und nach wirklich Frucht werden. Frucht werden muß vor allen Dingen ein wirklich lebendiges Geistesleben. Das ist schließlich auch der Grund, warum dieser anthroposophische Zweig hier seinen Namen trägt, den wir vor Jahren auch hier besprochen haben.

Auch vor Ihrem geistigen Auge ist ja mancherlei vorübergezogen während der Jahre, da wir uns nicht gesehen haben, während der Jahre der großen europäischen Katastrophe. Aber es heißt doch noch etwas ganz besonderes, innerhalb dieser Katastrophe zu stehen. Die ganze Bedeutung dieser Katastrophe konnte eigentlich doch nur demjenigen voll ins Gemüt sich schreiben, der, man möchte sagen, wenigstens durch Zeiten mitten drinnenstand. Es ist eigentlich schwer, in der Menschensprache ein Wort zu finden, welches diese Katastrophe in völlig adäquater Weise charakterisieren könnte. Man wäre versucht, das Wort «sinnlos» zu sagen, weil es in der Tat fast so ist, daß dasjenige, was innerhalb der Gebiete des öffentlichen Lebens die europäische Mensch­heit bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat, in eine Art Sinnlosigkeit ausgelaufen ist. Denn eine Art Sinnlosigkeit war das Treiben in den Jahren von 1914 bis 1918, und seither ist es nicht viel anders geworden. Nur das ist anders geworden, daß sich dieses sinnlose Treiben der äußeren materialistischen Welt nicht in so hervorstechender Art vor dem äußeren Auge zeigt, wie es sich in den eigentlichen Kriegsjahren

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gezeigt hat. Es sollte heute mehr, als es den Europäern klar ist, einleuchtend sein, daß Europa immer mehr und mehr verfallen muß, wenn es sich nicht auf die spirituelle Grundlage des Menschenlebens besinnt, wenn es weiter aus reiner Bequemlichkeit beiseite schiebt, was doch zuletzt so gemeint ist, daß es, aus den antispirituellen Wirren herausführend, Hilfe bringt.

Für mich war tief symbolisch dieses Beiseiteschieben meines nordi­schen Völkerpsychologiekursus durch eine der führenden Persönlich­keiten während der sinnlosen Zeit. So wird im Grunde noch heute von denen, die tonangebend sind, alles beiseite geschoben. In Europa sollte man sich aber besinnen, daß schließlich das Wort, das ahnungslos ein englisch-afrikanischer Staatsmann gesprochen hat, für die öffentlichen Angelegenheiten doch das bedeutendste Wort ist. Es ist nicht aus einer besonderen Tiefe heraus gesprochen, aber immerhin aus einem gewissen Gefühle, wie die Angelegenheiten der Menschheit sich in der Gegenwart gestalten. Dieser Staatsmann hat gesagt: Der Zentralpunkt der weltgeschichtlichen Perspektive ist hinweggerückt von der Nordsee, von Eu­ropa überhaupt, und ist verschoben worden nach dem Stillen Ozean. - Man könnte auch sagen: Wofür in Europa bisher eine Art von Mittel­punkt war, das hat im Grunde genommen aufgehört. Wir leben heute innerhalb seiner Reste. Was an die Stelle getreten ist, sind große Weltangelegenheiten, die sich zwischen dem Orient und dem Okzident ab­spielen. Und was heute ahnungslos verhandelt wird in Washington, das ist doch eben nur das ahnungslose Gestammel, das an die Oberfläche getrieben wird auch von jenen Tiefen her, in denen sich für so viele heute noch unvermerkt die großen Menschheitsangelegenheiten ab­spielen.

Ruhe auf der Erde wird nicht sein, bevor eine gewisse Harmonisie­rung der großen okzidentalen und orientalen Angelegenheiten sich wird abgespielt haben. Aber es gibt heute noch keine Einsicht dahingehend, daß sich diese Harmonisierung abspielen muß zunächst auf geistigem Gebiete. Man möge sich noch so sehr unterhalten über Abrüstungsfragen und ähnliche luxuriöse Angelegenheiten gegenüber der heutigen schweren Zeit, das werden luxuriöse Angelegenheiten, schöne Unter­haltungen zunächst bleiben, so lange nicht innerhalb der westlichen

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Welt gefunden wird jene Spiritualität, welche enthalten ist, nur nicht gesucht wird in unserer ganzen Kulturentwickelung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts. Es ist schon ein Schatz innerhalb dieser Kulturentwickelung enthalten.

Wir haben eine großartige naturwissenschaftliche Weltanschauung gewonnen, wir haben eine großartige Technik gewonnen. Wir haben das alles heute um uns. Das alles ist im Grunde genommen großartig, aber tot, tot gegenüber den großen Menschheitsentwickelungsströmun­gen. Aber in diesem Toten ruht ein Lebendes, ein Lebendes an Spiritua­lität, was glänzender sich in der Welt entwickeln kann als alles das­jenige, was jemals in orientalischer Weisheit, die wahrhaftig nicht verkleinert werden soll, vor die Menschen getreten ist. Ja, für den un­befangenen Beobachter gibt es dieses Gefühl, das ich Ihnen jetzt schil­dern möchte.

Man kann hinschauen auf die großen Weisheitsschätze des Orients, die ja nur im Abglanz vorhanden sind in den Veden, in der wunder­baren Vedantaphilosophie und so weiter. Man kann voller Enthusias­mus sein für dasjenige, was da wie aus Himmelshöhen der Menschheit geoffenbart worden ist, was nach und nach allerdings in die Dekadenz gekommen ist, was aber selbst noch in dem dekadenten Zustande, in dem es heute im Orient lebt, eine gewisse Bewunderung hervorrufen kann, wenn man für so etwas einen Sinn hat.

Dem gegenüber steht die rein materielle Kultur des Westens: Europas und Amerikas. Auch diese rein materielle Kultur und die rein materielle Denkweise sollen nicht herabgesetzt werden. Aber gesagt muß werden, daß zunächst das, was uns da an materieller Kultur entgegentritt, sich ausnimmt wie eine harte Nußschale, wie eine absterbende Nußschale. Aber darinnen ist doch die Nuß. Und läßt sich diese Nuß finden, dann wird das, was zutage tritt, überstrahlen alles das, was einstmals an orientalischem Weisheitslichte in die Menschheit gekommen ist. Aber täuschen Sie sich nicht darüber, daß die Sache so ist: Solange die Euro­päer und Amerikaner mit den Asiaten sich nur um wirtschaftliche Interessen unterhalten, so lange wird niemals Vertrauen unter den Asiaten Platz greifen, und man wird sich lange über Abrüstungsfragen und wie schön es wäre, wenn keine Kriege geführt würden, unterhalten

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können. Der große Krieg wird geführt werden zwischen Asien und dem Westen trotz aller Abrüstungskonferenzen, wenn nicht eines eintritt, wenn nicht die Asiaten vom Westen herkommend etwas sehen, was Geist des Westens ist, der ihnen deshalb leuchten kann und zu dem sie Vertrauen werden haben können, weil sie dafür Verständnis haben aus ihrer eigenen, obzwar in die Dekadenz gekommenen Geistigkeit heraus. An dem Verständnis dieser Sachlage hängt der Friede der Welt, nicht an jenen Unterhaltungen, die heute die äußeren Führer der Mensch­heit pflegen.

Alles liegt heute an der Einsicht, daß es auf den Geist ankommt, der innerhalb der europäisch-amerikanischen Kultur verborgen ist, den man flieht, den man aus Bequemlichkeit nicht haben will, der aber doch einzig und allein die Menschheit zu Aufgangskräften führen kann. Man möchte sich eben den Nebel vor die Augen machen, indem man sich immer wieder und wiederum sagen will: Es werden schon die Zeiten von selber besser werden. - Nein, die Stunde der großen Entscheidung ist da. Entweder werden sich die Menschen entschließen, die Spirituali­tät zu heben, von der ich eben gesprochen habe, oder der Untergang des Abendlandes ist sicher. Kein Hoffen, kein fatalistisches Ersehnen eines von selbst kommenden Besseren kann helfen. Die Menschheit ist einmal in die Epoche der freien Benützung ihrer Kräfte eingetreten, und die Menschheit muß diese freien Kräfte wirklich handhaben. Das heißt, die Menschheit muß selber entscheiden, ob sie die Spiritualität haben will, oder ob sie sie nicht haben will. Wird sie sie haben wollen, dann wird ein Fortschritt der Menschheit möglich sein. Wird sie sie nicht haben wollen, dann ist der Untergang des Abendlandes besiegelt, dann wird unter den furchtbarsten Katastrophen eine ganz andere Fortentwicke­lung der Menschheit stattfinden müssen, als sich viele heute träumen lassen. Aber man darf, wenn man eine solche Einsicht gewinnen will, nicht vorübergehen an der Betrachtung des Seelenlebens des Menschen überhaupt, und an der Betrachtung des Seelenlebens der verschiedenen Völker, namentlich des Seelenlebens der orientalischen und der okzi­dentalen Völker.

Das lag meinen verschiedenen Bemerkungen, die ich hier gemacht habe, zugrunde, daß ich allerdings meine, wenn gerade in dieser europäischen

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Ecke dasjenige gehoben wird, wozu der nordische Geist ganz besonders veranlagt ist, dann kann hier eine Einsicht reifen, die wie­derum befruchtend wirken kann auf die übrige abendländische Welt. Und man wird eigentlich eine spirituelle Bewegung nur dann ganz ernst nehmen können, wenn man ihr in dem Sinne, wie ich es eben angedeutet habe, eine Mission zuschreiben will mit Verständnis, die in dieser Rich­tung gelegen ist.

Es ist ja doch so, daß unsere neuere Zivilisation alles, was außerirdisch ist, wissenschaftlich nur wie eine mathematisch-mechanische Angelegenheit betrachtet. Wir richten unsere Teleskope nach den Ster­nen. Wir prüfen die Substanz der Sterne mit dem Spektroskop und so weiter. Wir verwandeln das, was wir auf diese Weise beobachten, in Rechnungsansätze und kommen auf diese Art endlich zu der großen Weltmaschinerie, in welcher auch unsere Erde wie ein Rad eingespannt ist. Wir machen uns allerlei phantastische Gedanken über die Bewohn­barkeit anderer Welten, schreiben aber selbst diesen Phantasmen keine große Bedeutung zu, sondern beschränken uns darauf, durch mehr oder weniger mathematisch-mechanisch-physikalische Formeln auszudrük­ken, was den Raum außerhalb der Erde ausfüllt. Und die Menschheit hat sich allmählich darauf beschränkt, sich innerhalb der Erdenangele­genheiten so zu fühlen, wie sich, wenn er eine menschliche Seele hätte, etwa der Maulwurf in seinem Loch während des Winters fühlen würde. Ein Maulwurfsloch im Weltenall ist eigentlich für die Menschheit die Erde geworden. Man blickt heute mit einer gewissen Überlegenheit auf die kindlichen Zeiten zurück, wo etwa im alten Ägypten die Menschen nicht von der großen Weltmaschinerie, sondern von göttlich-geistigen Wesenheiten gesprochen haben, welche draußen im Raume und auch außerhalb des Raumes sind, und mit denen der Mensch ebenso verwandt ist wie mit den Wesen, welche die Erde in den drei Reichen der Natur bewohnen.

Der alte Ägypter hat zurückgeführt das Geistig-Seelische des Men­schen ebenso auf die höheren Hierarchien, auf die übersinnlichen Rei­che, wie er das Leiblich-Physische des Menschen zurückgeführt hat auf die drei Reiche der Natur, das mineralische, das pflanzliche, das tie­rische Reich. Heute spricht man von dem Außerirdischen höchstens in

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Form eines blassen und immer mehr verblassenden Glaubens, der keine wissenschaftliche Betrachtung dulden möchte. Wissenschaftlich spricht man nur wie von der großen, durch mathematische Formeln ausdrück­baren Weltmaschinerie. Und alles dasjenige, wofür man sich als die menschlichen Angelegenheiten interessiert, soll sich erschöpfen inner­halb der menschlichen kosmischen Maulwurfshöhle, zu der endlich das Erdendasein gegenüber dem Kosmos geworden ist.

Aber es kann nicht scharf genug ausgesprochen werden, daß es eine tiefe Wahrheit ist: Wenn der Mensch den Himmel verliert, verliert er sich selbst. Denn es ist einmal so, daß eben der wichtigste Teil der Men­schenwesenheit dem Außerirdischen angehört. Verliert man dieses aus dem Gesichtskreise, dann verliert man aus dem Gesichtskreise auch die eigentliche Menschenwesenheit. Man irrt dann auf der Erde herum, ohne daß man weiß, was man eigentlich für ein Wesen ist. Und so irrt im Grunde genommen heute der Mensch auf der Erde herum. Er weiß eigentlich nur noch aus Überlieferung, daß das Wort «Mensch» ihn bedeutet, daß man einmal einem solchen Wesen, das gegenüber den vier­füßigen Tieren aufrecht geht, den Namen Mensch gegeben hat. Aber aus seiner jetzigen wissenschaftlichen Weltanschauung, aus seiner tech­nischen Kultur heraus, weiß er dem Menschennamen keinen wirklichen Inhalt mehr zu geben. Er müßte ja den Inhalt vom Außerirdischen nehmen, das Außerirdische ist ihm aber zu einer großen Maschinerie geworden. Der Mensch hat sich selbst verloren. Er hat keine Einsicht mehr in sein eigentliches Wesen.

Das ist im Grunde die schmerzliche Empfindung, die man haben muß, daß die Höhe der Kultur, zu der die abendländische Menschheit seit der Mitte des 15. Jahrhunderts sich aufgerafft hat, den Menschen dazu geführt hat, sein eigenes Wesen aus sich herauszureißen und im Grunde genommen seelisch-geistig entmenscht über die Erde zu gehen.

Ich habe gestern in dem Vortrage, den ich vor Pädagogen gehalten habe, gesagt, daß wir heute in einer einseitigen Weise, und auch das nur aus der Tradition heraus, von der ewigen Menschennatur sprechen. Wir sprechen von der ewigen Menschennatur nur, insoweit diese jenseits des Todes liegt, und haben daher das eine Wort «Unsterblichkeit» in den modernen Sprachen. Wir sprechen aber nicht von der Ewigkeit der

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Menschenseele vor der Geburt, in dem vorgeburtlichen Dasein. Wir sprechen nicht davon,wie der Mensch heruntergestiegen ist aus göttlich-geistigen Welten in dieses physisch-sinnliche Dasein, wie er sich ein­gegliedert hat diesem physisch-sinnlichen Erdendasein. Wir haben des­halb nicht einmal ein Wort, welches nach dieser Seite dem Worte «Un­sterblichkeit» entspricht. Wir sprechen von «Unsterblichkeit», nicht aber von «Ungeborenheit». Und erst wenn man einmal wie selbstver­ständlich sprechen wird von Ungeborenheit, Unsterblichsein, wird man die wahre ewige Wesenheit des Menschen wiederum begreifen.

Warum redet man heute noch von Unsterblichkeit? Man redet wirk­lich heute in ganz anderem Sinne von Unsterblichkeit als einstmals in jenen Zeiten, da auch noch von Ungeborenheit gesprochen worden ist. Hören Sie sich unzählige Predigten heute an, die aus einer gewissen sub­jektiven Ehrlichkeit heraus gesprochen sind, und prüfen Sie, aber ganz deutlich, welcher Grundton in solchen Predigten, die über die Ewigkeit der Menschenseele handeln, enthalten ist. Da wird sehr, sehr stark auf den Egoismus der Menschen spekuliert. Da wird darauf spekuliert, daß der Mensch die Sehnsucht nach der Unsterblichkeit hat, daß er aus Egoismus nicht zugrunde gehen möchte, wenn der physische Tod ein­tritt. Und man baut darauf, daß bei den gläubigen Gemeinden dieser Egoismus vorhanden ist. Wägen Sie die Worte, die vielfach gesprochen werden, und sehen Sie, wie stark auf diesen Egoismus gebaut wird. Für die Präexistenz, für das vorgeburtliche Leben kann nicht in der glei­chen Weise auf den Egoismus der Menschen gebaut werden. Wer über das vorgeburtliche Leben spricht, dem klingt heute aus den egoistischen Menschenseelen nichts entgegen, denn sie sagen sich, wenn auch nicht immer deutlich: Das vorgeburtliche Leben interessiert uns nicht weiter, denn wenn es auch da ist, wir haben ja seine Fortsetzung. Jetzt sind wir da. Warum sollten wir denn über dasjenige reden, was vorher da war? Wir sind doch sicher, daß wir jetzt da sind. Unser Egoismus hält uns nur dazu an, daß wir mit dem Tode nicht untergehen. - Man muß da­her an die Selbstlosigkeit, an die Unegoität der Menschen appellieren, wenn man vom vorgeburtlichen Leben spricht, und an den Egoismus der Seele kann man appellieren, wenn man von dem nachtodlichen Leben spricht, so berechtigt dieses Sprechen natürlich auch ist. Das ist

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der große Unterschied. Das zeigt aber auch, daß der Egoismus bis in die tiefste Seele hinein tatsächlich die Menschheit ergriffen hat. Und das Perhorreszieren der Präexistenz ist eine Konsequenz des Egoismus der Menschenseele.

Diese Dinge müssen vor allen Dingen von denjenigen eingesehen werden, welche es mit einem Anstreben einer spirituellen Einsicht ernst­haftig nehmen. Es muß der Mensch sich wieder seiner eigentlichen inneren Wesenheit nach finden. Es muß wiederum Interesse unter die Menschen kommen für dasjenige, was der volle, ganze Mensch ist, nicht bloß für die äußere physische Hülle. Dazu kommt man aber nur, wenn man den Menschen wiederum betrachtet, nicht bloß angehörig der kos­mischen Maulwurfshöhle Erde, sondern angehörig dem ganzen Kosmos, wenn man sich wiederum klar wird, daß der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt durch dasjenige durchgeht, zu dem er hier im Erdendasein nun hinaufblickt, durchgeht durch die Sternenwelt, und wenn man auch die Sternenwelt wiederum in ihrer Lebendigkeit, in ihrer Beseeltheit, in ihrer Geistigkeit erkennen wird.

Wenn wir den Menschen betrachten, so tritt uns zunächst sein äu­ßeres Physisches entgegen. Dieses äußere Physische wird gewöhnlich gerade nicht danach betrachtet, was an ihm die Hauptsache ist, nach seiner Form. An dem physischen Menschen ist doch die Hauptsache die Form. Es ist natürlich, wenn ein solches Thema angeschlagen wird, das im übrigen anklingt an vieles, das in meinen Vortragszyklen enthalten ist, daß zunächst nur einige Andeutungen gegeben werden können. Aber Sie werden aus demjenigen, was Sie an Gesinnung und Geistesinhalt schon aus der Anthroposophie gewonnen haben, in dem, was ich nun sagen werde, nicht flüchtige Analogien, sondern etwas sehen, was schon aus einer tieferen Welterkenntnis herausgeholt ist.

Wenn wir die menschliche Form betrachten, so haben wir im Grunde genommen eine wunderbare Gliederung an dem Menschen wahrzu­nehmen. Wir haben zunächst das menschliche Haupt. Dieses mensch­liche Haupt ist durchaus dem Kosmos nachgebildet. Es trägt die Form des Kosmos. Es trägt zunächst die sphärische, die kugelige Gestalt. Diese kugelige Gestalt ist nur nach unten einer gewissen Modifikation unterworfen, da wo sich die andere Wesenheit des Menschen, des physischen

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Menschen anschließt. Zur Eingliederung desjenigen, was nicht menschliches Haupt am Menschen ist, ist die sphärische Gestalt des menschlichen Hauptes nach unten modifiziert. Aber an sich ist das menschliche Haupt, und zwar wie Sie verfolgen können, eigentlich aus der Grundgestalt schon des menschlichen Embryos, des Menschenkei­mes heraus, der sphärischen Gestalt des Kosmos nachgebildet. An­schließend an diese menschliche Hauptesgestalt haben wir denjenigen Teil der menschlichen Wesenheit, der schon ganz versteckt nur noch die sphärische Gestalt trägt: den Brustkorb, die Brustorganisation des Men­schen. Wir haben in der Brustorganisation des Menschen - bitte, ver­suchen Sie sie mit dem geistigen Auge zu umspannen - das, was so ist, als ob ein Kugeliges durch allerlei andere Kräfte zusammengedrückt, auseinandergeschoben wäre, als ob also ein Kugeliges wesentlich modi­fiziert wäre. Und überblicken wir endlich dasjenige, was als Glied­maßen dem Menschen angefügt ist als ein dritter Teil der menschlichen Wesenheit, so verspüren wir da kaum noch etwas von der ursprüng­lichen, noch embryonalen Kugelgestalt des Menschen. Erst wahre Gei­steswissenschaft wird uns darauf aufmerksam machen, daß schließlich auch in den Gliedmaßen des Menschen noch Reste einer Kugelform vorhanden sind. Aber in der äußeren Gestalt tritt uns das wenig ent­gegen.

Wenn wir diese dreigegliederte Gestalt des Menschen studieren mit Bezug auf ihr Verhältnis zum Kosmos, dann können wir uns sagen: Der Mensch ist aus dem Kosmos heraus gebildet, aber er wird in verschie­dener Weise den Kräften dieses Kosmos ausgesetzt. Bedenken Sie nur, wie der Mensch in verschiedener Weise dem Fixsternhimmel ausgesetzt ist. Der Mensch ist dem Fixsternhimmel ja so ausgesetzt, daß diese ver­schiedene Art des Ausgesetztseins zu verschiedenen Zeiten die Völker durch den Stand der Sonne gegenüber den Tierkreiszeichen ausgedrückt haben. Und auch heute, in der maschinenmäßig gewordenen Astrono­mie, spricht man davon, daß die Sonne im Frühling in einem gewissen Tierkreiszeichen steht, den Frühlingspunkt dort hat. Man spricht dann davon, daß im Laufe der nächsten Jahreszeiten die Sonne durch die andern Tierkreiszeichen gehe, und daß die Sonne während des Tages durch verschiedene Tierkreiszeichen geht, des Nachts durch andere

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Tierkreiszeichen geht und so weiter. Aber man hat heute kein Bewußt­sein davon, wie das Verhältnis des Menschen zu dieser ganzen außer-irdischen Welt ist. Man weiß zum Beispiel wenig davon, daß wenn die Sonne im Frühling vom Widder aus die Erde bescheint, wenn also der Frühlingspunkt im Widder steht, daß dann für einen gewissen Teil der Erdenbevölkerung der Mensch den Sonnenkräften so ausgesetzt ist, daß die Sonne in einer gewissen Weise ihre Strahlungen modifiziert erhält durch den Ort am Fixsternhimmel, der eben durch die Tierkreisgegend des Widders repräsentiert wird, daß diese Kräfte besonders geeignet sind, auf das menschliche Haupt zu wirken, so daß der Mensch während seiner irdischen Lebenszeit ausbilden kann eine gewisse Selbstschau, eine gewisse Selbsterkenntnis, ein gewisses Bewußtwerden seines ei­genen Ichs.

Das besondere Ausgesetztsein den Widderkräften, wenn wir so sagen dürfen - Sie wissen ja, daß gerade das griechisch-lateinische Zeitalter das Zeitalter war, in dem der Frühlingspunkt im Sternbilde des Widders lag, wo also sozusagen die Menschheit, wenigstens die des Abendlandes, im wesentlichen ausgesetzt war den Widderkräften -, dieses Ausge­setztsein der Menschheit gegenüber den Widderkräften bedeutet, daß der Mensch die Organe seines Hauptes, seines Kopfes, so entwickeln kann, daß er zu einem gewissen Ich-Bewußtsein, zu einer gewissen Selbstschau kommen kann.

Selbst wenn heute historisch von den Tierkreisbildern gesprochen wird, weiß man nicht immer, worauf es ankommt. Die historischen Überlieferungen sprechen ja von den Tierkreisbildern Widder, Stier, Zwillinge und so weiter. Man zeigt auch Abbildungen. Allein die we­nigsten Menschen wissen heute, worauf es ankommt. In alten Kalen­dern sieht man sehr häufig noch das Tierkreisbild des Widders. Daß es aber darauf ankommt, daß dieser Widder so abgebildet ist, daß er mit dem Kopf nach rückwärts blickt und daß in diesem Rückwärtsblicken das Wesentlichste ist, das wissen heute die wenigsten Menschen. Durch dieses Abbild sollte eben angedeutet sein, wie die Widderkräfte ver­innerlichend auf den Menschen wirken, wie der Widder nicht vorwärts-schaut, in die weite Welt hinaus, sondern zurückschaut, auf sich selbst schaut. Dieses Schauen-auf-sich Selbst in der Widderfigur ist von ganz

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bedeutender Wichtigkeit. Wir müssen wiederum, und zwar aus vollem Bewußtsein, nicht aus instinktivem Hellsehen heraus, wie es in alten Zeiten war, zu dieser kosmischen Weisheit vordringen. Wissen müssen wir wiederum, daß die Kräfte unseres Hauptes, unseres Kopfes, aus­gebildet werden im wesentlichen durch die Kräfte des Widders, des Stieres, der Zwillinge, des Krebses; daß die Kräfte unseres Brustkorbes ausgebildet werden durch die vier mittleren Sternbilderkräfte: Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion; daß unser Kopf seine Form hat vom Kos­mos durch die Einwirkung der Widder-, Stier-, Zwillinge-, Krebskräfte, auf die man daher hinblickt, wenn man den Menschen seiner Kopf-gestalt nach fassen will, so, daß sie von oben herunterglänzen, während mehr seitwärts diejenigen Tierkreiswirkungen sind, die auf die mittlere Organisation, auf die Brustorganisation des Menschen wirken: Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion.

Und unterhalb der Erde, zugedeckt durch die Erde, wenn sie wirken, sind dann die vier andern Sternbilder. Diese vier andern Sternbilder wirken durch die Erde hindurch, nicht direkt, wie die Sternbilder Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, oder auch nur seitlich, wie die anderen Sternbilder, sondern sie wirken von unten herauf. Sie wirken so, daß sie die Kugelgestalt nicht aufrechterhalten können. Sie wirken auf die Gliedmaßen. Die Kräfte des Gliedmaßensystems bilden diejenigen Sternbilder aus, von denen man in alten Zeiten das instinktive Bewußt­sein hatte, daß sie gewissermaßen so auf den Menschen wirken, daß die Erde zwischen dem Menschen und diesen Sternbildern ist. Der Mensch steht auf der Erde auf. Wenn die Sternbilder unten sind, dann wirken sie auf seine Gliedmaßen. Und in alten Zeiten hatte man ein Bewußt­sein davon, daß dasjenige, was die Gliedmaßen des Menschen irdisch hervorbringt, mit diesen Sternbildern zusammenhängt, daß die Gestalt der Gliedmaßen daher stamme. Die Gestalt des Hauptes, die sphärische Gestalt: Widder, Stier, Zwillinge, Krebs; dagegen dasjenige, was der Mensch in seinen Gliedern hat, hat eine vierfache Art. Da diese Dinge in alten Zeiten aus einem instinktiven Hellsehen entstanden sind, haben sie auch eine alte Bezeichnung, beziehen sich auf alte Verhält­nisse. Der Mensch war in jenen alten Zeiten, als er in dieser Weise seine Weisheit aus den Himmeln bezogen hat, entweder Jäger, Schütze -

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daher nannte er dasjenige Sternbild, das in ihm diejenige Bewegungs­tätigkeit erregte durch seine Gliedmaßen, die ihn zum Jäger machte, den Schützen -, oder er war Hirte, er pflegte die Tiere. Das ist hinein-kaschiert in dasjenige Sternbild, das man heute Steinbock nennt. Es ist kein Steinbock, denn er hat einen Fischschwanz. Es ist überhaupt der Tierpfleger gegenüber dem Jäger.

Das dritte ist der Wassermann. Aber sehen Sie sich einmal das alte Sternbild des Wassermenschen an: das ist nicht ein Wassermensch, der etwa im Wasser plätschert oder dergleichen, sondern in der richtigen Darstellung des Tierkreises wird er so dargestellt, daß er wie über einen harten Grund oder über eine Wiese oder einen Acker geht und düngt, oder eben aus den Wassereimern das befruchtende Wasser gießt. Es ist der Mann, der das repräsentiert, was den Ackerbauer darstellte. Es ist der dritte Beruf derjenigen Urzeiten, welche ein instinktives Wissen von diesen Dingen hatten: Jägerberuf, Hirtenberuf, Ackerbauer­beruf.

Der vierte Beruf war der des Schiffers. Schiffe hatten in den Ur­zeiten die Form von Fischen. Sie können in den späteren Zeiten überall noch sehen, wie geblieben ist der Delphinkopf vorn bei den Schiffen. Daher das Sternbild der Fische, der zusammengebundenen zwei Schiffe, die miteinander auf Handel ausfuhren, für den vierten Beruf, der in den menschlichen Gliedmaßen liegen kann, für den Handelsberuf, für den Kaufmannsberuf.

So haben wir die menschliche Gestalt aus dem Kosmos geholt; als eigentliche Gestalt sphärisch in bezug auf das Haupt, darinnen der Mensch den Kräften des Fixsternhimmels respektive des Repräsentan­ten, des Tierkreises, direkt ausgesetzt ist, oder seitlich, wo die Brust-organisation des Menschen nur noch kaschiert, maskiert die sphärische Gestalt hat: Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion; oder aber da, wo nun nicht die menschliche Gestalt direkt bewirkt wird, sondern auf dem Umwege durch die irdische Tätigkeit, durch das Wirken auf den Beruf. Und der Gott, der irdisch-kosmische Gott, der sphärische Gott für den Jäger, war der Schütze, der ja auch so dargestellt wird, daß er eine Art Kentaur ist, halb Pferd, halb Mensch, halb Tier, halb Mensch und so weiter.

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Sie sehen, da wird der Mensch - und wir müssen wiederum mit vol­lem Bewußtsein zu einer solchen Anschauung kommen - in den Kosmos hineingestellt. Da wird des Menschen Form, die seinem physischen Leibe eigen ist, als eine Wirkung des Kosmos erkannt. Auf der einen Seite wird der Mensch nach oben erklärt zu einem Wesen, das das Er­gebnis des Kosmos ist, nach unten das Ergebnis der Erde. Die Erde deckt zu diejenigen Sternbilder, die für die Tätigkeit in Betracht kom­men. Nicht früher wird man die menschliche Gestalt begreifen, und den Zusammenhang dieser Gestalt mit der menschlichen Betätigung auf der Erde, als man nicht wiederum erkennen wird den Zusammenhang des Menschen mit dem ganzen Kosmos. Zunächst führt die Form des Menschen uns durchaus zu den Tierkreisbildern. So wie es eine Bedeu­tung hat für das Leben hier auf der Erde, ob der Mensch Ackerbauer ist - es sind eben nur die alten Berufe vertreten; wie sich das zu der neueren Zeit verhält, darüber werden wir wohl hier noch sprechen kön­nen in den folgenden Vorträgen -, so ist es von Bedeutung, daß der Mensch wiederum sich sagen kann: wie er in bezug auf sein irdisches Leben zwischen Geburt und Tod den Mächten der Erde angehört, so gehört er für das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt den sphärischen Mächten an; die gestalten zunächst aus sich heraus sein Haupt, und überlassen es den irdischen Kräften, seine Gliedmaßen zu gestalten.

Ebenso wie man die menschliche Gestalt in dieser Weise studieren kann, so kann man die menschlichen Lebensformen oder Lebensstufen studieren. Wenn wir zunächst auf dieses Leben des Menschen hin­schauen, so haben wir nun ja auch diese zwei Pole, auf der einen Seite das Hauptesleben, und auf der anderen Seite das Leben, das sich in der Tätigkeit des Menschen, durch die Gliedmaßen namentlich, ausdrückt. Dazwischen liegt dann diejenige Wesenheit des Menschen, die sich durch Atmungsrhythmus, Blutzirkulationsrhythmus und so weiter kundgibt, offenbart. Aber an den beiden Enden des Menschen liegt auf der einen Seite der Kopforganismus, auf der anderen Seite der Glied­maßenorganismus.

Der Kopforganismus des Menschen ist zum großen Teil der ab­sterbende Teil des Menschen. Der Kopf stirbt eigentlich fortwährend.

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Nur dadurch können wir leben, daß wir von dem Gliedmaßen-Stoff­wechselmenschen, von dem sich betätigenden und die Materie verarbei­tenden Menschen fortwährend Kräfte während des irdischen Lebens nach dem Haupte schicken. Wenn der Kopf nur seine eigenen Kräfte entwickeln würde, würde er nur Todeskräfte entwickeln, würde er nur absterbend sein. Allein, diesem Absterben verdanken wir es, daß wir denken können, daß wir ein Bewußtsein haben. In dem Augenblick, wo zuviel vom bloßen Leben nach dem Kopfe schießt, hört ja das Be­wußtsein auf. Leben heißt im Grunde genommen, das Bewußtsein ver­dunkeln; Tod in das Leben hineinsenden heißt, das Bewußtsein er­hellen. Sie brauchen nur ein wenig von dem in Ihr Haupt hineinzu­schicken, was ganz gut lokalisiert ist in Ihrem Magen, dann wird Ihr Haupt wie Ihr Magen, nämlich bewußtlos. Sie verdanken die Bewußt­heit des Hauptes lediglich dem Umstande, daß das Haupt nicht in der­selben Weise belebt ist wie der Magen. Das Bewußtsein getrübt haben, heißt, daß die Ernährungs-, die Wachstumskräfte zu stark in das Haupt hineinragen. Wir sind als Menschen auf der einen Seite ein absterbendes Wesen, auf der andern Seite ein fortwährend geborenwerdendes Wesen. Der absterbende Teil, der aber gerade unser Bewußtsein ausmacht, ge­deiht vorzugsweise, wenn er denjenigen Kräften ausgesetzt ist, die auf die Erde herunterwirken von der äußeren Planetensphäre: Saturn, Jupiter, Mars. Was den Menschen eingliedert in den Kosmos, bezieht sich natürlich nicht bloß auf den Fixsternhimmel, sondern auch auf unsere Planetensphäre.

Diese sogenannten äußeren Planeten, Saturn, Jupiter, Mars, sie ent­halten die Kräfte, die vorzugsweise nach diesem Bewußtseinspol des Menschen hin wirken; während nach dem Stoffwechsel-Gliedmaßen­menschen hin die Kräfte wirken, die von Venus, Merkur, Mond, den sogenannten inneren Planeten ausgehen. Die Sonne selber steht in der Mitte drinnen und ist vorzugsweise unserem rhythmischen Menschen zugegliedert. Das aber sind ja unsere Lebensstufen, die drei Lebens­stufen. Durch diejenige, die mehr eine Art Abtötung, eine Unterdrük­kung des Lebens darstellt, damit Bewußtsein da sein kann, durch diese sind wir für das Erdenleben dem Himmel ähnlicher, sind zugeordnet dem äußeren, dem ferneren Planetarischen. Durch dasjenige, was in uns

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eigentlich als Leben wuchert - die Stoffwechselkräfte, die Gliedmaßen­bewegungskräfte -, sind wir zugeordnet den näheren Planeten, Merkur, Venus und dem Monde, der ja direkt zusammenhängt mit dem, was am meisten im Menschen als Leben wuchert, mit den Fortpflanzungskräf­ten. Also, wenn wir das Leben studieren, werden wir nach der Planeten-sphäre geführt. Studieren wir die Form des Menschen, werden wir ge­führt nach der Fixsternsphäre respektive nach dem Repräsentanten die­ser Fixsternsphäre, nach dem Tierkreis. Studieren wir das Leben des Menschen, ob es mehr wucherndes Leben ist, ob es mehr ersterbendes Leben ist, dann werden wir geführt nach der Planetensphäre.

Nun können wir das Seelische des Menschen, das Geistige des Men­schen ebenso betrachten. Das wollen wir in den nächsten Vorträgen hier tun. Ich wollte zunächst heute durch diese kurze Betrachtung der kos­mischen Bedeutung des Menschen Ihnen wenigstens in ein paar Sätzen andeuten, wie der Mensch den Weg wiederum finden muß, sich nicht bloß als ein irdisches Wesen anzusehen, seine Form, sein Leben nicht bloß anzugliedern an dasjenige, was hier auf der Erde an Wind und Wetter oder an Frühlings- und Herbsteskräften oder an Vererbungs­kräften und Verdauungskräften vorhanden ist, sondern daß der Mensch wiederum die Möglichkeit finden muß, sein Leben und seine Form an­zugliedern an dasjenige, was er im außerirdischen Kosmos erblicken kann. Der Mensch muß wiederum das Außerirdische finden, dann wird er sich selbst finden.

Es würde das große Unglück für den Fortschritt der abendländischen Menschheit bedeuten, wenn bestehen bliebe die bloße kosmische Ma­schinerie, zu welcher die naturwissenschaftliche Weltanschauung seit der Mitte des 15. Jahrhunderts geführt hat, und wenn der Mensch bloß herumgehen würde auf der Erde so, daß er von sich selber nichts wissen würde. Weil sein wahres Wesen dennoch vom Außerirdischen ist, kann der Mensch nichts von sich selber wissen, wenn er nur das Irdische sieht und das Außerirdische nur mathematisch-mechanisch, wie die neuere Wissenschaft das tut.

Sich selber auf der Erde kann der Mensch nur finden, wenn er seine Angliederung wiederum an das Außerirdische vollzieht. Aber einge­gliedert muß werden, wenn es gedeihen soll, dieses Außerirdische dem

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moralischen Leben, dem moralisch-sozialen Leben. Daher kann es auch eine moralisch-soziale Weisheit in Wirklichkeit nur geben, wenn sie an­gegliedert werden kann an die kosmische Weisheit. Deshalb war es schon, und auch darüber will ich nun in den folgenden Vorträgen hier zu Ihnen sprechen, eine Notwendigkeit, daß auch in bezug auf das Sozial-Moralische aus unserer spirituellen Wissenschaft der Anthro­posophie einiges gefolgert wurde, von dem man glauben kann, daß es von den Niedergangskräften zu den Aufgangskräften führen kann.

DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE NORWEGENS UND SCHWEDENS Zweiter Vortrag, Kristiania (Oslo), 27. November 1921

#G209-1968-SE027 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE

NORWEGENS UND SCHWEDENS

Zweiter Vortrag, Kristiania (Oslo), 27. November 1921

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Wir haben gesehen, wie wir den Menschen in Gemäßheit der anthropo­sophischen Erkenntnisse hineinstellen müssen seiner Wesenheit nach in das ganze Universum, und wir haben zunächst betrachtet des Menschen Form, des Menschen Gestaltung. Wir mußten diese Gestaltung des Men­schen zurückführen auf den Fixsternhimmel beziehungsweise auf die Repräsentation dieses Fixsternhimmels, auf den Tierkreis. Wir haben gesehen, wie gewisse Kräfte von jenen Sternzusammenhängen ausgehen, wenn sie mit den Sonnenkräften in Verbindung treten, und wie das­jenige, was die Form des menschlichen Hauptes und der damit zu­sammenhängenden Organe bildet, zusammenhängt mit den oberen Tier­kreisbildern, Widder, Stier, Zwillinge, Krebs; wie dann dasjenige, was des Menschen Brustorganisation ausmacht, zusammenhängt mit den mittleren Sternbildern, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, und wie endlich dasjenige, was zum menschlichen Stoffwechsel und den Glied­maßen führt, zusammenhängt mit den unteren Sternbildern, mit deren Wirksamkeit, wenn sie gewissermaßen von der Erde bedeckt sind, mit den Sternbildern des Schützen, des Steinbockes, des Wassermannes und der Fische. So daß wir sagen können: Der Fixsternhimmel - denn die Sternbilder sollen nur die Repräsentanten der Fixsternwirkungen auf den Menschen sein -, der Fixsternhimmel wirkt auf die menschliche Gestaltung, auf die menschliche Form.

Die Planetensphäre, sie wirkt auf die menschlichen Lebensstufen. Und zwar müssen wir uns klar darüber sein, daß der Mensch in sich verschiedenartiges Leben hat. Wir würden nicht denken können, unser Haupt würde kein Denkorgan sein, wenn wir in unserem Haupte ein so starkes Leben hätten, wie wir es zum Beispiel in unseren Stoffwech­selorganen haben. Wenn der Stoffwechsel im Haupte, im Kopfe zu stark wird, dann erlischt unser Bewußtsein, unsere Besonnenheit. Dar­aus können Sie schon äußerlich schließen, daß zum Bewußtsein, zum

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Vorstellen ein abgedämpftes, ein abgelähmtes Leben, ein ersterbendes Leben nötig ist, während das aufwärtssteigende Leben, das wuchtige, das intensive Leben, notwendig ist zu demjenigen, was in uns mehr aus dem Unbewußten heraus wirkt, zum Wollen.

Wir haben also unter unseren Lebensstufen solche, die mehr er­sterbende, sich ertötende Lebensstufen sind, und solche, welche richtige Lebensstufen sind, so wie das starke, intensive organische Leben etwa beim Kinde auftritt, wo das Denken noch nicht da ist. Wir haben dieses kindliche Leben fortwährend in uns, aber es setzt sich in dieses kind­liche Leben das allmählich ersterbende Leben hinein.

Diese verschiedenen Lebensstufen sind abhängig von der Planeten­sphäre. Während der Fixsternhimmel durch seine physischen Kräfte auf den Menschen wirkt, wirkt die Planetensphäre durch dasjenige, was sie an ätherischen Kräften in sich hat. Also in feinerer Weise wirkt die Planetensphäre auf den Menschen. Aber es ist schon so, daß der mensch­liche physische Leib seine Form, seine Gestalt von dem Fixsternhimmel hat, nicht von etwas Irdischem, und seine Lebensstufen von der Pla­netensphäre.

Wir haben damit betrachtet von dem physischen Leib des Menschen die Gestalt, von dem ätherischen Leib des Menschen die Lebensstufen. Wir können nun vorschreiten zum seelischen und zum geistigen Leben des Menschen. Da müssen wir aber eine andere Betrachtungsweise an­stellen. Dasjenige, was uns unser physischer Leib und unser ätherischer Leib im wachen Tagesleben vermitteln, was ist denn das? Das ist außer­halb desjenigen, was wir durch die Sinne wahrnehmen und was wir durch unser Denken verarbeiten können. Nur in dem, was unsere Sinne wahrnehmen und was wir durch unser Denken verarbeiten können, sind wir wirklich wach.

Betrachten Sie dagegen das Fühlen. Sie werden sich aus einer schon oberflächlichen Betrachtung sagen können, daß das Fühlen nicht in demselben Grade ein Wachsein bedeutet wie das Denken und das sinn­liche Wahrnehmen. Wenn wir des Morgens aufwachen und die äußeren Farben, die Töne an uns herantreten, wenn wir bewußt in die Wärme-verhältnisse versetzt werden, so tritt unser voller, wacher Zustand auf und wir verarbeiten dann dasjenige, was uns unsere Sinne liefern, durch

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unser Denken. Wenn aber die Gefühle aus der Seele heraustauchen, so können wir nicht sagen, daß wir in demselben Grade in den Gefühlen besonnen, bewußt sind. Die Gefühle schließen sich an die Sinneswahr­nehmungen an. Die eine Sinneswahrnehmung gefällt uns, die andere mißfällt uns. Die Gefühle schließen sich auch an unser Denken an. Aber wer das, was wir im Traum erleben an Bildern, vergleicht mit dem, was wir in den Gefühlen erleben, der wird die Verwandtschaft des Träu­mens mit dem Fühlen sehr wohl merken.

Träume müssen erst vom wachen Gedankenleben erfaßt werden, damit wir sie in der richtigen Weise bewerten und in der richtigen Weise verstehen können. Aber Gefühle müssen auch erst von unserem Denkleben beobachtet werden gewissermaßen, wenn wir sie in der rich­tigen Weise mit uns verbinden wollen. In unserem Fühlen träumen wir eigentlich. Wenn wir träumen, träumen wir in Bildern. Wenn wir wach sind, träumen wir in unseren Gefühlen. Und im Wollen schlafen wir auch beim Wachsein vollständig. Sie brauchen sich nur zu überlegen: Wenn Sie einen Arm heben, wenn Sie dies oder jenes tun, so wissen Sie aus der Anschauung, welche Bewegung Ihr Arm, welche Bewegung die Hand ausführt; aber Sie wissen nicht, wie die Kraft des Willens da eigentlich in Ihrem Organismus waltet. Das ist Ihnen so unbekannt, wie die Zustände vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Indem wir wollen, indem wir handeln, schlafen wir, während wir sonst mit Bezug auf unser Sinneswahrnehmen und mit Bezug auf unsere Gedanken wachen. Wir schlafen also nicht nur vom Einschlafen bis zum Aufwachen, wir schlafen mit einem Teil unseres Wesens auch während wir wachen. Wir schlafen mit unserem Wollen und träumen mit unserem Fühlen.

Was wir während des Schlafens erleben, entzieht sich eigentlich un­serem Bewußtsein. Aber auch dasjenige, was das wahre Wesen des Füh­lens und des Wollens ist, entzieht sich unserem Bewußtsein. Es ist aber trotzdem wichtig, daß sich der Mensch auch ein Bewußtsein erwirbt von dem, was er in seinen unbewußten Welten, in diesen für das ge­wöhnliche Leben unbewußten Welten erlebt.

Sie wissen ja aus den verschiedenen anthroposophischen Betrach­tungen, daß wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit unserem Ich und mit unserem astralischen Leib außerhalb des physischen und des

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Ätherleibes sind. Nun kann es von ganz besonderer Wichtigkeit wer­den, gerade diejenigen Erlebnisse kennenzulernen, welche das Ich und der astralische Leib haben vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Wenn wir wach sind, sind wir den Sinneswahrnehmungen der Natur gegen­über; wir stoßen gewissermaßen bis zu den Sinneswahrnehmungen der Natur.Wir kommen aber mit unseren Sinneswahrnehmungen und mit un­serem wachen Denken nicht weiter als bis zu der Oberfläche der Dinge.

Gewiß, es kann jemand einwenden, er käme weiter als bis zu der Oberfläche der Dinge. Er könne ja ein Stück Holz, an dem er sich stößt mit seiner Wahrnehmung, zerschneiden, dann sei er im Inneren. Das ist aber nicht wahr, denn wenn Sie ein Stück Holz zerschneiden, dann haben Sie wiederum nur eine Oberfläche, und wenn Sie die zwei Stücke wieder zerschneiden, haben Sie wiederum Oberflächen. Und wenn Sie bis zu den Molekülen und Atomen gehen, haben Sie immer nur Ober­flächen. Sie kommen nicht zu dem, was man das wirkliche Innere der Dinge nennen kann. Das wirkliche Innere der Dinge, das liegt jenseits der Sinneswahrnehmungen. Wir können uns die Sinneswahrnehmungen vorstellen wie einen Teppich, der um uns ausgebreitet ist. Was diesseits des Teppichs liegt, das nehmen wir durch die Sinne wahr; was jenseits des Teppichs liegt, nehmen wir nicht durch die Sinne wahr. Wir sind in dieser Sinneswelt vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Unsere Seele ist erfüllt von dem Eindrucke, den diese Sinneswelt auf uns macht. Wenn wir nun in den Schlaf übergehen, dann sind wir nicht in dieser Welt diesseits der Sinne, dann sind wir nämlich in Wirklichkeit im Inneren der Dinge drinnen, dann sind wir jenseits des Sinnesteppichs. Aber der Mensch im Erdenbewußtsein weiß nichts davon, und er träumt von allerlei Dingen, die da jenseits der Sinneswahrnehmungen sein sollen. Er träumt von Molekülen, von Atomen; aber das sind eben nur Träume, Träume des wachen Bewußtseins. Man erfindet Moleküle, Atome, die Wirklichkeiten sein sollen. Aber nehmen Sie irgendeine Beschreibung, selbst die sorgfältigste neuere Beschreibung der Atome:

nichts anderes ist das als kleine Dinger, die nach dem Muster dessen beschrieben werden, was an der Oberfläche der Dinge wach erlebt wird. Es ist eine Erdichtung, die herausgenommen wird aus dem, was im wachen Bewußtsein diesseits des Sinnesteppichs erlebt wird.

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Aber wenn wir einschlafen, dann dringen wir aus der ganzen Sinnes­welt heraus, dann dringen wir hinüber nach der andern Seite. Und wenn wir hier mit unseren Sinnen und mit unserem wachen Denken die Natur erleben, dann erleben wir drüben, jenseits, vom Einschlafen bis zum Aufwachen die Geisteswelt, diejenige Geisteswelt, die wir auch durchmachen vor unserer Geburt, die wir durchmachen nach unserem Tode. Aber der Mensch ist in dieser Erdenentwickelung so eingerichtet, daß, wenn er jenseits der Sinneswelt ist, er sein Bewußtsein ausgelöscht erhält. Sein Bewußtsein ist nicht stark genug, um in diese geistige Welt einzudringen. Dasjenige aber, was uns in der Geisteswissenschaft ent­gegentritt als Imagination, Inspiration, Intuition, das liefert uns Kennt­nisse von dem, was da jenseits des Sinnesteppichs liegt. Und das erste, was wir entdecken, das ist die unterste Stufe jener Welt, die wir die Welt der Hierarchien nennen.

Wenn wir aufwachen, werden wir in die Welt versetzt, wo Tiere, Pflanzen, Mineralien, wo die Wesen der drei Naturreiche sind, die eben der Sinneswelt angehören. Wenn wir hinüberschlafen jenseits der Sin­neswelt, werden wir zunächst versetzt in dasjenige Gebiet, in dem die erste über den Menschen gelagerte Wesensstufe der Angeloi, der Engel ist. Und wir stehen vom Einschlafen bis zum Aufwachen zunächst mit jenem Wesen, das dem Menschen zugeordnet ist als sein Engelwesen, so in Verbindung, wie wir durch unsere Augen und Ohren mit den drei Reichen der Natur hier in der Sinneswelt in Verbindung stehen. Wenn wir auch zunächst kein Bewußtsein haben von dieser Verbindung mit der Welt der Angeloi, sie ist doch da, diese Verbindung. In dasjenige, was unser astralischer Leib ist, reicht diese Verbindung hinein.

Wenn wir in unserem astralischen Leibe im Schlafe leben und wür­den plötzlich aufwachen, würden wir ebenso in Berührung kommen mit der Welt der Angeloi, zunächst mit dem Engelwesen, das mit un­serem eigenen Leben in Verbindung steht, wie wir hier in der irdischen Welt mit Tier und Pflanze und Mineralien verbunden sind.

Nun aber sieht der Mensch auch in der irdischen Welt, in der Sinnes­welt, wenn er aufmerksam ist, wenn er seine Gedanken schult, mehr, als wenn er unaufmerksam, flüchtig ist. Die Verbindung also mit den drei Reichen der Natur kann eine innigere oder eine oberflächlichere sein.

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So ist es auch mit der Welt der geistigen Wesenheiten. Nur gibt es da andere Bedingungen für diese Welt der geistigen Wesenheiten. Ein Mensch, der mit seinen Gedanken ganz in der materiellen Welt aufgeht, der sich niemals erheben will über die materielle Welt, der sich nicht bekanntmachen will mit sittlichen Idealen, die über das bloß Nützliche hinausgehen, der nicht erleben will wirkliche Menschenliebe, der nicht kennt das fromme Hingeben an die göttlich-geistige Welt im wachen Zustande, dem bleiben beim Einschlafen keine Kräfte, um in der rich­tigen Weise mit seinem Engelwesen in Berührung zu kommen. Dieses Engelwesen wartet gewissermaßen jedesmal unser Einschlafen ab, wie­viel wir mitbringen von idealen Empfindungen, von idealen Gedanken mit diesem Einschlafen. Und je mehr wir von solcher Art mitbringen, desto inniger wird das Verhältnis zu diesem Engelwesen, wenn wir im Schlafe verweilen. Und so sammeln wir gewissermaßen im Wachen durch das ganze Leben hindurch dasjenige, was wir ausbilden in uns über die materiellen Interessen hinweg; wir sammeln dasjenige, was die Beziehung zu unserem Engelwesen immer inniger und inniger macht. Und wenn wir dann durch die Pforte des Todes gehen, dann fällt ja von uns alles dasjenige ab, was Sinne sind. Die äußere Welt kann keinen Eindruck mehr auf uns machen, denn den muß sie machen durch unsere Sinne. Die fallen aber mit unserem Leib ab. Ebenso erlischt dasjenige Denken, das sich nur an die Sinneswahrnehmung knüpft, denn das ist im ätherischen Leib vorhanden. Der ätherische Leib bleibt uns nur wenige Tage nach dem Tode erhalten. Wir sehen ihn, wie er zunächst da ist, in einem Tableau, das ich ja in anderer Beziehung in diesen Tagen auch in den öffentlichen Vorträgen schon besprochen habe, das man erkennen, schauen kann, das man aber nach dem Tode schauen muß.

Aber man sieht zugleich, wie sich dieses ätherische Leibgewebe auf­löst im All, wie die gewöhnlichen Gedanken, die wir an der äußeren Sinneswelt gewonnen haben, von uns fortgehen. Die bleiben nicht. Alles das, was der Mensch über das Nützliche gedacht hat im Leben, über die Zusammenhänge der Sinneswelt, was er gedacht hat in Anknüpfung an das Materielle, geht von uns weg, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen. Allein das, was wir an idealen Gedanken und idealen Empfin­dungen, an reiner Menschenliebe, auch an religiösem Frommsein im

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echten wahren Sinne des Wortes, in unserem Wachzustande aufgebracht und mit unserem Engelwesen vereinigt haben, das nehmen wir auch mit, wenn wir durch die Pforte des Todes schreiten.

Das bewirkt aber nun etwas ganz Wichtiges in der Zeit, in der wir uns zwischen dem Tod und einer neuen Geburt entwickeln. Wir stehen ja allerdings auch im Erdenleben in Verbindung mit den noch höheren Hierarchien, und es ist schon richtig, daß, wenn wir einschlafen und die idealen Erlebnisse an unser Engelwesen herandringen, dann das Engel­wesen wiederum mit dem Erzengelwesen, mit dem Archai und so weiter hinauf in Verbindung steht. So daß wir gewissermaßen unser Dasein fortgesetzt finden in einer reichen geistigen Welt. Aber diese reiche geistige Welt hat für uns keine besondere Bedeutung, während wir die Zeit zubringen zwischen der Geburt und dem Tode. Erst dadurch be­kommt diese Welt der höheren Hierarchien eine große Bedeutung für uns, daß sie die Welt unserer Umgebung wird zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Je mehr wir gewissermaßen unserem Engelwesen überliefert haben, desto mehr kann aber auch nach dem Tode, wenn wir ein geistig-seelisches Wesen sind, dieser Engel uns an bewußtem Leben, an bewußten Seeleninhalten von den höheren Hierarchien geben. Ich möchte sagen: Was unsere Augen hier in der physischen Welt sind, oder unser Ohr hier in der physischen Welt ist, das ist für unser Bewußtsein zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in der geistigen Welt das­jenige, was das Engelwesen, was überhaupt durch dieses unser Engel-wesen die andern Wesen aus dem Reich der dritten Hierarchie im Zu­sammenhange mit den höheren Hierarchien entwickeln. Und unser Be­wußtsein wird um so heller, um so inniger leuchtender, je mehr wir an idealen Gedanken und idealen Empfindungen, an Menschenliebe und religiösem Frommsein unserem Engelwesen zugeführt haben.

Nun kommt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt eine gewisse Zeit, wo das Engelwesen mit uns eine bestimmte Aufgabe hat. Dieses Engelwesen muß eine noch innigere, wichtigere Verbindung herstellen mit dem Reiche der Archangeloi, der Erzengel, als es früher der Fall war. Ich habe die Zeit, die der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, von den verschiedensten Gesichtspunkten dar­gestellt - das kann man auch -, zuletzt noch in meinem Wiener Zyklus

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vom Jahre 1914, der da heißt: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt.» Heute will ich von einigen anderen Gesichtspunkten aus die Sache darstellen.

