GA 20

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RUDOLF STEINER

SCHRIFTEN


Vom Menschenrätsel

Ausgesprochenes und Unausgesprochenes
im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher
und österreichischer Persönlichkeiten


GA 20

1984


Inhaltsverzeichnis


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VORWORT UND EINLEITUNG

Gedankenwelt, Persönlichkeit, Volkheit

Aus Anschauungen, die sich im Laufe von fünfunddrei­ßig Jahren in mir über Gedankenwelten einer Reihe deut­scher und österreichischer Persönlichkeiten gebildet haben, legte ich einiges Vorträgen zum Grunde, die ich in dieser schicksaltragenden Zeit in mitteleuropäischen Städten zu halten hatte. Von solchen Persönlichkeiten wollte ich reden, in deren Gedanken die drängenden Lebensfragen nach Lö­sung suchen und in deren geistigem Ringen zugleich das Wesen der deutschen Volkheit sich offenbart. Was ich so aussprach, möchte ich auch zu den Leitgedanken dieser Schrift machen. Sie soll vom Suchen des Menschengeistes nach Erkenntnis seines Wesens sprechen in Anknüpfung an solche Suchende, die nicht persönlichen Erkenntnis-Lieb­habereien oder aus der Willkür geborenen ästhetisierenden Neigungen nachgingen, sondern Gedanken, die aus einem unwiderstehlichen gesunden Drang der Menschennatur er­stehen und die bodenständig sind in den Gemütsbedürf­nissen der Volkheit trotz der Geisteshöhe, nach der sie streben. Allerdings wird von Persönlichkeiten die Rede sein, denen oft der Sinn abgesprochen wird für die Wirk­lichkeiten des Lebens von denjenigen, die nicht anerkennen wollen, daß der Mensch von der Wirklichkeitsoberfläche verwirrt und lebensuntüchtig gemacht wird, wenn er ihr nicht gegenübertreten kann mit Anschauungen über den Geist, der in Wirklichkeitstiefen waltet. Nach Erkenntnis des Geistes ringende Gedanken stoßen oft eine Seelenver­fassung ab, die gar zu gerne sich auf Goethe berufen

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möchte, indem sie solchen Gedanken gegenüberhält: «Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, - und grün des Lebens goldner Baum.» Sie achtet dabei nicht darauf, daß Goethes Humor diese Worte gebraucht, um dem Teufel eine Beleh­rung in den Mund zu legen, welche dieser für einen Schüler gut findet. - Ein lebentragender Gedanke wird dadurch nicht betroffen, daß ihn eine der menschlichen Denkbequem­lichkeit schmeichelnde Ansicht für grau hält, weil sie die Grauheit ihrer eigenen Theorie für goldigen Glanz des grünen Lebensbaumes hinnimmt.

Es widerstrebt der Empfindung mancher Menschen, von der Einwirkung einer Volkheit auf die Weltanschauungen der aus dieser Volkheit entsprossenen Persönlichkeiten zu sprechen. Denn sie meinen, das widerspräche doch der selbstverständlichen Wahrheit, daß Erkenntnis des Wah­ren ein bei allen Menschen in gleicher Art vorhandenes Lebensgut sei. Daß dies sich so verhält, ist wirklich so selbstverständlich, wie daß der Sonnenschein und der Mon­denschein allen Menschen der Erde gleich erstrahlen. Und unbestreitbar gilt es ebenso für die höchsten Gedanken der Weltanschauung wie für das «Zweimal zwei ist vier» der Alltäglichkeit, daß die Wahrheit nicht nach Menschen- und Völkerart verschieden sich gestalten könne. Aber eben weil dies so selbstverständlich ist, sollte nicht vorausgesetzt wer­den - ohne weiteres Hinsehen auf das, was gemeint ist -, daß jemand dies Selbstverständliche außer acht läßt, der im Wesen der Denker eines Volkes sucht nach den Wur­zeln der Volkheit, aus der sie entstammen. Der Menschengeist lebt doch nicht nur in der abstrakten Prägung ge­wisser Begriffe; er schöpft sein Leben auch aus den Kräften,

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welche die Seelen aus ihren vertraulichsten Erfahrungen heraus mit den aus ihnen geborenen Einsichten mittönen lassen. Goethe empfand so, als er an einen Freund schrieb: «Nach dem, was ich bei Neapel, in Sizilien von Pflanzen und Fischen gesehen habe, würde ich, wenn ich zehn Jahre jünger wäre, sehr versucht sein, eine Reise nach Indien zu machen, nicht um Neues zu entdecken, sondern um das Entdeckte nach meiner Art anzusehen.» Goethe weiß, wie sogar das schon Entdeckte in neuem Lichte wiedergefunden werden kann, wenn es in einer neuen Art geschaut wird. Und was die Menschheit an Gedanken für ihr geistiges Leben über die Erkenntnisfragen entwickelt, das spricht nicht nur von dem, was Menschen suchen, sondern auch davon, wie sie suchen. In solchen Gedanken fühlt der da­für Empfängliche den Seelenpuls, der von dem Leben kün­det, aus dem sie in die Vernunft hineinstrahlen. So wahr es ist, daß man in einem Gedanken auch seinen Denker ken­nenlernt, so einleuchtend ist, daß man in einem Denker die Volkheit schauen kann, aus der der Denker aufgestiegen ist. - Welch ein Wahrheitsgehalt einem Gedanken inne­wohnt und ob eine Vorstellung aus den Wurzeln echter Wirklichkeit erwachsen ist: darüber können sicherlich nur die von Ort und Zeit unabhängigen Erkenntniskräfte ent­scheiden. Doch ob ein bestimmter Gedanke, ob eine den Menschengeist in eine gewisse Richtung lenkende Idee innerhalb einer Volkheit auftaucht, das liegt an den Quel­len, aus denen der Geist dieser Volkheit schöpfen darf. Karl Rosenkranz wollte über die Wahrheit der Gedanken Hegels gewiß nichts aus der Tatsache beweisen, daß er diese Gedanken in Zusammenhang brachte mit dem deut­schen Volksgeist, als er 1870 sein Buch schrieb: «Hegel als

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deutscher Nationalphilosoph». Er hatte die Ansicht, die er schon in seiner Beschreibung des Lebens Hegels ausgespro­chen hat: «Eine wahre Philosophie ist die Tat eines Vol­kes... Aber für die Philosophie, insofern sie Philosophie ist, kommt es zugleich auf die Eigenheit des volkstüm­lichen Ursprungs gar nicht an. Hier hat die Allgemeinheit und Notwendigkeit ihres Inhaltes und die Vollendung sei­nes Beweises allein Bedeutung. Ob das Wahre von einem Griechen oder Germanen, von einem Franzosen oder Eng­länder erkannt und ausgesprochen wird, hat für es selbst, als Wahres, kein Gewicht. Jede wahre Philosophie ist da­her als nationale zugleich eine allgemeine menschliche und im großen Gang der Menschheit ein unentbehrliches Glied. Sie hat das Vermögen der absoluten Verbreitungsfähigkeit durch alle Völker, und es kommt für ein jedes die Zeit, wo es die wahrhafte Philosophie der andern Völker sich aneignen muß, will es anders seinen eigenen Fortschritt sichern und fördern.»

Es kann die Empfindung, die man gegen das Volkstüm­liche von Weltanschauungsgedanken hat, auch noch anders geartet sein. Man kann aus der Anerkennung der Volks­tümlichkeit solcher Gedanken einen Einwand gegen ihren Erkenntniswert bilden. Man kann meinen, daß sie dadurch auf das Feld der Phantasie gedrängt werden und man von ihnen sprechen müsse wie etwa von deutscher Dich­tung, während es unzulässig sei, von deutscher Mathe­matik oder deutscher Physik in demselben Sinne zu reden. Es gibt Menschen, die in jeder Weltanschauung - jeder Philosophie - eine Begriffsdichtung sehen. Diese brauchen sich mit dem Einwand, der aus der angedeuteten Empfin­dung ersteht, nicht zu beschäftigen. Doch die Ausführungen

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dieser Schrift sind nicht von solchem Gesichtspunkte aus ge­schrieben. Sie stellt sich auf den andern, daß im Ernste niemand von einer Weltanschauung sprechen kann, der ihr nicht einen Erkenntniswert zuerkennt, der nicht voraus­setzt, daß ihre Gedanken aus Wirklichkeiten stammen, die allen Menschen gemeinsam sind. Man kann auch sagen, das sei im allgemeinen richtig; aber eine allen Menschen ge­meinsam geltende Weltanschauung sei ein Ideal, das noch nirgends verwirklicht ist; alle bestehenden Weltanschau­ungen tragen an sich, was aus der Unvollkommenheit der Menschennatur ihnen aufgedrückt ist. Auf eine Bespre­chung der aus solchem Grunde bestehenden Unvollkom­menheit der Weltanschauungen kann hier verzichtet wer­den. Denn es sollen nicht etwa aus der Volkstümlichkeit von Weltanschauungsgedanken Entschuldigungen für deren Schwäche, sondern Gründe für deren Stärke gesucht wer­den. Daher kann die Behauptung hier außer Betracht blei­ben, daß eben die Denker wie von ihren persönlichen Standpunkten, so auch von dem abhängig sind, was ihnen aus ihrer Volkheit anhaftet; und daß sie eben deshalb nicht zu einer allgemein-menschlichen Weltanschauung durch­dringen können. Diese Schrift spricht von einer Reihe von Persönlichkeiten in dem Sinne, daß deren Gedanken wirk­lich allgemein-menschliche Geltung zuerkannt wird. Von dem, was als Irrtümer oder einseitige Ansichten gekenn­zeichnet wird, nur insofern, als man darin Umwege zur Wahrheit sehen kann. Könnte aus der erwähnten Empfin­dung heraus ein unbedingt geltender Einwand entsprin­gen, so hätte er Berechtigung gegenüber der Art, wie in dieser Schrift Weltanschauungsgedanken mit dem Wesen der deutschen Volkheit in Verbindung gebracht werden.

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Was dieser Empfindung aber entgegengehalten werden muß, durchschaut man nur, wenn man sich von einem Glauben abbringen kann, der auch in anderer Richtung schwerwiegende Täuschungen hervorruft. Es ist der Glaube, die vielartigen Gedankengestaltungen der in Weltanschau­ungsfragen forschenden Denker seien wirklich ebenso viele verschiedene Weltanschauungen, die miteinander nicht be­stehen können.

Aus diesem Glauben heraus bekämpft oft der natur­wissenschaftlich Gesinnte den Mystiker, der Mystiker den naturwissenschaftlich Gesinnten. Der eine meint, die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse seien allein wahre Ergeb­nisse der Wirklichkeitsforschung; aus ihnen müsse man die Gedanken gewinnen, welche für Welt und Leben Ver­ständnis bringen können, so weit dieses Verständnis von dem Menschen erreichbar ist. Der andere bekennt sich zu der Ansicht, das wahre Wesen der Welt erschließe sich nur dem mystischen Erleben, und die Gedanken des natur­wissenschaftlich Gesinnten können an die echte Wirklichkeit nicht herankommen. Der «Monist» ist nur zufrieden, wenn eine einheitliche Grundlage für die stoffliche und die gei­stige Welt vorgestellt wird. Entweder es erblickt die eine Art der Monisten diese Grundlage in den Stoffen und ihren Wirkungen, so daß ihnen die geistigen Erscheinungen zu Offenbarungen der stofflichen Welt werden. Oder andere Monisten gestehen nur dem Geiste wahres Sein zu und glauben, alles Stoffliche sei nur eine Art des Geistigen. Der Dualist sieht in einer solchen Vereinheitlichung ein Ver­kennen sowohl des Wesens des Stoffes wie auch des Geistes. Nach seiner Ansicht müssen die beiden als für sich mehr oder weniger selbständige Weltgebiete betrachtet werden. -

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Es käme eine lange Reihe zustande, wenn man auch nur die hervorragendsten dieser vermeintlichen Weltanschau­ungen kennzeichnen wollte. Nun gibt es ja viele Menschen, die meinen, über alles Reden von Weltanschauung hinaus­gekommen zu sein. Diese sagen: ich richte mich in der Er­kenntnis nach dem, was ich in der Wirklichkeit finde; was eine Weltanschauung davon hält, darum kümmere ich mich nicht. Das glauben sie zwar; allein ihr Verhalten zeigt etwas völlig anderes. Sie bekennen sich mehr oder weniger bewußt, oder auch unbewußt, doch in der allerentschieden­sten Art zu einer solchen Weltanschauung. Wenn sie diese auch nicht unmittelbar aussprechen oder denken, so ent­wickeln sie ihre Vorstellungen in deren Richtung und be­kämpfen, lehnen ab oder behandeln die Vorstellungen an­derer Menschen so, wie es einer solchen «Weltanschauung» entspricht.

Dem bewußten oder unbewußten Glauben an solche ver­meintliche Weltanschauungen liegt eine Täuschung zum Grunde über das Verhältnis des Menschen zur außermensch­lichen Welt. Der in dieser Täuschung Befangene hält nicht recht auseinander, was der Mensch von der Außenwelt für die Gestaltung der Gedanken empfängt, und was er aus sich selbst herausholt, wenn er Gedanken bildet.

Bemerkt man, daß zwei Denker verschiedene Gedanken über die Fragen des Lebens aussprechen, so hat man allzu­leicht das Gefühl: wenn die beiden mit ihren Gedanken die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke brächten, so müßten sie ein Gleiches, nicht Verschiedenes sagen. Und man denkt, die Verschiedenheit könne nicht in der Wirklichkeit, son­dern nur in der persönlichen (subjektiven) Auffassungsart der Denker ihre Gründe haben. Wenn dies auch nicht

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immer offen bekannt wird von den Menschen, die über Weltanschauungen sprechen, so liegt diese Meinung dem Geiste und der Haltung ihres Redens doch mehr oder weni­ger bewußt oder auch unbewußt zum Grunde. Ja, die Denker selbst leben zumeist in einer solchen Befangenheit. Sie sprechen ihre Gedanken über das aus, was sie für Wirk­lichkeit halten, sehen diese Gedanken für ihr «System»einer rechten Weltanschauung an und glauben, eine andere Gedankenrichtung beruhe auf der persönlichen Eigenart des Denkers. - Die Darstellung dieser Schrift hat eine an­dere Ansicht zu ihrem Hintergrunde. (Diese Ansicht kann an dieser Stelle zunächst allerdings nur wie eine Behaup­tung vorgebracht werden. Ich hoffe, daß man in der Schrift selbst einiges zu ihrer Begründung werde finden können. In einem großen Teile meiner andern Schriften habe ich mich bemüht, manches weitere zu dieser Begründung bei­zutragen.) Zwei voneinander abweichende Gedankenrich­tungen können ihrem Wesen nach oftmals nur dadurch begriffen werden, daß man ihre Verschiedenheit so ansieht wie die Verschiedenheit zum Beispiele zweier Bilder eines Baumes, die von zwei Richtungen her durch einen Photo­graphierapparat aufgenommen sind. Die Bilder sind ver­schieden; aber ihre Verschiedenheit beruht nicht auf dem Wesen des Apparates, sondern auf der Stellung des Bau­mes zum Apparat. Und diese ist etwas ebenso außerhalb des Apparates Liegendes wie der Baum selbst. Die Bilder sind beide wahre Ansichten von dem Baume. Das Ab­weichende zweier Weltanschauungen hindert nicht, daß beide die wahre Wirklichkeit zum Ausdrucke bringen. -Die Wirrnis der Ideen entsteht, wenn die Menschen dieses nicht durchschauen. Wenn sie sich zu Materialisten, Idea­listen,

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Monisten, Dualisten, Spiritualisten, Mystikern oder gar - Theosophen machen, oder von anderen gemacht wer­den, und damit ausgedrückt werden soll: man käme nur zu einer wahren Ansicht über die Quellen des Lebens, wenn man seine ganze Denkweise im Sinne eines dieser Begriffe abstimmt. Aber es ist die Wirklichkeit selbst, die von der einen Seite her durch materialistische Ideen erkannt sein will; von einer anderen durch geistgemäße, von einer drit­ten als Einheit (Monon), von einer weiteren als Zweiheit. Der denkende Mensch möchte durch eine Vorstellungsart das Wesen der Wirklichkeit umfassen. Und wenn er be­merkt, daß er dieses umsonst unternimmt, so behilft er sich damit, daß er sagt: alle Vorstellungen über die Wurzeln des wirklichen Lebens sind persönlich (subjektiv) gestaltet, und das Wesen des «Dinges an sich» bleibt unerkennbar. - Aus wie vielen Verwirrungen des Gedankenlebens heraus führte doch die Erkenntnis, daß gar mancher Mensch über eine von der seinigen abweichende Weltanschauung so spricht, wie einer, der das von einer Seite her aufgenom­mene Bild eines Baumes kennt, und der, gestellt vor ein von anderer Seite her erhaltenes, nicht zugeben will, daß dies ein «richtiges» Bild desselben Baumes ist!

Viele, die sich Lebenspraktiker dünken, trösten sich über solch quälende Weltanschauungsfragen allerdings dadurch hinweg, daß sie sagen: lasset diejenigen über diese Dinge streiten, die dazu Muße und Lust haben; dem wahren Leben schadet dies nichts; das braucht sich darum nicht zu bekümmern. Aber so sprechen können doch nur diejenigen Menschen, welche gar nicht ahnen, wie weit ihre Vorstel­lungen von den wirklichen Triebkräften des Lebens ent­fernt sind. Es sind dies diejenigen Menschen, deren Bild

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Johann Gottlieb Fichte vor der Seele stand, als er die Worte sprach: «Indes man in demjenigen Umkreise, den die gewöhnliche Erfahrung um uns gezogen, allgemeiner selbst denkt und richtiger urteilt, als vielleicht je, sind die mehrsten völlig irre und geblendet, sobald sie auch nur eine Spanne über denselben hinausgehen sollen. Wenn es unmöglich ist, in diesen den einmal ausgelöschten Funken des höheren Genius wieder anzufachen, muß man sie ruhig in jenem Kreise bleiben, und insofern sie in demselben nützlich und unentbehrlich sind, ihnen ihren Wert in und für denselben ungeschmälert lassen. Aber wenn sie darum nun selbst verlangen, alles zu sich herabzuziehen, wozu sie sich nicht erheben können, wenn sie zum Beispiel fordern, daß alles Gedruckte sich als ein Kochbuch, oder als ein Re­chenbuch, oder als ein Dienstreglement solle gebrauchen lassen, und alles verschreien, was sich so nicht brauchen läßt, so haben sie selbst um ein Großes Unrecht. - Daß Ideale in der wirklichen Welt sich nicht darstellen lassen, wissen wir andern vielleicht so gut als sie, vielleicht besser. Wir behaupten nur, daß nach ihnen die Wirklichkeit be­urteilt, und von denen, die dazu Kraft in sich fühlen, modi­fiziert werden müsse. Gesetzt, sie könnten auch davon sich nicht überzeugen, so verlieren sie dabei, nachdem sie einmal sind, was sie sind, sehr wenig; und die Menschheit verliert nichts dabei. Es wird dadurch bloß das klar, daß nur auf sie nicht im Plane der Veredlung der Menschheit gerechnet ist. Diese wird ihren Weg ohne Zweifel fortsetzen; über jene wolle die gütige Natur walten und ihnen zu rechter Zeit Regen und Sonnenschein, zuträgliche Nahrung und ungestörten Umlauf der Säfte, und dabei - kluge Gedan­ken verleihen!» -

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Ein Verhängnisvolles liegt gerade darin, daß die das Leben befruchtenden Ideen einzelner Weltanschauungen von diesem Leben ferngehalten werden durch den Glau­ben, ihre Verschiedenheit beweise, daß sie insgesamt sub­jektiv gefärbt seien durch die Vorstellungsarten ihrer Den­ker. Dadurch wird auf die Reden der charakterisierten Ideen-Gegner ein Schein des Rechtes geworfen. Nicht, was sie enthalten, verurteilt die Weltanschauungen der Denker zur Unfruchtbarkeit für das Leben, sondern der zumeist in ihrem Gefolge auftretende Glaube, entweder müsse eine Gedankenrichtung die ganze Wirklichkeit offenbaren, oder sie seien alle nur persönlich gefärbte Ansichten. - Diese Schrift möchte zeigen, inwiefern in den Ideen einzelner Denker trotz deren Verschiedenheit die Wahrheit lebt, und nicht bloß persönlich gefärbte Ansichten.

Nur dadurch, daß man versucht zu erkennen, inwiefern die Wirklichkeit selbst in ihrem Verhältnis zum Menschen durch verschiedene Vorstellungsarten sich offenbart, ringt man sich auch zu einem begründeten Urteile hindurch über dasjenige, was aus dem Wesen des die Welt beobachtenden Denkers stammt. Man durchschaut, wie des einen Denkers Wesenheit mehr nach dem einen, die des andern mehr nach dem anderen Verhältnis der außermenschlichen (objek­tiven) Wirklichkeit zum Menschen hindrängt. Man sieht zunächst die scharf ausgeprägte persönliche Denkungsrich­tung einer Persönlichkeit. Man ist versucht, zu glauben, deren Weltanschauung sei deshalb auch nur eine persön­liche (subjektive) Vorstellungsart, weil man bemerkt, wie sie ihre Grundlagen in der persönlichen Denkrichtung hat. Erkennt man aber, wie diese persönliche Denkrichtung ge­rade bewirkt, daß der Denker sich auf einen bestimmten

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Gesichtspunkt stellt, durch den sich die außermenschliche (objektive) Wirklichkeit in ein besonderes Verhältnis zu ihm stellen kann, so entwindet man sich der Verwirrung, in die man durch den Anblick der verschiedenen Welt­anschauungen gebracht werden kann.

Gar mancher wird zu dem Vorgebrachten vielleicht sa­gen: ja, aber das ist doch alles von einem gewissen Gesichts­punkte aus ganz selbstverständlich, und deshalb ist es über­flüssig, es erst vorzubringen. Aber der so sagt, wird oftmals gerade ein solcher sein, der in seinem Urteilen und Han­deln überall gegen diese Anschauung von Wahrheit und Wirklichkeit verstößt.

Mit der dargestellten Ansicht soll aber nicht eine Recht­fertigung gegeben sein jeder menschlichen Meinung, die sich als Weltanschauung ansieht. Wirkliche Irrtümer, Fehler­haftigkeit der Erkenntnisquellen, Gesichtspunkte, von denen aus nur eine umnebelte Einbildung Weltanschauungsgedan­ken schaffen will: alles dieses wird sich gerade in dem Lichte zeigen, zu dem diese Ansicht dringt. Indem sie zu erfahren sucht, inwiefern in voneinander abweichenden menschlichen Gedanken die eine Wirklichkeit sich offen­bart, darf sie auch hoffen, einen Blick dafür zu gewinnen, wo eine menschliche Meinung von der Wirklichkeit selbst zurückgewiesen wird.

Empfindet man, wie die Kräfte der Volkheit in den Denkern eines Volkes wirken, so steht diese Empfindung mit der hier ausgesprochenen Ansicht in vollem Einklange. Die Volkheit will nicht darüber entscheiden, wie ein Den­ker seine Gedanken gestaltet; aber sie wirkt, zusammen mit andern seinen Gesichtspunkt bestimmenden Kräften, auf das Verhältnis zum Dasein, durch das die Wirklichkeit

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nach der einen oder der anderen Richtung sich ihm offenbart. Sie braucht nicht sein Anschauungsvermögen zu trüben; aber sie kann sich als besonders geeignet erweisen, den ihr angehörigen Denker auf einen Platz zu stellen, auf dem er eine gewisse Vorstellungsart der für die Menschheit gemeinsamen Wahrheit entwickeln kann. Sie will ihm nicht Richter sein über die Erkenntnis; aber sie kann ihm treu-fördernder Berater sein auf dem Wege zur Wahrheit. In­wiefern dies von deutscher Volkheit empfunden werden kann, dafür sollten in dieser Schrift Andeutungen gegeben werden durch Schilderung einer Reihe von Persönlichkeiten, die aus dieser Volkheit aufgestiegen sind. Der Verfasser dieser Schrift hofft, man werde aus ihr seine Empfindung erkennen, daß liebevolles erkennendes Vertiefen in die seelische Eigenart einer Volkheit nicht führen müsse zur Verkennung und Mißachtung des Wesens und Wertes an­derer Volkheiten. Unnötig wäre zu anderer Zeit, dies be­sonders zu sagen. Heute ist es nötig angesichts der Gefühle, die von vielen Seiten deutschem Wesen entgegengebracht werden.

Von dem Anteil sowohl deutscher wie auch deutsch-österreichischer Persönlichkeiten am Geistesleben zu spre­chen, liegt dem Verfasser dieser Schrift besonders nahe; ist er doch durch Geburt und Erziehung Deutschösterreicher, der seine ersten drei Lebensjahrzehnte in Österreich, und dann eine - bald ebenso lange - Zeit in Deutschland ver­lebt hat. - Wie er über die Stellung der meisten in dieser Schrift behandelten Persönlichkeiten im allgemeinen Gei­stesleben denkt, darüber hat er sich in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie» ausgesprochen. Dort Gesagtes hier zu wiederholen, lag nicht in seiner Absicht. Er kann gut

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verstehen, daß jemand über die Auswahl der geschilderten Persönlichkeiten anderer Ansicht sein kann als er. Aber er wollte, ohne nach irgendeiner Richtung Vollständigkeit an­zustreben, einfach einiges schildern, was ihm Anschauung und Lebenserfahrung geworden ist.

Berlin, im Mai 1916 Rudolf Steiner

Zusatz zu dem in voran gehendem Vorwort Gesagten für die Neu-Ausgabe von 1918

Steht man als Betrachter dem «Denken, Schauen und Sinnen» einer Persönlichkeit gegenüber, so kann man die Empfindung haben, man beobachte in der Seele einer sol­chen Persönlichkeit wirksame Kräfte, die ihrer Vorstellungsart die Richtung und die besondere Kennzeichnung geben, die aber von ihr selbst nicht zum Inhalte ihres Denkens gemacht werden. Mit einer solchen Empfindung muß durchaus nicht die eitle Meinung verknüpft sein, man könne sich als Betrachter über die betrachtete Persönlich­keit stellen. Die Tatsache, daß man als Betrachter einen anderen Gesichtspunkt hat als der Betrachtete, macht mög­lich, daß man dies aussprechen kann, was der andere nicht ausgesprochen hat. Was er deshalb nicht ausgesprochen, ja, was er vor das eigene Denken nicht gebracht, son­dern im unbewußten Seelenleben gelassen hat, weil durch dieses Nicht-Aussprechen das von ihm Gesagte seine volle Bedeutung erlangt hat. Je bedeutender dasjenige ist, was ein Mensch zu sagen hat, desto umfangreicher ist das, was

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in seinen Seelentiefen unbewußt waltet. In den Seelen derer, die sich in das Denken, das Sinnen einer solchen Per­sönlichkeit versenken, klingt aber dieses Unbewußte an. Und sie dürfen es auch ins Bewußtsein heraufholen, weil es bei ihnen ja nicht mehr zum Hemmnis für das Auszu­sprechende werden kann.

Die Persönlichkeiten, von welchen in dieser Schrift die Rede ist, sich einen in besonders starkem Maße solche zu sein, die Anlaß geben, von ihrem Ausgesprochenen zu dem vorzudringen, was sie unausgesprochen gelassen haben. Deshalb glaubte der Verfasser dieses Buches dessen Dar­stellung mit den «Ausblicken», die den Abschluß bilden, erst von dem eingenommenen Gesichtspunkte aus zu einer vollständigen zu machen. Er ist der Ansicht, daß er da­durch in die Anschauungen der betrachteten Persönlichkeiten nicht etwas Unberechtigtes hineingetragen hat, son­dern das gesucht hat, aus dem sie in wahrem Sinne des Gedankens herausgeflossen sind. Das Unausgesprochene ist in ,diesem Falle ein reich mit Samen besetzter Boden, aus dem das Ausgesprochene als einzelne Früchte hervorge­sproßt ist. Beobachtet man diese Früchte so, daß man sich bewußt wird des samentragenden Bodens, auf dem sie ge­reift sind, dann wird man gerade dadurch gewahr, wie dasjenige, was die Seele mit den bedeutsamsten Menschenrätseln erleben muß, bei den in dieser Schrift geschilderten Persönlichkeiten tiefgehende Anregungen, mächtige Hin­weise in zielsichere Richtungen und stärkende Kräfte für fruchtbare Einsichten finden kann. Durch eine solche Be­trachtung wird man hinwegkommen über die Scheu vor der scheinbaren Abstraktheit gegenüber den Gedanken die­ser Persönlichkeiten, die viele gar nicht an sie herankommen

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läßt. Man wird ersehen, daß diese Gedanken, recht angesehen, von unbegrenzter Lebenswärme voll sind, einer Wärme, welche der Mensch suchen muß, wenn er sich nur wirklich selbst recht versteht.

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Der Idealismus als Seelenerwachen: Johann Gottlieb Fichte

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Johann Gottlieb Fichte sucht in seinen Reden über «Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters» und «an die deutsche Nation» eine Darstellung zu finden für die in der Mensch­heitsentwickelung wirksamen Geisteskräfte. Er durchdringt sich durch die Gedanken, die er in diesen Reden zum Ausdruck bringt, mit der Empfindung, daß die treibende Kraft seiner Weltanschauung aus dem innersten Wesen der deut­schen Volksart fließt. Er hat die Ansicht, daß er Gedanken ausspricht, welche die deutsche Volksseele aussprechen muß, wenn sie aus dem Kern ihrer Geistigkeit heraus sich offen­baren will. Die Art, wie Fichte nach seiner Weltanschauung rang, macht verständlich, daß diese Empfindung in seiner Seele leben konnte. Für den Betrachter eines Denkers muß es bedeutsam erscheinen, die zu dessen Gedankenfrüchten gehörigen Wurzeln zu erforschen, die in seinen Seelentiefen wirken, und die nicht unmittelbar in seinen Gedankenwelten ausgesprochen sind; die jedoch als die treibenden Kräfte in diesen Gedankenwelten leben.

Was für eine Weltanschauung man hat, das hängt da­von ab, was für ein Mensch man ist: Fichte sprach diese Überzeugung aus dem Bewußtsein heraus, daß alle Lebenstriebe seiner eigenen Persönlichkeit als ihre naturgemäße selbstverständliche Frucht die begriffsstarken Gipfelhöhen seiner Weltanschauung hervorbringen mußten. Dieser Welt­anschauung, in deren Mittelpunkt des Verständnisses sich nicht viele versetzen wollen, weil sie, was sie finden, für

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weltenfremde Gedanken halten, in die einzudringen nur Aufgabe des Denkers «von Beruf» sein könne. Verständ­lich ist diese Empfindung bei demjenigen, der ohne philo­sophische Vorbereitung an Fichtes Gedanken herantritt, indem er sie in dessen Werken aufsucht. Doch ist es für denjenigen, der die Möglichkeit hat, sich in das volle Leben dieser Gedanken zu versetzen, nicht absonderlich, sich vor­zustellen, daß eine Zeit kommen werde, in der man Fichtes Ideen wird in eine Form gießen können, die jedem ver­ständlich ist, der aus dem Leben heraus sich über den Sinn dieses Lebens Vorstellungen machen will. Auch für das einfachste Menschengemüt, das ferne steht dem, was man philosophisches Denken nennt, werden diese Ideen dann zugänglich sein können. Denn sie haben zwar ihre philo­sophische Gestalt erhalten von dem Charakter, den die Gedankenentwickelung in Denkerkreisen um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts angenom­men hat; ihre Lebenskraft haben sie aber aus Seelenerleb­nissen, die in jedem Menschen vorhanden sind. Gewiß ist gegenwärtig die Zeit noch nicht gekommen, in der ein solches Umgießen Fichtescher Gedanken aus der Sprache seiner Zeitphilosophie in die allgemein-menschliche Aus­drucksform völlig möglich wäre. Solche Dinge werden nur mit dem allmählichen Fortschreiten gewisser Vorstellungsarten im Geistesleben möglich. So wie Fichte selbst genötigt war, seine Seelenerlebnisse in die Gipfelhöhen dessen zu tragen, was man gewöhnlich abstraktes Denken nennt und kalt und lebensfremd findet, so ist es auch gegenwärtig wohl nur in eingeschränktem Maße möglich, diese Seelenerlebnisse herunterzutragen aus jenen Höhen.

Nach immer neuen Ausdrucksformen für diese Seelenerlebnisse

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rang Fichte von seiner frühen Jugend an bis dahin, da jäh der Tod ihn noch im Mannesalter erreichte. In allem Ringen ist ein Erkenntnisgrundtrieb bei ihm offenkundig. In der eigenen Menschenseele will er ein Le­bendiges suchen, in dem der Mensch nicht nur die Grundkraft seines eigenen Daseins erfaßt, sondern in dem, seinem Wesen nach, erkannt werden kann auch dasjenige, was in der Natur und in allem anderen Außermenschlichen webt und wirkt. Im Wassertropfen hat man im Verhältnis zum Meere ein winziges Kügelchen. Erkennt man aber dieses in seinem Wassercharakter, so hat man in dieser Erkenntnis auch diejenige des Wassercharakters des ganzen Meeres. Ist im Menschenwesen etwas aufzufinden, das sich als eine Offenbarung des innersten Weltwebens erleben läßt, dann darf man hoffen, durch vertiefte Selbsterkenntnis zur Welterkenntnis fortzuschreiten.

Auf dem Wege, der sich aus dieser Empfindung ergibt, wandelte die Weltanschauungsentwickelung lange vor Fich­tes Zeitalter. Er aber ward mit seinem Leben auf einen bedeutungsvollen Punkt dieser Entwickelung gestellt. Wie er seine nächsten Anstöße von den Weltanschauungen Spi­nozas und Kants her erhielt, das ist an vielen Orten zu lesen. Die Art, wie er sich durch das Wesen seiner Persön­lichkeit zuletzt in Weltanschauungsfragen verhielt, wird aber am anschaulichsten, wenn man ihm den Denker gegen­überstellt, der ebenso aus romanischem Denken hervor­gegangen ist wie Fichte aus deutschem: Descartes (Carte­sius. 1596-1650). In Descartes tritt deutlich zutage, wie aus der angedeuteten Empfindung heraus der Denker eine Sicherheit in der Welterkenntnis durch das Gewinnen eines festen Punktes in der Selbsterkenntnis sucht. Vom Zweifel

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an aller Welterkenntnis nimmt Descartes seinen Ausgangs­punkt. Er sagt sich: die Welt, in der ich lebe, offenbart sich in meiner Seele, und ich bilde mir aus ihren Offen­barungen Vorstellungen über den Lauf der Dinge. Was aber verbürgt mir, daß diese meine Vorstellungen mir wirklich etwas über das Wirken und Weben im Weltlauf sagen? Könnte es nicht so sein, daß meine Seele zwar von den Dingen gewisse Eindrücke empfängt; diese Eindrücke aber den Dingen selbst so ferne ständen, daß mir in ihnen sich nichts von dem Sinn der Welt enthüllte? Darf ich an­gesichts dieser Möglichkeit sagen: ich weiß dies oder jenes von der Welt? Man sieht, in diesem Meer des Zweifels kann dem Denker alle Erkenntnis zu einem Traum der Seele werden, und ihm nur die eine Überzeugung sich auf­drängen: daß der Mensch nichts wissen könne. Für einen Menschen aber, dem die Triebkraft des Denkens in der Seele so lebendig geworden ist, wie im Körper die Triebkraft des Hungers lebendig ist: für den bedeutet seelisch die Überzeugung, daß der Mensch nichts wissen könne, das gleiche, was für den Körper das Verhungern bedeutet. Alle innersten Stimmungen von Seelengesundheit im höhern Sinne bis zum Erfühlen des «Seelenheiles» hängen damit zusammen.

In der Seele selbst findet Descartes den Punkt, auf den er die Überzeugung stützen kann: die Vorstellungen, die ich mir von dem Weltenlauf bilde, sind kein Traum; sie leben ein Leben, das im Leben der ganzen Welt ein Glied ist. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, an einem kann ich es nicht, denn ich strafte mich mit solchem Zweifel selbst Lügen. Ist es denn nicht gewiß, daß ich, indem ich mich dem Zweifel hingebe, denke? Ich könnte nicht zweifeln,

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wenn ich nicht dächte. Unmöglich also kann ich mein eige­nes Erleben im Denken bezweifeln. Wollte ich durch den Zweifel das Denken töten: es stünde aus dem Zweifel lebendig wieder auf. Mein Denken lebt also; es steht somit in keiner Welt des Traumes; es steht in der Welt des Seins. Könnte ich glauben, daß alles andere, auch mein eigener Leib, mir ein Sein nur vortäusche; mein Denken täuscht mich nicht. So wahr ich denke, so wahr bin ich, indem ich denke. Aus solchen Empfindungen heraus erklang Descar­tes': «Ich denke, also bin ich» (Cogito ergo sum). Und wer ein Ohr für solche Dinge hat, wird die Kraft dieses Wortes auch bei den auf Descartes folgenden Denkern bis zu Kant fortklingen hören. - Erst bei Fichte hört dieser Klang auf. Vertieft man sich in seine Gedankenwelt, sucht man sein Ringen nach einer Weltanschauung mitzuerleben, so fühlt man, wie auch er in der Selbsterkenntnis Welterkenntnis sucht: aber man hat die Empfindung, das «Ich denke, also bin ich» könnte seinem Ringen nicht der Fels sein, auf dem er sich sicher glaubte in den Wogen des Zweifels, die ihm die menschlichen Vorstellungen zu einem Meere von Träumen zu machen vermöchten. Man empfin­det, wie bei Fichte die Fähigkeit zu zweifeln gewisser­maßen in einer ganz andern Kammer der Seele sitzt als bei Descartes, wenn man sich die Sätze vorhält, die er in seiner (1800 erschienenen) «Bestimmung des Menschen» geschrieben hat: «Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. - Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der

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Bilder: - Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bil­dern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. - Alle Realität ver­wandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traum von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken - die Quelle alles Seins und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seins, meiner Kraft, meiner Zwecke - ist der Traum von jenem Traume.» Diese Gedanken drän­gen sich Fichte nicht in die Seele wie eine letzte Wahrheit vom Dasein. Er will nicht etwa wirklich die Welt als Traumgebilde ansehen. Er will nur zeigen, daß all die Gründe, welche der Mensch gewöhnlich für die Gewißheit einer Erkenntnis aufbringt, vor einem durchdringenden Blick nicht bestehen können, daß man mit diesen Gründen nicht das Recht habe, die Ideen, die man sich über die Welt macht, als etwas anderes denn als Traumgebilde anzu­sehen. Und nicht gelten lassen kann Fichte, daß im Den­ken selbst irgendeine Gewißheit über das Sein stecke. War­um sollte ich sagen: «Ich denke, also bin ich», da doch, wenn ich in einem Meere von Träumen lebe, mein Denken nichts weiter sein kann als «der Traum vom Traume»? Der Einschlag, der in die Gedanken über die Welt die Wirklichkeit trägt, muß für Fichte von ganz anderer Seite kommen als vom bloßen Denken über die Welt.

Wenn Fichte davon spricht, daß die Art des deutschen Volkstums in seiner Weltanschauung lebt, so wird dieser

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Gedanke verständlich, wenn man gerade das Bild des Weges zur Selbsterkenntnis, den er im Gegensatze zu Des­cartes sucht, sich vor die Seele rückt. Dieser Weg kann als das angesehen werden, was Fichte als «deutsch» empfin­det; und man kann ihn als Wanderer auf diesem Weg dem auf romanischen Geistesbahnen schreitenden Descartes ge­genüberstellen. Descartes sucht einen festen Punkt für die Selbsterkenntnis; er erwartet, daß ihm irgendwo dieser feste Punkt gegenübertreten werde. Im Denken glaubt er ihn gefunden zu haben. Fichte erwartet von solcher Art des Suchens gar nichts. Denn, was er auch finden könnte: warum sollte es denn eine höhere Gewißheit geben als vorher Gefundenes? Nein, auf diesem Wege des Suchens ist überhaupt nichts zu finden. Denn er kann nur von Bild zu Bild führen; und kein Bild, auf das man stößt, kann von sich aus sein Sein verbürgen. Also muß man zunächst den Weg durch die Bilder ganz verlassen und ihn erst wie­der betreten, wenn man von anderer Seite her Gewißheit geholt hat.

Man muß gegenüber dem «Ich denke, also bin ich»etwas scheinbar recht Einfältiges sagen, wenn man es ent­kräften will. Doch geht es so mit vielen Gedanken, die der Mensch in seine Weltanschauung aufnimmt: sie lösen sich nicht durch weitausholende Einwände auf, sondern durch das Bemerken einfach liegender Tatbestände. Man unter­schätzt nicht die Denkerkraft einer Persönlichkeit von der Art des Descartes, wenn man ihm einen solch einfachen Tatbestand entgegenhält. Das Gleichnis vom Ei des Ko­lumbus bleibt ja doch ewig wahr. Und so ist es auch wahr, daß das «Ich denke, also bin ich» einfach zerschellt an dem Tatbestand des Schlafes. Jeder Schlaf des Menschen,

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der das Denken unterbricht, zeigt zwar nicht, daß im Den­ken nicht ein Sein liege, aber doch jedenfalls, daß «Ich bin, auch wenn ich nicht denke». Müßte man also das Sein aus dem Denken herausholen, so wäre es keinesfalls verbürgt für die Zustände der Seele, in denen das Denken aufhört. Wenn Fichte diese Wendung des Gedankens in dieser Form auch nicht ausgesprochen hat, so darf wohl doch gesagt werden: die Kraft, die in diesem einfachen Tatbestand liegt, wirkte - unbewußt - in seiner Seele und hinderte ihn, einen Weg zu nehmen, wie ihn Descartes genommen hat.

Durch den Grundcharakter seines Empfindens wurde Fichte auf einen ganz anderen Weg geführt. Sein Leben von Kindheit an offenbart diesen Grundcharakter. Man braucht nur einzelne Bilder aus diesem Leben vor der Seele auftreten zu lassen, um das zu durchschauen. Aus der Kindheit wird ein bedeutsames Bild lebendig. Siebenjährig ist Johann Gottlieb. Er war bisher ein gut lernender Knabe. Der Vater schenkt ihm, um seinen Fleiß anzuerkennen, das Volksbuch vom «Gehörnten Siegfried». Der Knabe wird von dem Buche ganz eingenommen. Er vernachlässigt in etwas seine Pflichten. Er wird an sich selbst dieses gewahr. Der Vater trifft ihn, wie er eines Tages den «Ge­hörnten Siegfried» in den Bach wirft. Das ganze Herz des Knaben hängt an dem Buch; aber wie dürfte das Herz be­halten etwas, das von der Pflicht abbringt! So lebt in dem Knaben Fichte schon unbewußt das Gefühl: der Mensch ist in der Welt als Ausdruck einer höheren Ordnung, die sich in die Seele senkt nicht durch das Interesse an diesem oder jenem, sondern durch die Wege, durch die er die Pflicht erkennt. Man sieht hier den Trieb zu Fichtes Stellung­nahme gegenüber der Gewißheit von der Wirklichkeit. Gewiß

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für den Menschen ist nicht, was wahrnehmend erlebt wird, sondern was in der Seele so auflebt, wie die Pflicht sich offenbart. - Ein anderes Bild: Der Knabe ist neunjährig. Der Gutsnachbar seines Vaterdorfes kommt eines Sonntags in dieses, um sich die Predigt des Pfarrers anzu­hören. Er trifft zu spät ein. Die Predigt ist vorbei. Die Leute erinnern sich, der neunjährige Johann Gottlieb be­wahre die Predigten in seiner Seele so, daß er sie voll wiedergeben kann. Man holt ihn. Der Knabe im Bauern­kittelchen tritt auf. Linkisch zunächst; dann aber die Predigt so von sich gebend, daß man merkt, was in dieser Predigt lebte, hat seine Seele ganz erfüllt; er gibt nicht bloß die gemerkten Worte wieder; er gibt sie aus dem Geiste der Predigt heraus, der in ihm lebt als vollkommenes Selbsterlebnis. Solche Fähigkeit, im eigenen Selbst aufleuchten zu lassen, was von der Welt an dieses Selbst herantrat, lebte in dem Knaben. Das ist doch die Anlage zu einem Erleben des Geistes der Außenwelt im eigenen Selbst. Das ist die Anlage dazu, in dem erkrafteten Selbst die tragende Macht einer Weltanschauung zu finden. Eine hell beleuch­tete Entwickelungsströmung der Persönlichkeit führt von solchen Knabenerlebnissen zu einem Vortrag, den der geistvolle Naturforscher Steffens von Fichte, der damals Professor in Jena war, gehört hat, und den er beschreibt. Fichte fordert im Verlauf dieses Vortrages seine Zuhörer auf: «Denken Sie an die Wand!» Die Zuhörer bemühten sich, an die Wand zu denken. Nachdem sie das eine Zeit­lang getan, folgt Fichtes nächste Aufforderung: «Und nun denken Sie an den, der an die Wand gedacht hat!» Welches Streben nach unmittelbarem Zusammenleben des eigenen Seelenlebens mit dem Seelenleben der Zuhörer! Der Hinweis

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auf eine unmittelbar vorzunehmende innere Seelenbetätigung, der nicht bloß anstrebt, daß ein mitzuteilendes Wort nachgedacht werde, sondern der ein in den Seelen der Zuhörer schlummerndes Lebendiges wecken will, auf daß diese Seelen in einen Zustand kommen, der ihr bis­heriges Verhältnis zu dem Weltenlauf ändere.

In solchem Vorgehen spiegelt sich Fichtes ganze Art, einen Weg zu einer Weltanschauung zu bahnen. Er sucht nicht wie Descartes nach dem Denkerlebnis, das Gewißheit bringen soll. Er weiß, solchem Suchen winkt kein Finden. Man kann bei solchem Suchen nicht wissen, ob man im Traume oder in Wirklichkeit gefunden hat. Also nicht sich ergehen in einem Suchen. Sich erkraften aber in einem Aufwachen. Einem Aufwachen ähnlich muß sein, was die Seele erlebt, wenn sie aus dem Felde der gewöhnlichen in das der wahren Wirklichkeit dringen will. Das Denken verbürgt dem menschlichen Ich nicht das Sein. Aber in diesem Ich liegt die Kraft, sich selbst zum Sein zu er­wecken. Jedesmal, wenn die Seele im Vollbewußtsein der inneren Kraft, die dabei lebendig wird, sich als «Ich»empfindet, tritt ein Vorgang ein, der sich darstellt als ein Sich-Erwecken der Seele. Dieses Sich-selbst-Erwecken ist die Grundwesenheit der Seele. Und in dieser sich selbst erweckenden Kraft liegt die Gewißheit des Seins der Men­schenseele. Möge die Seele durch Traumes- und durch Schlafzustände hindurchgehen: man erfaßt die Kraft ihrer Selbsterweckung aus jedem Traum und jedem Schlaf, in­dem man die Vorstellung des Erwachens zum Bilde ihrer Grundkraft macht. In dem Gewahrwerden der selbsterwec­kenden Macht erfühlt Fichte die Ewigkeit der Menschenseele. Aus diesem Gewahrwerden flossen ihm Worte wie diese:

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«Es verschwindet vor meinem Blicke und versinkt die Welt, die ich noch soeben bewunderte. In aller Fülle des Lebens, der Ordnung und des Gedeihens, welche ich in ihr schaue, ist sie doch nur der Vorhang, durch den eine unendlich voll­kommenere mir verdeckt wird, und der Keim, aus dem diese sich entwickeln soll. Mein Glaube tritt hinter diesen Vorhang und erwärmt und belebt diesen Keim. Er sieht nichts Bestimmtes, aber erwartet mehr, als er hienieden fassen kann, und je in der Zeit wird fassen können. - So lebe, und so bin ich, und so bin ich unveränderlich, fest und vollendet für alle Ewigkeit; denn dieses Sein ist kein von außen angenommenes, es ist mein eignes, einiges wah­res Sein und Wesen.» (Bestimmung des Menschen.)

