GA 192

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ERSTER VORTRAG Stuttgart, 21. April 1919

#G192-1964-SE011 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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ERSTER VORTRAG

Stuttgart, 21. April 1919

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Zu demjenigen, was hier vor jetzt wohl genau einem Jahr zu Ihnen gesprochen werden konnte, ist ja zweifellos für Sie alle etwas anderes hinzugetreten, was zu Ihnen gesprochen hat ein sehr eindringlich redender Lehrmeister: das sind, als der letzte große Lehrmeister, die eindringlich sprechenden, die eine so deutliche Sprache sprechenden Tatsachen, die sich, seit wir das letztemal hier versammelt waten, abgespielt haben. Ja, diese Tatsachen haben für Sie alle eine um so deut­lichere Sprache gesprochen, als sie wohl für viele etwas anderes aus-sagten als das, was lange Zeiten hindurch als ein in die Zukunft hineinschweifender Glaube gestanden hat. Es ist ja wahrhaftig ein weiter Weg, inhaltlich, wenn auch zeitlich scheinbar kurz, von den ersten Augusttagen des Jahres 1914, wo unter mancherlei Hoffnungen und unter noch mehr Illusionen Deutschland ausgezogen ist zunächst mit einem Heere, das noch nicht einmal auf Kriegsfuß war, das noch nicht die Mobilisations-Ordre in sich trug, und den sogenannten« Lütticher Handstreich» ausführte - als unter den mancherlei Illusionen man sich gewöhnt hatte nachzusprechen, was zu denken von gewissen Seiten her befohlen wurde -, es ist ein weiter Weg von dort bis in jene Tage hinein, in denen im vorigen Herbste die Gefahr drohte, daß in wenigen Tagen das jenseits der deutschen Grenzen befindliche Heer abge­schnitten werde von allen Lebensmitteln der Heimat, was dann ja zu den Ihnen wenigstens der Hauptsache nach bekannten Tatsachen ge­führt hat. Es ist ein weiter Weg inhaltlich, wenn auch der Zeit nach wenige Jahre umfassend. Und zu alledem wird ja für den tiefer blik­kenden Menschen die Enttäuschung getreten sein, daß zu der äußeren militärischen Kapitulation auch die geistige Kapitulation von seiten Deutschlands durch den Mann hinzugefügt worden ist, auf den wie auf eine letzte Hoffnung viele Menschen gerade in den Herbsttagen des Jahres 1918 hingeschaut haben. Da waren, in diesem Herbste 1918, Ereignisse eingetreten, welche sehr, sehr geeignet waren, Korrektur auszuüben an all demjenigen, was in den letzten Jahren zwar zwischen

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den Zeilen in so mancher Beziehung angedeutet werden konnte, was aber offen auszusprechen innerhalb der Grenzen des ehemaligen Deutschen Reiches völlig unmöglich war, wie Sie ja alle wissen.

Nun, meine lieben Freunde, jetzt stehen wir gewissermaßen davor - und das muß insbesondere heute und gerade zu Ihnen gesprochen werden, in dem Sinne, wie das hier öfters angedeutet worden ist -, eine Probe durchzumachen auf dasjenige, was sich innerhalb unserer Reihen herausgebildet hat, und was ich mit einem vielleicht sonderbar klingenden Ausdruck «unsere anthioposophische Überzeugung» nennen möchte. Was ich insbesondere im Laufe der letzten Jahre immer wieder und wieder betont habe: daß diese unsere anthropo­sophische Überzeugung sich ja nicht darauf beschränken darf, etwas aufzunehmen, um gewissermaßen bloß ein inneres mystisches Wohl­gefühl zu haben, das ist es, was uns die laut sprechenden Tatsachen der Gegenwart so eindringlich lehren. Gar mancher hat ja in unseren Reihen sich darauf beschränkt, etwas aus der Anthroposophie aufzunehmen, was ihm gewisse innere Seelenfragen beantworten kann - was selbstverständlich an sich berechtigt ist -, aber, wahrhaftig nicht ohne Grund ist in den letzten Jahren immer wieder und wiederum be­tont worden, daß unsere anthroposophische Überzeugung dazu führen müsse, das praktische, das unmittelbar wirkliche Leben, das ja für den Einsichtigen vom Geiste durchwallt ist, besser zu verstehen, als es ohne die Grundlagen dieser anthroposophischen Überzeugung ver­standen werden kann. Nicht ohne Grund wurden diejenigen, welche sich mit anthroposophischer Überzeugung haben durchdringen kön­nen, aufgerufen zum Durchdenken der großen menschheitlichen Pro­bleme. Jetzt stehen wir vor einer Probe gewissermaßen, vor der Probe, ob dasjenige, was wir haben aufnehmen können, was wir oftmals doch nur als die Befriedigung eines höheren Seelenegoismus aufgenommen haben, ob das wirklich wird eindringen können in unseren Verstand, in unser Gemüt, in unser Herz, so daß wir gewachsen sein werden den Aufgaben, die jetzt in immer erhöhterem Maße den Menschen gestellt werden. Denn manches, was jetzt hereindringt, hat erst seinen Anfang genommen. Wir stehen mit Bezug auf vieles erst vor einem Anfang. Und es ist notwendig, daß wir von den Tatsachen lernen. Bedenken

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Sie nur einmal, wie das ganze Leben innerhalb dieser Tatsachen sich zugespitzt hat. Bedenken Sie, wie diejenigen, die sich oftmals als die allerpraktischsten Menschen dünkten, die auf die Geisteswissenschaft als auf eine furchtbare Phantasterei hinsahen, wie gerade diese prak­tischen Menschen sich wenig gewachsen erzeigt haben gegenüber dem, was über die Menschheit mit elementarer, mit gewaltig großer Macht hereingebrochen ist. Man muß heute sich erinnern, wie die­jenigen Persönlichkeiten, denen die irdischen Geschicke der Mensch­heit anvertraut waren, unmittelbar vor dem Eintritt der großen Welt­kriegskatastrophe gesprochen haben. Ich habe wohl auch hier schon vor Jahren aufmerksam gemacht auf die Art und Weise, wie da ge­sprochen worden ist. Ich will Sie heute nur daran erinnern, wie in ent­scheidenden Sitzungen des Deutschen Reichstages der damals für die auswärtige Politik verantwortliche Minister im Frühling 1914 sagen konnte: Die allgemeine politische Entspannung hat in der letzten Zeit erfreuliche Fortschritte gemacht. - Wie er sagen konnte in derselben Rede: Unsere freundschaftlichen Beziehungen mit Rußland sind auf dem besten Wege; das Petersburger Kabinett kümmert sich nicht um die Pressetreibereien, und wir werden unsere freundnachbarlichen Be­ziehungen in der nächsten Zeit fortsetzen können. - Sagen konnte er in derselben Rede: Mit England sind aussichtsvolle Unterhandlungen angeknüpft, welche wohl in der nächsten. Zeit zugunsten des Weit-friedens zum Abschlusse kommen werden; wie überhaupt die beiden Regierungen - er meinte die englische und die deutsche - so stehen, daß sich die Beziehungen immer inniger und inniger gestalten werden.

Das wurde von denjenigen gesprochen, welche ausersehen waren, die Geschicke der Menschheit zu führen. Das wurde gesprochen in der selben Zeit, in welcher ich genötigt war, das, was ich immer wieder und wiederum betont habe, im Frühjahr 1914 in meinem Vort?age in Wien zusammenzufassen mit den Worten: «Die in der Gegenwart herrschenden Lebenstendenzen werden immer stärker werden, bis sie sich zuletzt in sich selber vernichten werden. Da schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, überall, wie furchtbar die An­lagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprießen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist

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das Furchtbare, was so bedrückend wirkt und was selbst dann, wenn man allen Enthusiasmus sonst für das Erkennen der Lebensvorgänge durch die Mittel einer Geist-erkennenden Wissenschaft unterdrücken könnte, einen dazu bringen müßte, von den Heilmitteln zu sprechen, die dagegen verwendet werden können, daß man Worte darüber der Welt gleichsam entgegenschreien möchte. Wenn der soziale Organis­mus sich so weiter entwickelt, wie er es bisher getan hat, dann ent­stehen Schäden der Kultur, die für diesen Organismus dasselbe sind, was Krebsbildungen im menschlichen natürlichen Organismus sind.»

So sprach man dazumal, wenn man von den sogenannten prak­tischen Leuten als ein Phantast angesehen worden ist. Die allgemeine Entspannung, von der dazumal Herr von Jagoiv vor der erleuchteten Versammlung des Deutschen Reichstages gesprochen hat, vor denen, die ein Urteil haben sollten, die aber alles ruhig anhörten und es glaubten - sie hat Fortschritte in der Richtung gemacht, daß in den nächsten Jahren mindestens zehn bis zwölf Millionen Menschen tot­geschlagen und dreimal so viele zu Krüppeln geschlagen worden sind. Das sage ich aus dem Grunde, weil heute gesagt werden muß, daß es darauf ankommt, die Lage der Menschheit zur rechten Zeit richtig zu würdigen, daß es darauf ankommt, sich durch ein ganz anderes Denken als das, woran sich die leitenden Kreise gewöhnt haben, Ein­sicht in die Lage der Menschheit zu verschaffen, daß es darauf an­kommt, heute immer besser und eindringlicher zu verstehen, was aus der alten Weltanschauung herausgeflossen ist. Nichts taugen kann ein solches altes Denken, auch nicht für das praktische Leben, weil das praktische Leben immer mehr und mehr die unmöglichsten Gedanken erzeugte, die zu Katastrophen führen mußten. Es kommt nicht darauf an, sich über Einrichtungen Gedanken zu machen, sondern darauf, einzusehen, daß die Menschheit umlernen muß mit Bezug auf die tiefsten Gedanken.

Das war der eine Grund, warum so eindringlich gesprochen worden ist von der Notwendigkeit der Erneuerung der ganzen Weltanschau­ung, einer Hinwendung der ganzen Menschheit zu den Quellen der Wirklichkeit, die allein im geistigen Leben liegen. Denn zum Schlusse kommt alles darauf an, daß eingesehen werde, daß wir nicht bloß auf

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dem oder jenem Gebiete so oder so geänderte Einrichtungen brauchen, sondern zuletzt kommt alles darauf an, einzusehen, daß wir vor allen Dingen etwas ganz anderes für die Zukunft, für die allernächste Zu­kunft brauchen: Köpfe brauchen wir, in denen etwas ganz anderes pulsiert, als in denjenigen Köpfen, die sich unter dem Einfluß der ab­getanen Weltanschauung herausgebildet haben. Vor allen Dingen brauchen wir eine Neuorganisation, einen Neuaufbau der Gedanken in den Menschenköpfen. Das ist es, woran man arbeiten wollte in den letzten zwei Jahrzehnten, weil dieses Arbeiten notwendig geworden war. Köpfe brauchen wir, die anders organisiert sind als diejenigen, die die Menschheit ins Unglück gestürzt haben. Solange dies nicht in allen Teilen eingesehen wird, solange nicht eingesehen wird, daß das Licht, das allein aus der Geisteswissenschaft kommen kann, die ver­finsterten Köpfe erleuchten muß, solange kann - ob man nun konser­vativ, ob man radikal, oder sonstwie denkt - solange kann keine Bes­serung kommen. Mit irgendwelchen kleinlichen Mitteln, die aus alten Gedanken fließen, wird der Menschheit kein Heil beschert. Neue Ge­danken sind vor allen Dingen notwendig, neue Gedanken, die allein erstehen können auf Grund dessen, was hier in diesen Räumen seit Jahren als die größten Anforderungen für die Gegenwart und für die nächste Zukunft besprochen worden ist.

Sie kennen zunächst dasjenige, was sich aus den Notwendigkeiten der Zeit heraus ergeben hat, als der sogenannte « Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt», in dem zum ersten Mal öffentlich aus­gesprochen worden ist, was in engeren Kreisen auszusprechen ich mich bemüht habe in den letzten Jahren, wo es keinen Widerhall ge­funden hat, wo nur der Donner der Kanonen gehört werden wollte, nicht die Stimmen des Geistes. Sie wissen, daß in diesem Aufruf zu­nächst in positiver Weise gefordert wird, was in den Impulsen der Menschheitsentwickelung selbst für unsere Zeit liegt. Denn für das größte Unheil hält derjenige, der eine Einsicht in die treibenden Kräfte der Menschheit hat, die abstrakten, die sogenannten ewigen Ideale, die nicht aus dem wirklichen Geistesleben, sondern bloß aus den Spiegel­bildern der menschlichen Begriffe und Ideen hervorkommen, die keine Wirklichkeit sind, die nur eine Spiegelungswirklichkeit in sich haben.

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Darauf muß man gerade in der Gegenwart besonders aufmerksam sein. Auch in der Gegenwart werden zahlreich diejenigen Menschen sein, die da glauben, etwas Bedeutungsvolles zu sagen, wenn sie darüber reden, wie die Menschheit für ewige Zeiten beglückt werden kann, was für Zustände herbeigeführt werden müssen als Idealzustände der Menschheit. Solche Ewigkeitsideen und solche Idealzustände der Menschheit denkt derjenige nicht, der aus dem wirklichen geistigen Leben heraus seine Erkenntnisse schöpft. Wie ich es immer hier aus­einandergesetzt habe, war die Entwickelung so, daß stets eine be­stimmte Epoche einer anderen Epoche folgte und vor allen Dingen für alle Hauptepochen der nachatlantischen Zeit ein eigenes konkretes Ideal vorhanden war, wie auch für unsere Zeit und für die nächste Zukunft. Nicht darauf kommt es an, wie in chiliastischer Weise ein tausendjähriges Reich herbeizuführen ist, sondern was die geistige Welt für eine kurze Zeitspanne verwirklichen will, die man aber nur übersehen kann, wenn man sich auf eine geistige Wissenschaft wirk­lich einläßt. Und unsere Zeit fordert eben in dringlicher Art das, was als der Grundnerv dieses Aufrufes geltend gemacht wurde: Die Drei-gliederung des sozialen Organismus. Der soziale Organismus kann nur dadurch gesund werden, daß er diese Dreigliederung erhält, die Sie gelesen haben in dem Aufruf, und wie Sie sie finden werden in meiner Broschüre «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebens-notwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft». Der gegenwärtige Menschheitszyklus erfordert diese Dreigliederung.

Sehen Sie, ein ganz anderes wäre es gewesen, wenn noch in der Mitte oder selbst noch im Herbste des Jahres 1917 diese Dreigliede­rung von bedeutungsvoller Seite, entweder Deutschlands oder Öster­reichs, geltend gemacht worden wäre, als eine Kundgebung der Im­pulse Mitteleuropas gegenüber den von amerikanischen Gesichts­punkten entworfenen sogenannten Vierzehn Punkten des Woodrow Wilson. Dazumal wäre das eine historische Notwendigkeit gewesen. Ich habe Küh/mann dazumal gesagt: Sie haben die Wahl, entweder jetzt Vernunft anzunehmen und auf das hinzuhorchen, was in der Ent­wickelung der Menschheit sich ankündigt als etwas, was geschehen soll - denn was in diesen Auseinandersetzungen steht, ist nicht irgendein

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Programm, wie es heute so viele haben, sondern ist etwas, was herausgelesen ist aus der Entwickelung der Menschheit und was ganz gewiß realisiert wird in den nächsten fünfzehn, zwanzig, fünfundzwan­zig Jahren, was aber vor allen Dingen realisiert werden muß innerhalb Mitteleuropas -, heute haben Sie die Wahl, entweder Vernunft anzu­nehmen, was sich realisieren will, durch Vernunft zu realisieren, oder Sie gehen Revolutionen und Kataklysmen entgegen. - Statt Vernunft anzunehmen, bekamen wir den Frieden von Brest-Litowsk, den so­genannten Frieden von Brest-Litowsk. Denken Sie, was es gewesen wäre - das kann ohne Renommisterei gesagt werden -, wenn gegen­über den sogenannten Vierzehn Punkten dazumal in den Donner der Kanonen die Stimme des Geistes haneingetönt hätte. Ganz Osteuropa hätte dafür Verständnis gehabt - das weiß jeder, der die Kräfte in Osteuropa kennt -, den Zarismus ablösen zu lassen von der Drei-gliederung des sozialen Organismus. Dann wäre zustande gekommen, was eigentlich hätte zustande kommen müssen. Diejenigen, die der Sache dazumal wohlwollend gegenübergestanden haben, haben höchstens den Rat gegeben, man solle das als Broschüre drucken lassen. Nun denken Sie sich, welcher Unsinn das dazumal gewesen wäre. In den mancherlei Dingen, die dazumal nicht gelesen wurden, wäre auch das selbstverständlich Literatur geblieben. Die Zeiten ändern sich. Heute, wo alles auszugehen hat von der breiten Masse, heute, wo zwischen dort und jetzt die Oktober- und Novembertage des Jahres 1918 liegen, heute ist der richtige Weg der, sich mit diesen Dingen an die breite Öffentlichkeit zu wenden. Das sind die größten Schädlinge der Menschheit, die immer glauben, die Sache müsse, wenn sie richtig ist, insofern sie sich auf das praktische Leben bezieht, zu jeder Zeit in gleicher Weise richtig sein. Nein, so faul darf unser Denken nicht werden, wie die Leute, die diese Ansicht haben, glauben. Die Dinge sind zu verschiedenen Zeiten von ganz verschiedenen Gesichtspunkten aus zu beurteilen.

Man muß ja allerdings etwas tiefer hineinschauen in die Entwicke­lung der Menschheit, wenn man die ganze, volle, weitgehende Praxis desjenigen würdigen will, was gerade dieser Dreigliederung zugrunde liegt. Diese Dreigliederung ist, ich muß das immer wieder und wiederum

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betonen, nicht etwas, was einem einfallen kann. Sie ist etwas, was der Geist der Zeit und der Gegenwart unbedingt von den Menschen fordert, was der Geist der Zeit verwirklichen will, was der Geist der Zeit - bitte, wenn Sie das Folgende hören, werden Sie auch diesen Satz, den ich jetzt vorausschicken kann, verstehen -, was der Geist der Zeit tatsächlich verwirklicht. Und gerade dadurch entsteht das Chaos, daß die Menschheit anders denkt und vor allen Dingen anders handelt, als der Geist der Zeit denkt und handelt. Eigentlich verwirk­licht sich schon seit den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts das, was in dieser Dreigliederung steht, nur die Menschen haben sich anders verhalten und sind dadurch in furchtbare Widersprüche ge­raten mit dem, was in den Tatsachen verwirklicht wird. Sie wissen, es handelt sich vor allen Dingen um die Dreigliederung des sozialen Or­ganismus in einen geistigen Teil, in einen eigentlich staatlichen oder politischen Teil und in einen wirtschaftlichen Teil. Betonen möchte ich zunächst: Das Erweisen der Richtigkeit dieser Grundanschauung kann aus dem bloßen gesunden Menschenverstand geschehen, wie überhaupt alles aus dem gesunden Menschenverstand heraus begriffen werden kann, was geisteswissenschaftlich gewonnen wird, wie ich das ja auch immer betont habe. Aber ich glaube allerdings nicht, daß aus dem heutigen Denken heraus man in richtiger Weise - bitte nicht zu vergessen, daß ich sagte: in richtiger Weise - dazu kommen kann. Es sind ja Menschen, welche zu ähnlichem gekommen sind, aber es han­delt sich darum, daß man auf wirklich praktischer Grundlage dazu kommt, auf einer Grundlage, die dasjenige berücksichtigt, was in un­serer Zeit sich verwirklichen will, und eigentlich sich verwirklicht.

Betrachten wir also einmal heute, ich möchte sagen provisorisch und einleitend, einiges, was uns Vorstellungen geben kann über die Art, wie eine gründliche Betrachtung der Zeit über diese Dreigliederung spricht. Sehen Sie, als in der neueren Zeit, seit etwa vier Jahrhunderten, heraufgezogen ist über die Menschheit das, was man heute nennt die kapitalistische Wirtschaftsordnung und die moderne technische Ord­nung, da zog auch herauf die neue Denkgewohnheit, die neue Welt­anschauung. Wenn das, was man in der Schule Geschichte nennt, nicht eine Fahle convenue wäre, so würde aus der Geschichte schon

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folgen, wie gründlich sich die Denkgewohnheiten der ganzen zivili­sierten Welt geändert haben vom dreizehnten, vierzehnten, fünfzehn­ten Jahrhundert in die folgenden Jahrhunderte hinein. Eine oberfläch­liche Betrachtung glaubt ja, daß sich alles das langsam entwickelt, währenddem im historischen Werden die großen Umschwünge er­folgen. Ein solcher Umschwung liegt zugrunde dem, was sich seit drei bis vier Jahrhunderten in den ganzen geistigen Lebensgewohn­heiten und Denkgewohnheiten der Menschen entwickelt hat.

Da möchte ich Sie vor allen Dingen auf eine Erscheinung aufmerk­sam machen, die sich unter den Augen, ich meine immer Seelenaugen, abgespielt hat, aber im Grunde genommen kaum tiefrr gewürdigt worden ist. Man hat eben sie sich so abspielen lassen, diese Erschei­nung. Das ist die Erscheinung: Welche geringe Rolle eigentlich im Leben der Menschheit, besonders der deutschen Menschheit, die so­genannten geistigen Persönlichkeiten gespielt haben, wie wenig die allgemeine Schulbildung bis hinauf zur Hochschule dazu beigetragen hat, daß dasjenige, was sich in den letzten Jahrhunderten in einzelnen geistigen Individualitäten ausgebildet hat, eingezogen ist in das all­gemeine Kulturgut. Nehmen Sie den Fall, den ich hier oftmals er­wähnt habe, den Fall Goethe. Ja, Goethe war der Träger einer großen, umfassenden Weltanschauung. Es hat sich für die Entwickelung der Menschheit Ungeheueres abgespielt in den Jahren Yon 1749, wo Goethe geboren worden ist, bis 1832, da er gestorben ist. Ein Un­geheures an geistigen Impulsen liegt in diesem Goethe. Sehen wir aber, welchen Eindruck Goethes Weltanschauung, der Goetheanismus, auf die deutsche Menschheit gemacht hat, da bekommen wir ein furchtbar trauriges Bild. Selbst diejenigen, die glauben, etwas von Goethe zu wissen, wissen von den innersten Impulsen seines Geisteswesens gar nichts. Und ebenso könnte man, vielleicht in noch höherem Grade, von manchem anderen sprechen. Davon muß man sprechen, daß, seit sich die Technik, seit der Kapitalismus sich ausgebreitet hat, das gei­stige Leben, das sich in einzelnen Individualitäten gerade mit Bezug auf das rein und allgemein Menschliche geltend gemacht hat, sich, man kann nicht anders sagen, wie ein Parasit, wie etwas Parasitäres auf dem übrigen Kulturkörper entwickelt hat. Es war da, aber es war

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im Grunde genommen zu nichts da. Wie um eine Bestätigung zu lie­fern dafür, daß das geistige Leben, insofern es zum Beispiel Goethe betrifft, zu nichts da war, wie es zurückgewiesen wurde, wie es nicht aufgenommen wurde, sondern nur theatralisch, zum Schein damit kokettiert wurde, sehen wir, daß schließlich die Goethe-Gesellschaft, die sich als die offzielle Vertreterin des Goetheanismus fühlt, aus einem Impulse heraus, der allmählich mehr und mehr gang und gäbe geworden war, fragte: Wen wählen wir jetzt am besten zum Vor­sitzenden unserer Goethe-Gesellschaft? - Und da wurde nicht gedacht: Wer versteht am meisten von Goetheanismus?, sondern daran wurde gedacht, wer die besten Kratzfüße machen könnte, wenn die Goethe-Gesellschaft bei irgendwelchem Hofe auftreten mußte. Da wurde dann ein ehemaliger Finanzminister zum ersten Vorsitzenden der Goethe-Gesellschaft in Weimar gewählt, dessen geistige Wege niemals zu Goethe führten. Was einen etwas hinweisen konnte auf die Hohiheit des Ganzen, war, daß der Vorname des Betreffenden war: Kreuz­wendedich. Kreuzwendedich von Rheinbaben war dazumal wie aus einer Ironie des Schicksals heraus gewählt worden als Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft. Das sind scheinbar unbedeutende Tatsachen, aber gerade daß sie als unbedeutend angesehen werden können, wo sie doch in Wahrheit Symptome für das tiefste Fühlen sind, das ist das Schreckliche. Derjenige, der diese Tatsachen nicht als wichtige Sym­ptome für die Enthüllung des innersten Denkens und Empfindens er­klärt, der erklärt sich im Grunde genommen einverstanden mit all dem, was die Menschheit in das schreckliche Unglück hineingeführt hat.

Diesen Parasitismus des Geisteslebens, diese Zusammenhangslosig­keit dessen, was auf den Höhen der Menschheit produziert wurde, mit dem allgemeinen Volksleben, vergleichen Sie es mit den früheren Zeitaltern. Es ist in früheren Zeitaltern gar nicht denkbar. Denken Sie einmal, welchen Eindruck für das allgemeine Volksleben, sagen wir, um ein Beispiel herauszugreifen, im späteren Indien der Buddha gemacht hat. Vergleichen Sie diese Popularität des Buddha mit der Popularität, die ein Goethe gehabt hat. Vielleicht werden Sie sagen: Nun ja, neben Goethe sind so viele andere Geisteshelden, Buddha war nur einer. - Wer diesen Einwand macht, zeigt, daß er nichts versteht

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von dem, was die Grundbedingungen der Entwickelung der Mensch­heit sind. Denn das ist das große Unglück, daß an solch geistigen Leu­ten, an solch geistigen Persönlichkeiten durch die natürlichen Ver­hältnisse eine furchtbare Überproduktion entstanden ist. So daß die, die im allgemeinen Leben drinnen stehen und zu arbeiten haben, sich schon gar nicht zurechtzufinden wissen. Nicht wahr, es ist ja nicht bloß Goethe da, sondern auch noch Herder und Schelling und Schle­gel; aber nicht nur diese, nun soll man auch noch Geibel, Wildenbruch lesen. Und gar erst auf allen möglichen anderen Gebieten: mit was allem man sich da beschäftigen soll, was zum allgemeinen Kulturwert gehören soll! Und wenn man nun gar erst an die internationalen Ver­hältnisse denkt!

Ja, was da zugrunde liegt, das ist etwas sehr tief Einschneidendes, etwas außerordentlich Bedeutungsvolles. Zwischen denjenigen, die so in den Literaturgeschichten nebeneinander figurieren, zwischen denen ist trotzdem ein großer Unterschied. Aber den Respekt vor dem gei­stigen Leben haben die Menschen im Laufe der letzten Jahrhunderte eben im großen Stile verloren. Das tritt einem in einzelnen Dingen ent­gegen. Symptomatisch muß man die Entwickelung der Menschheit betrachten können, dann findet man aus den Symptomen schon her­aus, was eigentlich in den Untergründen pulsiert! Ich sprach einmal in einem kleinen Kreise im Anfang der neunziger Jahre des neunzehn­ten Jahrhunderts mit einigen Leuten, die auch Mitglieder von Gymna­siallehrer-Prüfungskommissionen waren. Ein besonders angesehener Prüfer der Gymnasiallehrer-Prüfungskommission sprach dazumal innerhalb dieses kleinen Kreises, und wir besprachen, wie bedrückend es eigentlich ist, daß in den jetzigen Gymnasien so furchtbar wenig für die allgemeine Erhöhung der geistigen Impulse geschieht, daß doch so furchtbar wenig hineinkommt in die jungen Leute und in die Kna­ben - später sind auch die Mädchen dazugekommen, dadurch wurde nichts gebessert -, die vom zehnten bis achtzehnten Jahre da in diesen Anstalten geistig dressiert werden. Da sagte der betreffende Prüfungs­kommis sär: Ja, wenn wir da sehen, wie wir diese Kamele loslassen auf die Jugend, die wir da zu prüfen haben, wenn wir sehen, wie wir diese Kamele hinschicken müssen als Lehrer der Jugend, dann kann man

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nicht hoffen, daß etwas Günstiges dabei herauskommt. - Sehen Sie, das ist ein Symptom. Solche Leute, die in den letzten Jahren verant­wortlich waren gerade für das Geistesleben der weniger breiten Mas­sen, der führenden Klassen, die hatten so wenig Respekt, daß sie es als selbstverständlich ansahen, die Gymnasiallehrer zu prüfen und als Kamele loszulassen auf die Jugend. Sie sind überzeugt, daß die, die die besten Examina machten, die größten Kamele sind. Ja, aber das Denken der Menschen, die Denkgewohnheiten, die sind es doch, von denen, trotz aller gegenteiligen Anschauung, alles abhängt. Wir sehen zuletzt, indem sich die Dinge summieren, wirklich Glück und Unglück der Menschheit abhängen von diesen Denkgewohnheiten, die sich zu­letzt kumulieren zu solchen Weltkatastrophen, wie wir sie in den letz­ten Jahren erlebt haben. Man muß auf die Kleinheiten eingehen, denn sie sind Symptome für das, was in den unterbewußten Sphären regiert und was unberücksichtigt bleibt für die Zeit, in der man mit Recht hinweist auf technische Entwickelung, auf Kapitalismus und so weiter.

So hat man es gehalten mit dem Geistesleben, und im Grunde ge­nommen ist ein Luxus-Geistesleben entstanden, ein Geistesleben, das die Menschen in den verschiedensten Zweigen eigentlich nur noch als Luxus empfinden konnten. Aber sie lieben diesen Luxus. Man könnte auf vielen Gebieten auf diesen Luxus hinweisen, der an Stelle des Gei­stes getreten ist. Nehmen wir ein Gebiet heraus: die Landschafts­malerei, wie sie das letzte Jahrhundert entwickelt hat. Glauben Sie, daß außer den wenigen Menschen, die darauf dressiert werden, glauben Sie, daß die breite Masse der Menschheit wirklich ein offenes Herz und Sinn haben kann für diese Landschaftsmalerei? Glauben Sie, daß zum Beispiel der Proletarier, der durch die kapitalistische Wirtschaftsord­nung und den technischen Betrieb eingespannt worden ist in eine wahrhaft trostlose Ödigkeit des Lebens, daß der, wenn Sie ihm so aller­lei Brocken, die da abfallen, hinwerfen in Volksvorträgen und Volks­kursen, in Volkshäusern, in Veranstaltungen, wo Sie ihm Bilder zeigen, glauben Sie, daß er wahrhaftig mit seinem Innern daran herankommen könnte? Ja, die Landschaftsmalerei - glauben Sie mir: der, der nicht darauf dressiert ist, sagt: Ja, warum malt man das? Draußen ist es ja doch viel schöner. Warum malt man das eigentlich? - Sie können ihm

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andressieren, wenn Sie Volkskurse abhalten als Heil- und Palliativ-mittel, daß das wirksam ist; aber das Unterbewußte fällt nicht darauf herein. Das Unterbewußtsein sagt immer: Wozu malen die das? Man muß doch nicht die Menschheitskräfte verschwenden auf solches Zeug. - Aus diesen Stimmungen setzt sich zuletzt das zusammen, was heute in so laut sprechenden Tatsachen auspulst. Das ist es schon, worauf es ankommt. Denn, nicht wahr, was konnte man nicht in den letzten Jahrzehnten immer wieder darüber hören, wie wir es so herr­lich weit gebracht haben, wie der menschliche Gedanke mit Blitzes­schnelligkeit hinrollt über die weitesten Länderstrecken, wie wir so bequem reisen können, wie die geistige Kultur sich ausbreitet und so weiter. Aber das alles, was man so lobhudeln konnte, war ja doch nur dadurch möglich, daß es sich ausbreitete auf einem Unterbau, der Millionen von Menschen umfaßte, die nicht teilnehmen konnten an diesen Dingen. Sie alle hätten nicht reisen können mit der Eisenbahn, hätten nicht telephonieren können, hätten nicht den Gedanken hin-schicken können über weite Strecken, wenn nicht unzählige Menschen außerstande gewesen wären, irgendwie an dieser Kultur teilzunehmen, wenn diese Kultur nicht Millionen und aber Millionen von Menschen leiblich und seelisch Elend und Not gebracht hätte.

Ja, blicken wir einmal auf einen bestimmten Zeitpunkt, blicken wir hin auf die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, denn diese Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist es ja ungefähr auch, wo das, was man häufig die soziale Frage nennt, eigentlich begonnen hat. Die führenden Kreise, die sind allmählich aus jener Stimmung entstanden, welche man nicht anders charakterisieren kann, als daß man auf den Parasitis­mus des eigentlich guten Geisteslebens hinweist. Das gute Geistes­leben ist zum Parasiten geworden, weil es die anderen nicht ange­nommen haben. Es war vorbestimmt, einzudringen in die wirkliche Volkskultur, aber es wurde nichts dazu getan, es einzulassen, das Kreuz hatte sich eben noch nicht gewendet. Ja, in dieser Zeit waren die Menschen dieser führenden, leitenden Kreise allmählich dahin ge­langt, für ihre Seele doch etwas zu bekommen. Wie oft habe ich es hier betont, welch unnatürliche Wege diese Sehnsucht mancher Seelen geht. Nicht wahr, man konnte es erfahren, wie die Leute in gut eingeheizten

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Zimmern zuletzt Theosophen geworden sind, als letztes Ende des Bourgeoisie-Strebens, wie sie - aber das war ja die letzte Phase - da geredet haben von Brüderlichkeit, von Menschenliebe, von hehren ethischen Idealen und so weiter. In welchen Zimmern geschah denn das? In welchen Räumen geschah denn das? Ich rede von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Es ist nachher, aber wahrhaftig nicht durch das Verdienst der führenden Kreise, etwas besser gewor­den, wenn auch nicht viel. In welchen Räumen geschah denn das? In solchen Räumen, die mit Kohlen geheizt waren, für die die englische Regierungs-Enquete schon in den vierziger Jahren das Resultat fest­gestellt hatte, daß in den Kohlengruben neun-, elf-, dreizehnjährige Kinder arbeiteten, Kinder, welche außerhalb des Sonntags niemals das Sonnenlicht sahen, einfach aus dem Grunde, weil sie, bevor die Sonne aufging, in den Schacht geführt wurden und nach Sonnenuntergang herauf kamen. Ja, es ließ sich leicht von Nächstenliebe, von Brüder­lichkeit, von allgemeiner Menschenliebe sprechen, wenn man mit Kohlen heizte, die durch solche «Brüderlichkeit» gewonnen wurden. Da ließ sich auch leicht von der Erhöhung der Sittlichkeit der Men­schen sprechen, wenn man mit Kohle heizte, die aus diesen Schächten geholt wurde, wo, wie wiederum die englische Enquete feststellte, Männer und Frauen den ganzen Tag zusammen arbeiten mußten, nackt; schwangere Frauen halbnackt, Männer ganz nackt, denn in den Schächten ist es sehr heiß. Ich erwähne diese Dinge, die verhundert­tältigt werden könnten, um Jhnen das Bild zu zeigen, um das es sich handelt, das Bild der Kultur der letzten Jahrhunderte, eben der Luxus-kultur, einer Kultur, welche noch außerdem ihren Verwesungsgeruch in sich trug: unten der Unterbau, ohne den diese Kultur nicht möglich geworden wäre, Millionen und Miffionen von Menschen, die nicht teilnehmen konnten an dieser Kultur. Wie allmählich der Verstand der Menschen beschaffen war, die diese sechzehnstündige Arbeit in den Kohlengruben verrichteten, das wurde dazumal bei der Enquete auch konstatiert. Aber was war denn das Charakteristische des letzten hal­ben Jahrhunderts? Das Charakteristische war die Gedankenlosigkeit. Vorzugsweise die Gedankenlosigkeit. Und die Gedankenlosigkeit ist dasjenige, worauf man vor allen Dingen sehen muß, wenn auf Besserung

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hingearbeitet werden soll. Statt daß man so leicht sagt: Lieber Ofen, erfülle deine Ofenpflicht, das Zimmer warm zu machen - sollte man lieber mit Holz einheizen und das Predigen lassen. Das ist es, was in priesterlichen Kreisen und in Kreisen der Atheisten immer getan wor­den ist: gepredigt wurde. Und was unterlassen worden ist, ist das Den­ken, das Denken an die Wirklichkeit. Das ist es, worauf es ankommt. Das ist es vor allen Dingen, was dem heutigen Menschen nahelegen kann, daß gerade im Geistesleben ein Umschwung eintreten muß.

Das Geistesleben kann nicht gedeihen, wenn es nicht jeden Tag aufs neue seine eigene Wirklichkeit beweisen muß. Aber das Geistesleben wird sich beweisen können nur dann, wenn es auf sich selbst gestellt ist. Von der niedersten Schulstelle an bis hinauf zur höchsten Schul-stelle, von dem ausgesprochenen Zweig der Wissenschaft bis zur freien künstlerischen Schöpfung: es muß in sich, für sich bestehen, geistig in sich bestehen, weil es auf nichts anderes bauen kann, als auf dasjenige, was in seiner eigenen Stärke lebt. Derjenige, der das Geistes­leben kennt, der weiß, welches Unheil angerichtet worden ist in den letzten vier Jahrhunderten durch die moderne Staatsform, dadurch, daß der Staat seine Fittiche gespannt hat über dieses Geistesleben, daß alles, was Geistesleben ist, allmählich verstaatlicht werden sollte mit Ausnahme von einigen wenigen Zweigen, die noch geblieben sind und denen auch der Untergang droht. Denn wäre es weiter gegangen im Sinne der letzten Zeit, so wären auch die letzten Zweige des freien Geisteslebens noch verstaatlicht worden. Aber die Denkgewohnheiten der Menschen sind heute noch nicht so weit, daß sie einsehen, daß ge­rade mit Bezug auf die furchtbare Versklavung des Geisteslebens durch das politische Staatsleben der Rückweg angetreten werden muß, daß dieses Geistesleben befreit werden muß. Noch immer gehen die Ziele der Menschen auf die Unterbindung der Freiheit des Geistes­lebens und die Verstaatlichung des Geisteslebens hin, wo so viele Staaten bewiesen haben, wie eigentlich das Umfassen des Geistes­lebens durch den Staat gewirkt hat.

Es ist ja den Menschen die Illusion des Staatslebens auch heute noch sehr schwer auszutreiben. Ich war in der letzten Zeit einmal in Bern, wo die sogenannte «Völkerbund-Konferenz» war. Die Leute sprachen

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von allem möglichen, so ungefahr im Stil der vorigen Zeit, wie Herr von Jagow im Mal 1914 gesprochen hat von den kommenden Dingen. So wie das, was dazumal gekommen ist, verschieden war von dem, was ausgedrückt worden ist durch «die allgemeine Entspannung macht Fortschritte», so wird sich das unterscheiden, was kommen wird, von dem, was in Bern gesagt worden ist. Die Herren stehen nirgends im Boden der Wirklichkeit drinnen. Da wurde gesprochen von Leuten, die Reden halten, die in deutschen Zeitungen schreiben, was alles geschehen solle, um diesen Völkerbund zustandezubringen. Wie ein Parlament gebildet werden solle, das so wie die Parlamente der Staaten vorher, nun den ganzen Zusammenhang von Staaten um­fassen werde. Der betreffende Herr konnte sich auch nicht entbrechen, zu sagen: Ein Überparlament muß geschaffen werden, ein Über-staat. - Ich habe damals in einem Vortrag, den ich zur gleichen Zeit hielt, gesagt, daß es mehr an der Zeit wäre, darüber nachzudenken, was die Staaten unterlassen sollten, als darüber, was sie tun sollten, um nicht das, was in die Weltkatastrophe hineingeführt hat, noch weiter auszudehnen. Man fragt nur: Was soll geschehen im Sinne des alten Staates? - Man hat nicht gelernt von der Zeit, zu fragen: Was sollen die Staaten unterlassen? - Sie sollen vor allen Dingen unterlassen, sich in das geistige und in das wirtschaftliche Leben hineinzumischen. Man soll nicht daran denken, Überparlamente und Überstaaten zu gründen, nachdem die Unterparlamente und Unterstaaten so geringe Erfolge gehabt haben. Heute kann nicht die Frage sein: Was sollen die Staaten tun? sondern: Was sollen die Staaten unterlassen? Das paßt in die heutige Zeit hinein. Aber man muß den Mut haben, mit Bezug auf das Denken, in diese Dinge rückhaltlos hineinzuschauen.

Den Zusammenhang gerade zwischen diesem Geistesleben und demjenigen, was sich nun in den anderen Zweigen des sozialen Orga­nismus abspielt, diesen Zusammenhang einzusehen, dazu wird man gar nicht kommen, wenn man nicht erst etwas gefüllt hat den Kopf durch das Aufnehmen derjenigen Gedanken, die in der Geisteswissen­schaft enthalten sind. Warum ist denn für viele Leute die Geistes­wissenschaft in der Gegenwart ein solcher Greuel? Nun, weil sie eben fordert, daß man anders denkt, als die Menschen denken. Aber die

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Tatsachen haben ja gelehrt, daß es mit dem Denken, in dem die Menschheit steckt, eben nicht weiter geht. Daran können sich die Menschen so schwer gewöhnen, daß sie umdenken müssen. Sie kön­nen nicht auf die Tatsachen hinschauen.

Dreigliederung: die Menschen finden sie heute schwer verständlich, weil sie eben nicht haben sehen wollen auf das, was wirklich ge­schehen ist. Die Entwickelung der Menschheit hat eigentlich in den Tatsachen, die sich nur den Blicken der Menschen entziehen, ein großes Stück der Dreigliederung schon verwirklicht, nur passen sich die Menschen der Verwirklichung nicht an. Ich will Ihnen ein Beispiel anführen: Wenn wir in die sechziger Jahre zurückgehen, so finden wir, daß innerhalb Deutschlands die Eisenindustrie so beschaffen war, daß dazumal ungefähr 799 000 Tonnen Rohstoffe zu Eisen verarbeitet wer­den mußten: von etwas mehr als 20000 Arbeitern wurden diese 799 000 Tonnen Rohstoffe zutage gefördert. Bis zum Ende der acht­ziger Jahre war durch den Aufschwung der Eisenindustrie, durch die großen Anforderungen, welche auf der einen Seite der vermehrte Eisenbahnverkehr, die großen Kriegsrüstungen auf der anderen Seite stellten - das hat sich später noch ins Unermeßliche gesteigert -, schon am Ende der achtziger Jahre war die Eisenindustrie so gestie­gen, daß nicht mehr 799000 Tonnen Roheisen verarbeitet wurden, sondern daß notwendig wurden bereits 4500000 Tonnen Roheisen. Nun werden Sie fragen können: Wie viele Arbeiter sind denn nun notwendig geworden, um dieses Roheisen zutage zu fördern? Ich sagte: Etwas über 20000 Arbeiter waren notwendig, um 799000 Ton­nen zutage zu fördern. Dann waren es 4500000 Tonnen. Dazu waren am Ende der achtziger Jahre nur etwa 21 300 Menschen notwendig. Also bitte, lassen Sie diese Zahlen einmal zu Ihrem Gemüte sprechen, lassen Sie sie nicht so sprechen, wie Statistiker sprechen, sondern fassen Sie diese Zahlen auf: Etwas über 20000 Menschen ungefähr haben 799000 Tonnen zutage gefördert im Anfang der sechziger Jahre. 21000 Menschen ungefähr, also wenig mehr Menschen, haben 4500000 Tonnen Roheisen gefördert Ende der achtziger Jahre. Wie ist das möglich? Sie müssen doch fragen: Wie ist das möglich? Das ist nur möglich geworden durch ungeheuer knifflige technische Verbesserungen,

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nur dadurch, daß ausgiebigste, geradezu unermeßliche technische Verbesserungen eingetreten sind, die es möglich gemacht haben, daß ein Mann so viel mehr an Roheisen zutage förderte. Also für alles das, was an Fortschritten stattgefunden hat mit Bezug auf diesen Betriebszweig - und man könnte Ähnliches ausführen für fünf­undzwanzig bis dreißig Betriebszweige erster Linie, erster Repräsen­tation -, für alles das, was in einem solchen Betriebszweige stattgefun­den hat, sind solche Verbesserungen eingetreten.

Was bedeutet denn das? Was bedeutet es, wenn fast dieselbe Men­schenzahi durch rein technische Verbesserungen soundso viel mehr produziert? Glauben Sie, das hat keine Folgen? Natürlich hat es die Folgen, da die Menschenzahl sich nicht sehr vermehrt hat, daß die­selbe Menschenzahl dieselbe Sache produziert in so viel größeren Mengen, daß dadurch das ganze übrige Wirtschaftliche, das sich dar-anschließt, revolutioniert wird. Denken Sie sich einmal, was das be­deutet für den dritten Zweig des abgegliederten, des dreigliedrigen Organismus. Von allen Rechtsverhältnissen, von allen geistigen Ver­hältnissen braucht sich nichts zu verändern, lediglich hat sich etwas verändert in dem wirtschaftlichen Verhältnis. Denn alles das, was sich verändert hat, kam in der Preislage des Eisens und alledem, was damit in Zusammenhang steht, zum Ausdruck. Es heißt das nichts Geringe­res, als daß sich unabhängig von der geistigen Entwickelung, von der rechtlichen Entwickelung - denn Sie brauchen kein anderes Recht, wenn Sie nicht auf das Ganze schauen -, unabhängig davon sich das Wirtschaftsleben loslöste und, ohne daß die Menschen daran teil­nahmen, sich umgestaltete. Die Dinge taten das Ihrige, nur die Men­schen nahmen keine Rücksicht darauf. Das mag Ihnen ein Beweis da­für sein, daß in den Tatsachen die Dreigliederung sich vollzog. Die wahre Wirtschaftslehre ist ganz von selber weiter fortgeschritten, die Menschen aber kamen nicht nach; sie verwendeten ihren Verstand dazu, nicht nachkommen zu brauchen, bei den alten Verhältnissen bleiben zu können. Mag man noch so sehr begeistert sein für die große Kapazität, die in die Verbesserung hineinging, das ist richtig, aber darauf kommt es nicht an für heute. Heute kommt es darauf an, daß das Wirtschaftsleben sich emanzipiert hat. In der Preisbildung und in

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alledem, was mit der Preisbildung und der Währungsbildung zusam­menhängt, hat das Wirtschaftsleben seinen eigenen Gang gemacht. Darauf kommt es an. Die drei Zweige haben sich im Grunde ge­nommen voneinander emanzipiert, und die Menschen haben sie künst­lich zusammengeschweißt und waren genötigt, sie immer mehr und mehr zusammenzuschweißen. Dadurch sind wir in die Weltkatastrophe hineingekommen.

Die Dinge liegen unter der Oberfläche dessen, was die Menschen heute denken wollen. Man muß tief in die Verhältnisse hineinschauen, wenn man die Wirklichkeit beurteilen will. Ich wollte ein solches Bei­spiel herausgreifen, damit Sie sehen, wie blödsinnig es ist, wenn als unsinnig hingestellt wird die Dreigliederung. Die Dreigliederung ist aus den allerpraktischsten Verhältnissen herausgeholt, während es die Menschen, denen in den letzten Jahrzehnten die Schicksale der Men­schen anvertraut waren, vermieden haben, den praktischen Verhält­nissen sich anzupassen. Sie können überall beweisen durch gesunden Menschenverstand, daß diese Dreigliederung das einzige ist, worauf hingearbeitet werden muß, wenn eine gesunde Entwickelung des so­zialen Organismus eintreten soll. Das nützt heute gar nichts, wenn der einzelne nur daran denkt, wie notwendig es ist, die Verhältnisse auf­rechtzuerhalten, weil das oder jenes nicht entbehrt werden kann.

Da trifft man auf die sonderbarsten Einwendungen. Manches ganz verrenkte Denken trifft man an. Zum Beispiel neulich sprach ich in Basel in einem Vortrage über die Dreigliederung. In der darauf fol­genden Diskussion ist ein sehr gescheiter Mann aufgetreten, der sagte:

Ja, über diese Dreigliederung sei ja manches Treffliche gesagt worden, und doch könne man die Dreigliederung nicht begreifen, denn da würde doch nur durch den politischen Staat, also durch ein Drittel des sozialen Organismus, die Gerechtigkeit hervorgebracht, aber die Ge­rechtigkeit müsse doch auch im Wirtschaftsleben und im Geistesleben sein. Ich mußte damals erwidern mit einem Bild. Ich sagte: Nun ja, nehmen wir einmal an, irgendeine Farnilie auf dem Lande bestünde aus dem Herrn und der Frau, ein paar Kindern, Knechten, Mägden und drei Kühen. Die ganze Familie braucht Milch, wie alle drei Glieder des sozialen Organismus Gerechtigkeit brauchen. Ist es aber deshalb

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notwendig, daß alle Farnilienglieder Milch geben? Das ist gewiß nicht notwendig, sondern sie werden gerade alle mit Milch gut versorgt sein, wenn die drei Kühe Milch geben. So ist es auch mit der Drei-gliederung des sozialen Organismus. Es handelt sich ja gerade darum, daß alle drei Glieder wirklich Gerechtigkeit haben, aber sie werden sie nur haben, wenn von dem staatlichen Organismus, dem mittieren Gliede, Gerechtigkeit wirklich erzeugt wird, wie die Milch von den Kühen. So verrenkt ist das Denken der Menschen, daß es über die einfachsten Vor-stellungen glaubt, die allerklügsten Dinge hinüberstülpen zu müssen.

Gewiß, die Leute sind nicht dumm, die solche Einwendungen machen. Man kann durchaus nicht sagen, daß die Leute dumm sind. Die Leute, die heute Einwendungen machen, schätze ich oftmals als sehr gescheit. Ich will nicht die Gescheitheit der Leute in Abrede stellen, sondern ich möchte mit der Umschreibung eines Shakespeare-Wortes «Ehrenwerte Männer sind sie alle» sagen: Gescheite Leute sind sie alle, alle, alle. Aber darauf kommt es an, daß man nicht bloß die gescheiten Gedanken findet, sondern daß man die richtigen Ge­danken findet, daß man findet, was in der Wirklichkeit tatsächlich ver­wendet werden kann, gebraucht werden kann. Und auf ein gesundes Denken, ein Denken, das wirklich eindringen kann in die Wirklich­keit, kommt es an, gerade in der Geisteswissenschaft. Sie können näm­lich die vertracktesten Gedanken haben in bezug auf das äußere phy­sische Geschehen, da können Sie höchstens bei den elementarsten Dingen der reinen Mathematik und Technik nachweisen, wenn einer einen Kohl gemacht hat: Wenn einer eine Eisenbahnbrücke falsch baut, geht vielleicht beim dritten Eisenbahnzug, der darüber fährt, die Brücke kaputt. Aber nicht nachweisen können Sie zum Beispiel, nun, sagen wir, aus der medizinischen Wissenschaft heraus, wenn soundso viele Leute gesund werden und soundso viele Leute sterben, welchen Anteil daran die medizinische Wissenschaft gehabt hat. Da liegt die Sache nicht so klar. Und mit Bezug auf den sozialen Organismus, ja, da liegt die Sache erst recht unklar. Da können die Kurpfuschermetho­den in der wüstesten Weise sich breit machen.

Da hat man schon das Gefühl: Dasjenige, was man als alten Aber­glauben verlachte, das ist so recht eingezogen in der neueren Zeit,

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wenn auch auf anderen Gebieten. Sie kennen alle die Stelle im zweiten Teil des «Faust», wo wiederbelebt wird die mittelalterliche Homun­kulus-Idee. Heute sind viele Menschen der Ansicht: Das ist Aber­glaube, zusammensetzen zu wollen einen Homunkulus. - Es ist aber auch Aberglaube, aus bloßen Verstandesurteilen das zustande zu brin­gen. Sie denken aber nicht daran, daß sie den Aberglauben nur ver­pflanzt haben auf ein anderes Gebiet. Das, was heute als soziale Theo­rien existiert, das will den sozialen Homunkulus produzieren, das will aus dem bloßen Verstand heraus etwas künstlich zusammensetzen. Gerade auf das Entgegengesetzte geht diese Dreigliederung. Sie geht nicht darauf hin, ein künstliches Programm aufzustellen, sondern zu suchen, wie sich die Menschen zusammenfinden müssen in der Drei-gliederung, um aus sich heraus dasjenige zu finden, um was es sich handelt. Sie geht gerade auf die Wirklichkeit, auf die Wirklichkeit, in der innerhalb des sozialen Organismus eben die Menschen stehen. Weil sie so verschieden ist von demjenigen, was die Menschen sich als Homunkulus-Ideen gewöhnt haben zu denken in den letzten Jahr­zehnten, deshalb wird die Sache heute noch so schwer begriffen. Des­halb findet man sie unverständlich, trotzdem sie eigentlich kaum irgendeinen unverständlichen oder einen nicht ganz leicht verständ­lichen Satz enthält. Das ist es, daß die Menschen verlernt haben, in ge­rader Weise zu denken, daß die Menschen überall befriedigt sind, wenn sie in die Ecken hinein denken. Weil sie nur befriedigt sind, wenn sie entweder über die Ecke denken sollen, oder wenn sie denken können, was ihnen befohlen wird zu denken von irgendeiner Seite.

Auf der anderen Seite darf nicht unberücksichtigt bleiben, daß das, was dieser Dreigliederung zugrunde liegt, eben manches zusammen­faßt von dem, was einseitig da oder dort auftritt. Man kann nicht sagen, daß nicht in zahlreichen Köpfen auch fruchtbare soziale Ideen aufgetreten sind; sie sind aber meist einseitig. Ich muß daher sagen: Ich bin mit den Leuten, die mir etwas einzuwenden haben, meist ein­verstanden, aber sie sind es nicht mit mir. Das, was sie vertreten, ist von ihrem einseitigen Standpunkte aus richtig, aber damit kommt man nicht vorwärts, weil man sich mit einseitigen Standpunkten hinein-reitet in irgendeine Realisierung, welche auf der anderen Seite wiederum

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Schaden hervorbringt. Es handelt sich darum heute, daß wir in umfassender Weise die Dinge treffen. Daß wir nicht zum Beispiel fragen: Was sollen wir mit dem Gelde machen? - Diese Frage, wie auch die Frage nach der Währung, wird auf dem Boden des selbständigen Wirtschaftslebens zur Lösung kommen. Das ist es, worauf es an­kommt, daß man aus der Wirklichkeit heraus versteht. Man braucht nicht vom Verstande in den Einzelheiten ausspintisierte Programme, man braucht Impulse, die sich auf die Wirklichkeit beziehen. Wo man dann angreift, kommt man schon auf das Praktische. Nur die, die Theoretiker sind, während sie sich einbilden, Praktiker zu sein, sind so geartet, daß sie überall für das wirkliche Leben bestimmte Programme haben wollen. Um solche Programme kann es sich nicht handeln. Es ist etwas Fundamentales in dem, was diesem Aufrufe und dem eben voll-endeten Buche zugrunde liegt. Es ist einmal auf dasjenige hingewirkt, was allein in den realen Impulsen des sozialen Lebens sein kann.

Um mich darüber noch verständlicher zu machen, will ich einen Vergleich nehmen. Es ist oft gesagt worden: Würde ein einzelner Mensch sich auf einer Insel vom kleinen Kind auf entwickeln, so würde er niemals sprechen lernen. Sprechen lernt man nur in der mensch­lichen Gesellschaft. - Das ist richtig, da die Sprache eine soziale Er­scheinung ist, weil die Sozietät notwendig ist, damit der Mensch spre­chen kann. Nur in einer anderen Weise ist das aber auch für die sozia-len Impulse in umfassendster Art richtig. Nur innerhalb des sozialen Organismus kann sich das soziale Leben für einen Menschen ent­wickeln. Ein einzelner Mensch kann niemals wirklich ein soziales Pro­gramm aufstellen, denn das innere, das individuelle Leben ist zu etwas ganz anderem da, als um soziale Programme aufzustellen. Man kann nur sagen: So und so müssen die Menschen stehen, so und so müssen die Menschen orientiert sein auf dem Gebiete des Geisteslebens, so und so auf dem politischen Gebiet und so und so in bezug auf das Wirtschaftsleben. Dann wird sich ergeben, was notwendig ist. Das ist es, worauf es ankommt. Denn wenn der Mensch seine einzelne Indivi­dualität verwendet, um heute im Zeitalter der Bewußtseinsseele, wo alles auf Individualität gebaut ist, ein soziales Programm zu ent­wickeln, was kommt dabei heraus? Ich möchte Ihnen ein Beispiel

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sagen: Sie reden heute von Bolschewiken, von Lenin und Trotzki. Nun ja, ich führe Ihnen einen dritten an, der neben diesen ein gründ­licher Bolschewik ist, nur bemerken es die Leute nicht: Johann Gott-lieb Fichte. Johann Gottlieb Fichte, den wir anerkennen als einen ganz idealen, als einen großartigen Denker. Lesen Sie den «Geschlossenen Handelsstaat». Das, was Fichte da als Programm entwickelt, unter­scheidet sich so wenig von dem Bolschewiken-Programm, daß Sie ganz gut unterschieben könnten dem Trotzki den «Geschlossenen Handelsstaat» von Fichte. Woher kommt das? Das kommt daher, weil der einzelne Mensch heute ein soziales Ideal macht, und das hat Fichte auch getan. Fichte war nur noch in einem Zeitalter, wo an so etwas nicht gedacht werden konnte wie an die Verwirklichung dieses «Ge­schlossenen Handelsstaates». Erst die Kriegskatastrophe konnte dazu führen. Wenn der einzelne Mensch aus sich heraus ein umfassendes sozi­ales Programm machen will, so wird es so. Dafür ist Fichte der Beweis. Es wird kein soziales Programm, so wenig wie der einzelne Mensch auf einer Insel sprechen lernt. Daher ist das Fundamentale dieses, daß man die Orientierung, die Struktur des sozialen Organismus finde. Darum handelt es sich nicht, Programme aufzustellen, sondern daß man die Art findet, wie die Menschen zusammenleben müssen, um das zu finden, was soziale Impulse sein können. Das steht auf dem Boden der Wirklichkeit, was sich an die Sozietät wendet und nicht an den einzelnen.

Wie oft ist mir immer wieder und wiederum gesagt worden in den letzten Wochen: Ja, der und der stellt bestimmte Programme auf, die in allen einzelnen Punkten das soziale Leben regeln. - Darauf kommt es aber nicht an, das haben die Leute schon immer getan. Sehen Sie sich doch an, wie unzählige Utopien es gibt. Aber es soll eben keine Utopie sein, es soll das sein, was im praktischen Leben wirklich wur­zelt. Und da ist schon notwendig, daß man ein Gefühl hat für das, was ich als Vergleich auch hier schon gebracht habe. Ich habe oft gesagt: Derjenige, der die geistigen Impulse nicht sieht in der äußeren Wirk­lichkeit, der kommt mir vor wie jemand, der ein halbrundes Stück Eisen hat. Es sagt ihm einer: Das ist ein Magnet, das zieht anderes Eisen an. - Er aber sagt: Ach was, das ist kein Magnet, damit be­schlägt man doch nur die Rosse. - Das ist auch wahr. Die beiden unterscheiden

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sich nicht dadurch, daß der eine recht und der andere un­recht hat; aber das tiefere Recht hat doch der, der weiß, daß es ein Magnet ist und daß es Verschwendung ist, das Eisen als Hufeisen zu brauchen. So ist es auch mit der äußeren Wirklichkeit. Die haben recht, die von Materialität sprechen, aber der Geist erst macht die volle Wirk­lichkeit. Es handelt sich darum jetzt, daß man auf diesen Geist zurück­kommt, aber es darf wahrhaftig nicht bei der Phrase bleiben.

Es gehen jetzt durch die Welt mancherlei Prediger. Die machen es so, wie es diejenigen gemacht haben, die in Spiegeisälen oder in gut geheizten Zimmern von Nächstenliebe und Brüderlichkeit gesprochen haben. Wie ich schon sagte: Ofen, erfülle deine Ofenpflicht, - so sagen sie. So gehen Prediger durch die Welt und sagen: Über die Menschheit ist Unglück gekommen durch Materialismus. Die Men­schen müssen sich wiederum zurückwenden zum Geiste. - Ja, sogar das konnte man erleben, daß diesem Aufruf der Vorwurf gemacht worden ist, er enthalte zu wenig Geist, er widme sich zu sehr dem materiellen Leben. Darauf kommt es nicht an, daß vom Geiste geredet wird, sondern darauf kommt es an, daß wir den Geist zu verwirk­lichen wissen. Nicht der ist wirklich auf dem Boden einer Geist-Erkenntnis, der immer nur redet: Geist, Geist, Geist -, sondern der, der den Geist so in sich aufnimmt, daß der Geist wirklich auch die Probleme des Lebens zu lösen vermag. Darauf kommt es an.

Die Ermahnungen der Menschen, wiederum zum Geiste sich zu­rückzuwenden, die könnte man unterlassen. Wichtig ist es, daß man sich heute anstrengt, den Geist in sich tätig und lebendig zu machen. Aber das haben die Menschen nach und nach verlernt, indem ihnen gerade der Staat zu etwas geworden ist - ja, zu was denn? Im «Faust» steht, allerdings als Mädchenunterricht, und die Philosophen haben es nur mißverstanden, haben darin eine große Tiefe gesucht: Der All­umfasser, der Allerhalter, erhält er nicht dich, mich, sich selbst? -Aber so redeten allmählich, besonders während der Kriegszeit, die Leute vom Staate. Der Allumfasser, der Allerhalter, erhält er nicht mich, dich, sich selbst? Im Unterbewußtsein war bei den Leuten, die solchen Unterricht gaben, natürlich das «mich» betont. Denn sie haben darauf ein großes Gewicht gelegt, daß sie ein etwas gediegenes,

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nach ihrer Art aber nicht sehr innerlich aktives Verhältnis zum Geiste hatten. Was hatten die Menschen für ein Verhältnis zum Geiste? Sie strebten darnach, daß ihre Nachkommen bis zu einem gewissen Jahr nach Anordnung des Staates zu Theologen, zu Juristen oder sonstigen Leuten gemacht worden sind. Dann sollten sie in den Staat hinein­wachsen, sollten all dasjenige tun, was der Staat verlangt, sollten dazu ganz besonders tauglich sein. Aber die innere Aktivität, das ganze Dabeisein bei dem Weltprozeß, was der Nerv der Geisteswissenschaft ist, wo war das? Es lag darin, daß die Leute sagten: Ich will vom Staate mein Gehalt beziehen bis zu gewissen Jahren, dann aber meine sichere Pension haben, also so lange für den Staat arbeiten, als der Staat es vorschreibt; dann soll der Staat sorgen für eine Pension bis an mein Lebensende. Und dann, nach dem Lebensende, für das be­gründete man auch kein aktives Verhältnis, sondern ein passives: dann soll die Kirche sorgen für die ewige Seligkeit der Seele. Nun, so war man als passiver Mensch allerdings recht gut versorgt, zunächst in den Schoß des Staates gelegt, erzogen nach seinem Sinn, dann arbeitend für ihn, dann versorgt von ihm bis zum Tode, und dann sorgte die Kirche für die ewige Seligkeit, ohne daß man selber den Impuls des Ewigen in sich aufnahm. Ein herrlicheres Leben konnte man nicht führen. Ein Leben ohne etwas dazu zu tun, das war immer mehr und mehr das Ideal der Menschen am Ende des neunzehnten Jahrhunderts geworden oder gar am Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Aber es gab eben nur die Möglichkeit, so zu denken auf Grundlage jenes Unterbaues, von dem ich gesprochen habe: wo die Leute gar nicht versorgt waren bis zu ihrem Tode, sondern wo man höchst dürftig durch allerlei Ver­sicherungswesen in letzter Zeit anfing, sie zu versorgen. Deshalb haben diese Leute dann auch angefangen, da nichts Rechtes mehr her­aussprießen konnte aus der Weltanschauung der leitenden Kreise, des­halb haben sie auch angefangen, nicht mehr zu glauben an jene nach­todliche Alters- und Invalidenversicherung, welche durch die Kirche gegeben wurde mit Bezug auf die ewige Seligkeit.

Sehen Sie, das ist es, wo angefaßt werden muß heute. Aber man faßt der Wirklichkeit gemäß nur an, wenn man praktisch zu denken ver­mag dasjenige, was in der Dreigliederung gegeben ist.

ZWEITER VORTRAG Stuttgart, 23. April 1919

#G192-1964-SE036 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

ZWEITER VORTRAG

Stuttgart, 23. April 1919

#TX

Heute möchte ich gewissermaßen episodisch etwas einfügen, was zu tun hat mit der das letztemal auch vor Ihnen hier erwähnten Dreigliederung des sozialen Organismus. Ich möchte es als Episode ein­fügen gewissermaßen zu einer tieferen geisteswissenschaftlichen Be­trachtung der Sache. Natürlich, manches von dem, was auch unsere heutigen Ausführungen begründen wird, müssen Sie aus der Gesamt­heit der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung nach und nach zu­sammennehmen. Man kann nicht in jedem einzelnen Vortrage weit­läufig die Begründungen geben. Aber dasjenige, was uns äußerlich als die Notwendigkeit einer Dreigliederung des sozialen Organismus ent­gegentritt, das wollen wir heute einmal gewissermaßen von innen, von seiner Innenseite her betrachten, und es dadurch etwas vertiefen. Es ist eigentlich nicht schwierig für den, der sich etwas eingelebt hat in gei­steswissenschaftliche Vorstellungen, bei sich eine Empfindung hervorzurufen von der großen Verschiedenheit der drei Lebensgebiete, in die der soziale Organismus nach unseren Intentionen gegliedert wer­den soll. Ist man nur einmal aufmerksam darauf, daß eine solche Dreigliederung etwas Ernsthaft zu Nehmendes ist, dann ergibt sich zu­nächst empfindungsgemäß eine mögliche Unterscheidung zwischen diesen drei Gebieten, die jedes einzelne stark unterschieden von den anderen wahrnehmen läßt.

Diese drei Gebiete, sie sind Ihnen ja jetzt schon hinlänglich bekannt : das Gebiet dessen, was wir das geistige Leben nennen, insofern dieses geistige Leben sich ausgestaltet, sich offenbart in dem, was wir die physische Welt nennen, also der ganze Umfang des sogenannten -wenn ich das paradoxe Wort brauchen soll - physischen Geisteslebens. Wir wissen ja, was wir darunter zu verstehen haben. Dazu wird alles das gehören, was zusammenhängt mit den individuellen Fähigkeiten und Begabungen des Menschen. Für uns ist, im Gegensatz zu den materialistisch gesinnten Menschen, das Geistesleben nämlich etwas weit Ausgedehnteres, wie wir gleich nachher sehen werden, als für den

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materialistisch gesinnten Menschen. Wir sind närnlich genötigt, das Geistesleben viel materieller zu denken als die materialistischen Men­schen, sofern wir vom physischen Geistesleben sprechen. Das hat ja schon manchen meiner Vorträge durchdrungen, daß das Geistesleben nur erfaßt werden kann, wenn man davon ausgeht, daß alles materielle Leben vom Geistigen wirklich konkret durchtränkt ist, so daß es für uns ein bloß Materielles gar nicht gibt, sondern immer dasjenige, was durch das Mittel des Materiellen sich offenbart, seinem inneren Wesen nach auch, ich sage auch> ein Geistiges ist. Kunst, Wissenschaft, Rechts-anschauungen, sittliche Impulse der Menschheit, alles das würde zu­nächst, grob gesprochen, den Umfang dieses Geisteslebens ausmachen. Vor allen Dingen aber würde in den Umfang dieses Geisteslebens fallen alles das, was zur Pflege der individuellen Begabungen gehört, also das gesamte Erziehungs-, Unterrichts- und Schulwesen.

Dann ist deutlich von diesem Leben eines wiederum zu unterschei­den, das in einer gewissen Weise zusammenhängt mit dem physischen Geistesleben, das aber doch sich prinzipiell von ihm unterscheidet. Das ist alles das, was man bezeichnen kann als Rechtsleben, als poli­tisches Leben, als Staatsleben. Natürlich muß man sein Wahrneh­mungsvermögen etwas einstellen auf deutliche Unterscheidungen auf diesem Gebiet, wenn man nicht in den Fehler verfallen will, sich zu sagen : das Rechtsleben ist ja im Grunde genommen das, was Recht­lichkeit ist. Aber wir, die wir gewohnt sind, genau und deutlich zu unterscheiden, wir werden unterscheiden müssen zwischen dem Er­fassen von Rechtsideen, zwischen dem - wenn ich mich so ausdrücken darf - Inspiriertsein von Rechtsideen und dem Ausleben des Rechtes in der äußeren Welt. Wir werden von all diesen Dingen gleich genauer sprechen.

Das dritte ist dann, das werden Sie leicht unterscheiden können von den beiden anderen, das Wirtschaftsleben. Nun steht der Mensch zu den drei Gebieten des Lebens, die wir eben verzeichnet haben, in einem ganz anderen Verhältnis. Wenn Sie versuchen, durch eine rein gesunde Empfindung aufzufassen dasjenige, was physisches Geistes­leben ist, so werden Sie verspüren - versuchen Sie nur einmal, die Wahrnehmungsfähigkeiten der Seele in die Richtung zu lenken, von

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der ich jetzt gesprochen habe -, daß alles das, was irgendwie wurzelt in der individuellen Begabung, den individuellen Fähigkeiten des Menschen, gewissermaßen am allerinnerlichsten für die menschliche Natur verläuft, am allerinnerlichsten von der menschlichen Natur er­zeugt wird. Geht man nun ganz wissenschaftlich an die Arbeit des Wahrnehmens heran, so findet man, daß alles, was sich auslebt in Kunst und Wissenschaft, in den Impulsen der Erziehung, empfunden werden kann als Geistig-Seelisches, das in uns lebt, wenn wir uns sei­ner Betätigung hingeben; so in uns lebt, daß wir es nur in der richtigen Weise innerlich erfahren können, wenn wir uns etwas zurückziehen aus der äußeren Welt. Gewiß, wir müssen es offenbaren in der äußeren Welt - das ist dann etwas anderes, als es innerlich zunächst erleben -, aber wir können als Menschen das, was sich in Kunst und Wissen­schaft, in Erziehungsimpulsen auslebt, nicht konzipieren, nicht inner­lich erfassen, wenn wir uns nicht etwas vom Leben zurückziehen können. Natürlich braucht das nicht ein Zurückziehen in eine Eremi­tenklause zu sein, man kann spazierengehen meinetwillen, aber man muß sich etwas zurückziehen, muß seelisch werden, muß in sich leben. Das ist etwas, was sich für eine ganz naive Empfindung, wenn sie nur ausgebildet werden will in der Menschenseele, für das physische Gei­stesleben ergibt, und was die Geisteswissenschaft so ausdrücken muß, daß sie sagt : Dieses physische Geistesleben wird von unserer Men­schenseele so erlebt, daß wir ohne völlige Inanspruchnahme des Leibes dieses physische Geistesleben ausleben. Da muß Geisteswissenschaft, und das können Sie aus allem entnehmen, was Geisteswissenschaft Ihnen bisher gebracht hat, in der allerentschiedensten Weise gegen die materialistische Ausdeutung des Menschenwesens sich wenden, welche in dem Aberglauben lebt, daß sich, wenn man innerlich ausgestaltet, was dem physischen Geistesleben angehört, diese Ausgestaltung ganz restlos durch das Instrument des Gehirns, des Nervensystems und so weiter vollzieht. Nein, wir wissen, das ist nicht wahr. Wir wissen, daß ein selbständiges Innenleben im Menschen vorhanden sein muß, wenn Offenbarungen dieses physischen Geisteslebens zustande kommen sol­len. Es geht etwas vor im Menschen bei diesem physischen Geistes­leben, das nicht seine Parallelerscheinungen im physischen Leibe hat;

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es geht etwas vor, was nur abläuft innerhalb des geistig-seelischen Wesens im Menschen.

Anders ist das, wenn wir diejenigen Impulse des Lebens ausbilden, die wir in unserer Dreigliederung auf eine demokratische Grundlage stellen wollen, wenn wir ausbilden, was gewissermaßen alle Menschen vor allen Menschen gleich erscheinen läßt. Das kann sich nur aus­bilden, wenn wir uns bedienen der Werkzeuge unserer Leiblichkeit, die Mensch mit Mensch verbinden. Nicht innerliche Rechtsideen, aber Rechtsimpulse des Lebens, nicht innerlich sittliche Ideen, aber sitt­liche Impulse des Lebens, die also zwischen den Menschen tätig sind, die bilden sich aus, indem Mensch zu Mensch herantritt, Mensch ge­gen Mensch wirkt, Mensch und Mensch austauschen, was sie an­einander gegenseitig erleben. Diese Dinge bilden sich nur aus, wenn Menschen miteinander verkehren, wenn Menschen ihre leibliche Außenseite einander zukehren, wenn sie miteinander sprechen, wenn sie sich sehen, wenn sie durch Mitempfindung miteinander leben, kurz, nur im menschlichen Wechselverkehr kann das ausgebildet werden. Mit Bezug auf alles das, was sich auf Grundlage unserer individuellen Fähigkeiten ausbildet, also mit Bezug auf das, was in dem eben ge­nannten Sinn unabhängig von unserer Leiblichkeit ist, sind wir als Menschen individuell gestaltet, jeder ein Eigener, jeder ein Indivi­duum. Mit Ausnahme der viel geringeren Differenzierung, welche durch Rassenunterschiede, Volksunterschiede und dergleichen hervor­treten, die aber eben als Differenzierung eine Kleinigkeit sind - wenn man nur ein Organ dafür hat, muß man das wissen - gegenüber der Differenzierung durch individuelle Begabungen und Fähigkeiten, mit Ausnahme davon sind wir mit Bezug auf unsere äußere physische Menschlichkeit, durch die wir als Mensch den Menschen gegenüber­treten, durch die wir Rechtsimpulse, Sittenimpulse ausbilden, als Men­schen gleich. Wir sind als Menschen gleich, hier in der physischen Welt, gerade durch die Gleichheit unserer menschlichen Gestalt, ein­fach durch die Tatsache, daß wir alle Menschenantlitz tragen. Dieses, daß wir alle Menschenantlitz tragen, daß wir uns als äußere physische Menschen begegnen, die miteinander auf dem demokratischen Boden die Rechtsimpulse, die Sittenimpulse ausbilden, dieses macht uns auf

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diesem Boden gleich. Wir sind verschieden voneinander durch unsere individuellen Begabungen, die aber unserer Innerlichkeit angehören.

Das dritte, das wirtschaftliche Gebiet : Man braucht wahrhaftig nicht einer falschen Askese zuzuneigen, denn diese falsche Askese ist ganz gewiß gegen die Grundtendenz unserer gegenwärtigen Zeit, nament­lich des Abendlandes - darüber haben wir oftmals gesprochen hier -, aber man kann wahrnehmen, wie das Wirtschaftsleben den Menschen gewissermaßen untertauchen läßt hier in der physischen Welt in einen Lebensstrom, in ein Lebensmeer, in dem er sich bis zu einem gewissen Grade als Mensch verliert. Haben Sie nicht die Empfindung, dem Wirt­schaftsleben gegenüber, daß Sie untertauchen in etwas, was Sie nicht so Mensch sein läßt, wie das Rechts- oder Staatsleben? Noch mehr ist das der Fall gegenüber dem Leben, das aus Ihren individuellen Fähig­keiten, überhaupt aus den individuellen Fähigkeiten des Menschen fließt. Wir fühlen es, wie gesagt, ohne in falsche asketische Neigung zu verfallen, wir fühlen : dem Wirtschaftsleben gegenüber ist es so, daß wir aufhören, indem wir wirtschaften müssen, Vollmenschen zu sein. Wir müssen einen Tribut zahlen an das in uns, was untermenschlich ist, indem wir wirtschaften.

Wir haben sozusagen dasjenige, was dem Wirtschaftsleben angehört als Warenproduktion, Warenzirkulation, Warenkonsum, auch wenn es sich hinaufsteigert zu geistigen Leistungen, die aber eben deshalb mit demselben Charakter wie Warenzirkulation des Wirtschaftslebens entstehen, weil wir Menschen sind und nicht Engel, wir wissen, daß auch das, was geistige Produktion ist, insofern das Wirtschaftliche da­für in Betracht kommt, den Charakter annimmt des Wirtschaftlichen, das in den materiellen Gütern verläuft. Und die materiellen Güter, die zur Befriedigung unseres Leiblichen notwendig sind, und geistige Leistungen, wie zahnärztliche und dergleichen, im Wirtschaftsleben müssen sie auch zuletzt durch den Warenaustausch dazu führen, daß der Zahnarzt durch das Wirtschaftsleben physisch leben kann. Irgend­wie hängt das Wirtschaftsleben immer mit dem physischen Leben zu­sammen. Das ist aber etwas, was uns in eine gewisse, wenn auch ins Menschliche hinaufgehobene Beziehung zum Tierischen bringt. Es läßt uns untertauchen in dasjenige, was instinktiv mit dem Tier zusammen

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erlebt wird. Da haben Sie zunächst einer naiven, aber ge­sunden Empfindung gegenüber dasjenige, was die drei Gebiete für den einzelnen individuellen Menschen unterscheidet.

Gehen wir jetzt tiefer geisteswissenschaftlich in die Sache ein. Der Geisteswissenschafter muß da besonders beobachten die Gliederung des menschlichen Lebens in der Zeit, die Entwickelung des mensch­lichen Lebens zunächst von der Geburt oder Empfängnis bis zum Tode. Derjenige, der sich ein Wahrnehmungsvermögen aneignet für den Verlauf des Menschenlebens, der wird stark beeindruckt sein da­von, wie sich alles das, was individuelle Fähigkeiten des Menschen sind, in der allerersten Kindheit bedeutsam ankündigt. Für den, der sich dafür ein geistiges Auge und Lebenserfahrung angeeignet hat, für den ist stark vorhanden die Wahrnehmung der besonderen Aus­gestaltung der Kindesseele. In dem was heranwächst in den drei ersten Lebensstufen vom ersten bis zum siebten, vom siebten bis zum vier­zehnten, vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahr, in dem kündigt sich dasjenige wie aus einer inneren elementaren Kraft heraus an, was individuelle Fähigkeiten des Menschen sind. Und nicht nur das, was wir gewöhnlich geneigt sind, als individuelle Fähigkeiten des Menschen zu betrachten, kündigt sich da an, sondern damit hängt dann zusammen, ob wir physisch stark oder schwach sind, ob wir mehr oder weniger Muskelarbeit leisten können. Da ist es, wo wir das Gei­stige mehr in Materielles ausdehnen müssen als die materialistisch Denkenden. Geistig angeschaut sehen wir einen guten Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Muskelsystems und der individuellen Veranlagung des Menschen. Alles das hängt für den, der das Men­schenwesen beobachten kann, mit der Entwickelung des mensch­lichen Hauptes zusammen. Auch sogar in den äußeren Formen, ob einer starke Beine hat oder schwache, ob einer viel laufen kann, das sieht der, der sich einen geistigen Blick erworben hat, schon dem Kopfe an, gerade dem Kopfe. Ob einer geschickt oder ungeschickt ist, sieht man dem Kopfe des Menschen an. Diese sogenannten physischen Fähigkeiten des Menschen, die eng zusammenhängen mit seiner Eig­nung für äußere materielle, manuelle Arbeit, sie hängen mit der Aus­gestaltung des Kopfes zusammen. Nun wissen Sie, was ich Ihnen über

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die Ausgestaltung des Kopfes wiederholt gesagt und aus den ver­schiedensten Untergründen heraus begründet habe. Ich habe Ihnen gesagt : Alles das, was im menschlichen Haupte zur Ausgestaltung kommt, was dem menschlichen Haupte seine Konfiguration, seine Formung gibt, das weist hin auf das Vorgeburtliche, das weist hin auf dasjenige, was der Mensch aus den geistigen Welten, sei es aus der gei­stigen Welt selbst oder sei es aus vorhergehenden Erdeninkarnationen, sich durch die Geburt mit herein ins physische Leben bringt. Indem nun ein Zusammenhang geschaut wird zwischen allen individuellen Fähigkeiten des Menschen, seien sie nun geistige oder manuelle Fähig­keiten, gerade mit der Ausbildung des menschlichen Hauptes, wird man dann weitergeleitet in seinem Schauen, so daß man alles, was aus der individuellen Fähigkeit des Menschen hervorgeht, zurückleitet auf das vorgeburtliche Leben.

Sehen Sie, das ist es, was den Geisteswissenschafter zu einer für ihn so bedeutungsvollen Beleuchtung dessen führt, was physisches Gei­stesleben ist. Physisches Geistesleben ist deshalb hier in der physischen Welt, weil wir als Menschen uns etwas durch die Geburt mit herein­bringen. Alles physische Geistesleben, in dem Umfang, wie ich heute davon zu Ihnen gesprochen habe, entsteht nicht bloß aus dieser phy­sischen Welt heraus, es entsteht aus denjenigen Impulsen heraus, die wir hereintragen durch unsere Geburt aus der geistigen Welt in das physische Dasein. Indem wir Menschen sind, die hereinbringen in das physische Dasein Nachklänge eines übersinalichen Daseins, gestalten wir in der menschlichen Gesellschaft hier in der physischen Welt das­jenige aus, was dieses physische Geistesleben ist. Es gäbe keine Kunst, es gäbe keine Wissenschaft, höchstens eine Experimentalbeschreibung, eine Beschreibung von Experimenten, es gäbe keine Erziehungs­impulse, wir könnten die Kinder nicht erziehen, wir könnten keine Schulbildung erteilen, wenn wir nicht durch die Geburt Impulse aus dem vorgeburtlichen Leben in das physische Leben hineinbrächten. Das ist das eine.

Nun bitte, nehmen Sie alles das, was Sie an Beschreibung der über­sinnlichen Welt in meiner «Theosophie» oder in der «Geheimwissen­schaft» finden. Nehmen Sie insbesondere das, was in diesen Büchern

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gesagt ist aus der übersinnlichen Welt heraus über die Beziehungen, die da herrschen zwischen Menschenseele und Menschenseele, wenn diese Seelen entkörpert sind, wenn diese Seelen leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Sie wissen, wir müssen da von ganz an­deren Beziehungen von Seele zu Seele sprechen, als diejenigen, von denen wir hier in der physischen Welt sprechen können. Sie erinnern sich, wie ich zusammengesetzt habe das, was von Seele zu Seele erlebt wird, aus Grundklängen, die hier in schattenhaften Bildern vorhanden sind. Sie erinnern sich der Beschreibung in der «Theosophie» des Le­bens in der Seelenwelt, wie ich von gewissen Wechselwirkungen, von in der physischen Welt nicht vorhandenen Seelen- und Astraikräften sprechen mußte, indem ich das entkörperte Leben in der übersinnlichen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt schildern wollte. Da steht Seele zu Seele in einer inneren Beziehung. Da ist ein Verhältnis von Seele zu Seele, welches durch die innere Kraft der Seele selbst hervorgerufen wird. Durchdringt man sich nun ganz fest mit dem, was so als Verhältnis von Seele zu Seele existiert in der übersinnlichen Welt, faßt man das ins Auge und macht man sich so recht gegen­ständlich, was so existiert, dann bekommt man, wenn man in der richtigen Weise vergleicht, eine merkwürdige Anschauung heraus. Sie wissen, es beruht auf solch inneren Tendenaleistungen sehr vieles, was zur Erkenntnis in der übersinnlichen Welt, oder auch zur Er­kenntnis der Zusammenhänge der übersinnlichen mit der sinnlichen Welt führt. Man wird da direkt auf das Rechts-, Staats- oder politische Leben geleitet, und zwar so, daß es keinen größeren Gegensatz gibt gegen die besondere Ausgestaltung des übersinnlichen Lebens als das politische, das Rechtsleben hier auf dem physischen Plan. Das sind die beiden großen Gegensätze, und man empfindet diese Gegensätze, wenn man in sachgemäßer Weise das übersinnliche Leben kennen-lernt. Das übersinnliche Leben hat gar nichts von dem, was durch Rechtssatzungen oder äußere Sittenimpulse geregelt werden kann, denn da wird alles durch innere Seelenimpulse geregelt. Hier, im physischen Leben, wird der volle Gegensatz aufgestellt, indem man das Staatsleben mit seiner Grundnuance aufstellt, weil uns durch die Geburt dasjenige verlorengeht, was in der Seele lebt als Grundimpulse,

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die von Seele zu Seele das Verhältnis herstellen; weil das verlorengeht, weil wir uns das Gegenteil hier aneignen zwischen Geburt und Tod. Dieses Gegenteil sind die Rechtssatzungen, die existieren; die stellen her, was hergestellt werden muß, das Rechts-verhältnis, weil der Mensch das, was in der übersinnlichen Welt das Verhältnis von Seele zu Seele angeht, verloren hat. Das sind die beiden Pole : übersinnliches Verhältnis von Seele zu Seele - Staatsverhältnis hier auf dem physischen Plan.

Von Mensch zu Mensch tragen wir in die physische Geisteskultur­welt etwas herein, was uns durch die Geburt als Nachklang bleibt aus der übersinnlichen Welt. Wir breiten gleichsam einen Glanz über das Leben aus dadurch, daß wir hereinleuchten lassen das, was wir in die Welt hineintragen, indem wir es zu offenbaren suchen in Kunst, Wissenschaft und Erziehung der anderen Menschen. Das ist mit dem Rechtsleben etwas anderes. Das müssen wir hier begründen auf der physischen Erde als einen Ersatz für das, was wir in übersinnlicher Beziehung verlieren, indem wir durch die Geburt in das physische Dasein hereinkommen.

Das gibt Ihnen zu gleicher Zeit einen Begriff davon, was gewisse religiöse Urkunden meinen - und Sie wissen, inwiefern religiöse Urkunden immer etwas durchdrungen sind von diesen oder jenen okkulten Wahrheiten -, wenn sie sprechen von dem berechtigten «Fürsten dieser Welt». Sie meinen, wenn sie davon sprechen : der Staat soll sich nur ja nicht darauf einlassen, dasjenige verwalten zu wollen, was der Mensch sich durch die Geburt aus der übersinnlichen Welt als deren Abglanz hereinbringt in die physische Welt. Er soll sich darauf beschränken, den rechtlichen Fürsten auszubilden, der das gerade Gegenteil hier im Staatsleben ausgestaltet : das Leben, das wir brauchen, weil uns die Impulse der geistigen Welt, indem wir durch die Geburt gegangen sind, verlorengingen. Das Staatsleben hat die Aufgabe, das auszubilden, was notwendig ist für den Menschen-verkehr in der physischen Welt; es hat nur eine Bedeutung für das Leben zwischen Geburt und Tod.

Sehen wir uns das dritte an, das Wirtschaftsleben. Da wird etwas gesagt werden müssen, was ganz besonders paradox ist : Wir tauchen,

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kraß ausgedrückt, gewissermaßen unter in ein Untermenschliches, indem wir uns in das Wirtschaftsleben einlassen. Dadurch aber zieht immer etwas vor unsere Seele, indem wir uns in das Untermenschliche einlassen. Und das können Sie ja spüren. Denken Sie einmal, wie sehr Sie sich anstrengen müssen in sich, aktiv, wenn Sie sich der geistigen Kultur hingeben, und wie gedankenlos manche Menschen sein können im bloßen Wirtschaftsleben. Man überläßt sich oftmals den Trieben und Instinkten. Das Wirtschaften geht eben überhaupt ohne viel unmittelbar innerlich aktives Denken vor sich. Aber jedenfalls : wir tauchen unter in ein Untermenschliches. Da bewahrt sich die Seele innerlich etwas zurück. Geisteswissenschaftlich gesprochen ist der Körper mehr angestrengt, wenn wir bei einer materiellen Tätigkeit sind, als man sogar gewöhnlich glaubt. Wir müssen, wenn wir vom Wirtschaftsleben sprechen, auch von dem Endgliede des Wirtschafts­prozesses sprechen, von Essen und Trinken. Wir müssen uns klar sein, daß da nicht ein voller Parallelismus ist zwischen leiblicher und geistiger Tätigkeit, daß da der Körper überwiegt in bezug auf die Tätigkeit gegenüber dem Geistig-Seelischen. Aber dieses Geistig-Seelische, das entwickelt dann eine stark unbewußte Tätigkeit. Und in dieser unbewußten Tätigkeit liegt ein Keim. Diesen Keim, den tragen wir durch die Pforte des Todes. Die Seele kann gewissermaßen ruhen, wenn wir wirtschaften. Das aber, was äußerlich dem Bewußt-sein als Ruhe erscheint, das entwickelt einen Keim, der durch die Pforte des Todes getragen wird. Und entwickeln wir gar moralisch die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, wie ich es jetzt immer schildere, dann tragen wir einen guten Keim durch die Pforte des Todes, gerade durch das, was wir als Mensch dem Menschen gegen­über im Wirtschaftsleben entwickeln. Mag es Ihnen materialistisch erscheinen, wenn ich sage : Gerade in der Brüderlichkeit des Wirt­schaftslebens legt sich der Mensch in die Seele die Keime für sein Leben nach dem Tode, während er in dem, was Geisteskultur ist, von der Erbschaft desjenigen zehrt, was er hereinbringt aus vorgeburt­lichem Leben, - mag Ihnen das materialistisch erscheinen, es ist wahr, einfach wahr gegenüber der geisteswissenschaftlichen Forschung. Mag es Ihnen materiell erscheinen, daß ich Ihnen sage : Wenn Sie untertauchen

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in die Tierheit, sorgt Ihre Menschheit dafür, daß Sie das Übersinnliche für die Zeit nach dem Tode entwickeln - es ist so. Der Mensch ist ein dreigliedriges Wesen. Er hat in seinem Wesen ein Erbgut aus vorgeburtlicher Zeit, er entwickelt etwas, was zwischen der Geburt und dem Tode allein Gültigkeit hat, er entwickelt hier in der physischen Welt etwas, durch das er anknüpft das Zukunftsleben nach dem Tode an das physische Leben hier. Dasjenige, was hier aus­gestaltet wird, was hier geoffenbart wird als Lebensglanz und Lebens-zukunft und Lebensinteresse in der physischen Geisteskultur, das ist ein Erbgut der geistigen Welt, das wir uns hereinbringen in die physische Welt. Indem wir dieses Geistesgut erleben, es recht erleben, erweisen wir uns als Angehörige der geistigen Welt, bringen in die physische Welt einen Abglanz der übersinnlichen Welt, die wir durch­laufen haben vor unserer Geburt und Empfängnis.

Die abstrakte Wissenschaft, auch die abstrakte Philosophie, redet ja natürlich immer im Abstrakten herum. Die redet davon, man müsse die Ewigkeit der Substanz beweisen, daß, was von der menschlichen Substanz bei der Geburt vorhanden ist, dann bleibt, und dann wieder­um durch den Tod geht. Solche Beweise können nie aus dem bloßen Denken gelingen. Die Philosophen haben sie auch immer gesucht, aber es hat der Beweis niemals standgehalten gegenüber dem inneren logischen Gewissen, weil die Sache einfach nicht so ist. Mit der Unsterblichkeit verhält es sich nämlich viel geistiger. Nichts irgend­wie Materielles, geschweige denn Substantielles ist in einer solchen Weise vorhanden. Was vorhanden ist, ist das Bewußtsein, das Be­wußtsein nach dem Tode, das zurückschaut in diese Welt. Das ist das, was wir betrachten müssen, wenn wir die Unsterblichkeit betrachten. Wir müssen viel immaterieller werden, als selbst die abstrakten Philo­sophen, wenn wir von diesen höheren Dingen reden. Aber die Sache ist so, daß wir das, was ich eben charakterisiert habe, als einen Abglanz der übersinnlichen Welt, den wir offenbaren als den Schmuck, den Glanz des Lebens hier, daß wir den verbrauchen und neu anknüpfen hier im physischen Leben, daß wir ein neues Kettenglied unseres ewigen Daseins hier anknüpfen müssen, das wir durch den Tod tragen. Wenn jemand nur an das denkt, was sich fortsetzt in dieses

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Leben hinein : wenn er konsequent forscht, muß der Faden abreißen; nur wenn er weiß, daß er ein neues Kettenglied ansetzt, das hinaus­geht über den Tod, kommt er an die Unsterblichkeit heran.

So ist der Mensch dieses dreigliedrige Wesen. Er entwickelt in sich Fähigkeiten, die diesen Abglanz der übersinnlichen Welt in dieses Leben hereintragen. Ein Leben entwickelt er, das die Brücke bildet zwischen dem vorgeburtlichen und dem nachtodlichen Leben, und das sich auslebt in all dem, was nur seine Wurzel hat in dem Leben zwischen Geburt und Tod, was sich äußerlich darstellt in dem äußer­lichen Rechts-, Staatsorganismus und so weiter. Und indem er unter-taucht in das Wirtschaftsleben, und indem er in der Lage ist, in diesem Wirtschaftsleben ein Moralisches zu pflanzen, das Brüderliche, ent­wickelt er die Keime für das nachtodliche Leben. Das ist der drei­fache Mensch.

Und denken Sie sich diesen dreifachen Menschen nun seit dem fünfzehnten Jahrhundert in einer solchen Entwickelungsphase, daß er alles das, was früher instinktiv war, bewußt ausbilden muß. Da­durch ist er heute in die Notwendigkeit versetzt, daß sein äußeres soziales Leben ihm Anhaltspunkte bietet, daß er drinnen stehe mit seiner dreifachen Menschlichkeit in einem dreifachen Organismus. Wir können nur, weil wir drei ganz verschiedene Wesensglieder, das Vorgeburtliche, das Irdischiebendige, das Nachtodliche in uns ver­einigen, in dem sozialen Organismus richtig drinnen stehen in drei Gliedern. Sonst kommen wir als bewußte Menschen in einen Miß­klang mit der übrigen Welt. Und wir werden immer mehr und mehr dahin kommen, wenn wir nicht danach trachten würden, diese um-liegende Welt als dreigliedrigen sozialen Organismus zu gestalten.

Sehen Sie, da haben Sie die Sache verinnerlicht. Ich versuche zu zeigen, wie sich der geisteswissenschaftlichen Forschung der Finger bietet, um den dreigliedrigen sozialen Organismus zu finden; wie er gefunden werden muß aus der menschlichen Natur selber heraus. Auf den bloßen Gedanken von dem, was ich jetzt entwickelt habe, auf den sind ja manche Menschen schon gekommen. Aber ich habe mich in öffentlichen Vorträgen und auch sonst immer dagegen verwahrt, daß, wenn ich auch Anhaltspunkte gebe für diese Gedanken, man das

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verwechselt mit den Gedanken des alten Schäffle «Vom Bau des sozialen Organismus», oder mit den Dilettantismen des jüngst er-schienenen Buches von Meray über «Weltmutationen», oder ähnliche Dinge. Solche Analogiespiele treibt der Geisteswissenschafter nicht; sie sind höchst unfruchtbar. Das, was ich möchte, auch wenn ich spreche über sozialen Organismus, das ist, daß der Mensch seine Gedanken schult. Die allgemeine Gedankenschulung ist heute nicht einmal so weit, daß in der Naturwissenschaft begriffen wurde, was ich nach fünfunddreißigjähriger Forschung in meinem Buche «Von Seelenrätseln» dargestellt habe, wo ich gezeigt habe, daß das ganze menschliche Wesen besteht aus den drei Gliedern : Nerven-Sinnes-leben, Rhythmusleben, Stoffwechselleben. Das Nerven-Sinnesleben kann man auch das Kopfleben nennen, das rhythmische Leben kann man auch das Atmungsleben, das Blutleben nennen, das Stoffwechsel-leben ist das, was den übrigen Organismus konstruktionsmäßig um­faßt. Ebenso wie dieser menschliche Organismus dreigegliedert ist und jedes der Glieder in sich zentriert ist, so muß sich auch der soziale Organismus dadurch zeigen, daß jedes seiner Glieder gerade dadurch für das Ganze wirkt, daß es in sich zentriert ist. Die heutige Physio­logie und Biologie glaubt, daß der Mensch ein zentralisiertes Wesen als Ganzes ist. Das ist nicht wahr. Sogar bis in die Kommunikation nach außen ist der Mensch ein dreigliedriges Wesen : das Kopfleben steht durch die Sinnenwelt selbsttätig mit der Außenwelt in Ver­bindung, das Atmungsleben ist verbunden mit der Außenwelt durch die Luft, das Stoffwechselleben wiederum steht durch selbständige Öffnungen mit der Außenwelt in Beziehung. In dieser Weise muß auch der soziale Organismus dreigliedrig sein, jedes Glied in sich zentriert. Wie der Kopf nicht atmen kann, sondern das, was durch die Atmung vermittelt wird, durch das rhythmische System empfängt, so soll der soziale Organismus nicht selber etwa ein Rechtsleben ent­wickeln wollen, sondern er soll das Recht empfangen von dem Staatsorganismus.

Aber ich sagte : Man darf das, was hier auseinandergesetzt wird, nicht verwechseln mit dem bloßen Analogiespiel, das dann eintritt, wenn man allerlei Hypothesen sucht. Geisteswissenschaft ist wirkliche

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Forschung und geht auf die Erscheinungen los. Wenn man Geistes­wissenschafter ist, glauben nur die anderen Menschen, man denke etwas aus. Bevor man richtiger Geistesforscher ist, fängt man nur an, diese geistige Welt zu beobachten. Man muß sich das Denken erst abgewöhnen; das gilt für die physische Welt. Natürlich nicht für das ganze Leben abgewöhnen, sondern bloß für die geistige Forschung.

Ich habe Ihnen gesagt, man kommt in der Regel auf das Verkehrte, wenn man nach Analogien der sinnlichen Welt die geistige Welt charakterisieren will. Erinnern Sie sich an ein Beispiel. Die Geistes­forschung zeigt, daß die Erde eigentlich ein Organismus ist; daß das, was die Geologen, die Mineralogen finden, ein Knochensystem nur ist, daß die Erde lebend ist, daß sie schläft und wacht wie der Mensch. Aber jetzt kann man nicht äußerlich nach einem Analogiespiel gehen. Wenn Sie äußerlich einen Menschen fragen : Wann wacht die Erde und wann schläft die Erde? - dann wird er ganz gewiß sagen : Sie wacht im Sommer und schläft im Winter. - Das ist das Gegenteil von dem, was wahr ist. Das Wahre besteht darin, daß die Erde tatsächlich im Sommer schläft und im Winter wach ist. Auf das kommt man natürlich nur, wenn man wirklich in der geistigen Welt forscht. Das ist das Vexierspiel, was das geistige Forschen so leicht dem Irrtum aussetzt, daß, wenn man etwas hineinträgt aus der physischen in die geistige Welt, man zumeist auf das Gegenteil oder auf Viertelswahr­heiten kommt. Man muß eben jeden einzelnen Fall erforschen.

So ist es auch mit dem Analogiespiel, das die Leute treiben zwischen den drei Gliedern des individuellen Organismus und den drei Gliedern des sozialen Organismus. Was wird derjenige sagen, der dieses Analogiespiel treibt? Er muß sagen : Außen ist ein Geistesleben, Kunst, Wissenschaft. Das wird er in Parallele ziehen mit dem, was der menschliche Kopf hervorbringt, mit dem Nerven-Sinnesleben. Wie sollte er anders! Dann wird er, wenn er das gelten läßt, was ich in meinen « Seelenrätseln» angeführt habe, als das Materiellste das Stoff­wechselleben mit dem Wirtschaftsleben in Zusammenhang bringen. Das ist das Verkehrteste, was herauskommen kann. Und man kommt auf keinen grünen Zweig, wenn man die Sache so ansehen will. Des­halb muß man sich, um zur Wahrheit zu kommen, alles Spielen mit

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Analogien abgewöhnen. Die außer der Geisteswissenschaft Stehenden glauben, daß man durch ein Gedanken-Analogiespiel zu diesen Dingen komme. Das ist das Allertäuschendste. Es paßt nichts, wenn man das äußere physische Geistesleben mit dem Kopfleben parallell­siert. Es paßt nichts, wenn man das Wirtschaftsleben mit dem Stoff­wechselleben zusammenhält. Sobald man eingehen will auf die Sache, so paßt nichts. Wenn man wirklich forscht, so erhält man ein sehr paradoxes Resultat. Wenn man vergleicht den sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus, so kommt man nur zurecht, wenn man sich den sozialen Organismus umgekehrt hingestellt denkt : Wenn man das Wirtschaftsleben mit dem menschlichen Nerven­Sinnesleben vergleicht. Dann allerdings kann man vergleichen das Staatsieben mit dem rhythmischen System. Aber das physische Geistes-leben, das muß man mit dem Stoffwechsel vergleichen, denn da sind ähnliche Gesetze vorhanden. Denn das, was als Naturgrundlage vor­handen ist für das Wirtschaftsleben, das ist für den sozialen Organismus ganz gleichbedeutend mit den individuellen Befähigungen, die der Mensch durch die Geburt mitbringt. Wie der Mensch im individuellen Leben von der Erziehung, von dem, was er mitbringt, abhängt, so hängt der wirtschaftliche Organismus ab von dem, was die Natur ihm liefert durch eigene Vorbedingungen des Wirtschaftslebens. Die Vor­bedingungen des Wirtschaftslebens, der Boden und so weiter, ist das­selbe wie die individuellen Begabungen, die der Mensch mitbringt in das individuelle Leben. Wieviel Kohle, wieviel Metalle unter der Erde sind, ob ein fruchtbarer oder unfruchtbarer Boden vorhanden ist, das sind gewissermaßen die Begabungen des sozialen Organis­mus.

Und in demselben Verhältnis, in dem das Stoffwechselsystem des Menschen zu dem menschlichen Organismus und seinen Funktionen steht, in diesem Verhältnis stehen die menschlichen Hervorbringungen des Geisteslebens zum sozialen Organismus. Der soziale Organismus ißt und trinkt dasjenige, was wir ihm zuführen in Form von Kunst, Wissenschaft, technischen Ideen und so weiter. Davon nährt er sich. Das ist sein Stoffwechsel. Ein Land, das ungünstige Naturbedingungen für sein Wirtschaftsleben hat, ist wie ein Mensch, der schlecht begabt

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ist. Und ein Land, dem seine Bewohner nichts zuführen an Kunst, an Wissenschaft, an technischen Ideen, das ist wie ein Mensch, der ver­hungern muß, weil er nichts zu essen hat. - Das ist die Realität, das ist die Wirklichkeit. Der soziale Organismus ißt unsere geistigen Erzeugnisse und trinkt sie. Und die Befähigungen, die Begabungen des sozialen Organismus, das sind die Naturbedingungen. Der Ver­gleich des geistigen Organismus mit dem Kopf leben hat nur so lange eine Bedeutung, solange man ein Analogiespiel treibt. Dann erst kommt man auf das Richtige, was einem helfen kann, wenn man weiß, daß die Sache so ist, daß die Gesetze so sind, wie ich es dargestellt habe. Man kann wissen : die Gesetze des menschlichen Stoffwechsels sind diese. Aber dabei muß man dasselbe Denken anwenden, das man anwendet auf den sozialen Organismus, und dann bekommt man das weitere leicht heraus. Geistige Dinge ohne solchen Leitfaden zu treiben, ist außerordentlich schwierig und langwierig. Weil heute dadurch, daß manchmal ein Analogiespiel getrieben wird, eine starke Abneigung vorhanden ist gegen dieses Parallelisieren des sozialen Organismus mit dem menschlichen Organismus, habe ich das in meinem Buche nur gestreift; aber ich versuchte es wenigstens an­zudeuten, weil für die, welche die Sache gesund denken, es wiederum eine große Hilfe sein kann.

So sehen Sie, daß wir heute als Menschen in einer eigentümlichen Lage sind. Die Naturwissenschaft, welche diese großen Fortschritte gemacht hat, welche die Denkgewohnheiten der Menschen so be­einflußt hat, daß im Grunde genommen alles soziale Denken bei den Leuten, die sozial denken, naturwissenschaftlich orientiert wird, wenn sie es auch nicht wissen - die Naturwissenschaft ist nicht fähig, den Menschen in der richtigen Weise zu beurteilen. Sie sagt zum Beispiel den krassen Unsinn : Wenn Sie etwas fühlen, das Gefühl sei auch durch das Nervensystem vermittelt. Es ist der reine Unsinn. Das Gefühl ist direkt ebenso durch das Atmungssystem, das rhyth­mische System vermittelt, wie der Gedanke durch das Nerven­Sinnessystem. Und der Wille ist durch den Stoffwechsel vermittelt, gar nicht durch das Nervensystem in elementarer Weise. Erst der Gedanke des Wollens ist durch das Nervensystem vermittelt. Nur

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indem Sie als Menschen ein deutliches Bewußtsein haben von dem Wollen, ist das Nervensystem beteiligt. Indem Sie Ihr Wollen mit­denken, ist das Nervensystem beteiligt. Weil man das nicht weiß, ist herausgekommen jenes furchtbar Beirrende der heutigen Physiologie und Anatomie, daß man sensitive Nerven und Bewegungsnerven unterscheidet. Es gibt gar keine krassere Unrichtigkeit als diese Unter­scheidung der sensitiven Nerven und Bewegungsnerven im mensch­lichen Leibe. Die Anatomen sind immer in Verlegenheit, wenn sie dieses Kapitel besprechen, aber sie kommen nicht darüber hinaus. Sie sind in furchtbarer Verlegenheit, weil sich anatomisch diese beiden Arten von Nerven nicht unterscheiden. Das ist reine Spekulation. Und alles das, was sich durch Untersuchungen der Tabes anschließt, das ist durchaus alles ohne Halt. Die Bewegungsnerven unterscheiden sich nicht von den sensitiven Nerven, weil die Bewegungsnerven nicht dazu da sind, die Muskeln in Bewegung zu setzen. Die Muskeln werden in Bewegung gesetzt durch den Stoffwechsel. Und während Sie mit den sogenannten sensitiven Nerven auf dem Umweg durch die Sinne die Außenwelt wahrnehmen, nehmen Sie mit den anderen Nerven ihre eigenen Bewegungen, die Muskelbewegungen wahr. Die heutige Physiologie nennt sie nur falscherweise Bewegungsnerven.

Solche furchtbaren Vorurteile sind in der Wissenschaft und korrum­pieren das, was in das populäre Bewußtsein übergeht und viel korrum­pierender wirkt, als man gewöhnlich denkt.

Also die Naturwissenschaft ist nicht so weit, diesen dreigliedrigen Menschen zu durchschauen. In der Naturwissenschaft kann man warten, ob theoretische Anschauungen ein paar Jahre früher oder später populär werden. Das macht nichts aus für das Glück der Menschen. Aber das Denken ist nicht vorhanden, um diesen drei­gliedrigen Menschen zu begreifen. Dieselbe Art zu denken muß aber vorhanden sein, um den sozialen Organismus in seiner Dreigliedrig­keit zu begreifen. Da wird die Sache ernst. Da stehen wir heute an dem Zeitpunkte, wo begriffen werden muß. Deshalb ist eine solche Umkehr des Denkens, ein solches Umlernen wahrhaftig nicht nur für die naiven Menschen notwendig, sondern für die gelehrten Menschen am allermeisten. Die naiven Menschen wissen wenigstens nichts von

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dem, was alles in der Naturwissenschaft aufgestellt worden ist, um unbewußt die Dreigliedrigkeit des Menschen zu kaschieren. Die ge­lehrten Menschen aber sind vollgesteckt mit all diesen Begriffen, die heute diese Dreigliederung für einen Unsinn erklären lassen. Für den heutigen Physiologen ist sie das reine Blech. Wenn man ihm sagt, es gibt keine Bewegungsnerven, und davon spricht, daß die Gefühle nicht ebenso wie die Gedanken durch das Nervensystem vermittelt sind, sondern nur der Gedanke an das Gefühl durch den Nerv ver­mittelt wird, also das Bewußtsein davon, nicht das Gefühl als solches, dann wird er große Einwendungen machen. Die Einwendungen gegen diese Dinge kennt man gut. Die Menschen können natürlich sagen : Nun ja, sieh einmal, du nimmst Musikalisches wahr, das nimmst du durch die Sinne wahr. - Nein, das musikalische Emp­finden ist viel komplizierter vorhanden. Es beruht darauf, daß sich der Atmungsrhythmus in unserem Gehirn begegnet mit der Sinnes­wahrnehmung, und in dem Zusammenschiag zwischen dem Atmungs­rhythmus und der äußeren Sinneswahrnehmung entsteht die musika­lisch-ästhetische Empfindung. Auch da ist es so, daß das Elementare im rhythmischen System liegt. Und das, was dieses Elementare zum Bewußtsein bringt, ist im Nervensystem.

Das alles weist Sie aber darauf hin, daß wir mit Bezug auf viele Dinge heute doch in einer Übergangszeit leben. Sie wissen, ich liebe es nicht, von Übergangszeiten zu sprechen, denn jede Zeit ist ja eine Übergangszeit von der Vergangenheit in die Zukunft. Das ist es, wenn man abstrakt spricht, und von jeder Zeit kann einem mehr oder weniger vorkommen, daß es eine Übergangszeit sei. Aber nicht davon will ich sprechen, daß unsere Zeit eine Übergangszeit ist, sondern in was sie es ist. Sie ist innerlich in sehr bedeutsamer Weise in bezug auf wichtige innere Menschheitsimpulse eine Übergangszeit. Das zeigt sich aber auch bei Menschen, welche diese Wahrnehmung machen können, in einer gewissen Weise scharf. Es sind die Menschen heute nicht sehr geneigt, Nebensymptome mit dem nötigen Ernst zu be­trachten. Ich will Ihnen zuerst eine rein geisteswissenschaftliche Wahr­nehmung sagen. Natürlich kann ich Ihnen diese geisteswissenschaft­liche Wahrnehmung ebensowenig beweisen, wie Ihnen der Mensch,

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der schon einen Walfisch gesehen hat, beweisen kann, daß er existiert. Er kann nur erzählen.

Wenn man es dahin gebracht hat, sein geistiges Anschauungs­vermögen wirklich so zu gestalten, daß man eine Verbindung mit Menschenseelen haben kann, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt sich entwickeln, dann macht man recht seht überraschende Erfahrungen. Diese Kommunikation kann nur in Gedanken her-gestellt werden; aber indem wir hier im physischen Leibe denken, klingt immer in unseren Gedanken etwas an, was von der Sprache herkommt. Mit dem Gedanken vibriert immer etwas von der Sprache. Wir denken immer stark in Worten. Ich habe es sogar einmal erleben müssen, als ich energisch behauptete : Ich bin mir wohl bewußt, daß ich denken kann, ohne daß Worte mitklingen -, daß Hartmann mir sagte : Das ist ein Unsinn, das gibt es gar nicht. Der Mensch kann nicht denken, ohne daß er in Worten denkt.

So gibt es also sehr geistvolle Philosophen, die überhaupt nicht glauben, daß man ohne innerliche Wortpräsenz denken kann. Man kann es. Aber im gewöhnlichen alltäglichen Denken denkt der Mensch in Worten, besonders dann, wenn er einen Verkehr mit den Toten spirituell entwickeln soll. Denn Sie wissen ja, daß dieser Ver­kehr mit den Toten nicht in Abstraktionen verlaufen darf - das ist so, wie wenn wir ins Blaue hineindenken würden -, sondern er muß in Konkretheit verlaufen, der Verkehr mit den Toten. Deshalb sagte ich : Bestimmte Bilder, die sehr konkret vorgestellt werden, die kommen an die Toten heran, nicht abstrakte Gedanken. Besonders weil das so ist, sind wir dann auch sehr geneigt, in diesem Gedankenverkehr mit den Toten in der Sprache zu denken, die Sprache innerlich mit an­klingen zu lassen. Da machen wir die eigentümliche Erfahrung - Sie mögen es glauben oder nicht, aber es ist eben eine Erfahrung -, daß zum Beispiel die Toten Substantive nicht hören. Das sind wie Lücken in unseren Sätzen im Verkehr mit den Toten. Eigenschaftswörter sind schon besser, aber auch noch sehr schwach. Aber bei Verben, Tätigkeitswörtern, da greift ihr Verstehen ein. Das lernt man erst ganz allmählich. Man weiß nicht, warum manches so schlecht geht in diesem Verkehr. Man kommt erst nach und nach darauf, daß man

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bei diesem Verkehr nur ja nicht viele Hauptwörter anwenden dar£ Man kann es ja für sich übersetzen, damit man es versteht. Und man kommt darauf, daß das davon herrührt, daß der Mensch, indem er Tätigkeitswörter, Verben gebraucht, nicht anders kann, als innerlich selber dabei sein, bei den Wörtern. Es ist etwas Persönliches in den Verben. Man erlebt die Tätigkeit mit, während das Substantiv immer zu etwas ganz Abstraktem wird. In dem liegt es wohl, daß diese Erscheinung eintritt, von welcher ich gesprochen habe. Daraus er­sehen Sie aber, daß das sprachliche Element etwas ist, was uns nur in sehr beschränktem Maße mit der übersinnlichen Welt verbindet, was sogar dadurch, daß in dem Gebiet der Sprache immer mehr die Neigung zu Hauptwörtern auftritt, bewirkt, daß wir uns abschnüren können von der geistigen Welt. Und je mehr wir in Hauptwörtern denken, desto mehr schnüren wir uns ab von der geistigen Welt.

Ich wollte Ihnen mit dieser Tatsache nur andeuten, daß die Sprache für unser übersinnliches Leben eine große Bedeutung hat, eine funda­mentale Bedeutung hat. Aber die Sprache ist in der menschlichen Entwickelung selber in voller Entwickelung begriffen. Und das Eigen­tümliche in der Sprachentwickelung ist, daß sie immer mehr und mehr den Menschen zur Abstraktion hinbringt, daß sie ihn immer mehr und mehr von dem lebendigen, inneren Gedankenerleben ent­fernt. Sie können das äußerlich dadurch wahrnehmen, daß Sie sich fragen : Wie sind die westlichen Sprachen im Vergleich zu den öst­lichen Sprachen gestaltet? Nehmen Sie zum Beispiel die äußerlich auf dem physischen Plan am weitesten vorgeschrittene Sprache, die englische : sie verläuft fast nur in Worten, hat am wenigsten Ge­dankeninhalt. Nehmen Sie die orientalischen Sprachen : sie sind ganz voll mit Gemütsinhalt, mit Gedankeninhalt. Das ist der Zug der Sprache vom Osten nach dem Westen. Die Sprache entleert sich des Gedankeninhaltes von Osten nach Westen. Das ist eine wichtige Differenzierung mit Bezug auf das soziale Völkerleben.

Nun gibt es in unserer Zeit einen Mann, der hat einen großen Scharfsinn entwickelt in der Beobachtung der menschlichen Sprache. Dieser Mann ist so gescheit mit Bezug auf die Beobachtung dessen, was mit der menschlichen Sprache zusammenhängt, ja fast so gescheit,

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daß er schon beinahe wiederum nicht gescheit ist. Es gibt nänilich einen Grad von Gescheitheit, wo man wieder anfängt ein bißchen dumm zu werden vor übergroßer Gescheitheit. Es ist schon wahr. Man kann ja einen großen Respekt haben vor dieser Gescheitheit, man soll sie aber vor der entsprechenden Wahrheit nicht über­schätzen. Da ist Fritz Mauthner, der Kant überkantet hat in seiner «Kritik der Sprache». Es sind außerordentlich feine Bemerkungen in dem schrecklichen Buche über die « Kritik der Sprache», und auch im «Wörterbuch», Beobachtungen, die doch aus den Impulsen der Zeit heraus gemacht sind. Das läßt sich gar nicht leugnen. So ist nun Mauthner auf etwas ganz Bestimmtes gekommen, das ganz besonders den Geisteswissenschafter frappieren muß : darauf, daß eigentlich die menschliche innere Seelentätigkeit in einer Art von Dreistufigkeit ver­läuft. Das erste ist das gewöhnliche sinnliche Wahrnehmen, wie es dann organisch gestaltet ist in der Kunst. An das glaubt Mauthner als an etwas, was real ist, was eine Wirklichkeit ist. Wenn man nun innerlich erlebt, angeregt durch die sinnliche Wahrnehmung, etwas, was in das Übersinnliche schon hineinführt, so läßt Fritz Mauthner solches innerliche Erleben gelten. Er nennt es «mystisches Erleben», «religiöses Erleben». Schön, aber er sagt : Indem der Mensch so mystisch erlebt, kann er nur träumen. Es ist ja angenehm zu träumen, aber man ist aus der Wirklichkeit heraus. Mauthner zweifelt über­haupt an der Möglichkeit, an die Wirklichkeit der Dinge heran­zukommen, denn die einzige Wirklichkeit ist ihm die sinnliche Wahr­nehmung. Höchstens die Kunst kann noch heran. Aber sobald man sich von der sinnlichen Wahrnehmung entfernt, so weit, daß man etwas erlebt in mystisch-religiösem Leben, so träumt man eigentlich über die Wirklichkeit; man hat sie schon verlassen. Und dann kann man noch weiter gehen, meint Mauthner. Er kommt zu all diesen Überzeugungen durch die Betrachtung der Sprache. Er analysiert, er kritisiert die Sprache, besonders in seinem philosophischen Wörter­buch. Es ist etwas Schreckliches, das zu lesen. Ich habe Sie schon auf­merksam gemacht bei einer anderen Gelegenheit auf jene Qualen, die man durchmacht, wenn man von diesen Artikeln, die von A bis Z laufen, den einen oder anderen liest. Man fängt an, einen solchen

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Artikel zu lesen : Da wird etwas gesagt. Dann wird ein anderer Satz gesprochen, wo das, was gesagt wird, ein bißchen eingeschränkt wird. Dann ein dritter Satz, wo das, was eingeschränkt wird, wiederum ein­geschränkt wird, so daß es ein bißchen auf den ersten Satz zurück­kommt. Man dreht sich, dreht sich, dreht sich, und hat am Ende nichts, wenn man den ganzen Artikel zu Ende liest. Schrecklich ist der Artikel «Christentum». Eine furchtbare Qual. Aber es ist be­gründet, in Mauthners Sinn, daß das so ist. Mauthner weiß das, und er verurteilt eigentlich seinen Leser dazu, solche Qualen zu empfinden. Er hat sie selbst empfunden. Er glaubt nicht, daß der Mensch im­stande ist, wenn er etwas wissen will, zu etwas anderem zu kommen als zu einem solchen Sichdrehen. Er ist absolut Skeptiker. Er findet nirgends in der Sprache einen anderen Inhalt, als die Sprache selbst hat. Sie hat für ihn nur einen Zufallswert. Und so wird ihm auch zu einem Traume das innere mystische Erleben. Will man aus der Sprache herauskommen : indem man herauskommt, wird sie zum innerlichen Träumen.

Man kann aber zu einer dritten Stufe gehen : Man kann glauben zu denken, aber man spricht nur innerlich. Ob man nun der einen oder anderen Sprache zuneigt, die Sprachlaute, die Worte sind einmal an den äußeren sinnlichen Dingen entwickelt. Ich habe Ihnen ja ge­sprochen von verschiedenen Anschauungen der Gelehrten, wie Sprache entstanden ist. Sie wissen, daß man die Anschauungen über Sprachentwickelung in zwei Hauptklassen teilt : Bimbamtheorie und Wauwautheorie. Das sind Termini technici. Nun findet Mauthner, daß alles nur entwickelt ist an der äußeren Sinneswahrnehmung Eigentlich sind wirkliche Gedanken nicht für den Menschen vor­handen. Aber in der Wissenschaft strebt er wirkliche Gedanken an, indem er auf die dritte Stufe gestiegen ist. Er gelangt aber nicht dazu, etwas Wirkliches zu wissen. In der Mystik träumt er noch. Wenn er sich zur Gedankenwirklichkeit, zum Beispiel zu Naturgesetzen erhebt, dann träumt er nicht einmal mehr, dann schläft er schon. Daher ist für Mauthner alle Wissenschaft Docta ignorantia. Das sind seine drei Stufen.