Eine gewisse längere Zeit nach dem Tode kommt eben einmal der wichtige Augenblick, wo gewissermaßen der Engel an den Erzengel überliefern muß dasjenige, was er von uns Menschen aufgenommen hat durch die geschilderten idealen Erlebnisse. Der Mensch wird gewisser­maßen hingestellt vor die Welt der Archangeloi, die übernehmen kön­nen dasjenige,was er an solch geistseelischen Erlebnissen schon zwischen der Geburt und dem Tode entwickelt hat. Und das ist der große Unter­schied, der sich darstellt zwischen Mensch und Mensch in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, daß es in unserer Zeit der Menschheitsentwickelung solche Persönlichkeiten gibt, welche wenig mitbringen von idealen Empfindungen und Gedanken und Menschen­liebe, wenn der Engel dem Erzengel abgeben soll für die weitere Wel­tenentwickelung dasjenige, was wir da hindurchgetragen haben durch die Pforte des Todes.

Die Tätigkeit, die sich da entwickelt zwischen Angeloi und Archan­geloi, die muß unter allen Umständen stattfinden. Aber es ist ein großer Unterschied, ob wir durch die geschilderten Erlebnisse mehr mit Be­wußtsein verfolgen können, was da mit uns sich abspielt zwischen An­geloi und Archangeloi, oder ob wir es nur in einem dumpfen, dämmer­haften Zustande erleben, wie es eben erleben müssen diejenigen Men­schen, die nur von materialistischem Bewußtsein sich durchdrungen haben.

Es ist nicht ein ganz zutreffender Ausdruck, wenn ich sage: dumpf, dämmerhaft erleben die Menschen. Ich müßte vielleicht, um genauer es zu charakterisieren, sagen: Sie erleben es so, daß sie fortwährend heraus-gestoßen werden aus einer Welt, von der sie eigentlich aufgenommen werden sollen, daß sie fortwährend sich erkältet fühlen von einer Welt, die sie eigentlich warm empfangen soll. Denn sympathisch soll der Mensch von der Welt der Archangeloi in dem wichtigen angeführten Zeitmomente empfangen werden, warm soll er von ihnen empfangen werden. Dann wird er auch in richtiger Weise hingeführt zu dem, was ich in einem meiner Mysteriendramen genannt habe «die Mitternachtsstunde»

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des Daseins. Dann wird der Mensch wiederum durch die Arch­angeloi an das Reich der Archai herangeführt. Und indem der Mensch gewissermaßen eingefügt wird dem Reiche der Archai, wird er allen höheren Hierarchien eingefügt, denn durch die Archai kommt er in Beziehung zu allen höheren Hierarchien, und er nimmt nun aus dem Reiche dieser höheren Hierarchien den Drang auf, wiederum herunter­zusteigen auf die Erde. Denn er nimmt die Kraft auf, wiederum in dem, was ihm materiell später übergeben wird durch die Vererbungsströ­mung, geistig-seelisch zu arbeiten.

Und die Mitternachtsstunde des Daseins ist der Punkt im Leben des Menschen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, der so über­schritten wird, daß wir vorher immer fremder und fremder dem ir­dischen Dasein werden, immer mehr und mehr hineinwachsen in die geistige Welt, indem wir immer sympathischer und sympathischer im vorher charakterisierten Sinne von dieser geistigen Welt aufgenommen werden, mit immer größerer und größerer Wärme von ihr angezogen werden, oder eben abgestoßen werden, erkältet werden.

Dann aber, wenn die Mitternachtsstunde des Daseins da ist, dann neigt sich der Mensch gewissermaßen langsam wiederum zu der Sehn­sucht nach dem Erdendasein herunter. Und er begegnet auf dem zwei­ten Teile des Weges nun wiederum der Welt der Archangeloi. Es ist wirklich so, daß der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt zuerst hinaufsteigt zu der Welt der Angeloi, Archangeloi, Archai, dann wiederum steigt er herunter, und er trifft nach der Welt der Archai vorzugsweise auf die Welt der Archangeloi auf.

Nun kommt wiederum ein wichtiger Punkt in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Demjenigen Menschen, der nichts durch den Tod hindurchgeführt hat von idealen Gedanken, idealen Empfindun­gen, Menschenliebe und wahrem, echtem Frommsein, dem ist von dem Geistig-Seelischen unter den Antipathien der höheren Welt, unter den Erkältungen der höheren Welt gewissermaßen etwas erstorben. Wäh­rend bei einem Menschen, der in der rechten Weise geistig-seelisch jetzt an das Reich der Angeloi herankommt, in das Geistig-Seelische inner­lich die Kraft eingepflanzt wird, in dem späteren Leben wiederum auf der Erde, den Leib durchdringend zu wirken, müssen die Angeloi, wenn

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der Mensch solche seelisch-geistigen Erkenntnisse nicht mitgebracht hat, ihm so, daß es mehr unbewußt wird, dasjenige einpflanzen, was Sehn­sucht nach dem irdischen Leben ist. Und bei diesem Einpflanzen ent­scheidet sich außerordentlich viel. Bei diesem Einpflanzen entscheidet sich nämlich jetzt, zu welchem Volke, zu welcher Sprache, zu welcher sogenannten Muttersprache der Mensch heruntersteigt zum nächsten irdischen Dasein. Und es entscheidet sich, ob dieser Drang zum Volks­tum, zu der Muttersprache mehr innerlich oder ob er mehr äußerlich eingepflanzt wird. So daß der Mensch durchdrungen wird beim Her­untersteigen von innerlicher Liebe zu demjenigen, was dann seine Mut­tersprache wird, oder mehr automatisch hineinversetzt wird in das­jenige,was er als Sprache durch seine Sprachorgane später zu äußern hat.

Das macht einen großen Unterschied, ob der Mensch auf die eine oder die andere Art zu der Sprache hin determiniert wird für das kom­mende Erdenleben. Derjenige Mensch, der schon vor diesem Erden-leben, beim zweiten Durchgang durch das Reich der Angeloi, innerlich seelisch liebevoll durchdrungen werden kann mit der Hinneigung zu seiner Muttersprache, der nimmt diese Muttersprache innerlich auf. Er nimmt sie auf wie einen Teil seines Wesens. Er wird eins damit. Die Liebe wird eine selbstverständliche, sie wird eine seelische Liebe. Der Mensch wächst mit Selbstverständlichkeit in die Sprache und in das Volkstum hinein, indem er so hineinwächst.

Wenn der Mensch aber auf die andere Art hineinwächst - ich habe das genannt mehr automatisch -, dann kommt der Mensch später, in­dem er durch die Geburt zum nächsten Erdendasein heruntersteigt, so auf der Erde an, daß er gewissermaßen nur instinktiv, triebhaft seine Sprache lieben lernt. Was er innerlich nicht an Liebe, an selbstverständ­licher Liebe für seine Sprache, für sein Volkstum aufbringt, das stößt er dann gleichsam aus seinem Leibesdasein hervor. Und das macht den großen Unterschied, ob wir in ein Volkstum, in einen Sprachzusammen­hang hineinwachsen mit jener stillen, keuschen Liebe, die derjenige Mensch hat, der innerlich mit Volkstum und Sprache verwächst, oder ob wir hineinwachsen in Sprachtum und Volkstum mehr automatisch, so daß wir aus dem Triebe, aus den Instinkten gleichsam herausstoßen eine innerliche Liebe für dieses Volkstum, für diese Sprache. Das erstere

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äußert sich niemals als dasjenige, was man in der Welt Chauvinismus nennt, was man ein äußerliches Pochen auf das Volkstum nennt, son­dern die wirklich aus einem vorherigen idealen, frommen Erleben er­rungene, innerlich geistig-seelische Liebe zu Volkstum und Sprache äu­ßert sich selbstverständlich und ist mit wahrer universeller Menschen­liebe durchaus vereinbar. Niemals wird der kosmopolitische, der inter­nationale Sinn durch eine solche geistig-seelische Liebe zu Sprache und Volkstum verkümmert. Wenn aber der Mensch mehr automatisch in seine Sprache hineinwächst, dann, wenn er dadurch mit seinen Instink­ten, mit seinen Trieben eine überhitzte, organische, animalische Liebe zu Sprache und Volkstum entwickelt, dann entsteht dasjenige, was fal­scher Nationalismus, was chauvinistische Gesinnung ist, was in einer äußerlichen Weise auf das Volkstum pocht.

Man hat insbesondere in der heutigen Zeit nötig, dasjenige, was uns in der Außenwelt entgegentritt in der Zeit, die wir zubringen als Men­schen auf Erden zwischen der Geburt und dem Tode, zu betrachten vom Gesichtspunkte des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Denn, wie wir das zweitemal dem Reich der Archangeloi be­gegnen, davon hängt es ab, wie wir in Volkstum und Sprache hinein uns versenken durch die Verbindung mit der Vererbungsströmung durch die Geburt.

Für denjenigen, der vom geistigen Gesichtspunkte gerade das heu­tige Leben verstehen will, tritt als etwas sehr Wichtiges dieses Erleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt heran, wenn er zum zweiten Male in das Reich der Archangeloi kommt. Wir sehen heute über das Erdenrund, wie die Völker in einer falschen Weise auf ihre Nationali­tät, auf ihre Volkstümlichkeit, auf ihr Sprachtum hinschauen. Und vieles von dem, was in der katastrophalen Zeit im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in der Menschheitsentwickelung des Abendlandes aufgetaucht ist, wird nur erklärlich, wenn man es unter solchen Ge­sichtspunkten betrachtet. Wer das Leben eben innerlich anthroposo­phisch, geisteswissenschaftlich anschaut, der muß hinschauen heute bei vielen Menschen auf deren voriges Erdenleben als ein solches, in dem die Menschen in den Materialismus nach und nach sich eingesponnen hatten. Sie kennen alle die Tatsache, daß in normaler Weise eine längere

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Zeit verfließt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Allein ge­rade in der heutigen Erdenentwickelung sind viele Menschen, welche nur kurze Zeit gehabt haben zwischen ihrem letzten Tode und ihrer diesmaligen Geburt, und sie haben sich schon in ihrem vorigen Erden-leben wenig durchdrungen mit Menschenliebe, mit idealen Empfin­dungen. Sie waren schon in diesem vorigen Erdenleben auf die bloße Nützlichkeit bedacht. Und dadurch wurde ihnen bei der zweiten Be­rührung mit dem Reich der Angeloi zwischen Tod und neuer Geburt eigentlich alles dasjenige zubereitet, was jetzt in einer so üblen Weise herauftaucht im Leben des Abendlandes.

Geradeso wie man den Menschen als Raumeswesen nur versteht, wenn man weiß, daß man seine Gestalt bis zum Fixsternhimmel zu ver­folgen hat, daß man seine Lebensstufen zu verfolgen hat bis zur Pla­netensphäre, daß der Mensch als Raumeswesen eben ein Wesen ist, das nicht allein aus der Erde die Kräfte, die in ihm wirksam sind, zieht, sondern aus dem ganzen Kosmos, so notwendig zu dieser räumlichen Menschenerkenntnis das Hinausgehen über das Irdische ist, so notwen­dig ist es, um das soziale, um das volksmäßige Leben auf der Erde zu verstehen, über das Leben zwischen Geburt und Tod hinauszugehen.

Wenn man vieles von dem heutigen Leben studiert, so findet man, wie die Menschen heute, trotzdem sie so viel nach Freiheit rufen, eigent­lich innerlich unfrei sind; wie in den Bestrebungen, die heute solche Niedergangskräfte zeitigen, nicht ein freies Leben pulsiert, sondern die Instinkte und Triebe pulsieren und das soziale Leben unglücklich machen. Wenn man dieses sieht, so will man es auch verstehen.

Ebenso nun, wie sich eine zweite Begegnung mit dem Reich derArch­angeloi findet, so findet sich später, dann, wenn sich der Mensch schon wiederum sehr nähert seinem Erdenleben, eine innigere Verbindung wiederum mit seinem Angelos, mit seinem Engelwesen. Der Mensch wird gewissermaßen, wenn es wiederum gegen das Erdenleben hingeht, mehr entrückt, herausgezogen aus dem Reich der Archangeloi. Solange er im Reich der Archangeloi ist, ist sein Engel auch stärker verbunden mit diesem Reiche. Der Mensch lebt gewissermaßen in den höheren Hierarchien. Indem er weiter die Zeit verbringt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, wird er immer mehr und mehr auf das bloße

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Reich der Angeloi angewiesen, und sie führen ihn dann durch die Ele­mente, durch Feuer, Erde, Luft, Wasser, führen ihn dann hin zu dem, was Vererbungsströmung ist. Es führt ihn namentlich sein Engelwesen hin zu dem physisch-irdischen Dasein. Es kann ihn zu einem Menschen machen, der aus dem Tiefsten seines Seelisch-Geistigen heraus frei zu handeln in der Lage ist, wenn alle die Bedingungen erfüllt sind durch ein voriges Leben, wie ich es charakterisiert habe.

Aber der Angelos ist nicht imstande, den Menschen zu einem freien Leben zu führen, wenn der Mensch gewissermaßen automatisch mit seiner Sprache, mit seinem Volkstum hat verbunden werden müssen. Dann wird auch das individuelle Leben unfrei. Diese Unfreiheit drückt sich dadurch aus, daß der Mensch zwar innerlich auch ein Bewußtsein entwickelt, wenn er nicht freie Begriffe faßt, sondern wenn er innerlich Worte denkt, aber der Mensch wird veräußerlicht, wird unfrei gemacht dadurch, daß sein ganzes Denken in Worten aufgeht. Das ist aber sogar ein Grunderlebnis der Menschen der heutigen Zeit, daß ihr Denken eben in Worten aufgeht. Man begreift auch das Erdenleben in seiner geschichtlichen Entwickelung, besonders in seinem gegenwärtigen Zu­stande nicht, wenn man nicht aufsteigt zu dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, zu der geistig-seelischen Welt.

Will man also die menschliche Gestalt verstehen, muß man zum Fix­sternhimmel hindeuten. Will man die menschlichen Lebensstufen ver­stehen, muß man zur Planetensphäre hindeuten. Will man das mensch­lich-geistig-seelische Leben verstehen, dann kann man nicht stehen­bleiben zwischen der Geburt und dem Tode, denn dieses geistig-seelische Leben wurzelt, wie wir gesehen haben, in der Welt der höheren Hier­archien, wie das physische und ätherische Wesen der Menschen zu der physischen und ätherischen Außenwelt gehört.

Will man also Denken, Fühlen und Wollen richtig verstehen, dann muß man nicht bloß den Menschen in seiner Beziehung zur sinnlichen Außenwelt ins Auge fassen, dann muß man den Menschen ins Auge fassen in bezug auf sein Leben zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt. Denken, Fühlen, Wollen sind die Kräfte, durch die sich zunächst unser Seelenwesen entwickelt. Unsere idealen Gedanken, dasjenige, was sich in diese Gedanken, in das Seelenwesen hineinverpflanzt hat aus

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idealer Liebe, aus Frömmigkeit, das trägt uns gewissermaßen durch die Todespforte. Wie wir unser Denken beeinflußt haben, wie unser Den­ken von einer idealen Gesinnung durchdrungen war, das bringt uns in der richtigen Weise zu der ersten Begegnung mit den Archangeloi. Dann aber, indem wir die Mitternachtsstunde des Daseins überschreiten, dann verglimmt, möchte ich sagen, unser Denken. Denn dieses Denken ist es, das nun gerade bearbeitet wird nach der Mitternachtsstunde des Daseins hin für das nächste Erdendasein. Und aus demjenigen, was dieses unser Denken war, werden nun diejenigen Kräfte geformt, die die physischen Denkorgane durchziehen im nächsten Erdenlebena

Wenn Sie auf den menschlichen Kopf hinschauen und sehen, wie die Kräfte darinnen wirken, so sind es nicht etwa bloß die Kräfte, die in diesem Leben wirken. Es sind diejenigen Kräfte, die vom Denken des vorigen Lebens herrühren und die die Form unseres Gehirns zustande bringen. Dagegen bei der zweiten Begegnung mit dem Archangeloi ist es namentlich der Wille, der da seine besondere Rolle spielt im seelisch-geistigen Leben des Menschen. Und der Wille, der ist es, der dann im nächsten Erdenleben mehr unseren Gliedmaßen-Stoffwechselorganis­mus ergreift. Dieser Wille tritt dann, wenn wir durch die Geburt ins Erdendasein eintreten, als dasjenige auf, was uns von seiten des Glied­maßen-Stoffwechselmenschen geschickter oder ungeschickter zu dem oder jenem macht. Ich möchte sagen, in unserem Kopfinneren sehen wir mehr das physische Abbild dessen, was wir im vorigen Leben an Gedanken entwickelt haben. In den Fähigkeiten unseres Stoffwechsel­Gliedmaßenmenschen sehen wir das Wirken der neuerworbenen Wil­lenskräfte, die uns nun entweder innerlich-seelisch, wie ich geschildert habe, oder mehr automatisch eingegliedert werden bei der zweiten Be­gegnung mit dem Archangeloi.

Wer sieht, wie sich gewissermaßen herausgestaltet hat das gegen­wärtige Leben, das gerade für die abendländische Menschheit zu sol­chen Niedergangskräften führt, der wird mit dem allergrößten, ideal­sten Interesse zu demjenigen hinschauen, was tätig war in dem Men­schen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, in dem Leben, das vorangegangen ist diesem Erdenleben. Und er wird gerade aus dem, was er in dieser Beziehung erkennen kann, den starken Impuls bekommen,

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der Menschheit, die schon in ihrer vorigen Inkarnation zu mate­rialistisch war, jetzt, wo die Folgen dieses Materialismus im Völker-leben aufgetreten sind, dasjenige zu bringen, dasjenige als Anregung zu geben, was wiederum hinführen kann zu einer Verinnerlichung, zur Freiheit, zu einem wirklich innerlichen, das heißt selbstverständlichen Leben in Sprache und Volkstum, das nicht in Disharmonie steht mit dem Internationalismus, mit dem Kosmopolitismus.

Das aber kann nur errungen werden, wenn unser Denken durch-glüht werden kann von wirklicher Geistigkeit. Was enthält denn eigent­lich der heutige Geist des Menschen? Gedanken - Gedanken über etwas. Wenn heute der Mensch von seinem Geiste spricht, spricht er eigentlich nur von seinen Gedanken, von dem mehr oder weniger abstrakten Den­ken. Was wir brauchen, das ist wirklicher Geist, der innerlich in uns eindringt, lebendiger Geist. Von solchem lebendigem Geist handelt aber wirklich Anthroposophie in der Anschauung der Welt, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt liegt. Der Mensch hat also heute nötig, von seiner Gestalt, von seiner Form, von seinen Lebensstufen, von sei­nem Seelisch-Geistigen aus sich selbst zu betrachten als angehörig einer Welt, die außerhalb des Irdischen liegt. Dann wird er in das Irdische das Richtige hereintragen können.

Wir haben es erlebt, wie das Geistige des Menschen allmählich auf­gesogen worden ist von den andern Elementen des Erdendaseins, von dem politischen Leben, von dem wirtschaftlichen Leben. Wir brauchen die Hinneigung zu einem selbständigen Geistesleben. Das allein nur kann die Grundlage geben für die Durchdringung des Menschen mit wirklicher Geistigkeit, mit geistiger Substanz, nicht bloß mit den Ge­danken über irgend etwas. Deshalb muß Anthroposophie sich geneigt finden, für eine Befreiung des Geisteslebens zu wirken. Wenn dieses Geistesleben sich nicht auf seine eigenen Grundlagen stellt, so wird der Mensch immer mehr und mehr ein Abstraktling werden. Er wird sich nicht durchdringen können mit lebendigem Geiste, sondern nur mit abstraktem Geiste.

Wenn der Mensch hier im physischen Leben durch des Todes Pforte geht, so wird sein physischer Leichnam in die Erde versenkt oder den Elementen übergeben. In diesem physischen Leichnam ist nicht mehr

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der Mensch in seiner wahren Wesenheit. Wenn der Mensch durch die Geburt geht so, daß er in bezug auf Volkstum, auf Sprache, in bezug auf sein eigenes Handeln automatisch geworden ist durch die geschil­derten Vorgänge, dann erstirbt das lebendige Denken, das lebendige Wollen, das lebendige Geistig-Seelische, indem der Mensch in die phy­sische Welt hereingeboren wird. Und dann entsteht der Leichnam des göttlich-geistig-seelischen Menschen innerhalb des physischen Erden-daseins.

In unserem abstrakten, rationalistischen Denken haben wir den Leichnam des Geistig-Seelischen. Wie wir in dem übriggelassenen phy­sischen Leichnam nicht mehr die wahre Menschenwesenheit haben, so haben wir in einem abstrakten Denken, in einem nicht durchgeistigten Seelenwesen eigentlich nur das Leichnamhafte der göttlich-geistigen Welt. Und die Menschheit steht eben heute an dem starken Entschei­dungspunkte, wo sie sich entschließen muß, die geistige Welt wiederum aufzunehmen, damit dasjenige, was mehr oder weniger als göttlich-geistiger Leichnam im abstrakten Denken der Menschheit Platz ge­griffen hat, was nun wieder den Instinkten und Trieben, dem automa­tischen Wesen Platz gemacht hat, damit das der Mensch wiederum durchdringen kann.

Sie sehen schon, tief wahr ist es, was ich auch gestern am Schlusse meines Vortrages vor der hiesigen Studentenschaft gesagt habe, tief, tief innerlich wahr ist es: Der Mensch braucht in der Gegenwart, wenn er vom Niedergang zu einem wirklichen Aufstieg wiederum kommen will, die Überwindung des Abstrakten, man möchte sagen, des Seelisch­Leichenhaften, das im gegenwärtigen Intellektualismus und Rationalis­mus vorhanden ist. Der Mensch braucht eine Art Auferweckung des Seelisch-Geistigen. Und diese Auferweckung des Seelisch-Geistigen, die erkennt man eben in seiner Notwendigkeit aus den Erscheinungen des sozialen und geschichtlichen Gegenwartslebens heraus. Wenn man sie richtig und unbefangen erkennt, dann sagt man sich: Anthroposophie hat gewiß eine ewige Aufgabe, eine Aufgabe gegenüber dem im Men­schen, was über alle Zeitepochen in ihm leben muß. Aber in der heu­tigen Gegenwart hat sie auch eine zeitliche Aufgabe. Sie muß den Men­schen zurückbringen von der Veräußerlichung, von der Lähmung, von

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der Ertötung des göttlich-geistigen Lebens in ihm. Sie muß dieses gött­lich-geistige Leben zurückbringen, indem der Mensch lernt, sich nicht bloß als ein Erdenwesen, sondern als ein Himmelswesen anzusehen, indem er lernt, daß er sein Erdendasein in der richtigen Weise nur da­durch führen kann, daß er die Kräfte des himmlischen Daseins, des Daseins zwischen Tod und neuer Geburt in dieses Erdenleben hinein-trägt.

An diese Dinge wollen wir dann das nächste Mal noch anknüpfen, um sie zu einem gewissen Abschlusse zu bringen in der Zeit, in der ich noch in mich befriedigender Weise unter Ihnen weilen kann.

DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE NORWEGENS UND SCHWEDENS Dritter Vortrag, Kristiania (Oslo), 4. Dezember 1921

#G209-1968-SE044 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DIE SPIRITUELLE ZUKUNFTSAUFGABE

NORWEGENS UND SCHWEDENS

Dritter Vortrag, Kristiania (Oslo), 4. Dezember 1921

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Die beiden Stunden, in denen ich wieder zu Ihnen sprechen durfte, waren gewidmet den wichtigen Betrachtungen über das Menschen-wesen und Menschengeschick. Auf der einen Seite sollte zur Erörterung kommen, wie des Menschen physischer und ätherischer Leib in Ver­bindung stehen mit dem, was wir nicht bloß auf der Erde als äußere Welt wahrnehmen, sondern wie diese Leiblichkeit des Menschen erst begriffen werden kann, wenn wir sie auch angeschlossen denken an den Sternenumkreis. Und wir haben versucht, uns klarzumachen, wie der Fixsternhimmel, wie die Planetensphäre gestaltend und belebend ein­greifen in dasjenige, was der Mensch in seiner äußern Umhüllung hat. Auf der anderen Seite haben wir aber auch das letzte Mal uns vor die Seele geführt,wie das,was des Menschen Inneres ist, sein eigenes Geistig­Seelisches, nur begriffen werden kann, wenn man es im Zusammen-schlusse denkt mit der Welt der höheren Hierarchien. Und wir haben darauf hingewiesen, daß eigentlich dieser Zusammenhang mit der Welt der höheren Hierarchien besonders dadurch auffällig wird, daß wir beobachten, wie der Mensch hier durch sein physisches Leben auf der Erde eine Beziehung bekommen kann in moralischer, in religiöser Hin­sicht, in bezug auf Menschenliebe und so weiter, zu der geistigen Welt, wie er dadurch in einer gewissen Weise es seinem mit ihm in Verbin­dung stehenden Engelwesen möglich macht, so auf ihn einzuwirken, daß das Herabkommen nach dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt so verläuft, daß der Mensch dann wieder zur vollen Individualität, zum freien individuellen Ergreifen seines Menschen-wesens kommt. Wir mußten darauf hinweisen, wie der Mensch da­durch, daß er eine solche Verbindung mit der geistigen Welt nicht ein­geht in irgendeiner Inkarnation, zum Beispiel in bezug auf sein Volks­tum in einer äußerlichen Weise mit diesem Volkstum in Verbindung kommt, wodurch solche Dinge entstehen wie das äußerliche, in seinem

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Extrem nach dem Chauvinismus hindrängende Sich-Zusammenschlie­ßen mit dem Volkstum.

Man sieht aus solchen Betrachtungen dann, wie man den Menschen in seinem Leben nur verstehen kann, wenn man das Leben auch auf seiner andern Seite betrachtet, auf der Seite zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Sobald wir eben an das menschliche Innere kom­men, müssen wir dieses Leben zwischen dem Tod und einer neuen Ge­burt ins Auge fassen. Denn das Leben hier auf der Erde ist eigentlich ein Abbild dieses Lebens zwischen Tod und neuer Geburt. Es ist das Leben im Materiellen das Leibliche, und in diesem Leiblichen drückt sich bloß dasjenige aus, was wir vor unserer Geburt in der geistig-seelischen Welt ausgebildet haben. Was wir neu bekommen müssen, was sich neu ausbilden muß in unserem menschlichen Wesenskern, das ist das willensmäßige und in einer gewissen Beziehung auch das gefühls­mäßige Element. Das denkerische Element, das an unser Haupt, an un­seren Kopf gebunden ist, das bekommen wir bis zu einem hohen Grade, nämlich bis zu dem Grade, wo die Gefühle dann mitsprechen beim Denken, aus der geistigen Welt vor unserer Geburt mit. Was wir an eigentlich denkerischen Fähigkeiten haben, bringen wir uns durch die Geburt in das physische Dasein herein und müssen es während dieses physischen Daseins nur ausbilden oder durch das Schulwesen ausgebil­det bekommen. Das aber, was wir in der neuen Inkarnation durch den Verkehr mit der äußeren Welt hauptsächlich bekommen, das ist das gefühls- und willensmäßige Element, das ist dasjenige Element, welches in der Erziehungsfrage deshalb die größte Rolle spielen muß.

In der Erziehungsfrage liegt es ja so: Wenn wir in bezug auf das Gedankliche schlechte Lehrer oder schlechte Erzieher sind, so können wir manches in dem Menschen unausgebildet lassen, was er vermöge seiner früheren Erdeninkarnation zum Ausdruck bringen könnte. Wenn wir aber in bezug auf Gefühl und Wille durch unsere eigene Autorität als Lehrer und Erzieher, durch unser Vorbild nicht auf das Kind zu wirken in der Lage sind, dann geben wir einem solchen Kinde nicht das Richtige, was es hier in der physischen Welt erhalten soll, und wir schädigen sein Leben nach dem Tode. Das ist dasjenige, was einem in dem heutigen Weltenwesen, wenn man die Dinge durchschaut, einen so

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tiefen Schmerz verursacht. Die Menschen versuchen heute in Lehre und Erziehung immer wieder und wieder auf die Anschauung hinzuweisen, dadurch das Kind zum Denken zu bringen, Intellektualistisches in dem Kinde auszubilden. Dadurch wird allerdings vieles von dem, was das Kind sich durch die Geburt ins Dasein bringt, herausgeholt. Aber das kann doch nur von Nutzen sein, wenn dem Kinde auch entgegenge­bracht wird für das irdische Leben in der richtigen Weise dieses irdische Leben selber, wenn wir ihm also das, was in Gefühl und Wille un-anschaulich liegt, auch unanschaulich durch unsere Autorität, durch unser Vorbild beizubringen vermögen. Und vor allen Dingen schädigen wir das ewige Leben des Kindes, wenn wir nicht Gefühl und Wille aus­bilden. Denn das Denken, das wir uns mitbringen durch die Geburt, das findet seinen Abschluß hier in dieser sinnlichen Welt. Das stirbt mit uns. Allein dasjenige, das wir durch Gefühl und Wille ausbilden, was aller­dings dann unbewußt sich wiederum mit neuen Gedanken durchsetzt, nehmen wir durch die Pforte des Todes mit. Es wird schon eintreten müssen in unserer gegenwärtigen schweren Zeit für die Menschheit, daß Religion, Erziehung, allgemeines Geisteswesen, das ganze Leben über­haupt wiederum Rücksicht nehmen auf die ewige Natur des Menschen, und dabei nicht bloß auf den menschlichen Egoismus sehen.

Die Religionen der heutigen Zeit spekulieren ja zu sehr auf den menschlichen Egoismus. Sie huldigen auf der einen Seite der Trägheit, indem sie den Menschen nicht anspornen zu eigener, innerer, gefühis­mäßiger und willensmäßiger Erarbeitung des Ewigen, und sie huldigen auf der andern Seite dem Egoismus, indem sie von dem ewigen Leben nur als von demjenigen sprechen, was nach dem Tode da sein wird, nicht von demjenigen, was vor der Geburt beziehungsweise Empfäng­nis da war, und das wir heruntergetragen haben in die physische Welt. Ich habe schon das letzte Mal gesagt: Um von diesem Leben vor der Geburt zu sprechen, muß man von den selbstlosen Kräften des Men­schen sprechen, während man nur vom Egoismus zu sprechen braucht, wenn man dem Menschen vom Leben nach dem Tode spricht. Und selbst dieses Reden vom Leben nach dem Tode nimmt noch in den heu-tigen Religionsbegriffen eine egoistische Form an. Es wird so an den Menschen herangebracht, daß der Mensch vor allen Dingen seine Begierde

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befriedigt. Wenn die Religionen den Menschen ein Wohlgefallen beigebracht zu haben vermeinen, so daß der Mensch ein Seelenleben ego­istisch führen kann, dann glauben sie genug getan zu haben. Was aber durch eine wirkliche geistige Erfassung der Welt wiederum in die ganze Menschheit hineinkommen soll, das ist, daß wiederum in einer unego­istischen und in einer ewigen Weise des Menschen ganzes Leben auf­gefaßt und auch von Erziehern, Lehrern und so weiter gestaltet wird.

Das aber hat auch für die großen öffentlichen Verhältnisse seine Be­deutung. Und von solchen großen öffentlichen Verhältnissen möchte ich nun heute in der dritten Betrachtung, die ich vor Ihnen anstellen darf, sprechen. Denn es ist heute im höchsten Maße notwendig, daß wir das, was wir uns aneignen durch eine anthroposophische Erkenntnis der höheren Welten, auch wirklich in das unmittelbare Leben hineintragen, daß wir es im Leben darzustellen verstehen. Aber mit dem Leben ist es so, daß uns abstrakte Lehren wenig nützen. Das Leben ist mannigfaltig auf der Erde. Es sind nicht nur, wenn wir die Mannigfaltigkeit des Lebens zum Beispiel auf das Völkerdasein anwenden, die Inder von den Amerikanern oder Engländern verschieden, es sollen sogar, wie mannig­faltig versichert wird, die Schweden von den Norwegern verschieden sein, die ja nicht so weit auseinander sind. Es ist schon so, daß wir in der Welt nicht nach allgemeinen Grundsätzen uns richten können, son­dern daß wir durchaus überall konkrete einzelne Verhältnisse haben und daß man diese ins Auge fassen muß. Aber gerade diese einzelnen konkreten Verhältnisse lernt man nicht kennen, wenn man nicht von Gesichtspunkten des Geistigen ausgeht. Der heutige Mensch kennt ei­gentlich die Welt nicht. Er redet viel über die Welt, aber er kennt sie nicht, denn er weiß nicht, wie dieses Geistig-Seelische hereinragt in dieses physische Dasein und wie schließlich doch das Geistige dieses physische Dasein regiert. Also man kann schon sehen, wie es mit ab­strakten allgemeinen Prinzipien nicht getan ist. Gewiß, diese allge­meinen abstrakten Prinzipien sind richtig, aber man kommt mit ihnen nicht sehr weit in der wirklichen Welt.

Es ist ganz gewiß ein richtiges Prinzip, daß Gott die Welt regiert. Aber es nützt gegenüber der Mannigfaltigkeit der Welt nichts, daß der Mensch sich vorhält: In Indien regiert Gott die Welt, in England regiert

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Gott die Welt, in Schweden regiert Gott die Welt, in Norwegen regiert Gott die Welt. Es ist gewiß, daß Gott die Welt überall regiert, aber es ist notwendig für das unmittelbar wirkliche Leben, daß man weiß, wie Gott die Welt in Indien, wie Gott die Welt in England, wie Gott die Welt in Schweden, wie Gott die Welt in Norwegen regiert. Auf die einzelnen konkreten Verhältnisse muß man auch bei der geistigen Be­trachtung eingehen. Was würde es denn zum Beispiel nützen, wenn man den Menschen auf eine Wiese führte und ihm dort irgendeine Pflanze zeigte, welche gelbe Blüten, rundliche Blumenblätter hat, und man lehrte ihn nur: Das ist eine Pflanze -, und man ihn dann führte vor eine Pflanze, die Stacheln hat, die ganz spitze, fadenförmige Blumen-blätter hat, und man sagte ihm: Das ist eine Pflanze. - Man muß ihm das einzelne der Pflanze klarmachen! Aber in bezug auf geistige An­gelegenheiten ist der Mensch so ungemein bequem geworden, daß er mit den allgemein geistigen Prinzipien immer zufrieden ist, daß er immer nur hören will: Gott regiert die Welt, oder: Man hat einen Engel -; während er nicht im einzelnen wissen will, wie das Dasein sich gestaltet über die mannigfaltigsten Gebiete der Erde hin zum Beispiel, und wie­derum über die mannigfaltigsten Gebiete des Lebens aus der geistigen Welt heraus.

Wir wollen daher heute eine solche Betrachtung anstellen, welche nach dieser Richtung hinzielt. Man kann ja wirklich gerade in dieser heutigen Zeit, wo vieles so tumultuarisch abläuft, wo auf der andern Seite die Menschen auf weiten Gebieten der Erde so ratlos sind in bezug auf die öffentlichen Angelegenheiten, wo so vergeblich Kongresse und Konferenzen abgehalten werden, auf denen die Menschen zunächst große Programme entwickeln, um nachher auseinanderzugehen, ohne irgend etwas eigentlich entschieden zu haben, man kann gerade heute tiefere Fragen aufwerfen wollen über dasjenige, was in den einzelnen Gebieten der Erde vom Geiste heraus regierend sich offenbart.

Wenn wir auf das Halbinselgebilde blicken, welches Sie mit den Schweden zusammen als Ihren irdischen Wohnplatz betrachten, so hat es schon etwas,was gewissermaßen Rätsel aufgibt den außerhalb Schwe­dens und Norwegens wohnenden, aber auch den innerhalb Schwedens und Norwegens wohnenden Menschen. Es war ganz gewiß ein großer

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Unterschied in der Art und Weise, wie, sagen wir, seit 1914 Sie hier über die tumultuarischen Angelegenheiten der Welt gedacht haben, die ja gewiß hereingeschlagen haben in der mannigfaltigsten Weise, und wie in Mitteleuropa darüber gedacht wurde. Aber heute lebt ja der Mensch in bezug auf solches Hereinschlagen zumeist unbewußt, er macht sich nicht klar,welche tieferen Kräfte da walten. Und Sie konnten hinunter­schauen in die mitteleuropäischen Gegenden, in die südlichen europä­ischen, afrikanischen, selbst asiatischen Gegenden, und Sie werden ge­sehen haben, daß da die Dinge sich nicht so abspielen, daß man eigent­lich nur wie hier oben die Folgeerscheinung wahrnimmt, das Herein-spielen, das Herüberschlagen, sondern daß man etwas wahrnimmt, was aus den unmittelbaren menschlichen Leidenschaften herausquillt, was einen elementaren Charakter trägt, was wirklich den Charakter trägt, den man vielleicht ganz rätselhaft gefunden hat hier im Norden: als ob die Menschen einmal plötzlich rasend geworden wären, um übereinan­der herzufallen und sich zu zerfleischen. Diejenigen, die Zuschauer waren, die konnten ja ganz gewiß vieles in dieser Beziehung rätselhaft finden, wenn sie nur tiefer nachdachten.

Aber solche Dinge werden nur klar, wenn man nicht nur einen ein­zelnen Zeitraum, und wäre es selbst einen, in dem so vieles geschieht wie in den letzten Jahren, betrachtet. Es ist ja wahr, derjenige, der die letzten Jahre durchlebt hat, der kann sagen, es ist ihm so, wie wenn er Jahrhunderte durchlebt hätte. Man wird erst nach und nach einsehen, daß das so ist. Die meisten Menschen leben ja heute noch so, denken so, wie es 1914 der Fall war. In den Ländern, die so sind, wie diese nor­dischen, ist es einigermaßen begreiflich. Daß es in Mitteleuropa auch so ist, ist ja etwas Furchtbares. Das Normale ist nur, daß der Mensch fühlt, er habe etwas durchgemacht, wie man es sonst nur innerhalb von Jahr­hunderten durchmachen kann. Das alles war zusammengedrängt in wenigen Jahren. Man braucht sich ja nur zu überlegen, daß schließlich solche Ereignisse, wie sie 1914, 1915 vorgegangen sind, in einem kurzen Zeitraume so viel in sich faßten wie etwa zehn Jahre Dreißigjähriger Krieg. Aber ein einigermaßen bedeutsames Licht kann auf diese Dinge nur fallen, wenn man sie in einem größeren historischen Zusammen-hange betrachtet.

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Und da sehen Sie gerade hier von dem Standpunkte Ihrer nordischen Halbinsel aus, wie sich im Grunde genommen erst seit dem Beginn un­seres Zeitalters südwärts von Ihnen Dinge abgespielt haben, an denen Sie eben doch in anderer Weise teilgenommen haben als diejenigen, die im europäischen Süden, im westlichen Asien oder auch in Mitteleuropa an diesen jahrhundertelangen Ereignissen teilgenommen haben. Man muß nur einmal die polarischen Gegensätze, die zwischen dem Süden von Europa und dem Norden von Europa sind, zu einem ganz bestimm­ten Zeitraum ins Auge fassen.

Nehmen Sie einmal so etwas wie das 4. nachchristliche Jahrhundert oder das Zeitalter eben, das im 4. nachchristlichen Jahrhundert seinen Gipfel erlangt. Sie sehen im Süden auf der griechischen, namentlich auf der italienischen Halbinsel, auch in demjenigen, was sich nun schon in Mitteleuropa darangeschlossen hat: das Christentum breitet sich immer mehr und mehr aus. Aber man nimmt auch noch etwas anderes wahr. Dieses Christentum hat sich vom Osten herüber in die europäisch-heidnische Welt eingelebt. In verschiedener Weise hat es sich in den ersten Jahrhunderten in diese heidnische Welt eingelebt. Und wenn wir die ersten Jahrhunderte, das 1., 2., auch noch das 3. Jahrhundert ins Auge fassen, so finden wir eigentlich überall, daß das Christentum durchsetzt ist von alter Weisheit, von der alten Erbweisheit der Men­schen. Mit Hilfe der sogenannten Gnosis will man das Christentum begreifen. Mit der höchsten Weisheit will man das Christentum durch­dringen. Das wird eigentlich erst anders im 4. nachchristlichen Jahr­hundert. Gerade dann wird es anders, als das Christentum beginnt, mehr sich nach den Gegenden Mitteleuropas auszubreiten. Da ver­schwindet die gnostische, die weisheitsvolle Auffassung des Christen­tums. Man erlebt es, daß ein solcher Schriftsteller, der noch etwas von der alten gnostischen Weisheit in das Christentum hat hineinbringen wollen, wie Origenes, verketzert wird. Man erlebt es, daß Julian, der sogenannte Apostat, der die alte heidnische Weisheit mit dem Christen­tum hat verbinden wollen, perhorresziert wird. Und man erlebt end­[ich das Außerlichwerden des Christentums in einer politischen Kir­chenform durch die Tat des Konstantin. Was zunächst ganz anders war im Christentum, was weisheitsvoll war, was so war, daß man sich sagte,

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höchste Weisheit ist notwendig, um die christlichen Geheimnisse zu be­greifen, das nimmt im 4. Jahrhundert allmählich einen immer weniger weisheitsvollen Charakter an. Man verlangt immer mehr und mehr, daß die Menschen mit einem gewissen elementaren Sinn bloß, mit einem abstrakten Gefühl das Christentum begreifen sollen. Das Christentum schiebt sich herauf vom Süden nach Norden. Man hat allerdings in den Jahrhunderten vom 4. bis zum 15. Jahrhundert im Süden und nament­lich in Mitteleuropa viel Seelisches in demjenigen, was sich als das christliche Leben entwickelt, aber das eigentlich Geistige ist gewichen. Die Gnosis wird als etwas betrachtet, was man im Christentum nicht mehr haben will. Das sind so etwa ein paar Streiflichter nur über das, was im Süden der Nordvölker Europas vorgeht.

Es breitet sich das Christentum aus, muß sich einleben in die grie­chische Welt, in die römische und in die mitteleuropäische Welt. Es wird in einer gewissen Weise da entgeistet. Betrachten Sie nun, sagen wir, in demselben 3., 4. Jahrhunderte, also in den ersten Jahrhunderten der nachchristlichen Zeit, Ihre nordische Welt hier. Man kann es ja heute mit der äußeren Geschichte wohl wenig, denn diese äußere Geschichte berichtet gerade darüber nicht das Wahre, man muß es an der Hand der Anthroposophie tun. Mit Bezug auf die europäischen Völker-seelen haben wir das vor Jahren hier getan, aber mit Bezug mehr auf den äußeren Volkscharakter wollen wir es heute einmal ins Auge fassen.

In der Zeit, in der es im Süden immer mehr und mehr so wird, daß sich der Geist nach dem Orient zurückzieht, bald nach der Zeit, die ich geschildert habe, werden ja die alten athenischen Philosophenschulen geschlossen, und die letzten Philosophen Athens müssen sich zurück­ziehen nach dem Orient, wo sie sich verbinden mit der geheimnisvollen Akademie von Gondishapur, die dann ein merkwürdiges Geistesleben über Afrika und Südeuropa herüber nach dem übrigen Europa ver­breitete, welches das spätere Geistesleben viel beeinflußte. Aber man kann doch sagen: Da unten im Süden müssen die Menschen zurück­blicken auf eine hohe Geistigkeit, die sie einstmals gehabt haben. Das gewaltige Ereignis von Golgatha ist hereingebrochen. Man hat in den ersten Jahrhunderten noch nötig befunden, mit Hilfe dieser hohen

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Geistigkeit das Mysterium von Golgatha zu begreifen. Man hat diese Geistigkeit allmählich abgestreift. Es ist immer mehr und mehr Mensch­liches an die Stelle desjenigen getreten, was man nennen kann das göttliche Wirken in dem Menschen.

Gnosis war noch etwas, wodurch der Mensch sich bewußt wurde, daß ein göttlich-geistiges Sein in ihm ist. Immer mehr und mehr wurde dieses göttlich-geistige Sein abgestreift, und das Menschliche sollte her­auskommen. Dazu haben viel diejenigen Völkerschaften beigetragen, die man als die Glieder der Völkerwanderungsvölker bezeichnete. Bei ihren Wanderungen nach dem Süden, bei ihren Eroberungen der süd­lichen Gebiete haben diese mitteleuropäischen Völker, diese mitteleuro­päisch-germanischen Völker, die eine, ich möchte sagen, mehr natürlich an das Physische gebundene Seele mitgebracht haben, dazumal mitge­wirkt an diesem Zurückdrängen des Geistigen, indem sie nicht verstan­den haben die alte Geistigkeit, und ein mehr menschlich-elementarisches Wesen nach dem Süden gebracht haben. Und die hohe menschliche Ur­weisheit ist so allmählich aus der abendländischen Geisteskultur heraus-gewichen. Und in derselben Zeit, also im 3., 4. nachchristlichen Jahr­hundert, in welcher im Süden dieses Zurückdrängen des Geistigen statt­findet, sehen wir hier oben im Norden, daß sich unter diesen Menschen des Nordens noch durchaus Götterlehren verbreiten.

In dieser Zeit war es noch durchaus so, daß in hohem Ansehen stan­den diejenigen, die in instinktiver Weise inspiriert wurden. Es spielten sich hier Zeiten ab, die für die südliche Bevölkerung der Erde längst vorüber waren. Hier konnte man noch erleben, wie der einzelne Mann oder die einzelne Frau da oder dort in der Einsamkeit aufgesucht wurde und wie ihnen in dieser Einsamkeit zugehört wurde, wie sie in geheim­nisvoller Art durch ihre besonderen Fähigkeiten, die an die besondere Ausbildung ihres Körperlichen gebunden waren, wie sie aus dieser be­sonderen Ausbildung ihrer Fähigkeiten heraus Offenbarungen gaben über die geistigen Welten. Als ursprüngliche Naturanlage erschien das bei den einzelnen Menschen, die in dieser Weise unter den andern wirk­ten. Und indem die größeren Völkermassen solchen einzelnen einsamen Offenbarern aufmerksam lauschten, waren sie sich durchaus bewußt, daß, wenn sie in die Hütte dieses oder jenes gotttrunkenen und gottoffenbarenden

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Mannes oder auch einer gottoffenbarenden, gottdurch­tränkten Frau eintraten, es eigentlich nicht dieser physische Mann oder diese physische Frau waren, denen sie zuhörten, denen sie lauschten, sondern daß es die göttliche Geistigkeit selbst war, die da herunter-gestiegen war, die inspiriert hatte diese einzelnen Persönlichkeiten, da­mit diese einzelnen Persönlichkeiten Gotteslehren ihren Mitmenschen geben konnten.

Es ist das Auffallende für den anthroposophischen Geschichtsbe­trachter Europas, daß in derselben Zeit, wo wir den Geist immer mehr und mehr sich ablähmen sehen im Süden, wo immer mehr und mehr das Menschliche höchstens Seelen erfüllt, aber eben das Physisch-Mensch­liche, das der Mensch auf der äußeren physischen Erde auslebt und gegenüber dem Göttlichen immer mehr und mehr überhand nimmt, daß da gerade hier oben im Norden, in dem entscheidenden 4. Jahrhundert, während im Süden die Menschen immer mehr und mehr begierig wer­den, Menschenlehren entgegenzunehmen, die Menschen hier oben im Norden durchaus noch dafür veranlagt waren, Gotteslehren entgegen-zunehmen, zu fühlen, daß die Götter, das heißt, die Wesenheiten der höheren Hierarchien noch unter ihnen wandeln.

Wir müssen daher durchaus ernst nehmen die aus der grauen Geistes-tiefe heraufleuchtenden einzelnen Kundgebungen, die so angesehen wer­den, als ob - was eben die Wahrheit ist - in diesen Zeiten unter den nordischen Völkern, die da noch kindlich waren, die Götter als die Lehrer gewandelt hätten. Derjenige Zustand, der in einer bestimmten Weise da im Norden noch in den ersten christlichen Jahrhunderten uns entgegentritt, war für die südlichen Gegenden längst vorüber. Aber es ist doch merkwürdig, tief bezeichnend, wie in dem Schicksal der Völker es vorgezeichnet ist, daß die nordischen Menschen die Träger werden in einer bestimmten Weise für den Süden in bezug auf dasjenige, was diese nordischen Menschen nun wiederum nicht von Menschen, sondern von Göttern gelernt hatten.

Nehmen wir nur das ganz ernst, daß diejenigen Menschen, die zum Beispiel sich anschließen hauptsächlich an die Bevölkerung des Westens Ihrer Halbinsel, die ihre Nachfolger in den heutigen Norwegern haben, ihre Züge beginnen nach Westen, nach Südwesten hinüber, daß sie

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beeinflussen bei ihren Wanderzügen, bei ihren Seefahrten, bei ihren Eroberungen bis nach Sizilien hinunter, bis nach Nordafrika dasjenige, was dort sitzt. Die Göttersöhne gehen zu den Söhnen der Welt, und sie bringen ihnen in einer ganz bestimmten Weise dasjenige, was sie noch von ihren Göttern gelernt haben.

Es ist ein interessantes Studium der Geschichte, wenn man diese Wanderungen der Nordvölker nach dem Südwesten hinüber betrach­tet, wie sich überall dasjenige, was sich hier noch als nordische Götter-lehre abgespielt hat, allerdings sich immer gleich metamorphosierend, verwandelnd, nach dem Südwesten hin ergießt und tief beeinflußt die englischen Inseln, Frankreich, Spanien, Italien, Sizilien, Afrika. Und wir sehen heute noch den Einschlag, der sich da bildet.

Dasjenige, was vom Süden nach dem Norden hinaufspielt durch das Römertum hindurch, durch das römisch-lateinische Element, das wird durchdrungen von dem nordischen Element. Man möchte sagen, was an Gottesbewußtsein erhalten geblieben ist von den vom Süden herauf­wandernden Kulturströmungen, das wird hier sich so darstellen, daß es den Einschlag der nordischen Götterlehren hat. Aber es nimmt doch einen eigentümlichen Charakter an, der einem erst ganz auffällt, wenn man nunmehr nach dem östlichen Teil dieser nordischen Halbinsel hin­sieht, nach dem schwedischen Teil.

Wir brauchen nur der einen Tatsache uns zu erinnern, wie die Bevöl­kerungen des europäischen Ostens zu den Warägern schicken, wie sie von da aus die Beeinflussung erhalten, und wie dasjenige, was im Osten der nordischen Halbinsel ist, eben auch mehr nach dem Osten hinüber­strömt. Wir haben ein merkwürdiges Wirken von dieser Halbinsel aus. Dasjenige, ich möchte sagen, was mehr zum Norwegischen später hin­neigt, strömt nach dem Südwesten, was mehr zu dem Schwedischen später hinneigt, strömt nach dem Südosten. Überall sind es allerdings die nordischen Götterlehren, aber sie sind in einer andern Weise ver­treten.

Es ist ein Zug bei denjenigen Völkern, die dann zu den Norwegern werden, vorhanden, das aktive Element, das erkraftende Element, das anfeuernde Element nach Südwesten zu tragen. Der erlahmenden roma­nisch-lateinischen Kultur wird auf diese Weise das Aktive, das Tätige

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eingepflanzt. Wir sehen also, ich möchte sagen, die nordischen Götter so wirken bei diesen Wanderungen, daß sie das ganze Völkerleben akti­vieren, in Tätiges verwandeln. In allen Einzelheiten ist das zu ver­folgen, und es ist reizvoll zu verfolgen.

Betrachten wir aber auf der andern Seite den ganzen merkwür­digen Charakter bis in die heutigen Tage hinein der ostskandinavischen Einflüsse nach dem Osten hinüber, der schwedischen Impulse nach dem Osten hinüber. Gewiß, durch geographische Verhältnisse mitbedingt! Aber diese geographischen Verhältnisse müssen doch auch im Volks­charakter liegen, denn der Mensch wächst nicht aus der Erde heraus, sondern er wird auf die Erde hin geboren, er kommt aus geistig-seeli­schen Welten herunter, und es ist nicht gleichgültig, ob er als Norweger oder als Schwede geboren wird. So daß man nicht auskommt damit, daß man bloß sagt, die geographischen Verhältnisse sind so, sondern man muß weiter fragen, warum die Seelen auf der einen Seite dahin streben, ein Norweger zu werden, auf der andern Seite dahin streben, ein Schwede zu werden.

Also die Ostskandinavier, sie strömen hinüber nach dem Osten, aber sie werden überall, indem sie vorwärtsströmen, wie abgelenkt. Sie ent­wickeln keine Aktivität. Sie können nicht widerstehen demjenigen, was sich vom Osten herüber, früher durch andere Asiaten, später durch mongolisch-tatarische Völkerschaften, und wiederum, was sich vom Süden herauf als das mehr nach dem Osten hinüberneigende Element der christlich-antiken Kultur entwickelt. Ich möchte sagen, diese Strö­mung, sie strömt hinunter nach dem Südosten, aber sie staut sich über-all. Sie nimmt durchaus, indem sie eindringt in dieses Element, einen passiven Charakter an.

Es ist tatsächlich alles an der äußeren Peripherie vom Norden aus tief beeinflußt. Aktiv wirkt überall nach dasjenige, was sich von dem Westen der nordischen Halbinsel nach dem Süden hin erstreckt. Ergrif­fen von dem Nichtaktiven wird überall dasjenige, was sich nach dem Osten hin erstreckt, von dem sinnigen Elemente des Ostens, und wird in einer gewissen Weise in der Aktivität abgestumpft. Die nordischen Götter, möchte ich sagen, indem sie nach dem Westen hinüber ihre Im­pulse schicken, entwickeln vor allen Dingen ihre Willensnatur. Die nordischen

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Götter, indem sie nach dem Osten hinüber ihre Wesensnatur schicken, entfalten ihre mehr Verstandes-, ihre mehr Vernunftnatur, ihre betrachtende Natur.

Außere Kriege, äußere Kämpfe sind ja zuletzt nur die sinnlichen Abbilder desjenigen, was in dieser Weise sich abspielte, wie ich es jetzt eben geschildert habe. Derjenige, der nun ein Abstraktling ist, der die ganze Welt vom Standpunkte irgendeiner Theorie betrachten will -und die heutigen Empiriker, die heutigen Menschen, die so stolz sind auf ihre äußere Wissenschaft, sind im Grunde genommen die stärksten Abstraktlinge, sie gehen nirgends auf die Realität ein, sie denken über die Sache nach, statt in die Sache unterzutauchen, um sie innerlich ken­nenzulernen -, diejenigen, die solche Abstraktlinge sind, werden allerlei charakteristische Eigenschaften, die sich noch bei den Norwegern zei­gen, die sich noch bei den Schweden zeigen, vorbringen. Man kann dann allerdings auch manches vorbringen, und in den Ländern selbst werden von den eigenen Bewohnern oftmals nur solche Eigentümlich­keiten des Äußeren vorgebracht, weil man heute nicht in die Tiefen der Menschennatur hinunterdringen will, um das Leben wirklich kennen­zulernen. Aber man muß solche Anschauungen anwenden auf das Le­ben, wie wir sie in diesen beiden Betrachtungen, die ich hier vor Ihnen halten durfte, kennengelernt haben. Man muß eben einführen in das äußere Leben die Betrachtung nicht nur vom Gesichtspunkte zwischen Geburt und Tod, sondern auch vom Gesichtspunkte zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, und man muß auf diejenigen Dinge sehen, die nicht allein den egoistischen Menschen befriedigen, der nach dem Tode selig werden will und der sich, weil er das physische Leben noch vor sich hat, um dieses vorgeburtliche Leben nicht kümmert, man muß nicht bloß diese Sache vom egoistischen Standpunkte aus betrachten, sondern man muß die Sache betrachten vom Standpunkte des allgemei­nen Menschenlebens aus, von dem Standpunkte aus, wie man eingreifen kann durch das, was man sich mitgebracht hat durch die Geburt aus geistig-seelischen Welten in dieses irdische Leben.