Man wird nicht versucht sein, eine solche Anschauung bei Fichte als den Beweis für eine dem unmittelbaren kraft­vollen Erdenleben abgewandte, lebenfeindliche Gedankenrichtung anzusehen, wenn man seine ganze Art, sich zu diesem Leben zu stellen, und die lebenfreundliche, lebenfördernde Gesinnung, die all sein Wirken und Denken durchdringt, ins Auge faßt. In einem Briefe aus dem Jahre 1790 steht ein Satz, der gerade mit Bezug auf seinen Un­sterblichkeitsgedanken auf diese Gesinnung bedeutungs­volles Licht wirft: «Das sicherste Mittel, sich von einem Leben nach dem Tode zu überzeugen, ist das, sein gegen­wärtiges so zu führen, daß man es wünschen darf.»

In der sich selbst erweckenden inneren Tätigkeit der Menschenseele liegt für Fichte die Kraft der Selbsterkennt­nis. Und innerhalb dieser Tätigkeit findet er in der Seele auch die Stelle, wo Weltengeist im Seelengeist sich offen­bart. Es webt und wirkt durch alles Sein für diese Welt­anschauung der Weltenwille; und im Wollen des eigenen

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Wesens kann die Seele in sich diesen Weltenwillen darlegen. Das Ergreifen der Lebenspflichten, die in der Seele anders erlebt werden als die Wahrnehmungen der Sinne und der Gedanken, sind das nächste Beispiel dafür, wie der Weltenwille durch die Seele hindurchpulsiert. So muß ergriffen werden die wahre Wirklichkeit; und alle andere Wirklichkeit, auch die des Denkens, erhält ihre Gewißheit durch das Licht, das auf sie von der Wirklichkeit des in der Seele sich offenbarenden Weltwillens fällt. Dieser Weltenwille treibt den Menschen zur Tätigkeit, zum Han­deln. Als Sinneswesen muß der Mensch das, was der Weltenwille von ihm verlangt, in einer sinnlichen Weise verwirk­lichen. Wie aber könnten die Taten des Willens ein wirk­liches Dasein haben, wenn sie dieses Dasein in einer Traum­welt suchen müßten. Nein, die Welt kann kein Traum sein, weil in ihr die Taten des Willens nicht bloß geträumt, sondern verwirklicht sein müssen. - Indem das Ich sich im Erleben des Weltwillens erweckt, erlangt es die feste Stütze der Gewißheit seines Seins. Fichte spricht sich dar­über in seiner «Bestimmung des Menschen» aus: «Mein Wille soll schlechthin durch sich selbst, ohne alles seinen Ausdruck schwächende Werkzeug, in einer ihm völlig gleichartigen Sphäre, als Vernunft auf Vernunft, als Gei­stiges auf Geistiges wirken; - in einer Sphäre, der er jedoch das Gesetz des Lebens, der Tätigkeit, des Fortlaufens nicht gebe, sondern die es in sich selbst habe; also auf selbst­tätige Vernunft. Aber selbsttätige Vernunft ist Wille. Das Gesetz der übersinnlichen Welt wäre sonach ein Wille . . . Jener erhabene Wille geht sonach nicht abgesondert von der übrigen Vernunftwelt seinen Weg für sich. Es ist zwi­schen ihm und allen endlichen vernünftigen Wesen ein

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geistiges Band, und er selbst ist dieses geistige Band der Vernunftwelt... Ich verhülle vor dir mein Angesicht und lege die Hand auf den Mund. Wie du für dich selbst bist und dir selbst erscheinest, kann ich nie einsehen, so gewiß ich nie du selbst werden kann. Nach tausendmal tausend durchlebten Geisterwelten werde ich dich noch ebensowenig begreifen als jetzt, in dieser Hütte von Erde. - Was ich begreife, wird durch mein bloßes Begreifen zum End­lichen; und dieses läßt auch durch unendliche Steigerung und Erhöhung sich nie ins Unendliche umwandeln. Du bist vom Endlichen nicht dem Grade, sondern der Art nach verschieden. Sie machen dich durch jene Steigerung nur zu einem größern Menschen, und immer zu einem größern; nie aber zum Gotte, zum Unendlichen, der keines Maßes fähig ist.»

Eine Weltanschauung erstrebte Fichte, die alles Sein bis zur Wurzel des Lebendigen verfolgt, und die in dem Lebendigen dessen Sinn erkennt durch das Zusammen­leben der Menschenseele mit dem alles durchpulsenden Weltwillen, der die Natur schafft, um in ihr eine geistig moralische Ordnung wie in einem äußeren Leibe zu ver­wirklichen. Eine solche Weltanschauung war ihm die aus dem Charakter des deutschen Volkes entspringende. Ihm war eine Weltanschauung undeutsch, die nicht «an Geistig­keit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt», und die nicht «die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit und Freiheit will». «Was an Stillstand, Rückgang und Zirkeltanz glaubt oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt», widerstrebt für seine Anschauung nicht nur einer tiefer dringenden Erkenntnis, sondern auch der wahrhaft deutschen Wesensart.

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Der Idealismus als Natur- und Geistesanschauung: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling steht im Beginne sei­nes Suchens nach einer Weltanschauung Fichte insofern nahe, als auch ihm die Vorstellung von der Seele, die sich in der Tätigkeit des Selbsterwechens als in der Gewißheit ihres Daseins ergreift, zur sicheren Stütze seiner Erkenntnis wird. Doch strahlen von dieser Grundempfindung in Schel­lings Geist andere Gedanken aus als in dem Fichtes. Für diesen leuchtet in die erwachende Seele der umfassende Weltenwille als ein geistiges Lichtreich hinein; und er will die Strahlen dieses Lichtes in ihrem Wesen erkennen. Für Schelling formt sich das Welträtsel dadurch, daß er sich mit der zum «Ich» erwachten Seele der scheinbar stum­men, toten Natur gegenübergestellt sieht. Aus dieser Natur heraus erwacht die Seele. Dies offenbart sich der mensch­lichen Beobachtung. Und in diese Natur versenkt sich der erkennende, der fühlende Menschengeist und erfüllt sich durch sie mit einer inneren Welt, die dann in ihm geistiges Leben wird. Könnte dies so sein, wenn nicht eine dem Menschenerkennen zunächst verborgene tiefinnere Ver­wandtschaft bestände zwischen der Seele und der Natur? Aber die Natur bleibt stumm, wenn die Seele sich nicht zu ihrem Sprachwerkzeug macht; sie scheint tot, wenn der Geist des Menschen nicht aus dem Schein das Leben entzaubert. Aus den Tiefen der Menschenseele müssen die Geheimnisse der Natur herauftönen. Soll dies aber nicht eine Täuschung sein, so muß es das Wesen der Natur selbst sein, das aus der Seele spricht. Und wahr muß sein, daß die Seele nur scheinbar in ihre eigenen Untergründe

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hinabsteigt, wenn sie die Natur erkennt; in Wirklichkeit muß sie durch unterbewußte Gänge wandeln, um in den Kreislauf des Naturwebens mit dem eigenen Leben unter­zutauchen, wenn sie die Natur finden will. - Schelling sieht in der Natur, wie diese dem gewöhnlichen mensch­lichen Bewußtsein vorliegt, gewissermaßen nur einen phy­siognomischen Ausdruck der wahren Natur, wie man in einem menschlichen Antlitz den Ausdruck der übersinn­lichen Seele sieht. Und wie man durch diesen physiogno­mischen Ausdruck hindurch sich in die Seele des Menschen einlebt, wenn man imstande ist, in das eigene Erleben das fremde aufzunehmen, so gibt es für Schelling eine Mög­lichkeit, die Erkenntnisfähigkeiten des Menschen so zu er­wecken, daß diese in sich miterleben, was seelenhaft und geistig hinter dem äußeren Antlitz der Natur webt und wirkt. Weder also kann die Wissenschaft dieses äußeren Antlitzes für eine Offenbarung dessen gehalten werden, was in den Tiefen der Natur lebt; noch ist die in solcher Wissenschaft sich erschöpfende Erkenntniskraft des Men­schen in der Lage, der Natur ihre wahren Geheimnisse zu entbinden. Schelling will daher eine hinter der gewöhn­lichen menschlichen Erkenntniskraft liegende intellektuelle Anschauung in der Menschenseele zur Erweckung bringen. Diese Anschauungsart offenbart sich - in Schellings Sinne

- als schöpferische Kraft im Menschen; aber so, daß sie nicht aus der Seele heraus Begriffe über die Natur schafft, sondern durch inniges Zusammenleben mit dem Seelenhaften der Natur die Ideenkräfte zur Erscheinung bringt, die in der Natur schaffend walten. Ängstliche Gemüter erbeben bei dem Gedanken einer Naturanschauung, die aus einer solchen «intellektuellen Anschauung» stammen

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soll. Und der Spott und Hohn, der über sie ergossen wor­den ist in der Zeit, die auf die Schellingsche folgte, waren groß. Für einen Menschen, der Einseitigkeit in diesen Dingen zu meiden versteht, gibt es gar nicht die zwie­spältige Notwendigkeit: entweder sich den «Träumereien der Naturphantastik von der Art eines Schelling» hinzu­geben und die sachgemäße, ernste Naturforschung des «groben Materialismus» anzuklagen; oder sich besonnen auf den Standpunkt dieser Forschung zu stellen und alle «Schellingsche Begriffsspielerei als Kinderei abzutun». Man kann in rückhaltloser Art mit unter denen sein, welche der Naturforschung, wie sie das neueste «naturwissenschaft­liche Zeitalter» fordert, die volle Geltung verschaffen wol­len; und kann dennoch das Berechtigte des Schellingschen Versuches verstehen, über diese Naturforschung hinaus eine Naturanschauung zu schaffen, die auf dasjenige Feld sich begibt, welches diese Naturforschung gar nicht wird berühren wollen, wenn sie sich selbst richtig versteht. Un­berechtigt ist nur der Glaube, daß es neben der mit den gewöhnlichen menschlichen Erkenntniskräften zu schaffen­den Naturwissenschaft nicht eine Naturanschauung geben dürfe, die mit anderen Mitteln erlangt wird, als dieser Naturwissenschaft als solcher eigen sind. Warum sollte der Naturforscher glauben müssen, daß sein Feld nur unge­fährdet ist, wenn neben ihm jeder von anderen Gesichts­punkten aus Strebende zum Schweigen gebracht wird? Wer sich in diesen Dingen nicht durch «naturwissen­schaftlichen Fanatismus» den Sinn blenden läßt, dem er­scheint die oft so bitter werdende Ablehnung einer geistgemäßen Naturanschauung, wie sie Schelling erstrebte, doch nicht anders, als wenn ein Liebhaber des Photogra­phierens

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sagte: ich mache von dem Menschen genaue Bilder, die alles wiedergeben, was an ihm ist: man komme mir doch dieser Naturtreue gegenüber nicht mit dem Porträt eines Malers.

Mit der erweckten geistigen Anschauung wollte Schel­ling den «Geist der Natur» finden, der nicht nur in der sinnlichen Wahrnehmung, sondern auch in dem, was man Naturgesetze nennt, bloß seinen physiognomischen Ausdruck hat. Es ist bedeutungsvoll, sich vor die Seele zu stellen, welch gewaltigen Eindruck er mit einem solchen Streben auf diejenigen Menschen unter seinen Zeitgenossen machte, die ein offenes Gemüt für die Art hatten, wie dieses Streben aus seiner geistdurchleuchteten, machtvollen Persönlichkeit hervorbrach. Es gibt eine Schilderung, die ein liebenswürdig-geistvoller Denker, Gotthilf Heinrich Schubert, gegeben hat von den Eindrücken, die er von Schellings Wirksamkeit in Jena empfangen hat. «Was war es» - so schreibt Schubert -, «das Jünglinge wie gereifte Männer von fern und nahe so mächtig zu Schellings Vor­lesungen hinzog? War es nur die Persönlichkeit des Man­nes oder der eigentümliche Reiz seines mündlichen Vor­trags, darinnen diese anziehende Kraft lag? ... Das war es nicht allein... In seinem lebendigen Worte lag allerdings eine hinnehmende Kraft, welcher, wo sie nur einige Empfänglichkeit traf, keine der jungen Seelen sich erwehren konnte. Es möchte schwer sein, einem Leser unserer Zeit» (Schubert schreibt 1854 nieder, was er in den neunziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts mit Schelling erlebt hatte), «der nicht wie ich jugendlich teilnehmender Hörer war, es begreiflich zu machen, wie es mir, wenn Schelling zu uns sprach, öfter so zumute wurde, als ob ich Dante,

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den Seher einer nur dem geweihten Auge geöffneten Jen­seitswelt, lese oder hörte. Der mächtige Inhalt, der in seiner wie mit mathematischer Schärfe im Lapidarstile abgemessenen Rede lag, erschien mir wie ein gebundener Prometheus, dessen Bande zu lösen und aus dessen Hand das unverlöschende Feuer zu empfangen die Aufgabe des verstehenden Geistes ist. . . . Aber weder die Persönlichkeit noch die belebende Kraft der mündlichen Mitteilung konn­ten es allein sein, welche für die Schellingsche Weltanschau­ung alsbald nach ihrem öffentlichen Kundwerden durch Schriften eine Teilnahme und eine Aufregung für oder wider ihre Richtung hervorrief, wie dies vor- und nachher in langer Zeit keine andere literarische Erscheinung ähn­licher Art vermocht hat. Man wird es da, wo es sich um sinnlich-wahrnehmbare Dinge oder natürliche Erscheinun­gen handelt, einem Lehrer oder Schriftsteller sogleich an­merken, ob er aus eigener Anschauung und Erfahrung spricht, oder bloß von dem redet, was er von andern ge­hört, ja, nach seiner eigenen selbstgemachten Vorstellung sich ausgedacht hat... Auf die gleiche Weise wie mit der äußeren Erfahrung verhält es sich mit der inneren. Es gibt eine Wirklichkeit von höherer Art, deren Sein der erkennende Geist in uns mit derselben Sicherheit und Ge­wißheit erfahren kann, als unser Leib durch seine Sinne das Sein der äußeren sichtbaren Natur erfährt. Diese, die Wirklichkeit der leiblichen Dinge, stellt sich unseren wahrnehmenden Sinnen als eine Tat eben derselben schaffenden Kraft dar, durch welche auch unsere leibliche Natur zum Werden gekommen. Das Sein der Sichtbarkeit ist in glei­cher Weise eine wirkliche Tatsache als das Sein des wahrnehmenden Sinnes. Auch dem erkennenden Geiste in uns

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hat sich die Wirklichkeit der höheren Art als geistig-leib­liche Tatsache genaht; er wird ihrer innewerden, wenn sich sein eigenes Erkennen zu einem Anerkennen dessen erhebt, von welchem er erkannt und aus welchem nach gleichmäßiger Ordnung die Wirklichkeit des leiblichen wie des geistigen Werdens hervorgeht. Und jenes Innewerden einer geistigen, göttlichen Wirklichkeit, in der wir selber leben, weben und sind, ist der höchste Gewinn des Er­denlebens und des Forschens nach Weisheit. . . . Schon zu meiner Zeit gab es unter den Jünglingen, die ihn hör­ten, solche, welche es ahnten, was er unter der intellek­tuellen Anschauung meinte, durch welche unser Geist den unendlichen Urgrund alles Seins und Werdens erfassen muß.»

Geist in der Natur suchte Schelling durch die intellek­tuelle Anschauung. Das Geistige, das aus der Kraft seines Schaffens die Natur heraussprießen ließ. Lebendiger Leib dieses Geistigen war einst diese Natur, wie des Menschen Leib der der Seele ist. Nun breitet er sich aus, dieser Leib des Weltengeistes, in seinen Zügen das offenbarend, was ihm einst das Geistige einverleibt hat, in seinem Werden und Weben die Gebärden zeigend, die Wirkungen des Geistigen darstellen. Vorangehen mußte dieses Geistwirken im Weltenleibe dem gegenwärtigen Zustande der Welt, damit er sich verhärte und im Mineralreiche ein Knochensystem, im Pflanzenreiche ein Nervensystem, im Tierreiche einen seelischen Vorläufer des Menschen zeuge. So ward der Weltenleib aus seiner Jugend in sein Alter eingeführt; das gegenwärtige Mineral-, Pflanzen- und Tierreich sind die gewissermaßen verhärteten Erzeugnisse dessen, was dereinst geist-leiblich in einem Werden vollbracht wurde,

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das gegenwärtig erloschen ist. Aus dem Schoße des Altersleibes der Welt aber konnte die schaffende Geistigkeit er­stehen lassen den seelen-geistbegabten Menschen, in dessen Innerem der Erkenntnis die Ideen aufleuchten, mit denen zuerst die schaffende Geistigkeit den Weltleib wirkte. Wie verzaubert ruht in der gegenwärtigen Natur der einst in ihr lebendig-wirksame Geist; in der Menschenseele wird er entzaubert. (Diese Darstellung des Verhältnisses Schellings zur Natur ist gewiß nicht nur keine wörtliche, sondern nicht einmal eine solche in Vorstellungen, die Schelling selbst gebraucht hat. Doch bin ich der Ansicht, daß man in solcher Kürze treu nur dann wiedergeben kann, wenn man den Geist einer Anschauung ins Auge faßt, und, um ihn auszudrücken, Vorstellungen gebraucht, die in freier Art sich ergeben, um in wenigen Worten zu sagen, was die Persönlichkeit, von der man spricht, in einer Reihe aus­führlicher Werke ausgesprochen hat. Die eigenen Worte dieser Persönlichkeit können, zu diesem Ziel gebraucht, deren Geist nur entstellen.)

Mit einer solchen Art, sich zu dem «Geiste der Natur»und zu dessen Verhältnis zum Menschengeiste zu stellen, empfand sich Schelling vor der Notwendigkeit, eine An­schauung auch nun darüber zu gewinnen, wie dasjenige in der Welt aufzufassen ist, das störend in den Gang der Weltereignisse eingreift. Indem die Seele sich an die all­waltende Ideenwelt hingibt, wird sie deren fortschreiten­des Schaffen erkennend erleben. Doch drängt sich, wie von einer anderen Seite des Weltdaseins, die Störung, das Übel, das Böse an die Seele heran. In dieses Feld kommt die erkennende Seele mit der Ideenwelt zunächst nicht hinein; es grenzt an sie wie der Schatten an das Licht. Wie das

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Licht nicht im Schattenraume anwesend sein kann, so auch nicht die im ersten Erkenntnisanlauf von der Seele unter­nommenen Tätigkeiten im Reiche der Störungen, des Übels, des Bösen. Im Suchen nach einer Möglichkeit, in dieses Gebiet einzudringen, fand Schelling Anregung durch die­jenige Persönlichkeit, die aus dem einfachsten deutschen Volksempfinden heraus die Lösung hoher Welträtsel ver­sucht hat: durch Jakob Böhme. Gewiß, Jakob Böhme hat über Weltanschauungsfragen viel gelesen und auch auf andere Art durch die Bildungswege viel aufgenommen, die sich dem einfachen Volksmanne in der deutschen Ent­wickelung des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts boten; das Beste aber, das in Jakob Böhmes Schriften auf so ungelehrte Art pulsiert, ist volkstümlicher Erkenntnisweg, ist ein Ergebnis des Volksgemütes selber. Und Schel­ling hat heraufgehoben in die Art der denkerischen Be­trachtung, was dieses Volksgemüt in Jakob Böhmes un­gelehrter, aber erleuchteter Seele erschaut hat. Es gehört zu den herrlichsten Beobachtungen, die man in der Welt­literatur machen kann, Jakob Böhmes elementarische Ge­mütsanschauung durch die philosophische Sprache in Schel­lings Abhandlung «Über das Wesen der menschlichen Frei­heit» leuchten zu sehen. In dieser elementarischen Gemütsanschauung waltet die tiefsinnige Einsicht, daß niemand zu einer befriedigenden Weltanschauung kommen kann, der auf seinem Erkenntniswege nur die Mittel des denken­den Begreifens mitnimmt. In den Umkreis dessen, was denkendes Begreifen ist, schlägt aus den Weltentiefen etwas herein, das umfassender, mächtiger ist als dieses denkende Begreifen. Doch nicht mächtiger, als was die Seele in sich erleben kann, wenn ihr das denkende Be­greifen

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nur als Glied ihres eigenen Wesens erscheint. Will man etwas begreifen, so muß man verstehen, wie es not­wendig mit einem andern zusammenhängt. Die Dinge der Welt hängen aber wohl an ihrer Oberfläche, doch nicht im tiefsten Grunde ihres Wesens notwendig zusammen. In der Welt waltet Freiheit. Und nur der begreift die Welt, der in dem notwendigen Gange der Naturgesetze das Walten freier übersinnlicher Geistigkeit schaut. Die Frei­heit als Tatsache kann immer mit logischen Gründen wider­legt werden. Wer das durchschaut, auf den macht keine Widerlegung der Freiheitsidee einen Eindruck. - Die ur­gesunde Erkenntnisart Jakob Böhmes, seine ursprüngliche volkssinngemäße Gemütserkenntnis schaute die Freiheit als durchwebend und durchwirkend alle Notwendigkeit, auch die naturgemäße. Und Schelling, von einer geistgemäßen Naturanschauung aufsteigend zur Geistesanschauung, fühlte sich im Einklang mit Jakob Böhme.

Und damit war ihm der Weg gegeben, die geschichtliche Entwickelung des Geisteslebens der Menschheit in seiner Art zu erschauen. Als das größte Erdenereignis stellte sich ihm die Tat des Christus in diese Entwickelung hinein. Was vor dieser Tat liegt, suchte er durch seine «Philo­sophie der Mythologie» zu verstehen. Wer da meint, in der Geschichte offenbaren sich nur Ideen, deren eine aus der anderen folgt, der versteht den Weltengang nicht. Denn mit Freiheit greift übersinnliche Wesenheit von Stufe zu Stufe in diesen Gang ein; und was die Freiheit auf einer Folgestufe vollbringt, das kann nur als eine dem Gemüt sich enthüllende Tatsache angeschaut, nicht durch logische Ideenentwickelung als notwendige Folge erdacht werden. Und als ganz freie Tatsache, als von Ideen nicht

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zu beleuchtende, sondern alle Ideenwelt überleuchtende Offenbarung muß das hingenommen werden, was über­sinnliche Welten in der Erdenentwickelung durch Christus haben einfließen lassen. Von dieser seiner Weltauffassung will Schelling in seiner «Philosophie der Offenbarung»sprechen. - Es ist gewiß, daß gegen solche Vorstellungsart leicht der «Widerspruch» aufgewiesen werden kann, in den sie sich verstrickt. Und dieser «Widerspruch» ist Schel­ling auch in allen möglichen gut- und bösgemeinten For­men entgegengehalten worden. Allein, wer diesen «Wider­spruch» aufbringt, der zeigt nur, daß er das Walten der freien Geistigkeit im Laufe des notwendig erscheinenden Weltenlaufes nicht anerkennen will. Schelling wollte das Wirken der Naturnotwendigkeit nicht leugnen; aber er wollte zeigen, wie auch diese Notwendigkeit eine Tat der Geistigkeit ist, die mit Freiheit die Welt durchwirkt. Und er wollte nicht etwa auf das Begreifen verzichten, weil der erste Anlauf dieses Begreifens an der Grenze der Weltenfreiheit zerschellt; er wollte zu einem Begreifen dessen aufsteigen, was die allwaltende Ideenwelt nicht in sich selber hat, aber aufnehmen kann. Die Ideen, welche die Welt erkennen wollen, brauchen nicht abzudanken, weil bloß denkendes Begreifen nicht zur Erkenntnis des Lebens ausreicht. Man braucht nicht zu sagen: weil die Ideen nicht in die Weltentiefen mit dem dringen, was zunächst in ihrem eigenen Wesen liegt, deshalb kann die Tiefe der Welt nicht erkannt werden. Nein, wenn die Ideen sich die­sen Tiefen ergeben und durchdrungen werden von dem, was sie nicht in sich haben, dann tauchen sie aus Weltengründen auf, neugeboren, vom Wesen des «Geistes der Welt» durchweht.

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Zu solcher Weltanschauung hat es im neunzehnten Jahr­hundert das in Schellings Philosophengeist fortwirkende deutsche Volksgemüt des Görlitzer Schusters Jakob Böhme aus dem siebzehnten Jahrhundert gebracht.

Der deutsche Idealismus als Gedankenanschauung: Hegel

Durch Hegel scheint in der deutschen Weltanschauungsentwickelung das «Ich denke, also bin ich» so wieder auf­zuleben, wie ein Samenkorn, das in die Erde fällt, als all­seitig entfalteter Baum ersteht. Denn was dieser Denker als Weltanschauung geschaffen hat, ist ein umfassendes Gedan­kengemälde oder gewissermaßen ein vielgliedriger Gedan­kenleib, der aus zahlreichen Einzelgedanken besteht, die gegenseitig sich tragen, stützen, bewegen, beleben, erleuch­ten. Und diese Gedanken sollen solche sein, die nicht aus den Sinneneindrücken der Außenwelt, auch nicht aus den täg­lichen Erlebnissen des menschlichen Gemütes stammen; sie sollen in der Seele sich offenbaren, wenn diese aus den Sin­neseindrücken und Gemütserlebnissen sich heraushebt und sich zum Zuschauer des Vorgangs macht, durch den der von allem Nichtgedanklichen freie Gedanke sich zu weiteren und immer weiteren Gedanken entfaltet. Wenn die Seele diesen Vorgang in sich geschehen läßt, soll sie ihres gewöhnlichen Wesens enthoben und mit ihrem Tun in die geistig-über­sinnliche Weltordnung einverwoben sein. Nicht sie denkt dann; das Weltall denkt sich in ihr; sie wird der Teilneh­mer eines außermenschlichen Geschehens, in das der Mensch bloß eingesponnen ist; und sie erlebt auf diese Art in sich, was in den Tiefen der Welt wirkt und webt.

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Bei näherem Zusehen zeigt sich, wie bei Hegel die Welt­anschauung von einem völlig anderen Gesichtspunkte aus gesucht wird als durch das Descartessche «Ich denke, also bin ich». Descartes will die Gewißheit des Seelen-Seins aus dem Denken der Seele herausholen. Bei Hegel handelt es sich darum, von dem Denken der einzelnen menschlichen Seele zunächst ganz zu schweigen, und das Leben dieser Seele so zu gestalten, daß deren Denken eine Offenbarung des Weltendenkens wird. Dann, meint Hegel, offenbart sich, was als Gedanke in allem Weltendasein lebt; und die einzelne Seele findet sich als Glied im Gedankenweben der Welt. Die Seele muß von diesem Gesichtspunkte aus sagen: Das Höchste und Tiefste, was in der Welt west und lebt, ist schaffendes Gedankenwalten, und ich finde mich als eine der Offenbarungsweisen dieses Waltens.

In der Wendung vom einzelnen Seelengedanken zum überseeischen Weltgedanken liegt der bedeutungsvolle Unter­schied zwischen Hegel und Descartes. Hegel hat diese Wen­dung vollzogen, Descartes nicht. - Und dieser Unterschied bewirkt einen anderen, der sich auf die Ausbildung der Welt­anschauungen der beiden Geister bezieht. Descartes sucht Gewißheit für die Gedanken, die der Mensch sich von der Welt bildet in dem Leben, in dem er mit seinen Sinnen und seiner Seele drinnen steht. Hegel sucht in dem Felde dieser Gedanken zunächst nicht, er sucht nach einer Gestalt des Gedankenlebens, das über diesem Felde liegt.

Ist so Hegel wohl im Gebiete des Gedankens stehen­geblieben und befindet er sich dadurch in Gegensatz zu Fichte und Schelling, so tat er dies nur, weil er im Ge­danken selbst die innere Kraft zu fühlen meinte, um in die übersinnlichen Reiche einzudringen. Hegel war Enthusiast

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gegenüber dem Erleben, das der Mensch haben kann, wenn er sich ganz der Urkraft des Gedankens hingibt. In dem Lichte des zur Idee erhobenen Gedankens entwindet sich für ihn die Seele ihres Zusammenhanges mit der Sinnenwelt. Man kann die Kraft, die in diesem Enthusiasmus Hegels liegt, empfinden, wenn man in seinen Schriften, in denen eine für viele so zurückstoßende, knorrige, ja schein­bar gräßlich abstrakte Sprache waltet, auf Stellen stößt, in denen sich oft so schön zeigt, welche Herzenstöne er finden kann für das, was er mit seinen « Abstraktionen »erlebt. Eine solche Stelle steht zum Beispiel am Schlusse seiner « Phänomenologie». Er nennt da das Wissen, das die Seele erlebt, wenn sie die Weltideen in sich walten läßt, das «absolute Wissen». Und er blickt am Schlusse dieses Werkes zurück auf die Geister, die im Entwickelungsgange der Menschheit dem Ziele dieses «absoluten Wissens » zugestrebt haben. Von seiner Zeit aus schauend, findet er diesen Geistern gegenüber die Worte: «Das Ziel, das ab­solute Wissen, oder der sich als Geist wissende Geist hat zu seinem Wege die Erinnerung der Geister, wie sie an ihnen selbst sind und die Organisation ihres Reichs voll­bringen. Ihre Aufbewahrung nach der Seite ihres freien in der Form der Zufälligkeit erscheinenden Daseins ist die Geschichte, nach der Seite ihrer begriffenen Organisation aber die Wissenschaft des erscheinenden Wissens; beide zu­sammen, die begriffne Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des absoluten Geistes, die Wirklich­keit, Wahrheit und Gewißheit seines Thrones, ohne den er das leblose Einsame wäre; nur -

aus dem Kelche dieses Geisterreiches

schäumt ihm seine Unendlichkeit.»

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Dieses innerlich Kraftvolle des Gedankenlebens, das sich in sich selbst überwinden will, um in ein Reich sich zu erheben, in dem es nicht mehr selbst, sondern der unend­liche Gedanke, die ewige Idee in ihm lebt, ist das Wesent­liche in Hegels Suchen. Dadurch erhält bei ihm das höhere menschliche Erkenntnisstreben einen umfassenden Charak­ter, welcher Richtungen dieses Strebens, die oft getrennt und dadurch einseitig verlaufen, zu einem Ziele führen will. Man kann in Hegel einen reinen Denker finden, der nur durch die mystikfreie Vernunft an die Lösung der Welträtsel herantreten will. Von eisigen, abstrakten Ge­danken, durch die er allein die Welt begreifen will, kann man sprechen. So wird man in ihm den trockenen, mathe­matisch gearteten Verstandesmenschen sehen können. - Aber wozu wird bei ihm das Leben in den Ideen der Ver­nunft? Zum Hingeben der Menschenseele an die in ihr waltenden übersinnlichen Weltenkräfte. Es wird zum wah­ren mystischen Erleben. Und es ist durchaus nicht wider­sinnig, in Hegels Weltanschauung Mystik zu erkennen. Man muß nur einen Sinn dafür haben, daß in Hegels Werken das an den Vernunftideen erlebt werden kann, was der Mystiker ausspricht. Es ist eine Mystik, die das Persönliche, das dem Gefühlsmystiker die Hauptsache ist und von dem er allein reden will, eben als eine persönliche Angelegenheit der Seele in sich abmacht und nur das aus­spricht, wozu sich die Mystik erheben kann, wenn sie aus dem persönlichen Seelendunkel sich in die lichte Klarheit der Ideenwelt hinaufringt.

Hegels Weltanschauung hat ihre Stellung im geistigen Entwickelungsgange der Menschheit dadurch, daß sich in ihr die lichte Kraft des Gedankens aus den mystischen

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Tiefen der Seele heraufhebt, daß in seinem Suchen sich mystische Kraft mit gedanklicher Lichtmacht offenbaren will. Und so findet er sich auch selbst in diesem Entwicke­lungsgange drinnen stehend. Deshalb blickte er auf Jakob Böhme so zurück, wie es in seinen (in seiner «Geschichte der Philosophie » befindlichen) Worten ausgesprochen ist:

«Dieser Jakob Böhme, lange vergessen und als ein pieti­stischer Schwärmer verschrien, ist erst in neueren Zeiten wieder zu Ehren gekommen, Leibniz ehrte ihn. Durch die Aufklärung ist sein Publikum sehr beschränkt worden; in neueren Zeiten ist seine Tiefe wieder anerkannt worden ... Ihn als Schwärmer zu qualifizieren, heißt weiter nichts. Denn wenn man will, kann man jeden Philosophen so qualifizieren, selbst den Epikur und Bacon. ... Was aber die hohen Ehren betrifft, zu denen Böhme erhoben wor­den, so dankt er diese besonders seiner Form der Anschau­ung und des Gefühls; denn Anschauung und inneres Füh­len... und die Bildlichkeit der Gedanken, die Allegorien und dergleichen werden zum Teil für die wesentliche Form der Philosophie gehalten. Aber es ist nur der Begriff, das Denken, worin die Philosophie ihre Wahrheit haben, wor­in das Absolute ausgesprochen werden kann, und auch ist, wie es an sich ist.» Und weiter findet Hegel für Böhme die Sätze: «Jakob Böhme ist der erste deutsche Philosoph; der Inhalt seines Philosophierens ist echt deutsch. Was Böhme auszeichnet und merkwürdig macht, ist, ... die Intellek­tualwelt in das eigene Gemüt hereinzulegen, und in seinem Selbstbewußtsein alles anzuschauen und zu wissen und zu fühlen, was sonst jenseits war. Die allgemeine Idee Böhmes zeigt sich einerseits tief und gründlich; er kommt ander­seits aber, bei allem Bedürfnis und Ringen nach Bestim­mung

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und Unterscheidung in der Entwickelung seiner gött­lichen Anschauungen des Universums, nicht zur Klarheit und Ordnung.» - Solche Worte sind von Hegel doch nur aus dem Gefühle heraus gesprochen: In dem einfachen Ge­müte Jakob Böhmes lebt der tiefste Drang der Menschenseele, mit dem eigenen Erleben sich in das Welterleben zu versenken - der wahre mystische Drang -; aber die bild­liche Anschauung, das Gleichnis, das Symbol müssen sich zum Lichte der klaren Idee erheben, um zu erreichen, was sie wollen. Als Vernunftideen sollen in Hegels Weltanschau­ung die Jakob Böhmeschen Weltenbilder wiedererstehen. So steht der Enthusiast des Gedankens, Hegel, neben dem tiefen Mystiker Jakob Böhme innerhalb der Entwickelung des deutschen Idealismus. Hegel sah in Böhmes Philoso­phieren etwas «echt Deutsches», und Karl Rosenkranz, der Biograph und selbständige Schüler Hegels, schrieb zur hundertjährigen Geburtstagsfeier Hegels 1870 ein Buch «Hegel als deutscher Nationalphilosoph», in dem die Worte stehen: «Man kann behaupten, daß das System Hegels das nationalste in Deutschland ist, und daß, nach der früheren Herrschaft des Kantschen und Schellingschen, keines so tief in die nationale Bewegung, in die Förderung der deutschen Intelligenz, in die Klärung der öffentlichen Meinung, in die Ermutigung des Willens... eingegriffen hat als das Hegelsche.»

Mit solchen Worten spricht Karl Rosenkranz doch im hohen Grade die Wahrheit über eine Erscheinung des deutschen Geisteslebens aus, wenn auch anderseits Hegels Streben schon in den Jahrzehnten, bevor diese Worte ge­schrieben sind, bitterste und hohnerfüllte Gegnerschaft ge­funden hat, eine Gegnerschaft, deren Anfangsentwickelung

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bald nach Hegels Tode Rosenkranz selbst mit den bedeut­samen Sätzen gekennzeichnet hat: «Wenn ich die Wut be­trachte, mit welcher man die Hegelsche Philosophie ver­folgt, so wundere ich mich, daß Hegels Ausdruck: die Idee in ihrer Bewegung sei ein Kreis von Kreisen, noch nicht Veranlassung gegeben hat, sie als den Danteschen Höllentrichter zu zeichnen, der, unten sich verengend, endlich auf den leibhaften Satan stoßen läßt.» (Rosenkranz: Aus mei­nem Tagebuch. Leipzig 1854. S.42.)

Es kann sehr verschiedene Gesichtspunkte geben, von denen aus man den Eindruck zu schildern versucht, den man von einer Denkerpersönlichkeit, wie Hegel eine ist, gewinnt. An anderer Stelle (in seinem Buche «Die Rätsel der Philosophie») hat der Verfasser dieser Schrift darzu­stellen versucht, welche Anschauung man über Hegel ge­winnen könne, wenn man sein Werk als eine Stufe der philosophischen Entwickelung der Menschheit ins Auge faßt. Hier möchte er nur von dem sprechen, was durch Hegel als eine der Kräfte des deutschen Idealismus in der Weltanschau­ung zum Ausdrucke kommt. Es ist dies das Vertrauen in die tragende Macht des Denkens. Jede Seite in Hegels Wer­ken ist eine Bekräftigung dieses Vertrauens, das zuletzt in der Überzeugung gipfelt: Wenn der Mensch völlig ver­steht, was er in seinem Denken hat, so weiß er auch, daß er den Zugang zu einer übersinnlich-geistigen Welt gewin­nen kann. Der deutsche Idealismus hat durch Hegel das Be­kenntnis zu der übersinnlichen Wesenheit des Denkens ab­gelegt. Und man kann die Empfindung haben, Hegels Stär­ken und auch seine Schwächen hängen mit der Tatsache zusammen, daß im Weltenlaufe einmal eine Persönlichkeit dastehen mußte, bei der alles Leben und Wirken von diesem

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Bekenntnis durchseelt ist. Dann sieht man in Hegels Weltanschauung einen Quell, aus dem man schöpfen kann, was an Lebenskraft mit diesem Bekenntnis zu gewinnen ist, ohne vielleicht in irgendeinem Punkte den Inhalt der Hegelschen Weltanschauung für sich anzunehmen.

Stellt man sich so zu dieser Denkerpersönlichkeit, so kann man deren Anregung, und damit die Anregung einer Kraft des deutschen Idealismus empfangen, und mit dieser Anregung die Bestärkung zu einem ganz anderen Welt­bilde gewinnen, als das durch Hegel gemalte ist. So son­derbar es klingt: Man versteht vielleicht Hegel am besten, wenn man die in ihm waltende Kraft des Erkenntnis­strebens in Bahnen leitet, die er gar nicht selbst gegangen ist. - Er hat die übersinnliche Natur des Denkens mit aller nach dieser Richtung dem Menschen zur Verfügung stehen­den Kraft empfunden. Aber er hat viel Menschenkraft auf­wenden müssen, um diese Empfindung einmal durch ein volles Denkerwirken hindurchzutragen, so daß er die übersinnliche Natur des Denkens nicht selbst hatte in übersinnliche Gebiete hinaufführen können. Der treffliche Seelenforscher Franz Brentano spricht in seiner «Psycho­logie » aus, wie die neuere Seelenkunde wohl in streng wissenschaftlicher Art das gewöhnliche Leben der Seele erforscht, wie dieser Forschung aber der Ausblick in die großen Fragen des Seelendaseins verlorengegangen ist. «Für die Hoffnungen eines Platon und Aristoteles - sagt Brentano - über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwickelung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht

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eine wahre Entschädigung sein... und wenn wirklich » die neuere Denkungsart « den Ausschluß der Frage nach der Unsterblichkeit besagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeutender zu nennen. » Nun, man kann sagen, daß nach Ansicht vieler nicht nur die Wissenschaft­lichkeit der Seelenkunde, sondern Wissenschaftlichkeit über­haupt den Ausschluß solcher Fragen zu besagen scheint. Und über Hegels Weltanschauung scheint es wie ein Ver­hängnis zu schweben, daß sie mit dem Bekenntnis zu der übersinnlichen Natur der Gedankenwelt sich den Zugang in eine wirkliche Welt übersinnlicher Tatsachen und Wesen­heiten vermauert hat. Und wer in dem Sinne Schüler Hegels ist, wie etwa Karl Rosenkranz, in dem scheint dieses Ver­hängnis weiter zu wirken. Rosenkranz hat eine «Seelen­kunde » geschrieben. (Psychologie oder Wissenschaft vom subjektiven Geist, von K. Rosenkranz. 1837.3. Aufl. Kö­nigsberg 1863.) Darin ist in dem Kapitel «Das Greisen­alter » zu lesen (S.119): «Die Psychologie berührt hier die Frage nach der Unsterblichkeit, ein Lieblingsthema für die Laienphilosophie, oft mit einer vorgefaßten Tendenz, ein Wiedersehen nach dem Tode, wie man sich auszudrücken pflegt, zu verbürgen. Ist der Geist als selbstbewußte Idea­lität qualitativ von seinem Organismus unterschieden, so leuchtet die Möglichkeit der Unsterblichkeit ein. Über das Wie ihrer Wirklichkeit vermögen wir aber nicht die ge­ringste Vorstellung zu haben, die einen objektiven Wert anzusprechen vermöchte. Wir können einsehen, daß, wenn wir als Individualitäten fortexistieren, doch unser Wesen sich nicht zu ändern vermöge, nämlich im Wahren, Guten und Schönen leben zu müssen, allein die Modalität eines von unserem Organismus getrennten Daseins ist ein Rätsel

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für uns. Warum sollen wir denn hier die Grenze unseres Wissens nicht eingestehen? Warum sollen wir entweder die Möglichkeit der Unsterblichkeit geradezu leugnen, oder warum sollen wir phantastische Träumereien von einem Seelenschlaf, von einem Seelenleibe und ähnlichen Dogmen für Spekulation ausgeben? Wo hier das wirkliche Wissen aufhört, da tritt der Glaube ein, dem es überlassen bleiben muß, wie er sich ein nicht unmögliches Jenseits ausmalt. »Solche Meinung offenbart Rosenkranz in einer Seelen­kunde, die ganz von der Überzeugung durchdrungen ist, ein Wissen von dem zu haben, was der übersinnliche Wel­tengedanke in dem Wesen der menschlichen Seele zur irdi­schen Wirklichkeit macht. Eine ganz im Übersinnlichen weben wollende Wissenschaft, die sofort Halt macht, wo sie die Schwelle zur übersinnlichen Welt bemerkt. Man wird dieser Erscheinung nur gerecht, wenn man in ihr etwas von dem Schicksal empfindet, das über das menschliche Erkennt­nisstreben ausgegossen ist, und das in Hegels Weltanschau­ung so verwoben erscheint, daß sie mit aller Kraft auf die übersinnliche Natur des Denkens eingestellt ist, und um in dieser Einstellung groß zu wirken, die Möglichkeit einer anderen Einstellung für das Übersinnliche verliert.

Hegel sucht zuerst den Umkreis all der übersinnlichen Gedanken, die in der Menschenseele aufleben, wenn diese sich über alle Naturanschauung und alles irdische Seelenleben hinaushebt. Diesen Umkreis stellt er als seine «Lo­gik » dar. Doch enthält diese Logik keinen einzigen Gedan­ken, der über das Gebiet hinausführte, das von der Natur und dem irdischen Seelenleben umschlossen wird. - Weiter sucht Hegel alle Gedanken darzustellen, die als übersinn­liche Wesenheiten der Natur zugrunde liegen. Ihm wird

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da die Natur zur Offenbarung einer übersinnlichen Ge­dankenwelt, die in der Natur ihre Gedankenwesenheit verbirgt und sich als Ungedankliches, als das Gegenbild von sich selbst darstellt. Aber auch da finden sich keine Gedanken, die nicht im Umkreis der Sinneswelt sich auslebten. - In der Geistphilosophie stellt Hegel das Walten der Weltideen in der einzelnen Menschenseele, in den Verbänden von Menschenseelen (in Völkern, Staaten), in der geschichtlichen Entwickelung der Menschheit, in Kunst, Religion und Philosophie dar. Überall auch da die An­schauung, daß in dem Seelischen, wie es mit seinem Wesen und Wirken in der Sinneswelt steht, durchaus die über­sinnliche Gedankenwelt sich auslebt, daß also alles im Sinnlichen Vorhandene seiner wahren Wesenheit nach gei­stiger Art ist. Nirgend aber der Anlauf, mit der Erkennt­nis in ein übersinnliches Gebiet zu dringen, für das keine Ausgestaltung im Sinnesreich vorhanden ist. -

Man kann sich alles dieses gestehen, und doch den Ausdruck des deutschen Idealismus durch Hegels Weltanschau­ung nicht in dem Urteil der Verneinung suchen, daß Hegel trotz seines übersinnlichen Idealismus in der Betrachtung der Sinneswelt stecken geblieben ist. Man kann zu einem Urteil der Bejahung kommen und das Wesentliche dieser Weltanschauung in der Tatsache finden, daß hier das Be­kenntnis vorliegt: Wer die vor den Sinnen sich ausbreitende Welt in ihrer wahren Gestalt erschaut, der erkennt, daß sie in Wirklichkeit eine Geistwelt ist*. Und dieses Bekennt­nis zur Geistnatur des Sinnlichen hat der deutsche Idealis­mus durch Hegel ausgesprochen.