Nun, ich sagte Ihnen, man kann einen gewissen Respekt haben

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vor einer solchen Beobachtung, denn sie ist nicht einmal unrichtig, aber eben nicht unrichtig für die heutige Zeit. Es ist nämlich etwas, wozu jetzt die Menschheit neigt, von Mauthner richtig empfunden. Es ist so: Wenn der heutige Mensch zur Mystik kommen will, so ist das etwas ganz anderes als beim früheren Menschen. Der frühere Mensch war innerlich noch verbunden mit der Realität. Der heutige Mensch kann das nicht; er träumt wirklich als Mystiker. Und die Naturgesetze, die der Mensch heute findet - nun, man kann sich ja nicht ganz auf solch schroffen Standpunkt stellen wie gewisse Theore­tiker, die die Sache auch bemerkt haben wie Mauthner, wie zum Beispiel der französische Denker Boutroux oder Ernst Mach -, aber man muß doch sagen, was man heute Naturgesetze nennt, wenn man diese Naturgesetze auf ihren Inhalt prüft, so sind im Grunde genom­men keine Gedanken da - man glaubt nur, sie seien Gedanken -, sondern nur Zusammenfassungen von Tatsachen. Es sind eigentlich bloße Registraturen. Das haben einzelne bemerkt, zum Beispiel Mach. Mauthner hat es gehörig bemerkt, daher spricht er von Docta igno­rantia, von einer gelehrten Unwissenheit, von einer unwissenden Gelehrsamkeit. Ja, für den heutigen Entwickelungszustand der Men­schen ist das schon so. Der Mensch ist heute sowohl mystisch wie naturwissenschaftlich sehr unfruchtbar geworden. Er bemerkt es nur noch nicht deutlich genug in seinem Hochmut. Das ist aber nicht ein allgemein menschliches Zeichen. Mauthner und die anderen glauben nur, es sei dies, weil sie in Wahrheit doch nicht an menschliche Ent­wickelung denken, sondern weil sie glauben : wie heute die Seele ist, so war sie immer. Aber es ist charakteristisch für die heutige Zeit. Deutlich ist für das heutige Seelenleben nur die Wahrnehmung. Wir kommen in ein Träumen hinein und gar in gelehrte Unwissenheit, wenn wir in frühere Stufen steigen wollen. Man darf aber daraus nicht den Schluß ziehen : Die menschliche Natur ist so, daß sie ent­weder in mystisches Träumen verfallen muß oder in gelehrte Un­wissenheit - wie es die tun, die denken wie Mauthner -, sondern man muß daraus den Schluß ziehen : Also muß auf neuen Wegen gefunden werden, was die Alten auf alten Wegen gefunden haben. Das heißt, wir müssen eine neue Mystik suchen, nicht in alte Mystik hineinkommen.

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Diese neue Mystik ist gesucht in «Wie erlangt man Erkennt­nisse der höheren Welten?». Wir müssen aufsteigen zu einer neuen Imagination, zu einer neuen Inspiration, aber wir müssen aufsteigen auf neuen Wegen. Ich habe das scharf ausgeführt in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» : Weil wir mystisch träumen oder gar wissen­schaftlich schlafen, haben wir es heute notwendig, daß wir aufwachen. Deshalb habe ich das Urphänomen der heutigen Erkenntnis in diesem Buche als ein «Aufwachen» bezeichnet. Wir müssen an die Stelle des mystischen Träumens eine wache Imagination setzen, an Stelle der Docta ignorantia die Inspiration, in dem Sinne, wie es gemeint ist in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».

In bezug darauf stehen wir heute in einem Übergang, gerade in bezug auf die Menschenseele, daß wir aus den tiefsten Untergründen dieser Menschenseele heraufentwickeln müssen aktive Kraft, welche zum Geistigen führt. Wir finden uns sonst nicht durch das Chaos der gegenwärtigen Zeit hindurch, wenn wir nicht den guten Willen ent­wickeln, aktive innere Seelenkräfte zu entwickeln. Die Spiritisten tun das Gegenteil. Sie spüren unbewußt, daß aus dem Innern nichts quillt, also lassen sie sich die Geister in äußerer Erscheinung vorführen, in äußerer sinnlicher Anschauung.

Und eine tragische Erscheinung tritt in der Gegenwart auf. Wir können es heute erleben, daß Menschen, die vor kurzem noch glaubten, daß der Materialismus ihre Seele ausfüllen könnte, im zu­nehmenden Alter doch am Materialismus irre werden. Das ist ja nichts anderes als das, was die gesunde Seele erfühlen muß gegenüber der heutigen Biologie, der Soziologie auch : Leichengeruch, seelischen Leichengeruch, den man nur losbekommt durch eine innerliche Seelenaktivität. Das wollen heute viele nicht. Daraus entsteht die Tragik der bejahrten Menschen, die aber nicht an geisteswissenschaft­liches Forschen heranwollen und in den Katholizismus zurückgehen. Der gibt den passiv bleibenden Seelen dann etwas, von dem sie glauben, daß es ein geistiger Inhalt ist. Das ist eine große Gefahr. Das weist wiederum von einer anderen Seite auf den Durchgang hin, den wir als Menschheit in der gegenwärtigen Zeit durchmachen. Ganz im geheimen geht die Menschenseele durch einen wichtigen Entwickelungspunkt.

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Und mit diesem Durchgang durch einen wichtigen Ent­wickelungspunkt hängt innerlich zusammen die Notwendigkeit, daß wir neu denken lernen in bezug auf den sozialen Organismus, daß wir in manchem anderen auch umdenken lernen in bezug auf den Menschen.

Nun lesen Sie, wie der einzelne Mensch, wenn er in die übersinn­liche Welt hinaufrückt, anfängt, sich dreizuteilen. Lesen Sie es in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Die Durch­einanderschmelzung von Denken, Fühlen und Wollen, die hier in der Sinneswelt beim Menschen das Natürliche ist - lesen Sie das Kapitel vom «Hüter der Schwelle» -, Denken, Fühlen und Wollen treten auseinander, wenn man in diese übersinnliche Welt hineinkommt. Das macht die Menschheit heute im geheimen durch im Unter­bewußtsein. Da wird eine Schwelle überschritten. Die Menschen gliedern sich innerlich in einen dreigliedrigen Menschen in anderer Weise, als das früher vorhanden war. Dieses Beobachten des Durch­ganges des Menschen durch eine gewisse Schwelle, die belehrt einen, daß aus den geistigen Untergründen des Daseins selbst heraus uns diktiert wird die Dreigliederung des sozialen Organismus. Wenn wir in Zukunft finden wollen ein Bild von uns in der Außenwelt, so daß wir damit zusammenpassen, dann müssen wir den sozialen Orga­nismus dreigegliedert haben.

Sehen Sie, das sind solche Winke, die die Geisteswissenschaft gibt für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Aber ich betone auch dabei wiederum : Ist einmal die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus gefunden, so kann sie, wie alle okkulten Wahrheiten, aus gesundem Menschenverstand eingesehen werden. Zum Finden ist notwendig geisteswissenschaftliche Forschung. Ist sie gefunden, dann spricht der gesunde Menschenverstand die Sache aus. Das ist auch etwas, was wir bei jeder Gelegenheit berücksichtigen müssen.

Nun habe ich heute versucht, Ihnen etwas zu verinnerlichen, was heute, der Zeit dienend, über die Dreigliederung des sozialen Orga­nismus gesagt werden muß. Am nächsten Sonntag wollen wir diese Betrachtung erweitern, abschließen, und vielleicht erst zu dem bringen, was sie sein soll, nämlich zur völligen inneren Vollständigkeit.

DRITTER VORTRAG Stuttgart, 1. Mai 1919

#G192-1964-SE061 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

DRITTER VORTRAG

Stuttgart, 1. Mai 1919

#TX

Das letztemal, als wit uns hier trafen, konnte ich Ihnen sprechen von inneren Gründen für den Gedanken der Dreigliederung des sozialen Organismus. Ich habe die Betrachtungen so weit führen können, daß wir aufmerksam wurden darauf, in welchem Sinne wir in der Gegen-wart in einer gewissen Weise in einer Übergangszeit leben. Sie werden ja diese Bemerkung nicht mißverstehen, da ich oftmals gesagt habe: Wenn ich hier von einer Übergangszeit rede, so soll nicht jene Trivia­lität gemeint sein, die man oftmals im Auge hat, wenn gesagt wird, man lebe in einer Übergangszeit. Denn schließlich ist jede Zeit, so sagte ich oftmals, eine Übergangszeit, nämlich von der vorher­gehenden zu der nachfolgenden. Es kommt darauf an, auf dasjenige gerade das Augenmerk zu richten, was übergeht. Und dafür gibt es allerdings bedeutungsvolle und weniger bedeutungsvolle Augen­blicke in der großen weltgeschichtlichen Entwickelung der Mensch­heit. Und es ist für die Betrachtung des Geisteslebens in jenen Tiefen, in denen es der menschlichen Beobachtung zugänglich ist, klar, daß gerade mit Bezug auf wichtigste, allerwichtigste Impulse der Mensch­heitsentwickelung in unserer Zeit gewissermaßen unter der Schwelle der äußeren Vorgänge Maßgebendes vorgeht. Ich habe Sie letztes Mal schon darauf aufmerksam gemacht, wie man hineinsehen muß in das­jenige, was man oftmals das Unbewußte oder Unterbewußte der menschlichen Natur, der menschlichen Wesenheit nennt, um zu er­kennen, was heute gerade für die Menschheit in einem wesentlichen, in einem wichtigen Sinn in einem Übergang begriffen ist. Nicht das eigentlich sagt uns über die Entwickelung der ganzen Menschheit viel, was wir heute in unserem Bewußtsein haben, obwohi wir im Zeitalter der Bewußtseinsseelenentwickelung gerade leben, obwohi es für den einzelnen Menschen in diesem Zeitalter gerade weitgeschicht­lich gesetzmäßig ist, daß er seine Bewußtseinsseele entwickelt. Es ist für die ganze Menschheit, zum Unterschied von einzelnen Menschen, dieses Zeitalter so, daß eben die ganze Menschheit mit Bezug auf die

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inneren Seelen- und Geisteskräfte durch eine Epoche durchgeht, die die Entwickelung mehr im Unterbewußten sich vollziehen läßt. Im Unterbewußten müssen wir für die ganze Menschheit die wesent­lichsten Übergangskräfte finden, wie wir für den einzelnen Menschen heute in diesem Zeitalter die wichtigsten Kräfte finden müssen gerade in der Aneignung des vollen Bewußtseins. Für den einzelnen Men­schen geht das instinktive, das mehr naive Erleben der Seele immer mehr und mehr in ein bewußtes Erleben der Seele über; für die ganze Menschheit aber vollzieht sich unbewußt ein Wichtiges, ohne daß der einzelne oftmals auf dieses Wichtige hinschaut, wenn er nicht gerade geisteswissenschaftliche Vertiefung anstrebt.

Und dieses Wichtige, dieses Wesentlichste, es ist gar nicht so leicht zu beschreiben. Denn unsere Sprache ist ja im Grunde genommen gemacht für die seelische Wiedergabe der äußeren sinnlichen Wirk­lichkeit. Diese Sprache macht es uns schwer, ganz prazise, namentlich hinreichend zu schildern, was nicht der sinnlichen Wirklichkeit an­gehört, was dem übersinnlichen Dasein angehört. Man muß sich da oftmals helfen durch Vergleiche, aber nicht durch abstrakte Ver­gleiche, sondern durch solche Vergleiche, wie Sie sie gut aus der Geisteswissenschaft her kennen, die immer eine Lebenserscheinung mit der anderen zusammenstellt, damit die eine Lebenserscheinung die andere erörtere. Wenn dann solche Vergleiche gebildet werden, dann muß man sich klar sein, daß nur ein bewegliches Denken, ein Denken, das die Begriffe, die Worte nicht preßt, auf den genauen Sinn des Darzustellenden wirklich kommt. Ich muß nämlich vergleichen, wenn ich das Wichtigste, was in der gesamten Menschheit in der welt-geschichtlichen Gegenwart vor sich geht, charakterisieren will - ich habe das schon neulich angedeutet -, ich muß vergleichen die heutigen Untergründe der geschichtlichen Vorgänge mit der Erfahrung, welche der einzelne Mensch nur dann bewußt durchmachen kann, wenn er, wie man sagt, die Schwelle in die übersinnliche Welt über­schreitet. Sie wissen ja alle aus der Darstellung, die ich über dieses individuelle Erlebnis des Menschen gegeben habe in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», daß es ein tief in die Menschenwesenheit eingreifendes Ereignis ist, wenn der

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Mensch jene Schwelle überschreitet, diesseits welcher für das Bewußt­sein des Menschen die sinnliche Welt und jenseits welcher die über­sinnliche Welt ist. Es wird ja wahrhaftig alles jenseits dieser Schwelle zur übersinnlichen Welt anders, als hier in der sinnlichen Welt die Dinge liegen. Und der Mensch macht da etwas durch - Sie wissen es ja -, was von denjenigen, die es namentlich im Stile älterer Zeitalter durchgemacht haben, mit dem bedeutungsvollen Worte «das Über­schreiten der Pforte des Todes» bezeichnet worden ist. Den Tod in seiner Wesenheit muß eben derjenige kennenlernen, der diese Schwelle wirklich überschreiten will. Den Tod in seiner Bedeutung für das gesamte Leben des Menschen muß er erkennen.

Nun wissen Sie aus der Darstellung, die ich diesem Ereignis der Überschreitung der Schwelle in die übersinnliche Welt in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gegeben habe, daß bei die­sem Überschreiten die ganze seelische Wesenheit des Menschen eine Umänderung ertährt, allerdings natürlich nur für diejenigen Zeiten, in denen man da bewußt in der übersinnlichen Welt verweilt. Mit der Seelenverfassung, die man hier in der sinnlichen Welt hat, die für das Leben, für das Wirken, für das Handeln in dieser sinnlichen Welt angemessen ist, mit dieser Seelenverfassung läßt sich gar nicht hinein­kommen in die übersinnliche Welt. Hier in der sinnlichen Welt sind die Seelenkräfte Denken, Fühlen und Wollen in einem unzertrenn­lichen Zusammenhang, so daß wir in unserem Sinnesleben gar nicht dazu kommen, diese Seelenkräfte getrennt zu empfinden, zu erleben. Jemand, der nicht zugleich in der Seele ein gewisses Maß von Wollen, wenn auch in innerem latentem Zustande, entwickeln würde, während er denkt, der wäre seelisch eigentlich nicht gesund. Wir sind gar nicht in unserem sinnlichen Leben imstande, diese drei Seelenkräfte von­einander zu trennen, so daß wir mit der Seele eigentlich niemals ein reines, bloßes Denken entwickeln, nie ein bloßes reines Fühlen, nie ein bloßes reines Wollen. Immer sind in unserem Vorstellen Emp­finden, Handeln und Wollen, diese drei Seelenkräfte doch miteinander vermischt, miteinander vermengt. Überschreiten wir die Pforte in die übersinnliche Welt, das heißt, bringen wir unsere Seele dahin, daß wir wirklich, so wie wir sonst hier in der Welt von Sinnesdingen, von

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Sinnesgeschehnissen umgeben sind, dann umgeben sind von über­sinnlichen Wesenheiten, von übersinnlichen Taten dieser Wesenheiten, dann muß in unserer Seele eine reinliche Trennung eintreten zwischen Denken, Fühlen und Wollen. Der Mensch muß dann, wie Sie ja aus den Darstellungen in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» entnehmen können, so geschult sein, daß er die innere Kraft entwickeln kann, mit seinem Ich diese drei Elemente des Seelenlebens zusammenzuhalten: Denken, Fühlen und Wollen; sonst würde er sich zerspalten in drei Persönlichkeiten.

Ja, das ist das bedeutsame innere Aktivitätserlebnis, das wir haben müssen nach dem Überschreiten der Schwelle: dieses Sich-Hinein-finden in höchster Aktivität des Ich, in höchster Betätigung des Ich, um die getrennten Seelenkräfte, Denken, Fühlen und Wollen, zu­sammenzuhalten. Das ist auch zunächst die Furcht, die der heutige schwachmütige Mensch hat: die Furcht vor wirklich übersinnlichen Erkenntnissen, diese Furcht vor innerer Seelenbetätigung höchsten Stiles. Der Mensch möchte heute eigentlich alle seine Betätigung so verlaufen lassen, daß sie von der Außenwelt hervorgerufen wird und in der Außenwelt erfolgt. Innere Aktivität liegt dem heutigen Men­schen noch nicht, muß sich aber gerade für den heutigen Menschen immer mehr und mehr gegen die Zukunft hin entwickeln. Aber weil diese Entwickelung erst eine Aufgabe ist, nicht eigentlich schon vor-handen ist, deshalb hat der Mensch die Scheu, die Furcht, in die über­sinnliche Welt einzutreten. Unbewußt fürchtet er sich - wenn ich diesen Ausdruck formulieren darf - vor dieser Kraftanstrengung, die drei Seelenfähigkeiten, die sich da trennen, zusammenzuhalten. Ich schildere dieses innere individuelle Erlebnis hier, um Ihnen charakte­risieren zu können - sonst würde man es gar nicht charakterisieren können -, was im Inneren des seelischen Erlebens - und Sie wissen, wir dürfen von einem solchen reden -, was im Inneren des seelischen Erlebens der gesamten Menschheit im jetzigen Zeitalter vorgeht. Das, was ich eben geschlldert habe als individuelles Erlebnis beim Über­schreiten der Schwelle in die übersinnliche Welt, das ist natürlich für den, der diese Schwelle überschreitet, ein vollbewußtes Ereignis, viel bewußter als irgendwelche bewußten Erlebnisse des gewöhnlichen

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wachen Tagesbewußtseins. Ein gesteigertes Bewußtsein ist es, in dem man die Schwelle überschreitet und in dem man die innere Drei-gliederung der menschlichen Seelenwesenheit in der übersinnlichen Welt wahrnimmt.

Etwas Ähnliches, aber jetzt naturgemäß von selbst, nicht bewußt, macht im heutigen Zeitalter als ein kosmisches geschichtliches Er­eignis die ganze Menschheit durch. Man merkt es nicht, wenn man nicht den unbewußten Vorgang, der sich für die ganze Menschheit abspielt, geisteswissenschaftlich bewußt studiert. Sie wissen, unser Zeitalter ist das fünfte nach der großen atlantischen Katastrophe, durch die ja erst die gegenwärtige Konfiguration unserer Erdober­fläche entstanden ist. Die fünfte nachatlantische Periode ist es, in der wir leben, und in dieser Periode muß in ihrer Gesamtentwickelung die Menschheit durchgehen durch etwas Ähnliches, wie es die Schwelle ist für den einzelnen individuellen Menschen beim Hineinschreiten in die übersinnliche Welt. Die Menschheit als Ganzes, sagte ich, in ihrer kosmischen, oder wir können auch sagen meinetwillen terrestrischen Geschichtsentwickelung, sie schreitet über die Schwelle, diesseits welcher, das heißt in der vorhergehenden Zeit, eine ganz andere Art von Weltanschauung, von Erkenntnis für die Gesamtmenschheit not­wendig war, als jenseits der Schwelle, das heißt nachher.

Das ist es, was im Unbewußten der ganzen Menschheit sich heute abspielt, was man bloßlegen muß durch die Geisteswissenschaft, was aber auch beweist, wie notwendig dieser heutigen Menschheit die Geisteswissenschaft ist. Denn dieses Überschreiten der Schwelle darf eigentlich nicht im Unbewußten bleiben. Dieses Überschreiten der Schwelle muß den Menschen bekannt werden, sonst verschlafen oder mindestens verträumen die Menschen dasjenige, was eigentlich als wichtigstes Ereignis mit ihnen vorgeht. Und wir sollen ja gerade in dieser fünften nachatlantischen Epoche das Bewußtsein ausbilden. Wir können mit Bezug auf das Wichtigste, was mit der Menschheit vorgeht, nicht das Bewußtsein anders ausbilden, als durch Aufsteigen von der bloßen Sinneswissenschaft zur Geisteswissenschaft.

Wenn Sie dies bedenken, dann wird Ihnen vielleicht ins Gedächtnis kommen, was immer wiederum gesagt worden ist im Laufe der jetzt

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ja schon seit so langer Zeit auch hier in Stuttgart aus dem Gebiete der Geisteswissenschaft heraus gehaltenen Vorträge. Sehen Sie, immer wiederum mußte ich betonen: Geisteswissenschaft - so wie sie hier gemeint ist - ist nicht bloß etwas, was gewissermaßen subjektive Erkenntnisbedürfnisse des Einzelnen befriedigen soll. Geisteswissen­schaft ist etwas, was mit dem Erfassen, dem denkenden, fühlenden, wollenden Erfassen des Grundimpulses der Menschheit in unserer Zeit zusammenhängt. So daß die Beschäftigung mit Geisteswissen­schaft eben nicht sein sollte eine bloße Befriedigung von Neugierde oder Wißbegierde des Einzelnen. Sondern Geisteswissenschaft soll sein die Erfüllung einer gewissen Pflicht, die man hat mit Bezug auf die ganze Menschheit, die erkennen soll in der Gegenwart, was in ihren Tiefen, in den Tiefen ihrer Entwickelung gerade in dieser Epoche vorgeht.

Nun, ich habe Ihnen, als ich neulich vor Ihnen sprechen durfte, ja gesagt, wie einzelne Menschen, die eine gewisse äußere, durch die gegenwärtige wissenschaftliche Schulung ausgebildete Klugheit haben, an bestimmten Erscheinungen merken, was wir heute als Menschheit in einer solchen Epoche erleben, der irgend etwas Unbestimmtes in den menschlichen Tiefen entspricht. Ich habe Ihnen angeführt, wie solche Leute, wie zum Beispiel Fritz Mautbner, davon sprechen, daß der Mensch zunächst seine sinnliche Anschauung haben könne, daß aber eigentlich dies die einzige wahre Wirklichkeit sei, von der der Mensch sprechen könne. Aber diese Wirklichkeit, die er höchstens in der Kunst, im Schönen, im Erhabenen gestaltet, diese Wirklichkeit läßt ihn nicht zur Befriedigung kommen. Er will tiefer in das Wesen der Dinge eindringen. Versucht er dies, versucht er durch sein Inneres in das Wesen der Dinge einzudringen, so kommt er nicht zu einem wirklichen Verbundensein mit der wahren Wesenheit der Welt, so sagt Mauthner, sondern nur zu einem Träumen, wenn auch zu einem solchen Träumen, das sich wohl fühlt, weil es sich verbunden ahnt mit den Zentralkräften der Welt, das aber doch eben nur träumend wissen kann in der Mystik. Diese Mystik ist dann die zweite Stufe menschlichen inneren Seelenstrebens für solche Leute. Allein, sie behaupten, und sie haben von ihrem Gesichtspunkte aus recht, weil

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sie eine übersinnliche Erkenntnis ablehnen: Mystik ist Traum­Erkennen. Und als dritte Stufe läßt Fritz Mauthner gelten ein Wissen, das man anstrebt, indem man sich aneignet Naturgesetze, die die Welt beherrschen, historische Gesetze oder sonstige. Allein, das alles be­zeichnet er im Grunde genommen als Docta ignorantia aus dem Grunde, weil, indem wir glauben, durch Wissenschaft etwas zu er­kennen, wir nicht bloß träumen wie in der Mystik, sondern schlafen, schlafen mit Bezug auf dasjenige, was Verbindung wäre mit den eigentlichen Zentralkräften der Welt. So meinen solche Leute wie Fritz Mauthner: Der Mensch kann höchstens wachend sinnlich wahr­nehmen und die sinnlichen Wahrnehmungen durch Kunst veredeln. Der Mensch muß träumen, wenn er versucht, sich religiös oder mystisch durch sein Inneres mit der wahren Wirklichkeit zu ver­binden. Und der Mensch muß schlafen, wenn er glaubt, durch Wissen-schaft, durch Weisheit irgendwie sich mit den Dingen zu verbinden.

Nun, absolut gesprochen, ist so etwas eine Torheit. Relativ ge­sprochen, für die besondere Seelenverfassung der Menschheit, die sich entwickelt hat durch das neunzehnte Jahrhundert hindurch und in das zwanzigste Jahrhundert herein, ganz besonders für diese Menschheit gesprochen, nicht im allgemeinen gesprochen, ist es eine Wahrheit. Mit den Mitteln, die die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse groß gemacht haben, mit den Mitteln, durch die wir in einen solchen Schiff­bruch hineingekommen sind mit Bezug auf die soziale Ordnung der Menschheit, mit diesen Mitteln ist nur seelisch so zu leben, dreistufig, wie Fritz Mauthner es schildert: in der Sinnlichkeit wachend, in der Mystik träumend, in der Wissenschaft schlafend. Den Durchgang durch die Schwelle der gesamten Menschheit findet solch ein Mensch wie Fritz Mauthner. Wer solche Werke gelesen hat, wie «Die Kritik der Sprache» von Fritz Mauthner, in der Mauthner Kant zu über-kanten trachtet, wo er nicht nur Begriffe, sondern die Sprache selbst kritisiert, und wer namentlich das «Philosophische Wörterbuch», das dicke, zweibändige von Fritz Mauthner wenigstens in bezug auf den einen oder anderen Artikel gelesen hat - es ist ja alphabetisch an­geordnet -, der weiß, in welche Seelenverfassung er gerade durch diese Werke von Fritz Mauthner kommt.

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Ich rate Ihnen da ganz besonders - in diesem Falle werden Sie mir vielleicht nur von der einen Seite her für meinen Rat dankbar sein -, ich rate Ihnen, den Artikel «Christentum» zum Beispiel in diesem Wörterbuch der Philosophie zu lesen, oder den Artikel «Res publica», oder den Artikel «Goethes Weisheit», oder den Artikel «Unsterblich­keit». Sie werden überall das Gefühl haben: Jetzt lesen Sie einen Satz. Im zweiten Satz wird das, was man gelesen hat, abgeschwächt. Im dritten wird das Abgeschwächte wieder abgeschwächt. Im vierten das erste zurückgenommen. Im fünften Satz dann das Ganze zurück­genommen mit allen Behauptungen und Abschwächungen. Dann kommen Sie in eine Drehung Ihres ganzen Verstandes- und Gemüts-und Seelensystems hinein, und es ist etwas Furchtbares, was man nach solcher Lektüre empfindet. Es ist eine furchtbare innere Seelenqual. Und Sie werden, indem Sie diese innere Seelenqual schildern, die ein Mensch empfindet beim Lesen, der nur die letzte Konsequenz der gegenwärtigen Seelenverfassung zu ziehen den Mut hat - im Gegen­satz zu vielen, die eben diesen Mut nicht haben -, Sie werden mit einer Kritik, die Sie so aussprechen, wie ich sie jetzt ausgesprochen habe, nicht etwa Fritz Mauthner verletzen, indem Sie sie ihm selber entgegenhalten, denn er gesteht zu, er hat selber die gleiche Seelen­verfas sung, wenn er diesen Artikel niederschreibt. Denn er sagt: Man kann mit menschlicher Erkenntnis überhaupt zu nichts anderem kommen als zu einer Art von Geistestanz, in dem man sich nicht aus-findet. Fritz Mauthner verwechselt die im neunzehnten Jahrhundert und im beginnenden zwanzigsten Jahrhundert notwendig gewordene Haltlosigkeit des Erkennens mit einer vermeintlichen absoluten Halt-losigkeit des Erkennens beim Menschen. Was liegt aber in Wirklich­keit vor? Etwas ganz anderes, als Mauthner glaubt.

In älteren Zeiten hat der Mensch, wie Sie wissen, im atlantischen Hellsehen nicht mystisch geträumt, sondern mystisch erkennend sich mit einer Wirklichkeit verbunden. Er hat auch nicht bloß in Weisheit geschlafen. Wir erkennen noch in den Resten ältester Weisheit, wie bei Plato, wie sie Großes der Menschheit zu sagen wußten. Bei Aristoteles hört es schon auf. Die Menschheit hat nicht nur eine Docta ignorantia gehabt, sondern sie hat eine Weisheit gehabt, durch die sie

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sich verbunden hat mit den Zentralkräften der Welt, die zugleich die Zentraikräfte des menschlichen Wesens selber sind. Aber diese Fähig­keiten fluteten ab. Sie mußten abfluten, damit der Mensch in sich selber die starken Kräfte suchte, das, was ihm früher von außen durch geistige Wesen ohne sein Zutun gegeben war, durch sein Inneres zu suchen. Heute gehen wir über die Schwelle als ganze Menschheit. Beim Übergang über die Schwelle müssen wir entwickeln die Kräfte aus unserem Innern heraus, die Mystik, die sonst durch unsere Natur in uns schläft, zum Wachen zu bringen, das Träumen der Mystik durch unsere eigene Kraft zu einem Erleben im Geistigen aufzurufen, und ebenso dasjenige, was sonst tote, abstrakte Wissenschaft ist, durch innere Aktivität, durch innere Kraft zum wirklichen Erleben des über­sinnlich Geistigen aufzurufen. Heute ist das in unsere Kraft gegeben. Daher müssen wir durch ein solches Studium durchgehen, und daher können Menschen, die nicht zur Geisteswissenschaft kommen wollen, wie Fritz Mauthner, nur dasjenige empfinden, was wie eine not­wendige Tragik eben zum Hervorrufen der inneren Kräfte dem Menschen notwendig war. Deshalb müssen Menschen wie Mauthner, die solches empfinden, solches erleben, und nicht zur Geisteswissen­schaft kommen wollen, eigentlich verzweifeln an der Möglichkeit, sich für irgend etwas im Leben erkennend zu verbinden mit den Zentralkräften des Daseins, die zu gleicher Zeit die Zentralkräfte der menschlichen Wesenheit selber sind.

Wenn Sie das gründlich überdenken, was ich eben gesagt habe, müssen Sie sich da nicht sagen: Der Mensch ist gegenwärtig durch das unbewußte Überschreiten der Schwelle vor eine starke Prüfung in der Menschheitsentwickelung gestellt? Ja, das ist er. Denn wenn er Aktivität der Seele, starke Betätigung der Seele nicht entwickeln will, so ist er dazu verurteilt, in Untätigkeit, in Inaktivität, und dadurch in Unglauben gegenüber dem Dasein zu verfallen, wenigstens in eine Art von Unsicherheit zu verfallen, wenn es sich darum handelt, mit seinem Innern sich hineinzustellen in das ganze Getriebe der Welt-entwickelung. So ist unge£ähr die Seelenverfassung eines solchen repräsentativen, typischen Menschen wie Fritz Mauthner. Es gibt viele solche in der Gegenwart, nur ist er innerlich tapfer genug gewesen,

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das in vielen Schriften zu gestehen, während andere in der gleichen Seelenverfassung sind und es nicht gestehen. Er hat auch die Resignation gehabt, sich zuletzt in einer Südecke Bayerns zurück­zuziehen, nachdem er sein Leben lang Journallst gewesen war zum Brotverdienen. Und da hat er die «Kritik der Sprache», sein Buch herber Verzweiflung an menschlichem Erkennen, ausgedacht, hat dann dort sein «Philosophisches Wörterbuch» geschrieben. Er hat sich zurückgezogen, er schreibt noch mancherlei Artikel, die wahr­haftig nicht mehr als seine Bücher geeignet sind, in ein positives, tat­kräftiges Sich-Hineinstellen des Menschen in die Gesamtentwicke­lung hineinzuführen. Es ist bei ihm immer eine Art Zweifel an der Möglichkeit, in das Dasein richtig einzugreifen, weil man jaim Grunde genommen das Dasein nicht erkennend erfassen kann. Mauthner hat die Konsequenz gezogen, sich zurückzuziehen in einen für ihn gleich­gültigen Beruf, dem Journalismus sich hingegeben, bei dem man schon Skeptiker, am Leben Zweifelnder, sein kann. Aber es gibt auch Schüler von Fritz Mauthner, die haben diese Resignation nicht gehabt.

Und fragen wir uns jetzt einmal etwas ganz Bestimmtes aus inneren Gründen heraus: Was wird aus diesen Schülern, die mit vollem Herzen sich zu der Lebensauffassung Mauthners bekennen, was wird aus diesen Schülern niemals werden können? Niemals werden sie zu einem lebensvollen Erfassen der Wirklichkeit kommen können. Daher kein solches Erfassen der Wirklichkeit, das fruchtbar in diese Wirklichkeit eingreifen kann. Diese Menschen können nicht ins Leben hinein-passen, wenn sie sich hineinstellen. Fritz Mauthner hat sich ja auch hinausgestellt. Diese Leute erfassen ja nur das sinnliche Leben und glauben an das, was darüber hinausgeht, nur wie an einen Traum, an ein Schlafen.

Solch ein Schüler Mauthners, ehrlich, aufrichtig, aber daher für das soziale Leben der Gegenwart so untauglich wie möglich, ist zum Bei­spiel Gustav Landauer. Das ist ein wirklicher Schüler von Fritz Mauthner. Es genügt heute nicht, das Leben nur von der Oberfläche aus zu beurteilen. Wir stehen heute vor Aufgaben, die nur zu bewäl­tigen sind, wenn wir den guten Willen haben, in die Untergründe des Lebens unterzutauchen. Wir dürfen heute nicht, wie solche Menschen,

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wie ich sie eben geschildert habe, aus demjenigen heraus, was die Zeit gebracht hat, Gedankenimpulse suchen für eine neue, soziale Ordnung. Nein, wir müssen aus der aufgehenden Zeit, aus den Impulsen, die eben erst im Aufgang sind, aus den Impulsen der geistigen Erkenntnis heraus, auch die sozialen Impulse suchen; sonst kommen wir nicht zu wirklichen sozialen Impulsen. Dann, wenn sie gefunden sind, können sie, wie alle geisteswissenschaftlichen Erleb­nisse, vom gesunden Menschenverstand aufgefaßt werden. In einem solchen Sinn möchte ich auch noch auf unsere Dreigliederung hinweisen.

Heute ist es notwendig, daß in allen Dingen die Menschen lernen, mit tiefster Ehrlichkeit erstens nach wahrhaftiger Selbsterkenntnis, zweitens nach wahrhaftiger Welterkenntnis zu suchen.

Nehmen Sie das, was hier Geisteswissenschaft genannt wird, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus durch. Gewiß, auch da wird, wie in mancher abstrakten Mystik und in manchem abstrakten Okkultismus, von Selbsterkenntnis in ihrer Notwendigkeit, von Welt-erkenntnis in ihrer Notwendigkeit gesprochen, aber anders. So wird gesprochen, wie ich es besonders unserer Zeit ins Herz schreiben möchte: Daß man niemals zur wirklichen Selbsterkenntnis kommen kann, ohne diese Selbsterkenntnis durch Welterkenntnis zu suchen. Hineinbrüten in das Selbst liefert keine Selbsterkenntnis. Welt-erkenntnis schult erst unser Selbst so, daß dieses Selbst zur Selbst­erkenntnis kommen kann. Und wiederum: Niemand kann zu einer Welterkenntnis kommen, ohne daß er den Weg ins eigene Selbst tut. Welterkenntnis ist nicht möglich ohne Selbsterkenntnis. Die beiden Dinge scheinen sich da sogar etwas zu widersprechen, aber dieser Widerspruch ist lebensvoll und fruchtbar: Welterkenntnis nicht ohne Selbsterkenntnis, Selbsterkenntnis nicht ohne Welterkenntnis. Es ist wie das Schlagen eines Pendels, der hin und zurück ausschiagen muß. So muß der Mensch in seinem Leben suchen, stetig suchen den Pendelschlag zwischen Selbsterleben und Welterleben, Welterleben und Selbsterleben. Das aber erst gibt dann Stärkung der Seele, jene innere Aktivität der Seele, die heute und gegen die Zukunft hin der ganzen Menschheit notwendiger und notwendiger werden wird. Deshalb,

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weil der Mensch aus einem gewissen, im Zeitalter der Bewußt­seinsseele natürlichen Egoismus, so sehr leicht in sein Inneres hinein-brütet, deshalb ist die Menschheit verfallen in unserem Zeitalter in die Liebe zur Abstraktion. Sie kann eigentlich gar nicht einmal mehr selber richtig beurteilen, wie stark die Liebe zum bloßen Abstrahieren in unserem Zeitalter ist. Dafür aber auch ist es das Allernotwendigste, daß wir aufsteigen, gerade um die Schwelle, die ich bezeichnet habe, in der richtigen Weise zu überschreiten, daß wir uns bewegen von einer bloßen Abstraktionsnotwendigkeit, einer bloßen Gedanken-notwendigkeit, zu einer Tatsache. Von einem bloßen abstrakten Er­kennen zu einem Tatsachenerleben. Zu einem Denken in uns nicht im bloßen Gedanken, sondern zu einem Denken, das untertaucht in die Dinge und mit den Dingen und Ereignissen der Welt denkt. Nur dann können wir der Gegenwart gewachsen bleiben. Dafür will ich Ihnen ein Beispiel anführen. Ich bemerke aber von vorneherein, daß Sie nicht das, was ich jetzt sagen werde, so auffassen sollen, wie wenn ich, indem ich die eine oder andere Weltanschauungsrichtung dabei zu charakterisieren habe, auch Stellung nehmen wollte zu dieser einen oder anderen Weltanschauungsrichtung. Ich will nur charakterisieren, nicht richten.

Dasjenige, was man naturwissenschaftliche Weltanschauung, natur­wissenschaftlich orientiertes Denken nennt, es hat ja eine Entwicke­lung genommen, die ich Ihnen von den verschiedensten Gesichts­punkten aus charakterisiert habe. Es ist zuletzt angelangt bei einer solchen Anschauung, wie die von Mauthner ist. Aber auch in anderen Schattierungen hat sie sich ausgedrückt. Ich weiß nicht, ob Sie sich an einen Mann erinnern, von dem ich Ihnen, allerdings in einer anderen Hinsicht und um etwas anderes Ihnen zu charakterisieren, vor Jahren hier einmal gesprochen habe, an jenen Mann, der einmal in einem seiner Bücher, das er «Analyse der Empfindungen» nennt, die Schwierig­keit der Selbsterkenntnis schildern wollte. Er wollte schlldern schon die äußere Schwierigkeit der Selbsterkenntnis. Und um diese zu schil­dern, führte er zwei Beispiele an, wo er in bezug auf Selbsterkennen schon bei seinem Exterieur recht starken Illusionen ausgesetzt war. Einmal, so sagt er, ging er auf der Straße. Plötzlich kommt ihm einer

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entgegen - der Betreffende war Professor -, er denkt sich: Was für eine Schulmeistergestalt kommt mir denn da entgegen? Sie war ihm ganz unsympathisch, diese Gestalt, so erzählt er selbst. Dann merkte er, was ihm passiert war: er kam vor einen Schaufensterspiegel und kam sich selber in diesem Spiegel entgegen, indem er die Straße ent­lang ging. Ein andermal stieg er in einen Omnibus ein. Gegenüber der Tür, durch die er einstieg, war ein Spiegel. Er war furchtbar müde. Er sah das Bild und sagte bei sich: Was für ein abgetakelter Kerl steigt denn da zur andern Türe in den Omnibus ein? Erst nach und nach kam er darauf, daß er das selbst war.

Ich habe Ihnen das erzählt, und Sie werden danach schon beurteilen können, daß das immerhin ein ernstzunehmender Mann ist: Ernst Mach, der aus einem Naturforscher Philosoph gewordene Ernst Mach. Nun, er hat wieder verschiedene Schüler. Seine Weltanschauung ist der von Mauthner nicht unähnlich, nur daß Ernst Mach weniger zur Zweifelssucht, zur Haltlosigkeit gekommen ist, sondern einfach an das Spiel der Gedanken glaubt. Das Ich selber ist ihm ein bloßer Mythos, wie auch bei Mauthner, nur ist Mach damit zufrieden. Man muß aber diesen Ernst Mach studieren und dann sein Leben kennen­lernen, die ganze Persönlichkeit kennenlernen. Ich erinnere mich selbst, wie ich zuerst Ernst Mach gesehen habe in der Wiener Akade­mie der Wissenschaften, wo er einen Festvortrag hielt über die Öko­nomie des Denkens, wo er alles das, was man denkt, bloß wie eine Anordnung der Gedanken nach dem Prinzip des kleinsten Kraft-maßes erklärte. Ich hatte damals eine große Wut auf diese Darstellung des Denkprozesses. Dann hat er das ausgebaut, hat seine Bücher ge­schrieben, welche auf viele Leute einen großen Einfluß gewonnen haben. Kennt man sonst sein Leben, dann weiß man: Er war ganz gewiß ein sehr, sehr braver, dem Staate, dem er durch sein Lehrfach diente, sehr gehorsamer Staatsbürger, mit Bezug auf sein Gelehrten­tum ein typischer Vertreter des sich in der neueren Zeit heraufentwik­kelnden Denkens. Ich könnte Ihnen noch einen ähnlichen Denker nennen. Mach hat selber nicht in Zürich gelehrt, sondern nur ein Schüler von ihm: Friedrich Adler, derselbe Adler, der dann den öster­reichischen Minister Stürgkh erschossen hat. Aber ein zwar viel abstrakter

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noch denkender Mann hat in Zürich eine der Machschen Philosophie, der Machschen Weltanschauung sehr ähnliche Welt­anschauung vertreten: Richard Avenarius Ich kann Ihnen nicht raten, die Bücher von Avenarius zu lesen; Sie würden sie nach der zweiten Seite wegwerfen. Sie sind in einer unverständlichen Sprache ge­schrieben. Es würde für Sie nur das eine Unerklärliche vorliegen: wie es denn kommt, daß sich doch sehr, sehr viele Menschen in die Bücher von Avenarius vertieft haben und sich aus seiner Philosophie heraus heute eine Weltanschauung gebildet haben.

Was ich Ihnen hier bespreche, sind extreme Fälle, die Sie aufmerk­sam machen können auf den Unterschied einer bloß abstrakten Ge­dankenlogik und einer Tatsachenlogik. Avenarius war auch seinem Leben nach wahrhaftig ein guter Durchschnittsbürger, ein braver Staatsbürger in bestem Sinne des Wortes. Aber solche Leute wie Ernst Mach, sein Schüler Adler, bei dem es schon mehr sichtbar wurde, und Avenarius - nehmen wir zunächst einmal Mach und Avenarius -, die fühlen nichts von der Tatsacheniogik, in der sie durch ihre eigenen Tatsachen stehen. Denn, sehen Sie, was ist denn geworden aus der Weltanschauung von Ernst Mach und Avenarius, diesen braven, ge­horsamen, waschechten Bourgeois-Gelehrten? Was ist daraus ge­worden? Es ist daraus geworden die Staatsphilosophie der Bolsche­wisten, die Weltanschauung, die dem Bolschewismus zugrunde liegt. Es ist nur durch andere menschliche Temperamente gegangen, durch andere menschliche Seelenverfassungen gegangen. Tatsachenkonse­quenz! Konsequenz nach der Tatsachenlogik desjenigen, was Ernst Mach und Avenarius gelehrt haben.

Das ist nicht nur durch einen äußeren Zufall geschehen, daß gerade durch das Studieren von begabten russischen Studenten bei Avenarius und dann bei Adler in Zürich etwa zufällig hinübergetragen worden ist nach Rußland diese Philosophie, sondern da liegt ein innerer gei­stiger Zusammenhang vor. Den begreift nur derjenige, der nicht mit Gedanken über die Dinge denkt, sondern der in den Dingen denken kann, der weiß, daß zwar nicht eine abstrakt logische Konsequenz­macherei von Avenarius und Mach zu Lenin und Trotzki führt, daß aber eine sehr tatsächliche Logik führt von dem einen zum anderen.

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Das sind die Dinge, auf die es heute ankommt. Sie sind heute nur zu­gänglich dem, der den Ernst dazu hat, das Innere des Werdens zu studieren. Denn wir sind in einer komplizierten Zeit des inneren Lebens angekommen, wo so jemand wie Mach und Avenarius glauben kann, daß er ein Mann der Ordnung ist, daß er ein Mann ist, der nur in geistigen Ordnungshöhen lebt, und nicht ahnt, daß es zu politischem Dynamit werden kann, was er lehrt, wenn seine Gedanken übergehen von ihm in andere Seelen.

Es ergeht heute an die Menschheit der große Ruf, sich einen Sinn anzueignen für die tieferen Zusammenhänge des Lebens. Ohne diesen Sinn kommt man nicht weiter. Wollen wir zu fruchtbaren sozialen Ideen kommen, dann dürfen wir auch nicht wie Richard Avenarius und Ernst Mach die toten Endprodukte der alten, in sich selber sich vernichtenden Weltanschauungen aussuchen, sondern wir müssen uns zuwenden jenem Neuaufbau der Weltanschauungen, der nur in der Geisteswissenschaft gegeben werden kann und der allein in der rich­tigen Weise zu fragen versteht: Was muß als soziale Ordnung auf­treten, wenn der Mensch in der Zukunft, von der Gegenwart an und in der Zukunft immer mehr und mehr so innerlich dreigeteilt - denn er geht über die Schwelle innerlich dreigeteilt - durch die Welt schreitet? Da muß ihm die äußere soziale Ordnung das Spiegelbild sein; da muß die äußere soziale Ordnung dreigeteilt sein. Dann wird Äußeres und Inneres sich in der Zukunft entsprechen. Diese Dreigliederung ist, wenn man sie wirklich mit ernster geistiger Wissenschaft zu betrachten vermag, nicht etwas Ersonnenes; sie ist etwas einfach dem wahren inneren Werdegang der Menschheit, wie er vorschreitet von der Gegenwart zu der Zukunft, Abgelauschtes.

Zu allen anderen Erfordernissen, die an den Menschen der Gegen­wart sich richten, gehört eben auch dieses, daß der Mensch den guten Willen entwickelt, sich auf die Betrachtung der geistigen Welt ein­zulassen. Daß er zunächst einmal den guten Willen entwickelt, sich selber so zu betrachten, daß der Betrachtung anschaulich wird, was geistig diesem Menschen zugrunde liegt. Eine Prüfung, nicht etwas Endgültiges, war der naturwissenschaftliche Materialismus. Deshalb ist er auch so bedeutungsvoll und nützlich, selbst in der Gestalt des

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Haeckelianismus. Eine Prüfung, durch die durchgegangen werden muß, ist das alles. Da wird der Mensch an die Tierreihe angereiht, weil im Grunde genommen mit Bezug auf alles dasjenige, worauf diese Betrachtung Wert legt, der Mensch doch nur als höherentwickeltes Tier erscheint. Beginnen wir aber, den Menschen mit Bezug auf die Selbsterkenntnis im Zusammenhang mit der Welt zu betrachten, so wird die Sache gleich anders. Da werden Dinge, die sonst als un­wichtig gelten, zu wichtigen, und umgekehrt. Da strahlt einfach da­durch, daß man auf einem besonderen Betrachtungs-Standpunkt steht, ein neues Licht auf die ganze Wesenheit des Menschen. Im wesent­lichen, wir wissen es, geht das Tier so über die Erde hin, daß es - die Ausnahmen lehren gerade sehr viel für das Wesentliche - sein Rück­grat parallel der Erdoberfläche trägt. Der Mensch richtet sich in der ersten Zeit seines Lebens auf, stellt die Hauptrichtung seines Leibes, das heißt die Richtung seines Rückgrates, senkrecht auf die Erdober­fläche, bildet mit dieser Erdoberfläche im Rückgrat ein Kreuz, bildet auch mit der Richtung des tierischen Rückgrates ein Kreuz. Indem man das ausspricht, spricht man klar aus das Verhältnis des Menschen zur übrigen Welt. Es ist anders beim Tier, es ist anders beim Menschen. Da können Sie immer lesen bei Haeckel: Der Mensch hat gerade so viele Knochen und Muskeln wie die höheren Tiere. - Aber es gibt noch andere Dinge, die nicht gezählt werden können, die in einem intuitiven, oder besser gesagt imaginativen Erfassen der Gestalt in ihrem Verhältnis zur Gesamtgestaltung des Kosmos und der Erde be­stehen, und dieses Erfassen der Gestalt, nicht ein Sprechen über das Wesen des Menschen, das ist wichtiger als das Zählen der Knochen und der Muskeln, wichtiger als das, was die vergleichende Morpho­logie über den Menschen zu sagen hat.

Von da ausgehend könnte ich Ihnen nun vieles sagen, was Ihnen zeigen würde, daß da, wo aufhören muß die bisherige Weltenbetrach­tung, die im Menschen solche Denkgewohnheiten gezeitigt hat, welche den Menschen ins gegenwärtige Unglück hineingeführt haben, daß da, wo dieses Denken und diese Denkgewohnheiten endigen, nun­mehr ein Neues beginnen muß, welches zum Beispiel sich anschließt an die Gestalt. Das wird dann eine geistige Betrachtung der Welt

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geben, das wird befruchten den selbständigen, sozialen Geistesorga­nismus.

Und eine noch höhere Stufe - diese Stufen werden nicht wie sonst bei unseren Zeitgenossen nur träumend-mystisch aufwachen -, eine noch höhere Stufe wird lebendig erfassen dasjenige Sein, das immer um uns ist, das «offenbare Geheimnis», wie Goethe sagt. Von da wird dann aufgestiegen werden in solchem «Erwachtsein», wie ich es in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» und «Von Seelenrätseln» ge­nannt habe, zu dem, was nun nicht ein Hineinstellen der Gestalt in den Kosmos ist, sondern was ein Mitschwingen ist mit den großen rhyth­mischen Schwingungen des Kosmos.

Sie wissen, der Mensch besteht aus diesen drei Gliedern: Nerven­Sinnessystem, rhythmisches System, Stoffwechselsystem. Im Nerven­Sinnessystem steht er so drinnen, daß er dadurch die Gestalt im Ver­hältnis zum Kosmos erfassen kann. In bezug auf sein Fühlen, das Rhythmus-, das Atmungs- oder Brustsystem, da steht er drinnen mit diesem Rhythmus in dem Rhythmus der ganzen Welt. Diesen Rhyth­mus können wir ja zunächst - wir könnten natürlich viel mehr haben, weil wir von den verschiedensten Gesichtspunkten aus im Lauf der Jahre vieles erwähnt haben -, diesen Rhythmus können wir zunächst nur an einem Zipfel erfassen. Ich will nur wiederholen schon öfter Gesagtes. Wir sehen hin auf unsere Atmung. Wir haben beim nor­malen Atmen 18 Atemzüge in der Minute. Das gibt in einem Tag bei 24 Stunden ungefähr 25 920 Atemzüge. So daß wir in einem Tage rhythmisch hintereinander vollziehen das Einatmen und das Aus­atmen: ungefähr 25 920 mal. Das ist das kleinste Atmen, das unser individueller Mensch entfaltet. Sie wissen, schon im Alten Testament hat man das Patriarchenalter auf 70 Jahre ungefähr angenommen. Man kann natürlich älter werden, man kann auch jünger sterben, aber das ist so etwa das Durchschnittsalter der Menschen, 70 bis 72 Jahre. Wie­viel Lebenstage sind dies? Sehr approximativ gerechnet 25 920 Lebens­tage. Wenn Sie nun nehmen jenen großen Atemzug, der mit uns ge­macht wird, indem wir am Morgen untertauchen mit unserem Ich und Astralleib in unsern Ätherleib und physischen Leib, so daß wir mor­gens einatmen unser Geistig-Seelisches und abends wieder ausatmen,

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wenn Sie das nehmen als einen Atemzug, der jeden Tag vollzogen wird, dann vollzieht unser Lebenstag, der ungefähr 71 Jahre umfaßt, 25 920 Atemzüge. Das heißt, jener große Geist, der da atmet, indem wir geboren werden und sterben, der atmet in seinem Lebenstag, der unser ganzes Menschenleben umfaßt, so oft ein und aus wie wir in 24 Stunden. So sind wir angepaßt mit unserem menschlichen Atmen jenem geistigen Atmen, das der Geist vollzieht, für den das Ein- und Ausatmen ist, was für uns Geborenwerden und Sterben ist. Wir sind das Ergebnis seiner Atemzüge in unserem Wach- und Schlafesleben. Und die Sonne, von der Sie ja wenigstens ahnen können, daß sie eine Beziehung zu unserem Erleben hat: der Mensch beobachtet, wie ihr Aufgang vorrückt im Tierkreisbild um eine bestimmte Anzahl Grade jährlich, so daß, wenn der Frühlingspunkt liegt an einer bestimmten Stelle eines bestimmten Tierkreisbildes, er das nächste Jahr weiter ver­schoben ist und so weiter. So kreist der Aufgangspunkt der Sonne scheinbar um die ganze Ekliptik herum, in dem, was ein platonisches Weltenjahr genannt wird, und das umfaßt 25 920 Jahre. Ein Lebenstag von uns enthält 25 920 Atemzüge, unser Leben zwischen Geburt und Tod enthält 25 920 Lebenstage, ein großes Sonnenjahr 25 920 unserer Lebensjahre. So fügen wir uns hinein in dasjenige, was geatmet wird im Sonnen-Erden-Prozeß durch ein platonisches Weltenjahr hindurch. Da sehen Sie hinein in einen Weltenrhythmus, durch den der Mensch hineingegliedert wird in den Kosmos.

Ohne wenigstens den guten Willen zu haben, den Menschen in be­weglicher Erkenntnis im Zusammenhang zu erkennen mit dem Kos­mos, können Sie keine Erkenntnis des Menschen gewinnen. Sie können nichts mehr begreifen mit der heutigen Naturwissenschaft, so sonder­bar das klingt, als des Menschen Leben bis zur Geburt. Nachdem der Mensch geboren worden ist, tritt etwas mit seinem Leben ein, das die Naturwissenschaft nicht mehr erfassen kann. Daher muß die Naturwissenschaft bei der Methode, welche besonders beliebt ist, bei der Embryologie stehenbleiben. Das zeigt sich heute besonders darin, daß die ganze Entwickelungslehre heute nur ein Ausbilden ist der Embryologie. Das andere ist alles Phantasie. Beginnt der Mensch auf der Erde zu leben, so tritt die Notwendigkeit ein, in imaginativer, in

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inspirierter Erkenntnis ihn zu durchschauen. Denn nur mit dieser kann man durchschauen, was der Mensch beim Tode erlebt, und was der Tod ist. Durch die höchste Stufe der Erkenntnis, die Sie beschrie­ben finden in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» als die Stufe der wahrhaften Intuition, erlangt man jene Einsicht in das Wesen, das wunderbar in der Sprache selbst angedeutet wird, indem man vom Leichnam, und zwar mit einem gewissen Recht, sagt: er verwest. Wenn man heute so etwas noch fühlen könnte bei den Wor­ten, so würde man wahrhaftig fühlen: Verwesen heißt ins Wesen über­gehen, ins Wesen hineingehen, mit dem Wesen eins werden. Indem die Sprache von Verwesen redet, redet sie wahrhaftig nicht von Ver­gehen. Und der geheimnisvolle Prozeß, den eine künftige Natur­wissenschaft aus den Tiefen des Erkennens herausholen wird, der erst dann sich vollzieht, wenn der menschliche Leib scheinbar verwest oder verbrennt, der ist nicht ein Vernichten; der ist gerade etwas Bedeu­tungsvolles im inneren Aufbau des Geschehens.

Ich möchte durch eine solche Betrachtung wie die heutige ein Ge­fühl davon hervorrufen, wie ein innerer Zusammenhang ist zwischen dem, was ersterbende Weltanschauung und wissenschaftliche Rich­tung der alten Zeit ist, und der noch im Keime befindlichen, heute eigentlich erst auftauchenden Geisteswissenschaft im Sinne dessen, was werden muß gegen die Zukunft hin. Es stoßen aber hart die beiden Dinge aneinander. Und hier beginnt anschaulich zu werden eine tiefe Tragik des modernen Lebens, die wir durch innere Menschenkraft besiegen müssen. Dasjenige, was ich, mag man mir es noch so übel nehmen, die untergehende bürgerliche Welt- und Lebensauffassung nenne, das ist ein letztes Ende, das bereitet sich selber den Untergang. Dasjenige, was heute noch wahrhaftig sehr weit von dem entfernt ist, was es werden soll, was als proletarische Sehnsucht herauftaucht, das hat andere menschliche Untergründe. Während die bürgerliche Welt­anschauung untergeht im Ätherleib, geht aus dem Astralleib auf das­jenige, was sich aus der proletarischen Welt entwickelt. Und ein furcht­bar deutlich sprechendes Symbolum der untergehenden Weltanschau­ung war die Egoistik Max Stirners. Sie finden sie in ihrem Zusammen-hange geschildert in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie».

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Jetzt leben wir in einem Zeitalter, wo wir durchaus versuchen müssen, dasjenige, was aufgeht, nicht nach seiner Außenseite zu beurteilen. Mag es heute da oder dort noch so viel irren, wir müssen dasjenige, was sich heute als soziale Bewegung aus dem Proletariat heraus ent­wickelt, als das Werden des Zukünftigen anschauen können, gerade vom geistigen Gesichtspunkte des Menschen aus. Wir müssen sehen können: Die Menschheit überschreitet eine Schwelle, sie muß hinein in das übersinnliche Erkennen. Und gerade das ist für den geistig Er­kennenden ein scharf sprechendes Mittel, die Richtung zu schauen, daß sich gerade die proletarische Welt in diesen oder jenen Führern, in diesen oder jenen Bonzen, recht sehr materialistisch benimmt und sich wehrt gegen das, was sie einst sein wird. Sie wehrt sich. Sie hat angenommen als letztes Erbstück die bürgerliche Denkungsweise, aber sie ist in der menschlichen Entwickelung dazu berufen, bewußt über die Schwelle zu schreiten, sich herauszuarbeiten aus materialisti­schem Irrwahn zur wirklichen Erkenntnis des Übersinnlichen. Gerade dasjenige, worauf hier hingewiesen wird, es muß durch Beobachtung eines geistigen Untergrundes so erforscht werden, daß es nicht bloß zu abstraktem Erkennen wird, sondern daß es unserem Willen inner­lich Impuls werden kann. Dann werden wir uns zur rechten Zeit in der rechten Weise in diese gegenwärtige soziale Ordnung mit vollem Be­wußtsein hineinstellen können.

VIERTER VORTRAG Stuttgart, 11. Mai 1919

#G192-1964-SE081 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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VIERTER VORTRAG

Stuttgart, 11. Mai 1919

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Die Auseinandersetzungen, die ich heute geben werde, sollen volks pädagogischer Natur sein, und zwar in solcher Art, daß das ihnen Zu­grundeliegende der Zeit, unserer so ernsten Zeit dienen kann. Sie werden ja, wie ich glaube, von selbst gesehen haben, daß dasje­nige, was nur andeutungsweise gegeben werden konnte in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendig­keiten der Gegenwart und Zukunft», viele Untergründe, und vor allen Dingen sehr viele nach den Tatsachen der neuen Weltgestaltung hin­gehende Konsequenzen hat. So daß eigentlich von allem, was heute nach dieser Richtung gesprochen werden müßte und vor allen Dingen, wozu Anregungen gegeben werden müßten, immer nur einzelne Leit­linien statt irgend etwas Erschöpfendem zunächst gegeben werden können.

Wenn wir heute auf unsere Zeit sehen - und wir haben das nötig, denn wir müssen diese Zeit verstehen -, so muß uns wirklich immer wieder auffallen, welcher Abgrund vorhanden ist zwischen dem, was man eine Niedergangskultur nennen muß, und dem, was man nennen muß eine ja noch chaotisch arbeitende, aber aufsteigende Kultur. Ich will ausdrücklich darauf aufmerksam machen, daß ich heute nur ein ganz spezielles Kapitel behandeln will, und bitte Sie daher, dieses Kapitel im Zusammenhang mit dem Ganzen zu betrachten, das ich jetzt bei verschiedenen Gelegenheiten vorbringe.

Das, wovon ich ausgehen möchte, ist: Sie aufmerksam darauf zu machen, daß in der Tat deutlich bemerkbar ist, wie eine Kultur, deren Träger die bürgerliche Gesellschaftsordnung war, in raschem Abstieg begriffen ist; wie auf der anderen Seite eine andere Kultur sich in ihrer Morgenröte zeigt, deren Träger heute, wie gesagt noch aus einer viel­fach unbegriffenen Unterlage heraus, eben das Proletariat ist. Will man diese Dinge verstehen - fühlen kann man es ja ohne das, es bleibt aber unklar -, so muß man sie auffassen in ihren Symptomen. Symptome sind immer Einzelheiten, und das ist es, was ich Sie bitte, bei meinen

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heutigen Betrachtungen zu berücksichtigen. Ich werde natürlich durch die Sache selbst gezwungen sein, Einzelheiten aus einem Ganzen her­auszureißen, aber ich bemühe mich, diese Symptomatologie so zu ge­stalten, daß sie nicht in agitatorischem oder demagogischem Sinne wirken kann, sondern daß sie wirklich aus der Sachlage heraus ge­staltet ist. Nach dieser Richtung kann man ja heute vielfach miß­verstanden werden, allein diesen Mißverständnissen muß man sich eben aussetzen.

Ich habe Sie im Laufe der Jahre oftmals darauf aufmerksam ge­macht, daß auf dem Boden der Weltanschauung, auf dem hier ge­standen wird, man sein kann in erster Linie ein wirklicher Verfechter und Verteidiger der modernen naturwissenschaftlichen Weltorientie­rung. Wie oft habe ich all dasjenige, was zur Verteidigung dieser naturwissenschaftlichen Weltorientierung gesagt werden kann, an­geführt. Ich habe aber niemals auch versäumt zu sagen, welche un­geheuren Schattenseiten diese naturwissenschaftliche Weltorientierung hat. Noch letzthin habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß sich das sogleich zeigt, wenn man eben durch das, was man hier die sympto­matologische Betrachtungsweise nennt, auf einzelne spezielle Fälle hin­weist, also ganz empirisch zu Werke geht. Ich habe Ihnen loben müs­sen aus anderen Zusammenhängen heraus ein ausgezeichnetes Werk der Gegenwart von Oskar Hertwig, dem ausgezeichneten Biologen, «Das Werden der Organismen; eine Widerlegung der Darwinschen Zufallstheorie»; und ich habe, damit keine Mißverständnisse ent­stehen, sogleich aufmerksam machen müssen - nachdem Oskar Hert­wig ein zweites Büchelchen hat erscheinen lassen -, daß dieser Mann hingestellt hat neben ein großartiges naturwissenschaftliches Buch eine Betrachtung über soziale Lebensverhältnisse, die ganz minder­wertig ist. Das ist eine bedeutsame Tatsache der Gegenwart. Das zeigt, auf welchem Grund und Boden, auf welchem als naturwissen­schaftliche Weltorientierung selbst ausgezeichneten Grund und Boden dasjenige nicht entstehen kann, was in erster Linie notwendig ist zum Verständnis der Gegenwart: eine Erkenntnis der sozialen Impulse, die in unserer Zeit vorhanden sind.

Ich will Ihnen heute ein anderes Beispiel vorführen, an dem Sie so

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recht werden sehen können, wie auf der einen Seite bürgerliche Bil­dung dem Niedergang entgegengeht und sich nur retten wird können auf eine bestimmte Weise; wie auf der anderen Seite etwas Aufsteigen­des vorhanden ist, das man nur hegen und pflegen muß in verständ­nisvoller und richtiger Weise, dann wird es der Ausgangspunkt für die Kultur der Zukunft sein.

So recht als ein symptomatisches, typisches Produkt des nieder-gehenden Bürgertums liegt mir hier ein Buch vor, das unmittelbar nach dem Weltkrieg erscheint, das sich nennt, etwas anspruchsvoll, «Der Leuchter, Weltanschauung und Lebensgestaltung». - Dieser Leuchter ist so recht geeignet, möglichst viel Finsternis ausstrahlen zu lassen mit Bezug auf alles dasjenige, was heute so notwendig ist als soziale Bildung und ihre geistigen Grundlagen. Eine merkwürdige Gesellschaft hat sich zusammengefunden, welche merkwürdige Sachen zum sogenannten Neubau unseres sozialen Organismus in einzelnen Aufsätzen schreibt. Ich kann natürlich nur einzelnes aus diesem etwas umfangreichen Buche anführen. Da ist zunächst ein Naturforscher, Jakob von Uexküll, wahrhaftig ein guter, typischer Naturforscher, der, und das ist das Bedeutsame, nicht nur Kenntnisse sich angeeignet hat in der Naturwissenschaft - da ist er ein nicht bloß beschlagener, son­dern als Forscher vollkommener Mann der Gegenwart -, sondern der sich auch gezwungen fühlt, wie das ja auch andere tun, die aus natur­wissenschaftlichem Boden herausgewachsen sind, nun seine Folge­rungen für die soziale Weltgestaltung zum besten zu geben. Er hat am sogenannten Zellenstaat, wie man den Organismus oftmals in naturwissenschaftlichen Kreisen nennt, gelernt. Und zwar hat er ge­lernt, seinen Denkorganismus auszubilden, und mit diesem ausgebil­deten Denkorganismus betrachtet er nun das soziale Leben. Ich will Ihnen nur Einzelheiten anführen, aus denen Sie sehen können, wie dieser Mann, und zwar, wie man sagen kann, nicht aus Naturwissen­schaft, sondern aus naturwissenschaftlicher Denkungsweise im Grunde genommen ganz richtig, aber eben lebensgemäß total unsinnig die heutige soziale Gestaltung betrachtet. Er lenkt seinen Blick auf den sozialen Organismus und auf den natürlichen Organismus, und findet, daß die Harmonie in einem natürlichen Organismus zuweilen auch

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durch Krankheitsprozesse gestört werden kann, und sagt nun mit Bezug auf den sozialen Organismus das Folgende: «Jede Harmonie kann durch Krankheit gestört werden. Wir nennen die furchtbarste Krankheit des menschlichen Körpers - . Sein Merkmal ist die schrankenlose Tätigkeit des Protoplasmas, das sich nicht mehr um die Erhaltung der Werkzeuge kümmert, sondern nur noch freie Protoplasmazellen erzeugt. Diese verdrängen das Kör­pergefüge, können aber selbst keine Arbeit leisten, da sie des Gefüges entbehren.

Die gleiche Krankheit kennen wir im menschlichen Gemeinwesen, wenn die Parole des Volkes: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, an die Stelle der Staatsparole: Zwang, Verschiedenheit und Unter­ordnung tritt.»

Nun, da haben Sie einen typischen naturwissenschaftlichen Denker. Er betrachtet es als eine Krebskrankheit am Volkskörper, wenn aus dem Volke heraus die Impulse von Freiheit, Gleichheit und Brüder­lichkeit gesetzt werden. Er will an die Stelle von Freiheit gesetzt haben Zwang, an Stelle der Gleichheit Verschiedenheit, an Stelle der Brüderlichkeit Unterordnung. Das hat er gelernt am Zellenstaat als Betrachtungsweise in sich aufzunehmen, das überträgt er als Konse­quenz auf den sozialen Organismus. Auch im übrigen sind seine Aus­einandersetzungen nicht gerade unerheblich, wenn man sie richtig symptomatologisch betrachtet. Er kommt dazu, im sozialen Organis­mus auch etwas zu finden, was im natürlichen Organismus dem Blut­kreislauf entspricht, und zwar nicht so, wie ich es jetzt in verschie­denen Vorträgen dargestellt habe, sondern so, wie es sich eben ihm darstellt. Er kommt dazu, als dieses mit Recht im sozialen Organismus zirkulierende Blut das Gold anzusehen, und er sagt: «Das Gold besitzt aber auch die Fähigkeit, unabhängig vom Warenstrom zu kreisen, und gelangt dann in die großen Banken als Zentralsammelstellen (Gold-herz).» - Also der Naturforscher kommt dazu, etwas für das Herz zu suchen im sozialen Organismus, und findet dafür die großen Banken als Zentralsammelstellen, «die einen überwiegenden Einfluß auf den gesamten Gold- und Warenstrom ausüben können».

Nun bemerke ich Ihnen ausdrücklich, daß ich nicht irgend etwas

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lächerlich machen möchte, sondern daß ich Ihnen nur vor Augen führen möchte, wie ein Mensch, der von dieser Grundlage aus den Mut auch hat zu denken bis zu den Konsequenzen, eigentlich denken muß. Wenn viele Menschen sich heute hinwegtäuschen darüber, daß wir es im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte zu einer Ent­wickelung gebracht haben, die ganz begreiflich macht solches Denken, so liegt eben die Tatsache vor, daß diese Leute mit den Seelen schlafen, daß sie sich Betäubungsmitteln, Kulturbetäubungsmitteln hingeben, die ihnen nicht gestatten, mit wacher Seele auf das hinzuschauen, was eigentlich in der sogenannten bürgerlichen Bildung drinnen steckt. Sehen Sie, da habe ich Ihnen in einem Symptom hingeleuchtet auf die­sen «Leuchter», hingeleuchtet auf die Grundlage der gegenwärtigen Bildung, insofern diese aus naturwissenschaftlicher Denkweise heraus das soziale Leben begreift. - Ich will Ihnen auch an einem anderen Beispiel zeigen, wie dasjenige wirkt, was auf geistigem Gebiet einem entgegentritt.

Zu denjenigen Menschen, die hier in der Gesellschaft vereinigt sind, gehört auch ein auf mehr geistigem Boden Stehender, Friedrkh Nieber­gall. Nun, dieser Friedrich Niebergall, der darf schon aus dem Grunde angeführt werden, weil er gewissen Dingen, die uns wertvoll sind, so­gar recht wohlwollend gegenübersteht. Aber ich möchte sagen, das ist es eben, wie man wohlwollend gewissen Dingen von solcher Seite gegenübersteht. Sieht man auf das Wie, so schätzt man dieses Wohl­wollen, natürlich wenn man nicht egoistisch ist, sondern auf die großen sozialen Impulse sieht, nicht sehr hoch ein; und es würde gut sein, wenn man sich über solche Dinge keiner Täuschung hingäbe. Wir wissen doch - wenigstens einige könnten es wissen: Das, was hier als sogenannte Geisteswissenschaft gepflegt wird, als anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, das ist bei uns seit lange schon so ge­dacht, daß es sein soll die wirklich geistige Grundlage desjenigen, was heute im Aufstiege ist. Da stoßen allerdings gewöhnlich die äußersten Extreme aneinander. Und ich habe es immer wieder erfahren müssen, wie diejenigen, die teilnehmen an unseren geisteswissenschaftlichen Bestrebungen, abschwenken nach anderen Dingen hinüber, die sie «ganz verwandt» fühlen, die aber dadurch von diesen geisteswissenschaftlichen

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Bestrebungen verschieden sind, daß sie die ärgsten bür­gerlichen Niedergangserscheinungen sind, während die Geisteswissen­schaft von jeher in dem schärfsten Kampfe mit diesem bürgerlichen Niedergangsstandpunkte war. Und so finden wir denn auch ziemlich kunterbunt durcheinander gemischt von einem, der eben diese beiden Strömungen nicht sehen kann, wie zum Beispiel Niebergall, eine Er­scheinung, die geradezu eben sich erweist als ein charakteristischer Ausfluß unserer Dekadenzkultur, Johannes Müller; und gleich auf der anderen Seite - Sie wissen, daß ich solche Dinge nicht aus irgendeiner albernen Einbildung heraus sage - finden Sie dann meinen Namen ver­zeichnet. Da wird sogar über das, was ich versuche zu leisten, allerlei Niedliches gesagt, recht viel Niedliches. Aber nun werden Sie wissen, daß mein ganzes Bestreben immer dahin geht, für alles das, was vor­gebracht wurde innerhalb dieser sogenannten Geisteswissenschaft, zu-letzt den gesunden Menschenverstand in Anspruch zu nehmen und alle nebulose Mystik, alles sogenannte mystisch-theosophische Zeug, gerade in der schärfsten Weise zu bekämpfen. Das konnte nur ge­schehen dadurch, daß hinaufgetragen wurde in die höchsten Gebiete des Erkennens klare Einsicht, deutliche Ideen, die man gerade dann anstreben wird, wenn man an der Naturwissenschaft nicht die heutige naturwissenschaftliche Orientierung, sondern wahres Denken gelernt hat.

Nachdem so der betreffende Herr auseinandergesetzt hat, wie schön manches in der Anthroposophie ist, fügt er dann hinzu: «Um diese praktische Grundwahrheit rankt sich dann noch ein krauses Gewirr von angeblichen Erkenntnissen aus dem Leben der Seele, der Mensch­heit und des Kosmos, wie es einst in den umfassenden Systemen der Gnosis der Fall war, die einer ähnlich nach Tiefe und Seelenruhe suchenden Zeit geheimnisvolle Weisheit aus dem Osten anboten.» Man kann natürlich nichts Unzutreffenderes sagen als dieses. Denn daß der Verfasser dieses als krauses Zeug bezeichnet, als krauses Ge­wirr, das beruht ja lediglich darauf, daß er nicht den Willen hat, auf die mathematische Methode dieser Geisteswissenschaft einzugehen. Den haben meistens diejenigen nicht, die nur aus der niedergehenden Erkenntnisart sich irgendwelche Vorstellungen gewinnen wollen. Und

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so erscheint ihm dasjenige, was gerade an der Disziplinierung des inneren Erlebens durch die Mathematik gewonnen ist, als krauses Ge­wirr. Aber dieses krause Gewirr, das es zu einer solchen mathema­tischen Klarheit bringt, ja vielleicht sogar mathematischen Nüchtern­heit bringt, das ist es, was wesentlich ist, was vor jeder schwafelnden Mystik, vor jeder nebulosen Theosophle dasjenige bewahrt, was hier getrieben werden soll. Und ohne dieses sogenannte krause Gewirr läßt sich überhaupt nicht eine wirkliche Grundlegung für das zu­künftige Geistesleben gewinnen. Gewiß, man hatte zu kämpfrn - in­dem ja bis zur Gegenwart nur im engsten Kreise durch unsere sozialen Verhältnisse diese Geisteswissenschaft getrieben werden konnte -, man hatte zu kämpfen mit dem, was sehr oft dadurch erscheint, daß zumeist diejenigen Menschen, die jetzt Zeit haben, nichts anderes als Zeit haben zu diesen geisteswissenschaftlichen Dingen, eben noch die alten, niedergehenden Denkgewohnheiten und Empfindungsgewohn­heiten haben. Und man hat daher so furchtbar zu kämpfen mit dem in diesen Kreisen so leicht sich breitmachenden Sektierertum, das natür­lich in Wahrheit das Gegenteil desjenigen ist, was eigentlich gepflegt werden soll, und mit allerlei persönlichem Gezänk, das dann selbst­verständlich als solches zu jenen Verleumdungssystemen führt, die ja gerade auf dem Boden dieser geisteswissenschaftlichen Bewegung so üppig ins Kraut geschossen sind.

Nun, wer aus solchen Symptomen heraus dasjenige betrachtet, was heute Geistesleben ist, der wird leicht dahin kommen können, sich zu sagen: Neuschöpfungen sind insbesondere auf dem Gebiet des geistigen Strebens gerade notwendig. Sehen Sie, der Ruf nach sozialer Lebensgestaltung ertönt in einer Zeit, in der eigentlich die Menschen im umfassendsten Sinne ausgestattet sind mit antisozialen Trieben und antisozialen Instinkten. Diese antisozialen Triebe und antisozialen Instinkte, sie zeigen sich ja ganz besonders auch im privaten Umgang der Menschen. Sie zeigen sich in dem, was Menschen den Menschen heute entgegenbringen, beziehungsweise nicht entgegenbringen. Sie zeigen sich darin, daß es ein Hauptcharakteristikon ist, daß die Men­schen aneinander vorbeidenken, aneinander vorbeireden und schließ­lich auch aneinander vorbeigehen. Eine instinktive Fähigkeit, wirklich

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den Menschen, der einem entgegentritt, verstehen zu wollen, ist in unserer Zeit etwas außerordentlich Seltenes. Und nur eine Begleit­erscheinung dieses seltenen sozialen Instinktes ist dann das andere: die Möglichkeit für den Menschen der Gegenwart, von irgend etwas, worin er nicht durch soziale Lage, durch Erziehung, durch die Geburt eingeschraubt ist, von irgend etwas überzeugt zu werden. Es können ja heute die schönsten Gedanken von Menschen ausgehen, es bestehen die größten Schwierigkeiten, daß die Menschen sich durch irgend etwas anregen lassen. Die Menschen denken heute an dem Allerbesten vorbei. Das ist ein Grundcharakteristikon unserer Zeit. Und als eine tatsächliche Folge davon - Sie wissen, ich habe neulich von der Tat­sachenlogik, die ein Wichtigstes für die Gegenwart ist im Gegensatz zur bloßen Gedankenlogik, gesprochen - ist heute in den Menschen eine Sehnsucht vorhanden, nicht innerlich aktiv die Dinge durch-zuarbeiten, sondern sich Autoritäten und Empfindungsinstanzen hin­zugeben. Die Menschen, die heute so viel von Autoritätsfreiheit reden, sind eigentlich im Grunde die autoritätsgläubigsten, sind Menschen, die sich intensiv nach Autorität sehnen. Und so sehen wir heute - es wird nur nicht beobachtet, weil so viele Leute seelisch schlafen - einen bedenklichen Zug unter denen, die in der Niedergangskultur drinnen-stehen und keinen Ausweg aus dieser Niedergangskultur finden: den Zug, in den Schoß der alten katholischen Kirche zurückzugehen. Würde man heute wissen, was alles untergründig in diesem Zug, in den Schoß der katholischen Kirche zurückzugehen, liegt, man würde sehr erstaunt sein. Würde aber dieser Zug weitere Verbreitung finden, dann würden wir es gerade unter den heutigen Verhältnissen in gar nicht zu ferner Zeit mit einem gewaltigen Übergang großer Menschen­massen in den Schoß der katholischen Kirche zu tun haben. Derjenige, der ein wenig die Eigenheiten unserer heutigen Kultur zu beobachten imstande ist, der weiß, daß solches uns droht.

Woher sind alle diese Dinge gekommen? Da muß ich Sie aufmerk­sam machen auf eine Grunderscheinung unseres gegenwärtigen sozia­len Lebens. Da ist eine besondere Eigentümlichkeit desjenigen, was ja sich verbreitet hat in den letzten Jahrhunderten und immer größere und größere Dimensionen angenommen hat, sich auch immer noch

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weiter verbreiten wird in denjenigen Ländern, die als zivilisierte Län­der zurückbleiben werden aus dem heutigen Chaos heraus: das ist die technische Kulturnuance, die besondere technische Nuance, die in der neueren Zeit die Kultur angenommen hat. Nun würde ich über dieses Kapitel besonders lange zu sprechen haben, werde es auch einmal tun, indem ich auf alle Einzelheiten weisen werde von dem, was ich jetzt nur wie einen Nebensatz anführen kann. Diese technische Kultur hat nämlich eine ganz bestimmte Eigenschaft: sie ist ihrem Wesen nach durch und durch altruistische Kultur. Das heißt: Technik kann sich nur ausbreiten in einer für die Menschheit günstigen Weise, wenn die Menschen, die innerhalb der Technik tätig sind, Altruismus, das Ge­genteil von Egoismus entwickeln. Die technische Kultur macht immer mehr und mehr notwendig - jeder Neuaufschwung der technischen Kultur zeigt es dem, der solche Dinge betrachten kann -, daß nur egoismusfrei innerhalb der technischen Bewirtschaftung gearbeitet werden kann. Dem entgegen hat sich entwickelt zugleich dasjenige, was aus dem Kapitalismus heraus entstanden ist, der nicht notwendig mit der technischen Kultur verknüpft sein muß, oder verknüpft blei­ben muß wenigstens. Der Kapitalismus, wenn er Privatkapitallsmus ist, kann gar nicht anders als egoistisch wirken, denn sein Wesen be­steht aus egoistischem Wirken. So begegnen sich in der neueren Zeit zwei Strömungen, die in diametralem Gegensatz zueinander stehen: die moderne Technik, die egoismusfreie Menschen fordert, und der aus den alten Zeiten heraufgekommene Privatkapitalismus, der nur unter Geltendmachung der egoistischen Triebe gedeihen kann. Das, sehen Sie, hat uns hineingetrieben in die Lage der Gegenwart, und herausbringen wird uns nur ein Geistesleben, das den Mut hat, mit allem möglichen Alten zu brechen.

Es gibt ja heute viele Menschen, die denken nach: Wie muß die künftige Volksbildung, die Volksschulbildung sein, wie muß die wei­tere Berufsbildung der Menschen sein und so weiter? Diesen Menschen gegenüber ist vor allen Dingen die Frage aufzuwerfen, namentlich wenn wir das Kapitel Volksbildung betrachten: Nun gut, wenn ihr den besten Willen habt, das ganze Volk für eine Volksbildung heran­zuziehen, könnt ihr es denn, wenn ihr innerhalb der heutigen Bildungs- und Geistesverhältnisse

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stehenbleibt? Habt ihr das Material dazu? Was könnt ihr denn eigentlich nur? Ihr könnt aus euren Grundsätzen heraus, die vielleicht gut soziallstische sind, für die breitesten Massen Schulen gründen, Volkshochschulen begründen. Ihr könnt alles das einrichten, was ihr eben aus dem guten Willen heraus einrichtet. Aber habt ihr das Material dazu, um dasjenige, was ihr in gutem Willen ver­breiten wollt, wirklich zum Volksgut zu machen? Ihr sagt uns: Wir gründen Büchereien, Theater- und Musikaufführungen, Ausstellun­gen, Vortragsreihen, Volkshochschulen. Man muß sich aber fragen: Welche Bücher stellt ihr denn in eure Büchereien hinein? Was für eine Wissenschaft vertreibt ihr in euren Vortragsreihen? Diejenigen Bücher stellt ihr in eure Büchereien hinein, die aus der niedergehenden bürger­lichen Bildung heraus geschrieben sind. Von denjenigen Leuten laßt ihr die Wissenschaft vertreiben in Volkshochschulen, die aus der bür­gerlichen Bildung hervorgegangen sind. Ihr reformiert formell das Bildungswesen, aber ihr schüttet hinein in eure neuen Formen das­jenige, was ihr als Altes übernehmt. Zum Beispiel ihr sagt: Wir haben uns längst bestrebt, die Volksbildung demokratisch zu gestalten. Die Staaten haben sich bisher eher ablehnend dagegen verhalten, denn sie wollten gute Staatsdiener in den Menschen erziehen. - Ja, ihr lehnt es ab, gute Staatsdiener zu erziehen, aber ihr laßt von diesen Staats­dienern das Volk erziehen, denn ihr habt ja nichts anderes bis jetzt, worauf ihr das Augenmerk richtet, als diese Staatsdiener, deren Bücher ihr in eure Büchereien hineinstellt, deren wissenschaftliche Denkungs­weise ihr in Vortragsreihen an den Mann bringen laßt, deren ganze Denkgewohnheiten durchfluten eure Hochschulen. - Sie sehen daraus:

die Sache muß viel, viel tiefer angefaßt werden in dieser ernsten Zeit, viel tiefer, als sie heute von der einen oder anderen Seite angefaßt wird.

Wir wollen auf Einzelheiten einmal, um einiges zur Deutlichkeit zu bringen, hinsehen. Wir wollen beginnen bei dem, was wir zunächst die Volksschule nennen. Ich rechne zur Volksschule gehörig alles, was dem Menschen beigebracht werden kann, wenn er entwachsen ist der bloßen Familienerziehung, und wenn zu dieser Familienerziehung die Schule als Erziehungs- und Unterrichtsanstalt dazutreten muß. Für

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denjenigen, der die menschliche Natur kennt, ist klar, daß für keinen werdenden Menschen diese Schulbildung in das menschliche Ent­wickelungssystem eher eingreifen sollte als ungefähr um die Zeit, wenn der Zahnwechsel vorüber ist. Das ist ein ebenso wissenschaft­liches Gesetz wie andere wissenschaftliche Gesetze. Würde man, statt sich nach Schablonen zu richten, nach dem Wesen des Menschen sich richten, dann würde man als Vorschrift nehmen, daß mit dem Ablauf des Zahnwechsels der Schulunterricht der Kinder zu beginnen hat.

Nur handelt es sich dann darum, nach welchen Grundsätzen dieser Schulunterricht der Kinder zu leiten ist. Wir müssen dabei im Auge haben, daß, wer wirklich mit der aufsteigenden Kulturentwickelung zu denken und zu streben vermag, heute gar nichts anderes kann, als für die Grundsätze, welche Geltung haben müssen für Schulerziehung und Schulunterricht, anzuerkennen das, was in der menschlichen Na­tur selbst liegt. Erkenntnis der menschlichen Natur vom Zahnwechsel bis zur Geschiechtsreife, das muß zugrunde liegen allen Prinzipien der sogenannten Volksschulbildung. Aus diesem und vielem Ähnlichen werden Sie erkennen können, daß sich ja, wenn man von dieser Unter­lage ausgeht, nichts anderes ergeben kann als eine Einheitsschule für alle Menschen; denn selbstverständlich: diese Gesetze, die sich ab­spielen in der menschlichen Entwickelung zwischen dem ungefähr siebenten und ungefähr vierzehnten bis fünfzehnten Jahr, diese Ge­setze sind für alle Menschen die gleichen. Und nichts anderes dürfte in Frage kommen, als durch die Erziehung und den Unterricht zu be­antworten die Frage: Wie weit muß ich einen Menschen als Menschen bringen bis in sein vierzehntes bis fünfzehntes Jahr hinein? Das allein heißt volkspädagogisch denken. Das allein aber heißt auch, in wirk­lich modernem Sinne über das Unterrichtswesen denken. Dann aber ergibt sich, daß man nimmermehr wird heute vorbeikommen an der Notwendigkeit, in gründlicher, radikaler Weise mit dem alten Schul­wesen zu brechen, daß man ernsthaftig wird darauf losgehen müssen, dasjenige, was heranzubringen ist an die Kinder in den angedeuteten Jahren, einzurichten nach der Entwickelung des werdenden Men­schen. Dazu wird eine gewisse Grundlage geschaffen werden müssen

- etwas, das, wenn sozialer guter Wille vorhanden ist, nicht irgendeine

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nebulose Idee der Zukunft sein wird, sondern sogleich praktisch in Angriff genommen werden kann. Es wird vor allen Dingen die Grundlage dazu geschaffen werden müssen dadurch, daß das gesamte Prüfungs- und Schulwesen für Lehrer selbst absolut umgeändert wird. Wenn heute der Lehrer geprüft wird, so ist es oftmals nur so, daß man konstatiert, ob er dasjenige weiß, was er, wenn er ein bißchen ge­schickt ist, auch wenn er es nicht weiß, später im Konversationslexikon oder Handbuch nachlesen kann. Das kann man ganz auslassen bei der Lehrerprüfung. Damit aber wird wegfallen der größte Teil dessen, was heute der Inhalt der Lehrerprüfungen ist. Denn zu konstatieren wird sein bei dem, was an die Stelle der heutigen Examina zu treten hat, ob der Mensch, der es zu tun hat mit der Erziehung und dem Unterricht werdender Menschen, ob der eine persönlich aktive, für den werdenden Menschen ersprießliche Beziehung zu diesen werden­den Menschen herstellen kann, ob er mit seiner ganzen Mentalität - wenn ich das sehr in Mode gekommene Wort gebrauchen will -untertauchen kann in die Seelen und in die ganze Wesenheit des wer­denden Menschen. Dann wird er nicht Leselehrer, Rechenlehrer, Zei­chenlehrer und so weiter sein, sondern dann wird er der wirkliche Bildner der werdenden Menschen sein können.

Darauf wird zu sehen sein bei allen künftigen sogenannten Prü­fungen, die anders sich ausnehmen werden, als die Prüfungen sich aus­nehmen von heute: daß das Lehrpersonal wirklich Bilduer des wer­denden Menschen sein kann. Das heißt, der Lehrer wird wissen: Ich muß dieses oder jenes an den Menschen heranbringen, wenn er den­ken lernen soll; ich muß dieses oder jenes an den Menschen heran­bringen, wenn er ausbilden soll die Gefühiswelt, die übrigens innig verwandt ist mit der Gedächiniswelt, was die wenigsten Menschen heute wissen, weil die meisten Gelehrten heute die schlechtesten Psy­chologen sind. Der Lehrer muß wissen, was er an den Menschen her-anzubringen hat, wenn der Wille so ausgebildet werden soll, daß er aus den Keimen, die er aufnimmt zwischen dem siebenten und fünf­zehnten Jahr, kraftvoll für das ganze Leben bleiben kann. Willens-bildung wird erzielt, wenn alles dasjenige, was praktische Körper- und Kunstübungen sind, so getrieben wird, daß es angepaßt ist der werdenden

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Wesenheit des Menschen. Der Mensch wird dasjenige sein, worauf hingerichtet werden muß die Sorgfalt desjenigen, der der Leh­rer werdender Menschen ist.

Und so wird sich erweisen, wie man verwenden kann alles das­jenige, was konventionelle Menschenkultur ist: Sprachen, Lesen, Schreiben. Das kann man am besten verwenden in diesen Jahren, um gerade das Denken des werdenden Menschen auszubilden. Das Den­ken ist das Äußerlichste am Menschen, so sonderbar das heute klingt, und es muß gerade ausgebildet werden an dem, was uns in den so­zialen Organismus hineinstellt. Denken Sie doch nur, daß der Mensch durch seine Geburt nicht Anlagen auf die Welt bringt zu dem, was Lesen und Schreiben ist, sondern daß das beruht auf dem Zusammen­leben der Menschen. Und so wird verhältnismäßig früh eintreten müs­sen gerade für die Ausbildung des Denkens ein vernünftiger Sprach­unterricht; natürlich nicht derjenigen Sprachen, die man in alter Zeit gesprochen hat, sondern derjenigen Sprachen, die die heutigen Kultur­völker sprechen, mit denen man zusammenlebt. Sprachunterricht in vernünftiger Weise, nicht in Anknüpfung an die grammatikalischen Tollheiten, die in den Mittelschulen heute getrieben werden, Sprach­unterricht muß von der untersten Schulstufe an getrieben werden.

Dann wird es sich darum handeln, daß in bewußter Art solcher Unterricht getrieben wird, der auf das Fühlen und das damit verbun­dene Gedächtnis geht. Während alles dasjenige, was sich - und Kinder können in dieser Beziehung außerordentlich viel aufnehmen, wenn man es nur richtig macht -, was sich auf Arithmetik, Rechnen, Geo­metrie bezieht, mitten drinnen steht zwischen Denkerischem und Ge­fühlsmäßigem, wirkt auf das Gefühlsmäßige alles dasjenige, was durch das Gedächtnis aufzunehmen ist. Also alles dasjenige, was zum Bei­spiel als Geschichtsunterricht zu erteilen ist, was als Unterricht zu er­teilen ist in der Mitteilung der Fabelwelt und so weiter. Ich kann die Dinge nur andeuten.

Dann aber handelt es sich darum, schon in diesen Jahren besondere Willenskultur zu treiben. Dazu ist in Anspruch zu nehmen alles, was Körper- und Kunstübungen sind. Darinnen wird man ganz Neues brauchen in diesen Jahren. Der Anfang ist dazu gemacht in dem, was

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wir die Eurythraie nennen. Sie sehen heute viel von Körperkultur in Dekadenz, im Niedergang: es gefällt vielen Leuten. Dahinein wollen wir stellen etwas - wofür wir bisher hier nur Gelegenheit gehabt haben, es den Arbeitern der Waldorf-Astoria zu zeigen durch das ver­ständnisvolle Behandeln unserer Fragen von seiten unseres lieben Herrn Molt -, dahinein wollen wir etwas stellen, was nun wirklich, wenn es dem werdenden Menschen statt des bisherigen bloß körper­lichen Turnens beigebracht wird, beseelte Körperkultur ist. Diese allein kann aber einen solchen Willen erzeugen, der einem dann durch das Leben bleibt, während alle andere Willenskukur die Eigentümlich­keit hat, daß sie im Laufe des Lebens durch die verschiedenen Vor­kommnisse und Erfahrungen des Lebens wiederum abgeschwächt wird. Insbesondere auf diesem Gebiet wird aber rationell vorzugehen sein. Da wird man Verbindungen im Unterrichtswesen schaffen, an die heute noch keiner denkt, zum Beispiel Zeichenunterricht mit Geo­graphie. Es würde von ungeheurer Bedeutung für den werdenden Menschen sein, wenn er auf der einen Seite wirklich verständigen Zeichenunterricht bekäme, aber in diesem Zeichenunterricht dazu an­geleitet würde, nun, sagen wir, den Globus von den verschiedensten Seiten her zu zeichnen, die Gebirgs- und Flußverhältnisse der Erde zu zeichnen, und dann wiederum selbst Astronomisches, das Planeten­system und so weiter zu zeichnen. Selbstverständlich wird man das in die richtigen Jahre hineinverlegen mussen, nicht beim siebenjährigen Kinde anfangen; aber vor dem Ablauf des vierzehnten bis fünfzehnten Jahres ist es nicht nur möglich, sondern es ist dasjenige, was unge­heuer wohltätig auf den werdenden Menschen wirkt, wenn es in der richtigen Weise gemacht wird, vielleicht vom zwölften Jahr an.

Für die Gemüts- und Gedächtnisbildung wird dann notwendig sein, eine lebendige Naturanschauung schon in dem jüngsten Menschen zu entwickeln. Diese lebendige Naturanschauung, Sie wissen, wie ich oft­mals darüber gesprochen habe, und wie ich mancherlei Betrachtungen zusammengefaßt habe in die Worte: Es gibt leider heute innerhalb der Stadtbevölkerung zahlreiche Menschen, die nicht unterscheiden kön­nen, wenn sie auf das Feld hinausgeführt werden, einen Weizen von einem Roggen. Es kommt nicht auf die Namen an, aber auf das lebendige

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Verhältnis zu den Dingen kommt es an. Es ist etwas Ungeheures für den, der die menschliche Natur überblicken kann, was da dem Menschen verlorengeht, wenn er nicht zur rechten Zeit - und die Entwickelung der menschlichen Fähigkeiten muß immer zur rechten Zeit geschehen - wenn er nicht zur rechten Zeit solche Unterschei-dungen lernt, wenn er nicht lernt - Sie wissen, es ist nur symptoma­tologisch gesprochen - zu unterscheiden Weizenkorn vom Roggen-korn. Es umfaßt, was hier gemeint ist, natürlich sehr, sehr vieles.

Das, was ich jetzt auseinandergesetzt habe in didaktisch-pädago­gischer Art für den Volksschulunterricht, das wird nach der Tat­sachenlogik etwas ganz Bestimmtes im Gefolge haben, nämlich das, daß nichts in den Unterricht hineinspielen wird, was nicht in der einen oder anderen Form für das ganze Leben erhalten bleibt, während heute nur in der Regel dasjenige hineinspielt, was sich kondensiert in den Fähigkeiten. Das, was man im Leseniernen treibt, kondensiert sich in der Fähigkeit des Lesenkönnens; was man im Rechnenlernen treibt, kondensiert sich in der Fähigkeit des Rechnenkönnens. Aber bedenken Sie, wie das ist mit Bezug auf Dinge, die mehr auf Gefühl und Gedächtnis gehen: da lernen die heutigen Kinder eigentlich un­endlich viel, nur um es zu vergessen, nur um es dann im Leben nicht zu haben. Das wird dasjenige sein, was die Zukunftserziehung ganz besonders auszeichnen wird, daß all die Dinge, die an das Kind heran-gebracht werden, auch im Menschen für das ganze Leben bleiben wer­den.

Nun, wir kämen dann zu der Frage, was mit dem Menschen zu machen ist, wenn er nun die eigentliche Einheitsvolksschule über­wunden hat und in das weitere Leben hinaufsteigt. Sehen Sie, da handelt es sich darum, daß all das Ungesunde des alten Geisteslebens überwunden werden muß, das gerade von der Bildungsseite her die furchtbare Kluft aufreißt zwischen den Menschenklassen.

Ja, sehen Sie, die Griechen, die Römer, sie haben sich eine Bildung aneignen können, die aus ihrem Leben heraus war, die sie daher auch mit ihrem Leben verband. In unserer Zeit ist nichts da, was uns Men­schen mit unserem ganz andersartigen Leben in den wichtigsten Jahren verbindet; sondern viele Menschen, die dann in leitende, führende

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Lebenslagen hineinkommen, die lernen heute dasjenige, was die Grie­chen und Römer gelernt haben; sie werden dadurch aus dem Leben herausgerissen. Und noch dazu sind es die geistig unökonomischsten Dinge, die es nur geben kann. Und wir sind heute auf einem Punkt in der Menschheitsentwickelung angekommen - das wissen nur die Menschen nicht -, wo es absolut unnotig ist für unser Verhältnis zum Altertum, daß wir in diesem Altertum besonders erzogen werden; denn schon seit langem ist dasjenige, was die allgemeine Menschheit von dem Altertum braucht, in solcher Weise unserer Bildung einver­leibt, daß wir es uns aneignen können, auch wenn wir nicht dressiert werden, durch viele Jahre in einer uns fremden Atmosphäre zu leben. Dasjenige, was man haben soll aus dem Griechen- und Römertum, es kann ja noch vervollkommnet werden, ist auch in der letzten Zeit ver­vollkommnet worden, aber das ist Gelehrtensache, das hat nichts mit der allgemeinen sozialen Bildung zu tun. Dasjenige aber, was für die allgemeine soziale Bildung aufzunehmen. ist aus dem Altertum, das ist so sehr durch die Geistesarbeit der vergangenen Zeit zum Abschluß gekommen, ist so sehr da, daß, wenn man nur richtig nimmt, was da ist, man heute nicht braucht Griechisch und Lateinisch zu lernen, um sich in das Altertum zu vertiefen; man braucht es gar nicht, und für wichtige Dinge hilft es einem nichts. Ich erinnere nur daran, wie ich nötig hatte, damit nicht auf diesem Gebiet so schlimme Mißverständ­nisse entstehen, zu sagen, daß der Herr wilamowitz ganz gewiß ein sehr bedeutender Kenner des Griechischen ist, daß er aber die grie­chischen Dramen so übersetzt hat, daß es schauderhaft, gräßlich schau­derhaft ist, während natürlich die ganze Publizistik und Gelehrsamkeit der Gegenwart diese Übersetzungen bewundert.

Das wird man lernen müssen, in dieser Zeit den Menschen teil­nehmen zu lassen an dem Leben; und Sie werden sehen , wenn wir in aieser Zeit die Bildung so schaffen, daß der Mensch am Leben teil-nehmen kann, und wir zugleich doch in der Lage sind, ökonomisch mit dem Unterricht zu verfahren, dann kann es so sein, daß wir wirk-lich den Menschen eine lebendige Bildung beibringen können. Und das wird es auch möglich machen, daß derjenige, der nach der Hand­arbeit hintendiert, auch teilnehmen kann an dieser Lebensbildung, die

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nach dem vierzehnten Lebensjahr einzusetzen hat. Die Möglichkeit muß geschaffen werden, daß diejenigen, die sich früh irgendeinem Handwerk oder einer Handarbeit zuwenden, auch teilnehmen können an dem, was zu einer Lebensauffassung führt. Vor dem einundzwan­zigsten Jahr darf in der Zukunft nichts an den Menschen herange­bracht werden , was nur Forscherergebnis ist, was nur von der Spezia­lisierung im Wissenschaftlichen herkommt. Für diese Zeit muß das­jenige in den Unterricht aufgenommen werden, was reif verarbeitet ist. Da kann man dann ungeheuer ökonomisch zu Werke gehen. Man muß nur einen Begriff haben in der Pädagogik, was pädagogisch-didaktische Ökonomie bedeutet. Da darf man vor allen Dingen nicht faul sein, wenn man pädagogisch-ökonomisch arbeiten will. Ich habe Sie öfter aufmerksam gemacht auf Erfahrungen, die ich persönlich gemacht habe. Mir wurde ein etwas schwachsinniger junger Mensch in seinem elften Lebensjahr übergeben. Es ist mir gelungen, durch pädagogische Ökonomie nach zwei Jahren ihn über dasjenige hinaus-zubringen, was er versäumt hat bis zu seinem elften Jahr, wo er über­haupt noch gar nichts konnte. Aber nur dadurch war ich dazumal dazu imstande, daß ich sein Leibliches und Seelisches so berücksichtigte, daß in der denkbar ökonomischsten Weise im Unterricht vorgegangen worden ist. Das wurde oftmals dadurch erreicht, daß ich selber drei Stunden zur Vorbereitung verwendet habe, um den Menschen so zu unterrichten, daß ich irgend etwas, was sonst stundenlang gedauert hätte, in ihn hereinzubringen, in einer halben oder einer Viertelstunde hereinbringen konnte, weil das für seinen leiblichen Zustand notwen­dig war. Sozial gedacht, kann man hinzufügen: Ich war genötigt dazu­mal, das alles an einen einzigen Knaben zu wenden, neben dem drei andere hergingen, die nicht in dieser Weise zu behandeln waren. Aber denken Sie, wenn wir eine vernünftige soziale Erziehungsweise hätten, so würde man ja eine ganze Reihe solcher Leute so behandeln können; denn ob man einen oder vierzig Knaben in dieser ökonomischen Weise behandeln muß, das macht nichts aus. Ich würde nicht jammern über die Anzahl der Schüler in der Schule; dieses Nichtjammern, das hängt aber zusammen mit dem Prinzip der Ökonomie im Unterricht. Nur muß man wissen: Bis in das vierzehnte Jahr hinein urteilt der

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Mensch nicht, und wenn man ihn zum Urteilen anhält, so zerstört man sein Gehirn. Die heutige Rechenmaschine, die das Urteil an Stelle des gedächtnismäßigen Rechneniernens setzt, ist ein Unfug in der Päd­agogik; sie zerstört, sie macht das menschliche Gehirn dekadent. Das Urteil der Menschen kann man erst pflegen vom vierzehnten Lebens­jahre ab. Da müssen dann diejenigen Dinge im Unterricht auftreten, welche an das Urteil appellieren. Da können daher auftreten alle diejeni­gen Dinge,welche sich zum Beispiel beziehen auf die logische Erfassung der Wirklichkeit. Und Sie werden sehen, wenn in der Zukunft in den Bildungsanstalten zusammensitzt der Tischler- oder Maschinenlehr­ling mit demjenigen, der vielleicht selber Lehrer wird, dann wird sich auch da etwas ergeben, was zwar eine speziallsierte, aber doch noch immer eine Einheitsschule ist. Nur wird in dieser Einheitsschule alles das drinnen sein, was für das Leben drinnen sein muß, und wenn es nicht drinnen wäre, würden wir in das soziale Unheil noch stärker hin­einkommen, als wir jetzt drinnen sind. Lebenskunde muß aller Unter­richt geben. Zu lehren wird sein auf der Altersstufe vom fünfzehnten bis zwanzigsten Jahre, aber in vernünftiger, ökonomischer Weise , alles dasjenige, was sich auf die Behandlung des Ackerbaues, des Ge­werbes, der Industrie, des Handels bezieht. Es wird kein Mensch durch dieses Lebensalter durchgehen dürfen, ohne daß er eine Ahnung bekommt von dem, was beim Ackerbau, im Handel, in der Industrie, im Gewerbe geschieht. Diese Dinge werden aufgebaut werden müs­sen als Disziplinen, die unendlich viel notwendiger sind als vieles Zeug, das jetzt den Unterricht dieser Lebensjahre ausfüllt.

Dann werden in diesem Lebensalter aufzutreten haben alle diejeni­gen Dinge, die ich jetzt nennen möchte Weltanschauungssache. Dazu wird gehören vor allen Dingen Geschichtliches und Geographisches, alles dasjenige, was sich auf Naturerkenntnis bezieht, aber immer mit Bezug auf den Menschen, so daß der Mensch den Menschen aus dem Weltall heraus kennenlernen wird.

Unter so unterrichteten Menschen werden dann solche sein, die, wenn sie durch die übrigen sozialen Verhältnisse dazu getrieben wer­den, Geistesarbeiter zu werden, in den spezial-geistesarbeiterischen Schulen ausgebildet werden können in allen möglichen Gebieten

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Sehen Sie, in diesen Anstalten, wo heute die Leute fachmännisch aus­gebildet werden, wird ungeheuer unökonomisch verfahren. Ich weiß, daß das viele nicht zugeben werden, aber es wird ungeheuer unökono­misch verfahren, und vor allen Dingen werden die kuriosesten, aus der niedergehenden Weltanschauung herauskommenden Anschau­ungen geltend gemacht. Ich erlebte es noch mit: da fingen die Leute für die hlstorisch-literaturgeschichtlichen Disziplinen in den Universi­täten zu schwärmen an für die Umgestaltung des Vorlesungswesens in das Seminarwesen, und heute können wir noch erfahren, daß gesagt wird: Vorlesungen sollten einen möglichst geringen Raum einnehmen, aber es sollte viel Seminar getrieben werden. Diese Seminare, man kennt sie. Es finden sich treue Anhänger des Dozenten zusammen, welche streng nach den Angaben dieses Dozenten lernen, wie man sagt, wissenschaftlich zu arbeiten. Sie machen da ihre Arbeiten, und werden richtig geistig abgerichtet. Und die Folgen dieser geistigen Abrichtung, die erlebt man schon. Es tendiert immer hin auf das geistige Abrichten.

Es ist etwas ganz anderes, wenn der Mensch in diesen Lebensjahren, wo er zur Fachbildung schreiten soll, in freier Weise zuhört vernünf­tig Vorgetragenem, und er dann Gelegenheit hat, in freier Auseinan­dersetzung, allerdings in Anknüpfung an vortraglich Auseinander-gesetztes, sich zu ergehen. Übungen können sich schon anschließen, aber der Unfug des Seminars, der muß aufhören. Der ist gerade eine Sumpfpflanze der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die auf Dressur ging, und nicht auf freie Entwickelung des Menschen.

Vor allen Dingen aber muß, wenn von dieser Bildungsstufe die Rede ist, gesagt werden, daß ein gewisser Grundstock der Bildung für die Menschen aller Klassen derselbe sein muß. Ob ich nun Medi­ziner, ob ich Jurist, ob ich Lehrer eines Gymnasiums oder einer Real­schule - diese Anstalten wird es natürlich nicht mehr geben in der Zukunft - werden soll, das gehört auf die eine Seite; daneben muß jeder dasjenige aufnehmen, was allgemeine Menschenbildung ist. Diese muß man Gelegenheit haben, aufzunehmen, ob man nun Medi­ziner oder Maschinenbauer, oder Architekt, oder Chemiker, oder In­genieur wird, man muß Gelegenheit haben, dieselbe allgemeine Bildung

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aufzunehmen, ob man geistiger oder Handarbeiter wird. Das ist wenig berücksichtigt worden bis heute. Es ist ja allerdings schon man­ches an einigen höheren Schulen gegenüber früheren Zeiten besser geworden. Als ich seinerzeit in Wien an der technischen Hochschule war, da trug ein Professor allgemeine Geschichte vor. Er fing an, diese allgemeine Geschichte in jedem Semester einmal vorzutragen; nach der dritten oder fünften Vorlesung hörte er auf - dann war schon nie­mand mehr da. Dann gab es einen Professor für Literaturgeschichte an jener technischen Hochschule. Das waren so die Mittel, um neben dem, was fachlich war, auch etwas allgemein Menschliches aufzuneh­men. In diese Vorlesung über Literaturgeschichte, an die sich, wenn sie zustande kam, angeschlossen haben Übungen im Reden, im münd­lichen Vortrag - wie sie auch zum Beispiel Uhiand noch getrieben hat -, in diese Literaturvorlesung, da mußte ich immer einen hinein­schleifen, denn nur wenn zwei drinnen waren, wurde sie gelesen. Aber man konnte sie nur aufrechterhalten dadurch, daß man noch einen hineinschleifte; es war sogar fast jedesmal ein anderer. Außerdem wurde im Grunde genommen nur noch gesorgt durch Vortrag über Staatsrecht, über Statistik, für dasjenige, was der Mensch für allge­meine Lebensverhältnisse braucht. Wie gesagt, solche Dinge sind besser geworden; aber noch nicht ist das besser geworden, was als Impetus in unserem ganzen sozialen Leben vorhanden sein soll. Es wird aber besser werden , wenn man die Möglichkeit schafft mit Bezug auf all dasjenige, was allgemein-menschlich bilden soll, daß es nicht so gestaltet wird, wie es nur verständlich ist für den, der eine be­stimmte fachliche Grundlage hat, sondern wie es allgemein-mensch­lich verständlich ist. Ich habe mich öfter gewundert, daß die Menschen meine anthroposophischen Vorträge so verschimpft haben. Denn wenn die Menschen auf das Positive gegangen wären, hätten sie sagen können: Nun, was da drinnen Anthroposophie ist, um das kümmern wir uns nicht, aber was der alles sagt mit Bezug auf naturwissenschaft­liche Dinge, die man ungeheuer lobt, wenn sie entgegengebracht wer­den von bloß Natur-Gelehrten, das genügt im Grunde genommen schon. Denn Sie wissen alle, diese Vorträge sind eigentlich immer durchspickt gewesen von Popularisierungen gerade von Naturerkenntnissen.

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Aber es handelt sich vielen Menschen nicht darum, das Positive entgegenzunehmen, sondern das, was sie nicht haben wollten, zu verschimpfen. Das, was sie nicht haben wollten, das war aber ge­rade geeignet durch die Denkformung, durch die ganze Behandlung, auch alles dasjenige zum Beispiel, was naturwissenschaftlich notwendig ist, mitzunehmen für ein allgemein bildendes menschliches Wissen, so daß der Handwerker es so gut haben konnte wie der Gelehrte; so daß es allgemein auch als Naturwissenschaftliches verständlich war. Sehen Sie sich die anderen Weltanschauungsbestrebungen an. Glauben Sie, daß zum Beispiel in den Monistenversammiungen die Leute etwas verstehen können, wenn sie nicht eine naturwissenschaftliche Grund-lage haben? Nein, sie schwatzen nur mit, wenn sie die nicht haben. Das, was hier als Anthroposophie getrieben wurde, ist etwas, was so umwandeln kann die natürliche Erkenntnis, auch die historische Er­kenntnis, daß sie jedem verständlich werden kann. Denken Sie doch nur , wie verständlich sein kann für jeden dasjenige, was ich historisch immer entwickelt habe als einen großen Sprung in der Mitte des fünf­zehnten Jahrhunderts. Das wird, denke ich, jedem verständlich. Das ist aber die Grundlage, ohne die man überhaupt nicht verstehen kann die ganze soziale Bewegung der Gegenwart. Darum verstehen die Menschen diese ja nicht, weil sie nicht wissen, wie die Menschheit ge­worden ist seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Wenn man dann solche Dinge entwickelt, dann kommen die Menschen und er­klären einem: Die Natur macht doch keine Sprünge; also, du hast un­recht, wenn du einen solchen Entwickelungssprung im fünfzehnten Jahrhundert annimmst. - Dieser blödsinnige Satz, «die Natur macht keine Sprünge», wird immer wiederum tradiert. Die Natur macht fortwährend Sprünge: den Sprung vom grünen Laubblatt zum anders geformten Kelchblatt, den Sprung vom Kelchblatt zum Blumenblatt. So ist auch die Entwickelung des Menschenlebens. Wer nicht nach der unsinnigen konventionellen Geschichtslüge Geschichte lehrt, sondern nach dem, was wirklich vorgegangen ist, der weiß, daß die ganze feinere Konstitution des Menschen in der Mitte des fünfzehnten Jahr­hunderts anders geworden ist, als sie vorher war. Und das, was sich heute vollzieht, ist die Auslebung desjenigen, was seit jener Zeit die

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Menschheit in ihrem Zentrum ergriffen hat. Will man verstehen, was heute soziale Bewegung ist, so muß man solche Gesetze erkennen in der geschichtlichen Entwickelung.

Nun brauchen Sie sich nur zu erinnern an die Art, wie die Dinge hier getrieben werden, so werden Sie sich sagen: Dazu ist nicht nötig ein Spezialwissen, oder im alten Sinne ein gebildeter Mensch zu sein, um sie zu verstehen; es kann sie jeder verstehen. Das gerade wird das Erfordernis für die Zukunft sein, daß man nicht Philosophien, Welt­anschauungen entwickelt, die nur derjenige verstehen kann, der eine bestimmte klassenmäßige Bildung durchgemacht hat. Nehmen Sie doch heute irgend etwas Philosophisches in die Hand, sagen wir von Eucken, von Paulsen oder irgend etwas, woraus Sie sich unterrichten wollen, oder eine jener Universitätspsychologien. Wenn Sie diese Schreckensbücher in die Hand nehmen, Sie werden sie bald wieder aus der Hand legen, denn diejenigen, die nicht fachmännisch dressiert sind von einer gewissen Seite her, verstehen ja nicht einmal die Sprache, die da drinnen angewendet wird. Das ist dasjenige, was aber nur als allgemein Bildendes zu erreichen ist, wenn wir gründlich umgestalten das ganze Erziehungs- und Unterrichtswesen in dem Sinne, wie ich es versuchte heute anzudeuten.

Sie sehen, auch für dieses Gebiet kann man sagen: Die große Ab-rechnung ist da, nicht eine kleine Abrechnung. Dasjenige, was kom­men muß, das ist, daß im Unterrichten, im Erziehen soziale Triebe entwickelt werden, oder besser gesagt, soziale Instinkte, so daß der Mensch nicht am Menschen vorbeigeht. Dann werden sich die Men­schen voll verstehen - heute gehen die Lehrer an den Schülern vorbei, und die Schüler am Lehrer -, so daß entwickelt wird ein lebensfähiges Verhältnis. Das kann aber nur geschehen, wenn man einmal einen Strich macht unter das Alte. Und er kann gemacht werden. Es ist das durchaus nicht unmöglich aus den Tatsachen heraus, sondern es wird nur zurückgewiesen aus den menschlichen Vorurteilen heraus. Die Menschen können sich gar nicht denken, daß einmal die Dinge auch anders gemacht werden können als bisher. Die Leute haben eine Riesenangst, daß sie verlieren könnten irgend etwas von dem Alten gerade auf dem Gebiete des Geisteslebens. Man glaubt gar nicht, was

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die Leute für eine heillose Angst davor haben. Natürlich, sie können ja auch die Dinge nicht übersehen. Sie können zum Beispiel nicht übersehen, was durch ein ökonomisches Unterrichten geleistet werden kann. Ich habe es oftmals gesagt: In drei bis vier Stunden - es müßte nur das richtige Lebensalter gewählt werden -, in drei bis vier Stunden kann man junge Leute vom Anfang der Geometrie, der geraden Linie und dem Winkel, führen bis zum - ehemals nannte man es Esels­brücke - pythagoräischen Lehrsatz. Und Sie sollten sehen, was die Leute für eine Riesenfreude haben, wenn ihnen plötzlich der pythago­räische Lehrsatz als Folge von drei bis vier Stunden Unterricht auf­geht! Aber denken Sie doch einmal, was oft für Unfug getrieben wird im heutigen Unterricht, bevor die Leute an diesen Lehrsatz heran­kommen! Es handelt sich darum, daß wir ungeheuer viel geistige Arbeit verschwendet haben, und das zeigt sich dann im Leben, das strahlt aus auf das ganze Leben, und das strahlt hinein bis in die aller­praktischsten Gebiete des Lebens. Heute ist es notwendig, daß die Menschen sich entschließen, in diesen Dingen bis in die Fundamente hinein umzudenken. Anders kommen wir bloß weiter hinein in den Niedergang, niemals aber zum Aufstieg.

Nun, über diese Dinge hoffe ich, in der nächsten Zeit wiederum zu Ihnen sprechen zu können.

FÜNFTER VORTRAG Stuttgart, 18. Mai 1919

#G192-1964-SE104 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

FÜNFTER VORTRAG

Stuttgart, 18. Mai 1919

#TX

Nicht in dem Sinne, den man gewöhnlich meint, wenn man von der Fortsetzung einer Betrachtung spricht, werde ich heute anknüpfen an dasjenige, was ich letzten Sonntag hier vorgebracht habe. Damals ver­suchte ich, soweit das in skizzenhafter Art möglich war, in vorläufiger formal pädagogischer Weise auseinanderzusetzen, wie die Gliederung eines vom Staats- und Wirtschaftsleben abgesonderten Geistes- und Unterrichtslebens zu denken sei; wie in anderer Weise als bisher dann, wenn solche Absonderung eintritt, die einzelnen sogenannten Lehrfächer verwendet werden müßten zur Ausgestaltung desjenigen, was sich den Unterrichtenden, den Erziehenden als eine Art anthropolo­gischer Pädagogik, besser gesagt als eine Art anthropologisch pädago­gischer Wirksamkeit ergeben müßte. Schon damals bemerkte ich, daß ein Wesentliches sein wird für die Zukunft die Lehrerausbildung und namentlich die Prüfung desjenigen, was ergeben soll, ob irgendeine Persönlichkeit zum Lehrer oder Erzieher taugt.

Ich will die unmittelbare Fortsetzung der formal pädagogischen Dinge einer späteren Betrachtung aufsparen. Ich will nun heute in einer ganz anderen Weise versuchen, Ihnen die Fortsetzung des Vori­gen zu geben. Ich will versuchen, Ihnen anzudeuten, wie ich mir denken muß aus den Kräften der Zeitentwickelung heraus, daß heute gesprochen werden müßte etwa, sagen wir, auf Lehrerversamralungen oder bei ähnlichen Anlässen, die wirklich der Zeit dienen wollten. Es ist in unserer Gegenwart tatsächlich so, daß, wenn wir aus Wirrnis und Chaos herauskommen wollen, heute in vielen Dingen ganz anders ge­sprochen werden müßte, als man sich nach den Denkgewohnheiten, die überkommen sind, vorstellt.

Heute redet man ja auch auf Lehrerversammlungen, wie nahe-liegende Beispiele Ihnen beweisen könnten, in, ich möchte sagen, dem alten eingefahrenen Geleise fort, während eine wirklich freie Erzie­hung der Zukunft nur eingeleitet werden könnte, wenn die Erziehenden und Unterrichtenden gehoben würden zu jenem Niveau, auf dem man

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einen Überblick bekommt über die wirklich großen Aufgaben unserer unmittelbaren Gegenwart, insofern sich diese großen Aufgaben dann in Konsequenzen ausbilden lassen gerade für das Erziehungs- und Unterrichtswesen. Gewiß, die Art, wie ich heute zu Ihnen sprechen werde, die wird nicht dasjenige sein, was ich als maßgeblich oder auch nur als irgendwie mustergültig hinstellen möchte. Ich möchte aber ge­wissermaßen die Region andeuten, in der heute zu Lehrenden zu spre­chen wäre, damit diese Lehrenden den Impuls bekommen, von sich aus in ein freies Unterrichtswesen einzugreifen. Gerade diese Lehren­den müßten zu den großen, umfassenden Aufgaben der Zeit herauf-gehoben werden; die Lehrenden müßten in erster Linie durchscb auen, was für Kräfte sich eigentlich in den heutigen Weltgeschehnissen ver­bergen; welche Kräfte man kennen muß als vom Alten herkommend, die ausgemerzt werden müssen; welche Kräfte sich zeigen, die einer besonderen Pflege bedürfen aus den Untergründen unseres heutigen Daseins heraus. Eine gewisse, ich möchte sagen, im besten, idealsten Sinne kulturpolitische Betrachtung müßte heute gegeben werden, die grundlegend werden könnte für die Impulse gerade, die in die Lehren­den übergehen müßten. Es müßte zum Beispiel vor allen Dingen ein­gesehen werden, daß unsere Pädagogik auf allen Stufen des Unter­richtens und Unterweisens unendlich verarmt ist, und es müßte ein­gesehen werden, welches die Gründe dieser Verarmung sind. Diese Pädagogik hat vor allen Dingen verloren den unmittelbaren Zu­sammenhang mit dem Leben. Der Pädagoge redet heute von allerlei methodischen Dingen, und er redet vor allen Dingen von der großen Wohltat, die dem Unterricht durch die staatliche Leitung zufließen soll. Er redet wahrscheinlich von diesen Wohitaten dann noch fort, ich möchte sagen, fast automatisch, wenn er in der Theorie auch irgend etwas schon begriffen haben sollte von der notwendigen Dreigliede­rung des sozialen Organismus. Es waren in keiner Zeit die, ich möchte sagen, selbstlaufenden Denkgewohnheiten so stark, als gerade in der unsrigen, und es zeigt sich dieses Selbstlaufende der Denkgewohn­heiten ganz besonders in der Ausbildung der pädagogischen Ideen. Diese pädagogischen Ideen, sie haben unter etwas gelitten, dem wir noch nicht entkommen konnten in der neueren Zeit, dem wir aber entkommen

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müssen. Ja, es gibt eben heute Fragen, die einfach nicht so beantwortet werden können, daß man sagt: Es ist das eine oder andere nach den bisherigen Erfahrungen möglich. Da wird sofort aus den Herzen, aus den Seelen der Menschen das Zaudern aufsteigen. Heute gibt es unzählige Fragen, die so beantwortet werden müssen, daß man sich sagt: Muß denn nicht das eine oder andere geschehen, wenn wir aus Wirrnis und Chaos hinauskommen wollen? Und dann haben wir es mit Fragen des Wollens zu tun, in die uns nicht hineinzureden haben die oftmals ja berechtigt scheinenden Zauderfragen des Ver­standes in der sogenannten Erfahrung. Denn eine Erfahrung hat nur dann einen Wert, wenn sie vom Wollen in der entsprechenden Weise durchgearbeitet ist. Es gibt heute viel Erfahrung - wenig Erfahrung aber, die vom Wollen in der entsprechenden Weise durchgearbeitet ist. Es wird gerade auf pädagogischem Gebiet viel gesagt, gegen das, rein verstandeswissenschaftlich genommen, sich nicht einmal sehr viel einwenden läßt, das von seinem Gesichtspunkte aus angesehen ganz gescheit ist. Aber heute handelt es sich darum, einzusehen, worauf es eigentlich ankommt: vor allen Dingen einzusehen, wie unsere Päd­agogik lebensfremd geworden ist.