Da kommt man dann dazu, daß Zusammenhänge sind im Leben der Menschen, im Leben der Völker, die sich allerdings erst offen­baren, wenn man dasjenige überblickt, was der Mensch ist durch die

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Erdenleben hindurch, wenn man auf diejenigen Zeiten auch blickt, die er eben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt zubringt. Da zeigt sich der wunderbar merkwürdige Zusammenhang, und aus solchen merkwürdig wunderbaren Zusammenhängen begreift man dann das­jenige, was auf der Erde geschieht: Der heutige Norweger hat durchaus in seiner äußeren volksmäßigen Charakteristik Erbschaften von dem, was jene Menschen ausgebildet haben, die nach dem Südwesten einst­mals mit ihren Götteroffenbarungen hinübergekommen sind, um das römisch-lateinische Element aktiv zu machen. Damals wurde etwas ausgebildet im großen Weltenplane, was den norwegischen Menschen gerade ihren besonderen Charakter gegeben hat, was ihnen ihre beson­dere Aufgabe gegeben hat. Und diejenigen, die heute in Norwegen ge­boren sind, werden ihr Dasein nur verstehen, ihre Aufgabe in der Ge­samtwelt nur verstehen, wenn sie mit einem solchen geistigen Verständ­nis zurückblicken auf diejenigen Zeiten, die Norwegen auf besondere Weise haben werden lassen damals, als die nordischen Völker auf ihren Wanderzügen, auf ihren Beutezügen, auf ihren Erobererzügen nach dem Südwesten gezogen sind zu einer Erdenaufgabe. Aber diese Erden-aufgabe entsprang eben dazumal aus einem Charakter der hier an­sässigen Völker heraus. Dieser Charakter, der ist dazumal gewiß anders gewesen als heute, aber von ihm ist etwas als Erbschaft geblieben, was heute im Norweger steckt, die ihm ganz besondere Fähigkeiten erteilt, die auch unter dem Gesichtspunkte des ewigen Menschenlebens, des unsterblichen Menschenlebens eine gewisse Bedeutung haben.

Und ebenso ist es schließlich damit, daß in dem östlichen Teil dieser Halbinsel, wo sich dann der schwedische Charakter entwickelt hat, die alten Götterlehren so hinübergetragen worden sind nach dem Osten, daß man das nur so ausdrücken kann, daß man sagen möchte: Diese Götter wanderten hinüber nach dem Osten und erblickten im Osten Menschen, die ihre eigene Götterlehre noch bewahrt hatten in einer ge­wissen mystisch-orientalischen Form. So daß dasjenige, was mehr aus der Natur heraus eine Offenbarung war, da im Osten wenig angenom­men worden ist, und diejenigen, die nach dem Osten wanderten, mehr zum Betrachten, zum sinnigen Leben verurteilt waren.

Das aber hat wiederum eine Erbschaft hinterlassen, und diese Erbschaft

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drückt dem Volke seinen Charakter auf. Und ich möchte sagen: Will man heute den westlichen und den östlichen Teil der skandinavi­schen Halbinsel verstehen, so muß man auf dasjenige zurückblicken, was diese Völker im Verlaufe der Jahrhunderte erlebt haben, was sie durch das, was sie da erlebt haben, heute der Welt geworden sind, denn heute haben wir alle Ursache, über so etwas nachzudenken. Wir können es heute ganz gut auf eine leicht elementare Weise verstehen, wie schon geistige Kräfte in die Welt hereinwirken müssen in den ganzen inter­nationalen Weltenverlauf und in das ganze internationale Menschen-leben, und wie die einzelnen Volksmissionen verstanden werden müssen vom Gesichtspunkte spiritueller Erforschung der Welt.

Wenn man nun mit übersinnlicher Erkenntniskraft darangeht, die­sen Zusammenhang zu erforschen zwischen den Aufgaben der heutigen Norweger und Schweden und ihren historischen Entwickelungsgängen, dann stellt sich eine merkwürdige Beziehung heraus. Eine ganz be­stimmte Anlage haben, nicht nur wenn sie durch die Geburt in das nor­wegische Dasein treten, die Norweger. Dasjenige, was sich da ent­wickelt, kann man ja in der äußeren physischen Welt sehen; das können Anthropologen, Kulturhistoriker oder meinetwillen selbst Journalisten beschreiben. Es wird mehr oder weniger treffend sein, aber es wird nicht das ausmachen, was im Inneren der menschlichen Seele quillt. Denn der Mensch hat nicht nur eine Mission hier auf der Erde, der Mensch hat auch eine Mission, wenn er durch den Tod getreten ist, für die geistigen Welten. Und diese Mission, die der Mensch hat für die geistigen Welten, nachdem er durch den Tod getreten ist, die bildet sich gerade hier auf Erden aus.

Das, was wir in den ersten Zeiten nach dem Tode erleben, ist eine Folge unserer Erdenentwickelung. Was wir hier allerdings erleben in den ersten Zeiten nach der Geburt, das ist wiederum eine Folge der geistig-seelischen Welt. Es ist im höchsten Grade bedeutungsvoll, wenn man eben mit den Mitteln, die der Geistesforschung in anthroposophi­scher Beziehung zur Verfügung stehen, die norwegische Mission nicht für die Erde, sondern für die Zeit nach dem Tode betrachtet.

Diese Seelen, die gerade von diesem Boden des Westens der skandi­navischen Halbinsel durch die Pforte des Todes gehen, denen kann -

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ich sage: kann - durch ihren eigentümlichen physischen Volkscharak­ter, durch die ganze Konfiguration ihres Gehirns, ihrer übrigen Leib­lichkeit beschieden sein, daß sie in einer ganz bestimmten Weise für ihre Mitseelen nach dem Tode anregend werden, daß sie ihren Mitseelen nach dem Tode etwas geben können, was sie ihnen nur vermöge des norwegischen Charakters geben können. Denn der norwegische Cha­rakter ist heute, gerade in diesem Zeitalter, so veranlagt, daß er unter­bewußt innerlich kennenlernt gewisse Geheimnisse der Natur: nicht durch Ihr äußerliches Verstandeswissen, aber durch jenes Wissen, das Sie entwickeln in Ihrer Geistleiblichkeit zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, wenn Sie draußen sind im Raume, ohne daß Sie sich der Sinne bedienen; wenn Sie die Geistigkeit in der Pflanzenwelt, die Gei­stigkeit in Stein und Fels, die Geistigkeit im Baum- und Meeresrauschen erleben außerhalb Ihres Leibes, wenn Sie das nicht anschauen mit Ihren physischen Sinnen, sondern wenn Sie es außerhalb Ihres Leibes an­schauen,wenn Sie wandeln innerhalb Ihrer Gebiete in der Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen; was Sie da für eine Kraft er­kennen lernen, die in den Pflanzen lebt, was Sie da für Kräfte erkennen lernen, die in Ihren Felsen verborgen sind, was Sie da für Kräfte er­kennen lernen, die mit Ihren Meereswellen anrauschen an die Küste, wenn Sie all dasjenige nehmen, was die Geistigkeit dieser rauschenden Meereswellen, dieser auf den Felsen hier spärlich blühenden Pflanzen, dieses ganzen Weltensembles ist, wenn Sie nehmen, was von diesem Weltensemble in Ihren Seelen ausgelöst wird während des Schlafes, wenn Sie also die intime Naturerkenntnis, die für das äußere Verstan­des- und Sinnesleben unbewußt bleibt, nehmen, dann ist das dasjenige, was Sie in die geistige Welt tragen können, wenn Sie es in der richtigen Weise durchfrommen, durchfühlen, so wie ich das in der letzten Be­trachtung hier dargestellt habe. Wenn Sie es in der richtigen Weise mit der geistigen Welt, die Sie fassen können, in Beziehung bringen, wenn Sie das entwickeln, was ich die Verbindung mit dem Engelwesen ge­nannt habe, dann tragen Sie diese unbewußte Naturweisheit, dieses konkrete Erkennen des Geistes der Pflanzen, dieses konkrete Erkennen des Geistes der Steine, der übrigen Naturerscheinungen, in die geistige Welt hinein. Und diejenigen, die in der richtigen Weise ihr Norwegerleben

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durchlebt haben, werden die Anreger, die Lehrenden für ihre Mitseelen nach dem Tode in bezug auf Naturgeheimnisse hier auf der Erde. Denn in den geistigen Welten müssen die Seelen gerade so unter­richtet werden von den Geheimnissen der Erde, wie hier auf der Erde die Seelen unterrichtet werden sollen von den Geheimnissen der gei­stigen Welt.

Blickt man nach dem östlichen Teile dieser Halbinsel, wo also das Erbe der alten Zeit so lebt, wie ich es charakterisiert habe, dann findet man allerdings, daß da eine andere Mission durch die Pforte des Todes getragen wird. Da wird von den Seelen in die geistige Welt dasjenige hineingetragen, was nunmehr nicht so sehr erlebt wird zwischen dem Einschlafen und Aufwachen, sondern mehr während des Tagwachens, was mehr erlebt wird im sinnlichen Zusammensein mit der Außenwelt, in dem sinnigen Betrachten der Sinneswelt während des Wachens, in dem gefühlsmäßig durchdrungenen Verstandesverstehen der Außen­welt.

Das aber ist ja schließlich so etwas, was im Grunde genommen nur eine Bedeutung hat für das Erdenleben. Aber während man im Erden-leben gerade dieses Element entwickelt, entwickelt sich im Unterbe­wußtsein während des Erdenlebens auch noch etwas ganz Besonderes. Ich habe Sie aufmerksam darauf gemacht, daß auch im wachen Leben ein gewisser Teil unseres Wesens schläft und träumt. Das Gefühlsleben ist eigentlich nur eine andere Form des Traumlebens. Indem wir fühlen, träumen wir, und indem wir wollen, schlafen wir. Was wir von un­serem Wollen wissen, ist ja nur die von dem Denken herkommende Beleuchtung. Aber ein solches Wollen wird insbesondere angefeuert in der schwedischen Seele, die weniger die Möglichkeit hat, während des Schlafzustandes in die Naturgeheimnisse einzudringen. Das, was dort mehr unbewußt im Willen und im Gefühl während des äußeren Sinnes­betrachtens, Verstandeslebens, in die Seele einzieht, wird da durch die Pforte des Todes genommen. So daß diejenigen Seelen, die in dieser Weise aus dem östlichen Teile der skandinavischen Halbinsel durch die Pforte des Todes gehen, wiederum die Mission haben, nun ihren Mit-seelen ein mehr willensmäßiges Element einzugliedern, gerade das Ent­gegengesetzte von dem, was diese östlichen nordischen Völker ihren

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physischen Mitmenschen während ihrer historischen Beziehung bei­bringen konnten. Man möchte sagen: Die besondere Veranlagung zu dem Willenselemente ist ausgebildet worden im Ursprünglichen und dann im Erbgut des Volkscharakters auf diesem östlichen Teil der skan­dinavischen Halbinsel.

Die europäischen Menschen haben lange gelebt, ohne in einer sol­chen Weise konkret zu fragen, was sie denn eigentlich werden zu tun haben nach dem Tode. Sie begnügten sich mit der egoistischen Antwort:

Wir werden selig sein. - Aber es wird nicht genügen, wenn die Erde nicht in den völligen Verfall kommen soll, diese egoistische Antwort zu bekommen; sondern es wird allein möglich sein, daß die Menschen ihr richtiges Leben führen, wenn sie die selbstlose Antwort bekommen wollen, wenn sie nicht bloß fragen: Was wird sein nach meinem Tode, damit es mir recht wohl ergehe, damit ich selig sei -, sondern wenn sie auch darnach fragen: Was werde ich zu tun haben aus meiner beson­deren Stellung hier im Erdenleben? - Und nur, wenn man die Neigung hat, die Frage in dieser Weise zu betrachten, wird man gerade die be­sondere Stellung, die man im Erdenleben hat, in der richtigen Weise anwenden, dann wird man sich in der richtigen Weise zu seiner Mission vorbereiten. Und es kann dann nicht mehr schwer sein, in der richtigen Weise sich zu seiner Mission vorzubereiten.

In dieser Beziehung hängen die beiden oder eigentlich alle drei Vor­träge, die ich jetzt unter Ihnen halten durfte, zusammen. Es handelt sich durchaus darum, daß gerade mit Rücksicht auf diese besondere Mission das geistige Element der anthroposophischen Weltorientierung hier in Norwegen verstanden werde. Denn wenn Sie bedenken, daß es ja eine besondere Aufgabe ist, aus dem unterbewußten Leben, ich möchte sagen, die Naturwissenschaft für das Jenseits zu schaffen - so paradox das klingt, es ist so-, dann müssen Sie sich hier in dem bewußten Leben gefühlsmäßig dazu vorbereiten, dann muß Ihre Seele die Möglichkeit bekommen, jeden Abend so einzuschlafen, daß sie nicht stumpf bleibt gegen die Naturerkenntnisse, die ihr im Schlafe übermittelt werden sollen. Aber die heutigen Leiber sind eben nicht mehr so, daß sie in die­ser richtigen Weise den Menschen vorbereiten.

Die Seelen der nordischen Völker sind durch das alte Erbe für die

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geistige Welt gründlich geschaffen. Die Leiber müssen hier insbeson­dere durch eine Geistkultur dazu bereitet werden. Daher entsteht hier eine entscheidende Frage. Es entsteht die entscheidende Frage, die man sich beleuchten kann durch das Vergleichen der Mission, sagen wir, der mitteleuropäischen Menschen mit derjenigen der nordischen Menschen.

Den mitteleuropäischen Menschen wurde in einer gewissen Weise nicht schlecht ihre gegenwärtige Lage gekennzeichnet, wenn sie nichts Geistiges annehmen wollen, von einem Manne, der gar nicht an die Möglichkeit einer geistigen Befruchtung der Menschheit denkt: Oswald Spengler, der sein Buch über den Untergang des Abendlandes geschrie­ben hat, dieses geniale, aber durch und durch pessimistische Buch, trotz­dem Spengler den Pessimismus in einer besonderen Schrift zurückge­wiesen hat. Es ist ja natürlich pessimistisch, wenn man vom Untergang des Abendlandes spricht. Aber er spricht von dem Untergang der Kul­tur, von dem Untergang von etwas Seelischem. Ohne die geistige Er­neuerung werden die mitteleuropäischen Völker Schaden an ihrer Seele nehmen. Gerade in dieser Ecke von Europa ist die Eigentümlichkeit vorhanden, daß eben diese Bevölkerung hier gar nicht bloß Schaden an der Seele nehmen kann, sondern daß, wenn sie Schaden an der Seele nimmt, sie zu gleicher Zeit Schaden an der Leiblichkeit nimmt. Ich möchte sagen: das ist ein Glück! Denn die mitteleuropäischen Völker können, wenn sie nicht die Geistigkeit annehmen, barbarisiert werden, können seelisch verkommen; die nordischen Völker können nur ster­ben, auch leiblich sterben, aussterben, weil im Sinne der geschilderten Anlagen hier alles auf der besonderen Konfiguration der Leiblichkeit beruht.

Es ist schon einmal die Notwendigkeit vorhanden, hinzuschauen auf den notwendigen Einschlag einer Geistkultur. Denn Europa, Mittel­europa wird verkommen, barbarisieren, es wird sein Untergang ihm bereitet werden, wenn es sich vom Geiste nicht beeinflussen läßt. Der Norden, er wird aussterben, er wird den physischen Tod erleiden, wenn er sich vom Geiste nicht beeinflussen läßt.

So hängt volksmäßig genommen, dasjenige, was sich hier während des physischen Lebens entwickelt, zusammen mit der Mission dieser

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nordischen Seelen nach dem Tode. Sie können diese Mission dann nicht ausführen, wenn sie diejenigen Leiber, die, wenn sie durchgeistigt wer­den, dazu geeignet sind, wenn sie diese Leiber verfallen lassen.

Man muß heute durchaus solche ernsten Worte sprechen, denn es liegt im Sinne der Entwickelung unserer Zeit, daß heute die Menschen solches miteinander reden müssen, wenn sie ihr Zeitalter ernst nehmen wollen. Und deshalb wollte ich diesmal, ich möchte sagen, von einem solchen allgemein persönlich-menschlichen Standpunkte zu Ihnen spre­chen, Ihnen sagen, was man seinem heutigen Mitmenschen sagt auf die­ser Erde, wenn einem das Schicksal der Erdenentwickelung tief am Herzen liegt. Denn diejenigen Menschen, die sich heute nicht für ein ewiges Leben selbstlos vorbereiten, werden auch ihr irdisches Leben zwischen der Geburt und dem Tode nicht in der richtigen Weise führen.

Das ist es, was ich Ihnen zurücklassen möchte, nachdem wir heute die letzte Betrachtung während meines Hierseins hier angestellt haben. Das ist es, wodurch ich Ihnen bemerklich habe machen wollen, wie in der Tat diejenigen, die sich heute als Anthroposophen fühlen, sich so vorkommen sollten, daß sie als ein kleines Häuflein in der Welt wirk­lich alle Energie aufwenden sollten, um die übrige träge Menschheit aufzurütteln und vorwärtszubringen. Die Menschen, die heute Anthro­posophie hassen - das dürfen wir unter uns sagen -, hassen sie ja aus dem Grunde, weil sie eben zu bequem sind, um wirklich mitzuerleben die großen Aufgaben der Menschheit, und weil sie zu furchtsam sind gegenüber dem, was sie überwinden müssen, wenn sie aus ihrem begriff­lichen und gefühlsmäßigen Schlendrian heraus nun sich umgestalten und Tieferes begreifen sollten. Daher sehen wir, wie so mancher Sturm gegen alles dasjenige entsteht, was auf dem Felde der Anthroposophie sich abspielt und aus ihr herauskommt. Aber auch Sie werden sich hier daran gewöhnen müssen, daß das eine Selbstverständlichkeit ist, daß anthroposophische Geisteswissenschaft heute von all den Rückschritt­lern, von all denjenigen, die da ihren alten Schlendrian lieben, auf das allerheftigste bekämpft wird. Und wer sich abhalten läßt von der Ent­wickelung seiner Kraft dadurch, daß er so etwas sieht, der steht doch nicht tief genug in der eigentlichen anthroposophischen Aufgabe darinnen.

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Wenn man sieht, wie heute von vielen Seiten Anthroposophisches bekämpft wird, so kann man auf der einen Seite furchtsam, ängstlich werden und sich sagen: Wäre es denn nicht besser, wenn man mit we­niger Kraft vorwärtsginge, so daß der Widerstand vielleicht ein nicht so großer wäre? - Oder man kann auch etwas anderes sagen. Man kann auch fragen, wenn man bemerken würde, daß man von denen, die heute gerade in einer verfallenden Zeit das große Wort führen, gelobt würde:

Was hat man denn eigentlich schlecht gemacht? - Und diese Frage würde ich vor allen Dingen vom anthroposophischen Gesichtspunkte aus stellen. Wenn man beschimpft wird, dann wird sich das zumeist aus den angegebenen Gründen erklären. Wenn man aber von denjenigen, die einen so beschimpfen, gelobt würde, so wäre das eine außerordent­lich mißliche Sache, denn dann müßte es schlecht stehen um das anthro­posophische Streben. Eben gerade deshalb, daß diejenigen, die das An­throposophische heute verschimpfen, dies tun, kann man beruhigt sein. Man darf allerdings nur in dem Sinne beruhigt sein, daß man um so mehr Kraft anwendet, um das in der Welt wirklich durchzubringen, was Anthroposophie nicht aus einer persönlichen Willkür, sondern aus einem Vertiefen in die Weltaufgaben heraus will. Mit dieser Empfin­dung, mit diesem Impuls, sage ich Ihnen beim Abschlusse dieser hiesigen Zusammenarbeit meinen allerherzlichsten, tiefgefühltesten Dank für Ihr so reges, tatkräftiges Mitwirken bei alledem, was in Ihrem Sinne in dieser Zeit hat geschehen sollen.

Seien Sie versichert, daß es mir ernst sein soll damit, daß räumliches Getrenntsein kein Getrenntsein ist für diejenigen, die den geistigen Zu­sammenhalt der Seelen begriffen haben. Seien Sie versichert, daß ich von Ihnen Abschied nehme, weggehe, nicht um von Ihnen weg zu sein, sondern mit Ihnen zusammen zu sein. Und das ist etwas, wovon ich glaube, daß Sie es, falls Sie es als etwas betrachten, was Ihnen wün­schenswert ist, immer in Ihren Seelen haben können. Sie können wissen, daß doch nun schon eine Anzahl von Menschen in der Welt verbreitet sind, die diese Zusammengehörigkeit in diesem Sinne fühlen und mit inniger Liebe heraufschauen auf dieses nordwestliche Weltgebiet mit seiner ganz besonderen Aufgabe, die man intensiv fühlen kann auf dem Felde anthroposophischer Untersuchung.

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Mit dieser Liebe im Herzen zu denjenigen, die sich hier als zu uns gehörig, als zu unserer anthroposophischen Bewegung gehörig betrach­ten, nehme ich von Ihnen heute Abschied. Hoffentlich wird unser wei­teres Zusammensein kraftvoll und von dem Sinne getragen sein, der unter Anthroposophen der notwendige, der richtige ist. Auf Wieder­sehen!

VATER-BEWUSSTSEIN UND CHRISTUS-BEWUSSTSEIN Berlin. 7. Dezember 1921

#G209-1968-SE066 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

#TI

VATER-BEWUSSTSEIN UND CHRISTUS-BEWUSSTSEIN

Berlin. 7. Dezember 1921

#TX

Was ich heute werde zu sagen haben, wird in einem gewissen Zusammen­hang stehen mit den Ausführungen, die ich das letzte Mal hier vorbrin­gen durfte, und wird daher auch an manches aus diesen Ausführungen Bekannte anzuknüpfen haben. Ich möchte heute von dem Materialismus der religiösen Bekenntnisse der Gegenwart sprechen, aber ich möchte dies tun im Zusammenhang mit einer gewissen Seite des Christus-Pro­blems. Gerade beim Christus-Problem setzt eine ganze Reihe von Miß­verständnissen gegenüber der anthroposophischen Forschungsarbeit ein, und von der Zerstreuung dieser Mißverständnisse, wenn sie auch bei de­nen, die sie mit einem gewissen Interesse offenbaren, nicht zu erwarten ist, dürfte aber bei anderen doch einiges abhängen.

In den neuesten Phasen der abendländischen Zivilisationsentwicke­lung haben wir allerlei Hinneigung zu ausgesprochen atheistischen Auffassungen der Welt erlebt. Es kann heute nicht meine Aufgabe sein, auf die verschiedenen Nuancen des Atheismus, wie er aufgetreten ist, hinzuweisen; allein auf etwas möchte ich doch aufmerksam machen, was eine gemeinsame Grundlage einer jeglichen atheistischen Weltauf­fassung ist. Es ist dies ein Nichthinschauen auf das, woraus eigentlich der Inhalt des Gottesbewußtseins kommt. Das Gottesbewußtsein kann nicht allein aus der Betrachtung der äußeren Natur kommen, sondern aus dem ganzen Zusammenleben des Menschen mit der äußeren Natur, mit der Sinneswelt. Es wird vielleicht paradox erscheinen, daß ich sage, das Gottesbewußtsein müsse aus dem Zusammensein des Menschen mit der Sinneswelt kommen. Dieses Gottesbewußtsein muß man aber nicht nehmen sozusagen als die Erfüllung eines Augenblickes, sondern als den Inhalt des Erdenlebens von der Geburt bis zum Tode. Wir fühlen uns in diesem Erdenleben zunächst als zusammengehörig mit der Natur durch die Vererbung. Auf dem Wege rein natürlicher Vorgänge sind wir als physische Menschen in dieses Erdendasein getreten. Wir gewahren, in­dem wir dieses Erdendasein durchlaufen, eine gewisse Entwickelung des­sen, was uns durch unsere Geburt in dieses Dasein herein zugekommen

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ist. Nun handelt es sich darum, ob wir sorgfältig genug - natürlich meine ich das nicht verstandesmäßig allein, sondern auch empfindungsgemäß und aus den Willensimpulsen heraus, die wir da auch haben und erleben müssen -, ob wir eine gewisse Erfüllung unseres Bewußtseins gewinnen für das Zusammenleben mit der äußeren Sinneswelt im Verlaufe un­seres Erdendaseins. Wenn wir rein durch die populäre Erfahrung zu­sammenfassen, was uns die Sinneswelt alles geben kann, werden wir allerdings niemals dahin kommen, unser volles Menschenwesen zu er­fühlen, wenn wir die Sinneswelt und das, was sie mit uns zusammen sein kann, nicht durchgeistigt denken. Wir könnten, auch wenn wir noch so sorgfältig alle Geheimnisse prüfen, die uns die äußere Sinnes-welt auf dem Wege der sinnlichen Anschauung geben kann, doch nie­mals zu einem Verständnisse dafür kommen, daß in diese Sinneswelt auch der Mensch hineingestellt ist. Da wir aber als physische Erden-wesen dennoch aus dieser Sinneswelt hervorgegangen sind, aber aus ihren Ingredienzien niemals uns als Mensch begreiflich finden können, so folgt daraus für ein gesundes Bewußtsein einfach die Erfüllung die­ses Bewußtseins mit dem Gotteswesen beziehungsweise mit der An­schauung des Gotteswesens.

Das hat ja gerade die neuere Naturwissenschaft, trotz ihrer großen, umfassenden Erfolge, der Menschheit gebracht: daß sie, weil sie ein Geistiges als solches innerhalb der Sinneswelt nicht anerkennen will, den Menschen aus dem Gesamtdasein, das sie umfassen will, gewisser­maßen herausstellt. Ich habe das auch schon vor Ihnen ausgesprochen dadurch, daß ich sagte: Betrachten wir zum Beispiel die in vieler Be­ziehung gewaltige Entwickelungslehre der neueren Zeit, so finden wir darin eigentlich nicht vom Menschen als «Menschen» gehandelt, son­dern als Abschluß, gewissermaßen als Krönung der Tierwelt. Wenn wir die Naturwissenschaft, wie sie heute beschaffen ist, um das Wesen des Menschen befragen, so antwortet sie uns, wenn wir sie recht verstehen, eigentlich nicht. Sie antwortet uns nur auf die Frage: Welches ist das höchste der Tiere? Das heißt, sie betrachtet den Menschen nur in bezug auf sein Tiersein. Mit dem, was sie darüber vorzubringen hat, hat sie in vieler Beziehung recht, aber sie stellt dadurch den Menschen sozusagen außerhalb der Sphäre ihrer Betrachtung. Sie kann mit ihren Mitteln auf

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die Frage nach dem Wesen des Menschen gar nicht antworten, ja sie kann sich sogar nur richtig verstehen, wenn sie diese Frage nach dem Wesen des Menschen als außerhalb ihres Reiches erklärt.

Das soll natürlich nur ein Hinweis sein auf das Empfinden, das aus der Ganzheit eines gesunden Menschen folgt, daß gerade, insofern er sich im Zusammenhange mit der ganzen Natur betrachtet, er doch eigent­lich zu dem Gottesbewußtsein kommen müsse, aber eben zunächst nur zu dem Gottesbewußtsein, nicht zu dem Christus-Bewußtsein.

Nun kann also der Mensch, indem er seinen gesunden Verstand, sein gesundes Empfinden anwendet, durchaus nicht Atheist sein. Ich habe dies auch hier schon dadurch ausgesprochen, daß ich sagte: Wenn auch selbstverständlich nicht jede leise Erkrankung mit gewöhnlichen Mitteln diagnostiziert werden kann, so ist doch klar für jeden, der den gesunden Menschen von dem kranken unterscheiden kann, daß zunächst der Atheismus nur in einer krankhaften Veranlagung der menschlichen Ge­samtnatur seinen Platz finden kann. Daher wird man sagen können:

Gott ableugnen, ist eigentlich die Folge eines Krankseins. - Aber nun handelt es sich um folgendes: Wir kommen zu diesem Gottesbewußt­sein in der heutigen Epoche der Menschheitsentwickelung, ich möchte sagen, nur in einer schwankenden, zweifelnden Weise, wenn wir alles übersehen; denn hier muß aufmerksam gemacht werden auf einen be­deutsamen Mangel unserer gegenwärtigen Pädagogik, jenen Mangel, auf den zum Beispiel gerade die Waldorfschulrichtung korrigierend wirken will. Wenn man von dem Verfall der heutigen Zivilisation spricht, so kann man eigentlich nicht vorübergehen an der heutigen Jugendbewe­gung. Diese Jugendbewegung bedeutet viel mehr, als man gewöhnlich meint, und ich betrachte es als etwas außerordentlich Bedeutsames ei­gentlich, daß gerade bei einer Anzahl von Veranstaltungen unserer an­throposophischen Bewegung in der letzten Zeit, auch beim letzten Stutt­garter Kongreß, sich immerhin eine stattliche Anzahl von Angehörigen der Jugendbewegung eingefunden hatte und damals eigentlich den ganz positiven Entschluß gefaßt hat, auch von dem Gesichtspunkt der Ju­gendbewegung aus, sich zusammenzuschließen mit dem, was durch die anthroposophische Geistesströmung gewollt wird. Man mag über die Einzelheiten dieser Jugendbewegung denken, wie man will, aber man

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muß doch einsehen, daß in einem großen Teil unserer Jugend verblaßt ist die Autorität gegenüber der älteren Generation, die der Jugend Füh­rer sein soll. Auch wenn man viel Kritisches über diese heutige Jugend sagen mag, so kann man doch nicht an der Einsicht vorbeikommen: Wenn die Jugend erst sagt, daß sie keine Autorität mehr anerkennen kann, so wie sie es eben findet, so kann nicht etwa nur der Jugend die Schuld daran zugeschrieben werden, sondern es muß dem Alter, das der Jugend Führer sein sollte, die Schuld zugeschrieben werden. Es ist neu­lich einmal gelegentlich eines Vortrages, den ich in Aarau in der Schweiz hielt, gerade diese Frage der Autoritätslosigkeit der heutigen Jugend be­sprochen worden. Da ist nach dem Vortrage zunächst ein Religionsver­treter aufgetreten, der weidlich über die gegenwärtige Jugend schimpfte. Aber gerade mit diesem Schimpfen erreicht man gegenüber etwas, was so elementar hervortritt, eigentlich nicht viel. Man muß die Dinge verstehen. Es war interessant, als dann danach ein ganz junger Bur­sche der Kantonsschule selber - die Kantonsschule dort ist durchaus eine Realschule - aufgestanden ist, der eigentlich meiner Empfindung nach die beste Diskussionsrede gehalten hat. Mit einem großen Feuer trat er auf und sagte: Wir möchten ja Autorität, wir lechzen eigentlich nach Autorität, aber wenn wir hinschauen nach den Alten, sehen wir denn etwas anderes, als daß von diesen Alten gar keine Autorität her­kommen kann? Wir sehen, wie sie sich bei jeder Gelegenheit befehden, sich in den Haaren liegen. - Und dann zählte er allerlei auf, was so die Jugend heute an den Alten bemerkt, und zum Schluß sagte er dann:

Wir lechzen ja nach Autorität, aber wir können sie nicht haben!

Durchschaut man aber, um was es sich dabei handelt, so findet man, daß die heutige Zivilisation im hohen Grade intellektualistisch gewor­den ist, daß eigentlich alles, was sich heute für tonangebend und auto­ritativ hält, intellektualistisch, rein verstandesmäßig geworden ist. Im Grunde genommen gehören Naturwissenschaft und Verstandeskultur zusammen. Die Naturwissenschaft ist das Objektive, die Verstandeskul­tur das Subjektive. Aber die Verstandeskultur, der Intellektualismus, tritt auf eine naturgemäße Weise nur in einem bestimmten Lebensalter auf. Als Kind kann man gar nicht intellektualistisch sein. Kinder sind nicht Intellektualisten. Der Intellektualismus kann eigentlich erst nach

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der Geschlechtsreife auftreten. Und da die Menschheit nun einmal ganz in den Intellektualismus hineingewachsen ist, so ist heute alles von ihm beherrscht. Diejenigen Bestrebungen, die den Intellektualismus heute oftmals zurückweisen und über ihn schimpfen, tun dies erst recht aus einem andern Intellektualismus heraus. Abstraktlinge sind heute alle, die auf Intellektualismus Anspruch machen. Aber man wächst eigent­lich erst in einem späteren Lebensalter in den Intellektualismus hinein, und weil wir davon übermannt werden, verstehen uns die Kinder nicht mehr und können gar nichts mehr übrig haben für diejenigen Gedan­kenformen, die wir annehmen unter dem Einfluß des Intellektualismus, und wir selbst fühlen gar nicht mehr, was wir aufgenommen haben, als wir Kinder waren. Das kindliche Alter ist gar nicht mehr in voller Lebendigkeit in uns. Wir sind so schrecklich intellektualistisch gescheit geworden, daß das Kind gar keine Rolle mehr in uns spielt. Wir kön­nen aber keine Pädagogen, keine Erzieher sein, wenn wir durch und durch verlassen worden sind von dem, was wir selbst als Kinder erlebt haben. So wissen wir den Kindern nichts mehr zu sagen, und sie wach­sen ohne eine besondere Pflege ihrer Wesenheit auf. Wir deklamieren, wir müßten anschaulich sein, aber das Anschauliche ist ja nur die objek­tive Seite des Intellektualismus. Dadurch errichten wir einen Abgrund zwischen uns und der Jugend, und dies tritt uns in der Jugendbewegung entgegen. Aber wieder ist nichts getan, wenn man nur auf den Intellek­tualismus schimpft. Denn er ist nun einmal als eine notwendige Er­scheinung seit den letzten drei bis fünf Jahrhunderten, eigentlich seit dem 13. bis 15. Jahrhundert in die abendländische Zivilisation eingetre­ten. Er mußte heraufkommen, damit sich die Menschheit so richtig hineinlebt in den Impuls der Freiheit. So daß es sich gar nicht darum handeln kann, den intellektualistischen Impuls bloß zu kritisieren, sondern darum muß es sich handeln, ihn in der richtigen Weise zu verstehen, um gerade durch das Verstehen eine Weiterentwickelung nach einer andern als der intellektualistischen Seite dann anstreben zu können.

Und nun müssen wir sagen: Worin liegt das Wesentliche dieses In­tellektualismus? Es ist eigentlich schon dadurch angedeutet, daß man hinweist auf den Zusammenhang dieses Intellektualismus mit dem Freiheitsgefühl.

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Und das Freiheitsgefühl ist wiederum nicht denkbar ohne die volle Entwickelung des menschlichen Ich. Die Ich-Entwickelung ist es eigentlich, die in einer gewissen Weise in der neueren Zeit in der Menschheit heraufgekommen ist und das Ich von der Bewußtseinsseele her ergreift. Das ist das Wesentliche, was den Impuls der neueren abend­ländischen Zivilisation abgibt. Dieses Ich aber, dessen sich der Mensch seit drei, vier, fünf Jahrhunderten voll bewußt geworden ist, kann zu­nächst nur kommen aus der menschlichen Leiblichkeit heraus. Das Er­leben des Ich zwischen Geburt und Tod kann nur aus der menschlichen Leiblichkeit kommen; das kann geprüft werden insbesondere auch durch anthroposophische Geistesforschung.

Einer der bedeutendsten Momente für das ganze Leben nach dem Tode ist der Moment des Sterbens selber. Dieser Moment des Sterbens ist na­türlich dem Erdenmenschen nur seiner Außenseite nach bekannt. Seiner Innenseite nach muß er erkannt werden aus jenem Bewußtsein heraus, das der Tote selber hat zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Ob das nun mehr oder weniger später nach dem Tode auftritt, soll uns jetzt nicht beschäftigen. Wir wollen heute das Bewußtsein, das der Mensch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt hat, im allgemeinen vor uns hinstellen. Dieses Bewußtsein ist durchaus davon abhängig, daß der Mensch im Augenblicke des Sterbens einen außerordentlich bedeut­samen Eindruck hat. Bedenken Sie doch nur, daß während des ganzen Lebens zwischen Geburt und Tod der Mensch nur mit seinem Ich und seinem astralischen Leib aus seinem physischen und ätherischen Leib herauskommt, und zwar im Schlafzustand; so daß also während des Lebens zwischen Geburt und Tod ein ständiger, durch nichts unter­brochener Zusammenhang da ist zwischen dem physischen Leibe und dem ätherischen Leibe. Im Tode geht der Mensch mit seinem ätherischen Leibe aus dem physischen Leibe heraus - Sie wissen, er bleibt mit seinem ätherischen Leibe noch tagelang zusammen -, so daß er dieses Erlebnis seines vollen physischen Leibes nur im Moment des Sterbens hat. Man kann nicht, wenn man von etwas eine Erkenntnis haben will, diese anders haben als dadurch, daß man das zu Erkennende außer sich hat. Was sie im Auge haben, sehen Sie nicht, Sie sehen nur das, was außer dem Auge ist. So sehen Sie auch geistig-seelisch nichts, was Sie in sich

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haben. Sie müssen mit dem Geistig-Seelischen Ihres Wesens erst aus sich herausgehen, dann sehen Sie auf das Äußere Ihres Leibes. Das geschieht in dem Moment des Sterbens in bezug auf die Trennung von ätheri­schem Leib und physischem Leib. Im Einschlafen hat der Mensch eigent­lich nie eine bewußte vollständige Anschauung seines physischen Lei­bes und Ätherleibes. Diese beiden bleiben beim Einschlafen zurück. Das macht es, daß man, wenn man das schauende Bewußtsein im Schlafe erlangt, nur das menschliche Haupt und den Teil des Rumpfes se­hen kann, und daß man eigentlich den Gliedmaßenmenschen im ge­wöhnlichen Schlafe nicht sehen kann. Erst im Tode, im Sterben, ist der Moment da, wo sich der Mensch in bezug auf seinen physischen Leib vollständig als Objekt vor sich hat, und die ganze Zeit vom Tode bis zur neuen Geburt bleibt dieser Eindruck, ich möchte sagen, als das Ende der Perspektive zurück, auf die man nach dem Tode zurück-schaut. Man sieht diesen Moment des Sterbens, denn man würde kein Ich erkennen für sich, würde ichlos sein, wenn man das Ich nicht dadurch als Objekt hätte, daß man das, was man sich hier in der physischen Welt zum Bewußtsein bringt, nämlich den vollen physischen Leib, als Gegenstand der Erkenntnis im Moment des Sterbens vor sich hat. Die­ser ungeheure Eindruck, daß man sich sagen kann: Was dir dein Ich-Bewußtsein gegeben hat, dein ganzer, dein totaler physischer Leib, das hast du geschaut im Moment des Sterbens! -, das bleibt und bildet den Inhalt des Ich-Bewußtseins zwischen dem Tode und der neuen Geburt, wo ja alles zeitlich wird, wo das Räumliche in einer gewissen Beziehung nicht mehr da ist. Man sieht von jenem Punkte nach dem Tode zurück und sieht als einen wichtigen Punkt, als das Ende der Perspektive - die Richtung geht dann weiter, aber die Strahlen kreuzen sich im Moment des letzten Todes -, jenen Moment des Sterbens. Der ist das, was als «Zeitglied», möchte ich sagen, ebenso wirkt nach dem Tode, wie der räumliche physische Organismus das Ich-Bewußtsein gibt zwischen Ge­burt und Tod. So daß wir sagen können: Das Ich-Bewußtsein hier im Erdenleben kommt eigentlich aus dem physischen Leibe.

Nun liegt folgendes vor. Sie sehen hinaus durch Ihre Sinne in die äußere Natur. Sie sehen die drei Reiche der äußeren Natur, das minerali­sche, das pflanzliche, das tierische, dazu das physische Menschenreich.

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Sie sehen Wolken, Flüsse, Berge, Sterne und so weiter. Alles, was Sie da überschauen, können Sie als «Natur» betrachten, und was Sie da übersehen, das liefert fortwährend auch die Elemente, die auch in den menschlichen Organismus, sowohl in den physischen wie in den ätheri­schen, eindringen. Sie nehmen mit den Nahrungsmitteln die Stoffe der physisch-sinnlichen Welt auf. Diese Stoffe entfalten ihre physisch-chemischen Kräfte und Betätigungen, auch wenn sie im menschlichen Organismus sind. Der Mensch ist sozusagen seinem physischen Orga­nismus nach dasjenige, was er aus der äußeren Natur hereinnimmt. Den Mineralien, Pflanzen, Tieren ist es, wenn ich mich so ausdrücken darf, gestattet, «Natur» zu sein. Sie haben ein Recht darauf, Natur zu sein. Wenn aber das, was in ihnen vorhanden ist, mit Nahrung, Atmung und so weiter in den menschlichen Organismus hereindringt, wird es etwas anderes als Natur. Dann wird es in dem menschlichen Organismus so, daß man sagen kann: Was in der Natur lebt, das darf sich eigentlich, wenn der Mensch «Mensch» bleiben soll, nicht gestatten, Natur zu bleiben. Die Naturwesen haben nur das Recht, Natur zu sein außer­halb des Menschen; innerhalb des Menschen wird die Natur ein zerstö­rendes Element. Da wird sie das, was diesen fortwährend auflösen will, und was dem Menschen auch seelisch Kräfte beibringt, die nach der Zerstörung hin wirken.

Die älteren instinktiven Bewußtseine der Menschen haben in dieser Beziehung viel richtiger geschaut als der heutige Intellektualismus. Der heutige Intellektualismus geht von Begriffen aus, nicht von den Tat­sachen, und wenn die Tatsachen mit den Begriffen nicht stimmen, so deutet er die Erscheinungen nach seinen Begriffen um. Man spricht heute nicht davon, daß Pflanzen, Tiere und Menschen ein Ende finden, son­dern man sagt, man solle den Tod untersuchen. Daß das Ende von Pflan­zen, das Ende von Tieren, das Ende von Menschen etwas ganz anderes sein könnte, das man nicht unter dem gemeinsamen Begriff des «Toten» fassen kann, das bedenkt heute kein Mensch. Man wird für die heutige Welt grotesk, man wird paradox, wenn man auf solche Dinge aufmerk­sam macht. Aber es ist in dieser Beziehung durchaus so. Heute sagt ei­ner: Ein Messer ist ein Messer -, und dann bekommt er ein Rasiermesser und will sich damit sein Fleisch tranchieren, denn - Messer ist eben

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Messer! Heute, wo man glaubt, mit beiden Füßen in der Wirklichkeit zu stehen, handelt es sich darum, einzusehen, daß mit abstrakten Be­griffen nicht die Wirklichkeit erreicht wird. Das berücksichtigt der Intellektualismus nicht, der statt von Tatsachen nur von Begriffen ausgeht. Er weiß daher auch nicht, wie berechtigt es von älteren Be­wußtseinsstufen aus gewesen ist, davon zu sprechen, daß die Natur in ihren Wirkungen und Prozessen, indem sie ihr Dasein im Menschen fortsetzt, kein Recht mehr hat, Natur zu bleiben, sondern daß sie um­gestaltet werden müßte, und daß sie im Menschen, wenn sie als Natur ihre Geltung beibehalten will, zur «Sünde» wird. Den Begriff der Sünde im Zusammenhange mit den Naturerscheinungen, hat man gar nicht mehr. Man schaut nicht die Brücke zwischen dem Naturhaften und dem, was als Geistig-Seelisches im Menschen wurzelt. Die Tiere, Pflan­zen, Mineralien haben das Recht, draußen Natur zu sein; das, was von ihnen in den Menschen einzieht, muß vom Menschen umgewandelt wer­den, denn wenn es Natur bliebe, so würde es in Zerstörendes umgewan­delt. Das heißt, wenn es bloße Natur ist und der Mensch nicht die Kraft hat, es umzuwandeln, so wird es Krankheit, und indem es sich der Seele mitteilt, Sünde.

Wenn nun der Mensch, der unbefangen sein Verhältnis zur Sinnen-welt betrachtet, mit sich selbst zu Rate geht und alles berücksichtigt, was dabei berücksichtigt werden kann, so muß er sich das Folgende sagen: Wenn ich in die Natur hinausblicke und zunächst mein Hervor­gehen aus ihr betrachte, so kann ich nicht Atheist sein. Aber auf der andern Seite kann ich gerade als ein Mensch der Gegenwart, als Mensch der neueren Epoche nicht anders, als wiederum mein Ich-Bewußtsein dem bloßen physischen Leib, dem Naturdasein in mir, zuzuschreiben. -Was ich hier in Gedanken ausspreche, das ist durchaus bei jedem ge­sunden Menschen, der sich heute nicht davor fürchtet, zur Selbsterkennt­nis zu kommen, empfindungs und gefühlsmäßig vorhanden. Er kommt, wenn er es nur nicht aus Furcht oder aus Bequemlichkeit vermeidet, in das eigene Innere hineinzusehen, in diesen Zwiespalt, daß er sich sagt: Wenn ich mich als ein Naturwesen, hervorgehend aus der Natur, betrachte, dann muß ein Gotteswesen zugrunde liegen der gesamten Welt, die mich auch enthält. - Aber eigentlich widerspricht diesem ge­sunden

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Empfinden die moderne Ich-Entwickelung, denn diese kann nur aus dem Naturdasein des physischen Leibes kommen und - wie ich Ihnen sogar gezeigt habe - durch den Eindruck, den das Sterben auf den Menschen macht. So folgt nichts Geringeres daraus, als daß ganz in­stinktiv der moderne Mensch eigentlich doch über das Gottesbewußt­sein in Zweifel kommen muß, aber nicht aus dem Grunde, weil irgend etwas in der Naturbetrachtung vom Gottesbewußtsein wegführte, son­dern weil der Mensch in der gegenwärtigen Epoche im Grunde genom­men, wenn man seine Gesamtwesenheit nach Leib, Seele und Geist be­trachtet, wegen seines Ich-Bewußtseins gar nicht völlig gesund sein kann. Denn: Natur im Menschen, wenn es so bleibt, wie es ist und auf die Seele Einfluß hat, bedeutet etwas Krankmachendes, und auf die Seele hat es den Einfluß des Abirrens, des Sündigens.

Das darf man natürlich nicht philiströs anschauen, sondern man muß durchaus die Tatsachen, wie sie aus dem Dasein sprechen, sich vor Augen halten. Mit andern Worten: Wenn wir in alte Zeiten zurück­gehen, wo das Ich-Bewußtsein noch nicht da war, hat man sich das Gotteswesen - gleichgültig, ob man es nach der einen oder andern Seite hin modifiziert vorgestellt hat - immer unter dem Vater-Begriff vorge­stellt. Man konnte sich das Gotteswesen nicht anders vorstellen als ein einheitliches Gotteswesen, welches mehr oder weniger von der Welt umfaßt hat, das man zu erfassen suchte aus dem Vater-Begriff; und da das Ich-Bewußtsein noch nicht da war, da es nur aus dem Natürlichen hervorgehen kann, so störte nichts dieses Vater-Bewußtsein. Der mo­derne Mensch kann eigentlich dieses Vater-Bewußtsein nur haben, wenn er vielleicht durch moralische Erkräftigung, aber dennoch sein Ich dämpft und sich etwas entzieht, was aber durch die Freiheitsentwicke­lung, mit der Entwickelung der modernen Menschheit, heraufkommen muß. Deshalb kann sich eigentlich der Mensch, wie er heute lebt, bei dem einen Bewußtsein, beim Vater-Bewußtsein, nicht befriedigen. Er muß sagen: Ich würde dieses Vater-Bewußtsein haben, wenn ich noch instinktiv sein könnte wie jene Menschheit, die da war, bevor sich das gesteigerte Ich-Gefühl entwickelt hat. Aber als Mensch der Gegenwart hält mich dieses Ich-Bewußtsein davon ab, in Abhängigkeit vom Vater-Bewußtsein diesem mich voll gegenüberzustellen.

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Da tritt das ein, was der moderne Mensch sehr wohl erleben kann, indem er über sein Ich nachdenkt, wenn er sich klar ist, daß das Ich, wenn es den Leib nicht hat, auslöscht. Im Einschlafen löscht es aus, im Tode hält es sich nur dadurch aufrecht, daß es die Anschauung des Lei­bes im Sterben hat. Der Mensch weiß, daß er gerade durch sein Ich-Bewußtsein von dem göttlichen Vater-Bewußtsein abgebracht wird. Das muß er aber doch als ein Krankhaftes empfinden, und wenn er dies in der richtigen Weise als krankhaft empfindet, ergibt sich für ihn der Impuls, der ihn führt zu dem heute gegenwärtigen Christus. Es wird zu dem Vater-Bewußtsein das Sohnes-Bewußtsein aus dem innerlichen seelischen Erleben heraus kommen müssen. Dieses Sohnes-Bewußtsein kann nur durch eine Tat der Freiheit in uns hereinkommen. Und das müssen wir uns durchaus vorhalten: Ist der Atheismus eigentlich eine Krankheitserscheinung, so ist das, was man nennen kann Agnostizismus gegenüber dem Mysterium von Golgatha, Agnostizismus vor allem gegenüber dem gegenwärtigen Christus, ein Unglück, ein Schicksals­schlag! Man muß nicht vollkommen gesund sein, wenn man vomVater­Bewußtsein verlassen ist - aber in dieser Beziehung ist eben die moderne Menschheit nicht vollständig gesund -; aber man braucht eine Tat des freien Findens des Christus-Geistwesens, wenn man zu dem Christus kommen will.

Es sind durchaus zwei Erlebnisse notwendig: Einmal das Bewußt­sein gegenüber dem Vater, aber ich möchte sagen, in der gegenwärtigen Menschheitsentwickelung ist ein getrübtes Bewußtsein vomVater.Wenn ich mir nicht im Laufe der Menschheitsentwickelung das Ich-Bewußt­sein erworben hätte, so wäre das göttliche Vater-Bewußtsein da; weil aber das Ich-Bewußtsein eigentlich aus demjenigen heraufquillt und heraufquellen muß, was, sich selbst überlassen, krank ist in der mensch­lichen Wesenheit, deshalb ist das göttliche Vater-Bewußtsein für die Gegenwart getrübt, und man muß durch eine freie Tat, die verschieden ist von dem Auffinden des Vaters, zu dem Bewußtsein des Christus kommen.

Diese zwei Erlebnisse werden, wie ich auch hier schon angedeutet habe, in der westlichen Zivilisation nicht von einander unterschieden. Man findet gerade bei Solowjow, wie er, aus einer andern Artung des

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Bewußtseins heraus, streng unterscheidet das Vater-Bewußtsein von dem Sohnes-Bewußtsein. Im Westen werden die beiden so wenig unter­schieden, daß eine für viele maßgebende Darstellung des Wesens des Christentums sogar sagen konnte: In die Evangelien gehört nicht der Sohn, sondern allein der Vater hinein, der Sohn eigentlich allein nur als der Lehrende vom Vater. - Es ist also nicht das Bewußtsein vorhanden, daß man zwei Akte des Erlebens haben kann: einen gegenüber dem Er­leben des Vaters, der aber heute getrübt ist, und den anderen gegenüber dem Sohne. Nun würde man, wenn man dieses Erlebnis gegenüber dem Sohne hat, zunächst nur zu einer gegenwärtigen Begegnung mit dem Christus kommen, und zu dieser gegenwärtigen Begegnung mit dem Christus, sozusagen zu dem ewigen Christus, kann jeder aus dem sub­jektiven Verhältnis der Gegenwart kommen. Wer aber die gegenwärtige Begegnung mit dem Christus zurückweist und dumpf so lebt, wie in der früheren Zeit der Menschheit, der wird nicht jene innere Konstitution sich erringen, die ihn zu der Begegnung mit dem Christus führt. Aber wer so recht fühlt, was ihm die neuere Zeit geben kann, der kommt zu dieser inneren Tat der Begegnung mit dem Christus und beweist dann dadurch, daß der Christus da ist.

Es bleibt aber noch zu erforschen der historische Christus. Da muß man auch die Möglichkeit haben, die Geschichte nun von einem an­deren Gesichtspunkte aus zu betrachten, als das heute im Zeitalter des Materialismus für das äußere Bewußtsein möglich ist. Da muß ich Sie auf etwas aufmerksam machen, was streng beachtet werden sollte. Dieses Hinaufleuchten in höhere Welten wird gewöhnlich doch zu äußerlich genommen. Die Menschen hören noch zu wenig darauf hin, wie derjenige, der von den höheren Welten spricht, eigentlich auch in einem anderen Stile sprechen muß, als man von der physischen Welt spricht, und zwar nicht nur in einem andern äußeren Stile, sondern in einem andern inneren Stile. Wenn wir hier in der physischen Welt leben und diese Welt auf uns wirken lassen, so unterscheiden wir für das heutige Bewußtsein, logisch, möchte ich sagen, richtig und unrichtig; wir nennen es auch wahr und falsch. Und wir prüfen nach logischen oder äußeren Wirklichkeitsgründen, ob etwas richtig oder unrichtig, wahr oder falsch ist. Dadurch kommen wir aber eben gerade in die Abstraktion,

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in das intellektualistische Leben hinein. Denn alles logische Unterscheiden, ob etwas wahr oder falsch ist, bewegt sich eben in ab­strakten Begriffen, wenn man nur äußere Sinnesanschauung, in der Beobachtung oder im Experiment, zugrunde legt. Mit seinem Erkennen bewegt man sich trotzdem eben in abstrakten Begriffen. Dieselbe Ab­straktheit der Begriffe können wir nicht beibehalten, wenn wir in die höheren Welten hinaufgehen. Da wird alles viel lebendiger, und es nimmt sich ähnlich dem Lebendigen aus, nicht bloß dem Gedachten. Daher muß, wer die höheren Welten erschaut, nicht bloß von wahr oder falsch, richtig oder unrichtig sprechen - das muß man natürlich auch! -, sondern man muß zum Beispiel von etwas, was hier in seinem Abglanz in der physischen Welt richtig ist, sprechen als von einem Ge­sunden, und von etwas, was hier in seinem Abglanz falsch ist, muß man sprechen als von etwas Krankem. Man hat schon für die nächsthöhere Welt gar nicht recht, wenn man von wahr und falsch spricht, man hat es da überall zu tun mit gesund und krank, heilsam oder unheilsam. Wer daher von den höheren Welten mit Rücksicht auf abstrakte Logik wie von der physischen Welt spricht, der zeigt dadurch, daß er eine wirkliche Anschauung von den höheren Welten nicht hat.