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#FN020-056 *In einem hervorragenden Buche hat Otto Willmann die «Geschichte des Idealismus» behandelt. Er weist mit umfassender Sachkenntnis

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auf die Schwächen und Einseitigkeiten, welche in die Welt­anschauungsentwickelung des neunzehnten Jahrhunderts durch die fortwirkenden Kantschen Fragestellungen und Denkrichtungen ge­kommen sind. Die in dieser meiner Schrift gegebene Darstellung hat im Weltanschauungsleben des neunzehnten Jahrhunderts diejenigen Triebe und Strömungen aufgesucht, durch welche sich die Denker von jenen Fragestellungen und Denkrichtungen freigemacht haben. Durch welche sie Wege beschritten haben, denen gerade diejenigen gerecht wer­den könnten, welche aus einer solch umfassenden Anschauung heraus urteilen, wie sie dem Buche Willmanns zugrunde liegt. Manches, was in der neueren Zeit an Kant anknüpfen will, ohne genügende Einsicht in die vorhergehende Weltanschauungsentwickelung, fällt in der Tat in Ansichten zurück, die von Willmann mit Recht in den folgenden Wor­ten charakterisiert werden: daß «nach Aristoteles unsere Erkenntnis von den Dingen anhebe und auf Grund der Sinneswahrnehmungen erst den Begriff bilde ... daß diese Begriffsbildung durch einen schöpferi­schen Akt geschehe, in dem der Geist das Gedankliche in den Dingen ergreift ... Die sensualistische Plattheit muß noch immer darauf hin­gewiesen werden, daß das Wahrnehmen sich nicht zum Denken steigern kann, die Empfindungen sich nicht zum Begriff zusammenzuballen vermögen, daß diese vielmehr konstituiert werden müssen, und zwar auf Grund des Gedankens in den Dingen ... der uns allein notwendige und allgemeine Erkenntnis zu geben vermag » (Willmann, Geschichte des Idealismus II, 449). Wer so denkt, kann zu Schellings, zu Hegels Denkrichtung und zu manchem, was gleich ihnen sich abwendet von der «sensualistischen Plattheit », auch vom Standpunkte Willmanns aus verständnisvoll anerkennend sprechen, wenn er sich von gewissen Miß­verständnissen freimacht, die bei den Bekennern der Willmannschen Denkungsart - in begreiflicher Weise - herrschen. Auch die Zeit wird noch kommen, in der diese Denkungsart nach dieser Richtung hin un­befangener urteilen wird, als dies jetzt der Fall ist. Sie wird dann ebenso recht haben mit ihrer Anerkennung desjenigen, was sich in der neueren Weltanschauungsentwickelung der «sensualistischen Plattheits entrungen bat, wie sie jetzt recht hat mit der Verurteilung dessen, was dieser und mancher anderen «Plattheit» verfallen ist.

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EINE VERGESSENE STRÖMUNG IM DEUTSCHEN GEISTESLEBEN

Fichte, Schelling und Hegel erscheinen in ihrer vollen Be­deutung ganz besonders dem, der auf die weittragenden Anregungen blickt, die sie für Persönlichkeiten hatten, denen eine weit geringere geistige Spannkraft als ihnen selbst eigen war. Es treibt und wirkt etwas in den Seelen dieser Denkerdreiheit, das in ihnen selbst nicht voll zum Ausdruck kommen konnte. Und, was so treibt als Grund­ton in den Seelen dieser Denker: es wirkt in Nachfolgern lebendig weiter und bringt diese zu geistgemäßen Weltanschauungen, die von den großen Vorgängern selbst nicht erreicht werden konnten, weil diese gewissermaßen ihre seelische Spannkraft in ersten Anläufen erschöpfen mußten.

So tritt in Johann Gottlieb Fichtes Sohn, Immanuel Hermann Fichte, ein Denker auf, der in das Geistige tiefer einzudringen versucht als sein Vater, und als Schelling und Hegel. Wer einen solchen Versuch wagt, der wird nicht nur von außen her den Widerspruch aller Ängstlichen in Weltanschauungsfragen außer ihm hören; er wird diesen Widerspruch, wenn er besonnener Denker ist, auch aus der eigenen Seele heraus deutlich wahrnehmen. Gibt es denn wirklich eine Möglichkeit, in der Menschenseele Erkenntniskräfte zu entbinden, die in Gebiete führen, aus denen die Sinne keine Anschauung geben? Was kann die Wirk­lichkeit solcher Gebiete verbürgen, was den Unterschied solcher Wirklichkeit von den Erzeugnissen der Phantasie und Träumerei kennzeichnen? Wer den Geist dieses Wi­derspruches nicht gewissermaßen wie den treuen Begleiter seiner Besonnenheit stets an seiner Seite hat, der wird mit

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seinen geisteswissenschaftlichen Versuchen leicht straucheln; wer ihn hat, wird in ihm einen hohen Lebenswert erken­nen. - Wer sich in die Ausführungen Immanuel Hermann Fichtes einläßt, wird finden können, daß von seinen gro­ßen Vorgängern in ihn eine Geistesart übergegangen ist, die ebenso seine Schritte in das Geistgebiet kräftig macht, wie sie ihm Besonnenheit in dem angedeuteten Sinne ver­leiht.

Der Gesichtspunkt Hegelscher Weltanschauung, der die Geistwesenheit der Ideenwelt zur Grundüberzeugung macht, konnte auch für Immanuel Hermann Fichte Aus­gangspunkt seiner Gedankenentwickelung sein. Doch emp­fand er es als Schwäche dieser Weltanschauung, daß sie von ihrem übersinnlichen Gesichtspunkte aus doch nur das schaut, was in der Sinnenwelt offenbar ist. Wer Immanuel Hermann Fichtes Anschauungen nachlebt, der kann etwa das folgende als deren Grundtöne empfinden. Die Seele erlebt sich selbst auf eine übersinnliche Art, wenn sie sich über die Sinnesanschauung zum Weben im Ideenreiche er­hebt. Sie hat sich damit nicht nur befähigt, die Sinneswelt anders anzusehen, als die Sinne sie ansehen - was der He­gelschen Weltanschauung entsprechen würde -; sie hat vielmehr dadurch ein Selbsterlebnis, das sie durch nichts haben kann, was in der Sinneswelt zu finden ist. Sie weiß nunmehr von etwas, was selbst übersinnlich an ihr ist. Die­ses «Etwas» kann nicht bloß «die Idee» ihres sinnlichen Leibes sein. Es muß vielmehr ein lebendig Wesenhaftes sein, das dem sinnlichen Leib so zugrunde liegt, daß dieser im Sinne seiner Idee gebildet ist. So wird Immanuel Her­mann Fichte über den sinnlichen Leib hinaus zu einem übersinnlichen Leib geführt, der aus seinem Leben heraus

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den ersteren bildet. Hegel schreitet von der Sinnesanschau­ung zum Denken über die Sinnesanschauung fort. Fichte sucht im Menschen das Wesen, welches das Denken als ein übersinnliches erleben kann. Hegel müßte, wenn er im Denken etwas Übersinnliches sehen will, diesem Denken selber die Fähigkeit des Denkens zuschreiben. Fichte kann das nicht mitmachen. Er muß sich sagen: Soll man nicht den sinnlichen Leib selbst als den Erzeuger der Gedanken ansehen, so ist man gezwungen, über ihn hinaus ein Übersinnliches anzunehmen. Getrieben von einer solchen An­schauung betrachtet Fichte den menschlichen Sinnenleib na­turwissenschaftlich (physiologisch), und er findet, daß eine solche Betrachtung, wenn sie nur unbefangen genug ist, genötigt ist, dem sinnlichen Leibe einen übersinnlichen zu­grunde zu legen. Im 118. und 119. Paragraph seiner «An­thropologie» (2. Auflage 1860) sagt er darüber: «In den Stoffelementen daher kann das wahrhaft Beharrende, jenes einende Formprinzip des Leibes nicht gefunden werden, welches sich während unseres ganzen Lebens wirksam er­weist». - «So werden wir auf eine zweite, wesentlich an­dere Ursache im Leibe hingewiesen.» - «Indem» dieses «das eigentlich im Stoffwechsel Beharrliche enthält, ist es der wahre, innere, unsichtbare, aber in aller sichtbaren Stofflichkeit gegenwärtige Leib. Das andere, die äußere Erscheinung desselben, aus unablässigem Stoffwechsel ge­bildet, möge fortan heißen, der wahrhaft nicht beharrlich und nicht eins, der bloße Effekt oder das Nachbild jener inneren Leiblichkeit ist, welche ihn in die wech­selnde Stoffwelt hineinwirft, gleichwie etwa die magne­tische Kraft aus den Teilen des Eisenfeilstaubes sich einen scheinbar dichten Körper bereitet, der aber nach allen Seiten

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zerstäubt, wenn die bindende Gewalt ihm entzogen ist.» Für Fichte ist damit die Aussicht eröffnet, herauszukommen aus der Sinnenwelt, in welcher der Mensch zwi­schen Geburt und Tod wirkt, in eine übersinnliche Welt, der er durch den unsichtbaren Leib so verknüpft ist, wie der sinnlichen durch den sichtbaren. Denn die Erkenntnis dieses unsichtbaren Leibes bringt ihn zu der Ansicht, die er mit den Worten ausspricht: «Denn kaum braucht hier noch gefragt zu werden, wie der Mensch an sich selbst sich ver­halte - in diesem Todesvorgange? Dieser bleibt auch nach dem letzten, uns unsichtbaren Akte des Lebensprozesses in seinem Wesen ganz derselbe nach Geist und Organisations­kraft, welcher er vorher war. Seine Integrität ist bewahrt; denn er hat durchaus nichts verloren von dem, was sein war und zu seiner Substanz gehörte während des sichtbaren Le­bens. Er kehrt nur im Tode in die unsichtbare Welt zurück, oder vielmehr, da er dieselbe nie verlassen hatte, da sie das eigentlich Beharrende in allem Sichtbaren ist, - er hat nur eine bestimmte Form der Sichtbarkeit abgestreift. ‹Tot sein› bedeutet lediglich, der gewöhnlichen Sinnesauffassung nicht mehr perceptibel (wahrnehmbar) bleiben, ganz auf gleiche Weise, wie auch das eigentlich Reale, die letzten Gründe der Körpererscheinungen den Sinnen impereeptibel (un­wahrnehmbar) sind.» Und so sicher fühlt sich Fichte mit einem solchen Gedanken in der übersinnlichen Welt ste­hend, daß er sagen kann: «Mit diesem Begriffe der Seelenfortdauer überspringen wir daher nicht nur die Erfahrung und greifen in ein unbekanntes Gebiet bloß illusorischer Existenzen hinüber, sondern wir befinden uns mit ihm gerade mitten in der begreiflichen, dem Denken zugäng­lichen Wirklichkeit. Das Gegenteil davon, ein Aufhören

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der Seele zu behaupten, wäre das Naturwidrige, aller Er­fahrungsanalogie Widersprechende. Die «gestorbene», d.h. sinnlich unsichtbar gewordene Seele existiert um nichts we­niger, unentrückt ihren ursprünglichen Lebensbedingungen fort. ... Ihrer Organisationskraft muß nur ein anderes Verleiblichungsmittel sich darbieten, um auch in neuer leib­licher Wirksamkeit dazustehen....» (S 133 und S 134 von Fichtes «Anthropologie».)

Von solchen Anschauungen aus eröffnet sich für Imma­nuel Hermann Fichte die Möglichkeit einer Selbsterkennt­nis des Menschen, die dieser erlangt, wenn er von dem Ge­sichtspunkt aus sich betrachtet, welchen er gewinnt durch das Erleben in seiner übersinnlichen Wesenheit. Seine sinn­liche Wesenheit bringt den Menschen bis zum Denken. Doch im Denken ergreift er sich als übersinnliches Wesen. Erhebt er das bloße Denken zum inneren Erleben, wo­durch es nicht mehr bloß Denken ist, sondern übersinn­liches Anschauen, so gewinnt er eine Wissensart, durch die er nicht mehr nur auf Sinnliches, sondern Übersinnliches hinschaut. Ist Anthropologie die Wissenschaft vom Men­schen, wenn dieser sein in der Sinneswelt befindliches Teil betrachtet, so kommt durch die Anschauung des Übersinn­lichen eine andere Wissenschaft zum Vorschein, über die sich Immanuel Hermann Fichte so ausspricht (S 270):

«... die Anthropologie endet in dem von den mannig­faltigsten Seiten her begründeten Ergebnisse, daß der Mensch nach der wahren Eigenschaft seines Wesens, wie in der eigentlichen Quelle seines Bewußtseins, einer übersinn­lichen Welt angehöre. Das Sinnenbewußtsein dagegen und die auf seinem Augpunkte entstehende phänomenale Welt (Erscheinungswelt) mit dem gesamten, auch menschlichen

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Sinnenleben, haben keine andere Bedeutung, als nur die Stätte zu sein, in welcher jenes übersinnliche Leben des Geistes sich vollzieht, indem er durch frei bewußte eigene Tat den jenseitigen Geistesgehalt der Ideen in die Sinnen­welt einführt. ...» Diese gründliche Erfassung des Men­schenwesens erhebt nunmehr die «Anthropologie» in ihrem Endresultate zur «Anthroposophie».

Durch Immanuel Hermann Fichte ist der Erkenntnistrieb, der im deutschen Weltanschauungs-Idealismus sich kundgibt, dazu gebracht worden, die ersten derjenigen Schritte zu unternehmen, welche die menschliche Einsicht zu einer Wissenschaft der geistigen Welt führen können. In ähnlicher Art wie Immanuel Hermann Fichte die Ideen seiner Vorgänger: Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel weiterzuführen sucht, strebten dasselbe noch viele andere Geister an. Denn dieser deutsche Idealismus deutet auf die Keimkraft zu einer wirklichen Entwickelung der­jenigen Erkenntniskräfte des Menschen, die Übersinnlich-Geistiges so schauen wie die Sinne Sinnlich-Stoffliches schauen. Hier soll nur auf einige dieser Geister der Blick gewendet werden. Wie fruchtbar sich die deutsche idea­listische Geistesströmung nach dieser Richtung hin erweist, sieht man, wenn man nicht bloß auf diejenigen Geister deutet, die in den gebräuchlichen Handbüchern über Philo­sophie-Geschichte behandelt werden, sondern auch auf solche, deren geistiges Wirken in engere Grenzen einge­schlossen war. Es gibt zum Beispiel «Kleine Schriften» von dem am 16. August 1867 in Bromberg als Gymnasialdirek­tor verstorbenen Johann Heinrich Deinhardt (Hermann Schmidt hat diese Schriften 1869 in Leipzig, bei B. G.

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Teubner, herausgegeben). Man findet darin Aufsätze über «den Gegensatz des Pantheismus und des Deismus in den vorchristlichen Religionen», über «den Begriff der Reli­gion», über «Kepler, Leben und Charakter» usw. Der Grundton dieser Abhandlungen ist durchaus ein solcher, der zeigt, wie ihres Verfassers Gedankenleben im deut­schen Weltanschauungs-Idealismus wurzelt. Einer der Auf­sitze spricht über die «Vernunftgründe für die Unsterb­lichkeit der menschlichen Seele». Dieser Aufsatz verteidigt die Unsterblichkeit zunächst nur mit den Gründen, die sich dem gewöhnlichen Denken ergeben. Allein am Schlusse findet sich die folgende bedeutungsvolle Anmerkung des Herausgebers: «Der Verfasser hatte nach einem Briefe an den Herausgeber vom 14. August 1866 die Absicht, diese Abhandlung bei der Gesamtausgabe seiner gesammelten kleinen Schriften durch eine Bemerkung über den neuen Leib, den sich die Seele schon in diesem Leben ausarbeitete, zu erweitern. Sein im Jahr darauf erfolgender Tod ver­hinderte die Ausführung dieses Plans.» Wie wirft eine solche Bemerkung ein Streiflicht auf die Anregungen, die vom deutschen Weltanschauungs-Idealismus aus die Geister trieben, in wissenschaftlicher Art in das Geistgebiet ein­zudringen! Wie viele derartige Versuche würde gegenwär­tig jemand auffinden, der nur allein denjenigen nachginge, die in der Literatur noch zu finden sind! Wie viele lassen sie vermuten, die nicht für die Literatur, wohl aber für das Leben ihre Früchte getragen haben! Man blickt da auf eine in dem gegenwärtig herrschenden wissenschaftlichen Zeitbewußtsein wirklich mehr oder weniger vergessene Strö­mung des deutschen Geisteslebens.

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Einer derjenigen Geister, von denen heute kaum gespro­chen wird, ist Ignaz Paul Vitalis Troxler. Aus der Reihe seiner zahlreichen Schriften seien hier nur genannt seine 1835 erschienenen «Vorlesungen über Philosophie». Durch sie spricht sich eine Persönlichkeit aus, die durchaus ein Be­wußtsein davon hat, wie der Mensch, der sich bloß seiner Sinne und des mit den Beobachtungen der Sinne rechnen­den Verstandes bedient, nur einen Teil der Welt erkennen kann. Auch Troxler fühlt sich wie Immanuel Hermann Fichte mit dem Denken in einer übersinnlichen Welt drin­nenstehend. Aber er empfindet auch, wie der Mensch, wenn er sich der Kraft entrückt, die ihn an die Sinne bindet, nicht nur sich vor eine Welt stellen kann, die im Hegelschen Sinne erdacht ist, sondern wie er durch diese Entrückung in seinem inneren Wesen das Aufblühen von rein geistigen Erkenntnismitteln erlebt, durch die er eine geistige Welt geistig schaut, wie die Sinne die Sinnenwelt sinnlich schauen. Von einem «übergeistigen Sinn» spricht Troxler. Und man kann sich auf folgende Art eine Vorstellung von dem bil­den, was er damit meint. Der Mensch beobachtet die Dinge der Welt durch seine Sinne. Dadurch erhält er sinnliche Bilder von den Dingen. Er denkt dann über diese Bilder nach. Dadurch erschließen sich ihm Gedanken, die nicht mehr das Sinnlich-Bildhafte in sich tragen. Der Mensch fügt also durch die Kraft seines Geistes zu den Sinnesbildern die übersinnlichen Gedanken hinzu. Erlebt er sich nun in der Wesenheit, die in ihm denkt, so daß er über das bloße Denken zu geistigem Erleben aufsteigt, dann ergreift ihn von diesem Erleben aus eine innere rein geistige Kraft des Verbildlichens. Er schaut dann eine Welt in Bildern, die übersinnlich erlebter Wirklichkeit als Offenbarung dienen

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kann. Diese Bilder sind nicht von den Sinnen empfangen; aber sie sind lebensvoll wie die Sinnesbilder; sie sind nicht Ergebnisse einer Träumerei, sondern die von der Seele bildhaft festgehaltenen Erlebnisse in der übersinnlichen Welt. Im gewöhnlichen Erkennen liegt zuerst das Sinnbild vor, und der Gedanke kommt hinzu im Erkenntnis­vorgange - der Gedanke, der nicht sinnlich-bildhaft ist. Im geistigen Erkenntnisvorgange liegt das übersinnliche Er­lebnis vor; dieses könnte als solches nicht angeschaut wer­den, wenn es sich nicht durch eine dem Geist naturgemäße Kraft in das Bild ergösse, das sie zur geistig-anschaulichen Versinnlichung bringt. Ein solches Erkennen ist für Trox­1er das des «übergeistigen Sinnes». Und die Bilder dieses übergeistigen Sinnes werden durch den «übersinnlichen Geist» des Menschen so ergriffen, wie in der Sinneserkennt­nis die sinnlichen Bilder durch die Vernunft. In dem Zu­sammenwirken von übersinnlichem Geist mit übergeistigem Sinn entwickelt sich, nach Troxlers Anschauung, das Geisterkennen (vergleiche dazu die sechste der «Vorlesungen über Philosophie» von Troxler). - Von solchen Voraus­setzungen ausgehend, erahnt Troxler in dem Menschen, der in der Sinneswelt sich erlebt, einen «höheren Menschen», der diesem zugrunde liegt, und der der übersinnlichen Welt angehört; und er fühlt sich in dieser Meinung im Einklange mit dem, was Friedrich Schlegel ausgesprochen hat. Und so werden ihm wie schon früher Friedrich Schlegel die höchsten in der Sinneswelt sich offenbarenden Eigenschaften und Betätigungen des Menschen zum Ausdrucke von Fähig­keiten des übersinnlichen Menschen. Indem der Mensch in der Sinneswelt steht, eignet seiner Seele die Glaubenskraft. Doch ist diese eben nur die Offenbarung der übersinnlichen

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Seele durch den sinnlichen Leib. Im Übersinnlichen liegt der Glaubenskraft eine Fähigkeit der Seele zugrunde, die man - will man sie übersinnlich-bildhaft ausdrücken - ein Gehör des übersinnlichen Menschen nennen muß. Und so ist es mit der Kraft des Hoffens. Ihr liegt ein Sehen des übersinnlichen Menschen zugrunde; der Betätigung in Liebe entspricht im «höheren Menschen» die Fähigkeit, im Geiste zu «tasten», zu berühren, wie der Gefühlssinn in der sinn­lichen Welt die Fähigkeit des Tastens ist. Troxler spricht sich darüber (auf Seite 107 seiner «Vorlesungen über Phi­losophie», Bern 1835) in folgender Art aus: «Sehr schön und wahr» hat das Verhältnis des Sinnes- zum Geistesmenschen «unser verewigter Freund, Friedrich Schlegel» ins Licht gesetzt. In seinen Vorlesungen über die Philo­sophie der Sprache und des Wortes sagt er: «Will man in jenem Alphabet des Bewußtseins, welches die einzelnen Elemente zu den einzelnen Silben und ganzen Worten her­gibt, wieder die ersten Anfänge unserer höheren Erkennt­nis finden, nachdem Gott selbst den Schlußstein des höch­sten Bewußtseins bildet, so muß das Gefühl des Geistes, als der lebendige Mittelpunkt des gesamten Bewußtseins, und als Vereinigungspunkt mit dem höheren angenommen werden. ... Man pflegt diese Grundgefühle des Ewigen sehr häufig als Glauben, Hoffnung und Liebe zu bezeich­nen. ... Sind jene drei Grundgefühle, oder Eigenschaften, oder Zustände im Bewußtsein, als ebenso viele Erkenntnis- und Wahrnehmungs- oder wenn man lieber will, wenig­stens Ahnungsorgane des Göttlichen zu betrachten, so darf man sie in dieser Hinsicht, und in Beziehung auf die einem jeden derselben eigentümliche Auffassungsform wohl mit den äußeren Sinnen und Sinneswerkzeugen vergleichen.

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Da entspricht denn die Liebe in der ersten erregenden Seelenberührung, in der fortwährenden Anziehung, und endlich vollkommenen Vereinigung auffallend dem äußeren Gefühlssinn; der Glaube ist das innere Gehör des Geistes, welches das gegebene Wort einer höheren Mitteilung ver­eint, auffaßt und in sich bewahrt; die Hoffnung aber ist das Auge, dessen Licht die mit tiefem Verlangen ersehnten Gegenstände schon aus der weiten Ferne erblickt.» Daß nun Troxler über den Sinn, den Schlegel diesen Sätzen ge­geben, hinausgeht und durchaus sie in dem Sinne denkt, wie oben angedeutet ist, das zeigen schon die Worte, die er hinzusetzt: «Weit über Verstand und Wille, wie deren Wechselwirkung, weit über Vernunft und Freiheit, und ihre Einheit sind diese in einem Bewußtsein von Geist und Herz sich einenden Gemütsideen erhaben, und wie Ver­stand und Wille, Vernunft und Freiheit, und alle unter ihnen liegenden seelischen Fähigkeiten und Vermögen eine erdwärts gewandte Reflexion darstellen, sind diese drei ein himmelwärts gerichtetes Bewußtsein, das von einem wahr­haft göttlichen Lichte erleuchtet wird.» Ein gleiches zeigt sich dadurch, daß auch Troxler sich über den übersinn­lichen Seelenleib ganz in der Art ausspricht, die bei Imma­nuel Hermann Fichte anzutreffen ist: «Schon früher haben die Philosophen einen feinen, hehren Seelleib unterschieden von dem gröberen Körper ... eine Seele, die ein Bild des Leibes an sich habe, das sie Schema nannten, und das ihnen der innere höhere Mensch war. . . In der neuesten Zeit selbst Kant in den Träumen eines Geistersehers träumt ernsthaft im Scherze einen ganzen inwendigen seelischen Menschen, der alle Gliedmaßen des auswendigen an seinem Geisterleib trage; Lavater dichtet und denkt ebenso; und

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selbst, wenn Jean Paul humoristisch über das Bonetsche Unterziehröckchen und das Platnersche Seelenschnürleib­chen scherzt, die im gröberen Körperüberrock und Marter­kittel stecken sollen, so hören wir ihn doch auch wieder fragen: <Wozu und woher wurden diese außerordentlichen Anlagen und Wünsche in uns gelegt, die bloß wie verschluckte Diamanten unsere erdige Hülle langsam zer- schneiden? . . . In den steinernen Gliedern (des Menschen) wachsen und reifen seine lebendigen nach einer uns unbekannten Lebensweise!> Wir könnten» - sagt Troxler weiter - «noch eine Unzahl ähnlicher Denk- und Dichtweisen anführen, welche am Ende nur verschiedene Anschauungen und Vorstellungen sind, in welchen . . . die wahre, einzige Lehre von der Individualität und Unsterb­lichkeit des Menschen enthalten» ist.

Auch Troxler spricht davon, daß auf dem von ihm ge­suchten Erkenntniswege eine Wissenschaft vom Menschen möglich ist, durch die - um seine eigenen Ausdrücke zu ge­brauchen - der «übergeistige Sinn» im Verein mit dem «übersinnlichen Geist» die übersinnliche Wesenheit des Menschen in einer «Anthroposophie» erfassen. Auf S. 101 seiner «Vorlesungen» findet sich der Satz: «Wenn es nun höchst erfreulich ist, daß die neueste Philosophie, welche . . . in jeder Anthroposophie . . . sich offenbaren muß, emporwindet, so ist doch nicht zu übersehen, daß diese Idee nicht eine Frucht der Spekulation sein kann, und die wahrhafte Individualität des Menschen weder mit dem, was sie als subjektiven Geist oder endliches Ich aufstellt, noch mit dem, was sie als absoluten Geist oder absolute Persönlich­keit diesem gegenüberstellt, verwechselt werden darf.»

Es ist kein Zweifel, daß Troxler mehr in einem dunklen

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Gefühle als in einer klaren Anschauung den Weg über Hegels Gedankenwelt hinaus gesucht hat. Dennoch kann man in seinem Erkenntnisleben beobachten, wie die An­regungen des deutschen Weltanschauungsidealismus Fichtes, Schellings, Hegels bei einer Persönlichkeit wirken, die nicht die Ansichten dieser Denker-Dreiheit zu den ihrigen ma­chen kann; die aber ihre eigenen Wege dadurch findet, daß sie diese Anregungen empfängt.

Zu den vergessenen, ja schon während ihres Lebens un­beachteten Persönlichkeiten der deutschen Geistesentwicke­lung gehört Karl Christian Planck. Geboren ist er 1819 in Stuttgart, gestorben 1880; er war Professor am Gymna­sium in Ulm, später am Seminar in Blaubeuren. Noch 1877 hoffte er, daß man ihm den damals frei gewordenen phi­losophischen Lehrstuhl in Tübingen übertragen werde. Es geschah nicht. In einer Reihe von Schriften sucht er sich einer Weltanschauung zu nähern, welche ihm als der Aus­druck der geistigen Art des deutschen Volkes erschien. In seinem Buche «Grundlinien einer Wissenschaft der Natur» (1864) spricht er aus, wie er mit den eigenen Gedanken die Gedanken der forschenden deutschen Volksseele dar­stellen will: «Welche Macht tiefgewurzelter Vorurteile von der bisherigen Anschauung aus seiner - des Verfassers - Schrift entgegensteht, dessen ist er sich vollkommen bewußt; allein, wie schon die Arbeit selbst, trotz aller Ungunst der Umstände, die zufolge der ganzen Lage und Berufsstellung des Verfassers einem Werk dieser Art sich entgegenstellte, doch ihre Durchführung und ihren Weg in die Öffentlichkeit sich erkämpft hat, so ist er auch gewiß, daß das, was sich jetzt erst seine Anerkennung erkämpfen

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muß, einst als die einfachste und selbstverständlichste Wahr­heit erscheinen wird, und daß darin nicht bloß seine Sache, sondern die wahrhaft deutsche Anschauung der Dinge über alle noch unwürdig äußerliche und undeutsche Auffassung der Natur und des Geistes siegen wird. - Was in unbewuß­ter tiefsinniger Ahnung schon unsere mittelalterliche Dich­tung vorgebildet hat, das wird endlich in der Reife der Zeiten an unserer Nation sich erfüllen. Die unpraktische, mit Schaden und Spott heimgesuchte Innerlichkeit deut­schen Geistes (wie Wolfram sie in seinem Parzival schil­dert) erringt endlich in der Kraft ihres unablässigen Stre­bens das Höchste; sie schaut den letzten einfachen Gesetzen der Dinge und des menschlichen Daseins selbst auf den Grund; und was die Dichtung phantastisch mittelalterlich in den Wundern des Grals versinnbildlicht hat, dessen Herr­schaft ihr Held erringt, das erhält umgekehrt seine rein natürliche Erfüllung und Wirklichkeit in der bleibenden Erkenntnis der Natur und des Geistes selbst.» - In der letzten Zeit seines Lebens faßte Karl Christian Planck sein Gedankenwerk zusammen in einem Buche, das 1881 der Philosoph Karl Köstlin als das «Testament eines Deut­schen» herausgegeben hat. -

Es ist durchaus eine ähnliche Art von Empfindung des Erkenntnisrätsels in Plancks Seele wahrzunehmen, wie sie bei den andern in dieser Schrift charakterisierten Denkerpersönlichkeiten sich offenbart. Dies Erkenntnisrätsel in seiner ursprünglichen Gestalt wird für Planck Ausgangs­punkt seines Forschens. Ist im Umkreis der menschlichen Gedankenwelt die Kraft zu finden, durch die der Mensch die wahre Wirklichkeit erfassen kann, die Wirklichkeit, die seinem Dasein Sinn und Bedeutung im Weltendasein gibt?

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In die Natur sieht sich der Mensch hinein- und ihr gegen­übergestellt. Er kann sich über das, was in deren Tiefen als wahre Wesenkräfte waltet, wohl Gedanken machen; allein wo ist, was ihm dafür bürgt, daß seine Gedanken irgend eine andere Bedeutung haben, als daß sie Geschöpfe seiner eigenen Seele, ohne Verwandtschaft mit jenen Tiefen sind? Wären sie dieses, so müßte dem Menschen ja un­bekannt bleiben, was er selbst ist und wie er in der wahren Welt wurzelt. Durch irgendeine andre Seelenkraft als durch das Denken sich den Weltentiefen nahen zu wollen, lag Planck so fern wie Hegel. Er konnte keine andere An­sicht haben als die, dem Denken müsse sich die echte Wirk­lichkeit irgendwie ergeben. Aber wie weit man auch ausgreift mit dem Denken, wie man auch die innere Kraft desselben zu erstarken sucht: man bleibt ja doch immer nur im Denken; man stößt in den Weiten und Tiefen des Denkens auf kein Sein. Durch seine eigene Wesenheit scheint sich das Denken von jeder Gemeinschaft mit dem Sein auszuschließen. Doch der Einblick in diese Seinsfremd­heit des Denkens wird für Planck nun eben der Lichtstrahl, der ihm lösend auf das Welträtsel fällt. Wenn das Denken gar nicht Anspruch darauf macht, selbst irgendwie etwas von der Wirklichkeit in sich zu tragen, wenn es wahrheits­gemäß sich als das Unwirkliche offenbart, dann erweist es sich doch gerade dadurch als das Werkzeug, um die Wirk­lichkeit auszudrücken. Wäre es selbst ein Wirkliches, dann könnte die Seele nur in seiner Wirklichkeit weben, und käme aus ihr nicht heraus; ist es selbst unwirklich, dann stört es die Seele durch seine eigene Wirklichkeit nicht; der Mensch ist, indem er denkt, gar nicht in einer Gedankenwirklichkeit, sondern in der Gedankenunwirklichkeit, die

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eben deshalb dem Menschen sich nicht aufdrängt mit ihrer eigenen Wirklichkeit, sondern die Wirklichkeit ausdrückt, von der sie spricht. Wer im Denken selbst etwas Wirkliches sieht, der muß, nach Plancks Ansicht, auf ein Herankom­men an die Wirklichkeit verzichten; denn ihm muß sich das Denken zwischen die Seele und die Wirklichkeit stellen. Ist das Denken selbst nichts, kann es also auch dem Er­kennen die Wirklichkeit nicht verbergen, so muß diese im Denken sich offenbaren können.

Mit dieser Ansicht hat Planck zunächst nur den Aus­gangspunkt für seine Weltanschauung gewonnen. Denn in dem Gedankenweben, das die Seele im Leben unmittelbar hat, ist keineswegs das reine, sich selbst verleugnende, ja sich verneinende Denken wirksam. Da hinein spielt, was im Vorstellen, Fühlen, Wollen, Wünschen der Seele lebt. Weil dies so ist, entstehen die Trübungen der Weltanschau­ung. Und Plancks Streben ist, eine solche Weltanschauung zu erringen, in der alles, was sie enthält, Ergebnis des Den­kens ist, aber nichts aus dem Denken selbst stammt. In allem, was zu einem Gedanken über die wirkliche Welt gemacht wird, muß auf das geschaut werden, was im Den­ken lebt, ohne selbst erdacht zu sein. Planck malt sein Weltbild mit einem Denken, das sich selbst aufgibt, um die Welt aus sich leuchten zu lassen.

Als Beispiel wie Planck in solchem Streben zu einem Weltbild gelangen will, sei mit einigen Strichen gekenn­zeichnet, wie er über das Wesen der Erde denkt. - Wenn jemand die Erde so vorstellt, wie die rein physische Geo­logie das mit sich bringt, so ist in dieser Vorstellung für Plancks Weltanschauung keine Wahrheit. So die Erde vor­zustellen, wäre wie wenn man von einem Baum sprechen

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wollte und nur den Holzstamm ohne Blätter, Blüten und Früchte im Auge hätte. Ein solcher Stamm kann für den Anblick der physischen Augen Wirklichkeit genannt wer­den. Im höheren Sinne ist er keine Wirklichkeit. Denn er kann, so wie er ist, im Weltenzusammenhang für sich nicht vorkommen. Er kann das nur sein, was er ist, indem zu­gleich die Triebkräfte in ihm entstehen, die Blätter, Blüten und Früchte entfalten. Man muß in der Wirklichkeit des Stammes diese Triebkräfte mitdenken und muß sich be­wußt sein, daß der bloße Stamm nur ein über sich selbst täuschendes Wirklichkeitsbild gibt. Daß irgend etwas vor den Sinnen da ist, das ist noch kein Beweis, daß es so auch eine Wirklichkeit ist. Die Erde als die Gesamtheit dessen vorgestellt, was sie an mineralischen Gebilden und inner­halb dieser Gebilde vorkommenden Tatsachen zeigt, ist keine Wirklichkeit. Wer Wirkliches über die Erde vor­stellen will, der muß sie so vorstellen, daß ihr Mineralreich schon in sich enthält das Pflanzenreich, wie das Stammgebilde des Baumes die Blätter und Blüten; ja daß in der «wahren Erde» schon das Tierreich und der Mensch mit drinnen sind. Man sage nicht, das sei doch eine Selbst-verständlichkeit, und im Grunde täusche sich Planck doch nur darüber, daß dies doch jeder ebenso halte wie er. Planck müßte darauf erwidern: wo ist der, der dies tut? Gewiß stellen alle die Erde als den Weltkörper vor mit seinen Pflanzen, Tieren und Menschen. Aber sie stellen eben die mineralische Erde vor, aus ihren geologischen Schichten be­stehend, aus ihrer Oberfläche heraus die Pflanzen wach­send, auf ihr die Tiere und Menschen herumwandelnd. Aber diese Summenerde, aus Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen addiert, gibt es gar nicht. Die ist bloß ein

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Trugbild der Sinne. Dafür gibt es eine wahre Erde, die ist ein ganz übersinnliches Gebilde, ein unsichtbares Wesen, das aus sich heraus den mineralischen Untergrund sich gibt; sich aber nicht in diesem erschöpft, sondern in dem Pflan­zenreiche weiter sich offenbart, dann im Tierreiche, dann im Menschenreiche. Für das Mineralreich, das Pflanzen-, das Tier-, das Menschenreich hat nur derjenige den richtigen Blick, der das Ganze der Erde in seiner Übersinnlichkeit schaut, und der fühlt, wie zum Beispiel die Vorstellung des stofflichen Mineralreiches für sich, ohne die Vorstellung der Seelenentwickelung der Menschheit ein Truggebilde ist. Gewiß, man kann ein stoffliches Mineralreich vorstellen; aber man lebt in der Weltenlüge und nicht in der Weltenwahrheit, wenn man dabei nicht das Gefühl hat, mit einer solchen Vorstellung webt man in dem gleichen Wahn, wie wenn man sich denken wollte, ein Mensch, dem der Kopf abgeschlagen ist, werde weiter ruhig durchs Leben wan­deln. - Es könnte gesagt werden: Wenn wahrhafte Er­kenntnis das hier Angedeutete notwendig mache, dann könnte diese doch niemals erreicht werden; denn wer be­hauptet, die mineralische Erde sei keine Wirklichkeit, weil sie im Ganzen der Erde geschaut werden müsse, der sollte auch sagen, das Ganze der Erde müsse wieder im Pflanzensystem und so weiter geschaut werden. Wer solchen Einwand macht, hat den Sinn dessen aber nicht erfaßt, das einer geistgemäßen Weltanschauung zugrunde liegt. Es handelt sich nämlich bei allem Erkennen nicht bloß darum, daß man richtig, sondern das man auch wirklichkeitsgemäß denke. Wer von einem Gemälde spricht, kann wohl sagen, man denke nicht wirklichkeitsgemäß, wenn man nur auf eine Person blicke, während drei auf dem Gemälde sind;

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aber es kann diese Behauptung innerhalb ihrer Tragweite nicht damit widerlegt werden, daß man sagt: niemand ver­stehe dies Gemälde, der nicht auch alle vorhergehenden desselben Malers kenne. Zum Erkennen der Wirklichkeit ist eben richtiges und wirklichkeitsgemäßes Denken nötig. Das Mineral als Mineral, die Pflanze als Pflanze und so weiter für sich betrachten, kann wirklichkeitsgemäß sein; die mineralische Erde ist kein wirkliches, sondern ein Phan­tasiegebilde; auch wenn man sich bewußt ist, daß sie nur ein Teil alles Irdischen ist. - Das ist das Bedeutsame bei einer solchen Persönlichkeit wie Planck, daß sie sich in eine Stimmung bringt, durch die sie die Wahrheit eines Ge­dankens nicht ersinnt, sondern erlebt. Daß sie in der eige­nen Seele eine Kraft für sich entfaltet, durch die sie erlebt, wann ein Gedanke nicht gedacht werden darf, weil er sich durch seine eigene Wesenheit ertötet. Das Dasein einer Wirklichkeit zu ergreifen, die ihr eigenes Leben und ihren eigenen Tod in sich trägt, gehört zu solcher Seelenverfas­sung, die nicht sich auf die Sinneswelt verläßt, daß die ihr sage: dies ist, oder dies ist nicht.

Von diesem Gesichtspunkte aus hat Planck denkend zu begreifen gesucht, was in den Naturerscheinungen, was im Menschendasein lebt, im geschichtlichen, im künstlerischen, im Rechtsleben. Er hat in einem geistvollen Buche über die «Wahrheit und Flachheit des Darwinismus» geschrie­ben. Dieses Werk nennt er einen «Denkstein zur Geschichte heutiger (1872) deutscher Wissenschaft». Es gibt Menschen, die einer Persönlichkeit wie Planck gegenüber die Empfin­dung haben, eine solche schwebe in weltfremden Begriffshöhen und habe keinen Sinn für das praktische Leben. Dieses erfordere Menschen, die sich am «wirklichen» Leben

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- wie man es nennt - ihr gesundes Urteil bilden. Nun, man kann solcher Empfindung gegenüber auch die Meinung haben: vieles stünde anders im wirklichen Leben, wenn diese behäbige Ansicht vom Leben und der Lebenspraxis in der Wirklichkeit sich weniger breit machte. Wenn dagegen die Meinung sich etwas mehr verbreiten könnte, daß Denker wie Planck, weil sie sich eine Seelenverfassung erwerben, durch die sie mit der wahren Wirklichkeit sich verbinden, auch über die Verhältnisse des Lebens ein wah­reres Urteil haben als diejenigen, welche sie Begriffsschwär­mer und unpraktische Philosophen nennen. Die Meinung ist auch möglich, daß die solcher angeblichen «Begriffsschwärmerei» abholden, sich so recht lebenspraktisch dün­kenden Stumpflinge die Witterung für die wahren Ver­hältnisse des Lebens verlieren, während sie bei den unpraktischen Philosophen gerade zur Treffsicherheit her­angezogen wird. Man kann zu einer solchen Meinung kommen, wenn man Planck betrachtet und bei ihm mit der Höhe philosophischer Ideenbildung verbunden sieht ein weitschauendes, treffendes Urteil für die Bedürfnisse echter Lebenspraxis und für die Geschehnisse des äußeren Lebens. Auch wenn man über manches, was Planck an Ideen über äußere Lebensgestaltung entwickelt hat, anderer Ansicht ist als er - was auch bei dem Verfasser dieser Schrift zutrifft -, so kann man doch zugestehen, daß seine Anschauungen gerade auf diesem Gebiete einen lebenstüch­tigen Ausgangspunkt für praktische Fragen abgeben kön­nen, von dem weitergeschritten werden kann; selbst wenn das Weiterschreiten zu ganz anderem führt, als wovon aus­gegangen wird. Und man sollte meinen: Menschen, die in solcher Art «Begriffsschwärmer» sind und eben dadurch

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durchschauen, welche Kräfte in dem wirklichen Leben tätig sind, taugten für die Bedürfnisse dieses wirklichen Lebens doch besser als mancher, der sich mit Lebenspraxis gerade deshalb gesättigt glaubt, weil er, nach seiner Ansicht, sich durch die Berührung mit irgend einer Ideenwelt nicht hat «dumm machen lassen». - (Über die Stellung Karl Chri­stian Plancks in der Weltanschauungsentwickelung der neueren Zeit hat sich der Verfasser dieser Schrift in seinem 1900 erschienenen Buche «Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert» ausgesprochen, das unter dem Titel «Die Rätsel der Philosophie» 1914 in neuer Auflage erschienen ist.) Es könnte jemand meinen, es sei ungerechtfertigt, Plancks Gedanken als bedeutsam anzuse­hen für die Triebkräfte der deutschen Volkheit, da diese Gedanken doch wenig Verbreitung gefunden haben. Eine solche Meinung verkennt, worauf es ankommt, wenn von Wirkung der Volkswesenheit in den Anschauungen der Denker eines Volkes die Rede ist. Was da wirkt, sind die unpersönlichen (oft unterbewußten) Kräfte der Volkheit, die in den Betätigungen des Volkes auf den mannigfaltig­sten Gebieten des Daseins leben und die auch in einem sol­chen Denker die Ideen gestalten. Diese Kräfte waren vor seinem Auftreten da, sind nach demselben wirksam; sie leben, auch wenn nicht von ihnen gesprochen wird; sie leben auch, wenn sie verkannt werden. Und es kann sein, daß sie in einem solchen volksbodenständigen Denker in besonders starker Art wirken, von dem nicht gesprochen wird, weil bis in die Meinungen, die man sich über ihn bil­det, weniger hineinstrahlt, was solche Kräfte bergen, als in seine Gedanken. Ein solcher Denker kann oftmals ein­sam stehen nicht nur während seines Lebens, und auch

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seine Gedanken können einsam stehen in den Meinungen der Nachwelt. Hat man aber die Eigenart seiner Gedanken erfaßt, dann hat man einen Wesenszug der Volksseele er­kannt, einen Zug, der in ihm Gedanke geworden ist, und der unverwüstlich bleibt in der Volkheit; bereit in immer neuen Trieben sich zu offenbaren. Unabhängig von der Frage: was ihm gegönnt war, zu wirken, ist die andere: was in ihm gewirkt hat? Und was immer wieder zu gleich gerichteten Leistungen führen wird? Das «Testament eines Deutschen» von Karl Christian Planck ist 1912 in zweiter Auflage neu herausgegeben worden. Es ist schade, daß manches schreibselige Philosophengemüt damals mehr Be­geisterung aufbrachte für die leichtgewobenen und für an­spruchslose Seelen deshalb auch leichter verständlichen Weltanschauungsgedanken Henri Bergsons als für die streng gefügten, weitausgreifenden Ideen Plancks. Was ist doch alles geschrieben worden über die «Neugestaltung» der Weltanschauung durch Bergson, namentlich von sol­chen, die die Neuheit einer Weltanschauung so leicht ent­decken, weil ihnen das Verständnis, manchmal sogar die Kenntnis dessen fehlt, was längst dagewesen ist. Bezüglich der «Neuheit» einer der Hauptideen Bergsons hat der Verfasser dieser Schrift ebenfalls in seinem Buche «Rätsel der Philosophie» auf den folgenden wichtigen Tatbestand hingewiesen. (Nebenbei nur sei bemerkt, daß dieser Hin­weis vor dem gegenwärtigen Kriege geschrieben ist. Ver­gleiche das Vorwort des zweiten Bandes des genannten Buches.) - Bergson wird durch seine Gedanken zu einem Umgestalten der verbreiteten Entwickelungsidee für or­ganische Wesen geführt. Er setzt nicht an den Anfang die­ser Entwickelung das einfachste Lebewesen, um dann durch

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äußerliche Kräfte aus diesem die komplizierteren bis her­auf zum Menschen hervorgehend zu denken, sondern er stellt sich vor, daß im Ausgangspunkte der Entwickelung ein Wesen stehe, das in irgend einer Form den Antrieb schon enthält, Mensch zu werden. Es kann aber diesen An­trieb nur dadurch zur Verwirklichung bringen, daß es andere Antriebe, die auch in ihm liegen, zuerst aus sich abscheidet. Es gewinnt in der Abscheidung der niederen Lebenswesen die Kraft zur Verwirklichung der höheren. So ist der Mensch seiner Wesenheit nach nicht das zuletzt Entstandene, sondern das zuerst, vor allem anderen Wirk­same. Er scheidet aus seinen Bildekräften zuerst die anderen Wesen ab, um in dieser Vorarbeit die Kraft zu seinem Hervortreten in die äußere sinnliche Wirklichkeit zu ge­winnen. Selbstverständlich wird da mancher einwenden: nun, daß in der Entwickelung der Lebewesen ein innerer Entwickelungstrieb wirkt, haben doch schon Viele gedacht. Und man wird anführen können den längst vorhandenen Gedanken der Zielstrebigkeit; oder Anschauungen, die Naturforscher wie Nägeli und andere gehabt haben. Solche Einwände treffen aber in einem Falle, wie der hier in Frage kommende ist, nicht das Ziel. Denn bei dem Berg­sonschen Gedanken handelt es sich nicht darum, von einer allgemeinen Idee einer inneren Entwickelungskraft aus­zugehen, sondern von einer bestimmten Vorstellung von dem, was der Mensch in seinem vollen Umfange ist; und aus dieser Vorstellung zu ersehen, daß dieser übersinnlich gedachte Mensch in sich die Antriebe hat, die anderen Naturwesen zuerst in die sinnliche Wirklichkeit zu setzen und dann auch sich in diese hineinzustellen.