Ich darf eine persönliche Bemerkung auch hier machen. In Berlin wurde vor vielleicht dreiundzwanzig Jahren ein Verein für Hoch­schul-Pädagogik gegründet. Vorsitzender dieses Vereins für Hoch­schul-Pädagogik war der Astronom Wilhelm Förster. Ich gehörte die­sem Verein für Hochschul-Pädagogik auch an. Wir hatten eine Serie von Vorträgen zu halten in diesem Verein. Die meisten dieser Vor­träge wurden so gehalten, daß man glaubte, man brauche nur zu er­kennen gewisse formale Dinge über die Behandiung der einzelnen Wissenschaften und die Zusammenstellung der einzelnen Wissen­schaften in Fakultäten oder ähnliches. Ich versuchte - aber wurde auch dazumal wenig verstanden - darauf aufmerksam zu machen, daß eine Hochschule nichts anderes sein dürfe als ein Ausschnitt aus dem all­gemeinen Leben; daß vor allen Dingen derjenige, der etwas reden will über Hochschul-Pädagogik, ausgehen müsse von der Frage: In welcher Lage des Lebens, weltgeschichtlich genommen, stehen wir gegen­wärtig auf all den verschiedensten Gebieten, und was haben wir an

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Impulsen aus den verschiedensten Gebieten des Lebens heraus zu beobachten, um es hineinstraHen zu lassen in die Hochschule, damit wir eine Hochschule zu einem Ausschnitt aus dem allgemeinen Leben machen? Wenn man nicht im Abstrakten, sondern im Konkreten solche Dinge durchführt, da ergeben sich dann die mannigfaltigsten Gesichtspunkte für die Begrenzung, sagen wir der Zeit, die gewidmet werden soll dem einen oder andern sogenannten Fach; da ergeben sich auch die Arten, wie das eine oder andere Fach behandelt werden kann. In dem Augenblick, wo man bloß aus dem, womit heute die Pädago­gik vielfach arbeitet, solche Begrenzung vornehmen will, in dem Augenblick versagt alles; man gestaltet die betreffenden Unterrichts-anstalten zu nichts anderem als zu Abrichtungsanstalten für welt­fremde Leute.

Aber welches sind die ganz inneren Gründe, die tief inneren Gründe, daß das alles so geworden ist? So wie die großartige Ent­wickelung des naturwissenschaftlich orientierten Denkens in der neueren Zeit heraufgekommen ist, so hat dieses naturwissenschaft­liche Denken, das ja auf der einen Seite in großartiger Weise dahin gelangt ist, den Menschen rein als Naturwesen zu begreifen, doch jede wirkliche Menschenerkenntnis im Grunde genommen abgeschnitten; jene Menschenerkenntnis, von der wir schon neulich gesprochen haben als von dem Allernotwendigsten gerade für den richtigen Päd­agogen; jene Menschenerkenntnis, welche den lebendigen Menschen in seinem ganzen Dasein, aber nicht wie es heute so vielfach bloß for­mal dargestellt wird, erkennt, sondern nach seiner inneren Wesenheit, namentlich nach seiner Entwickelungswesenheit. Es gibt ein Sym­ptom, das ich hier auch schon öfters erwähnt habe, für dieses unge­heuer Menschenfremde des modernen pädagogischen Wesens. Wenn man solche Dinge heute sagt, so wird man vielleicht geziehen werden können der Paradoxie. Aber sie müssen heute ausgesprochen werden, denn sie sind das Allernotwendigste. Aus dem Verlust wirklich leben­diger Menschenerkenntnis ist hervorgegangen jenes trostlose, öde Streben, das sich heute als ein Zweig der sogenannten Experimental­psychologie - gegen die ich als solche nichts habe - geltend macht. Die sogenannte Prüfung der Fähigen - ein wahres Schauerbild desjenigen,

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was auf pädagogischem Gebiet das wirklich Ersprießliche ist. Ich habe Ihnen vielleicht schon öfter charakterisiert, wie durch äußere experimentelle Veranstaltung das Gedächtnis, sogar der Verstand und anderes am Menschenobjekte geprüft werden sollen, damit man auf äußerlich registrativem Wege herausbekommt, ob jemand ein gutes oder schlechtes Gedächtnis, einen guten oder schlechten Verstand hat. In rein mechanischer Weise, indem man Sätze vorlegt und sie ergänzen läßt, oder indem man in irgendeiner anderen ähnlichen Weise ver­fährt, versucht man ein Bild zu bekommen, was ein werdender Mensch an Fähigkeiten in sich hat. Das ist ein Symptom dafür, daß man alle unmittelbare Beziehung von Mensch zu Mensch, die allein ersprieß­lich sein kann, im Kulturwirken verlernt hat. Es ist das Symptom für etwas Trostloses, welches sich hat entwickeln können, und welches heute als ein besonderer Fortschritt angestaunt wird, dieses Fähig­keitprüfen, das heraufgesprossen ist aus den sogenannten psycho­logischen Laboratorien der neueren Universitäten. Ehe man nicht ein­sieht, wie wir wiederum zurückkommen müssen zu einer unmittelbar aus dem Menschen heraus zu gewinnenden intuitiven Erkenntnis des Menschenwesens, namentlich des werdenden Menschenwesens, ehe wir nicht überwinden dieses trostlose Errichten einer Kluft auch auf diesem Gebiet zwischen Mensch und Mensch, werden wir gar nicht verstehen können, worin es liegt, eine lebensvolle Pädagogik für ein freies Geistesleben zu schaffen. Ausgekehrt müßte werden aus unseren Unterrichtsanstalten all dasjenige, was am Menschen herumexperimen-tieren will, um irgend etwas Pädagogisches auszumachen. Als Grund­lage für eine vernünftige Psychologie ist mir die Experimental-Psycho­logie wert; so wie sie sich heute in die Pädagogik, sogar schon in die Gerichtszimmer hineingeschlichen hat, so ist sie das Verderben für dasjenige, was als Gesundes sich entwickeln muß: voll entwickelte Menschen, die nicht durch eine Kluft von den anderen voll entwickel­ten Menschen getrennt sind. Wir haben es dahin gebracht, daß wir alles Menschliche ausgeschlossen haben aus unserem Kulturstreben. Wir müssen es dahin bringen, dieses Menschliche wiederum einzu­schließen. Und wir müssen den Mut aufbringen, gegen manches, was allmählich angestaunt worden ist in der neueren Zeit als große Errungenschaft,

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energisch Front zu machen; sonst kommen wir nie weiter. Daher sind oft diejenigen Menschen, die heute als Lehrer die Hochschulen verlassen, um dann Menschen zu bilden, mit den ver­kehrtesten Anschauungen über das Menschenwesen ausgestattet, weil sie ja wirkliche Anschauungen nicht bekommen, weil an die Stelle der wirklichen Anschauungen etwas so Veräußerlichtes getreten ist wie dieses experimentelle Feststellen der Fähigkeiten. Das müßte man als ein Verfallssymptom erkennen. Wir müssen in uns die Möglichkeit suchen, die Fähigkeiten eines Menschen zu beurteilen, weil er Mensch ist und man selber Mensch ist. Und einsehen müßte man, daß jede andere Methode deshalb von Unheil ist, weil sie gewissermaßen aus-löscht das Erfülltsein vom unmittelbaren lebendigen Begreifen des Menschlichen, das so notwendig ist, wenn wir in heilsamer Weise fortschreiten wollen.

Diese Dinge werden heute noch gar nicht gesehen. Sie müssen vor allen Dingen gesehen werden, wenn wir weiterkommen wollen. Wie oft ist auch hier von diesen Dingen gesprochen worden. Man hat ja manchmal über diese Verkehrtheiten ein Lächeln gehabt. Daß diese Dinge aber gesprochen worden sind darum, daß sie wirklich ein Be­standteil des heutigen Geisteslebens werden, davon hatte man nicht immer eine Ahnung. Aber es kommt heute nicht darauf an, daß man sich etwas anhört wie ein Feuilleton, es kommt heute darauf an, daß man unterscheiden lernt zwischen demjenigen, was bloß, ich möchte sagen, Aperçu und Betrachtung ist, und demjenigen, was Keime zur Tat in sich enthalten kann. Alles Streben der sogenannten Anthropo­sophie, die hier gepflegt wird, gipfelt ja zuletzt darin, aufzubauen die Idee vom Menschen, Menschenerkenntnis zu liefern. Die brauchen wir. Die brauchen wir, weil wir aus den Forderungen der Zeit heraus zu überwinden haben eine dreigliedrige Zwangslage. Es sind zurück­geblieben aus den alten Zeiten dreierlei Arten von Zwang. Erstens der urälteste Zwang, der sich nur in verschiedener Weise maskiert in der Gegenwart, als Priesterzwang. Man würde weiter kommen in der Betrachtung der Zeitlage, wenn man die Maskierung erkennen würde in den ja heute mit Bezug auf äußere Tatsächlichkeiten untergegange­nen, in bezug auf menschliches Denken leider noch fortlebenden

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staatlichen Ideen und Impulsen von Europa und Amerika und auch Asien, die moderne Maskierung alten Priesterzwanges.

Als zweiten Zwang haben wir, etwas später ausgebildet in der ge­schichtlichen Entwickelung der Menschheit, heute auch schon unter den verschiedenen Maskierungen auftretend, den politischen Zwang.

Und als drittes haben wir als verhältnismäßig am spätesten hinzu­gekommenen Zwang den wirtschaftlichen Zwang.

Aus diesen drei Zwangsimpulsen muß die Menschheit sich heraus-arbeiten; das ist ihre unmittelbare Gegenwartsaufgabe. Sie kann nur herauskommen, wenn sie vor allen Dingen klar sieht, wo die Residuen, wo die Reste sind von dem, was in verschiedener Maskierung heute unter uns lebt, die Masken dieser drei Zwangsimpulse der Menschheit.

Vor allen Dingen muß heute der Blick des Pädagogen hinaufgeho­ben werden bis zu jenem Niveau, wo solche Dinge besprochen werden können, wo man mit den Lichtern, die man bekommt durch solche Dinge, auf die zeitgenössische Entwickelung leuchten kann, wo man überall sehen kann, wie das eine oder andere Zwangsverhältnis in der einen oder anderen zeitgenössischen Tatsache steckt. Nur dann wird man den Mut aufbringen, sich heute zu sagen: Weil sich die Pädagogik abgesondert hat, gewissermaßen sich zurückgezogen hat in die Schule, ist es dahin gekommen, daß sie solche verschrobenen Ideen aufbringt - was nur ein Symptom ist - wie die Erprobung von mensch­lichen Tüchtigkeiten durch das Experiment. Aber überall, wo heute von allgemein- oder spezialpädagogischer Methode gesprochen wird, sehen wir die Folge dieses Sichzurückziehens in die bloße Schule, in die der Staat die Pädagogik hineingezwängt hat, und diese Entfernung von dem Leben. Niemals kann einer der hauptsächlichsten Lebens-zweige: Geistiges, Rechtliches oder Politisches, und Wirtschaftliches sich voll entwickeln in der Gegenwart - ich sage ausdrücklich in der Gegenwart, und namentlich in unserer Gegend -, wenn diese drei Zweige nicht auf ihren eigenen Boden gestellt werden. Für den äußer­sten Westen, Amerika, und für den äußersten Osten ist es etwas anderes, aber gerade weil es etwas anderes ist, muß bei uns diese Sache ein­gesehen werden. Wir müssen endlich dahin kommen, konkret zu denken, nicht mehr abstrakt zu denken; sonst kommen wir mit Bezug

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auf das Räuniliche zu einer die Menschheit der ganzen Erde be­glückenden Theorie, was Unsinn ist, oder zu einer Art von tausend­jährigem Reich in bezug auf die geschichtliche Entwickelung, was wieder Unsinn ist. Konkret denken auf diesem Gebiet heißt: für einen bestimmten Weltenraum und für eine bestimmte Zeit denken. Wir werden darüber heute noch einiges zu sprechen haben.

Der Blick des Pädagogen muß auf diese großen Welterscheinungen gelenkt werden, muß überschauen können, was im geistigen Leben der Gegenwart vorhanden ist, und was in diesem Leben der Gegen­wart anders werden muß dadurch, daß man in dem werdenden Men­schen etwas ganz anderes erzieht als dasjenige, was in den letzten Zeiten gezüchtet worden ist. Was in der letzten Zeit gezüchtet worden ist, hat gerade auf pädagogischem Gebiet bei denjenigen, die dann pädagogisch tätig sein sollten, zu einer furchtbaren Spezialisierung geführt. Man begegnet sehr häufig gerade bei Festreden und auf Naturforscherversammlungen und sonstigen Gelehrtenversammlun­gen den Lobliedern auf die Spezialisierung. Selbstverständlich wäre ich ein Tor, wenn ich nicht einzusehen vermöchte, welche Notwendig­keit dieser Spezialisierung auch auf dem Gebiete der Wissenschaft zu­grunde liegt; aber sie braucht einen Ausgleich, sonst errichten wir Klüfte zwischen Mensch und Mensch, und stehen nicht mehr ver­ständnisvoll als Mensch dem Menschen gegenüber, sondern wir stehen einander gegenüber, hilflos als Spezialist dem Spezialisten, wo­bei wir gar keine andere Handhabe haben, an den Spezialisten zu glauben, als allein diese, daß er durch die tatsächlich vorhandenen Einrichtungen in irgendeiner Weise abgestempelt ist. Aber wir waren auf dem Wege, dieses Spezialistentum auch von der Schule her ins Leben einzuführen. Ob die Wirrnisse der Gegenwart uns vor dem Unglück bewahren werden, daß neben den allerlei anderen Sach­verständigen in die Gerichtsstube auch noch, wie manche wollen, die Psychologen hinberufen werden, die dann an den Verbrechern ihre Experimente machen - geradeso, wie man an den jungen Leuten die Experimente macht -, das wird sich ja zeigen. Ich sage weniger etwas gegen die Sachen selber, als gegen die Art und Weise, wie sie sich in die Gegenwart hineingestellt haben.

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So liegen die Dinge auf dem Gebiete der Pädagogik, der Schul­bildung und auf dem Gebiete des Staates.

Ja, nach der kurzen Zeit, in welcher gesprochen worden ist, mag das nun inhaltlich anfechtbar sein oder nicht, von dem innerlich be­gründeten Menschenrecht - damals nannte man es Naturrecht -, nach dieser verhältnismäßig kurzen Zeit kam diejenige Epoche, in der man anfing, sich zu genieren, von diesem Naturrecht zu sprechen. Man war selbstverständlich ein Dilettant, wenn man von diesem Natur­recht sprach, das heißt wenn man annahm, daß mit der Existenz des Menschen als einzelnem menschlichen Individuum selbst etwas da ist, was als solches das Recht begründet, man war damit ein Dilettant, und fachmännisch war es bloß, von historischem Recht zu sprechen, das heißt von dem, was sich geschichtlich als Recht herausgebildet hat. Man hatte nicht den Mut, auf das wirkliche Recht einzugehen; deshalb beschränkte man sich darauf, das sogenannte historische Recht allein einer Betrachtung zu unterziehen. Das aber müßte insbesondere der Pädagoge heute wissen. Der Pädagoge müßte genau eingeführt wer­den, namentlich in Lehrerversammlungen, in den Hergang des neun­zehnten Jahrhunderts, wie verloren worden ist der Begriff des Natur­rechts, oder wie er höchstens in Masken fortlebt im heutigen Recht, und wie ein gewisses Zaudern, innere Zauderhaftigkeit der Menschen an dem bloß Historischen hängen geblieben ist. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, daß der Hauptimpuls - der nicht mehr bemerkt wird in seinen äußersten Ausläufern, wo er sich in die Pädagogik einschleicht

- heute noch immer nach der Richtung des historischen Rechtes geht; daß man sich bemüht - um das Goethesche Wort zu brauchen -, von dem Rechte, das mit uns geboren ist, ja nicht zu sprechen. Ich habe öfters in den Vorträgen, die ich hier gehalten habe, darauf aufmerk­sam gemacht, daß wir heute offen und ehrlich die große Abrechnung halten müssen, nicht die kleine. Daher darf nicht davor zurück-geschreckt werden, in der richtigen Weise zu charakterisieren das­jenige, was ausgemerzt werden muß, denn niemals kann neu gebaut werden, wenn man nicht einen klaren Begriff hat von dem, was die menschlichen Denk- und Empfindungsgewohnheiten verdorben hat.

Man kann schon sagen: Insbesondere an unserer mitteleuropäischen

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Kultur ist stark zu bemerken, wie zuerst zusammengebrochen ist eine wirklich positive Staatsidee. Man versuchte sie aufzubauen noch im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts; sie ging unter unter dem Ein­fluß der historischen Gebilde, die ihre Impulse geltend machten. Und ohne daß die Betreffenden, die dabei beteiligt waren, es merkten, während sie glaubten, vorurteilslose Wissenschaft zu treiben, kam es dahin, daß dasjenige, was getrieben wurde, nur im Dienste des Staates oder des Wirtschaftskörpers getrieben worden ist. Nicht allein in die Verwaltung der Wissenschaft, sondern auch in den Inhalt der Wissen­schaft und namentlich in alles das, was praktische Wissenschaft ge­worden ist, ist das hineingeflossen, was durch den Einfluß des Staates gekommen ist. Daher haben wir heute so gut wie keine National­ökonomie, weil ein freies, auf sich gestelltes Denken sich nicht ent­wickeln konnte. Daher stehen wir heute gerade mit Bezug auf die wichtigsten Gesetze des Wirtschaftslebens so da, daß man gar nicht verstanden wird, wenn man von echten volkswirtschaftlichen Ge­setzen spricht. Und man merkt dies ganz besonders daran, wie die Päd­agogik in Unordnung gekommen ist, die Pädagogik großen Stiles, die nicht im Leben drinnen steht, sondern sich aus dem Leben heraus zurückgezogen hat in die Schulstube. Niemals kann eine wirkliche lebensvolle Betrachtung von irgend etwas zustande kommen, wenn man bloß hinweist auf dasjenige, was äußerlich erfahren werden soll -und nicht, wie es erfahren werden soll. Dasjenige, was in der neueren Zeit allein ausgebildet worden ist, die Anbetung der bloßen äußeren Erfahrung, das führt nur in die Konfusion hinein, gerade wenn es ge­wissenhaft ausgeführt wird. Das was wir brauchen, ist, daß wir im­stande sind, auch die inneren Impulse auszubilden, die uns an die richtige Stelle der Erfahrung hinführen.

Sie erinnern sich, daß ich am letzten Freitag aufmerksam gemacht habe in der Weise, wie es allerdings nur kurz geschehen konnte innerhalb dieser Vorträge, wie durch ein Studium der europäischen Wirtschaftsverhältnisse am Ende des vierzehnten und im Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts eine Aufklärung darüber gewonnen werden könnte, wie zu gestalten sein werden die Genossenschaften in der Zu­kunft, die aus Produktions- und Konsumtionsimpulsen heraus zu bilden

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sind. Aber auf diesen für das ganze europäische Leben grund­legenden Betrachtungsgesichtspunkt, der ausgeht von dem, was so deutlich zu lernen ist in dem großen Wendezeitalter der neueren Zeit auf allen Gebieten Ende des vierzehnten Jahrhunderts, Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts, wird man nur hingelenkt, wenn man eben die großen Gesichtspunkte aus einer grundlegenden anthroposophi­schen Betrachtung heraus gewinnt. Man fälscht nicht die Tatsachen dadurch, aber man wird hingelenkt auf diejenigen Punkte der Ent­wickelung, wo sich in bedeutsamen Symptomen dasjenige verrät, was doch mehr unter der oberflächlichen Entwickelungsströmung bleibt und was als das eigentlich treibende Element anzusehen ist. Dafür waren der heutigen Pädagogik und wissenschaftlichen Didaktik die innerlich wissenschaftlich-methodischen Richtlinien verborgen; Päd­agogik und Didaktik waren mehr oder weniger auf den Zufall an­gewiesen; auf dieses oder jenes Gebiet lenkte sie der Zufall. Das brauchen wir, daß wir innerliche Richtlinien bekommen, die uns auf diejenigen Wahrheiten hinlenken, die die wichtigen sind: die Richt­linien, die aus Goethes Weltanschauung gewonnen werden können, durch die sich viel, viel erkennen läßt. Das darf nicht konstruiert sein, das darf nicht aus dem Verstande heraus gesucht werden, das muß gesucht werden aus einem inneren Verwobensein des Menschen mit der Welt, wie es uns ganz abhanden gekommen ist, was sich gerade darin zeigt, daß wir in so äußerlicher Weise das individuelle Men­schenwesen ergründen wollen, wie es durch die pädagogische Ab­zweigung der Experimental-Psychologie geschehen ist.

Vor allen Dingen müßte heute ein Licht aufgesteckt werden den­jenigen, die Kinder zu erziehen haben, über den Grundnerv der Ent-wickelung der neueren Zeit. Und steht man an einem Punkte, wo die Hauptrichtung des Lebens geändert werden muß, so ist vor allen Dingen die Einsicht in dasjenige notwendig, was bisher in der Mensch­heitsentwickelung heraufgekommen ist. Erst ging zugrunde der ele­mentare Impuls nach dem wirtschaftfreien Staatsleben; dann, im letz­ten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts und im zwanzigsten Jahr­hundert, traten wir insbesondere in Mitteleuropa unser Geistesleben mit Füßen, machten es zu einem bloßen Parasiten des Daseins. Wieviel

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ist eingeflossen in dieses Geistesleben, in dem wir heute drinnen stehen wollen, zum Beispiel von dem großen Impuls des Goetheanis-mus? Nichts, so gut wie nichts! In äußerlicher Weise wird herum-geredet über Goethe; von dem Ungeheuren, das steckt in Goethes Art, die Welt anzuschauen, ist nichts übergegangen in das allgemeine Bewußtsein. Gewissenlos genug, ich habe es öfters erzählt, war die Weimarer Goethe-Gesellschaft, nicht daran zu denken, irgendeinen Menschen an ihre Spitze zu stellen, der etwas von Goethe versteht, sondern einen abgetanen preußischen Finanzminister. Ich habe öfter erwähnt, daß man diese Wahl humoristisch empfinden konnte da­durch, daß er Kreuzwendedich heißt mit Vornamen.

So sind wir hineingesegelt in ein Unberücksichtigtlassen unserer geistigen Vergangenheit. Nirgends im Gegenwartsbewußtsein ist das­jenige drinnen, was gerade dem deutschen Geistesleben von der Goe­theschen Seite her sein charakteristisches Gepräge gegeben hat. Alles das ist ausgemerzt worden, ist zum Parasiten gemacht worden. Goethe-Ausgabe über Goethe-Ausgabe ist erschienen - nirgends ist Goethe­scher Geist eingezogen. Derjenige, der die Dinge durchschaut, der muß heute sagen: Auf wirtschaftlichem Gebiet ist es schlimm, auf politischem Gebiet ist es schlimm, auf geistigem Gebiet aber ist es am allerschlimmsten. So haben wir zuerst unser politisches Bewußtsein ruiniert; so haben wir nachher unseren Zusammenhang mit unserem eigenen Geistesleben ruiniert. Das sage ich nicht aus einem Pessimis­mus heraus, sondern das sage ich aus dem Grunde, weil aus der Ein­sicht in das, was geschehen ist, hervorgehen muß dasjenige, was zu geschehen hat.

Dann, dann kam das, was man den Weltkrieg nennt. Nach dem Zu­sammenbruch des Politischen, das man in künstlicher Weise, schon zerbrochen, doch noch festgehalten hat, nach dem inneren Zusammen­bruch des Geisteslebens der wirtschaftliche Zusammenbruch, von dessen Stärke und Größe sich die Menschen heute noch gar keine Vor­stellung machen, weil sie glauben, wir stehen am Ende oder in der Mitte dieses Zusammenbruchs, während wir erst am Anfang stehen. Dieser wirtschaftliche Zusammenbruch, überall können Sie ihn an dem, was sich als die Weltkatastrophe herausgebildet hat, studieren.

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Würde man heute sachgemäß studieren, ich will sagen, dasjenige, was sich abgespielt hat in dem sogenannten Bagdadbahnproblem vor dem Weltkrieg, da würde man sehen die unglückseligste Zusammenknüp­fung politischen und wirtschaftlichen Lebens. Verfolgt man die ein­zelnen Stadien der Bagdadbahn-Verhandlungen, mit denen ja ins­besondere verknüpft ist der unglückselige Heliferich, so sieht man immer wiederum auf der einen Seite den wirtschaftlichen Kapitalis­mus Kombination über Kombination bildend, auf der andern Seite das Eingreifen national-politischer, chauvinistischer Machinationen; Ma­chinationen, die verschieden sind, je nachdem sie von Osten oder von Westen wirken. In Deutschland beobachtet man verlorenes Taten-Bewußtsein, da das Geistesleben verloren ist, verlorenes Taten-Bewußtsein, da das Staatsleben verloren ist, Beschränkung auf das bloße Wirtschaftsleben. Von Westen überall hineinspielend wirt­schaftlich-politische Aspirationen, die in der Maske des Chauvinismus, oder Nationalismus, der in der Maske des Wirtschaftlich-Politischen auftritt; vom Osten Geistig-Politisches, das sich wiederum in der ver­schiedensten Weise maskiert. Alles das zu einem Knäuel vereint in dem, was sich dann in die Absurdität, in die Unmöglichkeit hinein-verlieren muß in dem Bagdadproblem. In diesem Bagdadbahnproblem, in seinem ganzen Hergang, liegt einfach der Beweis für die Unmög­lichkeit einer Weiterentwickelung des alten Imperialismus, für die Un­möglichkeit einer Weiterentwickelung des alten politischen Systems.

Dasjenige, was so sich, ich möchte sagen, an einem großen welt-politischen Problem zeigt, in dem Willen, diese Bahn zu bauen, das zeigt sich auch in den Einzelheiten während des Krieges. Man hat nur die Dinge niemals so betrachtet, daß man sich mit sachgemäßen Richt­linien hingewendet hat zu dem Punkte, wo die äußeren Ereignisse innere Zusammenhänge verraten können. Sehen Sie, Kapp quietschte, Bethmann Hollweg zeterte, und die geistigen Vertreter von Deutsch­land schwiegen. Es war einmal eine solche Situation. Kapp, der Ver­treter der Landwirtschaft, quietschte, weil er nicht mehr aus und ein wußte über all der Kriegswirtschaft mit der Landwirtschaft. Beth­mann Holiweg, der unpolitischste Kopf, zeterte, weil er etwas Ver­nünftiges über die Sache nicht zu sagen wußte. Und die geistigen Leiter

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Deutschlands schwiegen, weil sie sich ganz zurückgezogen hatten in Formal- Schulmäßiges und nichts wußten vom Leben, keine Ahnung hatten, wie die Dinge des Lebens behandelt werden müssen.

Ich weiß nicht, wie viele sich von Ihnen an diese Dinge erinnern. Es ist gar nicht irgendwie aufgebauscht, was ich Ihnen erzähle, son­dern so war wirklich einmal die Situation, daß Kapp quietschte, Beth­mann Hollweg im Reichstag zeterte über die furchtbare Anzapfung, die der arme erfahren hatte, und diejenigen, die etwas wissen sollten über die Dinge, sie schwiegen oder redeten etwas, was ebenso ist als schweigen, was ferne stand dem Leben. Die wirtschaftliche Entwicke­lung, sie konnte eigentlich nur durch eine große, bemerkbare Welt-tatsache ad absurdum geführt werden. Und wie wir auch in bezug auf das Staatliche herabgekommen sind, das bemerkten viele Leute nicht. Sie hatten ja die Hohenzollern, die Habsburger, den Zarismus. Daß innerhalb des Zarismus, des Hohenzollernreiches, des Habsburger-reiches bereits im allerentschiedensten Sinne, weil Unmögliches damit zusammenhing, der Keim der Auflösung war, darüber konnte man hinwegtäuschen, weil ein unnatürlicher Rahmen dasjenige zusammen-hielt, was schon in voller Auflösung war, weil kein Staatsimpuls mehr drinnen war.

Heute wird von sozialistischer Seite oftmals betont, der Staat müsse aufhören. Niemand hat mehr zum Aufhören eines vernünftigen Staats­wesens geführt, als die Dynastien Europas im neunzehnten Jahrhun­dert. Das Geistesleben, man konnte sich durch Illusionen und durch allerlei Betäubung hinwegsetzen darüber, daß wir es mit Füßen ge­treten haben, insofern es die Errungenschaft des neunzehnten Jahr­hunderts ist. Beim Wirtschaftsleben ging das nicht. Sehen Sie, wenn der Staat darbt, da tröstet er sich damit, daß man sich an Festen erbaut, die mit papierenen Blumen den Dynasten dargebracht werden. Es ist kein Märchen, sondern eine erweislich wahre Tatsache, daß zum Bei­spiel schön gekleidete Frauen auf den Hamburger Brücken sich ge­stürzt haben mit wahrer Wut auf die Zigarettenstummel, die Wil­helm II. weggeschmissen hat, um sie sich als Andenken aufzubewah­ren. Es ist aber auch kein Märchen, daß jener Wilhelm II. sich nicht mit Abscheu abgewendet hat von solcher Speichelleckerei, sondern

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gefunden hat, daß das seiner Eitelkeit sehr gut tat; er delektierte sich daran.

Ja, so haben wir zuletzt gerade auf dem Gebiete des Wirtschafts­lebens die merkwürdige Erscheinung erlebt, die man nicht anders charakterisieren konnte, als daß die Landwirtschaft quietschte, die Politik zeterte, die Industrie rieb sich das Bäuchlein vor Wohlbehagen, die Arbeiter zunächst - insofern sie schon einen kleinen Anteil be­kamen von der Industrie - mit, bis sie zur Front kamen und da einen anderen Ton lernten, und dann auch andere Anschauungen verbrei­teten, als sie wiederum in die Heimat kamen. Derjenige lügt heute selbstverständlich, der sagt, daß von der sogenannten Heimat der Niederbruch ausgegangen ist. Der Niederbruch ist von der Front aus­gegangen, weil die Leute es da nicht mehr aushalten konnten.

Solche Dinge, sie muß insbesondere der heute wissen, der das Volk erziehen will. Der darf fernerhin nicht in irgendeinem Winkel sitzen und vom Leben nichts verstehen, sondern der muß kennen, was ge­schehen muß. Viel wichtiger als jene Formalien, die auf Lehrertagen tradiert werden, wäre heute, daß gerade vor den Jugendbildnern über diese kulturhistorische Erscheinung gründlich gesprochen würde und auch enthüllt würde dasjenige, was sich gerade auf dem Gebiet des kapitalistischen Wirtschaftslebens so klar zeigt.

Sie wissen, von der einen Seite behauptet, von der andern Seite be­stritten, wird einer gewissen Gesellschaft zugeschrieben der Satz : «Der Zweck heiligt die Mittel. » In dem Wirtschaftsleben unter dem Einfluß des Kapitalismus hat sich gezeigt während der sogenannten Welt-katastrophe ein anderer Impuls, der heißt: Der Zweck hat die Mittel entheiligt. Denn überall wurden unter den Zwecken, unter den Zielen, die gesetzt worden sind - gerade das enthüllt wiederum das Bagdad­bahnproblem - die Mittel entheiligt, oder aber es entheiligten wieder die Mittel auch den Zweck und die Ziele.

Diese Dinge, die müssen gewußt werden, und sie müssen rückhalt-los heute betrachtet werden. Insofern meine ich meine heutige Be­trachtung pädagogisch, als ich glaube, daß vielleicht nicht der Art nach, aber aus jener Region heraus, aus der heute von mir gesprochen wird, vor allen Dingen zu den Lehrern jeder Stufe gesprochen werden

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müßte. Dem müssen wir entwachsen, was bisher verhindert hat, daß zu den Lehrern der verschiedensten Stufen von den großen Weltereig­nissen gesprochen worden ist. Dadurch erleben wir ja heute das Trost­lose der absoluten politischen Ungeschultheit eines großen Teiles un­serer Bevölkerung. Man trifft heute Menschen - ich kann in diesem Falle nicht höflich sein, denn ich kann nicht einmal sagen: «die An­wesenden sind ausgenommen», wenigstens nicht alle -, man trifft heute Menschen, die nicht wissen, was sich seit Jahrzehnten selbst in den alleräußersten Äußerlichkeiten zum Beispiel der Arbeiterbewegung, abgespielt hat; die keine Ahnung haben, in welchen besonderen For­men das Proletariat seit Jahrzehnten kämpft. Nun, eine Erziehungs­weise des Volkes, die die Menschen so hereinstellt in die Welt, daß sie aneinander vorbeigehen und nichts wissen voneinander, die muß doch zum Niederbruch führen. Gibt es denn nicht heute Bürgerliche, die kaum vom Arbeiter viel anderes wissen, als daß er anders gekleidet ist als sie und ähnliches, die nichts wissen von jenem Streben, das im Ge­werkschaftlichen, im Genossenschaftlichen, in politischen Parteien lebt, die nicht sich die Mühe genommen haben, hineinzuschauen in dasjenige, was rings um sie herum vorgeht. Woher kommt das? Weil die Menschen nie gelernt haben, zu lernen vom Leben, weil sie immer nur lernen, das oder jenes zu wissen. Man denkt: Ich weiß das, ich bin Spezialist auf diesem Gebiete; du weißt das, du bist Spezialist auf die­sem Gebiete. Daran haben sich die Leute gewöhnt, aber niemals sind sie zu etwas anderem gekommen, als daß sie in ihren Schulen ein Wis-sen aufgenommen haben und die Aufnahme dieses Wissens als ein Ideal betrachteten, während es doch darauf ankommt, daß man lernen lerne - lernen lerne so, daß man, wenn man noch so alt wird, bis zu seinem Todesjahr ein Schüler des Lebens bleiben kann. Heute haben die Menschen, selbst wenn sie die Hochschule absolviert haben, in der Regel in den Zwanzigerjahren ausgelernt. Sie können nichts mehr vom Leben lernen, sie surren nur ab dasjenige, was sie bis dahin aufgenom­men haben. Höchstens daß sie da und dort ein kleines Aperçu machen. Diejenigen, die anders sind, gehören heute zu den Ausnahmen. Das­jenige, worauf es ankommt, das ist, daß wir eine Pädagogik finden, wo gelernt wird, zu lernen, zu lernen sein ganzes Leben hindurch vom

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Leben. Es gibt nichts im Leben, wovon man nicht lernen kann. Wir stünden auf einem anderen Boden heute, wenn die Menschen gelernt hätten, zu lernen. Warum sind wir heute sozial so hilflos? Weil Tat­sachen aufgetreten sind, denen die Menschen nicht gewachsen sind. Sie können von den Tatsachen nicht lernen, weil sie sich immer an Äußerlichstes halten müssen. Es wird in der Zukunft keine Pädagogik gehen, die fruchtbar sein kann, wenn man sich nicht wird die Mühe geben, hinauf sich zu erheben zu den großen Kulturgesichtspunkten der Menschheit.

Wer heute ein wenig die Welt betrachtet mit einigen anthroposo­phischen Grundlagen, von denen hier so oft gesprochen worden ist, der weiß konkret zu denken über das, was da ist. Er schaut nach Westen, er schaut nach Osten, und er kann sich Aufgaben stellen aus der konkreten Beobachtung. Er schaut nach Westen, in jene anglo­amerikanische Welt hinein, in der große politische Impulse, die uns Mitteleuropäern schädlich geworden sind, die aber großzügig sind, seit vielen Jahrzehnten - vielleicht seit länger, ich kann sie nur seit Jahrzehnten verfolgen - gespielt haben. Ja, alle diejenigen großen Im­pulse, die im politischen Leben der neueren Zeit sind, sie sind von der anglo-amerikanischen Bevölkerung ausgegangen, denn die wußte immer mit den historischen Kräften zu rechnen. Als ich während des Krieges versuchte, einigen Leuten das beizubringen, und sagte: Wir können nur widerstehen den Kräften, die von dort ausgehen, mit ähnlichen, aus den historischen Impulsen herausgeholten Kräften, da lachten sie mich aus, weil man bei uns keinen Glauben hat an große historische Impulse.

Wer den Westen, insofern er anglo-amerikanisch ist, richtig zu stu­dieren versteht, der findet dort eine Summe von menschheitlichen In­stinkten, von Impulsen, die aus dem geschichtlichen Leben heraus kommen. Alle diese Impulse sind politisch-wirtschaftlicher Art. Es giht elementare, bedeutsame Impulse innerhalb des Anglo-Amerika­nertums, die alle politisch-wirtschaftliche Färbung haben, die alle poli­tisch so denken, daß politisch über die Wirtschaft gedacht wird. Aber nun gibt es da eine Eigentümlichkeit; das ist die: Sie wissen, wenn wir reden über das Wirtschaftliche, so fordern wir, daß im Wirtschaftlichen

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in der Zukunft walte die Brüderlichkeit; die war gerade her-ausgetrieben aus dem westlichen imperialistischen, politisch-wirt­schaftlichen Streben. Die Brüderlichkeit war da gerade weggeblieben, die war ausgeschaltet worden. Daher nahm das, was da lebte, den stark kapitalistischen Zug an.

Die Brüderlichkeit, die entwickelte sich im Osten. Wer den Osten nach seiner ganzen geistig-seelischen Art studiert, der weiß, daß da aus dem Menschen herausquillt wirklich der Sinn für die Brüderlichkeit. Und so war das Eigentümliche im Westen die Hochflut des wirtschaft­lichen Lebens unter der Unbrüderlichkeit, daher zum Kapitalismus hintendierend. Im Osten die Brüderlichkeit ohne die Wirtschaft; bei­des wurde auseinandergehalten durch Mitteleuropa, durch uns. Wir haben die Aufgabe - und das ist dasjenige, was vor allen Dingen der Lehrer wissen müßte -, wir haben die Aufgabe, synthetisch zusammen­zufassen die Brüderlichkeit des Ostens mit der Unbrüderlichkeit, aber wirtschaftlichen Denkweise des Westens. Dann sozialisieren wir im großen Weltensinn, wenn wir das zustande bringen.

Und wiederum schauen wir nach dem Osten mit einer richtigen Richtlinie. Da haben wir von alters her ein hohes Geistesleben. Daß es heute schon erstorben wäre, kann nur jemand behaupten, der Rabindranath Tagore nicht versteht. Es lebt da der Mensch ein geistig-politisches Leben. Das ist im Osten. Wo ist sein Gegenpol? Der ist nun wiederum im Westen. Denn diesem geistig-politischen Leben des Ostens fehlt etwas: die Freiheit. Es ist eine Gebundenheit, die bis zur Selbstentäußerung des Menschen in Brahma oder Nirwana geht. Es ist das Widerspiel aller Freiheit. Freiheit hat sich dafür der Westen erobert. Wir sind dazwischen drinnen, wir müssen das synthetisch zu­sammenfassen. Solches können wir nur, wenn wir klar im Leben aus­einanderhalten Freiheit und Brüderlichkeit, und das dazu haben, was die Gleichheit ist. Wir müssen unsere Aufgabe nicht nur verstehen so, daß sich für alle alles schickt. Denn es ist der Verderb alles Wirklich­keitsstrebens, wenn man abstrakt denkt. Diejenigen Menschen ruinie­ren alles wirklichkeitsgemäße Denken, die glauben, man könne über die ganze Erde hin ein einheitlich abstraktes Ideal aufstellen, oder für die Gegenwart eine solche gesellschaftliche Ordnung bestimmen, die

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ewig gültig wäre. Unsinn ist das nicht nur, sondern Versündigung wider die Wirklichkeit, denn jeder Raumteil und jeder Zeitteil hat seine eigene Aufgabe, die man erkennen muß. Dann aber muß man nicht zu faul sein, in die wirklich konkreten Menschenverhältnisse hineinzuweisen. Dann muß man seine Aufgabe dadurch erkennen, daß man die Tatsachen sinngemäß zu studieren versteht. Immer mehr weg von einem solchen sinngemäßen Studieren der Tatsachen hat uns die neuere Volkspädagogik gebracht. Sie will nichts wissen von einem solchen konkreten Eingehen auf Erscheinungen. Denn da fängt ge­rade die Region an, wo sich der Mensch heute unsicher fühlt. Die Menschen möchten heute definieren, statt zu charakterisieren. Sie möchten heute Tatsachengebilde in sich aufnehmen, statt diese Tat­sachengebilde als bloße Symptome hinzunehmen für dasjenige, was sich in den tieferliegenden Impulsen ausdrückt.

Ich rede heute so, daß dasjenige, was ich rede, entnommen sein soll der Region, aus der heraus man heute pädagogisch sprechen müßte. Und diejenigen Menschen, die am besten eingehen können in Be­trachtungen über eine solche Region, die sind heute die besten Er­zieher und Unterrichter, nicht diejenigen, die man abfrägt, ob sie das oder jenes in diesem oder jenem Fach wissen; das können sie aus dem Handbuch nachlesen, oder sie können aus dem Konversationslexikon sich vorbereiten für die Stunde. Was sie als Menschen sind, das ist das­jenige, was für die zukünftigen Prüfungen in Betracht kommen müßte. Ein solches Geistesleben in pädagogischer Wendung, das macht es schon aus sich selbst notwendig, daß man nicht bloß präpariert wird in einer gewissen einseitigen Weise für das Kulturleben, sondern daß man in allen drei Zweigen des Menschenwesens auch wirklich, als Geisteswirker wirklich drinnen steht. Ich stehe nicht an, zu behaupten, daß derjenige, der nie mit der Hand gearbeitet hat, keine Wahrheit in der richtigen Weise sehen kann, daß er niemals richtig im Geistesleben drinnen steht. Das soll gerade erreicht werden, daß der Mensch hin und her geht in den drei Gebieten des dreigliedrigen sozialen Organis­mus; daß er reale Beziehungen anknüpft zu allen drei Gliedern des­selben; daß er arbeitend, wirklich arbeitend ist in allen dreien. Die Möglichkeiten dazu, oh, sie werden sich ergeben. Aber der Sinn dafür,

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der muß in die Köpfe namentlich der künftigen Jugendbildner durchaus hinein.

Dann wird ein anderer Sinn noch erwachen: der Sinn, über das Spezialistentum hinauszugehen zu dem, was wir zu erzeugen versuch­ten durch das, was hier Anthroposophie genannt wird. Erreicht wer­den muß, daß nie abreißt der Faden zu einer allgemein menschlichen Betrachtung, zu einer Einsicht in dasjenige, was der Mensch eigent­lich ist; daß man nie im Spezialistentum untergeht, trotzdem man in der Spezialität seinen Mann stellen kann. Das erfordert allerdings ein viel aktiveres Leben, als es heute vielfach beliebt ist.

Ich habe öfter eine außerordentlich mißstimmende Erfahrung ge­macht bei allerlei Gelehrten- und Fachversammlungen. Da kommen Leute zusammen mit dem ausdrücklichen Zweck, ihr Fach zu fördern. Nun ja, das wird ja auch stundeniang, manchmal sehr fleißig, sehr emsig getan. Aber dann habe ich oftmals einen sonderbaren Ausdruck gehört, den Ausdruck «Fachsimpelei». Man wollte nur ja auch die Stunden finden, wo man nicht mehr fachsimpelt, nicht mehr von dem redet, ja, was eigentlich sein Fach ist. Es ist zumeist das dümmste Zeug, was dann geredet wird, das langweiligste Zeug, aber es wird nicht fachgesimpelt; es werden so die Leute ausgefragt, sonst manche Dinge besprochen, vielleicht auch manchmal bessere - aber das wird gar nicht gern gesehen-, kurz, man ist froh, wenn man über die Fach­simpelei hinaus ist. Ja, beweist das nicht, wie wenig man zusammen­geschlossen ist mit demjenigen, was man eigentlich für die Menschheit tut und tun soll, wenn man froh ist, wenn man ihm entschlüpfen kann? Und nun frage ich Sie: Wird jemals eine führende Menschheit, die so schnell wie möglich ihren Fächern zu entschlüpfen versucht, in der Lage sein, einer arbeitsfreudigen handarbeitenden Bevölkerung gegen­überzustehen? Wenn Sie heute selbstgefällig reden über dasjenige, was bei der eigentlich handarbeitenden Bevölkerung als Schäden vor­handen ist, dann fragen Sie ja nicht diese handarbeitende Bevölkerung, sondern fragen Sie das Bürgertum, denn das hat die Schäden erzeugt; da sind sie überall zuerst zu finden. Diejenigen, die in den verödenden Kapitalismus eingespannt sind als Handarbeiter, die können wahr­haftig nicht in eine Ordnung hineinkommen, in der ihnen ihre Arbeit

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Freude macht, wenn darüber die Schicht steht, die immer so schnell wie möglich entschlüpfen will demjenigen, in dem sie freudig drinnen-stehen soll. Das sind die ethischen Nebeneffekte unserer bisherigen Pädagogik. Das ist dasjenige, was vor allen Dingen gesehen werden muß, was vor allen Dingen anders werden muß. Da ist vieles, was in den Denkgewohnheiten der Unterrichtenden und Lehrenden zukünf­tig anders drinnen sein muß, als es bisher drinnen war.

Was wollte ich Ihnen in diesen Ausführungen auseinandersetzen? Nun, ich wollte Ihnen klar machen, wie radikal heute hingewiesen werden muß auf dasjenige, was zu geschehen hat. Wie es durchaus notwendig ist, herauszukommen aus dem Kleinlichen, aus dem furcht­bar Kleinlichen, in das wir unsere Denkinhalte hineingezwängt haben, unser ganzes Empfindungs- und Willensieben hineingezwängt haben. Wie soll denn ein Wille gedeihen - und wir brauchen diesen Willen in der Zukunft -, wenn er im Lichte dieser kleinen, dieser Denk-gewohnheiten kleinsten Kalibers und Empfindungsgewohnheiten kleinsten Kalibers stehen soll?

Was haben wir heute alles nicht, was wir in der Zukunft haben müßten? Wir müssen eine wirkliche Volkspsychologie haben. Wir müssen wissen, was alles im Menschen ist, der heranwächst. Dieses Erkennen haben wir ausgeschaltet. Statt dessen haben wir eine Prü­fungsmethode bekommen, die am Menschen herumexperimentiert, weil sie auf Eigentümlichkeiten nicht intuitiv eingehen kann. Es sollen allerlei Apparate verraten, was der Mensch für Fähigkeiten hat. Und wir getrauen uns heute nicht, auf diese Dinge hinzuweisen. Warum? Weil wir nicht das Interesse aufbringen für diese Dinge. Weil wir durch die Welt mit schlafender Seele gehen. Unsere Seele muß er­wachen. Wir müssen auf die Dinge hinschauen. Dann werden wir sehen, daß vieles, was wir heute als große Fortschritte verehren, Ab­surditäten sind. Dieser arme Pädagoge der Volksschule, er wird ja heute hinausgeschickt wie ein menschliches, zahm gemachtes Kanin­chen, um gar nicht sehen zu können, was eigentlich in der Welt lebt. Und der erzieht die Menschen, die dann so erzogen werden, daß sie an ihren Mitmenschen vorbeigehen und keine Ahnung haben, was in den Seelen dieser Mitmenschen lebt. Jetzt ist es so - ganz abgesehen davon,

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daß viele Kreise des Bürgertums selbstverständlich keinen Willen haben, auf die großen zeitgenössischen Fragen und Impulse einzu­gehen -, daß diejenigen, die einen Willen haben, heute kaum zu brau­chen sind, weil sie absolut nichts wissen von alledem, was notwendig ist; weil sie die Zeit vollständig verschlafen haben, in der das Proleta­riat, ich möchte sagen, Tag für Tag durch Jahrzehnte schon sich poli­tisch geschult hat. Und heute noch erlebt man es - ich muß es schon sagen - in den seltensten Fällen, daß Proletarier sich finden, die immer wiederum den Einwand machten, wenn es sich darum handelt, heute über die großen Fragen der Zeit zu sprechen, keine Zeit dazu zu haben, zu beschäftigt zu sein; sie suchen sich die Zeit. Klopft man irgendwo bei bürgerlichen Gruppen an, die haben alle so viel zu tun, daß sie keine Zeit haben, sich mit den zeitgenössischen Fragen zu be­schäftigen; sie haben alle so viel zu tun. Aber daran liegt es nicht. Sie haben nämlich gar nicht einmal eine Ahnung, womit sie sich be­schäftigen sollen. Sie können gar nicht irgendwo anfassen, weil sie durch nichts dazu erzogen worden sind.

Das ist wiederum keine pessimistische Betrachtungsweise; das soll auch keine Philippika sein, sondern das ist einfach das Konstatieren einer Tatsache. So haben wir es denn erlebt, daß da, wo das Leben selbst die Menschen gezwungen hat, sich zu schulen, sie sich geschult haben. Wo die Leute sich hätten schulen können aus ihren Impulsen heraus, da ist es unterlassen worden, da ist es vollständig unterblieben. Deshalb stehen wir heute in der Misere drinnen, und deshalb hören wir über alles, was heute versucht wird, nicht allein das Reden aus bösem Willen, der ja schon reichlich auch vorhanden ist, sondern all das unverständige Zeug, das bloß aus der Unkenntnis des Lebens her­stammt: weil keine Schule jemals dafür gesorgt hat, daß das Lernen gelernt wird. Einzelne Kenntnisse sind wohl immer durch die Wände der Bequemlichkeit gesickert und den Menschen beigebracht worden, aber es ist nicht erfolgt aus der Art, wie an den Menschen herangekom­men wird, daß der Mensch mit offenen Sinnen den Erscheinungen des Lebens gegenübersteht.

Viel, viel könnte heute schon durch die traurigen Tatsachen auch auf den Seiten eingesehen werden, wo man noch immer in der alten

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Weise fortredet, und wo es einem so vorkommt, als wenn das Uhr­werk des Gehirns einmal aufgezogen wäre und absurren müßte. Äußere Versammlungen verlaufen heute noch immer so, wie sie vor dieser Kriegskatastrophe verlaufen sind. Die Menschen haben in großer An­zahl von diesen furchtbaren Ereignissen wenig gelernt, weil sie eben nicht verstanden haben zu lernen. Nun werden sie durch die Not ler­nen müssen, was sie durch die Schrecken nicht gelernt haben. Ich habe Ihnen hier vor Zeiten angeführt einen Ausspruch eines ganz beschei­denen und gebildeten Lebensbeobachters, Herman Grimms, der auch in meiner Schrift «Die Kernpunkte der sozialen Frage» steht. Der Mann hat schon in den neunziger Jahren gesagt: Wenn man das Leben um uns herum heute anschaut daraufhin, wohin es stürmt, namentlich mit den unaufhörlichen Rüstungen überall, dann ist es so, daß man am liebsten einen Tag des allgemeinen Selbstmordes festsetzen möchte, so trostlos nimmt sich dieses Leben aus. Doch die Leute wollten in Träumereien und Illusionen leben; die, welche sich Praktiker nennen, am meisten. Heute aber ist die Notwendigkeit da, aufzuwachen. Und wer nicht aufwacht, wird nicht mittun können an dem, was heute not­wendig ist, notwendig für jeden einzelnen Menschen. Mancher weiß noch gar nicht einmal, wo er die Hand an den Hebel ansetzen soll.

Das wollte ich Ihnen sagen, gewissermaßen als eine Art von Aus­einandersetzung, wie man sie geben sollte heute gerade auf Lehrer-tagungen; gerade vor solchen Leuten sollte man sie entwickeln, welche die Jugend zu bilden haben. Denn die sollten hinschauen auf das­jenige, was geschehen muß. Wenn wir diese Betrachtungen fortsetzen werden, werden wir wiederum näher auf speziell pädagogische, volks-pädagogische Dinge eingehen.

SECHSTER VORTRAG Stuttgart, 1.Juni 1919

#G192-1964-SE127 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

SECHSTER VORTRAG

Stuttgart, 1.Juni 1919

#TX

Heute kommt außerordentlich viel darauf an, daß die tieferen Zu­sammenhänge innerhalb der Gesellschaftsordnung der Menschheit wirklich gesehen werden. Die Zeiten haben es mit sich gebracht, daß in vieler Beziehung die Menschen sich zufrieden gaben mit dem, was ich nennen möchte Oberflächenanschauung, Anschauungen, die an der Oberfläche des Daseins gewonnen worden sind und die dann dazu geführt haben, daß man das eine für richtig hält, oder besser gesagt, daß der eine etwas für richtig hält, der andere für falsch, daß aber dann mit diesen Ansichten von Richtig und Falsch nichts anzufangen ist. Es ist mit ihnen nichts anzufangen aus dem Grunde, weil man sich zwar Gedanken bilden kann, die an der Oberfläche liegen, doch kann niemals irgend etwas Vernünftiges geschehen, wenn man solche Ge­danken in die Wirklichkeit umsetzt. Die Wirklichkeit läßt sich Ober­flächenansichten nicht so leicht gefallen, wie die Dinge im menschlichen Kopfe. Da aber liegt ein Krebsschaden der heutigen Zeit. Und ein weiterer Krebsschaden ist der, daß die Menschen nicht wollen jene Selbstbesinnung aufbringen, die ihnen im rechten Moment sagen würde: Diese Dinge sind alle aus unserem persönlichsten Interesse heraus, die dürfen wir nicht etwa im sozialen Sinne auffrisieren; wir dürfen nicht sagen, wenn wir etwas in unserem persönlichen Interesse tun wollen, daß dies ein Zweig sei irgendeiner sozialen Wirksamkeit. In dieser Beziehung erlebt man ja so manches. Es hat sich mancherlei vergrößert heute von dem, was ja seit Jahren vorhanden ist: daß immer wiederum dasjenige, was hier von dieser Stelle aus gewollt wird, um­gesetzt wird in das persönliche Interesse einzelner Kreise, und dann gesagt wird, das sei irgendeine Konsequenz, eine Folge desjenigen, was von hier aus gewollt wird. Ich sage das aus dem Grunde, um auf­merksam zu machen, daß heute der gute Wille vorhanden sein müßte, in die Dinge tiefer hineinzuschauen, über Oberflächenanschauungen hinwegzukommen.

Nirgends mehr als auf pädagogischem Gebiete ist dieses Hinwegkommen

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über Oberflächenanschauungen notwendig, und nirgends mehr fehlt der gute Wille dazu, als gerade auf diesem pädagogischen Gebiet. Denn auf diesem pädagogischen Gebiet ist es notwendig, wenn wirklich sozial gedacht werden soll, ich möchte sagen, bis in die elementarsten Dinge hinein seine Aufmerksamkeit zu wenden. Das haben Sie vielleicht schon gesehen aus den beiden vorigen an Päd­agogisches anknüpfenden Vorträgen; das aber möchte ich insbesondere heute als etwas gewahrt wissen, das durch das ganze Anhören meines Vortrages durchgehen soll.

Was wird heute schon von den untersten Schulstufen ab von Men­schen, von kleinen Kindern, erlebt. Wenn das kleine Kind in die Schule geführt wird, dann ist für dasjenige, was da geschieht, fast alles andere maßgebend, nur nicht die Bedürfnisse, die Impulse des sich ent­wickelnden Menschen. Und mit dem Aufrücken von Schulklasse zu Schulklasse wird das immer schlimmer und schlimmer. Bereits in einem Alter, das solche Dinge nicht im geringsten verträgt, tritt zum Beispiel folgendes ein: Der junge Mensch geht in die Schule zur ersten Schulstunde des Morgens. In dieser ersten Schulstunde ist vielleicht angesetzt aus den Bequemlichkeiten des Lehrerkollegiums heraus, sagen wir, Mathematik, Rechnen. Dann folgt vielleicht Latein, dann folgt vielleicht eine weitere Stunde religiösen Unterrichts. Und dann folgt vielleicht Musik oder Gesang, oder vielleicht nicht einmal das, sondern es folgt vielleicht Geographie darauf. Man kann das mensch­liche Gemüt von Grund auf nicht stärker ruinieren, als wenn man in dieser Weise bei dem jungen Menschen dafür sorgt, daß seine Kon­zentrationskraft auf das allergründlichste zerstört wird. Dasjenige, wo angefangen werden müßte, auf dem Gebiete des Unterrichts zu sozia­lisieren, das ist vor allen Dingen der Stundenplan, diese Mördergrube für alles dasjenige, was wahrhafte Pädagogik ist. Der Stundenplan, der dann seine Fortsetzung findet durch alle Schulstufen, das ist dasjenige, was heute zuallererst bekämpft werden muß.

Notwendig ist, daß gesorgt werde, wenn überhaupt an eine Ge­sundung unseres Unterrichtswesens gedacht wird, daß in der Zukunft der heranwachsende Mensch so lange bei einer Sache bleiben kann, als das konzentrierte Verweilen auf einer Sache durch die Entwickelungszustände

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des Menschen notwendig ist. So daß zum Beispiel, sagen wir, sorgfältig herausgefunden werden müßte: für ein bestimmtes Lebens­alter ist notwendig, dem heranwachsenden Menschen, sagen wir mathematische, physikalische Begriffe beizubringen. Dann müßte dazu nicht der schlechteste Weg gewählt werden, daß eine oder drei oder fünf wöchentliche Schulstunden dafür angesetzt werden, sondern es müßte dieses Sichaneignen eine Epoche werden beim heranwachsen­den Menschen, das heißt, er müßte immerzu, ohne durch anderes fort­während gestört zu werden, eine gewisse Zeit seines Lebens hindurch sich auf eines konzentrieren. Das heißt, man müßte aus wirklicher pädagogisch-psychologischer Anthropologie heraus zum Beispiel sich klar sein darüber, in welchem Lebensalter dem Menschen beizubringen ist irgend etwas Arithmetisches. In diesem Lebensalter müßte die Hauptsache auf Arithmetik gelegt werden; in diesem Lebensalter müßte der ganze Tag dazu verwendet werden, um auf Arithmetik die Hauptaufmerksamkeit zu lenken. Das meine ich natürlich nicht so, daß nun der junge Mensch von morgens bis abends nur Mathematik trei­ben müßte, aber ich meine es so, wie ich genötigt war, es einmal zu machen, als ich ein psychopathisches Kind von elf Jahren zu erziehen bekam. Da versuchte ich, auf ökonomische Weise vorzugehen: da reservierte ich mir von allen Persönlichkeiten, die für die Erziehung des Kindes verantwortlich waren, daß ich selber in der Zeit, wo ich die Seele besonders konzentrieren wollte auf eine bestimmte Sache, nun den ganzen Plan zu entwerfen hatte für das, was sonst mit dem Kinde getrieben wurde: also soundsoviel durfte Klavier gespielt, so­undsoviel durfte gesungen werden und so weiter. Es handelt sich nicht darum, nun etwa wiederum die Seele zu erfüllen mit irgend­einem Lehrstoff, sondern darum, die ganze Entwickelung so einzu­richten, daß die Seele von selbst sich in einer bestimmten Lebens-epoche auf eines konzentrieren kann, und daß man, bevor man zu etwas anderem übergeht, es wirklich dahin bringt, daß ein gewisser Abschluß erreicht ist in einem einzelnen Zweige der Menschen-bildung. Sagen wir also: Es ist nachzudenken darüber, wieviel man in einer bestimmten Lebensepoche von Arithmetik einem Menschen beizubringen hat, dann muß diese Lebensepoche damit abschließen,

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daß das junge sich entwickelnde Kind das Gefühl haben kann: Jetzt habe ich in dieser Sache etwas erreicht. - Dann darf erst zu einem an­deren sogenannten Gegenstand übergegangen werden.

Sie sehen also: Dasjenige, was jetzt die Grundlage unseres Unter­richtens bis in die höchsten Hochschulstufen ausmacht, das trägt zu­gleich die aliergründlichsten Schäden unseres Unterrichtswesens an sich. Es kann kaum etwas Widersinnigeres geben, als wenn der Hoch-schüler zur Hochschule geht, so wie ich es zum Beispiel in meiner Zeit erfahren habe, und etwa hört:

Von 7-8 Uhr morgens praktische Philosophie,

von 8-9 Uhr morgens Geschichtswissenschaft,

von 9-10 Uhr morgens Literaturgeschichte,

von 10-11 Uhr morgens Staatsrecht und so weiter.

Nun liegt alledem nicht die Absicht zugrunde, die aber zugrunde liegen müßte: keinen Kuddelmuddel anzurichten in dem sich ent­wickelnden Menschen, sondern es liegt lediglich die Absicht zu­grunde, allen Bequemlichkeiten der äußeren Schuleinrichtung zu dienen. Das ist ganz vorurteilslos anzuschauen.

Da liegt heute eine eminenteste Aufgabe vor. Das ist eine Aufgabe, von der man aber kaum glauben kann, daß in weitesten Kreisen nach den heutigen Denkgewohnheiten eine Neigung besteht, sich ernsthaft damit zu befassen. Das ist es auch, was man meint, wenn man immer wiederum sagt: Heute ist die Zeit nicht der kleinen, sondern der großen Abrechnungen. Die Leute glauben vielfach, es werde der Zeit der großen Abrechnungen gedient, wenn man große Worte spricht. Ihr wird aber nur gedient, wenn man sich mit innerem Mut heranmacht an große Wandlungen, und wenn man nicht den Mut verliert, entgegenzutreten allem, was sich solchen großen Wandlungen entgegenstellt.

Ein anderes ist dasjenige, was heute für fast unerläßlich gehalten wird in den weitesten Kreisen, was insbesondere eine große Bedeutung für die unteren Schulstufen hat: das ist die sogenannte staatliche Schul­aufsicht. Es kann nichts Ruinöseres geben für eine wirklich sach­gemäße Entwickelung des Geisteslebens als eine solche amtliche oder

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halbamtliche Schulaufsicht. Dasjenige, was Bedürfnis des Geistes­lebens im Schulwesen ist - und derjenige, der in die Dinge innerlich hineinschaut, der könnte das wissen -, was zu einer wirklich gedeih­lichen Fortentwickelung notwendig ist, das erfordert eine Rücksicht­nahme auf alle einzelnen Augenblicke, die sich ergeben aus dem leben­digen Unterricht selber. Das kann und darf niemals beurteilt werden durch irgendeine außenstehende Schulaufsicht. Einem Menschen, dem man einmal in der Selbstverwaltung des Geisteslebens durch alle die Vorsichten, die dazu notwendig sind, das Vertrauen geschenkt hat, daß er auf irgendeiner Stelle Menschen erzieht oder unterrichtet, dem darf, solange er auf seinem Posten steht, niemand in seine Methodik oder dergleichen hineinreden. Das ist etwas, was viele Leute heute noch nicht verstehen; aber mit diesem Nichtverstehen verstehen sie zugleich nicht eine der Grundbedingungen alles wirklich heran-reifenden Geisteslebens. Sie sehen daraus, in welch radikaler Weise Hand angelegt werden muß an all dasjenige, was heute die Leute als etwas Selbstverständliches hinnehmen, ja, dessen Erstarkung sie sogar noch fordern. Denn es gibt doch kaum irgendein, sagen wir, auch nur soziales Programm, das aus Parteidenken hervorgeht und nicht irgend­welche Punkte über amtliche oder halbamtliche Schulaufsicht hat. Da­mit ist nicht irgend jemand ein Vorwurf gemacht, auch nicht einer Partei ein Vorwurf gemacht, sondern einfach hingewiesen auf das­jenige, was sich ergeben hat gerade aus dem verkehrten Geistesleben, das allmählich heraufgekommen ist.

Man kann ja diese Verkehrtheiten des Geisteslebens besonders stu­dieren, wenn man an die hohen Schulstufen herangeht. Wie hat sich denn eigentlich unser Hochschulwesen entwickelt? Das konnte man sogar noch in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts gut beobachten. Schließlich sind all diejenigen Menschen, die gerade inner­halb des deutschen Geisteslebens es irgendwie gebracht haben zu dem, was eine gewisse Weltbedeutung hat, noch herangewachsen, als das neuere System nicht zerstört hatte die Grundlage einer wirklich gei­stigen Entwickelung. Goethe hat schon genügend geschimpft über die Hindernisse, die ihm während seiner Schulausbildung gelegt worden sind. Man sollte sich erst einmal Rechenschaft darüber ablegen, wie

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anders dasjenige, was in Goethes «Dichtung und Wahrheit» über Professor Ludwig und andere steht, sich ausnehmen würde, wenn Goethe hineingezwängt worden wäre mit achtzehn, neunzehn oder zwanzig Jahren in einen heutigen Hochschulzwang. Diese Dinge müssen heute durchaus angeschaut werden.

Was ist denn eigentlich ausgemerzt worden, nach und nach aus­gemerzt worden? Sehen Sie, als das Gymnasium, das heute ja ein Schreckgespenst ist gegenüber den Forderungen der Zeit, die einzige Vorbereitungsstätte für das höhere Bildungswesen war, als es noch den Typus des alten Klostergymnasiums hatte, das natürlich für seine Zeit gar nicht so schlecht war, da hatte es noch einen letzten Rest von dem, was man etwa so charakterisieren könnte: Der Mensch nimmt etwas in sich auf, was ihn auf den Standpunkt einer allgemeinen Welt­anschauung bringt. Es figurierte im Studienplan der Gymnasien die sogenannte philosophische Propädeutik. Sie wurde allerdings nur in den beiden letzten Jahrgängen gepflegt. Es wurde zumeist zwar das gemacht, daß, was in den zweiten Jahrgang gehörte, in den ersten ge­nommen wurde, und was in den ersten gehörte, in den zweiten ge­nommen wurde. Nun aber, es war wenigstens etwas da: es war ein stehengebliebener Rest von dem, wofür in den älteren Hochschulen gesorgt wurde, daß die ersten Jahre, die der Mensch an der Hoch­schule zubringt, jedem die Möglichkeit gaben, etwas von allgemeiner Weltanschauung in sich aufzunehmen, etwas von dem in sich auf­zunehmen, was ihm überhaupt erst die Berechtigung geben kann, sich in ein besonderes Berufsstudium hineinzubegeben. Denn niemand kann in Wirklichkeit in einem besonderen Berufs studium etwas taugen, der nicht durch einen propädeutischen, einen vorbereitenden Unter­richt die Möglichkeit gewonnen hat, über allgemein menschliche An­gelegenheiten sich ein verständig empfindendes Urteil zu bilden. Man hält es heute für überflüssig, dem Menschen in einer wahren Gestalt etwas logische, etwas psychologische Begriffe beizubringen. Niemand kann vorteilhaft überhaupt irgendeinen Zweig des höheren Geistes­lebens studieren, der nicht den Durchgang durch solche logischen und psychologischen Vorstellungen genommen hat, der sich nicht dadurch gewissermaßen erst die innere Berechtigung dazu erworben hat. All

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diese Dinge hat das neuere Kulturgeistesleben absolut ausgemerzt. Dieses will gar nicht mehr auf den Menschen überhaupt sehen; dieses neuere Kulturgeistesleben will aus dem Geistesleben ganz fremden Impulsen heraus dieses Geistesleben dressieren.

Das hat aber dazu geführt, daß, was in unserem allgemeinen Geistes-betrieb drinnen steckt, eben gar nicht mehr irgendwie das Gepräge einer einheitlichen Kultur trägt. Es hat uns zersplittert, und es hat bis jetzt nicht bewältigen können, was wir bewältigen werden müssen. Wer Erfahrung hat in diesem Gebiet, der weiß, in wie unzähligen Lob-reden gepriesen worden ist das sogenannte Spezialistentum der neueren Zeit. Man hat betont, unser Kulturleben habe eine solche Ausbreitung erfahren, daß der Mensch fruchtbar nur einen einzelnen speziellen Zweig beherrschen kann. Man hat damit auf etwas hingewiesen, was von der einen Seite her, ich möchte sagen, selbstverständlich ist. Aber man hat sich aus innerer Bequemlichkeit zugleich dieser Selbstver­ständlichkeit mit wahrer Wollust hingegeben. Denn man braucht ja jetzt nichts anderes, als sich einzukapseln in irgendeine Spezialität, und gerade durch das Einkapseln in irgendeine Spezialität wurde man ein für die heutige Zeit besonders berechtigter Kulturmensch. Natürlich kann derjenige, dem die Kultur am Herzen liegt, nicht hoffen, und er kann es auch nicht wollen, daß das Spezialistentum sich umwandeln soll in einen allbeherrschenden Dilettantismus; aber was angestrebt werden muß, ist, daß die ganze Erziehung, das ganze Schulwesen für den Menschen so eingerichtet werde, daß er, ich möchte sagen, in einer unteren Schichte seines Bewußtseins immer die Möglichkeit hat, von seiner Spezialität aus verständnisvolle Fäden zu ziehen zur ge­samten Kultur. Das kann nicht anders geschehen, als wenn man jeder Hochschule einen Unterbau gibt von allgemeiner Menschenbildung. Diejenigen, die heute zu den Zöpfen gehören, die werden einwenden:

Ja, was tun wir denn dann mit der Fachbildung? - Man sollte nur wirk­lich einmal prüfen, wie ökonomisch man dann, wenn die Spezialitäten beginnen, mit der Fachbildung vorgehen könnte, wenn man auf all­gemein gebildete Menschen wirken kann, auf Menschen wirken kann, die wirklich etwas Menschliches in sich haben. Heute sind wir ja nun durch unsere perversen Kulturverhäitnisse leider so weit, daß man in

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seiner Spezialität der höchstentwickelte Mensch sein kann und blitz-dumm sein kann in bezug auf alle großen Menschheitsfragen, nichts verstehen kann von diesen. Wir haben heute einmal die sonderbare Erscheinung vor uns, daß derjenige, der nur eine Volksschule, oder vielleicht diese nicht einmal ordentlich durchgemacht hat, aber durch das Leben gezerrt worden ist, über allgemein menschliche Verhält­nisse Besseres zu sagen hat, als derjenige, der durch Hochschulbildung durchgegangen ist und ein exzellenter Mensch auf seinem Gebiet ge­worden ist.

Gegen diese Erscheinung hat man heute zu kämpfen, wenn man überhaupt nur daran denkt, in die Tiefe hinein diejenigen Impulse zu senden, die allein zu einer Besserung führen können, die nicht bloß dahin führen, an der Oberfläche allein Maßnahmen zu treffen, wie es die Leute wollen; die nicht dahin gehen, wohin zu gehen die Wirklich­keit fordert, wenn tatsächlich etwas geschehen soll. Natürlich haben wir heute das Übel schon so weit getrieben, daß wir ja für den Unter-bau der Hochschule gar nicht mehr die geeigneten Persönlichkeiten haben, daß wir in der furchtbaren Lage sind, überhaupt keine Lehrer mehr zu haben für eine allgemeine Menschenbildung. Denn wir haben es ja dazu gebracht, daß gerade unsere Hochschulen verschlafen haben, ich möchte sagen, die alleräußersten Ranken der Kultur. Man kann es erleben, daß an unseren Hochschulen irgendeine Wissenschaft in der Stunde, in der sie angesetzt ist, aus dem Kollegienheft von irgend­einem Professor vorgelesen wird, daß der Student sich die Sache an­hört, daß er sich dann irgendwelche Nachschriften kauft, um sich schriftlich für das Examen einzudressieren. Es ist das sogar ein ziem­lich gewöhnlicher Vorgang. Was heißt das aber in Wirklichkeit? Das heißt in Wirklichkeit: der junge Mann hat völlig versessen die Zeit, die er da zugehört hat; denn dasjenige, was wirklich geschehen ist, das ist ja nur das, daß er die Nachschriften sich eindressiert hat. Wenn er bloß das gemacht hätte, so hätte er wirklich alles das getan, was eine Wirklichkeit in der Sache ist. Das heißt: daß der Professor sich herauf-stellt aufs Podium, sein Kollegheft abliest, ist eine völlig unnötige Sache, ist absolut überflüssig.

Nun wird leicht gesagt werden können: Da haben wir also einen

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solchen Botokuden vor uns, der die Abschaffung der Kollegien ver­langt! Nein, das ist nicht der Fall. Ich verlange ganz gewiß nicht die Abschaffiing der Kollegien, ich mache nur darauf aufmerksam, daß die Kollegien heute gelesen werden mit Nichtberücksichtigung der kulturgeschichtlichen Tatsache, daß einmal die Buchdruckerkunst er­funden worden ist, daß dasjenige, was man bloß vorliest, wirklich besser in den Hirnkasten hineindringt, wenn es in einem ordentlich geschriebenen Buch gelesen wird. Aber ich mache auch darauf auf­merksam, daß das beste, was man durch ein gut geschriebenes Buch bekommen kann, kaum ein Zehntel von dem sein kann, was wirklich aus der unmittelbaren Persönlichkeit des Unterrichtenden so hervor­geht, daß eine seelische Verbindung entsteht zwischen dem Unter­richtenden und demjenigen, der unterrichtet wird. Das kann aber nur in einem auf sich selbst gestellten, sich selbst verwaltenden Geistes­leben geschehen, wo die Individualität sich voll entfalten kann, wo nicht Traditionen, wie es bei den Universitäten oder anderen Hoch­schulen ist, jahrhundertelang herrschen, sondern wo der Einzelne die Möglichkeit hat, bis ins einzelnste hinein er selbst zu sein. Dann wird gerade von dem mündlichen Unterricht das ausgehen, wovon man sagen kann: Wir haben abgestoßen alles das, was auch durch die Buch­druckerkunst in die Menschheit kommen will, durch die Illustrations­kunst und so weiter. Aber wir haben gerade dadurch, daß wir das ab­gestoßen haben, die Möglichkeit bekommen, ganz neue Lehrfählg­keiten zu entwickeln, die heute noch in der Menschheit schlafen. Diese Dinge gehören auch, und sie gehören sogar in allererster Linie zu den sozialen Fragen der Gegenwart. Denn erst, wenn man Herz und Sinn haben wird für diese Dinge, wird man auch eindringen können in das­jenige, was sonst vonnöten ist heute.

Sehen wir uns einmal an, was aus der verkehrten höheren Bildung für die allgemeine soziale Lage herauskommt. Ich habe gestern sogar im öffentlichen Vortrag darauf aufmerksam machen müssen, daß wir im Grunde genommen gar keine Spiegelung der wirklichen sozialen Zustände, weder in der Nationalökonomie des Bürgertums noch in der Nationalökonomie des Proletariertums haben, weil wir einfach nicht die Kraft hatten, zu einer wirklichen sozialen Wissenschaft zu

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kommen. Was ist unter dem Bürgertum statt der sozialen Wissenschaft entstanden? Etwas, auf das man sehr stolz ist, das man nicht müde wird, immer wieder und wieder zu preisen: das ist die moderne Sozio­logie. Nun, diese moderne Soziologie ist das unsinnigste Kultur­produkt, das überhaupt hat entstehen können. Denn diese Soziologie sündigt wider alle elementarsten Notwendigkeiten, die eine soziale Wissenschaft haben müßte. Diese Soziologie sucht ihre Größe darin, daß sie absieht von allem, was zum sozialen Wollen, zum sozialen Im­puls führen könnte, daß sie bloß historisch und statistisch verzeichnet die sogenannten soziologischen Tatsachen, damit sie den Beweis scheinbar liefert, daß der Mensch eine Art soziales Tier ist, daß der Mensch in der Gesellschaft drinnen lebt. Diesen Beweis, den hat sie, allerdings unbewußt, recht stark geliefert, diese Soziologie; sie hat ihn dadurch geliefert, daß sie nichts anderes zutage förderte, als die platte­sten soziologischen Urteile, das heißt diejenigen, welche allgemein, welche Gemeingut sind, Trivialitäten. Nirgends aber ist der Wille vor­handen, die Erkenntnisse der Gesellschaftsgesetze so zu finden, wie sie einlaufen müssen in das menschliche soziale Wollen. Damit ist aber auf diesem Gebiet die Kraft des Geisteslebens überhaupt gelähmt. Wir haben in allen nicht proletarischen Schichten heute, das muß ruhig zugestanden werden, überhaupt kein soziales Wollen. Das soziale Wollen fehlt vollständig, weil gerade da, wo es hätte gepflegt werden sollen, im Hochschulunterricht, Soziologie an die Stelle von Sozial­wissenschaft getreten ist; ohnmächtige Soziologie an die Stelle von den Willen durchpulsender, den Menschen anregender Sozialwissen­schaft.

Bis in die Tiefen des Kulturlebens hinein gehen diese Dinge. Da müssen sie aufgesucht werden, sonst kommt man ihnen überhaupt nie­mals bei. Man denke sich nur einmal, wie anders die Menschen im Leben drinnen stehen würden, wenn erfüllt würde, was in einer vori-gen Betrachtung hier ausgesprochen worden ist. Statt daß die Men­schen den Blick abgewendet bekommen zu urältesten Kulturepochen, die unter ganz anderen Gesellschaftsverhältnissen ihre Struktur emp­fangen haben, müßte gerade in dem Lebensalter, wo die Empfindungs-seele fein vibrierend zum Dasein kommt, vom vierzehnten, fünfzehnten

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Jahre aufwärts, der Mensch unmittelbar eingeführt werden in das aller-, allernächstliegende gegenwärtige Leben. Er müßte kennen­lernen, was auf dem Acker vor sich geht, er müßte kennenlernen, was im Gewerbe vor sich geht, er müßte die verschiedenen Handelsverbin­dungen kennenlernen. Das alles müßte der Mensch aufnehmen. Und man denke sich, wie er dann ganz anders ins Leben hinaustreten würde, wie er ein selbständiger Mensch wäre, und wie er nicht sich aufdrängen lassen würde dasjenige, was heute oftmals gerade als die höchste Er­rungenschaft der Kultur gepriesen wird, was aber nichts anderes ist als die wüsteste Dekadenzerscheinung.

Nur auf dem Boden eines sich selbst verwaltenden Geisteslebens kann zum Beispiel auch wirkliche Kunst gedeihen. Und wirkliche Kunst ist Volkssache; wirkliche Kunst ist im eminentesten Sinne etwas Soziales. Derjenige, der den griechischen, den romanischen, den goti­schen Baustil studiert in dem Sinne, wie das heute oftmals geschieht, der weiß über das, was in Betracht kommt, im Grunde genommen noch recht wenig. Erst derjenige kennt, was im griechischen, im ro­manischen, im gotischen Baustil liegt, welcher weiß, wie die ganze soziale Struktur der Zeit, als diese Stile herrschten, in Formen, in Linienführung, in Abbildlichkeit innerhalb dieser Stile zu sehen war, wie die Kunst fortschwang in den menschlichen Seelen. Was der Mensch im Alltag tat, bis in die Fingerbewegung hinein, war ein Fort-schwingen desjenigen, was er sah, wenn er diese Dinge betrachtete, die ihm die Möglichkeit boten, die wirklich reale Wesenheit, sagen wir, eines Baustiles in sich aufzunehmen. Man bedarf heute der Ein­setzung der Ehe zwischen Kunst und Leben, die aber nur auf dem Boden eines freien Geisteslebens gedeihen kann. Oh, welcher Jammer, meine lieben Freunde, daß unsere Kinder in Schulstuben geführt wer­den, die wahrhaftig barbarische Umgebungen für die jungen Gemüter sind! Man denke sich jede Schulstube - nicht in der dekorativen Weise künstlerisch ausgestaltet, wie man sich das heute oftmals denkt, aber man denke sie sich von einem Künstler so ausgestaltet, daß dieser Künstler die einzelnen Formen in Einklang gebracht hat mit dem, worauf das Auge fallen soll, während es das Einmaleins lernt.

Die Gedanken, die sozial wirken sollen, können nicht sozial wirken,

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wenn nicht, während diese Gedanken sich formen, in einer Neben­strömung des geistigen Lebens in die Seele dasjenige einzieht, was aus einer wirklich lebensgemäßen Umgebung herkommt. Dazu aber be­darf es auch, sagen wir, für das Künstlertum eines ganz anderen Le­bensganges, als ihm heute gegönnt ist während des Heranwachsens. Es wird ja heute gerade derjenige, der den künstlerischen Trieb in sich fühlt, gar nicht die Möglichkeit haben, dem Leben nahezukommen. Fühlt er in sich, sagen wir, den Trieb, Maler zu werden, dann drängt ihn das Leben dazu, möglichst früh irgendwelche Schinken anzustrel­chen, denn er meint, es käme darauf an, irgend etwas zu schaffen, was innere Befriedigung gibt. Selbstverständlich kommt es darauf an; aber es handelt sich darum, ob zuerst der Impuls für diese innere Be­friedigung den Weg hinaus ins Leben gefunden hat, so daß man die größte innere Befriedigung dann empfindet, wenn man das Leben zu­erst frägt: was ist zu schaffen? und wenn man auch immer die Ver­pflichtung, die gewissenhafte Verpflichtung fühlt, daß man dem Leben nichts entnimmt, was man ihm nicht wieder zurückgibt. Dadurch daß heute, sagen wir, die Maler Landschaften liefern für diejenigen Leute, die doch nicht viel verstehen davon, dadurch wird nicht Kunst ge­fördert, sondern Kunst in den Abgrund hineingeworfen. Wir haben so eine unnötige Luxuskunst neben einer barbarischen Gestaltung un­serer Lebensumgebung. Denken wir uns nur einmal, daß der Zustand eintritt, den herbeizuführen bestrebt ist mein Buch über die soziale Frage, wo aus dem einfachen Grunde, daß jedes Produktionsmittel nur so lange etwas kosten kann, bis es fertig ist, es nach Fertigstellung frei in den Gesellschaftsbau übergeht. Denken wir uns, wie da wegfallen würde jedes individuelle egoistische Interesse, wie ganz von selbst, instinktiv, intuitiv auf keimen würde in jedem, der schafft, die Ten­denz, für die ganze Menschheit zu schaffen, und wie er suchen würde diese Möglichkeit, für die ganze Menschheit zu schaffen, statt dessen, was heute bei vielen vorliegt, daß sie für die Kapitalisten schaffen, nach deren Unbedürfnis sen. Das ist ja vor allen Dingen die Aufgabe:

so zu sozialisieren, daß unter der Sozialisierung nicht alles Geistesleben unter die Räder kommt.

In diesem Punkte haben ja unsere leitenden, führenden Kreise überhaupt

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noch nicht einmal den alierersten Impuls, auf das Richtige zu sehen. Diese Kreise skandalisieren sich heute über Spartakisten, Bol­schewisten und so weiter. Ja, die Spartakisten, die Bolschewisten haben sich nicht selber gemacht. Wer hat sie gemacht? Unsere leiten­den, führenden Kreise! Denn die haben keinen Impuls in sich gefühlt, eine wirkliche Volkskultur zu begründen. Es gäbe keinen Bolschewis­mus und keinen Spartakismus, wenn die leitenden, führenden Kreise ihre Pflicht getan hätten. Abgesehen davon, daß auch Spartakismus und Bolschewismus nicht so sind, wie die Leute in den führenden Kreisen heute sie sich ausmalen, um Schauerstückchen vor die Welt hinzustellen und ihre Kanonen zu rechtfertigen. Das nur nebenbei.

Heute wäre insbesondere in den leitenden, führenden Kreisen not­wendig ein klares und ungefärbtes In-sich-Einkehren. Dazu ist wenig, wenig Neigung vorhanden.

Sehen Sie, das Zeug zu einer Besserung der Seele, das hat wahrhaftig die Menschheitsentwickelung noch nicht aus dieser Seele herausge­rissen, das wäre noch immer da; das wäre selbst, und sogar in beson­derem Maße, im deutschen Volke da. Aber dieses deutsche Volk, das hat seit langer, langer Zeit stets abgesehen davon, die Keimkräfte der eigenen Gedanken, der eigenen Empfindungen, der eigenen Impulse in sich zu entwickeln. Und in die unterste Schulstufe sind die Impulse eingeimpft worden, die den so großartig angelegten deutschen Men­schen zu einer Obrigkeitsmaschine machen; zu einer Maschine, die blind der Obrigkeit folgt. Es ist ein Zusammenhang zwischen all dem, was heute so furchtbar uns vor Augen tritt, und dieser falschen Er­ziehung, dieser Erziehung, die den Menschen nicht frei und selbstän­dig macht, weil sie selbst nicht frei und selbständig ist. Diese Erzie­hung, die sich um so wohler fühlt, je mehr sie in den Staat eingeschnürt sein kann, damit sie sich dann weiter wohl fühlen kann, wenn in un­zähligen Versammlungen der Beschluß gefaßt werden kann: Wir ste­hen voll Vertrauen zu der Regierung, die in Versailles jetzt das Nötige dazu beiträgt, uns den Kragen abzuschneiden. In unzähligen Versamm­lungen werden die Beschlüsse gefaßt: Wir stehen fest hinter dieser Re­gierung. Während in Wahrheit in dieser Regierung kaum ein Mensch sitzt, der hineingehört, während die ersten Anforderungen wären,

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offen und frei zu gestehen: Alles dasjenige, was da geschieht, ist nur die Fortsetzung jenes Unheils, das sich in deutschen Gauen vollzogen hat im Unglücksjahr 1914. In diese Dinge hinein ergießen sich die Fehler unseres Erziehungswesens. Und diese Fehler unseres Erzie­hungswesens, sie haben dem Menschen alle Möglichkeit benommen, Augenmaß zu haben für die Ereignisse des Lebens.

Wie ich Ihnen heute geschildert habe, daß auf der einen Seite ver­nünftiges Schulwesen, das auf Konzentration sieht, nicht auf den ver­ruchten Stundenplan, hineinbringen würde in den Menschen selb­ständige Verstandeskraft und Vernünftigkeit, so würde wahres Durch­dringen unserer Gesellschaft schon von der Erziehung aus mit sozialer Kunst eine richtige Willenskultur zustande bringen. Denn niemand kann wollen, der nicht den Willen anerzogen hat durch echte künst­lerische Erziehung. Dieses Geheimnis vom Zusammenhang der Kunst mit dem Leben und namentlich mit dem Willenselement des Menschen, dieses zu erkennen, das ist eine der allerersten Anforderungen künfti­ger psychologischer Pädagogik, und alle zukünftige Pädagogik muß psychologisch sein. Die Erbauer dieser Psychologie werden sogar kaum, so wie die Dinge jetzt stehen, wo alle Psychologie den Leuten ausgetrieben ist, andere Menschen sein können als die Künstler, die noch ein wenig Psychologie in ihren Adern haben, während Psycho­logie sonst aus unserer Bildung verschwunden ist. In der wissenschaft­lichen Bildung ist auch nicht ein Atömchen davon mehr vorhanden. Eine solche Hineinstellung ins Leben, die wäre möglich, wenn wirk­lich einer für alle und alle für einen arbeiten würden, weil dann die Pro­duktionskräfte so angewendet würden, daß die Zeit vorhanden wäre zu solcher Erziehung. Denn viel Humbug, der heute geredet wird, brauchte gar nicht geredet zu werden, wenn man ernst und offen reden wollte, wenn erfüllt würde, was dem Geistesleben auch nur nützen könnte, daß ineinander arbeitet Handarbeit und Geistesarbeit, was in der Zukunft doch angestrebt werden müßte. Dann würde auf der gan­zen Erde, wenn jeder - nun, der Jeder wird es nicht sein können, aber eine gewisse Annäherung an das Ideal kann stattfinden - seinen Teil Handarbeit verrichten würde, kein Mensch mehr als höchstens drei bis vier Stunden am Tage handzuarbeiten brauchen. Eine wenigstens

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approxirnative Rechnung ergibt dieses. Was über drei bis vier Stunden hinaus handgearbeitet wird, das bewirken nicht die in der Mensch­heitsentwickelung liegenden Notwendigkeiten, das bewirken - das kann man ohne Emotion, ohne alle Aufregung heute sagen als voll­ständig objektive Tatsache -, das bewirken die unzählig unter uns wandelnden Faulenzer und Rentengenießer. Aber diesen Dingen muß eben ganz notwendig ehrlich und aufrichtig ins Auge geschaut wer­den. Denn die Korrektur dieser Verhältnisse hängt nicht allein davon ab, daß im kleinen da oder dort etwas geändert wird, sondern sie hängt davon ab, daß wir unsere Erziehung, unsere Volkspädagogik so ein­richten, daß die Menschen durch die Erziehung, durch das Schul­wesen, Augenmaß für das Leben bekommen.

Heute liegt die Sache so, daß unser Erziehungswesen Menschen-pflanzen an die Oberfläche treibt, die nicht das geringste Augenmaß haben für die Dinge, die um uns herum vorgehen. Daher sind alle die Nachrichten, die zum Beispiel von Versailles kommen, so unsinnig, weil niemand ein Urteil darüber hat, welches Gewicht das eine oder das andere hat, aus welchen Motiven heraus das eine oder andere Volk urteilt, was bei dem einen oder anderen Volk aus seiner menschlichen Wesensgrundlage eine Notwendigkeit ist. Daher wird man auch nicht verstanden, wenn man über solche Dinge redet. Würde auch nur ein Fünkchen von dem Wesen des dreigliedrigen sozialen Organismus in das menschliche Verständnis einziehen können, so würde man sehen, wie dasjenige, was uns vom Westen droht, die Überflutung alles poli­tischen und Geisteslebens mit dem Wirtschaftsleben ist; wie dasjenige, was vom Osten zu uns dringt, auch aus Rußland heraus, der Aufschrei der Menschheit ist nach Herausrettung des Geisteslebens aus dem Wirtschaftsleben. Zwei Pole stehen sich entgegen, der Westen und der Osten, und wir in der Mitte haben die Aufgabe, auf den Westen hin­zusehen und seine Schäden nicht bei uns aufkommen zu lassen; auf den Osten hinzusehen und dasjenige aus uns selbst zu pflegen, was er uns sonst nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrzehnten auf­erlegen muß, weil der Menschheit das auferlegt werden muß, was sie sich nicht selber auferlegt. Wir haben die Aufgabe, hier in der Mitte Europas dasjenige zu pflegen, was nur aus den drei Gliedern des sozialen

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Organismus heraus gepflegt werden kann. Würde heute eine Über­macht der Kultur des Ostens entstehen, dann würde die Erde über­schwemmt werden mit nebuloser Mystik, die Erde würde über­schwemmt werden mit wirklichkeitsfremder Theosophie. Würde die Übermacht im Westen entstehen, dann würde die Erde überschwemmt werden, tyrannisiert werden durch das bloße materielle Leben. Diese Aufgabe hätten wir: zwei furchtbare Schädigungen der Menschheit abzuhalten durch eine vernünftige Dreigliederung des sozialen Orga­nismus, dadurch, daß wir das Wirtschaftsleben, das Geistesleben ver­selbständigen und dem Staate die Möglichkeit benehmen, diese Dinge so weit zu treiben, bis von Westen und Osten, über uns zusammen-brechend, unser Untergang kommt.

Ein objektiver Blick nach dem Westen hin ergibt das heute vor allen Dingen, wie sehr man aufmerksam sein müßte auf alles dasjenige, was ausgeht von den romanischen Völkern. Denn nichts Gefährlicheres könnte für uns sein, als wenn wir uns Illusionen hingeben würden darüber, daß aus sehr tiefen, tiefen Grundlagen heraus vor allen Din­gen Frankreich an unserem Untergang arbeitet. Wenn wir Frankreich daran verhindern, dann kommen wir über dasjenige, was uns von eng­lischer Seite droht, leicht hinweg. Aber dazu gehört Unterscheidungs­vermögen, ein Augenmaß für die Dinge. Dazu ist vor allen Dingen notwendig die Einsicht, daß, vielleicht mit wenig Ausnahmen, alle diejenigen, die von Deutschland aus - ich weiß nicht, wie man sagen soll, damit man niemand kränkt - heute in Versailles über das Schick­sal Deutschlands verhandeln, nicht weiter als Instrumente verwendet werden für diese Verhandlungen. Das sind Dinge, die eben heute ge­sehen werden müßten ungeschminkt, die heute so gesehen werden müssen, meine lieben Freunde, daß man gar keine Konzessionen auch in seinem inneren Urteil macht. Sieht man das aber heute ein, dann mmmt man durch ein solches Sehen den ersten Impuls auf, den man insbesondere für Volkspädagogik braucht; man sieht, was die bis­herige Volkspädagogik an die Oberfläche getrieben hat an Menschen, die heute Menschenschicksal machen.

Es ist natürlich bequemer, die allertrivialsten Urteile an dasjenige anzugliedern, was hier eigentlich gemeint ist, als ausgehend von den

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Anregungen, die gegeben werden, auf die verschiedenen Menschen­felder zu sehen, damit auf diesen verschiedenen Menschenfeldern das Richtige getroffen werden kann. Als ich vor längerer Zeit in unserem Bau in Dornach gesprochen habe von der Dreigliederung des sozialen Organismus, da verging einige Zeit, und es tauchte nachher auf ein ganz sonderbarer Plan. Als ein groteskes Beispiel, wie die Menschen heute erzogen sind, darf ich vielleicht diesen Plan anführen. Da ist der Bau, an dem Bau beschäftigt einige Menschen, damit verbunden an­dere, die nichts zu tun haben, und die in der Umgebung leben. Über die Dreigliederung des sozialen Organismus wurde gesprochen. Nun entstand in einigen Köpfen, die heute, möchte ich sagen, selbstver­ständliche Idee, man müsse doch irgendwo anfangen. Und man wollte nun irgendwo zu sozialisieren anfangen, indem man in der wüstesten Weise sektiererisch ein kleines Gebiet ins Auge faßt und in diesem kleinen Gebiet die wüstesten Pflanzen der Selbstsucht aufsprießen läßt, und dann sagt, man hat doch irgendwo mit dem Sozialisieren an-gefangen. Also sollte zunächst das, was an Menschentum um den Bau herum gruppiert war, sozialisieren, den dreigliedrigen sozialen Orga­hismus in Szene setzen. Pläne wurden entworfen, wie die Dornacher den dreigliedrigen sozialen Organismus in Szene setzen. Man konnte nichts anderes tun, als den Leuten sagen: Was soll denn das eigentlich heißen? Nehmt einmal an, ihr macht Ernst mit der Sache: Dann käme als erstes die Selbständigkeit des Wirtschaftslebens. Ja, dann müßtet ihr euch natürlich vor allen Dingen Kühe anschaffen und melken und alles dasjenige tun, was scheinbar eine Wirtschaftsoase herbeiführen kann. Und dann könnten, weil mit dieser Wirtschaftsoase nach außen hin in Verbindung stehen müssen andere Menschen, die schönsten Parasiten der Wirtschaft werden, denn jede solche sektiererische Ab­schließung ist nichts anderes als ein Wirtschaftsparasitismus. Man kann in einem geschlossenen Wirtschaftsgebiet drinnen ja nur sozial egoisieren; wenn man etwas ausschließt, so lebt man auf Kosten an­derer. Es ist erst recht der wüsteste Kapitalismus. Und das Rechts-leben: nun, ich möchte sehen, falls ihr ein Gericht einsetzt, wenn einer etwas ausfrißt, und ihm das Urteil sprecht, ich wollte sehen, was dann der schweizerische Staat sagen würde, wenn ihr diese Dreigliederung

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hättet! Und das Geistesleben: seit wrr eine anthroposophische Be­wegung haben, ist gerade für das Geistesleben dasjenige angestrebt worden gegen alle Widerstände, was Unabhängigkeit ist nach allen Seiten hin. Das haben wir getan, solange wir existieren, und ihr seht gar nicht einmal, daß dies gleich in Angriff genommen worden ist. So wenig Verständnis dafür ist da, daß gemeint wird, auch das noch solle eingerichtet werden.

Darauf kommt es nicht an, daß heute irgend jemand sagt: Ja, an irgendeinem Punkte muß man doch anfangen. - Mit diesem Anfangen ist zumeist nur ein wüstes kapitalistisches Individualisieren gemeint, und dieses muß ja damit beginnen, daß man zunächst kapitalistisch eine solche Kolonie begründet. Damit ist man ganz ferne von dem, was mit den wirklich sozialen Gedanken gemeint sein kann. Aber damit soll nicht eine Kritik über den Einzelnen ausgeübt werden; denn ich bin der letzte, der verkennt, welche Schwierigkeiten der Ein­zelne hat, wenn er sich heute hineinversetzen soll in die großen Auf­gaben der Zeit. Aber etwas anderes möchte ich damit an Ihr Herz legen: sich nicht in Illusionen zu wiegen, sondern wenn Sie eben kapi­talistisch individualisieren wollen, so gestehen Sie es sich ein. Sie sind aus den heutigen Verhältnissen heraus genötigt, noch kapitalistisch zu individualisieren zu Ihrer Wohlfahrt. Gestehen Sie sich bitte die Wahr­heit, denn Wahrheit wird dasjenige sein, von dem auch wirklich alles soziale Leben wird ausgehen müssen. Wahrheit sollte nicht einmal in den Sätzen verleugnet werden. Man sollte vor die Menschheit auch nicht einmal in der Formulierung von Sätzen hintreten mit einer Un­wahrheit.

Es geht ja heute durch die Lande der Ruf: Unentgeltlichkeit des Schulwesens. - Ja, was soll denn das überhaupt heißen? Es könnte doch nur der Ruf durch die Lande gehen: Wie sozialisiert man, damit ein jeder die Möglichkeit hat, seinen gerechten Beitrag zum Schulwesen zu schaffen? Unentgeltlichkeit des Schulwesens ist ja nichts weiter als eine soziale Lüge, denn entweder verbirgt man dahinter auf der einen Seite, daß man erst einer kleinen Clique den Mehrwert in die Tasche liefern muß, damit die ihr Schulwesen gründet, durch das sie die Men­schen beherrscht, oder man streut allen Sand in die Augen, damit sie

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nur ja nicht wissen, daß unter den Pfennigen, die sie aus dem Porte­monnaie nehmen, auch diejenigen sein müssen, von denen die Schulen unterhalten werden. In der Formulierung unserer Sätze müssen wir schon so gewissenhaft sein, daß wir nach Wahrheit streben.

Die Aufgabe ist groß, aber die Größe der Aufgabe sollte sich jeder vor Augen halten. Dasjenige, was in der Anthroposophie als Ideal hingestellt worden ist innerhalb einer kleinen Bewegung seit Jahr-zehnten, das, meine lieben Freunde, kann ja natürlich nicht jeder er­füllen: der eine hat Rücksicht zu nehmen auf sein Amt, der andere auf seine Frau, die andere auf ihren Mann, der andere hat Rücksicht zu nehmen auf die Erziehung seiner Kinder. Das müßte rücksichtslos jeder sich gestehen, damit er einen Überblick darüber erhält, wie wenig er dem nachkommt, um was es sich handelt. Denn das anthroposo­phische Idealist ja ein solches, daß es die Einsetzung des ganzen Men­schen notwendig macht. Das können ja heute viele nicht. Aber sie sollen sich nicht die Illusion, den Nebel vormachen, daß sie nun schon genug getan haben, sondern sie sollen sich die Wahrheit über sich selbst gestehen. Aber auf der anderen Seite sollen sie durchdrungen sein davon, daß es heute ums Stehen oder Fallen geht, gerade bei der Pflege eines wirklich kulturgemäßen Geisteslebens. Und niemand kann über dasjenige, was dem Geistesleben und damit dem sozialen Leben notwendig ist, zu richtigen Anschauungen kommen, der es nicht wagt, mutig sich zu gestehen: Der Radikalismus muß bis in die Abänderung des verruchten Stundenplanes, bis in manche Kleinigkeiten hinein gehen; denn aus diesen Kleinigkeiten heraus entwickeln sich jene Schneebälle, welche dann zu Lawinen anwachsen, die heute als die großen Kulturschäden da sind.

Das bitte ich zu bedenken. Davon wollen wir dann ein nächstes Mal weiter sprechen.

SIEBENTER VORTRAG Stuttgart, Pfingstsonntag, 8. Juni 1919

#G192-1964-SE146 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

SIEBENTER VORTRAG

Stuttgart, Pfingstsonntag, 8. Juni 1919

#TX

Heute, in dieser unserer Gegenwart, über Pfingsten so zu sprechen, wie das üblich geworden ist, scheint mir angesichts des Ernstes der Zeit eine unchristliche Handlung, obwohl solche unchristlichen Hand­lungen heute gerade an der Tagesordnung sind. Schließlich, aus dem Geiste des Pfingstfestes heraus gesprochen ist ja gerade alles das, was hier von denjenigen zur Erneuerung unseres Erziehungs- und Schul­wesens vorgebracht wird, die sich ernstlich bekennen zu unserer Bewegung für die Dreigliederung des sozialen Organismus. Denn in der Abgliederung des Geisteslebens, in der Selbständigmachung des Schulwesens, liegt der wichtigste Pfingstgeist unserer Gegenwart, liegt jener Pfingstgeist, der in den übrigen sogenannten religiösen und konfessionellen Strömungen unseres Zeitalters längst geschwunden ist. Hoffen wollen wir ja, daß gerade aus der Emanzipation des Geisteslebens, wie wir sie anstreben, die Erneuerung dieses Geistes­lebens, der die Menschheit so sehr bedarf, hervorgehe. Was heute in unserem Unterrichts- und Erziehungswesen zur Erneuerung des Geistes, zur Ausgießung des wahren Pfingstgeistes der Gegenwart geschehen muß, das kann doch nur derjenige einsehen, der sich ein Urteil darüber bildet, wie der Anti-Pfingstgeist überall hineingeträu­felt ist in das, was uns heute im öffentlichen Leben, im sogenannten geistigen Verkehr der Menschen untereinander begegnet.

Wenn so gesprochen wird, wie es aus anthroposophischen Unter-gründen heraus in dieser Zeit von uns geschehen muß, dann kann man heute sogar - ich sage sogar, und ich unterstreiche das dreimal -, sogar den Vorwurf hören: in diesen Reden komme ja das Wort deutsch und christlich oder Christus fast gar nicht vor.

Wenn wir nicht in uns den Geist zur Zurückweisung eines solchen Geschwätzes finden, haben wir den Nerv anthroposophischer Welt­anschauung noch nicht erkannt. In solchem Geschwätz liegt die Frucht unserer verkehrten Volks- und Menschheitspädagogik; in diesem Geschwätz lebt sich das aus, was an Verkehrtheiten in unsere

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Seelen während der Erziehung hineingeträufelt ist. Daher kommt es darauf an, vor allen Dingen Einsicht zu gewinnen in den Zusammen­hang zwischen dem verkehrten Geschwätz unseres Zeitalters und unserem verkehrten Erziehungs- und Unterrichtswesen. Die Ge­winnung dieser Einsicht ist das, was sich heute zerteilen und in einzel­nen feurigen Zungen über die Häupter der Zeitgenossen nieder­senken sollte.

Es ist in unserer Zeit viel davon die Rede, daß man das Wort nicht achten solle, denn: «Im Anfang war die Tat.» Aber ein Zeitalter, wie das unsrige, wird auch diese Sache nur falsch anwenden, denn in die­sem Zeitalter ist das Wort zur geschwätzigen Phrase und die Tat zur gedankenlosen Brutalität geworden. Ein solches Zeitalter hat es billig, vom Wort abzulenken, weil es in dem Wort, das es kennt, nur fühlen kann die Phrase, und in der Tat, die es kennt, die gedankenlose Brutalität.

Es gibt einen tiefen Zusammenhang zwischen unserer Erziehung und unserem Unterricht, und dieser eben gekennzeichneten Tatsache. Wir tragen zwei Quellen einer verkehrten Menschlichkeit in uns:

wir tragen in uns ein verkehrtes Griechentum und ein verkehrtes Römertum. Wir verstehen nicht, das Griechentum in seiner Zeit und an seinem Ort so zu nehmen, wie es ist. Wir verstehen nicht, wie die hehren Gestalten des Sokrates und Plato alle Mühe hatten, den Grie­chen auszutreiben ihren unwiderstehlichen Hang zur Illusion. Der Grieche war so geartet, daß er fortwährend den Hang empfand, über den Ernst des Lebens hinaus sich zur wesenlosen Illusion zu erheben und in ihr seine Wohlbefriedigung zu suchen. Die griechischen Ge­setzgeber, Sokrates und Plato, haben auf die Realität des Geistes mit aller Schärfe hinweisen müssen, damit die Griechen nicht immer mehr in ihren Volksfehler, in ihren Rassenfehier verfielen: sich durch Illusion wohibehaglich über den Ernst des Lebens hinwegzutäuschen. Und selbst so lange nur haben es die Griechen dem Sokrates verziehen, von dem Lebensernst zu sprechen, als ihnen der «Bummler» Sokrates ungefährlich erschien. Als sie aber vernahmen, was eigentlich in den Worten des bummelnden Sokrates für Lebensernst enthalten ist, da haben sie ihn vergiftet.

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Wir haben, soweit wir Menschen unseres Zeitalters sind, nicht in uns den Geist des sokratischen Ernstes. Wir nehmen lieber jenen Geist des Griechentums auf, der Sokrates vergiftet hat, und schwelgen in diesem Geist des Griechentums. Wir lassen uns selbst gefallen, daß die Perle der Weltliteratur, das Johannes-Evangelium, in seinem Anfange dadurch vergiftet wird, daß an die Stelle dessen, wovon das Alte Testament gesprochen hat: daß, wenn der Mensch es in seine Illu­sionen hereinfallen läßt, Himmel und Erde zusammenstürzen, daß an dieser Stelle das harmlose Wort von uns wörtlich genommen wird. «Im Urbeginne war das Wort», so beginnt das Johannes-Evangelium. Der heutige Mensch ist froh, daß er an dieser Stelle das Wort «Wort», das er phrasenhaft zu nehmen geneigt ist, stehen hat. An dieser Stelle steht aber in Wahrheit etwas, was geeignet ist, alle die Illusionen, die der Mensch in die Phrase hineindrängt, auszutreiben. Himmel und Erde unserer Illusionen stürzen zusammen, wenn man die Wahrheit des Logos, der an dieser Stelle steht und empfunden werden sollte, wirklich ernsthaft vernehmen wollte.

Also unsere Zeitkultur ist darauf ausgegangen, die Schärfe des Lebens sich mystisch behaglich oder brutal tätlich abzuschwächen. Das ist es, worauf wir heute sehen müssen, wozu wir uns aber vor allen Dingen heute wieder bekennen müssen. Heute müssen wir aus unseren Seelen austreiben durch die früheste Erziehung, durch die früheste Schule schon, und bis hinauf zu den höchsten Stufen müssen wir es aus dem Menschen auszutreiben lernen, was Sokrates und Plato austreiben wollten aus dem Griechentum dadurch, daß sie diesem Griechentum sagten: Bewahret euch vor Illusionen! Der Geist hat Realität. In der Idee ist Wirklichkeit, nicht dasjenige, was ihr mit euren illusionären Phrasen in dieser Idee sehen wollt.

Wir kommen nicht weiter, wenn wir ethisch und religiös weiter schwätzen. Denn das Evangelium ist selber Tat im Weltenwerden. Heute ist das Evangelium zum Geschwätz geworden. Daher hat es neben sich die gedankenlose brutale Tat. Wir müssen aber in unsere Seelen aufnehmen können, was uns wirklich durchgeisten kann, wenn wir sprechen. Wir müssen finden den Weg, das Herz mittun zu lassen, wenn die Lippen sich bewegen. Wir müssen finden den Weg, den

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ganzen Menschen in unser Wort hineinuulegen, sonst wird das Wort zum Erzieher zur Illusion, zum Hinwegführer, zum behaglichen Hin­wegführer von dem Ernst der Wirklichkeit. Wir müssen Abschied nehmen von jenem Geist, der uns hineingehen läßt in die Kirche, damit wir in dieser Kirche hinweggehoben werden von dem Ernst des Lebens und uns behaglich eingeträufelt wird die Phrase: Der Herrgott wird es schon machen, er wird euch erlösen von euren Übeln. - Wir müssen die Kräfte in uns aufsuchen, die in unsern Seelen selbst die göttlichen Kräfte sind, denn sie sind vom Weltenwerden in uns gelegt, damit wir sie brauchen und damit wir den Gott in unsere eigene Seele aufnehmen können. Nicht uns vorreden lassen von dem äußeren Gott, damit unsere Seelen in behaglicher Seelenruhe sich hinlegen können auf die philiströsen Sofas, die wir so lieben, wenn es sich um das Geistesleben handelt. Und den Weg muß unsere Erziehung, unser Unterrichtswesen suchen, um hinauszukommen über - wie man das heute schon nennen darf - die griechische Phrase; den Weg muß unsere Erziehung und unser Unterrichtswesen finden, um hinweg-zukommen über die römische Phrase.

Für das Römertum war das, was unsere Zeit noch anbetet als den Geist der Gesetze, recht. Denn wozu war dieser Geist der Gesetze des Römertums? Oh, die Legende von der Gründung Roms hat eine tiefe Bedeutung. Räuberbanden wurden zusammengeholt, um an ihnen die schlimmsten tierisch-menschlichen Instinkte zu bekämpfen. Dazu war das römische Gesetz da, um wilde Tiere zu bändigen. Wir aber sollten uns darauf besinnen, daß wir Menschen geworden sind, und daß wir nicht anbeten sollten jenen Geist der Gesetze, welcher da war aus den berechtigten Trieben des Römertums heraus, wilde tierisch-menschliche Leidenschaften zu bezähmen. Was wir von dem römi­schen Geist zurückbehalten haben als den Geist des Rechtes, wie er noch heute in uns waltet, das trägt überall den Charakter, daß die wilden menschlichen Leidenschaften, die nicht selber in Freiheit wal­ten können, gezähmt werden müssen.

Christlich, sagen die Menschen, dieses Wort lebe nicht in den Vor­trägen, die jetzt gehalten werden. Dabei vergessen die Menschen immer wieder und wieder ein richtiges christliches Wort, das Paulinische

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Wort: Die Sünde ist durch das Gesetz gekommen, nicht das Gesetz durch die Sünde. Wäre das Gesetz nicht da, so wäre die Sünde tot. Das mag für unsere Zeit noch nichts taugen, weil die Menschen unchristlich geworden sind. Aber das ist ein Wort, dessen tiefen Sinn man lernen muß. Das ist das Christliche: daß herausgenommen werde aus dem, worin heute die Menschen den Allerhalter, den Allumfasser sehen, aus dem Staat, der unser Erbe des Römertums ist, daß heraus­genommen werde aus ihm das freie Geistesleben und das Wirtschafts­leben, das sich auf sich selbst stellen muß. Christlichen Geist wollen die Menschen nicht. Daher wollen sie sich trösten lassen darüber, indem das Wort Christ und christlich möglichst oft als Phrase an­gewendet werde. Ebenso wollen heute die Menschen möglichst oft als Phrase das Wort deutsch hören. Deutscher Geist waltet in Goethe wahrhaftig. Neuerer mitteleuropäischer Geist, der undeutsch ist, er hat in seinem erleuchteten Vertreter der Berliner Akademie der Wissenschaften das Wort geprägt, das ich hier auch schon angeführt habe: die Ehre dieser Herren, der heutigen Geistesführer, bestehe darin, daß sie sich fühlen als die «wissenschaftliche Schutztruppe der Hohenzollern». Derselbe Mann, der dieses Wort geprägt hat, hat auch aus der wissenschaftlichen Phrase der gegenwärtigen Zeit heraus die Rede gehalten «Goethe und kein Ende», und er hat mit dieser Rede allen naturwissenschaftlichen Geist Goethes in Grund und Boden treten wollen. Er hat den Geschmack besessen zu sagen: Faust bei Goethe täte besser, die Luftpumpe zu erfinden und Gretchen ehrlich zu machen, als jenes Zeug zu vollführen, das der Faust bei Goethe tut. - Das war der neuzeitliche Geist, der den wirklichen deutschen Geist, der nicht immer das Wort deutsch eitel auf den Lippen trägt, mit Füßen getreten hat, gerade so, wie es christlich-neuzeitlicher Geist, das heißt unchristlicher Geist gewesen ist, immer das Wort Christ und christlich zu verlangen, und nicht des anderen Wortes zu achten: Du sollst das Wort Gott nicht immer eitel aus­sprechen. - Man sollte fühlen, was christlich ist, und nicht angewiesen sein darauf, daß immer das Geschwätz vom Christentum uns an die Ohren herandringt.

Das ist heute Pfingstgeist. Man kann nicht sagen, daß dieser Pfingstgeist

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heute, wenn er nicht gehegt und gepflegt wird, es leicht hätte, auf fruchtbaren Boden zu fallen. Man hat Gelegenheit hinzusehen, wie dieser Pfingstgeist von links und von rechts verkannt wird. Ist nicht eine merkwürdige Illustration - wenn ich von der Höhe der Betrachtung für einen Augenblick zum Alltäglichen komme -, eine merkwürdige Illustration des Geistes unserer Zeit dieses, was sich tatsächlich zugetragen hat: Unser Bund für soziale Dreigliederung macht sich auf, um ein Keimwort in Tat umzusetzen und, damit er verstanden werde, greift er zu den Worten eines Mannes, der nun auch seinerseits von Sozialisierung sprechen will, dessen Worte man gut brauchen kann, wenn von Sozialisierung gesprochen wird, dessen Worte man gut zitieren kann, weil sie als Worte tatsächlich, wenn sie Keimgedanken zu Taten wären, dasjenige bedeuten würden, was wir wollen. - Und was geschieht? Von der Seite, von der diese Worte aus­gegangen sind, wird das, was als Taten aus ihnen genommen werden sollte, sofort in Grund und Boden gekämpft. Was heißt das eigentlich im Innern des Menschen? Das heißt: Wehe euch, wenn ihr unsere Worte als etwas anderes nehmt denn als Geschwätz und Phrase! In dem Augenblick, wo ihr sie ernst nehmt, diese unsere Worte, sind wir eure Gegner. - So hat die Erziehung gewirkt, die in Staatsfittichen heraufgezogen ist im neueren Zeitalter. Das von der einen Seite.

Von der andern Seite die liebliche Denunziation: Wir sind ja mit alledem ganz einverstanden, was Steiner sagt, wir sind einverstanden mit dem, was er als seine Ansicht vorbringt zur Bekämpfung des bis­herigen Kapitalismus, wir sind einverstanden mit seiner Dreigliede­rung des sozialen Organismus, aber wir bekämpfen ihn, denn wir lassen uns von einem Geister-Seher nicht solche Sachen sagen!

Nun, es wäre schon genügend Grund - aber der Grund darf keine Giftpfianze sein -, sich zu sagen: Was soll mit einem Zeitalter an­gefangen werden, das in dieser Weise nichts anderes will als entweder bloße Phrase oder bloße gedankenlose, brutale Tat, und das alles ablehnt, was nicht Phrase oder gedankenlose Brutalität ist und was gerade die Keime zur wahren Wirklichkeit des Menschen in sich trägt? Damit man nicht denken braucht, will man den gedankenlosen Klassenkampf. Damit man seine Gedanken nicht zur Tat werden läßt,

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spricht man die schönsten Phrasen aus. Und wenn sie die anderen Menschen ernst nehmen, bekämpft man sie bis aufs Messer.

Diese Frage muß in unsere Herzen einziehen: Haben die Menschen, die aus solchem Geiste geboren sind, noch das Recht, in wohigefügten Phrasen sich über das Pfingstwunder auszuschleimen? Der Schleim, der heute über das Pfingstwunder sich salbungsvoll ausläßt, kommt aus denselben Drüsen, aus denen das Gift kommt, mit dem man heute alles, was aus dem Geist kommt, bespritzen will, und mit dem man sich berufen will auf der einen Seite auf die wesenlose Phrase und auf der andern Seite auf die gedankenlose brutale Tat. Die wesenlose Phrase ist auf der einen Seite zum religiösen Geschwätz der Welt geworden, die brutale ungeistige Tat ist zum Militarismus, dem Grundübel unserer Zeit, geworden. Ehe man nicht einsieht, wie diese beiden Dinge wurzeln in der verkehrten Erziehung und in der ver­kehrten Schule, eher kann man nicht fruchtbar nachdenken über das, was geschehen soll. Alles übrige ist Quacksalberei.

Die Dinge, die gemacht werden müssen, müssen aus der Wirk]ich­keit heraus gemacht werden. Denn die Wirklichkeit trägt den Geist in sich, und jede Verleugnung des Geistes wird in Wahrheit doch zum realen Unsinn und Unding. Aber wenn jemand versucht, auf die geistige Wirklichkeit hinzuweisen, dann ist er ein Illusionär oder ein Geister-Seher. So wird er in unserer Zeit gestempelt, weil die Empfin­dung für die wahre Wirklichkeit in den weitesten Kreisen völlig fehlt.

Den sozialen Organismus mit dem menschlichen oder einem sonsti­gen Organismus zu vergleichen, das ist auch in unserer Zeit Phrase geworden, und es ist eine recht billige Phrase. Will man auf diesem Gebiete nicht phrasenhaft reden, dann muß man jene Grundlegung liefern, die geliefert worden ist in meiner Schrift «Von Seelenrätseln». Was hätte es heute für einen Sinn, von der Dreigliederung des sozialen Organismus zu sprechen, wenn nicht erst diese geistige Grundlage von der Dreigliederung des menschlichen Organismus in Nerven­Sinnesfähigkeiten, in rhythmische Fähigkeiten und in Stoffwechsel-fähigkeiten, als eine wirkliche naturwissenschaftliche Erkenntnis vor die Menschen hingestelit worden wäre? Aber die Menschen sind zu bequem, die aus dem verkehrten Schulwesen herausgewachsenen Vorstellungen

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der Gegenwart sich korrigieren zu lassen durch das, was aus der wahren Wirklichkeit stammt.

Eine andere greuliche Vorstellung lebt in unserer offiziellen, das heißt überall autoritativ geglaubten Wissenschaft. Diese Wissenschaft rrmmt teil an der götzendienerischen Anbetung alles dessen, was als so hohe Kultur in der neueren Zeit heraufgezogen ist. Wie sollte nicht, wenn sie etwas besonders geheirnnisvoll ausdrücken will, diese mo­derne Wissenschaft ihre Zuflucht zu dem nehmen, was sie jeweilig am meisten anbetet. Nun also, so ist ihr das Nervensystem geworden zu einer Summe von Telegraphenlinien, so ist ihr geworden die ganze Nerventätigkeit des Menschen zu einem merkwürdig komplizierten Telegraphenfunktionieren. Das Auge nimmt wahr, die Haut nimmt mit wahr. Da wird zu der Telegraphenstation Gehirn durch sensitive Nerven das hingeleitet, was von außen her wahrgenommen wird. Dann sitzt dort im Gehirn ein, ich weiß nicht was für ein Wesen - ein geistiges Wesen leugnet die neuere Wissenschaft ja ab -, durch ein Wesen also, das zur Phrase geworden ist, weil man nichts Wirkliches darin erblickt, wird das von den «sensitiven »Nerven Wahrgenommene umgesetzt durch die «motorischen» Nerven in Willensbewegungen. Und eingebleut wird dem jungen Menschen der Unterschied zwischen sensitiven Nerven und motorischen Nerven, und aufgebaut wird auf diesen Unterschied die ganze Anschauung über den Menschen.

Seit Jahren kämpfe ich gegen dieses Unding der Trennung zwischen sensitiven und motorischen Nerven, erstens, weil dieser Unterschied ein Unding ist, weil die sogenannten motorischen Nerven zu nichts anderem da sind als zu dem, wozu die sensitiven Nerven auch da sind. Ein sensitiver Nerv, ein Sinnesnerv, ist dazu da, daß er uns Werkzeug ist, um das wahrzunehmen, was in unserer Sinnesorganisation vor­geht. Und ein sogenannter motorischer Nerv ist kein motorischer Nerv, sondern auch ein sensitiver Nerv; er ist nur dazu da, daß ich meine eigene Handbewegung, daß ich meine Eigenbewegungen, die aus anderen Gründen heraus kommen als aus den motorischen Nerven, wahrnehmen kann. Motorische Nerven sind innere Sinnesnerven zur Wahrnehmung meiner eigenen Willensentschlüsse. Damit ich das Äußere, was sich in meinem Sinnesapparat abspielt, wahrnehme, dazu

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sind die sensitiven Nerven da, und damit ich mir nicht ein unbekanntes Wesen bleibe, indem ich selber gehe, schlage oder greife, ohne daß ich etwas davon weiß, dazu sind die sogenannten motorischen Nerven da, also nicht zur Anspannung des Willens, sondern zur Wahrnehmung dessen, was der Wille in uns tut. Das Ganze, was aus der neueren Wissenschaft geprägt worden ist aus dem vertrackten Verstandes-wissen unserer Zeit heraus, ist ein wirklich wissenschaftliches Unding. Das ist der eine Grund, warum ich seit Jahren dieses Unding be­kämpfe.

Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum dieses Unding aus­gerottet werden muß, dieser Aberglaube von den sensitiven und motorischen Nerven, zwischen denen kein anderer Unterschied ist, als daß die einen sensitiv sind für das, was draußen ist, und die andern für das, was im eigenen Körper ist. Dieser andere Grund ist der folgende.