Nun tritt aber etwas sehr Eigentümliches gegenüber der geschicht­lichen Entwickelung der Menschheit ein. Wenn man sie unbefangen betrachtet, zeigt sie uns ja alte weisheitserfüllte Epochen, und hat man ein gesundes Gefühl, so wird man vor der Urweisheit dieser älteren Epochen tiefe Ehrfurcht empfinden. Wenn man das, was zum Beispiel dann einen Abglanz in den Veden, in der Vedantaphilosophie gefunden hat, seinem Ursprunge nach betrachtet, so wird man finden: Es ist aus so tiefen Weisheitsgründen herausgeholt, geoffenbart, daß man tiefste Ehrfurcht davor haben muß. Man nähert sich eben dieser Urweisheit der Menschheit doch anders, als dies die abstrakte Gelehrsamkeit der heutigen Zeit vermag. Aber diese Urweisheit wird gewissermaßen immer mehr und mehr abgelähmt, je weiter die Menschheit in ihrer Entwicke­lung vorrückt, und wir sehen, daß die stärkste Ablähmung dieses ur­sprünglichsten, dieses urweisheitsvollen Menschheitsbewußtseins in jenem Zeitalter da ist, in welches das Mysterium von Golgatha fällt. Man braucht gar nichts von den äußeren Urkunden zu berücksichtigen,

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insofern diese Urkunden, wie etwa die Evangelien, wörtlich von dem Mysterium von Golgatha sprechen. Man braucht nur unbefangen, aber jetzt mit einem höheren Blick, die historische Entwickelung der Mensch­heit zu betrachten, so findet man, je weiter man zurückblickt, diese Ur­weisheit immer dunkler und dunkler im menschlichen Gemüt werdend. Was dann im 15. Jahrhundert vollends zum Ausdruck gekommen ist, das findet sich schon angedeutet in der griechischen, in der lateinisch­römischen Epoche. Die Menschheit hat im Grunde genommen nur noch Traditionen von der Urweisheit, sie erlebt sie nicht mehr, und es kün­digt sich langsam dasjenige an, was dann als volles Ich-Bewußtsein her­aufkommt. In dieser Beziehung ist unsere äußere Wissenschaft eigent­lich wenig auf das gekommen, was gerade an dieser Epoche zu studieren ist, in die auf der andern Seite das Mysterium von Golgatha hineinfällt. Ungeheuere Probleme liegen vor, wenn man heute zum Beispiel das griechische Alphabet vor sich hat, wo die Buchstaben noch Namen haben, Alpha, Beta, Gamma, und den Weg verfolgt zum späteren latei­nischen Alphabet, wo sie keine Namen mehr haben. Diese Übergänge, die tief hinweisen auf historische Entwickelungszustände, werden gar nicht beachtet. Es wird zum Beispiel nicht beachtet, was unser Wort «Alphabet», das noch aus dem Griechischen genommen ist, eigentlich bedeutet. Geht man dem nach, und eine wirkliche Sprachwissenschaft wird diesen Dingen nachgehen können, so wird sich herausstellen, daß mit dem griechischen Alpha im Grunde genommen dasselbe ausge­drückt ist, was im Alten Testament ausgesprochen ist mit den Worten: Dem Menschen wurde der lebendige Odem eingebildet -, so daß man in dem Odem, in dem Atem, dasjenige sehen wird, was zunächst den Men­schen macht. Wenn man einmal gehörig untersuchen wird das Wort Alpha, das eben ein Wort ist, so wird man finden: Das ist der Mensch! Der erste Buchstabe des Alphabets ist nichts anderes als der Ausdruck für den Menschen. Und das Beta ist das «Haus», und der Anfang des Alphabets heißt: Der Mensch in seinem Haus. - Diese Anschauung des Alphabets ist in der späteren Zeit, als sich der Intellektualismus immer mehr und mehr ausbildete, vollständig verlorengegangen. Da wurden die Buchstaben nur zur Unterscheidung für die äußeren Dinge verwen­det. Was in der Offenbarung der Urweisheit lag, löste sich los, das

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«Wort» der Uroffenbarung wurde veräußerlicht, und man versteht gar nicht mehr, was in den Buchstaben - und zwar in den Worten - der Menschheit geoffenbart worden ist. In den heute traditionellen Logen und Orden wird zwar überall von dem «verborgenen Wort» geredet; wenig aber weiß die Menschheit davon, was dieses verborgene Wort als eine Realität hatte,wie das Alphabet selber von dem verborgenenworte sprach, und wie es atomisiert, zerteilt worden ist.

Ich könnte natürlich auch von etwas anderem ausgehen, um zu zei­gen, was für ein tief einschneidender Entwickelungsimpuls zur Zeit der griechischen, der lateinischen Kultur dagewesen ist. Wie die griechische Kultur durch eine besondere Kunst sich hinüberzuhelfen suchte über dieses, ich möchte sagen Kranksein, das da in der Menschheit auftrat, das ist mit Händen zu greifen für den, der sehen will. Ich möchte da nur auf eines aufmerksam machen.

Heute denken die Menschen, wenn zum Beispiel vom Drama ge­sprochen wird: das ist etwas zum Anschauen, was zum Lebensluxus gehört. Man schaut es an und nennt es dann etwa schön. Die Griechen aber hatten für das Wichtigste, was im Drama spielt, die Idee der Katharsis, der Reinigung, der Läuterung. Das war etwas, was nicht nur einen äußeren, phantastischen Vorgang bedeutet, sondern was deutlich hinweist auf seinen medizinischen Ursprung. Die Katharsis ist die Kri­sis, über die man hinwegkommt, und durch die Tragödie der Griechen wurde die Seele in die Krisis gebracht, so daß sie im Erleben von Furcht und Mitleid eine Reinigung durchmachte, indem sie durch den Ablauf des Dramas den Wirkungen dieser entgegengesetzten Kräfte hingegeben war. Der Grieche dachte sich seine Kunst durchaus nicht in einem banausischen Sinne, sondern durchaus als ein Heilendes. Denn er nahm darin noch wahr das Walten einer Urweisheit. Es war für ihn noch eine gesunde Urweisheit da, die aber abgelähmt worden ist im Laufe der Zeit, und es trat dann eine Art Krankheitsprozeß auf. Der Grieche wollte mit seiner Kunst - Nietzsche hat das geahnt, man lese es nach in seinem Buche «Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik» -etwa das Folgende ausdrücken: Es ist etwas zu heilen an der Mensch­heit. - Und die Therapeuten, die Essäer, gingen überall davon aus, daß etwas zu heilen sei an der Menschheit. Und wäre das Mysterium von

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Golgatha nicht in der Menschheit eingetreten, lebten wir heute so, daß ich sprechen müßte, ohne daß das Mysterium von Golgatha dagewesen wäre, so könnten wir nur hinweisen auf einen Erkrankungsprozeß in der Menschheit. So daß uns im Hinblick auf das Mysterium von Gol­gatha etwas aufgeht, wenn wir die Begriffe gesund und krank in bezug auf die Geschichte der Menschen anwenden. Das ist das Bedeutsame:

Sie können alle Begriffe anwenden in bezug auf richtig und falsch, aber Sie kommen an einen Punkt im Verlaufe der Entwickelung, wo Sie die Dinge anders werden ansehen müssen. Denn kommen Sie in die grie­chische Epoche hinein, so kommen Sie damit in eine Zeit,wo ein Krank-werden in der Menschheit eingetreten ist, und von dem Mysterium von Golgatha die Gesundheit ausgeht. Die Therapeuten haben darauf hin­gewiesen und gesagt: Da entsteht der große Therapeut, der Heiland, der im wörtlichen Sinne an der Menschheit zu heilen hat. - Es handelt sich nur darum, daß man tief genug in den Gang der Menschheitsent­wickelung hineinschürft und nicht bei den gewöhnlichen abstrakten Begriffen stehenbleibt, sondern das geschichtliche Leben ergreift mit den medizinischen Begriffen, nach den Kategorien von gesund und krank. Dann wird man die Notwendigkeit eines Heilungsprozesses ver­stehen und wird auch verstehen, wie der «Heiland» - es ist kein anderes Wort als der «Therapeut» - in die Menschheit eingreift. Man wird dann verstehen, wie in die Erdenmenschheitsentwickelung etwas ein­greifen muß, was durch die Kräfte, die früher in der Menschheit da waren, nicht eingreifen konnte. Ein neuer Impuls aus Außerirdischem mußte zur Heilung der Menschheit kommen.

So kann man die geschichtliche Entwickelung betrachten und so muß man sie betrachten, wenn man, ohne sich auf den Inhalt der histo­rischen Urkunden einzulassen, nur auf die Konfiguration hinschaut, wie sich die Menschheit entwickelt hat. Dann kommt man eben zu dem Begriff des außerirdischen Christus, der sich aus außerirdischen Re­gionen durch das Mysterium von Golgatha mit der Erdentwickelung verbunden hat. Das Schauen muß eintreten, wenn man die Geschichte verstehen will. Wer dieses Schauen nach den Begriffen von gesund und krank nicht auf die Geschichtsentwickelung anwenden will, der sollte sich nur gestehen, daß ihm die Geschichte unverständlich bleibt. Er

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kann nicht verstehen, wie dasjenige, was einmal im Orient gelebt hat, nach Afrika hinübergekommen ist und dann zu dem Griechisch-Römischen geworden ist. Wir sehen die griechische Entwickelung, mit Recht, als eine außerordentlich gesunde an. Und warum? Weil der Grieche das Gefühl hatte, daß man die Krankheiten zu bekämpfen hat und daß er dementsprechend das Leben gestalten wollte. Und darüber besteht ein besonders merkwürdiger Einklang zwischen den einzelnen griechischen Persönlichkeiten, daß sie fühlten: hier ist etwas zu be­kämpfen. Und dieses Nicht-mehr-Fühlen und das immer mehr und mehr Hineinsegeln in das Abstrakte, das selbst die Götter zur Abstrak­tion macht, das ist das Eigentümliche des Romanismus und bleibt sein Eigentümliches. Europa wird durch den Romanismus erzogen bis zum 15. Jahrhundert, bis es dann dazu kommt, in das Bewußtsein den kos­mischen Christus aufzunehmen; vorher wird der Christus durch den Romanismus in das Abendland getragen.

Ich wollte heute nur einiges beitragen, damit man allmählich zum Verstehen dessen kommt, was im Mysterium von Golgatha dasteht:

wie man tatsächlich nicht bei etwas stehenbleiben kann, was sich aus alten Zeiten bis zum Mysterium von Golgatha hin entwickelt hat. Man findet dann, daß eigentlich, wenn man so vorgeht, kein Unterschied mehr besteht zwischen dem, was gewisse Theologen in ihrer Jesulogie haben, und zwischen dem, was ein weltlicher Historiker, wie zum Beispiel Ranke, hat. Man kann das, was gewisse Theologen haben in bezug auf die Jesus-Geschichte, nicht mehr unterscheiden von dem, was zum Bei­spiel ein Mann wie Ranke darüber vorbringt. Aber alles beruht darauf, daß man durchschaut, wie sich der Christus als ein außerirdisches We­sen vereinigte mit dem Jesus von Nazareth, der als einer der Menschen im Laufe der Zeit geboren worden ist. Gerade da nun tritt etwas ein, was zu den stärksten Mißverständnissen geführt hat in bezug auf die­sen notwendigen Weg der Anthroposophie zum Mysterium von Golga­tha hin. Es war der ganzen alten instinktiven Weisheit eigen, daß sie das Geistige und das Physische nicht getrennt hatte. Denn, trennt man beides, so kommt man im Physischen zu einem unmöglichen Materie-begriff und im Geistigen, das heißt im geistigen Erleben des Menschen, eben zu der Abstraktion, zu dem leblosen Begriffssystem. Es ist erst

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der neueren Menschheit eigen geworden, in dieser Weise Materielles und Geistiges voneinander zu trennen. Und so führt uns Anthroposo­phie wieder dazu hin, zu verstehen, wie wir die ganze Natur anzuschauen haben, ich möchte sagen, wie wir eine Physiognomie betrachten. Eine Physiognomie betrachten wir so, daß wir sie durchseelt denken. Wir lesen aus ihr die Durchseeltheit ab. So war das einst in der Urweisheit, und so führt uns heute die lichtdurchdrungene neuere Weisheit auch wieder zu einem physiognomischen Anschauen der Sternenwelt zum Beispiel. Das führt zu etwas, was uns den Christus ansprechen läßt als das Sonnenwesen, wobei aber ebensowenig gemeint ist, daß der Christus das physische Sonnenwesen ist, wie der Mensch das physische Körper-wesen ist. Aber nur dadurch kann erkannt werden, wie in dem Jesus von Nazareth, der in Palästina gelebt hat, etwas Außerirdisches hat leben können. Das aber wird gerade bei den Theologen in das äußerste Mißverständnis eingehüllt. Man findet es sogar «beleidigend», daß die Anthroposophie den Christus zusammenbringt mit der Sonne und mit der äußeren kosmischen Welt überhaupt. Warum findet man das? Das ist außerordentlich charakteristisch. Die Anthroposophie sagt, sie führe von dem Christus wieder zur Sonne hin. Aber die Sonne ist für diese Menschen doch nur der brennende Nebelball da draußen; daher ist es beleidigend, diesen brennenden Sonnennebelball mit dem Christus in Zusammenhang zu bringen. Aber wir wissen: Die Theologie ist mate­rialistisch geworden, und sie kann daher in dem Kosmos auch nur die materielle Welt sehen. Doch die Anthroposophie zeigt, wie diese mate­rielle Welt überall durchgeistigt ist. Die Theologie jedoch vermag sich nicht von dem Materiellen loszulösen, und daher fühlt sie sich beleidigt, wenn die Anthroposophie von dem Christus als Sonnenwesen spricht. Aus Materialismus, aus tiefstem Materialismus über das Weltgebäude wird gerade dieser Punkt über die Christologie beleidigend gefunden. Hier sehen Sie, wie der Materialismus sich überall hineinfrißt. Er hat eben gerade die Theologie ergriffen, und weil die Theologie materia­listisch geworden ist, deshalb führt sie so zu Mißverständnissen über die Anthroposophie. Aus der gewöhnlichen Welt heraus können wir doch nur Materialisten sein, und wenn einer aus dieser Welt den Christus her-unterkommen läßt, dann kann man dies doch nur materialistisch auffassen,

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und - das ist beleidigend. Man muß eben schon an diesen Stellen auf das Materialistischwerden der ganzen Kultur hinweisen, die nur Furcht davor hat, sich ihre Untergründe zu gestehen. Aber wir kommen nicht aus dem Niedergange zu einem neuen Aufstieg, wenn wir nicht diese Untergründe ganz unbefangen, furchtlos, unängstlich ins Auge fassen. Wir müssen heraus aus dem, was die europäische und die abend­ländische Menschheit überhaupt in diese Niedergangsbewegung hinein­gebracht hat, was zu diesen furchtbaren Katastrophen geführt hat. Dazu ist nur tauglich furchtlose Erkenntnis alles dessen, was der Mensch von der Welt erfahren kann. Dazu ist auch notwendig, daß man in unbefangener Weise auf dasjenige eingeht, was wirklich nicht brauchbar ist aus der Sphäre des Intellektualismus, wenn man in die höheren Welten hineingeht.

Viele Menschen sagen heute noch: Ja, was da mitgeteilt wird aus den höheren Welten, das ist fremdartig; man muß selber in diese Welten hineingehen, sonst kann man es nicht verstehen. - Aber so ist es nicht. Die Menschen glauben nur deshalb, daß es so ist, weil sie sich durchaus jenen Begriffen überlassen wollen, die nur für die physische Welt gelten, die wir zwischen Geburt und Tod haben. Es herrscht zum Beispiel heute der Glaube, gerade weil man überall aus den Begriffen heraus alles entwickelt, trotzdem man glaubt, induktiv und empirisch zu sein, daß man meint, sich überhaupt absolut ausdrücken zu können. Man muß natürlich sich sagen: wenn der Mensch einschläft, treten das Ich und der astralische Leib aus dem physischen und Atherleib heraus, und er bleibt so lange unbewußt, bis das Aufwachen wieder zustande kommt. Das ist für die gegenwärtige Menschheit durchaus gesund gesprochen, aber es gilt nicht für die gesamte Menschheitsentwickelung. Wenn wir zum Beispiel gerade in jene Zeiten zurückschauen, aus denen die indische und die urpersische Kultur hervorgegangen sind, so finden wir, daß überall eine andere Vorstellung zugrunde lag, nämlich die, daß der Mensch mit seinem Ich und astralischen Leib beim Einschlafen tiefer in seinen physischen und seinen Atherleib hineinsteigt, als es beim Tag-wachen der Fall ist. Der alte Inder sagte nicht: Der Mensch geht mit dem Einschlafen mit seinem Ich und astralischen Leib aus physischem Leib und Ätherleib heraus. - Das machen nur die Theosophen den Leuten

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weis, daß der Inder so gesprochen hätte. Er sagte vielmehr: Mit dem Ein­schlafen gehen die Menschen tiefer in den physischen Leib und Ather­leib hinein. - Und das ist im Grunde genommen ganz richtig, denn die Sache verhält sich tatsächlich so, wie wenn man im absoluten Sinne sagen wollte: für die Erde geht die Sonne im Osten auf und im Westen unter. Das ist aber nicht der Fall, denn für die andere Erdenhälfte spielt sich der Vorgang umgekehrt ab. Man kann es zwar auch Osten und Westen nennen, aber es sind die Richtungsverhältnisse andere. Daher ist es durchaus so, daß eine gewisse Zeit hindurch das Ich und der astra­lische Leib tiefer in den physischen Leib und Atherleib hineintauchten, und daß daher auch der Eindruck ein ganz anderer war. Deshalb spricht auch der Inder ganz anders, weil der Mensch in einer andern Bewußt­seinsart steckte, nämlich in dem, wovon der heutige Mensch ja auch nicht ein volles Bewußtsein hat, in seinen rhythmischen und Stoff­wechselfunktionen. Von diesen hat er kein Bewußtsein, denn es ist für den heutigen Menschen bewußtseinsmäßig durchaus so, daß er seine rhythmischen Funktionen verträumt, seine Stoffwechselfunktionen da­gegen verschläft.

Deshalb kann man sagen: Es muß schon verständlich sein, daß über so etwas, worüber man heute glaubt absolut sprechen zu können, die Menschen zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes erfahren mußten; und nur dann versteht man die Geschichtsentwickelung, wenn man über diese Dinge auch die Tatsachen sprechen läßt, nicht die Begriffe, die man sich auskonstruiert hat. Heute, wo sich der Westen und der Osten, Ok­zident und Orient, in einer so brennenden Weise gegenüberstehen, daß ein Ausgleich gefunden werden muß, heute muß die Menschheit bis zu diesen Hintergründen zurückgehen können; sonst können Sie noch so viele Washingtoner Konferenzen erleben, sie werden alle ausgehen wie das Homberger Schießen, wenn nicht auf die Grundimpulse der Mensch­heitsentwickelung eingegangen wird. Das glauben die Menschen heute noch nicht, aber es ist eine Wahrheit, daß eingegangen werden muß auf dasjenige, was die Menschheit aus dem Innersten bewegt, wenn man aus den Niedergangserscheinungen wieder zu Aufgangserscheinungen kommen will. Es erscheint heute das, was hier gefordert wird, als un­praktisch. Aber von dem wirklich Unpraktischen, das sich als solches erwiesen

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hat, das sich in seinem Extrem heraufentwickelt hat, unprak­tisch geworden ist von 1914 bis 1918 und weiterhin unpraktisch wirkt, von dem merken die Leute nicht, wie unpraktisch das ist. Aber neben alledem muß man sich einleben in das, wie auch das religiöse Bewußt­sein durchleuchtet und vertieft werden kann durch das, was anthropo­sophische Anschauung ist.

Ich konnte heute nur einen der Wege zeichnen, wie zu dem kosmi­schen, außerirdischen Christus gekommen werden kann. Aber Sie wer­den sehen, wie sich daraus dann später eine vertiefte Geschichtsauffas­sung entwickeln kann, aber eine solche, welche die Menschheit als ein Lebewesen betrachtet. Und wie man sonst bei einem Lebewesen von gesund und krank spricht, so muß man auch bei der Menschheit von gesund und krank sprechen, wenn man nicht bei dem Materialismus stehenbleiben will. Man kann nicht sagen, daß es schwierig ist, zu dem Christus zu kommen, wenn man sieht, wie die entsprechenden Wege nicht beschritten worden sind. Eine konkrete, wirklichkeitsgemäße Ge­schichtsbetrachtung wirdden Weg zu dem Mysterium von Golgatha von den verschiedensten Seiten her zu gehen versuchen. Heute ist es aller­dings so, daß man, da man nicht mit Gründen gegen die Geisteswissen­schaft aufkommen kann, alles mögliche anwendet, umTräger der Geistes­wissenschaft zu verunglimpfen: man wird persönlich. Und es ist ja -ich sage es wirklich ohne Groll - ein furchtbares Armutszeugnis derer, die sich heute gegen die anthroposophische Geisteswissenschaft auf­spielen, daß sie eigentlich darauf verzichten, auf die Geisteswissenschaft einzugehen, daß sie immer nur von außen um sie herumgehen, zum Bei­spiel das Christus-Ereignis und das Christus-Erlebnis so hinstellen, als ob die Anthroposophie das Mysterienhafte rationalisiere, als ob sie das, dem man sich in scheuer Ehrfurcht nähern sollte, in die Sphäre der gewöhnlichen rationalistischen Erkenntnis herunterziehe. Aber beden­ken Sie nur: Wenn man einem Menschen gegenübersteht und ihn an­schaut, so muß das Geheimnisvolle, das jeder Mensch uns gegenüber ist, nicht dadurch verlorengehen, daß man nicht bloß von ihm erzählen hört, sondern ihn auch anzuschauen vermag. Nicht mit rationalistischen Begriffen ist der einzelne Mensch auszumessen, wieviel weniger also das, was als der höchste Sinn der Erdenentwickelung uns entgegentritt: das

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Mysterium von Golgatha! Aber das Geheimnisvolle geht nicht dadurch verloren, daß zur Anschauung geführt wird; und Anthroposophie will eben von dem, was nur mitgeteilt oder geglaubt wird, zu dem hinführen, was sich in der Anschauung verständlich macht. Nichts wird hinweg-getan von dem, was das Mysterium ausmacht. Das Mysterium bleibt bestehen, aber es soll von ihm nicht bloß «gesprochen» werden, sondern es soll vor die betrachtende Menschheit hingestellt werden.

So wird in der Kritik heute herumgeredet, statt auf das einzugehen, was so wörtlich in der anthroposophischen Literatur selbst enthalten ist. Es ist nicht notwendig, daß man sich auf jede Sache einläßt, die von solcher Seite kommt, aber innerhalb der anthroposophischen Kreise sollte doch ein starkes Bewußtsein dafür vorhanden sein, daß der Haß gegen die anthroposophische Bewegung sich um so mehr steigern wird, je mehr sie sich geltend machen wird. Was man sich bisher geleistet hat, sind schon starke Stücke in bezug auf Gegnerschaft; doch Sie können versichert sein, das wird noch überboten werden. Und selbst wenn so geschimpft wird wie in den letzten Tagen wieder einmal über die Eu­rythmie, dann scheint mir nur das nötig zu sein, sich zu sagen: Bedenk­lich wäre es nur, wenn von dieser Seite her gelobt würde. Ich würde dann anfangen, mich zu fragen: Was muß nun anders gemacht wer­den? - Das sollte derjenige als ein gesundes Gefühl durchaus sich an­eignen, der in der richtigen Weise in der anthroposophischen Bewegung drinnenstehen will.

Damit wollte ich heute etwas darstellen, was sich in einer gewissen Beziehung als eine Ergänzung dessen ausnimmt, was ich bei meinem letzten Hiersein sprechen durfte. Das ist dadurch natürlich nicht an einen Abschluß gebracht. Was ich heute angedeutet habe, wird Sie auch in der Christologie wieder etwas weiterbringen.

Erster Vortrag, Darnach, 12. Dezember 1921

#G209-1968-SE088 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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Erster Vortrag, Darnach, 12. Dezember 1921

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Wenn man zunächst die geschichtliche Entwickelung der Menschheit überblickt, so bietet sie dasjenige dar, wovon wir gesprochen haben: eine absteigende Linie von der ursprünglich vorhandenen, von dem Menschen instinktiv angenommenen Urweisheit, die zu gleicher Zeit etwas Belebendes für die Menschheit hatte und dann abgelähmt wurde zur Zeit des Mysteriums von Golgatha. Und dann folgt die aufstei­gende Entwickelungsströmung, in der wir drinnenstehen, die eben in der auch schon öfter geschilderten Weise vom Mysterium von Golgatha aus beginnt. Nun handelt es sich darum, das, was da zunächst als ein ge­wisses inneres Charakteristikum der geschichtlichen Entwickelung zu­tage tritt, einmal für unsere Zeit, in der wir doch drinnenstehen und die wir verstehen müssen, richtig zu betrachten.

Es gibt in unserer Zeit die mannigfaltigsten Erscheinungen, die in den Gefühlen, in den Empfindungen der Menschen leben, von denen man sogar sagen kann, daß sie in einer gewissen Weise die Menschen gesund und krank machen, die aber doch nicht zum Bewußtsein ge­bracht werden, die nicht in der richtigen Weise mit den großen Ent­wickelungsprinzipien in Zusammenhang gebracht werden. Wir müssen unser Augenmerk auf diese Erscheinungen der Gegenwart richten, denn davon allein hängt eben die Gesundung von manchem innerhalb der menschheitlichen Entwickelung in die Zukunft hinein ab.

Man könnte da Verschiedenes anführen. Wir wollen heute eines her­ausheben, das ist die Schwierigkeit, die wir heute haben, ein richtiges Verstehen mit der aufwachsenden Jugend herbeizuführen. Das liegt schließlich auch unseren anthroposophischen pädagogischen Bestrebun­gen zugrunde, diese Schwierigkeit des Menschen, als Erwachsener sich heute mit der Jugend zu verständigen. Wir sehen heranwachsen heute eine ausgesprochene Jugendbewegung. Sobald die Kinder bis an das Alter der Geschlechtsreife herankommen und dann etwas darüber hin­aus, entwickeln sie sich mit einem Empfindungs- und Gefühlsleben, das

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nur außerordentlich schwierig heute für den Erwachsenen zu verstehen ist, das aber auch noch schwieriger eigentlich zu behandeln ist. Wir sehen,wie geradezu unter der Jugend Agitationsbewegungen auftauchen, revoltierende Empfindungen sich geltend machen gegen alle elterliche oder erzieherische Autorität. Und wenn wir schließlich mit unbefan­genem Sinn auf alles das hinschauen, so können wir vielem davon kei­neswegs die Berechtigung abstreiten. Wir müssen einmal uns sagen: Es lebt heute in dem heranwachsenden Menschen etwas, was den Zusam­menhang verloren hat mit dem äußeren Leben und auch mit den Offen­barungen des inneren Lebens bei den Erwachsenen. - Manches erscheint in dieser Beziehung heute dem Philister so, daß er dann, wenn er es bemerkt, einfach anfängt, in einer sonderbaren Weise zu schimpfen. Er meint es vielleicht nicht immer so, aber er fängt an zu schimpfen. Er sagt: Die Jugend hat heute alles Autoritätsgefühl verloren, sie ist fast schon bolschewistisch geworden; sie lehnt sich gegen alles auf, was das Alter vernünftig findet, sie gehorcht nicht. - Das alles sind Dinge, die das heutige Leben aussichtslos machen. Und insbesondere innerhalb der Lehrerschaft, innerhalb desjenigen Teiles der Lehrerschaft, der gern den alten Schlendrian bewahren möchte, findet man solche Aussprüche sehr, sehr häufig. Verstehen kann man eine solche Sache eben wiederum nur aus der Erkenntnis der Entwickelungsimpulse der Menschheit.

Wir haben einmal seit dem 15. Jahrhundert eine Entwickelung der Menschheit zum Intellektualismus hin, zur verstandesmäßigen Auf­fassung der Welt. Wir sind uns nicht immer bewußt, wie stark wir heute eigentlich in diesem Intellektualismus, in dieser rein verstandesmäßigen, immer mehr und mehr abstrakt werdenden Form der Weltauffassung leben. Trotzdem die Menschen immer glauben, daß sie von Erfahrun­gen, von der Wirklichkeit, von dem praktischen Leben ausgehen, gehen sie eigentlich in Wirklichkeit doch überall nur von dem Begriffsleben, von Definitionen aus, statt von den Tatsachen. Die Menschen glauben, irgend etwas verstanden zu haben, wenn sie sich einen Begriff von der Sache verschafft haben. Man spricht davon - ich habe ja solche Bei­spiele öfter erwähnt -, wie man den Tod versteht. Nun, der Tod wird, wenn es auch manchmal recht kompliziert geschieht, aufgefaßt als das Ende eines Wesens, einer Formgestaltung. Wenn diese Formgestaltung

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in sich zerfließt, wenn sie nicht mehr in sich zusammenhält, dann sagt man, sie sterbe, und man bildet sich einen Begriff, der die Frage beant­worten soll: Was ist denn eigentlich der Tod? Und dann wendet man diesen Begriff, den man gefaßt hat, den man auch säuberlich fein defi­niert, auf Pflanzen, auf Tiere, auf Menschen an. Man sagt: Pflanzen sterben, Tiere sterben, Menschen sterben. Daß aber dieses zu Ende-gehen des innerlichen Zusammenhaltes etwas ganz Verschiedenes sein kann bei der Pflanze, beim Tiere, beim Menschen, das beachtet man nicht, weil man eben an der äußeren Seite der Sache hängen bleibt. Es ist eben so, wie ich oftmals sagte: Irgend jemand sagt, ein Messer gehört zum Fleischschneiden -, und dann bekommt er ein Rasiermesser und verwendet es zum Fleischschneiden, Messer ist eben Messer. So etwa verfahren wir auch heute mit dem Begriff Tod, Leben und so weiter. Wir leben in Abstraktionen, im Intellektualismus. Das ist besonders stark im wissenschaftlichen Leben zu bemerken, wo man nicht von Tatsachen ausgeht, sondern von dem Erfassen von Begriffen, von dem Definieren.

Nun, die Anlagen, die der Mensch braucht, um ein solches Leben in Begriffen zu führen, die kommen nämlich eigentlich erst mit dem vier­zehnten, fünfzehnten Jahre, mit der Geschlechtsreife in Wirklichkeit herauf. Es ist geradezu unmöglich, bei unbefangener Anschauung des Lebens schon beim Kinde davon zu sprechen, daß es Anlage haben könne zur intellektualistischen Auffassung der Welt. Das Kind kann eben nicht in einer solchen Weise über die Welt denken, daß es zum Abstrakten hingeht. Das Kind entwickelt ein ganz anderes Leben in der Seele. Das Kind bringt ja Entwickelungskräfte, innerliche Gestal­tungskräfte aus seinem vorgeburtlichen Leben, aus dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt mit. Die gestalten, vor allen Dingen in den ersten sieben Lebensjahren, dann aber noch in einem etwas ge­ringeren Maße, aber auch bedeutsam, auch noch bis zur Geschlechtsreife hin am physischen Organismus. Und solange in einer solchen Weise am physischen Organismus gestaltet wird, so lange ist es ganz ausgeschlos­sen, daß der Mensch sich bis zum reinen Intellektualismus heraufent­wickelt. Nun ist die Menschheit in ihrer Entwickelung immer mehr und mehr dahin gekommen, daß alles, was man bekommt aus der Welt, was

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einem anerzogen wird, intellektualistische Begriffe sind. Wir bekommen gewissermaßen die Seelenkleider so, daß wir erst im vierzehnten, fünf­zehnten Jahre in sie hineinwachsen können. Es ist nur Schein, wenn wir zum Beispiel sagen, wir wollen bei den Kindern hauptsächlich beim Anschauen bleiben. Was wir für sie da in der Anschauung entwickeln lassen, in das wachsen sie eigentlich erst mit dem vierzehnten, fünf­zehnten Jahre hinein. Die Folge davon ist, daß beim heutigen Erwach­senen kein lebendiger Zusammenhang besteht zwischen dem, was da eigentlich auftritt als Seelenleben nach der Geschlechtsreife und dem, was vorher da war. Man erinnert sich nur äußerlich an das, was man als Kind erlebt hat. Man taucht nicht unter in die kindlichen Erleb­nisse. Man taucht nicht so unter in diese kindlichen Erlebnisse, daß man innerlich aufjauchzt bei dem, was man an Freude als Kind erlebt hat, daß man traurig wird in intensivem Maße bei dem, was gegen einen war. Man vergißt eigentlich, zwar nicht für den Verstand, wohl aber für Gefühl und Wille die Kindheit, so daß man nicht in der lebendigen Weise zurückblickt in die Kindheit.

Aber das Kind selbst, das hat noch nicht die Anlage zum Intellek­tualismus; das hat in sich diejenigen Kräfte, die noch am Organismus arbeiten. Das ist eigentlich dadurch eine ganz andere Rasse von Men­schen, und daher die Unmöglichkeit des Verstehens der Erwachsenen und der Kinder. Die Lehrer reden so zu den Kindern, daß sie eben furchtbar gescheit sind, diese Lehrer - aber die Kinder sind weise. Die Lehrer sind gescheit und die Kinder sind weise, und die Gescheitheit kann die Weisheit nicht verstehen, kann keine Brücke schlagen von dem einen zu dem anderen. Wenn wir mit unserer Gescheitheit all das tun müßten, was die Kinder an ihrem inneren Organismus tun, ja, wir würden natürlich ganz und gar nicht damit zurechtkommen.

Jean Paul hat mit Recht gesagt, man lerne in den ersten drei Jahren seines Lebens weit mehr als in den drei akademischen. Wer mit Unbe­fangenheit seine akademische Zeit durchgemacht hat, und dann in ent­sprechender Weise zurückschauen kann auf die kindlichen Jahre, der weiß, daß das durchaus wahr ist; denn die drei akademischen Jahre bewegen sich bloß in der Gescheitheit - sagen wir, es sei so-, jedenfalls aber bewegen sie sich nicht in der Weisheit. Die drei kindlichen Jahre

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aber, die ersten sogar am meisten, bewegen sich wirklich in der Weisheit. Da arbeitet die Weisheit an dem Menschen, wenn sie auch im Unter­bewußten bleibt, es arbeitet die Weisheit an dem Menschen. Dann läßt sie ja allerdings später nach, aber sie ist immerhin vorhanden und wir erleben dann das, was wir eben heute erleben: die revoltierenden Emp­findungen der Jugend gegenüber den Erwachsenen. Man versteht diese Sache eigentlich erst recht, wenn man zurückblickt in Zeitalter der Menschheit, wo das anders war. Und eben anders war es in derjenigen Entwickelungsperiode der Menschheit, die bis in die vierte nachatlan­tische Zeit hereingeht. Und ich will etwas schildern, wie das anders war.

Nehmen wir einen alten Agypter der früheren Zeit oder einen Ange­hörigen des chaldäischen Menschheitsstammes: der empfand die mine­ralische Natur nicht so wie wir. Er empfand sie ganz anders, die mine­ralische Natur. Er empfand sie so, daß, wenn er den gewöhnlichen Bo­den sah, er verhältnismäßig neutral empfand; aber schon ganz anders, lebendig empfand er, wenn er ein Gebirge sah, oder wenn er einen Fluß fließen sah. Da regte sich alles Lebendige in ihm. Da bekam er Auf­schlüsse über das, was er eigentlich brauchte an Aufschlüssen von der Außenwelt. Er fühlte, sagen wir, wenn er einen Kristall sah, daß der Kristall ihm etwas sagte, daß er ihm ein Geheimnis der Natur enthüllte. Heute werden wir allerdings intellektualistisch herangetrieben an die Mineralogie, an die Kristallographie. Da sollen wir allerlei lernen von Kanten und Winkeln und dergleichen. Schön, es ist ja recht gut, aber es läßt sich gar nicht vergleichen mit dem, was einstmals der Mensch empfand, wenn er einen Kristall ansah. Da sprachen wirklich Elemen­tarwesen zu ihm; da fühlte er, daß er auf der Welt nicht allein ist, daß da etwas in der Natur drinnensteckt, das zu ihm spricht. Und gar, wenn der Mensch an die Pflanzen herantrat. Gewiß, an das uns umgebende Gras trat man auch mehr oder weniger neutral heran. Wenn man aber, sagen wir, eine Bilsenkrautpflanze am Wegrain sah und an ihr vorbei­ging, dann hatte man ein bestimmtes Erlebnis. Das Bilsenkraut hat eine bestimmte Form; heute führt der Lehrer, der Botaniker ein Kind an diese Form heran: es wird beschrieben. Das ist eine intellektualistische Art, sich zu der Sache zu stellen, und wenn diese intellektualistische Art eintritt, so bleibt man eigentlich gegenüber fast allen Pflanzen mehr oder weniger

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neutral. Sie gefallen einem gewiß, ein Asthetisches tritt ein, aber das ganz Lebendige, das früher einmal da war, das tritt nicht ein. Denn wer in älterer Zeit, als alter Ägypter, als alter Chaldäer an einem Bilsen­kraut vorbeigegangen wäre, der würde erblaßt sein, der würde etwas blaß geworden sein. Derjenige, der an einer Fingerhutpflanze, an einer Digitalispflanze vorbeiging, der errötete. Wer an Colchicum autumnale, an der Herbstzeitlosen vorbeiging, der fühlte, wie seine Haut steifer wurde. Also man ging nicht gleichgültig durch die Welt. Man fühlte, wie man in der Blutzirkulation und - in der heutigen Sprache können wir das so nennen - in dem nervösen Erleben mitmachte, was äußerlich in der Form sich aussprach. Es war ein lebendiges Mitmachen mit der Natur.

Und wenn erst die Menschen dann Tiere sahen, dann erlebten sie ganz besonders intensiv in der eigenen inneren Gesamtempfindung mit der Form des Tieres mit. Die verstanden daher ganz anders die Natur. Sie verstanden sie unmittelbar mit dem ganzen Menschen. Wer eine Schlange sah, der fühlte etwas wie eine Sucht, sich zu winden im ganzen Organismus und zu entschlüpfen mit der Seele allerlei Dingen, die ihm unangenehm waren. Das ganze, was das ausgedrückt wird in der Bibel:

die Schlange war das listigste Tier -, das war ein innerliches Erlebnis beim Anblick der Schlange. Es sprach das mineralische Reich zu dem Menschen von außen. Es sprach das tierische Reich so, daß dieses Spre­chen einem Miterleben mit der Form des Tieres gleichkam.

Das alles ist der Menschheit entschwunden, und an die Stelle trat eine Art Sich-Weggeworfenfühlen von der Natur, ein Gefühl: die Natur hat ihre Fenster zugemacht. Man sieht nicht mehr in sie hinein. Man steht vereinsamt da. Das liegt in der naturgemäßen Entwickelung der Menschheit. Dasjenige nun, was da eine ältere Menschheit an der Natur erlebte, das ist in einem hohen Maße als Bedürfnis beim Kinde vor­handen. Und man soll nur einmal achtgeben darauf, wie das Kind eigent­lich frägt. Es frägt gar nicht so, daß unsere heutigen intellektualistischen Antworten auf die Fragen des Kindes wirklich passen. Sie passen eigent­lich gar nicht. Das Kind fühlt sich zumeist unbefriedigt. Und wenn wir an Kinder kommen, die dann Fragen stellen und sich befriedigt fühlen mit intellektualistischen Antworten, so ist das etwas, was heute ganz

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besonders in einer schiefen und falschen Erziehung zum Schaden der sich entwickelnden Menschheit auftritt. Wenn das Kind nämlich sich befriedigt erklärt bei unseren intellektualistischen Antworten, so ent­spricht das eigentlich einer gewissen Koketterie, die sich im Kinde ent­wickelt. In Wirklichkeit fühlt sich das Kind gar nicht befriedigt, wenn man ihm die heute gewohnten Antworten gibt, und wir dressieren es nur dazu, oftmals sich befriedigt zu fühlen und machen es dadurch eigentlich innerlich unwahr, innerlich kokett. Es kokettiert dann mit der Befriedigung. Das weist uns darauf hin, daß im Kinde etwas lebt, was ähnlich ist dem, was als Miterleben mit dem Kosmos in alten Zeiten die ganze Menschheit hatte, und was abgestumpft worden ist durch das intellektualistische Seelenleben der neueren Zeit. Wenn das einfach so, wie es heute ist, fortgehen würde, so würde die Kluft zwischen den Erwachsenen und den Kindern immer tiefer und tiefer werden.

Eine bekannte sozialistische Agitatorin hat einmal einen Aufsatz geschrieben, der ihr viel übelgenommen worden ist, über die Revolu­tionierung der Kinder. Das ist lange vor dem Kriege gewesen - da wurde geradezu verlangt, die Kinder sollen revolutioniert werden. Nun ja, man will ja heute alles revolutionieren, warum nicht auch die Kinder? Aber wenn das alles ohne Verständnis des menschlichen Wesens ge­schieht, so kann es nur zum größten Unheil führen, führt auch zum größten Unheil. Man muß eben einsehen, daß, so notwendig die intellek­tuelle Entwickelung, die Entwickelung zum Abstrakten hin für die Menschheit war, sie doch eben den Menschen herausgeworfen hat aus der Natur, und wir wachsen heute auf, indem wir unseren Kopf be­friedigen an der Entwickelung des Intellekts, und den übrigen Men­schen, namentlich das übrige Seelenleben, das aber im Unterbewußt­sein sehr stark arbeitet, unbefriedigt lassen. Das zeigt sich für denjeni­gen, der nun den ganzen Menschen beobachten kann mit den Mitteln der Geistesforschung, insbesondere heute beim schlafenden Menschen.

Dieser schlafende Mensch von heute hat gewissermaßen gar nichts von dem, was er eigentlich braucht. Er hat den großen Mangel, daß er vom Einschlafen bis zum Aufwachen nicht nur physisch schläft, wie er ja soll, sondern auch seelisch in einer gewissen Weise schläft. Bei dem älteren Menschen war das so der Fall, daß er im Einschlafen seelisch

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erwachte. Es ging das natürlich nicht in das gewöhnliche Bewußtsein über, aber er erwachte seelisch so, daß er gewisse Kräfte in der Um­gebung - er war ja dann mit seiner Umgebung verbunden, nicht mehr mit dem Leibe, aus dem er heraußen war -, daß er gewisse Kräfte durch das Bewußtsein einsog, die er im gewöhnlichen Bewußtsein nicht ein-saugen konnte. Diese Kräfte gehen heute dem Menschen verloren. Der Mensch steht in der äußeren Welt drinnen, und doch wiederum mit seiner Seele nicht darinnen. Er kann nicht mehr erröten, wenn er den purpurroten Fingerhut anschaut, er kann nicht mehr erblassen, wenn er das Bilsenkraut ansieht. Er kann nicht mehr so lebendig fühlen, daß es ein Glück ist, in der Nähe von Eichenwäldern geboren zu werden, weil die Eiche mutige Kräfte in den Menschen ergießt, wie das beim alten Germanen der Fall war. Diese Dinge sind nicht bloß in der Ab­straktheit zu fassen, wie wir das heute tun, wo wir es nacherzählen, so richtig philiströs nacherzählen, wie der alte Germane die Eichen geliebt hat. Es ist philisterhaft, wie wir das heute erzählen, denn wir wissen gar nicht, wie die Eiche auf ältere Menschen gewirkt hat, wie der siebzehn-bis achtzehnjährige Bursche, wenn er beim Erwachen gewisser Kräfte der Eiche gegenübergestanden hat, gar nicht anders konnte, als sich steifen in den Knien, in den Lenden, wie er den Hals straffte, wie das eine Selbstverständlichkeit war.

Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen; ich meine nicht, daß wir das jetzt heute heranerziehen sollen. Davon kann gar nicht die Rede sein, denn es wäre, wenn wir es heranerziehen wollten, etwas Unnatürliches. Es ist eben das etwas, was der Menschheit geschwunden ist, was nicht mehr vorhanden ist. Aber wir müssen einsehen, daß das Bedürfnis im unterbewußten Seelenleben trotzdem dafür geblieben ist, daß dieses Bedürfnis da ist.

Wie hat denn also der alte Mensch gegenüber der Natur gesagt? Er hat gesagt: Ich bin geboren - er hat es natürlich nicht so ausgesprochen, aber es lag im Gefühle -, ich bin geboren worden; was in mir lebt, das wurzelt da draußen in den Steinen, die mir etwas sagen, in den Pflan­zen, die mich erröten und erblassen machen, mich straff machen und so weiter, in den Tieren, die mich mit innerlichen Kräften erfüllen oder schlaff machen; da wurzle ich drinnen. Da werde ich mit meiner Seele

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wiederum aufgenommen, wenn mein Körper von mir abfällt. - Und es war das eine Empfindung, wie sie, sagen wir, die Pflanzen haben könn­ten, wenn sie blühen. Wenn die Pflanze ein Seelenleben entwickeln könnte, wenn sie blüht, so würde sie sagen: ich muß jetzt den Keim ent­wickeln zur Frucht; da ist es aus mit mir, da geht es nicht weiter, da muß ich meine Blätter welken und zuletzt abfallen lassen. - Aber dann würde sich die Pflanze, wenn sie ihr Seelenleben entwickeln würde, dankbar hinwenden zur Erde und würde sagen: Ja, da ist aber die Erde, die nimmt meine Keime auf, die entwickelt meine Keime. Da lebe ich weiter. - So hat ungefähr der alte Mensch gefühlt gegenüber der ganzen Natur. Er hat nicht bloß abgeleitet sein Seelensein von der physischen Vererbung, sondern er wußte sich wurzelnd in der ganzen Natur. Und indem er sich wurzelnd wußte in der ganzen Natur, wußte er auch wiederum, wie er in die ganze Natur aufgenommen wird, wenn sein Körper von ihm abgefallen ist. Er betrachtete die ganze Natur so, wie die blühende Pflanze die Erde betrachtet, die ihren Keim aufnimmt. Diese Welt, die da der alte Mensch um sich fühlte, die ist eigentlich nicht mehr da, die ist erstorben, die ist tot. Und das ist, wenn es eben auch nicht verstanden wird, ein Grundgefühl des modernen Menschen, daß er sich herausgeworfen fühlt aus der Natur.

Und jetzt wollen wir etwas ganz anderes vor unsere Seele hinstellen. Wir wollen uns einmal vorstellen in der vierten nachatlantischen Zeit einen Eingeweihten, der eingeweiht ist in den Beginn des intellektua­listischen Lebens. Was heute allgemein intellektualistisches Leben ist, war in gewisser Beziehung für den vierten nachatlantischen Zeitraum Ergebnis einer gewissen Einweihung. Gewisse Einweihungen gingen darauf hin, den Menschen bis zum Begreifen des Intellektualismus zu bringen. Sehen Sie, solch ein Eingeweihter wurde natürlich zu den Kon­sequenzen des Intellektualismus gebracht, während man heute unter der Furcht vor dem Intellektualismus eben stecken bleibt - man geht nicht bis zu den Konsequenzen. Aber solch ein Eingeweihter, der wurde dazu gebracht, das zu verstehen. In alten Zeiten war es eben so, daß der Mensch das Beseelte der ganzen Natur fühlte. Da lebte er mit seinem Seelenleben so, daß er wußte, im Tode nimmt ihm das Beseelte des Kos­mos wiederum auf. Es waltete schon eine tragische Stimmung über

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vielen Einweihungen des vierten nachatlantischen Zeitraumes und die Eingeweihten dieser Art von Mysterien, die hatten eigentlich gegenüber der Natur alle Hoffnung verloren. Sie erwarteten gar nichts von dem, was die Natur zum Menschen sprechen konnte. Sie sagten, die Natur hat aufgehört, zum Menschen zu sprechen, die Natur hat aufgehört, den Menschen aufzunehmen im Tode. Es muß eine ganz andere Welt kom­men, damit der Mensch mit seinem Seelenleben wiederum eine Hoffnung haben könne. Und es wurde diesen Eingeweihten klargemacht: Wer in die Natur schaut, findet in der Natur nichts, was ihm eine solche Hoff­nung geben könnte. Er mußte ja sehen in der Natur, daß etwas da ist, was den Menschen seelisch, nicht nur leiblich, wo er Nachkommen­schaft hat, aber was den Menschen seelisch rettet. Daß die Weisheit die intellektualistische Form annimmt, das lernten diese Eingeweihten ken­nen. Bei uns ist es ja schon eine Trivialität, aber diese Eingeweihten lernten kennen, wie die Weisheit sich in intellektualistische Form wan­delt. Und das erzeugte in ihnen diese tragische Stimmung, das war es, was sie hoffnungslos machte. Denn eines erfuhren die alten Eingeweih­ten mit voller Bewußtheit: sie wußten, Weisheit ist nicht bloß etwas abstrakt im Menschen Lebendes, Weisheit ist Licht im Menschen, indem der Mensch denkt, sich innerlich Bilder macht. Denn dasselbe, was da im Menschen innerlich die Bilder sind, das ist äußerlich das Licht, das belebt. Unsere Begriffe können kein Licht schaffen - so etwa sagten sich diese Eingeweihten -, daher haben sie selber die Form des Todes in Anspruch genommen, daher sind sie tot, unsere Begriffe. Und das war die tragische Weisheit eines großen Teiles der Mysterien des vierten nachatlantischen Zeitraumes, daß der Satz gefühlt wurde: Die Weisheit des Menschen kann nicht mehr Licht sein, sie wird dunkel im Menschen; denn Licht ist schaffend. Der abstrakte Gedanke ist unschöpferisch, ist tot.

Und nun stellen Sie sich einen solchen Eingeweihten vor, der ganz in dieser Anschauung stehend erzogen ist: es kann erst wiederum einen Trost für den Menschen geben, wenn aus irgendeiner Ecke heraus die Überzeugung kommt: die Weisheit kann wieder leuchten, die Weisheit kann wiederum Licht werden, sie ist nicht tot, sie ist etwas, was man draußen auch sehen kann. Sie kann Licht werden.

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Sehen Sie, dieser Trost ist Paulus geworden, als er das Ereignis von Damaskus erlebte. Da hatte er erst das Mysterium von Golgatha be­griffen. Da hat er erst verstanden: durch Christus ist etwas in die Welt gekommen, was nicht nur gedacht werden kann, was leuchtet, was wiederum Lichtkraft, also schaffende Kraft hat. Und von da an hat er gewußt: zwar die Natur ist für den Menschen erstorben, aber der Chri­stus ist mit seiner Kraft auf der Erde. Er hat sie durchdrungen. Und in dem Christus kann jetzt die Menschheit dasjenige finden, was sie früher in der Natur gefunden hat. Das war das große Erlebnis des Paulus vor Damaskus. Und da verstand er: die Menschen haben die Natur ver­loren als Trost, die Natur ist ihnen ästhetisch geworden. Aber der Chri­stus tritt ein. Der Christus, richtig verstanden, gibt dasjenige, was da lebte in dem ganzen Komplex der sprechenden Mineralien, der zum Erröten und Erblassen bringenden Pflanzen, der innerlich den Men­schen durchsehnenden, durchwühlenden Tierheit. Ein Geistkosmos hat sich mit der Erde verbunden. Die Sonnenkraft, die früher in Mineral, Pflanze und Tier dem Menschen erschien, sie ist da auf moralische Art. Sie ist da für das innerliche Erleben. Das Himmelreich ist nahe heran­gekommen.

Was reden die Menschen alle über die Interpretation dessen, daß der Christus verkündet hat: Das Erdenende ist da, ein neues Reich kommt auf. - Ja, die es so verstanden haben, daß nunmehr die Ähren fünfmal so reich werden auf den Feldern, daß die Trauben fünfmal so groß wer­den an den Weinstöcken - wir wissen ja, daß das so verstanden worden ist-, die verstehen eben nicht, was da gemeint war; daß tatsächlich eine Durchtränkung des rein natürlichen Daseins mit dem gekommen war, was in dem Herabsenken des Christus auf die Erde liegt. Das hat der Paulus geoffenbart bekommen mit dem Ereignis von Damaskus. Und so müssen wir eben diese zweite Welt sehen, eine zweite, ganz neue Welt ist gekommen mit dem Christus. Es ist nicht bloß dieses Abstraktum, als das man es häufig ansieht, sondern es ist eine ganz neue Welt, eine Welt, die wiederum dasjenige gibt, wenn es richtig verstanden wird, was früher die Natur gegeben hat. Der Intellektualismus lacht, wenn man davon spricht, daß in den Mineralien Gnomen sind,was aber nichts anderes zum Ausdruck bringen soll als das, was ich vorhin gesagt habe:

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Die Mineralien sprachen zu einem -, oder daß Undinen in den Pflan­zen sind. Menschen, die nicht mehr erblassen können, nicht mehr er­röten können beim Anblick der Pflanzen, die können natürlich auch von den Undinen nichts wissen; denn die Verstandesbegriffe, die Definitio­nen, die sagen nichts von den Undinen. Aber das Erröten und Erblassen, das, was im Blute liegt, das spricht davon, sprach einmal davon. Heute spricht es nur unbewußt davon. Aber all das vermag wieder aufzu­leben, wenn der Christus wirklich als ein Erlebnis bei der Menschheit eintritt. Und im Christus wird sich das Alter wiederum mit der Jugend verständigen können. Denn der Christus, der kann nicht mit dem Ver­stande erfaßt werden. Sehen Sie, wie wir heute die Welt verstandes­mäßig beurteilen, reden wir von richtig und unrichtig, von wahr und falsch. Aber das hat nur für die physische Welt, in der wir zwischen Geburt und Tod leben, Bedeutung. Die Leute, zu denen man reden muß über die höheren Welten, die wollen nicht eingehen auf das, was das Wesentliche ist. Gewiß, man muß die Begriffe von wahr und falsch, von logisch richtig und unrichtig auch in die höheren Welten hinauf-tragen. Aber das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß da etwas Lebendiges dazu kommen muß, daß da die Begriffe «gesund» und «krank» zum Beispiel eintreten müssen. Hier für die physische Welt ist etwas eben richtig oder unrichtig, für die höheren Welten ist das Richtige außerdem gesund. Wir empfinden es so lebendig, wie wir hier das Gesundsein am ganzen Menschen empfinden in der physischen Welt. Und das Falsche, das Unrichtige ist dort das Kranke, und wir reden eigentlich besser, wenn wir in der gewöhnlichen Welt die Dinge wirk­lich treffen wollen, von gesund und krank, als wenn wir von richtig oder unrichtig reden, und wir müssen uns auch aneignen etwas von der Anschauung nach dem Gesunden oder Kranken. Hier urteilen wir lo­gisch nach richtig oder unrichtig, in den höheren Welten empfinden wir: da wächst etwas, es entwickelt sich. Wir reden nicht vom bloßen Rich­tigen, wir empfinden das als gesund. Und wenn wir einen Begriff dar­über fassen, so fühlen wir auch diesen Begriff als etwas Gesundes, nicht bloß als etwas Richtiges. Und ebenso fühlen wir das, was unrichtig ist, in der geistigen Welt als krank. Nun, für die physische Welt reichen wir heute eben aus - wir sind einmal so veranlagt - mit richtig oder unrichtig.

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Für die Geschichte ist das nicht der Fall. Für die Geschichte kommen wir eben mit dem nicht aus, was die neueren Historiker nach dem Muster der bloßen Physik an Begriffen entwickelt haben. Da müssen wir sprechen von einer Gesundheit am Ausgangspunkte der Menschheit. Wir müssen in der griechisch-lateinischen Zeit sprechen von einer Erkrankung der Kultur. Und wir müssen von der Therapie der Geschichte sprechen, indem wir die Wirksamkeit des Mysteriums von Golgatha entwickeln. Wir müssen also sprechen, wie wir von dem gesunden und kranken Menschen sprechen, wir müssen die Geschichte nach dem Musterbilde einer Erkrankung und einer Heilung darstellen.