Nun liegt das Folgende vor. Was bei Bergson in schil­lernder,

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leichtgeschürzter Ideenentwickelung zu lesen ist, das hat vorher in gedankenstarker, kraftvoller Art der deutsche Denker Wilhelm Heinrich Preuß zum Ausdrucke gebracht. Preuß ist nun auch eine derjenigen Persönlich­keiten, die der hier geschilderten mehr oder weniger ver­gessenen Strömung einer geistgemäßen deutschen Weltanschauungsentwickelung angehören. Mit machtvollem Wirklichkeitssinn verbindet Preuß Natur- und Weltan­schauung - zum Beispiel in seinem Buche «Geist und Stoff» (1882). Den angeführten Bergsonschen Gedanken findet man bei ihm so ausgedrückt: «Es dürfte . . . an der Zeit sein, eine . . . Lehre von der Entstehung der organischen Arten aufzustellen, welche sich nicht allein auf einseitig aufgestellte Sätze aus der beschreibenden Naturwissen­schaft gründet, sondern auch mit den übrigen Naturgeset­zen, welche zugleich auch die Gesetze des menschlichen Denkens sind, in voller Übereinstimmung ist. Eine Lehre zugleich, die alles Hypothesierens bar ist und nur auf stren­gen Schlüssen aus naturwissenschaftlichen Beobachtungen im weitesten Sinne beruht; eine Lehre, die den Artbegriff nach tatsächlicher Möglichkeit rettet, aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwickelung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht.

- Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf unserem Planeten wiederkehrende Spe­zies: Homo sapiens. Merkwürdig, daß die älteren Beobach­ter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, daß sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren

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suchte - während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müßte, um so fortschreitend durch das ganze Ge­biet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzukehren . . . Es war nicht Zufall, daß die menschliche Natur aus der irdischen hervorging, sondern Notwendigkeit. Der Mensch ist das Ziel der tellurischen Vorgänge, und jede andere neben ihm auftauchende Form hat aus der seinigen ihre Züge entlehnt. Der Mensch ist das erstgeborene Wesen des ganzen Kosmos . . . Als seine Keime entstanden waren, hatte der gebliebene organische Rückstand nicht die nötige Kraft mehr, um weitere menschliche Keime zu erzeugen. Was noch entstand, wurde Tier oder Pflanze . . .»

Die Idee, wie sie vom Wesen des Menschen in der Phi­losophie des deutschen Idealismus lebt, leuchtet auch aus diesen Vorstellungen des wenig gekannten Denkers von Elsfleth, Wilhelm Heinrich Preuß. Mit dieser Anschauung weiß er den Darwinismus, sofern dieser nur auf die in der Sinneswelt sich abspielende Entwickelung blickt, zum Gliede einer geistgemäßen Weltanschauung zu machen. Einer Weltanschauung, die die Menschenwesenheit in ihrer Entfaltung aus den Tiefen des Weltalls erkennen will. Wie Bergson zu dem bei ihm glitzernden, aus Preuß' Dar­stellung aber so kraftvoll leuchtenden Gedanken gekom­men ist: darauf soll in diesem Zusammenhange weniger Wert gelegt werden als vielmehr darauf, daß in den Schrif­ten des wenig gekannten Preuß fruchtbarste Keime zu er­blicken sind, die manchem eine stärkere Anregung geben könnten als die glitzernde Gestalt vermag, in der man sie bei Bergson wiederfindet. Allerdings muß man auch für Preuß mehr Anlage zur Gedankenvertiefung mitbringen, als sich bei denjenigen zeigte, die so viel Begeisterung für

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die Bergsonsche «Neubelebung» der Weltanschauung aufbrachten. Was hier gesagt worden ist, hat mit nationaler Zu- oder Abneigung gar nichts zu tun. In der letzten Zeit ist H. Bönke der «originellen philosophischen Neuschöp­fung» Bergsons nachgegangen, weil dieser doch solch haßgetragene, verachtungsprühende Worte gegen das deutsche Geistesleben in dieser schicksaltragenden Zeit auszuspre­chen für nötig befunden hat. (Vergleiche die Schrift: Pla­giator Bergson, Membre de l'Institut. Zur Antwort auf die Herabsetzung der deutschen Wissenschaft durch Edmond Perrier, Président de l'Academie des Sciences. Charlotten­burg, Huth 1915.) In Anbetracht alles dessen, was Bönke nachweist über die Art, wie Bergson wiedergibt, was er dem deutschen Gedankenleben verdankt, ist wohl kaum übertrieben, was der Philosoph Wundt im Literarischen Centralblatt für Deutschland Nr.46 vom 13. November 1915 sagt: .... . Bönke läßt es . . . an belastendem Beweis­material nicht fehlen. Seine Schrift besteht zum größten Teil aus Stellen, die den Werken Bergsons und Schopen­hauers entnommen sind, und in denen der jüngere Autor die Gedanken des älteren entweder wörtlich oder mit ge­ringer Variation wiederholt. Immerhin ist dies nicht allein entscheidend. Es wird darum zweckmäßig sein, die Bei­spiele, die Bönke ins Feld führt, einigermaßen nach kri­tischen Gesichtspunkten zu ordnen. Dann lassen sie sich wohl in drei Kategorien bringen. Eine erste enthält Sätze, die, abgesehen von unwesentlichen Unterschieden, bei bei­den Schriftstellern genau übereinstimmen . . .» In anderen Kategorien liegt die Übereinstimmung mehr in der For­mung des Gedankens. Nun, es ist vielleicht wirklich we­niger wichtig, inwieweit der deutsches Geistesleben so wütend

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verurteilende Bergson sich als ein recht williger Verarbeiter dieses deutschen Geisteslebens zeigt; wichtiger kann es aber scheinen, daß bei Bergson die Verarbeitung in leichtgewobenem, leicht erringbarem Nachdenken auftritt, und daß gar mancher Beurteiler besser getan hätte, mit der begeisterten Erhebung dieses «Neubelebers» der Welt­anschauung zu warten, bis er durch besseres Verständnis derjenigen Denker, denen Bergson seine Anregungen ver­dankt, diese Erhebung - vielleicht unterlassen hätte. - Daß ein Nachfolger sich von seinen Vorgängern anregen läßt, ist eine übrigens naturgemäße Sache im Entwicke­lungsgange der Menschheit; es kommt aber darauf an, ob die Anregung zu einem Fortbildungsvorgang führt, oder - das geht auch aus Bönkes Darstellung klar hervor - wie bei Bergson zu einem Rückbildungsvorgang.

Ein Seitenblick

Im Jahre 1912 ist erschienen «Das Hohe Ziel der Er­kenntnis» von Omar al Raschid Bey (München, Verlag R. Piper). (Zu bemerken ist, daß der Verfasser kein Türke, sondern ein Deutscher ist, und daß die Ansicht, die er ver­tritt, nichts mit dem Mohammedanismus zu tun hat, son­dern eine im modernen Gewande auftretende altindische Weltanschauung ist.) Das Buch ist nach dem Tode des Ver­fassers erschienen. Ein solches Buch würde in unserer Zeit nicht erscheinen, und sein Verfasser würde nicht glauben, sich und anderen mit dem darin Ausgesprochenen einen der Gegenwart entsprechenden Erkenntnisweg zeigen zu sollen, wenn er in seiner Seele die Bedingungen herstellen wollte, durch die ein Verständnis der Denkerreihe möglich ist, die in dieser Schrift geschildert wird. So wie für ihn die Dinge sich darstellen, könnte der Verfasser des «Hohen

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Zieles» für die hier ausgesprochene Behauptung nur ein mitleidiges Lächeln haben. Er würde nicht einsehen, daß alles, was er in seinem Schlußkapitel «Erwachen aus der Erscheinung» auf Grund des diesem Kapitel Vorangegan­genen - und mit diesem - dem Seelenerleben darbietet, zwar ein rechter Erkenntnisweg war für das alte Indien, für den man als einen der Vergangenheit angehörigen volles Ver­ständnis haben kann; daß aber dieser Erkenntnisweg in einen andern einmündet, wenn man nicht vorzeitig auf ihm stehen bleibt, sondern den geistgemäßen Wirklichkeits­weg wandelt, der von dem neueren Idealismus beschritten worden ist.

Er hätte erkennen müssen, wie sein «Erwachen aus der Erscheinung» nur ein Schein des Erwachens ist; in Wirk­lichkeit ist es ein von dem eigenen seelischen Erleben be­wirktes Sich-Zurückziehen von der Erscheinung - gleichsam ein Erbeben vor der Erscheinung - und dadurch nicht ein «Erwachen aus der Erscheinung», sondern ein Einschlafen im Wahn; ein Selbstwahn, der seine Wahnwelt für Wirklich­keit hält, weil er nicht dazu gelangt, den Weg in die geist­gemäße Wirklichkeit zu gehen. Plancks sich selbstverleug­nendes Denken ist ein Seelenerlebnis, zu dem al Raschids Wahndenken nicht dringen mag. Da findet man im «Hohen Ziel» die Sätze: «Wer sein Heil in dieser Welt sucht, der bleibt dieser Welt verfallen; dem ist kein Entrinnen aus un­gestilltem Verlangen; dem ist kein Entrinnen aus nichtigem Spiel; dem ist kein Entrinnen aus den engen Fesseln des «Ich». Wer sich aus dieser Welt nicht erhebt, der lebt und vergeht mit seiner Welt.» Vor diesen Sätzen stehen diese: «Wer sein Heil im sucht, dem ist Selbstsucht Gebot, dem ist Selbst­sucht Gottheit.» Wer aber die treibenden Seelenkräfte, die in Denkern der Reihe von Fichte bis Planck walten, lebensvoll erkennt, der durchschaut den Trug, der in diesen Sät­zen des «Hohen Zieles» sich ausspricht. Denn er erkennt, wie die Sucht nach dem Selbst - die Selbstsucht - vor dem Erleben des «Ich» im Fichteschen Sinn liegt, und wie das

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Fliehen der Ich-Anerkennung - im altindischen Sinn - das hochmütige Erkenntnisstreben scheinbar weiter in die Geistwelt hineinführt, in Wirklichkeit aber zurückwirft in die Sucht nach dem Ich. Denn erst das Finden des Ich läßt das Ich entrinnen den Fesseln der Sucht nach dem Ich, der Selbstsucht. Es kommt eben durchaus darauf an, ob man im «Erwachen aus der Erscheinung» die vom Rückfall in die Ich-Sucht verursachten Erlebnisse des «Hohen Zieles» hat, oder ob man Erlebnisse hat, auf die folgende Worte deuten können. Wer sein Heil im Fliehen des «Ich» sucht, der verfällt der Sucht nach dem «Ich»; wer das «Ich» findet, befreit sich von der Sucht nach dem Ich; denn Sucht nach dem Ich schafft das Ich zu seinem eigenen Götzen; Finden des «Ich» gibt das Ich der Welt. Wer sein Heil im Fliehen der Welt sucht, der wird von der Welt in seinen eigenen Wahn zurückgeworfen; den täuscht hochmütiger Erkenntniswahn und läßt ihm nicht'ges Ideen-Spiel als Weltenwahrheit erscheinen; der löst von vorne die Fesseln des Ich und sieht nicht, wie der Feind der Erkenntnis sie von hinten ihm nur fester anlegt. Wer sich, die Weltoffen­barung verschmähend, über die Welt erheben will, der führt sich in den Wahn, der ihn um so sicherer hält, als er ihm sich als Weisheit offenbart. - In den Wahn, mit dem man sich und andere vor dem schwierigen Erwachen in dem neueren Weltanschauungs-Idealismus zurückhält, und in ein «Erwachen aus der Erscheinung» hineinträumt. Ein vermeintliches Erwachen, wie es das «Hohe Ziel» weisen will, ist zwar ein Quell zu jenem Erlebnis, das immer er­neut dem «Erwachten» von der Erhabenheit seiner Er­kenntnis sprechen läßt, aber auch ein Hindernis für das Erleben dieses Weltanschauungs-Idealismus. Man nehme diese Bemerkungen nicht so, als ob der Verfasser dieser Schrift das Erkenntnisstreben al Raschid Beys in seiner Art irgendwie herabsetzen wollte; was er hier sagt, ist nur der ihm notwendig erscheinende Einwand gegen eine Welt­anschauung, die ihm in dem ärgsten Selbstwahn zu leben

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scheint. Solchen Einwand kann man wohl auch machen, wenn man eine geistige Erscheinung von einem gewissen Gesichtspunkte aus schätzt; vielleicht kann es einem gerade dann am notwendigsten erscheinen, weil der Ernst dazu zwingt, der in der Behandlung von Erkenntnisfragen wal­ten muß.

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BILDER AUS DEM GEDANKENLEBEN ÖSTERREICHS

Einige Bilder - nichts anderes als solche - und nicht über das gedanklich-geistige Leben Österreichs, sondern nur aus diesem Leben möchte der Verfasser zeichnen. Keine Art von Vollständigkeit soll angestrebt werden. Auch nicht in bezug auf dasjenige, was der Verfasser selbst zu sagen hätte. Manches andere mag viel wichtiger sein als das hier Vorzubringende. Es soll aber für diesmal nur einiges aus dem geistigen Leben Österreichs angedeutet werden, was in irgend einer Art mit den Strömungen mittelbar oder unmittelbar, mehr oder weniger zusammenhängt, in denen der Schreiber dieser Ausführungen während seiner Jugendzeit selbst drinnen gestanden hat. Geistige Strömungen, wie die hier gemeinten, können ja auch wohl so gekenn­zeichnet werden, daß man nicht die Vorstellungen gibt, die man sich über sie gebildet hat, sondern daß man über Persönlichkeiten, deren Denkart und Gefühlsrichtung spricht, von denen man glaubt, daß sich - wie symptoma­tisch - in ihnen diese Strömungen ausdrücken. Was Öster­reich durch einige solcher Persönlichkeiten über sich offen­bart, möchte ich schildern. Wenn ich dabei an einigen Orten in der Ichform spreche, so möge man dies in meinem dermaligen Gesichtspunkte begründet finden.

Von einer Persönlichkeit möchte ich zuerst sprechen, in der ich vermeine, die Offenbarung des geistigen Österreichertums innerhalb der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in einem sehr edlen Sinne erblicken zu dür­fen, von Karl Julius Schröer. Als ich 1879 an die Wiener Technische Hochschule kam, war er dort Lehrer der deutschen

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Literaturgeschichte. Er wurde mir erst Lehrer, dann älterer Freund. Seit vielen Jahren ist er nun schon nicht mehr unter den Lebenden. - In der ersten Vorlesung, die ich von ihm hörte, sprach er über Goethes Götz von Ber­lichingen. Das ganze Zeitalter, aus der diese Dichtung herauswuchs, wurde aus Schröers Worten lebendig. Und auch, wie der Götz in dieses Zeitalter einschlug. Ein Mann sprach, der in jedes seiner Urteile einfließen ließ, was er aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus allem Empfinden und Wollen seiner ganzen durchgeistigten Per­sönlichkeit einverleibt hatte. Die folgenden Vorlesungen bauten ein lebendiges Bild der deutschen Dichtung seit Goethes Auftreten auf. So, daß man durch die Schilderung von Dichtern und Dichtungen stets hindurchfühlte das lebendige Weben der Anschauungen, die im Wesen des deutschen Volkes nach Dasein ringen. Begeisterung für die Ideale der Menschheit trug Schröers Urteile; und es prägte sie lebendiges Sich-Fühlen in der Lebensanschauung, die in Goethes Zeitalter ihren Anfang nahm. Ein Geist sprach aus diesem Manne, der nur mitteilen wollte, was durch die Betrachtung des Geisteslebens tiefes Selbsterlebnis seiner Seele geworden war.

Viele, die diese Persönlichkeit kennenlernten, haben sie verkannt. Ich war, als ich bereits in Deutschland lebte, einmal bei einer Tischgesellschaft. Ein sehr bekannter Li­terarhistoriker saß neben mir. Er sprach von einer deut­schen Fürstin, die er sehr lobte, nur - meinte er - könne sie auch von ihrem sonstigen gesunden Urteile abirren, was sich zum Beispiele darin zeigte, daß sie «Schröer für einen bedeutenden Mann halte». Ich kann verstehen, daß man­cher in Schröers Büchern nicht findet, was zahlreiche seiner

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Schüler durch den lebendigen Einfluß seiner Persönlichkeit fanden; bin aber doch der Überzeugung, daß derjenige vieles davon auch in Schröers Schriften verspüren könnte, der seinen Eindruck zu empfangen vermag nicht bloß nach sogenannter «strenger Methode», vielleicht gar nach einer solchen, die den Zuschnitt dieser oder jener Literatenschule trägt, sondern nach Eigenart des Urteilens, nach Offen­barung einer selbsterlebten Anschauung. Von einem solchen Gesichtspunkte aus spricht denn doch eine an dem deut­schen Weltanschauungs-Idealismus gereifte Persönlichkeit auch aus dem viel angefeindeten Buche Schröers «Geschichte der deutschen Dichtung im neunzehnten Jahrhundert» und aus anderen seiner Werke. Eine gewisse Art der Darstel­lung zum Beispiele in seinem Faustkommentar mag man­chen sich frei meinenden Geist abstoßen. Doch wirkt da in Schröers Darstellung das hinein, wovon ein gewisses Zeitalter die Ansicht hatte, daß es von dem Charakter des Wissenschaftlichen nicht trennbar sei. Auch starke Geister sind unter das Joch dieser Ansicht geraten; und man muß diese Geister selbst in ihrer wahren Eigenheit dadurch suchen, daß man eine von diesem Joch ihnen aufgedrun­gene Hülle ihres Schaffens durchdringt.

Im Lichte eines Mannes hat Karl Julius Schröer seine Knaben- und Jugendzeit verlebt, der - wie er selbst - in geistigem Deutsch-Österreichertum wurzelte; der eine der Blüten desselben war - seines Vaters Tobias Gottfried Schröer. - Es ist noch nicht lange her, da waren in weite­sten Kreisen gewisse Bücher bekannt, denen zweifellos viele Menschen die Weckung einer idealistisch vertieften, von einer geistgemäßen Lebensansicht getragenen Empfin­dung der Geschichte, der Dichtung, der Kunst verdankten.

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Es sind: «Briefe über die Hauptgegenstände der Ästhetik »von Chr. Oeser, «Die kleinen Griechen» von Chr. Oeser, «Weltgeschichte für Töchterschulen» und andere von dem­selben Verfasser. In diesen Schriften spricht über die man­nigfaltigsten Gebiete des geistigen Lebens, vom Gesichts­punkte des Jugendschriftstellers, eine Persönlichkeit, die an der Vorstellungsart des Goetheschen Zeitalters der deut­schen Geistesentwickelung herangereift ist, und welche die Welt mit dem dadurch gebildeten Seelenauge ansieht. Der Verfasser dieser Schriften ist Tobias Gottfried Schröer, der sie unter dem Namen Chr. Oeser herausgegeben hat. Nun hat - neunzehn Jahre nach dem Tode dieses Mannes - die deutsche Schillerstiftung seiner Witwe (im Jahre 1869) eine Ehrengabe überreicht, die von einem Schreiben begleitet war, in dem es heißt: «Der unterzeichnete Vorstand hat zu seinem innigsten Bedauern erfahren, daß sich die Gattin eines der würdigsten deutschen Schriftsteller, eines Mannes, der mit Talent und Gemüt stets für nationalen Sinn ein­stand, keineswegs in Verhältnissen befindet, die ihrem Stande und den Verdiensten ihres Gatten entsprechen, und so erfüllt er nur eine ihm durch den Geist seiner Statuten gebotene Pflicht, wenn er sich nach Möglichkeit bemüht, die Ungunst eines harten Geschickes in etwas auszuglei­chen.» Angeregt durch diesen Beschluß der Schillerstiftung schrieb dann Karl Julius Schröer in der Wiener Neuen Freien Presse einen Artikel über seinen Vater, aus dem bekannt wurde, was bis dahin nur ein engster Kreis wußte, daß Tobias Gottfried Schröer nicht nur der Verfasser der Schriften Chr. Oesers ist, sondern auch ein bedeutender Dich­ter und Schriftsteller von Werken, die wahre Zierden des österreichischen Geisteslebens darstellen und der nur unbe­kannt

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geblieben ist, weil er wegen der damals herrschenden Zensurverhältnisse seinen Namen nicht nennen konnte. Von ihm erschien zum Beispiel 1830 das Lustspiel «Der Bär». Karl von Holtei, der bedeutende schlesische Dichter und Bühnenmann, spricht sich darüber gleich nach dem Erschei­nen aus in einem Brief an den Verfasser: «Was das Lust­spiel betrifft, so hat es mich entzückt. Wenn die Erfindung, die Anlage der Charaktere ganz Ihnen gehört, so wünsche ich Ihnen von Herzen Glück, denn dann wer­den Sie noch schöne Stücke schreiben.» Der Dichter hat seinen Stoff dem Leben Iwans IV. Wasiliewitsch entnom­men und alle Charaktere außer dem Iwans selbst. sind seine freie Schöpfung. Ein später erschienenes Drama « Le­ben und Taten Emerich Tökölys und seiner Streitgenossen» erfuhr eine glänzende Aufnahme, ohne daß den Ver­fasser jemand kannte. In den «Blättern für literarische Unterhaltung» war darüber (am 25. Oktober 1839) zu lesen: «Ein geschichtliches Bild von bewunderungswür­diger Frische. ... Arbeiten so frischen Hauches und so entschiedenen Charakters gehören in unseren Tagen wirk­lich zu den Seltenheiten ... jede der Gruppen ist voll hohen Reizes, weil sie voll hoher Wahrheit ist; . . . der Tököly des Verfassers ist ein ungarischer Götz von Ber­lichingen, und nur mit diesem läßt sich das Drama ver­gleichen. ... Von einem solchen Geiste können wir alles, auch das Größte erwarten. » Dieses Urteil rührt von W. v. Lüdemann her, der eine «Geschichte der Architektur», eine «Geschichte der Malerei», «Spaziergänge in Rom», Er­zählungen und Novellen geschrieben hat, Werke, aus denen Feinsinnigkeit und hohes Kunstverständnis sprechen.

Durch die Geistesart seines Vaters hatte auf Karl Julius

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Schröer die Sonne des deutschen Weltanschauungs-Idealis­mus schon voraus geleuchtet, als er Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an die Universitäten Leip­zig, Halle und Berlin ging und da durch vieles, das auf ihn wirkte, hindurch die Vorstellungsart dieses Idealismus noch empfinden konnte. In die Heimat zurückgekehrt, übernahm er 1846 die Leitung des «Seminariums für deut­sche Literärgeschichte und Sprache» am Lyzeum in Preß­burg, das sein Vater in dieser Stadt gegründet hatte. In dieser Stellung entwickelte er nun eine Tätigkeit, deren Eigenart er so gestaltete, daß man sagen kann: Schröer suchte durch sein Streben die Aufgabe zu lösen, wie man im Geistesleben Österreichs am besten wirkt, wenn man die Richtung seines Strebens dadurch vorgezeichnet findet, daß man die Triebkräfte der eigenen Seele aus der deut­schen Kultur erhalten hat. In einem «Lehr- und Lesebuch» (das 1853 erschienen ist und das eine «Geschichte der deutschen Literatur» darstellt) hat er über dieses sein Stre­ben gesprochen: « Es kamen daselbst (in dem Lyzeum) Primaner, Juristen, Theologen des Lyzeums . . . zusammen . . . Einem solchen Zuhörerkreise gegenüber bemühte ich mich nach großen Gesichtspunkten die Glorie des deutschen Volkes in ihrer Entwickelung darzulegen, für deutsche Kunst und Wissenschaft Ehrfurcht hervorzurufen, und die Zuhörer womöglich dem Standpunkte der modernen Wissenschaft näherzubringen. » Und wie er sein Deutsch­tum auffaßte, das drückt Schröer in dieser Art aus: «Von diesem Standpunkte aus verschwanden natürlich die ein­seitigen Leidenschaften der Parteien vor meinem Blicke: man wird weder einen Protestanten, noch einen Katho­liken, weder konservativen, noch subversiven Schwärmer

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hören und einen für deutsche Nationalität Begeisterten nur insofern, als durch dieselbe die Humanität gewann und das Menschengeschlecht verherrlicht wurde. » Und ich möchte diese vor bald siebzig Jahren niedergeschriebenen Worte auch nicht deshalb wiederholen, um auszusprechen, was für einen Deutschen in Österreich damals richtig war, oder gar, was gegenwärtig richtig ist. Ich möchte nur zeigen, wie ein Mensch beschaffen war, in dem sich das deutsch-österreichische Wesen auf eine besondere Art auslebte. In­wieweit dieses Wesen dem Österreicher die rechte Art des Strebens verleiht, darüber werden die Angehörigen der verschiedenen Parteien und Nationen in Österreich auch die verschiedensten Urteile fällen. Und zu alledem hinzu ist auch noch zu bedenken, daß Schröer sich so als noch junger Mann aussprach, der eben von deutschen Universi­täten zurückgekommen war. Aber bedeutsam ist, daß in der Seele dieses jungen Mannes, nicht aus politischen Absichten, sondern aus rein geistigen Weltanschauungsgedan­ken heraus, das deutschösterreichische Bewußtsein ein Ideal für die Sendung Österreichs sich formte, das er mit diesen Worten ausdrückt: «Wenn wir den Vergleich Deutsch­lands mit dem antiken Griechenland und der deutschen mit den griechischen Stämmen verfolgen, so finden wir eine große Ähnlichkeit zwischen Österreich und Mazedo­nien Wir sehen die schöne Aufgabe Österreichs in einem Beispiele vor uns: den Samen westlicher Kultur über den Osten hinauszustreuen.»

Schröer wird später Professor an der Budapester Uni­versität, dann Schuldirektor in Wien, zuletzt wirkte er viele Jahre als Professor für deutsche Literaturgeschichte an der Wiener Technischen Hochschule. Diese Ämter waren

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bei ihm gewissermaßen nur die äußeren Umkleidungen einer bedeutsamen Wirksamkeit innerhalb des österreichi­schen Geisteslebens. Diese Wirksamkeit beginnt mit einer forschenden Vertiefung in die seelischen, die sprachlichen Äußerungen des deutschösterreichischen Volkslebens. Was im Volke wirkt und lebt, will er erkennen, und zwar nicht wie ein trockener, nüchterner Forscher, sondern wie je­mand, der die Rätsel der Volksseele enthüllen will, um zu durchschauen, welche Menschheitskräfte in diesen Seelen sich ins Dasein ringen. In der Nähe der Preßburger Ge­gend lebten damals alte Weihnachtsspiele bei den Bauern. Sie werden jedes Jahr um die Weihnachtszeit gespielt. Handschriftlich vererben sie sich von Geschlecht zu Ge­schlecht. Sie zeigen, wie im Volke die Geburt Christi, und was damit zusammenhängt, in gemüttiefen Bildern dra­matisch lebt. Schröer sammelt solche Spiele in einem Büch­lein und schreibt dazu eine Einleitung, in der er diese Offenbarung der Volksseele schildert mit liebevollster Hin­gabe, so daß seine Darstellung den Leser untertauchen läßt in Volksempfinden und Volksanschauung. Aus dem glei­chen Geiste heraus unternimmt er es dann, die deutschen Mundarten des ungarischen Berglandes, der westungari­schen Deutschen, des Gottscheerländchens in Krain dar­zustellen. Überall ist da seine Absicht, den Organismus des Volkstums zu enträtseln; was er geforscht hat, gibt wirk-lich ein Bild des Lebens, das in Sprach- und Volksseelen­entwickelung wirkt. Und im Grunde schwebt ihm bei allen solchen Bestrebungen der Gedanke vor, die Lebensbedin­gungen Österreichs aus den geistigen Triebkräften seiner Völker kennenzulernen. Viel, sehr viel von der Antwort auf die Frage: was webt in der Seele Österreichs? ist aus

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Schröers Mundartenforschung zu gewinnen. - Für ihn selbst hatte diese Geistesarbeit aber noch eine andere Wirkung. Sie lieferte ihm die Grundlage zu tiefen Einsichten in das Wesen der Menschenseele überhaupt. Als er dann im Amte des Direktors mehrerer Schulen erproben konnte, wie Ansichten über Erziehung und Unterricht sich einem Geiste gestalten, der so tief in das Wesen des Volksgemütes geschaut hat wie er durch seine Forschung, da wurden diese Einsichten fruchttragend. Und so konnte er ein kleines Werk veröffentlichen: «Unterrichtsfragen», das, wie ich meine, zu den Perlen der pädagogischen Literatur gezählt werden sollte. Leuchtend behandelt dies kleine Büchlein Ziele, Methoden und Wesen des Unterrichtens. Ich glaube, daß dieses heute ganz unbekannte Büchelchen von jedem gelesen werden müßte, der innerhalb des deutschen Kulturgebietes etwas mit Unterrichten zu tun hat. Obgleich es ganz für österreichische Verhältnisse geschrieben ist, lassen sich die darin gegebenen Richtlinien für den ganzen Um­fang des Deutschtums anwendbar machen. Was man an der 1876 erschienenen Schrift gegenwärtig veraltet nennen mag, kommt gegenüber der in ihr lebenden Vorstellungsart nicht in Betracht. Eine solche auf Grund einer reichen Lebenserfahrung gewonnene Vorstellungsart bleibt immer fruchtbar, auch wenn sie der später Lebende auf neue Bedingungen hin anwenden muß. In seinen letzten Lebensjahrzehnten war Schröers Geistesarbeit fast ganz der Ver­tiefung in Goethes Lebenswerk und Vorstellungsart zu­gewandt. In der Einleitung zu seinem Buche «Die deutsche Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts» hat er ausge­sprochen: «Wir in Österreich wollen mit dem Geistesleben im Deutschen Reiche Hand in Hand gehn.» Die Wurzeln

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dieses Geisteslebens sah er in der Weltanschauung des deut­schen Idealismus. Und sein Bekenntnis zu dieser Welt­anschauung drückte er mit den Worten aus: «Das welt­verjüngende Auftauchen des Idealismus in Deutschland, im Zeitalter der Frivolität vor hundert Jahren, ist die größte Erscheinung der neueren Geschichte. Der nur auf das Endliche gerichtete Verstand, der nicht in der Wesen Tiefe dringt; mit ihm die auf die Befriedigung der Sinnlichkeit gerichtete Selbstsucht, traten auf einmal zurück hinter dem Auftauchen eines Geistes, der über alles Gemeine erhebt.» (Vgl. Einleitung zur Faustausgabe Schröers, 1. Bd., 3. Aufl., S. XXVIII.) In Goethes «Faust» erblickte Schröer « den Helden des unbesieglichen Idealismus. Es ist der ideale Held der Zeit, in der die Dichtung entstand. Sein Wett­kampf mit Mephistopheles spricht das Ringen des neuen Geistes als das innerste Wesen der Epoche aus, und da­durch steht diese Dichtung so hoch: sie hebt uns auf eine höhere Stufe». (In derselben Faustausgabe, S. XXX.)

Schröer bekennt sich rückhaltlos zum deutschen Idealis­mus als Weltanschauung. In seiner «Geschichte der deut­schen Dichtung des neunzehnten Jahrhunderts» stehen die Worte, mit denen er kennzeichnen will, in welchen Ge­danken sich der Geist des deutschen Volkes ausspricht, wenn er dies im Sinne seines ureigenen Wesens tut: «In dem erfahrungsmäßig Wahrgenommenen werden überall Bedingungen erkannt, die hinter dem Endlichen, erfah­rungsmäßig Erkennbaren, verborgen sind. Sie müssen als das Unbedingte bezeichnet werden und werden allerseits als ein Dauerndes im Wechsel, als eine ewige Gesetzmäßig­keit, zugleich als ein Unendliches empfunden. Das wahr­genommene Unendliche im Endlichen erscheint als Idee;

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die Fähigkeit es wahrzunehmen als Vernunft, im Gegen­satz zum Verstande, der am überschaulich Endlichen haften bleibt und darüber hinaus nichts wahrnimmt.» Zugleich liegt nun in der Art, wie Schröer sich zu diesem Idealismus bekennt, die Mitwirkung alles dessen, was in einer Seele schwingt, die in ihrem eigenen Wesen die österreichische Geistesströmung mitempfindet. Und dies gibt dem Welt­anschauungs-Idealismus bei ihm die besondere Farbenschattierung. Es wird dem Gedanken, indem man ihn aus­spricht, ein Farbenton gegeben, der diesen Gedanken nicht ohne weiteres in das Reich entläßt, das Hegel als das der philosophischen Erkenntnis mit den Worten geschildert hat: «Das, was ist, zu begreifen, ist die Aufgabe der Phi­losophie; denn, was vernünftig ist, das ist wirklich, und was wirklich ist, das ist vernünftig. Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden; die Eule der Minerva beginnt erst in der ein­brechenden Dämmerung ihren Flug» (Vergleiche mein Buch «Rätsel der Philosophie», 1.Band.) Nein, nicht grau in grau möchte Schröer, der Österreicher, die Welt der Gedanken erblicken; die Ideen sollen in einer Farbe leuchten, die auf das Gemüt erfrischend, stets aufs neue verjüngend wirkt. Und näher als an den Vogel der Dämmerung hätte es wohl Schröer in solchem Zusammenhang gelegen, an das nach Licht ringende Menschengemüt zu denken, das in der Ideen­welt die Sonne des Reiches sucht, in dem der auf das End­liche und die Sinneswelt gerichtete Verstand das Erlöschen seines Lichtes empfinden sollte.

Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter, hat Worte restloser Anerkennung gefunden für den österrei­chischen

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Bildhauer Heinrich Natter. In dem Aufsatze, den er in seinen 1900 erschienenen «Fragmenten» über Natter veröffentlicht hat, steht auch, was Grimm über das Ver­hältnis Natters zum Österreichertum gedacht hat. «Wo ich Österreichern begegne, ergreift mich die eingewurzelte Liebe zum Boden des besonderen Vaterlandes und der Drang, sich in geistiger Gemeinschaft mit allen Deutschen empor-zuhalten. Sei nur eines dieser Männer diesmal gedacht, Ignaz Zingerles. Seinem unablässigen stillen Wirken ver­dankt die Walterstatue Natters ihr Dasein. Den Männern unserer früheren Jahrhunderte glich er darin, daß er außerhalb des Bezirkes seiner engsten Heimat kaum denk­bar war. Eine Gestalt in einfachen Umrissen aus Treue und Ehrlichkeit wie aus Felsblöcken aufgebaut. Ein Tiro­ler, als ob seine Berge der Nabel der Erde seien, ein Öster­reicher durch und durch und zugleich einer der besten und edelsten Deutschen. Und so ist auch Natter ein guter Deut­scher, Österreicher und Tiroler, alles gewesen. » Und über das Denkmal Walters von der Vogelweide in Bozen sagt Herman Grimm: «In Natter waren Innigkeit deutschen Gefühls und gestaltende Phantasie vereinigt. Sein Walter von der Vogelweide steht in Bozen als ein Triumphbiid deutscher Kunst, aufragend im Kranze der Tiroler Berge an den Grenzmarken des Vaterlandes. Eine männliche feste Gestalt.» - Ich mußte dieser Worte Herman Grimms oft gedenken, wenn in mir die Erinnerung lebendig wurde an die prächtige Gestalt des österreichischen Dichters Fer­cher von Steinwand, der 1902 gestorben ist. Er war «ein guter Deutscher, Österreicher und Kärntner, alles gewe­sen»; wenn man auch wohl kaum von ihm sagen konnte, daß er « außerhalb des Bezirkes seiner engsten Heimat

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kaum denkbar war». Ich lernte ihn Ende der achtziger Jahre in Wien kennen und konnte während einer kurzen Zeit mit ihm persönlich verkehren. Er war damals sech­zigjährig; eine wahre Lichtgestalt; schon äußerlich; aus edlen Zügen, aus sprechenden Augen, in ausdrucksreichen Gesten offenbarte sich einnehmende Wärme; durch Ab­geklärtheit und Besonnenheit hindurch wirkte im Greise noch wie mit Jugendfrische diese Seele. Und lernte man näher kennen diese Seele, ihre Eigenart, ihre Schöpfungen, so sah man, wie in ihr sich vereint hatte die von den Kärnt­ner Bergen zugerichtete Empfindung mit einem zum Sinnen gewordenen Leben in der Kraft des deutschen Weltanschau­ungs-Idealismus. - Ein Sinnen, das ganz als dichterische Bilderwelt schon in der Seele geboren wird; das mit dieser Bilderwelt in Daseinstiefen weist; das Weltenrätseln sich künstlerisch gegenüberstellt, ohne daß die Ursprünglichkeit des Kunstschaffens sich in Gedankendichtung verblaßt, ein solches Sinnen kann man in den folgenden Zeilen aus Fercher von Steinwands «Chor der Urträume» ersehen:

Allen erstiegenen

Räumen entzogen,

Wandelt ein Äther in strahlenden Bogen,

Gehn in verschwiegenen

Tiefen die Wogen.

Dort mit dem sehenden

Willen beladen,

Schwenken sich unsere Fähren in Schwaden,

Zwischen entstehenden

Wundergestaden.

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Dort vor den wärmenden

Augen der Milde

Weifen und winden wir unsre Gebilde

Rings um die schwärmenden

Sternengefilde.

Dort, dem Verhängnisse

Nimmer verpflichtet,

Haben wir schwebende Burgen errichtet

Und die Bedrängnisse

Jauchzend vernichtet.

Wer dich mit heiligsten

Zügen beschriebe,

Höchste Behausung der sinnenden Triebe,

Warte der eiligsten

Diener der Liebe!

Die folgenden Strophen wollen offenbaren, wie die Seele im denkend-wachenden Träumen in weiten Sternen-welten und in naher Wirklichkeit lebt; dann fährt der Dichter fort:

Was auch bedächtige

Kräfte vollbringen:

Nur auf des Traumes entfalteten Schwingen

Läßt sich das Mächtige

Bleibend erringen.

Jede bemeisternde Größe der Taten,

Alle beschirmenden Engel der Saaten

Sind durch begeisternde

Träume beraten.

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Vom Eindringen des zum Träumen vergeistigten Den­kens in die Weltentiefen singt Fercher von Steinwand weiter - vom Eindringen desjenigen Träumens, das ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Wachen ist, in die Tiefen, in denen der Seele das Leben des Geistigen der Welt sich fühlbar machen kann:

Leben, mit schwingendem

Herzen vernommen,

Leben, mit ringendem Herzen erklommen

Unter erklingendem

Geister-Willkommen:

- und dann läßt er es herüberklingen zum Menschengeiste, was die Wesen des Geistesreiches zu der Seele sprechen, die sich ihnen sinnend erschließt -

« Seid ihr Genesenen,

Liebend umwunden!

Was ihr gesucht in erhebenden Stunden,

Hier, ihr Erlesenen,

Ist es gefunden;

Hier in erhabenen

Göttlichen Hallen,

Wo dem Gemüt die Gemüter gefallen,

Wo die begrabenen

Stimmen erschallen -

Wo die Bekümmerten

Königlich schreiten,

Leuchtende Seelen ihr Lächeln verbreiten

Um die zertrümmerten

Räder der Zeiten - -

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Nur die verblendeten

Irdischen Toren

Sind für den Schlund der Vernichtung geboren,

Geistig vollendeten

Welten verloren!

Wohl dem Empfänglichen,

Den wir beschweben,

Den wir beschwingen zum blühendsten Leben,

Ohne vergänglichen

Schatten zu weben!»

An diesen «Chor der Urträume» schließt in den Dich­tungen Fercher von Steinwands sich sein «Chor der Urtriebe»: In den unbegrenzten Breiten

Unsrer alten Mutter Nacht,

Horch - da scheint mit sich zu streiten

Die geheimnisvolle Macht!

Hören wir die Ahnung schreiten?

Ist die Sehnsucht aufgewacht?

Ward ein Geistesblitz entfacht?

Gleiten Träume durch die Weiten?

Wie sich an Kräften die Kräfte berauschen,

Seliges Tauschen!

Plötzliches Eilen,

Stilles Verweilen,

Schwelgendes Lauschen

Wechselt mit Winken

Staunenden Bangens!

Reiz des Erlangens

Steigt, um zu sinken,

Sinkt, um zu hassen,

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Weiß vor dem blassen

Bild des Umfangens

Haß nicht zu fassen.

Dunkle Verzweigungen

Sprießender Neigungen

Suchen nach Ranken.

Schwere Gedanken

Dämmern und wanken

Über den Weiten,

Scheinen zu raten

Oder zu leiten.

Was sie bereiten,

Sind es die Saaten

Riesiger Taten,

Strahlender Zeiten?

Wer das Erwühlte

Schöpferisch fühlte!

Wer es durchirrte,

Selig genießend

Oder entwirrte,

Hohes erschließend!

Droben bewegt sich's wie Geisterumarmung,

Wir in Erwarmung,

Wir auch gewinnen,

Suchen und sinnen,

Sehn uns gehoben,

Höchstem Beginnen

Glücklich verwoben.

Die uns umwehen,

In uns erstehen:

« Ihr seid's, Ideen! - -»

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So sinnt sich des Dichters Seele in das Erleben hinein, wo des Weltengeistes Ideen des Daseins Geheimnisse dem Seelengeiste künden, und der Seelengeist die übersinnlichen Gestalter des sinnlich Gestalteten schaut. - Nachdem die Schauungen der Seele in dem Chor der Weltenurtriebe in glänzenden, tönenden Bildern dargestellt worden sind, schließt der Dichter:

«Mag der Dauer sich gewöhnen,

Was der Drang heraufbeschwor,

Das Verschönen, das Versöhnen

Walt' im Strom der Schöpfung vor.

Süßes Licht, in holden Tönen

Klimmt das Herz zu dir empor,

Weile vor des Westens Tor,

Hilf die Tat der Liebe krönen!

Ist doch der Trieb aus den irdischen Banden

Seelisch erstanden!

Aber das Mündige,

Herrschende, Bündige,

Weist sich als Geist!

Alles, was kreist,

Irdisch Begründetes,

Himmlisch Entzündetes

Schuf sich im Geist,

Kam aus dem Geist,

Wirkt durch den Geist - -

- - -

- - -

Schuf doch die mächtige Chaosentrückung

Raum für Beglückung!

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Hüllt in den Tau der eratmenden Milde

Wald und Gefilde!

Sorgt, daß zum Tau das Geleucht' sich geselle,

Sinnig der Saum der Verklärung sich bilde -

Jeglicher Tropfen beschwebe die Schwelle

Geistiger Helle!»