Kein Mensch kann in irgendeiner Sozialwissenschaft ein richtiges Verständnis des Menschen für sein Verhältnis zur Arbeit gewinnen, der auf der vertrackten Unterscheidung zwischen sensitiven und motorischen Nerven seine Begriffe, seine Vorstellungen aufbaut. Denn man wird stets kuriose Begriffe von dem bekommen, was menschliche Arbeit in Wirklichkeit ist, wenn man einerseits fragt: Was geht eigentlich im Menschen vor, wenn er arbeitet, wenn er seine Muskeln in Bewegung bringt? - und andererseits keine Ahnung davon hat, daß dieses In-Bewegung-Bringen der Muskeln nicht auf den so­genannten motorischen Nerven beruht, sondern auf dem unmittel­baren Zusammensein der Seele mit der Außenwelt. Ich kann Ihnen diese Fragen selbstverständlich nur andeuten, aus dem Grunde, weil heute noch nicht einmal die primitivsten Vorstellungen dafür vor­handen sind. Die Menschen verstehen noch gar nichts über diese Dinge, weil das Schulwesen noch nicht die primitivsten Vorstellungen zum Verständnis solcher Dinge in Umschwung gebracht hat, weil es noch immerfort mit dem Wahnsinn der Unterscheidung zwischen sensitiven und motorischen Nerven arbeitet.

Wenn ich mit einer Maschine in Berührung komme, muß ich als ganzer Mensch mit ihr in Berührung kommen; da muß ich ein Ver­hältnis herstellen vor allen Dingen zwischen meinen Muskeln und

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dieser Maschine. Dieses Verhältnis ist dasjenige, worauf des Menschen Arbeit wirklich beruht. Auf dieses Verhältnis kommt es an, wenn man die Arbeit sozial werten will, auf das ganz besondere Verhältnis des Menschen zu der Arbeitsgrundlage.

Mit was für einem Arbeitsbegriff arbeiten wir denn heute? Das, was im Menschen vorgeht, wenn er, wie man sagt, arbeitet, das ist nicht verschieden, ob er nun an einer Maschine sich abmüht, ob er Holz hackt, oder ob er zu seinem Vergnügen Sport treibt. Er kann sich geradeso mit dem Sportvergnügen abnützen, er kann ebensoviel Arbeitskraft konsumieren bei dem sozial überflüssigen Sport wie bei dem sozial nützlichen Holzhacken. Und die Illusion über den Unter­schied zwischen motorischen und sensitiven Nerven ist es, die psycho­logisch die Menschen ablenkt davon, auch einen wirklichen Arbeits-begriff zu erfassen, der nur erfaßt werden kann, wenn man den Men­schen nicht darnach betrachtet, wie er sich abnützt, sondern darnach, wie er sich in ein Verhältnis stellt zur sozialen Umgebung. Ich glaube Ihnen, daß Sie davon noch keinen deutlichen Begriff bekommen haben, weil die Begriffe, die man heute von diesen Dingen erhalten kann, so verkehrt sind durch unser Schulwesen, daß es erst einige Zeit dauern wird, bis man den Übergang von dem sozial unsinnigen Arbeitsbegriff, von dem wahnsinnigen wissenschaftlichen Begriff der Unterscheidung der sensitiven und motorischen Nerven, finden wird. Aber in diesen Dingen liegt zugleich der Grund dafür, warum wir so unpraktisch denken. Denn wie kann eine Menschheit praktisch über das Praktische denken, die sich der wahnsinnigen Vorstellung hin­gibt: in unserem Inneren waltet ein Telegraphenapparat, und die Drähte gehen hin zu irgend etwas im Gehirn und werden dort um­geschaltet in andere Drähte, sensitive und motorische Nerven? Von unserer, einem verkehrten Schulwesen entspringenden Unwissen-schaft, an die das breite Publikum, verführt durch die Zeitungspest, glaubt, geht aus das Unvermögen, wirklich sozial zu denken.

Das ist es, was wir heute als Pfingstgeist erkennen sollten, und was gescheiter wäre, ausgegossen zu werden in Einzelzungen auf die Menschen der Gegenwart, als dasjenige, womit heute als mit Quack­salbereien daran gedacht wird, dies oder jenes zu verbessern. Wenn

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man heute sagt, die Menschheit muß umiernen und umdenken, so glauben die Menschen meistens, man meine mit diesen Dingen die­selbe Phrase, die sie selber meinen, selbstverständlich, weil die Men­schen sogleich in Phrase und Utopie dasjenige umsetzen, was man sagt. Aber ist denn nicht ein Unterschied, ob irgendein beliebiger Redakteur sagt: Die Menschheit muß umiernen - oder ob man es sagt, weil man weiß: Bis in solche Tiefen hinein hat sich die Mensch­heit falsche Gedanken gemacht durch falsche Denkgewohnheiten, die bis zu den sensitiven und motorischen Nerven gehen, die bis in die Struktur desjenigen gehen, woran die Menschheit heute felsenfest aberglaubt, weil ihre Autoritäten es ihr befehlen? Daß aus einer Wirk­lichkeit heraus geredet werde, und anders geredet werde über diese Wirklichkeit, wenn auf dem Boden der anthroposophischen Be­wegung vom «Umdenken» und «Umiernen» die Sprache ist, das der Welt klarzumachen, wäre die Aufgabe der Anthroposophischen Ge­sellschaft. Denn die Phrase hat heute eine solche Kraft gewonnen, daß mit Bezug auf die äußeren Worte derjenige, der kein Unterschei­dungsvermögen hat zwischen Wirklichkeit und Phrase, selbst sagen kann: Nun, lest doch den Leitartikel des heutigen «Stuttgarter Tag-blattes», da werdet ihr auch die Lehre vom Umiernen finden. Aber heute kommt es nicht darauf an, daß wir Worte vergleichen, denn dadurch fallen wir gerade in die Phrasenhaftigkeit hinein; heute kommt es darauf an, daß wir die Wirklichkeit ergreifen und uns hüten, in die Phrasenhaftigkeit zu verfallen. Wie oft mußte ich ungerne abweisend sein, wenn immer wieder und wieder Phrasen hervor­kamen wie solche: Nun, da hat wieder einer auf der Kanzel « ganz theo sophisch» gesprochen, wie die Leute sagen. Diese Dinge waren die schlimmsten, denn sie zeugten davon, wie wenig Unterscheidungs­vermögen vorhanden ist zwischen der Wirklichkeits-Erkenntnls und dem wohlbehaglichen Leben in der Phrase. Es sollte einmal das Fest der Pfingsten auch die Mahnung in die menschlichen Seelen eingießen:

Hinweg von eurer Phrase, hin zur Wirklichkeit! Wir reden heute auf dem Gebiete der Wissenschaft, auf dem Gebiete der Kunst, auf dem Gebiete der Religion überall in Phrasen, in Phrasen, welche im Halse stecken bleiben und daher den ganzen Menschen nicht ergreifen; wie

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der Glaube des Menschen heute besteht, daß die Sensationen seiner Sinne irgendwo im Gehirn stecken bleiben und seinen motorischen Apparat nicht ergreifen. Zwischen allen diesen Dingen sind die ge­nauesten Zusammenhänge, und ehe nicht die Umwandlung unserer Zeit hineingreift gerade in diejenigen Denkgewohnheiten, welche die autoritäre Wissenschaft heute ausgebildet hat, welche ausgebildet hat das wissenschaftliche Papsttum, eher gibt es keine wirkliche Er­neuerung, denn alle andere Erneuerung erfließt nur aus der Ober­fläche, und nicht aus dem, woraus sie erfließen muß: aus dem wirk­lichen Innern. Wenn unser Schul- und Erziehungswesen wirklich eine Erneuerung erfahren soll, muß man darauf bedacht sein, durch solche Dinge, wie sie hier erörtert worden sind, den Menschen vor dem zu bewahren, was in der heutigen Menschheit so leicht herauf­kommen kann, weil sie in sich trägt das Erbe des Römertums.

Es muß bekämpft werden der Hang zur Illusion, die Liebe zur Illusion, die heute in der Menschheit ganz verbreitet ist. Der heutige Mensch fühlt sich behaglich, wenn er sich über den Wert der Wirk­lichkeit hinwegtäuschen darf, wenn er sich sagen darf: Nicht der Christus in mir, der die Kräfte in mir anregt, die Kräfte in mir stark macht, ist es, zu dem ich mich bekenne, sondern der Christus, der unabhängig von mir ist, und der in Gnaden mich von meinen Sünden befreit, ohne daß ich im Ernste durch meine eigene Kraft etwas dazu tue.

Immer wieder und wieder ist mir in zahlreichen Briefen dieses Christus Jesus-Bekenntnis entgegengehalten worden gegenüber dem­jenigen, was die Anthroposophie tun muß und tun will. Und immer wieder und wieder ist mir die Sehnsucht entgegengetreten, das, was heute aus der Wirklichkeit des Geistes heraus scharf geprägt werden muß, weil die Zeit es fordert, zur trivialen Phrase populär zuzurichten, damit die Menschen es doch verstehen können. Doch in dem Augen­blick, wo man anthroposophische Wahrheiten zu trivialen Phrasen zuschneiden würde, da würden sie zu dem, was in der heutigen Zeit so biillg ist: sie würden zur Phrase werden, würden zur Phrase wer­den, indem man sie zur Trivialität der Gasse oder zur Philistrosität der heutigen Wissenschaft herunterwürdigte. Immer wieder bin ich ermahnt

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worden, beides zu tun. Immer wieder hatte ich die Mühe, beides nicht zu tun, weder zur trivialen Phrase der Gasse das Anthro­posophische herunterzudrücken - was man im heutigen Sinne popu­larisieren nennt -, noch auch konnte ich den andern Mahnungen folgen, für die wissenschaftlichen Leute so zu reden, daß sie es ver­stehen. Diese Ermahnungen kamen ja vielfach an mich heran. Nun, dann hätte ich so reden müssen, daß es ein Echo gefunden hätte bei dem wissenschaftlichen Unsinn der Gegenwart. Da ist es mir noch lieber, wenn sich die Leute so gebärden, wie neulich in Tübingen ein Professor aus der wissenschaftlichen Gesinnung der Zeit heraus es tat. Da scheint mir durchaus, daß Wahrheit herrscht in den Tatsachen, weil diese Gebärde der beste Beweis dafür ist, wie sehr das Geistes­leben notwendig hat, umgewälzt zu werden. Insbesondere, wenn man diesen Übergang finden will zum wahren Pfingstgeist, von dem ge­schwätzigen Worte zu dem keimtragenden Worte, dann wird man sich hüten müssen, immer wieder und wieder die Seelen hinüberzuleiten zu seinen altgewohnten Vorstellungen, um das zu begreifen, was man mit neuen Vorstellungen nicht begreifen will, was mit alten Vor­stellungen zwar geschwätzt, aber doch nicht begriffen werden kann.

Es hat aus bürgerlichem Munde keinen großen Sinn, etwa heute mit den Valeurs, mit den Werten, welche die Worte oftmals haben, darauf hinzuweisen, daß das Proletariertum in gewissen Kreisen für die Dinge, die auf dem Boden des dreigliedrigen sozialen Organismus zu sagen sind, den guten Willen hat, sie besser zu verstehen als das Bürgertum. Habt nur auch diesen guten Willen, ihr Bürger! - so möchte man heute vielfach sagen. Der Proletarier lacht selbstverständ­lich über diese Mahnung zum guten Willen der Bürger; denn richtig ist es, daß er besser als der Bürger dazu präpariert ist, manches zu verstehen. Aber er ist dazu präpariert, diese Dinge auch aus einem andern Untergrunde her zu verstehen, und er lacht darüber, wenn man sagt, man solle beim Bürgertum appellieren an den guten Willen zum Verständnis, und er lacht insbesondere darüber, wenn man sagt, daß man sich von diesem Appellieren einen Erfolg versprechen könnte. Denn er weiß ganz gut, daß sein besseres Verständnis von etwas ganz anderem herkommt: daß er, wenn er morgen nicht arbeitet, auf der

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Straße liegt. Er ist mit der sozialen Ordnung, ich möchte sagen, punktuell, nicht durch eine gerade Linie, verbunden wie der heutige bürokratische Bürger. Er redet von seinem Menschentum aus, weil ihn die heutige soziale Ordnung dazu gebracht hat, keine andern als menschliche Interessen zu haben, denn er bleibt nichts anderes als Mensch, wenn er morgen auf die Straße geworfen wird. Daraus ent­springt sein besseres Verständnis.

Der Bürger, insbesondere der Staatsbeamte, ihn nimmt der Staat so schnell wie möglich in seine Hand, nicht allzufrüh, weil da das In-die-Hand-Nehmen noch etwas unreinlich ist; da überläßt man es den Müttern und Ammen. Aber wenn er über die erste Unreinlichkeit hinauskommt, nimmt man den Menschen sogleich in Staatsobhut, dressiert ihn und präpariert ihn - nicht zum Menschen, sondern zum Staatsbeamten. Da knüpft man die Fäden, daß er nicht punktuell, wie der Proletarier, mit der sozialen Ordnung zusammenhängt, sondern durch eine lange Linie, durch Stricke mit allen seinen Interessen an die bestehende und durch den Staat erhaltene soziale Ordnung an­gebunden ist. Man präpariert ihn dazu, daß er in seinem ganzen Gehaben der richtige Ausdruck dieser sozialen Ordnung wird. Dann gibt man ihm zu essen, dann ist er zufrieden. Und man gibt ihm nicht nur zu essen, man sorgt für ihn, so daß er nicht selbst für sich zu sorgen hat. Und dann, wenn er nicht mehr arbeiten kann, sorgt der Staat dafür, daß er seine Pension bekommt, daß er ohne sein Zutun richtig von den Mächten erhalten werde, die ihn dazu präparierten, daß er ihr getreuer Ausdruck ist. Das geht so bis zum Tode. Dann sorgt man auch noch durch die Religion, welche ihre Heilmittel nicht aus den inneren Kräften der Seele nimmt, sondern von außen her, über die Gnade, kommen läßt, man sorgt dafür, daß die Seele auch noch nach dem Tode weiter «pensioniert » ist. Das ist gerade der Inhalt der Staatsweisheit, der Religionsweisheit. Kein Wunder, daß der so mit den Interessen des Staates zusammengebundene Staats- und Himmeisbürger an dem festhält, mit dem er zusammengebunden ist.

Das ist der Gegensatz: das Interesse auf der einen Seite, aber auch das Interesse auf der anderen Seite. Es ist das Interesse auf der andern Seite dasjenige, was heute eine Anzahl von Menschen aufruft zu dem,

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wozu die Menschheit im Zeitalter des Bewußtseinswesens kommen muß, wovon ich auch öfter gesprochen habe: von dem Sichstellen auf den individuellen menschlichen Boden. Der Proletarier hat nur Ge­legenheit dazu, sich als erster auf den individuellen Boden zu stellen, weil er in den andern nicht hineingenommen worden ist. Je mehr er hineingenommen wird, desto schlimmer steht es mit ihm. Denn da haben wir auf der einen Seite diejenigen Menschen, die in ähnlicher Weise durch das Proletariertum in ihre Stellen eingesetzt wurden: die Gewerkschaftsbeamten. Die gewöhnen sich, wenn auch ihre Stellun­gen andere Namen haben, behaglich in die Allüren der anderen hinein und bekämpfen dann dasjenige, was so scheint, als ob es gegen ihre Allüren gehen könnte. Da schlüpfen sie nach und nach in die Gewohn­heiten des Bürgertums hinein.

Man spricht heute in der proletarischen Welt vom Gewerkschafts­tum. In England ist ungefähr ein Fünftel der gesamten Arbeiterschaft wirtschaftlich organisiert. Das ist verhältnismäßig viel. Daher ist die heutige englische Arbeiterschaft bei dem gegenwärtigen Geist der Organisation auch ganz niedlich in die bürgerliche Denkweise hinein-gewachsen. In Deutschland ist nur ein Achtel organisiert, die andern sind unorganisierte Arbeiter. Und die Unorganisierten sind es heute, die auf die Spitze der Persönlichkeit gestellt sind, sie sind die eigentlich treibenden Kräfte, oder diejenigen, die sich in ihre Organisation das Bewußtsein hineingerettet haben davon, was es heißt, Mensch zu bleiben, wenn man nicht für sein physisches Leben angestellt, dann pensioniert, und schließlich für sein geistig-seelisches Leben nach dem Tode, wie ich es angedeutet habe, ebenfalls pensioniert wird. Diese Menschen, die sich äußerlich ökonomisch auf die Spitze der eigenen Jndividualität gestellt fühlen, sie haben, ich möchte sagen, den seelischen Duktus für das, was heute weltgeschichtlich heraus­kommen muß, und was macht, daß die heutige proletarische Forde­rung zugleich eine weltgeschichtliche Forderung ist.

Die neuere wirtschaftliche Ordnung hat das Proletariertum in Fabri­ken in den Kapitalismus hineingespannt, wo es ihm leichter möglich ist, das, was Zeitforderung ist, zu verstehen, als dem Bürger, der eben mit allen Fasern seines Lebens hängt an seiner Versorgung und seiner

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Pension, und der nicht denken will. Würde er nänalich denken, würde er die Zeit heute richtig auffassen, so könnte es ja nicht vorkommen, daß ein Tübinger Professor so spricht wie neulich der Herr, der mir in der Diskussion erwidert hat: Da redet man davon, daß es beim Proletarier ein «menschenwürdiges Dasein» untergräbt, wenn dieser Proletarier für seine Arbeit «entlohnt» wird. Wird denn aber nicht auch Caruso «entlohnt», wenn er an einem Abend singt und für seine Arbeit dreißig- bis vierzigtausend Mark bekommt? Oder, so meinte der selbstlose Herr, werde nicht auch ich entlohnt? Und ich fühle gar nichts Menschenunwürdiges dabei, wenn ich mein Gehalt einstreiche für meine Arbeit. Und der Caruso findet es auch nicht, wenn er seine dreißig- bis vierzigtausend Mark einkassiert. - Das war der Sinn der Sache. Und es wurde noch hinzugefügt: Es ist ja der einzige kleine Unterschied der, daß das eine mehr, das andere weniger ist, aber darauf kommt es nicht an, denn im wesentlichen ist es dasselbe.

Das ist der Geist, der aus dem heutigen Schul- und Unterrichts­wesen heraufblübt. Das ist dann auch der Geist, der sagt: Wir werden ein armes Volk werden, wir werden Schule und Unterricht nicht bezahlen können, da wird der Staat eingreifen müssen und wird ihn zu bezahlen haben. - Nun, für den, der unverschränkt denkt, wird man zwar einwenden müssen: Ja, aber wie macht es denn der Staat, wenn alle arm sind, und nun er plötzlich der Krösus sein soll, der die Schulden, die wir alle nicht bezahlen können, bezahlen soll? Der Staat nimmt ja erst in Form von Steuern den andern dasjenige ab, was sie haben, er scheint mir daher doch nicht fabrizieren zu können als Krösus, was die Leute nicht haben. - Aber das einzusehen, muß diese Klasse von Menschen erst lernen. Das ist es, was schließlich auch die, die vom Staate ihren Daseinsunterhalt aus den Taschen derjenigen erhalten, die auf der Spitze ihrer Menschenindividualität auch ökono­misch stehen, verstehen lernen sollten. Aber solange die Leute das nicht gelernt haben, nicht gelernt haben durch die Not des Lebens, ist es ihrem Denken nicht beizubringen. Und so scheint es mir, daß eine große Anzahl von Menschen heute einfach ein Zeitalter herauf­beschwören will, in dem man wird lernen können, daß man auch auf die Straße geworfen werden kann, wenn man nicht wirklich eine

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andere soziale Ordnung durch einen Gedankenimpuls herbeiführen will. Denn es könnte sehr leicht sein, daß jene Pensionen, von denen ich gesprochen habe, nicht mehr gezahlt werden können. Und dann, glaube ich, wenn jene sehr materiellen Pensionen nicht gezahlt werden können, würden die Leute auch nicht mehr soviel geben auf jene anderen Pensionen, die heute spirituell für die Seelen nach dem Tode von den ja auch von den leiblichen Mächten sehr abhängig geworde­nen Religionsgemeinscbaften gezahlt werden.

Aber wenn nun irgend etwas auftaucht, was nicht Phrase sein will, sondern Keimgedanke für Taten, dann ist man heute nicht in der Lage, dies anders zu nehmen denn als eine Phrase. Dann spürt man nicht, daß es auf wirklicher Sachkenntnis des Lebens beruht, bis in die Einzelheiten hinein, durch die man erkennt den wissenschaftlichen Wahnsinn der Unterscheidung zwischen sensitiven und motorischen Nerven, der davon abhält, in der Sozialwissenschaft wiederum zu einem wirklichen Arbeitsbegriff zu kommen. Heute ist es schon not­wendig, daß wenigstens einige Menschen bis in diese Tiefen hinein sehen. Heute ist es dringend notwendig, daß sich einzelne Menschen nicht betören lassen dahingehend, daß sie sagen: Wir sozialisieren das äußere Wirtschaftsleben, aber die Schule, insbesondere die Mittel- und Hochschule, tasten wir nicht an, die muß bleiben. - Das ist das Aller-schlimmste, wenn gerade die bleibt. Denn es wird das, was sie bis jetzt angerichtet hat, in der Zukunft nicht nur weiter angerichtet, sondern sie wird es in einem noch schlimmeren Sinne anrichten. Sozialisieren Sie wirtschaftlich, und lassen Sie dieses Geistesleben, dann haben Sie in kurzer Zeit aus Ihrem heutigen Scheinsozialisieren eine viel schlimmere Tyrannis und viel schlimmere Lebensverhält­nisse, als sie nur irgendwie in die Gegenwart hinein sich entwickelt haben. Selbstverständlich gibt es heute einen wirtschaftlichen Zwang, der etwas Furchtbares auslöst im sozialen Organismus. Soll der nun abgelöst werden durch das Strebertum, durch den wüstesten Büro­kratismus? Glaubt die Menschheit, die nun endlich - auch ziemlich spät - gelernt hat, daß sie sich nicht berufen darf auf «Thron und Altar», glaubt sie, daß es besser wäre, wenn sie sich aus derselben Gesinnung heraus auf das Staats-Kontobuch und auf das Staats-Comptoir

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beruft? Der Kapitalismus hat verstanden, nach und nach den Altar überzuführen mit Bezug auf die Verehrung in die feuer­sichere Kasse. Ein Scheinsozialismus wird es verstehen, die jetzige Pseudoverebrung für Mächte, die nicht mehr da sind, die nur noch in der Phrase leben, umzuwandeln in das Genossenscbafts-Götzentum und das Genossenscbafts- Strebertum.

Was die Menschheit braucht zur Erneuerung des Geistes, das ist der Mut, einzusehen, daß das Erleben des Geistes im wirklichen mensch­lichen Innern, wie es heute geworden ist, auf der einen Seite zum religiösen Geschwätz und auf der anderen Seite zur gedankenlosen brutalen Tat, zur militaristischen Tat geführt hat. Derjenige, der sich als richtiger, heutiger, dem kapitalistischen Zeitalter entsprossener Mensch fühlt, er fühlt sich wohl, wenn er seine Coupons abschneidet, wenn er mitten drinnen aber seine Augen wegwendet von dem, was eigentlich geschieht, wenn ihm von der einen Seite das Evangelium zum Geschwätz gemacht wird und man ihm redet von Nächstenliebe und Brüderlichkeit, während er Nächstenliebe und Brüderlichkeit bequem mit der Schere entzweischneidet und nicht zu sehen braucht, wie eigentlich die Dinge in der Wirklichkeit vorgehen, weil er auf der andern Seite sicher ist, daß er nicht selber durch die Tat sein Geschäft schützen braucht, sondern weil das der Staat tut, indem er die Schwer­ter stählt. Wir haben es ja gerade in der modernen Zeit erlebt, daß jenes Bündnis eingegangen worden ist zwischen Geschäftsleben und Staatsleben, das uns in die Weltkatastrophe hineingebracht hat. Was ist denn der Staat, auf den die Menschen so stolz gewesen sind, anderes gewesen als der große Protektor des Wirtschaftslebens, wie es unter dem Kapitalismus geführt worden ist? Man möchte hoffen, daß sich die Patrioten der Vergangenheit, die man in ihrer Gesinnung nicht hat antasten dürfen - denn sie waren «gute» Patrioten, sie hatten die Phrase geprägt von dem patriotischen Wort, und es war im ver­flossenen Zeitalter eine recht schlimme Sache, wenn man etwa darauf hinwies: diese patriotische Phrase hat einen sehr realen Untergrund, denn der patriotisch verehrte Staat ist ja schließlich der Beschützer der Bankscheine -, man möchte hoffen, daß die Zeit nicht einen besonders wahren Beweis führen kann, daß diese Leute, die so patriotisch waren,

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nicht sich umpatriotisieren und nun, nachdem sie vielleicht von den Ententemächten ihr Geld besser geschützt wissen, schleunigst ihren Patriotismus unifrisieren! Ich will über die Möglichkeit auf diesem Gebiete gar nichts Besonderes sagen, aber auf die Leichtigkeit möchte ich hinweisen, mit der die patriotische Phrase in ihr Gegenteil über­gehen kann. Anzeichen sind genug vorhanden.

Das sind die Dinge, die gerade mit Bezug auf die Notwendigkeit einer Erneuerung des Erziehungs- und Unterrichtswesens heute als eine Pfingstbetrachtung gesagt werden müssen. Denn mit den sal­bungsvollen Reden, mit denen man der Menschheit gedient hat, sollte ihr nicht weiter gedient werden. Die Menschen sollten sich gewöhnen, auf Worte zu hören, die auf die Wirklichkeiten der Gegenwart hin­weisen. Dann würde es möglich sein, daß wirklich der Pfingstgeist sich recht zerteilt, daß in der Zukunft kleine Zungen hineingehen in all das, was entstehen soll auf der Grundlage des befreiten Geistes­lebens als die kleinste Schule, als die höchste Schule, damit der befreite Geist, welcher der wirkliche Heilige Geist ist, aus dem emanzipierten Geistesleben der Zukunft heraus für die wirkliche geistige Entwicke­lung der Menschheit tätig sein kann.

Damit redet man vielleicht etwas, was die Religionsschwätzer heute nicht gerade christlich finden. Aber es wird sich die Menschheit der Gegenwart einmal überlegen müssen, ob das christliche Reden der Heutigen nicht noch aus jenem Geiste stammt, aus dem heraus Petrus den Herrn dreimal verleugnet bat, oder ob es schon stammt aus dem Geiste, der da gesprochen hat: Was ich euch geoffenbart habe, das ist nicht bloß auf ein Zeitalter beschränkt, sondern es wird bestehen durch alle Zeitalter. Und ich werde nicht aufhören, euch die Wahrheit zu sagen, und ich werde bei euch sein bis ans Ende der Erdenzeit. - Die, welche heute nur den Geist der Vergangenheit auch im Christentum hören können, werden die Phraseure, die Schwätzer sein. Die, welche den lebendigen Geist auch heute zur Umgestaltung und zum Neubau der menschlichen Ordnung vernehmen, das werden vielleicht doch diejenigen sein, in denen man die wahren Christen wird sehen können.

Möge dieses Zeitalter kommen aus einem wahrhaft erfaßten Pfingst­geist heraus.

ACHTER VORTRAG Stuttgart, Pfingstmontag, 9. Juni 1919

#G192-1964-SE165 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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ACHTER VORTRAG

Stuttgart, Pfingstmontag, 9. Juni 1919

#TX

Ich habe gestern versucht, Sie auf Ideen hinzuweisen, die dem wirklich nach Fortschritt drängenden Menschen in der Gegenwart eigentlich aufgehen müßten. Insbesondere habe ich versucht, auf solche Ideen binzuweisen, welche geeignet sind, rechtes neues Leben hineinzu­bringen gerade in die Pflege des Geisteslebens und besonders in die Pflege des Erziehungs- und Schulwesens. Und wir haben unter den Hemmnissen, welche einem wirklichen Klarseben auf diesem Gebiete entgegenstehen, vor allen Dingen gefunden die Neigung der Gegen­wart zur Phrase, zum gedankenleeren Worte, denn sobald im Worte Gedanke drinnen pulst, ist das Wort auch taterzeugend, ja tattragend. Denn ein Abgrund besteht zwischen dem Worte und der Tat. Das ist immer deshalb der Fall, weil dem Worte der Gedanke fehlt. Und unsere Geisteswissenschaft, die ja, seit sie als solche besteht, dem wirklichen Geistigen und damit auch dem sozialen Fortschritt der Gegenwart dienen will, sie war immer bestrebt, neuen Geist hinein-zugießen in die Worte, die allmählich zur bloßen Phrase geworden sind, die inbaltleer geworden sind.

Es ist nötig, daß Sie dem eben Ausgesprochenen gegenüber etwas ganz richtig erfassen. Wir sprechen von mancherlei Kräften imWelten­all, die wir dann mit bestimmten Namen, das heißt mit bestimmten Worten bezeichnen. In solchen Worten soll, wie das ja selbstverständ­lich ist, bewußt etwas Neues ausgesprochen werden. Dazu aber ist notwendig, daß man sich dieses Neue erst langsam erarbeitet. Unsere geisteswissenschaftliche Bewegung besteht seit langem. Was in ihr niederzulegen war, ist niedergelegt in einer Reihe von Büchern und in einer Reihe von Vortragszyklen. Diese Bücher und Zyklen sollen dazu da sein, uns mit einem solchen Geist zu erfüllen, daß wir in ge­wisse Worte, in denen wir dann abschließend das sagen müssen, was eigentlich der Inhalt der ganzen anthroposophischen Weltanschauung ist, daß wir in solche Worte diesen Geistesinhalt hineindenken, ihn mit solchen Worten verbinden. Darauf kommt es an. Und dazu müssen

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wir voll einsehen: wenn wir uns nicht bemühen durch die eine oder andere Art, ein Verständnis für diesen Geistesinhalt hervorzurufen, dann müssen die Worte, die wir anwenden für unsern Geistesinhalt, selbstverständlich für die Außenwelt wie eine leere Phrase klingen. Das muß heute insbesondere deshalb gut beachtet werden, weil wir uns in die Lage versetzen müssen, richtig auf das Geistes- beziehungs­weise das Unterrichts- und Erziehungswesen einzuwirken. Wenn es im Unterrichts- und Erziehungswesen weiter so fortgeht, wie es bisher gegangen ist, dann wird es das soziale Leben der Menschheit in eine furchtbare Lage bringen. Dann wird gerade von diesem Unterrichts-und Erziehungswesen im alleräußersten Maße der antisoziale Geist in unsere moderne Menschheit immer tiefer und tiefer einziehen. Dafür gibt es auch äußerliche Beweise, die man, ich möchte sagen, auf Schritt und Tritt auf der Gasse findet, die aber merkwürdigerweise nur dazu führen, daß die Menschen heute auf halbem Wege stehen­bleiben. Ich will Sie auf ein sehr deutlich sprechendes Beispiel, das aber wieder verhundertfacht und vertausendfacht werden könnte, in dieser Beziehung hinweisen.

Schon im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts hat Theoba/d Ziegler, der in Straßburg lehrende Philosoph, in Hamburg Vorträge gehalten über allgemeine Pädagogik. Diese Vorträge sind immer wieder aufgelegt worden, und in ihnen ist viel von dem enthalten, was eigentlich die heutige Menschheit, das heißt diejenige, die überhaupt über solche Dinge von dem heutigen Gesichtspunkte aus über das Pädagogische nachdenkt, ganz besonders angehen sollte. Ich will eine Frage herausgreifen, die Frage der Schulaufsicht durch den Staat. Theobald Ziegler bespricht, wie die Schwierigkeit auf diesem Gebiete der Schulaufsicht dadurch entstanden ist, daß diese Schulaufsicht vor verhältnismäßig kurzer Zeit noch ganz in den Händen der Geistlich­keit war, und daß die Lehrerschaft mit Hilfe des Staates gerungen hat, der Geistlichkeit diese Schulaufsicht zu entreißen. Dadurch hat die Lehrerschaft sich eben auch an den Allbeschützer Staat gewendet und gefunden: es ist besser, wenn der Staat uns protegiert, als wenn die Geistlichkeit es macht. Und solche Leute, die dann vom Standpunkte unserer gegenwärtigen Hochschulbildung aus sich mit solchen Fragen

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befassen, wie Theobald Ziegler, sagen sich dann das Folgende. Ich werde Ihnen seine Worte vorlesen: «Ist aber die Oberhoheit des Staates über die Schule Recht und Pflicht zugleich,» - also Recht ist sie und Pflicht zugleich - «so dürfen wir doch auch gegen die Ge­fahren dieser Verstaatlichung des Unterrichtswesens, wie sie sich auf dem Gebiet der höheren Schulen namentlich vielfach herausgestellt haben, unsere Blicke nicht verschließen. Der Geist der Bürokratie lastet auch auf der Schule schwer. Er hemmt vor allem die so not­wendige Freiheit der Bewegung, wie sie nach den verschiedenen lokalen Bedürfnissen, aber auch nach anderen etwa im Lehrerpersonal liegenden Verschiedenheiten den Gemeinden und Schulanstalten ein­zuräumen wäre; er arbeitet auf ein geistiges Uriformtragen hin, das unserer Bildung sehr abträglich ist; diese leidet ohnedies schon genug unter Schablone und Uniformität. Auch hindert der formalistische Jurist an der Spitze der meisten deutschen Schulverwaltungen den pädagogischen Fortschritt; weil er selbst steril ist - es hat noch niemals ein juristischer Studiendirektor einen pädagogischen Gedanken ge­habt, der Epoche gemacht hätte auf dem ihm unterstellten Gebiet! -so sind ihm die pädagogischen verdächtig und unbequem. Gegen dieses bürokratische Schulregiment gilt es, sich zur Wehre zu setzen und namentlich auch für die Schulen größerer und intelligenter Gemeinden, die dem Staat im Verständnis für sozialpolitische Forde­rungen vielfach überlegen und in ihrer Verwirklichung ihm meist auch voraus sind, weitgehende Freiheit zu fordern.»

Dies alles sieht ein solcher Mensch ein. Dennoch leitet er diesen Satz ein mit den Worten: «Ist aber die Oberhoheit des Staates über die Schule Recht und Pflicht zugleich.» Nun, sollte denn da nicht doch in einigen Seelen der Gedanke aufkeimen: wie wenig Mut solche Menschen haben, die Konsequenzen aus demjenigen zu ziehen, was sie eigentlich einsehen. Die Frage muß vor unsere Seele treten: Wie kommt es denn eigentlich, daß eine Misere schlimmster Art eingesehen wird, und die Menschen doch nur dazu kommen zu sagen: Aber wir müssen es lassen, wir müssen dem Staat schon diese Oberaufsicht über die Schule lassen; dazu hat er ein Recht, und dazu hat er die Pflicht? Diese Frage müßte heute wenigstens doch von einigen mutigeren

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Seelen aufgeworfen werden. Denn unsere Universitätsprofessoren sehen das Übel ein, allein, sie wollen es nicht heilen. Diese Frage müßte aufgeworfen werden. Und wenn sie aufgeworfen wird, dann kann sie zunächst nicht beantwortet werden. Suchen Sie nach Antworten auf diese Frage - Sie können gar nicht sagen, daß der gute Wille nicht dazu vorhanden wäre. Weshalb kann sie denn zunächst nicht beant­wortet werden? Ja, weil es eben nur eine einzige Antwort gibt. So paradox es in der Gegenwart noch klingt, es gibt in der Gegenwart nur eine einzige Antwort auf diese Frage: Unsere Pädagogik, unser ganzes Geistesleben wird niemals wieder eine Kulturphysiognomie bekommen, wenn sie nicht durchgeistigt wird von einer in unsere Gegenwart hereingehörenden Weltanschauung, die aber aus dem modernen, nicht aus dem traditionellen Menschen herausgeboren ist. Um eine solche Weltanschauung hat sich die Geisteswissenschaft bemüht, solch eine sucht die Geisteswissenschaft. Sie ist daher vor allen Dingen dazu berufen, die Antwort auf diese Frage zu geben. Da ist ein innerer Zusammenhang, und über diesen Zusammenhang wird alles soziale Streben der Gegenwart nicht hinauskommen. An uns aber ist es, uns diesen Zusammenhang klar und deutlich und intensiv vor die Seele zu stellen.

Es ist wahrhaftig nicht aus irgendwelchen agitatorischen Gründen heraus, wie etwa denen, daß man auch für das Seine eintreten will, sondern es ist die Erkenntnis, aus den Notwendigkeiten heraus in diese Gegenwart das hineinzutragen, was diese Gegenwart ins­besondere zu einer Erneuerung des Geisteslebens braucht. Aber hineingetragen werden kann Geisteswissenschaft in die Gegenwart nur in einem wirklich befreiten Geistesleben. Diese Geisteswissenschaft selbst bringt eben Wahrheiten an den Tag, welche der heutigen Menschheit ungewohnt sind. Und wenn man diese Wahrheiten in die Worte kleidet, an welche die heutige Menschheit gewohnt ist, dann wird diese Menschheit wütend. Denn das ist ja eine charakteristische Erscheinung, daß eigentlich über alles, was einen irgendwie geistes-wissenschaftlichen Untergrund hat, die heutige Menschheit wütet. Sie ist sich der Gründe ihrer Wütigkeit nicht bewußt, aber sie wird um so wütender, je mehr sie an Altem hängt. Sie wird einfach wütig, wenn

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sie empfindungsgemäß spürt: Da liegt etwas zugrunde, was wir nur ja nicht haben wollen, da liegt irgend etwas Geisteswissenschaftliches zugrunde. - So war es auch beim «Aufruf». Die Leute gestehen sich so etwas nicht ein, daß sie wütig sind, sondern sagen: Es ist uns un­verständlich. - Aber das Faktum ist in der Tat das, daß sie wütig sind, weil von einer Seite etwas herkommt, die sie eigentlich perhorreszieren möchten. Auch über diese Tatsache sollten wir uns durchaus nicht täuschen, denn diese Geisteswissenschaft muß einmal in vollem Ernste und in ganzer Stärke Wahrheiten ans Tageslicht bringen, welche die heutige Menschheit einfach nicht mag, ohne welche aber die Fort-entwickelung der heutigen Menschheit nicht geschehen kann. Des­halb sausen wir so in die Dekadenz hinein, weil die Menschheit schon aus den alten Denkgewohnheiten ablehnt, was sie eigentlich seelisch zum Fortschritt braucht.

Zwei Wahrheiten möchte ich an den Ausgangspunkt unserer heuti­gen Betrachtung stellen. Dazu möchte ich wieder auf etwas zurück­kommen, was ich gestern gesagt habe. Sie wissen, daß wir gewisse Kräfte, die im Weltenwerden spielen und auch den Menschen in ihren Strömungen drinnen haben, zusammenfassen als luziferische auf der einen Seite und als ahrimanische Kräfte auf der anderen Seite. Mit solchen Worten ist es eben so, daß man sich jahrelang das aneignen muß, was solchen Worten inneliegt, sonst bleiben sie Phrase. Hat man aber den Inhalt, dann hat man in diesen Worten geradeso etwas, was man haben muß, wie der Elektriker an seiner positiven und negativen Elektrizität zwei Impulse hat, die er haben muß. um von den Sachen reden zu können.

Es handelt sich darum, den wissenschaftlichen Geist, der in der unorganischen Naturwissenschaft heute waltet, auch hinaufzutragen ins Geistesleben, aber nicht so, daß man im landläufigen Sinne Monist wird, sondern daß man tatsächlich die Denkweise, die dort waltet, für die höheren Zweige des Geisteslebens metamorphosiert, in diesen höheren Zweigen auch zum Ausdruck bringt. Wenn aber jemand mit Bezug auf das seelische und geistige Leben von positiven und nega­tiven Seelenkräften reden würde, so würde er in die äußerste Abstrak­tion verfallen. Doch genau dieselbe Denkweise, die auf unorganischem

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Felde richtig von positiv und negativ spricht, redet auf seelisch­geistigem Felde von luziferisch und ahrimanisch. Wir können ja auch zunächst abstrakt definieren, was luzifetisch und ahrimanisch ist. Wir können sagen: Der Mensch, wie wir ihn eigentlich vor uns haben, wie wir selber ja sind, ist ein Gleichgewichtszustand; er ist eigentlich immer nut etwas, was Ausgleich ist zwischen zwei Polen, zwischen dem luziferischen Pol und dem ahrimanischen Pol. Alles neigt in uns auf der einen Seite nach dem Phantastischen, Schwärmerischen, nach dem Einseitigen, und, wenn es ausartet, ins Illusionäre Hineinkom­menden. Das ist das eine Extrem, zu dem wir neigen. Würden wir dieses luziferische Extrem nicht in uns tragen, so würden wir niemals Künstler werden können. Es kann sich nie darum handeln, daß wir etwa in falscher asketischer Weise sagen: Fliehen wir das Luziferische! -Da fliehen wir aber alles in uns, was uns gerade künstlerisch im-pulsiert. Aber wir müssen, wenn wir Menschen sein wollen, die hier auf der Erde ihren Aufgaben im umfassenden Sinne des Wortes genügen, dieses Luziferische in Ausgleich bringen mit dem, was der andere Pol in uns ist. Dieser andere Pol ist das Verknöcherte, das Ver­standesmäßige, das Nüchterne. Physiologisch gesprochen: das Ahri­manische in uns ist alles das, was in uns die Kräfte ausbildet, durch die wir Knochenmenschen sind; das Skelett charakterisiert den Ahriman. Das Luziferische in uns ist alles das, was die Kräfte ausbildet, die uns nach Muskeln und Blut hinüber organisieren. Zwischen diesen zwei Polen, zwischen Blut- und Knochenleben, stecken wir drinnen als Menschen und müssen, wenn wir Vollmenschen sind, den Gleich­gewichtszustand anstreben zwischen Blut- und Knochenleben, zwi­schen dem ins Illusorische Gehenden, wozu uns immer das Blut drängen will, und dem ins Nüchterne, Trockene, Philiströse Gehen­den, wozu uns immer der Knochenmensch drängen will. Dazwischen sind wir drinnen, und niemals ist der Mensch ein wirklich Ruhendes, sondern ein innerlich Bewegtes zwischen diesen beiden Extremen, und man versteht ihn nur, wenn man ihn innerlich bewegt zwischen diesen beiden Extremen auffaßt.

Denken Sie einmal, daß wir eigentlich als Menschen die Aufgabe haben, in uns selber das zu erleben, was der Waagebalken erlebt, wenn

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er immerfort schwankt und nur eine Gleichgewichtslage zwischen links und rechts hin- und herschwankend hat. So müssen wir wirklich als Menschen schwanken zwischen dem Luziferischen und dem Ahri­manischen. Verwandt, sehr verwandt dem Ahrimanischen ist immer der Gedanke, der sich nur an die äußere Sinneswelt anlehnt. Dieser abstrakte Gedanke, der sich nur an die Sinneswelt anlehnt, hat die Neigung, ein Ahrimanisches in uns darzustellen. Und der Wille, der sich an die Erlebnisse unseres Leibes anlehnt, der in den egoistischen Impulsen unseres Leibes aufsteigt, der hat fortwährend die Neigung, luziferischen Charakter anzunehmen.

So ist auch das Seelische hineinverwoben in Luziferisches und Ahri­manisches. Es war meine Aufgabe in Dornach, in diesen Bau der Hochschule für Geisteswissenschaft hineinzustellen die Hauptgruppe, welche darstellt den Menschheitsrepräsentanten zwischen dem Luzi­ferischen und dem Ahrimanischen. Es ist versucht worden, gerade in dieser Mittelfigur des Menschheitsrepräsentanten, der in der Mitte steht, die Christus-Gestalt wiederzugeben. Diese Christus-Gestalt wird oben umschwebt von zwei luziferischen Gestalten, das heißt von zwei solchen Gestalten, die zutage treten würden, wenn einseitig bloß das Blut-Muskelhafte im Menschen sich ausgestalten würde. Und unten unterzogen wird die Gestalt von zwei ahrimanischen Gestalten, das heißt von solchen Gestalten, die entstehen würden, wenn im Men­schen sich nur diejenigen Kräfte ausbilden würden, die nach der Ver­knöcherung hinstreben. So ist der Christus oben angrenzend an alles, was zum Illusionären führt, unten angrenzend an das, was zum Nüch­ternen, Pedantischen, Philiströsen führt. - Ich habe hier allerdings nicht von den luziferischen und den ahrimanischen Figuren, wohl aber von der Mittelfigur ein paar Nachbildungen, die ich Sie bitte, nachher hier anzusehen. Es ist versucht, gerade in Holzskulptur dasjenige her­auszubringen, was ich jetzt mit ein paar Worten abstrakt angedeutet habe. Aber ich bitte Sie, diese Dinge nicht als Symbolik anzusehen, sondern vom Gesichtspunkte des Künstlerischen aus, das ja der Ge­gensatz sein muß alles Abstrakt-Symbolischen.

Gestern habe ich nun vor Sie etwas hingestellt, was Ihnen vielleicht nicht ganz durchsichtig ist; aber Sie mögen es hinnehmen, möchte ich

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sagen, einfach als ein geisteswissenschaftliches Ergebnis. Ich habe ja auch schon öfter auf die zugrunde liegende Tatsache hingewiesen. Ich habe gestern gesagt, daß unsere physiologische Wissenschaft in einem furchtbaren Irrtum befangen ist, in dem Irrtum nämlich, daß es zweier-lei Nerven gebe, motorische und sensitive, während in Wahrheit alles sensitive sind und kein Unterschied besteht zwischen motorischen und sensitiven Nerven. Die sogenannten motorischen Nerven sind nur dazu da, daß wir innerlich unsere Bewegungen wahrnehmen, das heißt, daß wir sensitiv sind mit Bezug auf das, was wir selbst als Men­schen tun. Geradeso wie der Mensch mit dem sensitiven Augennerv die Farbe sich vermittelt, so vermittelt er sich die eigene Beinbewegung durch die «motorischen» Nerven, die nicht da sind, um das Bein in Bewegung zu setzen, sondern um wahrzunehmen, daß die Bewegung des Beines ausgeführt werde. Die falsche Auslegung hat die Wissen­schaft der Gegenwart sogar in einen verhängnisvollen Irrtum mit Bezug auf die Tabes-Erscheinungen hineingeführt. Während gerade diese Tabes-Erscheinungen dasjenige voll beweisen, was ich eben kurz auseinandergesetzt und gestern schon dargestellt habe.

Aber welche tiefere Tatsache liegt eigentlich dieser Sache zugrunde? Man geht eigentlich immer fehl, wenn man einfach das Urteil hin­stellt: Irgend etwas ist falsch, irgend etwas ist unrichtig. Denn das Unrichtige, das gerade eine wesentliche Bedeutung hat, ist ja wirklich. Es ist einmal diese physiologische Schulmeinung da, daß es moto­rische und sensitive Nerven gibt, und sie west in zahlreichen Köpfen, die durchaus nicht immer dumm sind, sondern nur befangen sind in der Weltanschauung der Gegenwart. Woher kommt denn die ganze Sache? Man muß nicht nur von etwas die Ansicht gewinnen, daß es unrichtig sei, sondern die zugrunde liegenden Tatsachen muß man er­forschen, warum eine solche Unrichtigkeit entstehen konnte. Da kann nun nur die Geisteswissenschaft eine wirkliche Antwort geben.

Wenn heute der Physiologe seine Wissenschaft zustande bringt, dann ist er - verzeihen Sie das harte Wort - eigentlich gar nicht Mensch. Er hat durch die besondere Entwickelung dieser Wissenschaft in der neueren Zeit die Gleichgewichtslage verloren; er schildert nicht im Gleichgewichtszustande zwischen dem Luziferischen und dem Ahrimanischen,

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sondern er ist in ein Ahrimanisches hinuntergerutscht. Eigentlich ist er besessen vom Ahrimanischen und schildert mit ahri­manischer Gesinnung. Und weil man immer das, worinnen man steckt, nicht sieht, so sieht man dafür das andere. Wenn man ahrimanische Gesinnung hat und etwas am Menschen selber schildert, so schildert man das Luziferische. So ist eigentlich diese heutige Physio­logie, die von dem Unterschiede zwischen den motorischen und sen­sitiven Nerven faselt, dadurch zustande gekommen, daß Ahriman den Luzifer beschreibt im Menschen, und daß das, was unter dieser Be­schreibung zustande kommt, eigentlich die Natur Luzifers ist, der nun wirklich so ist, daß man bei ihm in einer gewissen Beziehung sprechen kann - aber sie sind dann geistig, sind auf einem anderen Plan - von sensitiven und motorischen Elementen. Es ist außerordentlich inter­essant zu sehen, wie unter dem Einfluß der gegenwärtigen Welt­anschauungen der Mensch heruntergerutscht ist aus einer gewissen Gleichgewichtslage, die er im Griechischen gehabt hat, ins Ahrimanische. Und man beschreibt richtig den Fortgang unserer Kultur, wenn man ihn so beschreibt, wie ich es vor einiger Zeit im «Reich» getan habe, wenn man ihn mit einem Überhandnehmen des Ahrima­nischen identifiziert. Das Interessante ist, daß mit Bezug auf alle diese Dinge im Griechischen eine Gleichgewichtslage für eine kurze Kulturzeit erreicht war, und daß wir heute alle Schäden, auf die ich aufmerk­sam machen muß mit Bezug auf das griechische Element in uns, eigentlich dadurch uns einimpfen, daß wir das Griechische, das in Gleichgewichtslage war, durch unsere ahrimanische Brille sehen. Nicht gegen das Griechische als solches wende ich mich, sondern gegen das ahrimanisch ausgedeutete Griechische. Also wir sind in das Ahrimanische hinuntergerast, hinuntergesaust und haben heute den Impuls in uns, alles eigentlich aus ahrimanischen Untergründen her­aus zu beschreiben, zu betrachten und auch zu tun.

Das war vor der griechischen Zeit anders. Es hat eine alte Wissen­schaft gegeben, an der ägyptischen Kultur kann man sie noch äußer­lich studieren. Diese Wissenschaft verstehen heute die Leute gar nicht, denn sie ist das Gegenteil von dem, was man heute Wissenschaft nennt. Heute sind wir ins Ahrimanische hinuntergerutscht. Diejenigen,

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welche sich zum Griechentum heranentwickelt haben und die im Ägyptertum ihre Dekadenz erreichten, die waren noch im Luzife­rischen droben. Die waren im andern Extrem. Die hatten eine Physio­logie, in welcher Luzifer den Ahriman beschreibt, während wir eine Physiologie haben, in welcher Ahriman den Luzifer beschreibt.

Es genügt nicht, diese Dinge theoretisch zu verstehen, sondern man muß sich klar sein, daß wenn man im sozialen Leben drinnensteht - ein gewisses soziales Leben hat ja der Mensch immer um sich -, daß dann diese Dinge wirklich werden. Denn die soziale Struktur ist ja Menschenschöpfung. In die soziale Struktur geht alles hinein, was im Menschen liegt, und wir haben in unserer sozialen Struktur Dinge drinnen, die wir nicht beachten, die aber heute beachtet werden müs­sen, sonst kommen wir aus gewissen Schäden unseres Zeitlebens nicht heraus. Wir tragen nicht nur in uns die beiden Pole des Ahrimani­schen und des Luziferischen, zwischen denen wir das Gleichgewicht halten sollen, sondern wir tragen das Luziferische und das Ahrimanische auch in die Seelenzustände hinein. Darüber habe ich von den verschiedensten Gesichtspunkten aus wiederholt gesprochen, und immer wieder machte ich auf die falsche Askese aufmerksam, die da sagt: Ich will mich zurückhalten von Luzifer und Ahriman, damit ich ein guter Mensch werde. - Aber in dem Augenblick, wo Sie nur Geld in Ihren Beutel tun, stehen Sie in dem objektivierten Ahrimanischen in seiner äußersten Konsequenz drinnen. Denn alles, was die soziale Ordnung von der Geldseite her durchdringt, ist ahrimanisch, und die Herrschaft des Geldes ist eine ahrimanische Herrschaft. Und alles, was wir an Luziferischem in die äußere Lebensstruktur, in die soziale Struktur hineingetragen haben - ja, werden Sie nicht zu stark von einem Schock befallen -, alles was wir von seiten Luzifers in die Lebensstruktur hineintragen, das ist alles das, was Amt und Würde ist. Mit der Übernahme eines Amtes in der äußeren Lebensstruktur ziehen wir uns Luzifer heran. Es ist nicht anders. Der Geheimrat gehört dem Luzifer an, und das Geld, das er im Beutel hat, gehört Ahriman.

Das ist eine Tatsache - nicht zum Lachen! Das ist eine Tatsache, die ganz reale, ja, für unsere Zeit realste Wahrheit ist. Und das eigentliche

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Streben unserer Zeit besteht darin, innerhalb dieser Sachen wieder das Gleichgewicht zu finden, jenes Gleichgewicht, das wir dadurch histo­risch verloren haben, daß wir eben in das Ahrimanische hineingesaust sind. Gehen wir zurück hinter das Griechentum, wo, ich möchte sagen, für einen Weltenaugenblick die Gleichgewichtslage erreicht war, so finden wir, wie in der Herrschaft des Geistigen da nur die Verknöche­rung sich überzogen hat mit Theologie und Militarismus - Theologie und Militarismus gehören nämlich zusammen, es besteht eine innere Verwandtschaft zwischen ihnen -, wie unter der Herrschaft des Theo-logischen und des Militärischen sich namentlich Luzifer auslebte. Dann erreichte das Griechentum eine Gleichgewichtslage für die Weltentwickelung, die aber jeder Mensch eigentlich anstreben müßte. Und dann beginnt der Abstieg auf schiefer Ebene ins Ahrimanische, mit dem phantasielosen Römertum beginnend, und dann jener mäch­tigen Welle begegnend, die sich von Norden her als das Germanen­tum entgegenstemmt, das aber noch einmal übertönt wird. Und in dieser Übertönung sind wir drinnen und müssen uns heute retten aus dieser Übertönung. Denn das, was die Physiologen, die Wissenschaft­ler mehr theoretisch geleistet haben, indem sie Ahriman den Luzifer schildern lassen, das will sich immer mehr und mehr auch äußerlich verwirklichen. Der Mensch ist auf der Bahn, das Ahrimanische immer mehr und mehr in sich aufzunehmen, und das, was die Physiologen nur geredet haben - denn die Beschreibung, die wir heute vom Men­schen in den physiologischen Lehrbüchern haben, ist nicht eine Be­schreibung des Menschen, sondern eine Beschreibung des Luzife­rischen -, das, was die Physiologen nur reden, das möchten zahl­reiche Menschen machen, nicht aus einem bösen Willen heraus, son­dern weil sie noch nicht sehen, wohin der wirkliche Weg gehen muß. In dem Augenblick, wo wir nur die sozialistische Forderung erfüllen würden, den sozialen Organismus zum bloßen Wirtschaftskörper machen würden, in diesem Augenblick würden wir die ganze soziale Ordnung ahrimanisieren. Rein ahrimanisch ist dasjenige Programm, welches bloß den sogenannten wirtschaftlichen Unterbau haben will, auf dem sich dann der geistige Überbau von selbst ergeben soll. Das tritt einem ja so grotesk entgegen, wenn von der äußersten Linken

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nun gesagt wird, was ja wirklich möglich war zu sagen: Wir sind ganz einverstanden mit der Kritik, die Steiner am Kapitalismus übt; wir sind einverstanden mit der Dreigliederung des sozialen Organismus, aber wir müssen Steiner energisch bekämpfen, denn wir wollen nichts anderes als den Klassenkampf, und der dreigliederige soziale Organis­mus muß sich von selbst ergeben.

Da haben Sie das Beispiel eines eminent ahrimanischen Strebens und Woliens, das nichts wissen will von der Gleichgewichtslage, das ganz in eine ahrimanische Kultur hineinsausen will. Das ist die Schwie­rigkeit von heute. Ich habe gestern von einer anderen Seite darauf hingewiesen. Gehen Sie heute mit denjenigen Menschen, die rechts stehen - Sie werden das natürlich nicht tun, wenn Sie vernünftig sind -, dann konservieren Sie eine alte luziferische Kultur in ihren Resten; gehen Sie mit den Menschen der Linken, dann setzen Sie sich der Gefahr aus, mitzuarbeiten an einem Weltenbau, der rein ahrima­nisch ist. Das Bürgertum hat es ja glücklich dazu gebracht, dem Pro­letariat eine solche Bildung zu überliefern, daß dieses Proletariat das bürgerliche Denken als ein Ideal betrachtet - das Ideal eines rein ahri­manischen Zustandes auf der Erde, wo alles verbürokratisiert ist, wo bei dem Gedanken einer Änderung zum Beispiel auf dem Gebiete des Schulwesens selbst solche naive Seelen wie Theobald Ziegler zurück­schrecken. Und in dem ahrimanischen Wirtschaftsstaat wird es erst bös mit dem Geistesleben ausschauen, dessen können Sie sicher sein! Es steckt in dem proletarischen Streben der Impuls nach vorwärts, aber er wird die Menschheit nur dann nicht ins Unglück führen, wenn er durchgeistigt wird, wenn er durchpulst wird von dem, was die halbe Wirklichkeit zur ganzen macht. Das ist die Aufgabe. Aber diese andere Wirklichkeit kann ja nur die geistige sein, und die macht die Menschen wütend. Diese Wut muß ausgehalten werden. Wahrhaftiges Wutgift wird schon gespieen; aber dieses Wutgift gegen den Geist bricht hervor aus den realen Wutmächten, die sich heute überall ver­bergen, tückisch, als die ahrimanischen Mächte in unserer Welten-ordnung.

Wahrhaftig, nicht umsonst und nicht ohne Bezug auf das große Problem, das jetzt hervortritt, wurde den Anthroposophen die Möglichkeit

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geboten, auf das Ahrimanische und das Luziferische als die beiden Pole der Menschheit hinzusehen, und das Problem, das heute als soziales auftaucht, tiefer zu erschauen, als es ohne die Geistes­wissenschaft erschaut werden kann. Besonders auf dem Gebiete der Reform, der Umwälzung des Geisteslebens darf das soziale Problem nur im Lichte der Geisteswissenschaft gesehen werden, weil es nur da im richtigen Sinne erscheint. Und das legt den Anthroposophen eine gewisse Verpflichtung auf, darauf hinzuschauen, wie immer die Kul­tur in einer Art Pendeischwingung abgelaufen ist. Wenn wir in alte orientalische soziale Gebilde zurückgehen, so finden wir das Pendel ausschlagend auf der einen Seite nach der Richtung der Theologie, auf der anderen Seite nach der Richtung des Militarismus. Theologie und Militarismus im orientalischen Sinne tragen wir als Erbe in uns, und heute ist die Zeit, wo wir diese Sachen klar sehen müssen. Später trat an die Stelle von Theologie und Militarismus ein anderes. Denn eben­so, wie Theologie und Militarismus verwandt sind, nämlich luziferisch und ahrimanisch schwingend, so sind verwandt: Metaphysik im mit­telalterlich scholastischen Sinne, auch wie sie die Kantianer haben, wenn auch halb ablehnend, und die ganz in der metaphysischen Ge­sinnung ruhende Jurisprudenz, wie sie die römische Jurisprudenz ist. Das ist wieder verbunden mit dem Beamtentum. So wie Theologie mit Militarismus verbunden ist, so ist die Jurisprudenz mit der Metaphysik verbunden, mit dem Beamtentum und dem guten Bürgertum, während Theologie und Militarismus verbunden sind mit der Aristokratie.

Diese Dinge, Theologie als das Luziferische auf der einen Seite, Militarismus, der sich aristokratisch auslebt, auf der andern Seite als das Ahrimanische, das pendelte in der vorgriechischen Zeit. Wir tragen das Erbe in uns. Die Jurisprudenz und die über ihr stehende Meta­physik entwickelten sich im Römertum. Sie hatten zu ihrem Anhang die Bürokratie und das Bürgertum, das ja namentlich durch das Römer­tum in die Welt gekommen ist. Wer den Übergang erblickt zwischen dem Griechentum und dem Römertum, der kann mit Händen greifen, wie die realen geistigen Entitäten des Griechentums im Römertum metaphysisch wurden. Vergleichen Sie die griechischen Götter in ihrer Lebendigkeit als Imaginationen mit dem abstrakten Begriff eines

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J upiter, einer Juno oder einer Minerva im Römertum: da ist alles ab­strakt, schattenhafter Begriff geworden. Und so sind auch die Staats-einrichtungen des Griechentums lebendig, von Mensch zu Mensch wirkend, wenn auch für unsere Zeit nicht mehr passend. Im Römer­tum ist der ganze Staat als Begriff gegossen in ein System von juri­dischen Begriffen. Diese juridischen Begriffe haben das neuere Bürger­tum erzogen, und jetzt sind wir eingetreten seit langer Zeit schon auf dem Gebiete der Weltanschauungen, welche aus der theologisch­juridisch-metaphysischen Sphäre herausgekommen sind, jetzt sind wir eingetreten in die Sphäre des sogenannten Positivismus, der das Sinn­lich-Wirkliche nur gelten lassen will, und der zu seiner Begleiterschei­nung das Proletariertum hat mit alledem, was Gutes und Verkehrtes im Proletariertum heute steckt.

Aber damit ist man auch auf dem tiefsten Punkt angekommen, und man muß wieder herauf, sonst fällt man in den Abgrund. Als die Leute theologisch gesinnt waren, konnten sie heruntersteigen, zu der juri-stisch-metaphysischen Sphäre heruntersteigen. Wenn wir heute nicht anfangen, wieder hinaufzusteigen, dann versinken wir in den Ab­grund. Das heißt, wir müssen jetzt, wo wir an dem äußersten Ende des Materialismus angekommen sind und den Materialismus eben praktisch machen wollen, mit aller Energie das Geistige ergreifen, das allein die materialistische Gesinnung wieder herauf heben kann. Das ist die Grundpflicht unserer Zeit. Das macht aber auch das Wirken so schwierig. Denn nicht das aus den menschlichen Klassen- oder Standesvorurteilen oder das aus den Partei-Erscheinungen hervor­geholte Streben, sondern das aus der weitgeschichtlichen Entwicke­lung selbst hervorgeholte Streben ist dasjenige, woran die Menschen noch lange nicht heran wollen, weil es im Grunde genommen die Leute in einer Zeit trifft, wo sie am ärgsten egoistisch zersplittert sind und in der sie möglichst ungeistig sich gerade wohlfühlen.

Das Ganze hängt ja zusammen mit einer wirklichen, auch physio­logisch-physischen Fortentwickelung des Menschen. Ich habe auf diese physiologisch-physische Fortentwickelung des Menschen oft­mals hingewiesen. Glauben Sie denn, wir haben noch dieselben Leiber wie die Griechen? Unsere Leiber sind ja andere. Auch die menschliche

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Physis macht Metamorphosen durch. Die Griechen haben in ihrer Gleichgewichtslage für solche Dinge eine scharfe Beobachtung ge­habt. Wir müssen sie uns aneignen aus den Tiefen unserer Seele her­aus, aus dem geistigen Streben heraus. Wer die griechische Skulptur betrachtet, findet in ihr eine wunderbare Dreiheit zum Ausdruck kommend. Man beobachtet das viel zu wenig. Vergleichen Sie in seiner ganzen Physiognomie einen Hermes-Kopf mit einem Zeus­Kopf oder einem Athene-Kopf. Und vergleichen Sie wieder einen Satyr-Kopf mit einem Hermes-Kopf einerseits, mit einem Athene-Kopf, einem Hera-Kopf andererseits. Dann werden Sie das Merk­würdige entdecken, daß die Griechen etwas fühlten, indem sie diese Verschiedenheiten in ihre Plastik hineinbrachten. Ohrenabstände, Nasenstellung sind da Dinge, die deutlich sprechen. Wer einen Hermes-Kopf wirklich studiert, der weiß, oder kann wenigstens wissen, daß das Griechentum im Hermes-Kopf darstellen wollte die­jenige Menschheit, aus der das Griechentum sich selber heraus-gewachsen fühlte, die vergangene Menschheit, die noch etwas hatte von Fähigkeiten und Kräften, die mehr aus dem Tierischen kamen. Der Grieche selbst wollte sich in dem für ihn einzig schönen Zeus­Typus darstellen. Vergleichen Sie die Ohrenstellung, die Nasenstel­lung eines Hermes-Kopfes und eines Zeus-Kopfes: die besondere Art, wie der Grieche sich selber auffaßte, formal, künstlerisch - und die ganze griechische Weltanschauung war im Grunde genommen eine künstlerische -, die wollte er in den drei Typen seiner Plastik zum Ausdruck bringen.

Diese Dinge sind der heutigen Menschheit vielfach verlorengegan­gen. Sie müssen wieder erobert, wieder erworben werden. Was aber der Grieche aus seiner unbewußt eingenommenen Gleichgewichts­lage erringen konnte, müssen wir uns bewußt erringen, dadurch be­wußt erringen, daß wir wirklich den Gesichtspunkt gewinnen, der uns ermöglicht, so etwas zu sagen wie: Ihr Physiologen, ihr beschreibt ja vom Gesichtspunkte des Ahriman aus den Luzifer. - Und warum tut man das heute? Weil auch das Leibliche, das Physische, seit der grie­chischen Zeit ein anderes geworden ist. Wir sitzen mit unserer Seele gründlicher im Physischen fest als der Grieche, der das vorausahnte,

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und der gerade solche großen Ahnungen in seiner Mythologie wun­derbar zum Ausdruck brachte. Unseren modernen Menschen sah der Grieche voraus. Aber er sah ihn als den an den Felsen des Knochen­Systems, an das Ahrimanische geschmiedeten Prometheus. Er sah ihn imaginativ voraus. Und das, was in das Ahrimanische hineinsausen will, das will uns noch stärker und immer stärker an den Felsen der Verknöcherung schmieden.

Wir müssen uns befreien dadurch, daß wir das Geistige erfassen und die Fesseln des Prometheus lösen. Das können wir nur, wenn wir uns ernsthaft auf uns selbst besinnen. Das kann mit uns nlmmermehr machen der Orient, denn er ist selber zu luziferisch befangen; das kann mit uns njmmermehr machen der Okzident, denn der ist für sich selber zu sehr ahrimanisch befangen. Das ist die Aufgabe, die wir uns stellen müssen. Und stellen wir sie uns, dann haben wir der mitteleuropä­ischen Kultur ein wirkliches Ziel gegeben, ein Ziel, das ähnlich ist dem, das da lebte in den Kräften Griechenlands, die sich ausgegossen haben in den Formen der griechischen Kunst, in der künstlerischen Gestaltung der griechischen Dramen, in den zum Himmel weisenden Gedanken eines Plato. Aber wir müssen diese Dinge für uns suchen. Wir dürfen nicht die Imitatoren des Griechentums sein. Wir werden das Griechentum am besten verstehen, wenn wir es gerade in seiner Eigenart fassen, und wenn wir von ihm lernen, die Aufgaben unserer Zeit zu fassen.

Wir müssen ohne Illusionen hinschauen auf die soziale Struktur der Gegenwart, müssen hinschauen, wie aus ahrimanischem Denken her­aus das Geld zu einer Ware geworden ist. Denn der Gegenwert unseres Geldes trägt reinen Warencharakter, Silber- oder Goldwert. Und die Menschen sollten doch darüber nachdenken, wie das, was als «Ware Geld» funktioniert, keinen ursprünglichen menschlichen Bedürfnissen entspricht, sondern etwas ist, wofür erst das Bedürfnis in der Habgier der Menschen geschaffen werden muß. Trivial gesprochen: wir kön­nen ja Gold und Silber nicht essen und nicht trinken. Das ist das Ahri­manische, in das der heutige Mensch hineingestellt ist, und von dem unser Wirtschaftsleben dadurch befreit werden muß, daß wir in ihm nur haben Warenerzeugung, Warenzirkulation und Warenkonsum.

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Und das Geld darf nichts weiter werden als eine große Buchführung, die jeweilige Anweisung für die Ware. Das, was als Geldschein aus­gestellt wird, ist bloß auf die aktive Seite geschriebene Ware, die man dafür hingegeben hat. So lange hat man an die Gesellschaft ein Gut­haben, bis man die andere Ware dafür eingetauscht hat. Das Geld muß seinen ahrimanischen Charakter verlieren.

Und so steht auf der anderen Seite, auf der Seite des Geisteslebens, das furchtbare Luziferische, daß der geistige Mensch in Ämter hinein­gedrängt wird, daß das Menschliche des Menschen untergeht in Amt und Würde. Denn jedes Amt zieht dem Menschen eine luziferische Uniform an. Wer diese Dinge durchschauen kann in der Realität, der sieht insbesondere dann, wenn er die beamteten Lehrer, die beamteten Professoren einherwandeln sieht, die armen Menschen, die in luzife­rischer Kleidung stecken und die den Kampf führen müssen als Men­schen gegen die luziferischen Kleider. Dieser Kampf fordert in der Gegenwart, daß der Mensch auf geistigem Gebiete entluziferisiert wird, daß er zurückgegeben wird der ganzen Menschlichkeit. Das kann nur in einem befreiten Geistesleben sein. Die Dinge liegen tiefer, als man gewöhnlich zugibt. Sie liegen so tief, daß sie dem, der in ihre Tiefen eindringt, gewisse Verpflichtungen auferlegen. Diese Ver­pflichtungen dürfen in ihrer wahren Gestalt nicht verkannt werden. Wir sind einmal in der Mitte Europas dazu berufen, aus Unglück, Elend und Not heraus den Weg von der Materie zum Geiste zu finden. Durch Jahrzehnte wurde in engeren Kreisen der westlichen Völket, der anglo-amerikanischen Völker, immer darauf hingewiesen: es wird und muß ein Weltenbrand entstehen, und aus diesem Weltenbrand heraus wird Osteuropa eine Gestaltung annehmen, so daß innerhalb dieses Osteuropa sozialistische Experimente gemacht werden müssen, Experimente, welche wir im Westen und in den englisch sprechenden Gegenden selbst nimmermehr vornehmen wollen. Das war Tradition geworden, das ist verfolgbar bis in die achtziger Jahre zurück, daß die uns gegnerische, aber großzügige anglo-amerikanische Politik voraus­gesehen hat, wofür leider diese mitteleuropäische Nullitätspolitik blind und taub war: daß kommen wird ein Weltenbrand, und daß der Osten Europas reif werden wird für sozialistische Experimente.

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Das darf r:imrnermehr geschehen, daß den westlichen Völkern allein überlassen werde die Vollziehung der sozialistischen Experimente in Mittel- und Osteuropa. Es kann aber nur verhindert werden, wenn wir unsere Aufgabe ergreifen und dem mitteleuropäischen Geistes­leben ein Ziel setzen. Das ist unsere Aufgabe. Sehen wir sie nicht kleinlich an! Wir haben es immer wieder und wieder erleben müssen, daß die anthroposophischen Absichten ins Egoistisch-Kleinliche über­setzt wurden aus einer gewissen Couragelosigkeit gegenüber dem Großen. Gar zu gern haben die, welche sich zur Anthroposophie be­kannten, den Weg gesucht, indem sie sagten - nehmen wir ein Gebiet heraus -: Die Schulmedizin ist auf falschem Wege; also gehen wir allerlei Schleichwege, um nicht so kuriert zu werden, wie die Schul­medizin es macht, sondern um anders kuriert zu werden. - Sie kennen ja diese Dinge. Schleichwege wurden gesucht für dieses oder jenes. Aber versagt hat man immer dann, wenn es darauf ankam, in der Öffentlichkeit die Sache zu vertreten. Es kommt ja nicht darauf an, daß auf Schleichwegen diejenigen zu erreichen sind, die in der Öffentlich­keit als «Kurpfuscher» gebrandmarkt werden, sondern daß in die öffentliche Struktur, in die soziale Struktur diejenigen aufgenommen werden, die dann mit vollem Recht aus dem Geiste heraus auch das Medizinische treiben können. Raffen wir uns doch auf zu dem wirk­lichen Mut! Sagen wir nicht in unserem Kämmerlein: Von dem an der Universität abgestempelten Arzt wollen wir uns nicht kurieren lassen, aber zu dem wollen wir gehen, der ohne öffentliches Recht kuriert, weil wir uns nicht getrauen, unsere Gesinnung vor der ganzen Öffent­lichkeit zu vertreten und zu verlangen, daß eine solche Medizin nicht da sein dürfte, die wir nicht als die richtige ansehen. Heute geht es nicht mehr mit den Schleichwegen. Heute pulst durch das öffentliche Leben das, was kommen muß: ein couragiertes Vorwärtsdringen, dem nur die richtigen Wege gewiesen werden müssen. Das, meine lieben Freunde, ist es, was wir jetzt immer wieder und wieder bedenken müssen: daß Anthroposophie nicht gedacht war für den Egoismus einzelner Sektierer, sondern daß sie gedacht war als ein Kulturimpuis der Gegenwart. Diejenigen haben Anthroposophie schlecht verstan­den, die geglaubt haben, daß sie ihr dann dienen, wenn sie sich sektiererisch

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im Hinterstübchen abschließen und etwas Sektiererisches trei­ben. Gewiß, die Dinge, die öffentlich wirken sollen, müssen zuerst gekannt sein, müssen meinetwilien zuerst im Hinterstübchen getrieben werden; aber es darf dabei nicht bleiben. Was im anthroposophischen Impuls liegt, gehört der Welt an, gehört keiner Sekte an. Und jeder versündigt sich gegen die Anthroposophie selbst, wenn er die anthro­posophischen Gedanken sektiererisch treibt. Daher muß die Anthropo­sophie jetzt, wo die große Zeitfrage, die soziale Frage erscheint, in diese soziale Frage hinein ihr Wort legen. Das ist ihre Aufgabe. Und sie muß gewissermaßen hinweggehen über alle sektiererischen Neigungen, die ja leider gerade in der Anthroposophischen Gesellschaft sich so breit geltend gemacht haben. In dieser Beziehung werden wir in uns gehen müssen, um alle sektiererischen Neigungen in unserer Seele zu Kultur-neigungen zu erheben. Denn nur aus diesem Gebiete der Geisteswissen­schaft heraus, aus der Neigung, das Geistesleben in unserer materialisti­schen Zeit lebendig zu machen, kann eine wirkliche Umwandelung des Geisteslebens, des Schul- und Unterrichtswesens hervorgehen.

Alles braucht man selbstverständlich innerhalb eines Kulturrates. Dieser Kulturrat kann ohne eine wirkliche Seele, die aus einer neuen Weltanschauung kommen soll, doch nur nach und nach - wenn er auch jetzt noch so gut sich anläßt - ein Kultur-Unrat werden. Be­denken wir, daß heute die Wege sich sehr, sehr stark als in der Schei­dung begriffen darstellen, und daß man Mut braucht, um zu wählen, daß aber gewählt werden muß, wenn Heil, nicht Unheil über die Menschheitsentwickelung kommen soll. Gewiß können wir nicht von heute auf morgen die ganze Welt anthroposophisch machen, mit einer neuen Weltanschauung beglücken. Aber wenn wir selber wirken, müs­sen wir uns dessen bewußt bleiben, daß wir wahrhaftig nicht Anthro­posophie errungen haben, um sie jetzt entweder ahrimanisch oder luziferisch zu verbergen, sondern um zwischen dem Ahrimanischen und Luziferischen den Gleichgewichtszustand zu suchen, damit wir gegenüber dem, was die sehr stark nach abwärts sinkende Zeitwaag­schale bietet, damit wir diesem Hineinsausen in das Ahrimanische das­jenige entgegenhalten können, was jene Gleichgewichtslage hervor­bringt, welche die heutige Menschheit ja so sehr braucht.

NEUNTER VORTRAG Stuttgart, 15. Juni 1919

#G192-1964-SE184 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

NEUNTER VORTRAG

Stuttgart, 15. Juni 1919

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In einem der Vorträge, die ich hier in der letzten Zeit gehalten habe, habe ich darauf aufmerksam gemacht, daß in der Gegenwart Erzie­hungs- und Unterrichtswesen nicht bloß verlangt eine gewisse her­gebrachte Art von didaktisch-pädagogischen, wie man sie so nennt, Erkenntnissen und Fertigkeiten, sondern daß für den Erzieher und Unterrichter der Gegenwart vor allen Dingen nötig ist, einzudringen in die großen Kulturströmungen der Gegenwart. Der Erzieher hat es ja mit der heranwachsenden Menschheit zu tun. Diese heranwachsende Menschheit wird noch an viel andere Fragen herantreten müssen und wird in sie hineinversetzt werden müssen, als diejenigen waren, die schon in der verflossenen Zeit bis zur Gegenwart erlebt worden sind. Und es ist eine Notwendigkeit, daß der Erzieher und Unterrichter, indem er sich mit der heranwachsenden Menschheit zu beschäftigen hat, etwas ahnt von dem Zeitalter und seinem Charakter, worin eben die heutige junge Generation der Menschheit hineinwächst.

Es sollte im Grunde genommen jedem jetzt schon mehr oder weni­ger klar sein, wie sehr an der Oberfläche der Dinge diejenigen haften, die heute im gewöhnlichen Sinne von Schuld oder Verfehlung zwi­schen diesen oder jenen Völkern sprechen. Es sollte heute schon klar sein, daß man nicht deutlich den Gang der Ereignisse der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit sehen kann, wenn man sich nicht frei machen kann von jenen Schuld- oder Sühnebegriffen, die für das Einzelleben, für das individuelle Leben der Menschen gelten. Für das, was geschehen ist und was noch geschieht, sind viel mehr solche Be­griffe anwendbar wie Tragik und Schicksal, als die Begriffe von Un­recht, Schuld, Sühne oder dergleichen. Und so wenig auch die Menschheit geneigt ist, sich selber gegenwärtig das Urteilsvermögen auf ein höheres Niveau hinaufzuheben, es wird doch hinaufgehoben werden müssen. Denn der Kampf, den die Menschheit ausgefochten hat, weist er denn nicht klar und deutlich darauf hin, daß in dieser Menschheit einfach kulturhistorisch, man möchte sagen anthropologisch-historisch,

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eine Unruhe lag, welche die Menschheit fast über das ganze Erdenrund hin ergriff? Frägt man da oder dort: Was haben die Leute deutlich getan oder gedacht im Jahre 1914?-, so zerflattern die Urteile. Man muß da eben sehen auf die elementarische innere Unruhe, die über die Menschheit der ganzen Erde gekommen ist. Und diese innere Unruhe, die sich deutlich im Grunde genommen heute schon ausspricht, hat sich zunächst ausgelebt, man möchte sagen, in dem physischen Waffenkampf. Dieser physische Waffenkampf war physi­scher als früher die Kriege. Denn wieviel rein Maschinelles, wieviel rein Mechanisches hat Anteil gehabt an diesem Waffenkampf. Aber wie dieser Waffenkampf ein solcher war, daß man ihn mit nichts in der bisherigen Geschichte vergleichen kann, so wird er gefolgt sein von einem Geisteskampf, der ebenfalls mit nichts in der Geschichte sich wird vergleichen lassen. Der äußerste physische Waffenkampf auf der einen Seite wird gefolgt sein von einem Geisteskampf, der auch ein Äußerstes darstellen wird von dem, was die Menschheit bisher in der geschichtlichen Entwickelung erlebt hat. Man wird sehen, daß an diesem Geisteskampf die ganze Erde teilnehmen wird, und daß in diesem Geisteskampf Orient und Okzident init Gegensätzen gei­stiger und seelischer Art stehen werden, wie sie noch nie dagewesen sind.

Die Dinge kündigen sich stets durch allerlei Symptome an, deren Bedeutung man nicht immer kräftig genug einschätzt. Vieles wird da-von abhängen, wie die anglo-amerikanische Welt, als Okzident-Welt, gegenüber der orientalischen Welt in der Zukunft sich verhalten wird. Denn nicht so leicht, wie mit Mittel- und Osteuropa physisch, wird die anglo-amerikanische Welt als Okzident mit dem Orient geistig fertig werden. Daß Indien heute halb verhungert ist, daß das halb­verhungerte Indien nach einer Neugestaltung aller menschlichen Ver­hältnisse schreit, das bedeutet ein Ungeheures in der Gegenwart. Denn wenn dieses halbverhungerte Indien aufstehen wird, dann wird es durch das Vermächtnis, durch das geistige Vermächtnis urältester Zeiten, ein viel elementarerer Feind sein für den Okzident, für die anglo-amerikanische Welt, als es Mitteleuropa mit seiner materialisti­schen Gesinnung war.

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In diesen großen Geisteskampf, für den alle sozialen und sonstigen Bestrebungen der Gegenwart nur das Vorspiel sind, gewissermaßen nur Propädeutik, in diesen Geisteskampf wächst unsere junge Gene­ration hinein, und sie wird gerüstet sein müssen mit Kräften, von denen sich die heutige Menschheit, auch die pädagogisierende Mensch­heit, vielfach nichts träumen läßt. Die heutige Menschheit hat es schon notwendig, wenn sie soziale Pädagogik treiben will, auf ganz andere Dinge zurückzugehen als auf das, was man erlernen kann an den heutigen wissenschaftlichen Methoden, die ja zumeist naturwissen­schaftliche Methoden sind. Vielfach ist das allerverkehrteste Zeug ge­rade in unser Bildungswesen hineingekommen, hineingekommen aus dem Grunde, weil der Drang schon da ist, etwas Tieferes aus der Menschennatur in dieses Bildungswesen hineinzubringen, weil aber die Menschen sich noch sträuben gegen die wahre Wirklichkeit, die ohne die geistige Wirklichkeit nicht gedacht werden kann. Denken wir uns nur einmal, daß heute in der Pädagogik gesucht wird, allerlei Zeug aus der sogenannten analytischen Psychologie, aus der Psycho­analyse, in das Bildungswesen hineinzubringen. Warum geschieht das? Es geschieht deshalb, weil man unfähig ist, den Geist geistig zu denken, und daher die Entwickelung des Geistes aus der physischen Beschaffen­heit des Menschen psychoanalytisch untersuchen will. Überall ist es das Sichsträuben gegen geistige Erkenntnis, das uns das Streben ver­dirbt, in dem wir drinnenstehen sollen.

Durch die verschiedenen materialistischen Neigungen der verflos­senen Zeit haben wir in uns als Menschen ausgebildet, ich möchte sagen, eine gewisse menschliche Haltung. Mit dieser leben wir heute in der Welt. Wieviel diese menschliche Haltung - ich spreche jetzt nicht von einem einzelnen Volke, sondern von der Menschheit -, wie­viel diese Haltung wert ist, hat man daraus sehen können, daß Millio­nen von Menschen getötet und noch mehr zu Krüppeln geschlagen worden sind aus dieser Haltung der Menschheit heraus. Aber be­trachten wir jetzt nicht formal, äußerlich schablonenhaft, sondern be­trachten wir innerlich die heranwachsende Generation und das, was wir für sie erzieherisch und unterrichtend zu tun haben. Betrachten wir es im Lichte jener Menschheitskunde, Anthropologie, die uns, die

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wir uns jahrelang mit Anthroposophie beschäftigt haben, ja geläufig sein sollte. Kleinste Beobachtung des Menschenlebens grenzt für uns heute an die allergrößten, bedeutsamsten Kulturströmungen und Kulturkräfte.

Wie oft ist hier besprochen worden, wie sich drei aufeinander fol­gende Entwickelungsalter des Menschen mit Bezug auf die ganze Ent­faltung der Menschennatur voneinander unterscheiden. Wir müssen, so sagte ich oftmals, im heranwachsenden Menschen genau unter­scheiden das Lebensalter bis zu dem Zeitpunkt, wo er die Dauerzähne bekommt, das heißt bis zum Zahnwechsel. Dieser Zahnwechsel ist ein viel bedeutenderes Symptom für die ganze menschliche Entwicke­lung, als man gewöhnlich aus der heute nur an Äußerlichkeiten haf­tenden Naturwissenschaft annimmt. In diesen Äußerlichkeiten hat die Naturwissenschaft - das muß immer und immer wieder betont wer­den - die größten Triumphe gefeiert; in das Innere der Dinge vermag sie jedoch nicht einzudringen. Gerade weil sie so groß ist in bezug auf die Äußerlichkeiten, vermag sie in das Innere nicht einzudringen.

Wenn man den Menschen in diesem ersten Lebensalter erfassen will, dann muß man zuerst beachten, was die Grundlagen der menschlichen Vererbungsverhältnisse sind. Davon habe ich auch schon gesprochen. Diese Vererbungsverhältnisse werden nur ganz einseitig aufgefaßt, wenn man sie nur mit den Augen der gegenwärtigen Naturwissen­schaft ansieht. Die Vererbung ist so, daß einen deutlich unterscheid­baren Einfluß haben: das mütterliche und das väterliche Element. Das mütterliche Element ist das, was an den Menschen mehr die Charak­tere des allgemeinen Volkstums, der Volkheit überliefert. Von der Mutter erbt der Mensch mehr das Allgemeine: daß er mit einem be­stimmten Volkscharakter hineinwächst in ein Volkstum. Das Geheim­nisvolle der Mutterschaft besteht darin, von Generation zu Generation durch die physischen Kräfte die Charaktere des Volkstums zu über­tragen. Der spezielle Beitrag des Vatertums ist, in dieses Allgemeine hineinzuwerfen das Einzel-Individuelle des Menschen, das, was det Mensch als einzelner individueller Mensch ist. Erst dann, wenn man die Einzelheiten des menschlichen Charakters so betrachtet, wie es im Sinne der angedeuteten Vererbungsprinzipien geschehen ist, dann

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wird man sich klar werden, was man eigentlich in einem neugebore­nen Menschen vor sich hat.

Dann aber ist für das erste Lebensalter zu beachten, daß der Mensch in dieser Zeit ganz und gar ein Nachahmewesen ist. Alles, was der Mensch bis so ungefähr in das siebente Jahr hinein sich aneignet, eig­net er sich dadurch an, daß er ein nachahmendes Wesen ist. Dadurch aber wird das Leben des heranwachsenden Kindes angeschlossen an die intimsten Kultureigenschaften eines Zeitalters. Diejenigen, die das Kind zunächst nachahmt, sind die Vorbilder des Kindes. Alles, was sie in sich tragen mit ihren innersten Eigentümlichkeiten, geht an die heranwachsende Generation über. Diese Nachahmung vollzieht sich ganz im Unterbewußtsein, aber sie ist eben ungeheuer bedeutungsvoll, und sie wird ganz besonders bedeutungsvoll von dem Augenblicke ab, wo das, was auch durch Nachahmung von dem Kinde gelernt wird, wo das Sprechenlernen eintritt. Vor dem Sprechenlernen ist das Nachahmen zunächst noch ein Nachahmen im Äußeren; tritt das Sprechenlernen ein, dann erstreckt sich das Nachahmen in die inneren seelischen Eigen­schaften hinein. Der heranwachsende Mensch wird dann denen an-geähnelt, die um ihn sind. Und viel mehr, als man gewöhnlich denkt, flößt sich mit der Sprache in den Grundcharakter des heranwachsenden Menschen ein. Die Sprache hat einen innerlichen, einen eigenen see­lischen Charakter, und ein gutes Stück nimmt das heranwachsende Kind von demjenigen Menschen seelisch auf, an dem es sich spre­chend heranentwickelt. Diese Aufnahme ist sehr stark, sehr kräftig; sie geht bis in dasjenige hinein, was wir den astralischen Leib nennen. Sie ist so kräftig, daß sie einen Gegenpol braucht. Der ist da. Und in der unbefangenen Betrachtung dieses Gegenpoles zeigt sich eben jenes Geheimnisvolle in der Natur- und Wesensentwicke­lung, zu dem die heutige äußerliche Naturbetrachtung nicht heran-dringen kann.

Wäre die äußere physische Natur - ich will mich so ausdrücken, wir haben ja kaum einen Ausdruck in der Sprache, um diese Dinge an­zugeben -, wäre die äußere physische Natur weichlicher, als sie ist, so würde der Mensch durch das Aufnehmen der Sprache ganz und gar ein Abdruck desjenigen werden, von dem er sprechen lernt. Aber dagegen

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ist gleichsam ein Damm aufgerichtet dadurch, daß die physische Natur des Menschen in diesen ersten sieben Jahren innerlichst am aller­meisten erhärtet. Und der Gipfel, der Kuirinationspunkt dieser Er­härtung drückt sich in dem Durchstoßen eines Knöchrigen, der Dauerzähne, aus. Ein Durchstoßen eines Knöchrigen ist der Ab­schluß einer inneren Festigung des menschlichen physischen Leibes, die durch das ganze Lebensalter, von der Geburt, oder wenigstens von dem Entstehen der ersten Zähne, die reine Vererbungszähne sind, bis zu den Dauerzähnen hin verläuft. Das sind zwei Gegenpole: die äußerst bewegliche innere Entwickelung in der Sprache, und die äußere Verhärtung, wo sich gleichsam der Mensch dagegen auf­bäumt und sagt: Ich bin auch noch da, ich will nicht bloß ein Abbild sein. - Und diese Verhärtung drückt sich aus in dem, was zuletzt in den zweiten Zähnen, in den Dauerzähnen, als Kulminationspunkt erscheint.

Dieser Prozeß spielt sich ab im ersten Lebensalter des Menschen. Was ist nun das wichtigste Erziehungsprinzip für dieses Lebensalter? Es ist das, was wir selbst sind. Wenn wir nicht darauf achtgeben, was wir selbst sind, bis in unser Innerstes hinein, so erziehen wir schlecht, denn die Entwickelung des Menschen beruht in diesem Lebensalter nicht so sehr darauf, was wir ihm jetzt sagen, sondern was wir ihm vor-machen. Er ist ein nachahmender Mensch. Sie können es ja erleben, ich habe es schon erwähnt: Ein Kind in diesem Lebensalter, bevor der Zahnwechsel sich vollzogen hat, stiehlt zum Beispiel. Die Eltern kommen und sind außer sich, daß es gestohlen hat. Durchschaut man die Verhältnisse, so fragt man: Wie ist das eigentlich gekommen, daß das Kind gestohlen hat? Nun, es hat einfach irgendwo eine Schublade aufgemacht und Geld herausgenommen. Das erzählen einem dann die Leute. Durchschaut man die Verhältnisse, so muß man sagen: Macht euch keine Sorge darüber, denn das ist kein Diebstahl. Das Kind hat die ganze Zeit über gesehen, daß die Mutter einfach zu einer be­stimmten Tageszeit an die Schublade gegangen ist und dort Geld her­ausgenommen hat. Es hat keine bestimmte Vorstellung darüber, es ist ein Nachahmer, es macht die Sachen nach; verwehrt man es ihm, so versteht es einfach noch nicht. Es ist gar nicht nötig, daß sich an diese

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Tat die herben Begriffe des Diebstahls sogleich anschließen. Es han­delt sich eben darum, daß wir auf uns selber achtgeben und eingedenk dessen sind, daß das Kind in diesen Jahren ein Nachahmer ist.

Dann kommt das zweite Lebensalter, das vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife verläuft. Das ist die eigentliche Schulzeit. In dieser Schulzeit, ich habe es auch schon öfter erwähnt, da ist das Eigentüm­liche, daß ein ganz anderes im Leben des Menschen eintritt, als das Nachahmungsprinzip der ersten Lebensjahre. Man darf sich nicht be­schwätzen lassen mit so allgemeinen Urteilen, wie man sie gerne eben geschwätzig sagt: Die Natur macht keine Sprünge. Das ist, wie es gewöhnlich gemeint ist, eigentlich ein Unsinn. Die Natur macht fort-während Sprünge. Denken Sie nur, wie stark der Sprung ist bei der Pflanze vom grünen Laubblatt zum farbigen Blumenblatt. Wenn man meint, daß die Natur keinen Abgrund überspringt, mag es richtig sein; aber von einem stetigen Entwickeln ohne Diskontinuität kann in der Natur gar keine Rede sein. So ist es auch für eine wirkliche Beobachtung mit der Entwickelung des Menschen. Während der Mensch in den ersten sieben Lebensjahren ein Nachahmer ist, tritt er vom Zahnwechsel ab bis zur Geschlechtsreife in das Zeitalter, wo für ihn das Prinzip der Autorität das Maßgebende ist. In diesem Zeitalter verkommt etwas im Menschen, wenn nicht in gesunder Weise die Möglichkeit entwickelt wird, daß das Kind Vertrauen hat zu seinem Erzieher und Unterrichter, daß es das noch nicht prüft mit dem noch nicht erwachten Verstande, was der Erzieher und Unterrichter sagt, sondern aus Vertrauen in die Autorität des Erziehers das macht, was es machen soll, weil der andere Mensch das sagt und hinstellt, was gemacht werden soll. Diese Dinge sind nicht nur unter den Gesichts­punkten zu betrachen, unter denen man heute alles mögliche im Leben verabsolutiert, und unter denen man am liebsten sogar schon das Kind zum absolut innerlich freien Wesen machen möchte. Will man das, tut man das in diesem Lebensalter, dann macht man den Men­schen nicht frei, sondern haltlos für das Leben, ganz haltlos, innerlich leer. Wer zwischen seinem siebten und vierzehnten Jahre nicht gelernt hat, zu den Menschen ein solches Vertrauen zu haben, daß er sich nach ihnen richtet, dem fehlt im kommenden Leben etwas an innerlicher

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Stärke und Willensenergie, die er haben muß, wenn er dem Leben wirklich gewachsen sein soll.

Aller Unterricht ist daher im Grunde genommen vorzugsweise dar­auf einzurichten, daß ihm zugrunde liegt dieses absolute Hinaufsehen zu dem Erzieher. Das darf nicht eingepaukt, darf nicht eingeprügelt werden; das muß in der Qualität des Erziehenden und Unterrichten­den selbst liegen, und da geht die Sache bis ins Innerlichste hinein. Diese Dinge spielen sich nicht in derselben Sphäre ab, in der sich das­jenige abspielt, was wir als Erzieher dem Kinde sagen, sondern das spielt sich zunächst vorzugsweise durch das ab, was wir als Erzieher neben dem Kinde sind. Die Art, wie wir sprechen, der Ton der Rede, ob die Rede von Liebe durchzogen ist oder von bloßer Pedanterie, ob die Rede durchzogen ist von sachlichem Interesse oder von bloß äußerem Pflichtgefühl, das ist etwas unter der Oberfläche der Dinge Vibrieren­des, das im Wechselspiel von autoritärem Wirken und Autoritäts­gefühl von der allergrößten Bedeutung ist. Dieses Verhältnis zwischen dem heranwachsenden Kinde und dem Erzieher oder Unterrichter ist ein viel innerlicheres, als man eigentlich denkt. Das Kind ist nun schon frei vom bloßen Nachahmen, aber es muß hineinwachsen in das innerlichste, triebartige Zusammenleben mit dem Erzieher und Unter-richter. Das ist auch bei den größten Schulklassen zu erreichen; da gilt nicht die Ausrede, daß es nicht zu erreichen wäre. Denn wer Lebensbeobachtung hat, der weiß, daß ein großer Unterschied ist zwischen zwei Lehrern, von denen der eine das Schulzimmer betritt, und der andere es betritt, ganz abgesehen davon, wie viele Kinder in diesem Schulzimmer sitzen. Derjenige, der am Abend, wie man es in deutschen Landen früher oftmals gehört hat, immer die Notwendig­keit gespürt hat, soviel Bier zu trinken, daß er die nötige Bettschwere hat - das ist eine Redensart, die man oft hören konnte -, der wird, nicht so sehr, weil er Bier getrunken hat, sondern weil er solche Neigungen hat, ganz anders die Schulzimmertür aufmachen und in das Zimmer hereintreten als der, welcher sich vielleicht die nötige Bettschwere am Abend vorher dadurch erworben hat, daß er, sagen wir, ein Ernsteres nachgedacht hat über diese oder jene Weltanschau­ungsfragen. Das ist nur ein Beispiel, das natürlich in hundertfacher

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Weise variiert werden könnte. Erst wenn man die Wohltat, die ein Mensch dadurch empfängt, daß er zwischen seinem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife Autoritätsglauben hat entwickeln können und dürfen, erst wenn man diese Wohltat voll zu würdigen weiß, hat man eigentlich das richtige Urteil über das, was im Unterrichten und Er­ziehen in diesem Lebensalter des Menschen geschehen kann.

Man wird oftmals gefragt: Was soll man mit Kindern machen? Man sagt dann: Es ist in diesem oder jenem Lebensalter gut, den Kindern Märchen zu erzählen, sie Märchen nacherzählen zu lassen. Oder man sagt: In diesem Lebensalter soll man sich nicht so sehr in abstrakten Begriffen mit Kindern unterhalten, sondern mehr in Symbolen und Sinnbildern. Und ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß man selbst die penibelsten Dinge mit Kindern besprechen kann, zum Bei­spiel die Unsterblichkeitsfrage. Man weist das Kind hin auf die Insektenpuppe, wie der Schmetterling ausffiegt, und weist darauf hin, daß geradeso, wie der Schmetterling aus der Puppe kommt, die Seele des Menschen durch die Pforte des Todes geht, aus dem physischen Leib in eine andere Daseinsgestalt. Ja, das ist gut, wenn man es dem Kinde sagt. Und doch erreicht man oftmals nicht irgendein erheb­liches Ziel damit. Warum denn nicht? Weil man in vielen Fällen von dem Kinde verlangt, daß es daran glauben soll, und man selbst nicht daran glaubt, man selbst es für einen bloßen Vergleich hält. Das spielt aber im Unterbewußtsein eine erhebliche Rolle. Diese Dinge sind nicht bedeutungslos. Es liegt im Verhältnis von Mensch zu Mensch noch etwas anderes, als was sich im äußeren Begriff mitteilen läßt. Es liegt ein Verhältnis vom ganzen Menschen zum ganzen Menschen vor. Wenn Sie selbst nicht an ein solches Sinnbild glauben, dann gibt es keine Autorität für das Kind, dann sind Sie für das Kind kein Vorbild, wenn Sie sonst auch alles tun, um sich Ihre Autorität zu sichern. Sie werden freilich sagen: Ja, ich kann doch nicht daran glauben, daß der Übergang zum Tode, zum Post-mortem-Zustande, irgendwie real aus­gedrückt wird durch das Ausschlüpfen des Schmetterlings aus der Puppe. - Nun, ich glaube daran, weil das tatsächlich wahr ist, weil tatsächlich die Dinge der Wirklichkeit reale Symbole sind, weil es in der Tat so ist, daß in der physischen Welt der Schmetterling aus der

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Puppe so hervorgeht ganz nach denselben Gesetzen, nach denen im Geistigen die unsterbliche Seele aus dem Leben durch die Pforte des Todes hervorgeht. Aber solche Gesetze kennt die gegenwärtige Menschheit nicht, sie hält sie für Wischiwaschi. Sie hat den Glauben, daß sie den Kindern etwas beibringen muß, was für die Alten über­wunden ist. Aber dann können wir nicht erziehen, dann können wir nicht unterrichten.

Wir erlangen Autoritätsgefühl nur dann, wenn wir das an die Kin­der übermitteln, was wir selber voll glauben können, wenn wir es natürlich auch für die Kinder in ganz andere Formen kleiden müssen; aber darauf kommt es nicht an. Kein menschliches Verhältnis jedoch läßt sich herstellen, ohne daß bis ins Innerste hinein Aufrichtigkeit und nicht Lügenhaftigkeit herrsche. Und Wahrheit muß herrschen zwischen den Menschen in allen Verhältnissen. Durch dieses Sich-Hinwenden zur Wahrheit werden wir auch allein das in die Welt bringen können, was jetzt in der Welt fehlt. Und weil es fehlt, deshalb ist das Unglück gekommen. Sehen Sie nicht überall in der Welt die Unwahrhaftigkeit wirken, ja sogar den Hang, die Sehnsucht zur Un­wahrhaftigkeit wirken? Wird denn in der Weltpolitik noch Wahrheit gesprochen? Nein, unter den gegenwärtigen Verhältnissen gar nicht! Aber wir müssen von dem untersten Menschenwesen an anfangen, wieder die Wahrheit zu züchten. Deshalb müssen wir hineinleuchten in die Geheimnisse des werdenden Menschen und fragen: Was ver­langt der werdende Mensch gegenüber dem Erziehenden und Unter­richtenden von uns?

Wer in dem Lebensalter vom siebten bis vierzehnten, fünfzehnten Jahre nicht diese Möglichkeit entwickelt hat, zu einem anderen Men­schen als zu seiner Autorität hinzuschauen, der ist für das nächste Lebensalter, das mit der Geschlechtsreife beginnt, vor allen Dingen nicht fähig, das Allerwichtigste zu entwickeln, was es für das Men­schenleben gibt: das Gefühl der sozialen Liebe. Denn mit der Ge­schiechtsreife erwächst im Menschen nicht nur die geschlechtliche Liebe, sondern auch das, was überhaupt freie soziale Hingabe der einen Seele an die andere ist. Diese freie Hingabe der einen Seele an die andere muß sich aus etwas entwickeln; die muß sich zuerst aus der

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Hingabe durch das Autoritätsgefühl hindurchwinden. Das ist der Puppenzustand für alle soziale Liebe im Leben, daß wir erst durch das Autoritätsgefühl hindurchgehen. Liebeleere Menschen, antisoziale Menschen entstehen, wenn das Autoritätsgefühl zwischen dem siebten und vierzehnten, fünfzehnten Jahre nicht im Unterrichten und Er­ziehen lebt.

Das sind für die heutige Zeit Dinge von eminentester, von größter Wichtigkeit. Die Geschlechtsliebe ist nur gewissermaßen ein Spezi­fikum, ein Ausschnitt aus der allgemeinen Menschenliebe; sie ist das, was als das Individuelle, Besondere hervortritt und was mehr im physischen Leibe und ätherischen Leibe haftet, während allgemeine Menschenliebe mehr im astralischen Leibe und Ich haftet. Aber es er­wacht auch die Fähigkeit zu sozialer Liebe, ohne die es keine sozialen Einrichtungen in der Welt gibt. Die erwacht erst auf der Grundlage des gesunden Autoritätswesens zwischen dem Zahnwechsel und der Geschlechtsreife, das heißt gerade während der Schulzeit des Men­schen. Mögen die Menschen noch soviel reden von Einheitsschule

- es ist ja ganz berechtigt, selbstverständlich -, mögen sie heute noch soviel davon reden, man solle Individualität entwickeln, und wie die Abstraktionen alle heißen, mit denen man sich heute ganz besonders pädagogische Popanze vormacht: worauf es ankommt ist, daß wir wieder die Möglichkeit gewinnen, ins Innere der Menschennatur hin­einzuschauen, und vor allen Dingen ein Gefühl dafür erhalten, daß der Mensch überhaupt lebt. Heute hat man ja gar kein Gefühl dafür, daß der Mensch ein Lebewesen ist, das sich in der Zeit entwickelt. Heute hat man nur ein Gefühl dafür, daß der Mensch etwas Zeitloses ist; denn man redet heute überhaupt nur vom Menschen, ohne zu berück­sichtigen, daß er ein Werdewesen ist, daß mit jedem Lebensalter etwas Neues in seine ganze Entwickelung hineinzieht.

Wenn man diejenigen Dinge, die in dem Programm des dreigliede­rigen sozialen Organismus liegen, den Menschen heute voll sagen würde, so würden sie manches noch in den weitesten Kreisen wie eine Art Wahnsinn ansehen. Denn sehen Sie, Selbstverwaltung wird zum Beispiel für das Unterrichtswesen verlangt, Abgliederung vom staat­lichen und wirtschaftlichen Leben mit Bezug auf das eigentlich Geistige

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des Unterrichtswesens. Dadurch wird es erst im emanzipierten Geistesleben möglich sein, den Menschen wieder zu seinem Recht kommen zu lassen. Denn heute weiß kein Mensch damit zu rechnen, daß die inneren Entwickelungsimpulse in den ersten Lebensjahren bis zum Zahnwechsel andere sind als in der dann folgenden Zeit bis zur Geschlechtsreife, und wieder andere nach der Geschlechtsreife; und niemand weiß auch heute, daß der Mensch, wenn es mit dem Leben abwärts geht, wenn er in der zweiten Lebenshälfte steht, wiederum Entwickelungszustände durchmacht. Wer denkt denn heute daran, daß der Mensch reifer wird im Leben, und daß der, welcher zum Bei­spiel in den höheren Vierziger- oder Fünfzigerjahren ist, durch seine Lebenserfahrung mehr zu sagen hat als der, welcher erst zwanzig-jährig ist? Der Lebensverlauf ist ja etwas Reales. Er ist es allerdings heute für viele Menschen nicht, weil sie so erzogen und geschult wer­den, daß sie nicht mehr fähig sind, in der zweiten Lebenshälfte noch wirklich Erfahrungen zu machen. Die Menschen werden heute gleich­sam nicht älter als achtundzwanzig Jahre, dann vegetieren sie nur noch fort mit den Erfahrungen bis zum achtundzwanzigsten Jahre. Aber das muß nicht so sein! Der Mensch kann durch sein ganzes Leben hin­durch ein Lernender, ein vom Leben Lernender sein. Dann muß er aber dazu erzogen sein; dann müssen während der Schulzeit in ihm die Kräfte entwickelt werden, die nur in dieser Zeit stark werden können, so daß sie vom späteren Leben nicht wieder gebrochen werden. Heute gehen die Menschen so herum, daß sie alle irgendwie einen Knick vom Leben bekommen. Warum bekommen sie den? Weil sie in der Zeit vom siebenten bis zum vierzehnten Jahre nicht stark genug gemacht worden sind, um dem Leben standzuhalten. Diese Zusammenhänge müssen durchaus beachtet werden, und andere Zusammenhänge dür­fen nicht vergessen werden. Wenn wir recht alt werden, dann ent­wickeln wir in uns Eigenschaften, die mit unserm allerfrühesten Kin­desalter zusammenhängen. Was wir da nachgeahmt haben, das ent­wickelt sich auf einer höheren Stufe gerade im spätesten Lebensalter. Und was wir in der Zeit vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife durchgemacht haben, tritt etwas früher auf, schon in den Vierziger-jahren. Und so entwickelt sich gerade das, was der Mensch in der allerfrühesten

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Kindheit durchmacht, in einem allerspätesten Lebensalter. Das menschliche Leben ist in seinem Werden eine reale Tatsache. Und wir werden nicht früher eine wirkliche Sozialisierung bekommen, be­vor wir nicht den Menschen menschlich nehmen. Wenn wir vom Menschen nichts anderes wissen, als daß er mit einundzwanzig Jahren mündig wird und dann fähig ist, in alle jnöglichen Körperschaften aufgenommen zu werden und über alles zu reden, dann werden wir niemals einen Sozialismus begründen; dann werden wir nur zum Nivellement eines Menschheitsabstraktums kommen. Deshalb muß auf den eigentlichen demokratischen Staat, wo jeder mündige Mensch jedem mündigen Menschen gegenübersteht, alles das beschränkt wer­den, was den Menschen angeht nach der Gleichheit aller Menschen, das heißt, was aus den bloßen Rechtsbegriffen herkommt. Gerade aus diesem Grunde, um die Wirklichkeit nicht abzutöten, müssen die Möglichkeiten wieder eintreten, daß dasjenige, was an das Werden des Menschen gebunden ist, der freien Entwickelung übergeben wird:

Geistesleben und Wirtschaftsleben. Es wird sich das schon heraus-bilden, daß wir auch im Geistesleben und im Wirtschaftsleben wieder Ältesten-Kollegien haben werden, weil man denen, welche alt ge­worden sind, doch mehr Verwaltungskunst zutrauen wird als denen, die noch jung sind. Nicht das wird der Weg sein müssen, daß man, wie es jetzt ist, die Schulaufsicht vom Staate besorgen läßt, sondern der Weg wird der sein müssen, daß das geistige Leben auf Selbstverwal­tung beruht. Man hat ja oft das Gefühl dafür, daß ein Mensch, wenn er alt geworden ist, jetzt zu dem einen oder andren nicht mehr taugt, wofür er früher getaugt hat. In Österreich besteht zum Beispiel ein Gesetz, wonach die Universitätslehrer nur bis zum siebzigsten Jahre vortragen dürfen, dann wird ihnen höchstens noch ein Gnadenjahr bewilligt; dann aber dürfen sie nicht mehr vortragen. Ich glaube, die­ses Gesetz ist immer noch vorhanden. Ich kann ja sogar behaupten, daß es gut wäre, wenn man diese Altersgrenze noch weiter herunter-setzte. Dann aber müßte der Mensch, wenn er Universitätslehrer ist, erst eintreten in das Obhut- und Versorgeamt, in das Verwaltungsamt des Unterrichtes. Es müßte wieder das innige Band, von dem die Menschen heute schwefeln oder auch schwafeln - ich glaube, so sagt

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man -, dieses innige Band zwischen Geist und Natur müßte wieder im Ernst gesucht werden. Man müßte nicht Einrichtungen treffen, die mit Ausschiuß jeder Berücksichtigung des natürlichen Werdens ge­troffen werden, zum Beispiel mit Ausschluß des Umstandes, daß der Mensch nicht ein absolutes Wesen ist, das mit fünfunddreißig Jahren geboren wird, so alt bleibt und nicht älter wird als fünfunddreißig Jahre, sondern es müßte auf das Werden des Menschen alles gebaut werden.

Setzen wir den Fall: wir machen heute eine uns ganz gefällige sozia­listische Einrichtung, so daß wir voll zufrieden sind nach der Auf­fassung, die wir heute von dem haben, was zwischen Mensch und Mensch in sozialer Beziehung sich abspielt. Und setzen wir voraus

- was ja auch geschehen würde, wenn man nicht zu gleicher Zeit die Sozialisierung im geistigen Sinne auffassen würde -: ganz aus der heutigen Weltauffassung heraus würde sozialisiert. Dann würde etwas eintreten müssen, was bisher auch noch nicht in der Menschheits­entwickelung eingetreten ist: die nachwachsende Generation würde eine Generation von lauter Rebellen sein. Es würden die schlimmsten Revolutionäre sein, und sie müßten es sein aus dem einfachen Grunde, weil sie alle etwas Neues in die Welt bringen wollten, und wir alle hier nur das Alte konserviert hätten. Das zeigt, wie sehr man das Werden des Menschen berücksichtigen muß, wie man nicht bloß damit zu rechnen hat, daß der Mensch Mensch ist, sondern wie man daran zu denken hat, daß der Mensch ein Wesen ist, das als ein kleines Kind geboren wird, und das mit weißen Haaren, oder auch ohne Haare, stirbt. In diese Dinge schaut eben die heutige Naturwissenschaft noch nicht hinein, und von der heutigen Naturwissenschaft lernen wir für alle anderen Zweige des Lebens.

Ein ganz gutes, ja geniales, großartiges Nachbild der naturwissen­schaftlichen Denkweise mit Bezug auf die sozialen Begriffe ist der Marxismus; er ist ganz Sozialwissenschaft gewordene Naturwissen­schaft, deshalb auch im Grunde genommen absolut unfruchtbar. Denn der Marxismus lehrt, daß alles von selber kommen wird. Die Leute ärgern sich besonders, wie da so viel geschrieben wird über Neubildung im Sinne des dreigliedrigen sozialen Organismus. Sie

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sagen, daß sie mit meiner Kritik der gegenwärtigen kapitalistischen Ordnung ganz einverstanden seien, daß die Dreigliederung selbst ihren vollen Beifall finde; aber, so sagen sie weitet, sie müßten das in jeder Art scharf bekämpfen. Das sind die Früchte der gegenwärtigen Geistesverfassung: die Leute sind eigentlich mit etwas ganz einver­standen, aber sie müssen es scharf bekämpfen. Das rührt davon her, daß wir auf alle Zweige des Lebens die naturwissenschaftliche Denk­weise anwenden. Diese naturwissenschaftliche Denkweise ist deshalb so groß geworden, weil sie sich in ihrer Art auf die Erfassung des Toten beschränkt hat. Die Leute glauben nämlich nur, daß es ein Ideal ist, das man auch einmal verwirklicht sehen wird, im Laboratorium durch allerlei Zusammenfassung ein Lebendiges zustandezubringen. Aber das wird nie geschehen durch die naturwissenschaftlichen Wege von heute, weil der naturwissenschaftliche Weg von heute nur auf tote Begriffe führt und nur groß gerade für das Begreifen des Toten ist. Aber mit diesem Begreifen des Toten kann man niemals Begriffe gewinnen für das Lebendige. Diese Möglichkeit müssen wir erreichen:

Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen, Willensimpulse zu finden für das Lebendige; und insbesondere auf dem Gebiet der Pädagogik ist das notwendig.

Es gibt - ich habe es an anderen Orten schon öfter ausgeführt -heute einen sehr geistreichen Philosophen, der die Aufgabe seiner Wissenschaft in etwas sehr Merkwürdigem gesehen hat. Dieser Philo­soph hat vor allen Dingen vor vielen Jahren schon ein dickes Buch geschrieben: «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende». Darin hat er nachgewiesen, daß es so etwas wie eine Philosophie gar nicht geben kann. Deshalb ist er Professor der Philosophie an einer Universität geworden. Dann hat er ein sehr geistvolles Buch geschrieben über die Mechanik des Geisteslebens, ein sehr geistvolles Buch. Das ist ein Mensch, Richard Wahle heißt er, welcher in scharfsirnigster Weise die naturwissenschaftliche Denkweise aufgenommen und verwirklicht hat, der im Grunde genommen nirgends in seiner Denkweise auf Geistiges stößt. Da sagt er nur, er will das Geistige nicht leugnen, weil er selbst so weit über den Geist nicht sprechen will, daß er ihn nicht leugnet; aber er sieht nur die bekannten Urfaktoren. Er konstruiert die Welt

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ganz nach naturwissenschaftlicher Denkweise. Er ist sehr gescheit, er ist geistvoll. Deshalb ist er auch darauf gekommen - das ist etwas Be­deutungsvolles in diesem Buche «Über den Mechanismus des geistigen Lebens » -, was eigentlich das naturwissenschaftliche Weltbild für den heutigen Menschen ist. Er fragt sich: Was habe ich denn, wenn ich mir das Weltbild mache, das sich der heutige Naturwissenschafter ge­stalten kann? Und er kommt zu der Antwort: Dann habe ich in mei­nem Kopfe lauter Gespenster, ich bekomme keine Wirklichkeit, ich habe nur Vorstellungen einer gespenstigen Natur. - Das ist merkwürdi­gerweise richtig: die Naturwissenschaft gibt lauter Gespenster. Redet sie vom Atom, so ist das eigentlich ein Atom-Gespenst; redet sie vom Molekül, so ist das ein Molekül-Gespenst; redet sie von Natur-gesetzen und Naturkräften, so sind diese alle gespensterartig. Alles ist Gespenst, selbst das Kausalgesetz. Denn das Kausalgesetz, wie es heute aufgefaßt wird, lebt von der großen Täuschung, als oh immer das Folgende aus einem Vorhergehenden hervorgehen würde, was aber gar nicht der Fall ist. Denken Sie sich ein erstes, ein zweites, ein drittes Ereignis, so brauchen diese nicht auseinander hervorzugehen, es braucht nicht das zweite aus dem ersten, das dritte aus dem zweiten hervorzugehen, sondern es können die aufeinanderfolgenden Ereig­nisse wie Wellen sein, die aus einem ganz anderen Wirklichkeits­element heraufschlagen, und zu jedem folgenden Ereignis müßten Sie die tieferen Ursachen ganz woanders suchen als in dem bloß Vorher­gehenden. Das alles habe ich auch seit Jahrzehnten philosophisch be­wiesen. Sie brauchen nur meine Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» und meine «Philosophie der Freiheit» wirklich zu studieren, dann werden Sie sehen, daß man das alles philosophisch, streng wissen­schaftlich beweisen kann. Das hat dann Wahle zusammengefaßt zu dem Urteil: Die naturwissenschaftliche Weltanschauung lebt über­haupt im Vorstellen von einem gespenstigen Weltbild. Und das ist wahr. Die heutige Menschheit hat nicht eine Vorstellung von der Wirklichkeit, sondern sie hat nur eine Vorstellung von Gespenstern, so sehr die Menschheit heute nicht den Aberglauben an die Gespen­stet pflegen will. Diese Gespensterpflege hat sich nämlich in die natur­wissenschaftliche Weltanschauung geflüchtet und nasführt die Menschen,

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weil sie glauben, sie ständen in der vollen Wirklichkeit drinnen. Das ist die Rache des Weltengeistes. Aber mit der menschlichen Natur ist es so, daß niemals das eine ohne das andere kommt.

Was wir als Naturbild, als gespenstiges Naturbild heute bilden, das ist ein Intellektuelles. Aber niemals bekommt eine Seeleneigenschaft eines Menschen einen gewissen Charakter, ohne daß die anderen Seeleneigenschaften auch in entsprechender Weise sich ändern. Wäh­rend wir naturwissenschaftlich ein Gespensterbild von der Natur ent­werfen, ändert sich auch unser innerer Willenscharakter, und dadurch wird - etwas was die heutigen Menschen nicht sehen, weil es zu fein ist für die heutige grobe Beobachtung, was aber trotzdem vorhanden ist -, dadurch, daß unser äußerliches Anschauen gespensterhaft ist, wird unser Wille alpdruckhaft, indem jenes feinere Seelische aus ähn­lichen seelischen Untergründen hervorgeht wie die unartikulierte Bewegungsform, ja sogar Sprechform, die unter dem Alpdruck sich ereignet. Und ein solcher Alpdruck der Menschheit begleitet alles Soziale, begleitet die Erziehung, als unser gespensterhaftes Naturbild. Unser soziales Leben ist heute noch ein Alpdruck, weil unser Natur­anschauungsbild ein Gespenst ist. Eines folgt aus dem anderen. Das Konvulsivische der Unruhe, die in die heutige Menschheit hineinge­kommen ist fast über den ganzen Erdball hin, das ist eine Folge dieses inneren Lebens, dieses gespensterhaften Vorstellens über die Natur und des dadurch bewirkten seelischen Alpdrückens der Willenswelt, der Emotionswelt.

Das ist es, was dazu führen wird, daß jenes Erbgut, das sich im Orient noch aus alter Geistigkeit heraus erhalten hat, sich wenden muß gegen den Okzident, der vorzugsweise diejenigen Eigenschaften ausgebildet hat, von denen ich heute gesprochen habe. Je weiter man gegen den Westen kommt, um so mehr lebt der Mensch unter dem unnatürlichen Einfluß eines gespenstigen Naturbildes auf der einen Seite und unter dem konvulsivischen, alpdruckartigen antisozialen Wesen auf der anderen Seite. Dagegen wird sich aufbäumen der Orient mit seiner alten Geistigkeit, und das wird dem Geisterkrieg, der dem physischen Kriege folgen wird, den Charakter geben. Und unter dieser Unruhe muß die kommende Generation leben. Unter dieser Unruhe

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aber muß auch das, was man soziale Gestaltung nennt, sich heraus­bilden. Daher gibt es kein anderes Mittel dagegen, als die Fähigkeiten, die in der Menschenseele liegen, durch das soziale Leben am stärksten sich entwickeln zu lassen. Das kann man aber nur, wenn man den sozialen Organismus gliedert. Denn nur dadurch, daß man jedes Glied, das wirtschaftliche, das rechtliche, das geistige, in seiner eigenen Art sich entwickeln läßt, können sie in der Zukunft die höhere Einheit erhalten. Der schlimmste Fehler wäre, zu glauben, daß eine Zwei­teilung zu irgend etwas führen würde. Es reden heute manche Leute davon, daß man ein wirtschaftliches Leben und ein politisches Leben für sich entwickeln solle. Das würde zu nichts anderem führen, als daß diese zwei, der wirtschaftliche und der politische Staat, sich gegen­seitig sabotieren würden; denn es müßte in beiden drinnen liegen das unruhige Element des Geistes, das nur abgesondert, als drittes Glied, selbständig sich entwickeln kann. Die geistige Kraft des Wirtschafts­lebens würde sabotieren die geistige Kraft des Staatslebens, und die geistige Kraft des Staatslebens würde sabotieren die geistige Kraft des Wirtschaftslebens. Daher kommt es darauf an, daß man wirklich den Blick auf diese Dreigliederung wendet und nicht glaubt, man könne eine Abschlagszahlung in Gestalt der Zweiteilung machen. Es kommt auf die Dreigliederung des sozialen Organismus an. Das Ein­zelnste des Lebens wird sich für die nächste Zeit zusammenschließen mit dem Größten des Lebens. Heute schon kann jeder, wenn er nur will, auf folgende Erscheinungen stoßen.