Unendlich abstrakt ist so etwas wie etwa die Rankesche Geschichte gegenüber der Wirklichkeit. Und diese Rankesche oder andere Ge­schichte, wie sie heute geschrieben wird, die ist ungefähr so, wie wenn ein Arzt an ein Krankenbett treten oder einem gesunden Menschen gegenübertreten würde und da bloß logizieren wollte. An die Geschichte müssen wir mit dem Blick für Gesundheit, Krankheit und Heilung herantreten. Und das geschieht eben, wenn wir die Geschichte so be­trachten, daß wir von der Gesundheit in der Urzeit ausgehen, allmäh­lich eine wirkliche Kulturerkrankung sehen, und den großen Thera­peuten empfinden, der durch das Mysterium von Golgatha die Heilung von außerhalb der Erde wirklich gebracht hat. So wird die Geschichts­betrachtung verlebendigt. So wird aber auch der Christus in die ge­schichtliche Entwickelung hineingestellt. Erst die geschichtliche Ent­wickelung hat eine Möglichkeit, an den Christus heranzukommen, die so verfährt, wie die Physiologie, die Pathologie gegenüber dem Mate­riellen verfahren muß. Man muß schon hineintragen können in das geistige Leben diejenigen Begriffe, die man heute nur im physischen Leben handhaben kann, und da auch schlecht, denn man untersucht zum Beispiel den Menschen, nachdem er gestorben ist, und leitet die wichtigsten Gesetze für sein Leben ab vom Leichnam. Also man hand­habt auch das schlecht, aber man handhabt es wenigstens. Aber bei der Geschichtsbetrachtung ist einem das völlig entfallen. Höchstens wenn die Menschen ganz besondere Ausnahmezustände sehen, wie, sagen wir, wenn eine Sekte auftritt, die sich peitscht, dann spricht man von etwas Pathologischem, oder wenn die Dinge dazu kommen, wie es schon

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während der letzten Jahre zum Beispiel geschehen ist, daß einer einmal begonnen hat, mit Maschinengewehren nach der Venus zu schießen, weil er geglaubt hat, das ist ein heranziehender feindlicher Luftballon. Dann spricht man von Kriegspsychose. Also man redet in besonderen Fällen davon, daß da das Gesunde oder Kranke eintritt. Aber man be­trachtet das Gesunde und Kranke nicht in dem großen Verlaufe. Daher kann man auch nicht dazu kommen, das Prinzip des Heilens, der großen geschichtlichen Therapie, die mit dem Mysterium von Golgatha auf­getreten ist, wirklich zu verstehen. Selbstverständlich, man kann sagen, die Menschen sind heute noch immer eigentlich recht sehr krank. Nun ja, aber das gilt nicht, denn man müßte eine Vorstellung davon haben, wie es wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht eingetreten wäre. Und wenn die Leute glauben, es käme nur auf den Glauben an, dann irren sie auch, denn es kommt auf das Objektive an, das in der Mensch­heitsentwickelung durch das Mysterium von Golgatha geschehen ist. Gewiß, beim Kranken nützt der Glaube auch etwas, aber ein Wesent­liches ist doch die Kunst des Arztes. Daher war es schon eine Abirrung, als man das eigentliche Phänomen der christlichen Frömmigkeit bloß in dem Glauben gesucht hat. Das wäre etwa so, wie wenn man sagen würde: Die Arznei kann bleiben, wo sie will, man braucht bloß dem Kranken den Glauben beizubringen, daß er durch diese Arznei gesund werden kann.

Man ist eben überall zu Abstraktionen gekommen, zum Unver­mögen zu durchschauen, wie das, was der Mensch in seinem Inneren erlebt, zusammenhängt mit dem, was draußen objektiv vorgeht. Und so wird es eben notwendig sein, daß unsere Vorstellungen lebendiger und lebendiger werden. Denn mit den toten Vorstellungen, mit denen wir uns allmählich angewöhnt haben, die äußere Natur zu betrachten, mit denen ergibt sich das Mysterium von Golgatha nicht. Denen gegen­über würde das Christentum immer mehr und mehr verblassen. Der Christus würde immer mehr und mehr zu dem bloßen Menschen Jesus werden, wie er es schon für viele Theologen geworden ist. Das Christen­tum würde verschwinden. Ein wirkliches Beleben des Christentums setzt voraus, daß die ganze Entwickelung der Menschheit und der menschlichen Anschauungen mit lebendigeren Begriffen durchsetzt

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werde, als es durch den Intellektualismus möglich ist. Wir mußten den Intellektualismus haben um der menschlichen Freiheit willen. Wir müs­sen aber den Intellektualismus wieder herausbringen um der mensch­lichen Wesenheit willen, damit diese menschliche Wesenheit wiederum lebendig werden könne. Zur Freiheit war notwendig ein Ersterben, denn nur aus der Betätigung des Willens im Erstorbenen, das heißt aus der höchsten Kraftanwendung des Willens, kann die Freiheit kommen. Wenn das Leben in uns uns übermannt, schwindet das Bewußtsein, in dem doch nur die Freiheit gedeihen kann. Aber indem der Intellektua­lismus einmal da ist, muß zu dem Intellektualismus das Leben kommen, das heißt zu den abstrakten Begriffen von wahr und falsch müssen die konkreten Begriffe von gesund und krank kommen.

Und wir brauchen die Anwendung dieser konkreten Begriffe zum allerersten für die Geschichte. Dann werden wir als den wichtigsten Bestandteil der geschichtlichen Erdenentwickelung eben das Mysterium von Golgatha finden können.

DER MENSCH ALS ERDENWESEN UND HIMMELSWESEN Zweiter Vortrag, Darnach, 18. Dezember 1921

#G209-1968-SE103 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DER MENSCH ALS ERDENWESEN UND HIMMELSWESEN

Zweiter Vortrag, Darnach, 18. Dezember 1921

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Seit einiger Zeit haben wir uns damit beschäftigt, die Beziehungen des Menschen zumWeltenall genauer kennenzulernen, und wir wollen auch heute noch einiges Ergänzende zu diesen Betrachtungen hinzufügen. Wenn wir den Menschen betrachten, wie er im gegenwärtigen Zeit-raume der Menschheitsentwickelung lebt - «gegenwärtig» aber im weitesten Sinne, im Verhältnis zu der großen Weltentwickelung ge­nommen -, der von der Geschichte und zum Teil noch von der Vor­geschichte der Menschheit umfaßt wird, dann müssen wir sagen, daß für diese Gegenwart der kosmischen Menschheitsentwickelung vor allen Dingen als ein Charakteristisches die Sprache in Betracht kommt.

Die Sprache hebt den Menschen herauf über die andern Naturrei­che. Nun, ich habe bereits in den Vorträgen der vorigen Woche dar­auf hingewiesen, daß sich im Laufe der Menschheitsentwickelung die Sprache, das Sprechen überhaupt, verändert hat. Auch auf diesem Ge­biete hat die Menschheit eine Entwickelung durchgemacht. Ich habe darauf hingewiesen, wie die Sprache in sehr sehr alten Zeiten etwas war, was der Mensch gewissermaßen als seine ursprünglichste Anlage aus sich heraus gestaltete und wie er mit Hilfe seiner Sprachwerk­zeuge dadurch die in ihm lebenden göttlich-geistigen Kräfte offenbaren konnte. Ich habe darauf hingewiesen, wie beim Ubergange aus der griechischen in die römisch-lateinische Kultur, also im vierten nach-atlantischen Kulturzeitraum, es deutlich bemerkbar wird, daß die ein­zelnen Laute der Sprache nun nicht mehr Benennungen haben, sondern eben einfach, so wie wir es heute gewohnt sind, als Laute bezeichnet werden. Im Griechischen haben wir noch die Benennung für den er­sten Buchstaben des Alphabets; im Lateinischen nur noch A. Beim Übergang vom Griechischen zum Lateinischen wird ein in der Spra­che Lebendes, im eminentesten Sinne Konkretes, in ein Abstraktes ver­wandelt.

Man könnte es auch seinem eigentlichen Sinne nach so sagen: Solange

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die Menschen zum ersten Buchstaben des Alphabets «Alpha» gesagt haben, haben sie in dieser Benennung etwas von Inspiration gehabt. In dem Augenblicke, wo sie angefangen haben, ihn nur A zu benennen, trat an die Stelle der Inspiration, des innerlichen Erlebnis­ses, die Anpassung an das äußerlich Konventionelle, an die Prosa des Lebens. Das ist ja der eigentliche Übergang vom Griechischen zum Römisch-Lateinischen, daß von der poetisch-geistigen Welt sich die Kulturmenschheit hinentwickelt zu der Prosa des Lebens. Das römi­sche Volk, ich habe es oftmals betont, ist ein nüchternes, prosaisches Volk, ist das Volk der Juristerei, das die Prosa und Jurisprudenz in die spätere Kultur hineingetragen hat, während das, was im Griechentum lebte, sich in der Kulturmenschheit mehr oder weniger wie eine Art Kulturtraum fortentwickelte, zu dem man zurückblickt und dem man sich in seinen eigenen Offenbarungen dann nähert, wenn man die In­nerlichkeit erlebt und zum Ausdrucke bringen will. Man möchte sagen:

Alle Poesie hat etwas an sich, wodurch sie der europäischen Mensch­heit wie eine Tochter Griechenlands erscheinen muß. Alle Jurispru­denz, alles äußere Einteilen, alle Prosa des Lebens hat etwas an sich, wodurch sie als eine Tochter des römisch-lateinischen Volkes erscheint.

Ich habe auch schon darauf aufmerksam gemacht, wie ein wirkliches Verständnis des Alpha - Aleph im Hebräischen - dazu führt, zu er­kennen, daß man, indem man diesen Buchstaben so benannte, ausdrük­ken wollte: er ist das Sinnbild für den Menschen. Alpha ist eigentlich, wenn man es annähernd mit einem heutigen Worte ausdrücken will, «der sein Atmen Empfindende». In dieser Benennung liegt direkt die Hindeutung auf das Wort des Alten Testamentes: der Erdenmensch wurde dadurch geschaffen, daß ihm der lebendige Odem eingehaucht wurde. - Das also, was da getan wurde mit dem Atmen, um den Men­schen zum Erdenmenschen zu machen, das Wesen, das dadurch dem Menschen aufgedrückt worden ist, daß er der die Atmung Erlebende, Empfindende geworden ist, der die Atmung in sein Bewußtsein Her-einnehmende, das sollte mit dem ersten Buchstaben des Alphabets zum Ausdrucke kommen.

Und das Beta,wenn man es unbefangen betrachtet, gerade auch, wenn man das Entsprechende im Hebräischen in Betracht zieht, es stellt sich

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dar als so etwas wie die Umwandung, die Umhüllung, das Haus. So daß, wenn man in der heutigen Sprache ausdrücken wollte, was ein­mal empfunden worden ist, als man anfing, Alpha, Beta zu sagen, man es etwa ausdrücken würde durch die Worte: Der Mensch in seinem Haus. - Und so könnte man das ganze Alphabet durchgehen und würde einen Begriff, einen Sinn, eine Wahrheit über den Menschen aussprechen, indem man einfach die Benennungen für das Alphabet hintereinander sagt. Es würde gewissermaßen ein umfassender Satz ausgesprochen, der das Menschengeheimnis zum Ausdrucke bringt. Es beginnt dieser Satz also damit, daß man hinweist darauf: der Mensch in seinem Haus, in seinem Tempel. Die folgenden Teile des Satzes würden dann zum Ausdrucke bringen, wie der Mensch sich darinnen verhält, wie sein Verhältnis zum Weltenall ist. Kurz, es würde, was man so hintereinander als die Namen des Alphabets aussprechen würde, nicht das Abstrakte sein, wie wenn wir heute A, B, C sagen und uns dabei eigentlich gar nichts denken können, sondern es würde der Aus­druck für das Menschengeheimnis, für die Wurzelung des Menschen in der Welt sein. Was man meint, oder eigentlich heute nicht mehr meint, weil man im Grunde genommen von diesen Dingen keine Ahnung mehr hat, wenn heute in allerlei Gesellschaften gesprochen wird von dem verlorengegangenen Urwort, so ist das eben das, was in einem solchen, das Alphabet in seinen Benennungen umfassenden Satze liegt. So daß wir also zurückblicken können auf eine Zeit der Menschheits­entwickelung, wo der Mensch gewissermaßen, wenn er zurückging auf sein Alphabet, aus sich heraus nicht dasjenige aushauchte, was sich an äußere Geschehnisse, an äußere Bedürfnisse anlehnt, sondern was sein göttlich-geistiges Geheimnis durch seinen Kehlkopf und seine Sprachorgane zum Ausdrucke brachte.

Man möchte sagen: Später ist dann dasjenige, was dem Alphabet also angehört, auf äußere Gegenstände verteilt worden, und es wurde ver­gessen, was der Mensch durch seine Sprache über sein geistig-seelisches Geheimnis aus sich offenbaren kann. Das ursprüngliche Menschen­Wahrwort, das Menschen-Weisheitswort ist verlorengegangen. Die Sprache ist ausgeflossen in die Nüchternheit des Lebens. Und wenn heute der Mensch spricht, ist er sich nicht mehr bewußt, das der ursprüngliche

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Ursatz, durch den die Göttlichkeit ihm sein eigenes Wesen offenbarte, vergessen worden ist, und daß in den einzelnen Worten und in den einzelnen Sätzen von heute die Fetzen von diesem Ursatze vor­liegen.

Der Dichter, indem er sich nicht dem Prosazusammenhang der Sprache überläßt, sondern zu dem inneren Erleben zurückgeht, zu dem inneren Erfühlen, zu der inneren Gestaltung der Sprache, versucht zu­rückzukehren zu dem inspirierten Urelement der Sprache. Und man möchte sagen: eine jede wahre Dichtung, die kleinste und die größte, ist ein solcher Versuch, zu dem verlorengegangenen Wort wiederum zurückzukehren, aus dem nur auf die Nützlichkeit gerichteten Leben einen Schritt zurückzumachen zu denjenigen Zeiten, in denen sich noch das Weltenwesen in dem inneren Organismus des Sprechens offenbarte.

Wir unterscheiden ja in der Sprache heute das konsonantische und das vokalische Element. Ich habe mancherlei davon gesprochen, wie dasjenige sich ausnimmt, was der Mensch finden würde, wenn er unter die Schwelle seines Bewußtseins hinuntertauchen würde. Für das ge­wöhnliche Bewußtsein reflektieren die Erinnerungen herauf, das heißt die Gedanken von den Erlebnissen zwischen Geburt und Tod. Wir kommen im gewöhnlichen Bewußtsein nicht weiter hinunter in die ei­gene Menschenwesenheit, als bis zu diesen in der Erinnerung, im Ge­dächtnisse zurückgelassenen Gedanken. Auf das, was etwas wie eine all­gemeine Menschheitstragik bildend, unter dieser Schwelle des Bewußt­seins lebt, habe ich von einem gewissen Gesichtspunkte aus hingedeutet. Aber man kann auch noch in der folgenden Weise darauf hindeuten. Man kann sagen: Wenn der Mensch des Morgens aufwacht und sein Ich und sein astralischer Leib untertauchen in den Ätherleib und in den physischen Leib, dann nimmt der Mensch von innen aus seinen Äther-leib und seinen physischen Leib nicht wahr. Was der Mensch wahr­nimmt, ist etwas ganz anderes. Wir wollen es uns graphisch versinn­lichen.

Wir haben hier, sagen wir, die Grenze zwischen dem Bewußten und dem Unbewußten. Hier ist das rot Schraffierte = das Bewußte; hier das blau Schraffierte = das Unbewußte.Von dem Bewußten werden

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#Bild S. 107

die Erinnerungen zurückgeworfen. Der Mensch lebt ja mit seinem Be­wußtsein nur in diesem Gebiet, das übrige bleibt unbewußt. Und was der Mensch sieht von der Außenwelt oder auch von sich selber, das ist ja nichts anderes. Sagen wir hier: Das Auge eines Menschen wird ge­sehen von dem eigenen Auge, dann wird das, was als sichtbares Strah­len ausgeht, in den Menschen eindringend zurückgeworfen, und der Mensch erlebt es in seinem Bewußtsein. Auch das, was er vom eigenen Wesen unter der Schwelle des Bewußtseins trägt, erlebt er in seinem astralischen Leib und in seinem Ich, aber nicht im Wachzustande. Das bleibt unbewußt und bildet im wesentlichen den eigentlichen In­halt des Ätherleibes und des physischen Leibes. Der Ätherleib wird überhaupt nicht erkannt vom gewöhnlichen Bewußtsein, und der phy­sische Leib nur seiner Außenseite nach. Man muß erst unter das Ge­dächtnis hinuntertauchen, dann nimmt man wahr, wie ich es darge­stellt habe, den Urquell des Bösen im Menschen. Aber man nimmt auch noch etwas anderes wahr, nämlich einen Teil des Zusammen-hanges des Menschen mit dem Kosmos.

Gelangt man dazu, durch entsprechende Meditation die Gedächtnis-vorstellungen gewissermaßen zu durchstoßen, wegzutun was uns vom Ätherleib und vom physischen Leib nach innen trennt, und sieht man

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dann hinunter in den Ätherleib und in den physischen Leib, so daß man wahrnimmt, was da unter der Schwelle des Bewußtseins liegt, dann vernimmt man im ätherischen Leibe und ebenso im physischen Leibe ein Tönen. Und dieses Tönen, das ist der Nachklang der Welten­sphärenmusik, die der Mensch aufgenommen hat im Leben zwischen Tod und neuer Geburt, während seines Herabstieges aus der göttlich-geisti­gen Welt in die physische Welt, zur Einkörperung in das, was ihm in der physischen Vererbung von Eltern und Voreltern gegeben wird. Es tönen nach im ätherischen Leibe und im physischen Leibe die Klänge der Sphärenmusik, und zwar im ätherischen Leibe, insofern sie vokalisch sind, und im physischen Leibe, insofern sie konsonantisch sind.

Es ist ja so, daß der Mensch, indem er durch das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt schreitet, sich hinauflebt in die Welt der höheren Hierarchien, wie Sie sich erinnern werden. Wir haben ge­sehen, wie der Mensch sich einlebt in die Welt der Angeloi, der Arch­angeloi, der Archai, wie er innerhalb dieser Hierarchiengebiete lebt, so wie er hier zwischen den Wesen des mineralischen, pflanzlichen und tierischen Reiches lebt. Nach diesem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt senkt er sich dann wiederum zum irdischen Leben herab. Und wir haben gesehen, daß er auf diesem Wege zunächst die Einwir­kungen des Fixsternhimmels beziehungsweise seiner Repräsentation, des Tierkreises, mitnimmt und dann im weiteren Abstieg die Einwir­kungen der Planetensphäre, der sich bewegenden Planeten.

Nun vergegenwärtigen Sie sich einmal den Repräsentanten des Fix­sternhimmels, den Tierkreis. Der Mensch ist diesen Einwirkungen aus­gesetzt, indem er aus dem geistig-seelischen Leben in das irdische Leben herabsteigt. Wenn man diese Einwirkungen ihrem eigentlichen Wesen nach bezeichnen will, so sind sie weltenmusikalisch, sind Konsonanten, und das Konsonantieren im physischen Leibe ist der Nachklang des Klingens der einzelnen Gebilde des Tierkreises. Durch die Bewegungen der Planeten geschieht dasjenige, was innerhalb dieser Weltensphären­musik das Vokalisieren ist. Das prägt sich dem ätherischen Leibe ein. Wir tragen also in unserem physischen Leibe unbewußt einen Abglanz der Weltenkonsonanz, und in unserem ätherischen Leibe einen Abglanz des Weltenvokalismus.

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Das bleibt, ich möchte sagen, zunächst stumm im Unterbewußten. Aber indem das Kind sich entwickelt, kraften herauf aus dem Leibe in die Sprachorgane hinein diejenigen Kräfte, welche die Nachbilde­kräfte des Kosmos sind und formen die Sprachorgane. Die mehr inner­lich gelegenen Sprachorgane werden aus der Wesenheit des Menschen so geformt, daß sie vokalisieren können, und die mehr nach der Peri­pherie hin gelegenen Organe, Gaumen, Zunge, Lippen und alles, was mehr die Formung des physischen Leibes ausmacht, das wird so ge­bildet, daß damit konsonantiert wird. Indem das Kind die Sprache lernt, kommt, durch den unteren Menschen bewirkt, in seinen oberen Menschen ein Nachspiel dessen hinein - das heißt natürlich nicht in die Stoffe, sondern in die Formungen hinein -, was an Bildekräften in den physischen Leib aufgenommen worden ist, und auch das, was in den ätherischen Leib aufgenommen worden ist. Wenn wir sprechen, bringen wir also zur Offenbarung, man möchte sagen, ein Echo der Erlebnisse, die der Mensch mit dem ganzen Kosmos durchmacht im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt während seines Herabstieges aus der göttlich-geistigen Welt. Alle Einzelheiten des Alphabets sind durch­aus nachgebildet dem, was da im Kosmos lebt.

#Bild S. 109

Sie können annähernd die Tierkreisbilder verfolgen, wenn wir sie auf die heutige Sprache beziehen, indem Sie B, C, D, F und so weiter als Sterngebilde des Tierkreises setzen. Sie können sie verfolgen, indem

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Sie den Umschwung des Planetarischen als das h empfinden. h ist nicht ein eigentlicher Buchstabe wie die anderen, sondern h bildet das Umschwingen nach, das Umkreisen. Und die einzelnen Planeten in ihrem Umschwingen sind immer die einzelnen Vokale, die sich in ir­gendeiner Weise vor die Konsonanten hinstellen. Denken Sie also, es stellt sich der Vokal a hier herein (siehe Zeichnung Seite 109), so haben Sie eben das a zusammenklingend mit B und C, aber Sie haben in jedem Vokal das h darinnen. Wenn Sie ihn aussprechen, werden Sie es spüren:

ah, ih, eh, in jedem Vokal ist das h darinnen! Was heißt das, daß in jedem Vokal das h darinnen ist? Das heißt: Der Vokal schwingt im Kosmos. Der Vokal ist nicht ruhig, er schwingt im Kosmos. Und das Kreisen, das Schwingen, das ist ausgedrückt in dem h, das geheimnis­voll in jedem Vokal drinnen ist. Denken Sie also, irgendwo in der Sprache wurde ein vokalischer Zusammenklang ausgedrückt: i a o, sagen wir. Was ist damit ausgedrückt? Es ist damit etwas ausgedrückt, was Weltenwirkung dreier Planeten ist. Fügt man zu so etwas einen Konsonanten hinzu, Josua, fügt man also ein s im Inneren hinzu, so bedeutet das: man drückt nicht nur das Vokalisieren innerhalb der Pla­netensphäre aus, sondern auch die Wirkung, welche die Planeten, die im i o a enthalten sind, in ihrer Bewegung dadurch erfahren, daß zu dem Sternbilde S hin eine Beziehung stattfindet. Das heißt: Sprach man in der alten Menschheitszivilisation einen Gottesnamen vokalisch aus, so drückte man ein Planetengeheimnis damit aus. Die Tat eines Gottes-wesens innerhalb der Planetenwelt war mit dem Namen ausgedrückt. Drückte man einen Gottesnamen dadurch aus, daß man in ihm etwas Konsonantisches hatte, so war die Tat des betreffenden göttlichen We­sens hinaufgedacht bis zu dem Repräsentanten des Fixsternhimmels, bis zum Tierkreis.

Als man noch instinktiv Verständnis für diese Dinge hatte, in den Zeiten des alten atavistischen Hellschauens, Hellhörens und so weiter, da empfand man also im Sprechen des Menschen Beziehung zum Wel­tenall. Man fühlte sich sprechend darinnen in diesem Weltenall. Man fühlte, indem das Kind sprechen lernte, wie das, was erlebt worden ist in der göttlich-geistigen Welt vor der Geburt oder vor der Empfängnis, nach und nach sich herausentwickelt aus dem kindlichen Wesen.

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Man kann sagen,wenn der Mensch sich selber innerlich durchschauen könnte, so würde er sich gestehen müssen: Ich bin ein Ätherleib, das heißt, ich bin der Nachklang des Weltenvokalismus. Ich bin ein phy­sischer Leib, das heißt, ich bin der Nachklang des Weltkonsonantismus. Und indem ich hier auf der Erde stehe, bildet sich durch mein Wesen ein Echo alles desjenigen, was die Tierkreisbilder sagen. Und das Leben dieses Echos ist mein physischer Leib. Und es bildet sich ein Echo alles desjenigen, was die Planetensphäre in ihren Umschwüngen sagt, und dieses Echo ist mein Ätherleib.

1. Physischer Leib: Echo des Tierkreises

2. Ätherleib: Echo der Planetenbewegung

3. Astralischer Leib: Erleben dieser Planetenbewegungen

4. Ich: Wahrnehmen des Echos des Tierkreises.

Es ist ja nichts damit gesagt, wenn man sagt, der Mensch besteht aus physischem Leib und ätherischem Leib. Das ist nichts anderes als ein ganz dunkles, unbestimmtes Wort. Man würde sagen müssen, wenn man in der realen Sprache sprechen wollte, die von dem Geheimnisse des Kosmos her gelernt werden kann: Der Mensch besteht aus dem Echo des Fixsternhimmels, aus dem Echo der Planetenbewegungen, aus demjenigen,was das Echo der Planetenbewegungen erlebt, und aus dem, was erkennend erlebt das Echo des Fixsternhimmels. Dann würde man in der realen Sprache des Kosmos ausgedrückt haben, was man ab­strakt mit den Worten ausdrückt: Der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, astralischem Leib, Ich. Man bleibt ganz im Abstrakten, wenn man sagt: Der Mensch besteht erstens aus physischem Leib, zwei­tens aus Ätherleib, drittens aus Astralleib, viertens aus dem Ich. Man geht aber in die konkrete Sprache des Weltenalls, wenn man sagt: Der Mensch besteht aus dem Echo des Tierkreises, dem Echo der Planeten-bewegungen, dem Erleben des Abdruckes dieser Planetenbewegungen als Denken, Fühlen und Wollen und in dem Wahrnehmen des Echos des Tierkreises. - Das erste ist Abstraktion, das zweite ist die Wirklichkeit.

Wenn Sie «Ich» sagen, was ist denn das eigentlich? Nun denken Sie sich einmal, man hätte in einer schönen ästhetischen Ordnung Bäume gepflanzt. Man sieht jeden einzelnen Baum. Alle diese Bäume sind

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schließlich nur noch ein einziger Punkt, wenn man weit genug weg­geht. Nehmen Sie alle Einzelheiten, alles das, was aus dem Tierkreis anklingt an Weltkonsonanten, und gehen Sie weit genug weg: alles, was da in der mannigfaltigsten Weise innerlich tonlich gestaltet ist, drängt sich Ihnen zusammen in dem einzigen Punkt «Ich». Es ist so, daß tat­sächlich dasjenige, womit der Mensch sich selber benennt, eigentlich nur der Ausdruck von dem ist, was man wie in unermeßlicher Entfernung von seinem wirklichen Orte im Weltenall wahrnimmt. Es muß überall erst zurückgegangen werden auf das, was in seinem Abglanz, in seinem Echo hier auf der Erde erscheint. So zerfließt, wenn man die Sache in ihrer Wirklichkeit sieht, vor dem höheren und dem innerlichen Erleben des Menschen alles das, aus dem sich der Mensch als ein Phänomen, eine bloße Erscheinung aufbaut. Schaut man einen Menschen an, lernt man ihn nach und nach in seiner Wahrheit erkennen, dann hört eigentlich der physische Leib auf, in der Weise vor einem zu stehen, wie er sonst dasteht; dann weitet sich der Blick und man kommt bis zum Fixstern-himmel. Und der Ätherleib hört auch auf, vor einem zu stehen. Es wei­tet sich der Blick, es weitet sich das Erleben, und man kommt zu der Wahrnehmung des planetarischen Lebens, denn es ist ja dieser mensch­liche Ä therleib nur ein Abglanz vom planetarischen Leben. Und indem ein Mensch vor Ihnen steht, steht eigentlich nichts anderes vor Ihnen als das Phänomen, die Erscheinung, das Abbild desjenigen, was im Planetenleben vor sich geht. Wir meinen den einzelnen Menschen vor uns zu haben; aber dieser einzelne Mensch ist ein Bild der ganzen Welt an einem bestimmten Orte.Wodurch unterscheidet sich denn im Grunde genommen ein Mensch Asiens von einem Menschen Amerikas? Dadurch, daß an zwei verschiedenen Punkten des Irdischen der Sternenhimmel sich abbildet, so wie man in den Perspektiven verschiedener Punkte verschiedene Bilder irgendeines äußeren Tatbestandes hat. Es ist schon so, daß einem, indem man den Menschen betrachtet, die Welt aufgeht, und daß man durch eine solche Betrachtung vor das große Geheimnis gestellt wird, inwiefern der Mensch nichts anderes ist als ein bildhafter Mikrokosmos der Realität des Makrokosmos.

Worin besteht nun eigentlich das neuere Leben? Wenn wir von die­sem neueren Leben zurückblicken auf das alte Leben der Menschheit in

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Urzeiten, so finden wir, daß in dem instinktiven Bewußtsein dieser Urzeiten noch das Erleben des Weltzusammenhanges des Menschen vorhanden war. Man kann es im Konkreten an dem Alphabet erleben. Wenn der Mensch die ganze Fülle des Göttlichen in einem Ursatze aus­sprechen wollte, so sprach er das Alphabet aus. Wenn er sein eigenes Geheimnis, wie er es in den Mysterien lernen konnte, aussprach, dann sprach er aus, wie er heruntergestiegen ist durch Saturn oder Jupiter in ihrer Konstellation zu Löwe oder Jungfrau, das heißt, wie er herunter-gestiegen ist durch das A oder das I in ihrer Konstellation zu dem M oder zu dem L. Er sprach aus, was er da erlebt hat von der Sphären-musik, und das war sein kosmischer Name. Und man war sich in älteren Zeiten durchaus instinktiv bewußt, daß der Mensch sich einen Namen mitbrachte durch seinen Herabstieg aus dem Kosmos auf die Erde.

Das christliche Bewußtsein hat dann ja später eine Art abstrakten Nachklangs dieses ursprünglichen Bewußtseins geschaffen, indem man die einzelnen Tage geweiht hat durch das Andenken an Heilige, die aber vor dem richtigen Verständnis nichts anderes sein sollen als die Beleber des geistigen Kosmos. Und der Mensch, wenn er geboren wurde an einem bestimmten Tag des Jahres, sollte nach dem Kalender den Namen des betreffenden Heiligen bekommen, weil dadurch zum Aus­druck kommen sollte, nun auf eine mehr abstrakte Art, was in Urzeiten auf eine mehr konkrete Art zum Ausdruck gekommen war, dadurch, daß man aus den Mysterien heraus den kosmischen Namen des Men­schen erfand nach dem, was er in dem Vokalisieren seines Wesens im Zusammenhange mit dem Konsonantieren des Tierkreises beim Herab-stieg erlebte. Und das ganze Menschengeschlecht zusammen hatte dann viele Namen, aber der Zusammenklang dieser Namen wurde wiederum so vorgestellt, daß er sich einfügte in den allgemeinen umfassenden Namen.

Was war also, von diesem Gesichtspunkte betrachtet, das Alphabet? Es war das, was die Himmel offenbarten durch ihre Fixsterne und die über diese Fixsterne sich hinüberbewegenden Planeten. Sprach man das Alphabet aus in der ursprünglichen instinktivenWeisheit der Menschen, dann sprach man eine Astronomie aus. Alphabet-Aussprechen und Astronomielehre war für diese alten Zeiten ein und dasselbe. Eine solche

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Weisheit wie die Astronomie wurde in jenen Zeiten nicht so vor­gestellt, wie man sich heute irgendein Gebiet des gelehrten Wissens vor­stellt, das man aus einzelnen Wahrnehmungen und Begriffen zusam­mengesetzt hat. Als eine Offenbarung stellte man es vor, die sich an die Oberfläche des menschlichen Erlebens drängte, entweder in dem Ur­satze selbst oder in Teilen dieses Ursatzes. Es wurde also ein konkretes Erlebnis mit einem Teile der Urweisheit dargestellt. Und es liegt noch etwas von einem ganz dämmerhaften Bewußtsein dieses Tatbestandes darin, daß im Mittelalter diejenigen, welche in höhere Bildung einge­führt wurden, noch Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geo­metrie, Musik und Astronomie zu lernen hatten. In diesem Aufstieg durch die einzelnen Gebiete des Lehrens liegt in einem noch etwas dämmerhaften Bewußtsein das, was eben in älteren Zeiten in instink­tiver Klarheit vorhanden war. Grammatik ist heute etwas sehr Abstrak­tes geworden. Wenn man zurückgeht in die Zeiten, von denen die Ge­schichte allerdings nicht berichtet, die aber immerhin noch geschicht­lich sind, so findet man, daß Grammatik nicht etwas so Abstraktes ist wie heute, sondern daß in der Grammatik der Mensch in die Geheim­nisse der einzelnen Buchstaben eingeführt wird: er lernte, wie in den Buchstaben sich etwas ausdrückt von den Geheimnissen des Kosmos. Der einzelne Vokal wurde mit den einzelnen Planeten, der einzelne Konsonant mit dem einzelnen Tierkreisbilde zusammengebracht, und so lernte man im Buchstaben den Stern kennen. Und drang man weiter vor von der Grammatik zur Rhetorik, so war das ein Handhaben des­jenigen, was im Menschen als die Tätigkeit des Astronomischen lebte. Und indem man aufstieg zur Dialektik, hatte man das Erfassen und das Bearbeiten im Gedanken desjenigen, was aus dem Astronomischen heraus im Menschen lebte. Und Arithmetik wurde nicht als die Ab­straktion gelehrt, wie sie heute gelehrt wird, sondern als die Wesenheit, die sich in den Zahlengeheimnissen ausspricht. Die Zahl selber wurde anders angesehen, als sie heute angesehen wird. Ich will nur mit einer Kleinigkeit darauf hinweisen.

Wie stellt man sich heute eins, zwei, drei vor? Nun, man denkt sich eine Erbse, dann eine andere dazu, dann sind es zwei; dann kommt eine andere dazu, dann sind es drei. Es ist ein Hinzufügen des einen zu dem

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andern, ein Anhäufen. So ist man nicht zu den Zahlen gegangen in älteren Zeiten. Da war die Einheit dasjenige, wovon man ausging. Und indem man die Einheit in zwei Glieder spaltete, hatte man die Zwei. Die Zwei war also nicht so, daß man zu der einen Einheit die andere hinzugefügt hat. Es war nicht ein Zusammenwerfen der Einheiten, son­dern es war die Zwei in der Eins drinnen. Und die Drei war in einer andern Art in der Eins drinnen und die Vier wieder in einer andern Art. Die Einheit umfaßte alle Zahlen, die Einheit war am größten. Heute ist die Einheit am kleinsten. Heute ist alles nach Atomistik vor­gestellt. Da ist die Einheit das eine Glied und dann kommt die Zwei dazu und alles ist atomistisch vorgestellt. Die ursprüngliche Vorstel­lung war das Organische. Da ist die Einheit das größte und die fol­genden Zahlen sind immer etwas kleiner erschienen und sind in der Eiriheit alle enthalten. Da kommt man zu ganz anderen Geheimnissen der Zahlenwelt. Diese Geheimnisse der Zahlenwelt lassen erst ahnen, wie man es da nicht mit etwas zu tun hat, was bloß in dem mensch­lichen Hohlkopf drinnen lebt - ich sage das aus dem Grunde, weil ich öfter dargestellt habe, daß der Kopf des Menschen wirklich hohl ist, vom geistigen Gesichtspunkte angesehen -, sondern man kann dazu kommen, in den Zahlenverhältnissen die Verhältnisse der Objektivität der Welt wahrzunehmen. Wenn man nur immer eins zu eins hinzu­fügt, dann ist das natürlich etwas, was mit den Dingen gar nichts zu tun hat. Ich habe ein Stück Kreide. Wenn ich ein zweites Stück Kreide dazulege, so hat das nichts mit dem ersten zu tun. Da kümmert sich nicht eins ums andere. Wenn ich aber die Einheit voraussetze - jedes Ding ist eine Einheit - und jetzt zu den Zahlen, die in der Einheit enthalten sind, übergehe, da bekomme ich eine Zwei nicht auf eine gleichgültige Weise. Da muß ich das Stück schon zerbrechen. Da gehe ich schon auf die Realitat ein.

Und so war man, nachdem man sich zum Erfassen des Gedankens des Astronomischen aufgeschwungen hatte in der Dialektik, dann wei­ter in das Weltenall hinausgekommen mit der Arithmetik, und ebenso in einer ähnlichen Weise mit der Geometrie. Man bekam aus der Geo­metrie heraus eine Empfindung, daß das Geometrische, real gedacht, die Sphärenmusik ist. Das ist der Unterschied von dem, was heute ist,

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und dem, was einmal in der instinktiven Urweisheit vorhanden war. Heute haben wir die Musik. Der mathematische Physiker rechnet die Tonhöhen aus, zum Beispiel welche Tonhöhen in einer Melodie wirk­sam sind. Da ist der musikalische Mensch eigentlich genötigt, sein Musi­kalisches zu vergessen und ganz und gar in ein Abstraktes überzugehen, wenn er nicht vorher, wenn er ein ganz enthusiasmierter Musiker ist, vor dem Rechner davonläuft. Da wird der Mensch aus dem unmittel­bar Erlebten in ein Abstraktes geführt, das aber mit dem Erleben sehr wenig zu tun hat. Es ist ja an sich interessant, wenn man gerade mathe­matische Anlagen hat, das Musikalische bis zum Akustischen hin zu verfolgen; aber für das musikalische Erleben hat man nicht viel davon. Daß heute einer Geometrie lernt, und im weiteren Verfolge allmählich beginnt, die Formen als musikalische Töne zu empfinden, also daß man zum Beispiel von der Klasse sieben zur Klasse acht aufsteigt, indem man die Geometrie ins Musikalische ausklingen läßt, davon steht mei­nes Wissens nichts in den Lehrplänen. Aber das war der Sinn des einst­maligen Aufsteigens zum sechsten Teile dessen, was man zu lernen hatte: von der Geometrie zur Musik. Und dann ergab sich einem die Wirklichkeit, die ursprünglich zugrunde lag. Die Astronomie im Unter­bewußten war dann dasjenige, was man bewußt als Letztes erlernte, als Astronomie, als Höchstes, als das siebente Glied des Triviums und Quadriviums, wie man sagt.

Man muß die Geschichte der Menschheit nach dem betrachten, wie das Bewußtsein vorgeschritten ist, denn dadurch wird man ein Gefühl davon bekommen, daß das Bewußtsein wiederum zu diesen Dingen zu­rückgehen muß. Das wird ja gerade durch die anthroposophische Gei­steswissenschaft versucht. Man braucht sich daher nicht zu verwundern, daß diejenigen, die gewöhnt sind, das Wissenschaftliche so hinzunehmen, wie es heute gepflegt wird, an der «Geheimwissenschaft im Umriß» zum Beispiel, wie sie von mir geschrieben wurde, nichts Rechtes emp­finden können. Aber es ist notwendig, daß in vollbewußter Art die Menschheit zurückkehrt zu dem, was die wahrhaftige Realität ist, und was eine Zeitlang in den Hintergrund treten mußte, damit der Mensch seine Freiheit voll entwickeln konnte. Der Mensch hätte immer stärker das Bewußtsein ausbilden können von seinem notwendigen Darinnenstehen

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in einem göttlichen Weltenall, wenn er nicht herausgeworfen worden wäre aus diesem Weltenall ins bloß Phänomenale, in die bloße Erscheinung, und zwar so stark, daß die ganze mannigfaltige Pracht und Herrlichkeit des Sternenhimmels sich zusammendrängt in das ab­strakte Ich. Für das Erringen der Freiheit war das notwendig. Denn nur dadurch, daß der Mensch etwas, was alle Weltenräume ausfüllt, was alle Zeiten durchströmt, in dem einzigen Ich-Punkte ganz un­deutlich zusammengedrängt hat, konnte er seine Freiheit entwickeln. Aber er würde sein Wesen verlieren, er würde nichts mehr wissen und haben von sich und nicht mehr aus sich heraus tätig sein und handeln können, wenn er nicht wiederum von dem einzigen Punkte des Ich aus eben die ganze Welt erobern würde, wenn er nicht wieder auf­steigen würde von dem Abstrakten zu dem Konkreten. Es ist schon wichtig, einzusehen, wie im Übergange vom griechischen zum lateini­schen Wesen die Abstraktion die europäische Kultur erfaßt hat, wie das Urwort gerade dadurch verlorengegangen ist. Die lateinische Sprache ist lange Zeit die eigentliche höhere Bildungssprache gewesen. Es war etwas wie ein krampfhaftes Festhalten dessen, was diese lateinische Sprache eigentlich schon abgeworfen hatte. Dann blieb das, was in lateinischen Sprachzusammenhängen gesprochen war, nur noch als Ge­danke zurück. Von dem Logos blieb die Logik, der abstrakte Gedanke.

Es liegt schon in der Sehnsucht, die ein solcher Mensch wie Goethe nach Erkenntnis des griechischen Wesens hatte, etwas, das man so aus­drücken könnte: er wollte heraus aus der Abstraktion der neueren Zeit, aus der nüchternen Prosa des Romanismus und wollte vordringen zu der anderen Tochter der Urweltweisheit, zu dem, was vom Griechen­tum geblieben ist. Man muß so etwas empfinden, wenn man die inten­sive Sehnsucht Goethes nach dem Süden begreifen will. In den heuti­gen schulgemäßen Biographien steht allerdings nichts von diesen Sachen. Aber erst wenn in alles einzelne wiederum hineinklingt ein Bewußtsein davon, wie der Mensch ein Ausdruck des ganzen Kosmos ist, wird der Grund gelegt werden zu aufsteigenden Kräften, die die Menschheit eben notwendig hat, wenn die Zivilisation nicht in die Barbarei über­gehen soll.

DER MENSCH ALS ERDENWESEN UND HIMMELSWESEN Dritter Vortrag, Darnach, 23. Dezember 1921

#G209-1968-SE118 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DER MENSCH ALS ERDENWESEN

UND HIMMELSWESEN

Dritter Vortrag, Darnach, 23. Dezember 1921

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Des öfteren habe ich im Verlauf dieser Vorträge auseinandergesetzt, wie der Schlafzustand des Menschen nicht nur vorhanden ist für den gewöhnlichen Schlaf, sondern wie er hereinspielt in das bewußte All­tagsleben, und zwar so, daß wir auch innerhalb des bewußten Alltags-lebens unterscheiden müssen den vollständigen Wachzustand, der nur vorhanden ist mit Bezug auf das Vorstellungsleben, von dem, was wir als Gefühlsleben in uns tragen. Dieses ist nicht in demselben Sinne in unse­ren Wachzustand eingegliedert wie das Vorstellungsleben, sondern für den unbefangenen Betrachter erweist sich das Gefühlsleben gleich dem Traumleben, nur daß das Traumleben in Bildern verläuft und das Ge­fühlsleben eben in der Art, wie wir es kennen. Doch wird man sehr leicht gewahr werden, wie man auf der einen Seite das Traumleben, das in der bekannten Weise die Bilder von unbekannten Tatsachen, für das gewöhn­liche Bewußtsein unbekannten Tatsachen, hereinzaubert in das All­tagsleben, nur wird beurteilen können mit unserem vorstellenden Unter­scheidungsvermögen. Ebenso können wir, und zwar genau so, die Trag­weite, die Bedeutung des Gefühlslebens nur beurteilen durch dieses unterscheidende Vorstellungsleben. Und dasjenige, was verläuft bei einem Willensimpuls, bei dem Ausleben, bei dem Wirken eines Willens-impulses, das ist genauso dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen wie dasjenige, was mit dem Menschen als einem seelisch-geistigen Wesen geschieht vom Einschlafen bis zum Aufwachen im traumlosen Schlafzu­stande. Was da eigentlich vorgeht, wenn wir nur die einfachste Willens-handlung vollziehen, sagen wir, wenn wir nur durch einen Willens-impuls unsere Arme oder unsere Beine heben, das bleibt tatsächlich so verborgen wie die Vorgänge des Schlafens. Nur dadurch, daß wir gewissermaßen den Erfolg der Willenshandlung sehen, tritt die Willens-handlung in unser gewöhnliches Bewußtsein herein. Wir sehen, nach­dem wir den Gedanken gefaßt haben, den Arm zu heben - das ist aber ein bloßer Gedanke -, und nachdem der Erfolg eingetreten ist, wie der

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Arm eben sich hebt. Und diesen Erfolg der Willenshandlung lernen wir wiederum durch das Vorstellungsleben kennen. Dasjenige aber, was sich als eigentliche Willenstatsache abspielt, bleibt dem gewöhnlichen Bewußtsein verborgen, so daß wir alles dasjenige, was Willensimpuls ist, als einen Schlafzustand auch im gewöhnlichen Tagesleben benennen müssen. Und alles dasjenige, was sich als Gefühlsleben abspielt, verläuft gleich dem Traume.

Nun handelt es sich darum, daß diese Summe von Tatsachen, die ich eben vorbereitend angeführt habe, ja dem gewöhnlichen Bewußtsein durchaus einleuchten kann. Wenn man in abstracto dieses andeutet, so wird esvielleicht da oder dort nichtgleich verständlich erscheinen. Aber beim Verfolgen der Bewußtseinstatsachen wird man eben finden, daß das Gesagte durchaus richtig ist. Nun aber kann das entwickelte Be­wußtsein diese Tatsachen weiter verfolgen, kann namentlich verfolgen, wie das Vorstellungsleben und das Willensleben für den menschlichen Lebenslauf sich im genaueren gestalten. Wir wissen ja, daß aufgestiegen werden kann durch diejenigen Übungen, die ich geschildert habe in verschiedenen Schriften, von der gewöhnlichen, gegenständlichen Er­kenntnis zu der imaginativen Erkenntnis. Diese imaginative Erkenntnis zeigt durch ihre Beobachtung erst, wie es sich eigentlich in Wahrheit mit dem Menschen als einer Totalität verhält. Aber es wird noch nützlich sein, sich an gewisse Tatsachen des gewöhnlichen Bewußtseins zu er­innern, bevor ich dasjenige anführe, was die imaginative Erkenntnis zunächst über den Menschen in bezug auf Vorstellen und Wollen zu sagen hat.

Betrachten wir einmal unser eigentliches Denkleben, das Vorstel­lungsleben. Sie werden sich ohne weiteres sagen müssen: Dieses Vor­stellungsleben wird eigentlich nicht bei einem unbefangenen Erleben als Realität empfunden. Die Vorstellungen treten in unserem Seelen-leben auf, und es ist ja zweifellos, daß für den äußeren Verlauf einer Tatsache der innere Vorstellungsverlauf des Menschen etwas Hinzu­gekommenes ist. Der äußere Verlauf der Tatsache verlangt nicht un­mittelbar, daß er begleitet werde von dem inneren Erlebnis des Vor­stellens. Dieselbe Tatsache, die wir vorstellen, könnte sich auch ab­spielen, ohne daß wir sie vorstellend erleben. Aber auch das Sich-Versenken

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in die Vorstellungen lehrt uns, wie wir im Vorstellungsleben in etwas Unrealem zunächst gegenüber der Außenwelt leben. Dagegen gerade mit Bezug auf das Willensleben, das sich für das gewöhnliche Bewußtsein wie im Schlafe erlebt ausnimmt, werden wir uns unserer eigenen Realität und der realen Beziehungen von uns zur Welt be­wußt. Indem wir bloß vorstellen, müssen wir immer mehr und mehr darauf kommen: Die Vorstellungen leben in uns, wie Bilder von Ge­genständen im Spiegel vorhanden sind. Und so wenig wir mit Bezug auf das, was wir gewöhnlich die reale Welt nennen, die Bilder im Spiegel als etwas auch Reales empfinden, ebenso wenig können wir bei gesunder Vernunft die Vorstellungen als solche als etwas Reales empfinden.

Es hindert uns aber noch etwas, die Vorstellungen als etwas Reales aufzufassen. Das ist unser Freiheitsgefühl. Denken sie sich einmal: Indem wir vorstellen, lebten wir in unseren Vorstellungen so, daß diese Vor­stellungen in uns wie Naturwirkungen abliefen. Das Vorstellungsleben wäre so etwas wie ein äußeres Geschehen der Natur, das sich als Not­wendiges abspielt. Wir würden da eingesponnen sein in eine Kette von Notwendigkeiten. Wir würden nur dasjenige denken können, was in der Kette der äußeren Naturnotwendigkeiten drinnensteht. Wir würden niemals das Gefühl der Freiheit, das aber als solches eine Tatsache ist, haben können. Als freie Menschen können wir uns nur empfinden, wenn dasjenige, was als freie Impulse in uns lebt, aus Bildern entspringt, die sich heraussetzen aus der gewöhnlichen Kette der notwendigen Natur-tatsachen. Nur weil wir in unseren Vorstellungen in Bildern leben, die nicht in die Reihe der notwendigen Naturerscheinungen eingegliedert sind, können wir aus diesen Vorstellungen heraus die freien Willens-impulse erleben. Wenn wir also das Vorstellungsleben in dieser Art be­trachten, empfinden wir es überall als etwas Irreales. Dagegen ist eben das Willensleben dasjenige, was uns unsere Realität versichert. Das­jenige, was als Willenshandlung zutage tritt, bringt Veränderungen in der äußeren Welt hervor, die wir als Realitäten ansehen müssen. Wir greifen durch unseren Willen real in die äußere Welt ein. Deshalb können wir auch nur die Empfindung haben, daß, indem wir Willens-wesen sind, wir real in der Außenwelt drinnenstehen.

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Wenn wir nun von diesen schon durch das gewöhnliche Bewußtsein leicht zu konstatierenden Tatsachen vorschreiten zu dem, was uns die Imagination sagen kann, so gelangen wir zu folgendem: Es ist wirklich so, daß wenn wir die imaginative Erkenntnis uns aneignen und dann von dieser aus versuchen, zu einer Selbsterkenntnis des Menschen zu kommen, dann nimmt sich der Mensch vor dieser imaginativen Er­kenntnis zunächst in zweifacher Art als ein ganz anderes Wesen aus, als er es für das gewöhnliche Bewußtsein ist. Für das gewöhnliche Be­wußtsein steht unser physischer Leib so vor uns, daß er gewissermaßen eine in sich abgeschlossene, ruhende Wesenheit ist. Wir unterscheiden am physischen Leibe seine einzelnen Organe, und wir bekommen, in­dem wir so mit dem gewöhnlichen Bewußtseinszustand diese einzelnen Organe des physischen Leibes betrachten, den Eindruck, es mit abge­schlossenen Leibesgliedern zu tun zu haben, die wir aufzeichnen kön­nen, die also festgeschlossene Konturen haben, die ein in sich Ruhendes sind.

Das hört in dem Augenblicke auf, wo wir zur imaginativen Er­kenntnis aufsteigen und dann unser Leibesleben von dem Gesichts­punkte der imaginativen Erkenntnis aus betrachten. Da gibt es also etwas Ruhendes, das wir, wenn wir nicht schematisch werden wollen -schematisch kann man natürlich alles zeichnen -, nicht als in sich abgeschlossene Figuren zeichnen können. Wir können dasjenige, was uns die imaginative Erkenntnis gibt über Lunge, Herz, Leber und so weiter nicht in abgeschlossenen Konturen aufzeigen, sondern dasjenige, was uns über den physischen Leib die imaginative Erkenntnis gibt, ist ein fortwährendes in sich Bewegliches, ist ein Geschehen, ist kein Ru­hendes. Es ist ein Prozeß, ein Werden. Es ist ein Fluß, den wir gewahr werden, wenn wir zur imaginativen Erkenntnis aufsteigen. Alles bro­delt, möchte ich sagen, alles bewegt sich innerlich, und zwar nicht nur räumlich, sondern auch in intensivem Sinne; das eine fließt in das andere über. Wir haben nicht mehr ruhende Organe, nicht mehr in sich geschlossene Organe vor uns, wir haben ein lebendiges Werden, ein Leben und Weben vor uns. Wir können nicht mehr sprechen von Lunge, Herz und Leber, sondern wir müssen sprechen von dem Lungenprozeß, von dem Herzensprozeß, von dem Leberprozeß. Und wiederum, diese

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einzelnen Prozesse setzen sich zusammen zu dem Gesamtprozeß Mensch. Das ist das Eigentümliche, daß sich der Mensch in dem Augenblicke, wo er vom Gesichtspunkt der imaginativen Erkenntnis aus betrachtet wird, sich ausnimmt als ein in sich Bewegliches, als ein fortdauernd in jedem Augenblicke Werdendes.

Beachten Sie aber, welche Bedeutung dieser veränderte Anblick des Menschen hat. Wenn wir den menschlichen Leib mit seinen festkon­turierten Gliedern betrachten und dann den Seelenblick werfen auf unser inneres Seelenleben, dann sehen wir im Seelenleben niemals etwas, was wir mit festen Konturen aufzeichnen könnten. Wir sehen im Seelen-leben etwas, was in der Zeit verläuft, was immer wird und niemals ruhend ist. Das Seelenleben stellt sich uns zwar dar als ein nur innerlich geistig-seelisch anschaubarer, aber doch deutlich vorliegender Prozeß. Dieser Prozeß des Seelenlebens, der schon für das gewöhnliche Bewußt­sein bei einer unbefangenen Innenschau des Menschen da ist, dieses Wer-den des Seelenlebens ist sehr wenig ähnlich dem in sich ruhenden Leibes-leben. Gewiß, das Leibesleben zeigt uns auch Bewegung, die Atmungs­bewegung, die Zirkulationsbewegung; allein ich möchte sagen, da haben wir einen Übergang zu dem Beweglichen, als das sich uns der Mensch darstellt vor der imaginativen Erkenntnis. Aber gegenüber den feinen, subtilen Bewegungen, die der imaginativen Erkenntnis sich ergeben von dem menschlichen physischen Leibe, verhält sich dasjenige, was uns als Blutzirkulation, als Atmungsbewegung, als sonstige Bewe­gung im Leibe auftritt, doch wie ein etwas verhältnismäßig Ruhendes. Kurz, dasjenige, was man mit dem gewöhnlichen Bewußtsein in der gegenständlichen Erkenntnis als den menschlichen Leib wahrnimmt, das ist sehr verschieden von dem, was man wahrnimmt als das Seelenleben, das ein immerwährendes Werdendes, ein in sich Bewegliches, ein nie Ruhendes ist. Wenn wir aber imaginativ den menschlichen Leib be­trachten, dann wird er innerlich beweglich, das heißt, er wird in seinem Anblicke dem Seelenleben ähnlicher. So liefert uns die imaginative Er­kenntnis die Möglichkeit, ich möchte sagen, den Anblick des physischen Leibes in das Seelische heraufzuheben. Seele und Leib nähern sich. Der Leib, der physische Körper wird seelenähnlicher für die imaginative Erkenntnis.

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Aber ich habe Ihnen jetzt eigentlich zwei Dinge vorgeführt, welche auf ganz verschiedenen Feldern liegen. Ich habe Ihnen vorgeführt den Anblick, den der physische Leib für die imaginative Erkenntnis bietet, habe Ihnen vorgeführt, daß er da ein in sich Bewegliches, ein fort­während Werdendes ist, und ich habe Ihnen dann gezeigt, wie schon für das gewöhnliche Bewußtsein in der Innenschau das gewöhnliche Seelenleben ein solches Werdendes, ein nie Ruhendes, ein in der Zeit Verlaufendes, ein Leben ist, das wir eben nicht in feste Konturen fassen und etwa in solchen aufzeichnen können.

Wenn wir aber zur imaginativen Erkenntnis aufsteigen, so ver­ändert sich auch für die Innenschau dieses Seelenleben, und es verändert sich in der entgegengesetzten Richtung wie das Leibesleben. Das ist ja das Merkwürdige, daß, indem wir uns mit imaginativen Erkenntnissen durchtränken, wir nicht mehr fühlen diese freie Beweglichkeit in den Gedanken, diese freie Beweglichkeit in der Verbindung des einen Ge­dankens mit dem andern. Wir fühlen auch, daß, indem wir zur imagi­nativen Erkenntnis aufsteigen, unsere Gedanken etwas unser Seelen-leben Bezwingendes haben. Im gewöhnlichen Bewußtsein können wir einen Gedanken zu dem andern hinzufügen. Wir können ganz mit innerlicher Freiheit ein Subjekt mit einem Prädikat verbinden. Wir können es auch unterlassen, und wir fühlen uns frei in dieser Verbin­dung der einen Vorstellung mit der andern.