In Fercher von Steinwands «sämtlichen Werken» (er­schienen bei Theodor Daberkow in Wien) sind auch einige Angaben über sein Leben abgedruckt, die er selbst auf Er­suchen von Freunden aus Anlaß seines siebzigsten Ge­burtstages aufgeschrieben hat. Der Dichter schreibt: «Ich begann mein Leben am 22. März 1828 auf den Höhen der Steinwand über den Ufern der Möll in Kärnten, also in der Mitte einer trotzigen Gemeinde von hochhäuptigen Bergen, unter deren gebieterischer Größe der belastete Mensch beständig zu verarmen scheint.» - Da man im « Chor der Urtriebe» die Weltanschauung des deutschen Idealismus in dichterische Schöpfung ergossen findet, so ist von Interesse zu sehen, wie der Dichter auf seinen Wegen durch das österreichische Geistesleben schon in der Jugend die Anregung aus dieser Weltanschauung empfängt. Er schildert, wie er an die Grazer Universität kommt: «Mit meinen Wertpapieren, die natürlich nichts als Schulzeugnisse vorstellten, knapp an der Brust, meldete ich mich in Graz beim Dekan. Das war der Professor Edlauer, ein Kriminalist von bedeutendem Ruf. Er hoffe mich zu sehen (sprach er) als fleißigen Zuhörer in seinem Kollegium, er werde über Naturrecht lesen. Hinter dem Vorhang dieser harmlosen Ankündigung führte er uns das ganze Semester hindurch in begeisternden Vorträgen die deutschen Philosophen

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vor, die unter der väterlichen Obsorge unserer geistigen Vormünder wohlmeinend durch Verbote fern­gehalten worden waren: Fichte, Schelling, Hegel und so weiter, also Helden, das heißt Begründer und Befruchter alles reinen Denkgebietes, Sprachgeber und Begriffsschöpfer für jede andere Wissenschaft, mithin erlauchte Namen, die heutzutage von unseren Gassenecken leuchten und sich dort in ihrer eigentümlichen diamantenen Klarheit fast wun­derlich ausnehmen. Dieses Semester war meine vita nuova! »

Wer Fercher von Steinwands Trauerspiel «Dankmar», seine «Gräfin Seelenbrand», seine « Deutschen Klänge aus Österreich » und andres von ihm kennenlernt, wird da­durch vieles von den Kräften empfinden können, die im österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte des neun­zehnten Jahrhunderts wirkten. Und daß man aus Fercher von Steinwands Seele ein Bild aus diesem Geistesleben in Klarheit, Wahrheit und Echtheit empfängt, dafür zeugt das Ganze dieser Persönlichkeit. Der liebenswürdige öster­reichische Dialektdichter Leopold Hörmann hat recht ge­fühlt, als er die Worte schrieb:

«Fern der Gemeinheit,

Gewinnsucht und Kleinheit;

Feind der Reklame,

Der ekligen Dame;

Deutsch im Gemüte,

Stark und voll Güte,

Groß in Gedanken,

Kein Zagen und Wanken,

Trutz allem Einwand -:

Fercher von Steinwand ! »

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Aus dem österreichischen Geistesleben der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts taucht empor eine Denker­gestalt, die tiefbedeutsame Züge des Weltanschauungs­inhaltes der neueren Zeit zum Ausdrucke bringt: der Ethiker des Darwinismus Bartholomäus von Carneri. Ein Den­ker, der das öffentliche Leben Österreichs wie selbsterlebtes Glück und Leid mitlebte und durch viele Jahre als Reichs­ratsabgeordneter an diesem Leben mit aller Kraft seines Geistes tätigen Anteil nahm. Carneri könnte zunächst nur als Widersacher einer geistgemäßen Weltanschauung er­scheinen. Denn all sein Streben geht dahin, ein Weltbild zu gestalten, das allein durch Vorstellungen zustande kommt, die in der durch den Darwinismus angeregten Ge­dankenströmung liegen. Aber indem man Carneri liest mit einem Sinn nicht nur für den Inhalt seiner Ansichten, son­dern für die Untergründe seiner nach Wahrheit ringenden Seele, wird man eine seltsame Tatsache entdecken. In die­sem Denker malt sich ein fast völlig materialistisches Welt­bild, aber mit einer Gedankenklarheit, die dem tiefliegen­den idealistischen Grundzug seines Wesens entstammt. Für ihn waren wie für viele seiner Zeitgenossen die Vorstel­lungen, die in einer ganz auf dem Boden des Darwinismus erwachsenen Weltanschauung wurzeln, mit solch überwäl­tigender Kraft in das Gedankenleben hereingebrochen, daß er nicht anders konnte, als auch alle Betrachtung des Geisteslebens in diese Weltanschauung einbeziehen. Anders als auf den Bahnen, die Darwin gewandelt ist, sich erken­nend dem Geiste nahen zu wollen, schien ihm das einheit­liche Wesen zu zerreißen, das über alles menschliche Er­kenntnisstreben ausgebreitet sein muß. Der Darwinismus hat nach seiner Meinung gezeigt, wie ein einheitlicher Gesetzeszusammenhang

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von Ursachen und Wirkungen das Werden aller Naturwesen bis herauf zum Menschen um­schließt. Wer den Sinn dieses Zusammenhanges versteht, der müsse auch einsehen, wie dieselbe Gesetzmäßigkeit im Menschen die natürlichen Kräfte und Triebe steigert und verfeinert, so daß sie bis zur Höhe der sittlichen Ideale und Anschauungen emporwachsen. Carneri glaubt, daß nur verblendeter Hochmut und irregeleitete Selbstüber-schätzung des Menschen das Erkenntnisstreben verführen können, der geistigen Welt mit anderen Erkenntnismitteln nahen zu wollen als der Natur. - Jede Seite in Carneris Schriften über das sittliche Wesen des Menschen beweist aber, daß er in der Art Hegels seine Lebensauffassung aus­gestaltet hätte, wenn nicht in einem bestimmten Entwicke­lungspunkte seines Lebens mit unwiderstehlicher Suggestivkraft der Darwinismus wie ein Blitz in seine Gedanken­welt so eingeschlagen hätte, daß er mit großer Anstren­gung die Veranlagung zu einer idealistisch durchgeführten Weltauffassung in sich zum Schweigen brachte. Wohl wäre - auch dies beweisen seine Schriften - diese Weltauffassung nicht durch das bei Hegel waltende reine Denken, sondern durch ein Denken, das von gemütvollem Sinnen durchtönt sich zeigte, zutage getreten: aber Hegels Richtung hätte es doch genommen. - Wie aus verborgenen Tiefen der Seele taucht öfters in Carneris Ausführungen Hegels Vorstel­lungsart gewissermaßen mahnend auf. Auf Seite 79 der «Grundlegung der Ethik» liest man: «Bei Hegel . . . war an die Stelle des Kausalgesetzes die dialektische Bewegung getreten, ein Riesengedanke, der, wie die Titanen alle, dem Schicksal der Überhebung nicht entrinnen konnte. Sein Monismus wollte den Olymp erstürmen und sank zurück

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auf die Erde, aber um allem künftigen Denken eine Leuchte zu bleiben, die den Weg erhellt und auch den Abgrund.» Auf Seite 154 desselben Buches spricht Carneri von dem Wesen des Griechentums und sagt davon: «Wir gedenken da nicht der mythischen Heroenzeit, auch nicht der Zeiten Homers . . . . Wir versetzen uns in den Glanzpunkt der Jahre, die Hegel so treffend als das Jünglingsalter der Menschheit geschildert hat.» Auf Seite 189 kennzeichnet Carneri die Versuche, die gemacht worden sind, um die Denkgesetze zu ergründen und bemerkt: « Das großartigste Beispiel dieser Art ist Hegels Versuch, den Gedanken, so­zusagen, ohne durch den Denkenden bestimmt zu werden, sich entfalten zu lassen. Daß er darin zu weit gegangen ist, hindert den Unbefangenen nicht, diesen Versuch, allem körperlichen und geistigen Werden ein einziges Gesetz zum Grunde zu legen, als den herrlichsten in der ganzen Ge­schichte der Philosophie anzuerkennen. Seine Verdienste um die Ausbildung des deutschen Denkens sind unver­gänglich, und ihm hat mancher begeisterte Schüler, der später sein erbitterter Gegner geworden ist, in der Voll­endung der durch ihn erworbenen Darstellungsweise wider Willen ein dauerndes Denkmal gesetzt.» Auf Seite 421 liest man: «wieweit man im Philosophieren» mit dem bloßen sogenannten gesunden Menschenverstande « kommt, hat in unübertrefflicher Weise Hegel uns gesagt». - Nun, man kann meinen, daß auch Carneri selbst Hegel «in der Vollendung der durch ihn erworbenen Darstellungsweise . . . ein dauerndes Denkmal gesetzt » hat, wenn er auch diese Darstellungsweise auf ein Weltbild angewendet hat, dem Hegel wohl nie zugestimmt hätte. Aber auf Carneri hat der Darwinismus mit solcher Suggestivkraft gewirkt,

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daß er Hegel neben Spinoza und Kant zu den Denkern zählt, von denen er sagt: «Die Aufrichtigkeit seines (Car­neris) Strebens würden sie gelten lassen, das nie gewagt hätte, über sie hinauszublicken, hätte nicht Darwin den Schleier zerrissen, der die gesamte Schöpfung umnachtete, so lang die Zweckmäßigkeitslehre unabweisbar war. Dieses Bewußtsein haben wir, aber auch die Überzeugung, daß jene Männer manches gar nicht oder anders gesagt hätten, wäre es ihnen gegönnt gewesen, in unserer Zeit zu leben, mit der befreiten Naturwissenschaft. . . .»m

Carneri hat eine Spielart des Materialismus ausgebildet, in welcher oft der Scharfsinn in Naivität, die Einsicht in die « befreite Naturwissenschaft» in Blindheit gegen die Unmöglichkeit der eigenen Begriffe ausartet. «Als Materie fassen wir den Stoff, insofern die aus seiner Teilbarkeit und Bewegung sich ergebenden Erscheinungen körperlich, d. i. als Masse auf unsere Sinne wirken. Geht die Teilung oder Differenzierung so weit, daß die daraus sich ergeben­den Erscheinungen nicht mehr sinnlich, sondern nur mehr dem Denken wahrnehmbar sind, so ist die Wirkung des Stoffs eine geistige» (Carneris Grundlegung der Ethik, Seite 30). Das ist so, wie wenn jemand das Lesen erklären wollte, und folgendes sagte: Solange jemand nicht lesen gelernt hat, kann er nicht sagen, was auf einer geschriebe­nen Buchseite steht. Denn seinem Anblick zeigen sich nur die Buchstabenformen. Solange er nur diese Buchstabenformen, in welche die Worte teilbar sind, anschauen kann, führt sein Betrachten des Bedruckten nicht zum Lesen. Erst wenn er dazu gelangt, auch die Buchstabenformen noch weiter geteilt oder differenziert wahrzunehmen, wirkt der Sinn des Gedruckten auf seine Seele. - Selbstverständlich

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wird ein überzeugter Bekenner des Materialismus einen solchen Einwand lächerlich finden. Allein eben darin liegt die Schwierigkeit, den Materialismus in das rechte Licht zu setzen, daß man dabei solch einfache Gedanken ausspre­chen muß. Gedanken, denen gegenüber es kaum glaubhaft ist, daß sie die Anhänger des Materialismus sich nicht selber bilden. Und so fällt leicht auf den Beleuchter dieser Welt­anschauung das Vorurteil, daß er mit nichtssagenden Re­densarten einer Auffassung begegne, die auf den Erfah­rungen der neueren Wissenschaft und auf deren strengen Grundsätzen beruhe*. Und doch ergibt sich die stark über­zeugende Kraft des Materialismus für dessen Bekenner nur dadurch, daß er die Tragkraft der einfachen Vorstellungen, die seine Auffassung vernichten, nicht zu empfinden ver­mag. Er ist überzeugt - wie so viele - nicht durch das Licht von logischen Gründen, die er durchschaut hat, sondern durch die Macht von Denkgewohnheiten, die er nicht durchschaut; ja, die zu durchschauen er zunächst kein Be­dürfnis empfindet. Aber Carneri unterscheidet sich von solchen Materialisten, die von diesem Bedürfnis kaum etwas ahnen, doch dadurch, daß sein Idealismus ihm das­selbe fortwährend in das Bewußtsein hereinträgt und er es deshalb oft auf recht künstliche Art zum Schweigen bringen muß. Kaum hat er sich dazu bekannt, daß das Geistige

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#FN020-112* Aus einer späteren Bemerkung in dieser Schilderung von Carneris Gedankenwelt wird man sehen, daß der Verfasser dieser Schrift seine Kennzeichnung des Materialismus nicht bloß auf Carneri anwendbar findet, sondern daß er der Ansicht ist, sie treffe zu auf weitverbreitete Anschauungen der Gegenwart, die oft betonen, der Materialismus sei wissenschaftlich überwunden, ohne zu wissen, ja oft auch nur zu ahnen, wie materialistisch dasjenige ist, wodurch ihnen der Materialismus überwunden zu sein dünkt.

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eine Wirkung des fein zerteilten Stoffes sei, so setzt er so­gleich hinzu: «Gar manchen Ansprüchen gegenüber wird diese Auffassung des Geistes eine unbefriedigende sein; jedoch im weiteren Verlauf dieser Untersuchung wird der Wert unserer Auffassung als ein bedeutender sich erweisen, und als ganz genügend, um den Materialismus> der die Erscheinungen des Geistes körperlich anfassen will, auf die Unübersteiglichkeit seiner Schranken aufmerksam zu machen.» (Grundlegung der Ethik, Seite 30.) Ja, Carneri hat eine wahre Scheu davor, zu den Materialisten gezählt zu werden; er wehrt sich dagegen mit Worten, wie diesen:

«Der starre Materialismus ist genau so einseitig wie die alte Metaphysik: jener bringt es zu keinem Sinn für seine Gestaltung, diese zu keiner Gestaltung für ihren Sinn; dort ist eine Leiche, hier ein Gespenst, und wonach beide ver­gebens ringen, ist die schöpferische Glut des empfindenden Lebens.» (Grundlegung der Ethik, Seite 68.) - Nun fühlt aber Carneri doch, wie berechtigt es ist, ihn einen Mate­rialisten zu nennen; denn zuletzt wird doch niemand mit gesunden Sinnen, auch wenn er sich zum Materialismus bekennt, behaupten, daß ein sittliches Ideal sich «körper­lich anfassen» läßt, um Carneris Ausdruck zu gebrauchen.

- Er wird nur sagen, das sittliche Ideal erscheint an dem Materiellen durch einen Vorgang an diesem. Und das spricht doch auch Carneri aus mit der angeführten Be­hauptung über die Teilbarkeit des Stoffes. Aus diesem Ge­fühle heraus sagt er denn (in seiner Schrift «Empfindung und Bewußtsein»): «Man wird gegen uns den Vorwurf des Materialismus erheben, insofern wir allen Geist leug­nen und nur die Materie gelten lassen. Dieser Vorwurf trifft aber nicht zu, sobald von der Idealität des Weltbildes

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ausgegangen wird, für welche die Materie selbst nichts ist als ein Begriff des denkenden Menschen.» Nun aber fasse man sich an den Kopf und fühle, ob er noch ganz ist, nach­dem man solchen Begriffstanz mitgemacht hat! Der Stoff wird zur Materie, wenn er so grob zerteilt ist, daß er nur «als Masse auf die Sinne» wirkt; zum Geist, wenn er so fein zerteilt ist, daß er nur mehr dem «Denken wahr­nehmbar» ist. Und die Materie, das heißt der grob zer­teilte Stoff ist doch nur «ein Begriff des denkenden Men­schen». Mit der groben Zerteilung bringt es also der Stoff zu nichts anderem, als zu der ja für einen Materialisten bedenklichen Rolle eines menschlichen Begriffes; zerteilt er sich aber feiner, so wird er Geist. Dann müßte sich ja doch der bloße menschliche Begriff feiner zerteilen. Nun aber mache doch solche Weltanschauung sogleich den Helden, der sich an seinem eigenen Schopf aus dem Wasser zieht, zum Musterbilde aller Wirklichkeit! - Man kann es be­greifen, daß ein anderer österreichischer Denker, F. von Feldegg (in den «Deutschen Worten» vom November 1894), Carneri die Worte entgegenhielt: «Sobald von der Idealität des Weltbildes ausgegangen wird! Welche, bei aller gezwungenen Verschrobenheit des Gedankens, will­kürliche Supposition! Ja, hängt denn dies so ganz von unserem Belieben ab, ob wir von der Idealität des Weltbildes oder etwa von dem Gegenteil - also wohl von seiner Realität ausgehen? Und vollends die Materie soll für diese Idealität nichts als ein Begriff des denkenden Menschen sein? Das ist ja der absoluteste Idealismus, etwa Hegels, welcher hier Beistand leisten soll, dem Vorwurfe des Mate­rialismus zu begegnen; aber es geht nicht an, sich im Augenblicke der Not an denjenigen zu wenden, den man

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bis dahin hartnäckig verleugnet hat. Und wie will Carneri dieses idealistische Bekenntnis mit allem vereinigen, was sonst in seiner Schrift enthalten? In der Tat gibt es dafür nur eine Erklärung, und die ist die: Auch Carneri bangt vor und - gelüstet nach dem Transzendenten. Das ist aber eine Halbheit, die sich bitter rächt. Carneris zerfallen solcherart in zwei heterogene Teile, in einen grob materialistischen Teil und in einen versteckt idealistischen. In dem ersteren behält des Verfassers Kopf recht, denn es läßt sich nicht leugnen, daß er bis über den Scheitel im Materialismus versunken ist; im letzteren da­gegen wehrt sich des Verfassers Gemüt mit der Macht jenes metaphysischen Zaubers, dem selbst in unserer grobsinn­lichen Zeit edlere Naturen sich nicht völlig zu entziehen vermögen, gegen die plumpen Forderungen des rationa­listischen Modedünkels.»

Und trotz alledem: Carneri ist eine bedeutende Per­sönlichkeit, von der gesagt werden darf (was ich in mei­nem Buche «Rätsel der Philosophie», 2. Band andeutete):

«Weite Perspektiven der Weltanschauung und Lebens­gestaltung suchte aus dem Darwinismus heraus dieser öster­reichische Denker zu eröffnen. Er trat elf Jahre nach dem Erscheinen von Darwins mit sei­nem Buche hervor, in dem er in umfassendster Weise die neue Ideenwelt zur Grund­lage einer ethischen Weltanschauung machte. Seitdem war er unablässig bemüht, die Darwinistische Ethik auszu­bauen. Carneri versucht in dem Bilde der Natur die Ele­mente zu finden, durch welche sich das selbstbewußte Ich innerhalb dieses Bildes vorstellen läßt. Er möchte dieses Naturbild so weit und groß denken, daß es die menschliche

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Seele mit umfassen kann.» - Carneris Schriften schei­nen mir nämlich überall durch ihren eigenen Charakter dazu herauszufordern: aus ihrem Inhalte alles hinwegzu­tilgen, wozu sich deren Verfasser gezwungen hat, indem er sich unter das Joch der materialistischen Weltanschau­ung begab; und nur auf das zu blicken, was in ihnen als Offenbarung eines groß angelegten Menschen, wie eine elementarische Eingebung seines Gemütes erscheint. Man lese von einer solchen Voraussetzung aus, wie er sich die Aufgabe der Erziehung zu wahrer Menschlichkeit denkt:

«Aufgabe der Erziehung ist es..., den Menschen derart heranzubilden, daß er das Gute tun muß. Daß darunter die Menschenwürde nicht leidet, daß vielmehr die harmo­nische Entwickelung des Wesens, das seiner Natur nach freudig das Edle und Große vollbringt, eine ethische Er­scheinung ist, die schöner nicht gedacht werden kann. . . . Möglich wird die Lösung dieser herrlichen Aufgabe durch das Glückseligkeitsstreben, zu dem sich im Menschen der Selbsterhaltungstrieb läutert, sobald sich die Intelligenz voll entwickelt. Das Denken beruht auf Empfindung und ist nur die andere Seite des Gefühls, weshalb alles Den­ken, was nicht an der Wärme des Gefühls zur Reife ge­langt, wie alles Fühlen, das nicht am Lichte des Denkens sich klärt, einseitig ist. Sache der Erziehung ist es, durch die übereinstimmende Entwickelung des Denkens und Füh­lens das Streben nach Glückseligkeit zu läutern, so daß das Ich im Du seine natürliche Erweiterung, im Wir seine not­wendige Vollendung erblickt, der Egoismus den Altruismus als seine höhere Wahrheit erkennt. . . . Nur vom Stand­punkt des Glückseligkeitstriebes ist es erklärlich, daß einer für ein geliebtes Wesen oder einen erhabenen Zweck sein

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Leben hingibt: er sieht eben darin sein höheres Glück. Sein wahres Glück suchend, gelangt der Mensch zur Sittlichkeit; allein er hat dazu erzogen, so erzogen zu sein, daß er gar nicht anders kann. Er findet im beseligenden Gefühl des Adels seiner Tat den schönsten Lohn und fordert nicht mehr.» (Vergleiche Carneris Buch: Der moderne Mensch. Einleitung.) Man sieht: Carneri hält das Glückseligkeits­streben, wie er es ansieht, für eine naturgemäße Kraft in der wahren Menschennatur, für eine Kraft, die sich unter den rechten Bedingungen entfalten muß, wie sich ein Pflanzenkeim entfaltet, wenn er dazu die Bedingungen hat. Wie der Magnet durch die ihm eigene Wesenheit die Anziehungskraft hat, so das Tier den Selbsterhaltungstrieb, und so der Mensch den Glückseligkeitstrieb. Man braucht auf die menschlichen Wesen nichts aufzupfropfen, um sie zur Sittlichkeit zu führen; man braucht nur ihren Glück­seligkeitstrieb recht zu entwickeln, so entfalten sie sich durch diesen zur wahren Sittlichkeit. Carneri betrachtet in Einzelheiten die verschiedenen Äußerungen des Seelen­lebens: wie die Empfindung dieses Leben anregt oder ab­stumpft; wie die Affekte, die Leidenschaften wirken: und wie in all dem der Glückseligkeitstrieb sich entfaltet. Die­sen setzt er in allen diesen Seelenäußerungen als deren eigentliche Grundkraft voraus. Und dadurch, daß er die­sem Begriffe von Glückseligkeit einen weiten Sinn gibt, fällt allerdings für ihn alles Wünschen, Wollen und Tun der Seele in dessen Bereich. Wie der Mensch ist, das hängt davon ab, welches Bild ihm von seinem Glücke vorschwebt: der eine sieht sein Glück in der Befriedigung niederer Triebe, der andere in den Taten hingebungsvoller Liebe und Selbstverleugnung. Wenn von jemand gesagt würde:

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der strebt nicht nach Glück, der tut nur selbstlos seine Pflicht, so würde Carneri einwenden: gerade darin besteht seine Glücksempfindung, dem Glücke nicht bewußt nach­zujagen. Aber mit solch einer Erweiterung des Begriffes von Glückseligkeit offenbart Carneri den durchaus idea­listischen Grundton seiner Weltanschauung. Denn ist für verschiedene Menschen das Glück etwas ganz Verschiede­nes, so kann die Sittlichkeit nicht in dem Streben nach Glück liegen; sondern es liegt die Tatsache vor, daß der Mensch seine Fähigkeit, sittlich zu sein, als ihn beglückend empfindet. Es wird dadurch das menschliche Streben nicht aus dem Gebiete der sittlichen Ideale herabgezogen in das Begehren des Glückes, sondern es wird als im Wesen des Menschen liegend erkannt, im Erringen der Ideale sein Glück zu sehen. « Unserer Überzeugung nach» - sagt Car­neri - «hat die Ethik sich zu begnügen mit der Darlegung, daß der Weg des Menschen der Weg zur Glückseligkeit ist, und daß der Mensch, den Weg zur Glückseligkeit wan­delnd, zu einem sittlichen Wesen heranreift.» (Grundlegung der Ethik, Seite 423.) - Wer nun glaubt, daß durch solche Ansichten Carneri die Ethik darwinistisch machen will, der läßt sich täuschen durch die Ausdrucksweise dieses Denkers. Diese ist erzwungen durch die überwältigende Kraft der in seinem Zeitalter herrschenden naturwissenschaftlichen Vorstellungsart. In Wahrheit will Carneri nicht die Ethik darwinistisch, sondern den Darwinismus ethisch machen. Er will zeigen, daß man den Menschen in seiner wahren Wesenheit nur zu erkennen braucht, wie der Naturforscher ein Naturwesen zu erkennen sucht, dann findet man in ihm nicht ein Natur-, sondern ein Geistwesen. Darin liegt Carneris Bedeutung, daß er den Darwinismus in eine

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geistgemäße Weltanschauung einfließen lassen will. Und damit ist er einer der bedeutenden Geister der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Man versteht die durch die naturwissenschaftlichen Einsichten dieses Zeit­alters an die Menschheit gestellten Forderungen nicht, wenn man gleich denen denkt, die alles Erkenntnisstreben in Naturwissenschaft aufgehen lassen wollen. Gleich denen, die bis gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich Bekenner des Materialismus nannten, aber auch gleich denen, die es heute in Wirklichkeit nicht weniger sind, wenn sie auch immer von neuem versichern, daß der Mate­rialismus von der Wissenschaft « längst überwunden sei » . Gegenwärtig nennen sich viele nur deshalb nicht Mate­rialisten, weil ihnen die Fähigkeit mangelt, einzusehen, daß sie es sind. Man kann geradezu sagen, jetzt beruhigen sich manche Menschen über ihren Materialismus dadurch, daß sie sich vortäuschen, sie hätten nach ihren Ansichten nicht mehr nötig, sich Materialisten zu nennen. Man wird sie trotzdem so bezeichnen müssen. Den Materialismus hat man damit noch nicht überwunden, daß man die Ansicht einer Reihe von Denkern der zweiten Hälfte des neun­zehnten Jahrhunderts ablehnt, die alle geistigen Erlebnisse für bloße Stoffwirkung hielten; sondern nur dadurch, daß man sich darauf einläßt, über das Geistige in dem Sinne geistgemäß zu denken, wie man über die Natur natur­gemäß denkt. Was damit gemeint ist, geht schon aus den vorangehenden Ausführungen dieser Schrift hervor, wird sich aber noch besonders zeigen in den als «Ausblick» ge­dachten Schlußbetrachtungen. - Aber man wird den er­wähnten Forderungen auch nicht gerecht, wenn man eine Weltanschauung gegen die Naturwissenschaft begründet,

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und sich nur ergeht in Ablehnungen der «rohen» Vor­stellungen des «Materialismus » . Es muß seit Gewinnung der naturwissenschaftlichen Einsichten des neunzehnten Jahrhunderts jede geistgemäße Weltanschauung, die ihrem Zeitalter entsprechen will, diese Einsichten als ein Glied in ihre Gedankenwelt aufnehmen. Und dieses hat Carneri kraftvoll erfaßt, und durch seine Schriften eindringlich ausgesprochen. Daß ein echtes Verständnis der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungen nicht zur Befesti­gung, sondern zur wahren Überwindung des Materialismus führt, das konnte Carneri, der die ersten Schritte auf dem Wege dieses Verständnisses machte, noch nicht voll ein­sehen. Deshalb war er der Meinung, um noch einmal an die Worte Brentanos zu erinnern (vergleiche S. 53 dieser Schrift), «daß für die Hoffnungen eines Platon und Ari­stoteles, über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen» von der neueren Wissenschaft keine Erfüllung zu erwarten sei. Wer aber sich in Carneris Gedanken so vertieft, daß er nicht nur den Inhalt derselben hinnimmt, sondern auf den Er­kenntnisweg blickt, auf dem dieser Denker nur die ersten Schritte machen konnte, der wird finden, daß durch ihn, nach einer anderen Richtung hin, für die Fortbildung der Weltanschauung des deutschen Idealismus etwas Ähnliches geschehen ist wie durch Troxler, Immanuel Hermann Fichte und andere nach der in dieser Schrift gekennzeichneten Richtung hin. Diese Geister suchten mit den Kräften des Hegelschen Denkens nicht bloß in den versinnlichten Geist, sondern auch in dasjenige Geistgebiet einzudringen, das sich in der Sinneswelt nicht offenbart. Carneri strebt dahin, mit einer geistgemäßen Lebensanschauung an die naturwissenschaftliche

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Vorstellungsart sich hinzugeben. Die wei­tere Verfolgung des von diesen Denkern empfundenen Weges kann zeigen, daß die Erkenntniskräfte, an die sie sich gewandt haben, die « Hoffnungen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes» nicht vernichten, sondern ihnen eine feste Wissensgrundlage geben werden. Es ist sicherlich einerseits berechtigt, wenn der schon genannte F. v. Feldegg (Deutsche Worte, vom November 1894) anknüpfend an den Konflikt, in den Carneri gegenüber Idealismus und Materialismus hineingestellt war, sagt: «Aber die Zeit ist nicht mehr ferne, in welcher dieser Konflikt nicht etwa bloß im einzelnen Individuum, sondern im ganzen Kultur-bewußtsein zum Austrag kommen wird. Aber die Carneris sind vielleicht ein vereinzelter Vorläufer ganz anderer und gewaltigerer , welche dann, gleich einem Sturme heranbrausend, hinwegfegen werden, was an unserem Glaubensbekenntnisse bis dahin noch nicht der Selbstzersetzung verfallen sein wird.» Anderseits aber kann anerkannt werden, daß Car­neri durch die Art, wie er den Darwinismus für die Ethik verarbeitete, zugleich einer der ersten Überwinder der dar­winistischen Denkart geworden ist.

Carneri war eine Persönlichkeit, bei der das Denken über die Fragen des Daseins allem ihrem Wirken und Ar­beiten im Leben das Gepräge gab. Keiner von denen, die zum « Philosophen» werden, indem sie die gesunden Wur­zeln der Lebenswirklichkeit in sich verdorren lassen. Son­dern einer von denen, welche den Beweis liefern, daß wirklichkeitsgemäßes Erforschen des Lebens praktischere

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Menschen erzeugen kann, als das ängstliche, aber auch be­queme Sich-Fernhalten von jeder Idee und das starrsinnige Pochen darauf, daß man sich die «wahre» Lebenspraxis nicht durch Begriffsträumereien verderben lassen dürfe. Carneri war österreichischer Volksvertreter, von 1861 ab im steierischen Landtag, von 1870 bis 1891 im Reichsrat. Ich muß oft noch jetzt denken an den herzerhebenden Eindruck, den ich empfing, wenn ich als junger fünfundzwan­zigjähriger Lebensanfänger von der Galerie des Wiener Reichsrates Carneri reden hörte. Ein Mann stand da unten, der Österreichs Lebensbedingungen, der die aus der Ent­wickelung von Österreichs Kultur und aus den Lebens-kräften seiner Völker entstandenen Verhältnisse tief in seine Gedanken aufgenommen hatte, und der, was er zum Ausdruck brachte, von jener hohen Warte aus sprach, auf die ihn seine Weltanschauung gestellt hatte. Und bei alle­dem, niemals ein blasser Gedanke; immer herzenswarme Töne; immer Ideen, die wirklichkeitsstark waren; nicht die Worte eines bloß denkenden Kopfes; sondern die Offenbarungen eines ganzen Menschen, der Österreich in der eigenen Seele pulsierend fühlte und dieses Gefühl ge­klärt hatte durch die Idee: «Ganz wird die Menschheit ihren Namen erst verdienen und auf der Bahn der Sitt­lichkeit wandeln, wenn sie keinen anderen Kampf kennt, denn Arbeit, keinen anderen Schild, denn Recht, keine andere Waffe, denn Intelligenz, kein anderes Banner, denn Zivilisation.» (Carneri, Sittlichkeit und Darwinis­mus, Seite 508.)

Versucht habe ich zu zeigen, wie ein sinniger Idealismus die fest in der Wirklichkeit stehende Wurzel in Carneris Seelenleben ist; wie aber auch - überwältigt von einer

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materialistischen Zeitanschauung - dieser Idealismus neben einem Denken einhergeht, dessen Widersprüche zwar emp­funden, aber nicht völlig gelöst werden. Ich glaube, daß dies in der Form, wie es bei Carneri auftritt, auf einer besonderen Eigenart beruht, welche das Volkstum in Öster­reich leicht der Seele aufdrücken kann. Einer Eigenart, die - wie mir scheint - auch selbst den Deutschen außerhalb Österreichs nur schwer verständlich ist. Man kann sie viel­leicht nur empfinden, wenn man selbst aus österreichischer Volksart herausgewachsen ist. Durch die Entwickelung des österreichischen Lebens seit Jahrhunderten ist sie bedingt. Man wird da durch die Erziehung in ein anderes Verhält­nis gebracht zu den Äußerungen des unmittelbaren Volks­tums als in deutschen Gebieten außerhalb Österreichs. Was man durch die Schule aufnimmt, trägt Züge, die nicht in solch unmittelbarer Art eine Umwandlung dessen sind, was man aus dem Volkstum heraus erlebt wie bei den Deutschen Deutschlands. In Fichtes höchsten Gedanken­entfaltungen lebt etwas, worin sich eine unmittelbare Fort­setzung erkennen läßt des Volkstümlichen, das in seinem mitteldeutschen Vaterlande gewirkt hat, im Hause des Bauern und Bandwirkers Christian Fichte. In Österreich trägt oft, was man durch Erziehung und Selbsterziehung in sich entwickelt, weniger solche unmittelbar bodenständige Züge. Es lebt das Bodenständige mehr mittelbar, wenn auch deshalb oft nicht weniger stark. Man trägt einen Konflikt der Empfindungen in der Seele, der in seinem unbewußten Wirken den Lebensäußerungen die besondere österreichische Färbung gibt. - Als Beispiel eines Österreichers mit dieser Seelenart möchte ich die Persönlichkeit Missons ansehen, eines der bedeutendsten österreichischen Dialektdichter.

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Gewiß, Dialektdichtung ist aus ähnlichen Seelenunter-gründen wie bei Misson auch bei anderen Deutschen er­standen. Bei ihm ist aber das Eigentümliche, daß er durch den angedeuteten Zug im Seelenleben vieler Österreicher zum Dialektdichter geworden ist. Joseph Misson ist zu Mühlbach im niederösterreichischen Viertel unterm Mann­hardtsberg 1803 geboren; er machte die Schule in Krems durch und trat in den Orden der frommen Schulen ein. Er wirkte als Gymnasiallehrer in Horn, Krems, Wien. 1850 erschien von ihm eine Perle aller österreichischen Mundartdichtung: «Da Naz, a niederösterreichischer Bauernbui, geht in d'Fremd.» (Der Ignaz, ein niederösterreichischer Bauernjunge, geht in die Fremde.) Sie ist unvollendet her­ausgegeben. (Der Probst Karl Landsteiner hat später in einem schönen Büchelchen über Misson geschrieben, und die unvollendete Dichtung wieder gedruckt.) - Karl Julius Schröer sagt darüber (1875), wie ich meine, treffend: « So klein die Dichtung ist und so vereinzelt sie geblieben ist, indem Misson nichts weiter veröffentlicht hat, so verdient sie doch hervorgehoben zu werden. Sie nimmt unter den mundartlichen Dichtungen Österreichs den ersten Rang ein. Die epische Ruhe, die über das Ganze ausgegossen ist, die meisterhafte Schilderung im einzelnen, die uns fortwährend fesselt und uns durch ihre Wahrheit überrascht und er­quickt, sind Eigenschaften, in denen kein Zweiter Misson gleichkommt.» Das Antreten der Wanderschaft eines nieder-österreichischen Bauernjungen stellt Misson dar. Eine un­mittelbar wahrheitgetragene Offenbarung niederösterreichi­schen Volkstums lebt in der Dichtung. Misson lebte in seiner durch Erziehung und Selbsterziehung errungenen Gedan­kenwelt. Dieses Leben stellte die eine Seite seiner Seele dar.

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Das war keine unmittelbare Fortsetzung des Lebens, das in seinem Niederösterreichertum wurzelte. Aber gerade darum trat, wie ohne Zusammenhang mit dieser Seite seelischen Erlebens - in seinem Gemüte das wahrste Bild seines Volkstums wie aus Seelenuntergründen auf, und stellte sich als die andere Seite inneren Erlebens hin. Der Zauber des unmittelbar Volkstümlichen von Missons Dich­tung ist eine Wirkung der «zwei Seelen in seiner Brust». Ich werde ein Stück dieser Dichtung hier folgen lassen, und dann in möglichst getreuer, anspruchsloser hochdeutscher Prosa die niederösterreichische Mundart wiedergeben. (Ich werde bei dieser Wiedergabe nur darauf achten, daß der Sinn der Dichtung empfindungsgemäß voll herauskommt. Wenn man bei solcher Übertragung einfach das Mundart-wort durch das entsprechende hochdeutsche ersetzt, so wird im Grunde die Sache verfälscht. Denn das Mundartwort entspricht oft einer ganz anderen Empfindungsfärbung als das entsprechende hochdeutsche.)

Lehr vo main Vodern auf d'Roas

Naaz, iazn loos, töös, wos a ta so, töös sockt ta tai Voda.

Gottsnom, wails scho soo iis! und probiast tai Glück ö da Waiden.

Muis a da sogn töös, wo a da so, töös los der aa gsackt sai.

Ih unt tai Muida san olt und tahoam, woast as ee, schaut nix außa.

Was ma sih schint und rackert und plockt und obi ta scheert töös

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Tuit ma für d'Kiner, wos tuit ma nöd olls, bolds' nöd aus der Ort schlog'n! -

I is ma aamol a preßhafts Leut und san schwari Zaiden,

Graif an s'am aa, ma fint töös pai ortlinga recht­schoffan Kinern,

Gern untern Orm, auf taas mer d'Ergiibnus laich­ter daschwingan. -

Keert öppa s Glück pal dia ai, soo leeb nöd alla Kawallaa.

Plaib pain ann gleicha, Mittelstroß goldas Moß, nöd üwa t'Schnua haun.

S' Glück iis ja kugelrund, kugelt so laicht wida toni wia zuuaha.

Geets owa gfalt und passiat der an Unglück, socks nöd ön Leuden.

Tui nix taglaicha, loß s goa nöd mirka, sai nöd goa z kloanlaud.

Klock's unsan Heagoot, pitt'en, iih so ders, er mochts wida pessa!

Mocka'r und hocka'r und pfnotten und trenzen mit den kimt nix außa.

Kopfhängad, grod ols won amt' Heana s Prot häden gfressa:

Töös mochts schlimmi nöd guit, gidanka'r ös Guidi no pessa!

Schau auf tai Soch, wost miit host, denk a wenk füri aufs künfti! -

Schenkt ta w'ea wos, so gspraiz ti nöd, nimms und so dafüa: gelts Goot!

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Schau Naaz, mirk ta dos fai: weng da Höflikeit iis no koans gstroft woan! -

Holt ti nea ritterla, Fremd zügelt t'Leud, is a Sprichwoat, a Worwoat.

Los ti no glai ö koan Gspül ai, keer di nöd fainl nochn Tonzplotz.

Los ta ka Koatn nöd aufschlogn, suich da tai Glük nöd in Trambuich.

Gengan zween Wö unt tar oani is naich, so gee du en olden.

Geet oana schips, wos aa öftas iis, so gee du en groden -

Schau auf tain Gsund, ta Gsund iis pai olIn no allwail tos Pessa.

So mer, wos hot tenn aa Oans auf da Welt, so­bolds nöd ön Gsund hod?

Kimst a mol hahm und tu findst ö ten Stübl uns oldi Leud nimma,

Oft samma zebn, wo tai Aenl und Aanl mit Freu­den uns gewoaten,

Unsari Guittäter finten und unsa vastoabani Freundschoft!

Olli, sö kenan uns glai - und töös, Naaz, töös is dos Schöner! »

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Wiedergabe:

Eine Lehre von meinem Vater für die Wanderschaft

Ignaz, nun höre zu, das, was ich dir sage, das sagt dir dein Vater.

In Gottes Namen, weil es doch so sein muß, und du dein Glück in der weiten Welt versuchen sollst,

Deshalb muß ich dir das sagen, und was ich dir sage, das beherzige wohl.

Ich und deine Mutter sind alt und zu Hause ge­blieben; du weißt, dabei kommt nichts heraus.

Man schindet sich viel, müht sich ab, arbeitet hart und schwächt sich sorgend durch Arbeit -

Man tut dies den Kindern zu Liebe; was möchte man nicht alles tun, sobald sie nicht auf falsche Wege geraten.

Ist man später schwach und kränklich geworden, und kommen schwere Zeiten

Springen sie uns auch liebevoll, man findet solches bei ordentlichen, rechtschaffenen Kindern,

Helfend bei, damit man eine Erleichterung habe, zu leisten, was der Staat und das Leben verlangen.

Sollte etwa das Glück bei dir einkehren, so leb nicht wie ein Kavalier.

Bleibe so, wie du warst, bei dem goldenen Maß der Mittelstraße, weiche nicht ab von dem rechten Lebenswege.

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Das Glück ist rund wie eine Kugel; es rollt ebenso leicht von uns weg, wie zu uns.

Gelingt etwas nicht, oder trifft dich ein Unglück, so sprich davon nicht zu den Menschen.

Bleib' gelassen; lasse dir nichts anmerken; sei nicht kleinmütig;

Klage alles nur Gott; bitte ihn; ich sage dir, er macht alles wieder besser!

Bekümmert tun, sich zurückziehn, saure Gesichter machen, weinerlich sein: dadurch wird nichts erreicht.

Den Kopf hängen lassen, als ob einem die Hühner das Brot weggegessen hätten:

Das bessert nichts Schlimmes, geschweige denn macht es das Gute noch besser!

Bewahre deinen Besitz, den du mit dir nimmst; sorge ein wenig für die Zukunft.

Schenkt dir jemand etwas, so nimm es, ohne dich zu zieren, und sage dafür: vergelte es Gott! -

Beachte, Ignaz; und erinnere dich daran wohl: der Höflichkeit wegen ist noch niemand bestraft worden! -

Zeige dich nicht widerborstig, die Fremde macht den Menschen bescheiden; dies ist ein Sprichwort und ein Wahrwort.

Lasse dich nicht zum Spielen verführen; mache dir nicht zu viel aus dem Tanzplatz.

Lasse dir nicht die Karten legen; und suche dein Schicksal nicht nach dem Traumbuch.

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Gehen zwei Wege, und einer ist neu, so gehe du den alten.

Geht einer ungerade, was des öfteren ist, so gehe du den geraden.

Behüte deine Gesundheit; die Gesundheit ist von allen Gütern das bessere.

Gestehe mir doch zu: was besitzt man in der Welt wirklich, wenn man nicht die Gesund­heit hat?

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Kommst du einst nach Hause, und findest du uns alte Leute nicht mehr in diesem Stübchen,

Dann sind wir da, wo dein Großvater und deine Großmutter in Freuden uns erwarten,

Wo uns unsere Wohltäter finden und unsere ver­storbenen Verwandten!

Alle werden uns sogleich wiedererkennen - und dies, Ignaz, ist etwas sehr Schönes.

Karl Julius Schröer schreibt 1879 von diesem Öster­reicher, aus dessen gelehrter Seele das Bauernleben, aber auch, wie gerade das angeführte Stück seiner Dichtung zeigt, die urwüchsige Bauernphilosophie - so prächtig auf­tauchte: « Sein Talent fand keine Aufmunterung. Obwohl er noch mancherlei dichtete, verbrannte er seine sämtlichen Dichtungen... und nun lebt er, als Bibliothekar des Piari­stenkollegiums bei St. Thekla auf der Wieden in Wien, abgeschieden von allem Umgang nach seinem eigenen Aus­spruch .» Wie Joseph Misson muß man viele Persönlichkeiten des österreichischen Geisteslebens

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in verborgenen Lebenslagen suchen. - Misson kann nicht als Denker unter den in dieser Schrift geschilderten Persön­lichkeiten in Betracht kommen. Doch wenn man sich sein Seelenleben vorstellt, so gibt dies ein Verständnis für die besondere Färbung der Ideen österreichischer Denker. Die Gedanken Schellings, Hegels, Fichtes, Plancks gestalten sich plastisch auseinander wie die Glieder eines Gedankenorganismus. Der eine Gedanke wächst aus dem andern heraus. Und in der Physiognomie dieses ganzen Gedankenorganismus erkennt man ein Volkheitmäßiges. Bei den österreichischen Denkern steht mehr ein Gedanke neben dem andern; und ein jeder wächst für sich - weniger aus dem andern - sondern aus dem gemeinsamen Seelengrunde hervor. Dadurch trägt nicht die Gesamtgestalt das unmit­telbar Volkheitmäßige; dafür aber ist über jeden einzelnen Gedanken dieses Volkheitmäßige wie eine Grundstimmung ausgegossen. Solche Grundstimmung wird von den Den­kern naturgemäß im Gemüte zurückgehalten; sie klingt nur leise an. Sie tritt in einer Persönlichkeit wie Misson als Heimweh nach dem Elementarischen der Volkheit auf. Bei Schröer, bei Fercher von Steinwand, bei Carneri, und auch bei Hamerling wirkt sie in der Grundtönung ihres Strebens überall mit. Das Denken erhält dadurch den Charakter des Sinnens.

In Robert Hamerling ist dem niederösterreichischen Waldviertel einer der größten Dichter der neueren Zeit entsprossen. Er ist zugleich einer der Träger des deutschen Weltanschauungs-Idealismus. Über Wesen und Bedeutung von Hamerlings Dichtungen zu sprechen, beabsichtige ich für diese Schrift nicht. Wie er sich in die Weltanschauungsentwickelung

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der neueren Zeit hineingestellt hat, darüber nur will ich einiges andeuten. Er hat in dem Werke: «Die Atomistik des Willens» auch in Gedankenform seiner Weltansicht Ausdruck gegeben. (Der steiermärkische Dichter und völkische Schriftsteller Adolf Harpf hat nach Hamerlings Tode dieses Buch 1891 herausgegeben.) Das Buch trägt den Untertitel «Beiträge zur Kritik der modernen Erkenntnis».

Hamerling wußte, daß viele, die sich Philosophen nen­nen, diese seine «Beiträge» mit - vielleicht nachsichtiger - Verwunderung aufnehmen werden. Was sollte - so mochte mancher denken - der idealistisch gestimmte Dichter in einem Felde anzufangen wissen, in dem strenge Wissen­schaftlichkeit herrschen muß? Und die Ausführungen sei­nes Buches überzeugten diejenigen nicht, in denen ein solches Urteil nur die an die Oberfläche getriebene Welle ist aus Seelentiefen, in denen es auf unbewußte (oder unterbe­wußte) Art aus Denkgewohnheiten gebildet wird. Solche Menschen können sehr scharfsinnig, sie können wissen­schaftlich sehr bedeutend sein: das Ringen der wahren Dichternatur ist ihnen doch nicht verständlich. Derjenigen Dichternatur, in deren Seele alle die Konflikte leben, aus denen heraus sich die Rätsel der Welt vor den Menschen hinstellen. Die deshalb innere Erfahrung über diese Welträtsel hat. Wenn sich eine solche Natur dichterisch aus­spricht, so waltet in den Untergründen ihrer Seele die fragende Weltenordnung, die ohne im Bewußtsein sich in Gedanken umzuwandeln, in der elementarischen Kunst-schöpfung sich offenbart. Allerdings ahnen von dem Wesen solch wahrer Dichtematuren auch diejenigen Dichter nichts, welche vor einer Weltanschauung zurückzucken, wie vor Feuer, das ihre «lebensvolle Ursprünglichkeit» anbrennen

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könnte. Ein wahrer Dichter mag vielleicht nie in seinem Bewußtsein in Gedanken formen, was in den Wurzeln seines Seelenlebens an unbewußten Weltgedanken kraftet: er steht deshalb doch mit seinem inneren Erleben in den­jenigen Tiefen der Wirklichkeit, von welchen man nichts ahnt, wenn man in behaglicher Weisheit dort nur Träu­mereien erblickt, wo der Sinneswirklichkeit ihr Dasein aus dem Geiste heraus verliehen wird. Wenn nun einmal eine wahre Dichternatur wie Robert Hamerling ohne Abstump­fung ihrer dichterischen Schöpferkraft das oft bei andern unbewußt Bleibende als Gedankenwelt ins Bewußtsein zu heben weiß, dann kann man einer solchen Erscheinung gegenüber auch die Ansicht haben, daß dadurch aus Geistestiefen herauf besondere Lichter auf die Rätsel der Welt geworfen werden. Hamerling selbst spricht in dem Vor­wort seiner «Atomistik des Willens» darüber, wie er zu seiner Gedankenwelt gekommen ist. «Ich habe mich nicht plötzlich auf die Philosophie geworfen vor längerer oder kürzerer Zeit, etwa weil ich zufällig Lust dazu bekam, oder weil ich mich einmal auf einem andern Gebiete ver­suchen wollte. Ich habe mich mit den großen Problemen der menschlichen Erkenntnis beschäftigt von meiner frühen Jugend an, infolge des natürlichen, unabweisbaren Dranges, welcher den Menschen überhaupt zur Erforschung der Wahrheit und zur Lösung der Rätsel des Daseins treibt. Ich habe in der Philosophie niemals eine spezielle Fachwissenschaft erblicken können, deren Studium man be­treiben oder beiseite lassen kann, wie das der Statistik oder der Forstwissenschaft, sondern sie stets als die Erforschung desjenigen betrachtet, was jedem das Nächste, Wichtigste und Interessanteste ist. . . . Ich für meine Person konnte es

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mir schlechterdings nicht versagen, dem ursprünglichsten, natürlichsten und allgemeinsten aller geistigen Antriebe zu folgen und mir im Laufe der Jahre ein Urteil über die Grundfragen des Daseins und Lebens zu bilden.» - Einer derjenigen, die Hamerlings Gedankenwelt hoch schätzten, war der in Wien lebende gelehrte und feinsinnige Benedik­tinerordenspriester Vincenz Knauer. Er hat als Privat­dozent der Wiener Universität Vorlesungen gehalten, durch die er darstellen wollte, wie Hamerling in der Entwicke­lungsströmung der Weltanschauungen steht, die mit Thales in Griechenland anhebt und in dem österreichischen Dichter und Denker sich in der für das Ende des neunzehnten Jahrhunderts bedeutungsvollsten Erscheinung offenbart. Allerdings gehörte Vincenz Knauer zu den Forschern, denen Engherzigkeit fremd ist. Er hat als junger Philo­soph ein Buch über die Moralphilosophie in Shakespeares Dichtungen geschrieben. (Knauers Wiener Vorlesungen sind unter dem Titel «Die Hauptprobleme der Philosophie von Thales bis Hamerling» im Druck erschienen.) - Auch in der Dichtung Robert Hamerlings lebt die idea­listische Grundstimmung seiner Anschauung von der Wirk­lichkeit. Die Gestalten seiner epischen und dramatischen Schöpfungen sind nicht eine Wiedergabe dessen, was eine geistscheue Beobachtung im äußeren Leben sieht; sie zeigen überall, wie die Menschenseele aus einer geistigen Welt herein Richtungen und Impulse erhält. Die geistscheue Be­obachtung schilt auf solche Schöpfungen. Sie nennt sie blutleere Gedankenerzeugnisse, denen die Vollsaftigkeit des Lebens fehle. Man kann diese Ansicht oft die Formel be­mühen hören: die Menschen dieses Dichters sind keine Per­sonen, die in der Welt wandeln; sie sind Schemen aus der

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Abstraktion heraus geboren. Wenn so sprechende «Wirk­lichkeitsmenschen » doch ahnen könnten, wie sehr sie selbst wandelnde Abstraktionen sind und ihr Bekenntnis die Ab­straktion einer Abstraktion ist! Wenn sie nur wüßten, wie seelenleer ihre bluterfüllten Gestalten dem sind, der einen Sinn hat nicht nur für pulsierendes Blut, sondern auch da­für, wie Seele im Blute pulsiert. Man hat von solch einem Wirklichkeitsstandpunkte aus gesagt, die dramatische Dich­tung Hamerlings «Danton und Robespierre» bereichere nur das Schattenvolk ehemaliger Revolutionshelden um eine Anzahl neuer Schemen.