In anglo-amerikanischen Gegenden - ich habe das schon früher erwähnt - hat man von diesem Weltenbrand, von diesem Weltkrieg schon in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts ge­sprochen, weil man, wenn auch in westlich-egoistischer Weise, aber doch großzügig war und mit den treibenden Kräften der Geschichte rechnete. Weiter zurück ist es von mir noch nicht verfolgt worden, aber es genügt ja, wenn man weiß, daß schon in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in entsprechender Weise in England von einem Weltkrieg gesprochen worden ist, und zwar nicht nur, daß er kommen werde, sondern daß er - ich führe die Dinge, die gespro­chen worden sind, wörtlich an - führen werde zu sozialistischen Experimerten

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in Mittel- und Osteuropa, die man sich in Westeuropa nicht wird gefallen lassen, weil man dazu nicht den Boden hergeben will. Das alles sind Tatsachen. Da spreche ich nicht von Schuld oder von Verfehlung, und man muß auch bei den Tatsachen stehenbleiben. Alles, was bis heute gekommen ist, hat sich ja aus recht bedeutsamen Untergründen heraus entwickelt. Der Anfang des sozialistischen Ex­perimentes in Rußland ist ja da. Er ist heute gescheitert, wie Sie wissen, kann als gescheitert betrachtet werden. Seine Verteidiger sind ja immer, wie die Leute überhaupt sind, päpstlicher als der Papst, sind immer leninischer als Lenin; denn Lenin weiß heute bereits ganz gut, daß er nicht weiterkommt mit dem, was er eingebrockt hat. Und war­um kommt er nicht weiter? Weil er versäumt hat, ein Geistesleben frei auf sich selbst zu stellen. Will man mit dem sozialen Leben so weit gehen, wie Lenin gegangen ist, so braucht man daneben ein freies Geistesleben, sonst verknöchert man für das übrige soziale Leben bürokratisch in die Unmöglichkeit hinein. Heute ist bereits durch das russische Experiment bewiesen, daß das Geistesleben frei sein muß. Aber verstehen muß man eine solche Tatsache. Und wenn man in Mitteleuropa die Notwendigkeit der Emanzipation des Geisteslebens, insbesondere des Schul- und Unterrichtswesens, nicht wird verstehen wollen, dann wird ein sehr schlimmer Geisteskrieg kommen zwischen Orient und Okzident.

Heute müssen die Engländer, die in ihrer Politik verhältnismäßig leicht mit Mitteleuropa fertig geworden sind, das versäumt hat, über historische Möglichkeiten und Impulse nachzudenken, heute müssen die Engländer sich fragen: Wie werden wir mit Indien fertig? - Das braucht nicht unsere Sorge sein, aber es wird in der nächsten Zeit eine sehr bedeutsame Sorge der anglo-amerkanischen Politik sein, denn die Inder werden eine Sozialisierung verlangen, aber eine solche, von der sich die Europäer kaum etwas träumen lassen. Zunächst knurren die Magen eines ungeheuer großen Teiles des indischen Volkes, zu­nächst lebt in einem großen Teile dieses Volkes, geheimnisvoll unter­stützt von all den Dämonen, welche die Erbschaft uralter Geistigkeit begleiten, es lebt in einem großen Teile der indischen Menschheit der Ruf: «Los von England!» Und England ist in dem Augenblick nicht

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mehr England, wenn es nicht Indien hat. Aber das wird nicht ein ein­facher Vorgang sein, das wird ein Vorgang sein, der sich sehr bedeut­sam abspielen wirdi Schläfrige Seelen werden ihn vielleicht ver­schlafen. Den physischen Krieg kann man nicht verschlafen, aber den Geisteskrieg zu verschlafen, das werden vielleicht Menschen doch zustande bringen; denn sie haben heute eine so starke Schlafsucht, die sogenannten Kulturmenschen, daß sie die wichtigsten Dinge ver­schlafen. Aber abspielen wird sich die Sache doch. Und mit all den Kräften, die im Innersten der Seelen liegen, wird der Mensch drinnen-stehen in diesem Kampfe.

Der, welcher zunächst daran denken muß, daß wir solchen Zeiten entgegengehen, das muß der Erzieher und Unterrichter sein. Und aus dem Gedanken, aus der Ahnung dessen, was da kommen wird, werden die stärksten Impulse hervorgehen müssen, welche die Pädagogik, welche Erziehung und Unterricht in der nächsten Zeit brauchen. Nicht aus sophistischen Spintisierereien über pädagogische und methodische Kleinigkeiten, sondern aus der Erfassung der großen Kulturströmung der Gegenwart heraus muß das geboren werden, was einstrahlen muß in das Unterrichts- und Erziehungswesen der allernächsten Zukunft.

ZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 22. Juni 1919

#G192-1964-SE204 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

ZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 22. Juni 1919

#TX

Gestern, als wir in Angelegenheiten der Dreigliederung des sozialen Organismus vom Morgen bis in die Nacht hinein Verhandlungen hatten, kam gegen Abend, mitten in diese Verhandlungen hinein, an mich das neueste Heft der Zeitschrift «Das Reich», das unter dem Gesamttitel «Wissen und Meinung» Ausführungen bringt, die ich noch niemals gelesen habe, die mir noch niemals zu Gesicht ge­kommen sind. Diese Ausführungen regten aber bei mir eine ganze lange Reihe von Gedanken an, Gedanken allerdings, die auch sonst oftmals in mir angeregt werden.

Es ist in Niederösterreich, an einem Orte, von dem aus man, wenn man nach Süden sieht, besonders schön im Abendrot die Berge über­schaut, den niederösterreichischen Schneeberg, den Wechsel, die­jenigen Berge, welche den Nordrand der Steiermark bilden, ein kleines, sehr unscheinbares Häuschen. Über der Eingangstür stand: « In Got­tes Segen ist alles gelegen». Ich selber war in diesem Häuschen nur ein einziges Mal während meiner Jugendzeit. Dort aber wohnte ein Mann, der äußerlich sehr unscheinbar war. Kam man in sein Häus­chen, so war es überall voll von Heilkräutern. Er war Heilkräuter­sammler. Und diese Heilkräuter packte er sich an einem bestimmten Tage der Woche in einen Ranzen, mit diesem Ranzen auf dem Rücken fuhr er dann dieselbe Strecke nach Wien, die ich auch dazumal zur Schule fahren mußte, und wir fuhren immer zusammen, gingen dann noch ein Stückchen zusammen durch die Straße, die vom Südbahnhof zur Stadt hineinführt, «auf der Wieder » in Wien. Dieser Mann war gewissermaßen in allem, was er sprach, man möchte sagen, die Ver­körperung des in der dortigen Gegend herrschenden Geistes, wie er sich aber als solcher herrschender Geist aus der ersten Hälfte des neun­zehnten Jahrhunderts, die damals noch nicht lange vorüber war, er­halten hatte. Dieser Mann sprach eigentlich eine Sprache, die ganz anders klang als die Sprache der übrigen Menschen. Wenn er von den Baumblättern sprach, wenn er von den Bäumen selbst sprach, namentlich

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aber, wenn er von der wunderbaren Wesenhaftigkeit seiner Heilkräuter sprach, so merkte man, wie dieses Mannes Seele zusammenhing mit alledem, was den Geist der Natur gerade in jener Gegend ausmachte, was aber auch den Geist der Natur im weiteren Umkreise bildete. Dieser Mann war ein Weiser auf seine eigene Art, durch seine eigene innere Wesenheit, und aus dieser inneren Wesenheit sprach viel mehr, als sonst oftmals die innere Wesenheit eines Menschen birgt. Dieser Mann, Felix hieß er mit seinem Vornamen, der gewissermaßen ein geistiges Band zwischen seiner Seele und der Natur hatte, er sprach sehr viel auch von allerlei Lektüre. Denn außer den Heilkräutern, die sozusagen sein kleines Häuschen ausstopften, hatte er eine ganze Bibliothek von allerlei bedeutungsvollen Werken, die aber im Grunde genommen alle verwandt waren in ihrem Grundzuge, in ihrem Grund­charakter mit demjenigen, was der Grundcharakter, der Grundzug seiner eigenen Seele war. Der Mann war ein armer Kerl. Denn man verdiente durch den Handel mit Heilkräutern, die man sich in den Bergen mühsam zusammenholte, arg wenig, außerordentlich wenig. Aber dieser Mann hatte ein außerordentlich zufriedenes Gesicht und war innerlich außerordentlich weise. Er sprach oftmals von dem deutschen Mystiker Ennemoser, der seine liebste Lektüre bildete, und der ja in seinen Schriften vieles enthält von dem, was durch den deutschen Geist, aber eben durch den deutschen Geist gerade in den großen Zeiten gegangen war, als noch lebendig waren die Gedankenimpulse Lessings, Herders, Schillers, Goethes und derjenigen, die im Hintergrunde standen. Denn hinter diesen Geistern stand da eben die geistige Welt, die sie in ihrer Art in ihren Schriften in das, was sie der Welt bekundeten, überfließen ließen. - Das aber, was in der gestern an mich gekommenen Nummer des « Reich » aus dem Nachlasse Ennemosers gedruckt worden ist, war mir bis gestern völlig unbe­kannt. Es enthält den Schlußabschnitt aus Joseph Ennemosers « Horo­skop der Weltgeschichte» - ich bemerke dazu: Ennemoser ist im Jahr 1854 gestorben - und ist aus seinem Nachlasse veröffentlicht. Ich möchte Ihnen zur Einleitung der heutigen Besprechung einiges aus diesen Ausführungen Ennemosers vorlesen:

«... Der die deutschen Gauen mit Schnee und Eis bedeckende Winter

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mag noch lange dauern, bis der wahre Frühling kommt, allein er wird kommen, der Samen der Freiheit ist gesät, und er wird aufgehen, das Naturgesetz wird weder List noch Heeresmacht aufheben. Wie einst dem rohen Stamm der germanischen Nation die Idee des Christentums eingepflanzt und in seinem Leben aufgenommen wurde, so wird dieser lebenskräftige Stamm erst noch die grünen Zweige aus sich zu frischen Blüten entfalten; wie der Leib der Kirche im deutschen Baustile be­reits in seinen Umrissen vollendet ist, worin das fertige Glaubensdogma gepredigt wird, so werden auch die noch fast überall fehlenden Türme mit dem Weihrauch der wahren Andacht gen Himmel steigen, und es wird das immer geistige Lehen und die Organisation der persönlichen Beziehungen zum Göttlichen erst noch zum selbstbewußten Verständ­nisse ausreifen, das symbolische Gehälke muß erst noch in die leben­dige Bewegung der Zweckbestimmungen aufgehen, die Schwere der Kirche muß gelichtet, die Stabilität des Dogma von der Sonderheit in die Strömung des allgemein Menschlichen geleitet werden; wie die Freiheit sich innerhalb der Gesetze der Gerechtigkeit bewegen soll, so muß die Religion mit dem Lichte der Wissenschaft eine erleuchtete Wahrheit, und die Kunst eine Pflegerin der geistigen Schönheit am natürlichen Stoffe werden!

Ist es nicht ein utopischer Traum und wird Deutschland auch nur entfernt ein solches Erfordernis zu erfüllen imstande sein? Deutschland wird seinen Beruf erfüllen, oder auf das allerschmählichste untergehen und mit ihm die europäische Kultur. Die Entscheidung naht, die Zeit drängt, es weht der Wind von Osten und Westen, es kann ein Sturm losbrechen! Der Stamm der alten Politik steht auf faulen Wurzeln, der Kalkul der Diplomaten möchte wohl zuschanden werden, ihre Kunst ist zur verzerrten, von niemand verstandenen Künstelei geworden. Kann man von den Disteln Feigen, von den Dornen Trauben lösen? Das wahre Leben der Freiheit sproßt nur auf den grünen Zweigen des Rechts und aus der warmen Quelle der Nächstenliebe! Oder kann die Unnatur bestehen und die in alle Glieder ausgeschlagene Disharmonie wieder zur alten Ordnung der abgewelkten Leiber umkehren?

Es will Abend werden, die erste Zeit ist vergangen, aber Deutsch­lands Ende ist noch nicht gekommen; bisher hatte es kindische Anschläge,

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es kommt eine zweite Zeit, darin wird es das ab­legen und Anschläge haben. Die Zeit eines Volkes ist erst dann zu Ende, wenn es keine Fragen mehr hat und sich um des Lebens höhere Güter nicht kümmert, oder wenn es unfähig ist, sich auf die Lösung der Zeitfragen einzulassen! Der Deutsche hat nichts weniger als seine Spannkraft verloren, der Sinn ist klar, der Mut fest, und -wer zweifelt an der Kraft des Armes? Überall wirken lebendige Gei­ster, nicht als Nachbildner, - Originale stellen sie au£ Der wahre Hunger der Deutschen ist die Sehnsucht nach einer höheren Freiheit des Geistes; der Durst und das Verlangen nach dem Lichte der Wahr­heit und des Rechtes sind die Haupttriebfedern, die rüstigen Hände an Werke zu legen, die alle noch unvollendet sind, ein Ziel zu erstreben, das der Menschheit noch ferne liegt. Oder soll der Strom wieder zu­rückfließen an die Quellen seines Ursprungs? Sollen die Völker wieder zu Familien-Fideikommissen der Fürsten werden oder handelt es sich um Staats- und Völkerrechte? Es waltet ein höheres Gesetz in der Natur und Geschichte, dem sich kein Volk zu entziehen vermag, keines kann über sein Ziel hinaus, keines aber auch die Ordnung des Ganzen stören und dahinter zurückbleiben, als wohin seine Fähigkeit und der Geist der Sprache es treibt! Und die Reaktion, wird sie nicht das Rad wieder in das alte Geleise lenken? Eitle Toren, die sich nur an ihren Jugendträumen ergötzen! Das vielseitig hervorbrechende Feuer kannst du dämpfrn, die innere einmal entzündete Glut aber nicht mehr löschen; die Reaktion wird selbst das Mittel zur Freiheit, der Druck bringt die beschleunigte Bewegung, der Haß der Parteien wirkt stärker als die Liebe auf die Begebenheiten der Zukunft; es be­darf vielleicht nur irgend eines zündenden Funkens, und die unter­drückte Geisteskraft der ganzen Nation bricht in hellen Flammen der Begeisterung aus. , die Geister des Lebens schlummern unter dünner Decke, keine freie Handiung kann der Geist wieder zurücknehmen, fremde Geister, Stimmungen und ir­dische Mächte wirken allein oder zusammen auf den menschlichen Willen, und treiben ihn mit unwiderstehlicher Macht zu Taten, die nach göttlicher Anordnung zur Vereinigung der Gegensätze, zur Versöh­nung der Parteien und zur endlichen Erfüllung des Berufes führen!»

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Das sind die Sätze eines Mannes, der im Jahre 1854 gestorben ist. Ich mußte auch denken, als ich das eine Mal den guten Felix in seinem Häuschen besuchte, daß ich damals auch noch aufsuchte die Wohnung der Schulmeisters-Witwe jenes Schulmeisters, der schon vor einigen Jahren gestorben war, die ich aber aufsuchte aus Gründen, weil jener niederösterreichische Schulmeister auch eine höchst interessante Per­sönlichkeit war. Die Witwe hatte noch eine reiche Literatur, die er in seiner Bibliothek gesammelt hatte. Alles war da zu finden, was deutsche Gelehrsamkeit über deutsche Sprache, über Mythen- und Legenden-wesen gesammelt und aufgeschrieben hat, um es zu versenken in die Kräfte des deutschen Volkes. Der einsame Schulmeister hatte niemals Gelegenheit gehabt bis dahin, an die Öffentlichkeit zu treten, bis zu seinem Tode nicht; erst nach seinem Tode hat jemand einiges aus seinem Nachlaß ausgegraben. Noch immer aber sind mir nicht zu Gesicht gekommen jene langen Tagebücher, die jener einsame Schul­meister geführt hat, in denen Perlen der Weisheit standen. Ich weiß nicht, was aus diesen Tagebüchern geworden ist. Dieser einsame Schulmeister wirkte auf der einen Seite unter seinen Kindern; aber auf der anderen Seite, wenn er aus der Schulstube hinausging, versenkte er sich - wie mancher solcher Mensch aus der alten Zeit der deutschen Entwickelung - in das, was auf solche Art als Substanz des deutschen Wesens fortlebte. Man mußte, wenn man dann, hinweggehend von solchen, wiederum nach Wien hineinfuhr, so recht sehen, wie zu­sammenfließen uralte Zeit und neueste Zeit. In dieser neuesten Zeit leben wir drinnen, und an uns ist es, diese neueste Zeit etwas zu ver­stehen, sie zu verstehen, um in ihr die Möglichkeit zu finden, soweit es an uns ist, mitzutun in den großen Aufgaben, die von dieser Zeit aus der Menschheit gestellt werden.

Es ist wahrhaftig nicht ein Äußerliches, daß alle diese Gedanken im Zusammenhang mit den Erfahrungen, von denen ich Ihnen andeu­tungsweise gesprochen habe, gerade gestern im Anschluß an unsere Versammlung durch meine Seele zogen, denn es war ja im Grunde genommen auch gestern ein Stück desjenigen, was in unsere Zeit her­einfällt mitten heraus aus den großen Fragen, die wir haben müssen. Denn das sagte der Mann: «Die Zeit eines Volkes ist erst dann zu

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Ende, wenn es keine Fragen mehr hat und sich um des Lebens höhere Güter nicht kümmert, oder wenn es unfähig ist, sich auf die Lösung der Zeirfragen einzulassen. » Es zog so manches gestern an uns vorbei, was einem den Gedanken anregen konnte: Wie viele sind denn noch, die wirkliche Fragen an die Zeit haben, die sich noch kümmern um des Lebens höhere Güter? Haben wir es nicht gestern erlebt, daß, als gutmütig unser Ranzenberger auftrat mit etwas, was hätte zu Herzen gehen können, er verschwinden mußte? Wie im Symbolum konnte einem entgegentreten die Behandlung, die das, was anthroposophisch gewollt ist, in der Gegenwart erfährt. Ihn hat man nicht zu Ende sprechen lassen. Allerdings hat man auch den folgenden dann nicht zu Ende sprechen lassen, der keine Fragen hatte, der wahrhaftig keine Fragen hatte, der jene senile Jugend auslebt, die keine Fragen hat, und bei der einem angst und bange wird, wenn man weiß, daß nur das­jenige gedeihen kann in der heutigen Zeit, hinter dem die Kraft, die Substanz des Geistigen steht, daß nur dasjenige gedeihen kann in der gegenwartigen Zeit, das noch Fragen hat und sich um die höheren Güter der Menschheit kümmert, das nicht als abstrakte Phrase inhalt-lose Ideale der Jugend abraspelt und sich groß damit dünkt.

Diese Dinge, sie sind der Beachtung wert. Sie sind ebenso der Be­achtung wert, wie wenn sich revolutionäre Phrase und Philisterei mit­einander paaren. Denn die revolutionäre Phrase und der Radikalismus sind die Maske für das Philistertum, für die Pedanterie, für das Ba­nausentum, das uns auch hinlänglich gerade gestern entgegengetreten ist. Es ist notwendig, daß in unserer Zeit nicht gesprochen wird, auch nicht in kurzen Sätzen gesprochen wird, von den Dingen, die Kom­promisse bedeuten, sondern daß in deutlich konzipierbarer Weise

- denn eine Unterscheidung sollte sich in die Herzen der Menschen der Gegenwart einschreiben: die Unterscheidung zwischen Inhalt und Inhaltlosigkeit - davon gesprochen wird, daß dasjenige, was von hier aus entfaltet werden kann, stärkster Gegner ist der Inhaltlosigkeit. Denn haben wir versucht durch den Impuls des dreigliedrigen so­zialen Organismus, im Verein mit Freunden, die sich dieser Idee hin-gaben und das Substantielle dieser Idee spürten, haben wir versucht, das in die Welt zu bringen, wohinter geistige Einsicht steht, so muß

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aber auch auf der anderen Seite betont werden, daß nicht verwechselt werden darf dasjenige, wohinter geistige Wirklichkeit steht, mit der Phrase der Zeit, wenn diese Phrase noch so schön ist. Man kann heute die gleichen Sätze sagen: das eine Mal sind sie wesenlose Phrase, das andere Mal sind sie geistiger Inhalt. Der muß eben als Wirklichkeit drinnen sein; der ist noch nicht dadurch drinnen, daß die Worte gleich klingen. Aber alles, was Phrase ist, wenn es auch zuletzt schein­baren Erfolg hat, hat keinen Wirklichkeitsbestand. Und Aufgabe der­jenigen, die in der anthroposophischen Bewegung vereinigt sind, ist es, diesen Unterschied zwischen geistiger Wirklichkeit und wesenloser, inhaltloser Phrase zu erkennen. Es genügt nicht, daß heute die Leute sagen, die Menschheit müsse wieder Mut zeigen, müsse sich wieder aufrichten, müsse das Geistesleben mit neuen Kräften durchglühen, und es müsse sich das Geistesleben loslösen vom Wirtschaftsleben und vom Staatsleben und eine Autonomie des Geistes begründen. Man muß unterscheiden, ob hinter so etwas Substanz ist, oder ob es eine wesenlose Phrase ist, herausgeboren aus dem Phrasengeist unserer Zeit. Da mag es noch so schön klingen; darauf kommt es an, ob hinter etwas Geist der geistigen Wirklichkeit ist oder nur inhaltlose Phrase.

Ich habe öfter hier gesagt: Es ist nicht umsonst gerade in unserer Zeit das aufgetreten, was wir Anthroposophie nennen, was wir anthro­posophisch orientierte Geisteswissenschaft nennen. Seit Jahrzehnten versuchten wir es zu pflegen als eine Vorbereitung für diese ernste Zeit. Aber wir müssen es auch so verstehen: als eine Vorbereitung für diese ernste Zeit. Diese Zeit hat ganz besondere Eigentümlichkeiten. Diese Zeit hat äußerlich das Kennzeichen des Materialismus, und die Schwester des Materialismus ist die Phrase. Je mehr die Menschheit an äußerlich Materiellem hängt, desto mehr wird das, was sie über die Außenwelt sagt, zur Phrase. Phrase und Materialismus gehören zu­sammen. Über die Phrase hinauskommen können wir heute nur durch eine geistige Vertiefung. Über den Materialismus hinauskommen können wir ebenfalls nur durch eine geistige Vertiefung. Denn so sonderbar es klingt: diese Zeit des Materialismus und der Phrase ist diejenige Zeit, in welcher der Geist mit seinem Inhalt sich aus der geistigen Welt heraus am stärksten der Menschheit mitteilen wird. Die

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Welt lebt in Gegensätzen. Niemals war der Mensch so nahe der geisti­gen Welt, wie er heute ist, trotzdem er äußerlich im Materialismus ver­sumpft. Niemals waren die Menschen so nahe der geistigen Welt, aber sie merken es nicht, sie verkennen es. Und sonderbar ist es insbeson­dere, wenn einem immer wieder und wieder gesagt wird, man könne das, was die Anthroposophie bringt, nur glauben, oder man müsse es auf Autorität hin annehmen. Bei nichts jedoch ist Autorität weniger notwendig, bei nichts ist sie weniger am Platze als bei der Anthropo­sophie. Denn sie redet von demjenigen, was heute in jedes Menschen-wesen hinein will, was hinein will durch die Sinne, aber nicht einge­lassen wird von der materialistischen Gesinnung der Zeit. Und diese Anthroposophie redet von dem, was heute aufsteigen will aus dem Innern in jedes Menschen Natur, was aber die Menschen nicht herauf-lassen aus dem Unterleib durch das Herz zum Kopf, und wovon sie natürlich nichts merken.

An die Menschen wollen heute heran nicht nur die sinnlichen äuße­ren Eindrücke, sondern diese sinnlichen äußeren Eindrücke wollen einfließen durch die menschlichen Sinne so, daß sie im menschlichen Wesen zu Imaginationen werden. Innerlich ist der Mensch heute dafür veranlagt, Imaginationen, bildhaftes Vorstellen über die Welt zu ent­wickeln. Aber er haßt es, will es nicht haben; er sagt: Das ist Dich­tung, Phantasie. - Er merkt nichts davon, daß ihm die Naturwissen­schaft manches Gute geben kann, niemals aber die Wahrheit über den Menschen, und daß er die Wahrheit erleben würde, wenn er zu seinen Imaginationen kommen könnte. Und was in des Menschen Innerem lebt, das offenbart sich fortwährend, nur daß der Mensch nichts davon merkt, als Inspirationen. Niemals waren die Menschen so gequält von Inspirationen wie heute. Denn sie merken, daß etwas aus ihrem Innern heraufsteigen will zu Herz und Kopf; sie aber empfinden es nur als Nervosität, weil sie es nicht heraufsteigen lassen wollen, oder sie betäuben sich durch irgend etwas anderes gegen diese Offenbarun­gen des Geistes.

Wir haben hier oft davon gesprochen, daß der Mensch außer seinem physischen Leibe, der mit Augen gesehen und mit Händen gegriffen werden kann, noch seinen ätherischen Leib hat. Sie wissen auch, daß

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der ätherische Leib nur demjenigen erkennbar sein kann, der sich wirklichen Imaginationen hingibt. Aber es gibt heute einen Weg, den menschlichen Ätherleib wirklich zu erfassen. Dieser Weg besteht dar­in, die Kunst im Goetheschen Sinne ernst zu nehmen. Goethe war sein ganzes Leben hindurch davon überzeugt, daß sich im künstlerischen Erfassen der Wirklichkeit auslebt die Wahrheit, daß die Kunst eine « Manifestation geheimer Naturgesetze ist, die ohne sie niemals zum Ausdruck kommen können.» Unser Schulwesen aber läßt einen Gift-tau auf alles träufeln, was die Wissenschaft durchsetzen sollte mit pro­duktivem künstlerischem Geist. Die Menschheit unserer Wissenschaft glaubt dadurch der Wahrheit näherzukommen, indem sie alles das ausmerzt aus ihrem Inhalt, was von künstlerischem Geist durchzogen ist. Sie kommt dadurch der wahren Wahrheit immer ferner, nicht näher, und außerdem wird allmählich aus alledem, was wir der Jugend zu überliefern haben als Einzelwissenschaften, die wirkliche Wahrheit herausgepreßt. Wahr ist es allein, was Richard Wahle - in dem Sinne, wie ich es auseinandergesetzt habe - sagt, daß in demjenigen, was heute Wissenschaft genannt wird, nur Vorstellungen einer gespensti­gen Welt leben. Nehmen Sie alles, was man durch die Naturwissen­schaft wissen kann: es gibt dem Menschen keine Vorstellungen von Wirklichkeit. Die Natur selbst mit ihrer wahren Wesenheit lebt nicht in den Vorstellungen der Naturwissenschaft von heute, und nach der Naturwissenschaft haben sich die anderen Wissenschaften gebildet. Was in diesen Vorstellungen lebt, ist nicht die Natur, das ist ein Ge­spenst der Natur. Gerächt hat sich der Weltengeist an den gegen­wärtigen Menschen, die nicht mehr an eine Geisteswelt glauben wol­len, so daß die gegenwärtige Menschheit in den furchtbaren Aber­glauben verfallen ist, das Gespenst der Naturwissenschaft als reale Wissenschaft zu nehmen. Gespenstergläubig sind heute gerade die­jenigen, die sich Monisten, naturwissenschaftlich Gebildete nennen. Und wodurch könnten diese Gespenster der Welt zur Wirklichkeit werden?

Das könnte dadurch geschehen, daß man in sich in allem Ernste den künstlerischen Sinn so entwickelt, wie ihn Goethe seiner Nation an-erziehen wollte, wenn man das aufnehmen könnte, was auflebt in

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emem produktiven Anschauungsvermögen - Goethe nannte es «an­schauende Urteilskraft » -, wenn man auflösen könnte das Gespen­stige des Naturanschauens in der produktiven schaffenden Kraft des Geistes . In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wird diese schaffende Kraft des Geistes im deutschen Geistesleben so behandelt wie in meinem Märchen in dem einen Mysteriendrama die Phantasie von dem wilden Manne, der an diese Phantasie herankommt. So leben wir mit unsern Vorstellungen heute als Menschen in einer gespenstigen Welt, sind abergläubisch, ohne daß wir es wissen, spotten über den Aber­glauben anderer und sind dabei dreimal so stark in diesen Aber­glauben verstrickt als die, welche wir als abergläubische Leute ver­spotten.

Der Ätherleib des Menschen ist nicht nach demjenigen gebaut, was man als Naturgesetze kennt, sondern er ist nach künstlerischen Ge­setzen gebaut. Keiner ergreift ihn, weder an sich noch an anderen, wenn er nicht künstlerischen Geist in sich hat. Und der Mangel an künstlerischem Geist in der Gegenwart ist es, was so verheerend, so vernichtend, so zerstörend eingreift in die Weltanschauungen der Gegenwart. Und außer seinem Ätherleib, das wissen wir, trägt der Mensch in sich noch den astralischen Leib. Dieser astralische Leib ist gerade von ganz besonderer Wichtigkeit in der Gegenwart.

Meine lieben Freunde, ich kenne kein ergreifenderes Ereignis für die Weltentwickelung als die Tatsache, daß die wichtigsten Be­schlüsse zu dieser Weltkatastrophe gefaßt wurden an einem Samstag, am 1. August 1914 in Berlin, am Spätnachmittag, ja sogar in die Nacht hinein. Für den, der die Grundgesetze des menschlichen Lebens vom Gesichtspunkte der Anthroposophie aus versteht, für den ist so man­ches offenbar, vor das die anderen Menschen sich hinstellen und spot­ten über den Aberglauben anderer, indem sie aber gerade dreimal so abergläubisch sind als die, über welche sie spotten. Denn diese Men­schen wollen nichts wissen von den tieferen Gesetzen, die im Welten­leben herrschen. Sie glauben daran, daß die Schwerkraft herrscht, daß die Atomkräfte herrschen. Aber sie wissen nicht, daß die Welt­geschichte beherrscht ist von tiefliegenden Gesetzen, von denen die äußeren Erscheinungen nur symptomatischer Ausdruck sind, daß die

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Menschen von Epoche zu Epoche in immer andere Sphären ein­rücken und in immer anderer Weise leben müssen. Und so sind wir heute in der Zeit angekommen - weil eben gerade wir von allen Zeiten der Menschheitsentwickelung am nächsten der geistigen Welt sind, wir merken zunächst nur nichts davon -, wir sind angekommen an dem Punkt, wo wir berücksichtigen müssen des Menschen Bezie­hungen zur geistigen Welt. Oh, das brauchten die früheren Menschen nicht zu berücksichtigen; denen war noch die Beweglichkeit verliehen durch ihr armes Gehirn, diejenigen geistigen Offenbarungen zu be­kommen, deren sie benötigten. Diese Offenbarungen sind aber im Laufe der Zeit zu wesenleeren Schemen und Phrasen geworden. Und was sich heute Christentum nennt, ist oftmals nichts anderes als eine Summe von wesenleeren Schemen und inhaltlosen Phrasen, nicht er-füllt von Geist. Aber die Menschheit haßt den wirklichen Geist, sie findet sich immer wieder in die Neigung zur Bequemlichkeit, in dem, was seit Jahrhunderten und Jahrtausenden das Christentum genannt worden ist, den Christus immer wieder und wieder abzuwehren. Es wird immer gesagt: Wenn man unter die heutigen Arbeiter kommt und ihnen vom Christentum spricht, so wollen sie es nicht hören. -Ich kann nur immer sagen: Ich glaube das. Denn so, wie ihr heute sprecht, so habt ihr gesprochen, so habt ihr gedacht durch Jahrhun­derte und Jahrtausende, und jetzt wollt ihr die Menschen, zu denen ihr so gesprochen habt, mit demselben heilen, das das Elend der Zeit gebracht hat und von dem ihr bewiesen habt, daß es nichts zu hoffen hat.

Der Mensch ist heute genötigt, Ernst zu machen mit seinen Be­ziehungen zur geistigen Welt, sich so zu fühlen, daß er wirklich nicht nur drinnen steht in der physischen Welt, sondern auch in einer gei­stigen Welt. Und ehe wir nicht mit dieser Gesinnung Ernst machen) werden noch Ströme von Blut und Blut über das arme Europa hin­strömen müssen. Denn die Menschen hassen die Wahrheit, und der Haß wandelt sich sehr häufig um in Furcht; daher haben die Menschen der Gegenwart Furcht vor der Wahrheit. Heute ist es so, daß wir gar nicht zur Wahrheit kommen können, wenn wir unsere Beschlüsse fassen. Ich werde Ihnen jetzt etwas außerordentlich Paradoxes sagen,

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aber ich sage es nur aus dem Grunde, weil es notwendig ist, daß diese Dinge in unserer so ernsten Zeit einmal ausgesprochen werden, denn der Mensch braucht heute wirkliche Selbsterkenntnis, nicht phrasen­hafte Selbsterkenntnis: Der Mensch kann heute gar nicht zu frucht­baren Entschlüssen kommen, wenn er den Tag über nachdenkt über diese Entschlüsse. Der Mensch ist heute nahe der geistigen Welt. Wenn er in seinem physischen Leibe ist, dann ist er von der geistigen Welt getrennt; da sieht er durch seine physischen Augen, hört durch seine physischen Ohren, tastet mit seinem physischen Tastsinn. Vom Einschlafen bis zum Aufwachen dagegen ist er in der geistigen Welt, da lebt er das Leben, das ihm heute zum großen Teil noch unbewußt bleibt, und das mit seinen Impulsen in das Tagesleben hineinspielt. Für den heutigen Menschen aber ist es so, daß er nicht zu fruchtbaren Entschlüssen kommen kann, wenn er in der Zeit vom Morgen bis zum Abend diese Entschlüsse fassen will, sondern er muß sie prophetisch vorgelebt haben in der vorhergehenden Nacht. So ist es früher nicht gewesen, als die Menschen durch ihr anders geartetes Gehirn noch die geistigen Offenbarungen hatten. Heute ist das Gehirn des Menschen vertrocknet, redet selbst in der Jugend schon senil. Denn wissen muß der Mensch: wenn er des Morgens aufwacht, so hat er bereits als ein innerer Prophet das vorbereitet, was er während des Tages an Ent­schlüssen fassen muß. Nur das ist von einer wirklichen Fruchtbarkeit, was er fertig hat, wenn er des Morgens aufwacht. Alles andere wird immer mehr und mehr in Not und Elend führen, was in dem Aber­glauben lebt, daß man während des Tages, wenn man im physischen Leibe ist, zu seinen Entschlüssen kommen müsse. Das sollte der Mensch berücksichtigen. Denn wir leben heute in der Zeit, wo er seine Beziehungen zur geistigen Welt real machen sollte. Deshalb wirkt es so erschütternd, daß die Entschlüsse zu den Ereignissen, die für Deutschland am Ausgangspunkte der Weltkatastrophe standen, nicht vorbereitet waren durch das, was die entsprechenden Persön­lichkeiten hätten erleben können in der vorhergehenden Nacht, son­dern gefaßt sind unter den unmittelbaren Eindrücken des Samstages, heraus aus dem Verstand des Tages, bis in den späten Abend hinein.

Ich habe oftmals, als dieser Krieg ausgebrochen war, zu Freunden

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gesagt: Über diesen Krieg wird man nicht so sprechen können wie über die anderen Kriege, die in der Geschichte abgelaufen sind. Über diese anderen Kriege kann man so sprechen, daß man die Dokumente aus den Archiven sammelt und dann die Sachen beurteilt. Dagegen über diesen Krieg und seine Entstehung wird sich nicht so sprechen lassen. Denn in der Zeit, als dieses Ungewitter ausgebrochen ist, waren alle Teufel los und suchten sich die Tore zu den verwirrten Menschen. Und nachweisen wird man können, daß von den vierzig bis fünfzig Personen, die in die Ereignisse verstrickt waren, welche im Juli 1914 zum Kriege führten, eine große Anzahl nicht den vollen Gebrauch ihres Bewußtseins hatten, als sie jene schicksalsschweren Entschlüsse faßten im Laufe des Tages. Das aber ist die Zeit, wo das Bewußtsein schweigt während des Tages, und wo die Menschen doch nicht schla­fen, wo dann die den Menschen feindlichen Dämonen hereinspielen in das menschliche Bewußtsein. Wir haben es also zu tun mit dem Hereinspielen geistiger Ursachen in die Weltkriegskatastrophe, und wer die Weltgesetze durchschaut, der kann erkennen, wie durch einen solchen Umstand, daß wichtigste Entschlüsse nur aus den Ereignissen des Tages gefaßt sind, das Unheil kommt. So wird man immer weni­ger und weniger die Möglichkeit finden, aus der Not und dem Elend herauszukommen, wenn die Menschen nicht dahinstreben, ihre Be­ziehungen zur geistigen Welt real zu machen, das heißt ernst zu neh­men ihre Beziehungen zur geistigen Welt in den Tatsachen, die sich abspielen im Innern. Was hilft es, wenn Sie ein noch so guter Mystiker sind, wenn Sie den halben Tag oder manchmal auch den ganzen sich hinsetzen und innerlich sich vertiefen und alles mögliche probieren, um ein inneres Behagen und Wohlgefallen in sich hervorzurufen -was hilft es, wenn in Ihnen der Geist nicht lebendig wird, wodurch Sie lebendige Beziehungen erzeugen zwischen sich und der realen geistigen Welt und ihren Gesetzen, deren Ausdruck dann die Schick­sale sind, in welche wir Menschen hineingespannt sind?

Alles, was in diesen Worten sich ausspricht, war mit einer der Gründe, warum die Lektüre der vorhin vorgelesenen Worte Enne­mosers besondere Gedanken in mir angeregt hatte. Denn, es war so in der Mitte das deutsche Geistesleben zwischen Osten und Westen.

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Ennemoser gebraucht selbst diese Worte, er sagt: « Es weht der Wind von Osten und Westen», er weist also zunächst hin auf ein besonderes Verhältnis zum Orient und Okzident, auf das ich neulich im öffent­lichen Vortrage hingewiesen habe. Er weist darauf hin als ein Mensch der alten deutschen Zeit und zeigt, daß in den alten Zeiten der deutsche Geist mit dem Weltengeist noch zusammenhing, und daß der deutsche Geist eigentlich berufen war, die großen Weltenzusammenhänge ein wenig zu durchschauen. 0 ja, es geht einem schon tief zu Herzen, wenn man in unserer jetzigen Zeit einen solchen Satz liest, der vor mehr als einem halben Jahrhundert hingeschrieben worden ist:

« Deutschland wird seinen Beruf erfüllen oder auf das allerschmählich­ste untergehen und mit ihm die europälsche Kultur.» Man fühlt dann, daß andere auch schon in verflossenen Zeiten das gedacht haben, was hier und an anderen Orten zu Ihnen und anderen Leuten schon ge­sprochen worden ist. Denn im Grunde genommen war vieles eine Umschreibung der Worte: Deutschland wird entweder seinen Beruf erfüllen oder untergehen und mit ihm die europäische Kultur. - Dieses Deutschland muß wieder Fragen bekommen, es muß wieder den Zu­sammenhang mit des Lebens höheren Gütern bekommen. Denn das steht und schwebt als eine Frage über uns: Können wir noch Fragen haben von tieferer Bedeutung? Können wir uns roch kümmern um des Lebens höhere Güter? Die Frage steht auf Sein oder Nichtsein. Kümmern wir uns um höhere Güter, können wir noch Fragen stellen an die geistige Welt, dann werden wir den Weg finden von Mittel­europa aus, um die Weltkultur nicht untergehen zu lassen. Setzen wir dagegen den Weg fort durch eine senile Jugend und eine philiströse Phrase, die sich revolutionär maskiert, dann gehen wir in die Barbarei hinein. Versteht sich der Mensch in Deutschland zu durchgeistigen, dann ist er der Segen der Welt; versteht er es nicht, dann ist er der Fluch der Welt. Heute stehen die Dinge so, daß zwischen rechts und links, wie auf der scharfen Schneide eines Rasiermessers, der Weg geht, der zum Heile der Menschen in die Zukunft führen wird, und daß der Mensch, der die Dinge in ihrer Wirklichkeit erkennen will, nicht die Bequemlichkeit lieben, nicht bequeme Wege wählen darf.

Erinnern Sie sich, daß ich unseren Freunden seit langer Zeit dargestellt

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habe, daß allerdings gerechnet wurde, deutlich gerechnet wurde mit großzügigen historischen Impulsen, aber in einem Sinne, der eben gerade an jenen Orten nur von Heil war, wo er die volks-egoistischen Impulse so auslebte, daß ihre Trager sie ansahen als all­gemein menschliche. Die anglo-amerikanische Welt hat ihre Ein­geweihten, hat ihre Initiierten, sie hat diejenigen Menschen, die zu schätzen wissen die geistigen Kräfte. Hier konnte man predigen und predigen von den geistigen Kräften, und die Dreimal-Abergläubischen hielten einen selbst für einen Abergläubischen. Daher auch sind die Dreimal-Abergläubischen das Opfer geworden des anglo-amerika­nischen Westens, der die Dinge durchschaute. Dieser anglo-amerika­nische Westen hat in den achtziger Jahren des neunzehnter Jahr­hunderts, vielleicht auch früher - ich weiß es nur bis zu diesen Zeiten-, vor der Öffentlichkeit dasjenige gesprochen, was er gerade der intel­lektuellen, der Seelenverfassung dieser Öffentlichkeit als angemessen hielt. Aber er sprach aus den Logen seiner Initiation heraus so, daß er sagte: Der Weltkrieg wird kommen - das war ein geisteswissenschaft­liches Dogma bei der englisch sprechenden Bevölkerung -, und er kann nur das Ziel haben, daß im Osten Europas sozialistische Experi­mente gemacht werden, die wir für den Westen nicht wollen und auch nicht wollen können. - Ich erzähle Ihnen kein Märchen, sondern ich erzähle Ihnen das, was in der englisch sprechenden Bevölkerung in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts von Leuten aus­gesprochen wurde, die im Zusammenhange standen mit denjenigen, die von diesen Dingen wußten. Aber diese Dinge nahm man eben hier nicht als das, was sie sind, nämlich als Erkundungen einer wirklichen Realität. Und so brach über einen herein das, was die anderen wußten, die daher niemals den Kürzeren ziehen konnten, eben aus dem Grunde, weil sie wußten. Und in diesen geheimnisvollen Logen selber, was waren da für Leute? Da waren Leute, die ihre Verzweigungen hatten hinein in alle diejenigen Gegenden, auf deren Bearbeitung es ankam. Man studiere nur einmal, was an den verschiedenen Punkten, zum Beispiel der Balkanhalbinsel, vorgegangen ist durch Jahrzehnte, und man versuche den Zusammenhang zu erkennen. Ich habe in den Vorträgen, die ich während des Krieges an verschiedenen Orten gehalten

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habe, auf manche Symptome in dieser Beziehung hingewiesen. Da ist alles darauf angelegt gewesen, daß durch den Weltkrieg die sozialistischen Experimente des Ostens kommen und Mitteleuropa überschwemmen. In den Eingeweihtenlogen sagten diese Leute: Wir im Westen bereiten alles vor, damit wir in Zukunft mit all den Mitteln, die man aus der geistigen Welt gewinnen kann - aber in unrecht­mäßiger Weise gewinnen kann -, zur Erhöhung der nationalen Ehre solche Menschen bekommen, die ihre Herrscher werden können, ein­zelne Menschen auf plutokratischer Grundlage.

Das wurde vom Westen vorbereitet. Darin steckten die ahrimani­schen Geister, und in dieser Welt sind diejenigen Persönlichkeiten zu suchen, die warten können, die nicht durch Jahre, sondern durch Jahr­zehnte ihre Handlungen vorbereiten, wenn diese die Handlungen der großen Politik sind. In diesen englisch sprechenden Gegenden herrscht nicht eine militaristische Disziplin, wie sie in Mitteleuropa be­kannt ist, sondern dort herrscht eine spirituelle Disziplin, aber im höchsten Maße. Die ist so stark, daß sie Männer wie Asquith und Grey, die im Grunde genommen unschuldige Hasen sind, zu ihren Puppen, zu ihren Marionetten machen kann. Grey ist wahrhaftig kein schuldiger Mensch, sondern stimmen wird das, was ein Ministerkollege vor langer Zeit von ihm gesagt hat: Er ist ein Mensch, der immer einen konzentrierten Eindruck macht, weil er niemals einen eigenen Ge­danken gemacht hat. - Aber solche Menschen sucht man sich aus, wenn man die rechten Marionetten für das Weltentheater haben will. Die Dinge waren gut eingeleitet und gut vorbereitet.

Aber heute ist es so, daß der Mensch nicht nur dasjenige berück­sichtigen muß, was ihn selbst mit der geistigen Welt verknüpft, die ihm so nahe ist, sondern daß er auch wissen muß, daß große Welten-gesetze es sind, die im Weltenwerden, in das die Menschheit mit ihrem Schicksal verstrickt ist, drinnen walten und die auch durch eine gei­stige Wissenschaft erfahren werden können. Man muß nur in der Lage sein, endlich loszukommen von jener Dumrnheit, die man heute Ge­schichte nennt; denn diese Geschichte von heute ist eine Dummheit. Sie glaubt daran, daß das Folgende immer durch das Vorhergehende bestimmt ist. Eine solche Anschauung ist aber gerade so, wie wenn

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Sie ein Meer vor sich hatten und von ihm sagen wurden: Da werden Wellen herangespült; jede folgende wird von der vorhergehenden verursacht; die fünfte kommt von der vierten, die vierte von der dritten, die dritte von der zweiten, die zweite von der ersten. In Wahr­heit aber liegen die Dinge so, daß unter der Oberfläche des Wassers Kräfte wirken, die das Heraufschlagen der einzelnen Wellen verur­sachen. Nach der eben gekennzeichneten Weise, wie jemand heute das Meer betrachtet, so betrachten die Menschen auch heute die Ge­schichte, und sie sind noch stolz darauf, in dieser Weise pragmatische oder kausale Geschichte zu treiben und diese Gespenster vor die Men­schen hinzustellen, die sich wieder abergläubisch dazu verhalten und diese Dummheit der kausalen Geschichte als Wirklichkeit nehmen. Wer aber weiß, wie sich die Dinge in Wahrheit verhalten, wie von unten Kräfte wirken, wie jedes einzelne Ereignis an die Oberfläche getrieben wird, der muß sich sagen: Ehe man nicht diese Dummheit, die man heute Geschichte nennt, aus den Gemütern und Anschau­ungen der Menschen herausbekommt, eher kann kein Heil in das Menschenwerden und in die Menschheitsentwickelung hinein­kommen. Das sind ernste Gedanken, die heute denjenigen Menschen erfüllen sollten, der es wirklich einmal ernst zu nehmen vermag mit demjenigen, was heute durch solche Feuerzeichen hereinspielt in unsere Zeit.

Oh, es konnte einem schmerzlich durch die Seele ziehen, wenn man versuchte, in konkreten Fragen die Menschheit zur Besinnung zu bringen. So mußte ich in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhun­derts denken: Ach, wir haben eine Physik, die ihre verheerenden Wir­kungen auf die ganze Weltanschauung mit ihrer widersinnigen Atom-theorie ausübt, und die da glaubt an das Gespenst der äußeren Welt, von dem ich vorhin gesprochen habe. Wie kann man, so dachte ich, dieser Welt wieder etwas davon beibringen, daß das ein Gespenst ist? Und ich sagte mir: Wenn man die Welt darauf aufmerksam macht, daß dasjenige, was uns als Farbe und Licht ins Auge dringt, nicht nur Quantität ist, wie die Physik heute mit ihrer atomistischen Dummheit meint, sondern auch Qualität im Goetheschen Sinne, dann könnte man die Menschen von einem Zipfel aus zum Selbstbewußtsein in

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dieser Beziehung bringen. - Und ich wollte den Leuten begreiflich machen: die Goethesche Farbenlehre ist kein Dilettantismus, sondern sie ist die Wirklichkeit gegenüber der heutigen atomistischen physi­kalischen Dummheit. Doch es war die Zeit dafür noch nicht gekom­men. Deutschlands Geist beugte sich noch unter die englisch New­tonsche Farbenlehre, die dem anglo-amerikanischen Geist ebenso an­gepaßt ist wie die Goethesche Farbenlehre dem deutschen Geist. Hätten wir die Möglichkeit gefunden, das aufzunehmen, was wir brauchen, wer weiß, was gekommen wäre! Aber wir hätten es nicht auf dem Wege der Bequemlichkeit versuchen müssen, sondern auf dem, daß wir mit dem Geist Ernst machen. Und dann: Goethes Me­tamorphosenlehre war schon jene Lehre von dem Zusammenhang des Menschen mit der übrigen Lebewelt. Ausgebaut hätte diese Metamor­phosenlehre werden müssen. Aber was geschah? Man redete zwar darüber, aber die, welche darüber sprachen, hatten von den wirk­lichen Verhältnissen keine Ahnung: es waren Phrasen, was gesprochen wurde. Man unterschied die Phrasen nicht von dem, was Substanz hatte. Und so nahm man den anglo-amerikanischen Darwinismus an an Stelle der Goetheschen Metamorphosenlehre.

Das sind die einzelnen Tatsachen auf konkretem Gebiete, an denen man durchschauen kann, was wir gesündigt haben an den einzelnen Tatsachen, und was zum Beispiel an solchen einzelnen Tatsachen ge­schehen müßte. Heute ist die Zeit ernst, und notwendig ist es, daß wir uns zurückbesinnen zu den großen Impulsen des mitteleuropälschen Geistes, welcher der Zeit von der Wende des achtzehnten und neun­zehnten Jahrhunderts die Signatur gegeben hat. Können wir die Kräfte wieder aufrufen, die in dieser Zeit gewaltet haben, dann könnte Hoff­nung vorhanden sein, daß uns wieder Fragen aufgehen und daß wir wieder Ziele finden und den Zugang zu den geistigen Kräften der Welt. Denn wie für unsere Zeit ist es gesprochen, was vor mehr als einem halben Jahrhundert Ennemoser hingeschrieben hat: « Die Ent­scheidung naht, die Zeit drängt, es weht der Wind von Osten und Westen, es kann ein Sturm losbrechen! » Heute kann man es spüren. « Der Stamm der alten Politik steht auf faulen Wurzeln, der Kalkul der Diplomaten möchte wohl zuschanden werden, ihre Kunst ist zur

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verzerrten, von niemand verstandenen Künstelei geworden. Kann man von den Disteln Feigen, von den Dornen Trauben lösen?» Und ich frage: Kann man mit Philistern, die sich radikal gebärden, Revo­lutionen machen? Kann man mit seniler Jugend den Geist emanzi­pieren und auf sich selbst stellen? Wir brauchen wahre geistige Sub­stanz, nicht solche, die sich bloß phrasenhaft radikal gebärdet. Wir brauchen wahrhaftig Jugend, die sich begeistern kann für alles, wofür sich die Jugend begeistern könnte, aber nicht eine Jugend, die senile Phrasen schwätzt und über alles Programme hat und diese Phrasen und Programme verwechselt mit dem geistigen Inhalt. Man möchte, daß sich in die Herzen ein Strahl der Geisteskraft hineinsenkt, damit er die Menschen bereit mache zu unterscheiden zwischen gedanken-loser Phrase und substantiellem Inhalt. Aber wenn substantieller In­halt an die Leute kommt, dann sagen sie, das verstehen sie nicht, das ist ihnen nicht ganz deutlich. Und wenn in irgend etwas die Gesinnung lebt: du mußt deine Sätze so formen, wie es der Wahrheit angemessen ist - und es ist nicht immer bequem, daß sie sich fügt in jede billige Phrase -, dann sagen die Leute: man schreibt gewundene Sätze. Wie oft habe ich gesagt: Wer es mit der Wahrheit ernst nimmt, muß manche Sätze so hinschreiben, daß er sich bei der Fassung des einen mit dem nächsten Satz beschäftigt, und daß er das, was in dem einen Satz gesagt ist, mit dem nächsten in sein richtiges Licht stellt. Wenn man dies ernst nimmt, dann kommt man schon zu jener Gesinnung, welche die Anthroposophie in ihrem tiefsten Innern zu verstehen ver­mag, und man kommt vor allen Dingen zur Unterscheidung, zu wirk­lichen Unterscheidungen. Können denn die Menschen heute noch in der Wirklichkeit die Dinge, die zum Beispiel vom Aufgang und vom Untergang sind, unterscheiden? Sie können es nicht. Und da, an die­sem Unterscheidungsvermögen, müssen die großen Fragen aufgehen, die wir zu stellen haben. Wir müssen uns fragen, was Goethe für die Naturforschung gewollt hat. War Goethes Farbenlehre eine Morgen-leuchte, um das Wesen der Farbe tiefer zu erkennen, als die Physik es kann, oder wollen wir sie zu einem Abendrot machen, das bezeugt, daß die Sonne der Goetheschen Kultur uns schon untergegangen ist? War die Goethesche Metamorphosenlehre eine Morgenleuchte, oder wollen

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wir sie zu einem Darwinischen Gesetz machen, das die Sonne der Goetheschen Kultur untergehen läßt? Diese Dinge müssen heute durchdacht, müssen durchfühlt werden. Ohne dies kann es nicht weitergehen.

Nehmen Sie die Erfahrungen der letzten Wochen: Sie können zu gleicher Zeit hoffnungsvoll, Sie können zu gleicher Zeit hoffnungslos werden. Wir haben hier begonnen, im Sinne des Bundes für Drei-gliederung des sozialen Organismus zu arbeiten. Wir haben so be­gonnen, daß wir uns nicht gekümmert haben um eine gewisse Schichte der Menschheit. Wir haben gesprochen zu derjenigen Menschheit, welche die breite Masse ausmacht, und wir hatten gefunden, niemand kann es leugnen, die Seelen der breiten Massen zu verstehen. Ich habe während des Krieges einmal mahnend das Wort ausgesprochen: Wir waren während des Krieges dazu verurteilt, daß wir gesunde Wurzeln des Volkes haben, und daß sich aus diesen Wurzeln des Volkes ein­zelne Individualitäten herausentwickelten, welche die deutschen Grö­ßen waren; was aber die Mittelschichte war, das war das, was einen mit Zweifeln erfüllen konnte, das war das, was so leicht den Weg zur Bequemlichkeit in bezug auf Wahrheit und Bildung gehen möchte. -Und da kam uns in unsere Bewegung der Dreigliederung hinein das, was aus den Wurzeln des Volkes herauf in eine recht bedenkliche Schau gerückt ist: die Parteiführer. Und die Parteiführer, die nicht mehr zum Volke gehören, sie stellen heute das Volk vor die Wahl:

entweder vernünftig zu bleiben und hinzuhorchen auf das, was wahr­haft auf geistigen Grundlagen ruht, was aber auf vernünftige Weise durch den Menschenverstand eingesehen werden kann, wie alles, was auf geistigen Grundlagen beruht, vom Verstande eingesehen werden kann, wenn man nur will, oder aber den Führern zu folgen und Europa nach und nach hinzuführen zu dem Schicksal der zehn bis zwölf Mil­lionen Menschen, die während der Kriegskatastrophe getötet, und der soundso viel anderen Millionen, die zu Krüppeln geschlagen worden sind, und zehn bis zwölf weitere Millionen zum Tode zu bringen oder verhungern zu lassen. Diese Wahl ist heute gestellt. Und wer zu die­sem Gedanken nicht vordringen kann, der kann seine Gedanken nicht bis zu jener Stärke aufraffen, die für den Ernst der Zeit notwendig ist.

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Wir haben vor einigen Wochen dasjenige in Angriff genommen, was - es ist vielleicht nicht mit einem geschickten Wort bezeichnet -der Kulturrat werden soll. Seit drei Wochen patzen wir an der Sache herum, und sie ist nicht vom Platze gekommen. Es mußte die Sache so optiert werden, wie sie optiert worden ist, denn auch da mußte appelliert werden an das, was an gesunden Instinkten in der allgemei­nen Verwilderung noch zurückgeblieben ist. Was von diesem Ge­sichtspunkte aus gesagt wurde, braucht weder national-chauvinistisch zu sein, noch braucht es die feindliche Spitze gegen ein anderes Volk zu haben. Die Engländer wissen selbst sehr gut: als einzelne Eng­länder sind sie etwas anderes denn als Volk. - Der Mann, den ich oft schon angeführt habe, der einer der feinsten Kunstbetrachter ist, hat einmal ein schönes Wort gesprochen, wobei er ungefahr das Folgende sagte: Ach, da machen wir Geschichte. Da untersucht man, wie sich die Ereignisse eigentlich auseinander entwickelt und ergeben haben und wie die Völker in Kriege hineinkommen. Aber all das, was da geschrieben wurde, ist ja doch nur dazu da, um nach unserem subjek­tiven Standpunkte den einen, den wir brauchen, zu loben, und den anderen zu verurteilen oder zu verlästern. Und wahr ist es, daß die Völker, wenn sie Kriege unternehmen, überall wie die Wilden Krieg führen und nicht fragen nach den Gründen. Herman Grimm meint, in dem Augenblick, wo die Menschen Kriege unternehmen, werden sie zu Wilden. Die Menschen werden, wenn sie ein Staat, eine Nation werden, nicht ein Höheres, sondern sie werden ein Niedereres. Das ist das große Unglück in unserer Zeit, daß man den Staat oder die Zu­sammengehörigkeit höher schätzt als den einzelnen individuellen Menschen. Aber so verstrickt sind die Menschen heute in das Höher-schätzen der Gemeinschaften als des Einzelnen, daß sie sich ganz wohl fühlen, entmenscht zu sein, eine Staatsschablone zu sein. Da ist es natürlich schwer, so etwas zu bilden, was das Geistesleben wirklich emanzipieren kann. Aber in unserer Zeit ist die Menschheit trotz ihres Materialismus dem Geiste näher, als man glaubt. In uns walten Inspi­rationen und Imaginationen. Nur verwandeln wir die Imaginationen wegen unserer mangelnden produktiven Phantasiekraft in allerlei ge­spenstige Bilder über die Zusammenhänge der Welt, mit denen wir

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die wirklichen Weltzusammenhänge verleumden. Wenn man jeman­dem sagt: Europa hängt soundso zusammen -, wie ich es wenige Jahre vor dem Ausbruch dieses Krieges in dem Vortragszyklus von Kristia­nia getan habe, wenn man die Welt so betrachtet, daß man sie mit innerer Psychologie, mit innerem Schauen beurteilt, dann betrachten es die Träumer als einen Aberglauben, und geht man daran, es ins Praktische umzusetzen, dann halten diese selben Menschen es für Utopie oder Ideologie. Aber darauf kommt es an, daß man in diesen Dingen heute klar sieht. In ihrem Sinne haben die Angehörigen der anglo-amerikanischen Welt klar gesehen, und wir haben dumpf ge­sehen. - Und auch die Inspirationen verwandeln sich, und zwar zu wilden animalischen Emotionen, die sich in Blut ausleben wollen. Sehen Sie hin auf das Blut, das heute fließt, sehen Sie hin, wenn die Menschen an die Wand gestellt und erschossen werden: das sind die Inspirationen, die an die Menschen kommen wollen mit dem guten Willen der geistigen Welt, die von den Menschen gehaßt wird, und die sich daher in wilde animalische Triebe verwandeln. Denn wenn der Mensch dasjenige, was aus der geistigen Welt als Inspiration an ihn herankommen will, nicht aufkommen lassen will, dann verwan­delt es sich in wilde Emotionen, in animalische Triebe.

Das sollten die bedenken, die seit Jahrzehnten mit der anthroposo­phisch orientierten Geisteswissenschaft zusammen sind. Bedenken sollten sie, daß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nicht bloß dazu da ist, um ein Wissen zu sammeln. Ob Sie schließlich vom Astralleib und Ätherleib und Ich irgend etwas wissen, rein gedanken-mäßig, oder ob Sie sich ein Kochbuch abschreiben und das, was im Kochbuch steht, nur gedanklich nebeneinanderstellen, das ist einer­lei; das eine ist nicht wertvoller als das andere. Anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft muß als Wissen übergehen in die menschliche Seele, aber man darf dieses Wissen nicht verwechseln mit dem stumpfen, dumpfen mystischen Gefühl. Das hat schon auch Ennemoser sehr richtig in diesem Aufsatz gesagt, was da kommen soll; denn er sagt: « Wie die Freiheit sich innerhalb der Gesetze, der Gerechtigkeit bewegen soll, so muß die Religion mit dem Lichte der Wissenschaft eine erleuchtete Wahrheit werden.» Aber die Menschen

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wollen heute nicht das religiöse Gefühl durchleuchten mit anthropo­sophischer Wissenschaft, sondern sie möchten punktuell in dem mysti­schen Gefühl eine abstrakte Göttlichkeit haben. Und vor allem wollen sie nicht, daß die Kunst eine Pflegerin der geistigen Schönheit am natürlichen Stoffe werde.

Das ist aber das, was Anthroposophie wollen muß: sie muß nicht nur ein Wissen geben; allerdings ein Wissen, aber ein solches, das innere Erleuchtung werden kann, das unser Unterscheidungsvermö-gen anspornt. Wenn sie das kann, dann ist uns in Mitteleuropa viel gedient. Denn wir müssen mit schauendem, die Welt erkennendem Blick nach Westen und Osten schauen können. Wir müssen im Westen wohl unterscheiden können zwischen dem, was aufgehend uns feind­lich ist, und zwischen dem, was als Feindliches nur untergehend ist. Auch da erinnere ich mich aus meiner Bubenzeit, als ich in der Ge­gend war, wo man die steirischen Berge hat, wie ich jede Woche zwei­mal im Eisenbahnzuge vor mir hatte jenen Grafen Ghambord, der im Schloß Frohsdorf wohnte, auf dessen Antlitz lagerte urälteste Katho­lizität, urälteste ultramontane jesuitische Erziehung und zugleich das, was der Abglanz war des französischen « L'Etat c'est moi». Das war noch Wahrheit. Alles andere ist nicht mehr Wahrheit. Mag Frankreich noch so sehr seine Macht heute enifalten: es ist im Niedergange, wie das anglo-amerikanische Element im Aufgange ist. Aber diese Dinge müssen richtig eingeschätzt werden. Wir werden sie so durchschauen müssen, daß wir uns befruchten können mit den Gesetzen des Geistes­lebens, daß wir verwandeln können die Gedanken in Willen und den Mut finden, mit der Tat uns auch wirklich hineinzustellen in die Ge­genwart, die so Ernstes und so Bedeutungsvolles von uns fordert. Wir müssen immer die Versuche erneuern und immer wieder und wieder diese Versuche machen, anzuklopfen bei unseren Zeitgenossen: Wollt ihr ein freies Geistesleben, wollt ihr einen Boden, auf dem sich freies Geistesleben entwickeln kann? Denn diese Versuche müssen immer gemacht werden. Wenn wir etwas von Wahrheit und Weisheit in die Menschheit einfließen lassen wollen, dann müssen wir die Probe machen, ob die Menschen sie annehmen wollen oder nicht; es kann sehr wohl die Sache beeinträchtigen, daß die Menschen sie nicht annehmen

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wollen. Deshalb bitte ich Sie, nicht sich auf ein Faulbett zu legen, indem Sie nach dem Ennemoserschen Satz sich sagen: «Deutsch­land wird seinen Beruf erfüllen, oder auf das allerschmählichste unter­gehen und mit ihm die europäische Kultur.» So sind die Worte nicht aufzufassen; sondern Sie müssen sich sagen, daß Deutschland seinen Beruf erfüllen wird, wenn sich Menschen finden werden, die Kraft genug haben, den deutschen Geist in sich zu beleben, unchauvini­stisch, unnational, als ein Stück des Weltengeistes, in dessen Sinn wir zu wirken haben zwischen dem Osten und dem Westen. Und wenn die Welt zurückweist, was aus Mitteleuropa kommen kann, dann sollte für uns jetzt der Zeitpunkt gekommen sein, wo die, welche seit Jahr­zehnten sich bekannt haben zur anthroposophisch orientierten Geistes­wissenschaft, nicht nur mit ihrem Kopfe, sondern mit ihrem Herzen und ihrem ganzen Opfermute sich erinnern und sagen: Wir sind da! Und daß wir da sind, um den Geist zu pflegen, soll nicht eine Seelen-lüge sein, sondern soll sich entfalten als Seelenwahrheit! - Und wenn die anderen bereit sind, aufzunehmen den Ruf nach Wahrheit, wie er aus der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft kommen kann, dann, wenn dieses Verständnis eintritt, dann könnte das, was als Anthroposophiscbe Gesellschaft gedacht war, dasjenige werden, als was sie gedacht war. Heute geht an alle Menschen, die guten Wil­lens sind, der Ruf nach Emanzipation des Geisteslebens. Aber die­jenigen Menschen, die sie vom Standpunkte des Geistes aufzufassen vorgegeben haben, sollen Wahrheit darüber sich geben und frei her­aus sagen: Und verlassen die anderen die Bahn des Geistes, bringen sie den Mut dazu nicht auf, so wollen wir dafür eintreten. Wir haben den Mut dazu. Wir wollen, daß der Geist nicht Phrase ist für uns, wir wollen, daß er als Wirklichkeit in unserem Blute pulst, wir wollen sagen, was für den Geist zu geschehen hat.

ELFTER VORTRAG Stuttgart, 29. Juni 1919

#G192-1964-SE228 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

ELFTER VORTRAG

Stuttgart, 29. Juni 1919

#TX

Es scheint, daß in diesem gegenwärtigen Zeitpunkte in jeder Seele die Frage aufgehen sollte: Wohin steuert die Menschheit? Wohin geht der Weg der Menschheit innerhalb der sogenannten zivilisierten Welt? Die Ereignisse der Gegenwart sind es ja, die zweifellos diese Frage in jede Seele hineinlegen müssen. Deshalb soll heute in einem ersten Teil unserer Betrachtungen gesprochen werden über diese Frage: Wohin steuert die Menschheit?

Wir haben ja des öfteren gesprochen von den rein menschlichen Differenzierungen, von den Unterschieden, die da bestehen zwischen den Seelenanlagen der Menschen im Westen und den Seelenanlagen des östlichen Menschen. Und ich habe auch schon im öffentlichen Vor-trage im Siegle-Haus angedeutet, wie an den ja keineswegs schon be­endeten Waffenkampf der Gegenwart sich anschließen wird der große Kampf des geistigen Lebens zwischen dem Westen und dem Osten, und wie dieser Kampf einer der größten, der bedeutungsvollsten Kämpfe sein wird, welche die Menschheit im Verlaufe ihres Erden­werdens auszukämpfen hat.

Eine Wahrheit, die hier und überhaupt innerhalb unserer anthropo­sophischen Bewegung oftmals ausgesprochen worden ist, sie sollte zur Erkenntnis des Menschen und seiner Aufgaben immer wieder und wiederum in der Seele erweckt werden, und das ist die Wahrheit, daß im fünfzehnten Jahrhundert innerhalb der europaischen Menschheit sich ein radikaler Umschwung vollzogen hat, ein radikaler Um­schwung, der zunächst von den Menschen wenig bemerkt worden ist, der aber sehr, sehr deutlich ist, sowohl für das geistige Leben wie für das seelische Leben wie auch für das äußere Leibliche, für den Men­schenleib, für die herrschenden Gesetze des wirtschaftlichen Lebens. Auf allen drei Gebieten ist deutlich bemerkbar um die Mitte des fünf-zehnten Jahrhunderts das Aufgehen der menschlichen Selbständig­keit, das Aufgehen der menschlichen Bewußtseinsseele. Aus früheren patriarchalischen Verhältnissen der Menschheit muß sich seit jener

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Zeit der Mensch allmählich herausarbeiten zur vollen Effassung seines Menschseins, zum Stellen auf sein eigenes Urteil, sein eigenes Empfin­den, und auf das aus dem eigenen Urteil und eigenen Empfinden ge­borene Wollen. Seit jener Zeit ist aber auch im Grunde genommen die menschliche Entwickelung - wenn ich den Ausdruck brauchen darf - gegabelt, das heißt die Menschheit steht vor einem Scheide­wege. Diese Menschheit kann, während sie bis in die Mitte des fünf­zehnten Jahrhunderts mehr oder weniger, wie von ihren Instinkten geführt, geradeaus gegangen ist, die Menschheit kann seit diesem Zeit­punkte im fünfzehnten Jahrhundert entweder rechts oder links gehen, der Weg ist gegabelt. Solche Entwickelungen vollziehen sich nicht von heute auf morgen; solche Entwickelungen lassen alte Erbschaften besonders aufblühen. Und es sind durchaus alte Erbschaften zurück­geblieben aus denjenigen Zuständen der Menschheitsentwickelung, die vor dem fünfzehnten Jahrhundert durchgemacht worden sind. Aber es haben sich daneben auch diejenigen Eigenschaften der Mensch­heit ausgebildet, welche eben Natureigenschaften sind, die eigentlich erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert in die Menschheitsentwicke­lung eingezogen sind.

Nur können wir in einer ganz bestimmten Weise bezeichnen, worin eigentlich dieser Umschwung im fünfzehnten Jahrhundert besteht. Sie wissen ja, ich habe es oftmals betont, die Geschichte, die in den Schulen gelehrt wird, ist nut eine Fable convenue, ist etwas, was mit der inneren Entwickelung der Menschheit furchtbar wenig zu tun hat. Da muß man schon hindurchgehen zu dem, was wahrhaftig ge­schehen ist, wenn man die Entwickelung der Menschheit verstehen will. Wenn man nun aufzeichnen will, was eigentlich in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts Besonderes geschehen ist, so muß man sagen: Bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts lebte der Mensch dadurch, daß er alle möglichen alten, atavistischen Fähigkeiten aus der Urzeit der Menschheit noch in seinem Blute trug, mehr oder weniger instinktiv. Dieses instinktive Leben, es muß abgelöst werden durch ein seelisch-geistig bewußtes Leben. Und dieses seelisch-geistig be­wußte Leben sollte eigentlich das charakteristische Leben der neueren Menschheit werden. Die bloß animalischen Instinkte, die aus der Leiblichkeit

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kommen, sollten sich verwandeln in seelisch-geistige In­stinkte. Es gibt viele Mächte, welche dieser Entwickelung des Men­schen nach dem Seelisch-Geistigen hin entgegenarbeiten wollen. Ich habe es oft betont, daß zum Beispiel die katholische Kirche im Jahre 869 auf dem ökumenischen Konzil zu Konstantinopel durch Ein­setzung eines Dogmas den Menschen, die Katholiken waren, verboten hat, über den Geist überhaupt nachzusinnen. Der Geist wurde dazu-mal für die europäische Menschheit, insofern sie der katholischen Kirche angehörte, verboten. Das war gewissermaßen das erste Ent­gegenstemmen gegen das, was gerade der Menschheit das Allernot­wendigste ist, gegen das Heraufziehen der Geistigkeit für die zivili­sierte Menschheit. Daher ist es auch gekommen, daß diese zivilisierte Menschheit sich zum Geiste durcharbeiten muß, durcharbeiten muß gegen alle diejenigen Mächte, die sich dem Geiste entgegenstemmen, welche gewissermaßen die Menschheit in der Dumpfheit des alten, in­stinktiven Lebens zurückhalten möchten. In verschiedenster Weise äußert sich dasjenige, was die Menschheit treffen wird, wenn sie nur von den Erbgütern des Alten, des eigentlich Überwundenen weiter­leben will. In verschiedener Weise äußert sich das im Westen, in der Mitte Europas und im Osten.

Wir müssen uns da allerdings zunächst fragen: Was steht eigentlich der Menschheit bevor, wenn sie sich nicht zu einem geistigen Leben, zu einer Erfassung des geistigen Lebens wenden will? Und ich habe es ja bereits in früheren Vorträgen erwähnt, daß etwas besonders Charak­teristisches in der Entwickelung der Menschheit dieses ist, daß in alten Zeiten, zum Beispiel noch in der Zeit der vorchristlichen Kultu­ren, die Menschen bis in ein viel höheres Alter hinauf entwickelungs­fähig geblieben sind, als sie es heute sind. Heute ist der Mensch nur entwickelungsfähig etwa bis zum siebenundzwarzigsten Lebensjahr, wie ich es öfter angedeutet habe. Das ist die äußerste Grenze seiner Entwickelungsfähigkeit. Er behält dann diejenigen Kräfte, die er sich so entwickelt hat bis zum siebenundzwanzigsten Jahr, und läßt sie fortvegetieren in seinem physischen Leibe. Betrachten Sie nur, wie entwickelungsfähig der Mensch in den ersten Lebensjahren ist. Da macht er alles dasjenige durch, was ihn führt bis zu der wichtigen

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Epoche des Zahnwechsels, gegen das siebente Lebensjahr zu. Die Menschen stumpfen sich nur ab für das, was in ihnen vorgeht; sie be­achten es nicht. Aber es gehen innere Revolutionen im Menschen vor, indem er sich seinem Zahnwechsel gegen das siebente Jahr nähert. Es gehen wiederum innere Revolutionen vor im Menschen, wenn er sich gegen das vierzehnte, fünfzehnte Jahr hin der Geschiechtsreife nähert. Von solchem inneren Umrevolutionieren des Menschen spricht die äußere Geschichte nicht. Die ganz verkatholisierte äußere Geschichte Europas spricht nicht davon, und sie weiß warum. Solche Revolutio­nierungen gingen in der alten Menschheit, in der vorchristlichen Menschheit bis in ein viel höheres Alter hinauf vor sich. Der Mensch war lange entwickelungsfähig, dadurch konnte er die ausgebildeten Kräfte seines Alters dazu verwenden, sehend in Weltengebiete einzu­dringen, in die er heute gar nicht eindringen kann, wenn er in der ge­wöhrlichen Erziehungsmethode, in dem gewöhnlichen äußeren Leben verbleiben will, weil er nur bis zum siebenundzwanzigsten Jahr ent­wickelungsfähig ist, und dann dasjenige, was sich in ihm entwickelt hat, versulzen, verknöchern läßt. So daß eigentlich die Menschen in ihrer inneren Seele früher greisenhaft werden und fortvegetieren. Das­jenige, was da dem Menschen durch natürliche Kräfte genommen ist, deutlich genommen ist seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, das muß er durch bewußtes Arbeiten an seiner Seele ersetzt bekom­men. Und wenn er es nicht ersetzt bekommt, kann der Mensch nur einem Zustand entgegeneilen, der immer wieder und wiederum sein späteres Leben verknöchert, vermechanisiert und so weiter. Das sind innere Gesetze der Entwickelung genau ebenso, wie die Entwicke­lungsgesetze in der äußeren Natur sind, nur scheut sich heute der Mensch, wirklich ein so starkes Denken und Erkennen zu entwickeln, daß er bis zu diesen inneren Gesetzen der Menschheitsentwickelung eindringt. Aber er muß eindringen, wenn nicht gewisse Dinge ein­treten sollen in der Entwickelung der Menschheit, die sonst ganz ge­wiß eintreten werden.

Durch dieses Entwickelungsgesetz steht die Menschheit, wenn sie so bleibt, wie sie sich entwickelt hat, vor fortdauernden Katastrophen, vor solchen fortdauernden Katastrophen, für die die gegenwärtige,

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seit dem Jahre 1914 sich abspielende Katastrophe nur der Anfang ist. Mit den Mitteln, welche die Menschheit als altes Erbgut entwickelt hat, können diese Katastrophen nicbt abgehalten werden. Denn der Mensch geht einer Entwickelung entgegen, welche in der Zukunft sein ganzes Seelisches unbrauchbar machen würde für die späteren Jahre seines Lebens. Es würden allmählich über die zivilisierte Welt hin Menschen kommen, die in ihrer Jugend allerlei geistig-seelische Enthusiasmen, geistig-seelische Begeisterungen zeigen, die aber dann abflauen, und die ins Alter hinein seelenlos fortvegetieren würden. Seelenlos würde die Menschheit werden, mechanisiert würde die Menschheit werden.

Wer sich darauf eingelassen hat, das Leben zu betrachten, insbeson­dere in unserer Zeit, der konnte auch im äußeren Leben nach dieser Richtung hin gehende Beobachtungen machen. Ich kann Ihnen sagen, ich habe gerade in den Jahrzehnten des letzten Drittels des neunzehn­ten Jahrhunderts immer wiederum die aufschießenden Talente und sogar Genies beobachten können, wie sie sich entwickelt haben. Keine Erscheinung war häufiger als die, daß sich Menschen entwickelten als Dichter, als Künstler, auch als Wissenschafter in jungen Jahren, die abgeblüht haben in ihren Zwanzigerjahren und dann nichts Beträcht­liches mehr hervorgebracht haben. Solche Sachen beobachtet man nicht, aber sie sind da; man schult sich nur nicht auf solche Beob­achtungen. Solche Beobachtungen zeigen aber, was in unserer Zeit der Menschheit droht, wenn sie nicht dasjenige erfaßt, was nur aus der geistigen und seelischen Entwickelung selber kommen kann. Und in verschiedenster Art zeigt sich dieses über die geographischen Terri­torien hin, die heute von der zivilisierten Menschheit bewohnt werden.

Die Völker des Westens, die haben in einem gewissen Sinne starke Instinkte. Durch diese starken Instinkte der Völker des Westens wer­den sie noch längere Zeit vor diesem Absterben des Geistig-Seelischen bewahrt bleiben. Ich möchte sagen, aus der Animalität der Völker des Westens steigen noch Instinkte auf, welche sie bewahren vor der Seelenlosigkeit und Verknöcherung. Deshalb brauchen diese Völker des Westens weniger das geistig-seelische Leben zu kultivieren als die Völker Mitteleuropas und des Ostens. Diese Völker Mitteleuropas

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und des Ostens können nichts Schlimmeres tun, als die Kultur des Westens nachahmen auf irgendeinem Gebiet. Denn wenn sie nach­ahmen wollen, so ahmen sie etwas nach, wofür sie keine Instinkte haben, was in ihnen nimmermehr gedeihen kann. Und es war im Grunde genommen unser Unglück, unser selbstverschuldetes Un­glück, daß wir uns soviel eingelassen haben auf die Nachahmung des Westens auf den verschiedensten Gebieten des Lebens. Und in ge­wissen Kreisen des Westens, die eingeweiht sind in diese Dinge, weiß man alles das, was ich Ihnen jetzt erzählt habe, ganz gut. Daher legt man einen großen Wert darauf, den Osten, der sich natürlich durch seine seelischen Eigenschaften sehr gegen die Entseelung und Ent­geistigung sträubt, gewaltmäßig zu entseelen und zu entgeistigen. Daher das Bestreben Englands gegenüber Indien, dort hinzuarbeiten auf möglichste Entseelung und Entgeistigung.

Sehen Sie, so geht der Gang der Kultur, wenn die Menschheit sich nicht geistig-seelisch selber in die Hand nimmt. Dann werden wir es erleben, daß instinktiv im Westen gewisse demokratisch-soziale Ideale gedeihen werden, während im Osten sich dasjenige fortsetzen wird, was schon seinen Anfang genommen hat. Diese Entwickelung des Ostens, sie muß uns ja schon zu besonderen Gedanken anregen. Wir, die wir seit Jahrzehnten sogar immer betonten: die Zukunft Europas hat ihre Quelle in dem russischen Volksgeist, in dem Volksgeist des Ostens - wir, die wir immer hingewiesen haben auf alle die fruchtbaren Kräfte, die im Osten Europas aufgehen müssen, wir müssen heute be­sondere Sorgfalt darauf wenden, diesen Osten zu betrachten. Wir können ihn nur richtig betrachten, wenn wir uns selber richtig ins Auge fassen.

Wir in Mitteleuropa sind aus jener Entwickelung heraus, die durch den Dreißigjährigen Krieg gegangen ist, in einen gewissen Idealismus des Geistes hineingegangen, der hoch aufgeblüht hat in Lessing, Her-der, Schiller, Goethe, in den deutschen Philosophen, der auch seinen Abglanz gehabt hat in der deutschen Musik. Damit blühte dasjenige auf, was man so gewöhnlich den deutschen Idealismus nennt. Dieser deutsche Idealismus, er hat seinen Höhepunkt erlebt in der Philosophie Hegels. Was ist nun eigentlich diese Philosophie Hegels. die aus dem

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Goetheanismus in Mitteleuropa sich heraus entwickelt hat als das innerlich gediegenste Gedankensystem, was ist diese Philosophie Hegels? Nun, diese Philosophie Hegels treibt nur auf die höchste Spitze, was auch schon bei Lessing, Herder, namentlich aber bei Goethe lebte. Und das muß insbesondere heute, in der Zeit der Krisis, scharf ins Auge gefaßt werden. Was lebte in diesem deutschen Idealis­mus? Ja, es lebte zum letztenmal auf, in einer großartigen Weise lebte zum letzten Male auf, was in der Gestalt, wie es dazumal auflebte, in der Menschheit nicht bleiben darf. Der deutsche Idealismus, er muß in einer gewissen Hinsicht betrachtet werden als eine sehr schöne, groß­artige, gewaltige Abendröte. Und wer sie anders betrachtet denn als eine großartige, gewaltige Abendröte, der betrachtet sie falsch, der betrachtet sie so, daß er sich gegen den Geist des menschlichen Fort­schritts versündigt. Das insbesondere wird bei Hegel anschaulich.

Es ist schwierig für die Menschen, sich in das ganz bis in die höchste Höhe der Abstraktion hineingetriebene Gedankengebäude Hegels zu vertiefen. Wer es aber tut als Mensch - nicht als Universitätsprofessor, sondern als Mensch -, der kann sich ein Urteil machen, wohin eigent­lich der Menschengeist getrieben hat, indem er aus dem Goetheanis­mus den Hegelianismus heraus entwickelt hat. Hegel erklärt aus dem Goetheanismus heraus die menschliche Vernuuft, die da waltet in den Erscheinungen, als das eigentlich Göttlich-Geistige. Die menschliche Vernunft setzt Hegel auf den höchsten Thron; die in der Wirklichkeit waltende Vernunft setzt Hegel auf den höchsten Thron. Er führt im Grunde genommen nur dasjenige aus, was auch schon Goethe getan hat. Nun ist das Eigentümliche - wenn man sich wirklich als Mensch vertieft in Goethe und Hegel, so merkt man das -, nun ist das Eigen­tümliche, daß Geist waltet in Lessing, in Herder, in Schiller und Goethe, in Hegel, aber daß dieser in ihnen waltende Geist nichts vom Geiste weiß. Das ist etwas, was die Menschen werden verstehen müs­sen, was heute den Menschen noch so ans Ohr Illingt, daß sie geradezu gar nichts davon verstehen. Es ist Geist, was in diesem deutschen Idealismus waltete, es ist Geist, aber es weiß nichts vom Geist, es handelt nicht vom Geist, es redet nicht vom Geist.

Die Hegelsche Vernunft, sie wird entwickelt zuerst in der Logik, das

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heißt im gewöhnlichen menschlichen Denken, das zum Weltendenken wird; sie wird entwickelt in der Naturphilosophie, wo alle Natur­erscheinungen gemäß der Vernunft verwaltet werden; sie wird ent­wickelt in den menschlichen seelischen Eigenschaften, in den mensch­lichen geschichtlichen Eigenschaften, in dem, was der Mensch hervor­gebracht hat als Religion, als Kunst, als Wissenschaft - aber dann ist es aus. Von dem Geiste als Geist redet diese Philosophie nicht. Sie ist ganz Geist, sie redet von allem, was nicht Geist ist, auf geistige Art; aber sie redet nichts vom Geiste. Es ist die letzte Abendröte, die letzte schöne, herrliche Abendröte desjenigen, was eigentlich für die Ge­samtmenschlieit als Sonnenschein schon in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts untergegangen ist. Daher ist es notwendig, daß man ge­rade zum deutschen Idealismus eine ganz besondere Stellung gewinnt. Derjenige, der ihn konservieren will, der das einfach aufnehmen will, was Lessing, Herder, Goethe, Schiller gedacht haben, oder was dann Hegel in großartige abstrakte Weltenformeln gebracht hat - wer das bloß nachdenken will, wer gewissermaßen im gewöhnlichen Sinne Schüler sein will dieser Zeit, der versündigt sich am Fortschritt der Menschheit. Wir können das, was als Abendröte der Menschheit er-glänzt hat, was noch in sich trägt die letzten Lichtingredienzien des Griechentums und Römertums, wir können das nicht, wenn es nicht ertötend wirken soll, in die Kultur, in die Entwickelung der neueren Zeit einfach als Wissen, als Aufgenommenes, als Verdautes hinüber-nehmen. Das ging mir schon als ganz junger Mensch durch die Seele. Deshalb habe ich in den achtziger Jahren den Goetheanismus nicht so getrieben wie die anderen, daß ich über Goethe geschrieben habe, daß ich dasjenige historisch verarbeitet habe, was die Goethe-Forscher zum Beispiel historisch verarbeiteten, sondern ich habe versucht, den Goetheanismus lediglich aufzunehmen und ihn weiterzubilden. Ich habe meine Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung ge­schrieben zu dem Zwecke, um dahin zu kommen, zu zeigen, wie man im Sinne Goethes denken und über die Welt empfinden könne. Ja, da ist dann gerechnet mit alledem, was ich eben vorhin gesagt habe. Da ist gerechnet damit, daß wir an der Abendröte des deutschen Idealismus lernen können, wie wir uns weiter entwickeln können, daß

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wir aber nicht diese Abendröte in der Gestalt, wie sie historisch über­liefert ist, fortzusetzen haben. Wir müssen gerade etwas anderes gei­stig-seelisch herausentwickeln aus diesem deutschen Idealismus, als er uns unmittelbar darbietet. Wir müssen lernen an ihm, daß wir Kraft sammeln, um weiterzukommen. Daher ist heute Goetheanismus nicht ein Goethekult, nicht eine Verehrung desjenigen, was Goethe unmittelbar geschaffen hat, sondern Goetheanismus ist die umgestal­tete, die umgewandelte Fortsetzung desjenigen, was man, an Goethe sich schulend, sich innerlich durchdringend, heranentwickein kann.

In noch höherem Grade ist das bei Hegel der Fall. Derjenige, der heute ein Hegelianer wäre, der den Hegelianismus unter die Mensch­heit bringen wollte in dieser oder jener Gestalt, der würde verdorrend wirken auf den Fortschritt unserer Kultur. Wer aber die Art der feinen Gedankenbildung Hegels zu seinem innersten Seeleneigentum macht und von da aus den Schritt tut, den Hegel nicht machen konnte: in den Geist hinein, der tut das Richtige, der tut, was im Sinne des Menschheitsfortschritts liegt. Sehen Sie, das ist unsere schwierige Stellung innerhalb der Welt, daß wir am wenigsten zum Beispiel Goetheaner sind, wenn wir Goethe nachbeten, daß wir am meisten Goetheaner sind, wenn wir uns dazu aufschwingen können, zu sagen:

Wir müssen alles anders machen, als Goethe es gemacht hat, wenn wir gerade in Goethes Sinn wirken wollen; wir müssen alles anders machen, als Hegel es gemacht und gesagt hat, wenn wir am besten in Hegels Sinn wirken wollen. Die Geschichte macht es uns schon in einer gewissen Weise vor. Für Hegel war der Preußenstaat die aller-vernünftigste Einrichtung in der Welt, weil der Vernunft in allen Dingen sucht. «Das Wirkliche ist das Vernünftige.» Daher war der Staat, in den er selber als Person eingemündet hat, das Allervernünf­tigste. Alle Universitäten waren für ihn gut, die mitteleuropäischen Universitäten die Mittelpunkte der Welt, und die Berliner Universität der Mittelpunkt des Mittelpunktes. Das sind durchaus Dinge, die in einer geheimnisvollen Weise mit denjenigen Kräften in der Mensch­heitsentwickelung zusammenhängen, die ich oftmals so gezeichnet habe, daß man sich ihnen nicht hingeben kann, wenn man bequem seelisch leben will, weil einen diese Kräfte innerlich vor allerlei Klippen

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und Abgründe führen, vor Übergänge und innere Umwälzungen. Das verkennen diejenigen, die heute am falschen Goetheanismus und Hegelianismus die richtigen messen. Und solche Leute sind heute wahrlich nicht in geringer Anzahl vorhanden. Und man muß sich be­wußt werden, wie diese Menschen den wirklichen Menschheits­fortschritt hemmen.

Da ist ein Buch erschienen, das so recht aus dem Geiste der Gegen­wart heraus geschrieben ist, geschrieben ist aus dem aufgeklärtesten Geiste der Gegenwart heraus, von einem innerlich scharfsinnigen und künstlerisch empfindenden Menschen, Ernst Michel. Das Buch heißt «Der Weg zum Mythos.» Da ist sogar der gute Wille vorhanden, wiederum zurückzukehren zu einer geistig-seelischen Auffassung des Lebens. Aber wie beurteilt Ernst Michel den Weg des Goetheanismus? Sehen Sie, eine Stelle muß ich Ihnen vorführen, weil sie mit unserer heutigen Betrachtung innerlich zusammenhängt. Er sagt auf Seite 38:

«Die höchste Erkenntnis, die nach Goethe dem Menschen vergönnt ist, ist das intuitive Vordringen zu den Urphänomenen, d.h. zur schauenden Erfassung des Gestalteten, Erschienenen als bewegte, flutende Auswirkung göttlicher Kräfte. Diese selbst aber bleiben uns ihrem metaphysischen Wesen nach verborgen. Der Mensch kann nichts dazutun und nichts hinwegnehmen, er kann das Geistige nicht beeinflussen, er kann nur schauend in seinen Wirkungsbereich ge­langen oder nicht. Über dieses Grundgesetz menschlicher Existenz kommt auch der höchste Mensch nicht hinaus. Die Theosophie, auch in ihrer Form als Anthroposophie, wäre rückhaltlos von ihm (Goethe) abgelehnt worden.»

Also Sie sehen, hier betrachtet ein Mensch die Geistesart Goethes. Er weist hin auf das instinktive Element, auf das Vordringen in die Urphänomene, und sagt dann: Die Theosophie, auch in ihrer Form als Anthroposophie, wäre von Goethe rückhaltlos abgelehnt worden. -Welche Gedanken hat man sich in der Gegenwart über so etwas zu machen, wenn man wirklich im Sinne des Fortschrittes denkt? Man hat sich zu sagen: Ganz gewiß, die Theosophie, auch in ihrer Form als Anthroposophie, wäre von Goethe abgelehnt worden. Aber in der Form es heute der Menschheit vorzutrommeln, wie es hier in diesem

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Buche geschieht, das heißt sich versündigen am Fortschritt der Menschheit. Denn nicht darum handelt es sich, was Goethe in seiner Zeit und bis zu seinem Tode, 1832, abgelehnt hätte, sondern um das­jenige handelt es sich, was heute wirken muß und was Goethe in seiner fortlebenden Geistigkeit aus sich selber machen will. Diejenigen also, die nur zurückblicken in einer solchen Weise, die versündigen sich am wirklichen Fortschritt der Menschheit.

Das ist die heutige Furcht, aber auch der heutige Haß gegenüber dem lebendig bewegten Geistesleben, in das wir hineinkommen müs­sen, wenn wirklich eine Entwickelung der Menschheit angestrebt werden soll. Es ist daher kein Wunder, wenn Menschen, die die Welt­entwickelung so anschauen, in Irrtümer über Irrtümer verfallen. So betrachtet dieser Verfasser die heutige expressionistische Kunst, und er findet irgend etwas über diese expressionistische Kunst - er redet ja sehr unklar-, aber er findet nicht heraus, wie diese expressionistische Kunst in ihrer Unbeholfenheit doch ein Anfang ist zu etwas Neuem, ein Anfang vor allen Dingen zu etwas, wovon sich Ernst Michel nicht das geringste träumen läßt. Deshalb sagt Ernst Michel: «Dem Sym­bolismus folgte der Expressionismus als zweite Bewegung, die das künstlerische Schaffen bewußt wieder seiner höchsten Aufgabe zu­führen wollte: gestaltetes Bekenntnis, Ausdruck einer geistigen Welt­anschauung zu sein.»

Der Expressionismus ist sehr unverständlich heute, manchmal anti-künstlerisch, nicht nur unkünstierisch, aber es ist der ungeschickte Weg, um künstlerische Verkörperung des innerlich Geistigen zu suchen. Im Anschluß daran findet Ernst Michel das Urteil berechtigt, daß er sagt: «Der Transzendentalismus, als der das neue Weltgefühl in die Erscheinung tritt, beruft sich jedoch nicht auf einen neuen reli­giösen Offenbarungsinhalt, sondern auf die philosophische Lehre Henri Bergsons und die neue Gnosis Rudolf Steiners, die in der In­tuition eine latente Geisteskraft des Menschen verkünden, die an die Stelle der religiösen Offenbarung zu treten berufen sei. In der Kraft der Intuition, des schauenden Bewußtseins, soll der Mensch befähigt sein, den Verstand und seine Scheinerkenntnis zu überwinden und un­mittelbar zum geistigen Sein der Dinge vorzudringen.»

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An einer solchen Stelle muß man den Menschen, der in schiefer Weise aus der Gegenwart herauswächst, sozusagen, unmittelbar er­tappen. Denn hier wird zusammengeworfen dasjenige, was unsere Anthroposophie ist, mit dem, was eine in die letzten Phasen einer Entwickelung gebrachte Phrasenhaftigkeit des Henri Bergson ist, der alles, was Weltanschauung ist, durcheinander rührt, und der einem so vorkommt wie die bekannte Persönlichkeit, die sich immer um sich selbst dreht, um den eigenen Zopf abzufangen, der überall verweist auf Intuitionen, aber nirgends zu einer Intuition kommt, der immer davon redet, man solle zum Seelischen vordringen, der aber keinen Schritt macht, um zu ein er wirklichen Geist-Erkenntnis vorzudringen. So schwer wird es den Menschen der Gegenwart, das Fruchtbare von dem Unfruchtbaren zu unterscheiden. Wir in Mitteleuropa haben die Möglichkeit dieser Unterscheidung, wenn wir uns halten an die große Unterscheidung: des Goethe, wie er bis zum Jahre 1832 war, und des Goethe, wie er in uns wirken muß. Und ebenso bei Hegel. Denn dann, wenn sie in uns in umgewandelter Form wirken, dann ist ihre Geistig­keit befruchtend für uns, um den Weg in die geistige Welt hineinzu-nehmen.

Was ich Ihnen jetzt auseinandergesetzt habe, das ist zu gleicher Zeit der Schlüssel, um eine sehr, sehr wichtige Erscheinung des neunzehn­ten Jahrhunderts zu verstehen, die den Menschen deshalb nicht gründ­licheres Nachdenken verursacht hat, weil die Menschen in der Gegen­wart dem gründlichen Nachdenken abgeneigt sind. Aber ist es denn nicht eigentümlich, daß der immer nur aus der Luft heraus von Geist sprechende Dialektiker Hegel als seinen genialsten Schüler den ganz materialistischen, nur von dem Materiellen und Ökonomischen etwas haltenden Karl Marx hat? Unmittelbar schlägt in der Mitte des neun­zehnten Jahrhunderts der äußerste Idealismus in den geistlosesten Materialismus um, und nicht Hegel, sondern Karl Marx wird der­jenige Geist, an den sich die zukunftsreichsten Menschen der Gegen­wart halten. Wir waren noch nicht in der Lage, weil wir den Seelen-schlaf geschlafen haben in der Mitte Europas, diese hier zugrunde liegende Tatsache in ihren Fundamenten wirklich zu prüfen. Man kann sie nur prüfen, wenn man sich frägt: Nehme man an, der Geist

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von Karl Marx breitete sich über ganz Europa aus, was würde aus Europa?

Da muß man nun beim Osten anfangen. Da würde der Osten, aus dessen Volksseele hervorgehen soll die eigentliche Beseelung der neueren Zivilisation, da würde dieser Osten einem Schicksal entgegen­gehen, das man in folgender Weise bezeichnen kann: Die Mechani­sierung des Geistes, in einem wirtschaftlichen Papsttum die vollstän­dige Mechanisierung des Geistes, die Ertötung aller Produktivität und Freiheit des Geistes in einer großen, über ein großes Territorium aus­gedehnten Buchhaltung. Ferner die Vegetarisierung der menschlichen Seele. Insbesondere würde sich geltend machen auf dem Gebiet der Rechtsanschauung und des staatlichen Lebens diese Vegetarisierung der Seele. Oh, es ist interessant, wie in unserem Zeitalter zuletzt auf­getaucht ist aus dem Geiste des Ostens, der vorwärts will, die unklare, aber echt russische Lehre des Tolstoi, die Seelendurchdringung des Dostojewski, aber auch dasjenige, was in Mitteleuropa weniger beob­achtet wurde, und was ich nennen möchte das russische Heroentum der Rechtsidee. Dieses russische Heroentum der Rechtsidee war bei vielen Menschen verbreitet, bevor diese Weitkriegskatastrophe aus­gebrochen ist. Diese russischen Heroen, sie haben gar nicht mehr ge­dacht an ihren persönlichen Menschen, sie haben nur noch gedacht an den Menschen an sich, an dasjenige, was rechtens sein soll von Mensch zu Mensch. Und sie wären nicht nur durchs Feuer, sondern auch durch den physischen Tod gegangen für die Realisierung, und sind auch zum großen Teil durch den Tod gegangen für die Realisierung der Rechts-idee. Und so findet man auch auf anderen Gebieten in diesem russi­schen Leben vor dem Ausbruch der Weltkriegskatastrophe, nieder-gedrückt durch das Furchtbare, was die Welt erlebt hat durch Zaris­mus und Imperialismus, ein gewisses Heroentum des Seelenlebens in dem russischen Menschen. Und jetzt flutet hinüber dasjenige, was den Geist mechanisieren will, was die Seele vegetarisieren will; so daß, wenn das so fortgehen würde, der russische Osten durch Jahrhunderte hindurch mit schlafender, betäubter Seele durch die Menschheits­entwickelung leben würde. Verschlafen würde er auch dasjenige, was er selber der Welt hätte geben können. Und ferner wird zugeeilt in

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diesem europäischen Osten der Animalisierung der Leiber, der Geburt der animalischen Instinkte in den Leibern.

Das würde verhängen der alte Geist der Menschheit über dieses un­glückselige Europa, zunächst im Osten, wenn man sich nicht be­quemen würde, hineinzusteuern in den Geist des Fortschritts. Denn es ist nicht Fortschritt, was jetzt nach dem Osten getragen werden soll, es ist die allerreaktionärste Strömung, die ganz herausgeboren ist aus dem, was für die Menschheit schon bestimmt war unterzugehen um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Was heute im russischen Leninismus lebt, das ist die Fortsetzung des Geistes, der auf dem öku­menischen Konzil zu Konstantinopel im Jahre 869 dogmatisch den Geist abgeschafft hat. Das muß man durchschauen. Und was sich aus wahrem demokratisch-sozialem Geiste dagegen auf lehnt, das ist das­jenige, was mit dem wirklichen Fortschritt der Menschheit rechnet. Denn dieses Reaktionärste will eben, wenn es sich dessen auch nicht bewußt ist, Mechanisierung des Geistes, Vegetarisierung der Seele, Animalisierung der leiblichen Instinkte, die sich immer mehr und mehr ausleben würden in den Anschauungen vom Blute. Es nützt nichts, vor diesen Dingen die Augen zu verschließen. Wer heute aus dem Geiste der Wahrheit heraus reden will, der muß den Dingen ins Ge­sicht schauen, was auch daraus folgt, der muß auch rückhaltlos den­jenigen Dingen ins Gesicht schauen, in denen sogar eine große An­zahl von Menschen in betörter Weise das Heil sucht. Und ich möchte sagen: nur im extremsten Fall zeigt dieser russische Osten, wohin die Menschheit sausen will. Sie will mit dem alten Geiste in die Mechani­sierung des Geisteslebens hineinsteuern, indem sie die Schule ganz vom Staate aufsaugen läßt. Sie will in die Entseelung, in die Vegetari­sierung der Seele hineinsausen, indem sie abstumpfen will das wirk­liche Rechtsgefühl, und es ersetzen will durch die Buchführung eines scheinbar, aber nicht wirklich sozialisierten Staates. Und sie meint, die Menschen zu einem natürlichen Menschenleben zu führen, indem sie die wüstesten animalischen, leiblichen Instinkte entfesselt, die der Mensch in sich trägt.

Das ist die Aufgabe, die uns aus der tiefsten Not heraus in Mittel-europa geboren werden soll, auch in diesem Punkte klar zu sehen.

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Kiar zu sehen, wie wir die große Zeit des deutschen Idealismus in uns aufzunehmen haben, wie wir umzuwandeln, umzugestalten haben, was die große Zeit des deutschen Idealismus ist, damit die Menschen nicht - wie es in Rußland anfangen würde - wie lebende Leichname herumgehen werden, wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben. Auffiackern würden in der Zukunft einzelne Fähigkeiten der Menschen in den jungen Jahren, und alle die alten Menschen würden wie lebende Leichname herumwandeln. Und die Kultur würde aussterben, denn die Erde kann seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf ihre Art dem Menschen nichts mehr geben; er muß es sich selbst suchen, wenn er auf der Erde gedeihen will. Wir in Mitteleuropa haben die Aufgabe, dem Westen, der es nur zu der Entwickelung des Leibes und der Seele, und dem Osten, der es nur zur Entwickelung des Geistes und der Seele bringen kann, wir in Mitteleuropa haben die Aufgabe, der Menschheit zu zeigen, wie die Entwickelung durch Leib, Seele und Geist geht. Wir haben wiederum aufzurichten jenes Reich des Geistes, das untergraben worden ist von dem dogmatischen Katholizismus 869 auf dem achten ökumenischen Konzil zu Konstantinopel. Sonst geht mit dem Geiste der Menschheit auch die Seele verloren, und sie wird zum lebenden Leichnam auf dieser Erde, da die Erde weiterhin keine Lebenskraft mehr geben könnte. Daher das beständige Suchen nach dem Geiste, daher die Notwendigkeit einer wirklichen Welt­anschauung der Freiheit. Nicht jener Freiheit, die mit dem schwär­zesten Reaktionärismus verbunden sein kann, sondern jener Frei­heit, die herausgeboren wird aus dem Geiste des modernen Men­schen.

Die mitteleuropäische Menschheit war dazu veranlagt, in der äußer­sten Verdünnung gerade noch den Geist so weit hervorzubringen bei Hegel und Goethe, daß der Geist als Geist wirkte, aber nicht mehr den Geist erfassen konnte, ihn höchstens bei Goethe symbolisch andeuten konnte im «Märchen» und im zweiten Teil des «Faust», bei Hegel, indem er die Welt geistig beschrieb, aber so, daß diese geistige Be­schreibung der Welt geistlos geblieben ist. Faßt man Hegel als einen Menschen, der über die Welt ganz vom Standpunkte des Geistes sprechen kann, aber zu gleicher Zeit als den geistlosesten Menschen,

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der jemals geboren worden ist, dann faßt man Hegel richtig. Aber es steckt dieses Erbgut der Geistlosigkeit gerade in der mitteleuropä­ischen Entwickelung. Daher sind wir gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts und zum Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in die absolute Geistlosigkeit hineingekommen. Wir sind hineingekommen in ein Walten, das überhaupt nicht mehr über das Leben nachdachte. Und aus dem Nicht-Nachdenken über das Leben, aus dem, daß man sich alle Gedanken über das Leben abgewöhnt hat, ist dann 1914 er­folgt, was man so ausdrücken könnte: im Juli 1914, am Ende des Monats war es so, daß in Mitteleuropa alle Gedanken durch dämo­nische Geister konfisziert worden sind, damit diese konfiszierten Ge­danken in den Seelen der Menschen nicht wirkten, und aus dem wüsten Unterbewußtsein heraus dasjenige entspringen konnte, was eben dann entsprungen ist. Denn Mitteleuropa mit seinen beiden Reichen machte tatsächlich 1914 Ende Juli den Eindruck von Men­schen, die so handeln, daß ihnen alle Gedanken konfisziert worden sind. Über diese Dinge sich heute einen blauen Dunst vorzumachen genügt nicht. Diese Dinge müssen heute im Geiste der Wahrheit ge­sehen werden, und dieser Geist der Wahrheit muß sich zu gleicher Zeit befruchten lassen von dem, was notwendig ist für die weitere Menschheitsentwickelung.

Daher muß man auch einsehen, was diejenige Gesinnung über die Menschheit bringen würde, die nur aus der naturwissenschaftlichen Weltanschauung heraus kommt, aus jener naturwissenschaftlichen Weltanschauung, die die ganze Welt begreifen will und die dann ihre blödsinnigen, ihre schwachsinnigen Blüten getrieben hat in den mo­nistischen Vereinigungen, wo überhaupt nur noch Phrasen und Phrasen geredet wurden, weil man sonst nichts reden konnte. Nehmen wir an, diese naturwissenschaftliche Weltanschauung, die sich in alles soziale Denken und Empfinden hineingeschlichen hat, würde die Menschheit ergreifen. Was wäre die Folge? Ja, da muß man wissen, welches die Eigentümlichkeit der naturwissenschaftlichen Welt­anschauung ist. Sehen Sie, Haeckel ist ein Prachtmensch, wirklich ein Prachtmensch voller Leben gewesen, ein glänzender Kerl. Ich habe Ihnen vielleicht schon die selbst erlebte Geschichte erzählt: Wir saßen

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einmal in Weimar, ich mit dem alten Verlagsbuchhändler Herz von Berlin an einer und Haeckel an der anderen Ecke des Tisches. Nun, Herz, der ein Mensch nach ganz altem Zuschnitt war, sagte ungefähr im Gespräch: Ja, was der Haeckel lehrt, das führt die Menschheit in den Untergang hinein, das ist ein Unglück für die Menschheit. - Der Haeckel saß, wie gesagt, am anderen Ende des Tisches. Herz sprach weiter, dann fiel ihm diese so sympathische, schöne Erscheinung des Haeckel ins Auge, und er fragte: Wer ist denn der dort unten? - Man sagte ihm, daß es Haeckel sei. Nein, rief er, das kann nicht sein, böse Menschen können nicht so lachen! - Sehen Sie, in solchen Symptomen stießen zusammen diejenigen Dinge, die von alther kamen, und die, welche nach dem Neuen hinwollten. Aber eine eigentümliche Er­scheinung muß beobachtet werden: Solche Menschen, die zuerst Naturwissenschaft treiben im Kabinett oder mit den Netzen im Meere, indem sie Medusen untersuchen, wie Haeckel das so zahlreich getan hat, die im Laboratorium aus erster Hand die Untersuchungen machen, das können innerlich rege Menschen sein, die können mit ihrer Seele und sogar mit dem Geiste dabei sein. Die Schüler aber, die zeigen sich bereits in der dritten Generation als absolut geist- und seelenlose Menschen. Das ist das Eigentümliche der naturwissenschaftlichen Weltanschauung: sie zehrt den Menschen aus an Geist und an Seele, und sie betäubt ihn. Aber weil sie bei denen, die aus erster Hand die Forschungen betreiben, die Auszehrung noch nicht so weit treiben kann, deshalb sind oftmals die ursprünglichen Naturforscher höchst sympathische Kerle. Der nächste Schüler, der noch die Gestalt des Lehrers vor sich hat, ist nicht ganz geistlos; der dritte, der der Schüler des Schülers ist, ist meist schon ein geist- und seelenloser Kerl, ein Monist.

Aber mit diesem Monismus ist noch etwas anderes verknüpft. Durchdringt man sich in der Seele mit diesem Monismus, durchdringt man sich überhaupt mit dem Geiste der neueren Naturwissenschaft in seiner Seele, so wird man als Mensch dem Menschen fremd, dann ent­wickeln sich im Menschen antisoziale Triebe. Die Sympathien von Mensch zu Mensch erblassen, die Antipathien nehmen immer mehr und mehr zu. Deshalb mußte ich es hier oft aussprechen: Mag die

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Naturwissenschaft auf dem Boden der Natur noch so große Triumphe feiern - die menschliche Natur, die menschliche Wesenheit ruiniert sie von den Fundamenten aus, denn sie erzeugt die antisozialen Triebe, sie errichtet Abgründe zwischen Mensch und Mensch. Wir stehen heute schon an solchen Abgründen zwischen Mensch und Mensch, was sich dadurch zeigt, daß nur noch im geringsten Maße heute der Mensch den Menschen begreifen kann, der Mensch sich in den Men­schen wirklich hinein versenken kann.

Was muß an die Stelle des eben Geschilderten treten? An seine Stelle muß diejenige Seelenentwickelung treten, die ihren Weg geht durch die Aufnahme dessen, was Sie, vielleicht mit schwachen Kräften, ge­schildert finden in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Das ist zugleich ein Erziehungsbuch der Mensch­heit. Das ist es, womit begonnen werden sollte am Anfang des zwan­zigsten Jahrhunderts: den Menschen davon zu sprechen, wie sie auf sich selbst, auf ihre eigene Kraft bauen sollten. Solch eine Sache muß auch pädagogisch fruchtbar gemacht werden. Solch eine Sache ist das Fundament für die mitteleuropäische Pädagogik.

Nun, es ist unmöglich, daß die Kräfte, die bloßgelegt werden sollten in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», daß diese Kräfte in irgendeiner Staatsschule groß gezogen werden.

Errichten Sie Staatsschulen irgendwelcher Form, und die Menschen werden gerade hinweggetrieben von dem, was da in ihren Seelen und in ihrem Geiste entwickelt werden soll. Das kann nur gedeihen, wenn das Geistesleben auf seine ureigenste freie Basis gestellt wird, wenn das Geistesleben in Selbstverwaltung gerückt wird. Daher ist dieses Rücken des Geisteslebens in Selbstverwaltung die Urfrage der Mensch­heit in der gegenwärtigen Zeit. Denn durch dieses Rücken des Geistes­lebens in die Selbstverwaltung wird wiederum das erzeugt werden, was unter der naturwissenschaftlichen Erziehung der Menschheit am meisten verlorengegangen ist: das Walten einer künstlerischen Er­fassung der Welt, aus dem heraus sich dann ergeben wird das imagi­native Erfassen der Welt. Denn die Menschheitsentwickelung ist an einem gewissen Punkte angekommen: wenn der Mensch dem Men­schen heute gegenübertritt, sie können einander gar nicht mehr erkennen,

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weil dazu die Leiblichkeit schon zu sehr abgedorrt ist. Sie können Menschen nur erkennen, wenn Sie sich ein Bild, eine Imagina­tion von ihm machen können. Und immer mehr auf Bilder, auf Ima­ginationen, die sich der Mensch vom Menschen machen kann, auf An­schauen des Seelisch-Geistigen im Menschen, wird auch der unmittel­bare persönliche Verkehr gestellt sein müssen, und alles dasjenige, was für die Menschen da sein sollte. Gründlich geändert müssen die eigentlichen Entwickelungsimpulse der Menschen werden. Und da muß auch das schon ausgesprochen werden: Nehmen Sie an, die Denkweise, die heute die ganze Menschheit beherrscht, die materia­listische Denkweise, sie würde siegen - jetzt sind wir an der Gabelung der Kultur -, diese materialistische Anschauung würde siegen: dann würde sich von Rußland ausgehend die ganze Menschheit dem Geiste nach mechanisieren, der Seele nach vegetarisieren, dem Leibe nach animalisieren, weil die Erdenentwickelung selber dazu drängt. Die Erdenentwickelung gab von sich die belebenden Menschenkräfte, das können Sie bis ins fünfzehnte Jahrhundert hinein verfolgen, wo selbst die Preise in Mitteleuropa die normalen waren, die Preise der einzelnen Wirtschaftsgüter. Das wird nur verdeckt von der Geschichte, die eine Fable convenue ist. Die Erde konnte dem Menschen nur bis ins fünf­zehnte Jahrhundert hinein das geben, was er ohne Bewußtsein in sich finden konnte, nur bis dahin konnte sie Entfalterin des Menschen sein. Seither ist der Mensch darauf angewiesen, sich hineinzuarbeiten in das Ergreifen einer bildhaften, geistigen Anschauung der Welt und des anderen Menschen, um wiederum zu einem richtigen Verkehr von Mensch zu Mensch zu kommen. Würde die materialistische Welt­anschauung siegen, so würde eintreten, was ich eben charakterisiert habe, dann würde Ödigkeit über die Erde hinfluten, und der Krieg aller gegen alle würde beschleunigt werden.

Aus diesem Zustand heraus gibt es nur eine Rettung: wenn die Menschen sich zur Geistigkeit, das heißt zum bildhaften Anschauen, zum Imaginativen hinwenden; wenn sie in der Lage sind, dasjenige, was vom Griechentum kommt und am Griechentum schön war, das Geborenwerden für den Geist, wenn sie das ersetzen durch das Er­kanntwerden des Geistes in der Welt; wenn sie ersetzen das, was im

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Römertum gelebt hat und was vom Römertum aus verheerend in Europa einzog, die Beamtetheit, wenn sie das zu ersetzen wissen durch freien rechtlichen Menschenverkehr, und wenn sie das, was im Westen durch Instinkte besonders gedeiht, zu ersetzen wissen durch ein in sich organisiertes Wirtschaftsleben.

Aber dazu ist notwendig, das, was man auf der einen Seite natur­wissenschaftlich erkennt, auch geisteswissenschaftlich zu erkennen. Nicht wahr, die Welt könnte ja nicht vorwärtsschreiten, wenn es in ihr nicht freie geistige Arbeiter gäbe. Denken Sie sich, wenn nichts Geistiges mehr hervorgebracht würde, wie dann die Welt fortschreiten sollte. Es müssen Dinge erfunden werden, die Menschen müssen in der Kunst leben, in der freien Weltanschauung leben, sonst würde die Menschheit erstarren. Unter der Mechanisierung des Geistes würde die Menschheit erstarren. Aber worauf beruht denn das freie geistige Schaffen? Das freie geistige Schaffen beruht darauf, daß wir gewisse Eigenschaften, die wir sonst nur in der Kindheit normal entwickeln, für das ganze Leben bewahren. Wenn einer so alt ist wie der alte Goethe, und den «Faust» noch zu Ende dichtet, dann dichtet er mit denjenigen Seelenkräften, die er sich in dem ersten Drittel des Lebens erworben hat; die müssen bleiben, die müssen erhalten bleiben. Im normalen Entwickelungsweg sterben sie heute ab. Bei Goethe, beim deutschen Idealismus war das noch Erbschaft, Abendröte, ein letzter Glücksfall der Entwickelung der Menschheit. Jetzt muß es gepflegt werden, gepflegt werden in einem Geistesleben, das wirklich auf unmittelbar individuelle Fähigkeiten der Menschen hinschaut und sie sachgemäß aus spiritueller Pädagogik heraus ent­wickelt.

Und worauf beruht denn alles Wirtschaftsleben geistig-seelisch? Das klingt heute noch sonderbar, aber alles Wirtschaftsleben beruht doch nur auf wirtschaftlichen Erfahrungen und auf einem Drinnen-Gestan­denhaben im Wirtschaftsleben, und es wird daher am besten ausgebil­det durch diejenigen Seelenkräfte, die am längsten im Leben drinnen gestanden haben, nämlich durch die Seelenkräfte des letzten Lebens-drittels. Wie man eine richtige Kunst nur durch die allerersten Seelen-kräfte entwickelt, so entwickelt man ein richtiges Wirtschaftsleben

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durch die letzten Seelenkräfte. Wenn die Menschen aber nicht durch die sogenannte normale Entwickelung in ein Alter hineintauchen können, in dem wir alle zusammenbrechen, nicht mehr jung sein kön­nen, werden wir nicht wirtschaften können, und wenn ein noch so sozialistischer Staat, eine noch so sozialistische Vergeselischaftung ge­funden würde. Dazu ist notwendig, daß wir bewußt uns hineinleben in die Pflege der Alterseigenschaften des Menschen; so, daß wir mit ihnen nicht selber alt werden, sondern daß wir sie uns anziehen können wie ein Kleid. Dazu müssen wir sie in der Imagination erfassen, dazu mussen wir sie im Bild erfassen. Wir sind angewiesen, getrennt auf der einen Seite die Jugendkräfte im Bilde, in der Imagination zu er-Fassen, und getrennt auf der anderen Seite die Alterskräfte in der Ima­gination zu erfassen. Die Menschheit ist genötigt, sich zu erziehen auf ein solches Ziel hin. Und sie kann sich nicht erziehen, wenn sie nicht das ganze Leben voll ernst nimmt. Heute nimmt man dieses Leben so, ja, als ob es schon im Grunde genommen zu Ende wäre, wenn der Mensch so gegen die letzten Zwanzig hingeht. Denn wenn der Mensch in die letzten Zwanzigerjahre gekommen ist, da ist er furchtbar ge­scheit, er kann gar nicht mehr gescheiter werden, er kann alles, kann über alles urteilen, daß man gar nicht besser urteilen könnte. Daß auch das spätere Leben noch Möglichkeiten hat und Kräfte aufnimmt, da­von weiß die Menschheit nichts, weil sie diese Kräfte nicht entwickeln will, weil sie darauf verzichtet. Das aber werden wir alle wissen müs­sen: wie wir mit den Jugendkräften, wie wir mit den Kräften des mittleren Alters, des höchsten Alters zu wirtschaften haben. Wir wer­den das aber nur lernen im dreigeteilten sozialen Organismus, wenn wir die Dinge auseinanderlegen, und nicht, wenn wir alles durch­einander wüsten und durcheinander schmelzen, wie es die reaktio­närste Entwickelung der neueren Zeit getan hat, und wie es vielfach gewollt wird zum Unheil der Menschheit, zur Versündigung wider den Geist des Fortschritts der Menschheit. Unsere Erziehung muß ganz aus einer wirklichen Erfassung des seelischen Lebens ersprießen. Wir müssen zum Beispiel dahin kommen, das schnelle Urteil nament­lich dem Leben gegenüber in uns vollständig zu beseitigen. Schlag­fertigkeit ist ja schön, sie kann auch da sein, sie soll aber nur da sein,

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damit wir Witze machen können, amüsant sein können. Man muß sich bewußt sein, daß die Schlagfertigkeit im Ausleben der Phrase ihren Zweck und ihr Ziel hat. Ironie und Witz können ja schön sein, aber sie müssen Phrasen sein selbstverständlich. Wir wollen die Phrase an dem Ort, wo sie berechtigt ist, durchaus nicht verachten. Künstlerisch gestaltete Phrase sollen wir schätzen, aber sie darf nicht am falschen Ort auftreten, sie darf nicht da auftreten, wo das Wort vom Leben durchdrungen sein soll. Solches gewöhnen wir uns nur an, wenn wir zum Beispiel ernsthaftig auf das Folgende sehen: Da ist ein Mensch, der sagt mir etwas, was mir nicht paßt oder auch was mir paßt. Es tritt eine gewisse Offenbarung von Mensch zu Mensch au£ Wir urteilen rasch darüber. Könnten sich die Menschen angewöhnen, am nächsten Tag, nach vierundzwanzig Stunden, wenn sie inzwischen geschlafen haben, also ihre geistig-seelische Konstitution eine ganz andere ge­worden ist, könnten die Menschen sich angewöhnen, sich die ganze Situation dann wieder vorzumalen: Der Mensch hat das und das ge­sagt, du stehst ihm gegenüber - und dann zu urteilen, dann würde etwas Wichtiges eintreten. Dann ist nicht in erster Linie wertvoll, daß man anders urteilt; aber die Seelenkraft, die immer dasjenige, was mit dem Menschen zwischen Einschlafen und Aufwachen geschieht, mitwirken läßt, die wird kultiviert, und daß man die nach und nach ausbildet, das ist es, was zur Bildung der Imagination besonders notwendig ist. Dieses bewußte Sich-Hineinarbeiten in ein unbewußtes Leben, das wird die imaginative Welt und die Welt, die eigentlich erst einem so­zialen Leben zugrunde liegen kann, herausbilden in der Mensch­heit.

Ebenso ist es notwendig, gewisse Dinge einzusehen, welche einmal eingesehen werden müssen. Sehen Sie, so kurios es heute klingt, man überschaut ja gewöhnlich gar nicht dasjenige, was zum Heil oder Un­heil der Menschheit ist, wenn es auftritt in der Menschheit. Wenn ich heute einem sage das Gesetz der korrespondierenden Siedetemperatur in der Physik, so glaubt er mir das, weil er es gewöhnt ist, nicht weil es logisch ist, sondern weil er es gewöhnt ist seit ein paar Jahrhunder­ten, an naturwissenschaftliche Gesetze zu glauben. Wenn ich aber heute spreche von einem geistigen Gesetz, das gerade so gut fundiert

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ist wie ein naturwissenschaftliches Gesetz, so glaubt er es nicht, weil es erst durch ein paar Jahrhunderte scheinbar gekannt sein muß. Wir haben aber nicht Zeit, so lange zu warten. Die Menschen müssen sich bewußt hineingewöhnen in die Umwälzungen des lebendigen Lebens. Die Menschen brauchen Entdeckungen und Erfindungen, das ist Naturgesetz. Wenn solche Entdeckungen, namentlich aber Erfindun­gen, auch Erfindungen technischer Art, von Menschen gemacht wer­den, die noch nicht in den Vierzigerjahren sind, dann wirken diese Erfindungen im Gesamtzusammenhang der Menschheit retardierend, eigentlich irgend etwas zurückstauend in der Menschheit, vor allen Dingen gegen den moralischen Fortschritt der Menschheit. Die schön­sten Erfindungen können gemacht werden von jungen Menschen: es ist nicht zum Fortschritt der Menschheit. Ist der Mensch in die Vier­zigerjahre gekommen und bewahrt er sich dort hinauf seinen Erfinder­geist für dasjenige, was für die physische Welt geschehen soll, dann gibt er mit der Erfindung auch moralischen Inhalt, dann wirkt diese im Fortschritt der Menschheit moralisch. Wenn so etwas ausgespro­chen wird, ist es für die Menschheit ein Wahnsinn, da die Menschheit ja überhaupt geistige Gesetze nicht anerkennt. Aber es ist ein geistiges Gesetz, daß der Mensch erst reif wird, durch seine Erfindungsgabe für den Fortschritt der Menschheit zu wirken auf geistigem und nament­lich auf technischem Gebiet, wenn er vierzig Jahre alt ist. So weit müs­sen wir rechnen mit den Entwickelungsgesetzen der Menschheit. Erst wenn sich die Menschheit dazu entschließen wird, nicht bloß nach­zudenken: Wie richtet man diese oder jene Wirtschaftsämter ein? -sondern wenn sie sich entschließen wird, nachzudenken: Was muß unter den Menschen geistig-seelisch kultiviert werden? worauf muß gesehen werden? - dann ist ein Heil für die Menschheit zu erwarten.