Das ist nicht so, wenn wir zur imaginativen Erkenntnis aufsteigen. Da fühlen wir uns in der Gedankenwelt wie in etwas, das sich durch seine eigenen Kräfte abspielt. Da fühlen wir uns wie eingesponnen in das Gedankennetz, so daß sich nicht durch uns, sondern durch die eigenen Kräfte ein Gedanke mit dem andern verbindet. Wir können gar nicht mehr sagen, wenn wir zur imaginativen Erkenntnis aufsteigen:

Ich denke. - Wir müssen beginnen dann zu sagen: Es denkt. - Und wir sind in dieses «Es denkt» eingesponnen. Wir fangen an, das Denken als einen realen Prozeß zu empfinden. Wir fühlen es so als einen realen Prozeß in uns, wie wir etwa im gewöhnlichen Alltagsleben fühlen, daß uns dieser Schmerz ergreift und wieder verläßt, diese Lust kommt und wieder geht. Wir fühlen Realität in der Gedankenwelt, indem wir uns zur imaginativen Erkenntnis erheben. Wir fühlen etwas in unserer Gedankenwelt,

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was ähnlich wird dem Erleben, das wir gegenüber dem physischen Leibe sonst haben. Daraus ersehen Sie, daß durch die ima­ginative Erkenntnis das vorstellende Seelenleben noch mehr ähnlicher wird dem Leibesleben, als das Seelenleben ähnlich diesem Leibesleben ist, das für das gewöhnliche Bewußtsein in Innenschau ergriffen wird. Kurz, für die imaginative Erkenntnis wird der Leib sehr seelenähnlich. Die Seele aber wird leibesähnlich, allerdings ähnlich den Leibesvor­gängen, wie sie sich als Werdendes dem imaginativen Bewußtsein ent­hüllen. So nähert sich das Seelische dem Leiblichen für die imaginative Erkenntnis, und das Leibliche dem Seelischen. Wir sehen gewisser­maßen ineinanderdringen, einander ähnlich werden Seelisch-Geistiges und Körperlich-Physisches, indem wir zur imaginativen Erkenntnis aufsteigen. Wir werden gewissermaßen im Erleben des Seelischen von einem Materialismus ergriffen, und unser Anschauen des Lei­beslebens, des physischen Lebens überhaupt, wird spiritualisiert. Das ist eine wichtige Tatsache, die sich für die imaginative Erkenntnis ergibt.

Und wenn dann weiter vorgeschritten wird zur inspirierten Er-kenntnis, dann enthüllt sich uns ein weiteres Geheimnis über die mensch­liche Wesenheit. Wir lernen nachher durch die inspirierte Erkenntnis das Denken, das Vorstellen nach seinem materiellen Charakter noch mehr kennen. Wir durchschauen, was eigentlich sich abspielt, indem wir denken. Ich sagte: Wir kommen heraus aus der Freiheit des Ge­dankenlebens. Es denkt, und wir sind in dieses «Es denkt» eingespon­nen. Es sind unter Umständen dieselben Gedanken, die wir in freier Weise im gewöhnlichen Bewußtsein verbinden und trennen, und die wir im imaginativen Erleben wie in innerer Notwendigkeit sich ab-spielend verspüren. Daraus ersehen wir, daß nicht im Gedankenleben als solchem Freiheit und Notwendigkeit liegt, sondern in unserem Zu­stande, in unserem Verhältnisse zu dem Gedankenleben im gewöhn­lichen physischen Bewußtsein. Aber wir lernen erkennen, wie es eigent­lich steht mit dem im gewöhnlichen Bewußtsein vorhandenen Erleben der Irrealität der Gedanken. Wir lernen verstehen, warum wir die Ge­danken als irreal erleben. Folgendes nämlich stellt sich heraus: Der organische Prozeß, der in uns vorgeht, verläuft ja so, daß unser Organismus

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sich Stoffe aneignet und auch Stoffe abscheidet. Aber nicht allein diejenigen Stoffe, welche sich aus dem organischen Prozesse unseres Leibes heraussondern, werden durch die Abscheidungsorgane nach außen gestoßen, sondern es lagern sich fortwährend in uns selber solche Stoffe ab. Die bleiben gewissermaßen längs unserer Nervenbahn und an sonstigen Orten unseres Organismus liegen; die werden ausge­stoßen aus dem Lebensprozeß. Wir haben es fortwährend in unserem Lebensprozeß damit zu tun, daß sich Lebloses aussondert. Wer im Genauen verfolgen kann den menschlichen Lebensprozeß, der wird wahrnehmen können, daß sich überall im Organismus unorganische Stoffe ablagern. Die groben Massen werden ausgeschieden; aber in feiner Weise lagern sich überall Stoffe ab. So daß wir sagen können:

Der menschliche Organismus lebt so, daß er zunächst den organischen Prozeß in sich trägt, den ich Ihnen hier mit weißer Kreide schematisch darstellen will. Aber innerhalb dieses organischen Prozesses sehen wir überall unorganische, leblose Stoffe, die nicht ausgeschieden werden,

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sondern sich überall ablagern, die ich hier mit roter Kreide schematisch einzeichnen will. Ich zeichnete oben die roten Punkte besonders dicht, weil hauptsächlich diese sich nicht ausscheidenden leblosen Stoffe in dem Kopforgan des Menschen sich absondern, wo sie liegen bleiben. Nun ist der ganze menschliche Organismus von dem Ich durchdrungen.

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Ich zeichne mit grüner Kreide dieses Ich in die schematische Zeichnung ein. Es kommt innerhalb unseres Organismus das Ich mit den leblos ausgeschiedenen Stoffen in Berührung. Es durchdringt sie. Es gibt also in unserem Organismus etwas, das sich so ausnimmt, daß auf der einen Seite das Ich durchdringt den organischen Prozeß, den Prozeß, inner­halb welchem die Stoffe als lebendige Stoffe enthalten sind, daß aber das Ich auch durchdringt dasjenige, was Lebloses, ich möchte sagen, Mineralisiertes in unserem Organismus ist. Wenn wir denken, so geht fortwährend das vor sich, daß, angeregt durch die äußeren Sinnes­wahrnehmungen oder auch durch die Erinnerungen, das Ich gewisser­maßen sich bemächtigt dieser leblosen Stoffe und sie im Sinne der äußeren Sinnesanregungen oder der Anregung durch die Erinnerungen aufpendelt, mit ihnen in uns, ich darf schon sagen, zeichnet. Denn es ist keine bildliche Vorstellung, sondern es entspricht durchaus der Realität, daß das Ich diese unorganischen Stoffe wirklich so verwendet, wie wenn ich etwa jetzt, vergleichsweise gesprochen, mir hier Kreide pulverisieren würde und dann mit dem Finger das Kreidepulver nehmen würde und dann mit diesem bekreideten Finger allerlei Figuren hin­zeichnete. Es ist so, daß tatsächlich das Ich diese leblosen Stoffe auf­pendelt, sich ihrer bemächtigt und in uns Figuren einzeichnet, die allerdings den Figuren, die wir gewöhnlich äußerlich aufzeichnen, nicht ganz ähnlich sehen. Aber es wird in uns durch das Ich mit Hilfe des leblosen Stoffes tatsächlich gezeichnet, kristallisiert, wenn auch nicht in den Kristallgestalten, die wir im mineralischen Reiche finden (siehe Schema, rot). Dasjenige, was sich so abspielt zwischen dem Ich und dem, was in uns mineralisch geworden ist, und zwar sich als sogar fein-feste, mineralisierte Substanzen absondert, das ist dasjenige, was als Mate­rielles unserem Denken zugrunde liegt. Der inspirierten Erkenntnis ergibt sich also der Denkprozeß, der Vorstellungsprozeß tatsächlich als eine Behandlung des Mineralisierten im menschlichen Organismus durch das Ich. Das ist die genauere Schilderung desjenigen, was ich oftmals abstrakt charakterisiert habe, wenn ich sagte: Indem wir denken, sterben wir fortwährend ab. Das in uns Ersterbende, das sich aus dem Leben Heraushebende, das sich Mineralisierende ist dasjenige, mit dem das Ich in uns zeichnet, und mit dem das Ich tatsächlich die Summe unserer

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Gedanken zeichnet. Es ist ein Wirken und Weben des Ich im minera­lischen Reiche, in jenem mineralischen Reiche, das in uns erst wird, das wir als unser Denken haben.

Sehen Sie, das, was ich Ihnen hier charakterisiere, ist es, was, ich möchte sagen, in einer irrtümlichen Ahnung dem Materialismus des 19. Jahrhunderts aufgegangen ist. Dieser Materialismus kam in seinen besten Vertretern - einer der besten Vertreter dieses Materialismus war ja Czolbe -, zu der Ahnung davon, daß, während in uns Gedanken abfließen, physische Prozesse sich vollziehen; nur vergaß dieser Mate­rialismus, und deshalb war die Ahnung eine irrtümliche, daß es das rein geistige Ich ist, das mit dem Mineralisierten in uns innerlich zeich­net. Gerade das also, was wir als das eigentliche Aufwachen des ge­wöhnlichen Bewußtseins erkennen, das beruht auf diesem innerlichen Zeichnen mit den in uns mineralisierten Stoffen.

Sehen wir jetzt nach der andern Seite des Menschen hin, nach der Seite der Willensimpulse. Wenn Sie auf dasjenige noch einmal zurück­blicken, was ich eben charakterisiert habe, so sehen Sie darinnen viel­leicht ein Gefangennehmen des Ich durch das Mineralisierte in uns. Unser Ich ist eben in der Lage, mit diesem Mineralisierten zu hantieren, innerlich zu zeichnen. Das Ich kann sich hineinversenken in dasjenige, was in uns mineralisiert wird.

Betrachten wir auf der andern Seite jene Lebensprozesse, in denen eben die nichtmineralisierten, die im lebendigen Prozesse befindlichen Stoffe sind, dann kommen wir, ich möchte sagen, auf das Materielle der Willenswirkungen. Im Schlafe ist ja das Ich aus dem physischen Leibe heraus. Im Wollen ist das Ich aus gewissen Orten unseres Orga­nismus heraus. Das ist dadurch der Fall, daß an diesem Orte sich in ge­wissen Zeitaugenblicken eben nichts mineralisiert, sondern daß da alles lebt. Aus denjenigen Stellen unseres Organismus, in denen alles lebt, in denen in dem entsprechenden Augenblicke nichts Mineralisiertes sich ablöst, abscheidet, da entfalten sich die Willensimpulse. Da wird aber das Ich ausgestoßen. In das Mineralische wird das Ich hineinge­zogen. Mit dem Mineralischen kann es hantieren; mit demjenigen, was lebendig ist, kann es nicht hantieren. Aus dem wird es herausgetrieben, wie in der Nacht, wenn wir schlafen, dieses Ich aus dem ganzen physischen

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Leibe herausgetrieben wird. Nun ist aber dann das Ich außer­halb des Leibes. Durch das Mineralisieren wird das Ich in den Leib hineingetrieben. Durch das Vitalisieren wird das Ich aus Teilen des Leibes herausgetrieben. Es ist dann gerade so außerhalb dieser Teile, wie es im Schlafe ganz außerhalb des physischen Leibes ist. Und wir können daher sagen: bei einer Willensbetätigung sind immer Teile des Ich außerhalb derjenigen Orte des physischen Leibes, denen sie eigent­lich zugeteilt sind. Und wo sind dann diese Teile des Ich, die außer­halb der ihnen entsprechenden Teile des physischen Leibes sind? Nun, sie sind eben außerhalb, im übrigen Raume. Sie sind eingegliedert in die Kräfte, welche diesen Raum durchweben. Wir sind, indem wir unseren Willen betätigen, mit einem Teil unseres Ich außerhalb unser. Wir gliedern uns Kräfte ein, die durch die Welt gelegt sind. Wenn ich einen Arm bewege, so bewege ich ihn nicht durch etwas, was im Inneren des Organismus entspringt, sondern durch eine Kraft, die außerhalb meines Armes ist, und in die das Ich hineinkommt dadurch, daß es aus gewissen Orten meines Armes herausgetrieben wird. Im Wollen komme ich außerhalb meines Leibes, und durch Kräfte, die außerhalb meiner liegen, bewege ich mich. Man hebt das Bein nicht durch Kräfte, die im Inneren sind, sondern man hebt das Bein durch Kräfte, die tat­sächlich von außerhalb wirken; ebenso den Arm. Während man also im Denken nach innen getrieben wird durch das Verhältnis des Ich zu dem mineralisierten Teil des menschlichen Organismus, wird man im Wollen geradeso wie im Schlafe nach außen getrieben. Und niemand versteht das Wollen, der nicht den Menschen als kosmisches Wesen auffaßt, der nicht hinausgeht aus den Grenzen des menschlichen Leibes, der nicht weiß, daß der Mensch im Wollen sich außerhalb seines Leibes liegende Kräfte eingliedert. Wir versenken uns in die Welt, wir geben uns an die Welt hin, indem wir wollen. So daß wir sagen können: Die materielle Begleiterscheinung des Denkens ist ein mineralischer Prozeß in uns, ein Zeichnen des Ich in mineralisierte Teile des menschlichen Organismus. Das Wollen in uns stellt dar ein Vitalisieren, ein Her-ausbreiten des Ich, ein Eingliedern des Ich in die geistige Außenwelt, und ein Wirken auf den Leib vom Ich aus, aus der geistigen Außen­welt herein.

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Wollen wir schematisch das Verhältnis des Denkens zum Wollen zeichnen, so müssen wir das in der folgenden Weise tun. Sie sehen, man kann durchaus den Weg machen von der Innenschau des Seelenlebens zu dem physischen Korrelat dieses Seelenlebens, ohne daß man dadurch versucht wird, in einseitiger Weise in den Materialismus zu verfallen. Man lernt erkennen dasjenige, was sich materiell abspielt im Denken und im Wollen. Aber man verliert niemals das Ich, indem man erkennt, wie das Ich innerlich aktiv wird mit dem Unorganischen im Denken, und auf der andern Seite erkennt, wie das Ich in den Geist hineinge­trieben wird durch das organische Vitalisieren im Leib. Indem das Ich aus dem Leibe herausgetrieben wird, wird es mit den Kräften des Kos­mos zusammengebracht, und von dem geistigen Teil des Kosmos aus, also von außerhalb herein, entfaltet das Ich das Wollen.

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Dadurch ist auf der einen Seite der Materialismus gerechtfertigt, und auf der andern Seite zugleich überwunden. Dilettantisch bleibt es immer, wenn man den Materialismus bloß bekämpft. Denn das­jenige, was er im positiven Sinne zu sagen hat, das ist ein durchaus Berechtigtes. Falsch ist an ihm nur, wenn er einseitig sich zu dem ganzen

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Um und Auf der Weltanschauung des Menschen machen will. Über­haupt kommt man immer mehr und mehr darauf, wenn man geistig innerlich die Welt und ihr Geschehen verfolgt, daß dasjenige, was die einzelnen menschlichen Standpunkte als Positives zu sagen haben, ein Berechtigtes ist, daß sie unberechtigt erst werden, wenn sie Negatives sagen wollen. Und in dieser Beziehung ist der Spiritualismus oftmals ebenso einseitig wie der Materialismus. In dem, was der Materialismus Positives zu sagen hat, hat er recht; in dem, was der Spiritualismus Positives zu sagen hat, hat er recht. Erst wenn sie beide negativ werden, verfallen sie in das Unrecht und in den Irrtum. Und es ist kein ge­ringer Irrtum, wenn in laienhaft dilettantischer Weise Leute, die sich einbilden, eine spirituelle Weltanschauung sich errungen zu haben, ohne irgend etwas zu verstehen von den materiellen Vorgängen, auf den Materialismus herabsehen. Die materielle Welt ist durchgeistigt; aber man muß sie auch in ihren materiellen Eigentümlichkeiten kennenler­nen, nicht einseitig werden, sondern wissen, daß man die Wirklichkeit von den verschiedensten Seiten ansehen muß, um zur vollen Bedeutung dieser Wirklichkeit zu kommen.

Das ist dasjenige, was uns als ein Bestes lehren kann eine Weltan­schauung wie diejenige, die als anthroposophische gemeint ist.

DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI Erster Vortrag, 24. Dezember 1921

#G209-1968-SE131 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI

Erster Vortrag, 24. Dezember 1921

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Wenn man mit den Vorstellungen der Gegenwart vernimmt, daß wir über die Weihnachtsfesttage gegenwärtig hier einen Kursus absolvieren, so könnte das vielleicht merkwürdig erscheinen aus dem Grunde, weil man eben die Vorstellung hat, daß mit den großen Festeszeiten des Jahres die Arbeit ruhen soll und der Mensch sich insbesondere zur Weih­nachtszeit einzig und allein den religiösen Übungen überlassen soll. Dennoch darf ein tieferer Einblick in die Verhältnisse der Gegenwart heute nicht verkennen, daß anderes gerade in diesen Festeszeiten ange­messen ist, als bisher durch lange Zeiten hindurch gegolten hat. Wir leben in schweren Zeiten, und es muß heute als Leichtsinn erscheinen, wenn man ohne Berücksichtigung der schweren Zeiten der Not, in die wir eingetreten sind, einfach die alten Gewohnheiten fortsetzen möchte, unberührt von demjenigen, was in sichtbaren und unsichtbaren Welten gerade in unserer Gegenwart sich vollzieht. Wir sehen, wie zu diesen Festeszeiten die Menschen sich beschenken, wie sie in traditioneller Weise ihren Weihnachtsbaum putzen, wie sie in anderer Weise rein nach der Überlieferung dasjenige tun, was man gewohnt worden ist zu tun seit Jahrhunderten. Gerade heute aber muß man bemerken, wie diese Gewohnheit fast zum Frevel wird.

Wer mit tieferem Herzensanteil die letzten Jahre miterlebt hat, der kommt sich vor, als wenn er Jahrhunderte hätte durchleben müssen, und nur mit einer gewissen Wehmut kann er auf jenen Teil der Mensch­heit blicken, der heute gewohnheitsmäßig so denkt, wie mit einiger Begründung gedacht werden konnte noch bis zum Beginne oder der Mitte des zweiten Jahrzehntes unseres Jahrhunderts. Für das unbe­fangene Gemüt müssen heute aus den Zeitereignissen heraus alle Dinge mit Fragen belastet erscheinen, mit Fragen, welche die Urelemente alles menschlichen Lebens angehen. Diejenigen der verehrten Zuhörer, die öfter von mir das eine oder andere gehört haben, werden wissen, wie wenig ich geneigt bin, mitzumachen den Brauch, davon zu sprechen, daß man in einer Übergangszeit lebt. Das kann jede Zeit von sich

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sagen, denn immer ist der Übergang vom Vergangenen in das Zu­künftige selbstverständlich da. Es kommt nur darauf an, worinnen dieser Übergang besteht. Und heute kann man nicht verkennen, daß der Mensch nur dann seines eigentlichen Wesens sich bewußt ist, wenn er Anteil nimmt an dem Gewaltigen, das sich abspielt in der Welt.

Man hat ja öfter getadelt, daß viele Menschen immer mehr und mehr die Christlichkeit darinnen gesehen haben, daß sie gesprochen haben: Herr, Herr! - oder daß sie den Namen des Christus so oft als möglich ausgesprochen haben. Heute haben wir allerdings ein we­sentlich anderes nötig: eine Durchchristung unseres ganzen Lebens, der es nicht genügt, den Namen des Christus zu nennen, sondern die es für notwendig hält, sich mit dem Geiste des Christus inniglich zu ver­binden. Wir sehen heute, wie fast über die ganze Erde hin große Fragen des Daseins aufgeworfen werden. Wir nehmen es heute schon wahr, daß jenes Gebiet, das europäische Gebiet, das lange Zeit hindurch der eigentliche Schauplatz der Zivilisation der Menschheit war, für die Zukunft dieser Schauplatz nicht mehr wird sein können. Wir nehmen wahr, wie die Fragen der Welt sich über größere Territorien erweitern, und wir nehmen vor allen Dingen wahr heute schon an den symptoma­tischen Erscheinungen, wie auf allen Gebieten des Lebens die große Auseinandersetzung zwischen dem Westen und dem Osten sich an­kündigt.

Der Westen hat entfacht ein junges Geistesleben aus mechanisch­naturalistischen Untergrundlagen heraus. Nur derjenige sieht dieses Geistesleben richtig an, der die Meinung hegt, daß es erst im Anfange seines Werdens ist. Aber man muß von diesem anfänglichen Geistes­leben des Westens hinüberschauen zum Osten, mit dem wir immer mehr und mehr auch geographisch-historisch kulturell verbunden wer­den und mit dem der Westen sich auseinandersetzen muß.

Im Osten ist vorhanden ein altes Geistesleben, das in Jahrtausende zurückweist. Und man bekommt vor dem, was in diesem Osten heute allerdings in Dekadenz vorhanden ist, einen ungeheuren Respekt, eine unermeßliche Ehrfurcht, wenn man von dem heute Dekadenten auf dasjenige zurückblickt, wovon es als von einer Urweisheit der Menschheit

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seinen Ausgangspunkt genommen hat. Ein Wort tönt herüber aus dem Osten, wenn wir auf die mehr geistigen Angelegenheiten des Lebens sehen, das uns immer, gerade wenn wir uns auf den Gesichtspunkt des Westens stellen, merkwürdig ins Herz hereinklingen muß. Es ist das Wort, welches ausdrücken soll in der Sprache des Ostens die Eigen­tümlichkeit der physischen Welt, die wir ringsherum um uns mit unse­ren Sinnen wahrnehmen. Diese physisch-sinnliche Welt ist der Osten, von Indien ausgehend, gewohnt worden, ob er das nun mehr oder we­niger deutlich ausspricht oder nicht, eine Maja, eine große Täuschung zu nennen.

So also steht vor dem Osten - wenn das auch heute alles, wie gesagt, nur in dekadenter Weise vorhanden ist -, so steht vor dem Osten die äußere Welt, welche die Augen schauen, die Ohren hören, vor dem Menschen als eine große Illusion, als eine Maja. Wer die besonderen Eigentümlichkeiten der Lebensauffassungen dieses Ostens kennenlernt, der muß erfahren, daß diese Anschauung von der Maja nicht ursprüng­lich der Urweisheit des Ostens eigen war. Wir können gerade mit Hilfe anthroposophischer Geisteswissenschaft in eine jahrtausendelange Ent­wickelung der östlichen Zivilisation hineinschauen. Dann blicken wir zurück hinter das 3. vorchristliche Jahrtausend und finden dann, in­dem wir weiter und weiter in das graue Altertum zurückgehen, immer weniger und weniger diese Anschauung von der Maja, von der gro­ßen Illusion der äußeren sinnlich-physischen Wirklichkeit. Wenn wir approximativ einen Zeitpunkt angeben wollen, so können wir sagen, erst an der Wende des 3. zum 4. vorchristlichen Jahrtausend tritt diese Anschauung als eine Überzeugung des Ostens auf, daß die physisch-sinnliche Welt um den Menschen herum keine Wirklichkeit ist, sondern eine große Illusion, eine Maja.

Was ist die Ursache dieses gewaltigen Umschwunges in der Lebens­auffassung des Ostens? Diese Ursache liegt in der Seelenentwickelung der Menschheit tief begründet. Wenn wir auf die Urweisheit des Ostens hinblicken, wie sie nachträglich sich in dichterischer Weise in den Veden abgesetzt hat, in philosophischer Weise in der Vedantaphilosophie, wie sie dann zur Jogalehre geworden ist, wenn wir zum Beispiel achtgeben auf das Grandiose, wie diese Ostlehre enthalten ist in der Bhagavad

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Gita, dann finden wir, daß einstmals das Wesentliche dieser Ostweis­heit das war, daß der Mensch nicht nur die äußere sinnliche Welt, son­dern daß der Mensch innerhalb dieser äußeren sinnlichen Welt in all dem, was er mit Augen gesehen, mit Ohren gehört, mit den Händen angetastet hat, ein Göttlich-Geistiges wahrgenommen hat.

Es waren für diese Urmenschen nicht so nüchtern Bäume da, wie wir sie heute sehen. Es war in jedem Baume, in jedem Strauch, in jeder Wolke, in jedem Quell etwas, das sich als geistig-seelischer kosmischer Welteninhalt ankündigte. Überall, wohin man schaute, sah man Sinn­liches durchdrungen von Geistigem. Die Quelle rieselte nicht nur in unartikulierten Tönen, sondern aus dem Tönen der Quelle heraus hörte man geistig-seelischen Inhalt. Der Wald rauschte nicht unartikuliert; aus dem Rauschen des Waldes vernahm man die Sprache des ewigen Weltenwortes, einer geistig-seelischen Wesenheit. Von der ungeheuren Lebendigkeit, mit der der Mensch in diesen grauen Vorzeiten die Welt erlebte, kann sich der gegenwärtige Mensch nur eine sehr geringe Vor­stellung machen.

Aber die Lebendigkeit des Geistes, mit welcher der Mensch in seiner Umgebung lebte, lähmte sich ab gegen das 3. vorchristliche Jahrtau­send. Und wenn wir uns hineinversetzen in die Entwickelung der Zeit, dann werden wir gewahr, wie gewissermaßen die Menschheit, jetzt als ein Ganzes aufgefaßt, als Ostmenschheit, mit einem gewissen weh­mütigen Gefühle die Welterscheinungen so wahrnahm, als wenn sich die Götter zurückzögen, als wenn sie unter der Oberfläche der Dinge verschwänden. Und wohl manches ganz besonders tiefe Menschen-gemüt wird wie betend diese Empfindung so ausgesprochen haben, daß es sagte: Die alten Götter sind hingeschwunden hinter die Oberfläche der äußeren Sinnesdinge. Die Welt ist leer geworden von den Göttern, und weil sie als götterleere Welt erscheint, ist sie Maja, ist sie eine große Illusion.

Nicht vom Anfange an hat man davon gesprochen, daß die Welt diese große Illusion sei, sondern weil die Welt götterleer geworden ist, empfand man sie als eine große Illusion, als Maja. Wenn man auf das ganz Lebendige dieser Anschauung zurückgehen will, so muß man sogar hinter die atlantische Katastrophe gehen, bis zu der atlantischen

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Menschheit. Denn schon gleich nach der atlantischen Katastrophe taucht in der allgemeinen Zivilisation leise diese Hinweisung auf, die Welt der äußeren sinnlich-physischen Erscheinung noch wie etwas Unwirkliches zu betrachten. Aber noch war viel von der Götter-wahrnehmung in der physisch-sinnlichen Welt bis zum Ende des 4. vorchristlichen Jahrtausends vorhanden. So viel war vorhanden, daß man bis dahin gegenüber dem, was man als die Unwirklichkeit in der Welt empfand, noch nicht einen eigentlichen Trost brauchte. Von dem Ende des 4. Jahrtausends an brauchte man einen Trost. Und dieser Trost wurde gesucht von den Eingeweihten, von den Initiierten, von den Lehrern und Priestern der Mysterien für die Menschheit, und er wurde gesucht aus der Sprache der Sterne. Hier auf Erden, so sagte man, ist keine Wirklichkeit. Wenn man aber die Sterne erforscht, dann findet man aus der Sprache der Sterne heraus, wie sich ergießt aus weltenfernen Himmelsgegenden auf die Erde herunter die Wirklich­keit. Die Sterne sprechen eine Sprache, die, wenn wir sie hören, so klingt, daß die Maja der Welt einen wirklichen Sinn erhält.

Das war der große Eindruck, den die Sternenweisheit der Chaldäer, die Sternenweisheit der alten Ägypter auf die Menschheit machte, daß diese Sternenweisheit empfunden wurde als dasjenige, welches der Maja Realität gab. Hier auf dieser Erde kann man nur das Irreale finden, so sagte man. Man muß aufblicken zu dem ewigen Weltenworte, das in den Bewegungen und Stellungen der Sterne für den Empfäng­lichen sich ausspricht, dann offenbart sich innerhalb der Maja die Wirklichkeit. Wollte man etwas Wichtiges, etwas für das Leben Be­deutungsvolles erkennen, so suchte man dieses aus den Sternen und ihrer Sprache zu erforschen. Und so blieb die menschliche Seelen-verfassung bis in die Zeiten, in welche das Mysterium von Golgatha fiel.

Mysterien-Weise verkündeten der Menschheit aus den Sternen das­jenige, was wirklich ist, denn auf der Erde glaubte man dieses Wirk­liche nicht zu finden. Wer das griechische Wesen in seiner Wahrheit versteht, der wird doch wahrnehmen - trotzdem immer von einer gewissen oberflächlichen Anschauung gesagt wird, das griechische We­sen verliefe wie eine Art kindlicher Freude über die Wirklichkeit -,

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er wird doch empfinden, wie über dem griechischen Wesen etwas Tragisches lastet, etwas, das sich sehnt nach einer Art Erlösung inner­halb des menschlichen Lebens. Und das ist nichts anderes als der Nach­klang jener orientalischen Empfindung, von der ich eben gesprochen habe.

Und wir gegenwärtigen Menschen haben es dazu gebracht, daß sich für unsere gegenwärtige Zivilisation gewissermaßen wie ein inneres höchstes Gut der Gedanke entwickelt, der Gedanke sich allseitig ent­faltet. Aber wir haben es nicht dazu gebracht, diesen Gedanken als eine Realität zu erkennen. Wir fühlen uns, indem wir uns dem Ge­dankenleben hingeben, wie in einer Irrealität. Und eine große Zahl von Menschen spricht davon, daß das Leben in Gedanken eine Ideologie sei. Eine große Zahl von Menschen will mit diesem Worte Ideologie gegenüber dem inneren Seelenleben dasselbe andeuten, was das Morgen­land gegenüber der äußeren physisch-sinnlichen Wirklichkeit empfun­den hat, indem es diese eine Maja genannt hat. Wir könnten ebenso, wie wir von Ideologie sprechen, von Maja sprechen, müßten aber dann unser inneres Seelenleben meinen.

Was für das Morgenland in einem bestimmten Zeitraume die inten­sivste Wirklichkeit war, das Seelisch-Geistige, das ist für uns die Maja geworden, und was für das Morgenland Maja war, die äußere physisch-sinnliche Welt, ist unsere naturalistische Wirklichkeit geworden. Und so leben wir, indem wir Ideologie oder Maja dasjenige nennen, was uns selbst innerlich bis zur Gedankenreife durchsetzt. Das Morgenland hat einstmals in der äußeren sinnlichen Natur Götter gesehen. Diese Götter sind ihm entschwunden. Den Gedanken hat es nicht in der Weise gehabt, wie wir ihn heute haben. Das ist das Spezielle des Abend­landes, daß der Gedanke, die reinste, lichtvollste Ausgestaltung des Seelenlebens, errungen worden ist. Aber es ist uns das Göttliche in den Gedanken noch nicht aufgegangen. Wir warten darauf, daß das Gött­liche in den Gedanken aufgehen soll. Dasjenige, was aus der äußeren Sinnlichkeit für das Morgenland verschwunden ist, wodurch diese äußere Sinnlichkeit zur Maja geworden ist, das ist für unsere Ideen­welt, für unsere gedankliche Innenwelt noch nicht da. In der histo­rischen Entwickelung ist die äußere Sinneswelt für das Morgenland

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allmählich götterleer geworden. Unser Gedanke ist noch götterleer. Wir können ihn nur so verstehen, wenn wir es wie eine Art Prophetie empfinden, daß die Maja unseres Denkens dereinst erfüllt werde von innerer Wirklichkeit.

So teilt sich die Entwickelungsgeschichte der Menschheit in zwei bedeutsame Teile. Der eine entwickelt sich von der Göttererfülltheit bis zur Götterleerheit. Der andere, an dessen Anfang wir stehen, ent­wickelt sich von der Götterleerheit zu der zu erhoffenden Götterfülle. Und in der Mitte zwischen diesen zwei Entwickelungsströmungen ist aufgerichtet das Kreuz auf Golgatha. Dieses Kreuz auf Golgatha, wie steht es im Bewußtsein der Menschheit da? Wir blicken zurück, sechs Jahrhunderte etwa weiter zurück vom Mysterium von Golgatha: wir sehen den Buddha, der verehrt wird allmählich von einer großen Ge­meinde. Wir sehen diesen Buddha, wie er die Heimat verläßt, in die Welt hinausgeht und wie er unter dem Mannigfaltigen, das er sieht, einen Leichnam sieht. Der Anblick dieses Leichnams wirkt in seiner Seele so, daß er sich abwendet von der Maja der äußeren Welt. Der Leichnam wirkt abschreckend auf den Buddha. Und weil er den Tod, den Leichnam sehen muß, fühlt er sich gedrungen, von der Welt auf­zublicken zu einem andern, zu einem Göttlich-Geistigen, das nicht in der Welt zu finden ist. Der Anblick des toten Menschen ist der Aus­gangspunkt für den Buddha, die Welt zu verlassen und hinzuflüchten in ein außerweltliches Gebiet des Wirklichen.

Und jetzt wenden wir uns zu dem Zeitpunkte, der etwa sechs­hundert Jahre nach dem Mysterium von Golgatha liegt. Viele Men­schen blicken hin zu dem großen Symbolum: zu dem Kruzifixus, zu dem Kreuz, an dem der Leichnam hängt. Der tote Mensch wird angeschaut. Aber der tote Mensch wird angeschaut, nicht um zu fliehen, nicht um ihn zu verlassen und zu einer andern Wirklichkeit zu gehen, sondern in diesem toten Menschen sieht man dasjenige, zu dem man seine Zu­flucht nehmen soll. In zwölf Jahrhunderten hat sich die Menschheit so gewandelt, daß man lieben gelernt hat den Tod am Kreuze, den Tod, vor dem Buddha geflohen ist. Nichts kann einem für das Gemüt tiefer andeuten den großen Umschwung, der durch das Mysterium von Golgatha sich vollzogen hat, das in der Mitte zwischen diesen zwei

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Zeitpunkten drinnen liegt. Und indem wir unsere Gedanken in dieser Art zu dem Mysterium von Golgatha wenden, müssen wir desjenigen gedenken, was eigentlich da im Sinne ursprünglichen Christentums verehrt worden ist.

Paulus, ein Eingeweihter in die Mysterien seiner Zeit, konnte an den lebenden Jesus nicht glauben; er bekämpfte den lebenden Jesus. Als er dann auf seinem Wege nach Damaskus gewahr wurde, daß der Christus lebt, daß der Christus aus dem Dunkel der Welt sich offenbart, da glaubte Paulus nun nicht an den lebenden Jesus, aber an den auf­erstandenen Christus, und der lebende Jesus wurde ihm wert, weil er der Träger war des auferstandenen Christus. Aus dem Tod heraus quoll durch diese besondere Einsicht in den Weltzusammenhang für Paulus die Sicherheit in bezug auf das göttlich-geistige Leben.

Das hatte sich für die Menschheit vollzogen, daß, während man früher Trost empfangen hat, indem man von der Erde aufgeschaut hat zu den Sternen, woher das ewige Wort gesprochen hat, man jetzt hinblickte auf das geschichtliche Ereignis von Golgatha, daß man hin­blickte auf eine menschliche Hülle, die das Geheimnis des Daseins ent­hält. Und dieses Geheimnis des Daseins - der Apostel Johannes wollte es aussprechen mit den Worten: «Im Urbeginne war das Wort!»

Ja, im Urbeginne hat das Wort gesprochen aus dem Gang und der Stellung der Sterne. Aus dem Kosmos herunter ertönte es, dieses Wort. Dieses Wort ward aber nicht auf der Erde gefunden, dieses Wort drang herein aus Himmelsweiten, aus der Vaterheimat in und auf die Erde. Aber es wagte der Schreiber des Johannes-Evangeliums das Wort zu sprechen: «Und das Wort, es ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnet.» Das heißt, dasjenige, was da draußen in den Sternen lebt, in dem Körper hat es gewohnt, der am Kreuze gehangen hat. In einem Menschen sollte gesehen werden dasjenige, was früher in Welten-weiten gesucht worden ist. Zu den Menschen herabgestiegen sollte das­jenige sein, was nur im Lichtesglanz vorher auf die Erde herabge­flossen war. Die Lebensansicht wurde geleitet von einer weltenweiten Kosmologie zu einer Anschauung des Mittelpunktsmenschen, der durch­drungen war von dem, was aus den Sternen herunterleuchtete, der durchdrungen war von dem lebendigen Weltenworte.

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Daß man zu dem Ursprung des Weltlichen auch dadurch hin­blicken kann, daß man hineinsieht in das menschliche Innere des Jesus und ein inniges Verhältnis gründet von dem eigenen menschlichen Inneren zu diesem menschlichen Inneren des Jesus, wie man früher ein Verhältnis gegründet hat von dem auf der Erde lebenden Menschen zu dem ewigen Weltenworte, das aus den Sternen spricht, das ist der Sinn, der geoffenbart werden soll der Menschheit durch das Mysterium von Golgatha. Und es ist schon der wichtigste Einschnitt in die Erden-entwickelung, dieses Mysterium von Golgatha. Und es wird uns dieses angedeutet durch das Neue Testament.

Es ist von wunderbarer Tiefe, und es ist unermeßlich ergreifend, wie im Sinne der Evangelien - das eine Mal erzählt das eine, das andere Mal erzählt das andere Evangelium - die Menschen unterrichtet werden von der Erscheinung des Christus Jesus. Auf der einen Seite sind es die drei Weisen, die Magier aus dem Morgenlande, die Träger der alten Sternenweisheit, die Erkunder des Weltenwortes aus der Sternen-schrift des Kosmos. Sie sind begabt mit der höchsten Weisheit, die der Menschheit damals zugänglich war. Und angedeutet wird durch das Evangelium, wie die höchste Weisheit nichts anderes sprechen kann für den damaligen Zeitpunkt als: Der Christus Jesus erscheint, die Sterne sagen es uns. Das ewige Weltenwort, das in den Sternen kam, in Sternkonstellationen lebt, das sagt uns, daß der Christus Jesus er­scheinen wird.

In den Schulen, in den Weisheitsschulen wurde verkündet: 354 mal seit der Entstehung der gegenwärtigen Erdenmenschheit hat der Jupiter seine Planetenbahn vollendet. Ein Jupiterjahr, ein großes Jupiterjahr ist vollendet seit der Zeit, seit welcher zum Beispiel die alten Hebräer das Dasein der Menschheit auf Erden ansetzen. Im Sinne dieser da­maligen Weltanschauung hatte ein gewöhnliches Jahr 354 Tage. 354 Jupitertage sind verflossen und diese 354 Jupitertage sind etwas, was spricht aus der Weltenweisheit, wie der Satz, der große Satz, und die einzelnen Worte darinnen geben an die Umläufe des Merkurius, und sieben mal sieben ist neunundvierzigmal ein Merkurtag in derselben Zeit verflossen, in der ein Jupitertag verflossen ist.

Solche Zusammenhänge suchten diese alten Weisen in der Sternenschrift.

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Und was ihnen in die Seele inspiriert wurde durch solches Entziffern der Sternenschrift, das legten sie so aus, daß sie es in die Worte kleiden konnten: Der Christus Jesus erscheint, denn die Zeit ist erfüllet. Die Jupiterzeit, die Merkurzeit ist erfüllet. Der große Wel­tenzeitmesser, der in den Sternen sich befindet, spricht davon, daß die Zeit erfüllet ist. Das künden die Evangelien von der einen Seite. Von der andern Seite künden sie, wie auf dem Felde die armen Hirten aus dem Traum, der aus ihrem einfachen Herzen quillt, ohne alle Weisheit, bloß hinhorchend auf die fromme, einfältige Stimme der menschlichen Seele, was die armen Hirten aus dieser Tiefe der Menschenbrust heraus geoffenbart erhielten. Und es ist dieselbe Kundschaft: Der Christus erscheint.

Höchste Weisheit und äußerste menschliche Einfältigkeit klingen zusammen in dem Worte: Der Christus erscheint. - Die höchste mensch­liche Weisheit ist dazumal in der Dekadenz, die höchste menschliche Weisheit ist im Abglimmen. Im Aufglimmen ist dasjenige, was aus dem menschlichen Inneren selber kommt. Und aus dem menschlichen Inneren ist seither gekommen der Gedanke. Wir können ihn noch nicht bis zur Realität erheben, er ist uns noch eine Maja. Aber wir stehen heute vor der Notwendigkeit, immer mehr und mehr einzusehen, wie dieser Gedanke zur Realität kommen kann. Zu den Sternen hat der Mensch in der vorchristlichen Zeit aufgeschaut, um Realität zu empfinden. Zu dem Christus müssen wir schauen, um Realität für unser Inneres zu haben. «Nicht ich, der Christus in mir», das ist das Wort, das dem Gedanken innerlich Schwere, das dem Gedanken innerlich Realität geben wird.

Die Tlieologie des 19. Jahrhunderts hat immer mehr aus dem Christus Jesus die bloße menschliche Gestalt gemacht, die auch die äußere Ge­schichte anerkennen kann: Jesus, den schlichten, obwohl höchststehen-den Mann aus Nazareth. Der Christus aber ist verlorengegangen. Der wird erst erscheinen in seiner wahren Gestalt durch das Wiederauf-leben einer auf das Übersinnliche gehenden Weltanschauung, einer Lebensauffassung, die von dem Sinnlichen zu dem Übersinnlichen hin-schaut. In demselben Maße, in dem die Menschheit verloren hat aus dem Sinnlichen das Geistige, muß sie gewinnen in dem bis zur, allerdings

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leuchtenden, aber abstrakten Weise vorgedrungenen Gedanken die innere Realität.

Diese innere Realität wird sie gewinnen, indem sie in den Vorgängen, die sich abspielen in Anknüpfung an das Mysterium von Golgatha, auf unserer Erde selber etwas schaut, was nur durch übersinnliche Be­griffe vor die menschliche Seele hintreten kann. In demselben Maße, in dem man sich entschließen wird, das Mysterium von Golgatha durch übersinnliches Erkennen zu erfassen, in demselben Maße wird inner­halb der menschlichen Zivilisationsentwickelung der Christus neu ge­boren werden. Von dem Aufnehmen der übersinnlichen Erkenntnis darf die Menschheit erhoffen ein wirkliches perennierendes Bethlehem. Einen tiefen Sinn muß ein Ahnungswort bekommen, wie es etwa Angelus Silesius ausgesprochen hat:

Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geboren

und nicht in dir, du bleibst noch ewiglich verloren.

Aber nicht allein in leeren Redensarten, sondern in allem Wissen, in aller Erkenntnis muß der Christus geboren werden. Wir müssen in die Lage kommen, anzusehen dasjenige, was wir durch die bloße Weltbeobachtung gewinnen können, so, wie angesehen hat Paulus das­jenige, was ihm die äußere Welt war, bevor er an das Ereignis von Damaskus herangetreten ist, bevor er die Erdenwelt erfüllt geschaut hat von der Kraft des lebendigen Christus. Diese Kraft des lebendigen Christus müssen wir in alles Erkennen hineinbringen. Wir müssen durch-wärmen die kalte, abstrakte Erkenntnis, die uns hineingeführt hat in die Not der Gegenwart. Wir müssen durchdringen diese Erkenntnis mit der lebendigen Kraft des Christus.

Das ist etwas, was als eine bedeutsame Aufgabe der Gegenwart dasteht. Wir müssen das Gefühl haben, daß wir zu dem Christus erst hingelangen müssen. Wir müssen zu einer Verinnerlichung des Christus-Gedankens kommen. Wir müssen uns klar darüber sein, daß die Not der Zeit zu groß ist, um bloß an den äußerlichen Weihnachtsbräuchen festzuhalten. Wir müssen uns aufschwingen zu der Überzeugung, daß ein solches Festhalten gegenüber den sonstigen Anschauungen der heu­tigen Zeit eine Lüge ist. Wir müssen uns klar sein, daß die große Auseinandersetzung

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zwischen dem Osten und dem Westen auch auf gei­stigem Gebiete geschehen muß, daß die Maja des Ostens und die Maja des Westens, die Maja der äußeren Sinneswelt und die Maja des Ge­dankens, zu einer harmonischen Verständigung kommen müssen.

Wir dürfen nicht glauben, daß wir den Christus haben innerhalb unserer gegenwärtigen Zeit. Wir müssen uns vorkommen wie die armen Hirten, die sich ihrer Not bewußt waren. Wir müssen suchen den Christus in dem Innersten des menschlichen Wesens, wie die Hirten gesucht haben den Christus im Stall zu Bethlehem. Opfern müssen wir diesem Christus, der uns die Maja der Gedanken verwandelt in Wirk­lichkeiten. Wir müssen die Demut haben, uns zum Verständnis der Ge­burt Christi erst aufzuschwingen. Wir müssen wissen, daß wir erst ein Verstehen des Weihnachtsgedankens brauchen, bevor wir Weihnachten in der richtigen Weise werden würdigen können. Wir müssen alles, was die einzelnen Lebensgebiete sind, durchdringen mit der lebendigen Kraft des Christus. Wir müssen arbeiten, und wir werden die Feste am besten begehen, wenn wir arbeiten in der Not der Zeit, um im geistigen Sinne das zu bewirken, was als ein Symbolum, allerdings ein Symbolum der Wirklichkeit, von der Schädelstätte von Golgatha her historisch uns anblickt.

Und so müssen wir verstehen, daß für uns heute der wichtigste Weihnachtsgedanke der ist: Weltenweihnachten durch ein rechtes Ver­stehen des Christentums herbeizuführen. Diese innere Stimme, diese innere Sehnsucht, sie können uns hinübergeleiten im Sinne der heutigen Not der Zeit über die Weihenacht. Denn das Fest vom Jahresende, die Weihnachten, sie können heute nur lebendig werden, wenn man die Sehnsucht empfindet, diese Weihnachten als eine Aufforderung anzuschauen, hineinzublicken in dasjenige, was die Menschheit in ihrer Entwickelung braucht. So daß ausstrahlen kann für uns von dem Festes-gefühl, das wir in dieser Jahreszeit empfinden, etwas davon, daß wir durch die Kraft der inneren Wirklichkeitserfassung dessen, was für uns noch Maja ist, zu einer Auferstehung jener göttlich-geistigen Wirk­lichkeit kommen, die abgeglommen ist in älterer Zeit und die deshalb zur Anschauung von der Maja geführt hat.

In die Maja ist die Menschheit gekommen, in die äußere Maja. Aus

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der inneren Maja heraus muß die Menschheit zur wahren geistig-see­lischen Wirklichkeit sich entwickeln. Verstehen wir dieses, dann wird erfüllt der einzelne Weihnachtsgedanke zur Festeszeit von einem Welt­gefühl, das wir heute brauchen, wenn wir wahren Menschenwert und wahre Menschenwürde empfinden wollen. Dann strömt aus der Emp­findung gegenüber dem einzelnen Feste dasjenige in uns, was in uns das Geständnis herausfordert: Wir müssen feiern in der Zeit der Not so, daß wir allmählich die neuen Weihnachtslichter eines neuen Geistes­lebens sehen. Wir müssen feiern lernen nicht nur eine einzelne Weih­nachtszeit, wir müssen feiern lernen Weltenweihenacht.

DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI Zweiter Vortrag, 25. Dezember 1921

#G209-1968-SE144 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI

Zweiter Vortrag, 25. Dezember 1921

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Wer die geschichtliche Entwickelung der Menschheit nur nach der Folge von Ursache und Wirkung betrachtet, wie man es heute gewöhnt ist, der wird aus der Geschichte selber nicht dasjenige gewinnen können, was sie an Kräften, an Impulsen in ihrer Art für den einzelnen Men­schen sein kann, wenn man versucht, in das wahre Wesen dieses ge­schichtlichen Werdens einzudringen. Das geschichtliche Werden kann sich eigentlich nur demjenigen enthüllen, welcher in der Aufeinander­folge der Tatsachen ein weisheitsvolles Wirken wahrzunehmen in der Lage ist. Es ist heute schon fast so, daß man die Meinung hegt: Wer im Weltenzusammenhange überhaupt und insbesondere auch im geschicht­lichen Werden der Menschheit ein weisheitsvolles Geschehen sieht, gibt sich abergläubischen Vorstellungen hin und trägt etwas, was nur er selber ausgedacht hat, in die Dinge hinein. Allerdings darf man nicht dasjenige, was man selber ausgedacht hat, in die Dinge hineintragen. Man darf nicht in seiner Denkungsart den Dingen Gewalt antun, son­dern man muß versuchen, die Dinge durch sich selbst sprechen zu lassen. Gegenüber dem geschichtlichen Werden wird man aber, wenn man unbefangen genug dazu ist, überall und insbesondere an bedeut­samen Wendepunkten der Menschheitsentwickelung etwas wie eine wirkende Weisheit wahrnehmen.

Nun gehört zu dem, was sich herausentwickelt hat aus der Geschichte, vor allen Dingen die Feststellung der einzelnen Festtage des Jahres, namentlich der großen Festtage. Es muß schon auffallen, wenn wir gewahr werden, wie das Weihnachtsfest ein sogenanntes unbewegliches Fest ist, wie es jedes Jahr in die Nähe der Wintersonnenwende fällt, auf den 24. und 25. Dezember. Man muß dagegenstellen das Osterfest, das ein sogenanntes bewegliches Fest ist, das angeordnet erscheint nach der Konstellation von Sonne und Mond, dessen Feststellung also ge­wissermaßen aus dem außerirdischen Kosmos hereingeholt wird. Es ist doch so, daß, wenn der Mensch diese Festestage des Jahres ernst nimmt, sie für sein Leben eine Bedeutung haben, einschneidend sind

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in sein Leben. Das sollen sie ja auch sein. Es sollen bedeutungsvolle, eindringliche Gedanken auftauchen an diesem Es sollen aus dem Herzen und aus der Seele aufquellen tiefgehende Emp­findungen und Gefühle. Der Mensch soll sich gerade durch das, was er innerlich in solchen Festeszeiten erleben kann, verbunden fühlen mit dem Laufe der Zeiten und mit demjenigen, was wirkt im Laufe der Zeiten.

Nun sind aus gewissen geschichtlichen Untergründen heraus diese Festeszeiten fixiert, und man muß nachdenklich werden gegenüber einer solchen Tatsache, daß das Weihnachtsfest ein unbewegliches, das Osterfe&t ein bewegliches Fest ist, daß das Weihnachtsfest in die Zeit fällt, in der gewissermaßen die Erde am meisten abgeschlossen ist von den Einwirkungen des außerirdischen Weltenalls. Wenn die Sonne die geringste Wirkung auf die Erde hat, wenn die Erde aus ihren eigenen Kräften, die sie sich zurückbehalten hat aus der Sommer- und Herbstes-zeit, ihre eigentümliche Bekleidung für die kürzesten Tage hervorruft, wenn also die Erde aus sich selbst dasjenige macht, was sie mit ihren eigenen Kräften machen kann bei dem geringsten Einfluß vom Kosmos, da feiern wir das Weihnachtsfest.

Wenn wiederum die Zeit beginnt, in der die Erde die bedeutsamsten Einflüsse aus dem außerirdischen Kosmos erfährt, wenn die Wärme der Sonne, das Licht der Sonne hervorrufen aus dem Erdboden die Vegetation, wenn also sozusagen der Himmel mit der Erde zusammen-wirkt, um das Kleid der Erde zu weben, dann feiern wir das Osterfest. Und indem solche Feststellungen hervorgegangen sind aus Gedanken der Menschheit, die nicht in abstrakter Art von dem einen oder dem andern willkürlich gefaßt worden sind, sondern aus Gedanken, die ge­wissermaßen die Menschheit durch lange Epochen durchzogen haben, die sich selber entwickelt haben, ist in die geschichtliche Entwickelung etwas eingeflossen, das, wenn man es erkennt, zu gleicher Zeit die Möglichkeit hervorruft, es inniglich zu verehren, die Möglichkeit, hin­überzuschauen in die Vorväterzeiten in Ehrfurcht, in Hingebung, in Liebe. Und indem man auf so etwas aufmerksam macht, kann man eben schon sagen: Die Anschauung der wirkenden Weisheit im ge­schichtlichen Werden läßt erscheinen aus dieser Geschichte diejenigen

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Kräfte, diejenigen Impulse, die dann in der rechten Weise in die mensch­liche Seele sich einleben können, in der menschlichen Seele in der rich­tigen Weise wirken können.

Das Weihnachtsfest, wie wir es heute feiern in der kürzesten Zeit des Jahres, am 24. und 25. Dezember, so wird es in der christlichen Kirche erst gefeiert seit dem Jahre 354. Man denkt gewöhnlich nicht in eindringlicher Weise darüber nach, daß selbst im christlich-katho­lischen Rom im Jahre 353 das Weihnachtsfest, das Christi-Geburtsfest, nicht an diesem Tage gefeiert worden ist. Man möchte sagen, es gehört zu dem Interessantesten in der Geschichtsbetrachtung, zu sehen, wie sich aus einem Geschichtsinstinkt heraus und aus tieferen Weisheits­quellen, die vielleicht zum großen Teile unbewußt gewirkt haben, dieses Weihnachtsfest festsetzt.

Etwas Ähnliches, aber doch Grundverschiedenes, wurde vorher ge­feiert: der 6. Januar, der da war das Fest der Erscheinung Christi. Und dieses Fest der Erscheinung Christi bedeutete die Erinnerung an die Johannestaufe im Jordan. Dieses Fest der Johannestaufe im Jordan hatte man in den ersten Jahrhunderten in der Christenheit als das maßgebende gefeiert. Und erst von dem Zeitpunkte an, den ich ange­geben habe, wandert gewissermaßen das Erscheinungsfest Christi, das Erinnerungsfest an die Johannestaufe im Jordan, durch die zwölf hei­ligen Nächte zurück auf den 25. Dezember und wird ersetzt durch das Fest des Geburtstages des Christus Jesus. Das hängt zusammen mit tiefen, bedeutungsvollen inneren Vorgängen des geschichtlichen Wer­dens in der Christenheit.

Worauf deutet die Tatsache hin, daß in den ersten Jahrhunderten christlicher Weltauffassung die Erinnerung an die Johannestaufe im Jordan gefeiert worden ist? Was bedeutet diese Johannestaufe im Jor­dan? Diese Johannestaufe im Jordan bedeutet, daß aus Himmelshöhen, aus außerirdischen, kosmischen Gründen die Wesenheit des Christus sich heruntersenkt und sich verbindet mit der Wesenheit des Menschen Jesus von Nazareth. Diese Johannestaufe im Jordan bedeutet also eine Befruchtung der Erde aus kosmischen Weiten. Diese Johannestaufe im Jordan bedeutet ein Ineinanderwirken des Himmels und der Erde. Und indem man gefeiert hat das Fest der Erscheinung Christi, war das ein

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Fest einer übersinnlichen Geburt, das Fest der Geburt des Christus in dem dreißigjährigen Menschen Jesus.

Man hat in den ersten Jahrhunderten christlicher Entwickelung vor allen Dingen seine Aufmerksamkeit auf die Erscheinung des Christus auf der Erde gerichtet, und weniger Bedeutung hatte neben dieser An­schauung der Erscheinung eines außerirdischen Christus-Wesens im Bereich des Irdischen die Erdengeburt des Menschen Jesus von Naza­reth, der erst in seinem dreißigsten Jahre in seine eigene Leiblichkeit herein den Christus empfangen hat. So wurde das in den ersten christ­lichen Jahrhunderten vorgestellt. Man hat also in diesen Jahrhunderten gefeiert die Herabkunft des überirdischen Christus. Und man hat zu verstehen gesucht, was da eigentlich geschehen ist im Verlaufe des Erdenwerdens.

Wenn man die Geschichtsentwickelung bis zu dem Mysterium von Golgatha hin auf sich wirken läßt, so stellt sich diese so dar, daß die Menschheit in Urzeiten begabt war mit einer Urweisheit übersinnlicher Art, mit einer Urweisheit, vor der man die tiefste Ehrfurcht haben muß, wenn man sie in ihrer ganzen Innerlichkeit, in ihrer ganzen We­senheit zu betrachten in der Lage ist. In den ersten, nur äußerlich auf kindliche Art auftretenden Weistümern der Menschheit offenbart sich unendlich vieles nicht nur über das Irdische, sondern vor allen Dingen über das Außerirdische, und wie das Außerirdische auf die Erde wirkt. Dann sieht man, wie im Verlaufe der Menschheitsentwickelung dieses Licht einer Urweisheit in den Menschengemütern immer weniger und weniger leuchtet, wie die Menschen immer mehr den Zusammenhang mit dieser Urweisheit verlieren. Und abgeglommen, geschwunden aus dem menschlichen Gemüte ist diese Urweisheit gerade in derjenigen Zeit, in der das Mysterium von Golgatha herannahte. Alle Erschei­nungen des geschichtlichen Werdens im griechischen und insbesondere im römischen Leben zeigen auf die verschiedenste Art, daß gerade die Besten der Menschheit sich bewußt waren: es muß ein neues Himm­lisches in das Erdenleben einschlagen, damit die Erde mit der Mensch­heit ihre weitere Entwickelung finden könne.