Hamerling hat solche Einwürfe in dem «Epilog an die Kritiker» abgewehrt, den er den späteren Auflagen seines «Ahasver in Rom» beigefügt hat. In diesem Epilog stehen die Worte: ... . Man besagt, sei eine Dichtung, bei welchem Worte viele sogleich von einer Gänsehaut überlaufen werden. - Allegorisch ist das Gedicht allerdings insofern, als eine mythische Gestalt hineinverwoben ist, deren Existenzberechtigung immer nur darauf beruht, daß sie etwas bedeutet. Denn jeder Mythus ist eine durch die Volksphantasie verbildlichte Idee. Aber, sagt man, auch Nero will etwas <bedeuten> — den <Lebensdrang>! Nun ja, er bedeutet den Lebensdrang; aber nicht anders als Moliéres den Geiz, Shakespeares die Liebe bedeutet. Es gibt allerdings poetische Gestalten, die gar nichts weiter sind als allegorische Sche­men und nichts an sich haben, als ihre innere abstrakte Bedeutung - dem kranken, magern Kanonikus bei Heine vergleichbar, der zuletzt aus nichts anderem bestand, als aus . Aber für eine mit realem Leben erfüllte dichterische Figur ist die innewohnende Bedeutung

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kein Vampyr, der ihr das Blut aussaugt. Existiert über­haupt etwas, das nichts <bedeutet>? Ich möchte doch wissen, wie es der Bettler anstellen sollte, um nicht die Armut, und ein Krösus, um nicht den Reichtum zu bedeuten? . . . Ich glaube also, daß der lebensdurstige Nero dadurch, daß er dem todessehnsüchtigen Ahasver gegenüber den Lebensdrang, an seiner Realität so wenig einbüßt, als ein reicher Kaufherr an seiner blühenden Wohlbeleibtheit einbüßen würde, wenn er zufällig neben einen Bettler zu stehen käme und notgedrungen den Kontrast von Armut und Reichtum in einer allegorischen Gruppe versinnlichte. »In solcher Art weist der von idealistischer Weltanschauung beseelte Dichter die Angriffe von Menschen zurück, welche erschaudern, wenn sie irgendwo eine in der wahren Wirk­lichkeit - der Geistwirklichkeit - wurzelnde Idee wittern.

Beginnt man mit dem Lesen von Hamerlings «Atomistik des Willens», so kann man allerdings zunächst die Empfin­dung erleben, er habe sich durch den Kantianismus von der Unmöglichkeit überzeugen lassen, daß es eine Erkennt­nis der wahren Wirklichkeit, des «Dinges an sich» geben könne. Doch sieht man im weiteren Verlaufe der Dar­stellung seines Buches, daß es Hamerling mit dem Kan­tianismus so ergangen ist wie Carneri mit dem Darwinis­mus. Er hat sich durch die suggestive Kraft gewisser Kan­tischer Gedanken überwältigen lassen; dann aber siegt die Ansicht bei ihm, daß der Mensch, wenn er auch durch die Sinnesanschauung nach außen hin nicht an die wahre Wirklichkeit herandringen kann, dieser doch begegnet, wenn er durch die Oberfläche des seelischen Erlebens hin­durch in die Seelenuntergründe eintaucht.

Hamerling beginnt ganz Kantisch: «Gewisse Reizungen

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erzeugen den Geruch in unserem Riechorgan. Die Rose duftet also nicht, wenn sie niemand riecht. - Gewisse Luftschwingungen erzeugen in unserm Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuß würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte. . . . Wer dies festhält, wird begreifen, welch ein naiver Irrtum es ist, zu glauben, daß neben der von uns genann­ten Anschauung oder Vorstellung noch ein anderes, und zwar erst das rechte, wirkliche existiere, von wel­chem unsere Anschauung eine Art Abbild ist. Außer mir ist - wiederholt sei es gesagt - nur die Summe jener Bedin­gungen, welche bewirken, daß sich in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich Pferd nenne.» Diese Gedan­ken wirken mit solch suggestiver Kraft, daß Hamerling an sie die Worte zu schließen vermag: « Leuchtet dir, lieber Leser, das nicht ein und bäumt dein Verstand sich vor die­ser Tatsache wie ein scheues Pferd, so lies keine Zeile weiter; laß dieses und alle anderen Bücher, die von philo­sophischen Dingen handeln, ungelesen; denn es fehlt dir die hierzu nötige Fähigkeit, eine Tatsache unbefangen auf­zufassen und in Gedanken festzuhalten.» Ich möchte Ha­merling gegenüber sagen: Mögen sich doch recht viele Men­schen finden, deren Verstand zwar bei diesen Eingangsworten seines Buches sich wie ein scheues Pferd bäumt, die aber Ideenstärke genug besitzen, um die tiefdringenden späteren Kapitel recht zu würdigen; und ich bin froh, daß Hamerling doch diese späteren Kapitel geschrieben hat, obgleich sich sein Verstand nicht bäumte bei der Behaup­tung: da ist in mir die Vorstellung «Pferd»; aber da drau­ßen existiert nicht das rechte wirkliche Pferd, sondern nur die « Summe jener Bedingungen, welche bewirken, daß sich

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in meinen Sinnen eine Anschauung erzeugt, die ich Pferd nenne». Denn man hat es hier wieder mit einer Behauptung zu tun, wie Carneri eine mit Bezug auf Materie, Stoff und Geist aussprach. Mit einer Behauptung, die über­wältigende Macht über einen Menschen bekommt, weil er so gar nicht sieht, in welch unmöglichen Gedanken er sich eingesponnen hat. Der ganze Hamerlingsche Gedankengang ist nicht mehr wert als dieser: Gewisse Wirkungen, die von mir ausgehen auf die Fläche einer belegten Glasscheibe, er­zeugen mein Bild im Spiegel. Es entsteht durch die von mir ausgehenden Wirkungen nichts, wenn kein Spiegel da ist. Außer dem Spiegel gibt es nur die Summe jener Bedingun­gen, welche bewirken, daß sich im Spiegel ein Bild erzeugt, das ich mit meinem Namen bezeichne. - Ich höre im Geiste alle Deklamationen über einen bis zur Frivolität gehenden philosophischen Dilettantismus, der es wagt, ernste wissen­schaftliche Philosophengedanken mit solch einem kindischen Einwand abzutun. Weiß ich doch, was seit Kant alles im Sinne dieser Gedanken beigebracht worden ist. Von dem Chor, von dem dies ausgeht, wird man nicht verstanden, wenn man spricht, wie es hier geschehen ist. Man muß sich an die unbefangene Vernunft wenden, die begreift, daß die Form der Gedankenführung in beiden Fällen dieselbe ist:

ob ich gegenüber der Vorstellung des Pferdes in der Seele das äußere Pferd wegdekretiere, oder ob ich gegenüber dem Bilde im Spiegel meine Existenz bezweifle. Auf ge­wisse erkenntnistheoretisch sein sollende Widerlegungen dieses Vergleiches braucht man nicht erst einzugehen. Denn was da vorgebracht würde über die doch ganz anderen Be­ziehungen der «Vorstellung zu dem Vorgestellten» als des Spiegelbildes zu dem sich Spiegelnden, steht für gewisse

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Erkenntnistheoretiker mit unbedingter Sicherheit fest; für andere Leser aber könnte eine entsprechende Widerlegung dieser Gedanken doch nur ein Gewebe von unfruchtbaren Abstraktionen sein. - Hamerling empfindet aus seinem gesunden Idealismus heraus, daß eine Idee, die in einer Weltanschauung Berechtigung haben soll, nicht nur richtig, sondern auch wirklichkeitsgemäß sein muß. (Ich muß hier durch die Vorstellungen mich ausdrücken, die ich in den Ausführungen dieser Schrift über Karl Christian Planck gekennzeichnet habe.) Wäre er weniger durch die angedeu­tete Denkweise suggestiv beeinflußt gewesen, so hätte er bemerkt, daß in Gedanken, wie diejenigen, die er für notwendig hält, trotzdem «der Verstand wie ein scheues Pferd» sich davor bäumt, nichts Wirklichkeitsgemäßes steckt. Sie entstehen in der menschlichen Seele, wenn diese von wirklichkeitfremdem Abstraktionssinn angekränkelt, sich dem Fortspinnen von Gedanken überläßt, die in sich zwar logisch zusammenhängend sind, in denen aber keine geistige Wirklichkeit lebendig waltet. Aber eben der ge­sunde Idealismus führt Hamerling in den weiteren Gedan­ken seiner Willensatomistik über das Gedankengewebe hin­aus, das er in den Anfangskapiteln dargestellt hat. Beson­ders deutlich wird dies da, wo er von dem menschlichen «Ich» im Zusammenhange mit dem Seelenleben spricht. Man sehe, wie Hamerling sich zu dem « Ich denke, also bin ich» des Descartes verhält. Fichtes Vorstellungsart (von der in den Ausführungen dieser Schrift über Fichte gesprochen ist) wirkt wie ein leise mitklingender Grundton in den schönen Worten auf Seite 223 des ersten Bandes der «Atomistik des Willens». «Das Cogito ergo sum des Car­tesius (Descartes) bleibt aller Begriffshaarspalterei zum

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Trotz, welche an ihm nergelt, der zündende Lichtblitz aller modernen Spekulation. Aber dies ist, genau genommen, nicht darum gewiß, weil ich denke, sondern weil ich sage, daß ich denke. Die Folgerung würde gleiche Gewißheit haben, auch wenn ich die Prä­misse in ihr Gegenteil verkehrte und sagte: Um dies sagen zu können, muß ich existieren.» Bei Besprechung von Fichtes Weltansicht ist in dieser Schrift gesagt, daß gegenüber dem Schlafzustand der Satz «ich denke, also bin ich» nicht zu halten ist. Man muß die Gewißheit vom Ich ergreifen so, daß diese Ge­wißheit nicht durch die Innenwahrnehmung «Ich denke»erschöpft erscheinen kann. Hamerling empfindet dieses; deshalb sagt er, es gelte auch das: «Ich denke nicht, somit bin ich.» Er sagt es, weil er fühlt: im menschlichen Ich wird etwas erlebt, das die Gewißheit seines Daseins nicht vom Denken empfängt, sondern dem Denken vielmehr seine Gewißheit gibt. Das Denken wird von dem wahren Ich in gewissen Zuständen entfaltet; das Erleben des Ich ist aber von der Art, daß sich die Seele durch dasselbe in eine Geistwirklichkeit versenkt fühlen kann, in der sie ihr Dasein auch für andere Zustände verankert weiß als die sind, für welche das «Ich denke, also bin ich» des Des­cartes gilt. Alles dies aber beruht darauf, daß Hamerling weiß: wenn das «Ich» denkt, so lebt in seinem Denken der Lebenswille. Das Denken ist gar nicht bloß Denken; es ist gewolltes Denken. «Ich denke» ist als Gedanke ein bloßes Gespinst, das nie und nirgends da ist. Es ist immer nur das «Ich denke wollend» da. Wer an das Gespinst:

«Ich denke» glaubt, der kann sich damit absondern von der gesamten Geisteswelt; und dann entweder zum Beken­ner

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des Materialismus werden oder zum Zweifler an der Wirklichkeit der Außenwelt. Zum Materialisten wird er, wenn er von dem in seinen Grenzen voll berechtigten Ge­danken sich einfangen läßt, daß zum Denken, wie es Des­cartes im Sinne hat, die Nervenwerkzeuge notwendig sind. Zum Zweifler an der Wirklichkeit der Außenwelt wird er, wenn er in den - wieder innerhalb gewisser Grenzen be­rechtigten - Gedanken sich verwickelt, daß alles Denken über die Dinge doch in der Seele erlebt wird; man also mit seinem Denken doch nie an eine an sich bestehende Außen­welt herankommen könnte, auch wenn diese Außenwelt existierte. Wer den Willen in allem Denken bemerkt, der kann, wenn er zur Abstraktion neigt, nun allerdings den Willen vom Denken begrifflich absondern und im Stile Schopenhauers von einem Willen sprechen, der in allem Weltdasein walten soll, und der das Denken wie Schaum-wellen an die Oberfläche der Lebenserscheinungen treibt. Wer aber die Einsicht hat, daß nur das «Ich denke wol­lend» Wirklichkeit hat, der denkt in der menschlichen Seele Wille und Denken so wenig getrennt, wie er bei einem Menschen Kopf und Leib getrennt denkt, wenn er den Gedanken von einer Wirklichkeit haben will. Ein sol­cher weiß aber auch, daß er mit dem Erleben eines vom Willen getragenen erlebten Denkens aus den Grenzen sei­ner Seele herausgeht und in das Erleben des auch durch seine Seele pulsierenden Weltgeschehens eintritt. Und in der Richtung nach einer solchen Weltanschauung bewegt sich Hamerling. Nach einer Weltanschauung, die weiß, daß sie mit einem wirklichen Gedanken ein Erlebnis des Welten-willens in sich hat; nicht bloß ein Erlebnis des eigenen « Ich». Einer Weltanschauung strebt Hamerling zu, die

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nicht in das Chaos einer Willensmystik sich verirrt, die vielmehr in der Klarheit der Ideen den Weltenwillen er­leben will. - Mit diesem Ausblick auf den durch die Ideen erschauten Weltenwillen weiß sich nun Hamerling stehend in dem Mutterboden des deutschen Weltanschauungs-Idea­lismus. Seine Gedanken erweisen sich vor ihm selber als wurzelnd im deutschen Volkstum, das schon in Jakob Böhme in elementarischer Art nach Erkenntnis rang. Auf Seite 259 f. von Hamerlings «Atomistik des Willens» liest man: «Den Willen zum obersten philosophischen Prinzip zu machen, ist - was man bisher übersehen zu haben scheint - ein vorzugsweise deutscher Gedanke, ein Kerngedanke des deutschen Geistes. Von den deutschen Naturphilosophen des Mittelalters bis zu den Klassikern der deutschen Spekulation und bis herab zu Schopenhauer und Hartmann durchzieht dieser Gedanke, bald mehr, bald weniger hervortretend, oft nur gleichsam auf einen Augen­blick hervortretend, um dann in den gärenden Ideenmassen unserer Denker wieder zu verschwinden, die Philosophie des deutschen Volkes. Und so war es auch der , der in Wahrheit deutscheste und tiefste aller modernen Philosophen, der in seiner tiefsinnigen originellen Bildersprache den Willen zuerst ausdrücklich als das Absolute, als die Einheit erfaßte . . . » Und um noch auf einen anderen deutschen Denker dieser Richtung hin­zuweisen, führt Hamerling Worte Jacobis, des Zeitgenos­sen Goethes, an: «Erfahrung und Geschichte lehren, daß des Menschen Tun viel weniger von seinem Denken, als sein Denken von seinem Tun abhängt; daß seine Begriffe sich nach seinen Handlungen richten und sie gewissermaßen nur abbilden, daß also der Weg der Erkenntnis ein geheimnisvoller

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Weg ist - kein syllogistischer - kein mecha­nischer.» - Weil Hamerling aus dem Grundton seiner Seele heraus ein Empfinden dafür hat, daß zur bloßen logischen Richtigkeit einer Idee deren Wirklichkeitsgemäßheit hin-zukommen muß, kann er auch die Lebensansichten der pes­simistischen Philosophen nicht gelten lassen, die durch abstrakt-begriffliches Abwägen bestimmen wollen, ob die Lust oder die Unlust im Leben überwiege, dieses also als Gut oder als Übel angesehen werden müsse. Nein, darüber entscheidet nicht das zur Theorie gewordene Nachdenken; darüber wird in viel tieferen Gründen des Lebens ent­schieden, in Tiefen, die über dieses Nachdenken zu richten haben; aber sich nicht von ihm richten lassen. Darüber sagt Hamerling: « Die Hauptsache ist nicht, ob die Menschen recht haben, daß sie alle, mit verschwindend kleinen Aus­nahmen, leben wollen, leben um jeden Preis, gleichviel, ob es ihnen gut ergeht oder schlecht. Die Hauptsache ist, daß sie es wollen, und dies ist schlechterdings nicht zu leugnen. Und doch rechnen mit dieser entscheidenden Tatsache die doktrinären Pessimisten nicht Sie wägen immer nur in gelehrten Erörterungen Lust und Unlust, wie es das Leben im besonderen bringt, verständig gegeneinander ab; aber da Lust und Unlust Gefühlssache, so ist es das Gefühl und nicht der Verstand, welcher die Bilanz zwischen Lust und Unlust endgültig und entscheidend zieht. Und diese Bilanz fällt tatsächlich bei der gesamten Menschheit, ja man kann sagen, bei allem, was Leben hat, zugunsten der Lust des Daseins aus. Daß alles, was da lebt, leben will, leben unter allen Umständen, leben um jeden Preis, das ist die große Tatsache, und dieser Tatsache gegenüber ist alles doktrinäre Gerede machtlos. » In die geistige Wirklichkeit hinein sucht

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Hamerling den Weg in einer ähnlichen Art, wie ihn die Denker von Fichte bis Planck gesucht haben, die in dieser Schrift geschildert sind. Nur ist er bestrebt, der naturwissenschaftlichen Vorstellung in einem höheren Grade Recht widerfahren zu lassen, als dies etwa Schelling oder Hegel vermochten. Nirgends verstößt die «Atomistik des Willens» gegen die Forderungen des naturwissenschaft­lichen Weltbildes. Überall aber ist sie durchdrungen von der Einsicht, daß dieses Weltbild nur ein Glied der Wirk­lichkeit darstellt. Sie beruht auf der Anerkennung des Ge­dankens, daß man sich dem Glauben an eine unwirkliche Welt hingibt, wenn man es ablehnt, die Kräfte einer geisti­gen Welt in die Gedankenwelt aufzunehmen. (Ich ge­brauche hier das Wort unwirklich in dem Sinne, wie es bei der Besprechung von Planck angewendet ist.)

In welch einem hohen Sinne Hamerlings Denken wirk­lichkeitsgemäß war, dafür spricht eindringlich seine sati­rische Dichtung «Homunculus» . In dieser zeichnet er mit großer dichterischer Kraft den Menschen, der selber seelenlos wird, weil zu seiner Erkenntnis nicht Seele und Geist sprechen. Was würde aus Menschen, die einer solchen Welt­ordnung wirklich entstammten, wie sie die naturwissen­schaftliche Vorstellungsart dann sich als Glaubensbekennt­nis zurechtlegt, wenn sie eine geistgemäße Weltanschauung ablehnt? Was wäre der Mensch, wenn das Unwirkliche dieser Vorstellungsart wirklich wäre? So etwa könnte man die Fragen stellen, die im « Homunculus» ihre künstlerische Antwort finden. Homunculismus müßte sich einer solchen Menschheit bemächtigen, die nur an eine im Sinne der mechanischen Naturgesetze gezimmerte Welt glaubte. Auch bei Hamerling zeigt sich, wie der zu den Ideen des Daseins

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Strebende den gesünderen Blick hat für das praktische Leben dem gegenüber, der geistesscheu vor der Ideen­welt zurückzuckt und sich dadurch als rechter «Wirklich­keitsmensch» fühlt. An Hamerlings Homunculus könnten diejenigen gesunden, die gerade in der Gegenwart sich von der Meinung verführen lassen, daß Naturwissenschaft die einzige Wissenschaft vom Wirklichen sei. Solche sprechen in ihrer Geistesscheu davon, daß ein heute, wie sie meinen, überwundener Idealismus der klassischen Zeit des Denkens den homo sapiens zu sehr in den Vordergrund gerückt habe. «Wahre Wissenschaft» müsse erkennen, daß der Mensch als homo öconomus innerhalb der Welt- und Men­schenordnung vor allem zu betrachten sei. «Wahre Wissen­schaft» ist für solche Menschen allein die aus der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart entsprossene. Homun­culismus entsteht aus solchem Glauben. Die ihn vertreten, ahnen nicht, wie sie dem Homunculismus zustreben. Ha­merling hat mit dem Seherblick des Erkennenden diesen Homunculismus gezeichnet. Daß durch die rechte Schät­zung des «homo sapiens» im Sinne Hamerlings nicht eine Überschätzung des Literatentums gezeugt wird, das kön­nen aus dem «Homunculus» auch diejenigen ersehen, welche sich vor solcher Überschätzung fürchten.

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AUSBLICKE

Auf die Entwickelungskeime, die sich in den Weltanschauungen einer Reihe von Denkern von Fichte bis Hamerling ankündigen, sollte in dieser Schrift hingedeutet werden. Die Betrachtung dieser Keime ruft die Empfin­dung hervor, daß diese Denker aus einem Quell des geisti­gen Erlebens schöpfen, aus dem noch vieles fließen kann, was sie noch nicht herausgeholt haben. Weniger scheint es darauf anzukommen, Zustimmung oder Ablehnung zu hegen zu dem, was sie ausgesprochen haben; als vielmehr darauf, die Art ihres Erkenntnisstrebens, die Richtung ihres Weges zu verstehen. Man kann dann die Ansicht ge­winnen, daß in dieser Art, in dieser Richtung etwas liegt, das mehr ein Versprechen denn eine Erfüllung ist. Doch ein Versprechen, das durch die ihm innewohnende Kraft die Bürgschaft seiner Erfüllung in sich trägt. - Daraus gewinnt man ein Verhältnis zu diesen Denkern, das nicht das eines Bekenntnisses zu den Dogmen ihrer Weltanschau­ung ist; sondern ein solches, das zur Einsicht führt, daß auf Wegen, auf denen sie wandelten, lebendige Kräfte des Suchens nach Erkenntnissen liegen, die in dem von ihnen Anerkannten sich nicht ausgewirkt haben, sondern über dieses hinausführen können. - Das braucht nun nicht die Meinung herbeizuführen: man müsse zurück zu Fichte, zu­rück zu Hegel und so weiter gehen in der Hoffnung, daß, wenn man von ihren Ausgangspunkten aus richtigere Wege einschlägt als sie, man dadurch zu besseren Ergebnissen komme. - Nein, nicht darauf kann es ankommen, sich so von diesen Denkern «anregen» zu lassen, sondern darauf, den Zugang zu gewinnen zu den Quellen, aus denen sie

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schöpften, und zu erkennen, was in diesen Quellen selbst an anregenden Kräften trotz der Arbeit dieser Denker noch verborgen ist.

Ein Blick auf den Geist der neueren naturwissenschaft­lichen Vorstellungsart kann fühlen lassen, inwiefern der in den charakterisierten Denkern lebende Weltanschauungs­-Idealismus ein «Versprechen»ist, das auf Erfüllung weist.

- Diese naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat durch ihre Ergebnisse in einer gewissen Richtung die Tragkraft der von ihr angewandten Erkenntnismittel erwiesen. Man kann diese Vorstellungsart ihrem Wesen nach schon vor­gezeichnet finden bei einem Denker, der im Anfange ihrer Entwickelung gewirkt hat, bei Galilei. (In schönster Art hat die Bedeutung Galileis Laurenz Müllner, der öster­reichische Philosoph und katholische Priester, besprochen in seiner Rektoratsrede von 1894 an der Wiener Univer­sität.) Was bei Galilei schon angedeutet ist, findet sich aus­gebildet in den Forschungsrichtungen der neueren naturwissenschaftlichen Denkweise. Sie hat ihre Bedeutung da­durch erlangt, daß sie die Welterscheinungen, welche auf dem Felde der Sinnesbeobachtung auftreten, in ihren ge­setzmäßigen Zusammenhängen rein für sich sprechen läßt, und in das, was sie für die Erkenntnis zuläßt, nichts von dem hineinfließen lassen will, was die menschliche Seele an diesen Erscheinungen erlebt. Welche Ansicht man auch haben mag über das naturwissenschaftliche Weltbild, das heute in Erfüllung dieser Erkenntnisforderung schon mög­lich, oder erreicht ist: das kann nicht beeinträchtigen, daß man die Tragkraft dieser Forderung für ein berechtigtes Bild des Naturdaseins anerkennt. Wenn der Bekenner einer idealistischen oder geisteswissenschaftlichen Weltanschauung

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gegenwärtig dieser Forderung ablehnend gegenüber­steht, so offenbart er damit entweder, daß er den Sinn der­selben nicht versteht, oder daß mit seiner dem Geiste Rech­nung tragenden Ansicht selbst etwas nicht in Ordnung ist. Wahrer geistgemäßer Weltanschauung gegenüber aber ge­ben sich die Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstel­lungsart zumeist dem Mißverständnisse hin, daß durch solche Weltanschauung irgend etwas von dem in Frage ge­stellt werde, was Ergebnis der Naturwissenschaft ist.

Es zeigt sich für denjenigen, der in den wahren Sinn der neueren Naturwissenschaft eindringt, daß diese nicht die Erkenntnis der geistigen Welt untergräbt, sondern diese Erkenntnis stützt und sichert. Man wird zu dieser Ansicht nicht dadurch kommen können, daß man aus allerlei theo­retischen Erwägungen heraus sich zum Gegner einer Er­kenntnis der Geisteswelt heranphantasiert, sondern viel­mehr dadurch, daß man seinen Blick richtet auf das, was das naturwissenschaftliche Weltbild einleuchtend und be­deutsam macht. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart schließt aus allem, was sie betrachtet, dasjenige aus, was an dem Betrachteten durch das Innenwesen der Menschenseele erlebt wird. Wie die Dinge und Vorgänge untereinander zusammenhängen, das erforscht sie. Was die Seele durch ihr Innenwesen an den Dingen erleben kann, dient nur da­zu, zu offenbaren, wie die Dinge sind, abgesehen von den Innenerlebnissen. Dadurch kommt das Bild des rein natür­lichen Geschehens zustande. Es wird sogar dieses Bild um so besser seine Aufgabe erfüllen, je mehr die Ausschließung des Innenlebens gelingt. Man muß nun aber auf die charak­teristischen Züge dieses Bildes sehen. Was in dieser Art als Naturbild vorgestellt wird, kann gerade dann, wenn es

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das Ideal naturwissenschaftlicher Erkenntnis erfüllt, nicht etwas in sich tragen, was jemals von einem Menschen - oder sonst einem seelischen Wesen - wahrgenommen werden könnte. Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart muß ein Weltbild liefern, das den Zusammenhang der Naturtatsachen erklärt, dessen Inhalt aber unwahrnehm­bar bleiben müßte. Wäre die Welt so, wie sie die reine Naturwissenschaft vorstellen muß, so könnte diese Welt nie innerhalb eines Bewußtseins als Vorstellungsinhalt auf­tauchen. Hamerling meint: «Gewisse Luftschwingungen er­zeugen in unserem Ohr den Klang. Der Klang existiert also nicht ohne ein Ohr. Der Flintenschuß würde also nicht knallen, wenn ihn niemand hörte.» Hamerling hat unrecht, weil er die Bedingungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes nicht durchschaut. Durchschaute er sie, so würde er sagen: die Naturwissenschaft muß, wenn ein Klang auf­tritt, etwas vorstellen, was auch dann nicht klingen würde, wenn ein Ohr bereit wäre, es klingen zu hören. Und die Naturwissenschaft tut recht damit. Der Naturforscher Du Bois-Reymond drückt sich darüber (1872) in seinem Vortrage: «Über die Grenzen des Naturerkennens» ganz treffend aus: «Stumm und finster an sich, d.h. eigenschafts­los» ist die Welt für die durch die naturwissenschaftliche Betrachtung gewonnene Anschauung, welche «statt Schall und Licht nur Schwingungen eines eigenschaftslosen, dort zur wägbaren, hier zur unwägbaren Materie gewordenen Urstoffes kennt», aber er schließt daran die Worte: «Das mosaische: Es werde Licht, ist physiologisch falsch. Licht ward erst, als der erste rote Augenpunkt eines Infusoriums zum erstenmal Hell und Dunkel unterschied. Ohne Seh- und ohne Gehörsubstanz wäre diese farbenglühende, tönende

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Welt um uns her finster und stumm.» Nein, diesen zweiten Satz kann eben derjenige nicht sagen, welcher die ganze Tragweite des ersten kennt. Denn die Welt, deren Bild die Naturwissenschaft mit Recht entwirft, bliebe «stumm und finster», auch wenn sich ihr eine Seh- oder Gehörsubstanz gegenüberstellte. Man täuscht sich darüber nur deshalb, weil die wirkliche Welt, aus der heraus man das Bild der «stummen und finsteren» gewonnen hat, nicht stumm und finster bleibt, wenn man in ihr wahrnimmt. Aber ich soll von diesem Bilde ebensowenig erwarten, daß es der wirklichen Welt entspricht, wie ich von dem Bilde meines Freun­des, das ein Maler gemalt hat, erwarten kann, daß mir der Freund daraus entgegentritt. Man sehe sich nur die Sache von allen Seiten unbefangen an; man wird schon finden: wäre die Welt so, wie die Naturwissenschaft sie zeichnet: von dieser Welt würde niemals ein Wesen etwas erfahren. Die Welt der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ist allerdings in der Wirklichkeit gewissermaßen dort, woher der Mensch seine Sinneswelt wahrnimmt; allein sie wird ohne alles das vorgestellt, wodurch sie für irgend ein We­sen wahrnehmbar sein könnte. Was diese Vorstellungsart als dem Licht, dem Ton, der Wärme zum Grunde legen muß, das leuchtet nicht, tönt nicht, wärmt nicht. Man weiß nur aus dem Erleben, daß man die Vorstellungen dieser Denkart von dem Leuchtenden, Tönenden, Wärmenden genommen hat; deshalb lebt man in dem Glauben, daß auch das Vorgestellte ein Leuchtendes, Tönendes, Wärmendes sei. Am schwersten ist die Täuschung für den Tastsinn zu durchschauen. Da scheint zu genügen, daß das Stoffliche eben als Stoffliches ausgedehnt sei, um durch den Wider­stand die Tastwahrnehmung zu erregen. Allein auch ein

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Stofflich-Ausgedehntes kann nur stoßen; nicht aber kann der Stoß empfunden werden. Der Schein trügt hier am meisten. Man hat es aber doch nur mit einem Schein zu tun. Auch das den Tastempfindungen zugrunde liegende ist nicht tastbar. Es sei noch ausdrücklich hervorgehoben, daß hier nicht bloß gesagt wird: die hinter der Sinnesemp­findung liegende Welt sei eben anders, als was aus ihr die Sinne machen; es wird vielmehr betont, diese Welt müsse von der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart so gedacht werden, daß die Sinne aus ihr nichts machen könnten, wenn sie in Wirklichkeit das wäre, als was sie gedacht wird. Aus der Beobachtung heraus holt die Naturwissenschaft ein Weltbild, das durch seine eigene Wesenheit gar nicht be­obachtet werden kann*.

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#FN020-152 *Wenn jemand der oben gegebenen Darstellung mit dem Einwand begegnen wollte, sie berücksichtigte die Ergebnisse der Sinnes-Physio­logie nicht, so würde er damit nur zeigen, daß er die Tragweite dieser Darstellung nicht richtig wertet. Ein solcher könnte nämlich sagen: aus der finsteren und stummen Welt erheben sieh Bildungen, die sich immer weiter vermannigfaltigen und zuletzt zu Organen werden, durch deren Funktion z. B. die «finstern Ätherwellen» in Licht umgesetzt werden. Doch damit ist nicht etwas gesagt, das durch die hier gegebene Dar­stellung nicht betroffen würde. In dem Bilde der «finstern Welt» ist das Auge verzeichnet; aber durch kein Auge kann als wahrnehmbar gedacht werden, was durch seine eigene Wesenheit als unwahrnehm­bar gedacht werden muß. - Man könnte vielleicht auch meinen, diese Darstellung berücksichtige nicht, daß das neueste naturwissenschaftliche Weltbild nicht mehr auf dem Boden stehe, auf dem noch z. B. Du Bois­-Reymond gestanden hat. Man erwarte nicht mehr so viel wie dieser und seine wissenschaftlichen Gesinnungsgenossen von einer «Mechanik der Atome», von einer Zurückführung «aller Naturerscheinungen auf Bewegungen kleinster Materieteile » usw. In den Anschauungen von E. Mach, dem Physiker Max Planck und anderen seien diese älteren Theorien überwunden. Doch das in dieser Schrift Gesagte gilt auch von diesen neuesten Anschauungen. Daß z. B. Mach das Feld der Naturforschung auf die Sinnesempfindung aufbauen will, zwingt ihn gerade, in sein Weltbild nur dasjenige von der Natur aufzunehmen, was sei­nem Wesen nach niemals als wahrnehmbar gedacht werden kann. Er geht von der Sinnesempfindung zwar aus, kann aber nicht wieder mit seinen Ausführungen in einer wirklichkeitgemäßen Art zu ihr zurück­kommen. Wenn Mach von Empfindung spricht, deutet er auf dasjenige, was empfunden wird; aber er muß, indem er den Gegenstand der Empfindung denkt, ihn vom «Ich» absondern. Er bemerkt nun nicht, daß er eben dadurch etwas denkt, was nicht mehr empfunden werden kann. Er zeigt dies dadurch, daß in seiner Empfindungswelt der Ich-Begriff völlig zerflattert. Das «Ich» wird bei Mach zum mythischen Begriff. Er verliert das «Ich». Weil er, trotzdem er sich dessen nicht bewußt ist, doch unbewußt gezwungen ist, seine Empfindungswelt unempfindbar zu denken, wirft sie ihm das Empfindende - das Ich - aus sich heraus. Dadurch wird gerade Machs Ansicht zu einem Beweis für das hier Angeführte. Und Max Plancks, des Physiktheoretikers An­sichten, sind das beste Beispiel für die Richtigkeit der obigen Darstel­lung. Es darf sogar gesagt werden, daß die neuesten Gedanken über Mechanik und Elektrodynamik sich immer mehr noch der Richtung zubewegen, die hier als notwendig bezeichnet wird: aus der Wahr­nehmungswelt heraus ein Bild einer Welt zu zeichnen, die nicht wahr­nehmbar ist.

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Was hier vorliegt, ist in einem weltgeschichtlichen Augen­blicke der Geistesentwickelung zutage getreten: damals, als Goethe aus der in seiner ganzen Natur gelegenen Welt­anschauung des deutschen Idealismus heraus die Farben­lehre Newtons ablehnte. (Der Verfasser dieser Schrift sucht seit fast drei Jahrzehnten in verschiedenen Schriften auf diesen entscheidenden Punkt in der Beurteilung von Goethes Farbenlehre hinzuweisen. Allein es gilt auch gegenwär­tig noch, was er in einem 1893 im Frankfurter «Freien deutschen Hochstifte» gehaltenen Vortrage sagte: «Die Zeit wird kommen, in der auch für diese Frage die wissen­schaftlichen Voraussetzungen zu einer Verständigung der Forscher vorhanden sein werden. Gegenwärtig bewegen sich

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gerade die physikalischen Untersuchungen in einer Richtung, die zu Goetheschem Denken nicht führen kann.») - Goethe verstand, daß Newtons Farbenlehre nur ein Bild einer Welt liefern könne, die nicht leuchtet und nicht in Farben erstrahlt. Da er auf die Bedingungen eines rein naturwissen­schaftlichen Weltbildes sich nicht einließ, so ist seine tat­sächliche Gegnerschaft gegen Newton an manchen Stellen schief geraten. Die Hauptsache aber ist, daß er ein rechtes Gefühl von dem hatte, was zugrunde liegt. Wenn der Mensch durch das Licht Farben beobachtet, so steht er einer anderen Welt gegenüber als die ist, welche Newton allein zu beschreiben vermag. Und Goethe beobachtete die wirk­liche Welt der Farben. Betritt man aber ein solches Gebiet, sei es das der Farben oder anderer Naturerscheinungen, so bedarf man anderer Ideen als diejenigen sind, die in die «finstere und stumme Welt» des Bildes der naturwissen­schaftlichen Vorstellungsart gezeichnet sind. Mit diesem Bilde ist keine Wirklichkeit gezeichnet, die wahrgenommen werden kann». Die wirkliche Natur enthält eben einfach schon in sich, was in dieses Bild nicht aufgenommen wer­den kann». Die «finstere Welt» des Physikers könnte von keinem Auge wahrgenommen werden; das Licht ist schon geistig. Im Sinnlichen waltet das Geistige*. Dieses Geistige mit den Mitteln der Naturforschung ergreifen zu wollen, hieße in demselben Irrtum leben, wie wenn man als Maler von sich verlangen wollte, einen Menschen zu malen, der

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#FN020-153 *Dasjenige, was man gegenwärtig Relativitätstheorie nennt, muß an Vorstellungen dieser Art orientiert werden; sonst kommt es nicht aus dem Logisch-Theoretischen zu wirklichkeitsgemäßen Ideen, in dem Sinne, wie in dieser Schrift der Begriff des «Wirklichkeitsgemäßen» bei Schilderung von Plancks Ansichten charakterisiert worden ist.

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in der Welt umhergeht. Goethe bewegte sich auch als Phy­siker auf dem Boden des Geistigen: Die Weltanschauung, für die er das Wort «geistgemäß» angewendet hat, machte es ihm unmöglich, in Newtons Farbenlehre etwas von Ideen über wirkliches Licht und wirkliche Farben zu finden. Aber man findet nicht mit der naturwissenschaftlichen Vorstel­lungsart den Geist in der Sinneswelt. Daß die Weltanschau­ung des deutschen Idealismus dafür eine richtige Empfin­dung hatte, ist eines ihrer wesentlichen Kennzeichen. Möge das, was die eine oder die andere Persönlichkeit aus dieser Empfindung heraus gesprochen hat, auch erst ein Keim sein für eine vollständige Pflanze: der Keim ist vorhanden und hat in sich die Kraft seiner Entfaltung.

Doch muß zu der Einsicht, daß in der Sinneswelt Geist ist, der nicht durch die naturwissenschaftliche Vorstellungs­art zu ergreifen ist, noch eine andere hinzukommen. Die­jenige nämlich, daß die neuere Naturwissenschaft die Ab­hängigkeit des gewöhnlichen, in der Sinneswelt verlaufen­den menschlichen Seelenlebens von den Werkzeugen des Leibes entweder schon gezeigt hat, oder auf dem Wege ist, sie zu zeigen. Man betritt da ein Gebiet, auf dem man, wie mit ganz selbstverständlichen Einwänden, scheinbar ver­nichtend widerlegt werden kann, wenn man sich zu dem Dasein einer selbständigen geistigen Welt bekennt. Denn was könnte einleuchtender sein, als daß das Seelenleben des Menschen sich von Kindheit auf so entfaltet, wie sich die physischen Organe heranbilden, daß es verfällt in dem Maße, in dem die Organe altern. Was ist einleuchtender, als daß die Lähmung gewisser Gehirnpartien auch den Wegfall gewisser geistiger Fähigkeiten bedingt. Was scheint also einleuchtender zu sein, als daß alles Seelisch-Geistige

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an die Materie gebunden sei und ohne dieselbe keinen Bestand haben kann, wenigstens keinen solchen, von dem der Mensch wissen könne. Man braucht nicht einmal die glänzenden Ergebnisse der neueren Naturwissenschaft zu Rate zu ziehen; das Selbstverständliche dieser Behauptung hat schon in genügend richtiger Art De la Mettrie 1746 in «Der Mensch, eine Maschine» (L'homme machine) aus­gesprochen. Dieser französische Denker sagt: «Wenn es einem Schwachsinnigen, wie man gewöhnlich beobachten kann, nicht an Gehirn fehlt, so wird die schlechte Beschaf­fenheit dieses Eingeweides, z. B. seine zu große Weichheit, daran schuld sein. Dasselbe gilt von Narren; die Fehler ihres Gehirns bleiben unseren Nachforschungen nicht im­mer verborgen; wenn aber die Ursachen des Schwachsinns und der Narrheit und so weiter nicht immer erkennbar sind, wo soll man da die Ursachen der Verschiedenheit aller Geister suchen? Sie würden Luchs- und Argusaugen ent­gehen. Ein Nichts, eine kleine Faser, ein Ding, das auch die feinste Anatomie nicht entdecken kann, würde aus Erasmus und Fontenelle zwei Toren gemacht haben, eine Bemerkung, die letzterer selbst in einem seiner besten Dia­loge macht» (nach der deutschen Übersetzung von Max Brahn). Nun, der Bekenner einer geistgemäßen Welt­anschauung würde wenig Einsicht verraten, wenn er das Schlagende, das Selbstverständliche einer solchen Behaup­tung nicht zugäbe. Er kann sogar diese Behauptung noch verschärfen und sagen: hätte die Welt jemals bekommen, was der Geist des Erasmus bewirkt hat, wenn seinen Leib irgend jemand erschlagen hätte, da Erasmus noch ein Knabe war? - Wenn eine geistgemäße Weltanschauung darauf angewiesen wäre, solch selbstverständliche Tatsachen nicht

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anzuerkennen, oder ihre Bedeutung auch nur abzuschwä­chen, so wäre es schlecht um sie bestellt. Aber es kann eine solche Weltanschauung in Gründen wurzeln, die ihr von kei­nem materialistischen Einwand entzogen werden können.

Zunächst ist das seelische Erleben des Menschen, wie es sich im Denken, Fühlen und Wollen offenbart, an die leib­lichen Werkzeuge gebunden. Und es gestaltet sich so, wie es durch diese Werkzeuge bedingt ist. Wer aber meint, er sehe das wirkliche Seelenleben, wenn er die Äußerungen der Seele durch den Leib beobachtet, der ist in demselben Fehler befangen, wie einer, der glaubt, seine Gestalt werde von dem Spiegel hervorgebracht, vor dem er steht, weil der Spiegel die notwendigen Bedingungen enthalte, durch die sein Bild erscheint. Dieses Bild ist sogar in gewissen Grenzen als Bild von der Form des Spiegels und so weiter abhängig; was es aber darstellt, das hat mit dem Spiegel nichts zu tun. Das menschliche Seelenleben muß, um inner­halb der Sinneswelt sein Wesen voll zu erfüllen, ein Bild seines Wesens haben. Dieses Bild muß es im Bewußtsein haben; sonst würde es zwar ein Dasein haben; aber von diesem Dasein keine Vorstellung, kein Wissen. Dieses Bild, das im gewöhnlichen Bewußtsein der Seele lebt, ist nun völlig bedingt durch die leiblichen Werkzeuge. Ohne diese würde es nicht da sein, wie das Spiegelbild nicht ohne den Spiegel. Was aber durch dieses Bild erscheint, das Seelische selbst, ist seinem Wesen nach von den Leibeswerkzeugen nicht abhängiger als der vor dem Spiegel stehende Be­schauer von dem Spiegel. Nicht die Seele ist von den Lei­beswerkzeugen abhängig, sondern allein das gewöhnliche Bewußtsein der Seele. Die materialistische Ansicht von der menschlichen Seele verfällt einer Täuschung, die dadurch

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bewirkt wird, daß das gewöhnliche Bewußtsein, das nur durch die Leibeswerkzeuge da ist, mit der Seele selbst ver­wechselt wird. Das Wesen der Seele fließt so wenig in dieses gewöhnliche Bewußtsein hinein, wie mein Wesen in ein Spiegelbild hineinfließt. Dieses Wesen der Seele kann also auch nicht in dem gewöhnlichen Bewußtsein gefunden werden; es muß außerhalb dieses Bewußtseins erlebt wer­den. Und es kann erlebt werden, denn der Mensch kann noch ein anderes Bewußtsein in sich entwickeln als das­jenige, das durch die Leibeswerkzeuge bedingt ist.

Der aus der Weltanschauung des deutschen Idealismus hervorgegangene Denker Eduard von Hartmann hat nun klar erkannt, daß das gewöhnliche Bewußtsein ein Ergeb­nis der Leibeswerkzeuge ist und daß die Seele selbst in diesem Bewußtsein nicht enthalten ist. Er hat aber nicht erkannt, daß die Seele ein anderes von den Leibeswerk­zeugen unabhängiges Bewußtsein entwickeln kann, durch das sie sich selbst erlebt. Daher meinte er, dieses Seelenwesen läge in einem Unbewußten, über das man sich nur Vorstellungen machen könne, wenn man von dem gewöhn­lichen Bewußtsein aus Schlüsse auf ein eigentlich unbekannt bleibendes «Ding an sich» der Seele ziehe. Aber damit ist Hartmann, wie mancher seiner Vorgänger, auch vor der Schwelle stehen geblieben, die überschritten werden muß, wenn eine Erkenntnis der geistigen Welt mit einer sicheren Grundlage erreicht werden soll. Man kommt eben nicht über diese Schwelle, wenn man davor zurückschreckt, den Seelenkräften eine ganz andere Richtung zu geben, als sie unter dem Einfluß des gewöhnlichen Bewußtseins haben. Die Seele erlebt ihr eigenes Wesen innerhalb dieses Bewußt­seins nur in den Bildern, die ihr von den Leibeswerkzeugen

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erzeugt werden. Könnte sie nur so erleben, so wäre sie in einer Lage, die sich vergleichen ließe mit der eines Wesens, das vor einem Spiegel steht und nur sein Bild sehen, von sich selbst aber nichts erleben kann. In dem Augenblicke aber, in dem dieses Wesen sich selber lebendig-offenbar würde, träte es in ein ganz anderes Verhältnis zum Spiegelbilde als sein voriges war. - Wer sich nicht entschließen kann, in seinem Seelenleben etwas anderes zu entdecken, als ihm durch das gewöhnliche Bewußtsein geboten wird, der wird entweder in Abrede stellen, daß das Wesen der Seele erkennbar ist, oder er wird geradezu erklären, dieses Wesen sei vom Leibe erzeugt. - Man steht hier vor einer anderen Schranke, welche die naturwissenschaftliche Vor­stellungsart aus ihren durchaus berechtigten Forderungen heraus aufrichten muß. Die erste ergab sich dadurch, daß diese Forderungen das Bild einer Welt zeichnen müssen, die niemals durch eine Wahrnehmung in ein Bewußtsein eintreten könnte. Die zweite entsteht, weil das naturwis­senschaftliche Denken mit Recht von den Erlebnissen des gewöhnlichen Bewußtseins behaupten muß, daß sie durch die Leibeswerkzeuge zustande kommen, also in Wirklich­keit nichts von einer Seele enthalten. Es ist durchaus be­greiflich, daß sich das neuere Denken zwischen diese zwei Schranken gestellt fühlt, und aus wissenschaftlicher Ge­wissenhaftigkeit heraus an der Möglichkeit zweifelt, zu einer Erkenntnis der wirklichen geistigen Welt zu kom­men, die weder durch das Bild einer «stummen und fin­steren» Natur, noch durch die vom Leibe abhängigen Er­scheinungen des gewöhnlichen Bewußtseins erreicht werden kann. Und wer nur aus einem dunklen Gefühle heraus, oder aus verschwommenem Mystizismus für sich von dem

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Dasein einer geistigen Welt glaubt überzeugt sein zu kön­nen, der sollte eher die schwierige Lage des neueren Den­kers kennenlernen, als über die «rohen, plumpen» Vor­stellungen der Naturwissenschaft wettern.