Die Kirche hat lange genug aus dem Egoismus der Menschen her­aus gearbeitet. Sie haben ruhig zusammengearbeitet, diese Kirche und dieser Staat. Ich habe es schon neulich gesagt, daß der Mensch eigent­lich sich heute nur frei entwickeln darf, wenn er ein ganz kleines Kind ist, weil er dem Staate da noch zu unreinlich ist. Aber sobald er rein­lich ist, wird er vom Staate hingenommen und zubereitet, nicht zum

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Menschen, sondern zum Staatsbeamten. Aber der Mensch läßt sich trösten dafür, indem man mit seinem Egoismus im höchsten Maße spielt. Es wird ihm garantiert die Pension, wenn er nicht mehr arbeiten kann, bis zum Tode. Es ist dies bei den beamteten Seelen ein sehr starkes Vehikel ihres Strebens. Und dann, wenn der Staat nicht mehr sorgt, dann sorgt die Kirche für den Menschen, indem sie ohne sein Zutun seine Seele unsterblich macht. Versichert wird der Mensch zu­nächst in der Pensionierung, versichert wird seine Seele nach dem Tode. Das alles baut auf den Egoismus. In Zukunft wird nicht gebaut werden auf den Egoismus. Warum hat der aristotelische Katholizis­mus dem Menschen verschwiegen, daß sein Geistiges auch da ist, be­vor es durch die Geburt ins Dasein tritt? Dieser aristotelische Katho­lizismus hat nur rechnen wollen mit dem Egoismus der Menschen, mit der Furcht vor dem Tode und dem Versichert-sein-Wollen als un­sterbliche Seele nach dem Tode. Aber zu bequem sind die Menschen zu dem Gedanken: Ich bin heruntergestiegen aus der geistigen Welt, und dasjenige, was ich als Geist bekommen habe, das habe ich hier auf der Erde auszuführen. - Das ist der radikalste Gedanke, der in die Gegenwartsmenschheit einschlagen muß, daß der Mensch sein phy­sisches Leben nicht bloß als Vorbereitung für das Leben nach dem Tode anzusehen hat, sondern daß er es anzusehen hat auch als Fort­setzung eines geistigen Lebens vor der Geburt. Dann wird er aus einem faulen Menschen, der nichts tun will, ein Mensch, der sich bewußt ist, daß er auf der Erde etwas auszuführen hat, daß er eine Mission hat. Ehe nicht dieser Gedanke die Menschen durchdringen kann, kann es nicht anders werden, als daß die Menschen in den Materialismus hin­einversinken.

Mit diesen Unterlagen bitte ich Sie, sich einmal zu überlegen, was eigentlich anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft für die gegenwärtigen Menschen sein soll, was sie ihnen geben soll, wie sie wirken soll als eine Ingredienz in der gegenwärtigen Seele für die ganze menschliche Kulturentwickelung. Ich wollte mit dem, was ich heute ausgeführt habe im ersten Teil, vor Sie hingestellt haben das Bild, welches entstehen würde, wenn die Menschheit in der hergebrachten Weise weiterleben würde: das Bild des mechanisierten Geistes, der

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vegetarisierten Seele, des animalisierten Leibes. Dieses Bild wollte ich zuerst hinstellen. Und im zweiten Teil wollte ich vor Sie hinstellen dasjenige, was geschehen muß zu einem Hinaufschwingen, zur Er­greifung eines Geisteslebens, das die alte Erde nicht mehr geben kann, das der Mensch aus der inneren Freiheit heraus suchen muß. Wer die­sen Gang unseres Geisteslebens erwägt, der wird die Unterlagen haben, nachzudenken über das Wichtige und Wesentliche der anthro­posophisch orientierten Geisteswissenschaft.

ZWÖLFTER VORTRAG Stuttgart, 6. Juli 1919

#G192-1964-SE253 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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ZWÖLFTER VORTRAG

Stuttgart, 6. Juli 1919

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Heute vor acht Tagen habe ich hier versucht, von einem gewissen Standpunkte aus auseinanderzusetzen, warum die europäische Kultur heute vor einem Abgrunde steht, warum sie sich in den Niedergang hineinbewegt. Es ist in der Gegenwart zweifellos das Allerwichtigste, ein volles Bewußtsein davon sich anzueignen, welche Niedergangs-kräfte in dieser europäischen Kultur drinnen walten. Gerade in diesem Punkte ist es notwendig, daß man sich keinerlei Art von Illusion hin­gibt, denn das Hingeben an Illusionen ist es gerade, das uns in die gegenwärtige europäische Lage hineingebracht hat, das Hingeben an Illusionen, welche man eigentlich immer für einen Ausfluß wirklicher Praxis gehalten hat, und die doch eben nichts weiter sind als Illusionen, weil sie aus ganz engen Erfahrungsumrissen, aus ganz engen Er­fahrungsflächen hergeholt sind, und weil sie absehen von einer wirk­lich durchdringenden Erfahrung. Es würde aber eine ganz falsche Art von Anschauung sein, wenn man meinen wollte, eine Kritik dieser Tatsachen reiche aus. Davon kann gar nicht die Rede sein, daß heute eine bloße Kritik dieser Dinge ausreicht. Man muß vielmehr sehen, welches der eigentliche historische, der geschichtliche Zusammenhang ist. Denn in einem gewissen Sinne wird man durch diesen geschicht­lichen Zusammenhang erkennen, daß ein zeitweiliger Niedergang der europäischen Kultur gewissermaßen, wenigstens der Zeitströmung dieser Kultur nach, eine Notwendigkeit ist, eine ganz gesetzmäßige Notwendigkeit ist. Und zum Wiederaufbau wird man auf keine andere Weise kommen als dadurch, daß man diese Notwendigkeit einsieht und nicht bei einer bloßen Kritik stehenbleibt. Aber, wie gesagt, auch die innere Ehrlichkeit muß man haben, wirklich über Illusionen hin­auszuwollen. Illusionen sind bequem für das augenblickliche Leben, oftmals aber sind sie zerstörend für die wirkliche Weiterentwickelung der Menschheit. Und ich möchte heute eine gewisse Betrachtung vor Ihnen anstellen, die sozusagen eine Art Resümee werden wird über dasjenige, was man sich seit Jahren hier auf geisteswissenschaftlichem

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Boden innerlich aneignen konnte, und was geeignet sein dürfte, über solche Illusionen der Gegenwart hinweg und zu den Realitäten zu führen. Was wir uns nämlich immer wiederum klar machen müssen, wenn wir vorurteilslos und unbefangen den eigentlichen Charakter unserer Gegenwartskultur betrachten, das ist, daß diese Gegenwarts­kultur ganz und gar beruht auf der Art des Denkens, Empfindens und Fühlens, die aus der naturwissenschaftlichen Weltanschauung fließen kann. Diese naturwissenschaftliche Weltanschauung hat auf dem Boden, für den sie geeignet ist, große, gewaltige Menschheitsfort­schritte hervorgebracht, und es wäre höchst töricht, diese großen, ge­waltigen Menschheitsfortschritte irgendwie abzukanzeln, abzukriti­sieren. Erst derjenige, der sie voll anerkennt, der von dieser Seite aus voll auf naturwissenschaftlichem Boden steht, hat ein Recht dazu, wie ich öfter gesagt habe, auch auf das andere hinzusehen, was naturwissen­schaftliche Weltanschauung nicht geben kann. Was uns die Natur­wissenschaft gibt, was sie im Grunde genommen einzig und allein nur sucht, ist ein Weltbild, das eben die Natur umfaßt, das alles dasjenige umfaßt, was man in seine Seele hineinbringt, wenn man mit der Sinnes-anschauung die Natur überblickt und wenn man intellektuelle Kombi­nationen bildet aus den einzelnen Sinnesanschauungen. Gerade durch die Absonderung vom Menschen, durch die Absonderung alles des­jenigen, was sich aus der Menschennatur selbst ergibt, ist diese natur­wissenschaftliche Weltanschauung groß geworden. Das finden Sie des genaueren auseinandergesetzt in meinen beiden Büchern «Vom Men­schenrätsel» und «Von Seelenrätseln».

Nun muß man auf der andern Seite aber auch einsehen, daß alles, was auf diese Art an naturwissenschaftlichen Anschauungen ge­wonnen werden kann, und wenn es noch so exakt ist - es soll in seiner Exaktheit gar nicht verkannt werden -, doch über das eigentliche Wesen des Menschen keinen Aufschluß geben kann. Warum das ist, Sie finden es auch begründet in den beiden eben genannten Büchern. Ich will aber hier nur das eine hervorheben: Diejenigen, die glauben, aus bloßer Naturanschauung in der Zukunft irgend etwas erringen zu können, was auch den Menschen selbst begreiflich macht, die ver­meinen, durch die Vervollkommnung der naturwissenschaftlichen

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Methoden nicht nur das Tote, das Unlebendige, sondern auch einmal das Lebendige begreifen zu können. Man meint einfach: Bis jetzt ist es nur gelungen, physikalische und chemische Gesetzmäßigkeiten zu durchschauen auf naturwissenschaftlichem Wege, das heißt dasjenige zu durchschauen, was in dem toten Stoff war; aber es werde gelingen, so glaubt man, durch die Fortsetzung dieser Art von Untersuchungen den Aufbau des Lebendigen aus seinen Bestandteilen zu durch­schauen, und dann werde man auf naturwissenschaftliche Weise das Lebendige ergriffen haben. Das Gegenteil davon ist wirklich wahr. Wer hineinsieht gerade in das, wodurch die naturwissenschaftlichen Methoden groß sind - und sie sind groß -, der weiß, daß sie dadurch groß sind, daß sie sich auf das Begreifen des Toten, des Unorganischen beschränken, und daß, je mehr sie sich vervollkommnen, desto mehr auch sie sich entfernen werden von einer Anschauung des Lebendigen. Das heißt, je mehr wir auf naturwissenschaftlichem Boden fort­schreiten, desto mehr entsinkt unseren forschenden Blicken das Le­bendige und damit der erste Anfang zur Erkenntnis des Menschen. Daß diese Tatsache in der Gegenwart nicht nur eine wissenschaftliche, nicht nur gewissermaßen eine theoretische Angelegenheit ist, sondern daß diese Tatsache heute eine Kulturangelegenheit ist, darüber möchte ich eben in der heutigen Betrachtung einiges anführen. Und ich möchte dazu ausgehen von gewissen geschichtlichen Tatsachen.

Wenn wir zurückblicken auf alte Arten, Weltanschauungen zu ge­stalten, wenn wir zurückblicken auf dasjenige, was auch da als Erbe noch älterer Weltanschauungen lebte, was in der ägyptischen Kultur oder in der chaldäisch-assyrisch-babylonischen Kultur lebte, gar nicht zu reden von dem, was als altes Erbgut in der alt-indischen Kultur lebte, so wird es heute den Menschen schwer, aus eigentlich innerem Wesen diese alte Erkenntnisart zu durchschauen. Wir haben auf die­sem Gebiet wunderbare Forschungen der Assyriologen, der Ägypto­logen, aber alle diese Forschungen reichen nicht aus, um etwas anderes als die einzelnen Tatsachen wiederum vor die menschliche Anschau­ung zu stellen. Sie reichen nicht aus, um das Wesen der alten Erkennt­nisart wieder in uns aufleben zu lassen. Das haben wir ja gerade auf anthroposophischem Boden gesucht, und da wird der gegenwärtige

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Mensch sich von manchem Vorurteil losmachen müssen, das ihm heute, wie gesagt, mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit notwendig an­haftet. Was dem heutigen Menschen entgegentritt, wenn er sich in vorchristliche Weltanschauungen vertieft, das erscheint ihm ganz selbstverständlich und begreiflicherweise als etwas, was er nur für überwunden halten kann, was er nur für den Ausfluß einer kindlichen Kulturstufe der Menschheit ansehen kann. Wie gesagt, für den heuti­gen Menschen ist das nicht nur begreiflich, sondern sogar selbstver­ständlich. Aber für denjenigen, der durch eine gewisse innere geistige Entwickelung, wie Sie sie angedeutet finden in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», die Tatsachen, die durch Assyriologen, Ägyptologen heraufgebracht werden, zu über­blicken vermag mit Bezug auf die Frage: Wie stellt sich eigentlich die menschliche Seele zum Weltenall theoretisch und praktisch in den alten Zeiten? - dem wird klar, daß dasjenige, was damals lebte, aus einer ganz anderen inneren Seelenverfassung hervorging, daß es nicht bloß etwas Kindliches war, sondern einfach eine ganz andere Art der Er­kenntnis. Und weil es so ganz anders ist, weil es auf etwas so ganz anderem beruht, als die Art ist, wie wir eigentlich die Welt anschauen, deshalb erscheint es dem Menschen als kindliche Kulturstufe oder als wüster Aberglaube. Für jene alten Anschauungen stand der Mensch viel mehr im Kosmos, im Weltall drinnen, als er heute für seine An­schauungen drinnensteht. Man kann heute das alles lächerlich finden, was die alten Menschen gesagt haben über den Zusammenhang des Menschen mit dem Universum. Man findet es aber nicht mehr lächer­lich, wenn man selbst durch eine neue Art der Forschung besonders in gewisse Geheimnisse eindringt, die der naturwissenschaftlichen Weltanschauung eben nicht offen liegen können.

Natürlich ist es für den heutigen Menschen sonderbar, wenn er ver­nimmt, wenn er liest, daß diese alten Menschen einen Zusammenhang gesehen haben zwischen den einzelnen Kräften unseres Planeten-systems und demjenigen, was im Menschen selber vorgeht, oder daß sie einen Zusammenhang gesehen haben zwischen der Stellung der Sonne zu den einzelnen Bildern des Tierkreises und wiederum dem, was im Menschen vorgeht. Heute kann sich der Mensch zwar denken,

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daß sein Dasein abhängig ist von der Zusammensetzung der Luft irgendeiner Gegend, in der er ist, von der Bodenbeschaffenheit und auch von der sozialen Ordnung, in der er drinnen lebt, aber er kann sich eine weitergehende Abhängigkeit des Menschen von den großen Vorgängen des Weltenalls nicht mehr vorstellen. Diese großen Vor­gänge des Weltenalls sind ihm nur Gegenstand einer mathematisch-mechanischen Betrachtung geworden. So ist es geworden, seitdem aus dem noch umfassenderen Weltbilde des Kepler die neuere Zeit das­jenige herausgeschält hat, was nur einer mathematisch-mechanischen Betrachtung unterliegt. Ja, man kann sagen: Gewissermaßen unter der Oberfläche der Menschheitskultur, die man für die heutige Zeit als die eigentlich angemessene findet, liegt allerlei, das an jene alten Anschau­ungen erinnert. Was macht sich heute alles geltend an Aufwärmung von alten Anschauungen über den Zusammenhang des Menschen mit dem Universum. Wir sehen auf blühen astrologische Bestrebungen, theosophische Bestrebungen und so weiter. Alle diese Bestrebungen, sie sind ja, wie ich öfter hier im einzelnen dargestellt habe, nichts wei­ter als die ganz unverständigen, unter das menschliche, für die heutige Zeit erforderliche Bildungsniveau heruntergesunkenen alten Über­lieferungen. Im besten Falle sind es wüste Dilettantismen, die getrieben werden von Menschen, die vielleicht fühlen, daß es noch eine Wahr­heit, daß es Geheimnisse gibt hinter dem, was naturwissenschaftlich erforschbar ist, die aber nicht auf das eingehen wollen, was aus den Menschenkräften der gegenwärtigen Zeit selbst hervorgehen kann. In der Aufwärmung alter vorchristlicher Wahrheiten dürfen wir kein Ziel für unsere gegenwärtige Kultur sehen, und je mehr wir uns be­mühen, immer wiederum Altes aufwärmen zu wollen, desto mehr schaden wir dem wirklichen Fortschritt. Wir müssen das, was als Sektiererei menschlich eigensinnig unter der Decke der eigentlichen Kultur waltet, rücksichtslos ablehnen können, sonst erwerben wir uns in der heutigen Zeit nicht das Recht für die Pflege der wirklichen Geisteswissenschaft neben der Naturwissenschaft.

Aber anschauen muß man es sich doch, gerade weil es überwunden werden muß, so wie es da ist. Unbefangen, vorurteilslos anschauen muß man sich das, was die alten Menschen als den Inhalt ihrer Erkenntnis

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gehabt haben. Heute wird ja von denen, die in der eben ge­schilderten Weise die Dinge aufwärmen, die Sache ziemlich dilettan­tisch behandelt. Im alten Menschen ging auf zum Beispiel, daß er im Innersten seines Seelenseins anders empfand, einfach unterbewußt an­ders empfand als sonst, wenn über seinem Haupte irgendwo, nament­lich im Zenit, Saturn, Jupiter oder Mars stand, und daß er in seiner Seele anders empfand als sonst, wenn unter dem Horizont unsichtbar Venus, Merkur stand. Er sagte sich aus diesen inneren Erlebnissen heraus: Es gibt eine Wirkung des Oberen. Und unter der Wirkung des Oberen auf den Menschen verstand er dasjenige, was ausstrahlt von Saturn, Jupiter, Mars, was er einfach erfuhr, was er kannte, gerade wie wir wissen, wenn uns ein Windaug an die Seite schlägt. Diese Emp­findung hat die Menschheit eben verloren. Er wußte: die Ausstrah­lungen von Saturn, Jupiter, Mars sind am stärksten, wenn diese drei Planeten oben sichtbar über dem Horizont stehen. Und er wußte: die stärkste Wirkung auf seinen menschlichen Organismus geht aus von Venus und Merkur, wenn diese Planeten unterhalb des Horizontes stehen. So gliederte sich ihm die Welt, mit der er den Menschen im Zusammenhang dachte, in eine obere Welt, die Welt des Jupiter, Saturn, Mars - die ihm diese obere Welt war, auch wenn über dem Horizont sichtbar waren Venus und Merkur, denn er sagte sich:

über dem Horizont haben diese beiden Planeten nicht ihre eigent­liche Wirkung -, und in die untere Welt, die für ihn im Außenraum realisiert war, wenn die beiden Planeten zusammen, Merkur und Venus, unter dem Horizont standen.

Kurz, der Mensch dachte sich im Zusammenhang mit dem ganzen Universum. Wir versäumen es heute ja schon, uns im Zusammenhang mit dem allernächsten Stück unseres Universums zu betrachten. Den­ken Sie doch nur einmal: der Luftkörper, den Sie eben eingeatmet haben, der in Ihrem Organismus arbeitet, er wird bald wiederum außer­halb des Organismus sein. Das heißt, das was draußen ist, ist nachher drinnen, was jetzt drinnen ist, ist nachher draußen. Sie können sich nur scheinbar abgrenzen von der Außenwelt dadurch, daß Sie die Ab­grenzung von Ihrer Haut für Wirklichkeit nehmen. Aber Sie sind in Wirklichkeit nichts anderes als ein Stück dieser Außenwelt. Denn das,

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was jetzt in Ihnen ist, ist dann draußen, und was draußen ist, ist dann in Ihnen. Wir beachten das eigentlich kaum. Jedenfalls verwenden wir auf diese eminente, bedeutungsvolle Tatsache keine eigentliche Er­kenntnisbetrachtung. Der alte Mensch hat diese Abhängigkeit eben weiter ausgedehnt gedacht, weil er von feinerer Sensibilität war, weil er noch anderes wahrnehmen konnte als das Einatmen und Ausatmen, das der heutige Mensch ja auch kaum noch beachtet. Wie sich der heu­tige Mensch beim Atmen noch als ein Stuck seiner Erdenatmosphäre fühlen kann - aber auch nur dann, wenn er ein bißchen nachdenkt -, so fühlte sich der alte Mensch als ein Stück des ganzen ihm überschau­baren Universums. Alles, was im Universum draußen ist, dachte er von einer Wirkung im Menschen, den er deshalb Mikrokosmos nannte, und alles das, was sich irgendwie ankündigte in diesem Mikrokosmos, für das dachte er auch etwas Entsprechendes draußen im großen Weltenall, im Makrokosmos.

Dieser Satz «Der Mikrokosmos entspricht dem Makrokosmos», er wird heute oftmals ausgesprochen. Wie er aber heute ausgesprochen wird, ist er eine Phrase. Denn keine Phrase ist er nur, wenn ihm die lebendige innere Empfindung zugrunde liegt, die dem alten Menschen in seiner feineren Sensibilität zugrunde gelegen hat, und die der heutige Mensch nicht mehr hat. Es ersteht ein wunderbares Bild von dem Zu­sammenhang des einzelnen Menschen mit dem Universum, ganz gleichgültig, ob man es als Aberglaube oder als alte Weisheit, als alte Wissenschaft ansieht, es entsteht ein wunderbares Bild, wenn man das­jenige ins Auge faßt, was in dieser alten Weisheit oder meinetwillen in diesem alten «Aberglauben» als eigentliche Menschengeheinmisse liegt. Nun liegt aber die Sache geschichtlich in der folgenden Art. Noch im achtzehnten Jahrhundert, sogar noch etwas hineinragend in das neunzehnte Jahrhundert, gab es allerdings unter der Oberfläche der Schulwissenschaft, dessen, was man Bildung nennt, eine sich fort­setzende Tradition von dieser alten Weisheit oder meinetwillen altem Aberglauben. Es hätte nicht geben können solche Geister wie Paracel­sus, wie Jakob Böhme, nicht einmal wie Tauler oder Eckardt oder Valentin Wege4 wenn es nicht diese fortlaufende alte Tradition ge­geben hätte. Diese Meister wären ganz unmöglich gewesen. Aber das

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Eigentümliche ist, daß die menschliche Empfänglichkeit sich ab­stumpft für diese alten Dinge, je weiter das neunzehnte Jahrhundert vorschreitet. Wie gesagt, im beginnenden neunzehnten Jahrhundert hatte sich noch manches erhalten. Dann stumpfte sich die menschliche Empfänglichkeit, das menschliche Fassungsvermögen für diese Dinge ab. Und das Bewußtsein des früheren Menschen: Ich stehe als Mensch nicht verlassen auf meinen zwei Beinen oder auf den Sohlen meiner Füße, sondern ich stehe da als ein Glied des ganzen Universums -dieses Bewußtsein war aus den Untergründen, aus denen es in alten Zeiten herauserblüht war, nicht mehr vorhanden für die neuere Menschheit. Daher die weltgeschichtliche Notwendigkeit, daß der heutige Mensch aus seiner Empfindung heraus dasjenige, was ihm aus früheren Zeiten überliefert ist, als einen alten Aberglauben, als eine kindliche Anschauung der menschheitlichen Entwickelung ansieht. Das ist es, was man heute so verkennt, daß der Mensch auch mit Bezug auf sein Erkenntnisvermögen in einer wirklichen Entwickelung lebt. Es ist merkwürdig, wie auf diesem Gebiet die Menschen die Wider­sprüche nicht bemerken, in denen sie leben. Auf der einen Seite redet heute alles auf der Grundlage des Darwihismus von Entwickelung, aber von der Entwickelung des Menschen selber redet man wenig-Daß unsere Art, die Welt anzuschauen, nicht etwa geboren worden ist mit der Entstehung der Menschheit, sondern daß sie ein Entwicke­lungsprodukt ist, das wird man theoretisch wohl zugeben; allein, so­bald es darauf ankommt, praktisch mit einer solchen Wahrheit zu leben, wird man sich heute nicht auf den Boden dieser Wahrheit stellen wollen.

Nun entsteht aber doch die Frage: Was ist denn das eigentlich Reale in dieser alten Weltanschauung gegenüber unserer gegenwärtigen Er­kenntnisart, was ist das eigentlich Wirkliche in diesen Dingen drinnen? Das eigentlich Wirkliche in diesen Dingen ist, daß wir eben Fort­schritte machen mußten auf dem Gebiet des toten Weltenalls, des mechanisch-physikalisch-chemischen Weltenalls. Diese Fortschritte, die wir in den letzten drei bis vier Jahrhunderten, und zunehmend im neunzehnten Jahrhundert, gemacht haben, diese Fortschritte wären nicht möglich gewesen, wenn die alte Art der Anschauung weiter sich

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fortgepflanzt hätte. Diese Dinge überschaut derjenige recht, der sie, ich möchte sagen, in ihren Knotenpunkten durchschaut.

Gerade die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist ein solcher Knotenpunkt in der Menschheitsentwickelung. Am Ende der fünf­ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, da fielen zusammen eine ganze Reihe von menschheitlichen Fortschritten, die uns in ihrem eigentüm­lichen Verhalten zueinander zeigen, was eigentlich Wichtiges und Wesentliches und heute noch nicht Erkanntes diese Mitte des neun­zehnten Jahrhunderts innerhalb der Menschheitsentwickelung war. Gewisse Dinge entgehen, weil sie nicht zur allgemeinen Bildung ge­rechnet werden, dem menschlichen Beobachter auf diesem Felde. Daß 1858 von Gustav Theodor Fechner ein Buch über «Psycho-Physik» er­schienen ist, das entgeht gewöhnlich dem Beobachter auf diesem Felde, weil es nicht zur allgemeinen Bildung gerechnet wird. Aber demjenigen, der in feiner Art eingeht auf die menschliche Entwicke­lung, der wird sehen, daß in dieser Psycho-Physik sich ein Grundzug ausspricht der ganzen modernen Art, die Welt anzuschauen. Psycho­Physik: das Psychische nurmehr sehen durch die äußeren physischen Kundgebungen, das ist in diesem Buche als besonderer Charakterzug in geistreicher Art enthalten; denn Gustav Theodor Fechner war ein sehr geistreicher Mann.

Ein zweites, das zusammenfällt, auf das Jahr hin zusammenfällt, das ist die Entdeckung der Spektralanalyse von Kirchhoff und Bunsen, wo­durch substantiell die Einheit des Weltenalls bewiesen werden soll, indem man spektralanalytisch hinaussieht in das Weltenall, das heißt, wenn man nur hinaussieht durch eine menschliche Erkenntnisart, die diametral, oder besser gesagt, polarisch entgegengesetzt ist derjenigen Anschauung, die ich Ihnen vorhin charakterisiert habe als das Sich­drinnenstehend-Fühlen des Menschen in dem ganzen Universum. Die Spektralanalyse sieht die stoffliche Einheit; die alte Weltanschauung ging bloß auf die geistige Einheit mit dem gesamten Kosmos. Da haben Sie gleich zwei wichtige Fortschritte der neueren Zeit, welche ganz klar auf das hinweisen, was den Umschwung in der neueren Er­kenntnisanschauung zeigt. Und nicht ohne inneren Zusammenhang, zusammengehalten durch die innere Menschennatur, stehen mit solchen

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Erscheinungen dann andere. Nehmen Sie nut einmal das Fol­gende. Ich weiß nicht, wieviele Menschen an diesem Punkte klar be­obachtet haben; wer sich aber Mühe gegeben hat, wer in diesen Din­gen nicht obenhin spricht, sondern aus der Erfahrung sprechen will, der konnte folgende Beobachtung machen: Man konnte auf sich wirken lassen 1859, also die Zeit, in der die Spektralanalyse herauf­gekommen ist, in der die Fechnersche «Psycho-Physik» erschienen ist, man konnte beobachten, da es das Säkularjaht des Geburtsjahres Schillers war, was bei der Enthüllung der verschiedenen Schiller-Denkmäler und was bei den Schiller-Festen im Jahre 1859 für Schiller-Reden gehalten worden sind. Da kann nun derjenige, der diese Dinge beobachtet, wirklich bemerken, wie die alte Schiller-Verehrung gerade im Säkularjahr in den Reden, die gehalten werden, ins Phrasenhafte übergeht, wie sie nicht mehr in ihrer ursprünglichen elementaren Le­bendigkeit vorhanden ist, wie der Idealismus Schillers verklingt und das, was man noch über Schiller zu sagen hat, Phrase wird.

Und wiederum, auf das Jahr hin gleichzeitig, erscheint das erste, so­zusagen Standard Work, das erste tonangebende Werk über materia­listische Geschichtsforschung, das Buch über die politische Ökonomie von Karl Marx. Dieses trifft zusammen mit vielen anderen Erschei­nungen. Da verknotet sich dasjenige, was als Fäden die Entwickelung der neueren Menschheit durchzieht. Und hat man sich einmal damit beschäftigt, die alte Menschheitsanschauung, wie sie zum Beispiel noch am Ende des achtzehnten Jahrhunderts lebte - selbst bei den Bannerträgern der Französischen Revolution befaßte man sich da­mit -, den Fortgang dieser alten Anschauung über den Menschen zu verfolgen ins neunzehnte Jahrhundert hinein, so sieht man ein Ab-glimmen, sieht man, wie diese Funken abglimmen. Unser Freund Sellin hat neulich ein Buch veröffentlicht: Louis-Glaude de Saint-Martin «Gott - Mensch - Welt » in deutscher Übersetzung. Ich glaube, daß möglichst viele Menschen das Buch lesen sollten, und daß möglichst viele Menschen so ehrlich sein sollten, sich zu sagen: Eigentlich ver­stehe ich doch nicht einmal einen einzigen Satz in seiner wirklichen Grundlage, wie er in diesem Buche steht. - Diejenigen, die sich etwas in Geisteswissenschaft - die wiederum in moderner Weise etwas herausholt

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aus den geistigen Grundlagen - versetzen können, die werden einiges ahnen von dem, was bei Saint-Martin wirklich vorhanden ist. Aber mit der heutigen Menschheitsbildung, man sollte ehrlich darin sein, muß man dasjenige, was bei Saint-Martin steht, für reinen Unsinn ansehen. Daß man nicht ehrlich ist in solchen Dingen, daß man die Dinge, die alt sind, zu verstehen glaubt, ist eben die Unehrlichkeit im heutigen Menschheitsdenken.

Und was hat diese Entwickelungsstufe der Menschheit herbei­geführt? Gerade die Notwendigkeit, sich in die mechanisch-physika­lisch-chemische Weltordnung zu vertiefen. Man kann sich kaum etwas Unmöglicheres denken, als etwa vom Standpunkte derjenigen Welt­anschauung, die Jakob Böhme gepflegt bat, oder die Paracelsus oder Saint-Martin gepflegt hat, zur heutigen Physik oder Mechanik oder Chemie zu kommen. Das ist unmöglich. Es läßt sich nicht alles in einen Topf werfen, das ist unmöglich. Die Menschheit mußte für eine Zeit ablegen die ganz andere Art des Vorstellens, die sie gehabt hat, um die Fortschritte auf physikalisch-chemisch-mechanischem Gebiet, die einmal für die Entwickelung der Menschheit dringend notwendig sind, zu machen.

Aber diese Fortschritte liegen in der Erkenntnis des Unlebendigen, des Toten. Und gerade dadurch - das muß immer wieder betont wer­den - ist die naturwissenschaftliche Weltanschauung groß geworden, daß sie die exakte, die gewaltige, die bewundernswerte Methode aus­gebildet hat für die Erkenntnis des Toten. Aber was mußte dadurch zeitweilig für den Menschen verlorengehen? Heute lebt diese Erkennt­nis des Toten nicht bloß in der Auffassung der Natur. In jedem Zei­tungsartikel, in der allgemeinen Bildung durchzieht sie die Gedanken-form der Menschen, so daß sie alles nach dem Muster der Natur­wissenschaft auffaßt und gar nicht mehr anders kann, als alles, was für sie in der Welt ist, nach dem Muster der Naturwissenschaft anzu­schauen, so anzuschauen, als ob die Naturwissenschaft das einzig Wirkliche geben könnte, und als ob alles das, was in die Wirklichkeit versetzt werden soll, auch mit naturwissenschaftlicher Denkungsart durchzogen werden soll. Aber nun hat diese naturwissenschaftliche Denkungsart, die so groß auf naturwissenschaftlichem Felde selbst ist,

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eine bestimmte Wirkung, wenn sie im anderen menschlichen Leben sich äußert. Sie macht, noch nicht in der ersten Generation, vielleicht auch nicht in der zweiten, nicht bei dem Forscher selbst, sondern erst bei dem Schüler und bei denjenigen, die dann die naturwissenschaft­lichen Erkenntnisse in Weltanschauungen umwandeln, sie macht anti-sozial, sie begründet antisoziale Triebe. Darüber darf man sich nicht in irgendeiner unehrlichen, illusionistischen Weise hinwegsetzen, daß es die Folge des Durchdringens unseres ganzen Seelischen mit natur-wissenschaftlichen Anschauungsformen ist, daß wir antisoziale Triebe entwickeln, denn dasjenige, was uns am besten eindringen läßt in die Geheimnisse der Natur, das entfernt uns von der Auffassung unseres Nächsten, des Menschen. Und wir können noch so oft sagen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst -, wenn wir unsere ganze menschliche Seele durchziehen lassen nur von naturwissenschaftlichen Anschauungen, so gehen in uns auf antisoziale Triebe, die uns diesen Satz oder alle Sätze von Brüderlichkeit zu einer bloßen Phrase machen. Und so entsteht die eigentümliche Tatsache, daß der Ruf nach sozialer Ordnung in einer Zeit entsteht, die von einer anderen Seite her die antisozialsten Triebe hat. Das ist das Bedeutsamste in unserer Zeit, auf das der Ehrliche heute dringend hinschauen muß. In diesem Hin­schauen darf man sich durch nichts beirren lassen, durch kein Kleben-bleiben an alten Anschauungen, durch kein agitatorisches Auftreten von dieser oder jener Seite. Hier in diesem Punkte muß ehrlich und geradeaus gesehen werden. Und das ist der wirklich innere Grund, warum nicht weiterzukommen ist in der gegenwärtigen Zeit ohne eine geistige Erneuerung, ohne ein Wiedererkennen der geistigen Welt vom innersten Menschen aus. Im Laufe der Menschheitsentwickelung sind die Fähigkeiten verlorengegangen, welche durch Beobachtung der äußeren Welt den Menschen als Glied des Universums sich selbst erscheinen lassen. Von innen heraus müssen wir uns eine geistige Welt wieder aufbauen. Das setzt sich die anthroposophische Weltanschau­ung zu ihrer Aufgabe, den Untergrund dadurch schaffend für eine wirklich soziale Gestaltung der neueren Menschheitsordnung.

Gewiß, es würde heute sehr deplaziert sein davon zu sprechen, daß man nur das Innere pflegen soll; das wäre ein gewisser raffinierter

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innerer Egoismus. Man muß heute davon sprechen, wie die äußeren Einrichtungen neu aufgebaut werden müssen. Aber man muß sich immer bewußt bleiben dessen, daß man in den bestaufgebauten Ein­richtungen dennoch nicht weiterkommen würde, wenn nicht die Menschen sich aneignen würden die Fähigkeiten, eine geistige Welt von innen heraus wiederum aufzubauen.

Einen Anfang, eine geistige Welt von innen heraus wieder aufzu­bauen und das Angefangene populär darzustellen, ich habe ihn ver­sucht mit den Büchern « Vom Menschenrätsel» und «Von Seelen-rätseln» . In dem Buche «Von Seelenrätseln» habe ich zum erstenmal eingehend darauf hingewiesen, daß der Mensch, wenn er sich wirklich innerlich anschaut, nicht die chaotiscbe Einheit ist, von der diejenigen sprechen, die heute nur an der Leiche, das heißt an dem Toten die Menschennatur erkennen wollen. Wie der Mensch in Wirklichkeit ist, ein Kopforganismus, ein rhythmischer oder Brustorganismus und ein Gliedmaßenorganismus - die genaueren Zusammenhänge finden Sie in meinem Buche «Von Seelenrätseln» im Anhang -, das, was ge­funden ist mit Berücksichtigung aller Fortschritte der neueren Natur­wissenschaft, die Anschauung von der Dreigliedrigkeit der mensch­lichen Gestalt, das muß einer der Ausgangspunkte werden für eine reale Anschauung des Menschen in der Zukunft überhaupt. Der Mensch muß darauf kommen, welch großer Unterschied in ihm liegt, wenn er sich betrachtet als Hauptes-, als Brust- und als Gliedmaßen-mensch mit allem, was mit den Gliedmaßen zusammenhängt, nament­lich als Sexualorgane, die immer nur nach innen gelegene Fortsetzun­gen der Gliedmaßenorgane sind, und ebenso noch als die eigentlichen Stoffwechselorgane.

Betrachtet man den Menschen so als dreigliedriges Wesen, dann versteht man erst seine höhere Einheit, während die gewöhnliche Naturwissenschaft heute im Menschen alles durcheinander wirft. Denn, wer einmal den Grund gelegt hat zu dieser Anschauung des Menschen von der Dreigliedrigkeit, der begreift den Menschen wie­derum drinnenstehend im Universum, aber jetzt nicht als Raumes-wesen, sondern als Zeitwesen. Und das gibt den großen Unterschied zwischen unserer und der gegenwärtigen Erkenntnisart. Da hat der

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Goetheanismus die elementare Grundlage geschaffen, da muß man auf dem Wege des Goetheanismus weitet forschen, dann kommt man zu einer wirklichen Menschenerkenntnis. Dann betrachtet man den Men­schen, wie er uns als Haupteswesen entgegentritt so, daß man auf diese Form, auf diese Gestaltung des Hauptes einsichtig hinzuschauen ver­mag. Dann weiß man die Gestaltung des menschlichen Hauptes ganz mit der Embryologie in Zusammenhang zu bringen und schaut auf die Tatsache hin, daß die Embryologie des Menschen von der Haupt-gestaltung ausgeht, und die anderen Gestaltungen, die anderen Organ-gestaltungen eigentlich mehr oder weniger sekundär, der Form nach, hinzugefügt werden. Dann aber findet man auch, wie dieses mensch­liche Haupt in einer ganz anderen Weise im Zusammenhang steht mit dem, was der Mensch zusammenfaßt, wenn er sagt: «Ich», als der Brustmensch, der im wesentlichen ein rhythmischer Mensch ist. Im Haupte ist die vollkommenste Menschenorganisation, man könnte sagen, schon von der Embryonalbildung des Menschen an. Das Haupt ist gerundet wie das Weltenall selbst, und was nicht Rundung ist im Haupte, das ist nur deshalb abweichend von der Rundung, weil es zusammenhängen soll mit dem ganzen übrigen Organismus. Das Haupt hat eine gewisse Selbständigkeit, nur daß sich gewisse Eigen­schaften des Hauptes dann auch über die anderen Glieder des mensch­lichen Organismus ausdehnen, weil doch das Ganze eine Einheit ist, und weil das, was ich über die Hauptesbildung sage, nur extrem am Haupte ausgebildet ist, sich aber metamorphosisch an den anderen Gliedern des Menschen wiederholt; goethisch gesprochen: Wenn das Haupt gewissermaßen morphologisch in höchster Vollkommenheit darstellt, was am Menschen aus inneren Grundlagen heraus sich ver­wirklichen will, so stellt uns der Gliedmaßenmensch dasjenige dar, was am Menschen, ich möchte sagen, nur rudimentär menschlich gebildet ist, was am wenigsten vollkommen die menschliche Gestalt gibt. Und der Brustmensch steht mitten drinnen. Der Brustmensch lebt eigent­lich durch die rhythmischen Bewegungen, denn im Grunde genom­men ist im Menschen alles rhythmisch bewegt. Und ich habe, ich möchte sagen, einen auffälligsten Rhythmus in der Menschheitsent­wickelung angegeben in früheren Vorträgen. Die heutige Menschheit

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hält solche Dinge für Zufall. Aber wenn sie diese Dinge für Zufall hält, so wird das die Menschheit noch weiter in ein ruinöses Denken hineinführen. Ich habe Ihnen gesagt: Nimmt man die Zahl der Atem­Züge in einer Minute, so ist das Merkwürdige, daß man einen gewissen Rhythmus herausbekommt in der Zahl der Atemzüge für einen Tag, lür vierundzwanzig Stunden, und daß man in vierundzwanzig Stunden so viel Atemzüge macht, als man Tage im normalen Lebenslauf im Menschenleben erlebt, wenn man etwa zweiundsiebzig Jahre alt wird. Und daß das wiederum dieselbe Zahl ist wie die Zahl eines sogenann­ten platQnischen Sonnenjahres, die Zahl jener Jahre, in der die Sonne scheinbar den ganzen Tierkreis durchläuft.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Rhythmischen, in welchem der Mensch durch seinen Atmungs-Brust-Prozeß im ganzen Weltenall drinnen lebt. Der Mensch ist dieses dreigliederige Wesen. Und nun stehen wir gerade, diese Dreigliederung des Menschen betrachtend, vor dem Ausgangspunkte einer Erkenntnis, die ich heute nur anzu­deuten brauche, denn im Grunde genommen haben wir soundso oft von den Einzelheiten gesprochen, heute haben wir sie in bezug auf ihre morphologische Einheit angeschaut. Wir stehen am Ausgangs­punkte einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis, welche klar vor den Menschen hingestellt wird: Kopfbildung ist Folgeerscheinung des­jenigen, was der Mensch durchgemacht hat, bevor er durch die Geburt oder durch die Empfängnis in das physische Dasein gekommen ist. In der Kopfbildung leben diejenigen Kräfte, die der Mensch im geistigen Leben durchgemacht hat, bevor er durch die Empfängnis ins physische Dasein gekommen ist. In alledem, was in der Brustbildung lebt, lebt dasjenige, was der Mensch hier zwischen Geburt und Tod erleben und ausgestalten kann. Und in der Gliedmaßenbildung lebt die metamor­phosierte Anlage zu dem, was der Mensch Post mortem, nach dem Tode, im geistigen Leben ist. Dasjenige, was mit dem ökumenischen Konzil 869 eigentlich aus dem Bewußtsein der europäischen Mensch­heit herausgetrieben worden ist, die Präexistenz der Menschenseele, die auch erst eine wirkliche Anschauung über die Postexistenz gibt, das wird naturwissenschaftlich erwiesen werden können, wenn die Menschen sich nur erst hineingebracht haben werden in die entsprechenden

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Denkgewohnheiten. Dann wird es nur eine Stufe sein zur Erkenntnis der wiederholten Erdenleben, über die wir ja oft genug gesprochen haben. Aber diese ganze Erkenntnis muß von innen heraus gebaut werden. Was der alte Mensch herausgebaut hat aus der An­schauung des Weltenalls und seines Zusammenhanges damit, weil er noch eine höhere Sensibilität hatte, das muß der moderne Mensch von innen heraus aufbauen durch eine innere starke Kraft, die er sich an­eignen kann auf die Weise, wie ich es in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» geschildert habe. Und diese Kräfte - der einzelne kann sie ja nur aus Erkenntnis haben -, diese Kräfte werden sozial ausgebildet werden, wenn wir solche Wissen­schaft vom Menschen treiben, die uns wiederum im Physischen das Seelische und Geistige erkennen läßt. Aber nicht so, daß wir davon in bloßer Phrase schwätzen. Denn alles, was auch die heutige Philosophie von Seele und Geist redet, ist ein Schwätzen in bloßer Phrase. Von Realitäten spricht man nur, wenn man sagen kann: Sieh dir dein Haupt an, das ist der Abglanz, das Spiegelbild einer vorgeburtlichen Geistesentwickelung. - Da hat man eine reale Tatsache, da beginnt erst das Recht, von diesen Dingen im Sinne der modernen Welt­anschauung zu sprechen. Erst wenn man sagen kann: Deine Glied­maßen zeigen die metamorphosierte Vorbildung für die Hauptes-bildung des nächsten Erdenlebens -, steht man auf realem Boden. Dann redet man konkret über diese Dinge. Und diese Art zu denken, die wird, weil in der Menschenseele alles im Zusammenhange steht, die wird der Menschheit wiederum soziale Triebe einimpfen. Davon wird wiederum soziales Empfinden ausgehen. Denn zwischen der alten Weltanschauung, die auf den Raum, und der neuen Weltanschauung, die auf die Zeit sich bezieht, steht der Impuls, der als der Impuls des Christentums in die Menschheit eingeschlagen hat, der gleichsam be­deutet: Hinweg aus der äußeren bloßen Raumesanschauung -, der hin-lenkt auf die innerste Menschennatur. Aber man darf nicht stehen­bleiben beim bloßen Hinienken auf das wirre, chaotische Gefühl, man muß in dem Gefühl wiederum eine konkrete Weltanschauung auf­leuchten lassen, aber eine Weltanschauung, die jetzt den Menschen zeitlich hineinstellt in das Weltenall.

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Zwischen diesen beiden Dingen stehen wir in der Gegenwart. Ver­lorengegangen ist uns die alte Raumesanschauung, geboren werden muß aus sozialen und menschheitlichen Schmerzen heraus die neuere Zeitenanschauung über die Entwickelung des Menschen. Und Europa hat bisher sich ganz hingegeben der niedergehenden Raumesanschau­ung. Es muß dieses Europa lernen, in sich aufgehen zu lassen die Zeitenanschauung. Das ist die Gabelung jenes Weges, auf dem die europäische Zivilisation bisher gegangen ist, und auf diesem Gabe­Iungspunkt ist zu entscheiden, ob wir hineinsausen wollen in die Ver­nichtung, oder ob wir zu einem neuen Leben die europäische Zivilisa­tion erwecken wollen. Von der Vernichtung spricht vieles; zu dem Sprechen von einem neuen Leben rafft sich noch weniges auf. Aber einzelne Stimmen klingen merkwürdig aus dem heraus, was die so­genannte europäische Zivilisation ist.

Der dekadenteste Teil dieser europäischen Zivilisation steckt wohl, wie ich im einzelnen öfters ausgeführt habe, in der romanischen Kul­tur. Der Versailler Friede ist nur das letzte Zappeln der untergehenden romanischen Kultur, die unbewußt gefühlt wird, die ein letztes Mal sich wie eine Realität in der Welt benimmt, während sie längst inner­lich dem Untergang geweiht ist. Aber dieser Untergang läßt merk­würdige Geistesblüten erstehen. Und, ich möchte sagen, derjenige, der innerlich durchschaut die menschliche Entwickelung, der atmet auf, wenn ihm so etwas gegenübertritt wie in einem neueren Buche über die Kunst von Benedetto Croce. Benedetto Croce hat in Texas, nicht in Europa, vier Vorträge über die Kunst gehalten. Der erste heißt «Was ist die Kunst?», und in diesem Vortrage steht ein Satz, der aber nichts anderes ist als der Extrakt einer umfassenden romanischen Kunst-anschauung, das heißt einer Kunstanschauung, die aus dem deka­denten Romanentum herausgeht wie das Aufleuchten einer neuen Zeit, wie aus dem verfaulenden Pflanzensamen die neue Pflanze sich erhebt.

«Aber mit Bewußtsein und methodisch ist dieser Versuch in der Geschichte des Denkens häufig unternommen worden» - er meint den Versuch, durch das heutige Denken die Kunst zu begreifen, und er sieht diesen Versuch als einen vergeblichen an -, «angefangen von den

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, welche die griechischen und die Renaissancekünstier und

-theoretiker für die Schönheit der Körper festgesetzt haben, von den Spekulationen über die geometrischen und arithmetischen Beziehun­gen, die in den Figuren und Tönen zu bestimmen seien, bis hin zu den Untersuchungen der Ästhetiker des neunzehnten Jahrhunderts, zum Beispiel Fechners, und zu den , die auf den Philoso­phen-, Psychologen- und Naturforscherkongressen unserer Tage die Unkundigen über die Beziehungen der physischen Erscheinungen zur Kunst vorzulegen pflegen.»

Als ich in München sprach vom lebendigen Erfassen der Kunst, von einem Erfassen der Kunst, das von diesem Erfassen der Kunst durch das tote naturwissenschaftliche Erkennen absieht, da erhob sich zu­nächst selbstverständlich überall Widerspruch. Aber Croce fährt fort:

«Fragt man sich, aus welchem Grund die Kunst keine physische Tat­sache sein kann, so ist in erster Linie zu antworten» - ich bitte, hören Sie jetzt! -, «die physischen Tatsachen haben keine Wirklichkeit, wäh­rend die Kunst, der so viele ihr ganzes Leben widmen und die alle mit göttlicher Freude erfüllt, in höchstem Maße wirklich ist. Also kann sie keine physische, das heißt unwirkliche Tatsache sein.»

Nun bitte ich Sie, hinzuschauen im Geiste auf das verdutzte Gesicht des europäischen Spießertums, jenes verdutzte Gesicht, von dem man sich sagen lassen muß: Ja, aber alles das, was da draußen im Raume ist, ist doch das Wirkliche, die Kunst ist das Unwirkliche. Und da schreit hier ein Mensch einem aus feinster Kunstempfindung entgegen: Die Kunst kann keine physische Tatsache sein, weil die physischen Tat­sachen unwirklich sind und die Kunst gerade zur Wirklichkeit hin muß.

Das ist so etwas von dem, was umgekehrt werden muß in gewisser Beziehung. Und jenseits der Kunst, da liegt erst dasjenige, was erreicht wird auf einem Wege, dessen erste elementare Stufen ich in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» be­zeichnet habe. Da liegt das lebendige Anschauen der wahren Welt, der wahren Wirklichkeit. Aber es ist etwas Großartiges, zu sehen, wie ein Mensch, wie dieser Croce, schon ahnt, daß die Kunst wirklicher ist als das, was der biedere Spießer als das einzig Wirkliche anerkennt. Denn

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im Grunde genommen möchte doch dieser Spießer sagen, wenn er in emem Drama sieht, wie ein Mensch getötet wird: Nun, Gott sei Dank, es ist ja nicht wirklich. - An solchen Dingen zeigt sich eben das starke Zusammenstoßen zwischen dem Alten und dem notwendigen Neuen, und sicher wird es sogar die Kunst sein, auf deren Boden sich die ge­waltigsten Kämpfe in der Gegenwart abspielen müssen. Denn die­jenige Anschauung, die sich ihr Muster genommen hat nur an dem Toten, die in der Naturwissenschaft zu so großen Triumphen geführt hat, die segelt im sozialen Leben auch hin zu einer bloßen Gestaltung eines Toten, eines solchen, das untergehen muß. Nach naturwissen­schaftlichem Muster ist der Marxismus aufgebaut. Die soziale Ord­nung will er so begreifen, wie man die äußere Naturordnung begreift. Was hat er erreicht? Eine schöne, großartige, geniale Kritik der mo­dernen Wirtschaftsordnung. Aber er steht vor der Unmöglichkeit, nun etwas hinzusetzen an die Stelle dieser modernen, von ihm kritisierten Wirtschaftsordnung. Und derjenige, der sich hineinvertiefen kann in die Frage: Was für ein Aufbau konnte durch den Marxismus, durch die Auslebung des Marxismus erreicht werden? - er wird sagen:

Nichts, Zerstörung nur, realisierte Kritik, das heißt Zerstörung konnte einzig und allein erreicht werden. - Ist es nicht sonderbar, wenn da, wo die äußerste Konsequenz des Marxismus gezogen worden ist für das äußerliche Leben, in Osteuropa und Rußland, eine merkwürdige Kritik auftaucht, eine Kritik, die wirklich die letzten Konsequenzen des Marxismus ziehen konnte, die das äußere soziale Leben so ein­richtete, wie sie es als Konsequenz des Marxismus auffassen mußte, und wenn sie dann auf eine merkwürdige Art erst durch Erfahrung auf solche Dinge kommt, wie sie in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft» angegeben sind! Denn in den «Kerpunkten» können Sie finden, daß eigentlich dasjenige, was noch an einzelnen Gedanken im Marxismus lebt, nichts anderes ist als das Erbe der bürgerlichen Weltanschauung.

Überall haben es ja die Leute mit der toten Weltanschauung zu tun, wenn sie irgend etwas aus dem Marxismus heraus aufbauen wollen. Und ist es nicht sonderbar, wenn dann ein Kritiker dessen, was in

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Rußland vorgeht, die merkwürdigen Sätze spricht: «Wir waren auf die Hilfe von bürgerlichen Spezialisten angewiesen, die durch und durch von der bürgerlichen Psychologie durchdrungen waren, und die uns verraten haben und noch Jahre hindurch verraten werden. Nichtsdestoweniger wäre es kindisch, die Frage in dem Sinne zu stel­len, ob wir den Kommunismus aufzubauen hätten nur rein mit kom­munistischen Händen und ohne Zuhilfenahme bürgerlicher Spezia­listen.» Und weiter: «Ohne das Erbe der kapitalistischen Kultur ver­mögen wir den Sozialismus nicht aufzubauen. Es kann auf nichts an­derem der Kommunismus aufgebaut werden als auf dem, was der Kapitalismus uns hinterlassen hat.»

Das heißt: Wir tragen, einfach weil wir keinen wirklichen Inhalt haben für den Kommunismus, das bürgerliche Spießbürgertum hin­über. - Nun, ein merkwürdiges Geständnis: Der Kommunismus kann nur aufgebaut werden auf dem Erbe dessen, was der Kapitalismus hinterlassen hat. Und weiter: «Praktisch haben wir eine kommuni­stische Gesellschaft mit den Händen unserer Feinde zu schaffen», das heißt mit bürgerlichen Händen. Das heißt, wir haben eine umge­kehrte Klassengesellschaft zu begründen; das heißt, nicht Abschaf­fung eines Klassenstaates, sondern zu Heloten zu machen diejenigen, die früher oben waren. «Praktisch haben wir eine kommunistische Gesellschaft mit den Händen unserer Feinde zu schaffen. Das scheint ein Widerspruch zu sein, vielleicht sogar ein unlösbarer Widerspruch.» Ich bitte, hören Sie den Satz so an, wie er ist! «In Wirklichkeit aber kann nur auf diesem Wege die Aufgabe des kommunistischen Auf­baues gelöst werden.»

Es scheint also ein unlösbarer Widerspruch zu sein, aber in Wirk­lichkeit kann nur mit Hilfe dieses unlösbaren Widerspruchs die Auf­bauung des Kommunismus gelöst werden.

Und weiter: «Das bot ungeheure Schwierigkeiten, aber nur auf diese Weise konnten sie gelöst werden. Die organisatorische, schöpferische, gemeinsame Arbeit muß die bürgerlichen Spezialisten so in die Enge treiben, daß sie in den Reihen des Proletariats vorauszumarschieren gezwungen sind, so sehr sie sich auch dagegen stemmen, und so sehr sie dagegen Schritt für Schritt ankämpfen mögen. Wir müssen sie als

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technische und Kulturkräfte auf die Höhe stellen, um sie für uns zu behalten und um aus dem unkultivierten und wilden kapitalistischen Lande ein kommunistisches Kulturland zu schaffen.»

Nun, hler ist trocken gesagt, was getan werden muß, wenn nicht neue Ideen, ein neuer Geist geboren wird: Es kann nur mit dem Erbe der kapitalistischen Kultur weiter gewirtschaftet werden. Aber da die Denkweise sich nur auf das Tote erstreckt, so kann das nur hinein­führen in die Ertötung der europäischen Zivilisation. Und diese Er-tötung, die vom Osten ausgeht, sie wird sicher kommen und sich über den Westen erstrecken, wenn keine neue Denkweise in der europä­ischen Menschheit Platz greift, wenn man nicht imstande sein wird, die Wirklichkeit ganz anders anzuschauen, als sie bisher durch die letzten drei bis vier Jahrhunderte, und, im Kulminationspunkt, in der heutigen Zeit angeschaut werden kann.

Nun fragen wir uns: Wie steht es mit dem, dessen Erbe angetreten werden soll? Wie steht es mit dem? Wir haben eben eine Stimme ge­hört, wie im Osten aufgebaut werden soll auf dem Erbe des Alten; denn bis jetzt ist ganz mit dem Erbe des Alten gebaut worden. Ein Neues gibt es noch nicht für die Außenwelt, das muß erst aus einer Erneuerung des Geistes heraus kommen. Wozu hat es aber das Alte gebracht mit Bezug auf die Geistigkeit? Das kann man aus Symptomen erkennen. Ich habe neulich in Heilbronn gesprochen. Was der Zeilen­schinder über meinen Vortrag sagt, ist mir ganz gleichgültig, darauf kommt es nicht an, aber dieser Zeilenschinder findet es angemessen, die gegenwärtige Weltanschauung in einem kurzen, prägnanten Satz zum Ausdruck zu bringen. Er sagt: «Die Banalität seiner ganzen Auf­machung, die stark an amerikanische Propaganda erinnert, zeigte er am deutlichsten dadurch, wie er die alten Schlager der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in seine Dreigliede­rung einfügt.»

Also, es gibt in der heutigen Zivilisation die Möglichkeit, daß aus ihr heraus gesprochen wird: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sind Schlager, sind alte Schlager. Prägen Sie sich das in Ihre Seelen, prägen Sie sich es in Ihre Herzen. So wie Hamlet gesagt hat, «Schreibtafel her, Schreibtafel her! daß ein Mensch immer lächeln und lächeln kann und

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doch ein Schurke sein kann!» Schreiben Sie sich das in Ihre Seele: Es gibt in der heutigen Kultur die Möglichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit «alte Schlager» zu nennen! Und dann fragt man, wo die Impulse für den Untergang dieser Kultur liegen? Seien Sie nicht zu bequem, meine lieben Freunde, seien Sie nicht lässig! Sagen Sie es den Leuten, daß das möglich ist, daß die edelsten Güter der Mensch­heit in diesen Tagen in den Dreck gezogen werden von dem, was sich «europäische Bildung» nennt. Dann werden Sie dieses Geistige viel­leicht doch hinüberbringen, wenn Sie es den Menschen nur deutlich machen können, was sie in ihren Seelen verschlafen. Denn über diese Dinge lesen heute die Menschen hinweg, das nehmen sie als Selbst­verständlichkeiten. Auf diese Dinge muß aber hingeschaut werden. Und ehe nicht gesehen wird, wie stark die Niedergangsimpulse sind, wie trivial dasjenige ist, was zuletzt in diese Weltkriegskatastrophe hineingesegelt hat, gibt es kein Heil. Und wenn es ein Heil gibt, so wird es doch nur möglich sein, wenn es aus der neuerlichen Ver­tiefung der Menschheit in ihre geistigen Untergründe hervorgeht. Wir können nicht in einer bloßen Aufwärmung alter Geistigkeit heute das Ziel sehen. Wir müssen heute im Innerlichen zu der Stärke kommen, eine neue Geistigkeit zu schaffen. Daran hängt das Schicksal Europas:

Entweder diese neue Geistigkeit, oder Europa wird zum Grabe mit Bezug auf seine Kultur! Es gibt ein Drittes nicht, und für das eine oder für das andere muß sich die Menschheit entscheiden. Entweder in den Untergang hinein, oder mutig in die neue Geistigkeit hinein!

DREIZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 13. Juli 1919

#G192-1964-SE275 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

DREIZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 13. Juli 1919

#TX

Heute vor acht Tagen habe ich hier vor Ihnen eine Art Betrachtung angestellt, die dann in ähnliche Worte ausgeklungen hat, wie auch der letzte öffentliche Vortrag im Siegle-Haus am Freitag. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, wie die Menschheit der Gegenwart vor zwei Möglichkeiten gestellt ist, von denen man schon sagen muß, daß die eine unbedingt in den Niedergang der gegenwärtigen Zivilisation Europas hineinführen muß, daß die andere der einzige Rettungsweg aus dem Verfall ist. Nun möchte ich Ihnen zeigen, wie solche Aus­sagen durchaus nicht bloße Behauptungen sind; das sind sie ja schon aus dem Grunde nicht, weil sie herausgeholt werden können aus dem wirklichen geistigen Schauen und der sich dadurch ergebenden Er­kenntnis in die Verhältnisse der gegenwärtigen Menschheitsentwicke­lung. Aber auch für denjenigen, der sich nicht einlassen will auf diese geistige Schauung, gibt es viele, viele Möglichkeiten, das Geschaute auch durch die äußeren Tatsachen des gegenwärtigen Lebens be­kräftigt zu sehen. Einzelne wenige Tatsachen aus der Fülle, die an­geführt werden könnten, sollen nun auch heute angeführt werden.

Es ist in Münster in Westfalen ein kleines Büchelchen erschienen, das den Titel trägt «Christentum und Sozialismus» von Johann Plenge, der von seinem Gesichtspunkte aus ja auch früher schon manches zum Verständnis der gegenwärtigen Zeitenströmungen veröffentlicht hat. Dieses Schriftchen enthält einen Vortrag Plenges, den er gehalten hat nach den Eindrücken, die er von zwei anderen Vorträgen empfangen hatte. Der ja eigentlich schon recht bekannte Philosoph der Gegenwart Max Scheler hatte nämlich am 8. und 9. April dieses Jahres in Münster in einem Doppelvortrag über die Frage gesprochen: Was ist christ­licher Sozialismus? Und Johann Plenge hat unmittelbar darauf, am 11. April, in der Schiußvorlesung seines sozialwissenschaftlichen Pro-seminars der Akademie Münster die Antwort von seinem Standpunkte aus auf diese Vorträge über «Christentum und Sozialismus» von Scheler gegeben. Es ist interessant, was Plenge erzählt über die kurze

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Vorgeschichte, die sich zwischen diesen beiden Vorträgen abgespielt hat. Scheler, der ganz zweifellos zu den scharfsinnigsten Denkern der Gegenwart gehört, hatte am 8. und 9. April seinen Doppelvortrag über Christentum und Sozialismus gehalten, und schon am zweitnächsten Tage hat Plenge seine Antwort erteilt. Von der Zwischenzeit erzähit Plenge, daß eine persönliche Unterredung zwischen ihm und Scheler stattgefunden habe, in der sie sich über verschiedene Fragen geeinigt haben, wie Plenge sagt. Nun, verfolgt man aber wirklich dasjenige, was dann Plenge auf die Ausführungen Schelers gesagt hat, dann hat man nicht den Eindruck, daß sich diese beiden Herren, die in gewisser Weise Repräsentanten des gegenwärtigen Denkens sind, verständigt haben, sondern man hat das deutliche Gefühi, daß diese beiden Herren in ihren Untergründen gründlich aneinander vorbeigeredet haben, so vorbeigeredet haben, daß dieses Vorbeireden geradezu charakteri­stisch ist für gewisse seelische, soziale Erscheinungen in der Gegen­wart. Charakteristisch ist es aus dem Grunde, weil heute ja in um­fassendstem Maße stattfindet, was ich öfter hier charakterisiert habe:

daß die Menschen der Gegenwart eben durchaus so starke antisoziale Triebe haben, daß, selbst wenn sie den besten Wifien haben, sich mit­einander zu verständigen, sie doch eigentlich immer aneinander vor­beireden. Vorbeireden und Vorbeidenken, das ist in der Gegenwart so stark, daß man Unterredungen der folgenden Art haben kann.

Jemand kommt zu einem, man entwickelt ihm gewisse Anschau­ungen, sagen wir, über Pädagogik oder ähnliches, die aus den anthro­posophisch orientierten geisteswissenschaftlichen Forderungen her­rühren. Diese Anschauungen, sie sind so, daß sie sich nun tatsächlich unterscheiden von den Anschauungen, die heute die landläufigen sind, die heute auch als außerordentlich gute angesprochen werden. Der Betreffende hört dann oftmals zu und sagt zum Schlusse: Ja, ich bin ja vollkommen einverstanden. Dasselbe habe ich seit langer Zeit auch schon gedacht, das sehe ich als das Richtige an. - Aber er hat genau das Gegenteil von dem gesagt, was ausgesprochen worden ist, einfach aus dem Grunde, weil wir heute in einer Entwickelungsphase der Menschheit angelangt sind, wo man dieselben Sätze und Satzfügungen sagen kann, und sie bedeuten aus dem Munde des einen das Gegenteil

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von dem, was sie aus dem Munde des anderen bedeuten. Wir haben uns in einer gewissen Weise von dem inneren Gehalt der Sprache -das ist eine charakteristische soziale Erscheinung der Gegenwart -, wir haben uns von dem Inhalt der Sprache so weit entfernt, daß wir mit denselben Worten und Satzfügungen das eine und auch das Gegen-teil, das andere, aussagen können. Gegenüber einer solchen Zeit­erscheinung kann es sich nicht darum handeln, den Blick davon ab­zuwenden, weil das bequem ist, sondern es kann sich nur darum han­deln, den Blick gerade darauf hinzurichten und sich zu fragen: Was geht eigentlich aus einer solchen Erscheinung hervor? Nun möchte ich dieses charakteristische Beispiel Scheler-Plenge anführen, weil wir da auf der einen Seite in Scheler einen Menschen vor uns haben, der nach einem Gedankensystem strebt, welches der Gegenwart Sozialis­mus geben soll, Sozialismus, wie er sich ihn denkt; wie er sich ihn denkt aus einem katholisch gefärbten Christentum heraus, das bei ihm, bei Scheler, aus einer wirklich inneren Begeisterung hervorgeht, das aus der wirklich inneren, bis zum Willen sich aufraffenden Gefühls­richtung eines katholisierenden Christentums hervorgeht. Aus diesem katholisierenden Christentum heraus bekämpft er den gegenwärtigen Kapitalismus, namentlich den kapitalistischen Geist, und er verspricht sich nur von der Ausbreitung seiner katholisch-christlichen Empfin­dungsweise die Möglichkeit, daß die gegenwärtige Menschheit von innen heraus, vom Herzen heraus mit sozialer Gesinnung durch­drungen werde, und daß dann von dieser sozialen Gesinnung auch eine soziale Lebensordnung ausgeht. Also Scheler steht auf einem Boden, auf dem ganz und gar nur dasjenige gedeiht, was der Mensch aus einem gewissen inneren Wissen, einem empfindenden Wissen her­aus entwickelt. Von diesem Gesichtspunkte aus verficht er seinen christlichen Sozialismus für die Gegenwart.

Johann Plenge steht auf einem ganz anderen Standpunkte. Er geht nicht aus von dem, was gewissermaßen im Innern aufsteigt als eine soziale Erkenntnis, sondern Plenge will ausgehen von dem, was im Gesellschaftsleben vorhanden ist. Er will ausgehen von den Erschei­nungen, die im sozialen Dasein sich kundgeben. Er will also beob­achten, wie sich Mensch zu Mensch verhält, wie sich Menschengruppen

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gesellschaftlich zusammenschließen und so weiter. Er ver­tritt also im Gegensatz zu einer Art Willenswissenschaft des Max Scheler eine gewisse Gesellschaftswissenschaft, eine Art Sozialwissen­schaft. Und er versucht, vom Standpunkte dieser Sozialwissenschaft aus nun seinerseits diejenigen Einrichtungen zu charakterisieren, von denen er sich denken muß, daß sie eine gewisse soziale Ordnung in unserem Menschenieben hervorbringen werden. Nun haben diese beiden Herren vollständig, wie ich Ihnen schon sagte, aneinander vor­beigeredet, und Plenge hat sogar noch den Glauben - Scheler wird ihn wahrscheinlich nicht haben, das weiß ich nicht -, daß sie sich bis zu einem gewissen Grade verstanden haben. Sie haben sich eben gar nicht verstanden. Und das rührt einfach davon her, daß heute in wei­testen Kreisen das Element fehlt, durch das sich die Menschen inner­lich wirklich verständigen können. Und dieses Element ist eben kein anderes als dasjenige, das hier geltend gemacht wird als das Verständ­nis der geistigen Welt selber, welches harmonisierend wirken kann für die verschiedenen Denk- und Gefühlsrichtungen der heutigen Zeit, auch für die Willensrichtungen, und von welchem sich heute Geister wie Scheler und Plenge noch durchaus fernhalten wollen. Solch eine Erscheinung wie die, welche in dem Zwiegespräch zwischen Plenge und Scheler auftritt, sie durchsetzt unser ganzes gegenwärtiges Menschheitsleben.

Nun haben wir hier zunächst ein Interesse daran, diese Durch­setzung gerade für Mitteleuropa zu betrachten. Und da bitte ich Sie, sich daran zu erinnern, wie ich das letztemal hier, am letzten Sonntag, entwickelt habe, daß wir innerhalb der mitteleuropäischen Geistes­kultur einen Goetheanismus haben, daß wir auch dasjenige haben, was ich Ihnen charakterisiert habe letzthin, in einer für die heutige Zeit etwas paradoxen Art, als das Hegeltum. Nicht wahr, das Hegeltum, die Weltanschauung Hegels, sie hat ja auch geschichtlich etwas höchst Merkwürdiges. Sie ist, so wie sie von Hegel dasteht, der reinste Idea­lismus, die Welterfassung aus der Vernunft, das heißt zwar aus dem verdünntesten, aber doch aus dem Geiste heraus. Nun ist das Eigen­tümliche, daß erstens Hegel eine große Anzahl von Schülern gehabt hat, und diese Schüler waren gruppiert von der äußersten Rechten,

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vom Reaktionismus bis zur äußersten radikalsten Linken, auch in politischer und religiöser Beziehung so gruppiert. Unter diesen Schü­lern war der lebendigste Streit. Und Sie wissen, man hat ja das Wort geprägt, daß Hegel selber vor seinem Tode gesagt haben soll ange­sichts seiner Schüler und derer, die es haben werden wollen oder wer­den sollen: «Nur einer hat mich verstanden, und der hat mich naß-verstanden.»

Nun ist aber noch etwas anderes gekommen. Unter den Schülern dieses Hegel war auch Karl Marx, der Begründer der gegenwärtigen sozialistischen Weltanschauung in einer ihrer Ausgestaltungen. Dieser Karl Marx ist unter dem Einfluß des Hegeltums völligster Materialist geworden, sogar mit Bezug auf die geschichtliche Anschauungsweise. Ganz normal aus dem Hegeltum sich herausentwickelnd ist Karl Marx zum Anti-Hegel geworden. Das Hegeltum hat vollständig, wenn man in seiner eigenen Sprache sprechen will, in sein Gegenteil umgeschla­gen.

Ja, woher rührt denn so etwas? So etwas rührt davon her, daß eine solche Anschauungsweise, wie sie Hegel herausgestaltet hat aus sei­nem Innern, und die die geläutertste, verdünnteste Geistigkeit in Form der logischen Menschenvernunft ist, daß so etwas überhaupt nur in der geschichtlichen Entwickelung gesund bleiben kann, wenn es sich in einer einzelnen persönlichen Individualität entwickelt. Schon der Schüler kann nicht mehr eine gesunde Geistigkeit entwickeln, und in der dritten Generation wird eine solche Anschauung bereits zum völlig ungesunden Element, wenn man dogmatisch darauf schwört. Deshalb habe ich Ihnen das letztemal gesagt, daß in bezug auf solche Dinge die groteske Forderung auftritt, daß man zum Beispiel sich ver­tiefen soll in das Hegeltum, aber nur davon lernen soll, wie auch von dem Goetheanismus, seinen eigenen Geist zu befruchten, selber in dieses Element des Denkens und Anschauens hineinzukommen, und dann muß man den Weg verlassen und sich weiterbilden auf dem­selben Wege.

Wer heute auf Goethe schwört, auf Hegel schwört, und dabei das so meint, daß er einfach deren Dogmen übernimmt, der schadet sich und anderen. Wer heute wirklich Goetheaner sein will, darf nicht auf

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Goethe dogmatisch schwören, sondern er muß weiterbilden dasjenige, was in einer Aniage bei Goethe vorhanden ist. Und in noch stärkerem Maße ist das beim Hegeltum der Fall. Beim Hegeltum zeigt sich, was da eigentlich vorliegt. Dieses Hegeltum in der deutschen Entwicke­lung ist eine höchst, höchst charakteristische Erscheinung. Da liegt nämlich etwas vor, was ein Charakteristikon des logischen Denkens überhaupt ist. Niemand kann eigentlich verstehen, was das logische Denken für den Menschen ist, der nicht etwas von der Geisteswissen­schaft versteht. Denn diese Geisteswissenschaft zeigt ihm erst, daß es auch noch einen anderen, einen übersinnlichen Menschen gibt, nicht nur den Menschen, der als die sinnliche Leiblichkeit uns entgegen­tritt. Diese beiden Dinge, der übersinnliche und der sinnliche Mensch, sie verschwimmen für die Anschauung der Menschheit in ein einziges wüstes Chaos, denn das, was die gegenwärtige Anatomie und Physio­logie überliefert über den Menschen, ist ein wüstes Chaos. Lernt man aber sachgemäß trennen den übersinnlichen Menschen, von dem ich neulich auch im öffentlichen Vortrag zweimal gesprochen habe, von dem sinnlichen Menschen, dann lernt man die sonderbare paradoxe Tatsache kennen - geistige Tatsachen sind zumeist für die sinnliche Anschauung paradox -, daß es ein logisches Denken für die Mensch­heitsentwickelung überhaupt nicht geben würde, wenn die Menschen nicht in den physischen Leib hineingeboren würden und dort sich ent­wickelten. Für die Logik, gerade wenn sie auf der höchsten Stufe ent­wickelt ist, ist der sinnliche Leib das entsprechende Instrument. Wer daher übersinnliche Erkenntnis entwickelt, wer wirklich sich hinein-lebt in die übersinnliche Erkenntnis, der muß schon die Erfahrung machen, daß es außerordentlich schwierig ist, nun überhaupt diese übersinnlichen Erkenntnisse in Worte zu kleiden, daß aber, wenn er diese übersinnlichen Erkenntnisse mit der gewöhnlichen Logik auf­fassen will, das heißt mit dem, was nur an das Instrument des äußeren physischen Leibes gebunden ist, daß ihm dann diese übersinnliche Erkenntnis ertötet wird. Dann ist es aus mit dieser übersinnlichen Er­kenntnis. Auf dem Boden der Logik erstirbt die übersinnliche Er­kenntnis. Sie muß für unser Menschenleben gebracht werden zu einem Spiegelabglanz, wie es bei Hegel war. Aber dann darf man in diesem

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Spiegelabglanz nicht drinnen leben, sonst ist man gleich aus dem Geiste heraus. Daher ist es nicht so, daß Hegel das deutsche Denken zur höchsten Geistesentwickelung gebracht hat, sondern daß in die­sem Geistigen, das Hegel bietet, das Geistloseste enthalten ist, daß gar kein Geist mehr im Hegeltum drinnen ist. Das heißt: der physische Leib erfaßt in Hegel die Geistigkeit und preßt sie zu gleicher Zeit aus. Höchster Logiker, dieser Hegel; geistloseste Philosophie, dieses durch höchste Anstrengung des Geistes hervorgebrachte Denken! Kein Wunder, daß es umschlägt in den bewußten Materialismus, in Marxis­mus, und daß es so zu einer tatsächlichen Entwickelungsphase im neunzehnten Jahrhundert wird.

Sehen Sie, so ernst liegen die Dinge in der Gegenwart. Und nicht versteht man, was eigentlich als Substanz in dieser unserer Gegenwart lebt, wenn man sich nicht auf solche Dinge einlassen kann. Die gegen­wärtige Menschheit ist ja so, daß sie so sehr an etwas glauben möchte, daß sie so ungeheuer froh ist, wenn sie etwas vor sich hinstellen kann, oder etwas hören kann, worauf sie dann als auf das Meisterwort schwören kann. Und wenn sie darauf schwört, so schadet das am aller­meisten, denn die wichtigste Forderung der Gegenwart ist diese, daß der Mensch seine freie Geistigkeit entwickeln muß. Und in dem Augenblick, wo er sündigt gegen die Freiheit seines Urteils, macht er sich zu gleicher Zeit krank. In der Gegenwart kann der Mensch gar nicht anders, es ist das ein historisches Faktum, er kann nicht anders, wenn er auf die menschliche Höhe kommen will, als sich innerlich freimachen. Es ist mehr als eine Vision, wenn man folgendes sagt:

Man denke sich den Inhalt der Hegelschen Philosophie als eine Art Geistesschema, als eine Art Ätherleib in die Welt eintretend, arbei­tend in ihrer rein logischen Substantialität. Denkt man sich dieses Geistgespenst über die Welt hinfegend, dann würde man das Vorbild haben für das, was physisch aufgetreten ist in den letzten vier bis fünf Jahren als die europäische Weltkatastrophe. Was im Seelischen wirk­sam war als ein Höchstes in dem Hegeltum, das nimmt sich im physi­schen Leben aus als dieses Schrecknis der Weltkriegskatastrophe in den letzten vier bis fünf Jahren. Man muß schon den Mut haben, in diese geistigen Zusammenhänge hineinzuschauen, sonst wird man in der

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Gegenwart überhaupt nichts verstehen von den Ereignissen. Die Men­schen der Gegenwart möchten es sich so bequem machen, zur Geistig­keit zu kommen. Daran sind sie aber gehindert durch die Forderungen der Zeit selber. Wenn wir heute naturwissenschaftliche Erfahrungen sammeln und sie zur höchsten Logik entfalten, so treiben wir aus dem Menschen gründlich den Geist aus. Das tut Plenge, natürlich nur bis zu einem gewissen Grade. Er entwickelt ein rein ahrimanisches Den­ken, wie wir es in unserer Geisteswissenschaft nennen, und das stellt er vor die Welt hin.

Das Umgekehrte liegt vor, wenn die Menschen etwas von innen heraus entwickeln wollen, wie es im Gegensatze zu Hegel sein sonder­barer philosophischer Zwillingsbruder Schopenhauer gemacht hat. Wenn die Menschen etwas aus dem Innern entwickeln wollen, aus dem willensartigen Element, dann tritt das Umgekehrte ein. Dann tritt das ein, daß sie immer wieder und wieder, nicht für sich, aber für ihre Schüler, für diejenigen, die ihnen dogmatisch anhängen, die Leute in den bloßen Offenbarungsglauben hineindrängen wollen, wo man sagt:

Die Vorstellung kann überhaupt nichts mehr erreichen, man muß aus einem ganz andern Untergrunde heraus zur Wahrheit kommen. Da­durch kommt man in ein bestimmtes Glaubenselement hinein, wie es nicht menschlich, sondern höchstens Königsbergisch-Kantisch ist, und wie es in besonderem Maße bei Schopenhauer aufgetreten ist. Aber niemals hat der originale Geist die Neigung, in die Schäden zu ver­fallen, sondern erst diejenigen, die nachfolgen, namentlich die dritte Generation. Das ist so ein Weltgesetz. Und Schopenhauerianismus ist verwandt mit dem ja in unserer Zeit so beliebt werdenden Offen-barungsglauben. Das bloße Hinnehmen einer Offenbarung, wie es be­sonders ausgebildet ist in der katholischen Kirche der Gegenwart, in­sofern sie rechtgläubig katholisch ist, und wie es seine Kulmination erreicht hat in der Erklärung des Infallibilitätsdogmas: das ist das gegenteilige Element. In diesem Element ertrinkt die von innen auf­steigende Geistigkeit. Wie durch die Logik ertötet wird das Innere, so wird ersäuft durch den bloßen Offenbarungsglauben dasjenige, was von innen aufsteigt und die Außenwelt umspannend ergreifen will. Das sehen wir heute als eine besonders charakteristische Erscheinung.

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Und in diesen Strömungen leben wir drinnen. Diese Strömungen durchsetzen unbewußt alles dasjenige, was von der linken und rechten Seite heute gefordert wird. Was wissen denn die Menschen, die heute loben oder beschimpfen diese oder jene Lebensanschauung, was wis­sen sie von den Kräften, die in diesen Lebensanschauungen drinnen stecken? Nichts wissen sie davon. Die Leute von der äußersten Rech­ten haben keine Ahnung von dem, was in ihren Empfindungsimpulsen steckt, durch die sie konservativ und reaktionär sind. Die Radikalen, auch die radikalsten Bolschewisten, haben keine Ahnung, was in ihren Instinkten steckt, und wie sie durch ihre Logik längst ertöten das, was sie im äußeren Leben zum Vorschein bringen wollen. Das unbewußte Leben ist heute sehr stark in der Menschheit, und aus ihm heraus ent­wickeln sich diejenigen Dinge, die eigentlich die wirksamen sind und die rege werden sollen im Bewußtsein dadurch, daß man sein Wissen geistig durchleuchtet mit dem, was aus dem Übersinnlichen genom­men werden kann. Auf andere Weise kann das, was in der Gegenwart wirkt, nicht mehr durchleuchtet werden.

Nun sind in der Gegenwart, in der unmittelbaren Gegenwart, drei Strömungen da, die aber auch nur mehr wie die in die Höhe getragenen Wogen sind dessen, was da in den Untergründen brodelt, und was ich Ihnen mit einigen Strichen nur charakterisieren konnte, indem ich aus­ging von Max Scheler und Johann Plenge und Ihnen zeigte, was logi­sches Denken, das im neunzehnten Jahrhundert auf die höchste Höhe getrieben wurde, und was der Offenbarungsglaube, der in dem Infalli­bilitätsdogma auf die höchste Höhe getrieben wurde, was diese für die menschlichen Seelenuntergründe bedeuten.

Aus dem, was da unten in den menschlichen Seelen brodelt und wirbelt und was sehr umfassend ist, aus dem dringt dreierlei an die Oberfläche, aber durchaus nicht so, daß es die eigentlich innere Wesen­heit für den heutigen Menschen schon zeigt.

Erstens - man gebe sich nur keinen Illusionen hin -: Dasjenige, was sich über die Welt ausbreitet, bewußt ausbreitet, das ist die anglo­amerikanische Weltherrschaft, die ihre Fittiche ausstreckt über die gegenwartige Zivilisation. Betrachten Sie alle einzelnen Erscheinungen während der Kriegsjahre und in den heutigen, sogenannten Friedensabschlüssen.

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Man nennt das « Frieden», weil man eben oftmals heute mit seinen Worten dasjenige meint, was man eigentlich mit den gegen­teiligen Worten bezeichnen sollte. Alles das, was sich so abgespielt hat, zeigt sich als einzelne Erscheinung heraus aus einer der großen Ge­genwartswellen der Ausbreitung der anglo-amerikanischen Herrschaft, des anglo-amerikanischen Weges zur Weltherrschaft. Das ist das eine. Das zeigt sich in seiner Ausbreitung, das wird klug und schlau sein, durch seine Gruppenseelenhaftigkeit, um mancherlei zu begegnen, das sich ihm entgegenstellt.

Das zweite Element, das tritt in einer ganz abstrakten Form hervor, so daß es in dieser abstrakten Form unmöglich ist zu zeigen, daß aus den Vorstellungen und aus den Willensimpulsen heraus, in denen das Ding heute auftritt, etwas Vernünftiges werden kann. Das ist das Streben nach einem sogenannten Völkerbund. Dieses Streben nach einem sogenannten Völkerbund, wie es insbesondere auch in dem Kopfe des Woodrow Wilson aufsteigt, das ist so, wie es heute vor die Menschen hintritt, noch eine völlige Unmöglichkeit, weil es eine der ärgsten Abstraktionen ist, weil es so, wie es da gedacht wird, keinen Untergrund hat in dem wirklichen menschlichen Leben. Aber daß es da ist, daß es besprochen wird, das zeigt, daß man sich dennoch aus diesem menschlichen Leben heraus nach etwas Internationalem sehnt, an dem man eben nur vorbeiredet - wie man heute an allem vorbei-redet-, indem man die Theorie eines Völkerbundes entwickelt.

Das dritte Element ist das soziale Streben in der Gegenwart. Es sind die sozialistischen Impulse, diese sozialen Impulse, von denen man sagen kann, daß sie aus berechtigten, unterbewußten Untergründen eines großen Teiles der gegenwärtigen zivilisier­ten Menschheit hervorgehen, daß sie sich aber als völlig chaotische Instinkte geltend machen. Denn was heute durch das sozialistische Streben über ganz Europa bis zum fernsten Osten hinüber sich ausdehnt, das ist, daß man sagt: Ich will dies, ich will das; ich stelle dies oder jenes als Ideal auf -, daß man aber nirgends weiß, was man eigentlich machen will und wovon man eigentlich redet. Daß man nirgends weiß, die Dinge in eine bestimmte Denkweise, in einen bestimmten Denk- und Empfindungsinhalt zu bringen. Ja, diesen

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Denk- und Empfindungsinhalt, den haßt man sogar heute. Das ist be­sonders charakteristisch in einem Artikel eines gewissen Seeger, der in der ersten Nummer der ja hier in der Nähe erscheinenden «Tribüne» steht. Da wird die Dreigliederung namens des Proletariats abgewiesen und der Sozialismus gefordert. Ja, würde man dem Herrn die Aufgabe stellen, zu sagen, was er sich nun unter Sozialismus vorstellt, so würde er natürlich gar nichts sagen können, was einen wirklichen Inhalt hat. Die absoluteste Inhaltlosigkeit wird gezeigt, indem man so redet. Aber das rührt davon her, daß man überhaupt nicht mehr zu einem Ge­dankeninhalt kommt, daß man nur noch instinktive Empfindungen und Gefühle hat. Und es ist schließlich ganz gleichgültig, ob dieser Herr das, was er fühlt und empfindet, Sozialismus nennt, oder ob er ihm einen anderen Namen geben würde, zum Beispiel Europäanismus oder Negativismus und dergleichen; er würde im gleichen Sinn in­haltsvoll sprechen. Man würde sich immer dasselbe denken können bei dem, was er ausspricht, das heißt nichts. Darauf sind viele Men­schen der Gegenwart heute noch nicht aufmerksam, zu ihrem Unglück noch nicht aufmerksam.

Das sind die drei Strömungen, die auftauchen aus dem wirren Seelenchaos der Gegenwart: anglo-amerikanische Weltherrschaft, Sehnsucht nach einer solchen Internationalität, wie sie sich in dem Streben nach einem Völkerbund ausdrückt, und Sozialismus. Aber mit demjenigen Denken, das man heute vielfach anwendet, wird man niemals hinter das kommen, was eigentlich hinter diesen Strömungen steckt. Dazu wird ein ganz, ganz anderes Denken notwendig sein, das­jenige Denken, das nicht die gewöhnliche Leibes-Logik hat, sondern dessen Logik zugleich geboren wird, indem dieses Denken aus der übersinnlichen Erkenntnis hervorsprudelt, nach den Methoden, die entgegen den gegenwärtigen wissenschaftlichen Methoden, aber trotz­dem in ihrem Sinne, geisteswissenschaftlich-anthroposophisch ge­funden werden müssen.

Nun tritt dasjenige, was ich so sage, an charakteristischen Erschei­nungen hervor. Sie wissen, unsere eigenen Betrachtungen, wenn sie geschichtlich werden, befolgen eine ganz bestimmte Methode, die ich oftmals hier vor Ihnen die symptomatisierende Methode genannt habe.

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Man will dasjenige, was in der Geschichte lebt, durch Symptome er­kennen. Nicht wie die Geschichte in der Gegenwart gewöhnlich be­trachtet wird, daß man einfach das Folgende als kausal hervorgehend aus dem Früheren mechanistisch betrachtet, sondern indem man die Geschichtsentwickelung als einen fortgehenden Strom betrachtet, aus dem aber an jeder Stelle aus geistigen Tiefen die Erscheinungen her-vorkommen. Auf diese Weise kann das, was da aufsteigt, was sich in den äußeren Erscheinungen zeigt, nicht als kausal aufgefaßt werden, sondern als Offenbarung für tiefinnerliche Vorgänge. Und vieles, was in der Gegenwart geschieht, muß so an den anschaubaren Vorstel­lungen als Symptom für Tiefinnerliches erkannt werden.

Da kann Ihnen in diesen Tagen ein bedeutsames Symptom ent­gegentreten. Sie alle werden wohl von irgendeinem Standpunkte aus nachgedacht haben über etwas, was insbesondere zunächst verheerend in unser mitteleuropäisches Lehen hereingebrochen ist, über das Ver­sailler Friedensdokument. Über dieses Versalller Friedensdokument haben sich, wie Sie ja wissen, natürlich die Menschen die allerverschie­densten Gedanken gemacht. Aber ein Gedanke, den Sie jetzt auch schon in den Zeitungen finden können, ist dabei weniger berück­sichtigt worden, und für den, der tiefer schürfen will, ist das ein Ge­danke, der auf etwas außerordentlich Charakteristisches hinweist. Das ist der, daß dieses Versailler Friedensinstrument, das tief in die mo­derne Zivilisation einschlagen soll, überhaupt nicht verständlich ist, daß, wenn man ehrlich zu Werke geht und versucht zu verstehen, was eigentlich mit den einzelnen Punkten gewollt ist, man kein wirklich­keitsgemäßes Verständnis herausholen kann. Man kann das Ding nicht verstehen, man kann nicht dahinter kommen, was eigentlich mit diesem Friedensinstrument gewollt ist. Gerade wenn man versucht, herauszubekommen aus den verschiedensten Formulierungen, was genau gemeint ist: es geht nicht. Daher kein Wunder, daß ein Fran­zose, Professor Aulard, im «Pays» sich in der folgenden Weise über dieses Friedensinstrument ausspricht. Also ein Franzose ist es, den wir dabei zitieren wollen. Er sagt:« Es ist eigentlich meine Pflicht als Ge­schichtsschreiber, Journalist und Staatsbürger, den Friedensvertrag zu lesen und darüber mir eine Meinung zu bilden. Bis jetzt ist es mir aber

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nicht gelungen, und ich muß gestehen, daß ich nicht imstande war, den ganzen Friedensvertrag bis zu Ende durchzulesen.»

Und das ist ein ehrlicher Mann. Die anderen lesen den Vertrag durch und glauben, ihn zu verstehen. Aulard fühlt sich aber als Journalist und Staatsbürger verpflichtet, den Vertrag zu verstehen, er liest jeden Satz immer wieder und ist bis jetzt nicht zu Ende gekommen, weil er sich ehrlich gesteht, er kann das Ding nicht verstehen.

Dann sagt er weiter: «In meinem Berufe habe ich viele schwerfallige, dunkle diplomatische Urkunden studiert; der Friedensvertrag von Versailles ist aber eine kopfzerbrechende Arbeit, wie ich keine andere in dieser Art kenne. Man würde meinen, er sei nicht französisch aus­gedacht worden; keine Spur von französischer Klarheit und Ordnung in den Gedanken, so daß man glaubt, man habe es mit einer Über­setzung zu tun. Ich will nicht von angelsächsischem Wortkram spre­chen. Der Vertrag aber ist ein Wortkram und ein Wust von Artikeln. Die Erklärung dieser Tatsache fand ich im letzten Artikel des Friedens­vertrages. Französisch ist also nicht mehr die diplomatische internatio­nale Sprache. Dieses Vorrecht haben wir verloren. Man hat es uns genommen. Alle großen Verträge der neueren Geschichte sind im französischen Wortlaut verfaßt worden.»

Nun muß man sagen: Nicht umsonst ist die französische Sprache die Diplomatensprache geworden, das heißt diejenige Sprache, in der fixlert werden kann, was auf diplomatischer Grundlage abgemacht ist. Sie ist es dadurch geworden, daß sie als die Sprache eines niedergehen-den modernen Kulturelementes eine große Prägnanz hat. Dieser Ver­trag ist englisch, in englischen Worten und Sätzen gedacht, und er macht auf den, der gewohnt ist, mit alter Klarheit zu denken, diesen Eindruck, und er muß diesen Eindruck machen. Es ist richtig, wenn man sagt, die englische Sprache hat überhaupt nicht die Genaulgkeit, das auszudrücken, was da ausgedrückt werden soll. Das aber ist das Charakteristische der englischen Sprache, das heißt derjenigen Sprache, die die Völker reden, welche jetzt die Weltherrschaft antreten. Diese Sprache der Völker, welche jetzt die Weltherrschaft antreten, sie hat einmal das Eigentümliche, daß man in ihr alles dasjenige, was geistig überschaut werden soll, nicht unmittelbar so ausdrücken kann, wie es

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sich ergibt, wenn man die Sprache nur so nimmt, wie sie heute da ist. Diese englische Sprache hat nicht die Möglichkeit, sich so auszuspre­chen, daß sich das Ausgesprochene mit dem Geiste völlig deckt. So etwas muß man betrachten können, ohne emotionell dabei zu werden, ohne daß man es etwa in einen England-Haß umwandelt. Man muß so etwas betrachten können wie eine naturwissenschaftliche Tatsache; das ist eben so. Mit einigem Studium sine ira muß man schon das be­trachten, was sich da herausstellt als das Charakteristikon der zu­künftigen Weltensprache. Nun ist aber dieses für die zukünftige Weltensprache Charakteristische etwas für die Menschheit außer­ordentlich Heilsames. Es kann gewissermaßen für die moderne Menschheit nichts Besseres geben, als daß sich innerhalb desjenigen Volkselementes, das die Weltherrschaft antritt, eine Sprache ausbildet, die nicht mit dem Geiste sich decken kann.

Betrachten Sie diese Tatsache mit einer anderen im Zusammenhang, die ich an verschiedenen Orten, aber auch hier schon erwähnt habe. Ich habe oftmals gesagt: Zu denjenigen Schriftstellern der vergange­nen Epoche - in der Gegenwart könnte ich mir sie gar nicht mehr denken -, zu den Schriftstellern des sich auslebenden neunzehnten Jahrhunderts, die mir am allerliebsten sind durch ihren Stil, durch ihre Gedankenprägung, gehört Herman Grimm. Herman Grimm prägt das­jenige, was ihm als Anschauung aufgegangen ist, in solche Gedanken, daß ich außerordentlich gern immer bei diesen Gedanken verweilt habe. Dennoch, als ich einmal mit Herman Grimm sprach und seiner Lebensauffassung nur ganz weniges von meiner Lebensauffassung entgegensetzen wollte, da gab er mir nur zur Antwort: Lassen wir das, lieber Doktor, darin können wir uns doch nicht verstehen! - Es war auch unmöglich, Herman Grimm irgend etwas zu sagen von dem, wie ich die Dinge der Welt ansah. Das konnte er einfach nicht anders, als mit einer Handbewegung von sich wegwischen. Doch will man wissen, wie im neunzehnten Jahrhundert aus einer gewissen mitteleuropä­ischen Gesellschaftsschichte heraus gedacht wurde über diese Dinge, so muß man doch zu Herman Grimm gehen, der mütterlicherseits von Bern her stammt, also nicht nur süddeutsches, sondern schweizerisches Blut in sich hatte, der zum Oheim Jakob Grimm, zum Vater Wilhelm

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Grimm hatte, und der zur Frau hatte die Tochter der Bettina Brentano, Gisela von Arnim, der also ganz drinnen steckte in einer gewissen ge­sellschaftlichen Anschauung des neunzehnten Jahrhunderts. Heute, wenn ich Herman Grimm lese, kommt es mir so vor, als wenn ich aus einer lange Jahrhunderte zurückliegenden Vorzeit lesen würde. Das sind Dokumente des neunzehnten Jahrhunderts, was bei Herman Grimm auftritt. Und es ist für mich sehr interessant gewesen - so sagte ich ja oftmals -, daß, als ich die Geschichte betrachtete und die Litera­turbetrachtungen Woodrow Wilsons las, daß ich bei Woodrow Wilson manchmal für mich wörtlich klingende Anklänge an Herman Grimm fand. Dennoch sind sie durchaus nicht abgeschrieben, denn Woodrow Wilson würde vielleicht gar nicht einmal etwas verstehen, wenn er Herman Grimm lesen würde. Aber wer Sinn hat für so etwas, der merkt bei Wilson etwas höchst Eigentümliches. Er merkt bei Wilson, daß dieser Mann so redet, wie wenn eigentlich etwas phonographisch abliefe, wie wenn das Bewußtsein nicht ganz dabei wäre bei seinem Reden, und wie wenn ein im Unterbewußten waltender Dämon das alles, mit Ausschaltung der eigentlichen Persönlichkeit des Woodrow Wilson, heraufsprudeln würde, was sich dann wie mechanisch in die Worte und Satzfügungen kleidet. Man glaubt, mit Ahriman selber zu reden, der in den Untergründen der Woodrow Wilsonschen Seele wal­tet, wenn man Woodrow Wilson liest. - Herman Grimm ist dabei, bei jeder einzelnen Satzprägung, da liegt immer die ganze Persönlichkeit drinnen; Woodrow Wilson ist ganz weg, da redet ein Dämon in den Untergründen der menschlichen Seele, durch menschlichen Mund. Wer das nicht weiß, der versteht die für die gegenwärtige Weltbetrach­tung wichtigsten und wesentlichsten Zusammenhänge gar nicht.

Was drückt sich aber in dem allem aus? In dem allem drückt sich ein Allerwichtigstes aus. In der anglo-amerikanischen Sprache lebt nicht mehr jenes Verbundensein der menschlichen Seele mit dem Sprach-elemente, wie es in älteren Zeiten vorhanden war. Die Sprache hat sich ja vom Menschen abgesondert, sie wird als Sprache abstrakt. Wenn man Englisch sprechen hört, so kommen einem immer gewisse Wendungen, namentlich Satzenden so vor, wie wenn man einen Baum vor sich hat, der in den äußersten Wipfeln und Ausläufern der

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Zweige verdorrt ist. Die Sprache läßt absterben das innere Durch­drungensein mit dem Seelischen. Dadurch wird das entgegengesetzte Element, der entgegengesetzte Pol des Seeleniebens hervorgerufen:

die Notwendigkeit, sich zu verständigen über die Sprache hinweg.

Sehen Sie, das ist das ungeheuer Wichtige. Man wird sich in der Zukunft englisch nicht verständigen können, wenn man nicht zu glei­cher Zeit ein gar nicht in der Sprache lebendes, unmittelbar elementa­risches, empfindendes Verstehen von Mensch zu Mensch entwickelt, das dann erst der Sprache ihr Leben gibt. Das heißt aber nichts Ge­ringeres, als daß der übersinnliche Mensch, der erste übersinnliche Mensch in das geschichtliche Dasein der Menschheit eintreten muß. Bisher haben die Menschen nur gesprochen aus ihren physischen Lei­bern heraus. Das, was sie als Sprache zusammengebracht hat aus ihren physischen Leibern heraus, das stirbt mit der englischen Sprache ab. Sie wird natürlich da sein, aber sie wird immer mehr und mehr ein abstraktes Geklingel werden. Und die Menschen müssen durch ihre Ätherleiber sozial in Beziehung treten, so daß, während sie sprechen, sie ein Verständnis von Gedanke zu Gedanke, ein wirkliches, nicht ein abergläubisches Gedankeniesen zustande bringen. Gedankenlesen, das ist eine Forderung über die nächsten Jahrhunderte hinüber. Sich un­mittelbar verständigen von Gedanke zu Gedanke und bewußt sein, daß die Sprache nur immer mehr und mehr etwas sein wird, wodurch man den anderen aufmerksam macht, daß er auf die eigenen Gedanken achtgeben soll. Wenn die Sprache noch vollseelisch ist, so kann ich unter Umständen, wenn im Saale hier alles surrt, wo man sich geist­reich unterhält und alles durcheinandertönt, ich kann klingeln, nicht wahr, dann wird es still werden. Ich habe angekündigt, daß ich jetzt reden will, dann versteht man dadurch dasjenige, was ich rede. So wird in der Zukunft das Sprechen selber sein. Es wird allerdings be­gleiten müssen die Gedankenentwickelung, aber es wird ein fort­währendes Anklingeln des andern sein, und das Verständnis von Mensch zu Mensch, das wird aus einem viel tieferen Seelenelement hervorgehen müssen. Das soll von der Menschheitsentwickelung er­zwungen werden dadurch, daß bei den herrschenden Zukunftsvölkern, bei den anglo-amerikanischen Völkern, die Sprache als solche entseelt

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wird, und die Notwendigkeit auftritt, das Dämonium im Innern des einzelnen Menschen dem Dämonium im anderen Menschen gegen­ü berzustellen.

Da wird allerdings der Mensch-verzeihen Sie den harten Ausdruck-viel nackter dem Menschen gegenüberstehen als heute. In der Sprache kann man lügen, den Gedanken wird man anmerken, wenn sie erlogen sind. Aber in der Übergangsepoche merkt man ihnen ihren verführe­rischen, illusorischen Charakter nicht an. Das ist ja auch der Grund, warum die vierzehn Punkte des Woodrow Wilson die Welt so betört haben. Und jetzt werden Sie verstehen, so etwas wie den unklaren Friedensvertrag als ein Weltsymptom unserer Zeit aufzufassen. Es ist sehr charakteristisch, daß dieser unklare Friedensvertrag in einer Zeit auftritt, in der die Menschen sich von der bloß aus dem physischen Leibe hervorgehenden Sprache, ihren Fügungen, ihrer Grammatik, zum unmittelbaren Gedankenverständnis wenden sollen. In demselben Maße, in dem die Menschen Verständnis haben werden für das Walten des Geistes von Mensch zu Mensch, werden aber auch die verschie­denen Sprachen der Erde kein Hindernis mehr sein für das brüderliche Zusammengehen. Und in demselben Maße wird erst ein Völkerbund möglich werden. Und in demselben Maße, in dem zu den heutigen, bloß animalischen Beziehungen - sie sind ja fast aufs Höchste ge­kommen diese animalischen Beziehungen der Menschen - hinzutreten die geistigen, wird erst Sozialismus möglich sein. Sozialismus unter den heutigen sozialen Voraussetzungen, die antisozial sind, ist davon abhängig, daß die Menschen Geistigkeit, Seelisches in sich aufnehmen, einander verstehen können über die Sprache hin. Anders ist es un­möglich, zu einem wirklichen Sozialismus zu kommen. Man kann ihn anstreben, man kann von ihm reden, aber man redet in bloßem Wort­geklingel von ihm. Und Wortgeklingel hört man ja heute auf dem Markte des politischen Lebens immer. Immer ist es so: wenn man heute einen Politiker irgendeiner Parteischattierung hört, dann hört man seine Worte, die man ja ungefähr selber ablaufen lassen könnte, man hört alte Parteiprogramme, längst bekannte, man braucht gar nicht zuzuhören, es erhebt sich aber aus seinem Innern heraus ein schauderhaftes Gespenst, eine schwarze Gestalt, die innerlich ganz

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hohl und leer ist, und die erfüllt sein will; erfüllt mit dem, was aus der Verwandlung der antisozialen Triebe hervorgehen kann durch die Entwickelung des sozialen Lebens, das aber in der Zukunft von Geist zu Geist abfließen muß, während die Sprache gerade in der Ver­gangenheit in vieler Beziehung dasjenige war, was die Menschen erst zu sozialen Wesen gemacht hat. Aus der Sprache und aus dem, was durch die Sprache als Zusammenhang der Menschen zustandegebracht worden ist, gingen die patriarchalischen und sonstigen sozialen Zu­sammenhänge hervor. Jetzt, wo die Sprache abstirbt, muß eine innere Geistigkeit an die Stelle desjenigen treten, was die Substanz der Sprache war. Das ist die Bedingung eines wirklichen Fortschrittes.

Aber an solche Dinge wollen sich die Leute, wie zum Beispiel Max Scheler und Johann Plenge, durchaus nicht heranmachen. Plenge ge­hörte auch zu denjenigen, die unseren Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt» empfangen haben, die ihn nicht unterschrieben haben unter der Motivierung, daß ihnen ja dieser Aufruf ganz gut gefalle, daß sie ihn aber zu unklar finden, und deshalb ihren Namen nicht darunter setzen können. Ich begreife das vollständig, denn die ganze Geistes organisation eines solchen Mannes wie Plenge ist so, daß er sich nur an die Worte und an das Wortgefüge halten kann, daß er durch die besondere Art der Worte und des Wortgefüges nicht ahnt, daß ein neuer Geist dahintersteckt. Daher nimmt er gar nichts von dem wahr, was eigentlich durch diesen Aufruf gesagt werden soll. Weil man ja natürlich die Worte nicht so setzen kann und die Sätze nicht so formen kann, wie es die Menschheit gewöhnt ist durch die heutige Zeitungspest und durch die wissenschaftliche Pest, so kommen den Leuten dann diese geformten Worte und geformten Satzfügungen ab­sonderlich vor. Und sie finden außer dem, daß sie den Geist nicht fin­den, auch noch die Sprache unklar. Ich begreife beides vollständig, denn es ist erst etwas zu überwinden - was ich durch den heutigen Vortrag charakterisieren wollte -, wenn das wirklich verstanden wer­den soll, was gewissermaßen in einer neuen Sprache gesagt werden soll.

Das ist etwas, was überhaupt heute in die Kultur, in die Geistes-kultur der Menschheit hineindringen soll, auch auf anderen Gebieten.

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Wenn Sie mal nach Dornach zu unserem Bau kommen, der umfassen soll unsere geisteswissenschaftliche Hochschule, dann werden Sie alles anders behandelt finden, als die bisherige Kunst die Dinge behandelt hat. Schon die Wände selber finden Sie dort anders behandelt. Was be­deutet eine Wand im Grunde in aller bisherigen Kunst, in aller Archi­tektur? Eine Wand bedeutet einen Abschluß. Man war in etwas drin­nen, was durch die Wände abgeschlossen ist, und das mußte auch durch die künstlerischen Motive, durch die künstlerischen Formen zum Ausdruck kommen. Man mußte sich in etwas drinnen fühlen. In Dornach wird mit dieser Tradition, die eine tausendjährige ist, ge­brochen. Die Wände sind - natürlich, künstlerisch muß das genom­men werden - nicht so, daß man sich abgeschlossen fühlt, sondern es ist alles so geformt, alles künstlerisch so gebildet, daß die Wand geistig­seelisch durchsichtig wird, daß man innerlich die Empfindung hat: sie hört auf zu sein, diese Wand. Durch jede Windung wird die Seele in eine solche Stimmung versetzt, daß sie die Wände seelisch durchsich­tig empfindet. Das ist bis zum Physischen in den Fenstern getrieben. Für die Fenster habe ich das Prinzip ersonnen, Glasradierungen zu machen, das heißt einfarbige Glasscheiben werden so behandelt, daß sie ausgekratzt werden mit dem Diamantstift, und sie sind dann erst ein Kunstwerk, wenn die äußere Sonne durchscheint, wenn Verbin­dung geschaffen ist durch die äußere Welt. Erst das Durchglänzen der Sonne macht das Ausgekratzte zum Kunstwerk. So ist aber auch das Künstlerische in der Formung gehalten: Wände, die sich vernichten, daß man drinnen sitzt nicht wie in einem geschlossenen Raume, son­dern wie wenn man als Mikrokosmos mit dem Makrokosmos in un­mittelbarer Verbindung stände, wie wenn man mit dem ganzen Welt­all in einer innigen Verbindung stände. - Das muß gesucht werden auf allen Gebieten des Daseins. Daß man abstrakt davon spricht, daß die sinnliche Welt eine Maja sein soll, das tut es für die Zukunft nicht mehr. Die sinnliche Welt, wenn man ihr Dasein ableugnet, wird sich erst in ihrem Dasein recht bemerklich machen. Aber wenn man künst­lerisch überwindet dieses Dasein, durch die künstlerische Form selber, dann wird durch den Willen erreicht, was sonst durch die Anschauung, durch das Denken, durch die Abstraktion erreicht werden soll.

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Das kommt dann wiederum zu Hilfe dem, daß die Sprache etwas werden soll, was eigentlich geistig durchsichtig wird, worauf man nicht mehr hinhört, sondern durch das man durchhört, um die Ge­danken direkt zu hören. Die Sprache muß erst vertrocknen, wie sie es als englische Sprache tut, um durchhörbar zu werden, damit man auf die Gedanken direkt hört, damit jene Verbindung von Seele zu Seele auftritt, die in einer Art von Gedankeniesen besteht. Das werden die Engländer nicht machen können. Das wird die englische Kultur nicht machen können, die Kultur, aus der hervorgegangen ist, trotz seiner Größe, Shakespeare oder Newton oder Darwin. Die kann das allein nicht fertigbringen. Das kann nur fertiggebracht werden, wenn die mittel­europäische Kultur sich auf ihr besseres Element besinnt und in der Weltkultur mitwirkt zu diesem geistigen Empfinden von Mensch zu Mensch. Wir müssen gründlich brechen lernen mit dem, was wir als eine Schändung und Verleugnung unseres Selbstes in den letzten Jahr­zehnten ausgebildet haben. Wir müssen wiederum anknüpfen lernen an die Größe eines Lessing, Schiller, Goethe und so weiter und verstehen lernen, das «Deutsch» zu nennen, was wir in den letzten Jahrzehnten völlig vergessen haben, dem wir uns völlig entfremdet haben. Dann werden wir unseren Anteil zu der Entwickelung der Weltkultur bei­tragen können. Und wir müssen vor allen Dingen lernen, nicht Träu­mer zu sein und uns nicht Illusionen hinzugeben, sondern die Wirk­lichkeit anzuschauen, wie sie eben ist. Das ist dasjenige, was heute am dringendsten notwendig ist. Wir müssen lernen, den Leuten genauer auf die Finger zu schauen, und sie von einem gewissen geistigen Stand­punkte aus zu beurteilen. Wir müssen den Mut haben zu sagen: Wenn über die Angelegenheiten der Gegenwart zwei solche Menschen einan­der gegenüberstehen wie Scheler und Plenge, dann redet der eine, also der Scheler, luziferisch aus den Dingen heraus, aus Impulsen, die er sich befruchten läßt durch ein katholisierendes Christentum. Da redet Ahriman mit Luzifer, da redet nicht der Mensch dazwischen. Dieser Mensch dazwischen muß erst wiederum gefunden werden. Aber wir müssen den Mut haben, den Menschen so auf die Finger zu schauen. Die Menschen gehen ja heute aneinander vorbei, ohne daß sie sich wirklich kennenlernen. Sie schauen sich obenhin an und bilden sich

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Urteile von anderen, die ihnen eben bequem sind; sie bilden sich nicht dasjenige Urteil, das wirklich wahr ist.

Das ist es, meine lieben Freunde, was damit zusammenhängt, daß ich sage: Wir müssen aufhören, uns Illusionen hinzugeben. Wir müs­sen den Mut zur Wahrheit in einer Weise entwickeln, die für viele Menschen der Gegenwart noch unerhört ist.

Mit diesem Wollen müssen wir drinnenstehen zwischen West und Ost, und wir müssen auch den Mut haben, die Dinge im Osten so zu beurteilen, daß wir uns sagen: Das, was hier oftmals erwähnt worden ist als dasjenige Volkselement, das im Osten wie ein Keim liegt, der in die Zukunft hinein sich entwickeln will, das wird gegenwärtig übertönt von einem anti-russischen, man könnte sogar sagen, anti-menschlichen Element. Denn in dem, was sich in Rußland entwickelt, entwickelt sich die äußerste Konsequenz des menschen- und geist­tötenden logischen Denkens, das nichts mehr produktiv hervorbringen kann, das nur Raubbau treiben kann mit dem Alten. Es erscheint wirk­lich wie eine gewaltige Tragik, wie eine bittere Tragik, wenn man überschaut, was im russischen Osten in der Kultur in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hervortrat und was seine höch­ste Höhe erreichte in dem außerordentlichen Geist - wenn er auch für den Westen wenig verständlich ist -, in dem für Rußland außerordent­lichen Geist Solowjow. In Solowjow wird gewissermaßen alles das, was in Rußland zukunftträchtig ist, philosophisch zusammengefaßt. Man hat ja in Mitteleuropa wenig sich mit Solowjow befaßt. Ein Universitäts­professor der Philosophie, der eine große Berühmtheit hat, kam eines Tages darauf, daß es einen Solowjow gibt und daß das auch Gedanken der Gegenwart sind, mit denen er sich befassen sollte. Aber da hatte er nicht den inneren Antrieb, sich selbst mit der Sache direkt zu befassen, da sagte er einem seiner Schüler: Sie wollen Doktor werden, machen Sie mir eine Doktor-Dissertation über Solowjow, dann werde ich zu gleicher Zeit mit Ihnen mich unterrichten können über diesen Solo­wjow. - Das war überhaupt in der letzten Zeit mehr oder weniger die Methode geworden, durch die Universitätsprofessoren sich das ihnen Unbekannte in der geistigen Produktion angeeignet haben. Der Uni­versitätsprofessor, von dem ich Ihnen spreche, ist nicht nur ein Universitätsprofessor,

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sondern eine berühmte philosophische Größe der un­mittelbar abgelaufenen Gegenwart.

Es steckt in diesem Osten etwas, was sich wiederum hinausarbeiten wird über den zerstörenden Leninismus hin. Aber dazu ist notwendig, daß man auch das dritte Element, das wirkliche soziale Streben der Gegenwart in seiner vergeistigten Gestalt verstehen lernt, daß man es durchdringen lernt mit wirklicher Geisteswissenschaft. Dann wird einem die tragisch-bittere Erscheinung, die in Solowjow auftritt, zum Bewußtsein kommen. Dann wird man sich sagen: Auf der einen Seite ein Solowjow, heraus sich entwickelnd aus diesem europäischen Osten, voll neubildender, befruchtender Geisteskeime, die im Osten aufgehen können, die uns hier in Mitteleuropa nur nicht ganz verständlich sein können; und dann, hinwegfegend über diese Erscheinung, die Welt­ktiegskatastrophe, hintragend, im plombierten Wagen sogar, durch Deutschland hintragend nach dem Osten den Henker des Geistes­lebens, Lenin. Und die große Täuschung in Mitteleuropa bei vielen, daß die Dinge nicht so ernst genommen zu werden brauchen!

Wie Kometen tauchten auf die Solowjow-Schüler, als die russische Revolution ihren Anfang nahm. Eine Erneuerung wünschten sie des dumpfen, dämmerhaften, gelähmten Geisteslebens, über das hinge­zogen war wie die Seelennacht selber, wie der geistige Tod, die Er-tötung der Seele mit all ihren Verhältnissen. Und eine Befreiung woll­ten die Leute, die, wie es scheint, richtige Schüler waren des Solowjow:

Kartachow, Samarin. Sie wollten aus den ersten funkelnden Strahlen der Revolution eine geistige Bewegung in Rußland entfachen. An die Stelle trat dasjenige, was jetzt wie ein wüstes Austilgen alles Geistes erscheint in Lenin, diesem Totengräber alles geistigen Lebens, wo alles verleugnet wird, was in der großen Gestalt des Solowjow vor die Menschheit des Ostens sich hingestellt hat. Und um diese Zentral-erscheinung rundherum die proletarischen Volksmassen, verführt durch diejenigen, denen sie anhängen als ihren Führern. Eine unend­lich traurige Erscheinung, die ihre Traurigkeit nur dann verliert, wenn ein Wollen sich aufrafft, die Wahrheit zu schauen in den verwirrenden Tatsachen der Gegenwart. Ein innerliches Wollen, das nicht bloß schimpfen will über das, was in der verirrenden Gegenwart auftritt,

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sondern das auch die Wahrheit sehen will und erkennen will, was in den berechtigten proletarischen Forderungen über die ganze zivili­sierte Welt hin auftritt. Aber man muß in der Gegenwart, wenn man sie klar und nicht illusionistisch sehen will, auseinanderhalten können, was tief berechtigt, aber unbewußt, aus den breiten Massen des Prole­tariats hervortritt als dem Gedanken nach noch ungeborene Zu­kunftskeime, und dasjenige, was Instinkt ist, weil es der letzte ver­faulende Rest ist einer niedergehenden Kultur. Das ist es, was aus den Köpfen der Führer des Proletariats heute sehr häufig an die Oberfläche dunstet. Unsere Zeit hat einmal das Schicksal, daß Blühendstes neben Verstunkenstem sich hinstellt. Das ist das Schicksal derjenigen Zeiten, in denen ein Aufsteigendes sich neben einem Niedergehenden geltend machen will. Dann tritt das Niedergehende oftmals in der Form des Aufsteigenden, in der Maske des Aufsteigenden auf. Dann muß genau hingeschaut werden. Dann muß in Lenin gesehen werden der frühere Zar, der in einer anderen Maske auftritt, dieselbe Denkweise, die im früheren Zaren war, nur mit den anderen, toten, für das, was sie aus­drücken, unbrauchbaren Worten. Es muß die Metamorphose des Zarentums in den Leninismus hinein im russischen Osten der Gegen­wart geschaut werden. Es muß anerkannt werden, daß dasjenige, was äußerlich auftritt, innerlich das Gegenteil dieses äußerlich Auftreten­den sein kann. So schwierig sind die Verhältnisse der Gegenwart zu durchschauen. Das, was geschieht, ist so, wie wenn mir ein Mensch entgegentreten würde mit lächelndem Angesicht, mit banal lieblich tuenden Augen, mit Mienen, die mich berücken wollten, und ich wäre genötigt, ihm zu sagen: Trotz deiner Maske, trotz deiner funkelnden Augen, deines liebevollen Lächelns, bist du ein Teufel!

Das wird von den Menschen der Gegenwart gefordert: die Wahr­heit aufzusuchen unter den schwierigsten Verhältnissen. Das aber be­zeugt, daß diese Gegenwart es notwendig hat, alle Bequemlichkeiten des Denkens und Empfindens abzulegen und es sich sauer werden zu lassen, zur Wahrheit vorzudringen. Weggefegt werden muß alles das­jenige, was heute sich ausdrückt in den Worten: Kindliches Bekennt­nis, bloßes naives Hinnehmen der Bibel, das führt dich zur Seligkeit. -Das ist keine Seligkeit, zu der das führt, das ist nur, dem wüstesten

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Egoismus der Seele frönen. Alles, was heute aus dieser Gesinnung herausquillt, muß beachtet, muß angeschaut werden. Und wenn statt eines mutigen wirklichen Eindringens in das, was der heutigen Zeit notwendig ist, tantenhaftes Auffassen von Beziehungen det anthropo­sophisch orientierten Geisteswissenschaft zu dem dreigliederigen so­zialen Organismus auftritt, dann darf man nicht froh sein, weil dieses tantenhafte Auffassen scheinbar äußerlich butterig und wohlwollend ist, dann darf man nicht glauben, daß man es nicht abweisen könnte. Sondern man muß das Tantenhafte tantenhaft nennen und muß wis­sen, daß heute dieses Tantenhafte das Zerstörende ist, daß dieses Tantenhafte dasjenige ist, was den Bolschewismus, den es abweisen will, erzeugt. Die Heilung kann nur bestehen in dem mannhaften, un­tantigen Eintreten in strenge Geisteswelt. Das ist es, was heute sich auf unsere Seele legen muß, was ein Element, ein Ferment unseres Seelenlebens werden muß. Vermag es das nicht, dann kommt die Menschheit nicht vorwärts. Wenn man beschließt, in den alten Ge­danken- und Empfindungsbahnen weiterzufahren, beschließt man den Niedergang. Bequem ist es von innen, höchst unbequem von außen wird es werden. Oder aber man rafft sich auf durch starke innere Kraft zur Erfassung des Geistes, dann wird das, was absterben soll, vom Geiste erfaßt werden, und der Geist wird es umwandeln in eine neue europäische Zivilisation, wie er alles, was abstirbt, zu neuem Leben aufruft. Der Geist wird ein neues Leben erzeugen, und wir werden wiederum haben dasjenige, was eine aufsteigende Strömung des Men­schen in ein Geistesleben ist.

VIERZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 20. Juli 1919

#G192-1964-SE299 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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VIERZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 20. Juli 1919

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Weil es wahrscheinlich die Verhältnisse ergeben werden, daß in den nächsten Wochen hier im Zweige keine Vorträge stattfinden, so werde ich heute etwas Zusammenfassendes zu geben haben. Etwas Zu­sammenfassendes, das hinweisen wird auf gewisse Zeitverhältnisse, deren Beobachtung es möglich macht, einen genaueren Einblick in die Aufgaben der gegenwärtigen Zeit zu bekommen. Und ein solcher Einblick in die Aufgaben der gegenwärtigen Zeit ist ja, wie aus ver­schiedenem hervorgeht, das ich gerade hier besprochen habe, heute in der allerintensivsten Weise notwendig.

Der Mensch, namentlich Mitteleuropas, ist eigentlich heute so ge­stimmt, daß er Erkenntnisse der geistigen Welt entweder fürchtet oder verachtet. Beides ist ja innerlich verwandt. Aber gerade diese Furcht vor der geistigen Welt und diese Verachtung des Erkennens der gei­stigen Welt, sie hängen mit der außerordentlich schwierigen Lage zu­sammen, in die Mitteleuropa gekommen ist, und in der es ja weiter sein wird.