Für den unbefangenen Betrachter zerfällt die gesamte Erdenent­wickelung der Menschheit eben in diese zwei Teile: in diejenige Zeit,

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die auf das Mysterium von Golgatha gewartet hat, gewartet hat nicht nur in den einfach-kindlichen Menschengemütern, sondern gewartet hat mit der höchsten Weisheit - und in denjenigen Teil, der sich dann anschließt an das Mysterium von Golgatha, in dem wir drinnenstehen und für den wir eine immer weitere und weitere Erfüllung wiederum der übersinnlichen Welt erhoffen, wiederum des Einflusses der außer­irdischen kosmischen Wirklichkeit auf das irdische Geschehen inner­halb der Erdenentwickelung. So steht das Mysterium von Golgatha mitten drinnen in der Erdenentwickelung, gibt der Erdenentwickelung den eigentlichen Sinn.

Ich habe versucht, dies öfters bildhaft zum Ausdrucke zu bringen für meine Zuhörer, indem ich sagte, man sehe sich einmal so etwas an, wie das bedeutsame, heute allerdings in seiner künstlerischen Vollen­dung nicht mehr vorhandene Bild von Leonardo da Vznci, das Abend­mahl in Mailand. Wie man da den Erlöser sieht innerhalb seiner Zwölf, wie man ihn da kontrastiert sieht auf der einen Seite mit dem Johannes, auf der andern Seite mit dem Judas, und wie man dann das Ganze in seiner Farbengebung vor sich hat. Da muß man gerade über dieses allercharakteristischste Bild aus der Anschauung des Mysteriums von Golgatha heraus sagen: Wenn irgendein Wesen aus einem fremden Himmelskörper auf die Erde herunterkäme, so würde es gegenüber dem, was es sieht in der äußeren Wirklichkeit, erstaunt sein, denn wir müssen annehmen, daß ein solches Wesen eines andern Planeten eine ganz andere Umwelt um sich hätte, und es würde erstaunt sein über alles dasjenige, was Menschenschöpfungen auf der Erde sind. Würde es aber hingeführt vor dieses Bild, in dem dieses Mysterium von Gol­gatha in der allercharakteristischsten Weise einmal zur Anschauung gekommen ist, dann würde es aus diesem Bilde unmittelbar intuitiv etwas aus dem Sinn des Erdendaseins empfinden, einfach durch die Art, wie der Christus Jesus unter seinen Zwölfen, die wiederum die Re­präsentanten des ganzen Menschengeschlechtes sind, hineingestellt ist.

Man kann eben aus den verschiedensten Untergründen heraus emp­finden, wie das Mysterium von Golgatha der Erdenentwickelung eigent­lich den Sinn gibt. Aber erst dann empfindet man völlig, daß dies der Fall ist, wenn man zu der Anschauung sich aufschwingen kann, daß

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mit der Johannestaufe im Jordan ein übersinnliches Wesen, eben der Christus, in einen Menschen eingezogen ist. So haben es - nicht mit derjenigen Weltanschauung, die wir uns heute wiederum durch Anthro­posophie zu erringen versuchen - die Gnostiker angesehen mit ihrer Weltanschauung, die noch der letzte Rest der alten Urweisheit der Menschheit war. Man möchte sagen, es ist so viel übriggeblieben aus der instinktiven Urweisheit der Menschheit, damit in den ersten christ­lichen Jahrhunderten, nachdem der Christus erschienen war, eine An­zahl von Menschen noch haben begreifen können, was eigentlich mit der Erscheinung Christi im Erdenwerden geschehen ist. Diejenige Weis­heit, welche die Gnostiker gehabt haben, kann nicht mehr die unsrige sein. Wir müssen, weil die Menschheit in einem fortwährenden Fort­schritte begriffen sein muß, zu einer viel bewußteren, zu einer weniger instinktiven Anschauung auch über das Übersinnliche weiterdringen. Aber wir blicken doch mit Ehrfurcht auf die Weisheit der Gnostiker hin, die sich noch so viel aus der ersten instinktiven Urweisheit der Menschen erhalten hatten, daß man die ganze Bedeutung des Myste­riums von Golgatha erfassen konnte.

Von diesem Erfassen der ganzen Bedeutung des Mysteriums von Golgatha und der Mittelpunktserscheinung, der Johannestaufe im Jor­dan, ging die Feststellung des ersten großen Festes hervor. Aber es war schon einmal so eingerichtet in der Entwickelungsgeschichte der Mensch­heit, daß die alte Urweisheit verglomm, abgelähmt wurde. Und gerade im 4. nachchristlichen Jahrhunderte war es so, daß man mit dieser Ur­weisheit nichts machen konnte. Ich habe gestern von einem andern Gesichtspunkte dargestellt, wie diese Urweisheit sich allmählich ver­dunkelt. Das 4. Jahrhundert ist in einem gewissen Sinne dasjenige, in dem der Mensch den ersten Anfang damit machte, ganz auf sich selbst gestellt zu sein, nichts um sich herum zu haben für seine Anschauung als dasjenige, was die Sinne auffassen können, was der kombinierende Verstand aus der Sinnesanschauung machen kann. Die Menschheit mußte gewissermaßen, um ihre Freiheit zu erringen, die niemals wegen der Abhängigkeit von überirdischen Dingen zu erringen gewesen wäre, wenn die Urweisheit nicht abgelähmt worden wäre, also um die Frei­heit zu erringen, mußte die Menschheit die alte Urweisheit verlieren,

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mußte in das materialistische Anschauen herausgeworfen werden. Dieses materialistische Anschauen erscheint in seiner ersten Morgenröte im 4. nachchristlichen Jahrhundert und wird immer stärker und stärker, bis es im 19. Jahrhundert seinen Kulminationspunkt erreicht.

Auch der Materialismus hat sein Gutes in der Entwickelungsge­schichte der Menschheit. Dadurch, daß der Mensch nicht mehr herein-leuchtend hatte das übersinnliche Licht in sein Gemüt, dadurch, daß er angewiesen war auf dasjenige, was er mit seinen Sinnen in der Um­welt sieht, dadurch wurde die selbständige, zur Freiheit hintendierende Kraft in ihm hervorgerufen. Auch das erschien weisheitsvoll in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit, daß der Materialismus her-aufgezogen ist. Aber gerade in der Zeit, in der der Materialismus sich des Erdenwesens des Menschen bemächtigte, da konnte man auch nicht mehr verstehen, wie die Einwirkung des Außerirdischen, des Himm­lischen, im Symbolum der Johannestaufe im Jordan sich vor die Mensch­heit hingestellt hat. Da verlor man sozusagen das Verständnis für den Sinn des Festes vom 6. Januar, des Festes der Erscheinung Christi, und man nahm zu anderem seine Zuflucht. Alles dasjenige, was man hatte an Empfindung, an Gefühlstiefe, die sich bezogen auf das Myste­rium von Golgatha, das bezog man nun nicht auf den überirdischen Christus, das fing man an zu beziehen auf den irdischen Jesus von Nazareth. Und aus dem Feste der Erscheinung Christi wurde das Fest der Erscheinung des Kindes Jesus. Allerdings hat die Entwicke­lung einen Verlauf genommen, der heute wiederum bei einer Peripetie angelangt ist, der für unsere heutige gegenwärtige Weltanschauung neue Notwendigkeiten im Menschheitsstreben erzeugen muß.

Wir sehen, wie zwar das weisheitsvolle Erfassen der Menschen schon im 4. Jahrhundert vor der Unmöglichkeit gestanden hat, die Erscheinung Christi zu erfassen. Aber das menschliche Gemüt, das menschliche Empfinden, das menschliche Fühlen und Wollen, sie ent­wickeln sich im Laufe der Geschichte mit einer geringeren Schnelligkeit als die Gedanken. Als die Gedanken schon längst nicht mehr hinten­dierten zu der Erscheinung Christi, da wandten sich noch die Herzen zu dieser Erscheinung Christi hin. Tiefinnige Gefühle lebten in der Christenheit. Und diese tiefinnerlichen Gefühle bildeten jetzt für lange

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Jahrhunderte den Inhalt der geschichtlichen Entwickelung. Und diese tiefinnerlichen Gefühle sprachen es - aber wie aus instinktiven Impul­sen heraus - aus, was Bedeutungsvolles mit der Erscheinung Christi für die Erdenentwickelung sich vollzogen hat. Man hat angeschlossen das Fest des Geburtstages des Jesus von Nazareth an den Adam- und Eva-Tag, das Fest des Erdenanfanges der Menschheit. Der Adam- und Eva-Tag fällt auf den 24. Dezember, das Jesu-Geburtstagsfest auf den 25. Dezember. In Adam und Eva sah man die Menschen, mit denen die Erdenentwickelung ihren Anfang genommen hat, die Menschen, die hinuntergestiegen sind aus geistigen Höhen, die auf der Erde sündig geworden sind, die auf der Erde verstrickt worden sind in das materielle Geschehen, die verloren haben ihren Zusammenhang mit den über­sinnlichen Welten. Der erste Adam, von ihm sprach man im pauli­nischen Sinne; und von dem zweiten Adam sprach man als von dem Christus: daß der Mensch nur da ganz Mensch sein kann in der nach­christlichen Zeit, wenn er die Kräfte, die durch Adam von Gott abge­fallen sind, und die Kräfte, die durch Christus ihn wieder zurück­bringen zu dem Gotte, wenn er diese beiden Kräfte in sich vereinigt. Das wollte man ausdrücken, indem man aneinanderrückte das Adam­und Eva-Fest und das Jesu-Geburtstagsfest. Die Empfindung von die­sem Zusammenhange, der dem Erdenleben seinen eigentlichen Sinn gibt, hat sich in inniglicher Weise durch Jahrhunderte erhalten.

Ein Beispiel davon ist das Auftreten der so innigen Paradeisspiele, Christi-Geburtspiele, von denen wir hier Proben zur Aufführung ge­bracht haben, die da stammen aus dem letzten Mittelalter, aus der beginnenden Neuzeit, wo vorher mehr in westlichen Gegenden woh­nende deutsche Stämme sie nach dem Osten mitgenommen haben. Im heutigen Ungarn siedelten sich solche Stämme an. Wir finden solche Stämme nordwärts von der Donau in der Preßburger Gegend, wir fin­den sie südwärts von den Karpathen in der sogenannten Zipser Gegend, wir sehen sie in Siebenbürgen. Wir finden in diesen Gegenden vorzugs­weise alemannisch-sächsischeStämme.Wir finden dann imBanatschwä­bische Stämme. Alle diese deutschen Stämme haben sich dasjenige Gut mitgenommen aus ihrer ursprünglichen Heimat, in das hineingelegt worden war aus innigster Herzensempfindung, was die Menschheit

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in diesen Jahrhunderten zusammengeschlossen hat mit dem wichtigsten Erdenerlebnis.

Aber die Weisheit der Menschen nahm immer mehr einen Gang, der auch das Christus-Ereignis in die materialistische Auffassung der Welt verflocht. Wir sehen im 19. Jahrhundert eine Theologie heraufziehen, die selber materialistisch ist. Es beginnt die Evangelienkritik. Man ver­liert die Möglichkeit, eine Ahnung davon zu haben - wie es in über­sinnlichen Darstellungen sein muß -, daß dasjenige, was als Ima­gination vom Übersinnlichen auftritt, verschieden ist, je nachdem man es von dem einen oder andern Gesichtspunkt auffaßt. Man hat keinen Begriff davon, daß auch die Weisen früherer Jahrhunderte die sogenannten Widersprüche in den Evangelien gesehen haben müssen und daß sie von ihnen nicht in kritischer Weise gerügt worden sind. Man versenkt sich philiströs in diese Widersprüche in den Evangelien. Man löst die Widersprüche auf, man entfernt aus den Evangelien alles Übersinnliche. Man verliert den Christus aus der Evangeliengeschichte. Man versucht, aus der Evangeliengeschichte etwas zu machen wie eine gewöhnliche profane Geschichte. Man kann nach und nach nicht mehr unterscheiden, was die theologischen Historiker sagen, von demjenigen, was ein weltlicher Historiker wie etwa Ranke sagt über das Mysterium von Golgatha.

Wenn man bei dem berühmten Historiker Ranke die Jesus-Gestalt sich aufsucht, wie er sie darstellt als den schlichten, aber hervor­ragendsten Menschen, der jemals über die Erde geschritten ist, wenn man all die liebevoll geschilderten Züge der Rankeschen profanen Ge­schichte über den Jesus liest, so unterscheidet sich dieses innerlich kaum mehr von dem, was die dem Materialismus verfallenen Theologen des 19.Jahrhunderts über die Jesus-Gestalt zu sagen haben. Die Theo­logie wird materialistisch. Der Christus verschwindet gerade für die aufgeklärte Theologie aus der Menschheitsanschauung. Der «schlichte Mann aus Nazareth» wird allmählich dasjenige, worauf einzig und allein diejenigen hinweisen wollen, welche das Wesen des Christen­tums zu schildern unternehmen. Und berühmt geworden ist ja die Schilderung des Wesens des Christentums von Adolf Harnack.

In diesem Buche «Das Wesen des Christentums» von Adolf Harnack

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befinden sich zwei Stellen, die nun wirklich eigentlich niederschmet­ternd sein können für denjenigen, welcher einen Sinn hat für das wirk­liche Wesen des Christentums. Das eine ist, daß dieser christlich-sein­wollende Theologe sagte: Der Christus gehöre eigentlich nicht in die Evangelien, der Sohn gehöre nicht in die Evangelien; in die Evangelien gehöre einzig und allein der Vater. - Und so wird der Christus Jesus, der im Beginne unserer Zeitrechnung über den Boden von Palästina wandelte, so wird der Christus Jesus einfach der menschliche Ver­künder der Vaterlehre. Der Vater allein gehört in die Evangelien -, so sagt Adolf Harnack und glaubt damit ein christlicher Theologe zu sein! Man muß sagen: Das Wesentliche des Christentums ist aus diesem «Wesen des Christentums», ich meine dasjenige, was Adolf Harnack schildert, ganz hingeschwunden, und eigentlich dürfte sich eine solche Anschauung nicht mehr christlich nennen.

Das andere, was niederschmetternd wirken kann in dieser Schrift «Das Wesen des Christentums», trat mir einmal entgegen, als ich an­wesend war bei einem Vortrage, der gehalten wurde in einer Gesell­schaft, die sich Giordano-Bruno-Gesellschaft nannte. In Anknüpfung an Ausführungen eines dortigen Redners mußte ich sagen, wie dasWichtigste vom Wesen des Christentums der neueren Theologie entschwunden ist. Ich mußte hinweisen auf die Bemerkung des Harnack in diesem Buche «Das Wesen des Christentums», wo er sagt: Was auch geschehen sein mag im Garten von Gethsemane, der Auferstehungsgedanke, der Oster­glaube ist aus diesem Ereignis hervorgegangen; und an diesen Glauben wollen wir uns halten. - Es ist also den modernen christlichen Theo­logen gleichgültig geworden die Auferstehung selbst. Sie wollen sich nicht um diese Auferstehung selbst als eine Tatsache bekümmern. Was auch geschehen sein mag im Garten von Gethsemane, die Menschen haben zu glauben begonnen, daß dort die Auferstehung gewesen sei, und nicht an die Auferstehung, sondern an diesen Glauben wollen wir uns halten.

Ich habe damals darauf hingewiesen, daß das Wesentliche des Christentums ausgesprochen worden ist durch Paulus, der da sagte aus seinen Erfahrungen vor Damaskus heraus: Und wäre der Christus nicht auferstanden, wir wären alle verloren. - Nicht der Mensch Jesus

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ist das Wesentliche am Christentum, sondern die übersinnliche Wesen­heit, die durch die Johannestaufe im Jordan eingezogen ist in den Menschen Jesus, die aus dem Grabe zu Gethsemane sich erhoben hat, und die denjenigen sichtbar geworden ist, die für diese Sichtbarkeit Fähigkeiten gehabt haben. Paulus als dem Spätesten derselben ist sie sichtbar geworden, und auf den auferstandenen Christus beruft sich Paulus. Ich mußte also darauf aufmerksam machen dazumal, wie durch die Bemerkung eines der berühmtesten modernen sogenannten christli­chen Theologen gerade das Wesentliche an dem Christentum, seine über­sinnliche Art, nicht gesehen wird. Der Vorsitzende der Gesellschaft erwiderte mir dazumal in höchst eigentümlicher Weise. Er sagte mir:

Das könne in dem Harnackschen Buche gar nicht stehen, denn Harnack sei ein protestantischer, ein evangelischer Theologe, und wenn Harnack so etwas behaupte, so käme das gleich jener Behauptung, die nur von katholischer Seite ausgehen könne, zum Beispiel über den heiligen Rock zu Trier. Für den Katholiken käme es nicht darauf an, ob man wirklich nachweisen könne, daß dieser heilige Rock zu Trier wirklich aus Jerusalem stamme, sondern es komme darauf an, daß sich der Glaube an diesen heiligen Rock anknüpft. - Der Vorsitzende dieser Gesellschaft war so befangen, daß er gar nicht zugab, daß diese Be­merkung in dem Harnackschen Buche steht. Ich sagte ihm, ich wolle ihm am nächsten Tage, da ich das Buch jetzt nicht zur Hand habe, auf einer Postkarte die Seitenzahl schreiben. Für die moderne Gründlich­keit, mit der Bücher gelesen werden, die in allererster Linie eine Wich­tigkeit haben, ist das außerdem noch charakteristisch. Man liest ein Buch, glaubt, daß es einen bedeutenden Eindruck auf das Leben macht, und es fällt einem eine der wichtigsten Bemerkungen gar nicht einmal auf, sondern man hält es für unmöglich, daß sie drinnenstehen könnte. Sie steht nämlich drinnen! Das alles aber beweist uns, wie der über­sinnliche Christus herausgeworfen worden ist durch die immer mate­rialistischer werdende Theologie aus der Menschheitsentwickelung, wie man sich nur an das äußerlich physische Erscheinen des Menschen Jesus gehalten hat.

Nun, die Festesgebräuche und Festesweihen der einfach schlichten Gemüter, die zu den Weihnachtsspielen griffen, sie waren schön; sie

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gingen aus heiligen Gefühlen hervor. Wenn die Menschen sich auch nicht mehr Aufschluß geben konnten über den ganzen Sinn des Myste­riums von Golgatha, im Gefühle hatten sie ihn auch da, wo sie sich äußerlich an das materielle Erscheinen des Kindes Jesus hielten. Und in dieser Art dargestellt, ist das Christi-Geburtsfeiern schön, innig.

Der Gedanke, der in dem Menschen Jesus den Christus zerstört, der ist nicht schön und er ist vom höchsten Gesichtspunkte auch der christ­lichen Weltanschauung aus nicht wahr. Es ist, als ob die weisheitsvolle Führung der Menschheit zunächst Rechnung getragen hätte demjenigen, was geschehen mußte, damit die materialistische Anschauung und da­mit die Entwickelung der Menschheit zur Freiheit den Anfang nehmen und weitergehen könne. Geradeso wie überhaupt der Materialismus kommen mußte zur Befreiung der Menschheit, geradeso mußte das nur durch übersinnliche Anschauung verständliche Christi-Erschei­nungsfest vom 6. Januar zurückverlegt werden zu dem Jesu-Geburts­tagsfest am 25. Dezember.

Die zwölf heiligen Nächte liegen dazwischen. Gewissermaßen den Rückweg durch den ganzen Tierkreis machte die Menschheit durch, indem sie, wenigstens im Symbolum, eine Zwölfzahl durchmachte beim Verlegen dieses Festes.

Wir können heute, indem wir alles dasjenige zusammenfassen, was sich durch den Menschen Jesus für uns an den Christus knüpft, heute gewiß alle Innigkeit, alle Tiefe der Empfindung am Weihnachtsfest entfalten. Und dem, was in dieser Beziehung der heutigen Zeit frommt, wollte ich in meiner gestrigen Weihnachtsbetrachtung durch Worte Ausdruck geben. Aber wir müssen, nachdem der Materialismus in der Theologie seine höchsten Triumphe gefeiert hat, nachdem der Christus Jesus gerade für die aufgeklärte Theologie bloß zu dem schlichten Men­schen Jesus geworden ist, wiederum den Weg zurückfinden zu dem Ahnen des übersinnlichen, außerirdischen Christus-Wesens.

Wenn man mit dieser Anschauung kommt, dann macht man sich gerade die materialistisch geartete Theologie der heutigen Zeit zum Feinde. Geradeso wie die Sonne materiell ihr Licht heruntersendet aus außerirdischen kosmischen Weiten, so stieg als die Geistessonne der Christus herab zu den Menschen und vereinigte sich mit dem Jesus von

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Nazareth. Geradeso wie man in der äußeren Physiognomie des Men­schen, in seinen Gesichtszügen, in seinem Gebärdenspiel die Offenbarung seines Seelisch-Geistigen sieht, so kann man sehen an demjenigen, was sich im Kosmos abspielt, in denjenigen Gebärden, die hineingezeichnet sind in den Kosmos durch den Lauf der Sterne, in demjenigen, was als innere Seelenwärme des Weltenalls sich äußerlich zur Erscheinung bringt durch die Bestrahlung der Sonne, in dem kann man sehen die äußere Physiognomie für das, was geistig-seelisch die ganze Welt durch­tränkt. Und man kann in dem, was sich konzentriert in geistiger Be­ziehung in dem Herabsteigen des Christus auf die Erde, sehen das Innerliche für das äußerlich Physiognomische des Herabfließens der konzentrierten Sonnenstrahlen auf die Erde. Und man wird in der rechten Weise verstehen, wenn gesagt wird: Das Sonnenwesen des Christus stieg auf die Erde herab.

Zu diesem übersinnlichen Verstehen des Christus müssen wir wieder kommen. Wir müssen trotz der inniglichen Verehrung, die wir uns be­wahren wollen für das Jesu-Geburtstagsfest, für dasjenige, wozu das Weihnachtsfest allein geworden ist, wiederum den Sinn hinlenken ler­nen zu der andern Geburt, die da sich vollzieht als eine außerirdische Geburt durch die Johannestaufe im Jordan. Wir wollen ebenso verstehen lernen dasjenige, was durch die Johannestaufe im Jordan in einem be­deutsamen geschichtlichen Symbolum vor unsere Seele tritt, wie das­jenige, was geschehen ist im Stall von Bethlehem oder auch zu Naza­reth. Wir wollen die Worte, wie sie das Lukas-Evangelium mitteilt, in der richtigen Weise auffassen lernen: Dieser ist mein Sohn, heute ist er mir geboren. - Wir wollen verstehen lernen das Weihnachts-mysterium in der Weise, daß es für uns wieder werde der Quell des Verständnisses für die Erscheinung Christi auf Erden. Wir wollen zu der Erinnerung an die physische Geburt das Verständnis für die Geist-geburt hinzulernen.

Nur allmählich, aus einer überhaupt geistigen Erfassung der Ge­heimnisse des Weltenalls, wird ein solches Verständnis hervorgehen können. Wir müssen uns allmählich wiederum zu einer spirituellen Auffassung des Mysteriums von Golgatha hinringen. Dazu allerdings brauchen wir die Einsicht über die Entstehung solcher Impulse innerhalb

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des Erdenwerdens der Menschheit, wie einer da war im 4. nach­christlichen Jahrhundert, in dem man verlegt hat aus dem innersten Bedürfnisse der sich entwickelnden Menschheit heraus das Christi­Erscheinungsfest vom 6. Januar auf den Tag des Jesu-Geburtstages am 25. Dezember. Man muß anschauen lernen, wie da die weisheits­volle Lenkung der Geschichte der Menschheit wirkt. Man muß lernen, mit dem ganzen Menschen sich hinzugeben an dieses geschichtliche Werden. Dann wird man schon ohne Aberglaube, und ohne daß man selbstgemachtes Phantastisches in die Geschichte hineinträgt, die weis­heitsvolle Führung in der Geschichte der Menschheit erkennen. Man muß lernen, nicht nur mit abstrakten Ideen sich in die Geschichte zu vertiefen und Ursache und Wirkung anzuschauen, sondern man muß lernen, mit dem ganzen Menschen sich hinzugeben an dieses geschicht­liche Werden. Dann wird man dasjenige erst verstehen, was unsere Zeit zu einer wirklichen Übergangszeit macht, zu einer Zeit, in der sich aus der materialistischen Anschauung wiederum herausringen muß eine spi-rituelle Weltanschauung, wieder herausringen muß eine naturgemäße Erhebung zu dem Übersinnlichen. Und ein Ausdruck für diese Er­hebung zu dem Übersinnlichen wird ein neues Verständnis der Erschei­nung Christi auf Erden, des Mysteriums von Golgatha sein.

So ist für den heutigen Menschen, der wirklich sich in den Geist der Zeit hineinzuvertiefen vermag, das Weihnachtsfest ein Zweifaches:

Es ist dasjenige, was durch die neueste Geschichte seit dem 4. nachchrist­lichen Jahrhundert heraufgezogen ist, dasjenige, was so wunderbare Schönheiten hervorgebracht hat gerade im einfachen, schlichten Volks­tum, dasjenige, was uns heute noch immer ein innigliches Entzücken ablockt, wenn wir es wieder schauen in der Erneuerung solcher Volks­spiele, wie wir sie gerade aus unserer anthroposophischen Wissenschaft heraus versuchen. Es ist alles das, was sich an menschlicher Herzlich­keit ergossen hat in das Leben durch diejenigen Jahrhunderte hindurch, während welcher der Gedanke an das Christentum immer materia­listischere Formen angenommen hat, bis er im 19.Jahrhundert so weit gekommen ist, daß er durch sein eigenes Absurdes umschlagen und wiederum zum Spirituellen zurückkommen muß. - Das gibt uns als heutigen Menschen das Zweite am Weihnachtsfeste: zu der Empfindung,

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die wir dem traditionellen Weihnachten, das seit dem 4. nach­christlichen Jahrhunderte heraufgezogen ist, entgegenbringen, zu die­sem Herzinniglichen, das wir mitempfinden wollen, soll aus unserem zeitgemäßen Verständnisse heraus ein neues Weihnachten geboren wer­den, ein zweites Weihnachten zu dem alten Weihnachten.

Der Christus soll durch die Menschheit neu wiedergeboren werden. Das Weihnachtsfest soll der Erinnerung nach ein Jesu-Geburtstagsfest sein; dem Geiste nach soll es werden ein Geburtsfest einer neuen Christus-Auffassung, neu nicht gegenüber den ersten Jahrhunderten, sondern neu gegenüber den Jahrhunderten seit dem 4. nachchristlichen. Und so soll das Weihnachtsfest selber nicht nur ein Geburtserinnerungs­fest sein, sondern es soll werden, indem es in der nächsten Zeit von Jahr zu Jahr erlebt wird, ein unmittelbares gegenwärtiges Geburtstags-fest, das Fest eines gegenwärtigen Geschehens. Diese Geburt der neuen Christus-Idee soll sich vollziehen. Und das Weihnachtsfest soll in sich die Intensität gewinnen, daß der Mensch jedes Jahr neu sich gerade zu dieser Zeit ganz besonders darauf besinnen könne: Es muß eine neue Christus-Idee geboren werden.

Aus einem Erinnerungsfest muß das Weihnachtsfest ein Fest der Gegenwart, eine Weihenacht werden für dasjenige, was der Mensch in seiner unmittelbaren Gegenwart als eine Geburt miterlebt. Dann wird das wirklich in unser neueres geschichtliches Werden einziehen, dann wird es sich immer mehr und mehr erkräftigen in diesem ge­schichtlichen Werden der Menschheit auch in die Zukunft hinein, die es so nötig haben wird, dann wird werden Weltenweihenacht.

DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI Dritter Vortrag, Basel, 26. Dezember 1921

#G209-1968-SE159 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

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DAS FEST DER ERSCHEINUNG CHRISTI

Dritter Vortrag, Basel, 26. Dezember 1921

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Das Fest der Weihenacht war durch Jahrhunderte für die ganze Chri­stenheit ein Fest wichtigster Erinnerung. Und wenn wir dieses Fest der Weihenacht als ein Erinnerungsfest auffassen, dann müssen wir an alles das denken, was sich mit diesem Feste innerhalb der Gefühle, der Empfindungen der Menschheit durch Jahrhunderte verbunden hat. Wir gedenken, wie dieses Fest des 25. Dezembers bis ins 4. Jahrhundert her­ein innerhalb der christlichen Entwickelung nicht vorhanden war, und wie in diesem 4.Jahrhunderte, zum ersten Male im Jahre 354 in Rom, das Fest des Geburtstages Jesu gewissermaßen vor die christliche Menschheit hingestellt worden ist, um damals der Zeit einen bedeu­tungsvollen Tribut zu bringen. Denn daß ein solcher Tribut der Zeit in diesem 4. Jahrhundert gerade werden mußte, das liegt durchaus in den christlichen Instinkten der Menschheitsentwickelung.

Heran brausten gegen die südeuropäische Entwickelung die nor­dischen Völker. Es lebte auch noch vieles von dem, was heidnischer Brauch war, im weiten Umkreise in den südlichen Gegenden Europas, in den römischen, in den griechischen Gegenden. Es lebte auch vieles von den heidnischen Bräuchen in Nordafrika, in Kleinasien, kurz an denjenigen Stätten, in die hinein allmählich der christliche Gedanke und die christlichen Empfindungen einzogen. Aber das Christentum war von jeher darauf angelegt, nicht eine sektiererische Strömung für diesen oder jenen Menschenkreis zu sein, sondern, wie sehr sich ihm auch verschiedene Dinge innerhalb wie außerhalb seines Bereiches ent­gegengestellt haben, das Christentum war von vorneherein darauf an-gelegt, eine Seelen-, eine Herzensnahrung für alle Menschen zu werden.

Innerhalb der heidnischen Kreise vom Norden und vom Süden lebte noch jenes religiöse Bewußtsein, welches die Göttergewalten mit den Sternen verband, die mächtigste Göttergewalt mit der Sonne. Und es lebte innerhalb dieser heidnischen Anschauung der Gedanke, daß, wenn die Erde zur Zeit der Wintersonnenwende ihre finstersten Tage hat, zugleich der Augenblick herangerückt ist, wo die Sonne ihre siegende

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Kraft für alle Erden fruchtbarkeit wieder zu entwickeln beginnt. Diese Empfindung des Auf-sich-selbst-Angewiesenseins der Erde, der Abgeschlossenheit der Erde von den kosmisch-göttlichen Mächten, diese Empfindung gewissermaßen der Welteinsamkeit der Erde, sie wurde abgelöst in diesem Augenblicke der Wintersonnenwende von der Emp­findung der Hoffnung: Ja, es kommen wieder die segensvollen Licht-und Liebewirkungen aus dem Sonnenbereich und wecken alles Frucht­bare der Erde neu auf.

In innigem Zusammenhange mit einer solchen Empfindung stand für den Menschen die Auffassung seines eigenen Seelenwesens. Er fühlte sich gerade innerhalb der alten heidnischen Religionen mit der Erde innig verbunden. Er fühlte sich gewissermaßen als Glied der Erde; er fühlte das Erdenleben fortgesetzt in sein eigenes Leben hinein. Und so fühlte sich der Mensch, während die Erde im Sommer ihre bedeut­samsten Wärme- und Lichteinwirkungen aus dem Himmelsbereich der Sonne erhielt, wie hingegeben an jenen Bereich, aus dem die leuchten­den und wärmenden Sonnenstrahlen zur Erde herunterkommen. Und der Mensch fühlte sich während der Hochsommerzeit hingegeben an die Weltenweiten. Zur Zeit der Wintersonnenwende fühlte er sich innig verbunden mit der Erde, mit alldem, was die Erde aus der Zeit des wärmenden, des leuchtenden Sommers bewahrt hat. Gewissermaßen einsam im Weltenall fühlte sich zunächst der Mensch mit seiner Erde, und er fühlte tatsächlich das Wiederherabkommen des Göttlich-Gei­stigen in den Erdenbereich zu dieser Zeit der Wintersonnenwende.

So hatte der Mensch das, was ihn in seinem Empfinden, in seinem ganzen Seelen- und Geistesleben am innigsten mit der Allheit des Kos­mos zusammengebracht hatte, in den Gedanken dieses Festes hinein-gedrängt. Und weil die Christenheit auf ein Teuerstes stieß mit diesem Wintersonnenwendefest, konnte es nicht anders kommen, als daß die Christenheit selbst den Völkern, die ihr entgegentraten, ihr Teuerstes hingab an diesem Wintersonnenwendefest. Dieses Teuerste war ja im Sinne jener Wendung, die geschehen war zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, dieses Wichtigste war für die Christenheit geworden die Erinnerung an die Geburt Jesu.

Was bedeutete es für den Bekenner des Alten Testamentes, wenn

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er das ganze Mysterium des Menschenlebens und seinen Zusammen­hang mit dem Menschentode dadurch aussprach, daß er sagte: Wenn die Seele durch die Todespforte geht, begibt sie sich auf den Weg, durch den sie mit den Vätern wiederum vereinigt wird. - Eine Sehnsucht nach dem Hingange zu den Vätern, das war eine teure Empfindung gemäß den Anschauungen des Alten Testamentes. Und im Laufe der vier ersten Jahrhunderte der Christenheit verwandelte sich dieses Hin-blicken auf die Gemeinschaft der Väter in ein Hinblicken auf die Ge­burt derjenigen Wesenheit, welche die Christenheit zusammenhält. Es verwandelte sich die Empfindung des Alten Testamentes in den Hin­blick nach Nazareth oder Bethlehem, in den Hinblick auf die Geburt des Jesuskindes.

So hatte gewissermaßen das Christentum durch die Festsetzung des Weihnachtsfestes im 4. nachchristlichen Jahrhunderte der Vereinigung der Menschen auf dem Erdenrunde seinen Tribut gebracht, hatte eine teuerste Empfindung mit dem Weihnachtsfeste verbunden. Und wenn wir weiter sehen, wie dieses Weihnachtsfest durch die Jahrhunderte gefeiert wird, so sehen wir überall, wie in der Zeit, da dieses Fest her­annaht, eine wirkliche Durchdringung der Menschenseelen innerhalb der Christenheit mit liebender Hingabe an das Jesuskind verbunden wird. Wir sehen in dieser liebenden Hingabe etwas ganz Besonderes geoffenbart im Laufe der christlichen Jahrhunderte, die sich an das 4. nachchristliche anschlossen. Wir müssen wirklich mit innigem Ver­ständnis hinblicken auf diese Festsetzung des Weihnachtsfestes auf den 25. Dezember, auf die Wintersonnenwende ungefähr. Denn noch 353 wurde selbst in Rom das Christfest nicht am 25. Dezember begangen und nicht als ein Geburtstag des Jesus von Nazareth oder Bethlehem, sondern es war da üblich, das Fest des 6. Januars zu begehen. Dieses Fest sollte das Erinnerungsfest sein an die Johannestaufe im Jordan, das Fest der Erinnerung an den Christus. Und mit der Erinnerung ver­band man die Vorstellung, daß durch die Johannestaufe im Jordan aus außerirdischen Welten, aus Himmelswelten herein sich das außer-irdische Christus-Wesen verbunden hatte mit dem menschlichen Wesen des Jesus von Nazareth.

Diese nicht gewöhnliche Geburt, sondern dieses Heruntersteigen des

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Christus-Wesens zur Neubefruchtung des irdischen Daseins, das feierte man. Man wollte sich bewußt werden, an diesem Tage der Erscheinung Christi, des Geheimnisses, daß ein Himmlisches sich mit der Erde ver­bunden hatte, daß die Menschheit durch diesen himmlischen Einschlag einen neuen Entwickelungsimpuls erhalten hatte. Dieses Geheimnis des Herunterstrdmens eines überirdischen Himmlischen in das irdische Da­sein wurde noch verstanden zur Zeit, als das Mysterium von Golgatha stattfand und einige Zeit nachher. Es waren in dieser Zeit noch Reste alter Urweisheit vorhanden, die sich bis zum Verstehen einer solchen nur im Übersinnlichen erkennbaren Tatsache erhoben. Die alte instinktive Erkenntnis, die Urweisheit, welche die Menschheit bei ihrer Entstehung auf der Erde wie ein Göttergeschenk mitbekommen hatte, diese Urweis­heit ging allmählich der Menschheit verloren. Sie wurde immer ge­ringer im Laufe der Jahrhunderte. Aber zur Zeit des Mysteriums von Golgatha war gerade noch soviel von ihr vorhanden, daß man das Gewaltige einsehen konnte, was mit diesem Mysterium von Golgatha geschah.

So wurde denn das Mysterium von Golgatha in den ersten Jahr­hunderten in Weisheit aufgefaßt. Diese Weisheit war fast vollständig verglommen im 4. nachchristlichen Jahrhundert. Man mußte auf ande­res Rücksicht nehmen, auf das, was einem die Heiden von allen Seiten her entgegenbrachten, und man konnte für das tief Geheimnisvolle der Vereinigung des Christus mit dem Menschen Jesus kein Verständnis mehr gewinnen. Gewissermaßen verlor für den menschlichen Seelen-blick das eigentliche Mysterium von Golgatha die Möglichkeit des Verständnisses. Und so blieb es für die folgenden Jahrhunderte. Die Urweisheit ging der Menschheit verloren. Sie mußte verlorengehen, weil aus dieser Urweisheit der Mensch sich niemals seine Freiheit, sein Auf-sich-selbst-Gestelltsein hätte erringen können. Der Mensch mußte gewissermaßen eine Weile in die Finsternis eintreten, um aus dieser Finsternis heraus sich die ureigenen Selbstkräfte in Freiheit zu erringen. Aber der christliche Instinkt hat an die Stelle der Weisheit, mit der das Mysterium von Golgatha innerhalb der christlichen Welt begrüßt wor­den ist, mit der über das Mysterium von Golgatha in einer gewissen Weise diskutiert worden ist, bis man es später nicht mehr verstand, der

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christliche Instinkt hat an die Stelle dieser Weisheit etwas anderes gesetzt.

Die Christenheit von heute hat nur noch wenig Verständnis für jene tiefgründigen Diskussionen, die in den ersten christlichen Jahr­hunderten unter den weisen Vätern der Christenheit stattgefunden haben: wie die zwei Naturen, die göttliche und die menschliche, in der Persönlichkeit des Jesus von Nazareth vereinigt waren. Das war etwas, was zu einer lebendigen Weisheit in den ersten christlichen Jahrhunder­ten sprach, was nachher in leere Abstraktionen übergegangen ist. Und von jenem heiligen Eifer, mit dem man verstehen wollte, wie das Gött­liche und das Menschliche in dem Mysterium von Golgatha sich ver­einigt haben, von jenem heiligen Eifer ist in der Christenheit des Abend­landes wenig übriggeblieben. Aber der christliche Impuls ist ein mäch­tiger, der christliche Impuls ist ein gewaltiger. Und so setzte sich denn an die Stelle der Weisheit, mit der das Mysterium von Golgatha begrüßt worden ist, als es über die Erde hinleuchtete, die Liebe. Und es ist wunderbar, welche Fülle von Liebe aufgebracht worden ist im Lauf der Jahrhunderte der christlichen Entwickelung im Hinblicke auf das Jesuskindlein, auf sein Liegen in der Krippe. Es ist wunderbar, wie diese Liebe nachwirkt in den Weihnachtsspielen, die in einer so herr­lichen Weise zu uns heraufleuchten aus früheren christlichen Jahr­hunderten.

Wer das alles auf seine Seele wirken läßt, der begreift, wie stark das Weihnachtsfest ein Erinnerungsfest war. Wer das alles auf sich wirken läßt, begreift, daß ebenso wie die Menschen des Alten Testa­mentes in Weisheit versammelt sein wollten bei den Vätern, so die Menschen der früheren christlichen Jahrhunderte im irdischen Leben mit der Hingabe ihres Besten, mit der Hingabe ihrer Liebe an das un­schuldige Kind versammelt sein wollten um die Krippe zur Weihenacht. Wer aber könnte leugnen, daß diese Liebe, die aus so vielen Herzen zu dem Ursprung des Christentums hingeströmt ist, nach und nach bis in unsere Zeit herein mehr oder weniger eine Gewohnheit geworden ist! Wer möchte leugnen, daß wir in einer Zeit leben, in der das Weih­nachtsfest nicht mehr jene Lebendigkeit hat, die es einstmals hatte! Aus der Liebe, die dem Weihnachtsfeste gewidmet war, ist selbst noch

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in der allerneuesten Zeit ein Wichtigstes heraus entstanden. Zu ihrem Ursprunge wollten die Menschen des Alten Testamentes zurückkehren, indem sie sagten, sie wollen mit ihren Vätern versammelt sein. Zu der ursprünglichen menschlichen Wesenheit will der Christ hinschauen, indem er zum Geburtsfeste des Jesus hinblickt. Aus diesem christlichen Instinkt heraus verband man mit dem Weihnachtsfeste der Menschen Ursprung auf der Erde, ließ man vorangehen in dem 24. Dezember den Adam- und Eva-Tag dem eigentlichen Geburtstag des Jesus. Und zu­letzt, aus einem tiefen Instinkt heraus, verband sich als Symbolum der Paradiesesbaum mit dem Weihnachtsfeste.

Wir sehen zunächst hin nach dem Stall in Bethlehem, nach dem Kinde, zwischen den Tieren, vor der gesegneten Mutter. Wir schauen hin nach diesem himmlischen Zeichen des Menschheitsursprunges. Und die Menschheit war genötigt, aus ihrem Empfinden heraus zugleich hinzuschauen nach dem Erdenursprung des Menschen, nach dem Para­diesesbaum, und verband die Krippe mit dem Paradiesesbaum, so wie schon die heilige Legende den Menschenursprung auf der Erde mit dem Mysterium auf Golgatha verbunden hat, jene Legende, die da besagt, daß das Holz des Paradiesesbaumes auf eine wunderbare Weise von Generation zu Generation sich herabvererbt hat bis in die Zeit des Mysteriums von Golgatha, und daß das Kreuz auf der Schädelstätte zu Golgatha, an welchem der Christus Jesus gehangen hat, aus dem­selben Holze war wie der Paradiesesbaum. So sehen wir, wie sich in der Legende zusammendrängt der himmlische Ursprung des Menschen mit dem irdischen Ursprung des Menschen.

Aber all das hat in einem andern Sinne die eigentliche christliche Grundempfindung wiederum verwischt. Und wer kann sich der Ein­sicht verschließen, daß wir in der gegenwärtigen Menschheit wenig Empfindung dafür sehen, wie auf der einen Seite die Gottheit als ein Väterliches verehrt wird, wie aber daneben die Gottheit als das Prinzip des Sohnes angesehen werden kann? Die getrennte Empfindung gegen­über dem Vatergotte und dem Sohnesgotte ist der Menschheit mehr oder weniger verlorengegangen, verlorengegangen bis in die aufgeklärte moderne Theologie hinein. Und weil dieses getrennte Empfinden ver­lorengegangen ist, sehen wir bei angesehenen Theologen der neuesten

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Zeit die Ansicht vertreten, daß eigentlich der Sohn gar nicht in die Evangelien hineingehöre, sondern allein der Vater, und daß der Jesus von Nazareth nur der große Lehrer, der Verkünder des Vatergottes gewesen sei. Der heutige Mensch spricht vom Christus, und er hat noch einige Reminiszenzen von alledem, was sich mit der heiligen Geschichte des Christus verbindet; aber er hat keine deutliche und unterscheidende Empfindung mehr auf der einen Seite für den Sohnesgott und auf der andern Seite für den Vatergott.

Als das Mysterium von Golgatha hereinschlug in die Erdenent­wickelung, da war diese Empfindung wahrhaftig lebendig genug vor­handen. Drüben in Asien, an einer in der damaligen Zeit für Rom wenig beachteten Stätte, erstand in Jesus von Nazareth der Christus, nach der Anschauung der ersten Christen das göttliche Wesen, das einen Menschen durchseelt hat in einer Weise, wie es vorher auf der Erde nicht geschehen war, nachher auf der Erde nicht wieder geschehen sollte. So daß dieses eine Ereignis von Golgatha, diese eine Beseelung eines Menschen mit einem göttlichen Wesen, mit dem Christus, erst der ganzen Erdenentwickelung einen Sinn gibt, und daß vorgestellt werden muß, daß alle vorangehende Erdenentwickelung die Erwartung auf dieses Ereignis von Golgatha ist, alles Folgende die Erfüllung dessen, was aus dem Mysterium von Golgatha folgen muß.

Das spielte sich drüben in Asien ab. Und in Rom saß der Cäsar Augustus. Die moderne Menschheit macht sich das nicht mehr klar, was auf dem römischen Throne der Cäsar Augustus bedeutete: er saß da als die verkörperte Gottheit. Der römische Cäsar war selber ein Gott in Menschengestalt. Ein anders aufgefaßter Gott auf dem römischen Throne, ein anders aufgefaßter Gott drüben auf der Schädelstätte von Golgatha - ein gewaltiger Gegensatz! Welcher Gegensatz? Sehen wir uns den Cäsar Augustus an, diesen im Menschen verkörperten Gott nach der Anschauung seiner Anhänger, nach dem Gebote des römischen Staates. Er ist heruntergestiegen als göttliches Wesen auf die Erde. Die göttlichen Kräfte haben sich verbunden mit den Geburtskräften, mit dem Blute, und im Blute lebt, wallt und wogt die göttliche Kraft, die heruntergestiegen ist in das Irdische. So ungefähr wurde über den ganzen Erdkreis hin das Wohnen des Göttlichen auf der Erde vorgestellt,

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wenn auch in verschiedenen Formen. Nur bei dem jüdischen Volke war es nicht so, da es seinen Gott als im Jenseits bleibend emp­funden hat. Die andern empfanden allüberall den mit den Blutskräften verbundenen Gott. Sie empfanden den Gott so, daß sie dieses Göttliche aussprechen konnten mit den Worten: Ex deo nascimur. Der Mensch fühlte sich allerdings verwandt, auch wenn er im Niedrigen lebte, mit dem, was auf den Spitzen der Menschheit in einer solchen Persönlich­keit lebte, wie in dem Cäsar Augustus. Aber alles das, was da verehrt wurde, war ein väterlich-göttliches Prinzip, denn es lebte im Blute, das dem Menschen mit seiner Geburt in die Welt hinein gegeben wird.

Im Mysterium von Golgatha vereinigt sich mit dem Menschen Jesus von Nazareth das göttliche Christus-Wesen, jetzt aber nicht mit dem Blute, jetzt mit den besten, nach dem Höchsten strebenden Kräften der menschlichen Seele. Jetzt vereinigt sich ein Gott mit einem Menschen so, daß die Menschheit dem Verfallen in die bloßen irdisch-materiellen Mächte entrissen wird.

Im Blute lebt der Vatergott. Der Sohnesgott lebt im Seelisch-Geisti­gen des Menschen. Der Vatergott führt den Menschen ein in das mate­rielle Leben: Ex deo nascimur. Der Sohnesgott führt den Menschen wiederum heraus aus dem materiellen Leben. Der Vatergott führt aus Übersinnlichem den Menschen in das Sinnliche ein, der Sohnesgott aus dem Sinnlichen wiederum in das Übersinnliche: In Christo morimur. -Es waren zwei stark voneinander differenzierte Empfindungen da. Es war hinzugefügt die Empfindung für den Sohnesgott zu der Empfin­dung für den Vatergott. Allerdings, für die Menschheitsentwickelung war aus noch andern Untergründen heraus verlorengegangen diese Un­terscheidung des Vatergottes von dem Sohnesgotte. Und diese Unter­gründe sind bis zum heutigen Tage mit der Menschheit, auch mit der Christenheit, verbunden geblieben. Wenn wir hinblicken zu der mensch­lichen Urweisheit, so sehen wir überall, wie die Menschen, insofern sie eingeführt werden in das, was diese Urweisheit bietet, überzeugt sind davon, daß sie heruntergestiegen sind aus göttlich-geistigen Höhen in die physisch-sinnliche Welt. Das präexistente Leben schien dem Menschen gesichert. Die Menschen blickten durch die Geburt bezie­hungsweise durch die Empfängnis hinauf in die göttlich-geistigen Welten,

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aus denen die Seele heruntersteigt, indem sie durch die Geburt ins physisch-sinnliche Dasein tritt.

Wir haben in unserer Sprache allein das Wort «Unsterblichkeit». Wir haben in unserer Sprache verloren ein Wort für die andere Seite der Ewigkeit. Wir haben in unseren Sprachen nicht das Wort «Ungeboren­heit». Wenn aber die Ewigkeit eine vollständige ist, dann muß das Wort Ungeborenheit so da sein, wie das Wort Unsterblichkeit. Ja, es ist noch bedeutungsvoller für den Menschen das, was in dem Worte Ungeborenheit liegen kann, als was in dem Worte Unsterblichkeit liegen kann. So wahr es ist, daß der Mensch durch des Todes Pforte geht in ein Leben in der geistigen Welt, so wahr ist es aber auch, daß heute dieses Leben in der geistigen Welt nach dem Tode den Menschen vielfach in einer außerordentlich egoistischen Weise verkündigt wird. Die Menschen leben hier auf der Erde. Sie sehnen sich nach der Un­sterblichkeit. Sie wollen nicht mit dem Tode ins Nichts versinken. Und so braucht man nur an die egoistischen Instinkte der Menschen zu rühren, indem man ihnen von der Unsterblichkeit spricht.

Hören Sie einmal aufmerksam darauf hin, wie in unzähligen Kanzel-reden auf die egoistischen Triebe der Menschen spekuliert wird, um die Unsterblichkeit vor die menschliche Seele hinzutragen. Man kann nicht so auf die egoistischen Triebe der Menschen spekulieren, wenn man von der Ungeborenheit spricht. Denn es verlangen die Menschen nicht so egoistisch, vor ihrer Geburt, vor ihrer Empfängnis in der geistigen Welt gewesen zu sein, wie sie verlangen, nach dem Tode in der geistigen Welt zu sein. Sie sind da, damit sind sie zufrieden. Warum sollten sie sich kümmern, von wannen sie gekommen sind? Aus ihrem Egoismus heraus kümmern sie sich darum, wohin sie gehen. Wenn wir wiederum zu einer unegoistischen Weisheit kommen, dann wird die Ungeboren­heit dem Menschen so wichtig werden, wie die Unsterblichkeit dem Menschen heute wichtig ist.

Aber es ist eben in alten Zeiten die Verbindung zwischen der einen und andern Anschauung hergestellt worden. Da lebte man in göttlich-geistigen Welten, da stieg man durch die Geburt herunter, verband dasjenige, was man in göttlich-geistigen Welten in einer rein geistigen Umgebung hatte, mit dem Menschenblute, und lebte dieses weiter dar

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im Menschenblute. Es ist daraus die Vorstellung geworden: Ex deo nascimur. Der Gott, der im Blute lebt, der Gott, den der Mensch im Fleische hier darstellt, das ist der väterliche Gott.

Der andere Pol des Lebens, der Tod, fordert einen andern Impuls aus dem Seelenleben heraus. Es muß im Menschen etwas sein, das sich nicht erschöpft mit dem Tode. Ihm entspricht allein eine Vorstellung vom Göttlichen, durch die das Irdisch-Physische übergeht in das Über-sinnlich-Überphysische. Das aber ist im Mysterium von Golgatha ent­halten. Das göttliche Vaterprinzip war stets der Übergang von dem Übersinnlichen zu dem Sinnlichen, das göttliche Sohnesprinzip der Übergang von dem Sinnlichen ins Übersinnliche: daher die Auferste­hungsidee notwendig verbunden ist mit dem Mysterium von Golgatha. Und es gehört einmal zu dem Christentum das Paulinische Wort, daß der Christus für die Menschheit nur dadurch das geworden ist, was er geworden ist, daß er der Auferstandene ist.

Durch die Jahrhunderte hindurch hat man immer mehr und mehr das Verständnis für den Auferstandenen, für den Todesbesieger ver­loren, und die aufgeklärte Theologie der neueren Zeit hat sich allein an den Menschen Jesus von Nazareth gehalten. Dieser Mensch Jesus von Nazareth kann nicht das Zweite sein neben dem Vaterprinzip. Er könnte den Vater verkündigen, aber er könnte sich nicht im Sinne der Diskussionen der ersten Christenheit neben den Vater hinstellen. Aber gleichwertig stehen nebeneinander der göttliche Vater, der den Über­gang bewirkt aus dem Übersinnlichen in das Sinnliche: Ex deo nascimur, und der göttliche Sohn, der den Übergang bewirkt von dem Sinnlichen ins Übersinnliche: In Christo morimur. - Und erhaben über beides, über das Geborenwerden und Sterben, ist ein drittes Prinzip, das aus­geht von beiden, was gleichwertig wiederum zusammenhängt mit beiden, mit dem göttlichen Vater und dem göttlichen Sohne: der Geist, der Heilige Geist. So daß im Menschen zu erkennen ist der Übergang aus dem Übersinnlichen in das Sinnliche: Ex deo nascimur, der Übergang aus dem Sinnlichen ins Übersinnliche: In Christo morimur, und die Vereinigung von beiden, die Verbindung mit dem, worin weder Geburt noch Tod mehr eine Wesenheit haben, die Auferweckung durch den Geist: Per spiritum sanctum reviviscimus.

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Das Weihnachtsfest war durch Jahrhunderte hindurch ein Fest der Erinnerung. Wieviel verlorengegangen ist von dieser Erinnerung, das zeigt sich dadurch, daß von dem Christus Jesus gerade für die aufge­klärte Theologie nur der Jesus von Nazareth geblieben ist. Das weist uns aber auch für den heutigen Tag darauf hin, daß das Weihnachts­fest für uns aus einem bloßen Feste der Erinnerung ein Fest der Auf­forderung für ein Neues werden muß. Geboren werden muß ein neues Wesen. Die Christenheit bedarf einer Erneuerung, denn sie hat damit, daß sie das volle Verständnis verloren hat für den Christus im Jesus von Nazareth, eigentlich ihren Sinn verloren. Dieser Sinn aber muß wieder gefunden werden. Erkennen muß die Menschheit wiederum, wie durch übersinnliches Verständnis allein das Mysterium von Gol­gatha begriffen werden kann.

Es ist ein anderes aber noch hinzugetreten zu diesem Nichtver­stehen des Mysteriums von Golgatha. Mit Liebe können wir hinblicken zur Krippe, aber nicht mehr mit vollem, weisheitserfülltem Verständ­nisse zu der Vereinigung des Christus mit dem Menschen Jesus von Nazareth. Aber auch hinaufblicken können wir nicht mehr in die Him­melshöhen mit demselben Gefühl, mit dem noch jene Zeiten hinauf-geblickt haben, in welche das Mysterium von Golgatha hereinfiel. Da hat man hinaufgesehen zu den Sternenwelten, da sah man in den Sternenbahnen, in den Sternkonstellationen etwas wie den physiogno-mischen Ausdruck für das göttliche Seelen- und Geisteswalten des Kosmos. Man sah in der Sonne etwas wie das Herz dieses göttlich-geistigen, kosmischen Waltens. Da konnte man in dem Christus sehen das Geistige für dieses Äußerlich-Sinnliche, das man in der herrlichen Sternenwelt sah. Für den neueren Menschen ist die Sternenwelt, ist alles das, was man in Raumesweiten draußen sieht, mehr oder weniger das Ergebnis eines Rechenexempels geworden, ein Weltmechanismus. Die Welt ist götterleer, gottesleer geworden. Aus dieser gottesleeren Welt, die wir heute durch unsere Astronomie und Astrophysik untersuchen, konnte gewiß der Christus nicht heruntersteigen. Aber für die mensch­liche Urweisheit war diese Welt etwas anderes. Diese Welt war der Körper des göttlichen Weltengeistes und der göttlichen Weltenseele. Und aus diesem vergeistigten Kosmos konnte der Christus auf die Erde

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heruntersteigen und sich mit einem Menschen im Jesus von Nazareth vereinigen.