Über dasjenige, was die naturwissenschaftliche Vorstel­lungsart geben kann, kommt man nur hinaus, wenn man im inneren Seelenleben die Erfahrung macht, daß es ein Erwachen aus dem gewöhnlichen Bewußtsein gibt; ein Er­wachen zu einer Art und Richtung des seelischen Erlebens, die sich zu der Welt des gewöhnlichen Bewußtseins ver­halten, wie dieses zu der Bilderwelt des Traumes. Goethe spricht in seiner Art von dem Erwachen aus dem gewöhn­lichen Bewußtsein und nennt die Seelenfähigkeit, die da­durch erlangt wird, «anschauende Urteilskraft». Diese an­schauende Urteilskraft verleiht der Seele, nach Goethes Ansicht, die Fähigkeit, das zu schauen, was sich als die höhere Wirklichkeit der Dinge dem Erkennen des ge­wöhnlichen Bewußtseins verbirgt. Goethe hatte sich mit dem Bekenntnis zu einer solchen Fähigkeit des Menschen in Gegensatz gestellt zu Kant, der dem Menschen eine «anschauende Urteilskraft» abgesprochen hat. Goethe aber wußte aus der Erfahrung des eigenen Seelenlebens heraus, daß ein Erwachen des gewöhnlichen Bewußtseins zu einem solchen mit anschauender Urteilskraft möglich ist. Kant hatte geglaubt, ein solches Erwachen als «Abenteuer der Vernunft » bezeichnen zu sollen. Goethe erwidert dar­auf ironisch: «Hatte ich doch erst unbewußt und aus inne­rem Trieb auf jenes Urbildliche, Typische rastlos gedrun­gen, war es mir sogar geglückt, eine naturgemäße Darstel­lung aufzubauen, so konnte mich nunmehr nichts weiter verhindern, das Abenteuer der Vernunft, wie es der Alte

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vom Königsberge nennt, mutig zu bestehen. » (Der « Alte vom Königsberge» ist Kant. Vergleiche über Goethes An­sicht darüber meine Ausgabe von Goethes naturwissen­schaftlichen Schriften. Band I in Kürschners Deutscher National-Literatur.) Es wird in dem Folgenden das er­wachte Bewußtsein als schauendes Bewußtsein bezeichnet werden. Ein solches Erwachen kann nur eintreten, wenn man zur Welt der Gedanken und des Willens ein anderes Verhältnis ausbildet als im gewöhnlichen Bewußtsein er­lebt wird. Es ist durchaus begreiflich, daß der Bedeutung eines solchen Erwachens gegenwärtig Mißtrauen entgegen­gebracht wird. Denn was die naturwissenschaftliche Vor­stellungsart groß gemacht hat, ist, daß sie sich den An­sprüchen eines dunklen Mystizismus widersetzt hat. Und während Berechtigung als geisteswissenschaftliche For­schungsart nur ein solches Erwachen im Bewußtsein haben kann, das in Ideengebiete von mathematischer Klarheit und Geschlossenheit führt, verwechseln Menschen, die auf leichte Art zu Überzeugungen über die höchsten Fragen des Weltdaseins kommen wollen, dieses Erwachen mit ihren mystischen Verworrenheiten, für die sie sich auf wahre Geistesforschung berufen. Aus der Furcht heraus, daß alles Hinweisen auf ein « Erwachen der Seele» zu solch mysti­scher Verworrenheit führen könne und durch den Anblick, den die Erkenntnisse solch «mystisch Erleuchteter» oft bieten, halten sich die mit den Forderungen der neueren naturwissenschaftlichen Vorstellungsart Vertrauten von aller Forschung fern, die durch Inanspruchnahme eines «erwach­ten Bewußtseins» in die geistige Welt eintreten will*. Nun

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#FN020-160 *Wem es um eine wirkliche Erkenntnis der geistigen Welt zu tun ist, der hat eine große Befriedigung, wenn ein geistreicher Künstler wie Hermann Bahr in seiner glänzenden Komödie «Der Meister» die Lebenskomödien darstellt, die sich oft so aufdringlich an die Bestre­bungen anhängen, welche nach einer Wissenschaft des Geistigen suchen.

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aber ist ein solches Erwachen durchaus möglich dadurch, daß man in innerem (seelischen) Erleben eine gewisse, von der gewöhnlichen abweichende Betätigung der Kräfte des Seelenwesens (Gedanken- und Willenserlebnisse) entwickelt. Der Hinweis darauf, daß mit der Idee von dem erwachten Bewußtsein in der Richtung weitergegangen wird, in der Goethes Weltanschauung sich bewegt, kann zeigen, daß das hier Vorgebrachte nichts mit Vorstellungen eines ver­worrenen Mystizismus zu tun haben will. Man kann sich in innerer Erkraftung so aus dem Zustand des gewöhnlichen Bewußtseins herausheben, daß man dabei ein ähn­liches Erlebnis hat, wie beim Übergange vom Träumen zum wachen Vorstellen. Wer vom Träumen zum Wachen übergeht, der erfährt, wie der Wille eindringt in den Ab­lauf seiner Vorstellungen, während er im Träumen willen­los dem Ablauf der Bilder hingegeben ist. Was da durch unbewußte Vorgänge geschieht, kann auf einer anderen Stufe durch die bewußte Seelenverrichtung bewirkt wer­den. Der Mensch kann in das gewöhnliche bewußte Den­ken eine stärkere Willensentfaltung einführen, als in diesem im gewöhnlichen Erleben der physischen Welt vorhanden ist. Er kann dadurch vom Denken zum Erleben des Den­kens übergehen. Im gewöhnlichen Bewußtsein wird nicht das Denken erlebt, sondern durch das Denken dasjenige, was gedacht wird. Es gibt nun eine innere Seelenarbeit, welche es allmählich dazu bringt, nicht in dem, was ge­dacht wird, sondern in der Tätigkeit des Denkens selbst zu leben. Ein Gedanke, der nicht einfach hingenommen

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wird aus dem gewöhnlichen Verlauf des Lebens, sondern der mit Willen in das Bewußtsein gerückt wird, um ihn in seiner Wesenheit als Gedanke zu erleben, löst in der Seele andere Kräfte los, als ein solcher, der durch auftretende äußere Eindrücke oder durch den gewöhnlichen Verlauf des Seelenlebens hervorgerufen wird. Und wenn die Seele in sich die im gewöhnlichen Leben doch nur in geringem Maße geübte Hingabe an den Gedanken als solchen immer erneut bewirkt - sich auf den Gedanken als Gedanken konzentriert -: dann entdeckt sie in sich Kräfte, die im gewöhnlichen Leben nicht angewendet werden, sondern gleichsam schlummernd (latent) bleiben. Es sind Kräfte, die nur im bewußten Anwenden entdeckt werden. Sie stimmen aber die Seele zu einem ohne ihre Entdeckung nicht vor­handenen Erleben. Die Gedanken erfüllen sich mit einem ihnen eigentümlichen Leben, das der Denkende (der Me­ditierende) verbunden fühlt mit seinem eigenen Seelenwesen. (Das hier gemeinte schauende Bewußtsein entsteht aus dem gewöhnlichen Wach-Bewußtsein nicht durch kör­perliche [physiologische] Vorgänge, wie das gewöhnliche Wachbewußtsein aus dem Traumbewußtsein. Beim Er­wachen aus diesem in das Tagesbewußtsein hat man es mit einer sich verändernden Einstellung des Leibes im Verhält­nis zur Wirklichkeit zu tun. Beim Erwachen aus dem ge­wöhnlichen Bewußtsein zum schauenden Bewußtsein mit einer sich verändernden Einstellung der geistig-seelischen Vorstellungsart im Verhältnis zu einer geistigen Welt.)

Es ist aber zu diesem Entdecken des Gedankenlebens die Aufwendung bewußten Willens notwendig. Das kann aber auch nicht ohne weiteres der Wille sein, der im gewöhn­lichen Bewußtsein zutage tritt. Auch der Wille muß in anderer

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Art und in anderer Richtung gewissermaßen ein­gestellt werden, als er eingestellt ist für das Erleben in dem bloßen Sinnesdasein. Im gewöhnlichen Leben fühlt man sich selbst im Mittelpunkte dessen, was man will, oder was man wünscht. Denn auch im Wünschen ist ein gleichsam angehaltener Wille wirksam. Der Wille strömt von dem Ich aus und taucht in das Begehren, in die Leibesbewegung, in die Handlung unter. Ein Wille in dieser Richtung ist unwirksam für das Erwachen der Seele aus dem gewöhn­lichen Bewußtsein. Es gibt aber auch eine Willensrichtung, die in einem gewissen Sinne dieser entgegengesetzt ist. Es ist diejenige, welche wirksam ist, wenn man, ohne unmit­telbaren Hinblick auf ein äußeres Ergebnis, das eigene Ich zu lenken sucht. In den Bemühungen, die man macht, um sein Denken zu einem sinngemäßen zu gestalten, sein Füh­len zu vervollkommnen, in allen Impulsen der Selbsterzie­hung äußert sich diese Willensrichtung. In einer allmäh­lichen Steigerung der in dieser Richtung vorhandenen Willenskräfte liegt, was man braucht, um aus dem gewöhn­lichen Bewußtsein heraus zu erwachen. Eine besondere Hilfe leistet man sich in der Verfolgung dieses Zieles da­durch, daß man mit innigerem Gemütsanteil das Leben in der Natur betrachtet. Man sucht zum Beispiel eine Pflanze so anzuschauen, daß man nicht nur ihre Form in den Ge­danken aufnimmt, sondern gewissermaßen mitfühlt das innere Leben, das sich in dem Stengel nach oben streckt, in den Blättern nach der Breite entfaltet, in der Blüte das Innere dem Äußeren öffnet und so weiter. In solchem Den­ken schwingt der Wille leise mit; und er ist da ein in Hin­gabe entwickelter Wille, der die Seele lenkt; der nicht aus ihr den Ursprung nimmt, sondern auf sie seine Wirkung

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richtet. Man wird naturgemäß zunächst glauben, daß er seinen Ursprung in der Seele habe. Im Erleben des Vor­gangs selbst aber erkennt man, daß durch diese Umkeh­rung des Willens ein außerseelisches Geistiges von der Seele ergriffen wird.

Wenn ein Wille nach dieser Richtung erstarkt ist und das Gedankenleben in der angedeuteten Art ergreift, so wird in der Tat aus dem Umkreise des gewöhnlichen Be­wußtseins ein anderes herausgehoben, das sich zu dem ge­wöhnlichen verhält wie dieses zu dem Weben in den Traumbildern. Und ein solches schauendes Bewußtsein ist m der Lage, die geistige Welt erlebend zu erkennen. (Der Verfasser dieser Schrift hat in einer Reihe von Schriften in ausführlicher Art dargestellt, was hier gewissermaßen wie eine Mitteilung in Kürze angedeutet ist. Es kann in solch kurzer Darstellung nicht auf Einwände, Bedenken und so weiter eingegangen werden; in den anderen Schriften ist dies geschehen; und man kann dort manches vorgebracht finden, was dem hier Dargestellten seine tiefere Begrün­dung gibt. Die Titel meiner diesbezüglichen Schriften fin­det man am Schlusse dieser Schrift angegeben.) - Ein Wille, der nicht in der angegebenen Richtung liegt, sondern in derjenigen des alltäglichen Begehrens, Wünschens und so weiter, kann, wenn er auf das Gedankenleben in der be­schriebenen Art angewendet wird, nicht zu dem Erwachen eines schauenden Bewußtseins aus dem gewöhnlichen, son­dern nur zu einer Herhabstimmung dieses gewöhnlichen führen, zu wachendem Träumen, Phantasterei, visions­gleichen Zuständen und ähnlichem. - Die Vorgänge, die zu dem hier gemeinten schauenden Bewußtsein führen, sind ganz geistig-seelischer Art; und ihre einfache Beschreibung

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müßte schon davor behüten, das durch sie Erreichte mit pathologischen Zuständen (Vision, Mediumismus, Ekstase und so weiter) zu verwechseln. Alle diese pathologischen Zustände drücken das Bewußtsein unter den Stand herab, den es im wachenden Menschen einnimmt, der seine gesun­den physischen Seelenorgane voll brauchen kann*.

Es ist in dieser Schrift öfter darauf hingewiesen worden, wie die unter dem Einflusse der neueren naturwissenschaft­lichen Vorstellungsart entwickelte Seelenwissenschaft von den bedeutungsvollen Fragen des Seelenlebens ganz ab­gekommen ist. Eduard von Hartmann hat ein Buch «Die moderne Psychologie» geschrieben, in dem er eine Ge­schichte der Seelenwissenschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gibt. Er sagt darin: « Das Frei­heitsproblem lassen die heutigen Psychologen entweder ganz beiseite oder sie beschäftigen sich doch nur soweit mit ihm, als nötig ist, um zu zeigen, daß auf streng determini­stischem Boden dasjenige Maß von praktischer Freiheit zu­stande komme, welches für die juridische und sittliche Ver­antwortlichkeit ausreicht. Nur in der ersten Hälfte des zu besprechenden Zeitraumes halten noch einige theistische Phi­losophen, wie an der Unsterblichkeit einer selbstbewußten Seelensubstanz, so auch an einem Rest indeterministischer Freiheit fest, begnügen sich dann aber meistens damit, die wissenschaftliche Möglichkeit dieser Herzenswünsche begründen zu wollen. » Nun kann vom Gesichtspunkte naturwissenschaftlicher Vorstellungsart wirklich weder von

* Daß, was hier gemeint ist, nicht mit der Seelenverfassung ver­wechselt werden sollte, die dem alt-indischen Erkenntnisstreben zu­grunde liegt, darauf wird in dem Folgenden noch gedeutet. (Vergleiche auch oben S. 84)

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wahrer Freiheit der Menschenseele, noch über die Unsterb­lichkeitsfrage gesprochen werden. Bezüglich der letzteren darf noch einmal an die Worte des bedeutenden Seelenfor­schers Franz Brentano erinnert werden: «Für die Hoffnun­gen eines Platon und Aristoteles über das Fortleben unseres besseren Teiles nach der Auflösung des Leibes Sicherheit zu gewinnen, würden dagegen die Gesetze der Assoziation von Vorstellungen, der Entwickelung von Überzeugungen und Meinungen und des Keimens von Lust und Liebe alles andere, nur nicht eine wahre Entschädigung sein. ... Und wenn wirklich» die neue naturwissenschaftliche Denkweise «den Ausschluß der Frage nach der Unsterblichkeit be­sagte, so wäre er für die Psychologie ein überaus bedeuten­der zu nennen». Nun liegt für die naturwissenschaftliche Denkart nur das gewöhnliche Bewußtsein vor. Dieses ist aber in seinem ganzen Umfange abhängig von den Leibesorganen. Fallen diese mit dem Tode weg, so fällt auch die gewöhnliche Bewußtseinsart weg. Das aus diesem gewöhn­lichen Bewußtsein heraus erwachte schauende Bewußtsein kann an die Unsterblichkeitsfrage herantreten. So sonder­bar dies auch für die bloß im Naturwissenschaftlichen blei­ben wollende Vorstellungsart erscheint: dieses schauende Bewußtsein erlebt sich in einer geistigen Welt, in welcher die Seele ein Dasein außerhalb des Leibes hat. So wie das Aufwachen aus dem Traume das Bewußtsein gibt: Man ist nun nicht mehr dem Ablauf von Bildern willenlos hin­gegeben, sondern man steht durch seine Sinne mit einer wirklichen Außenwelt in Verbindung, so gibt das Erwachen in das schauende Bewußtsein hinein die unmittelbare Erfahrungsgewißheit: Man steht mit seinem Wesen in einer geistigen Welt; man erlebt erkennend sich selbst in dem,

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was vom Leibe unabhängig ist, und was wirklich der von Immanuel Hermann Fichte erschlossene Seelenorganismus ist, der einer geistigen Welt angehört und angehören muß nach der Zerstörung des Leibes. - Und da man in dem schauenden Bewußtsein ein anderes als das gewöhnliche, ein in der geistigen Welt wurzelndes Bewußtsein kennenlernt, so kann man auch nicht mehr der Meinung verfallen, mit der Zerstörung des Leibes müsse jedes Bewußtsein aufhören, weil doch die gewöhnliche Bewußtseinsart mit ihrem Leibeswerkzeuge dahinfallen muß. In einer Geistes­wissenschaft, die in dem schauenden Bewußtsein eine Er­kenntnisquelle sieht, verwirklicht sich, was aus dem deut­schen Weltanschauungs-Idealismus heraus der Schuldirek­tor von Bromberg (vergleiche S. 63 ff. dieser Schrift), Johann Heinrich Deinhardt, geahnt hat: daß es möglich ist, zu er­kennen, wie die Seele «schon in diesem Leben» den «neuen Leib . . . ausarbeite», den sie dann über die Schwelle des Todes in die geistige Welt trägt. (Wenn man von « Leib »in diesem Zusammenhange spricht, so ist dies gewiß eine materialistisch klingende Bezeichnung; denn gemeint ist natürlich gerade das leibfreie Geistig-Seelische; doch ist man in solchen Fällen genötigt, vom Sinnlichen hergenom­mene Namen für Geistiges zu gebrauchen, um scharf dar­auf hinzudeuten, daß man ein wirkliches Geistiges, nicht eine begriffliche Abstraktion meine.)

Bei der Frage nach der menschlichen Freiheit zeigt sich ein eigentümlicher Konflikt der Seelenerkenntnis. Das ge­wöhnliche Bewußtsein kennt den freien Entschluß als eine innerlich erlebte Tatsache. Und diesem Erlebnis gegenüber kann es sich eigentlich die Freiheit nicht hinweglehren las­sen. Und doch scheint es, als ob die naturwissenschaftliche

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Vorstellungsart dieses Erlebnis nicht anerkennen könnte. Sie sucht zu jeder Wirkung die Ursachen. Was ich in die­sem Augenblicke tue, erscheint ihr abhängig von den Ein­drücken, die ich jetzt habe, von meinen Erinnerungen, von den mir angeborenen oder anerzogenen Neigungen und so weiter. Es wirkt vieles zusammen; ich kann es nicht über­schauen, daher erscheine ich mir frei. Aber in Wahrheit bin ich durch die zusammenwirkenden Ursachen zu meinem Handeln bestimmt. Freiheit erschiene somit als eine Illu­sion. Man kommt aus diesem Konflikt nicht heraus, solange man nicht vom Standpunkte des schauenden Be­wußtseins in dem gewöhnlichen Bewußtsein nur eine durch die Leibesorganisation bewirkte Spiegelung der wahren Seelenvorgänge erblickt, und in der Seele eine in der Gei­steswelt wurzelnde, vom Leibe unabhängige Wesenheit. Was bloß Bild ist, kann durch sich selbst nichts bewirken. Wenn durch ein Bild etwas bewirkt wird, so muß dies durch ein Wesen geschehen, das sich durch das Bild bestim­men läßt. In diesem Falle aber ist die menschliche Seele, wenn sie etwas tut, wozu ihr bloß Anlaß ein im gewöhn­lichen Bewußtsein vorhandener Gedanke ist. Mein Bild, das ich im Spiegel sehe, bewirkt nichts, was nicht ich aus Anlaß des Bildes bewirke. Anders ist die Sache, wenn der Mensch nicht durch einen bewußten Gedanken sich be­stimmt, sondern, wenn er durch einen Affekt, durch den Impuls einer Leidenschaft mehr oder weniger unbewußt getrieben wird, und die bewußte Vorstellung nur dem blinden Zusammenhang der Triebkräfte gleichsam zusieht.

- Sind es so die bewußten Gedanken im gewöhnlichen Be­wußtsein, welche den Menschen frei handeln lassen, so könnte doch dieser durch das gewöhnliche Bewußtsein von

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seiner Freiheit nichts wissen. Er würde nur auf das Bild sehen, das ihn bestimmt, und müßte diesem die Kraft der Ursächlichkeit zuschreiben. Er tut dies nicht, weil instinktiv im Erleben der Freiheit die wahre Wesenheit der Seele in das gewöhnliche Bewußtsein hereinleuchtet. (Der Verfasser dieser Schrift hat die Freiheitsfrage in seinem Buche «Phi­losophie der Freiheit» ausführlich aus der Beobachtung der menschlichen Seelenerlebnisse zu beleuchten gesucht.) Die Geisteswissenschaft sucht vom Gesichtspunkte des schauen­den Bewußtseins in dasjenige Gebiet des wahren Seelen­lebens hineinzuleuchten, aus dem heraus in das gewöhnliche Bewußtsein die instinktive Gewißheit von der Freiheit strahlt.

Die Bilderwelt des Traumes erlebt der Mensch dadurch, daß der Lebensstand, den er in der Sinneswelt inne hat, herabgestimmt ist. Der gesund denkende Mensch wird sich nicht vom Traumbewußtsein aufklären lassen über das wache Bewußtsein; sondern er wird das wache Bewußtsein zum Beurteiler der Traumbilderwelt machen. In ähnlicher Art denkt über das Verhältnis des schauenden Bewußtseins zum gewöhnlichen Bewußtsein eine Geisteswissenschaft, die sich auf den Gesichtspunkt des ersteren stellt. Durch eine solche Geisteswissenschaft erkennt man, daß die Welt des Materiellen und ihrer Vorgänge in Wahrheit nur ein Glied in einer umfassenden geistigen Welt ist; einer geistigen Welt, die hinter der Sinneswelt so liegt, wie die Welt der sinnenfälligen materiellen Vorgänge und Stoffe hinter der Bilderwelt des Traumes. Und man erkennt, wie der Mensch zu seinem Sinnesdasein aus einer geistigen Welt herabsteigt; wie aber dieses Sinnesdasein selbst eine Offenbarung

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geistigen Wesens und geistiger Vorgänge ist. Es ist begreif­lich, daß viele Menschen aus ihren Denkgewohnheiten her­aus eine solche Weltanschauung verpönen, weil sie ihnen wirklichkeitsfremd dünkt, und weil sie glauben, daß sie sie lebensuntüchtig mache. Für solche Menschen wirkt es abschreckend, wenn einer höheren Wirklichkeit gegenüber die gewöhnliche Wirklichkeit etwas Traumähnliches ge­nannt wird. Aber verändert sich denn im Traumbewußtsein dadurch etwas, daß man seinen Wirklichkeitscharakter vom wachen Bewußtsein aus zu verstehen sucht? Wer in Aberglauben zu seinen Traumbildern steht, der kann sich dadurch sein Urteil im wachen Bewußtsein trüben. Nie aber wird das wache Urteil den Traum verderben können. So kann auch eine Weltanschauung, die zur geistigen Welt keinen Zugang gewinnen will, das Urteil trüben über diese . nicht aber kann echte Einsicht in die geistige Welt die wahre Bewertung der physischen stören. In keiner Art wird daher das schauende Bewußtsein störend in das Leben des gewöhnlichen Bewußtseins eingreifen können; es wird nur klärend für dasselbe wirken können.

Erst eine Weltansicht, die den Gesichtspunkt des schauen­den Bewußtseins anerkennt, wird ein gleiches Verständ­nis entgegenbringen können sowohl der neueren natur-wissenschaftlichen Vorstellungsart wie auch den Erkennt­niszielen des neueren Weltanschauungs-Idealismus, der in der Richtung wirkt, das Wesen der Welt als geistiges zu erkennen. (Eine weitere Ausführung über Erkenntnisse der geistigen Welt ist in dem Rahmen dieser Schrift nicht mög­lich. Der Verfasser muß dafür auf seine anderen Schriften verweisen. Hier sollte nur der Grundcharakter einer Welt­anschauung, die den Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins

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anerkennt, soweit dargestellt werden, als nötig ist, um den Lebenswert des deutschen Weltanschauungs­Idealismus zu kennzeichnen.)

Die naturwissenschaftliche Vorstellungsart hat ihre Be­rechtigung gerade dadurch, daß der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins seine Geltung hat. Der natur­wissenschaftliche Forscher und Denker baut seine Erkennt­nisarbeit auf der Voraussetzung der Möglichkeit dieses Ge­sichtspunktes auch dann auf, wenn er dies als theoretischer Betrachter seines Weltbildes nicht zugibt. Nur die Theore­tiker, welche das Weltbild der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart für das einzig und allein in einer Welt­anschauung berechtigte erklären, durchschauen diese Sach­lage nicht. Es können natürlich auch Theoretiker und Na­turforscher in einer Person vereinigt sein. Für das schauende Bewußtsein erfahren nämlich die sinnlichen Wahrnehmun­gen ein Ähnliches wie die Traumbilder beim Erwachen. Die Kräftewirkungen, die im Traume die Bilderwelt zu­stande bringen, müssen beim Erwachen denjenigen Kräftewirkungen weichen, durch welche der Mensch sich Bilder, Vorstellungen macht, von denen er weiß, daß sie durch die ihn umgebende Wirklichkeit bedingt sind. Erwacht das schauende Bewußtsein, so hört der Mensch auf, seine Vor­stellungen im Sinne dieser Wirklichkeit zu denken; er weiß jetzt, daß er vorstellt im Sinne einer ihn umgebenden Geistwelt. So wie das Traumbewußtsein seine Bilderwelt für Wirklichkeit hält und von der Umgebung des Wachbewußtseins nichts weiß, so hält das gewöhnliche Be­wußtsein die materielle Welt für Wirklichkeit und weiß nichts von der geistigen Welt. Der Naturforscher aber sucht ein Bild derjenigen Welt, welche in den Vorstellungen

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des gewöhnlichen Bewußtseins sich offenbart. Diese Welt kann in den Vorstellungen des gewöhnlichen Bewußtseins nicht enthalten sein. Sie darinnen zu suchen, wäre ein Ähnliches, als ob man erwarten wollte, daß man einmal träumen werde, was der Traum seinem Wesen nach ist. (An der Klippe, auf die hier gedeutet ist, scheiterten in der Tat solche Denker wie Ernst Mach und andere.) Der Na­turforscher wird, sobald er beginnt, seine eigene For­schungsart zu verstehen, nicht meinen können, daß mit der Welt, die er zeichnet, das gewöhnliche Bewußtsein ein Ver­hältnis eingehen könne. In Wirklichkeit geht ein solches Verhältnis das schauende Bewußtsein ein. Aber dieses Ver­hältnis ist ein geistiges. Und die sinnliche Wahrnehmung des gewöhnlichen Bewußtseins ist die Offenbarung eines geistigen Verhältnisses, das jenseits dieses gewöhnlichen Bewußtseins sich abspielt zwischen der Seele und derjenigen Welt, welche der Naturforscher zeichnet. Geschaut werden kann dieses Verhältnis erst durch das schauende Bewußt­sein. Wird die Welt, welche die naturwissenschaftliche Vor­stellungsart zeichnet, materiell gedacht, so bleibt sie unver­ständlich; wird sie so gedacht, daß in ihr ein Geistiges lebt, das als Geistiges zum Menschengeiste spricht, in einer Art, die erst von dem schauenden Bewußtsein erkannt wird, so wird dies Weltbild in seiner Berechtigung verständlich. Eine Art Gegenbild zur naturwissenschaftlichen Vorstel­lungsart ist die altindische Mystik. Zeichnet jene eine Welt, die unwahrnehmbar ist, so diese eine solche, in welcher der Erkennende zwar Geistiges erleben, aber dieses Erleben nicht bis zu der Kraft steigern will, wahrzunehmen. Der Erkennende sucht da nicht durch die Kraft der Seelenerleb­nisse aus dem gewöhnlichen Bewußtsein heraus zu einem

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schauenden Bewußtsein zu erwachen, sondern er zieht sich von aller Wirklichkeit zurück, um mit dem Erkennen allein zu sein. Er glaubt so die ihn störende Wirklichkeit über­wunden zu haben, während er nur sein Bewußtsein von ihr zurückgezogen hat und sie gewissermaßen mit ihren Schwierigkeiten und Rätseln außer sich stehen läßt. Auch glaubt er von dem «Ich » frei geworden und in einer selbst­losen Hingabe an die Geistwelt mit dieser eins geworden zu sein. In Wahrheit hat er nur sein Bewußtsein vom «Ich »verdunkelt und lebt unbewußt gerade ganz im «Ich». Statt aus dem gewöhnlichen Bewußtsein zu erwachen, fällt er in ein träumerisches Bewußtsein zurück. Er meint die Rätsel des Seins gelöst zu haben, während er nur den Seelenblick von ihnen abgewendet hält. Er hat das Wohlgefühl der Erkenntnis, weil er die Erkenntnisrätsel nicht mehr auf sich lasten fühlt. Was erkennendes «Wahrnehmen» ist, kann nur im Erkennen der Sinneswelt erlebt werden. Ist es da erlebt, dann kann es weiter für geistiges Wahrneh­men gebildet werden. Zieht man sich von dieser Art des Wahrnehmens zurück, so beraubt man sich des Wahrneh­mungserlebnisses ganz und bringt sich auf eine Stufe des Seelenerlebens zurück, die weniger wirklich ist als die Sinneswahrnehmung. Man sieht im Nichterkennen eine Art Erlösung vom Erkennen und glaubt gerade dadurch in einem höheren Geisteszustand zu leben. Man verfällt dem bloßen Leben im «Ich» und meint, das Ich überwun­den zu haben, weil man das Bewußtsein dafür gedämpft hat, daß man ganz im Ich webt. Nur das Finden des Ich kann den Menschen von dem Verstricktsein vom Ich be­freien. (Vergleiche auch die Ausführungen auf S. 138 ff. dieser Schrift.) Man kann wahrlich dies alles sagen müssen

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und deshalb doch nicht weniger Verständnis und Bewun­derung für die herrliche Schöpfung der Bhagavad-Gita und ähnlicher Erzeugnisse indischer Mystik haben wie jemand, der, was hier gesagt ist, als Beweis ansieht, daß der Spre­chende «eben kein Organ» habe für die Erhabenheit echter Mystik. Man sollte nicht glauben, daß nur ein unbedingter Bekenner einer Weltanschauung diese zu schätzen wisse. (Ich schreibe dies, trotzdem ich mir bewußt bin, nicht we­niger mit der indischen Mystik erleben zu können, als irgend einer ihrer unbedingten Bekenner.)

Nach den Erkenntnissen hin, die sich in der hier gekenn­zeichneten Art zur Welt stellen, richtet sich, was Johann Gottlieb Fichte zum Ausdrucke bringt. In der Art, wie er das Bild vom Traum aussprechen muß, um die Welt des gewöhnlichen Bewußtseins zu charakterisieren, zeigt sich dies. «Bilder sind - sagt er - sie sind das einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder; - Bil­der, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vor­überschweben: die durch Bilder von Bildern zusammen­hängen. . . . Alle Realität verwandelt sich in einen wun­derbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, der da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich zusammenhängt. »Das ist die Schilderung der Welt des gewöhnlichen Be­wußtseins; und es ist der Ausgangspunkt zur Anerkennung des schauenden Bewußtseins, welches das Erwachen aus dem Traum der physischen zur Wirklichkeit der geistigen Welt bringt. - Schelling will die Natur als eine Stufe in der Entwicke­lung des Geistes betrachten. Er fordert, daß sie erkannt werde durch eine intellektuelle Anschauung. Er nimmt also

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die Richtung, deren Ziel nur von dem Gesichtspunkte des schauenden Bewußtseins aus ins Auge gefaßt werden kann. Er bemerkt den Punkt, wo im Bewußtsein der Freiheit das schauende Bewußtsein in das gewöhnliche Bewußtsein hin­einstrahlt. Er sucht endlich über den bloßen Idealismus in seiner «Philosophie der Offenbarung» hinauszukommen, indem er anerkennt, daß die Ideen selbst nur Bilder dessen sein können, was aus einer geistigen Welt heraus mit der Menschenseele im Verhältnis steht.

Hegel empfindet, daß in der Gedankenwelt des Men­schen etwas liegt, durch das der Mensch nicht nur ausspricht, was er an der Natur erlebt, sondern was in ihm und durch ihn der Geist der Natur selbst erlebt. Er fühlt, daß der Mensch geistiger Zuschauer werden kann eines Weltenvorganges, der sich in ihm abspielt. Die Heraufhebung dessen, was er so empfindet und fühlt, zum Ge­sichtspunkt des schauenden Bewußtseins erhebt auch das Weltbild, das bei ihm nur ein Nachdenken der Vorgänge ist, die sich in der physischen Welt vollziehen, zur An­schauung einer wirklichen geistigen Welt.

Karl Christian Planck erkennt, daß der Gedanke des gewöhnlichen Bewußtseins nicht selbst am Weltgeschehen beteiligt ist, weil er, richtig gesehen, Bild eines Lebens, nicht selbst dieses Leben ist. Deshalb ist Planck der Ansicht, daß eben derjenige, der diese Bildnatur des Denkens richtig durchschaut, die Wirklichkeit finden könne. Indem das Denken selbst nichts sein will, aber von etwas spricht, das ist, weist es auf eine wahre Wirklichkeit.

Denker wie Troxler, Immanuel Hermann Fichte nehmen in sich die Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealis­mus auf, ohne sich zu beschränken in den Ansichten, die er

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in Johann Gottlieb Fichte, Schelling und Hegel hervorge­bracht hat. Sie deuten bereits auf einen « inneren Menschen »im «äußeren Menschen», also auf den geistig-seelischen Men­schen, den der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins als eine Wirklichkeit anerkennt, die erlebt werden kann.

Besonders an der Weltanschauungsströmung, die sich als neuere Entwickelungslehre von Lamarck, über Lyell und andere bis zu Darwin und den gegenwärtigen Ansichten von den Lebenstatsachen zieht, kann die Bedeutung ein­gesehen werden, welche der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins hat. Diese Entwickelungslehre sucht das Auf­steigen der höheren Lebensformen aus den niederen dar­zustellen. Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die grundsätzlich in sich berechtigt ist. Allein sie muß dabei so verfahren, wie die Menschenseele im Traumbewußtsein mit den Traumerlebnissen verfährt; sie läßt das Folgende aus dem Früheren hervorgehen. In Wirklichkeit sind aber die trei­benden Kräfte, die ein folgendes Traumbild aus dem frü­heren hervorzaubern, in dem Träumenden und nicht in den Traumbildern zu suchen. Dies zu empfinden, ist erst das wachende Bewußtsein in der Lage. Das schauende Be­wußtsein kann sich nun ebensowenig zufrieden geben, in einer niederen Lebensform die wirksamen Kräfte zu suchen für das Entstehen einer höheren, wie sich das Wachbe­wußtsein dazu hergeben kann, einen Folgetraum aus einem vorhergehenden Traum wirklich hervorgehen zu lassen, ohne auf den Träumenden zu sehen. Das in der wahren Wirklichkeit sich erlebende Seelenwesen schaut das See­lisch-Geistige, das es wirksam in der gegenwärtigen Men­schennatur findet, auch schon wirksam in den Entwicke­lungsformen, welche zu dem gegenwärtigen Menschen geführt

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haben. Es wird nicht anthropomorphistisch in die Naturerscheinungen die gegenwärtige Menschenwesenheit hineinträumen; aber es wird das Geistig-Seelische, das durch schauendes Bewußtsein im gegenwärtigen Menschen erlebt wird, wirksam wissen in allem Naturgeschehen, das zum Menschen geführt hat. Es wird so erkennen, daß die dem Menschen offenbar werdende Geistwelt den Ursprung enthält auch der Naturbildungen, die dem Menschen vor­angegangen sind. Dadurch findet seine rechte Ausgestal­tung, was aus den treibenden Kräften des deutschen Idea­lismus heraus Wilhelm Heinrich Preuß angestrebt hat mit seiner Lehre, die «den Artbegriff nach tatsächlicher Mög­lichkeit rettet, aber zugleich den von Darwin aufgestellten Begriff der Entwickelung hinübernimmt auf ihr Gebiet und fruchtbar zu machen sucht». Vom Gesichtspunkte des schauenden Bewußtseins aus wird zwar nicht gesagt wer­den können, was Preuß sagte: «Der Mittelpunkt dieser neuen Lehre nun ist der Mensch, die nur einmal auf un­serem Planeten wiederkehrende Spezies: Homo sapiens »; sondern der Mittelpunkt einer die menschliche Wirklich­keit umfassenden Weltanschauung ist die sich im Menschen offenbarende Geistwelt. Und so gesehen - wird wahr er­scheinen, was Preuß meint: «Merkwürdig, daß die älteren Beobachter bei den Naturgegenständen anfingen und sich dann dermaßen verirrten, daß sie den Weg zum Menschen nicht fanden, was ja auch Darwin nur in kümmerlichster und durchaus unbefriedigender Weise gelang, indem er den Stammvater des Herrn der Schöpfung unter den Tieren suchte, - während der Naturforscher bei sich als Menschen anfangen müßte, um so fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur Menschheit zurückzu­kehren ... »

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- Zu einem anthropomorphistischen Ausdeu­ten der Naturerscheinungen kann der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins nicht führen, denn er anerkennt eine geistige Wirklichkeit, von der das im Menschen Er­scheinende die Offenbarung ebenso ist wie das in der Na­tur Erscheinende. Dieses anthropomorphische Hineinträu­men der Menschenwesenheit in die Natur war das Schreck­gespenst Feuerbachs und der Feuerbachianer. Für sie wurde dieses Schreckgespenst das Hindernis der Anerkennung einer geistigen Wirklichkeit.

Auch in Carneris Denkertätigkeit wirkte dieses Schreck­gespenst nach. Es schlich sich störend ein, wenn er das Ver­hältnis. suchte seiner auf die seelische Wesenheit des Men­schen gestützten ethischen Lebensansicht zur darwinistisch gefärbten Naturanschauung. Aber die treibenden Kräfte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus übertönten diese Störung bei ihm, und so tritt in Wirklichkeit bei ihm ein, daß er bei dem als ethisch veranlagten Geistig-Seelischen im Menschen beginnt und fortschreitend durch das ganze Gebiet des Seins und Denkens zur ethisch sich vervoll­kommnenden Menschheit zurückkehrt.

Die Richtung, welche der deutsche Weltanschauungs-Idealismus genommen hat, kann nicht einlaufen in die Anerkennung einer Lehre, die in die Entwickelung von den niederen zu den höheren Daseinsformen ungeistige Triebkräfte hineinträumt. Aus diesem Grunde mußte schon Hegel sagen: «Solcher nebuloser, im Grunde sinnlicher Vorstellungen, wie insbesondere das sogenannte Hervor­gehen z. B. der Pflanzen und Tiere aus dem Wasser und dann das Hervorgehen der entwickelteren Tierorganisa­tionen aus den niedrigeren und so weiter ist, muß sich die

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denkende Betrachtung entschlagen» (vergleiche Hegels Werke, vollst. Ausg., 2. Aufl. Berlin 1847, Bd. 7a, S. 33). - Und aus diesem Weltanschauungs-Idealismus heraus sind die Empfindungen geboren, mit denen Herman Grimm dem naturwissenschaftlichen Weltbilde seine Stellung in der Ge­samtweltanschauung zuweist. Herman Grimm, der geistvolle Kunstbetrachter, der anregende Darsteller großer Zusam­menhänge in der Menschheitsgeschichte, sprach sich über Weltanschauungsfragen nicht gerne aus; er überließ dies Gebiet lieber anderen. Wenn er sich aber doch über diese Dinge äußerte, dann tat er es aus der unmittelbaren Emp­findung seiner Persönlichkeit heraus. Er fühlte sich mit solchen Urteilen geborgen in dem Urteilsfelde, das die deutsche idealistische Weltanschauung umfaßte und auf dem er sich stehend wußte. Und aus solchem Untergrunde seiner Seele kamen die Worte, die er in seiner dreiund­zwanzigsten Vorlesung über Goethe ausgesprochen hat:

«Längst hatte, in seinen (Goethes) Jugendzeiten schon, die große Laplace-Kantsche Phantasie von der Entstehung und dem einstigen Untergange der Erdkugel Platz ge­griffen. Aus dem in sich rotierenden Weltnebel - die Kinder bringen es bereits aus der Schule mit - formt sich der zen­trale Gastropfen, aus dem hernach die Erde wird, und macht, als erstarrende Kugel, in unfaßbaren Zeiträumen alle Phasen, die Episode der Bewohnung durch das Men­schengeschlecht mit einbegriffen, durch, um endlich als aus-gebrannte Schlacke in die Sonne zurückzustürzen; ein lan­ger, aber dem Publikum völlig begreiflicher Prozeß, für des­sen Zustandekommen es nun weiter keines äußeren Eingrei­fens bedarf, als die Bemühung irgendeiner außenstehenden Kraft, die Sonne in gleicher Heiztemperatur zu erhalten. -

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Es kann keine fruchtlosere Perspektive für die Zukunft ge­dacht werden, als die, welche uns in dieser Erwartung als wissenschaftlich notwendig heute aufgedrängt werden soll. Ein Aasknochen, um den ein hungriger Hund einen Umweg machte, wäre ein erfrischendes appetitliches Stück im Ver­gleich zu diesem letzten Schöpfungsexkrement, als welches unsere Erde schließlich der Sonne wieder anheimfiele, und es ist die Wißbegier, mit der unsere Generation dergleichen aufnimmt und zu glauben vermeint, ein Zeichen kranker Phantasie, die als ein historisches Zeitphänomen zu erklä­ren, die Gelehrten zukünftiger Epochen einmal viel Scharf­sinn aufwenden werden. - Niemals hat Goethe solchen Trostlosigkeiten Einlaß gewährt. . . . Goethe würde sich wohl gehütet haben, die Folgerungen der Schule Darwins aus dem abzuleiten, was in dieser Richtung er zuerst der Na­tur abgelauscht und ausgesprochen hatte. . . . » (Über Goethes Verhältnis zur naturwissenschaftlichen Vorstellungsart ver­gleiche meine Einleitungen zu Goethes naturwissenschaft­lichen Schriften in Kürschners «Deutscher National-Litera­tur » und mein Buch: « Goethes Weltanschauung».)

Auch Robert Hamerlings Sinnen bewegt sich in einer Richtung, die im Gesichtspunkt des schauenden Bewußt­seins ihre Rechtfertigung findet. Von dem menschlichen Ich aus, das sich denkt, lenkt er die Betrachtung auf das Ich, das sich denkend erlebt; von dem Willen aus, der im Menschen wirkt, auf den Weltenwillen. Doch das sich er­lebende Ich kann nur geschaut werden, wenn im seelischen Erleben ein Erwachen in der geistigen Wirklichkeit ein­tritt; und der Weltenwille dringt nur in die Erkenntnis ein, wenn das menschliche Ich erlebend ein Wollen ergreift,

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in dem es nicht sich zum Ausgangspunkte, sondern zum Zielpunkte macht, in dem es sich auf die Entfaltung des­sen richtet, was in der Welt des Innenlebens vorgeht. Dann lebt die Seele sich ein in die geistige Wirklichkeit, in wel­cher die treibenden Kräfte der Naturentwickelung in ihrer Wesenheit miterlebt werden können. Wie Hamerlings Sin­nen zu einer Empfindung davon führt, daß von solchem Erwachen des in der Geisteswelt sich wissenden Ich zu sprechen berechtigt ist, das zeigen Stellen seiner «Atomistik des Willens» wie diese: «Im Dämmerschein kühner Mystik und im Lichte freier Spekulation deutet und erfaßt die­ses Rätsel, dies Wunder, dies geheimnisvolle Ich sich als eine der ungezählten Erscheinungsformen, in welchen das unendliche Sein zur Wirklichkeit gelangt, und ohne welche es nur ein Nichts, ein Schatten wäre» (Atomistik des Wil­lens 2. Bd. S. 166). Und: «Den Gedanken im menschlichen Gehirn aus der Tätigkeit schlechterdings lebloser Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt für alle Zeit ein vergeb­liches und törichtes Unterfangen. Stoffatome könnten nie­mals Träger eines Gedankens werden, wenn nicht in ihnen selbst schon etwas läge, was wesensgleich mit dem Gedan­ken ist. Und eben dies Ursprüngliche, mit dem lebendigen Denken Wesensverwandte, ist ohne Zweifel auch ihr wah­rer Kern, ihr wahres Selbst, ihr wahres Sein» (Atomistik des Willens 1. Bd. S. 279 f.). Hamerling steht mit diesem Gedanken allerdings erst bloß ahnend vor dem Gesichts­punkt des schauenden Bewußtseins. Die Gedanken des menschlichen Gehirnes aus der Tätigkeit der Stoffatome herleiten zu wollen, bleibt gewiß «ein für alle Zeiten ver­gebliches und törichtes Unterfangen» . Denn es ist dies nicht besser, als das Spiegelbild eines Menschen bloß aus

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der Tätigkeit des Spiegels herleiten zu wollen. Aber im gewöhnlichen Bewußtsein erscheinen die Gedanken doch als die von dem Stofflichen des Gehirns bedingte Widerspiegelung des Lebendig-Wesenhaften, das in ihnen als für dies gewöhnliche Bewußtsein unbewußt kraftet. Dieses Lebendig-Wesenhafte wird erst vom Gesichtspunkte des schauenden Bewußtseins verständlich. Es ist das Wirkliche, in dem das schauende Bewußtsein sich erlebt, und zu dem sich auch das Stoffliche des Gehirns verhält wie ein Bild zu dem verbildlichten Wesen. Der Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins sucht den «Dämmerschein kühner Mystik» einerseits zu überwinden durch die Klarheit eines in sich folgerichtigen, sich voll durchschauenden Denkens, andererseits aber auch das unwirkliche (abstrakte) Den­ken der philosophischen «Spekulation» durch ein Erken­nen, das denkend zugleich Erleben eines Wirklichen ist.