Auf mancherlei, das ich zusammenfassend heute besprechen möchte, ist ja von mir an diesem Orte im Laufe der Jahre, und auch in diesen Wochen bereits hingedeutet worden. Sie werden aus den Betrach­tungen, die hier angestellt worden sind, entnommen haben, daß im Westen, bei den Völkern der lateinischen und der anglo-amerikani­schen Rasse, in alles dasjenige, was diese Völker im weitesten Sinne politisch unternehmen, übersinnliche Erkenntnisse hineinspielen. Der­jenige gibt sich großen Illusionen hin, der da glaubt, daß zum Beispiel die anglo-amerikanische Politik nicht abhängig sei von gewissen über­sinnlichen Erkenntnissen über die Entwickelung der Menschheit. Und ebenso spielen übersinnliche Erkenntnisse in alles dasjenige hinein, was im Osten bei den Völkern Asiens und bis herein nach Rußland erstrebt wird. Dabei muß man allerdings ausnehmen von dem, was hier als Erstrebtes in Rußland gemeint ist, alles das, was sich auf das gegenwärtige russische Regime bezieht. Das ist allerdings aller übersinnlichen

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Erkenntnis fremd und fern. Diese Verhältnisse zeigen, daß wir in Mitteleuropa gewissermaßen eingeklemmt sind in Welten­gestaltungen, die durchaus bestimmt sind von übersinnlichen Er­kenntnissen, die oftmals für die heutige Zeit nicht einwandfreier Natur sind. Wir haben ja von diesen Dingen gesprochen. Und es ist auch auf­merksam darauf gemacht worden, daß das nicht sein darf, daß man sich ferner in Mitteleuropa in einer gewissen halsstarrigen Weise gegenüber wirklichen übersinnlichen Anschauungen verschließt. Denn dieses Verschließen gegenüber übersinnlichen Anschauungen würde dieses arme Mitteleuropa immer mehr und mehr in die Not und in das Elend, in die Verwirrung und in das Chaos hineintreiben.

Es mag ja gegenwärtig einer Zeitnote bei allen Parteiungen links und rechts entsprechen, alles Übersinnliche wie etwas Kindisches in der Menschheitsentwickelung zu betrachten. Die Völker Mitteleuro­pas würden schwer, schwer zu leiden haben, wenn sie weiterhin sich der übersinnlichen Erkenntnis verschließen wollten, denn sie würden einfach von dem, was von übersinnlicher Erkenntnis im Westen und im Osten durchtränkt ist, zusammengeschnürt werden. Es ist wichtig, auch darauf hinzuweisen, daß in weitesten Kreisen heute das Vertrauen zu denjenigen, die übersinnliche Erkenntnisse haben, geschwunden ist, daß dieses Vertrauen ausgemerzt werden soll durch die bloße An­betung dessen, was man ohne übersinnliches Schauen als Erkenntnis aufbringen kann. Und es ist auf der anderen Seite auch richtig, daß keine Zeit mehr als gerade die unsrige die intensivste Pflege des Ver­trauens nötig hat zu denjenigen, die von solchen übersinnlichen Er­kenntnissen etwas mitteilen können. So befinden wir uns gewisser­maßen in Mitteleuropa in der Lage, daß wir etwas am intensivsten notwendig haben, was wir auch am intensivsten ablehnen möchten. Dieser Tatsache muß unbefangen ins Auge geschaut werden. Gefragt muß zum Beispiel werden: Woher hat denn die anglo-amerikanische Welt diese Einblicke in den Gang der Menschheitsentwickelung, die uns in Mitteleuropa so verderblich geworden sind? Und gefragt muß werden: Welches sind denn die Quellen, aus denen die östlichen Völ­ker, namentlich die östlichen Völker Asiens, in der Zukunft dasjenige werden gewinnen können, was geeignet sein wird, uns in Europa die

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Kehle zuzuschnüren? - Nur eine klare Einsicht in diese Dinge kann wirklich von Heil sein.

Wenn man verfolgt, was selbst bei sogenannten ganz aufklärerischen Geschichtsschreibern und Politikern Englands und Amerikas als Weltideen verbreitet wird, so wird man finden, daß selbst bei diesen aufklärerischen Leuten in ihre Ideen überall etwas hineinspielt, was irgendwie von übersinnlichen Erkenntnissen über den Gang der Welt beeinflußt ist. Das gewinnt man innerhalb der anglo-amerikanischen Welt durchaus, seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts insbeson­dere, auf eine Art medialem Wege. Den Weg, der hier zum Beispiel vorgeschlagen worden ist in meinem Buche «Wie erlangt man Er­kenntnisse der höheren Welten?», der der gerade Weg aus der Ent­wickelung der menschlichen Seelenkräfte heraus ist, diesen Weg liebt man in der westlichen Welt nicht. Man macht das in der westlichen Welt so, daß man gewisse Menschen aufsucht, die man zu einer Er­kundigung über die geistige Welt für besonders geeignet hält, Men­schen, die mehr oder weniger mediale Anlagen haben. Diejenigen, die das nicht glauben, was ich jetzt auseinandersetzen werde, die, bezie­hungsweise die nachfolgenden Generationen, werden diesen Un­glauben schwer zu büßen haben. Mediale Persönlichkeiten sucht man sich aus. Diese medialen Persönlichkeiten werden in andere Bewußt­seinszustände, in tranceartige Bewußtseinszustände gebracht, und wenn man die entsprechenden Machinationen kennt, durch welche, nach der Stillegung des äußeren Verstandes, aus solchen medialen Per­sönlichkeiten das sich offenbart, was sie im Unterbewußtsein in sich tragen, dann bekommt man eben dasjenige heraus, was im Unter­bewußtsein dieser Persönlichkeiten ruhte. Und aus solchen medialen Persönlichkeiten heraus hat man insbesondere im Laufe des neunzehn­ten Jahrhunderts in der anglo-amerikanischen Welt die Prinzipien er­fahren, durch die man politisch gegen Europa und gegen Asien die Erfolge hat erringen können, die man errungen hat. Man hat einfach Persönlichkeiten, die dazu geeignet waren, in eine gewisse Trance ge­bracht, und dann haben sie aus dieser Trance heraus die Aufgaben für die anglo-amerikanische Welt entwickelt. Die Menschen der anglo­amerikanischen Welt sind viel zu gescheit, um es so zu machen wie

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die Mitteleuropäer, die einfach nicht glauben, was auf diese Weise aus Untergründen des Daseins heraus geoffenbart wird. Mit diesem Nicht-glauben verschließt man sich gegen alle diejenigen Impulse, die einem helfen können zum Vorwärtskommen in der wirklichen Menschheits­bewegung.

Nun ist der Weg, den ich hier angedeutet habe, und der in dem Er­fahren übersinnlicher Entwickelungsimpulse der Menschheit durch Medien besteht, es ist dieser Weg ein außerordentlich bedenklicher. Denn selbstverständlich walten in den Körpern aller derjenigen, die da herausgesucht werden aus der anglo-amerikanischen Bevölkerung, die Instinkte der anglo-amerikanischen Rasse. Und es kommen die kulturpolitischen Impulse, die auf eine solche Weise gewonnen wer­den, so heraus, daß sie gefärbt, durchmischt sind mit dem, was der Egoismus der anglo-amerikanischen Rasse ist. Dadurch gerade sind dann diese Impulse wirksam im egoistischen Dienste der anglo-ameri­kanischen Rasse. Und wer durchschauen kann, was auf diesem Gebiet zu durchschauen ist, der weiß, daß die Erfolge der anglo-amerika­nischen Rasse gegen Mitteleuropa errungen worden sind mit Hilfe dessen, was der Okkultismus der westlichen Welt auf die Art aus geistigen Untergründen heraufgebracht hat, die ich eben jetzt an­gedeutet habe. Die Methode, die dabei befolgt wird, ist ja leicht zu durchschauen. Sie brauchen sich nur zu erinnern an das, was vor acht Tagen hier gesagt worden ist. Sie brauchen sich nur daran zu er­innern, daß der gewöhnliche logische Verstand, wie er von uns an­gewendet wird in der äußeren sinnlichen Beobachtung und zur Her-stellung der äußeren sinnlichen Wissenschaft, daß dieser Verstand die wirklich übersinnliche Erkenntnis auslöscht. Denn dieser gewöhn­liche logische Verstand ist ja gerade gebunden, im eminentesten Sinne gebunden, an das Werkzeug der physischen Leiblichkeit. Sobald Sie sich hinaufentwickein zu denjenigen Erkenntniskräften, von denen in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» die Rede ist, sind Sie mit diesen Ihren Erkenntniskräften nicht mehr angewiesen auf das Werkzeug des physischen Leibes. Sobald Sie sich bloß jener Logik bedienen, an die man im heutigen, alltäglichen Leben gewöhnt ist, jener Logik, an die man sich gewöhnt hat infolge der

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äußeren Naturwissenschaft von heute, sind Sie in die Unmöglichkeit versetzt, dasjenige kennenzulernen, was eigentlich sozial und geistig in der Menschheitsentwickelung waltet. Daher suchen sich die dieser Tatsache wohl kundigen Leute der anglo-amerikanischen Welt ihre politischen Prinzipien mit Hilfe des Ausschlusses des gewöhnlichen logischen Verstandes. Denn, indem man geeignete Persönlichkeiten in Trance bringt, schaltet man den gewöhnlichen logischen Verstand aus. Das Medium redet aus den Untergründen seiner Seele heraus, ohne den Gebrauch des Verstandes. Und kleidet man dann dasjenige, was auf diese Weise gewonnen wird, in die Gedankenformen des ge­sunden Menschenverstandes ein, dann kann man es wohl begreifen, und man kann es dann weiter auch im praktischen Leben benützen. Das wird in der westlichen Welt für alles, was beobachtet wird in der Be­handlung der politischen und der Kulturtatsachen, mit Ausschaltung des gewöhnlichen Verstandes, auf medialem Wege gewonnen. Wich­tige Impulse für die Kulturpolitik der westlichen Welt sind einmal auf diese Weise gewonnen worden und sie haben gewirkt in den letzten Jahren.

Gerade in der umgekehrten Art werden die Dinge im Oriente, von den Asien bewohnenden Menschen und auch von gewissen Gliedern des russischen Volkstums des europäischen Ostens gemacht. Sehen Sie, ich glaube nicht, daß es dazu gekommen wäre, die Ideen der Dreigliede­rung des sozialen Organismus in richtiger Art zu erhalten, wenn nicht vorangegangen wäre durch mich die Erforschung des menschlichen Organismus selber, jene Erforschung des menschlichen Organismus, von der ich, andeutungsweise wenigstens, in meinem Buche «Von Seelenrätseln» gesprochen habe. Da habe ich gezeigt, wie der gewöhn­liche menschliche natürliche Organismus ein dreigliedriger ist, wie dieser menschliche natürliche Organismus dreigegliedert ist in einen Nerven- und Sinnesorganismus, in einen rhythmischen Organismus und in einen Stoffwechselorganismus. Diese drei Glieder des natür­lichen menschlichen Organismus zu erkennen, das ist von einer un­geheuern Wichtigkeit für das gegenwärtige Denken der Menschheit. Und durch dasjenige Erkennen, das man bei dieser Anschauung des dreigliedrigen natürlichen Organismus des Menschen betätigt, durch

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das kommt man auch dazu, den sozialen Organismus richtig in seiner Dreigliedrigkeit zu erkennen. So wie man heute erforschen kann, daß der natürliche menschliche Organismus aus diesen drei Gliedern be­steht, aus dem Nerven- oder Sinnesorganismus, aus dem rhythmischen Organismus, der an die rhythmische Tätigkeit der Atmungs- und Herzorganisation gebunden ist, und aus dem Stoffwecbselorganismus, sowie man das heute erforschen kann, so wurde es in alten Zeiten nicht erforscht. Aber man hatte in alten Zeiten eine gewisse instinktive, atavistische Erkenntnis von diesen Dingen. Und der Orient, welcher besonders weit gekommen war in bezug auf die alte Art, in die über­sinnliche Welt hineinzuschauen und übersinnliche Erkenntnisse zu gewinnen, dieser Orient hat sich auch für heute noch immer die In­stinkte bewahrt, im Leben anzuwenden, was man aus solcher über-sinnlicher Erkenntnis gewinnen kann. Daher sucht der Orientale heute noch immer nach übersinnlichen Impulsen, gerade wie der Okziden-tale es tut; aber er sucht nach übersinnlichen Impulsen in einer ent­gegengesetzten Weise. Der Orientale versucht nicht, durch mediale Machinationen, wie der Bewohner der anglo-amerikanischen Welt, den Verstand auszuschalten, sondern im Gegenteil, er versucht den Verstand zu befruchten. Das heißt, er versucht den Nerven-Sinnes-menschen zu befruchten vom rhythmischen Menschen aus. Daher werden Sie im Oriente finden, daß denjenigen, die etwas Übersinn­liches erkennen wollen, vor allen Dingen eine Trainierung der menschlichen Atmungstätigkeit anempfohlen wird, eine Trainierung des ganzen rhythmischen Menschen. Die orientalischen Yoga-Übungen, welche diesen Leuten des Orients eine wirkliche Erkennt­nis vermitteln sollen, diese orientalischen Yoga-Übungen gehen dar­auf aus, den rhythmischen Menschen so zu trainieren, daß durch eine gewisse Art des Atmens, durch eine gewisse Technik der Herz-bewegungen Einfluß geübt wird auf den menschlichen Verstand, der sonst nur an das leibliche Werkzeug gebunden ist. Indem sich der Orientale gewissen Yoga-Übungen hingibt, hebt er das gewöhnliche rhythmische Atmen und die gewöhnliche Herztätigkeit aus ihrem natürlichen Gang heraus und versetzt sie in einen solchen Gang, daß sie Einfluß auf den Verstand gewinnen, der sonst nur auf die Sinnesweit

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hingerichtet wäre, und der durch diesen Einfluß gleichsam in sich infiltriert bekommt Erkenntnisse der übersinnlichen Welt. So hat auch der Orientale, auf dem entgegengesetzten Wege wie der Okzidentale, wirkliche Erkenntnisse der übersinnlichen Welt. Diese beiden Er­kenntniswege, sie geben auch wirkliche Erkenntnisse. Aber gerade so, wie der Amerikaner und der Engländer als Okkultisten, aus den Grün­den, die ich Ihnen angeführt habe, Erkenntnisse bekommen, die im volksegoistischen Sinne liegen, so bekommt der Orientale dadurch, daß er unmittelbar an den Leib, der von den Rassenimpulsen durch-glüht ist, herangeht mit seinen Yoga-Übungen, rassenegoistische Im­pulse. Zwischen die volksegoistischen Impulse des Westens und die rassenegoistischen Impulse des Ostens sind wir eben einmal ein­geklemmt. Aber es sind Erkenntnisse zu gewinnen auf diesem Wege. Und diejenigen, die im Westen und im Osten auf diesem Wege Er­kenntnisse gewinnen, die lachen einfach über die Europäer, welche glauben, auf dem Wege ihrer Wissenschaften oder ihrer sozialen Be­trachtungen wirkliche Erkenntnisse zu gewinnen. Das, was die Euro­päer faseln aus ihrer Naturwissenschaft heraus, aus ihrer sogenannten Kausalerkenntnis heraus, das, was sie dann hineinfaseln aus ihrer Denkweise in ihre soziale Wissenschaft und soziale Agitation, das betrachtet der westliche Mensch und der östliche Mensch eben als eine Faselei, was es im Grunde genommen gegenüber der wirklichen Erkenntnis auch ist. Denn dasjenige, was in unseren europäischen Wissenschaften und in unseren europäischen Agitationsimpulsen steckt, das ist gegenüber den wirklichen Kräften, welche die Mensch­heitsentwickelung leiten, eben durchaus eine bloße Faselei. Und des­halb, weil wir in einer bloßen Faselei leben, weil wir alles ablehnen, was aus der Wirklichkeit herausgegriffen ist, deshalb kommen wir in das Unglück hinein. Kaum merken die Menschen unbewußt, daß etwas aus der Wirklichkeit gegriffen ist, wie die Idee der Dreigliede­rung, flugs verleumden sie es als irgend etwas, was nicht bestehen darf. So lange aber, wie wir durch die Faselei - sei es die Faselei der Wissen­schaft oder sei es die Faselei der Parteien - alles, was Wirklichkeit ist, aus der Welt schaffen wollen, so lange werden wir nicht aus Chaos und Wirrnis herauskommen, sondern wir werden nur tiefer in Chaos und

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Wirrnis hineintreiben. Aber wir müssen auch uns vollständig klar darüber sein, daß weder der Weg des Westens noch der des Ostens der unsrige sein kann. Denn gerade hier in Mitteleuropa ist es nötig, daß der im eminentesten Sinne neuzeitliche Weg befolgt wird. Und der kann kein anderer sein als der, welcher bezeichnet ist in meinem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Worauf beruht im Gegensatz zum Westen und zum Osten dasjenige, was in diesem Buche vorgezeichnet ist? Um das zu verstehen, muß man aller­dings ein wenig hineinschauen in die Entwickelung der Menschheit. Man muß vor allen Dingen sich zu eigen gemacht haben eine große Zeitwahrheit, die darin besteht - was ich schon öfters auch hier er­wähnt habe -, daß in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ein Wendepunkt der neuzeitlichen Menschheit gelegen ist. Da beginnt ja nach unserer geisteswissenschaftlichen geschichtlichen Gliederung die fünfte nachatlantische Kulturentwickelung, die sich deutlich unter­scheidet von allem, was vorangegangen ist und was vom achten vor-christlichen Jahrhundert an bis zum fünfzehnten nachchristlichen Jahrhundert gedauert hat. Da beginnt das Bestreben der Menschheit, alle Erkenntnisse durch einen neuen Bewußtseinszustand zu erlangen. Dieses Ringen der Menschheit, sich auf die Spitze der Persönlichkeit zu stellen, die Bewußtseinsseele voll auszubilden, geht mit anderen Tatsachen, die ich schon erwähnt habe, parallel. Und auf keine andere Weise können wir eine übersinnliche Erkenntnis anstreben als da­durch, daß wir diese Tatsache voll berücksichtigen.

Die äußere Wissenschaft muß ja deshalb Faselei bleiben, weil sie nicht hineinschauen kann in den mit der Menschheitsentwickelung zusammenhängenden Gang der Erdenentwickelung. Das, wovon die äußere Naturwissenschaft redet, das sind ja wirklich nur die an die Oberfläche des Lebens treibenden Wellen. Diese äußere Naturwissen­schaft redet von dem, was im physikalischen Laboratorium erforscht wird, was durch Teleskop und Mikroskop beobachtet wird, sie redet von dem, was an der Leiche beobachtet wird, sie redet von allem, was tot in der Entwickelung ist. Sie redet nirgendwo von dem, was leben­dig in der Entwickelung ist. Denn es gibt kein Reagenzglas für irgend­ein Laboratorium, es gibt keine Reaktion chemischer Art, durch welche

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man feststellen könnte dasjenige, was einzig und allein festgestellt werden kann durch die übersinnliche Erfahrung des Menschen selbst. Der Mensch allein, der lebendige Mensch ist es, durch den die großen Geschehnisse erforscht werden können. Die großen Geschehnisse des Erdendaseins darf man nicht erforschen, indem man sich an die Re­torte im chemischen Laboratorium wendet. Die großen Geschehnisse des Erdendaseins, man muß sie dadurch erforschen, daß man sich an dasjenige Wesen wendet, wo die starken Reaktionen geschehen, an den Menschen selbst. Aber wenn man die Menschheitsentwickelung nur so vor sich hinstellt, wie sie heute ist, kommt man eben auf die wichtigsten Sachen nicht; man muß sie durch Jahrtausende anschauen, und das ist wirklich nur durch übersinnliche Erkenntnis möglich. Und wenn man sie durch diese übersinnliche Erkenntnis anschaut, findet man, daß in allem, was wir zum Beispiel heute Essen nennen, in alle­dem, was wir aufnehmen können an äußeren materiellen Stoffen zur Befriedigung unserer leiblichen Bedürfnisse, heute gar nicht mehr das­selbe lebt, was darin gelebt hat vor dem fünfzehnten Jahrhundert. So paradox und absurd und verrückt das für die Menschen der Gegenwart ist, die ja so wissenschaftlich sind nach ihrer Ansicht, welche Faseler sind nach unserer Ansicht, so paradox und unvernünftig das nach der Anschauung der Menschen dieser Gegenwart ist, es ist doch so, daB sich gewisse Kräfte fast aller Nahrungsmittel und fast all dessen, was wir zur Befriedigung unserer leiblichen Bedürfnisse aus der physischen Außenwelt entnehmen, geändert haben seit dem fünfzehnten Jahr­hundert. Vor dem fünfzehnten Jahrhundert waren in allem Stofflichen, gleichgültig, ob man es direkt der Natur entnahm, oder ob man es kochte, es waren in allem Stofflichen Kräfte vorhanden, die noch auf das Seelische wirkten. Indem der Mensch aß, bekam er aus dem Gei nossenen noch gewisse seelische Kräfte. So den Menschen mit seeli­schen Kräften durch das einfache Essen zu versorgen, das ist seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ganz verlorengegangen. Seitdem sind wir wirklich in ein Stadium der Erdenentwickelung eingetreten, wo wir von der Erde selbst und von dem, was sie leiblich, zur Befrie­digung unserer leiblichen Bedürfnisse gibt, nichts mehr haben können. Seit jener Zeit ist es so, daß nur physische Prozesse stattfinden in unserem

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Stoffwechsel, während vorher, indem wir verdaut haben, unser Stoffwechsel ebenso noch seelisch war, wie er heute - verzeihen Sie das harte Wort - zum Beispiel bei einer Kuh oder bei einer Schlange ist. Es wird Sie überraschen, daß ich gerade das sage. Aber mit Bezug auf den äußeren Stoffwechsel ist die Kuh, wenn sie verdaut, ein seell­scheres Wesen als der Mensch, und die Schlange ebenso. Wenn Sie die Kuh so liegen oder stehen sehen, nachdem sie gefressen hat, oder wenn Sie die Schlange verdauen sehen, da lebt etwas im Astralorganis­mus dieser Kuh oder dieser Schlange, was bei dem Menschen in frühe­ren Zeiten, wo er auf Animalisches mehr eingestellt war, auch lebte, was heute aber nicht mehr lebt beim Menschen. Wir sind nach dieser Seite hin von der Natur so entbunden, daß sie nicht mehr in derselben Weise wirkt wie ehemals. Sie können es überraschend finden, daß für uns gerade die Nahrung die seelische Wirkung verloren habe und für die Kuh nicht; aber das ist einmal so. Ausdrücke bedeuten immer anderes bei anderen Wesen. Gerade für den Menschen, weil er anders organisiert ist, bedeutet die Nahrung etwas anderes als für die Kuh oder für die Schlange, was die Materialisten ja nicht glauben. Gerade für den Menschen, weil er anders organisiert ist als die Kuh, ist die Sache so, wie ich es eben auseinandergesetzt habe. Daher müssen wir heute mit dieser mehr physischen Art unseres Stoffwechsels gegenüber der früheren rechnen. Aber wir müssen dafür auch rechnen lernen mit all demjenigen, was sich nach der anderen Seite hin verändert hat.

Sehen Sie, würden wir unser ganzes Leben hindurch immer wachen, wir wären die dümmsten Kerle, die es nur geben kann, gegen­über der übersinnlichen Welt, denn wir würden unsern Verstand immer nur gebrauchen durch das Werkzeug des gewöhnlichen Phy­sisch-Leiblichen. Das heißt, es würde uns alle übersinnliche Einsicht schwinden müssen. Es ist unser Glück, daß wir jedesmal beim Ein­schlafen unsern Verstand herausziehen aus dem physischen Gehirn und dann den der übersinnlichen Welt haben. Nur wollen wir heute unser Bewußtsein noch nicht dazu entwickeln, diese Erkenntnis der übersinnlichen Welt, die wir unbewußt im Schlafe erringen, auch hin­einzubringen in die physische Organisation. Das müssen wir aber, dann werden wir andere Menschen werden, als wir jetzt sind. Es ist

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in der Tat so: während in unserer Verdauungs-Tagestätigkeit wir immer physischer werden in unseren Prozessen, werden wir während unserer Schlafenszeit schon immer spiritueller, immer geistiger. Und es handelt sich nur darum, hereinzubringen dasjenige, was wir an geistigen Erfahrungen ansammeln vom Einschlafen bis zum Auf­wachen. Das bringen wir dadurch herein, daß wir nun nicht es so machen wie der Orientale, daß wir also nicht gewissermaßen vom Atmungsprozeß aus unseren Verstand infiltrieren, sondern dadurch, daß wir uns rein geistig-seelisch so behandeln, wie das eben in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben wird, daß in diesem veränderten äußeren Leben - das dadurch für uns ein­tritt, daß wir uns in diesem Sinne behandeln - alles das in uns herein­kommen kann, was der Verstand ansammelt in der übersinnlichen Welt vom Einschlafen bis zum Aufwachen.

Ich habe schon vorher erwähnt: Auf die Weise, wie es heute viele Menschen machen, bekommt man allerdings den Einfluß der über­sinnlichen Welt nicht herein: sie trinken abends so viel Bier, daß sie die nötige Bettschwere haben. Ja, da gelingt es einem allerdings nicht, vom Einschlafen bis zum Aufwachen in der übersinnlichen Welt so zu verweilen, daß dann dieses übersinnlich Erfahrene auch wirklich her­ein kann. Sondern wir müssen diesen Leib, der ja ohnedies seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts anders ist, als er früher war, so behandeln, gleichsam von der Seele aus behandeln, wie es im Sinne des Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist. Dann bekommen wir zuerst übersinnliche Gesinnung, und dann auch übersinnliches Wissen.

Was hier empfohlen wird als mitteleuropäischer Aufstieg in die übersinnliche Welt, das unterscheidet sich ganz wesentlich von dem Aufstieg der Okzidentalen, von dem Aufstieg der Orientalen. Das, was hier empfohlen wird, ist ein Ausbilden dessen, was einfach die menschliche Entwickelung seit dem fünfzehnten Jahrhundert fordert. Das, was im Westen getrieben wird, beruht nur auf dem, was man beobachtet hat auf den Wegen der Erfahrung, die man mit den In­dianern hat machen können. Diese Indianer, die man ausgerottet hat bei der Eroberung von Amerika, sie waren ja nach der Ansicht der

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Europäer recht unkultivierte Menschen. Ja, äußerlich waren sie auch recht unkultivierte Menschen. Aber das Eigentümliche war, daß diese amerikanischen Indianer, die man ausrottete, ein ganz intensives über-sinnliches Wissen hatten, und daß sie dieses übersinnliche Wissen durch solche Methoden gewannen, die dann die Anglo-Amerikaner von diesen Indianern gelernt und in einer etwas kultivierteren, aber dadurch auch dekadenteren Weise gepflegt haben. Dem liegt nament­lich ein sehr bedeutsamer Prozeß in der Erdenentwickelung zugrunde.

Sie wissen ja, die Geschichte erzählt einseitig, wie die Dinge in der Kulturentwickelung hergegangen sind. Die Geschichte erzählt von allerlei Kulturwanderungen von Asien herüber nach Europa über Griechenland, Rom und so weiter. Aber sie erzählt nicht, daß noch eine andere Kulturwanderung stattgefunden hat, jetzt nicht auf dem Wege von Asien hinüber nach Europa, sondern von Asien über den Stillen Ozean hinüber nach unserem heutigen Westen, nach Amerika, auf den Wegen, die in alten Zeiten eben durchaus möglich waren. Das­jenige, was im Osten an Geistigkeit errungen worden ist, das ist ge­rade nach Amerika gebracht worden. Und Sie wissen ja - wenigstens diejenigen, die damals da waren, als ich vor vielleicht einem Jahr hier davon gesprochen habe -, daß auch die ganze äußere Geschichte von der sogenannten Entdeckung Amerikas und von den großen mensch­lichen Entwickelungsprinzipien Wischiwaschi ist. Denn ich habe dazumal gesagt: Noch bis zum zwölften Jahrhundert hat man in Eu­ropa ganz gut gewußt, daß im Westen ein Amerika ist. Es ist nur ver­gessen worden. Es ist zugedeckt worden das Wissen, und das Ent­decken Amerikas ist nur ein Nachentdecken, ein Wiederentdecken desjenigen, was man früher ganz gut gewußt hat. Zerrissen wurde zu­erst der Zusammenhang zwischen dem europäischen und amerikani­schen Wesen, dann hat man diesen Zusammenhang wieder entdeckt. Aber man hat ihn so entdeckt, daß man die damaligen Amerikaner, die amerikanischen Indianer massakriert hat. Diese Art von Kultur-ausdehnung, das war die erste Etappe auf dem Wege, auf dem wir dann nach und nach weitergegangen sind. Ja, es ist in der Tat so, daß, als die Europäer nach Amerika gekommen sind, sie bei den Indianern wohl eine äußere Schmutzkultur in der materiellen Welt gefunden

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haben, daß sie aber auch gefunden haben ein hohes spirituelles Leben bei diesen sogenannten wilden Menschen, denen sie den Garaus ge­macht haben. Und diese wilden Menschen haben bei jeder Gelegen­heit gesprochen von dem großen Geiste, der in allen Einzelheiten ihres Lebens bei ihnen lebte. Es war für diejenigen Europäer, die etwas davon verstehen konnten, zuweilen ein großes Erlebnis, gerade die Art und Weise kennenzulernen, wie diese amerikanischen Indianer von dem großen Geiste redeten. Wodurch hatten sich im Laufe der Erden-entwickelung gerade diese äußerlich herabgekommenen Indianer die Möglichkeit bewahrt, zu diesem großen Geiste, der die Welt durch­wellt und durchwebt, aufzuschauen? Dadurch hatten sie sich die Mög­lichkeit bewahrt, daß sie gerade äußerlich-physisch in einer gewissen Weise herabgekommen waren. Sie waren äußerlich-physisch ver­knöchert. Dadurch war ihnen geblieben, wie eine gewaltige Erinne­rung, das Wissen von dem großen Geiste, das ihnen von Osten, von unserem Osten, aber auf dem anderen, dem entgegengesetzten Wege durch den Stillen Ozean, zugekommen war. Das hatten sie sich be­wahrt. Sie hatten sich abgegliedert von der Seelenerkenntnis und leib­lichen Erkenntnis die geistige Erkenntnis. Sie lebten gewissermaßen ganz aufgehend im Geiste.

Die Europäer hatten eine heillose Furcht vor dem, was da als Kunde über den Geist von seiten der nordamerikanischen Indianer zutage trat. Die Europäer hatten ja auch schon früher dafür gesorgt, daß diese Furcht vor dem Geiste nicht ausgetrieben werde. Ich habe Ihnen öfters jenes denkwürdige Konzil von Konstantinopel im Jahre 869 erwähnt, auf dem die katholische Kirche den Glauben an den Geist abgeschafft hat, auf dem die katholische Kirche dekretiert hat, daß man künftig nicht glauben dürfe an Leib, Seele und Geist, sondern daß man nur glauben dürfe an Leib und Seele. Und diese Abschaffung der Erkennt­nis des Geistes, sie hat alles dasjenige bewirkt, was an wissenschaft­lichem und Erkenntnis-Chaos über Europa gekommen ist. Es war da­her kein Wunder, daß diese in der Furcht vor allem Geistigen er­wachsene europäische Menschheit noch heillosere Angst bekam, als sie nun den amerikanischen Indianern mit ihrer Kunde von dem großen Geiste gegenüberstand. Aber wie gesagt, das war nur der Anfang

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des Weges, auf dem wir fortgefahren sind. Wir haben nach und nach aus der großen europäischen Aufklärung heraus uns auch den Glauben an die Seele abgewöhnt, und wir glauben im heutigen Mate­rialismus nur noch an die Wirksamkeit des Leibes. Aber aus diesem Glauben, aus diesem Aberglauben an die Wirksamkeit des Leibes muß hervorgehen, was wiederum zur Erkenntnis des Geistigen, des Über­sinnlichen auf dem Wege führt, von dem ich eben jetzt gesprochen habe, und der weder der Weg der Okzidentalen noch der Weg der Orientalen, sondern der speziell mitteleuropäische sein muß. Und man wird aus diesem mitteleuropäischen Wege heraus auch dasjenige fin­den, was einzig und allein auch aus der sozialen Not, aus dem sozialen Chaos herausführen kann. Kein anderer Weg kann uns herausführen.

Aber Sie sehen auch, zu diesem Wege gehört etwas Anstrengung. Man muß etwas tun mit sich selbst. Man muß die Geduld haben, seine Seelen- und Geisteskräfte zu entwickeln. Denn seit der Mitte des fünf­zehnten Jahrhunderts entwickeln sich diese Seelen- und Geisteskräfte nicht mehr so, daß man bloß zu essen braucht und dann aus dem Ver­dauen der Speisen aufraucht dasjenige,was uns infiltrieren kann mit geistigen Anschauungen. Wir müssen sozusagen unsere Entwickelung seit dem fünfzehnten Jahrhundert selber in die Hand nehmen, wenn wir nicht töricht bleiben wollen. Aber das ist das große Ideal der mate­rialistischen Menschheit in Europa, töricht zu bleiben, nicht gescheit zu werden, nur dasjenige zu erkennen, was aufsteigt aus der Ver­dauung des Leibes. Das ist im Grunde genommen doch die wahre Ursache auch für die sozialen Schäden, die seit der Mitte des fünf­zehnten Jahrhunderts in Europa aufgetreten sind: diese Ideale der europäischen materialistischen Menschheit, ja nicht die eigene see­lische und geistige Entwickelung in die Hand zu nehmen, sondern so zu bleiben, wie man geboren ist, und wie man sich entwickelt mit mög­lichstem Ausschluß jeder geistigen und seelischen Entwickelung.

Und dabei merken die Menschen gar nicht, wie die geschichtlichen Zusammenhänge eigentlich sind. Sie merken zum Beispiel gar nicht, wie gerade von denselben Impulsen, von denen das achte ökume­nische Konzil im Jahre 869 getragen war, das den Geist abgeschafft hat, wie von denselben Impulsen getragen ist unsere Universitätswissenschaft

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und ebenso unsere sozialen Theorien von heute. Die Leute glauben aufgeklärt zu sein, weil sie nur dasjenige sehen, was in ihrem Bewußtsein ist. Sie merken nicht, daß es keinen Marx, keinen Engels, keinen Lassalle gegeben hätte, mit ihrem eigentümlichen Den­ken, wenn Marx und Engels und Lassalle nicht die Schüler derjenigen gewesen wären, die präpariert waren zu ihren Ansichten durch das ökumenische Konzil von 869. Die Sozialdemokratie, in ihren ver­schiedenen Parteien von heute, ist die getreuliche Schülerschaft dessen, was in der katholischen Kirche gewaltet hat. Das merken nur die Menschen nicht. Sie merken nicht, daß sie ja oft die Nachzügler der katholisch-christlichen Impulse sind. Sie glauben sich bloß in den Impulsen der allerneuesten Zeit darinnen. Es wird ein mächtiges Zu-sich-selber-Kommen sein, wenn einmal die Parteien, gerade die links-stehenden von heute, bemerken, wie im schlechten Sinne katholisch-gläubig sie sind. Wenn den Leuten darüber einmal die Augen aufgehen werden, wenn sie darüber einmal aufwachen werden, oh, das wird ein merkwürdiges Zu-sich-selber-Kommen sein. Daher sorgt man auch so stark dafür, daß den Leuten ja über diese Zusammenhänge nicht die Augen aufgehen. So ist es schon einmal heute, daß, wer die Dinge durchschaut, eigentlich nur immer dasjenige sagen muß, was schließ­lich all den Menschen von heute, von links und von rechts, recht un­behaglich ist. Einstimmen in die Töne von links und von rechts kann man heute nicht, wenn man den Zusammenhang der Dinge versteht. Daher ist es auch heute so, daß man mehr als zu irgendeiner anderen Zeit alle Menschen von der öffentlichen Wirksamkeit ausschließen möchte, die etwas von der Sache verstehen, und daß man zu Führern am liebsten diejenigen hat, die durch keine Sachkenntnis in ihrer Stier­haftigkeit getrübt sind. Aber über diese Dinge muß unbefangenes Denken einziehen in die menschlichen Köpfe, in die menschlichen Herzen, anders werden die Dinge nicht weitergehen. Daher muß immer wieder und wiederum ermahnt werden zu solch unbefangenem Ansehen der Verhältnisse der Gegenwart. Vor allen Dingen muß die­ser Zusammenhang eingesehen werden, der zwischen richtigen sozia­len Prinzipien und dem besteht, was als Erkenntnis der übersinnlichen Welt da ist.

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Es gibt drei wichtige Begriffe auf sozialem Gebiet. Sie finden sie in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage»: Der Begriff der Ware, der Begriff der menschlichen Arbeit und der Begriff des Kapi­tals. Über diese drei Begriffe ist von akademischen und unakademi­schen, von Parteien und parteilosen Leuten in der neueren Zeit viel gesagt worden. Aber es ist wohl kaum über irgend etwas so Unzutref­fendes mit solchem Aplomb in die Welt gesetzt worden wie über die drei Begriffe: Ware, menschliche Arbeit, Kapital. Damit will ich nicht sagen, daß nicht manchmal ganz treffende Gefühle über diese Dinge in die Welt gesetzt worden sind. Denn das Gefühl, das ich in meinen Vorträgen oftmals charakterisiert habe, das ausgelöst worden ist in der großen proletarischen Masse über die Betrachtung der Arbeits­kraft als Ware, dieses Gefühl ist schon durchaus berechtigt. Aus die­sem Gefühl heraus müssen auch wichtige soziale Impulse kommen. Das hindert aber gar nicht, daß der Begriff, die Idee, der wirkliche Im­puls, aus dem das Gefühl heraus stammt, grundfalsch ist. Denn man kann nun einmal den Begriff der Ware nicht erkennen, wenn man nicht wenigstens die erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis in sich aufgenommen hat. So paradox das heute den Menschen erscheint, so wahr ist es aber. Ware ist etwas, woran menschliche Arbeit hängt, wo der Mensch sich gewissermaßen hineingelegt hat. Die Definition über die Ware, wie Sie sie bei Marx finden, ist ganz unrichtig. Denn Karl Marx verwendet dazu nur die Begriffe, die man aus der gewöhnlichen sinnlichen Wissenschaft haben kann. Ware kann überhaupt von nie­mand verstanden werden, der nicht einen Begriff hat von imaginativer Erkenntnis. Daher wird es keine Definition der Ware geben, bevor die imaginative Erkenntnis anerkannt ist. Und ich habe in meinem Buche «Die Kernpunkte der sozialen Frage» eben diesen Dingen Rech­nung getragen. Kein Wunder, daß die Menschen sagen, sie verstehen diese Dinge nicht. Sie müssen sich eben in die Denkweise hineinfinden, die in diesem Buche herrscht, nicht in diejenige, die außerhalb dieses Buches in der von aller Wirklichkeit absehenden Literatur herrscht.

Über menschliche Arbeit kann niemand reden, der nicht etwas weiß von inspirierter Erkenntnis. Denn heute einfach zu sagen: Ware ist aufge speicherte Arbeitskraft - oder: Kapital ist aufgespeicherte

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Arbeitskraft -, das ist natürlich ein bloßer Unsinn. Ich habe schon ein­mal hier erwähnt, daß ja die Arbeit, die Verwendung der Arbeit als solcher, nicht maßgebend ist für irgendeinen nationalökonomischen Begriff. Denn jemand, der den ganzen Tag Tennis spielt oder was anderes tut, was gar keinen nationalökonomischen Effekt hat, wendet dieselbe Arbeitskraft an wie jemand, der Holz hackt, was einen wich­tigen nationalökonomischen Effekt hat. Es kommt nicht darauf an, wieviel Arbeitskraft hineingesteckt wird in den menschlichen Ent­wickelungsprozeß, sondern es kommt darauf an, wie dasjenige, was als Leistung aus der Arbeit hervorgeht, in der Konjunktur des natio­nalökonomischen Lebens drinnen steht. Von der Arbeit bekommt kein Ding seinen Wert. In dem Augenblick, wo Sie von einer Arbeit den Wert der Ware abhängig machen, würden Sie zu lauter Absurdi­täten kommen. Darum handelt es sich, wie die Arbeit hineingestellt wird in den nationalökonomischen Prozeß, sonst ist Arbeit etwas, was von aller Ökonomie ganz unabhängig ist, was an die menschliche Na­tur selbst gebunden ist. Daher kann man nicht über die Arbeit ent­scheiden aus dem wirtschaftlichen Prozeß selbst heraus, sondern man muß auf demjenigen Boden über die Arbeit entscheiden, der vom wirtschaftlichen Prozeß unabhängig ist, auf dem bloßen Rechtsboden. Sie finden das auch besprochen in dem Buche « Die Kernpunkte der sozialen Frage». Um über diese Dinge etwas zu wissen, ist es not­wendig, daß man noch ganz anders hineinschaut in die Wirklichkeit, als es das wissenschaftliche Gefasel der Gegenwart kann. Es muß schon einmal über diese Dinge in vollem Ernst gesprochen werden, weil mit einem ungeheuren Hochmut, mit einer ungeheuren Seibstüberhebung alles das auftritt, was in der heutigen Zeit doch nichts anderes ist als wissenschaftliches Gefasel. Und wissenschaftliches Gefasel ist gegen­über den Anforderungen der Gegenwart alles, was sich nicht erheben will von der bloß sinnlichen Erkenntnis zur übersinnlichen Erkennt­nis. Die Funktion, die die Arbeitskraft hat im Prozeß der Mensch­heitsentwickelung, kann nur gefunden werden, wenn man eine Ahnung hat von inspirierter Erkenntnis.

Und so sonderbar es klingt: über die Funktionen des Kapitals kann sich niemand wirklich aufklären, der nicht einen Begriff hat von der

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Intultion, von der höchsten Erkenntnisart. Das ahnte die Bibel schon, indem sie sagte, daß mit dem Christentum der Mammonismus be­kämpft werden solle. Allerdings, diese Erkenntnis muß gewisser­maßen eine auf dem umgekehrten Wege wirkende sein. Man muß sich aufklären über dasjenige, was da sein soll an Stelle des ahrimanischen Kapitals durch die übersinnliche Erkenntnis, nicht durch eine an die Sinnlichkeit gebundene Erkenntnis. So wird das Ausbilden einer ge­sunden Nationalökonomie abhängig davon, daß sich die Leute in eine gesunde übersinnliche Erkenntnis einlassen, sonst wird von national-ökonomischen Dingen in die Zukunft hinein auch so gefaselt werden, wie jetzt gefaselt wird. Um etwas Sozialökonomisches zu erkennen, ist es heute notwendig, die Wissenschaft der Einweihung zu kennen. Aber diese Wissenschaft der Einweihung, von der hier gesprochen wird, sie wird gerade abgelehnt und verachtet von denen, die heute öffentlich wirken wollen. Daher ist dasjenige, was heute herauftönt aus der bloßen Sinnesanschauung in Form von Parteimeinungen für den, der die Dinge durchschaut - das muß schon einmal ausgesprochen werden -, wie das Zusammentönen von den Aussprüchen einer Ge­sellschaft von Narren. Nun können Sie sich denken, daß es ja keine Annehmlichkeit ist, da die Wahrheit so liegt, diese Wahrheit der heu­tigen Menschheit zu sagen. Aber diese Wahrheit muß der heutigen Menschheit gesagt werden. So stoßen die Dinge heute zusammen, daß die heutige Menschheit gerade die Wahrheit nicht hören will, daß aber es unbedingt notwendig ist, daß der heutigen Menschheit rückhaltlos diese Wahrheit gesagt werde. Denn die heutige Menschheit will ihren Empfindungen und Gefühlen nach durchaus das, was im Sinne dieser Wahrheit liegt. Die heutige Menschheit ist aber hineingelullt in alles das, was man nennen könnte die Illusionen des Lebens, und sie möchte nicht Abschied nehmen von diesen Illusionen des Lebens.

Ich habe Ihnen vor einiger Zeit hier den Ausspruch eines Mannes zitiert, der aus der lateinischen Kultur heraus stammt, indem ich dabei erwähnt habe, daß oftmals aus untergehenden Kulturen ein Auf-flackern besonders starker Wahrheitserkenntnis kommen kann. Bene­detto Groce, er sagt in seinen «Grundzügen der Ästhetik» - ich habe es Ihnen vor vierzehn Tagen angeführt -, daß die Kunst unmöglich

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sich stützen kann auf die äußere physische Welt. Warum nicht? Nach Benedetto Croce deshalb nicht, weil die äußere physische Welt nicht wirklich ist und die Kunst nach der Wirklichkeit strebt. Solche Dinge erscheinen der heutigen Menschheit ganz unglaublich. Und doch sind sie wahr, durchaus wahr. Das was in der wirklichen Kunst lebt, das ist eine ganz andere Wirklichkeit als das, was in der sinnlichen äußeren Erscheinung lebt. Man strebt, indem man künstlerisch schafft, aus der Unwirklichkeit der physischen Natur heraus zu der Wirklichkeit, die im Geiste zunächst geahnt wird, und die dann im Geiste gefunden werden kann durch übersinnliche Erkenntnis. Daher muß gerade in übersinnlichen Formen, in übersinnlichen künstlerischen Schöpfungen der gegenwärtigen Menschheit zu Hilfe gekommen werden, weil sie den Weg finden will wiederum in die übersinnliche Welt hinein. Aber nicht anders ist es möglich, in diesen Dingen weiterzukommen, als daß man einen innerlichen Sinn - und Sie wissen ja, die Anleitungen des Buches «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gehen auch dahin -, daß man einen innerlichen Sinn für das wirklich Wahre entwickelt, daß man auch einen Sinn dafür entwickelt, wie wenig in der Gegenwart durch die gewöhnlichen Kulturmittel dieser Sinn für das Wahre sich eigentlich entwickelt. Denken Sie doch nur, wie wir in den letzten fünf bis sechs Jahren dahin gekommen sind, daß eigentlich in die großen Weltangelegenheiten hinein die Stimme der Wahrheit kaum noch tönt. Denken Sie, wieviel unwahres Zeug ge­sprochen worden ist in den großen Weltangelegenheiten in den letzten fünf bis sechs Jahren und bis heute. Das alles zeugt von dem nach Un­wahrheit hin tendierenden Sinn der gegenwärtigen Welt. Gerade hier, im Schoße dieser Gesellschaft, mußte es immer wieder und wiederum erwähnt werden, daß die Aneignung des Sinnes für die wirkliche Wahrheit in eminentester Art notwendig ist. Als hier begonnen wurde im Sinne der anthroposophischen Bewegung zu arbeiten, da waren im Schoße dieser Bewegung aus alten Verhältnissen viele Leute, die immer gern die Wahrheit retuschiert haben. Es zeigt sich gerade bei solchen Bewegungen, wie die anthroposophische eine ist, daß man die alten Fehler lieber kultiviert als die neuen Tugenden. So ein Hinweg­flutschen über die Wahrheit, das war etwas, was zur besonderen Neigung

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sich ausgebildet hatte. Und man hatte oftmals Mühe, gerade innerhalb dieser Gesellschaft etwas hereinzubringen, was ganz einfach darin besteht, daß man die Lüge Lüge nennt. Wenn immer wieder Leute innerhalb dieser Gesellschaft aufgetreten sind, die etwas gesagt haben, was nicht wahr ist, dann hat man auch immer wieder die Nei­gung gehabt, zu entschuldigen, es so darzustellen, daß doch gute Ab­sichten hinter dem Unwahren stecken könnten und dergleichen. -Nein, es kommt aber darauf an, daß man die Unwahrheit Unwahrheit nennt. Sie wissen, daß es das Hinwenden zur Wahrheit war, welches bewirkt hat, daß sich diese Anthroposophische Gesellschaft heraus-gegliedert hat aus der alten Theosophischen Gesellschaft, die ja, wie Sie auch wissen, in der Welt weiterlebt. Nun, mit Bezug auf alles das, was in dieser Anthroposophischen Gesellschaft wirkt, lügt man in der Theosophischen Gesellschaft weiter. Und es ist schon notwendig, weil ich ja hier auch andere zeitgenössische Erscheinungen berücksichtige, daß ich Sie heute, wo ich manches zusammenfassen muß, was im Laufe der Zeit angedeutet worden ist, darauf aufmerksam mache, in welch raffinierter Weise man wiederum über die anthroposophische Be­wegung von theosophischer Seite aus lügt, lügt sogar in einem Buche, dessen Vorrede den Satz enthält: «Ich hoffe die Wahrheit berichtet zu haben.» Aber innerhalb dieses Buches, für das die Verfasserin hofft, die Wahrheit berichtet zu haben, steht unter manchem anderem: «Es ist gewiß, daß die Steinersche Trennung ein Segen war.» - Die Tren­nung der Anthroposophischen von der Theosophischen Gesellschaft. -«Der Okkultist» - jetzt hören Sie die knüppeldicke Lüge - «Der Okkultist» - damit war ich gemeint - «war auch ein überzeugter All-deutscher. Nehmen wir einen Augenblick an, daß er zur Präsident­schaft der Theosophischen Gesellschaft gelangt wäre, so hätte er da­selbst viel beträchtlichere Mittel und Einfluß auf fast alle Länder der Welt gefunden. Er hätte freier und mit Autorität seine alldeutsche Politik verfolgen können. Und er hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach auch getan.»

Und woraus wird diese Lüge geformt? Daraus, daß ich nach und nach nicht bloß in Deutschland meine Vorträge über Anthroposophie gehalten habe, unter Deutschen, sondern daß ich auch in andere Länder

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gegangen bin. Ich habe allerdings Vorträge gehalten von Bergen bis Palermo, und ich betrachte es heute noch immer als ein schönstes Zeichen für den Impuls, der gerade von dieser Bewegung für einen Weltfrieden ausgehen könnte, daß ich noch im Mai 1914 in Paris eine Rede über Anthroposophie halten konnte vor einem öffentlichen Publikum, in deutscher Sprache, so daß jeder Satz übersetzt werden mußte. Es waren nicht etwa die Deutschen von Paris in diesem Vor­trag, sondern lauter Franzosen. Wir hatten es bereits so weit darin ge­bracht, daß im Mal 1914 über Dinge unserer Weltanschauung in ganz Europa gesprochen werden konnte. Da fiel das Ereignis hinein, das der Welt den Frieden und die Lebensmöglichkeit genommen hat. Es ist dies ein tatsächlicher Beweis, gerade dieses Wirken im Mai 1914 in Paris vor dem Ausbruch dieser furchtbaren Weltkatastrophe, daß im Schoße der Anthroposophischen Gesellschaft etwas gelegen hätte auch iür den Weltfrieden. Und worauf sind denn alle diese Reden erfolgt? Keine einzige ist auf unsere Initiative hin erfolgt, sondern sie sind ver­langt worden von den Freunden in Bergen, in Paris, in London, in Holland, in Palermo und so weiter. Sie sind stets verlangt worden von den anderen. Hier wird die Lüge daraus fabriziert, daß sie zur Pro­pagierung des Deutschtums in der ganzen Welt gehalten worden wären. Es ist notwendig, daß Lüge Lüge genannt werde. Dieses Buch, welches in seiner Vorrede verspricht, die Wahrheit zu berichten, bringt, wenigstens über alles, was sich auf die Anthroposophische Gesellschaft und auf mich bezieht, nichts anderes als Lügen. - Nun wird man wiederum sagen, ich wende mich gegen die anderen, wäh­rend hier, sehen Sie, die folgenden salbungsvollen Sätze stehen. Ich bitte diejenigen, die die Tatsachen kennen, diese Sätze mit den Tat­sachen zu vergleichen: «Welches war nun die Haltung unserer Präsi­dentin gegenüber diesem Kollegen, der zuerst in den inneren Kreisen ihren Einfluß zu verringern suchte und nachher sie verdrängen wollte? Ihr Verhalten war immer eine sehr große Toleranz, eine vollkommene Höflichkeit. Sie sah in ihm große intellektuelle Werte, eine seltene philosophische Entwickelung; sie schätzte alles, was schön und er­haben in ihm war, und... sprach nicht vom übrigen. Sie anempfahl ihren Schülern unaufhörlich Toleranz, Geduld, welche

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que le roi> sich über das Gebaren der deutschen Sektion ärgerten. Darin befolgte sie ganz einfach ihre Grundsätze.»

Bitte, vergleichen Sie das mit der Wahrheit dessen, was geschehen ist, und Sie werden die Beweise dafür erhalten, in welchem Maße man lügen kann. Vielleicht wird gesagt werden, wenn man hört, was ich heute gesagt habe, daß ich angreife. Ich mache aber darauf aufmerk­sam, daß ich niemals etwas Kritisches gesagt habe, bevor ich an­gegriffen worden bin.

Auch auf diese Dinge muß hingesehen werden als auf eine kultur-historische Erscheinung, die sich darin äußert, daß in einer Bewegung, die nach dem Geiste hinarbeiten will, auch die Lüge in einer erhöhten Weise kultiviert werden kann. Es ist schon notwendig, daß der Sinn für die Wahrheit heute von uns in ungeheuerster Weise angestrebt wird. Die ganze Sache ist ja nur ins Deutsche übersetzt und sogar in Basel in deutscher Sprache erschienen, um die von dem Goetheanum in der Zukunft ausgehende anthroposophlsche Bewegung irgendwie aus der Welt zu schaffen. Sie sehen, diese Leute sind gewöhnt, die national-egoistischen Impulse auch in dasjenige hineinzubringen, was sie als Geisteswissenschaft verbreiten. Sie können sich daher gar nichts anderes vorstellen, als daß auch der andere solche Impulse habe. Es nützt heute nichts anderes, als Lüge Lüge zu nennen, und wenn diese Lüge auch auftritt auf solchem Boden, von dem man in abstracto und theoretisch sagt, es werde dort nach Wahrheit gesucht. Ob auf kon­fessionellem, ob auf Weltanschauungs-Boden heute die Lüge auftritt, diejenigen Lügen, denen die Tatsachen gegenübergestellt werden können, die müssen als Lügen gebrandmarkt werden, sonst kommen wir nicht vorwärts. Denn der Geist der Lüge, der Geist des Truges ist der größte Feind des wirklichen geistigen Fortschritts. Und daß geistiger Fortschritt die Welt heute einzig und allein vorwärtsbringen kann, das hoffe ich Ihnen gerade heute wiederum gezeigt zu haben durch Angabe einiger Gesichtspunkte, die ich für die Gegenwart für ganz besonders wertvoll halte.

Und so möchte ich denn, daß Sie alle die Dinge, die hier geschehen sind, im Zusammenhang betrachten, so im Zusammenhang betrachten, daß auf der einen Seite das Soziale, auf der anderen Seite das Spirituelle

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steht, daß aber beides innig zusammengehört. Daß man die Dinge nicht in diesem Zusammenhang sieht, das macht gerade das Unheil der Gegenwart aus.

Ich habe vor acht Tagen hier gesagt: Drei Forderungen gehen durch das soziale Leben der Gegenwart.

1. Die Eroberung der Weltmacht durch die anglo-amerikanischen Mächte.

2. Die Bestrebungen, die heute noch ganz abstrakt sind, die nach einem Völkerbund hingehen.

3. Die Bestrebungen, die wir die sozialen nennen.

Diese drei Strömungen sind einmal in der heutigen Kulturwelt die drei maßgebenden Strömungen: Die Weltherrschaft der anglo-ameri­kanischen Mächte; das Bündnis der Völker; das Streben nach sozialer Gestaltung der Weltangelegenheiten. Für diese drei Bestrebungen be­stehen drei gewaltige Hindernisse: Gegen dasjenige, was die anglo­amerikanische Welt, von England ausstrahlend, als Weltmacht an­strebt, gegen das steht die Spiritualität der alten Inder, die indische Spiritualität. Das wird den großen Gegensatz geben: Das Suchen nach Weltprinzipien auf medialem Wege - das Suchen nach Welt-prinzipien auf dem Yoga-Weg in Indien. Dieser Kampf wird der größte Kampf werden, der auf geistigem Gebiet ausgekämpft werden muß in der Weltgeschichte. Klar zu sehen über das, was als zwei Pole vorhanden ist in der Zeitbewegung, das ist die erste Aufgabe des­jenigen, der ein wirklicher Geisteswissenschafter sein will.

Auf dem Gebiete des Strebens nach dem Völkerbund muß klar ein­gesehen werden, daß zwei Unmöglichkeiten heute an diesem Streben beteiligt sind. Dasjenige, was aus neuzeitlichem Streben nach der Menschheitseinigung, nach jener Humanität, von der Herder, Lessing, Goethe gesprochen hatten, was diesem Streben der neueren Mensch­heit nach der Menschheitseinheit entgegentritt, das ist gerade der Völkeregoismus, der nationale Chauvinismus, auf allen Gebieten. Und nun soll der Völkerbund eine Einheit der in sich abgeschlossenen Völker werden. Der Turmbau zu Babel, der zeigt ja im Bilde, daß ge­rade dadurch einem Völkerbund entgegengearbeitet wurde, daß die Völker getrennt worden sind in ihre Volkstümer. Und das soll das

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Mittel abgeben, um die Völker zu einen. Die Vierzehn Punkte, die Utopie Woodrow Wilsons, will die Aufgabe lösen, durch Konservierung desjenigen, was im Turmbau von Babel angedeutet ist, die Völker zu einigen. Sie wird nur das fördern, was die Völker weiter auseinander bringt. Sie wird die Verwirrung des Turmbaus von Babel nur noch größer machen. So steckt in der zweiten Bewegung ein Widerspruch-volles; es stecken zwei Unmöglichkeiten drinnen in der Völkerbunds­politik.

Und im dritten, in der sozialen Bewegung, steckt die Ablehnung des Geistigen. Es wird nur gerechnet mit dem Wirtschaftlichen, mit dem Materiellen, und man glaubt, daß aus dem Materiellen selber auf­sprießen werde ein Geistiges. Man will ein Paradies auf Erden be­gründen mit Ausschluß alles dessen, was im Paradiese Ordnung machen kann, mit Ausschluß des Geistes. Da haben Sie wiederum den vollen Widerspruch auch im dritten Streben.

Es gibt keine andere Möglichkeit, über diese Widersprüche hinweg-zukommen, als den Weg des Geistes, der im Sinne der Menschheits­entwickelung und nicht gegen diese Entwickelung arbeitet. Und so gut es mit schwachen Kräften möglich ist, soll gerade die anthropo­sophische Bewegung für diese Wege sich einsetzen. Man wird sie nicht verstehen, wenn man sie nicht so verstehen wird, daß sie sich für das­jenige einsetzt, was wirklichkeitsgemäß und möglich ist gegenüber all dem, was unwirklichkeitsgemäß und utopistisch ist.

FÜNFZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 3. August 1919

#G192-1964-SE323 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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FÜNFZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 3. August 1919

#TX

Da wir heute noch zusammen sein können, so scheint es mir richtig, auf einiges nochmals und vielleicht in veränderter Form hinzuweisen, das ja gerade in dieser Zeit gesprochen worden ist, und das von einer gewissen Bedeutung ist für die ganze Einstellung des Menschen in unserer Zeit.

Daß es so etwas wie die Notwendigkeit einer Neueinstellung des Menschen in unserer Zeit gibt, das sollte ja gerade aus den Betrach­tungen hervorgehen, die hier und sonst in dieser Zeit vor Ihnen ge­pflogen worden sind. Daß die Art des Urteils, wie sie üblich war in der bisherigen Zeitepoche, nicht mehr den Menschen in die Zukunft hin­übertragen kann, das ist notwendig heute einzusehen. Man muß dieses immer wieder und wiederum betonen, weil ja gerade gegen dieses sich die Gefühie und Empfindungen des Gegenwartsmenschen noch am meisten sträuben. Der Gegenwartsmensch möchte auch beim Herauf­führen einer neuen Zeit gewissermaßen dabeisein - das leuchtet ihm ja so dunkel ein, daß eine neue Zeit herankommen müsse -, aber er möchte selbst kein anderer werden. Er möchte die Dinge so fort be­urteilen, wie er eben bisher gewohnt war, sie zu beurteilen. Und selbst wenn er sich einmal aufrafft, um zuzugeben, daß eine neue Beurtei­lungsart Platz greifen muß, so fällt er doch immer wieder und wieder­um in die alte Art des Vorstellens zurück. Er tut das ganz besonders aus dem Grunde, weil die neue Einstellung ja tatsächlich ein radikales In-sich-Gehen des Menschen fordert. Und dieses radikale In-sich-Gehen, das ist dem Gegenwartsmenschen eigentlich sehr, sehr un­angenehm.

Nun muß man, wenn man die volle Tiefe desjenigen ins Auge fassen will, was dem eben Gesagten zugrunde liegt, gewissermaßen mit gutem Willen einblicken in die ganze Art, wie wir gewohnt worden sind, unser Leben im umfassenden Sinne in der neueren Zeit einzurichten, besonders seit jenem Zeitpunkte, den ich Ihnen ja öfter als den Zeit­punkt eines großen Umschwunges der Menschheitsentwickelung charakterisiert

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habe, seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Man kann sagen: Dasjenige, was heute in einer radikalen Weise aus den menschlichen Herzen als Forderungen sich ergibt, das hat eigentlich immer schon mehr oder weniger geglimmt unter der Oberfläche des Bewußtseins der Menschen seit diesem Zeitpunkte; aber alle Dinge, die sich entwickeln, sie entwickeln sich eine Zeitlang immer unver­merkt und werden dann erst völlig reif, hervorzubrechen und ganz radikal ins Dasein zu treten.

Nun haben wir in unseren Bestrebungen der letzten Zeit von den verschiedensten Gesichtspunkten aus hinweisen müssen auf eine ge­wisse Dreigliederung. Sie wissen, unser ganzes äußeres öffentliches Wirken durchzieht der Impuls der Dreigliederung. Aber hier habe ich auch hinweisen müssen darauf, daß die menschliche Erkenntnis, wenn sie nicht den Menschen in die Irre führen soll, auch auf der Drei-gliederung der menschlichen Natur selber aufgebaut sein muß. Die Wissenschaft, welche die Menschen aus einer gewissen notwendigen Unklarheit heraus entwickelt haben, diese Wissenschaft, die, wie sie jetzt ist, auch ihren Anfang genommen hat in der Mitte des fünfzehn­ten Jahrhunderts, sie betrachtet den Menschen mehr oder weniger als eine Einheit. Sie ist sich nicht klar darüber, daß der Mensch wirklich jene Dreiheit ist, die man bezeichnen muß als den Hauptesmenschen oder Nerven-Sinnesmenschen, als den Rhythmusmenschen oder Atmungs- und Zirkulationsmenschen, und den Stoffwechselmen­schen. Diese drei Glieder der menschlichen Natur sind in ihrer Wesen­heit ganz voneinander verschieden. Warum die Menschen nicht eigent­lich zugeben wollen, daß der Mensch selbst in dieser Dreigliederung lebt, das rührt davon her, daß die Menschen, wenn sie schon etwas gliedern wollen, die Dinge so hübsch nebeneinander gelagert haben wollen. Man sieht immer wieder: wenn die Menschen schon sich her­beilassen, etwas einzuteilen, dann möchten sie diese Einteilung auch so nebeneinander haben, sie möchten die Teile dieser Einteilung so nebeneinander lagern, daß sie sie hübsch übersehen können mit äußer­lichen Erkenntniskräften. Das liegt ja jenem sonderbaren Aufsatz zu­grunde, den der Tübinger Professor von H«k geschrieben hat gegen die Dreigliederung. Ich habe es schon erwähnt, daß sich der gute Professor

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von Heck mit vollständiger Außerachtlassung dessen, was in der Dreigliederung eigentlich gesagt wird, seine eigene Dreigliederung zu­rechtmacht. Er kann die Art des Denkens überhaupt nicht verstehen, um die es sich da handelt, er kann gar nicht zu der Empfindung vor­dringen, daß wir in einem Zeitalter leben, in dem ein neues Denken, ein neues Empfinden notwendig ist. Und so hört er von einem geisti­gen Gliede, von einem rechtlichen oder staatlichen Gliede und vom wirtschaftlichen Gliede des sozialen Organismus. Drei Glieder, sagt er. In dem einen Glied, das wir bisher gekannt haben, haben wir uns allmählich gewöhnt an einen Parlamentarismus. Es ist ja Herren von dieser Art schon schwer genug geworden, sich daran zu gewöhnen; sie werden lieber zentralistisch, von oben herunter regiert, aber sie haben sich gewöhnt an einen Parlamentarismus. Aber wenn man sich dazu herbeiläßt, dann muß Paragraph A, Paragraph B und C neben­einander stehen. Geistiges, Rechtliches, Wirtschaftliches, das muß so äußerlich sinnlich überschaubar sein, wenn man sich überhaupt darauf einlassen will. Ja, auf diese Weise, daß man dem Neuen entgegen­kommt mit der Denkweise des Alten, ist allerdings nicht vorwärts-zukommen. Und man kann dann sehr gut die Dreigliederung kriti­sieren, wie Professor von Heck es tut, aber es ist doch seine eigene absurde Dreigliederung, die er kritisiert, und nicht diejenige, die von dem Bund für Dreigliederung aus gegenwärtig in die Welt gesandt werden soll.

Nun, das alles hängt damit zusammen, daß sich der Mensch eben instinktiv wehrt gegen dasjenige, was das Allernotwendigste ist in un­serer Zeit, gegen die Umorientierung des ganzen Denkens und Emp­findens. Und diese Umorientierung des Denkens und Empfindens, sie wird auch nicht kommen, ehe man sich nicht herbeiläßt, wenigstens subjektive, anfängliche Beziehungen zur Geisteswissenschaft, zur wirklichen Erkenntnis des geistigen Lebens zu gewinnen. Und man wird schon auf der einen Seite sich darauf einlassen müssen, die Drei-gliederung außen im sozialen Leben als eine Notwendigkeit zu er­kennen, aber auch die Dreigliederung des Menschen selber als eine naturgegebene Tatsache anzuerkennen. Daß der Mensch diese Drei-gliederung aber nicht so hübsch nebeneinander geschachtelt hat, sondern

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daß ein Glied immer in das andere übergeht, das beirrt gerade den an seine alten Vorstellungen gebundenen neuen Menschen. Denn natürlich, wenn ich spreche von Kopforganisation, von Nerven­Sinnesorganisation, so ist diese Kopforganisation, äußerlich ange­schaut, zunächst im Kopfe zentriert. Im Kopfe, im Haupte hat sie ihren Mittelpunkt. Aber sie sendet in den ganzen übrigen Menschen hinein die Ausläufer, die notwendig sind; denn das Sinnesvermögen ist ja im ganzen Menschen drin. Das heißt: der Mensch ist als Hauptesmensch nur der Hauptsache nach Nerven-Sinnesmensch; der ganze Mensch ist Nerven-Sinnesmensch. Und als Rhythmusmensch ist der Mensch Brustmensch. Das rhythmische System, das Atmungs- und Zirkula­tionssystem hat in der Brust seinen Mittelpunkt. Also es handelt sich darum, daß der Mensch als Rhythmusmensch Brustmensch ist. Das Atmungs-Zirkulationssystem ist lokalisiert in dem Brustsystem, aber natürlich wird der Rhythmus, die rhythmische Tätigkeit wiederum hineingesendet, sowohl in das Hauptsystem wie in das Stoffwechsel-system. Also nur der Hauptsache nach ist der Brustmensch Rhythmus-mensch. Und ebenso ist es mit dem Stoffwechsel. Selbstverständlich ist auch im Haupte, auch in der Brust, der Stofiwechsel vorhanden, aber reguliert wird er von dem Gliedmaßensystem, so wie ich es immer charakterisiert habe. Da läuft also dasjenige, was als Glieder angeführt werden muß, in das andere hinein. Das beirrt natürlich die Menschen, die immer Striche machen möchten, und die nur ganz nebeneinander-stehend haben möchten das, was ihnen einfällt einzusehen.

Es ist also schon eine andere Art der Anschauung, eine ganz andere Art, sich zur Wirklichkeit zu stellen, für den Menschen notwendig, der sich in das Denken und auch in das Wollen und Tun für die nächste Zukunft hineinstellen will. Man glaube aber durchaus nicht, daß diese Dinge etwa nur eine Bedeutung haben für das Erkennen oder für die Weltanschauung. Diese Dinge haben ihre ganz besondere Bedeutung für das Leben der Menschheit, für die ganze Einstellung in das Leben. Und das muß ganz genau berücksichtigt werden. Man muß von diesem Gesichtspunkte aus dann unser gesamtes Leben erst beurteilen und dann sich die Frage stellen: Wie muß es sich neu gestalten? Wir haben ja in einem gewissen Sinne in unserem Leben eine Dreigliederung,

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aber diese Dreigliederung fordert erstens eine genaue Erkenntnis, zweitens eine Weiterentwickelung. Die genaue Erkenntnis, die muß sich einem ergeben dadurch, daß man mit einer gewissen Befruchtung der Erkenntnis durch geisteswissenschaftliche Anschauung sich an­sieht, was eigentlich in unserem Leben vorhanden ist. Was ist denn in unserem Leben da? Das, was wir durch die Dreigliederung als ein besonderes Glied fordern, das ist ja natürlich da, es ist nur mit den zwei anderen, dem Rechtsgliede und dem wirtschaftlichen Gliede chaotisch durcheinandergemischt. Das Geistige steckt drinnen in un­serem realen Leben, indem einfach der Mensch für die äußere Kultur, für das äußere Leben eine gewisse geistige Leitung braucht. Ohne die geistige Leitung gibt es kein äußeres Kulturleben. Diese geistige Lei­tung beruht bei uns, in unserem gegenwärtigen Leben, nicht auf einer ursprünglich-elementaren Äußerung der menschlichen Natur, sondern sie beruht auf etwas Überkommenem. Sie beruht auf etwas, was sich historisch für den Menschen übertragen hat. Sie erinnern sich doch gewiß, daß, wenn man von dem neueren Geistesleben spricht, das heraufgekommen ist mit der großen Umwandelung im fünfzehnten Jahrhundert, man nicht von einer Neuschöpfung, sondern von einer Renaissance oder Reformation spricht. Man spricht, und mit Recht, nicht von einer Neuschöpfung, sondern von einer Wiedergeburt, von einer Wiederaufrichtung eines Alten. Und in einer gewissen Beziehung leben wir geistig nur in einem wiederaufgerichteten Alten. Geistig leben wir nämlich von der Erbschaft desjenigen, was sich in einer ge­wissen Weise aus viel älterer, aus orientalischer und ägyptischer Geisteskultur im Griechentum zusammengeballt hat. Daß wir heute unser altes griechisches Gymnasium haben, das ist, ich möchte sagen, nur ein deutlicher Hinweis darauf, daß unser Geistesleben eigentlich im ganzen eine griechische Renaissance ist.

Worauf beruht aber denn das griechische Geistesleben? Es ist dies deshalb schwer zu durchschauen, weil dieses griechische Geistesleben in einer gewissen Weise dasjenige recht stark ausgebildet hat, worauf es beruht: das orientalische Geistesleben. Aber es hat dieses orienta­lische Geistesleben sehr umgestaltet. Dadurch merkt man nicht, wenn man sich mit dem bloßen Erkenntnissinne noch so sehr vertieft in das

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griechische Geistesleben, wenn man nicht mit geisteswissenschaft­lichen Voraussetzungen rechnen will, man merkt nicht, worauf eigent­lich dieses griechische Geistesleben fußt. Es ist nämlich ganz davon ab­hängig, daß den Angehörigen der Erobererklasse instinktiv zugestan­den wurde, das Geistige zu offenbaren, und daß diese Offenbarung des Geistigen nicht zugestanden wurde den Angehörigen der eroberten Schichte. Die griechische Kultur enthält eigentlich in sich eine doppelte Bevölkerung: jene alte Bevölkerung, die die griechische Halbinsel in europäischen Urzeiten bewohnte, und die eine ganz andere soziale Struktur hatte als das spätere Griechentum. Das spätere Griechentum, das wir beginnen können eigentlich mit dem Einbruch derjenigen Gei­stesmacht, die ihren Ausdruck findet in den königlichen Geschlechtern der Agamemnons und so weiter, dieses griechische Leben breitete sich aus über eine Urbevölkerung. Und diese Eroberer waren anderen Blutes als die Urbevölkerung. Sie bemerken dieses Anderen-Blutes-Sein eben in dem, was ich ja auch hier schon angeführt habe, in der griechischen Skulptur. Diese griechische Skulptur hat ja deutlich voneinander ge­trennte Typen: der Zeus-Typus, der andere Ohren, andere Nasen-bildung, andere Stellung der Augen hat als der Hermes-Merkur-Typus, der wiederum eine andere Nasenbildung hat als der Satyr­Typus. Diese beiden letzten Typen, die deuten auf die griechische Ur­bevölkerung hin, die anderen Blutes war als diejenigen, die wir als die Träger der griechischen Kultur kennen. Das heißt, die ganze Kon­figuration des griechischen Geisteslebens, die wir doch als Renaissance übernommen haben, ist aristokratischer Natur, die ist umgebildete Theokratie des Orients und Ägyptens. Sie ist aufgebaut auf der An­schauung, daß sich die Dinge der Welt nicht offenbaren, so wie das später geglaubt wurde, durch Beweis, sondern daß sie sich offenbaren wollen eben durch Offenbarung: auf der einen Seite durch Offenbarung von seiten der Orakel oder dergleichen, also durch dasjenige, was her­einbricht als geistige Offenbarung in die menschliche Welt; aber auch als Taten offenbart sich dasjenige, was die Welt beherrschen soll, nicht so, daß der Mensch über diese Taten mit seinem Verstand, mit seinem Intellekt entscheiden will, sondern daß er Mächte entscheiden läßt, die außer ihm stehen. Zu den letzteren hat das Griechentum übernommen

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das kriegerische Prinzip des Orients. Es hat es nur umgestaltet, daher merken wir nicht, daß in der griechischen Kultur zwei Dinge ineinan­dergeflossen sind: die Theokratie und der Militarismus. Theokratie und Militarismus sind aber die Elemente des Aristokratismus. So daß wir aufnehmen in unser Geistesleben gerade mit dem Gymnasialen, mit dem Herübernehmen des Griechischen ein aristokratisches Ele­ment, welches auf der einen Seite die Theologie hat und auf der andern Seite die militärische Entscheidung. Die Theologie, die nicht durch Beweis zu ihren Wahrheiten kommt, die militärischen Entscheidungen, die nicht aus der menschlichen Vernunft heraus fallen, sondern nach den menschlichen Anschauungen durch äußeres Gottes- oder Natur-urteil. Das haben wir gewissermaßen in unserem sozialen Organismus drinnen durch das Griechentum, das in seinem Staate und in seiner Epoche so Großes leistete. Wir haben durch das Griechentum drinnen die aristokratische Empfindungsweise der Menschen. Und diese Dinge müssen einfach psychologisch genommen werden. Natürlich wird keiner der Menschen der Gegenwart, wenn er die gymnasiale Aristokratie in sich aufnimmt, wiederum ein Grieche seiner Gesinnung nach, aber er wird etwas, was nicht mehr in unsere Zeit hereinpaßt: er wird ein Träger eines aristokratischen Prinzips, das überwunden wer­den muß. Man kann noch so sehr schwärmen für dieses aristokratische Element in unserer Zeit, man kann es durchaus gelten lassen, insofern es sich gerade im Geistesleben und in den Formen des Geisteslebens ausdrückt, dieses aristokratische Element, denn es fußt auf etwas sehr Sympathischem, auf dem Griechentum - das wollen wir natürlich nicht missen -, aber so, wie es heute auf dem Griechentum fußt, kann es eben nicht zur allgemein menschlichen Bildungsgrundiage werden. Daher muß es in einer ganz anderen Weise sich einleben in unsere Kultur. Das ist etwas, was wir gewissermaßen als erstes Element in uns tragen: ein doch noch aus dem Griechentum heraus konfiguriertes geistiges Leben.

Nun tragen wir aber ein zweites Element in uns, das ist das rö­mische Leben. Wir tragen nicht bloß das griechische Leben, chaotisch hineingemischt, in unserer sozialen Kultur, in unserem Geistesleben, seiner Form, seiner Gestaltung, seiner Struktur nach, sondern wir

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tragen auch das römische Rechtsleben in uns. Wir tragen im Grunde genommen ganz in uns die Sucht, jenen Staat zu gestalten, der doch nur gut und richtig war für die menschlieitliche Entwickelung in der Zeit, als das Römertum geblüht hat, und an dem Orte, wo das Römer­tum geblüht hat. Griechisches Geistesleben, römisches Rechtsleben, sie sitzen in uns. Es ist ja außerordentlich interessant zu sehen, wie in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts und später dann eigentlich das europäische Rechtsleben sich auf seine eigenen Grundlagen stellen will, wie es etwas ganz anderes entwickeln will, als was dann heraus­gekommen ist. Da brachen die Anschauungen des römischen Rechtes herein und durchdrangen die Struktur der Staaten, gerade so wie das griechische Geistesleben die Struktur der Staaten durchdrungen hat. Und so wurde unser Rechtsleben wiederum nicht etwas, was aus einem ursprünglichen, elementaren Antrieb der menschlichen Natur hervor­geht, sondern etwas wie eine Art Renaissance, ein Heraufnehmen eines Alten.

Wo man nun aber nicht ein Altes heraufnehmen konnte, das war der Boden des Wirtschaftslebens. Man kann einem alten Geiste anhängen, man kann alten Rechtsformen anhängen, man kann aber nicht das­jenige essen, was die Griechen gegessen haben, auch nicht dasjenige, was die Römer gegessen haben. Das Wirtschaftsleben duldet nicht dieses Herübernehmen des Alten. Das Wirtschaftsleben entwickelte sich aus mitteleuropäischen, germanischen, fränkischen und anderen Verhältnissen heraus, und zwar mit einer gewissen elementaren Ge­walt, aber es wurde durchdrungen von der Renaissance des Geistes-lebens, von der Renaissance des Rechtslebens. Und es ist interessant, wie die Menschen empfinden: Ja, in unserem sozialen Organismus da ist ja lebensfähig, im neueren Sinne lebensfähig nur das Wirtschafts­leben. Diese Empfindung haben nun insbesondere Marx und Engels. Ich habe das ein wenig dargestellt in der vierten Nummer unserer Dreigliederungszeitung unter dem Titel «Marxismus und Drei-gliederung». Marx und Engels empfinden: Ja, in bezug auf das Wirt­schaftsleben, da geht es nach neueren Impulsen, und diese neueren Impulse müssen nur richtig ausgestaltet werden; sie sind in der äuße­ren Tatsachenwelt noch nicht vorhanden, aber in der menschlichen

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Sehnsucht sind sie vorhanden. - Und so wollen Marx und Engels ein Wirtschaftsleben, das nicht mehr, wie das griechische Leben, die Menschen beeinflußt, indem es sie in bezug auf ihre Geisteskräfte re­giert. Marx und Engels wollen nicht mehr eine soziale Struktur, welche im Sinne des römischen Rechtes das soziale Leben beeinflußt. Das sehen sie als Fremdkörper des modernen Wirtschaftslebens an. Sie empfinden das Fremdartige und wollen es deshalb herauswerfen. Sie wollen im Wirtschaftsleben etwas begründen, was gar nicht mehr über Menschen regiert, und ein Recht, was nur noch Produktionsprozesse, wirtschaftliche Güterzirkulation und so weiter verwaltet. Aber das ist nicht allein die Aufgabe der neueren Zeit. Die Aufgabe der neueren Zeit ist, zu erkennen: Gewiß, das Wirtschaftsleben muß umgestaltet werden, das Wirtschaftsleben muß die Konfiguration bekommen, die aus den menschlichen Sehnsuchten heraus gefordert wird; aber wir können auch nicht mehr mit dem Rechtsleben, das nicht mehr hinein­paßt in unser Wirtschaftsleben, auskommen, wir können nicht mehr mit dem Geistesleben, das nur auf Renaissance beruht, auskommen. Wir brauchen in unserer Zeit nicht nur eine einsichtige Gliederung des Wirtschaftslebens, wir brauchen eine Neugestaltung des Rechts-lebens an Stelle des römischen Rechtes, und wir brauchen eine völlige Erneuerung des Geisteslebens. Das heißt, wir brauchen nicht nur eine geistige Renaissance, sondern eine geistige Neuschöpfung. Und auch das Christentum, das hineingefallen ist in die Griechen- und Römer-zeit, das kann nicht von uns so verstanden werden, wie man es ver­standen hat durch das Medium des Griechischen und des Römischen, sondern das muß von uns mit einem neugeschaffenen Geistesleben neu verstanden werden. Das ist das Geheimnis unserer Zeit.

Sehen Sie sich nach dem Alten im europäischen Osten um. Da finden Sie, daß in diesem europäischen Osten das Christentum in der russi­schen Orthodoxie durchzogen worden ist mit griechischer Weltauffas­sung. Wir haben das Christentum aufgenommen in römischer Welt-auffassung, nicht in griechischer. Dadurch haben wir allerdings nicht mehr drinnen, was aus der griechischen Weltauffassung kommt, wir haben aber in dem Christentum drinnen dasjenige, was von römischer Rechtsauffassung kommt. Diese römische Rechtsauffassung, suchen

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wir sie einmal zu erkennen in ihrer Grundstruktur. Römische Rechts­auffassung geht darauf hinaus, nun nicht den Menschen seinem Blute nach zu betrachten. In Griechenland war man wert, wenn man dem rechten Blute angehörte, dem aristokratischen Blute. Das, was die Götter offenbarten durch Angehörige des aristokratischen Blutes, das war auch das Richtige, das Weise. Im römischen Kulturelement war das anders. Da bildete sich allmählich heraus, daß man dasjenige, was man war, durch seine Eingliederung in den abstrakten Staat, in den Rechtsstaat war. Man wurde nicht, wie bei den Griechen, Blutbürtiger, sondern Staatsbürtiger, Staatsbürger. Man war nichts Besonderes, als was man als Staatsbürger war. Es kam nicht in Betracht, daß der Mensch dastand mit Leib, Seele und Geist, sondern es kam darauf an, daß er in das Staatssystem hineinregistriert war, daß das Staatssystem ihm den Stempel des Staatsbürgers aufdrückte. Und als von der itali­schen Halbinsel, von Rom ausgehend, sich das Staatsbürgertum über das ganze Römische Reich verbreitete, war das ein ungeheures Ereig­nis. Denn die Menschen empfanden es dazumal als etwas, was mit dem Leben zusammenhängt. Aber ist uns das nicht in einem gewissen Sinn geblieben? Uns ist in einem gewissen Sinne geblieben, daß wir unser ganzes öffentliches Leben nach unserem, dem römischen Denken und Empfinden entnommenen Staatssystem einrichten.

Ich hatte einmal einen alten Bekannten, der hatte eine Jugendliebe, die er sich mit achtzehn Jahren erworben hatte, aber er konnte in sei­nem achtzehnten Jahr diese Jugendliebe nicht heiraten. Er mußte war­ten, mußte sich erst einiges verdienen. Und so war der Mensch vier­undsechzig Jahre alt geworden. Um heiraten zu können, ging er an seinen Heimatsort zurück, denn die Jugendliebe war ihm treu ge­blieben und er wollte sie heiraten. Aber was war geschehen? Die Kirche mit dem Pfarrhaus, worin die Taufregister waren, war ab­gebrannt und die Taufregister waren mitverbrannt. Der Mann hatte keinen Taufschein. Er schrieb mir das von seinem Heimatorte aus und er sagte: Ja, meinem gesunden Menschenverstand nach scheint es mir dafür, daß ich geboren worden bin, ein Beweis zu sein, daß ich da bin, aber das glauben mir die Leute nicht, weil ich keinen Taufschein habe, der das schriftlich bezeugt, daß ich da bin. - Also, es muß erst dastehen,

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daß man da ist, daß man äußerlich eingeordnet ist. Gewiß, wenn man so etwas erzählt, dann sagen die Leute, das sei übertrieben. Es ist aber nicht übertrieben. Denn das spielt eine große Rolle in un­seren öffentlichen Verhältnissen. Das ist die Denkweise, welche an die Stelle der theokratischen Denkweise des Orients getreten ist, und welche durch das Griechentum etwas ummetamorphosiert worden ist. Die römische Denkweise ist eine abstrakte. Der Orient hat an Götter-kräfte geglaubt, welche durch das Blut in den Menschen hinein­kommen. Im Orient war der gottoffenbarende Mensch der, der blut­bürtig war. Im römischen Kulturelement war man durchdrungen von dem Glauben an Begriffe, an Ideen, an Abstraktionen. Diesem Glau­ben, der ein metaphysischer war, im Gegensatz zum Theologieglauben des Orients, dem trat an die Seite die Jurisprudenz. So wie der Milita­rismus die Schwestererscheinung des theokratischen Aristokratismus ist, so ist die Jurisprudenz die Schwestererscheinung des schon im Römertum auftretenden abstrakten bürgerlichen Ideenprinzips. Meta­physik und Jurisprudenz sind Geschwister. Da kommt die Zeit herauf, in der nun nicht die Dinge hingenommen werden als Offenbarungen, sondern in der alles bewiesen werden soll. So wie man in der Juris­prudenz beweist, daß einer gestohlen hat, so soll bewiesen werden, daß nicht nur 2 mal 2 vier ist, sondern auch, daß es einen Gott gibt. Das führte zu dem immer wiederkehrenden Beweis für das Dasein Gottes. Alles Beweisen unserer wissenschaftlichen Logik ist nichts anderes als eine metamorphosierte juristische Logik. Daß dieses Ju­ristentum eingetreten ist in unser öffentliches Leben, das können Sie ja, wenn Sie sich darum kümmern, wahrhaftig auch heute noch überall erkennen. Denken Sie doch nur, wie die Leute klagen, daß an den ver­schiedensten Verwaltungsstellen in dem Verwaltungsapparat, der ganz aus dem römischen Imperium herausgebildet ist, daß da, wo Leute sitzen sollten, die etwas von dem Technischen verstehen, Juristen sitzen, nicht Techniker. Das ist wirklich so. Die Juristen sitzen überall an diesen Stellen. Das ist das zweite, das in unser Leben eingetreten ist, so wie Theokratie und Militarismus das erste Geschwisterpaar war. Theokratie und Militarismus, das heißt das Griechentum wurzelt wirk­lich, so sonderbar das klingt, in der geistigen Konstitution des Menschen;

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in seiner Rechtsauffassung wurzelt das Römertum. Und aus diesen Unterlagen heraus, die ich Ihnen angeführt habe, unterscheidet sich auch das westliche Römisch-Katholische von dem östlichen Griechisch-Katholischen. Das östliche Griechisch-Katholische ist mehr eine geistige Angelegenheit geblieben. Die römische Kirche ist eigentlich im Grunde genommen ganz und gar eine bürgerliche und Rechtsinstitution. Sie hat sich auch immer als eine solche behauptet. Sie hat umgegossen, was bloß geistig sein sollte, in Rechtsinstitutio­nen. Sie hat aber auch sogar in die katholische Weltanschauung juri­stische Begriffe hereingetragen. Die Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch die Beichte und solche Dinge, die ganz und gar aus dem Rechtsgedanken heraus entspringen, Sie finden sie auf Schritt und Tritt in der späteren katholischen Dogmatik, die nicht ursprünglich christlich, sondern römisch-dogmatisch ist, die durchdrungen ist durch das römische Denken. Und das, was da durchgegangen ist durch das römische Denken, den stärksten, den abstraktesten Ausdruck findet es eigentlich doch im Protestantismus, der ganz und gar auf einem juristischen Begriff beruht: auf der Rechtfertigung des Menschen durch den Glauben.

Das sind die alten Elemente, die in unserem Kulturleben drinnen sind. Man muß unbefangen auf diese alten Elemente hin den Blick wenden, denn in unserer Zeit sind sie reif zu sterben. Das haben Marx und Engels bemerkt. Marx und Engels haben aber nicht bemerkt, daß wir nun ein Neues brauchen, das an deren Stelle gesetzt werden muß. Sie haben geglaubt, das Wirtschaftsleben solle weitergehen in einer bloßen Verwaltung der Produktionszweige, Güter, Sachen; das andere werde schon von selbst kommen. Es kommt nicht von selbst. Neben der sachlichen Verwaltung der Produktionszweige und Güter brau­chen wir eine demokratische Rechtsgllederung und eine Neuschöp­fung des Geisteslebens. Aus dem, was nicht Geist ist, wird sich nie ein neues Geistiges heraus ergeben. Daher steht die Dreigliederung in innigem Zusammenhang mit der ganzen Forderung unserer Zeit. Sie betont, daß es notwendig ist, da der alte Geist herausgepreßt ist aus unserer Kultur, daß er ersetzt wird durch einen neuen Geist, durch eine Neuschöpfung des Geistes. Wir können uns heute als Kulturmenschen

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nicht begnügen mit einer neuen Renaissance. Wir können nicht ein Altes aufwärmen, sondern wir brauchen eine Neuschöpfung des Geistes. Das will anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sein. Sie wird deshalb am meisten angefochten sein, weil die Menschen am Alten hängen. Und wir brauchen zweitens eine Neuschöpfung des Rechtslebens, das ganz in das demokratische Fahrwasser gebracht werden muß, das so geschaffen werden muß, wie es aus den alten Ver­hältnissen nicht geschaffen werden kann, weil niemals in den alten Ver­hältnissen der Mensch als Mensch dem Menschen gegenübersteht, sondern immer irgendwelche Klassen- oder Vorrechtsgllederungen mitbestimmend sind. Das ist das, was dem Menschen der Gegenwart obliegt: sich wirklich einmal hineinzustellen in die Neuschöpfungen. Dazu fehlt ihm vielfach der Mut. Aber dieser Mut wird eben auf­gebracht werden müssen. Er wird aber dann aufgebracht werden, wenn sich der schläfrigste Teil unserer Bevölkerung, und das ist der­jenige, der durch das akademische Studium hindurchgegangen ist - im ganzen und großen ist es so, Ausnahmen gibt es selbstverständlich -, wenn sich eben dieser schläfrigste Teil dazu bequemt, nun auch mit dem Hergebrachten brechen zu wollen, seien es auf dem Wege des Griechentums gekommene Offenbarungen, seien es auf dem Wege des Römertums gekommene abstrakte Ideen. Da muß man sich hinein-finden in die Möglichkeit, ein Recht auszugestalten durch ein demo­kratisches Staatswesen, ein Geistesleben auszugestalten durch eine Neuschöpfung, die auf völlig freiem Boden stehen und daher brechen muß mit allen den Undingen, die nur auf Konservierung von Altem beruhen oder auf irgend etwas, was nebulos und unklar ist. Bitte be­trachten Sie von diesem Gesichtspunkte aus, was gerade in diesen Tagen sich vollzieht.

Nicht wahr, es behauptet die Sozialdemokratische Partei - ich will jetzt nicht von Schattierungen sprechen-, diejenige Partei zu sein, die aus dem modernen Wirtschaftsleben eine Neugestaltung der Dinge zustande bringen wird. Der Leninismus innerhalb dieser Sozialdemo­kratie ist doch eigentlich die konsequenteste Ausgestaltung dieser sozialdemokratischen Anschauung, denn Lenin ist wirklich ein wür­diger Nachfolger von Marx. Dieser Leninismus will aus dem bloßen

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Wirtschaftsleben auf dem Boden der Erde, wo das am wenigsten gehen kann, weil aller Volksinstinkt dem widerspricht, er will aus dem bloßen Wirtschaftsleben durch Lunatscharskysche Alchymie ein Geistesleben erzeugen. Ich rede nicht, wenn ich über diese Dinge rede, auf irgend­welche Nachrichten hin, so daß man sagen kann, es werden Märchen von Rußland erzählt, und dergleichen. Man braucht gar nicht auf die Schilderungen hinzuhören, denn die sind natürlich gefärbt von der subjektiven Auffassung. Es wird der Bürgerliche anders schildern als der Sozialdemokrat. Nein, auf dem fuße ich, was Lenin selbst aus­gesprochen hat in seinem Werk. Ich weiß, daß das, was seiner Auf­fassung zugrunde liegt, nicht eine Neubildung der Kultur, sondern der Mord einer Kultur ist. Ich will nicht über das Schulwesen reden, was geschildert wird, sondern von den Gesetzen, welche dem russi­schen Schulwesen gegeben werden, und aus dem kann nicht ein gei­stiges Leben hervorgehen. Es kommt mir nicht darauf an, was ge­schildert wird, sondern darauf, was dieselben Menschen tun, die aus ihren Illusionen heraus ein Neues schaffen wollen. Wir in Mitteleuropa sind noch nicht so weit, wir können daher noch nicht diese großen Fehler schon machen, aber wir sind auf dem besten Wege, alles Mög­liche, das kommen will für die Zukunft, zu verderben.

Nicht wahr, Marx und Engels standen auf dem Standpunkt: Das Wirtschaftsleben ist alles, daraus muß nun das Geistesleben sich ent­wickeln. - Das ist Theorie, das ist Utopie. Was geschieht in Wirklich­keit? Man fühlt: Ja, wenn wir bloß wirtschaftliche Einrichtungen treffen gegenüber der gegenwärtigen Kultur, so scheint ja doch nicht ein wirkliches Geistesleben daraus zu werden -, also schließt man Kompromisse mit dem alten Geistesleben: die Sozialdemokratie mit dem Zentrum. Eigentlich müßte nach Marx und Engels nicht aus dem Zentrum aufsteigen der Rauch, der in unsere Gehirne und die der nach­folgenden Generationen hinein belebend gehen würde, sondern er müßte aus der Selbständigkeit des Wirtschaftslebens als der Überbau heraufsteigen. Sehr sonderbar, in der Marxschen und Engelsschen Theorie: wirtschaftlicher Unterbau, ökonomischer Unterbau; geisti­ger, ideologischer Überbau, Recht, Sitte, Geistesleben überhaupt aber

- illusionistische Theorie. In Wirklichkeit: ökonomischer Unterbau,

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die Sozialdemokratie; der Überbau besorgt durch das Zentrum und den römischen Klerikalismus. Der Unterbau: der marxistisch gedachte Wirtschaftsstaat oder die marxistisch gedachte Wirtschaftsgenossen­schaft; illusionärer Überbau: der aus der Illusion heraus entspringende ideale Mensch, der sich ergeben soll; Wirklichkeit: der dicke Erz-berger. - Sehen Sie, diese Dinge nehmen sich grotesk aus, wenn man sie ausspricht, aber sie sprechen eben die Wirklichkeit aus und sie zeigen, wenn sie nur ernsthaftig ins Auge gefaßt werden, wo wir eigentlich stehen, welchen Irrtümern wir entgegengehen. Sie zeigen aber auch, daß wir nicht herauskommen werden aus den Irrtümern, wenn wir uns nicht entschließen, an die Neuschöpfung eines Geistes­lebens heranzugehen und diese Neuschöpfung des Geisteslebens sym­pathisch zu behandeln. Sympathisch zu behandeln aus dem Grunde, weil jetzt schon die Zeit ist, wo das Geistesleben nicht bloß Welt­anschauung wird, nicht bloß Theorie bleiben kann, sondern wo es einziehen muß in die praktische Behandlung des Lebens.

Dadurch, daß die moderne Medizin nur mit einer Naturwissenschaft rechnen konnte und auf einer Naturwissenschaft sich aufbauen konnte, welche nicht berücksichtigt den dreigliedrigen Menschen, den Nerven­Sinnesmenschen, den rhythmischen Menschen und den Stofiwechsel­menschen, dadurch wurde diese moderne Medizin, die nun etwas Praktisches ist, sowohl als Hygiene wie als Heilungsmethode das Ein­seitige, das ja heute schon nicht nur sehr viele Menschen, sondern auch schon sehr viele Ärzte, Gott sei Dank, empfinden. Unsere Medizin wird aber niemals auf eine gesunde Grundlage gestellt werden, wenn man sie nicht wird stellen können auf die dreifache Natur des Men­schen. Oh, etwas ganz anderes ist der Kopfmensch, der nachgebildet ist dem Kosmos, etwas ganz anderes sind daher diejenigen Unregel­mäßigkeiten in der menschlichen Natur, die krankhaften Unregel­mäßigkeiten, die kosmischen Ursprungs sind. Etwas anderes sind die­jenigen Schädigungen der menschlichen Natur, die tellurischen Ur­sprunges sind, und die im wesentlichen auf dem Umweg durch den Stofiwechsel kommen, irdischen Ursprunges sind, nicht kosmischen. Etwas anderes ist alles dasjenige, was zusammenhängt mit dem, was zwischen dem Kosmos und der Erde ist, mit dem, was in der Luft und

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auch im Wasser zum Teile lebt. Das muß in der Zukunft Ausgangs­punkt werden eines wirklich frei betriebenen medizinischen Studiums. Denn es ist ja das Eigentümliche, daßman von diesen drei Dingen, die ich jetzt angeführt habe, und die in der wirklich praktischen Medizin auf Grundlage der Dreigliederung des Menschen aufgebaut werden müssen, nur das eine eigentlich, ich möchte sagen, im Offiziell-Schul­mäßigen lernen kann. Man kann durch diejenigen Methoden, die es heute einzig und allein durch unser, dem griechischen und römischen Leben nachgebildetes Universitäts-Lehrwesen gibt, nur dasjenige stu­dieren, was im Menschen auf dem Stoffwechselsystem beruht. Und eigentlich ist unsere ganze medizinwissenschaftliche Art zu denken, eine Art, auf Grundlage des Stoffwechselsystems zu denken. Denn so wie wir heute Wissenschaft haben, gibt es eigentlich nur die Wissen­schaft des Stoffwechsels. Wollen Sie aber die anderen Dinge hinzu­fügen, dasjenige, was in der menschlichen Natur als Schädigung auf­treten kann durch Luft und Wasser, so haben Sie es eigentlich mit lauter Individuellem zu tun. Was im Menschen als Schädigung auftritt aus Luft und Wasser, ist ganz individuell, das kann nur erlernt werden durch den hingebungsvollen Umgang mit älteren Ärzten, die schon Erfahrungen haben auf diesem Gebiet. Das kann nur angeeignet wer­den dadurch, daß man als junger Mensch sich anschließt an einen alten erfahrenen Arzt, nicht schulmäßig, sondern als Gehilfe, was ja im heutigen klinischen Assistententum geschieht, aber als Karikatur, her­untergedrückt in die Stoffwechselsphäre. Es muß so auftreten, daß ein gewisser ärztlicher Instinkt, eine gewisse ärztliche Intuition, die - bei einem mehr, bei dem anderen weniger - ans Hellsehen grenzen wird, eintritt bei dem, der der Gehilfe eines älteren Arztes ist, und so, daß er gar nicht darauf kommt, nur typisch-schematisch die Dinge zu be­handeln, sondern daß er aus Instinkt heraus neues Individuelles und älteres Individuelles, an dem er sich herangebildet hat, das er nicht bloß nachahmt, verbindet. Und dasjenige, was an Schädigungen kommt in den menschlichen Organismus von der Kopfesseite her, was ja, wie ich vorhin gesagt habe, obwohi es den ganzen Menschen durchdringt, nur im Kopfe zentriert ist, das kann überhaupt niemanden gelehrt werden. Es gibt keine Methode, um von außen diejenigen Krankheiten

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erkennen zu lernen, welche im menschlichen Organismus auf­treten vom Kopfe her. Die erkennt man nur durch ursprüngliche Be­gabung, und diese Begabung muß geweckt werden. Daher ist es not­wendig, daß ganz von Anfang an Rücksicht darauf genommen werde, ob solche Anlagen bei einem bestimmten Menschen erweckt werden können.

Sie sehen, da spielt hinein diejenige Gesinnung, die sich ausbilden muß in dem selbständigen Geistesorganismus, und die dahin gehen wird, aufmerksam zu sein auf menschliche Begabung, das heißt, jeden Menschen an die Stelle zu stellen, auf die er hingeführt wird durch seine besondere Begabung. Da ist es schon nötig, daß dieses besondere Geistesleben wirklich auf seine eigenen Füße gestellt werde, denn nur in einem freien Geistesleben, wo die Begabungen frei walten, werden auch die Begabungen wirklich erkannt. Dadurch kehrt der Mensch, indem er in das Geistige eintritt, wiederum in einer gewissen Weise zum Natürlichen, Naturhaften zurück, und dadurch werden sich wie­derum mögliche Verhältnisse ergeben. Sie wissen ja alle, heute leiden wir daran, daß eigentlich alle Verhältnisse, weil wir nicht aus natur­gemäßem Denken heraus, das heißt aus geistigem Denken heraus die Dinge der Welt verwalten, nicht mehr recht versorgt werden können. Da haben wir gewisse Stellen im Staate oder auch wo anders; immer aber sind viel zu viele Menschen da für diese Stellen. Bewerber sind immer viel mehr da, als gebraucht werden. Wiederum andere Stellen sind nicht versorgt, weil die Menschen nicht vorgebildet sind. Ge­wisse Berufszweige können nicht da sein, weil die Menschen nicht vor­gebildet werden. In dem, was der Idee vom dreigliedrigen sozialen Organismus als freies Geistesleben vorschwebt, kann das alles nicht der Fall sein, weil da der Mensch nicht aus Willkür heraus gestaltet, sondern weil er gestaltet im Einklang mit den großen Weitgesetzen. Und wo das geschieht, da geht es in der Regel gut. Wo gegen diese großen Weltgesetze aus der menschlichen Willkür heraus gestaltet wird, da geht es in der Regel nicht. Und am meisten Veranlagung zur Willkür hat das römische System. Das bloß metaphysisch-juristische System hat am meisten Veranlagung zur bloßen Willkür. Das Grie­chische hatte einen gewissen Instinkt aus der Blutbürtigkeit heraus,

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wenn auch dieser Instinkt nur für die Minderheit denkt. Das Wirt­schaftliche hat seine eigene Naturnotwendigkeit. Das metaphysisch-juristische System ist das, was den Menschen am meisten mit Bezug auf seine Gefühle und Empfindungen von den Naturgrundlagen ent­fernt. Das römisch-juristische System ist dasjenige, was wir vor allen Dingen unbefangen ins Auge fassen müßten. Denn ehe wir es nicht überwinden auf allen Gebieten, eher kommen wir nicht weiter.

Wenn einen heute jemand frägt und sagt: Werden denn in der Zu­kunft aus dem selbständigen Geistesleben heraus nun wirklich ge­nügend oder nicht zu viel Menschen da sein für einen bestimmten Be­ruf an den leitenden Stellen? dann kann man nur antworten: Diese Dinge müssen nicht so beantwortet werden, wie jene Logik arbeitet, die nach dem Muster der römischen Jurisprudenz aufgebaut ist, son­dern wie die Logik der Tatsachen arbeitet. - Es ist jetzt schon einige Jahrzehnte her, da verbreitete sich von Wien aus durch die Mensch­heit, die gebildete Menschheit, wie man sagt, die Kunde, daß sich Leute gefunden haben, welche in der Zukunft die Art der Geburten regulieren können. Das heißt, man wäre in der Zukunft imstande, re­gulieren zu können, ob das, was geboren werden soll, ein Knabe oder ein Mädchen werde. Sie wissen, diese Schenksche Theorie machte ein großes Aufsehen, und die Leute versprachen sich sehr viel davon. Wissen Sie, was die wirkliche Wirkung sein würde? Die Wirkung würde die sein, daß in diese annähernde - es ist gut, daß es eine an­nähernde ist -, daß in diese annähernde Ordnung, daß ungefähr gleich viel Männer und Frauen geboren werden, die größte Unordnung hin­einkommen würde, wenn das Geschlecht in die menschliche Willkür gesetzt wäre. Es würde die größte Unordnung hineinkommen. Und so wird es auch sein, wenn mit Bezug aufanderes, weniger Naturhaftes die Menschen ihre Willkür wiederum anwenden werden. Daß wir zu­viel Leute für den einen Beruf, zu wenig Leute für den andern Beruf haben, das rührt von der unnatürlichen Art des menschlichen Denkens und der menschlichen Einrichtungen her. In dem Augenblick, wo dieses willkürliche, metaphysisch-juristische römische Wesen einläuft in geisteswissenschaftlich4ntuitiv Inspiriertes, das wiederum zu­sammenfließt mit dem, was auch älterer Instinkt war, kommen wir

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wieder in ein Leben hinein, welches die gesellschaftliche Ordnung so regelt, daß diese bestehen kann.

Sie sehen, aus einem bloß abstrakten Denken heraus ist das neue soziale Denken nicht wohl zu begreifen. Man muß in einer gewissen Weise schon eine Art Ehe mit der Natur selber eingegangen sein. Und diejenigen Menschen, die heute am meisten glauben, natürlich zu denken, die denken am unnatürlichsten, denn sie denken verbildet römisch-juristisch, was in alle unsere Dinge hinein sich erstreckt hat. Man glaubt gar nicht, wie zum Beispiel selbst in etwas, was dem Römisch-Juristischen so ferne liegt, in die Medizin und das medizi­nische Denken, sich dieses abstrakte Wesen hineingeschlichen hat.

Und nun dürfen wir nicht vergessen, daß dieses ganze abstrakte Wesen so unnatürlich geworden ist seit den siebziger Jahren des neun­zehnten Jahrhunderts. Es ist nur zu unterscheiden das, was vorher war, und das, was nachher war. Bis in die siebziger Jahre hinein waren in allem noch alte Traditionen. Da haben noch die guten Elemente der verschiedenen Renaissancen gewirkt. Denn in den siebziger bis achtziger Jahren, da war genau zu bemerken: das Alte verliert für den Menschheitsfortschritt seine Gültigkeit, und die Menschheit muß streben nach Neuschöpfungen, sowohl des Rechtslebens wie des ge­samten Geisteslebens. Denn nur dadurch wird das Wirtschaftsleben, das ja recht deutlich seine Neugestaltung fordert, durchdrungen wer­den von solchen menschlichen Gedanken, die notwendig sind.

Aber auch die nötigen praktischen Tätigkeiten, wie die Medizin, sie werden nur befruchtet werden können, wenn vom Geistesleben aus nicht Renaissancen ausgehen, sondern wenn vom Geistesleben aus vollständig Neues geschaffen wird. Neuschöpfung des Geisteslebens, das ist es, was wir brauchen.

Es ging wirklich aus der Notwendigkeit unserer Zeit hervor, daß verbunden wurde anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft mit sozialem Wirken in dem Bund für Dreigliederung des sozialen Organismus. Und es hat sich ja auch in den letzten Monaten die Not­wendigkeit ergeben, eine engere Verbindung zu suchen zwischen dem Sozialen und dem eigentlich Geistigen. Gewiß, die Zöpfe werden allerlei auch dagegen haben. Die Zöpfe haben etwas gegen den Bund

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für die Dreigliederung überhaupt gehabt; sie werden auch etwas haben gegen dieses Hand-in-Hand-Gehen. Die Menschen haben gar nicht das Gefühl dafür, wie stark die Zöpfe sind. Sie haben auch nicht das Gefühi dafür, wie notwendig es ist in unserer Zeit, die Zöpfe abzuschneiden, und damit das europäische Chinesentum zu überwinden, sonst könnte uns das asiatische Chinesentum viel zu gefährlich werden, wenn wir noch länger den Zopf des europaischen Chinesentums tragen würden.

Nun hat begonnen ein gewisses Begreifen dieses Notwendigwer­dens aus den geisteswissenschaftlichen Untergründen heraus gerade in unserem Kreise, und wir haben ja gesehen, daß immerhin die Elemente dazu vorhanden sind, die Menschheit für eine gewisse Empfänglich­keit für das neue Geistesstreben wenigstens vorzubereiten. Es haben sich ja Freunde von uns gefunden, welche für die Verbreitung der anthroposophischen Weltanschauung hier in Stuttgart und in der Um­gebung von Stuttgart gewirkt haben, und das hat durchaus zur Be­friedigung ausgeschlagen. Es ist nun zu hoffen, daß sich gerade für diese Dinge, die heute auch sozial im eminentesten Sinne notwendig sind, Verständnis finde. Es ist unrichtig, zu glauben, daß die Mensch­heit in ihren breitesten Kreisen für diese Dinge nicht zugänglich sei. Wir brauchen in der Gegenwart, wenn wir verstehen wollen,was so­zial notwendig ist, ein Denken, das herangeschult ist durch diejenigen Begriffe und Ideen, die von der Geisteswissenschaft kommen. Denn sehen Sie, es wird neben allen anderen Gegensätzen in der Gegenwart auch diesen Gegensatz geben: juristisch-römisches, bloß logisches Denken und geisteswissenschaftliches Denken. Geisteswissenschaft­liches Denken, das überall auf die Tatsachenlogik geht - römisches, katholisches, juristisches Denken, das nur auf die Logik der Begriffe, nur auf die egoistische Menscheniogik geht. Dieses Denken, das wird niemals stark genug sein, die Wirklichkeit zu durchschauen. Ich habe Ihnen ja dafür einen deutlichen, konkreten Fall angeführt.

Nicht wahr, in Zürich hat der Avenarjus gelehrt, in Prag und Wien der Mach und ein Schüler wiederum von Mach, Fritz Adler, der Sohn vom alten Adler. Mach und Avenarius, mit ihrer rein positivistischen Sinneslehre, sie waren gute Durchschnittsmenschen, sie waren brave Gegenwarts- oder meinetwillen Vergangenheitsmenschen - denn in

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der Gegenwart soll es ja etwas Neues geben -, und alle die, welche die Philosophie von Avenarius und von Mach vertraten, die glaubten selbstverständlich, ganz brave Gegenwartsmenschen zu sein. Das blieb in der Regel noch bei der ersten Schülergeneration, wenn man reine positivistische Sinnestheon.en aufstellte, nicht mehr aber bei der nächsten Schülergeneration. Da trat die Logik der Tatsachen auf, und es pragte sich darin aus, daß Avenarius und Mach die Staatsphilo­sophen des Bolschewismus sind. Denken Sie sich diese braven mittel­europäischen Bürger, die also ganz gewiß niemals nach dieser Rich­tung über die Stränge gehauen haben, sie sind die Götzen, die philo­sophischen Götzen der Bolschewisten. Das ist Tatsacheniogik, das ist eine Logik, die durchschaut wird von dem, der sich einläßt auf geistes-wissenschaftliches Erkennen, das mit den Tatsachen geht. Wer bloß römisch-juristisch logisch denkt, der analysiert die Philosophie des Mach, die Philosophie des Avenarius Ja, da findet er nichts drinnen, was man logisch herausschälen könnte, und was dann ein praktisches System des Bolschewismus wäre. Oh nein! Auch dasjenige, was die Menschen tun könnten nach den Anschauungen einer solchen bloß begrifflichen Logik, einer solchen bloß metaphysischen Logik, das ist auch brav. Das heißt: was sich der römisch geartete Logiker als Kon­sequenz der Avenariusschen Weltanschauung denken muß, das ist brav bürgerlich. Was aber die Wirklichkeitslogik ausarbeitet daraus, das ist Bolschewismus. Wir brauchen heute Begriffe, welche die Wirk­lichkeit meistern, welche in die Wirklichkeit eintreten. Wir sind ganz weit von der Wirklichkeit abgekommen durch das römisch-juristische Wesen, das in alles, alles untergekrochen ist. Die Menschen glauben heute, ihre eigene freie Menschennatur zu äußern. In Wahrheit äußern sie nur dasjenige, was ihnen eingeimpft ist vom römischen oder katho­lischen - das aber auch römisch ist - juristischen Wesen. Deshalb ist es heute schwer, dasjenige an die Menschen heranzubringen, was nicht aus der menschlichen Willkür heraus entspringt, sondern was heraus-springt aus den Tatsachen selbst. Natürlich muß Geisteswissenschaft selbst in der Darstellungsweise anders tönen als das, was so hervor­gebracht worden ist. Aber in den Untergründen der menschlichen Natur findet sich schon die Sehnsucht, die den Stimmungen der

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Geisteswissenschaft entgegenkommt. Und es wird sich, wenn nur Aus­dauer und Mut genug vorhanden ist, gerade aus diesen Strömungen, die sich heute bei einzelnen unserer Freunde finden, Geisteswissen­schaft auch hinauszutragen in die Welt, es wird sich aus diesen Strö­mungen dasjenige ergeben, was die Gegenwart braucht. Man soll sich heute gar nicht beirren lassen dadurch, daß Meinungen auftreten, die ja doch nur aus romanischet Bourgeoisie stammen in ihrer Denkweise, daß man sagt: Ach, wenn die Menschheit durch das vorwärtskommen sollte, was ihr da meint, dann dauert das Jahrzehnte! - Das ist Unsinn wiederum gegenüber der Wirklichkeit. Es ist wiederum nichts anderes als römisch-juristische Logik. Die Wahrheit muß anders denken.

Wenn Sie eine Pflanze im Wachstum schauen, sie entwickelt erst langsam Blatt nach Blatt. Und derjenige, der glaubt, daß das immer so fortgehen würde in dem Tempo, irrt sich ganz beträchtlich. Dann kommt ein Ruck, dann entwickeln sich rasch aus dem Blatt Kelch und Blumenblätter. Und so wird es auch sein, wenn uns nur selber die Kraft ausdauert mit dem, was wir geisteswissenschaftlich und sozial bewirken können. Es kommt da auf das Wollen an. Es wird da viel-leicht lange so ausschauen, als wenn es ganz langsam ginge. Dann kommt aber, wenn sich zusammengeschoppt hat alles das, was wach­sen kann, der Umschwung mit einemmal. Aber er wird nur gut wir­ken, wenn möglichst viele Menschen darauf vorbereitet sind. Das ist es, was ich gerade jetzt wie eine Art von Fazit unseres Wirkens in diesen Wochen, die ich unsere «Stuttgarter Wochen» nennen möchte, Ihnen habe sagen wollen. Denn es handelt sich darum, daß wir ja nicht erlahmen, uns zu stemmen auf dasjenige, was aus unserer Sache selbst fließt. Nicht zu sehen links, nicht zu sehen rechts, sondern auf das­jenige zu sehen, was aus unserer Sache selbst fließt, darauf kommt es an. Und zu vermeiden, wenn auch nur in unseren Gedanken und Emp­findungen, irgendwie Mißtrauen zu haben zu dem, was aus dieser Sache selbst fließt. Mögen die Dinge, die aus unserer Sache fließen, noch so sehr angegriffen werden: durch solche Angriffe dürfen wir uns einmal nicht beirren lassen. Denn diese Angriffe, wir brauchen sie alle nur näher anzuschauen, so finden wir alsbald, daß sie aus dem Alten heraustönen und herausklingen, auch wenn sie «Bekenntnisse zur Erneuerung »

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sein wollen. Denn alle Erneuerung kann heute nicht anders kommen, als wenn zum wirtschaftlichen Denken ein neues rechtliches Denken und ein neues Geistesleben dazukommt. Das ist dasjenige, was wir als eine Notwendigkeit betrachten müssen, was wir in alles, alles hineinfüllen wollen, wovon wir uns durchdringen müssen, um mit­zuwirken bei der sozialen Neugestaltung der Menschheit.

Das war es, meine lieben Freunde, was ich Ihnen noch am heutigen Tage sagen wollte, weil ich allerdings glaube, daß dieses Eisen, das wir bis jetzt geschmiedet haben, nicht kühl werden darf, daß es warm bleiben muß. Dann wird es schon alles das bewirken, was die Mensch­heit auf denjenigen Weg führen kann, den diese Menschheit gehen soll. Deshalb möchte ich gerade diese Betrachtung, die einiges von dem zusammenfassen wollte, was wir hier in den letzten Wochen getrieben haben, ich möchte gerade diese Betrachtung zusammenfassen in zwei Worte. In zwei Worte, die ganz alt sind, die aber der gegenwärtige Mensch in einer neuen Art wird begreifen müssen, begreifen müssen so, daß er ihnen begegnet mit den Empfindungen und Gefühlen, die aus der Geisteswissenschaft herauskommen werden. Und diese Worte sind: Lerne und arbeite!

Wir können heute nicht uns dem naiven Glauben hingeben, wir wüßten schon alles und wir könnten aus dem, was wir wissen, Pro­gramme aufstellen. Wir müssen aus dem Leben heraus heute wiederum Ideen finden, aber das Leben erneut sich an jedem Tag, und wir müssen das Vertrauen haben zu dem, was wir an jedem Tag neu lernen können vom Leben. Und wir müssen nicht Feiglinge sein, die glauben, daß sie nur dann arbeiten können, wenn sie auf sogenannte sichere Ideen bauen können, wobei sie immer diejenigen Ideen meinen, die von alters her überliefert sind, die einmal da sind. Wir müssen den Mut haben, lernend zu arbeiten, arbeitend zu lernen. Anders kommt der Mensch in die Zukunft und ihre Forderungen nicht hinein. Das wird auch sein neues Christentum sein. Viele Menschen gehen heute durch einen gewissen Zwiespalt hindurch. Sie erinnern einen daran, wenn man im anthroposophischen Sinne vom Mysterium von Golgatha spricht, daß ja ihrer Meinung nach, nach dem Evangelium, der Chri­stus am Kreuze gestorben ist, um durch seine Tat die Seelen zu erlösen,

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daß also die Seelen, die nur an Christus glauben, eben erlöst sind ohne ihr Zutun. Es ist gewiß - Sie können es nachlesen in meinem «Das Christentum als mystische Tatsache» - durch das Mysterium von Golgatha etwas geschehen, woran der Mensch mit seinem Gegen­wartsbewußtsein unmittelbar keinen Anteil hat, denn das Gegen­wartsbewußtsein beginnt ja erst in der Mitte des fünfzehnten Jahr­hunderts. Aber darauf kommt es nicht an heute, daß wir uns faul hin­geben dem, was für uns außerhalb unserer selbst sorgt. Wir dürfen heute nicht so sprechen, wie zum Beispiel manche katholische Kir­chenfürsten, niedere oder höhere Kirchenfürsten sprechen, die da sagen: Sozial kommt man doch nicht vorwärts, wenn nicht in der Mitte, im Mittelpunkt des sozialen Wirkens der Christus steht. - Ich habe in der letzten Zeit in mancher Versammlung erlebt, daß auch in dieser Weise der Christus hineingeworfen wurde. Ja, meine lieben Freunde, ich habe mich beim Zuhören ein wenig des geistigen Ohres bedient, so daß ich gehört habe, daß äußerlich tönt durch den Saal, man komme nicht weiter sozial ohne den Christus, aber innerlich tönte bloß der Benediktus, nicht der Christus. Innerlich handelte es sich da nicht um den Christus, sondern um den Benediktus. Ich meine den, der jetzt auf dem römischen Stuhle sitzt. Und damit kommt eben die Menschheit heute nicht vorwärts, daß sie sich verläßt auf etwas anderes als auf das, was mit der eigenen Seele sich verbindet. Der Christus muß auch neu begriffen werden. An die Stelle des Christus kann nicht die äußere Kirche treten. Nur das, was der Mensch in sich selbst erlebt, kann ihn vorwärtsbringen. Daher begreift niemand den Christus, der ihn nicht so begreift, daß er wiedergeboren werden muß in der Seele eines jeden einzelnen Menschen. Der Mensch muß aber mitschaffen an seiner geistigen Gestaltung. Erst wenn wir daran glauben, daß nicht schon unsere eigentlich menschlichen Kräfte mit uns geboren werden, sondern daß unsere eigentlich wirksamen menschlichen Kräfte in der Zukunft diejenigen sein werden, die wir selbst in uns entwickeln, dann erst stehen wir auch auf wirklich christlichem Boden. Nicht der Chri­stus, der mit uns geboren wird - das ist nur der Gott-Vater -, sondern der Christus, den wir selbst in uns erleben, indem wir uns zu ihm hin-entwickeln, das ist der Christus, der begriffen werden muß.

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Es gibt heute Bücher von protestantisch christlichen Menschen, zum Beispiel von Harnack das Buch «Wesen des Christentums». Strei­chen Sie in diesem Buche überall das Wort « Christus », wo es steht, dann wird dieses Buch aus einer Lüge zu einer Wahrheit. So wie es ist, ist es eine Lüge, denn es sollte überall stehen, wo « Christus» steht: der Vater-Gott. Das, was Harnack schreibt, bezieht sich nur auf den all-gemeinen väterlichen Naturgott. Von dem Christus steht nichts drin in dem Buche. Der ist hineingelogen. Der Christus kann nur gefunden werden von der umgestalteten, umgewandelten menschlichen Natur, von der in eigener Tätigkeit begriffenen menschlichen Natur.