In tiefer Weise kommt das in der Menscheitsentwickelung selber zum Ausdrucke. Durch alle alten Zeiten vor dem Mysterium von Gol­gatha hat es über die Erde hin Mysterien gegeben, heilige Stätten, die auch die höchsten Schulen waren, Schulen, in denen zu gleicher Zeit das religiöse Leben gepflegt wurde. In diesen Mysterien wurde überall hingewiesen auf das, was da kommen soll. Es wurde überall gezeigt, wie der Mensch in sich eine Kraft trägt, die Sieger ist über den Tod. Dieses Siegen über den Tod wurde in mächtigen Erlebnissen von den Eingeweihten in den Mysterien durchgemacht. Wer ein Eingeweihter werden wollte, mußte in sich jenes tiefe Erlebnis entwickeln, das ihm die erlebte Überzeugung beibrachte: Ja, du hast in dir erweckt das, was Sieger ist über den Tod. - Im Bilde erlebte der in den Mysterien Eingeweihte, was sich erst in der Zukunft wirklich vollziehen sollte vor dem ganzen Plan der Weltengeschichte. Allüberall bei den Völkern wurde in den Mysterien drinnen verkündet das heilige Geheimnis: der Mensch kann den Tod besiegen. Aber es wurde zugleich darauf hinge­wiesen, daß alles das, was in den Mysterien nur in Bildern dargestellt werden konnte, einmal vor der Weltgeschichte als ein einmaliges Er­eignis dastehen werde. Das Mysterium von Golgatha wurde vorherver­kündet auch durch die heidnischen Mysterien des Altertums. Es war die Erfüllung dessen, was gerade in den heiligen Stätten überall vorher-verkündet worden ist.

Wenn der Einzuweihende zuerst die Vorbereitungen in den Myste­rien und dann jene schwereren Übungen durchgemacht hatte, durch die man in den alten Zeiten zur Einweihung kam, wenn er seine Seele so losbekommen hatte vom Leibe, daß diese Seele in ihrer Losgelöstheit sich vereinigen konnte mit den geistigen Welten und in den geistigen Welten wahrnehmen konnte, um zu der eigenen Überzeugung zu ge­langen, daß das Leben immerdar über den Tod siege innerhalb der menschlichen Natur -, wenn der Eingeweihte dahin gekommen war, dann wurde er der tiefsten Erfahrung entgegengeführt, die durch diese Mysterien des Altertums gesucht wurde. Und diese tiefste Erfahrung bestand darin, daß vor dem geistigen Blicke des Menschen das Erdenhindernis,

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das materielle Hindernis hinweggenommen war, wenn das­jenige geschaut sein sollte, was zu gleicher Zeit geistig und materiell ist: die Sonne. Und vor jene geheimnisvolle, aber jedem Eingeweihten wohlbekannte Erscheinung wurde der zu Initiierende geführt, daß er in der Mitternachtsstunde durch die Erde hindurch die Sonne sah - auf der andern Seite der Erde.

Instinktive Empfindungen von dem Heiligsten und dem Höchsten sind dem Menschen doch durch die geschichtliche Entwickelung ge­blieben. Manche sind abgeschwächt worden im Laufe der Zeiten, aber für denjenigen, der unbefangen sein will, ist der alte Sinn noch ver­nehmbar. Und so lesen wir heute heraus aus der Tatsache, daß in der Weihenacht vom 24. auf den 25. Dezember um Mitternacht in jeder christlichen Kirche die Mitternachtsmesse gelesen werden soll - und die Messe ist ja nichts anderes, als in einer gewissen Weise zusammengefaßt die Mysterienriten, die zu dem Schauen der Sonne um Mitternacht führten -, wir lesen aus dieser Festsetzung der Mitternachtsweihemesse den Nachklang jener alten Einweihung heraus, die den Einzuweihenden um die Mitternachtsstunde die Sonne auf der abgewandten Seite der Erde schauen ließ, die ihn befähigte, damit das Weltenall als Geistiges wahrzunehmen, und zu gleicher Zeit, klingend durch den Kosmos, das Weltenwort zu vernehmen, das aus den Sternenbahnen heraus, aus den Konstellationen der Sterne aussprach das Weltenwesen.

Das Blut entzweit die Menschen. Das Blut bindet das, was aus Himmelshöhen als Menschliches herabsteigt, an das Materiell-Irdische. Die Menschen haben, insbesondere in unserem Jahrhundert, gar sehr gesündigt gegen das christliche Prinzip, indem sie sich wiederum dem Prinzip des Blutes zugewandt haben. Aber sie müssen zurückfinden den Weg zu dem Christus Jesus, der nicht zum Blute spricht, der sein Blut vergossen hat und es mit der Erde verbunden hat, der aber zur Seele und zum Geiste spricht und alle Menschen vereint und nicht trennt. So daß in dem mit seiner Hilfe errungenen Verständnisse des Welten-wortes «Friede unter den Menschen» auf der Erde einzieht.

Daher kann auch für ein neues Verständnis des Weihnachtsfestes wieder eintreten, daß sich durch übersinnliche Erkenntnis das mate­rielle Weltenall vor dem Seelenblicke in Geist verwandelt. Es kann die

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Sonne um Mitternacht wiederum sichtbar werden, das heißt, in ihrer Geistigkeit erkannt werden. Es kann damit ein Verständnis errungen werden für das überirdische Christus-Wesen, das Sonnenwesen, das sich mit dem Menschen Jesus von Nazareth verbunden hat. Und es kann damit auch wiederum ein Verständnis errungen werden für das, was über die Völker des Erdenkreises leben soll in der wirklich sie einenden friedlichen Gesinnung: «Es offenbaren sich die Wesenheiten des Gottes in den Höhen, und Friede erklingt durch diese Offenbarungen aus den Menschenherzen, die eines guten Willens sind.»

Das ist der Weihnachtsspruch, das Zusammenklingen des Erdenfrie­dens mit dem göttlichen Lichte, das auf die Erde strahlt. Wir brauchen nicht nur die Erinnerung an den Geburtstag Jesu. Wir brauchen Ver­ständnis für die Auffassung, daß ein neues Weihnachtsfest kommen muß, daß etwas geboren werden muß, daß ein Geburtsfest eintreten muß von der Gegenwart aus in die nächste Zukunft hinein, daß ein neuer Christus-Impuls geboren werden muß, daß der Christus wieder erkannt werden muß durch diesen neuen Christus-Impuls. Wir brauchen wiederum ein Verständnis dafür, daß die göttlich-geistigen Himmels-welten und die physisch-sinnliche Erdenwelt aneinander gebunden sind und daß das Mysterium von Golgatha der bedeutsamste Ausdruck für diese Zusammenbindung ist.

Wir müssen wieder verstehen, warum in der Weihenacht in der Mitternachtsstunde gewissermaßen die Mahnung an uns erklingt, an den göttlich-geistigen Ursprung der Menschen zu denken, warum zu dieser Zeit die Mahnung an uns erklingt, die Himmelsoffenbarung mit dem Erdenfrieden verbunden zu denken. Das können wir nur, wenn wir die Weltenweihenacht zu unserer Überzeugung machen, wenn wir uns nicht in alter, gewohnheitsmäßiger Weise damit beruhigen, daß wir uns an dem Weihnachtsfeste beschenken, weil das einmal so üblich geworden ist, nachdem jene warmen Empfindungen, die Jahrhunderte hindurch die Christenheit beseelt haben, verlorengegangen sind. Aber eine neue Weihenacht brauchen wir, die Weihenacht, die nicht nur an die stattgehabte Geburt des Jesus von Nazareth erinnert, sondern eine neue Geburt bringt: die Geburt eines neuen Christus-Impulses.

Aus vollem Bewußtsein heraus müssen wir wiederum verstehen

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lernen, wie in dem Mysterium von Golgatha ein Übersinnliches sich ausspricht, um in dem Sinnlichen der Erde zur Offenbarung zu kommen, Wir müssen mit vollem Bewußtsein das, was in den alten Mysterien geklungen hat, wieder verstehen. Da hat es instinktiv geklungen; mit vollem Bewußtsein wollen wir es aufnehmen. Wiederum wollen wir ver­stehen lernen, wie der Mensch die mitternächtige Sonne wahrnehmen kann, wie der Mensch den wunderbaren mitternächtigen Sphärenharmo­nie-Zusammenklang der Himmelsoffenbarung und des Erdenfriedens empfinden kann, wenn die Weihenacht für ihn etwas Wirkliches wird.

In diesem Sinne sind die Worte niedergeschrieben, welche gerade aus diesen Untergründen heraus der Weihenacht gewidmet sein sollen. Sie fassen zusammen, was ich in dieser Stunde an Ihre Seelen, an Ihre Herzen habe heranbringen wollen. Sie wollen aus dem Bewußtsein anthroposophischen Christus-Verständnisses heraus sagen, wie wir wieder kommen können zu dem, was menschliche Urweisheit, aber instinktiv, einstmals war, was in den Resten noch so weit vorhanden war zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, daß man die Erscheinung Christi feiern konnte.

Wir wollen aber dieses Verständnis des Christus als eines kosmischen Wesens, das sich mit der Erde verbunden hat, wieder erringen. Die Zeit, in der dies für einen großen Teil der Menschen auf Erden wieder errungen wird, das ist die Zeit der Weltenweihenacht, die wir heran­ersehnen möchten. Dann werden lebendig in uns werden Empfin­dungen, die ich gern mit folgenden Worten ausgesprochen haben wollte:

Die Sonne schaue Die Höhen laß offenbaren

Um mitternächtige Stunde Der Götter ewiges Wort

Mit Steinen baue Die Tiefen sollen bewahren

Im leblosen Grunde Den friedevollen Hort

So finde im Niedergang Im Dunkel lebend

Und in des Todes Nacht Erschaffe eine Sonne

Der Schöpfung neuen Anfang Im Stoffe webend

Des Morgens junge Macht Erkenne Geistes Wonne.

SILVESTERVORTRAG Dornach, 31. Dezember 1921

#G209-1968-SE174 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

#TI

SILVESTERVORTRAG

Dornach, 31. Dezember 1921

#TX

Ich denke, an einem Jahreswendetag ist es auch angemessen, über eine Wende in der Entwickelungsgeschichte der Menschheit zu sprechen, und ich werde heute sprechen gerade über die Wende, die Umwande­lung des menschlichen Erkennens überhaupt in der Zeit zwischen dem ältesten Zeitraum, zu dem die Menschheit zunächst geschichtlich zurück­blicken kann, und unserer Zeit. Man hat gerade in ältesten Zeiten durchaus das Bewußtsein gehabt, daß eine Erkenntnis über die eigent­liche tiefere Wesenheit des Menschen nur zu erlangen ist, wenn im Menschen verborgene Erkenntniskräfte an die Oberfläche gehoben werden. Man hat stets davon gesprochen, daß die äußere Welterfahrung auch nur das Äußere der menschlichen Wesenheit zur Erkenntnis bringen kann. Man hat innerhalb der besonderen Vorgänge in den Mysterien denjenigen Menschen, die solches gesucht haben, die Mög­lichkeiten geboten, durch sonst in den Untergründen des menschlichen Wesens verborgene Kräfte, solche höheren Erkenntnisse über das eigent­liche menschliche Wesen zu erlangen. Man war sich eben durchaus klar darüber gerade in den Zeiten, als eine gewisse instinktive Urweltweis­heit gewaltet hat, daß des Menschen wahres Wesen ein anderes ist als dasjenige, was sich innerhalb des Umkreises finden läßt, der vom Men­schen erlebt wird im gewöhnlichen Alltagsleben. Man hat daher immer gesprochen von einer Einweihung oder Initiation, durch welche erst dem Menschen zugänglich werden können die tieferen Geheimnisse des Lebens, mit denen das menschliche Wesen zusammenhängt.

Man muß auch heute, und anthroposophische Geisteswissenschaft zeigt das wohl, von einer solchen Initiation oder Einweihung sprechen. Aber man kann sagen: Dem heutigen Menschheitsbewußtsein, das unter ganz bestimmten, stark egoistischen Voraussetzungen herangebildet ist, widerstrebt es, daß wirkliche menschliche Wesenserkenntnis und Welt-wesenserkenntnis nur durch solche besonderen Vorbereitungen und Ent­wickelungen innerhalb der Menschenseele zu finden seien. Der heutige

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Mensch möchte ohne Anwendung solcher Entwickelungsprinzipien, durch dasjenige, was ihm im gewöhnlichen Leben gegeben ist, über die höchsten Fragen des Daseins entscheiden. Und wenn er das Gefühl bekommt, daß er über solche höchsten Fragen des Daseins mit den ge­wöhnlichen Erkenntniskräften nicht entscheiden kann, dann behauptet er, daß eben das menschliche Erkenntnisvermögen überhaupt begrenzt ist, und daß es ein Unding wäre, über die gewöhnlichen menschlichen Erkenntnisgrenzen hinauszugehen. Man bringt wohl auch dem Initia­tions- oder Einweihungsprinzip das Vorurteil entgegen, daß man sagt:

Hat denn das, was aus der Wissenschaft der Einweihung heraus zu sagen ist, für diejenigen, die solche Einweihung in ihrer gegenwärtigen Inkarnation noch nicht erringen können, irgendeinen Wert? Wie kön­nen solche Menschen sich von der Wahrheit dessen überzeugt halten, was aus einer ganz besonders zubereiteten Erkenntnis herauskommt?

Allein, so verhält sich die Sache nicht. Und gerade der letztere Ein­wand, der ist durchaus so unberechtigt als nur möglich. Denn wie ver­hält sich eigentlich dasjenige, was an den Menschen herantritt durch die Wissenschaft der Initiation oder Einweihung?

Man denke sich, der Mensch begebe sich zunächst in ein dunkles Zimmer. Er unterscheidet, herumgehend, durch sein Gefühl, die Gegen­stände durch ihre Formen. Man nehme an, dieses Zimmer werde plötz­lich von einer Lampe erhellt, welche irgendwo so angebracht ist, daß sie im Zimmer selbst gar nicht bemerkbar ist. Alle Gegenstände werden anders erscheinen für die gewöhnlichen Fähigkeiten, die derjenige hat, der vorher in dem finsteren Zimmer herumgegangen ist und alles nur betastet hat, und sich dadurch eine Anschauung von den Formen der Gegenstände im dunklen Zimmer verschafft hat. Alle Gegenstände werden nunmehr unter dem Einflusse der Beleuchtung, ohne daß irgend etwas dazugekommen ist, ohne daß irgend etwas jetzt unzugänglich wäre demjenigen, der nun im beleuchteten Zimmer steht, anders, werden ihr Wesen und zugleich das Wesen des Lichtes enthüllen. So braucht der Mensch, wenn an ihn die Initiationswissenschaft herantritt, nichts weiter, als dasjenige - ob er es nun selber in unmittelbarer Art erreichen kann oder nicht - prüfend hinzunehmen, was Initiationswissenschaft gibt, und es so betrachten, daß er sich dasjenige, was er kennt, diejenige

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Welt, die ihm zugänglich ist, beleuchten läßt durch diese Initiations­wissenschaft. Diese Initiationswissenschaft will keineswegs zur Welt etwas anderes hinzubringen, als was diese Welt schon ist. Aber ebenso­wenig, wie man dasjenige, was in einem finsteren Zimmer ist, in der Finsternis erkennen kann, sogleich aber erkennen kann im Lichte, eben­sowenig kann das, was um den Menschen für das gewöhnliche Bewußt­sein herum ausgebreitet ist, sein eigenes Wesen enthüllen, wenn es nicht beleuchtet wird durch dasjenige, was aus der Initiationswissenschaft kommt. Der Mensch selbst steht vor dem Menschen in der gewöhn­lichen Welt. Der Mensch trägt eine unsterbliche Seele in sich, wie vielleicht das Bild, das an der Wand im finsteren Zimmer hängt, irgend etwas darstellt, was man im finsteren Zimmer nicht sehen kann. Ist das Zimmer beleuchtet, sieht man es sofort. Nicht etwa fügt der Ini­tiierte die unsterbliche Seele zu der Menschenwesenheit hinzu; sie wird, wenn die Menschenwesenheit von der Initiationswissenschaft beleuch­tet wird, für jeden erschaubar. Und nur eine vorurteilsvolle Wissen­schaft kann es sein, die da leugnet, daß die Welt, in der der Mensch unaufhörlich ist im Erdenbewußtsein zwischen Geburt und Tod, daß diese Welt selbst, die durch den gewöhnlichen gesunden Menschen­verstand zu erreichen ist, alles das bewahrheitet, was die Initiations­wissenschaft sagt.

Die Initiationswissenschaft selbst aber hat einen Wandel durchge­macht. Sie war etwas anderes in alten Zeiten der Menschheit, und sie tritt jetzt in einer verwandelten Form wiederum vor den Menschen hin. Zwischen diesen beiden Perioden liegt allerdings eine Weltentwickelung für den Menschen, die etwa im 15. Jahrhundert beginnt, die jetzt ihrem Ende zugeht, und die in bezug auf das geistige Licht, welches die Initia­tionswissenschaft sein will, dunkel war, finster war, deren Finsternis aber auch tief begründet ist im Wesen der ganzen Erden- und Mensch­heitsentwickelung. Wenn wir zurückschauen in ältere Zeiten, von denen sich dann noch Traditionen erhalten haben in die nachchristliche Zeit herein, die aber auch verglommen sind im l5.Jahrhundert, die unver­ständlich geworden sind in diesem Zeitabschnitte, wenn wir zurück­schauen in alte Zeiten, so finden wir, daß der Mensch, wenn er mit seinen instinktiven Erkenntniskräften in die Welt hinaussah, nicht

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bloß dasjenige sah, was heute von dem Menschen für seine sinnliche Wahrnehmung und für seinen Verstand gesehen werden kann. Der Mensch sah überall in den Sinnesdingen zugleich Geistiges, und zwar nicht Abstrakt-Geistiges, er sah Konkret-Geistiges, er sah wirkliche geistige Wesenheiten. Noch in der alten Griechenzeit sah der Mensch solche konkreten geistigen Wesenheiten. Und man kann es bis in die Umwandlung der Sinnesanschauung selbst verfolgen, wie das war, daß der Mensch solche geistigen Wesenheiten schauen konnte. Man meint heute, dieser Sinnesteppich, der sich vor uns ausbreitet, wäre immer so gewesen, wie er eben heute ist. Schon die äußere Wissenschaft kann dem Menschen zeigen, daß das nicht so der Fall ist.

Die Griechen zum Beispiel haben den blauen Himmel nicht so blau gesehen, wie wir ihn heute sehen. Die Griechen haben von dieser Bläue des Himmels keinen Begriff gehabt. Für sie war er abgeschattet. Dafür haben sie die sogenannten hellen Farben eben noch lebendiger, noch heller gesehen, als wir sie sehen. Das kann schon aus der Literatur ent­nommen werden. Für eine Sinnesanschauung aber, für welche es so ist, liegt das Geistige unmittelbar über dem Sinnesteppich selber ausge­breitet. Erst, ich möchte sagen, die Blaufärbung der Welt, die Blau-tingierung läßt das äußere Geistige zurücktreten. Und in derselben Zeit, in der das instinktive Bewußtsein der Menschen draußen überall ein Elementarstes wahrnahm, nahm der Mensch auch in seinem Inneren ein Elementar-Geistiges-Seelisches wahr.

Wir sprechen heute vom Gewissen, das uns dies oder jenes sagt. Der Grieche sprach von den Erinnyen. Das war nur in einem besonders eklatanten Fall, daß der Grieche sich bewußt wurde, daß etwas wie geistig-elementare Mächte wie etwas Objektives an ihn herankommen. Aber in älteren Zeiten hat man bei allem, wovon wir heute annehmen, daß es einfach aus der menschlichen Wesenheit herauskommt, empfun­den, daß es bewirkt wird wie durch eine fremde geistige Macht, die an den Menschen herantritt. Es darf das, was in der einen Zeit der Mensch­heitsentwickelung durchaus das Normale ist, in einer andern Zeit nicht in der gleichen Weise auftreten. Wenn der Mensch heute in derselben Weise sich der moralischen Stimme bewußt würde, wie es noch in der älteren Zeit der griechischen Entwickelung, in der Zeit, als noch Äschylos

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dichtete, der Fall war, so würde das heute eine Seelenkrankheit be­deuten, und man würde wohl mit einem vielleicht heute nicht mehr als ganz richtig empfundenen Ausdrucke sagen: Dieser Mensch ist von einer fremden Macht besessen. Diese Besessenheit war in der älteren griechischen Zeit durchaus das Normale. Heute müssen wir dasselbe, was dazumal als von einer fremden Macht herrührend empfunden wurde, als aus uns selbst kommend, als aus unserem Gewissen stam­mend empfinden.

Wenn dann der Mensch, der aus seinem instinktiven Bewußtsein heraus die Anschauung hatte, daß da in der äußeren Welt geistig-elemen­tare Wesen wirken, der auch die Anschauung hatte, daß in seinem Inneren geistig-elementare Wesen wirken, in die Mysterienschülerschaft aufgenommen worden ist, dann wurden ihm diese elementaren geistigen Wesenheiten gewissermaßen von höheren geistigen Wesenheiten durch eine neue Erkenntnis beleuchtet. Mit dem instinktiven Bewußtsein nahm man Naturgeister und gewisse dämonische Mächte wahr, die in der menschlichen Natur wirken. Durch die Jnitiation stieg man tiefer in die Natur hinein, stieg man tiefer in das eigene menschliche Wesen hinein. Und das besonders Bedeutungsvolle, das im höchsten Maße Wichtige bei jemandem, der die erste Stufe der Initiation in alten Zeiten durchmachte, war, daß er gerade durch die Initiation aufhörte, inner­halb der äußeren Natur die Elementargeister, und innerhalb des eigenen Wesens das Dämonische wahrzunehmen. Man kann sagen: Was uns heute ein Gewöhnliches ist, was wir als unsere natürliche Außen- und Innenschau mit uns herumtragen, das mußte der alte Mysterienschüler erst erwerben. So schreitet die Menschheit vorwärts, daß gewisse Dinge, die später natürliche sind, in früheren Zeiten angeeignet werden mußten durch die Initiationswissenschaft. Und dann, wenn der Mensch durch die Initiation zu einer Natur- und Menschenanschauung gekommen war, die eben für die damalige Zeit nur für den Mysterienschüler da war, dann drang er auf seine Art zu den geistigen Wesen vor, die sowohl das Innere des Menschen wie auch das Wesen der äußeren Natur diri­gieren. Deshalb drückte man das für das ältere Initiationsprinzip so aus, daß man sagte: Man stieg von der gewöhnlichen Lebensauffassung zu den Elementen Erde, Wasser, Feuer, Luft auf. In der gewöhnlichen

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Anschauung hatte man eigentlich Elementar-Luft-Geistiges, Elementar-Feuer-Geistiges, Elementar-Wasser-Geistiges, Elementar-Erd-Geistiges. Rein nahm man eigentlich Erde, Wasser, Feuer, Luft erst wahr durch die erste Stufe der Initiationswissenschaft.

Das ist nun das Wesentliche, daß im Menschheitsfortschritt an die Stelle dieses Schauens von geistig-seelischen Elementarwesenheiten in der Außenwelt und auch im Inneren des Menschen das getreten ist, was wir heute die entseelte Natur nennen können, was wir, wenn ich den Aus­druck gebrauchen darf, den bei der Innenschau durchsichtigen Men­schen nennen können. Wenn wir heute nach dem Inneren blicken, erblik­ken wir nur die Reminiszenzen an die äußere Welt in Form der Erinne­rungsvorstellungen. Alles übrige bleibt dem Menschen so unsichtbar, wie ein völlig durchsichtiger Körper unsichtbar bleibt. Schaute der alte Mensch in sein Inneres hinein, dann war ihm dieses nicht so geistig durchsichtig. Er sah eben geistig-seelische Wesenheiten in seinem Inneren.

Wenn das so geblieben wäre, hätte der Mensch niemals das volle Bewußtsein der Freiheit erringen können. Denn das volle Bewußtsein der Freiheit dringt in die Summe der menschlichen Geistes- und Seelen-kräfte eben erst seit derjenigen Zeit ein, seit die alte instinktive Geistes-anschauung zurückgegangen ist. Innerhalb der Welt der Geister herrscht Notwendigkeit. Da ist das Handeln der geistigen Wesenheiten, da be­stimmt den Verlauf der Ereignisse dasjenige, was aus der Betätigung dieser geistigen Wesenheiten hervorgeht. Da ist man, wenn man in dieser Welt der geistigen Wesenheiten drinnensteht mit seiner Seele, einver­woben in ein Reich der Notwendigkeit. Da hat man nur die Sehnsucht, die Absichten, die Gedanken der geistigen Wesenheiten, in deren Bereich man einverwoben ist, zu erforschen und dasjenige auszuführen, was im Sinne der Absichten und Impulse dieser geistigen Wesenheiten ist. Da hat man nicht die Absicht, seine eigenen Impulse zu verwirklichen. Da ist gar kein Anlaß zur Freiheit. Erst wenn man der entseelten Natur gegenübertritt, wenn man in der Natur nicht die Spuren geistiger Wesen­heiten findet, dann kommt man gegenüber der Außenwelt zu einer Erkenntnis, die keine Realität mehr enthält, die nur die Gedanken-bilder enthält. Und Gedankenbilder ist alles, was uns seit dem 15.Jahr-hundert die neuere Erkenntnis überliefert.

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Und ebensowenig wie Spiegelbilder irgend etwas Zwingendes für uns haben, ebensowenig wie zum Beispiel das Spiegelbild eines Menschen, der hinter mir steht und den ich dann nicht sehe, mich prügeln kann, ebensowenig können Gedanken irgendwelche reale Betätigung, reale Kräfte zeigen. Die Gedanken, die wir in uns tragen - und die Mensch­heit ist zum Fassen solcher reiner Bildgedanken, die realitätsfrei sind, eben erst im Laufe ihrer Entwickelung, und zwar erst vom 15. Jahr­hundert an gekommen -, diese Gedankenbilder können also nicht irgendeinen Zwang, nicht irgendeine Bestimmung auf den Menschen ausüben. Indem sie den Menschen in seiner Erkenntnis durchdringen, muß er sich nicht darnach richten. Wie mich ein Spiegelbild nicht stoßen kann, so kann mich ein Gedanke nicht bestimmen. Wie ich aber durch den Anblick eines Spiegelbildes aus mir selbst heraus mich zu etwas bestimmen kann, so können auch die reinen Bildgedanken mich bestimmen. Daher ist jenes reine Denken, das im Grunde genommen ein Gut der Menschheit erst seit dem 15. Jahrhundert geworden ist, die Grundlage für das menschliche Erleben der Freiheit. Das ist es, was ich in meiner «Philosophie der Freiheit» im Beginne der neunzigerjahre auseinandersetzen wollte, daß das reine Denken die Grundlage der Freiheit ist. Und Geisteswissenschaft zeigt, welche Stellung dieses reine Denken in der Gesamtentwickelung, in der Gesamtwesenheit des Menschen hat, wie dieses reine Denken hereingetreten ist in das ge­schichtliche Werden der Menschheit. Dieser Impuls der Freiheit ist einmal, seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, in die Menschheit einge­treten. Er ist nun da. Er mußte errungen wenden durch die Anschauung einer entseelten Natur, einer geistfreien menschlichen Innerlichkeit. Er mußte errungen werden in einer Zeit, in der nur in den traditio­nellen Religionsbekenntnissen und in den traditionellen philosophi­schen Weltanschauungen, die nichts mehr unmittelbar Erlebtes dar-bieten, von übersinnlichen Welten gesprochen wurde. Würde der Mensch länger verharren in dieser Anschauung der entseelten Natur, der geistfreien menschlichen Eigenwesenheit, er würde seinen Zusam­menhang mit seinem eigenen Ursprung verlieren müssen.

Die Zeit ist erfüllt, und kommen müssen die Tage, in denen die Menschen ihre Aufmerksamkeit wiederum hinlenken zu ihrem geistigseelischen

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Ursprung, das heißt, daß sie wiederum gewahr werden, wie in der Welt, in der sie sich befinden, nicht nur eine seelenlose Natur ist, und der Mensch nicht nur etwa teilnimmt an einer seelenlosen Natur, sondern wie der Mensch in einer Welt lebt, die erfüllt ist von konkreten geistigen Wesenheiten. Mit dem errungenen Bewußtsein der Freiheit kann der Mensch wiederum in die Welt der Notwendigkeit untertauchen. Denn er wird dann innerhalb dieser Welt gerade das zur Freiheit berufene Wesen sein, indem er in seinen physischen Ver­körperungen einmal den Zustand durchgemacht hat, in dem er sich selbst mit seinem physischen Leibe überlassen war. Wir können aber daran gehen, den göttlichen Ursprung der Gewissensstimme wieder zu erforschen, nachdem wir das Verantwortlichkeitsgefühl unter dem Ein­flusse des Freiheitsbewußtseins durch jene Zeit hindurch gelernt haben, in der das Gewissen dem Menschen nur als eine innere Stimme, das heißt, im Bilde erschien. Die Menschheitsentwickelung ist nicht dazu dagewesen, daß, wie so manches hochmütige moderne Gemüt meint, die Menschen die längste Zeit im Zustande einer kindhaften Erfassung der Außenwelt hätten verharren müssen, und jetzt sie es endlich so weit gebracht hätten, daß alles, was an Erkenntnis da ist, selbst mit seinen Grenzen, so bleiben müsse, wie es ist. Nein, so ist es nicht. Der Mensch, der unbefangenen Sinnes in die Menschheitsentwickelung hin­einschaut, der findet, daß diese Menschheitsentwickelung von Etappe zu Etappe vorgeschritten ist, daß auch diejenige Art von Erkenntnis, die wir gegenwärtig haben, eine Etappe darstellt, und daß der Mensch in zukünftigen Zeiten der Natur anders gegenüberstehen wird, als er ihr heute gegenübersteht.

Wie wir heute zurückblicken zu Thales, und wenn wir hochmütig sind, sagen: Thales hat in kindischer Weise im Wasser den Ursprung von allem gesucht; wir wissen das heute besser - und mancher glaubt eben dann in diesem Hochmut, wir wissen es heute aus unseren Ergeb­nissen im chemischen Laboratorium so, wie man es immer wird wissen müssen - wenn man auf diesem hochmütigen Standpunkt steht, so könnte man eigentlich gewärtig sein, daß einmal Menschen in zukünftigen Jahrhunderten, wenn sie dieselben Gesinnungen haben, auf uns zurück­blicken und sagen würden: Was haben diese Menschen des 20. Jahrhunderts

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noch für kindische Vorstellungen gehabt aus ihren Labora­torien, aus ihren physikalischen Kabinetten heraus! - Aber es ist eben nicht so. Diese Vorstellungen, die dem heutigen hochmütigen Menschen so kindhaft vorkommen, von denen er glaubt, daß er sie höchstens noch historisch zu berücksichtigen hat, stellen wichtige Entwickelungs-impulse dar, welche die Menschheit ebenso einmal durchmachen mußte, wie sie den heutigen Entwickelungsimpuis durchmachen mußte. Und wie die Menschheit hinausgeschritten ist über Thales, so wird sie hinaus-schreiten über Lavoisier, wird sie hinausschreiten über Newton, wird sie hinausschreiten über dasjenige, was heute als das Maßgebende ange­sehen wird, selbst über Einstein. Die Welt muß durchaus auch in geistig-seelischer Beziehung in Fluß gedacht werden, und der Mensch muß sich in diesem lebendigen Flusse drinnen denken.

Aber das bleibt bestehen, daß im äußeren Offenbaren zunächst nicht dasjenige liegt, was den Menschen zu seinem eigenen Ursprunge hin­führt, sondern daß zu allen Zeiten das Heraufheben verborgener Kräfte im Menschen notwendig ist, um zu der Welt des Menschen­ursprunges den Weg hinzufinden. Wenn wir heute einfach in die äußere Natur mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, mit dem gewöhnlichen Sinnesvermögen hinausschauen, so finden wir nicht ohne weiteres ele­mentarische Wesenheiten, und indem wir in das eigene Innere hinein­schauen, finden wir nicht ohne weiteres dämonische Wesenheiten. Wir finden draußen die Naturgesetze, innerlich so etwas wie das Gewissen und dergleichen. Aber wenn wir dasjenige, was wir an Begriffsver­mögen, an Denkvermögen gegen die Außenwelt hin entwickeln können, wirklich entwickeln, wenn wir das Denkvermögen so weit bringen, daß es lebendig wirkt, wie sonst nur die sinnlichen Wahrnehmungen lebendig wirken, dann finden wir die Möglichkeit, wiederum in der äußeren Natur geistige Wesenheit wahrzunehmen.

Was für ein altes, instinktives Bewußtsein in einer Weise vorhanden war, wie wir es nicht mehr brauchen können, das wird für uns wiederum sichtbar, übersinnlich sichtbar, indem wir unser Denken verdichten. Mit dem dünngewordenen, bildhaft gewordenen Denken dringen wir nicht mehr bis zum Geist der Natur. Wenn wir aber das Denken ver­dichten, wenn wir es stark machen, wie sonst die Sinneskräfte sind,

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dann dringen wir durch den äußeren Sinnesteppich hindurch zu dem, was als Geistigkeit der äußeren Welt zugrunde liegt, und wir kommen über die für das gewöhnliche Bewußtsein mit Recht angenommenen Erkenntnisgrenzen hinaus. Und die Selbsterziehung müssen wir so weit treiben, daß wir gewissermaßen uns selbst in unseren Willensimpulsen anschauen lernen, wie wir einen andern Menschen anschauen. Und wenn wir nicht nur uns anschauen lernen, sondern wenn wir aus dem Bewußtsein heraus Willensimpulse so gestalten können, wie sich sonst nur passiv im Leben diese Willensimpulse gestalten, wenn wir mit andern Worten nicht bloß aus einer inneren Notwendigkeit, sondern aus Einsicht in die Welt, die zur Liebe sich verdichtet, zur Liebe zu diesem oder jenem Impuls, den uns nicht nur unsere Freiheit, den uns die Weltenordnung, die weisheitsvolle Weltenordnung aufgibt, wenn wir in dieser Weise uns zu Vollziehern der in der Welt für die Welt-orientierung notwendigen Impulse machen, dann verdichtet sich unsere Liebe in unserem Inneren. Wir erlangen eine liebevolle Hingabe zu rein geistigen Impulsen. Und wenn diese die nötige Ausbildung erfahren hat, dann finden wir auch wiederum das Geistige im Inneren, dann finden wir den Zusammenklang zwischen dem Geistigen in der äußeren Natur und dem Geistigen im Inneren. Denn überall, wo das Suchen nach dem Geiste genügend weit getrieben worden ist, kam man zu den­selben Resultaten. Wenn die Initiierten der alten Mysterien nach außen gesucht haben und, wie sie sagten, die oberen Götter fanden, dann wendeten sie den Blick zurück in das menschliche Innere, und sie fanden da, wie sie sagten, die unteren Götter. Aber zuletzt kamen Sie auf einer Entwickelungsetappe an, wo die Welt der oberen Götter und die Welt der unteren Götter eine war, wo das Oben das Unten und das Unten das Oben wurde, wo es auf diese doch nur vom Räumlichen herkommenden Bestimmungen nicht mehr ankam.

So ist es auch für die neuere Initiation, für die neuere Einweihung. Wir dringen hinein in das Geistig-Seelische der Natur. Es enthüllt sich uns nicht eine Welt von Atomen mit ihrem Stoßen, sondern es ent­hüllen sich uns die geistigen Mächte geistiger Wesenheiten hinter der Sinneswahrnehmung, und es enthüllen sich uns bei der Innenschau, jen­seits der Erinnerungsgrenzen, die geistig-seelischen Wesenheiten im

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menschlichen Inneren. Aber die beiden Welten, die äußere Welt der Geistigkeit und die innere Welt der Geistigkeit, sie fließen zuletzt in eine zusammen. Wir können geradezu bildhaft schon auf diese eine geistige Welt hinblicken. Nehmen Sie den Menschen mit seinem ge­wöhnlichen Bewußtsein. Er blickt in die äußere Natur hinaus. Er nimmt wahr Farbe, Licht, er lenkt die andern Sinne in die äußere Natur hin­aus. Er nimmt Töne, Wärmedifferenzen, andere Sinnesqualitäten in der äußeren Natur wahr. Er blickt dann auf seinen eigenen Leib. Er nimmt in seinen Sinnesqualitäten seinen eigenen Leib wahr. Er blickt die Natur an; sie offenbart sich ihm in Sinnesqualitäten. Er blickt den eigenen Leib an; er offenbart sich in Sinnesqualitäten. Beginnt der Mensch seinen Willen in Bewegung zu setzen, schreitet er durch die Welt, dann wird er gewahr, daß diese Willenskraft in die Bewegungen seines Auges hineinwirkt, daß in das Wesen seines Auges schon für die Sinnesemp­findung dasselbe hineinfließt, was die Bewegungen seiner Beine lenkt. Wenn der Mensch schon äußerlich tief genug untertaucht in das Sinn­liche, so wird er dasselbe gewahr, was er in Beziehung bringt durch die Äußerungen seines Willens mit der äußeren Welt. Es fließt ihm schon die Sinneswelt in eine einheitliche Welt zusammen. Dieses ein­heitliche Zusammenfließen der Sinneswelt, es ist ein oberflächliches, aber doch eben ein Abbild des Zusammenfließens der Welt der äußeren Geistigkeit und der inneren Geistigkeit. Durch das Auffinden dieser beiden Welten, die eine einzige Welt sind, wird der Mensch wieder seines geistig-seelischen Ursprungs gewahr. Und so stehen wir heute wie am Abschluß einer alten Zeit, die uns für frühere Epochen ein Hinein­schauen der Menschheit in geistige Welten aufweist, ein Hineinschauen, indem der Mensch nach außen in die Natur blickt, ein Hineinschauen, wenn der Mensch in sich selber blickt. Dann kam ein Zeitraum, wo es finster wurde, wo gerade im Reiche des Finsteren die größten Triumphe gefeiert wurden ohne Initiationswissenschaft.

Aber das Weltenjahr ist vollendet, Weltensilvester ist da. Es muß ein neues Weltenjahr beginnen. Wir konnten das bei der Weihenacht sagen, wir möchten auch ein solches symbolisches Fest, wie es in diesem Augenblicke an uns herannaht, in derselben Weise empfinden, wir möch­ten symbolisiert empfinden durch ein solches Fest die Zeitenwende,

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die wir heute schon spüren müssen als eine Welten-Zeitenwende. Es sind die Zeiten ernst geworden, so ernst geworden, daß wir wohl heute hinaufblicken müssen von dem engbegrenzten Geschehen innerhalb des Horizontes, den heute der größte Teil der Menschheit als den einzig berechtigten anerkennen möchte, zu den Weltenweiten, auch zu den Weltenweiten des menschlich seelisch-geistigen Erlebens. Da aber er­leben wir Welten-Zeitenwende. Werden wir uns bewußt dieser Welten­Zeitenwende, werden wir uns klar darüber, daß ein Weltenneujahr des Geistes für die Menschheit beginnen muß. Lernen wir solches er­kennen, dann können wir allein in unserer jetzigen Zeitepoche wahres Menschentum empfinden. Denn wahres Menschentum empfindet sich nur dann, wenn der Mensch, der durch wiederholte Erdenleben geht, in jedem einzelnen Erdenleben die Möglichkeit findet, sich nicht nur im allgemeinen als Mensch zu fühlen, sondern als Mensch mit be­stimmten Aufgaben, in dem bestimmten Zeitraum, in den eines seiner Erdenleben hineinfällt.

Der Mensch kann mit der Ewigkeit nur leben, wenn er die Möglich­keit findet, in der rechten Weise in der Zeit zu leben. Denn für den Menschen soll sich in der Zeit das Ewige nicht nur offenbaren, sondern durch den Menschen, durch die Zeit soll sich für den Menschen das Ewige erleben lassen. Das Ewige waltet in zeitloser Dauer, waltet in zeitloser Dauer auch durch das Menschenwesen hindurch. Aber seine Pulsschläge sind die Geschehnisse der einzelnen Epochen, wie sie herein-schlagen in das menschliche Erleben. Nur indem wir diese Puls-schläge erleben und sie vereinigen können zum umfassenden Rhythmus, erleben wir durch die Zeit das Ewige. Die Dauer gehört unserem wahren Menschenwesen an. Die Dauer können wir nur erleben, wenn wir liebevoll und mit Kraft die einzelnen Pulsschläge des ewigen Welten-wesens zu unserem eigenen Erlebnis werden lassen.

Das wollte ich auf Ihre Herzen, auf Ihre Seelen heute an der Jahres-wende legen. Möge uns allen die nächste Zeit die Möglichkeit bringen, in einem solchen Sinne im Kleinsten und, wenn es uns gegönnt ist, auch im Größeren diejenigen Impulse in unserem Denken, Fühlen und Wollen anzuwenden, deren wir als unserer besten in unserem Inneren fähig werden können.

HINWEISE

#G209-1968-SE186 Nordische und mitteleuropäische Geistimpulse

#TI

HINWEISE

#TX

Hinweise auf Bände der Gesamtausgabe, bei denen kein Erscheinungsjahr ange­geben ist, betreffen vorgesehene Bände.

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle innerhalb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

Von den in diesem Buche enthaltenen Vorträgen waren die folgenden in Zeitschrif­ten erschienen

24., 27. November und 4. Dezember1921 in «Das Goetheanum> 1928, 7. Jg. Nr.31-41 sowie in «Gegenwart» 1964/65, 26. Jg. Nr.4-11.

12. Dezember1921 in «Was in der Anthroposophischen Gesellschaft vorgeht. Nach-

richten für deren Mitglieder» 1931, 8. Jg. Nr.21-24 sowie in «Gegenwart» 1945/46,

7. Jg. Nr.11.

18. Dezember1921 in «Gegenwart» 1965/66, Nr.1.

23. Dezember1921 in «Das Goetheanum» 1939,18. Jg. Nr.1-2.

24. Dezember1921 in «Das Goetheanum» 1937, 16. Jg. Nr.52 sowie in «Blätter für

Anthroposophie» 1952, 4. Jg. Nr.12.

25. Dezember1921 in «Das Goetheanum» 1934,13. Jg. Nr.51-52 sowie in «Die Men­schenschule» 1952, 26. Jg. Nr.12.

26. Dezember1921 in «Blätter für Anthroposophie» 1956, 8. Jg. Nr.12.

31. Dezember1921 in «Die Menschenschule» 1938,12. Jg. Nr.1. sowie in «Gegen­wart» 1960/61, 22. Jg. Nr.9-10.

Zu Seite

9 so lange nicht hier zusammenisein konnten: Rudolf Steiner war zum letzten Male in Kristiania gewesen im Oktober 1913.

schwere Zeit . . . Katastrophe: der Erste Weltkrieg 1914-18.

Vorträge über europäische Völkerseelen: «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie», 10 Vorträge gehalten in Kristiania (Oslo), Juni 1910, Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 121, Dorn-ach 1962.

Januar 1918. Da hatte ich eine Unterredung mit einer Persönlichkeit: Mit Prinz Max von Baden - der im Oktober 1918 für kurze Zeit deutscher Reichs­kanzler wurde - über die von Rudolf Steiner damals verschiedenen Politikern auseinandergesetzte Notwendigkeit der sozialen Dreigliederungsidee als ein­zige Möglichkeit, auf einen aus dem Chaos führenden Weg zu gelangen. Vgl. hierzu «Nachrichten der Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung» Nr. 15 (Som­mer 1966).

11 eine gewisse Bemerkung in den verschiedenen Variationen . . . gemacht habe . . . diese europäische Ecke . norwegische Ecke: Siehe z. B. «Die Mission ein­zelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mytho­logie», letzter Vortrag.

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11 dieser anthroposophische Zweig hier seinen Namen trägt: «Widar-Zweig» nach dem Gott der Zukunft, wie ihn die germanisch-nordische Mythologie beschreibt. Siehe hierzu auch

12 englisch-afrikanischer Staatsmann: Jan Christiaan Smuts (1870-1950). Im Burenkrieg (1899-1902) einer der Führer der Buren gegen die Engländer, setzte sich nach dem Krieg für die Union und die Versöhnung der Rassen ein, war 1919-1924 und 1939-1948 Ministerpräsident der Südafrikanischen Union.

was heute ahnungslos verhandelt wird in Washington: Abrüstungskonferenz vom 11. November 1921 bis 6. Februar 1922. Siehe hierzu Rudolf Steiners Aufsätze «Von der Weltlage der Gegenwart und der Gestaltung neuer Hoff­nungen» und «Die Weltfrage», beide in «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Gegenwart, 1921-1924», Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 36, Dornach 1961.

14/15 meine verschiedenen Bemerkungen, die ich hier gemacht habe: Vgl. Hin­weis zu Seite 11.

16 Vortrag, den ich vor Pädagogen gehalten habe: Zwei Vorträge für die «Päda­gogische Vereinigung» in Kristiania (Oslo) am 23. und 24. November 1921:

«Erziehungs- und Unterrichtsmethoden auf anthroposophischer Grundlage» .

Stuttgart 1960.

22 So haben wir die menschliche Gestalt aus dem Kosmos geholt: In diesem Ab­satz ist das Stenogramm stellenweise nicht genau lesbar.

32 in den öffentlichen Vorträgen schon besprochen: Bezieht sich auf die beiden Vorträge vom 25. und 26. November 1921 in Kristiania, beide erschienen in «Die Wirklichkeit der höheren Welten». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 79, Dorn-ach 1962.

34 «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», acht Vorträge gehalten in Wien 1914. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 153, Dorn-ach 1959.

in einem meiner Mysteriendramen: «Der Seelen Erwachen», 4. Drama in «Vier Mysteriendramen». Gesamtausgabe, Bibl.-Nr. 14, Dornach 1962.

42 gestern am Schlusse meines Vortrages vor der hiesigen Studentenschaft: Vor­trag vom 26. November 1921 «Wege zur Erkennttis höherer Welten» in «Die Wirklichkeit der höheren Welten» . Gesamtausgabe Bibl. Nr.79, Dornach 1962.

50 Origenes, 182-254, Begründer der christlichen Gnostik.

Julian, 331-363, römischer Kaiser seit 361, von den Christen Apostata, der Abtrünnige genannt, da er die heidnischen Mysterien erneuern wollte. Er wurde ermordet.

Tat des Konstantin: Konstantin 1. der Große, 286 oder 287-337, römischer Kaiser. Unter ihm wurde im Jahre 313 das Christentum zur Staatsreligion er­hoben.

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51 werden die alten athenischen Philosophenschulen geschlossen: 529 unter Ju­stinian 1.

Akademie von Gondishapur: Siehe auch Rudolf Steiner «Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben», 17 Vorträge, gehalten in Dorn-ach und Zürich, Oktober 1918. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 184, Dornach 1968.

54 zu den Warägern schicken: um 860.

62 Oswald Spengler, 1880-1936, pessimistischer Kulturphilosoph. «Der Unter­gang des Abendlandes» (1918-1922); «Pessimismus?», Berlin 1921. Siehe auch Rudolf Steiner «Der Goetheanumgedanke inmitten der Kulturkrisis der Ge­genwart, 1921-1924». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 36, Dornach 1961.

63 auch Sie werden sich hier daran gewöhnen müssen, da.... anthroposophische Geisteswissenschaft . . . auf das allerheftigste bekämpft wird: Vgl. Hinweis zu Seite 87.

66 Ausführungen, die ich das letzte Mal hier vorbringen durfte: Vortrag Berlin,

18. September 1920, erschienen in «Geisteswissenschaft als Erkenntnis der

Grundimpulse sozialer Gestaltung», 17 Vorträge, gehalten in Dornach und

Berlin, August/September 1920. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 199. Dornach 1967.

68 Waldorfschulrichtung: Die Freie Waldorfschule in Stuttgart wurde im Jahre

1919 von Emil Molt begründet unter der pädagogischen Leitung Rudolf Steiners, der auch die an ihr wirkenden Lehrkräfte berief und ihnen die vor­bereitenden seminaristischen Kurse erteilte: «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», Gesamtausgabe Dornach 1960 und «Erziehungs-kunst. Methodisch-Didaktisches», Gesamtausgabe Dornach 1966, «Erziehungs­kunst. Seminarbesprechungen und Lehrplanvorträge», Gesamtausgabe Stutt­gart 1959. Die Schule wurde zum Muster zahlreicher weiterer Schulgründungen in vielen Ländern.

letzter Stuttgarter Kongreß: Vom 28. August bis 7. September 1921. Siehe Rudolf Steiners Bericht hierüber am 25. September 1921 in Dornach, abge­druckt in «Ustliche und westliche Kultur in geistiger Beleuchtung». Dorn-ach 1954.

69 Vortrag, den ich in Aarau in der Schweiz hielt: Am 11. November 1921. Ge­samtausgabe, Bibl.-Nr. 304.

76 Wladimir Solowjow, 1853-1900, russischer Philosoph.

für viele maßgebende Darstellung des Wesens des Christentums: Adolf von Har­nack, 1851-1930, evangelischer Theologe. «Das Wesen des Christentums», 1899. Wörtlich nach der 4. Auflage 1901, Seite 91: «Es ist keine Paradoxie und wiederum auch nicht sondern der einfache Ausdruck des Tatbestandes, wie er in den Evangelien vorliegt: Nicht der Sohn, sondern allein der Vater gehört in das Evangelium, wie es Jesus verkündigt hat, her­ein.»

82, 100, 152 Leopold von Ranke, 1795-1886. Begründer der modernen quellen-kritischen Geschichtswissenschaft. Werke u. a. «Deutsche Geschichte im Zeit­alter der Reformation».

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85 noch so viele Washingtoner Konferenzen: Vgl. Hinweis zu Seite 12.

87 wenn so geschimpft wird, wie in den letzten Tagen wieder einmal über die Eurythmie: Bezieht sich auf die Vorgänge in Kristiania. Vermutlich berichtete Rudolf Steiner in Berlin vor dem Vortrag darüber. Vgl. hierzu den Reisebe­richt Rudolf Steiners in Dornach am 11. Dezember 1921. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 255 bzw. Band III/1V der Reihe «Das lebendige Wesen der Anthro­posophie und seine Pflege».

bei meinem letzten Hiersein: Öffentlicher Vortrag in Berlin am 19. Novem­ber 1921.

91 Jean Paul, 1763-1825, hat mit Recht gesagt: «Levana oder Erziehungslehre»,

1806.

94 eine bekannte sozialistische Agitatorin hat ja einmal einen Aufsatz geschrieben:

Konnte nicht festgestellt werden.

107 dann nimmt man wahr, wie ich es dargestellt habe, den Urquell des Bösen im Menschen: Vortrag Dornach, 23. September 1921 in «Östliche und westliche Kultur in geistiger Beleuchtung». Dornach 1954.

108 wie Sie sich erinnern werden: Vorträge Dornach, 7.-23. Oktober 1921 unter dem Titel «Anthroposophie als Kosmosophie», Dornach 1955 und Vorträge Dornach, 28. Oktober-6 November 1921 unter dem Titel «Die Gestaltung des Menschen als Ergebnis kosmischer Wirkungen», Dornach 1956.

110 Weltenwirkung dreier Planeten: In der Nachschrift und in früheren Ab­drucken heißt es «zweier Planeten», was offensichtlich ein Hör- oder Schreib­fehler ist.

127 Heinrich Czolbe, 1819-1873. Arzt und Philosoph. Siehe Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philosophie» im Kapitel «Der Kampf um den Geist». Gesamtaus­gabe Bibl.-Nr. 18, Dornach 1968.

131 gegenwärtig hier einen Kursus absolvieren: Weihnachukurs für Lehrer vom

23. Dezeniber 1921 bis 7. Januar 1922 am Goetheanum in Dornach: «Die ge­sunde Entwickelung des Leiblich-Physischen als Grundlage der freien Ent­faltung des Seelisch-Geistigen». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 303.

134 hinter die atlantische Katastrophe gehen, bis zu der atlantischen Menschheit:

Siehe u. a. Rudolf Steiner, «Welt, Erde und Mensch», elf Vorträge Stutt­gart 1908, Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 105, Dornach 1960, 10. Vortrag.

140 »Nicht ich, der Christus in mir»: Gal. 2, 20.

141 Angelus Silesius, 1624-1677, im «Cherubinischen Wandersmann».

151 im paulinischen Sinne: 1. Kor. 15.

Christi-Geburtspiele: Siehe «Weihnachtspiele aus altem Volkstum. Die Ober­uferer Spiele», mitgeteilt von Karl Julius Schröer, szenisch eingerichtet von Rudolf Steiner, mit einem Aufsatz von Rudolf Steiner. 3., neu durchgesehene Ausgabe, Dornach 1965.

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152 Adolf v. Harnack: Vgl. Hinweis zu Seite 77. In diesem Buche «Das Wesen des Christentums» von Adolf Harnack befinden sich zwei Stellen: Hinsicht­lich der ersten Stelle vgl. Hinweis zu Seite 77. Die zweite Stelle lautet wört­lich: «Was sich auch immer am Grabe und in den Erscheinungen zugetragen haben mag - eines steht fest: von diesem Grabe her hat der unzerstörbare Glaube an die Überwindung des Todes und an ein ewiges Leben seinen Ur­sprung genommen.» Zitiert nach der 4. Auflage 1901, S.102.

153 Giordano-Bruno-Gesellschaft: Giordano Bruno-Bund für einheitliche Welt­anschauung Berlin. Siehe Rudolf Steiner in «Mein Lebensgang» XXIX. Kap. Der Name des Redners konnte nicht festgestellt werden.

Paulus, der da sagte: 1. Kor. 15,14.

164 heilige Legende: Meist goldene Legende genannt. Ausführlich erzählt Rudolf Steiner diese Legende im Vortrag München, 21. Mai 1907, in «Bilder okkulter Siegel und Säulen - Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907». Gesamtausgabe, Bibl.-Nr. 284, Dornach 1957, und Vortrag Berlin, 19. Dezember 1915: «Der Weihnachtsgedanke und das Geheimnis des Ich», «Der Baum des Kreuzes und die goldene Legende», «Entstehung der Krippen- und Hirtenspiele», Dorn-ach 1935. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 165.

168 das Paulinische Wort: 1. Kor. 15,17.

171 daß er in der Mitternachtsstunde durch die Erde hindurch die Sonne sah:

Siehe Rudolf Steiner, «Der Weihnachtsbaum - ein Symbolum». Vortrag Ber­lin, 21. Dezember 1909, Dornach 1965, sowie in «Die tieferen Geheimnisse des Menschheitswerdens im Lichte der Evangelien», elf Vorträge, gehalten im Jahre 1909 in verschiedenen Städten. Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 117, Dorn-ach 1966.

173 Die Sonne schaue . . . Vgl. die Variante aus dem Jahre 1906, Vortrag Berlin,

17. Dczember 1906 in «Zeichen und Symbole des Weihnachtsfestes», 3 Vor­träge. Dornach 1957, Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 96.

177 Die Griechen zum Beispiel haben den blauen Himmel nicht so blau gesehen, wie wir ihn heute sehen: Siehe auch Rudolf Steiner im Vortrag Dornach, 24. März 1920 «Anthroposophie und gegenwärtige Wissenschaften» in «Gei­steswissenschaft und die Lebensforderungen der Gegenwart», 2 Vorträge. Dorn-ach 1950, Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 334.

181 Thales, um 625-545 v. Chr. Siehe Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philoso­phie». Gesamtausgabe Bibl.-Nr. 18, Dornach 1968.

182 Antoine Laurent Lavoisier, 1743-1794, französischer Chemiker. Begründer der quantitativen Analyse in der Chemie.

Isaac Newton, 1642-1727, englischer Naturforscher. Begründer der klassischen theoretischen Physik.

Albert Einstein, 1879-1955. Begründer der Relativitätstheorie.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.