Verständnis für die Erfahrungen, welche die Menschenseele durch eine Vorstellungsart macht, wie sie sich in der Denkerreihe von Fichte bis Hamerling offenbart, wird verhindern, daß eine Weltanschauung, die den Gesichts­punkt des schauenden Bewußtseins als einen berechtigten anerkennt, zurückfällt in Seelenstimmungen, welche ähn­lich wie die alte indische eher durch eine Herabdämpfung als durch eine Steigerung des gewöhnlichen Bewußtseins das Erwachen in der geistigen Wirklichkeit suchen. (Der Ver­fasser dieser Schrift hat in seinen Büchern und Vorträgen immer wieder darauf hingewiesen, daß die Meinung, man könne gegenwärtig in einer Wiederbelebung solch älterer Weltanschauungsrichtungen wie der indischen einen Ge­winn für Geisterkenntnis ziehen, auf Irrwegen wandelt.

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Was allerdings nicht gehindert hat, daß die von ihm ver­tretene geisteswissenschaftliche Weltanschauung immer wieder mit solchen fruchtlosen und geschichtsfeindlichen Wie­derbelebungsversuchen verwechselt wird.) - Der deutsche Weltanschauungs-Idealismus strebt nicht nach Herabdämpfung des Bewußtseins, sondern sucht innerhalb dieses Bewußtseins nach den Wurzeln derjenigen Seelenkräfte, die stark genug sind, um mit vollem Ich-Erlebnis in die geistige Wirklichkeit einzudringen. In ihm hat die Gei­stesentwickelung der Menschheit das Streben in sich auf­genommen, durch Erstarkung der Bewußtseinskräfte zur Erkenntnis der Weltenrätsel zu kommen. Die naturwissen­schaftliche Vorstellungsart, die manchen über die Tragkraft dieser Weltanschauungsströmung in Irrtum gebracht hat, kann aber auch die Unbefangenheit erwerben, anzuerken­nen, welche Wege zur Erkenntnis der wirklichen Welt in den Richtungen liegen, die von dieser idealistischen Weltansicht gesucht werden. Man wird sowohl die Gesichts­punkte des deutschen Weltanschauungs-Idealismus wie auch denjenigen des schauenden Bewußtseins verkennen, wenn man durch sie hofft eine sogenannte « Erkenntnis »zu erlangen, die durch eine Summe von Vorstellungen die Seele über alle weiteren Fragen und Rätsel hinweghebt und sie in den Besitz einer «Weltanschauung» bringt, in dem sie sich von allem Suchen ausruhen kann. Der Ge­sichtspunkt des schauenden Bewußtseins bringt die Er­kenntnisfragen aber nicht zum Stillstande; im Gegenteile, er bewegt sie weiter, und er vergrößert in einem gewissen Sinne sowohl ihre Zahl als auch ihre Lebhaftigkeit. Aber er hebt diese Fragen in einen Wirklichkeitskreis hinein, in dem sie denjenigen Sinn erhalten, nach dem das Erken­nen

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schon unbewußt sucht, bevor es ihn noch entdeckt hat. Und in diesem unbewußten Suchen erzeugt sich das Un­befriedigende der Weltanschauungsstandpunkte, die das schauende Bewußtsein nicht gelten lassen wollen. Es kommt in diesem unbewußten Suchen auch die sich sokratisch dünkende, aber in Wirklichkeit sophistische Ansicht zu­stande, daß diejenige Erkenntnis die höchste sei, die nur die eine Wahrheit kennt, daß es keine Wahrheit gäbe. - Es finden sich Menschen, welche ängstlich werden, wenn sie daran denken, der Mensch könne den Antrieb zum Er­kenntnisfortschritt verlieren, sobald er sich ausgerüstet glaubt mit einer Lösung der Welträtsel. Diese Sorge braucht gegenüber dem deutschen Idealismus wie auch ge­genüber dem Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins niemand zu haben*. - -

Auch von anderen Seiten kann eine rechte Würdigung des neuen Weltanschauungs-Idealismus zur Austilgung von Mißverständnissen führen, die ihm entgegengebracht wer­den. Es ist allerdings nicht in Abrede zu stellen, daß manche Bekenner dieses Weltanschauungs-Idealismus durch

* In der Beurteilung von Weltanschauungsfragen durch manche Menschen wirkt ganz besonders verwirrend das Eingenommensein von Worten, mit denen man glaubt Gedanken zu haben, während man sich nur in einer gedanklichen Unbestimmtheit beruhigt. Viel ist gewonnen, wenn man sich darüber nicht im unklaren ist, daß Worte wie Gebärden sind, die auf ihren Gegenstand bloß hindeuten können, deren eigent­licher Inhalt aber mit dem Gedanken selbst nichts zu tun hat. (Eben­sowenig wie das Wort «Tisch » mit einem wirklichen Tisch.) Eindring­lich in vieler Beziehung spricht darüber eine kleine eben erschienene Schrift « Kultur-Aberglaube von Alexander von Gleichen-Rußwurm (1916, Forum-Verlag, München). - Wer den Gesichtspunkt des schau­enden Bewußtseins gelten läßt, wird ganz besonders nötig haben, voll anzuerkennen, was die naturwissenschaftliche Vorstellungsart auch

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ihr eigenes Mißverstehen des von ihnen Anerkannten ebenso zu Gegnerschaften Veranlassung gegeben haben, wie Bekenner der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart dadurch, daß sie die Tragkraft ihrer Anschauungen für die Erkenntnis der Wirklichkeit überschätzen, unberechtigte Ablehnungen dieser Anschauungen selbst hervorrufen. Der bedeutende österreichische Philosoph (und katholische Prie­ster), Laurenz Müllner, hat in einem Aufsatz über Adolf Friedrich Graf von Schack (Literatur- und kunstkritische Studien von Dr. Laurenz Müllner S. 54) in eindringlicher Art sich vom Standpunkte des Christentums über den Entwickelungsgedanken der neueren Naturwissenschaft ausgesprochen. Er weist die Behauptungen Schacks zurück, die in den Worten gipfeln: «Die gegen die Deszendenz­theorie gemachten Einwendungen rühren alle von Ober­flächlichkeit her.» Und nach dieser Zurückweisung sagt er: «Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Entwickelungsgedanken als solchen ablehnend zu verhalten, wenn der Naturprozeß nicht lediglich als von Ewigkeit auf sich gestellter kausaler Mechanismus ge­faßt und wenn der Mensch nicht als Produkt desselben über die Seelenerscheinungen zu sagen hat. Eine von einem gewissen Gesichtspunkte aus hervorragende « Seelenkunde in naturwissenschaft­licher Vorstellungsart hat der bedeutende Wiener Anthropologe Moritz Benedict geschrieben (1894). Man kann in dieser « Seelenkunde we­gen des gesunden Wirklichkeitssinnes des Verfassers in der Beurteilung des seelischen Lebens ein in mancher Hinsicht geradezu klassisches Werk sehen. Und man kann diesem Buche gegenüber diese Ansicht haben, selbst wenn man sich sagen muß, daß der in dieser Schrift charakteri­sierte Gesichtspunkt des schauenden Bewußtseins von dem Verfasser dieser « Seelenkunde wohl entschieden abgelehnt werden würde. Die so denken wie dieser Naturforscher, werden diese Ablehnung aber nicht immer haben müssen.

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hingestellt wird. » Diese Worte gingen aus demselben christlichen Geiste hervor, aus dem heraus Laurenz Müll­ner beim Antritte des Rektorats an der Wiener Universität in seiner bedeutungsvollen Rede über Galilei gesagt hat:

«So kam die neue Weltanschauung (gemeint ist die Ko­pernikanisch-Galileische) vielfach in den Schein eines Ge­gensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupteten. Es handelte sich vielmehr um den Gegensatz des erweiter­ten Weltbewußtseins einer neuen Zeit zu dem enger ge­schlossenen der Antike, um einen Gegensatz zur griechi­schen, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den neu entdeckten Sternenwelten nur neue Wunder göttlicher Weisheit hätte sehen dürfen, wodurch die auf Erden vollzogenen Wunder göttlicher Liebe nur höhere Bedeutung gewinnen können. » Wie bei Müllner eine schöne Unbefangenheit des christlichen Den­kers gegenüber der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart vorliegt, so ist eine solche gewiß auch möglich gegenüber dem deutschen Weltanschauungs-Idealismus. Solche Un­befangenheit würde sagen: Das positive Christentum hat keinen Grund, sich gegen den Gedanken eines Geisterleb­nisses in der Seele als solchen ablehnend zu verhalten, wenn das Geisterlebnis nicht zur Ertötung des religiösen Andacht- und Erbauungs-Erlebnisses führt und wenn die Seele nicht vergottet wird. - Und die anderen Worte Lau­renz Müllners könnten für einen unbefangenen christlichen Denker die Form annehmen: Die Weltanschauung des deutschen Idealismus kam vielfach in den Schein eines Gegensatzes zu Meinungen, die in sehr fraglichem Rechte ihre Abfolge aus den Lehren des Christentums behaupten.

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Es handelt sich vielmehr um den Gegensatz einer Welt­anschauung, welche die Geistwesenheit der Seele anerkennt, zu einer solchen, welche zu dieser Geistwesenheit keinen Zugang finden kann, um einen Gegensatz zur mißverstan­denen naturwissenschaftlichen Vorstellungsart, nicht aber zur richtig verstandenen christlichen Weltanschauung, die in den rechten Geisterlebnissen der menschlichen Seele nur Offenbarungen göttlicher Macht und Weisheit sehen dürfte, wodurch die Erlebnisse der religiösen Andacht und Erbauung, sowie die Kräfte zu liebegetragener Menschen­pflicht eine weitere Verstärkung gewinnen können.

Robert Hamerling empfand die Kraft zum Weltan­schauungs-Idealismus als eine Grundkraft im Wesen des deutschen Volkstums. Die Art, wie er sein Erkenntnissuchen in seiner «Atomistik des Willens» dargestellt hat, zeigt, daß er für seine Zeit nicht an eine Wiederbelebung alter indischer Weltanschauungsströmung denkt. Aber so denkt er über den deutschen Idealismus, daß dieser ihm im Sinne der Forderungen einer neuen Zeit aus dem We­sen seines Volkstums heraus zu den geistigen Wirklich­keiten zu streben scheint, die in abgelebten Zeitaltern durch die damals stärksten Seelenkräfte der asiatischen Mensch­heit gesucht wurden. Und daß das Erkenntnisstreben dieses Weltanschauungs-Idealismus mit seiner Richtung nach den geistigen Wirklichkeiten den Aufblick des Menschen zu göttlichen Höhen nicht stumpft, sondern erstarkt, davon ist er durchdrungen, weil er dieses Erkenntnisstreben selbst als mit den Wurzeln religiöser Gesinnung verwachsen er­blickt. Mit Gedanken über die Aufgabe seines Volkes, die Ausdruck dieses Wesenszuges ist, ist Robert Hamerling

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erfüllt, als er 1864 seinen «Germanenzug» dichtet. Wie die Schilderung einer Vision ist diese Dichtung. Von Asien herüber ziehen in uralter Zeit die Germanen nach Europa. Am Kaukasus ist Rast des wandernden Volkes.

Der Abend sinkt herab. Als goldne Mäler

Im letzten Dämmerschein erglühn die Kuppen

Des Kaukasus und wie aus fernen Welten

Schaun sie bedeutsam nieder auf die Gruppen

Des Volks, das rastend rings erfüllt die Täler

Mit seinen Waffen, Rossen und Gezeiten.

Zuletzt als Phönix aus den Opfergluten

Der Sonne steigt der Mond, hoch überm Plane

Des Orients mit voller Scheibe schwebend.

Nun aber ruhn die Völker. Wach geblieben

Ist Teut, der Jüngling, königlichen Blicks,

Das blonde Haupt in Sinnen tief versunken,

Und wie, aus kurzem Traum erwacht, nach oben

Sein Aug' sich wendet und ein Licht, ein klares,

Herniedertauet, sieh, da wollt' ihn deuchten,

Als ob hoch über ihm die goldnen Globen

Des Himmels sich vereinten ihre Leuchten

Im Schimmer eines Augensternenpaares:

Als ob ein wunderbares

Mildernstes Antlitz sich herunterneigte,

Als ob vor seinen stolzen Sonnenflügen

Urmutter Asia mit hehren Zügen

Sich Aug' in Aug' dem mut'gen Sohne zeigte -

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Und Urmutter Asia offenbart Teut seines Volkes Zu­kunft; sie spricht nicht bloß Lobeshymnen; sie spricht ernst von des Volkes Schatten- und Lichtseiten. Aber sie spricht auch von dem Wesenszug des Volkes, der das Erkenntnisstreben in voller Einheit mit dem Aufblick zum Göttlichen zeigt:

Fortleben wird in dir die traumesfrohe

Gottrunkenheit, die sel'ge Herzenswärme

Des alten asiat'schen Heimatlandes.

Geruhigen Bestandes

Wird dieser heil'ge Strahl, ein Tempelfeuer

Der Menschheit, frei von Rauch, mit reiner Flamme

Fortglühn in deiner Brust und Seelenamme

Dir bleiben und Pilote deinem Steuer!

Du strebst nur, weil du liebst: dein kühnstes Denken

Wird Andacht sein, die sich in Gott will senken.

Durch die Anführung dieser Worte Robert Hamerlings soll nicht angedeutet werden, daß der Weltanschauungs­-Idealismus, der in dieser Schrift charakterisiert ist, oder die Ansicht, welche den Gesichtspunkt des schauenden Be­wußtseins geltend macht, irgendwie an die Stelle der reli­giösen Weltanschauung treten oder diese gar ersetzen könnten. Beide würden sich selbst ganz mißverstehen, wenn sie religion- oder sektenbildend sein, oder störend in das religiöse Bekenntnis eines Menschen eingreifen wollten.

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HINWEISE

Zur Vorrede

Gleich in den ersten Monaten des Weltkrieges 1914/18 begann Rudolf Steiner mit diesen Vorträgen über die Gedankenwelt des deutschen Idealismus, die er dann bis 1917 in Berlin und in vielen anderen deutschen Städten gehalten hat. Sie sind zum Teil bereits im Druck erschienen, in der Schriftenreihe «Aus schicksaltragender Zeit» Heft I bis VIII Dornach 1930/33 und in den Monatsschriften «Anthroposophie Stuttgart 1931/33 und «Die Drei» Stuttgart 1930/31.

Die folgende Zusammenstellung von Vorträgen zu diesem Thema kann nur anhaltweise gegeben werden, da Rudolf Steiner von den ver­schiedensten Gesichtspunkten aus auch in anderem Zusammenhang in diesen Jahren immer wieder Persönlichkeiten und Ideen dieser Geistesrichtung behandelt hat.

Goethes Geistesart in unsern schicksalsschweren Tagen und die deutsche Kultur. Berlin 29. Okt. 1914 («Aus schicksaltragender Zeit» 1)

Das Volk Schillers und Fichtes. Berlin 5. Nov. 1914 («Aus schicksal­tragender Zeit» II), ebenso Hamburg 3.Nov.1914, München 1. Dez. 1914 (Beide ungedruckt) und Stuttgart 15. Febr. 1915: Warum nennen sie das Volk Fichtes und Schillers ein Barbarenvolk? Nürnberg 11. März 1915, ebenso Elberfeld 14. Juni1915 (Sämtlich ungedruckt)

Die germanische Seele und der deutsche Geist vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft. Berlin 14.Jan.1915 («Aus schicksaltragender Zeit» V)

Der Schauplatz der Gedanken als Ergehnis des deutschen Idealis­mus im Hinblick auf unsere schicksaltragende Zeit. München 28. Nov.

1915 (in «Anthroposophie» 1932/33), ebenso Berlin 15. April 1915 (Ungedruckt)

Die tragende Kraft des deutschen Geistes. Berlin 25. Febr. 1915 (in «Anthroposophie» 1933/34), ebenso Leipzig 6. März1915, Düsseldorf 16. Juni 1915 (Beide ungedruckt)

Die verjüngenden Kräfte der deutschen Volksseele. Hannover 18. Febr. 1915 (in «Anthroposophie» 1931/32), ebenso Berlin 4. März 1915, Bre­men 20. Febr. 1915, Köln 18. Juni 1915 (Sämtlich ungedruckt; der Bre­mer Vortrag war 1940/41 bei E. Weise [Karl Eymann] in Dresden gesetzt, konnte aber nicht mehr erscheinen)

Was ist am Menschenwesen unsterblich? Stuttgart 16. Febr. 1915 (in «Die Drei» 1930/31), ebenso Nürnberg 12. März1915 (in «Anthroposophie» 1931/32),

192

Berlin 5. März1915 und München 22. März 1915 (Beide ungedruckt)

Wurzeln und Blüten des deutschen Geisteslebens. München 21. März 1915 (Ungedruckt)

Das Weltbild des deutschen Idealismus. Berlin 22. April 1915 («Aus schicksaltragender Zeit» VII), ebenso Stuttgart 25. Nov. 1915 (in «An­throposophie » 1931/32), Hamburg 15. Febr. 1916, Kassel 19. Febr. 1916 (Beide ungedruckt)

Goethe und das Weltbild des deutschen Idealismus. Berlin 2. Dez. 1915 (in «Anthroposophie» 1931/32)

Die ewigen Kräfte der Menschenseele. Berlin 3.Dez.1915 (in «An­throposophie » 1931/32)

Bilder aus Österreichs Geistesleben im 19. Jahrhundert im Hinblick auf unsere schicksaltragende Zeit. Berlin 9. Dez. 1915 (in «Anthropo­sophie» 1931/32, dazu eine ausführliche Anmerkung von C. S. Picht mit biographischen und bibliographischen Angaben über alle im Vor­trag erwähnten Persönlichkeiten)

Fichtes Geist mitten unter uns. Berlin 16.Dez.1915 («Aus schick­saltragender Zeit» VIII)

Fausts Weleenwanderung und seine Wiedergeburt aus dem deutschen Geistesleben. Berlin 3. Febr. 1916 (in «Anthroposophie» 1931/32 und als Broschüre erschienen im Philosophisch-Anthroposophischen Verlag in Dornach 1938)

Gesundes Seelenleben und Geistesforschung. Berlin 4. Febr. 1916 (in «Anthroposophie» 1931/32 und als Heft V der Schriftenreihe der medizinischen Sektion am Goetheanum Dornach 1947 erschienen)

Österreichische Persönlichkeiten in den Gebieten der Dichtung und Wissenschaft. Berlin 10. Febr. 1916 (in «Anthroposophie» 1932/33)

Wie werden die ewigen Kräfte der Menschenseele erforscht? Berlin 11. Febr. 1916 (in «Anthroposophie» 1932/33)

Ein vergessenes Streben nach Geisteswissenschaft innerhalb der deut­schen Gedankenentwickelung. Berlin 25. Febr. 1916 (in «Anthroposo­phie» 1932/33), ebenso Leipzig 21. Febr. 1916, Hannover 29. Febr. 1916 und München 17. März 1916 (Sämtlich ungedruckt)

Die Menschenrätsel in der Philosophie und in der Geisteswissen­schaft (Anthroposophie). Basel 6. Okt. 1916, Zürich 9.Okt.1916 (Beide ungedruckt)

Seelenrätsel und Welträtsel: Forschung und Anschauung im deut­schen Geistesleben. Berlin 17. März 1917, München 21. Mai 1917 (Beide ungedruckt)

193

Es sei hier noch aufmerksam gemacht auf ein eindringliches Wort Rudolf Steiners beim Erscheinen des Buches «Vom Menschenrätsel» im Vortrag vom 11. Juli 1916 (Zyklus 43 «Weltwesen und Ichheit», Sieben Vorträge, gehalten vom 6. Juni bis 18. Juli 1916 in Berlin, Manuskript-Vervielfältigung Berlin 1921, 6. Vortrag «Wahrheitsgefühl »):

«Ich habe Sie hingewiesen darauf, wie ein großer Teil des neuzeit­lichen Denkens, der Richtung des Denkens, der Gesinnung des Denkens, zumBeispiel zurückgeht auf den Beginn eben der fünften nachatlantischen Periode, wie da ein Geist tonangebend war, lebte in dem, was Bacon leistete, was Shakespeare leistete, was leistete sogar Jakob Böhme. Das mußte so kommen. Aber wir stehen heute auch auf dem Punkte, daß das überwunden werden muß, was im Beginne der fünften nachatlantischen Periode mit Recht eingeleitet worden ist, inauguriert worden ist; und das gerade wollte ich darstellen in diesem Buche «Vom Men­schenrätsel », was jetzt gekommen ist. Ich wollte auf der einen Seite zeigen, in welche geistigen Strömungen hineingeführt hat, namentlich in Mitteleuropa das, was fünfte nachatlantische Kulturperiode ist, und wie der Weg gesucht werden muß hinaus - gerade der geisteswissen­schaftliche Weg hinaus gesucht werden muß. Es wird sich ja zeigen, ob das, was in diesem Buche geschrieben ist, wirklich mit Herzblut ge­schrieben ist, und so geschrieben ist, daß manchmal zu einem Satze, der eine Viertelseite einnimmt, zwei Tage verwendet worden sind, um jedes Wort und jede Wendung vertreten zu können; es wird sich ja zeigen, ob dieses Buch gelesen werden kann, oder wiederum so schlecht gelesen wird, wie vorhergehende Bücher gelesen worden sind.»

Zu Seite

9 in einem Brief an Knebel aus Rom vom 18. Aug. 1787.

Johann Karl Friedrich Rosenkranz, geb. 23. April 1805 in Magde­burg, gest. 14. Juni 1879 in Königsberg; Professor für Philosophie in Halle und Königsberg; Schüler Hegels, Mitherausgeber seiner Werke, erster Hegel-Biograph.

10 Georg Wilhelm Friedrich Hegels Leben. Beschrieben durch Karl Rosenkranz. Suppl. zu Hegels Werken. Berlin 1844, Vorrede S. XXIII.

Hegel als deutscher Nationalphilosoph. Leipzig 1870.

16 Johann Gottlieb Fichte, geb. 19. Mai 1762 in Rammenau (Lausitz), gest. 29. Jan. 1814 in Berlin. Professor der Philosophie in Jena, Erlangen, Königsberg, Berlin, erster Rektor der Universität Berlin.

194

J. G. Fichte: Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehr­ten. 1794, Vorrede.

19 Rudolf Steiner: Die Rätsel der Philosophie. 2 Bände. Berlin 1914. (Die erste Auflage war zugleich die Neuausgabe des 1901 er­schienenen Buches «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahr­hundert », ergänzt durch eine Vorgeschichte über abendländische Philosophie und bis zur Gegenwart fortgesetzt.) 7. Auflage in einem Band, mit Register versehen, Stuttgart 1955.

23 J. G. Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters. Vor­lesungen geh. zu Berlin 1804/05. Buchausgabe Berlin 1806.

J. G. Fichte: Reden an die deutsche Nation. Berlin 1808.

25 René Descartes, geb. 31. März 1596 in La Haye (Touraine), gest. 11. Febr. 1650 in Stockholm. Ausbildung im Jesuitenkolleg La Flìche, Studium in Paris, Offizier im Dreißigjährigen Krieg, lebte dann einsam in den Niederlanden, besonders mit mathematischen Studien beschäftigt, wurde 1649 von Christine von Schweden nach Stockholm berufen, starb dort.

27 Die Bestimmung des Menschen. Dargestellt von J. G. Fichte. Berlin

1800, 2. Buch: Wissen, S. 173.

30 Johann Gottlieb Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel. Von seinem Sohne Immanuel Hermann Fichte. 2. Aufl. Leipzig 1862, Band 1, S. 6 ff.

31 Henrik Steffens, geb. 1773 in Stavanger (Norwegen), gest. 1845 in Berlin, Mineraloge und Naturphilosoph.

Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben von Henrik Steffens, 10 Bände, Breslau 1840 - 44, Band 4, S. 79/80.

Diese Erinnerungen sind eine wichtige Quelle für die Erforschung des Geisteslebens in der Goethezeit. Eine Auswahl daraus wurde 1908 unter dem Titel Henrik Steffens: Lebenserinnerungen, von Friedrich Gundolf herausgegeben.

33 Die Bestimmung des Menschen, 3. Buch: Glaube (Schluß).

Brief vom 6. Dez. 1790 an Fichtes Braut, Johanna Maria Rahn (J. G. Fichtes Leben und literarischer Briefwechsel, 2. Aufl. 1862, Band 1, S. 95).

34 Die Bestimmung des Menschen. 3. Buch; Glaube, S. 289 f., S. 291, S. 305.

36 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, geb. 21. Jan. 1775 in Leon­berg (Württ.), gest. 20. Aug. 1854 in Ragaz (Schweiz). Kam sehr

195

jung in das Tübinger Stift, wo er mit Hegel und Hölderlin Freundschaft schloß. Professor der Philosophie in Jena neben He­gel und Fichte; lebte später in Würzburg, Erlangen und München, zuletzt in Berlin.

39 Gotthilf Heinrich Schubert, geb. 26. April 1780 in Hohenstein (Sächs. Erzgebirge), gest. 31. Juli 1860 in Laufzorn bei Grünwald (Obb.), Freund der Familie Herders, zunächst Lehrer und Arzt, später Professor für Naturwissenschaft in Erlangen und München.

Der Erwerb aus einem vergangenen und die Erwartung von einem zukünftigen Leben. Eine Selbstbiographie. Dem Herrn Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling. 3 Bände. Erlangen 1854/56, Bd. 1, S. 389.

43 Jakob Böhme, geb. 1575 in Altseidenberg, gest. 17. Nov. 1624 in Görlitz, war Schuhmachermeister, erwarb sich sein umfangreiches Wissen selbständig, schrieb als erster seine philosophischen Schrif­ten in deutscher Sprache, daher «Philosophus Teutonicus » genannt. Vgl. auch Rudolf Steiner: Die Mystik im Aufgange des neuzeit­lichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltan­schauung. Berlin 1901 (Neuauflagen) und den Vortrag vom 9. Jan. 1913 in Berlin «Jakob Böhme», erschienen 1941 als Heft VII der Schriftenreihe «Ergebnisse der Geistesforschung», im Phil. Anthrop. Verlag, Dornach.

43 Philosophische Untersuchung über das Wesen der menschlichen Freiheit und der damit zusammenhängenden Gegenstände, erschien zuerst in: Schellings Philosophische Schriften, Landshut 1809, dann selbständig 1834.1925 neu herausgegeben von Chr. Hermann un­ter dem Titel « Das Wesen der menschlichen Freiheit».

45 F. W. J. Schelling: Einleitung in die Mythologie; Philosophie der Mythologie; Philosophie der Offenbarung, in: Schellings Werke, Gesamtausgabe, besorgt von seinem Sohn K. F. A. Schelling, II. Abt. 1856ff.

46 Georg Friedrich Wilhelm Hegel, geb. 27. Aug. 1770 in Stuttgart, gest. 144. Nov. 1831 in Berlin. Tübinger Stiftler mit Hölderlin und Schelling, Professor für Philosophie in Jena, Redakteur der «Bam­berger Zeitung», später Gymnasialprofessor in Nürnberg, Pro­fessor für Philosophie in Heidelberg, ab 1818 in Berlin.

48 G. F. W. Hegel: Phänomenologie des Geistes (System der Wissen­schaft. I. Teil) 1807.

196

Hierzu in Hegels Sämtlichen Werken, neue kritische Ausgabe, herausgegeben von Joh. Hoffmeister, Band 5 Hamburg 1952, S. 564, die Anmerkung: «Umgeformtes Zitat aus Schillers Gedicht 50 G. F. W. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. III. Band, herausgegeben von K. L. Michelet (Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in 20 Bänden. Stuttgart 1928, Band 19).

51 Karl Rosenkranz: Hegel als deutscher Nationalphilosoph. Leipzig

1870, S. 346.

52 Die Rätsel der Philosophie (s. Hinweis zu Seite 19) Stuttgart 1955, insbes. S. 235 ff.

53 Franz von Brentano, geb. 16. Jan. 1858 in Marienberg bei Bop­pard, gest. 17. März 1917 in Zürich. Katholischer Theologe, dann Professor der Philosophie, trat aus der katholischen Kirche aus, legte auch sein Ordinariat für Philosophie in Wien nieder und lehrte als Privatdozent in Wien, lebte dann fast zwei Jahrzehnte in Florenz, die letzten Jahre in Zürich.

Vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. Dornach 1925, S. 37 f. und Von Seelenrätseln. Berlin 1921, Teil III: Franz von Bren­tano. Ein Nachruf.

Psychologie vom empirischen Standpunkt. Leipzig 1874, S. 20.

56 Otto Willmann, geb. 24. April 1839 in Lissa (Posen), gest. l. Juli

1920 in Leitmeritz. Lehrer in Leipzig und Wien, dann Professor für Philosophie und Pädagogik in Prag.

Geschichte des Idealismus. 3 Bände. Braunschweig 1894-1897, 2. Aufl. ebd. 1907. I: Vorgeschichte und Geschichte des antiken Idealismus. II: Der Idealismus der Kirchenväter und der Realis­mus der Scholastiker. III: Der Idealismus der Neuzeit.

58 In dem Vortrag vom 25. Febr. 1916 in Berlin «Ein vergessenes Streben nach Geisteswissenschaft innerhalb der deutschen Gedan­kenentwickelung » sagt Rudolf Steiner: «Und wenn wir Zeit hätten dazu, so könnte ich Ihnen Hunderte und Hunderte von Beispielen anführen, aus denen Sie sehen würden, wie allerdings nicht auf dem Gebiete des äußerlich Anerkannten, sondern mehr auf dem Gebiete der vergessenen Geistestöne, aber dennoch lebendig

197

fortlebender Geistestöne, überall solche Menschen vorhanden sind, die dasjenige, was man geisteswissenschaftliches Streben in­nerhalb der deutschen Gedankenentwickelung nennen kann, her­auftragen bis in unsere Tage».

Hierzu hat C. S. Picht beim Abdruck des Vortrages in «Anthro­posophie» 15. Jahrgang, 1932/33, III. Buch eine Zusammenstel­lung «der hauptsächlichen Namen in chronologischer Folge, auf die Rudolf Steiner in diesem Sinne hingewiesen hat » (auf Seite 199 als Anmerkung) gegeben.

Immanuel Hermann Fichte, geb. 18. Juli 1796 in Jena, gest. 8. Aug. 1879 in Stuttgart. Gründete 1837 mit Chr. H. Weiss u. a. die «Zeitschrift für Philosophie und spekulative Theologie»; Pro­fessor für Philosophie in Tübingen von 1842-1863.

60 Immanuel Hermann Fichte: Anthropologie, die Lehre von der menschlichen Seele, begründet auf naturwissenschaftlichem Wege. Leipzig 1856; 2. Aufl. 1860.

63 Johann Heinrich Deinhardt, geb. 15. Juli 1805 in Nieder-Zim­mern bei Weimar, gest. 16. Aug. 1867 in Bromberg,wo er 23 Jahre als Gymnasialdirektor wirkte. Fortschrittlicher Pädagoge. «Dem polizeilichen Disziplinieren der Schüler war er nicht hold; die Weckung des wissenschaftlichen Interesses und die Anregung des Fleißes hielt er für das beste Mittel gegen alle Ausschreitungen.

Durch Beratungen mit seinen Kollegen wurden die Klassenziele festgesetzt, Einheit und Zusammenhang in die Lehrverfassung ge­bracht, Mängel in der Methode einzelner Lehrer möglichst besei­tigt... » (Eckstein in «Allgemeine deutsche Biographie».)

65 Ignaz Paul Vitalis Troxler, geb. 17. Aug. 1780 in Beromünster, gest. 6. März 1866 in Aarau. Arzt und prakt. Pädagoge in Basel und Bern.

Blicke in das Wesen des Menschen. Aarau 1812, Neuausg. von H. E. Lauer, Stuttgart 1921.

Vorlesungen über Philosophie, über Inhalt, Bildungsgang, Zweck und Anwendung derselben aufs Leben, als Encyclopädie und Methodologie der philosophischen Wissenschaft. Bern 1835. Neu­ausg. von Fritz Eymann. Bern 1942.

I. P. V. Troxler: Naturlehre des menschlichen Erkennens. Nach der Druckausgabe von 1828 herausgegeben und eingeleitet von Willi Aeppli. Bern 1944.

Fragmente von I. P. V. Troxler. Erstveröffentlichung aus dem

198

Nachlaß. Mit einer Einleitung versehen von Willi Aeppli. St. Gal­len 1936.

Vgl. auch Willi Aeppli: Paul Vital Troxler. Aufsätze über den Philosophen und Pädagogen. Basel: Zbinden 1929.

70 Karl Christian Planck, geb. 17. Jan. 1819 in Stuttgart, gest.

7. Juni 1880 in Maulbronn.

Grundlinien einer Wissenschaft der Natur als Wiederherstellung der reinen Erscheinungsformen. Leipzig 1864.

71 Karl Chr. Planck: Testament eines Deutschen. Philosophie der Natur und der Menschheit. Hinterlassenes Werk, hrsg. von K. Köstlin. Tübingen 1881, 2. Aufl. 1912.

Als Hauptwerk gilt Die Weltalter. I. Teil: System des reinen

Realismus. II. Teil: Das Reich des Idealismus. Tübingen 1850/51. 78 s. Hinweis zu Seite 19.

79 Henri Bergson, geb. 18. Okt. 1859 in Paris, gest. 4.Jan.1941 ebd. Ab 1890 Professor für Philosophie am Collége de France.

81 Wilhelm Heinrich Preuss, geb. 29. Sept. 1843 in Gals torf, gest.

12. Febr. 1909 in Elsfleth, wo er Lehrer für Navigation war.

Geist und Stoff. Erläuterungen des Verhältnisses zwischen Welt und Mensch nach dem Zeugnis der Organismen. 2. Aufl. Olden­burg 1899.

84 Omar al Raschid Bey (Friedrich Arndt), war verheiratet mit der Weimarer Schriftstellerin Helene Böhlau («Ratsmädelgeschichten»), die das genannte Buch nach seinem Tode mit ausführlicher Ein­leitung herausgegeben hat. Rudolf Steiner hat in einem Vortrag in Berlin asn 30. Mai 1916 (Zyklus XLII, Gegenwärtiges und Ver­gangenes im Menschengeiste, 12 Vorträge in Berlin Febr.-Mai 1916, Manuskript-Vervielfältigung Berlin 1920, XII. Vortrag: Homo Oeconomus) eingehend darüber gesprochen. Mit Bezug auf das hier vorliegende Buch «Vom Menschenrätsel » sagte er: ,,Es wird in der nächsten Zeit von mir ein Buch erscheinen, das vieles ent­hält von den Ideen, die ich vorgetragen habe in den zwei letzten Wintern vor der Öffentlichkeit. Da wird in diesem Buch vieles aber auch von dem drinnen sein, wodurch der neuere Weltanschau­ungsidealismus, der also nach dem Mysterium von Golgatha liegt und diese Stellung nach dem Mysterium von Golgatha wohl ver-standen hat, - worin der neuere Weltanschauungsidealismus hin­aus ist über dasjenige, was im alten Indien zu finden war. Denn tatsächlich, meine lieben Freunde, was Fichte, was Hegel, was Schelling, was die anderen, die ich genannt habe, gelehrt haben,

199

das liegt weit hinaus über dasjenige, was die orientalische Weis­heit, was das Brahmanentum enthält... »

88 Karl Julius Schröer' geb. 11. Jan. 1825 in Preßburg, gest. 15. Dez. 1900 in Wien. 1866-1895 Dozent für Literaturgeschichte an der TH Wien. Die deutsche Dichtung des 19. Jahrhunderts in ihren be­deutenderen Erscheinungen. Leipzig 1875.

«Faust von Goethe.» 6. Aufl. Stuttgart 1926, vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Lebensgang' bes. Kap. III-V und «Weihnachtsspiele aus altem Volkstum. Die Oberuferer Spiele». 2. Auflage, mit Ein­leitung und Ansprachen von Rudolf Steiner, Dornach 1957.

90 Tobias Gottfried Schroer, geb. 14. Juni 1791 in Preßburg, gest. 2. Mai 1850 ebenda. Lycealprofessor für Geschichte, Archäologie und Ästhetik in Preßburg.

Vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Lebensgang 1925. S. 59 f. 96 Karl Julius Schröer: Unterrichtsfragen. Wien 1876.

98 Die Rätsel der Philosophie, Stuttgart 1955, Seite 237 (Die Klassi­ker der Welt- und Lebensanschauung.)

99 Ignaz Zingerle, geb. 6. Juni 1825 in Meran, gest. 17. Sept. 1892 in Innsbruck. Lehrer, später Universitätsprofessor in Innsbruck. For­schungen zur Volkskunde, Sprache, Literatur und Geschichte Ti­rols; Gedichte und Erzählungen.

99 Heinrich Natter, geb. 16. März 1844 in Graun (Tirol), gest. 13. April 1892 in Wien. Bildhauer in München und Wien: Skulptu­ren im Hoftheater, das Haydn-Denkmal in Mariahilf. Neben dem Bozener Brunnen mit dem Standbild des mittelhochdeutschen Dichters Walther von der Vogeiweide (um 1170-1230) sind vor allem das Zwingli-Denkmal in Zürich und das Andreas-Hofer­Monument auf dem Berg Isel bei Innsbruck bekannt.

99 Fercher von Steinwand (Johann Kleinfercher), geb. 22. März 1828 in der Steinwand bei Wildegg (Oberkärnten), gest. 7. März 1902 in Wien.

Vgl. dazu Mein Lebensgang Kap. VII und Aus dem literarischen Frühwerk' Heft XXI II.

100 Chor der Urträume in Fercher von Steinwand: Johannisfeuer (Allgemeine Nationalbibliothek 181-183) und Kosmische Chöre (Herausgegeben von C. S. Picht) Stuttgart 1928.

108 Bartholomäus von Carneri, geb. 3. Nov. 1821 in Trient, gest. 18. Mai 1909, Philosoph und Schriftsteller, 1870-1891 hervorra­gendes Mitglied des österreichischen Abgeordnetenhauses.

200

Vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Lebensgang 1925, S. 57 und Frühwerk Band IV (B. v. C., der Ethiker des Darwinismus).

109 Grundlegung der Ethik. Wien 1881. Volksausgabe Stuttgart 1905.

115 Die Rätsel der Philosophie 7. Aufl. 1955, S. 536 (Der moderne Mensch und seine Weltanschauung).

117 Der moderne Mensch. Versuche über Lebensführung. 2. Aufl. Bonn 1891, Volksausgabe Stuttgart 1904.

122 Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik. Wien 1871,

2. Aufl. Leipzig 1903.

124 Joseph Misson, geb. 1803 in Mühlbach, Niederösterreich, gest. 1875 in Wien. Ordenspriester und Dialektdichter. «Da Naz a nieder-österreichischer Bauernhui geht in d'Fremd»' Gedicht in unteren­zischer Mundart, zuerst Wien 1850. Neu herausgegeben von Karl Landsteiner Wien 1892.

Die Bemerkung K. J. Schröers steht nach Wurzbach: Biographi­sches Lexikon des Kaisertums Österreich, in einem Brief aus Wien vom 28. Febr. 1862.

131 Robert Hamerling, geb. 24. März 1830 in Kirchberg am Wald (Niederösterreich), gest. 13. Juli 1889 in Graz, ein naher Jugend­freund von Anton Bruckner; von der späteren Freundschaft mit Peter Rosegger («Als ich noch der Waldbauernbuh war») zeugen die 1893 in Wien erschienenen «Persönliche Erinnerungen an Ro­bert Hamerling » von Peter Rosegger und ein 1902 in Peter Roseggers «Heimgarten » veröffentlichter Briefwechsel.

Eine schöne, eingehende Darstellung von Leben und Werk Robert Hamerlings hat Anton Schlossar in der Allgemeinen Deutschen Biographie, 49. Band (Nachträge), gegeben.

Aspasia. Ein Künstler- und Liebesromann aus Alt-Hellas. Zwei Bände. Hamburg 1876. - Der König von Sion. Epische Dichtung in zehn Gesängen. Hamburg 1869. - Danton und Robespierre. Tragödie in fünf Aufzügen. Hamburg 1871. - Homunculus. Mo­dernes Epos in zehn Gesängen. Hamburg 1888.

Atomistik des Willens. Hamburg 1891.

Vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Lebeosgang, bes. Kap. VIII, und Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk. Gesammelte Aufsätze aus den Jahren 1892-1902, Heft XXIII.

133 Vincenz Knauer, 1828-1894, Privatdozent in Wien.

134 Die Hauptprobleme der Philosophie in ihrer Entwicklung und teilweisen Lösung von Thales bis Robert Hamerling. Wien 1892 Besprechung von Rudolf Steiner in « Literarischer Merkur » Wei­mar

201

1893, Nr.12. Wieder abgedruckt in «Aus dem literarischen Frühwerk», Heft X' Dornach 1939, Seite 347-351.

142 Friedrich Heinrich Jacobi, 1743-1819, «der Philosoph», von Be­ruf Kaufmann, Jurist, Schriftsteller, lebte vorwiegend in Düssel­dorf, zuletzt Präsident der Akademie der Wissenschaften in Mün­chen.

147 Galilei, geb. 18. Febr. 1564 in Pisa, gest. 8. Jan. 1642 in Arcetri bei Florenz, Mathematiker und Physiker, Gegner der physika­lischen Lehre des Aristoteles und auf Grund seiner eigenen For­schungen und Entdeckungen des als ketzerisch verworfenen ko­pernikanischen Systems, weshalb ihm der Inquisitionsprozeß ge­macht wurde. «Die Bedeutung Galileis für die Philosophie». In­augurationsrede geh. am 8. Nov. 1894 an der Universität in Wien von Professor Dr. Laurenz Müllner. Wiederabgedruckt in «An­throposophie» 1933/34, S. 29ff.

Laurenz Müllner, geb. 29. Juli 1848 in Groß-Grillowitz (Mähren), gest. 28.Nov.1911 in Meran. Vgl. auch Rudolf Steiner: Mein Le­bensgang' Kap. VII und «Anthroposophie » 1933/344, S. 25 ff.

149 Du Bois-Reymond' Emil, geb. 7. Nov. 1818 in Berlin, gest. am 26. Dez. 1896 ebd. Professor für Physiologie in Berlin.

Vortrag auf der 445. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1872, veröffentlicht in «Uber die Grenzen der Natur­erkenntnis. Die sieben Welträtsel.» Leipzig 1882, 16. Aufl. 1916. Vgl. auch Rudolf Steiner: Haeckel und seine Gegner (1899), wie­derabgedruckt in Veröffentlichungen aus dem literarischen Früh-werk, Band IV, und Grenzen der Naturerkenntnis. Acht Vorträge vom 27. Sept. bis 3.Okt.1920 in Dornach. Herausgegeben Dorn­ach 1939.

151 Ernst Mach, geb. 18. Febr. 1838 in Turas (Mähren), gest. 9. Febr.

1916 in Haar bei München. Professor für Physik in Graz und Prag, später Professor für induktive Philosophie in Wien. Vgl. Anton Lampa in «Neue österreichische Biographie 1815-1918». Wien 1923, S. 93-102 («Mit etwa 15 Jahren las er Kants Pro­legomena' wovon er später sagte: Etwa zwei oder drei Jahre später empfand ich plötzlich die müßige Rolle, welche das elche das <Ding an sich> spielt. An einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenhängende Masse von Empfindungen, nur im Ich stärker zusammenhängend. Obgleich sich die eigentliche Reflexion erst später hinzugesellte, so ist doch dieser Moment für meine ganze Anschauung bestimmend geworden.»)

202

151 Max Planck, geb. 23. April 1856 in Kiel, gest. 4.Okt.1947 in Göttingen, Professor für theoretische Physik in Kiel und Berlin, Begründer der «Quantentheorie».

152 Zur Farbenlehre: Rudolf Steiners Ausgabe von Goethes natur­wissenschaftlichen Schriften in Kürschners «Deutsche National­literatur» Band 33-36' l. 2. 1893-1897, in der Weimarer So­phien-Ausgabe, II. Abt. Bd. VI-XII. 1891-1896. Die Einleitungen und Kommentare Rudolf Steiners sind später auch gesondert her­ausgegeben, zuerst 1926 im Philos. Anthrop. Verlag in Dornach, Neuausgabe im Novalis-Verlag, Freiburg i. B. 19449. Goethes Far­benlehre mit Rudolf Steiners Kommentaren. Neudruck. Troxler­Verlag, Bern 1954.

Vgl. ferner Rudolf Steiner: Goethes Weltanschauung. Weimar 1897 (Neuauflagen); Frühwerk' Bd. IV, S. 59-60; aus dem Vor­tragswerk sind vor allem zu nennen die Vorträge, die in den drei Heften «Das Wesen der Farben», «Das Wesen der Farbe in Licht und Finsternis, Maß, Zahl und Gewicht» und «Die schöpferische Welt der Farbe » im Philosoph. Anthrop. Verlag in Dornach herausgegeben worden sind.

155 de La Mettrie' Julien Offray, geb. 25. Dez. 1709 in St.-Malo, gest. 11. Nov. 1751 in Berlin, wohin er durch Friedrich den Gro­ßen gerufen worden war.

«L'Homme Machine». Leiden 1748, Paris 1921. Deutsch von Max Brahn unter dem Titel «Der Mensch eine Maschine». 1909.

157 Eduard von Hartmann, geb. 23. Febr. 1842 in Berlin, gest. 5. Juni

1906 ebd. Widmete sich ganz der philosophischen Forschung, übte keine Lehrtätigkeit aus.

Vgl. Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, Kap. VI, IX, XVIII; Briefe Bd. II (1892-1902); Die Geisteswissenschaft als Anthropo­sophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönlich-Unpersönliches. (Erschien 1917 in der Zeitschrift «Das Reich», Neu­druck Dornach 1950).

160 s. Hinweis zu Seite 151.

161 Hermann Bahr, geb. 1863 in Linz, gest. 1934 in München. Vgl. Rudolf Steiner: Frühwerk Bd. III, S. 76f.

165 Eduard von Hartmann: Die moderne Psychologie. Leipzig 1901.

166 Brentano s. Hinweis zu Seite 53.

203

169 Rudolf Steiner: Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode. Berlin 18944.11. Aufl. Stuttgart 1955.

170 s. das Schriftenverzeichnis am Schluß dieses Buches.

172 s. Hinweis zu S. 152.

174 Rätsel der Philosophie s. Hinweis zu S. 27.

177 Preuß s. Hinweis zu S. 81.

180 s. Hinweis zu S. 152.

181 Robert Hamerling: Atomistik des Willens. Hamburg 1891.

185 Laurenz Müllner s. Hinweis zu S. 147.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.

Weblinks