Das ist es, was überwunden werden muß heute, womit aber leider, leider die Welt, statt an die Überwindung zu denken, Kompromisse schließt. Die Kompromisse, die heute draußen geschlossen werden, werden aber auch im Innern der Seele viel geschlossen, und wenn nicht unsere Seelen so schauerliche Kompromißler wären, dann gäbe es auch im äußeren Leben solche schauerliche Kompromisse nicht wie der, der jetzt von Weimar ausgeht, der Schulkompromiß. Die Kompromiß-Naturen schleichen heute durch das Dasein, und sie sind diejenigen, welche alles rückwärtsschauend erleben, welche nicht vorwärtskom­men. Vorwärts kommen wir nur, wenn wir den Willen haben zum Lernen, wenn wir den Mut haben, das Gelernte ins Leben einzuarbei­ten. Nur aus diesem Willen und aus diesem Mut kann die neue Devise entspringen:

Ich will lernen, ich will arbeiten!

Ich will lernend arbeiten!

Ich will arbeitend lernen!

SECHZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 8. September 1919

#G192-1964-SE348 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

SECHZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 8. September 1919

#TX

Ich wollte an diesem Abend noch einmal zu Ihnen sprechen aus dem Grunde, weil ich es für nötig halten muß, zusammenfassend in einigen Ausblicken manches noch vorzubringen, was zusammenhängt mit alledem, was hier geschehen ist und von hier aus geschehen ist mit Bezug auf die Kulturbewegung unserer Gegenwart. Und namentlich in bezug auf alles das, was gewissermaßen der Anlage nach in dem von hier aus Geschehenen und Beabsichtigten noch liegen kann.

Ich werde Ihnen vielleicht heute nicht besonders viele außergewöhn­lich neue Sachen zu sagen haben, aber Zusammenfassendes, das noch einmal durch unsere Seelen ziehen soll, das wird gerade notwendig sein, jetzt auszusprechen.

Es ist der Grundton, aus dem heraus ich auch heute sprechen möchte, öfters schon hier angeschlagen worden gerade in der letzten Zeit, der Grundton, der andeuten soll, daß eine wirklich echte geistige Vertiefung für die Menschheit in der Gegenwart notwendig ist, eine geistige Vertiefung mit jenen neueren geistigen Erkenntnismethoden, die eben in der Gegenwart möglich sind, und die ich ja oft genug cha­rakterisiert habe.

Es ist auch in der letzten Zeit immer wieder gesagt worden: Auch in sozialer Beziehung wird man nicht vorwärtskommen können, wenn das Verständnis für soziale Tatsachen nicht ausgeht von einer entsprechenden geistigen Vertiefung, mit den dazugehörigen neueren geistigen Erkenntnismitteln. Und es ist darauf hingewiesen worden, wie durchaus ernst, radikal ernst, gerade dieses Streben nach geistiger Vertiefung der Menschheit in der Gegenwart gesucht werden soll eben mit den neueren Erkenntnismitteln, und wie nur derjenige ein wirk­liches Verständnis für die Anforderungen der Gegenwart hat, der wirklich ernst zu nehmen vermag, was in dem Rufe nach geistiger Vertiefung liegt, und der auf der anderen Seite endlich einmal die Überzeugung gewinnen kann, daß diese geistige Vertiefung im Inner­sten, im wesentlichen wenigstens, keinerlei Kompromisse abschließen

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kann mit irgendwelchen älteren Wegen in die geistige Welt hinein. Alles, was an Kompromissen angestrebt wird, führt doch nur auf Ab­wege. Kann man denn eigentlich sagen, daß in unserer Zeit Menschen, die durchaus bei sich selber die Anmaßung haben, in diesem oder jenem Gebiet führend zu sein, daß diese Menschen völlig Ernst zu machen wissen mit dem, was heute Streben nach dem Geiste ist? Da müßten diese Menschen ein Gefühl haben nicht nur für Theorien über den Geist, sondern sie müßten ein Gefühl haben für die reale, die lebendige Wirksamkeit im Geistigen und durch das Geistige. Wenn man aber von dieser realen Wirksamkeit im Geistigen und durch das Geistige spricht, dann spricht man für viele Leute heute noch von etwas durchaus für sie Unverständlichem.

Ich will Ihnen gleich durch ein Beispiel illustrieren, was ich meine Da bekam ich neulich einen Brie£ Ich will nur gewissermaßen bei­spielsweise über diesen Brief sprechen, ohne einen Namen zu nennen. Da bekam ich neulich einen Brief von einem, ich will sagen, auf gei­stigem Gebiet in der Gegenwart tätigen Menschen, der in diesem Briefe zunächst sagt, daß er den «Aufruf an die Kulturwelt»in die Hand bekommen habe, und mit lebhaftester Zustimmung den Ge­danken der Dreigliederung des sozialen Organismus aufgegriffen habe. Dann wird geschrieben, daß der Betreffende dem Buche «Die Kern­punkte» wertvolle Belehrung und Anregungen verdanke, die er wie­derholt öffentlich zum Ausdruck gebracht habe. Dann geht der Be­treffende aber dazu über mitzuteilen, daß ihm neulich von der Leitung des Bundes für Dreigliederung zugeschickt worden sei der Abdruck des Vortrages, den ich einmal vor den Arbeitern der Daimier-Werke gehalten habe. Und nun spricht er über diesen Vortrag, spricht so, daß er sagt, auch an den sachlichen Ausführungen dieses Vortrages wage er kein Wort der Kritik. Aber dann kanzelt er auf den übrigen Seiten des Briefes diesen Vortrag furchtbar ab, weil er findet, daß er im Tone anders gehalten sein sollte, als er gehalten ist, weil er sich gewisser­maßen verletzt fühlt zum Beispiel dadurch, daß da die bisherige bürgerliche Kultur in einer gewissen abfälligen Weise besprochen worden ist und so weiter. Ich will auf die Einzelheiten nicht ein­gehen.

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Nun, was liegt denn da eigentlich vor? Ich will heute die Sache ganz der Wirklichkeit gemäß betrachten.

Sehen Sie, das ist ein Mann - es ist ja gut, daß es solche gibt -, der theoretisch einverstanden ist mit dem, was in dem «Aufruf» steht, der theoretisch einverstanden ist und sogar einiges aufgenommen hat von dem, was in den «Kernpunkten» steht. Der sogar mit dem Inhalt die­ses Vortrages, den ich für die Arbeiter der Daimier-Werke gehalten habe, einverstanden ist, der aber den Ton kritisiert, den Ton demago­gisch und dergleichen findet.

Was liegt da eigentlich vor? Der Mann ist theoretisch einverstanden, sogar mit diesem Vortrag. Das hilft aber nichts heute, theoretisch mit einer Sache einverstanden zu sein. Der Mann hat nämlich gar keine Empfindung für den Tatbestand. Der Mann kann nicht unterscheiden in bezug auf die Behandlung einer Sache. Wenn ich in Dornach sitze und einen Aufruf an die Kulturwelt schreibe, worin ich in ideeller Weise die Menschen der Gegenwart, die so etwas aufnehmen können, vor mir habe, nicht irgend etwas, was ich mir theoretisch ausspinti­siere, aufschreibe, sondern etwas, was ich aufschreibe im lebendigen Zusammenhang mit denen, die es verstehen könnten oder verstehen sollten, so ist das etwas aus realem Zusammenhang Herausgegriffenes. Dabei ist der in der Gegenwart waltende Geist durchaus berücksich­tigt. Und wiederum: ich schreibe die «Kernpunkte». Ich schreibe doch nicht, damit die Worte in kleinen gedruckten Buchstaben auf dem Papier stehen und eventuell Theoretiker sie kritisieren können, sondern ich schreibe sie für die Menschen der Gegenwart. Ich schreibe so, wie man vom Schreibtisch aus zu den Menschen der Gegenwart real, wirklichkeitsgemäß spricht. Nun gehe ich in einen Saal hinein, wo in der Hauptsache Arbeiter der Daimler-Werke sitzen. Dann ist es für mich ganz selbstverständlich, weil ich aus dem lebendigen, unmittel­baren Geiste heraus spreche, daß in dem Augenblick, wo ich hinein-gehe, ich weiß, wie ich zu den Leuten zu sprechen habe, wie ich die Worte zu setzen habe. Wer heute aus dem lebendigen Geiste heraus wirkt, hält keine Professorenvorträge. Professorenvorträge sind solche, worin man sich die Dinge gedacht hat und seine eigenen werten Meinungen den Leuten ins Gesicht wirft. Wer aber im lebendigen

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Geiste drinnensteht, der redet aus dem Herzen heraus, nicht an die Stirnen heran.

Das ist etwas, was einmal ausgesprochen werden muß. Menschen selbst, die theoretisch die Dinge verfolgen können, haben keine Ahnung, daß jemand, der im Geiste wirken will, aus dem Geiste her­aus wirken muß, dem er gerade einverleibt ist in diesem Augenblick. Das kann ja auch äußerlich kritisiert werden. Ich kann Ihnen die Ver­sicherung geben, der Vortrag, den ich dazumal vor den Daimler­Leuten gehalten habe, er ist damals von den Anwesenden verstanden worden. Hätte ich so gesprochen, wie der Schreiber es liebt, dann hätten mich die Leute selbstverständlich ausgelacht; es hätte nichts anderes zur Folge gehabt, als daß mich die Leute ausgelacht hätten. Es handelt sich heute nicht darum, daß man diese uralten - für heute sind es uralte -, theoretischen Gewohnheiten bewahre, persönlich mit irgend etwas einverstanden oder nicht einverstanden sein zu können, sondern heute handelt es sich darum, eine lebendige Empfindung zu haben für das Wirken und Wesen und Weben des Geistes, für den da-seienden Geist. Daher mußte ich immer wiederum, wenn auch unsere Freunde im Laufe der Jahre dieses oder jenes heranbrachten, was da oder dort gesagt worden war, und was äußerlich so klang, wie man­ches, was auch ich sage, ich mußte sagen: Auf diesen Gleichklang in den Worten und Sätzen und selbst Absätzen kommt es gar nicht an. Es kommt darauf an, aus welcher Ecke des Geistes her das real kommt, was gesagt wird. Hier ist viel zu verstehen noch für den Menschen der Gegenwart. Denn noch immer glauben die Menschen, wenn sie den Inhalt einer Sache heute aufgenommen haben, so hätten sie die Sache aufgenommen. Wenn man heute den Inhalt aufgenommen hat, so hat man nur den Wortlaut in sich und kann dem Geiste einer Sache sehr ferne stehen.

Das zu verstehen ist ganz besonders notwendig, wo hereinfließen soll in unsere materialistische Gegenwart dasjenige, was Geistes­wissenschaft auch in sozialer Beziehung zu sagen hat. Sonst wird man den Zusammenhang des anthroposophisch orientierten, geisteswissen­schaftlichen Wesens mit der sozialen Wirksamkeit nicht verstehen können.

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Wir leben einmal heute mehr, als wir es glauben, in der Welle einer materialistischen Kultur auf allen Gebieten. Und was vielfach heute gesagt wird: daß da und dort überwunden wäre diese materialistische Kultur, das ist ein Wahn. Denn es wird wohl im Wortlaut da oder dort die materialistische Kultur bekämpft, aber nicht aus dem Geiste her­aus. Man kann heute ein sehr idealistisches professorales Manifest er­lassen oder ein Buch schreiben: das kann aber trotzdem ganz aus dem materialistischen Geiste heraus sein. Es ist vor allen Dingen heute not­wendig, eines einzusehen, das ist: wodurch wir eigentlich in diesen Materialismus der Gegenwart hereingebracht worden sind. Denn wenn wir das nicht einsehen, so werden wir uns auch nicht aus ihm herausarbeiten.

Worin besteht denn das eigentlich Verderbliche der materialistischen Impulse in unserer Zeit? Es besteht darin, daß eigentlich sehr bald irgend etwas auffiammt, wenn heute aus lebendigem Erleben der Wirklichkeit Geistiges geltend gemacht wird. Nehmen Sie einmal an, jemand sei gerade durch seine Erfahrungen darauf hingewiesen, über die Tierwelt zu sprechen, und er spräche darüber so, daß er begreiflich machen wollte: in der Tierwelt und ihrer Entwickelung wirken gei­stige Kräfte. Er wird dann vielleicht aus der Erkenntnis derjenigen geistigen Kräfte, die in der Tierwelt wirken, so sprechen müssen, daß sogleich auffiammt diese oder jene Gruppe von evangelischen oder katholischen Theologen, die ihn in Grund und Boden hinein kritisie­ren, ohne überhaupt auf den Inhalt dessen, was er behauptet, einzu­gehen, bloß deshalb, weil er es wagt, aus der Wirklichkeitserkenntnis der Tierwelt über den Geist zu sprechen. Oder aber man redet, daß es notwendig sei, in das soziale Menschheitsleben hereinzubringen gei­stige Kräfte, weil man zu einer wirklichen sozialen Neugestaltung nur dadurch kommen könne, daß man geistige Kräfte erkenne und in die soziale Ordnung hineinbringe. Flugs lebt die Angriffslust der Mar­xisten und mancher Sozialisten auf, wie im anderen Falle die Angriffs-lust der protestantischen oder katholischen Pfarrer. Und der Ton, aus dem heraus von beiden Seiten gesprochen wird, ist gar kein so sehr verschiedener. Man muß nur manchmal darauf Rücksicht nehmen, daß der eine - ich meine das ganz gutmütig jetzt - mehr in einer sentimental-theologischen,

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religiösen Atmosphäre, der andere mehr in einer rauhbeinigen Atmosphäre aufgewachsen ist - ich will nicht behaupten, daß die letztere schlimmer sei als die sentimentale -; dasjenige aber, woraus eigentlich die Dinge tönen, es ist in bestimmten Fällen das gleiche.

Diesen Dingen gegenüber muß eben gefragt werden: Woher kommt denn eigentlich der materialistische Geist der Gegenwart? Wer hat ihn gezüchtet? - Diesen materialistischen Geist gezüchtet haben eigent­lich die religiösen Bekenntnisse. Und daß er heute auch in der sozialen Weltanschauung pulsiert, ist nur aus dem Grunde der Fall, weil die soziale Weltanschauung ein getreuer Schüler ist alles desjenigen, was im Grunde genommen von den religiösen Bekenntnissen in den Jahr­hunderten gekommen ist. Es war wirklich wichtiger, als man denkt, daß die katholische Kirche im Jahre 869 auf dem allgemeinen Konzil zu Konstantinopel, das ich ja schon öfter erwähnt habe, den Geist ab­geschafft hat. Seit dieser Zeit durfte innerhalb der katholischen Gelehr­samkeit nicht davon geredet werden, daß der Mensch Geist in sich habe. Es durfte nur gewissermaßen gesprochen werden davon, daß der Mensch Leib und Seele habe. So war es das ganze Mittelalter hin­durch. Und vor nichts fürchteten sich die katholischen mittelalter­tichen Gelehrten mehr als vor einem Sprechen von der Trichotomie, das heißt von der Dreigliederung des menschlichen Wesens in Leib, Seele und Geist. Denn das Konzil zu Konstantinopel hat bestimmt:

Der Mensch besteht aus Leib und Seele, und die Seele hat einige gei­stige Kräfte und Eigenschaften; etwas Geist ist schon in der Seele, aber man darf nicht von einem besonderen Geiste sprechen. Dann haben die Wissenschafter und Philosophen geglaubt, daß sie aus vor­aussetzungsloser Wissenschaft nur Leib und Seele unterscheiden, während sie es doch nur unter dem Einfluß des kirchlichen Dogmas aus dem neunten Jahrhundert taten. Solche braven Professoren wie Wilhelm Wundt sind nur die Schüler der katholischen Dogmatik, auch als Psychologen. Diesen Zusammenbang durchschaut man nur ge­wöhnlich nicht.

Wodurch ist es gekommen, daß man, wenn man weltliche Wissen­schaft bespricht, überhaupt nicht von Geist reden darf? Zum Teil ist

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es von diesem Dogma gekommen. Man darf aber nicht einmal von Seele reden. Von wirklicher Seele darf man nicht reden, weil die re­ligiö sen Bekenntnisse für sich das Recht beanspruchen, über Seele und, soweit sie wollen, soweit es das Dogma gestattet, über Geist zu spre­chen; es ist für sie monopolisiert. Man redet eigentlich über etwas, was einem nicht zukommt, wenn man über Seele und Geist redet, denn das gehört denjenigen, die vom Standpunkte eines religiösen Bekennt­nisses aus zu den Menschen sprechen. Was blieb denn der wirklichen Wissenschaft anderes übrig, dieser armen Zoologie, Physiologie, Che­mie und Physik, als von materiellen Vorgängen zu sprechen. Wenn da oder dort etwas auffiammt, wenn sie vom Geiste sprechen, da mischen sie sich ein in die Angelegenheiten der religiösen Bekenntnisse. Es bleibt dieser armen weltlichen Wissenschaft nichts anderes übrig, als materiell, materialistisch zu werden, weil die religiösen Bekenntnisse ihr die Möglichkeit benahmen, irgend etwas Geistiges zu berühren.

Darin liegt etwas sehr Wichtiges. Sehr wichtig ist, zu erkennen, daß diejenigen Mächte, welche den Materialismus gebracht haben, die kirchlichen Mächte des Abendlandes sind. Den Kirchen verdanken wir den Materialismus. Und der Materialismus wird immer stärker und stärker werden, wenn die Kirchen als religiöse, konfessionelle Verwaltungen nicht ihre Macht verlieren. In dieser Beziehung gibt es keine Möglichkeit, sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben, wenn man es mit der Kultur ernst nehmen will. Heute handelt es sich aber darum, daß man es mit diesen Dingen ernst nimmt. Heute darf man nicht aus irgendeiner menschlichen Schwäche heraus Kompromiß über Kompromiß schließen wollen. Ist man genötigt, in der äußeren Wirksamkeit einen Kompromiß zu schließen, so muß man sich dessen bewußt werden und nicht in leichtfertiger Weise darüber hinweg-reden. Man muß sich ruhig sagen: Der Gewalt muß selbstverständ­lich gewichen werden. Aber man muß nicht bei sich selber in der Er­kenntnis Kompromisse schließen. Man muß nicht glauben, daß das richtig ist, was man tut unter dem Einfluß der Gewalt.

Es ist also notwendig, hier eine Grundlage zu schaffen für die Er­kenntnis, die endlich einmal eine sichere Grundlage ist. Heute müssen die Dinge scharf, sehr scharf betont werden. Und hier auf diesem

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Boden liegen die Dinge, die sehr scharf betont werden müssen. Denn wir stehen heute einmal in einer Zeit, in der mit der Erkenntnis der geistigen Welt Ernst gemacht werden muß. Die naturwissenschaft­liche Erkenntnis, die aufgekommen ist in der fünften nachatlantischen Periode, die begonnen hat mit Galilei, Giordano Bruno, Kepler, Koper­nikus, diese naturwissenschaftliche Periode, die zum Beispiel einen der bedeutendsten Vertreter im neunzehnten Jahrhundert in Julius Robert Mayer hatte, verfolgt naturwissenschaftliche Methoden und geht aus von einer naturwissenschaftlichen Gesinnung, welche ein Neues ist gegenüber dem, was als Methoden und Gesinnung in den Glaubens­bekenntnissen, die sich aus alten Zeiten heraufgelebt haben, vorhanden war. Zwischen diesen naturwissenschaftlichen Methoden der natur-wissenschaftlichen Gesinnung und den Methoden der Glaubens­bekenntnisse gibt es keine Möglichkeit einer Vereinigung. Die Geistes­wissenschaft, die wirklich heute der Kultur gewachsene Geistes­wissenschaft, muß aber auf demselben Erkenntnisboden stehen wie die Naturwissenschaft. Sie muß Ernst machen mit dem, was ich ein­mal ausgesprochen habe in meinem Buche «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens». Mit solchen Dingen muß durchaus Ernst gemacht werden. Es wird aber nicht Ernst gemacht, wenn man nicht zur Geltung bringt, daß das alles, was wir in der Welt beob­achten, uns der Geist entgegenwirkt. Materie ist nirgends vorhanden bloß einseitig als Materie. Überall ist konkrete Materie mit konkretem Geiste zugleich zu finden. Und wenn der Mensch heute sagt, er stehe als Mensch in der Welt da, unter ihm die drei Reiche, Tierreich, Pflan­zenreich, Mineralreich, so behauptet er eine Halbheit, wenn er nicht zugleich anerkennt, daß ebenso, wie von seinem Leibe nach abwärts stehen Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich, so auch nach aufwärts stehen drei geistige Reiche, die Reiche der geistigen Hierarchien, die wir bezeichnen als die Reiche der Angeloi, Archangeloi, Archai. Nie­mand hat ein Recht, von Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich zu sprechen als heruntergehend in das Physische, wenn er nicht weiß, daß hinauf in das Geistige die drei anderen Reiche gehen. Denn der Mensch, wie er in der physischen Welt steht, er steht durch seinen Leib in Verbindung mit den drei Reichen, Tierreich, Pflanzenreich,

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Mineralteich; er steht durch sein Seelisch-Geistiges in Verbindung mit den drei übergeordneten Reichen, die für das vollständige mensch­liche Wahrnehmen ebenso geistige Wirklichkeiten sind, wie die drei untergeordneten Reiche physische Wirklichkeiten für die physischen Sinne sind. Und ehe das nicht anerkannt wird, daß man durch ein voll­ständiges Beobachten in der äußeren Wirklichkeit selber zur An­erkenntnis des Geistes kommt und sich von keinem hergebrachten religiösen Bekenntnis daran hindern läßt, etwas zu behaupten über die geistige Welt - ebensowenig wie man sich verhindern lassen kann an der Behauptung, daß es Walfische gibt -, ehe man nicht dazu kommt, eher kann man nicht dasjenige, was als Impuls in der Gegenwart wir­ken muß, ergreifen. Über diese Dinge muß heute eben ernst gedacht werden.

Die Sache liegt ja so: Wir sind in einen Zeitraum der menschlichen Entwickelung eingetreten, in dem der Mensch ein anderes Wesen ge­worden ist, als er in früheren Entwickelungsepochen der Erden-entwickelung war. In einer gewissen Entwickelung war der Mensch immer drinnen. Als die große atlantische Flut abgeflaut war und sich lierausentwickelten aus einer viel älteren Kultur die ersten nachatlan­tischen Kulturblüten in der altindischen Zeit, da entwickelte sich der Mensch seiner Körperlichkeit nach noch sehr stark nach aufwärts. Ebenso in der zweiten Kulturperiode, in der urpersischen Zeit. Ebenso noch in der dritten Kulturperiode, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit; sogar noch in einer gewissen Weise in der griechisch-lateinischen Zeit, die bis in die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ging. Seit jener Zeit hört langsam die Vorwärtsentwickelung, die Aufwärtsentwickelung des Menschen in bezug auf das Körperliche überhaupt au£ Die kör­perliche Entwickelung des Menschen ist abgeschlossen. Wir stehen nicht vor der Zukunft so, daß wir sagen können: Wie die Entwicke­lung durch die erste, zweite, dritte, vierte nachatlantische Zeit auf­wärts steigend war, so wird auch in der Zukunft die leibliche Entwicke-lung des Menschen aufwärtssteigen. - Nein, das wird sie nicht. Der menschliche Leib steigt nicht mehr aufwärts im Reste der Erden-entwickelung. Der menschliche Leib hat seinen Höhepunkt der Auf­wärtsentwickelung überschritten und geht als Leib, als erfüllt von

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leiblichen Kräften, nicht mehr einer Aufwärtsenrwickelung, sondern emer Abwärtsentwickelung entgegen. Fragt man nämlich danach mit denjenigen Mitteln der Geisteserkenntnis, die wir gut kennen aus der Literatur, die unter uns lebt, fragen wir danach, warum das so ist, dann muß man sagen: So wie der Mensch heute in eine andere Beziehung eingetreten ist zur Tierwelt - er hatte zum Beispiel während der ägyp­tisch-chaldäischen Zeit noch viel mehr vom Tier in sich als heute, das Leben war viel tierisch-instinktiver -, so entwickelt er heute auch eine andere Beziehung zu den drei höheren Reichen. Diese drei höheren Reiche hatten nämlich ein ganz besonderes Interesse daran, sich mit dem Menschen zu beschäftigen bis in unser Zeitalter herein. Die Men­schen der Gegenwart werden anfangen müssen, zu begreifen, daß, wenn man über diese Dinge redet, man von Wirklichkeiten redet. Die Geister der Hierarchien der Angeloi, der Archangeloi, der Archai, hatten ein lebendiges Interesse daran, sich mit den Menschen zu be­schäftigen. Nun hört dieses Interesse in der Gegenwart au£ Es fing an aufzuhören in der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts, als der fünfte nachatlantische Zeitraum begann. Diese Wesenheiten der höheren Hierarchien betrachteten es als ihr Ideal, ein Bild des Menschen, ein vollkommenes Bild des Menschen zu bekommen. Das konnten sie nicht bekommen bis in unsere Zeit herein, weil der Mensch noch nicht den Gipfel seiner Vollkommenheit erstiegen harte. Sie mußten war­ten. Heute, wo man die konfusen Gottesvorstellungen hat, die den Menschen so leicht zum Atheisten machen, kann man das nicht be­greifen, daß die über dem Menschen stehenden geistigen Wesenheiten auch auf etwas warten müssen. Sie mußten warten, bis sie den Men­schen so weit gebracht hatten, daß er ein Bild seiner Vollkommenheit vor ihre geistigen Augen stellte. Daher stiegen in den Menschen in früheren Zeiten im Unterbewußtsein instinktive Erkenntnisse, Emp­findungen, Willensimpulse auf: das waren die Taten dieser Wesen. Der Mensch konnte das nicht freiwillig aus sich hervorbringen, das tat er instinktiv; aber es waren die Taten dieser Wesen. Und diese Wesen interessierten sich dafür, daß der Mensch vorwärts komme, denn nur wenn es ihnen gelang, den Menschen so weit zu bringen, wie er seit der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts ist, hatten sie das Bild

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vor sich, das sie vor sich haben mußten wegen ihrer eigenen Entwicke­lung. Jetzt haben sie den Menschen so weit. Jetzt interessiert sie det Mensch von diesem Gesichtspunkte aus nicht weiter. Daher ist der Mensch auch in der Gegenwart so geistverlassen, weil die Geister ein gewisses Interesse an ihm verloren haben. Daher wird er in der Gegen-wart so leicht Gegner aller Geist-Erkenntnis, weil die Geister nicht mehr an ihm arbeiten. Für diejenigen Wesenheiten, die unmittelbar in der hierarchischen Ordnung über uns stehen, ist in dieser Beziehung das Interesse erloschen. Und dieses Interesse, das muß nun der Mensch aus seiner eigenen Willkür heraus wieder erwecken. Er muß, wie er früher durch seinen Leib veranlaßt worden ist, in seinen Instinkten nach dem Geiste hin sich zu entwickeln, nun aus seinem freien Er­kennen heraus gegen die Zukunft hin zu dem Geiste sich entwickeln. Er muß gewissermaßen von sich aus neuen Stoff zur Beschäftigung den höheren Wesen geben, indem er sich an sie anlehnt und Begriffe zu bekommen sucht, die ihre Begriffe sind, die nun über das hinaus­gehen, was instinktiv in uns gepflanzt ist.

Wir müssen daher die Möglichkeit finden, uns in ganz neuer Art zum Geiste zu stellen. Das muß natürlich heute zur Menschheit noch in vorsichtiger Form ausgesprochen werden. Ich habe gestern ver­sucht, recht vorsichtig davon zu sprechen. Aber gerade weil auf der einen Seite vorsichtig gesprochen werden muß, muß auf der andern Seite scharf und radikal auf diese Dinge hingedeutet werden. Denn gäbe es gar keine Menschen, die die Wahrheit auf diesem Gebiete heute ertrügen, so wäre es sehr schlimm um die Geisteskultur der Gegen-watt bestellt.

Was hat denn zum Beispiel aufgehört mit Bezug auf das Wesen des werdenden Menschen? Man hat in früherer Zeit mit vollem Recht ge­sprochen von irgendeinem Menschen, er sei begabt, er habe Anlage zur Genialität. Und man suchte mit Recht die Vorbedingungen zu sei­ner genialen Anlage in seiner leiblichen Beschaffenheit. Man konnte als Erzieher sich wenden bloß an seine leibliche Beschaffenheit, und indem man diese richtig entwickelte, kam seine Genialität heraus. Es kamen überhaupt seine Anlagen heraus. Von heute ab ist abgeschlos­sen die leibliche Entwickelung. Wenn man bloß den Leib entwickeln

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will nach irgendeiner physischen Pädagogik, kommt nichts heraus. Heute muß man sich an die Seele wenden. Heute muß man mit dem rechnen, was nicht bloß in physischer Vererbungs-Entwickelung her-auf kommt, denn da kommt nichts mehr herauf, sondern man muß sich wenden an dasjenige, was der Mensch in sich trägt, weil er in die­sem Erdenleben die Wiederholung früherer Erdenleben hat. Man muß heute mit dem lebendigen Bewußtsein an den werdenden Menschen gehen, daß man eine Seele vor sich hat. Die Begabungen des Leibes haben so aufgehört, daß es ein Unsinn sein würde, in der künftigen Menschheit davon zu reden. Man wird nicht mehr davon sprechen können, daß der Mensch seinem Leibe nach zu dem einen oder anderen begabt ist, sondern davon, daß der Mensch durch seine Seele zu dem einen oder anderen begabt ist. Das ist etwas, was von einer ungeheuren Bedeutung ist im Leben der Menschheit der Gegenwart. Denn vieles von dem, was man gesagt hat in früheren Zeiten über den Menschen, ist falsch, wenn man es heute sagt. Wenn wir heute noch nicht von der Geisteswissenschaft durchdrungene Pädagogiken lesen, so sind diese alle noch aufgebaut auf dem alten Glauben, der damals berechtigt war, dem Glauben von der physiologischen Begabung des Menschen. Heute gelten sie nicht mehr. Heute hat es nur einen Sinn, wenn wir von der seelischen Begabung des Menschen reden.

Wir müssen also in neuer Art anfangen zu erziehen. Das fordert die Entwickelung der Menschheit selbst in der Gegenwart. Wenn wir mit alten Begriffen reden, dann reden wir nicht von etwas, was auf die Gegenwart noch anwendbar ist. Gewiß ist es schön, heute geschicht­lich den Leuten davon zu reden, wie man richtig den Christus an-schaut, wenn man ihn im Sinne Luthers anschaut. Aber der Mensch der Gegenwart kann ihn so nicht anschauen, weil diese Anschauung keine Realität mehr in ihm hat und nur zur Lüge wird, wenn er sie vertreten will. Der Mensch der Gegenwart muß, wenn er den Christus finden will, ihn in der unmittelbaren Anschauung finden. So wie wir durch die äußere Anschauung die Natur finden, so finden wir durch die innere Anschauung den Christus. Das, was uns fortwährend die Geisteswissenschaft seit vielen Jahren geltend macht, damit hätte ein Verständnis begründet werden können für einen sozialen Impuls in

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dem Zeitpunkte, wo ein solcher sozialer Impuls durch die Entwicke­lung der modernen zivilisierten Menschheit notwendig geworden ist.

Die Dinge müssen im Zusammenhang betrachtet werden. Es zeigen ja die Äußerlichkeiten hinlänglich, daß es heute notwendig ist, die Menschen schon daran zu erinnern, die allerprimitivsten Impulse ihrer eigenen Religionsbekenntnisse ernst zu nehmen. Denn, sehen Sie, es gibt sogar für die Christen ein Gebot, daß der Name des Gottes nicht eitel ausgesprochen werden soll. Wenn aber dann jemand kommt und von sozialen Angelegenheiten spricht, dann kommen gleich die Leute und sagen: Ja, der redet ja gar nicht von dem Christus; das ist also nicht christlich. - Es wird wahrhaftig nicht dadurch christlich, daß man in jeder dritten Zeile den Namen des Christus ausspricht. Es braucht nur so gesprochen zu werden, daß man davon durchdrungen sein kann, daß es aus der Gesinnung heraus gesprochen ist, aus der der Christus will, daß in der Gegenwart gesprochen werde. Wenn aber aus dem Geiste der Gegenwart selbst heraus einmal gesprochen wird, und man sich bemüht, aus diesem Geiste der Gegenwart heraus zu sprechen, dann kommen die Leute und sagen: Ja, der redet ja nicbt von dem Christus. Der sollte überhaupt mehr innerlich reden. - Und dann wird in alleräußerlichster Weise das sogenannte Innerliche vorge­bracht. Sie wissen ja, daß aus einer gewissen Tantenhaftigkeit heraus jener Angriff kam, der da besagte, daß man eigentlich so nach jedem fünften Wort von «Innerlichkeit» zu reden gehabt hätte. Selbst­verständlich wäre es mir viel bequemer, diese Tantenhaftigkeit gar nicht zu berühren. Aber es ist notwendig in der Gegenwart, Tanten­haftigkeit und Onkeihaftigkeit zu berühren, weil sie zu großen Scha­den anrichten in bezug auf das, was wirklich geschehen muß. Ich möchte wirklich fragen, ob solche Tantenhaftigkeit und Onkelhaftig­keit sich wirklich bemüht, in dasjenige einzudringen, was als das wahr­haft Geistige in der Gegenwart zur Geltung gebracht werden muß. Wir müssen den Mut haben, uns zu sagen: Das, was wir im einzelnen tun, zum Beispiel indem wir im einzelnen unterrichten, das muß getan werden aus der Erkenntnis heraus, daß die Menschheit jetzt andere Entwickelungsimpulse in sich trägt als vor verhältnismäßig noch kurzer Zeit, daß tatsächlich führende Geister der übersinnlichen Welt

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bis vor einiger Zeit ein Interesse daran hatten, den Menschen bis zu einem gewissen Punkte zu bringen. Allein, das Bild des Menschen ist abgeschlossen, und der Mensch muß aus seinem Innern heraus selber den Anschluß an die Geistigkeit suchen, damit das, was der Mensch nun über sein Leibliches, sein leiblich Veranlagtes hinaus produziert, ihn wiederum interessant macht für die über ihm stehenden Geister. Sonst wird unsere Kultur veröden, versanden, versumpfen. Davor kann uns nichts retten, was in irgendeiner Weise Altes aufwärmen will. Davor kann uns nur retten der Mut, das Spirituelle aus einer gleichen Gesinnung heraus anzufangen, wie naturalistisch angefangen worden ist vom fünfzehnten Jahrhundert ab gegenüber den alten Bekennt­nissen. Das ist es hauptsächlich, was ich heute vor Ihnen entwickeln wollte: daß wir zu gewissen über uns stehenden Geistern nur richtig hinaufsehen, wenn wir uns gestehen, daß mit dem Ende des neun­zehnten Jahrhunderts das alte Verhältnis zu ihnen abgelaufen ist, und daß seit dem letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts die Mensch­heit notwendig hat, ein neues Verhältnis zur geistigen Welt einzu­gehen. Man sei in diesem Punkte wahr. Man sei zum Beispiel in fol­gendem wahr; man braucht ja nicht gleich unmenschlich zu sein, wenn man wahr ist, aber man sei wahr. Mit Bezug auf das Äußere kann ja nicht gleich der Mensch die gesamte Metamorphose der Menschheit mitmachen. Er wird heranerzogen durch das, was sich aus alten Impulsen heraus fortsetzt. So wurden heranerzogen durch das, was sich aus alten Impulsen heraus fortsetzte, diejenigen Menschen, die heute von den Kanzeln herunter die alten Bekenntnisse verkünden. Warum sollte man denn nicht menschlich ganz lieb sein mit dem, was von jener Seite kommt? Das kann man ja, aber man soll nur um Gottes willen nicht es ernst nehmen für die Ergründung der Wahrheit in der Gegenwart. Man soll sich sagen: Gewiß, die Leute sind dazu erzogen; sie können nicht in späteren Jahren ihren Beruf ändern; also mögen sie reden. Aber man soll doch nicht glauben, daß es notwendig ist, anders als in äußerlicher Weise, indem man sich wehrt, auf Diskus­sionen, die von jener Seite kommen, etwas zu geben. Und ähnliches mehr.

Wie gesagt, es wäre bequemer, diese Dinge unausgesprochen zu

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lassen. Aber wir gehen so schweren und ernsten Zeiten entgegen, daß es ganz unmöglich ist, diese Dinge unausgesprochen zu lassen. Und viel zu sehr ist die menschliche Schwäche verbreitet, in diesen Dingen nicht Ernst zu machen. Gewiß, jeder mag sagen: Ich kann ja nicht her­aus aus meiner Haut, oder aus meinem Amt, oder was auch. Aber er rechtfertige es doch nicht, sondern er gestehe sich, daß er eben vor­läufig Kompromisse schließt. Das Vertreten der Wahrheit, auch wenn man diese Wahrheit nur aus den äußeren Zeitverhältnissen heraus als notwendig betrachtet, das ist das Wichtige in unserer Zeit. Wenn man beachtet, wie die gegenwärtige Menschheit hineingesaust ist in jene so furchtbaren Katastrophen der letzten Jahre, so findet man ja als Grund keinen anderen als den, daß die Menschen so sehr davon ab­gekommen sind, von den Dingen immer hinzusehen zu den Worten, und von den Worten immer hinzusehen zu den Dingen. Es werden ja heute vielfach eben bloß die Worte angeschlagen, und dann glaubt man, von den Dingen etwas zu wissen. Diese Neigung, Phrasen­haftigkeit bis ans Ende zu entwickeln, das ist die Grundneigung un­serer Gegenwart, und dann: nicht zu sehen, daß, wenn die Worte da sind, ja noch nicht die Sachen da sind.

Wir haben uns in diesen letzten Wochen damit zu beschäftigen ge­habt, den Kursus für die Lehrerschaft der Waldorfschule zu besorgen. Da sollte dasjenige, was tote Pädagogik ist, in lebendige erzieherische Kunst umgewandelt werden. Da trat einem lebendig vor Augen Wahr­heit, die oftmals doch nur übersehen wird, weil man Worte Worte sein läßt. Da traten einem zum Beispiel lebendig vor Augen, wenn man sich auseinandersetzen mußte, dicke Dinge, gedruckte dicke Dinge, außen steht «Amtsblatt» drauf. Denn es ist ein Abschnitt aus einem Amtsblatt. Oder «Lehrplan» steht darauf für das oder jenes dicke Ding. «Lehrplan», da steht nicht nur drinnen: in der oder jener Klasse dieser oder jener Schule soll das oder jenes gelehrt werden, oder, was auch noch beweglich sein könnte: das oder jenes soll bis zu diesem oder jenem Ziel gekonnt werden; sondern da steht tatsächlich - man sollte es nicht glauben -, wie man unterrichten soll, wie man den Stoff behandeln soll. Das ist heute schon Inhalt einer Verordnung, der In­halt von Staatsverordnungen.

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Was heißt das, wenn man es der Wirklichkeit nach erfaßt? Ja, wenn man es so sagt: In einem Amtsblatt wird verordnet, wohlwollend, väterlich bevormundend, wie unterrichtet werden soll, und man denkt nicht darüber nach, so kann man sich darüber hinwegsetzen. Wenn man aber nachdenkt - was eine unbequeme Beschäftigung ist für die meisten Menschen der Gegenwart -, dann kommt man darauf, zu wissen: Es wird heute nicht Pädagogik gelehrt und Didaktik gelehrt an den höheren Schulen, daß die Menschen das begreifen, sondern es wird Pädagogik durch Gesetze verordnet. Wie man den Menschen ver­ordnet, daß sie nicht stehlen sollen, so verordnet man ihnen durch Amtsblätter, durch amtliche Verfügungen, wie sie unterrichten sollen. Und das empfindet man nicht, was da drinnen liegt. Und es ist so, daß in der Empfindung desjenigen, was da eigentlich erst in der neueren Zeit aufgetreten ist, allein der Ausgangspunkt für die Gesundung der Verhältnisse liegen könnte. Fünfzig Menschen, die an solchen Stellen stehen, wo man ihre Worte so hört, wie man die Worte der Mitglieder der Weimarer Nationalversammlung gehört hat, fünfzig Menschen, die so etwas empfinden wie die Anomalie der Gesetzgebung über Pädagogik, das würde mehr bedeuten für die Gesundung der Welt als das fade Geschwätz, welches an jener Stelle gesprochen worden ist in den letzten Monaten.

Dafür muß auch wiederum eine Empfindung da sein, und diese Empfindung wird von nichts anderem kommen als davon, daß leben­dig in den menschlichen Seelen und in den menschlichen Herzen ein­kehren die Kräfte der geistigen Erkenntnis. Nicht die bloße Theorie, die uns gestattet, mit den Dingen einverstanden zu sein theoretisch, und die uns dann nichts lehrt darüber, mit dem Geiste Ernst zu machen. Mit dem Geiste Ernst machen, heißt: wenn man einen Saal betritt, ist man eins mit dem Geiste und der Seele der Menschen, die da drinnen sind. Glaubensbekenntnisse, theoretisch gefaßt, sind heute ein Nichts. Das Sich-Erfühlen und Sich-Empfinden im Geiste, das ist es, was heute einzig und allein die Menschheit gesund machen kann.

Das war gemeint, als hier begonnen worden ist, sozial zu wirken. Aus dem lebendigen Geiste heraus zu wirken, das war gemeint. Bis

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jetzt sind die Menschen nur dazu gekommen, zu sagen: Ich bin mit dem oder jenem einverstanden, dem Wortinhalt, dem Satzinhalt nach. -Daß die Menschen heute so gescheit sind, mit einem Satzinhalt leicht einverstanden sein zu können, das leugnet gewiß derjenige am aller­wenigsten, der da aus der inneren Geist-Erkenntnis heraus sich ge­traut zu behaupten: Die geistigen Wesen, die bis jetzt an der Ent­wickelung gearbeitet haben, die haben den Menschen jetzt so weit, daß er bei ihrem Vollkommenheitsideal angelangt ist. Daß die Menschen heute gescheit sind, daß sie kritisieren können, daß sie intellektuell sehr weit sind, daß sie in gewisser Beziehung sogar irdisch voll-kommene Geschöpfe sind, das wird nicht geleugnet. Aber gerade weil sie das sind, müssen sie eine neue Quelle in sich selber aufmachen, aber eine ganz neue Quelle.

Gewiß, der Erkenner des geistigen Lebens hält die Menschen von heute für vollkommen. Aber gerade deshalb, weil sie vollkommen sind, weil sie durch andere Wesen als durch sich selbst vollkommen gewor­den sind, müssen sie jetzt anfangen, aus sich selbst etwas zu machen.

Das war es, was mich vor Jahrzehnten dazu veranlaßt hat, zum Bei-spiel die Moraiwissenschaft auf eine neue Basis zu stellen und in mei­ner «Philosophie der Freiheit» von «Moralischer Phantasie» zu spre­chen, das heißt von dem aus dem Menschen heraus Schöpferischen auch auf moralischem Gebiet. Weil mir vor Augen stand: Was der Mensch instinktiv aus sich selbst heraus entwickelt, und was man immer Ethik genannt hat, das hat keine Zukunft.

Ich habe schon oft hier, am Schlusse meiner Ausführungen, aus­gesprochen, daß ich so froh wäre, wenn es mir gelänge, trotz der un­vollkommenen Art, in der selbstverständlich so etwas vorgebracht werden muß, Widerhall in den Herzen der Freunde zu finden, wirk­lichen Widerhall zu finden. Denn es kommt mir niemals darauf an, ihnen bloß theoretisch dies oder jenes plausibel zu machen, sondern es kommt mir darauf an, dasjenige zu deuten, was die Zeichen der Zeit für die Gegenwart dem Menschen einprägen möchten. Es kommt mir nicht darauf an, durch diese oder jene Behauptung zu überraschen, oder nicht zu überraschen, sondern es kommt mir nur darauf an, das zu sagen, was für die Gegenwart wirklich notwendig ist.

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Lagen nicht der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft, wie ich sie vertrete, diese Prinzipien zugrunde? Jedem anderen Prinzip gegenüber wäre es vielleicht besser gewesen, das Wirken für diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft zu unterlassen. Zu unterlassen aus dem einfachen Grunde, weil es ganz selbstverständlich ist, daß aus dem, was in den Menschen der Gegenwart lebt, der Ein­zelne, der Geisteswissenschaft zu vertreten hat, mit allem möglichen Unrat beworfen wird. Das ist ganz selbstverständlich. Das kann nicht anders sein, denn so ist eben die Gegenwart in der heutigen Über­gangsepoche. Es kann sich nur darum handeln, Geisteswissenschaft zu vertreten, Geisteswissenschaft zu verkünden, weil man die dringende Notwendigkeit einsieht, das, was durch die Geisteswissenschaft ver­kündet wird, gerade in der Gegenwart an die Menschheit heran-zubringen. Man darf eben nicht von einer bloß sukzessiven Entwicke-lung sprechen, sondern man muß sprechen von Umschwüngen in der Entwickelung. Die Pflanze entwickelt sich auch sukzessiv, aber der Übergang vom Laubblatt zum farbigen Blumenblatt ist ein schroffer. So hat sich die Menschheit sukzessiv entwickelt; aber der Übergang von der Zeit, wo die Entwickelung der Menschheit geführt wurde von göttlich-geistigen Wesen, die den Menschen zur Vollkommenheit brachten, zu der Zeit, wo der Mensch sich selbst regen muß, dieser Übergang ist ein schroffer, und er muß vollzogen werden. Und ohne das Bekenntnis zu einem schroffen Übergang kommt man über den Rubikon der heutigen Kulturmisere nicht hinweg. Wer immerzu dieses oder jenes will, weil es gerade bequem ist, aus dem alten Fahrwasser mit hinüberzunehmen, der kommt nicht wirklich drüben an, in den Gebieten, von denen aus sich die Impulse der Zukunftskultur ent­wickeln können.

Wahrhaftig, die Dinge, die heute unternommen werden müssen, sie sind nicht von der Art, wenn sie aussichtsvoll sein sollen, wie sie ge­dacht werden da oder dort, sondern sie sind von der Art, wie zum Bei­spiel unsere Waldorfschule ist. Mit der Waldorfschule wird etwas unternommen, von dem man gar nicht anders sagen kann, als daß es dem, dem es ernst damit ist, zur schwersten Sorge des Lebens wird. Ich zum Beispiel gestehe Ihnen ganz offen: Betrachte ich die geistige

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Konstitution der Gegenwart, und sehe ich die Notwendigkeit, bei der Begründung einer solchen Schule mitzuwirken, dann wird mir etwas im Hetzen, das ich schon so bezeichnen darf: daß ich ja schon man­cherlei Sorge gehabt habe, daß aber diese Waldorfschule zu meinen allergrößten Sorgen gehört. Das kann nicht abhalten davon, diese Dinge zu unternehmen. Nicht deshalb bloß, weil ich etwa glaube, sie würde mißlingen. Sie wird schon gelingen. Aber weil wir werden sor­gen müssen dafür, daß immer das Richtige geschieht zu diesem Ge­lingen. Es wäre ganz eitel, wenn man nicht gestehen wollte, daß diese Sorgen vorhanden sind. Aber vielleicht haben wir doch schon einiges gerade auch für diese spezielle Aufgabe dadurch getan, daß wir uns bemüht haben, auch bei der Besprechung dieses Kapitels wahr, restlos wahr zu sein. Und damit ja nicht die Dinge so genommen werden kön­nen, daß man nur das Einseitige sieht, wollte ich heute zu Ihnen das sprechen, was ich eben gesprochen habe. Ich konnte natürlich gestern in der Eröffnungstede nicht dieselben Töne anschlagen. Ich konnte den Leuten, die dort versammelt waren, nicht sprechen von dem In­teresse der höheren Hierarchien, und davon, daß des Menschen Bild fertig ist, daß etwas anderes an die Stelle treten muß und dergleichen. Aber wenn man einen Baum von einer Seite photographiert, so muß er auch von der andern Seite photographiert werden, damit ein voll-ständiges Bild entsteht. Deshalb mußte ich auch das noch hinzufügen, was ich heute zu Ihnen gesprochen habe. Denn ausgesprochen muß in unserer Zeit werden das, was wahr ist, in einer wahren Weise. Wir müssen auch diesen Satz lernen, daß wir nicht bloß die Wahrheit zu vertreten haben, sondern daß wir auch die Wahrheit wahr zu vertreten haben. Denn heute sind wir durch die Menschheitsentwickelung in der Epoche angekommen, wo man die Wahrheit auch unwahr ver­treten kann. Es wird gelernt werden müssen, die Wahrheit wahr zu sagen. Denn auf manchem Gebiete sind heute die Wahrheiten billig wie Brombeeren, weil man sie nur da oder dort aufzulesen hat. Die Menschheitskultur ist in dieser Beziehung eine vollkommene. Aber nur diejenigen erfüllen die Aufgabe für die Zukunft, die nicht nur das­jenige machen, was heute leicht zu machen ist; denn irgendwelche Begriffe zu verknüpfen selbst zu einer neuen Weltanschauung, das ist

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leicht zu machen. Nicht diejenigen machen etwas, was in die Zukunft hineinwirkt, die so verfahren, sondern nur die machen etwas Frucht­bares, die über die Wahrheit aus der wahren Seele heraus sprechen. Nicht allein auf den Wortlaut kommt es heute an, sondern auf das geistige Fluidum, das diesen Wortlaut durchzieht. Dafür muß man sich heute aber ein Gefühl aneignen. Von diesem Gefühl sind die Leute vielfach recht weit entfernt. Man kann heute noch ganze Seiten lesen, ohne daß man darauf kommt, daß der Betreffende, der sie geschrieben hat, ein verlogener Kerl ist. Dazu werden sich die Menschen die Fähig­keit aneignen müssen, nicht allein das Logische zu empfinden, sondern den Wahrheitsquell zu fühlen. Viel innerlicher als diejenigen es glau­ben, die heute von Innerlichkeit zu sprechen glauben, viel innerlicher wird dasjenige sein, was den Menschen für die Zukunft wird befähigen können, wirklich zu wirken, wirklich etwas zu tun, sei es auch im kleinsten Kreise, was die Menschheit hinüberträgt in die Zukunft.

Deshalb war es schon die ganzen Jahre her notwendig, daß die Dinge, die unter uns besprochen werden, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus besprochen werden. Dadurch allein gewinnen wir die Möglichkeit, sie vollständig und kraftvoll zu durchleben. Mit dieser inneren Sehnsucht, heranzutreten an die Weltengeheininisse und sie innerlich wahr und kraftvoll zu empfinden, mit dieser Sehnsucht müssen wir uns ausrüsten. Nichts anderes wollte ich gerade heute mit diesen Worten, als daß Sie etwas in sich selbst erfühlen lernen von der Notwendigkeit dieser Sehnsucht und von dem Walten von so viel Un­wahrem in unserer Zeit und zwischen den Menschen unserer Zeit. Daß Wahrheit werde! Dieses Verlangen möchte man gerade aus dem sor­genvollsten Herzblute heraus heute immer wieder und wiederum der Menschheit zurufen.

Von solchen Dingen wie das, von dem ich ausgegangen bin: daß jemand vollständig einverstanden ist mit einer Sache dem Wortlaute nach, sie aber nicht begreifen kann, weil sie aus dem Geiste kommt, von solchen Dingen muß noch viel, viel gelernt werden. Versuchen Sie gerade das Lernen auf diese Art zu verstehen, und Sie werden den Aufgaben dienen, welche die Gegenwart an Sie stellt. Sie werden noch manches andere finden, als Sie bisher schon gefunden haben, und

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vieles ruht noch im Schoße der Gegenwart, was gefunden werden muß, damit Gesundung in die Menschheit hineinkommt. Aber ge­funden ist noch nicht alles Ausgesprochene von der Menschheit. Und wer die Dinge durchschaut, wie sie heute wirken, der weiß nur zu gut, daß dadurch, daß er das eine oder andere gesagt hat, es noch nicht gefunden worden ist von der Menschheit. Helfen Sie dazu, solch ein Wort richtig zu verstehen, dann werden Sie nicht mehr verfehlen, auch dazu zu helfen, daß die Wahrheit nicht bloß der äußeren, logischen Gestalt nach, sondern wahrhaftig in der Menschheit verbreitet werde. Erst dann werden Sie Glieder jenes Ordens sein, den wir brauchen, jenes Ordens, dessen Devise ist, die Wahrheit wahr zu vertreten. Und dessen Geheimnis ist, daß es möglich ist, zwar Wahrheit zu verbrei­ten, aber die Wahrheit auf unwahre Art zu verbreiten und dadurch mehr zu schaden, als durch die Verbreitung der Lüge oftmals ge­schadet wird. Dies, meine lieben Freunde, ist wert, bedacht zu wer­den: was es heißt, Schaden dadurch anzurichten, daß man die Wahr­heit unwahr geltend macht.

SIEBZEHNTER VORTRAG Stuttgart, 28. September 1919

#G192-1964-SE369 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

#TI

SIEBZEHNTER VORTRAG

Stuttgart, 28. September 1919

#TX

Mit Ideen, welche uns selbst als Menschen hineinstellen sollen in die geistige Welt, kommen wir am besten zurecht, wenn wir versuchen, uns durch Vergleiche der verschiedenen Tatsachen der Welt zu orien­tieren.

Wovon ich heute sprechen will, wird sich am besten erklären lassen, wenn ich von einem solchen Vergleich ausgehe, nämlich wenn ich unser gegenwärtiges Menschheitsbewußtsein, das wir uns nach der Aufgabe unserer Zeit erringen müssen, vergleiche mit früheren Be­wußtseinsstufen der sich entwickelnden Menschheit.

Denken Sie einmal zurück an das Bewußtsein der Griechen, an das gewöhrliche Raumesbewußtsein der Griechen, natürlich Raumes-bewußtsein im weiteren Sinne gemeint. Sie werden leicht darauf kommen, daß der Grieche mit seinem Raumbewußtsein nur eigentlich ein Stück von Europa umfaßte: sein Griechenland und was daran grenzte, ein Stück von Asien, ein Stück von Afrika, und daß außerhalb dieses begrenzten Gebietes für ihn die Welt in einer gewissen Un­bestimmtheit lag. Man könnte sagen: Dasjenige, was den Horizont seines Bewußtseins bildete, das grenzte ringsherum an ein Unbestimm­tes für sein Bewußtsein. Und dieses sein Bewußtsein kann genannt werden, wenn der Ausdruck gestattet ist - er ist natürlich holperig, wie immer Ausdrücke für so etwas sein werden, weil ja das Sprach-bewußtsein darauf nicht hingerichtet ist -, dieses Bewußtsein des Griechen kann genannt werden ein Landbewußtsein. Nun wissen Sie, daß das Wesentliche in der Heraufentwickelung der neueren Zeit für die Menschheit und ihr Bewußtsein darin bestand, daß sich dieses Landbewußtsein zum Erdenbewußtsein entwickelte, daß für das Be­wußtsein des Menschen die Oberfläche der Erde gewissermaßen sich abschloß. Der Mensch stellt sich die Oberfläche der Erde als eine Kugelgestalt vor, bewirkt durch die Entdeckungen der neueren Ge­schichte. Weltgeschichtlich genomrnen war die Sache gleichzeitig so, daß, indem dieses Weltbewußtsein, oder besser gesagt Erdenbewußtsein

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entstand aus dem Landbewußtsein, sich gleichzeitig ein Umblick über das Außerirdische bildete, der im wesentlichen mathematisch-geometrisch gestaltet ist. Die Kopernikanische Weltanschauung kam herauf, und man stellte sich das, was außerhalb der Erde im Raume ist, in den Formen der Mathematik und Geometrie, höchstens noch der Mechanik vor. Die Koperrikanisch-Newtonsche Weltanschau­ung ist ja im wesentlichen ein mathematisch-mechanisches Weltbild. Es müßte natürlich eigentlich für jeden wirklich denkenden Menschen die Frage entstehen: Ist nun dasjenige, was außer dem Irdischen vom Menschen im Raume erblickt werden kann, damit im Bilde erschöpft, daß man es mathematisch-mechanisch vorstellt? Es ist offenbar gerade so wenig erschöpft, als wenn der alte Grieche sich abscHoß, sein Land vorstellte, das er aus seinem Bewußtseinshorizont überblickte, und das Äußere in einer gewissen Weise konstruierte, es gewissermaßen im Sinne der Phantasie ausgestaltete. Der moderne Mensch gestaltet das Außerirdische zwar nicht mit einer solchen mehr poetischen Phantasie aus, wie der alte Grieche es tat mit Bezug auf das, was außerhalb von ihm bewußtseinsgemäß umfaßtes Landgebiet war, aber der moderne Mensch umfaßt das, was um ihn ist, mit mathematischer Phantasie. Das ist ja auch Phantasie. Und im wesentlichen steht die Menschheit der Gegenwart durchaus noch auf diesem Standpunkte: sich vor­zustellen die Erde als eine große Kugel im Weltenraum, und das Außerirdische eigentlich nur umfassend mit mathematischen, mecha­nischen Vorstellungen, die höchstens für einzelne, etwas exakter den­kende Menschen bloß mathematische sind, weil ja die ersonnenen Be­griffe über allerlei Gravitationskräfte von besonneneren Menschen heute weggelassen werden, und eigentlich das außerirdische Welten-bild nur mathematisch vorgestellt wird.

Für uns, und wir brauchen ja das nur zusammenzunehmen, was wir im Laufe der Jahre betrachtet haben auf geisteswissenschaftlichem Boden, für uns werden sich heute die Fragen aufwerfen müssen, ob denn die Zeiten reif sind, dieses mathematisch-mechanische Raumes-bild, dieses außerirdische Raumesbild mit irgend etwas anderem zu beleben, mit irgend etwas Erfahrungsmäßigem zu beleben. Denn etwas Erfahrungsmäßiges ist dieses mathematisch-mechanische Raumesbild

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durchaus nicht. Es ist durchaus etwas Ersonnenes. Es ist etwas Konstruiertes. Aus einer verhältnismäßig kleinen AnzaH von Beob­achtungen ist dieses Raumesbild, dieses Kopernikanische, Keplersche, Newtonsche Raumesbild zusammengestellt, konstruiert. Nun werden Sie begreifen, daß, da es ja noch keine Möglichkeit gibt, um physisch das Außerirdische zu durchforschen, eine solche Durchforschung nur im geisteswissenschaftlichen Sinne geschehen kann. Aber in geistes-wissenschaftlichem Sinne kann sie heute schon in einer gewissen Weise geschehen. Das mathematisch-mechanisch Aufgefaßte gibt uns ja einen wirklichen menschlichen Inhalt nicht. Es sagt uns das mathe­matisch-mechanisch Aufgefaßte eigentlich nur etwas in Abstraktionen, etwas, was an die von uns geforderte Inhaltlichkeit gar nicht heran­kommt. Kalt, nüchtern, ohne einen wirklichen Inhalt ist schließlich alles, was uns die mathematische Physik, die Astrophysik heute von dem außerirdischen Weltenall zu erzähien haben. Doch wir sind bereits in den Zeitpunkt eingerückt, in dem es unmöglich ist, in der Mensch­heitsentwickelung weiterzukommen, wenn wir stehenbleiben bei dem bloß mechanisch-mathematischen Weltenbilde. Wie der alte Grieche ein Landbewußtsein hatte, und der Mensch seit dem Beginn dessen, was man landläufig die neuere geschichtliche Zeit nennt, ein Erden-bewußtsein entwickelt hat, so muß sich von jetzt ab das Menschheits­bewußtsein erweitern zum Weltbewußtsein. Und ich will Ihnen heute in der Stunde, die uns noch möglich ist, solchen Betrachtungen zu widmen, wenigstens kurz, aphoristisch einige Andeutungen geben, wie dieses Weltbewußtsein gestaltet sein soll, das an die Stelle des bloßen Erdenbewußtseins zu treten haben wird. Wir werden allerdings in der Zukunft noch vieles zu tun haben, wenn wir das Genauere, und auch das mehr Beweisende, Belegende zusammenzutragen haben für das, was ich heute wie in einem aphoristischen Umrisse vor Sie hin-stellen werde.

Sie wissen ja, die geisteswissenschaftlichen Forschungen beruhen auf durch die Seele gemachten Erfahrungen. Sie haben eine große An­zahl solcher durch die Seele gemachten Erfahrungen in meiner «Ge­heimwissenschaft» mitgeteilt erhalten. In dieser «Geheimwissen­schaft» bin ich so weit gegangen, als zunächst für das allgemeine

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Menschheitsbewußtsein heute notwendig ist. Aber es muß immer weiter und weiter gekommen werden. Das, was in meiner «Geheim-wissenschaft» steht, muß vertieft und erweitert werden.

Nun sind wir mit Bezug auf das kommende, das anzustrebende Weltbewußtsein - wenn ich einen Vergleich gebrauchen darf - in der Lage eines Reisenden, der in einem Eisenbahnzug sitzt. Er schaut durch die Fenster des Wagens hinaus, und er lebt sich ein in die Vor­stellung, daß er ruhig auf seiner Bank sitzt. Er vergißt, daß der Eisen­bahnzug sich vorwärts bewegt. Die Bewegung, die er mit dem Zuge zusammen vorwärts macht, die vergißt er. Er zieht zunächst nur in Betracht diejenigen Bewegungen, die er macht, wenn er aufsteht oder sich bewegt, in seinem Verhältnis zu anderen, ebenfalls im Zuge sitzenden Menschen. Nun ist das, was da der Mensch als ein solcher Reisender im Wagen durchlebt, zunächst etwas sehr Eingeschränktes, und es kann erweitert werden, wenn er ab und zu aus dem Zuge aus­steigt, vielleicht die Reise unterbricht in der einen oder anderen Stadt. Dann ändert sich das, was er als Erfahrung im Zuge drinnen macht, ja nicht, aber der Inhalt seines Bewußtseins erweitert sich jedesmal, wenn er in einer anderen Stadt aussteigt und dort jene Erlebnisse hat, die er eben in der Stadt haben kann. Es summiert sich dann zum Inhalt seiner Reise zusammen, und es wird aus dem abstrakten Bilde der Reise etwas Konkretes. Es wird etwas aus dem Schema der Reise, indem eingetra­gen wird in dieses Schema dasjenige, was konkret als Erlebnisse in den einzelnen Städten einem widerfährt. Durch diese Erlebnisse hat man etwas, was einem durch innere Erfahrung verbürgt, daß man weiter­gekommen ist und in andere Verhältnisse hineingekommen ist. Man weiß aus den Erlebnissen, daß man nicht in Ruhe war, daß man sich dies nur vortäuschen konnte, während man selbst in dem Zuge war.

Was ich hier meine, ist durchaus etwas anderes, als was oftmals ge­sagt wird, wenn die bloße Kopernikanische Weltanschauung be­sprochen wird. Da wird natürlich auch gesprochen von allerlei Täu­schungen, in denen man ist, wenn die Erde bewegt ist, und man eigentlich glaubt, man sei in Ruhe auf der Erde, während man sich mit der ganzen Erde bewegt. Das, was man da sagt, ist aber hier nicht gemeint,

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sondern hier möchte ich auf etwas anderes verweisen : darauf, daß der Mensch gewisse rein innere Erfahrungen machen kann im Ver­lauf seines Lebens und insbesondere im Verlauf der aufeinander fol­genden Erlebnisse, die sich vergleichen lassen mit den Erlebnissen in den Städten, wenn man aus dem Eisenbahnzuge aussteigt und wieder einsteigt und so gewissermaßen halt macht mit Bezug auf seine inne­ren Seelenerlebnisse, mit Bezug auf dasjenige, was sich in innerer In­haltlichkeit des Erlebens ergibt. Dann könnte darin eine Bürgschaft dafür liegen, daß man in der Welt gewissermaßen Räume durchreist und in di iesen Räumen etwas erlebt, was einem zeigt: Du als Mensch, du bist nicht in Ruhe, du bist auf einer wirklichen Weltenreise be­griffen. - Machen Sie sich aus diesem Vergleich klar, daß es so etwas geben kann. Der Beweis dafür kann ja nur in der wirklichen Erfahrung liegen. Machen Sie sich klar, daß es so etwas geben kann wie eine ver­schiedene Erfahrung im Seelenzustand in aufeinanderfolgenden Zei­ten, das einem verbürgt : Du bist an verschiedenen Stellen des Welten-raumes, gewissermaßen. Wir werden nachher sehen, daß das alles nur wirklich vergleichsweise gesprochen ist, daß der Unterschied zwischen den aufeinanderfolgenden Erfahrungen uns auf ein viel Qualitativeres des Raumes verweist als das bloß Quantitative, das man im Auge hat, wenn man vom Raume spricht. Derjenige, der wirklich innere Er­fahrungen hat, nicht bloß die abstrakten Erfahrungen, die man sehr häufig in sehr äußerlichem Sinne angeführt findet, wo von Mystik die Rede ist, der weiß, daß es so etwas gibt wie das, was ich jetzt an-gedeutet habe. Wer innere Erfahrungen macht, kann im Laufe eines Erdenlebens Unterschiede merken zwischen dem Seelenihhalt, wie er ihn hatte im dreißigsten, im vierzigsten, im fünfzigsten Jahr seines Lebens. Er weiß, wenn er auf diese inneren Seelenerfahrungen reflek­tiert, daß er gewissermaßen sich bewegt hat in der Welt, daß er andere Orte aufgesucht hat und daß seine inneren, wenn ich es jetzt so nennen will, mystischen Erfahrungen andere geworden sind. Ich weise Sie da hin auf gewisse Erfahrungen, die allerdings nur besprochen werden von denjenigen, die Mystik nicht im äußerlich abstrakten Sinne neh­men, sondern so, wie sie sich wirklich konkret im inneren Erfahren darstellt. Der abstrakte Mystiker redet mit fünfundzwanzig Jahren

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von dem Gott, der in ihm lebt, mit dreißig Jahren, mit vierzig Jahren und so weiter bis an sein Lebensende. Derjenige, der konkret die inneren Erfahrungen wirklich zu fassen weiß, der weiß auch, daß sich diese Erfahrungen wie eben auf einer Weltenreise ändern, die nicht identisch ist mit einem Herumwandern auf der Erde. Wir durchmessen so, wenn ich mich wiederum mystisch ausdrücken will, den Weltenraum bewußt durch unsere inneren Erfahrungen. Da kommen wir nur zu­recht, wenn wir, allerdings in viel bestimmterer Weise, als wir das ge­wöhnlich tun, unser Verhältnis zur Umwelt betrachten.

Wir können ja unser Verhältnis zur Umwelt nur so betrachten, daß wir auf der einen Seite unsere Sinneswahrnehmungen ins Auge fassen, auf der anderen Seite unsern Willen, unser Wollen, unser Tun, unser Handeln. Indem wir unsere Sinneswahrnehmungen ins Auge fassen, sind wir in einem bestimmten Verhältnis zur Außenwelt, wir nehmen durch die Augen, durch die Ohren bestimmte Tatsachen der Außen­welt wahr, wir sind in lebendigem Verkehr mit der Außenwelt. Das­jenige, was geschieht, geschieht gewissermaßen am Rande unserer Leiblichkeit. Ich werde mich heute nicht einias sen auf gewisse physio­logische Einwände oder auf erkenntnistheoretische Einwände, die scheinbar gegen das gemacht werden können, was ich sage, denn ich will Ihnen ja das heranzuerziehende Bewußtsein im Gegensatz zum Erdenbewußtsein und Landbewußtsein skizzieren.

Wir stehen also mit unseren Sinneswahrnehmungen in einem be­stimmten Verhältnis zu äußeren Vorgängen. Und wiederum, wenn wir handeln, wenn wir etwas vollbringen, stehen wir auch von der anderen Seite, von dem anderen Pol unseres Wesens, in einem gewissen Ver­hältnis zu äußeren Vorgängen. Wir sind verwickelt in die äußeren Vorgänge, denn wir bewirken sie zum Teil selber. Zwischen diesen zwei Extremen unseres menschlichen Lebens liegt alles das, was sich sonst in unserem Bewußtsein abspielt : auf der einen Seite jenes Ver­hältnis zur Außenwelt, wie es uns die Sinne geben, auf der anderen Seite unser Wollen und Handeln. Indem wir Empfindungen entwickeln an unseren Sinneswahrnehmungen, indem wir Gefühle entwickeln, leben wir ein inneres Leben. Und wiederum aus Gefühlen und Emp­findungen heraus, die sich zu Fähigkeiten vertiefen oder verdichten,

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könnte man sagen, gestalten wir unser Wollen. Also zwischen Wahr­nehmen und Wollen liegt dasjenige, was wir sonst seelisch erleben.

Nun ist aber dasjenige, was wir in der Sinneswahrnehmung haben, nur scheinbar eine Einheit. Wir blicken in der Sinneswahrnehmung auf die Welt hin, und die Welt scheint uns im Umblicken wie etwas Einheitliches, das wir eben mit den Sinnen überblicken. Aber in dieser scheinbaren Einheit ist ein Doppeltes enthalten. Derjenige, der wirk­lich wahrzunehmen vermag, sinngemäß wahrzunehmen vermag, für den ist in der scheinbaren Einheit deutlich ein Doppeltes enthalten :

ein Ersterbendes und ein Aufgehendes, sich fortwährend Erzeugen­des. Die Welt außer uns ist in einem fortwährenden Ersterben und wiederum Geborenwerden. In keinem Augenblick ist es anders in der Welt, als daß wir leben in etwas, was dem Tode entgegengeht und aus dem Tode immer wiederum das Leben heraufholt. Wenn Sie nur eine Wolke oder etwas anderes in der Außenwelt betrachten, so er­scheint diese Wolke als eine Einheit. Aber das ist sie nicht. In Wahr­heit stirbt etwas in der Wolke und aus dem Sterben entwickelt sich wiederum ein sich Gebärendes. Aus dem aus der Vergangenheit Her­aufziehenden entwickelt sich ein in die Zukunft Gehendes. Fort­während ist enthalten in dem, was wir anschauen, entstehender Brenn­stoff, das heißt Totwerdendes und sich Erzeugendes; Feuer, das heißt sich in die Zukunft Hinübergestaltendes. Lernen wir durch eine solche Schulung, wie sie dargestellt ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», diese zwei Pole der Sinneswahrnehmung von­einander trennen, lernen wir wirklich empfinden jeder Erscheinung gegenüber Sterben und Geborenwerden, dann erst gewinnt die Welt für uns ein reales Antlitz. Wer richtig geschult ist, steht auch einem Menschen so gegenüber, indem er ihn sinnlich wahrnimmt, daß er in ihm fortwährend sieht etwas, was abstirbt, und etwas, was wieder ent­steht. Absterben - Geborenwerden, Absterben - Geborenwerden : das ist etwas, was aufgenommen wird von unserer Wahrnehmung, wenn wir uns nur ein bißchen schulen gegenüber dieser Wahrnehmung.

Nun ist es aber so, daß in dem Augenblick, wo uns gegenständlich wird dieses fortwährende Absterben und Neugeborenwerden, wo wir es wirklich sehen, wo wir es nicht bloß abstrakt erdenken, sondern wo

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wir es sehen, wo wir wirklich fortwährend sehen einen Leichnam wer­den im Menschen und ein Kind entstehen - man kann es so sehen -, in dem Augenblick, wo das Wahrnehmung wird, in dem Augenblick stehen wir drinnen im Wahrnehmen der drei Hierarchien, Angeloi, Archangeloi, Archai. Die Welt bekommt dann tatsächlich diesen In­halt. Wir sehen sie nicht mehr, wie wir sonst in die Natur hinein-blicken, wenn wir diese Natur als eine Einheit wahrnehmen. Wir kön­nen gar nicht dieses Sterben und Geborenwerden, dieses Prana und Shiwa der Natur wahrnehmen, ohne daß wir verwandelt finden, gewis­sermaßen aufgelöst finden die ganze Natur in die Taten von geistigen Wesenheiten der drei über den Menschen stehenden Hierarchien.

Ebenso ist es am anderen Pol. Wenn wir den anderen Pol betrach­ten, den Pol unseres Handelns, unseres Vollbringens, so haben wir auch da drinnen wiederum ein fortwährendes Ersterben und fort­währendes Entstehen. Aber an diesem Pol nehmen wir schwerer wahr dasjenige, was geistig darinnen lebt. Dennoch - wir können es wahr­nehmen. Es ist eine längere Schulung dazu notwendig, aber wir können es wahrnehmen. Wir nehmen dann diejenigen Hierarchien wahr, die wir beschrieben finden als Seraphim, Cherubim, Throne. Und dasjenige, was dazwischen drinnen ist, das nehmen wir wahr durch Selbstbetrachtung, die Betrachtung jenes Wesens, von dem ich Ihnen gesagt habe, daß es zwischen diesen zwei Polen mitten drinnen steht. Kurz, es wird viel lebendiger und geistiger alles in dieser Welt, wenn wir zu solcher Betrachtung aufsteigen.

Aber dadurch, daß wir zu dieser Betrachtung aufsteigen, dadurch ändert sich unser Seelenleben ganz beträchtlich. In dem Augenblick, wo wir wirklich dahin kommen, in unserem Umkreis die Taten geisti­ger Wesenheiten zu sehen, da kommen wir auch dazu, konkret jene Unterschiede wahrzunehmen im Seelenleben in den aufeinanderfolgen­den Zeiten, von denen ich vorhin vergleichsweise gesprochen habe. Und dann, wenn wir gelernt haben - es ist schwierig zu lernen, aber es kann gelernt werden - achtzugeben auf diese inneren Veränderun­gen im konkreten inneren Erleben, dann nehmen wir uns wirklich wahr als einen Reisenden durch den Weltenraum. Dann wissen wir, nicht aus äußeren mathematischen Erwägungen, nicht aus irgendwelchen

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Fernrohren, aus Winkelbetrachtungen, sondern aus der Auf­einanderfolge der inneren Erlebnisse, daß wir den Ort im Weltenraum mit der Erde geändert haben. Dann wird aus dem Weltenraum etwas anderes als der mathematisch-mechanische Weltenraum des Koperni­kus, Kepler, Galilei, Newton. Dann wird der Weltenraum etwas inner­lich Lebendiges. Und wir lernen unterscheiden Bewegungen, die wir machen, die wir einfach absolut machen als Menschen im Weltenraum. Wir lernen unterscheiden eine Bewegung, die wir machen von links nach rechts, also eine wirkliche Bewegung, die wir mit der Erde machen von links nach rechts. Und wir lernen eine andere Bewegung kennen, die wir machen steigend. Wir machen sie so, daß wir wissen :

wir drehen uns nicht nur, sondern wir steigen im Raum. Und eine dritte Bewegung, ich möchte sie eine schreitende nennen : wir machen sie von rückwärts nach vorwärts. - Das ist nicht identisch mit einem Bewegen auf der Erde, sondern das ist etwas, was wir mit der Erde mitmachen, was wir durch inneres Erleben konstatieren können. Wir können konstatieren, daß wir uns drehen von links nach rechts, daß wir aufsteigen, indem wir uns drehen. und daß wir zu gleicher Zeit fortschreiten. Also eine dreifache Bewegung, die wir einfach absolut machen, nicht in Relation zu irgendeinem anderen Weltenkörper, sondern die wir absolut im Weltenraum machen, nehmen wir wahr an den inneren Erlebnissen.

Nun, Sie werden sagen : Das Gegenwartsbewußtsein der Menschen ist weit entfernt, eine Ahnung zu haben davon, daß der Mensch in diesem Sinne ein Weltreisender ist, und daß er gar konstatieren kann diese Weltenreise. - Ja, es gibt ein Mittel für die Menschen, ein solches Bewußtsein zu erringen, wenn auch das Menschenbewußtsein der Gegenwart noch so weit von diesen Dingen entfernt ist. Das, was ich geschildert habe, ist einfach eine Realität, und wenn die Menschen heute davon nichts wissen, so ist dieses Nichtwissen wirklich zu ver­gleichen mit dem Glauben, den ein Mensch hat, der im Eisenbahnzuge sitzt und sich in Ruhe glaubt, während er sich mit dem ganzen Zuge weiterbewegt. Warum hat der Mensch diesen Glauben? Erstens, es hat den Menschen seit drei bis vier Jahrhunderten mehr eingelullt als auf­geklärt gerade die rein mathematisch-mechanische Kopernikanische

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Weltanschauung. Ich habe ja oftmals schon darauf hingewiesen, daß diese rein mathematisch-mechanische Weltanschauung sogar auf einem ziemlich offenbaren Fehler beruht. Sie ist etwas Bequemes. Sie stellt das Raumbild bequem vor, aber eben doch eigentiich nur bequem. Sehen Sie, in dem bekannten Werk des Kopermikus über die Umwälzung der Weltenkörper im Weltenraum finden sich drei Sätze, aber die gegen­wärtige Wissenschaft stützt sich nur auf die ersten zwei und läßt den dritten unberücksichtigt. Kopernikus wußte noch etwas mehr, als die gegenwärtige astronomische Wissenschaft annimmt. Und dieses Mehr, das hat er in seinen dritten Satz hineingeheimnißt! Aber der dritte Satz bleibt immer unberücksichtigt. Es stimmen nicht die Beobachtungen mit dem Kopernikanischen System, aber darüber hilft sich die Wissen­schaft der Gegenwart hinweg. Wenn man heute unter gewissen Um-ständen rein erfahrungsgemäß untersucht, wo, von der Erde aus ge­sehen, zu einem bestimmten Zeitpunkt der eine oder andere Stern stehen soll nach dem richtigen Rechnen, dem Kopernikanischen System gemäß, steht er nicht da. Aber man hat dann die sogenannte Besselsche Korrektur und bringt immer eine Korrektur an bei dem Ergebnis; dann kommt das Richtige heraus. Das Anbringen dieser Korrektur ist nur nötig, weil man den dritten Satz des Kopernikus nicht berücksichtigt hat. Dadurch ist eine bequeme schematische, mathematisch-mechanische Weltanschauung, ein Weltbild zustande­gekommen durch die letzten drei bis vier Jahrhunderte. Mit vielen Dingen stimmt das nicht; aber man ist heute noch ein wissenschaft­licher Trottel, wenn man davon spricht, daß die Sache nicht stimmt. Wissenschaftlich ist es, fest daran zu glauben, daß die Dinge stimmen.

Die Menschheit ist also durch das Kopernikanische Weltbild immer eingelullt worden in bezug auf gewisse Dinge, die aber innerlich deut­lich zu konstatieren sind. Es wird das menschliche Bewußtsein ge­wissermaßen getrübt. Aber man wird in der Zukunft dafür zu sorgen haben, daß es nicht mehr getrübt wird.

Ich habe es oft gesagt, daß die Menschen das Geisteswissenschaft­liche nicht einsehen wollen, durch ihre eigenen gesunden Sinne nicht einsehen wollen. Das kommt eigentlich auch nur von gewissen Er­ziehungsvorurteilen her, die in der Gegenwart stark walten. Sehr häufig

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ist es ja so, daß, wenn heute der Geisteswissenschafter seine Er­gebnisse mitteilt, die Leute sagen : Gut, das mag so sein, aber das kann nur der wissen, der eine bestimmte, die Leute nennen es mystische, Schulung durchmacht. - Das ist bis zu einem gewissen Grade richtig, aber nicht ganz. Das habe ich oft betont : bis zu einem sehr hohen Grade könnte heute jeder Mensch, rein aus seinem Bewußtsein heraus, als Tatsache das einsehen, was zum Beispiel in meiner «Geheim-wissenschaft» gegeben wird. Er braucht es nicht bloß auf Autorität hinzunehmen, sondern er kann es einsehen durch gewöhnlichen ge­sunden Menschenverstand. Aber wie? Er könnte es einsehen, wenn er von seinem siebten bis zum fünfzehnten Jahr in die Waldorfschule ge­schickt würde und da durch eine den Tatsachen, der Wirklichkeit ent­sprechende Methode in gesunder Weise seine Seelenkräfte entwickelt kriegte, und dann mit diesen in gesunder Weise entwickelten Seelen-kräften in höhere Schulen käme, um dann mit den nötigen elastischen Seelenkraften dasjenige aufzunehmen, was man gewöhnlich erst nach dem fünfzehnten Jahr lernt. Das wäre der Weg, um Menschen zu haben, die einfach sagen : alles übrige ist Unsinn, denn die Wirklich­keit wird nur durch dasjenige gegeben, was Geisteswissenschaft über die Welt konstatiert. Daß man das nicht zugibt, rührt nicht davon her, daß man Geisteswissenschaft nicht einsehen kann ohne Schulung, sondern es rührt davon her, daß unsere Schulerziehung zwischen dem siebten und fünfzehnten Jahr so ist, daß gewisse Kräfte statt erweckt zu werden, nur abgetötet, abgelähmt werden. Daher sträuben sich die Menschen, den Tatsachengehalt desjenigen hinzunehmen, was durch Geisteswissenschaft gegeben wird, während sie eben bis zu einem hohen Grade bei gesund entwickelten Seelenkräften ihn hinnehmen würden. Diese gesund entwickelten Seelenkräfte sind nicht so tot und starr, wie sie bei den meisten heutigen Menschen sind; sie sind viel beweglicher, viel elastischer, und sehr leicht wurde der Mensch, wenn diese Seelenkräfte bei ihm zwischen dem siebten und fünfzehnten Jahr richtig entwickelt worden wären, gegenüber der heutigen Gelehrsam­keit störrisch werden. Heute lassen sich die Menschen furchtbar viel gefallen, namentlich indem man ihre Illusionen durch gewisse un­berechtigte Hypothesen noch viel größer macht, als sie schon sind.

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Ich habe ein sehr charakteristisches Beispiel oftmals angeführt : Man erzählt den Kindern im zwölften, dreizehnten, vierzehnten Jahr, daß der Blitz durch Reibungserscheinungen in den Wolken kommt, und räumt zugleich ein, daß die Wolken naß sind. Selbstverständlich. Aber dann, wenn man das irdische Abbild des Blitzes, den elektrischen Funken erzeugen will, muß man die Elektrisiermaschlne und alles, was dazu gehört, ganz trocken halten, daß ja nichts Wässeriges dabei ist, daß also alles beseitigt wird, was ausschließlich da ist, wo der Blitz entstehen soll, der die gleiche Erscheinung sein soll wie der elektrische Funke. Das lassen sich die Schüler gefallen und auch die Erwachsenen, wenn sie so eingelullt werden durch allerlei Hypothesen. Solche Bei­spiele gibt es unzählige, wo die Leute offenbaren Unsinn hinnehmen, einfach auf Autorität, weil ja unsere Zeit «alle Autorität abgestreift hat» und gar nicht mehr «autoritätsgläubig» ist. Aber wenn sie es nicht wäre, hätte in unserer Zeit niemals die gewöhnliche sozialistisch-marxistische Weltanschauung entstehen können, denn die ist vie] autoritätsgläubiger als der alte Katholizismus.

Es handelt sich also darum, daß es heute wirklich eine Aufgabe der Kultur ist, alles dasjenige, was so hemmend eingreift in die Erfas­sungskräfte des Menschen, in das Begriffsvermögen des Menschen, durch gesunde Schulbildung zu überwinden. Das ist eine der aller-ersten sozialen Aufgaben, dahin zu kommen, daß die Hindernisse im Begreifen der Menschen hinweggeräumt werden. Dann wird man nicht mehr dasjenige, was Geisteswissenschaft liefert, in einer so widerspenstigen Weise an sich herankommen lassen. Aber die Men­schen werden etwas störrisch werden, wenn sie in gesunder Weise entwickelt werden, gegen manches, was die offizielle Wissenschaft heute bietet; dann werden sie die knüppeldicken Widersprüche sehr bald gewahr werden. Daher dieses instinktive Wehren gegen gesunde Schulverhältnisse. Denn, läßt man diese gesunden Schulverhältnisse heraufkommen, dann wird die Autorität der heutigen Wissenschafts­größen sehr bald in furchtbarer Art untergraben sein. Darum handelt es sich, daß nun wirklich in den Menschen wiederum erzogen werden die elastischeren Seelenkräfte, die einfach aus dem gesunden Men­schensinn heraus nachkommen können dem, was als Ergebnisse der

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Geisteswissenschaft verkündet werden kann. Dann wird man das, was zu sagen ist, auch an solchen Dingen verstehen, wie : daß der Mensch in einer absoluten Bewegung drinnen steckt. Man wird verstehen, wie entstehen kann aus dem Erdenbewußtsein ein Weltenbewußtsein. Wirklich bildlich, aber vielleicht ganz gut bildlich gesprochen: wie der Mensch sich fühlen lernen kann als ein Reisender durch den Weltenraum, der in einer drehenden, in einer von unten nach oben gehenden und in einer von rückwärts nach vorwärts gehenden Be­wegung ist. Wenn man diese Bewegungen : drehend, im Drehen auf­wärts, im Aufwärtsdrehen vorwärts gehend - wenn man diese Kurve hinzeichnet, bekommt man auch den Weg der Erde durch den Welten­raum. Nicht so bekommt man ihn, wie er gegenwärtig konstruiert wird, rein mathematisch-dynamisch aus der Kopernikanisch-Newton­schen Weltanschauung, sondern wenn man nachlährt demjenigen, was die innere Beobachtung ergibt. Es ist in dieser Weise nachzukonstru­ieren. Dann aber konstruiert man nicht ein Abstraktes wie die Koper­nikanisch-Newtonsche Weltanschauung, sondern ein sehr Konkretes, ern wirklich übersinnlich empirisch Erfahrenes also, wenn man diese Tautologie gebrauchen darf. Dieses Weltbewußtsein, das ist nicht bloß wichtig dadurch, daß der Mensch gewissermaßen beginnt, sich mehr bei der Wahrheit zu fühlen, als er sich jetzt fühlt, wo er glaubt, daß die Erdenbahn, so wie sie von der Kopernikanischen Weltanschauung konstruiert wird, die richtige ist. Sondern wenn man dieses Welt-bewußtsein hat, hängt von diesem Weltbewußtsein vieles andere ab. Dann wird man dadurch innerlich gewissermaßen ein anderer Mensch. Man lernt sich fühlen nicht bloß als ein Erdenbürger, sondern als ein Weltenbürger. Die Welt erweitert sich einem, indem man konkret an die Kräfte herantritt, die nun wirklich wirksam sind in diesen Be­wegungen. Beim Drehen von links nach rechts wird man gewahr die Wirkungen der Angeloi. Beim Steigen von unten nach oben die Wir­kungen der Erzengel. Und beim Schreiten im Weltenraum von rück­wärts nach vorne wird man gewahr die Richtung der Archai, die Kräfte der Archai, der Zeitgeister. Man wendet sich hin, indem man die absolute Weltenwanderung in sein Bewußtsein aufnimmt, in einen Geistesraum. Man wird gewahr, daß der physische Raum nur ein abstraktes

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Abbild dieses konkreten geistigen Raumes ist, in dem die Wirksamkeiten der höheren Hierarchien das Reale darstellen.

Daß ein solches Bewußtsein mit etwas anderem verknüpft ist, gehr schon aus dem hervor, was ich eben gesagt habe. Wer nur eine Ahnung davon hat, daß es so etwas gibt, daß so etwas verbunden ist mit der wirklichen Wesenheit des Menschen, der muß es doch als einen furcht baren Schaden unseres Erziehungswesens betrachten, daß wir unsere Kinder so erziehen, nachdem wir in ihnen gewisse Kräfte ahlähmen lassen bis zum fünfzehnten Jahr hin, daß sie sich als Studenten dann so entwickeln müssen, wie es eben mit diesen abgelähmten Kräften sein muß. Daher nehmen die jungen Leute zwischen dem fünfzehnten und einundzwanzigsten Jahr ganz andere Dinge auf, als sie eigentlich schon nach den Anforderungen unserer Zeit aufnehmen sollten. Dadurch sitzt allerdings etwas ganz anderes in den Seelen, als eigentlich darin sitzen sollte. Wahrhaftig, meine lieben Freunde, dadurch, daß Sie die schönsten, salbungsvollsten Ermahnungen geben bis zum fünfzehnten Lebensjahr und dann wiederum später, in der Zeit, wo früher die Leute Ideale gehabt haben, wo sie Jungfrauen und Jünglinge von zwanzig Jahren waren; durch die schönsten, salbungsvollsten Er­mahnungen erreichen Sie nichts, oder nur, daß unsere Universitäts­und Hochschuljugend das wird, was sie heute ist, was ich nicht weiter zu beschreiben brauche. Nur dadurch erreichen Sie etwas, daß Sie wirklich Kräfte bloßlegen für den Aufenthalt an den Hochschulen, die heute nicht bloßgelegt, sondern gelähmt werden. Die Erziehung sfrage ist heute tatsächlich eine Menschheitsfrage. Sie ist nicht eine Frage von willkürlichen Jdealen, sondern sie ist eine Menschheitsfrage, die aus den tiefsten Forderungen der gegenwärtigen Zeit heraus begriffen sein soll. Die Menschen ahnen höchstens heute, daß vieles anders sein sollte, sagen wir, in der medizinischen Behandiung der Menschen, vielleicht auch in den Rechtsverhältnissen, aber das wird ja gerade ge­dämpft aus dem Bewußtsein der Juristen heraus, wenn etwas geltend gemacht wird. Die Menschen ahnen, daß da manche Dinge anders sein sollten, aber sie können nicht anders gemacht werden, wenn nicht das Augenmerk darauf gelenkt wird, in den richtigen Zeitabschnitten die Kräfte des Menschen nicht zu ertöten, sondern zu erwecken. Der

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Mensch ist ja nicht umsonst in dem Lebensabschnitt zwischen dem siebten und fünfzehnten Jahr. In diesem Lebensabschnitt kommen ganz bestimmte Kräfte herauf aus seiner Natur, mit denen man rech­nen muß, wenn man erzieht und unterrichtet in diesem Lebens-abschnitt. Wenn man in der entsprechenden Richtung arbeitet in der Er iehung und im Unterricht, so ist das etwas anderes, als wenn man willkürlich, ohne die Berücksichtigung dieser Richtung arbeitet. Man wird gewisse Dinge bemerken, wenn man solches berücksichtigt, auf die heute kein Augenmerk gerichtet wird.

Ich habe in dem Aufsatz, der in der nächsten Nummer der Waldorf­Zeitschrift erscheinen wird, worin unsere Waldorfschule behandelt werden soll, von verschiedenen Gesichtspunkten aus auf diese Ver­hältnisse hingedeutet. Ich habe darauf hingedeutet, daß wir uns heute nicht mehr begnügen können mit einer solchen Pädagogik, wie sie sehr häufig aus ganz gutem, aus dem besten Willen heraus geformt wird. Da werden gewisse pädagogisch-didaktische Methoden, Grund­sätze und Normen aufgestellt, und man hat den Glauben - was man sonst auch dagegen einwenden mag, es wird ja vieles aus gutem Wil­len, aber nicht aus gründlicher Einsicht auf diesem Felde gesagt -, man hat den Glauben, daß man lernen kann diese Normen der Pädagogik. Besonders auch die Herbartianer und ihre Nachfolger von heute haben diesen Glauben, daß man dadurch, daß man Pädagogik lernt, ein guter Erzieher und Unterrichter werden kann. Nun, setzen wir den Fall, solch eine Norm in der Pädagogik wäre das denkbar Vollkom­menste - sie ist für den Unterricht fast so schlecht zu gebrauchen wie für den Maler eine gut geschriebene Schulästhetik. Man wird durch die gut geschriebene Schulästhetik der Malerei sicherlich kein Maler, und durch eine noch so gut gelernte Pädagogik auch kein Pädagoge. Man braucht ja auch wirklich schließlich die Physiologie nicht zu kennen, damit man sich ernähren kann; man kann sich ernähren aus ganz anderem Wissen als aus der Physiologie. Wir haben die Physio­logie zu etwas ganz anderem als zur Ernährung, und es ist ein Surrogat, wenn eintreten muß die Physiologie für die richtige Ernährung. Es war mir immer etwas Schreckliches, wenn ich zu Menschen gekom­men bin, die am Tische sitzen und neben sich die Waage haben, um

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jedes Stück abzumessen, abzuwiegen, das sie in den Mund stecken, das sie zu genießen haben zu einer Mahlzeit. Da greift schon in ver­heerender Weise Physiologie in den Ernährungsprozeß ein. Sie lachen darüber noch aus einer gewissen Naivität heraus. Im entgegengesetz­ten Sinn würden die lachen, die heute aus gewissen naturwissenschaft­lichen Vorurteilen heraus dies als berechtigt empfinden, und die das, was ich heute zu Ihnen gesprochen habe, als gottverlassenen Dilettan­tismus ansehen. Man kann heute aus ganz verschiedenen Gesichts­punkten heraus über eine solche Sache lachen.

Also, eine Norm-Pädagogik kann eigentlich nicht zum wirklichen Pädagogen machen. Warum? Ja, sie ist ja eigentlich dazu bestimmt, daß man ihre Grundsätze aufnimmt und sie dann ganz und immer an-wendet. Aber das hindert einen im Erziehen; das fördert einen nicht im Erziehen und Unterrichten. Da fördert einen etwas anderes : Wenn man jederzeit, wenn man seiner Klasse gegenübersteht, die Pädagogik vergessen kann, alles, was man an gelernter Pädagogik hat, vergessen kann. Und wenn man als Pädagoge einfach aufgenommen hat eine so weitgehende Menschenerkenntnis, daß man in jedem Augenblick die pädagogischen Grundsätze findet aus der Menschenerkenntnis, daß sie in jedem Augenblick neu entstehen. Das ist dasjenige, was der Päd­agoge notwendig hat. Man kann nämlich gar nicht zum Pädagogen erzogen werden dadurch, daß man Pädagogik lernt, sondern die Päd­agogik kann nur angeregt werden im Menschen dadurch, daß er Menschenerkenntnis erwirbt. Man sollte Pädagogik ganz streichen als Wissenschaft, höchstens sie so betrachten wie der Maler die Ästhetik, der sicher das Bewußtsein hat, daß er davon nicht malen lernen kann. Ein Münchener Maler hat mir vor einiger Zeit gesagt, als ich mit ihm über Ästhetik sprach, an Garriere anknüpfend, den berühmten Ästhe­tiker : Ja, wir haben dazumal, als wir auf der Malerschule waren, den Carriere genannt den «ästhetischen Wonnegrunzer ». - Das ist etwas, was noch nicht als Stimmung ist in den Seminaristen, die theoretischen Pädagogen etwa zu nennen «pädagogische Wonnegrunzer», denn man glaubt noch immer, daß man in der Pädagogik dasjenige gebrauchen kann, was man in der Kunst nicht brauchen kann. Aber es ist in beiden eigentlich dasselbe. Man sollte an die Stelle der seminaristischen Pädagogik

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eben stellen, wie wir es getan haben in unserem Lehrerkurs :

Menschenerkenntnis, Einsicht in die Menschennatur, die dann ein lebendiges Verhältnis zur werdenden Menschennatur im Kinde an­regt, so daß in jedem Augenblick im Lehrer die Pädagogik geboren wird, daß einfach aus der Art, wie man das Kind vor sich hat, der Drang entsteht, es so und so zu erziehen und so und so zu unterrichten. Das gibt eine ganz andere Art der Atmosphäre, die im Schulzimmer herrscht, weil eben nicht aus einer Normen-Pädagogik heraus diese Atmosphäre erzeugt wird, sondern weil sie aus dem lebendigen Leben heraus in jedem Augenblick erfließt. Kommt aus solch einem leben­digen Leben heraus Erziehung und Unterricht, dann werden eben die Kräfte nicht abgelähmt, die im fünfzehnten Lebensjahr da sein sollten, sondern dann kommt der Mensch in die höheren Jahre hinein so, daß er die elastischen Seelenkräfte hat, die er haben soll, damit für unsere Zeit etwas Ähnliches geschehen kann, was geschehen ist beim Über-gang vom Mittelalter in die neuere Zeit, wo sich das Landbewußtsein in ein Erdenbewußtsein umgebildet hat, damit sich das Erdenbewußtsein umbildet in ein Weltenbewußtsein. Das kann aber nicht durch äußere Erfahrungen geschehen, sondern nur dadurch, daß man innerlich empfänglich gemacht wird für die aufeinanderfolgenden verschiedenen Erlebnisse, die man innerlich, seelisch haben kann. Nicht einmal in den engsten Grenzen hat heute der Mensch ein Bewußtsein von der Ver­schiedenheit dieser seelischen Erlebnisse.

Wie ist es eigentlich heute? Der Mensch ist ein Kind, da benimmt er sich kindlich so, wie das seiner Umgebung gemäß geschehen kann. Dann wird er ein Erwachsener. Seine Begriffe werden abstrakter, seine Erfahrungen werden reicher; gewiß, das ist alles der Fall. Aber etwas Ähnliches tritt mit der Seele nicht ein, wie es eintritt mit unserem Äußerlich-Leiblichen. Wir bekommen ein schärfer ausgeprägtes Ge­sicht, wenn wir in einem gewissen Alter sind, haben nicht mehr die rundlichen Formen der Kindheit, wir bekommen weiße Haare und Runzeln und so weiter, oder oftmals auch Glatzen; kurz, die äußere Leiblichkeit ändert sich. Aber eigentlich könnte man sagen : Das Inner­lich-Seelische ändert sich nicht in dieser Weise; es wird höchstens immer mehr hineingestopft, aber es wächst nicht so, daß die Art der

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Stellung zur Außenwelt eine andere ist. Es hängt nicht in der richtigen Weise Alter und Kindheit zusammen. Solche Dinge, wie ich sie oftmals betont habe, die hat der Mensch heute nicht mehr in seinem Bewußt­sein, zum Beispiel daß, wenn man ein alter Mensch geworden ist, man segnen kann, und daß das Segnen eine gewisse Bedeutung hat, daß es nicht dieselbe Bedeutung hat bei einem im mittleren Alter stehenden Menschen. Davon haben die Menschen heute kein Bewußtsein, und zwar deshalb nicht, weil man heute nicht weiß, daß, wenn man richtig segnen will im Alter, man in der Jugend gelernt haben muß, die Hände zu falten. Denn nur aus der Faltung der Hände zum Gebet in der Kindheit entsteht die Fähigkeit des Segnens im Alter. Das Seelische hängt in bezug auf Segnen und Händefalten so zusammen, wie die greisen Haare mit den kindlichen Haaren. Dieses innerliche Um­wandeln, das ist etwas, was in den Erfahrungskreis des gegenwärtigen Menschen nut in beschränktem Maß hineinfällt. Das muß aber wieder hineinfallen. Der Mensch muß wieder dahin kommen, das ganze Leben in seinen verschiedenen Metamorphosen einzusehen. Sonst kommen wir über die ungeheuren Schäden nicht hinaus, die zum Bei­spiel durch so etwas erzeugt werden, wie : wenn einer ein bißchen be­gabt ist und er ist achtzehn oder neunzehn Jahre alt, dann wird er ein Feuilletonist. Und diejenigen, die dann nur das Feuilleton lesen und keine Ahnung haben, daß das ein Achtzehnjähriger geschrieben hat, lesen es so, wie man in absolutem Sinne ein Feuilleton liest. Dann wird man aber nicht mehr älter, wenn man mit achtzehn Jahren ein Feuilletonist ist, Feuilletons schreibt; man bleibt eigentlich immer in dem Alter. Man entwickelt sich nicht weiter. Dann kommt aber auch das, daß man mit zwanzig, einundzwanzig Jahren reif wird, ins Par­lament zu wählen oder Stadtverordnete zu wählen und gewählt zu werden; da ist man ein fertiger Mensch. Man hat nicht mehr nötig mit vierzig Jahren anzustreben, ein vollkommenerer Mensch zu werden, als man mit zwanzig Jahren war. Man hat ja alles, was die Welt einem bieten kann, und was man der Welt bieten kann, erreicht. Mit zwanzig Jahren wählt man oder wird gewählt, und es kommt nichts Rechtes mehr dazu. Erst dann, wenn man wieder einsehen wird, daß das Leben etwas konkret sich Wandelndes ist, wird man auch die Welt konkret

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zu fassen verstehen. Und dann wird jener abstrakte Sozialismus, der heute so vielfach vertreten wird, schwinden; es wird etwas Konkretes an seine Stelle treten.

Also das Heraufkommen des Weltenbewußtseins aus dem Erden-bewußtsein, das wird für das Leben eine bedeutsame Folge haben, namentlich durch das, was gefühlsmäßig im Menschen erzeugt wird. Nicht das, was man weiß durch solche Dinge, ist das Bedeutsame, son­dern die Art, wie man durch solche Dinge fühlt, das ist das Bedeut­same. Die Menschen werden gewisse Dinge im Zusammenhang des Lebens erst einsehen, wenn sie zu diesem Weltbewußtsein gekommen sein werden.

Vor allen Dingen redet man heute ganz abstrakt von den aufeinan­derfolgenden Generationen. Man denkt ungefähr - ich meine wir, die wir ein respektables Alter erreicht haben, die Jungen nehme ich jetzt aus -, also wir denken vielleicht so : Du hast jetzt diesen oder jenen Inhalt. Du lebst so und so. In deiner Kindheit hast du so gelebt. - In dieser Beziehung sind nun manche Leute sehr kurzlebig, indem sie das, was sie selbst als Kinder getrieben haben, den jetzigen Kindern sehr übelnehmen und nicht begreifen, daß die jetzigen Kinder dasselbe tun, was man selber getan hat; sie möchten, daß die jetzigen Kinder so artig sind, wie man jetzt im Alter ist, und begreifen nicht, daß man doch erst artig geworden ist durch das Heranwachsen. Aber abgesehen da­von, tritt ja noch ein anderes ein. Es tritt das ein, daß der Mensch sich durchaus vorstellt : wie er in der Jugend gewesen ist, so müßten die Kinder jetzt sein. Also etwa so, wie ich in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewesen bin, so sollten die Kinder, die jetzt ge­boren werden, auch sein. Das ist Unsinn. Denn wir haben uns absolut weiterbewegt im Weltenraum. Und die Kinder, die jetzt geboren wer­den - ich gehe zu meinem ursprünglichen Vergleich zurück -, werden in einem anderen Weltenraum geboren. Nicht wahr, wenn Sie heute von Stuttgart nach einem anderen Orte reisen, haben Sie heute in Stuttgart gegessen und essen morgen anderswo. Sie können nicht mehr dann in Stuttgart essen, wenn Sie reisen. Und die Kinder, die heute geboren werden, die können nicht mehr so seelisch geartet sein wie die Kinder, die wir waren, die wir heute ein respektables Alter haben.

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Die Kindheit selbst ändert sich, das muß man begreifen. Das hängt zusammen mit unserer absoluten Bewegung im Weltenraum, von dem der mathematische Raum nur ein schematisches Abbild ist. Die Menschen wollen immer absolutistisch die Dinge auffassen, und man freut sich heute schon, wenn die Dinge nicht absolutistisch aufgefaßt werden.

Ich habe neulich eine große Freude gehabt, und zwar dadurch, daß mich ein Mann besuchte in Berlin, der - nun, wie soll ich es nennen -die Besprechung der Dreigliederung unter dem Titel «Ein falscher Prophet», in der «Hilfe» gelesen hatte. Ich weiß nicht, ob Sie dieses Elaborat kennen. Das hat also ein Amerikaner gelesen und hat sich gesagt : Wovon in solcher Weise geschrieben wird, da ist etwas dran, da muß ich mich dafür interessieren. - Und er kam dann mit Herrn Pfarrer Ritte/meyer zu mir und setzte auseinander, daß er aus dem gan­zen schwächlichen Stil und so weiter entnommen habe, daß man sich für die Sache interessieren müsse. Und unter den Fragen, die er stellte, und die alle sehr verständig waren, war auch die folgende, die mich be­sonders freute : Nun, die Dreigliederung, man kann sie für die jetzige Zeit sehr gut einsehen; man kann einsehen, daß jetzt die Dreigliede­rung notwendig ist, daß sie an die Stelle des alten Einheitsstaates treten muß. Sind Sie der Meinung, daß nun die Dreigliederung die letzte, endgültige Lösung der sozialen Frage ist? - Das war eine sehr verständige Frage. Jch konnte ihm antworten : Das glaube ich ganz und gar nicht. Sondern im Laufe der Geschichtsentwickelung hat sich in den verflossenen Jahrhunderten ergehen, daß mehr der Einheits­staat heraufkam. Jetzt ist notwendig geworden durch die Zeitforde­rung die Dreigliederung. Und es wird wiederum eine Zeit kommen, wo die Dreigliederung überwunden werden muß. Aber das ist nicht die jetzige Zeit, das ist die Zeit in drei bis vier Jahrhunderten. Da wird man wiederum denken müssen, wie man die Dreigliederung ablösen kann. - Das ist der Gegensatz zu dem chiliastischen Denken, der Gegensatz zu dem Denken, das ein tausendjähriges Reich ein für alle­mal herbeiführen will, dem Denken, das sich sagt : Wir müssen einen gesegneten Zustand der Menschheit herbeiführen, dann ist er eben da, dann kann er bleiben. - So bequem lebt es sich nicht in der Welt. Da ist

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notwendig, daß dasjenige, was als richtig in einer bestimmten Epoche herbeigeführt wird, wiederum abgelöst wird von dem, was dann für die folgende Epoche das relativ Richtige ist. Das ist es, um was es sich handelt. Das heißt organisch denken im Gegensatz zum mechanischen Denken, das die Gegenwart beherrscht, wo man eigentlich meint, es gibt nun etwas ein für allemal absolut Richtiges. Das eine ist richtig für Stuttgart, das andere für New York, für Australien. Das eine ist richtig für 1919, das andere für 2530. Nein, so bequem macht es die Weltentwickelung den Menschen nicht, daß irgend etwas absolut Richtiges da ist. Die Dinge sind immer richtig für bestimmte Orte und für bestimmte Zeiten. Und man muß konkret aus den Verhältnissen heraus denken. Das wird man aber tun, wenn man auch sich bewußt ist, daß man im Weltenraum absolute Bewegungen ausführt, die man aber nur aus inneren Erfahrungen heraus, aus innerem Erleben heraus bemerken kann.

Ich habe Sie heute wiederum auf etwas aufmerksam gemacht, was Ihnen zeigen soll, wie die Dinge in der Gegenwart genommen werden sollen mit Bezug auf das Einverleiben der Geisteswissenschaft in un­sere gegenwärtige Kultur. Wer solche Dinge begreift, wird einsehen, daß sich die Menschen in ihrer Bequemlichkeit sträuben gegen so etwas, wie die Geisteswissenschaft ist, denn alles andere ist bequemer. Geisteswissenschaft ist ja furchtbar unbequem. Sie gestattet einem nicht einmal, einen Zustand zu erdenken, der nun immer bleiben kann. Sie zwingt uns, das Gute nur für die nächsten Jahrhunderte, vielleicht noch für kürzere Zeit uns zu denken. Das kann man aber nur denken, wenn man wiederum nicht aus abstrakten Verstandesvorstellungen über die Menschheit urteilt, sondern wenn man versucht, seine Zeit in ihrer besonderen Eigentümlichkeit wirklich kennenzulernen, und da­durch ihre Anforderungen zu kennen. Das ist eben unbequem, aber es ist das, was der Wirklichkeit entspricht. Die Menschen möchten heute sehr, sehr bequem mit der Kulturentwickelung fertig werden, ins­besondere diejenigen, die Führer sein wollen in der Kulturentwicke­lung.

Hier ein kleines Beispiel, das mir mitgeteilt worden ist mit Bezug auf Geisteswissenschaft und ihre Auffassung durch maßgebende Persönlichkeiten

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der Gegenwart : In einer Stadt - ich will die Dinge nicht ganz genau sagen, es wird einem übel genommen -, in einer Stadt hatte jemand die Gelegenheit, in einer Privathochschule auch über meine Anthroposophie einmal vorzutragen. Er trug vor über Weltanschau­ungen des Menschen der Gegenwart. Da wollte er auch einreihen, weil das historisch notwendig ist - man strebt ja nach Abrundung -, eine Vorlesung über Anthroposophie. Wie tat er das? Nun, den Lehr­plan, den Vorlesungsplan macht man ja im Anfang des Semesters, da hat man die soundsovielte Stunde im Semester «Anthroposophie» eingesetzt; wie also in vorhergehenden Stunden gesprochen worden war über Darwinismus und so weiter, hatte der Mann eine bestimmte Stunde eingesetzt für «die Anthroposophie Steiners ». Das war im An­fang des Semesters gemacht. Er harte, als er das einsetzte, nicht den geringsten Dunst, was in einem anthroposophischen Buche steht. Dann kam der Abend heran, an dem die Vorlesung war, da erschien dann der Herr bei irgend jemand, der meine Bücher hat, und ließ sich am Morgen die wichtigsten von meinen Büchern auswählen von dem, der sie besaß, um sich zu informieren, und - am Abend seine Vor­lesung über Anthroposophie zu halten. Das ist bequem, sich so in eine Weltanschauung «einzuleben» und sie dann «autoritativ zu vertreten ». Aber das ist nicht so selten mit Bezug auf die verschiedensten Ver­hältnisse der Gegenwart. Das ist etwas, was verdient, besprochen zu werden. Denn aus nicht viel weitergehenden Tiefen ist sehr, sehr vieles in der Gegenwart gesagt, vorgetragen und geschrieben worden, und es wird gläubig hingenommen. Und aus diesem gläubig Hingenom­menen setzt sich dann zusammen das, was die Leute in ihren Köpfen und in ihren Seelen von den verschiedenen Weltanschauungen haben. Man darf sich vor dieser Tatsache einer furchtbaren Oberflächlichkeit, die eingezogen ist, nicht verschließen. Man muß sich klar darüber sein, daß es heute notwendig ist, sich erst anzusehen, wer da steht, wo dieses oder jenes autoritativ vertreten wird.

Wichtiger als alles, was ich Ihnen inhaltlich geben kann, meine lieben Freunde, ist die Anregung dieses Bewußtseins gegenüber der heutigen Zeit; dieses Bewußtsein, daß wir es notwendig, ungeheuer notwendig haben, hinzusehen auf den Grad von Vertiefung, der in dem herrscht,

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was auf uns einströmt, was sich geltend macht, und was in Wirklich­keit recht hat, sich geltend zu machen. Redet man von diesen Dingen, so verletzt man heute geradezu viele Leute. Und besonders Anthropo­sophen und Theosophen gegenüber sagen die Leute : Die sollten doch nachsichtiger sein, sollten doch mit Wohlwollen urteilen und nicht so kritisch sein; denn wenn man so kritisch sei, so verletze das die Men­schen. Aber es fragt sich, ob das Menschenliebe ist, wenn man es un­besprochen läßt, daß solche Menschen losgelassen werden auf die all­gemeine Bildung, die sich am Morgen unterrichten über das, was sie am Abend vorzutragen haben. Bei den Fragen, die das Leben stellt, handelt es sich darum, wie sie gestellt werden. Es ist wichtig, daß man sie richtig stellt, dann allein können sich die richtigen Dinge ergeben.

So versuchte ich heute, Ihnen die Notwendigkeit nahezulegen, daß das Erdenbewußtsein sich in ein Weltenbewußtsein verwandele, wie sich das Landbewußtsein in ein Erdenbewußtsein verwandelt hat. Aber ich versuchte Ihnen dieses nahezulegen, um Sie wiederum von einem Gesichtspunkte aus hinzuweisen auf manches, was gefühlsmäßig not­wendig ist zur Herbeiführung gesünderer Verhältnisse in unserer Kul­tur, als wir sie gegenwärtig haben.

Dieses Herbeiführen, oh, das muß schon geschehen! Man möchte die Leute aufrütteln dazu, das schläfrige Menschenwesen der Gegen­wart möchte man aufrufen dazu. Aber das ist gar nicht so leicht in der Gegenwart. Es wird ja manches nach dieser Richtung hin ausgeführt, aber die Menschen vermeiden es, sich gründlich mit unseren Zu­ständen bekannt zu machen. Es genügt nicht, daß man bloß anthro­posophlsche Theorien aufstellt. Es ist notwendig, daß man den Blick scharf macht für das, was in unserer Zeit notwendig ist, und nicht sich einkapselt in Vorurteile. Man muß sich offen machen für das, was be­kämpft werden muß, damit man gerade von dem Standpunkte einer richtigen Menschenliebe aus in die Gegenwart handelnd eingreifrn kann. Wenn nur irgend etwas nach dieser Richtung hin angeregt wer­den kann in den Seelen und Gemütern, dann ist damit mehr erreicht als durch die umfassendsten Theorien.

Es blutet einem das Herz, wenn man weiß, wie wahr es ist, was neu­lich hier in der Kulturrats-Sitzung Herr Molt gesagt hat, daß es heute

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schon Leute gibt, die da sagen : Ach was, bevor wir an so etwas den­ken, wie das, was von der Dreigliederung des sozialen Organismus kommt, werden wir lieber eine Provinz der Entente. - Es ist leider in sehr weitem Umfange wahr. Und mit einer solchen Gesinnung hängt vieles andere zusammen, weil schließlich andere Gesinnungen nur kommen können von einer Hinneigung zur geistigen Vertiefung. Die heutige Zeit kann nur durch eine geistige Vertiefung gesunden.

HINWEISE

#G192-1964-SE393 - Geisteswissenschaftliche Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen

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HINWEISE

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Zu Seite:

11 hier vor jetzt Wohl genau einem Jahre: Vorträge vom 23. und 26. April in Stuttgart. Diese Vorträge sind bisher nicht veröffentllcht worden. Sie sollen innerhalb der Gesamtausgabe in Band 182 der Bibliographie (Michaela Kampf und seine Wider-spiegelung auf Erden) abgedruckt werden.

durch den Mann: Prinz Max von Baden, 1866-1929, wurde im Herbst 1918 deutscher Reichskanzler und richtete am 5. Oktober 1918 ein Friedensangebot an Präsident Wilson auf Grundlage von dessen «Vierzehn Punkten».

13 der damals für die answärtige Politik verantwortliche Minister: Gottlieb von Jagow,

1863-1935, war von 1913 bis 1916 Staatssekretär des Auswärtigen Amtes.

in meinem Vortrage: Letzter Vortrag des Zyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Gesamtausgabe Dornach 1959, Seite 164-165. Die Stelle ist im Zitat stark zusammengezogen und lautet wörtlich : «Es wird also heute für den Markt ol,ne Rücksicht auf den Konsum produziert, nicht im Sinne dessen, was in meinem Aufsatz « Geisteswissenschaft und soziale Frage» ausgeführt worden ist, sondeen man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusammen, was produziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich - wenn ich jetzt das Folgende sagen werde, werden Sie finden, warum - in sich selber ver­nichten wird. Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Karzinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebibildung, eine Karälnomhildung, Kulturkrebs, Kulturkaizinom ! So eine Krebabildung schaut derjenige der das soziale Leben geistig dutchblickt wie über all iurchtbare Anlagen zu sozialen Geschwurbildungen aufaprossen Das ist die große Kultursorge, die auftritt fur den der das Dasem durchschaut Das ist das Furchtbare, was so bedruckend wirkt und was selbst dann wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geisteswissenschaft unterdrucken konnte wenn man unter drücken könnte das, was den Mund offrien kann fur die Geisteswissenschaft emen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien fur das was so stark schon im Anzug ist und was immer starker und starker werden wird Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muß, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebabildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintrirtt. »

15 dir sogenannte « Aufruf an das deutsche Volk und an die Kulturwelt » : Er wurde 1919 als Flugblatt gedrückt und verbreitet. Er wurde auch von vielen mitteleuropäischen Zeitungen gebracht und erschien als Anhang zu dem Buch «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft», Gesamtausgabe Dornach 1961. Er ist auch, mit dazugehörigen Hinweisen, Er­gaizungen u.a., abgedruckt in dem Band «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage», Gesamtausgabe Dornach 1961.

16 «Die Kernpunkte der sozialen Frage in den Lebensotwendigkeiten der Gegenwart und Zu­kunft» : Gesamtausgabe Dornach 1961.

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16 Woodrow Wilson, 1856-1924, Prasident der USA (1913-1921) proklamierte in einer Anaprache vor dem Amerikanischen Kongreß am 8.Januar 1918 ein in vierzehn Punkte zuaammengefaßtes «Programm des Weltfriedens ». Übersetzung in «Die Reden Woodrow Wilsons», englisch und deutsch, Bern 1919. Wieder abgedruckt in Rudoli Steiner «Die Forderungen der Gegenwart an Mitteleuropa», Dornach

1951, S. 158-163.

Kühlmann: Richard von Kühlmann, 1873-1948, deutscher Staatssekretär des Aus­wärtigen (1917-1918).

20 Kreuzwendedich von Rheinbaben: Georg Kreuzwendedich von Rheinbaben, 1855-1921.

25 die sogenannte «Völkerbund-Konferenz» : 7.-13. März in Bern. Am 11.März hielt

Rudolf Steiner im Berner Großratssaal einen öffentlichen Vortrag «Die wirklichen

Grundlagen eines Völkerbundes in den wirtschaftlichen, rechtlichen und geistigen

Kräften der Völker», gedrückt Bern 1944, 2.Aufl. 1946.

29 in Basel in einem Vortrage: Am 2. April 1919, in Bibliographie-Nr. 329 der Gesamt­ausgabe.

30 «Ehrenwerte Männer sind sie alle » : Shakespeare «Julius Caesar», III. Akt, 2. Szene, Antonius:«... denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann I Das sind sie alie, alle ehren­wert.»

31 wo wiederbelebt wird die mittelalterliche Homunkulus-Idee: Faust, Zweiter Teil, Akt II,

2. Szene : Laboratorium.

33 den «Geschlossenen Handelsstaat» : Johann Gottlieb Fichte, 1762-1814, «Der ge­schloßne (sie.) Handeisstaat, ein philosophischer Entwurf einer künftig zu lie­fernden Politik», erschien 1800 als Nachtrag zu Fichtes «Grundlegung des Natur-rechts», 1796-97.

34 Im «Faust» steht: Faust, erster Teil, Marihens Garten.

«Der Allumfasser, Der Allerhalter, Faßt und erhält er nicht Dich, mich, sich selbst?»

42 in meiner «Theosophie» : «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung », Berlin 1904. Gesamtausgabe Dornach 1961.

in der «Geheimwissenschaft » : «Die Geheimwissenschaft im Umriß», Leipzig 1910. Gesamtausgabe Dornach 1955.

48 des alten Schäffle: Albert Eberhard Friedrich Schaffle, 1831-1903, Nationalökonom, ab 1871 k. k. Handelsminister in Wien. «Bau und Leben des sozialen Körpers», 2.Aufl. 1896.

Meray: C. H. Meray, «Weltmutation. Schöpfungsgesetze über Krieg und Frieden und die Geburt einer neuen Zivilisation», Zürich 1918.

in meinem Buche « Von Seelenrätseln » : Berlin 1917, Gesamtausgabe Dornach 1960.

51 in meinem Buche: siehe Hinweis zu S. 16.

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54 di,ß Hartmann mir sagte: Der Philosoph Eduard von Hartmann, 1842-1906.

56 Fritz Mauthner, 1849-1923, «Beiträge zu einer Kritik der Sprache», Stuttgar< 1901/

1902; «Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache», München, 1910/11.

58 der französische Denker Boutroux: Ernile Boutroux, 1845-1921.

Ernst Mach, 1838-1916.

59 « Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» : Berlin, 1904/05, Gesamtausgabc Dornach 1961.

« Vom Menschenrätsel» : Berlin 1916, Gesamtausgabe Dornach 1957.

66 Fritz Mauthner: Siehe Hinweis zu S. 56.

70 Gustav Lendauer, 1870-1919, Schriftsteller. Sein Werk « Skepsis und Mystik» war durch Mauthners «Kritik der Sprache» angeregt. Im politischen Lehen bekannte er sieh zu einem gewaltlosen Anarchismus, den er in seiner Zeitschrift «Sozialist» zur Darstellung brachte. Als im November 1918 Kurt Eisner in München die Republik ausrief, wurde Landauer Kommissar für Volksaufklärung. Nach Eisners Sturz und Ermordung gehörte er wenige Tage lang der Münchner Räteregierung an, zog sich aber zurück, als die Kommunisten die Macht übernahmen. Am 1. Mai 1919, dem Tage, an dem Rudolf Steiner ihn im Vortrage erwähnt, wurde München durch preußische und württembergische Truppen besetzt, Landauer selbst verhaftet und zum Tode verurteilt. Am folgenden Tage wurde er auf dem Wege zum Hinrich­tungsplatz von den Soldaten auf grausame Weise umgebracht. Eine Schilderung dieser Vorgänge findet sich in dem 2. Bande des Buches «Gustav Landauer, sein Lehensgang in Briefen», herausgegeben von Martin Buber, 1929.

73 Ernst Mach, 1838-1916, «Die saatlyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen», 1886; «Erkenntnis und Irrtum», 1905; « Die Leit­gedanken meiner naturwissenschaftlichen Erkenntnislehre», 1919.

Friedrich Adler, 1879-1960.

74 Richard Avenarins, 1843-1896, «Kritik der reinen Erfi,hrung», 1888-1890; «Der menschliche Weltbegriff», 1891.

76 Ernst Haeckel, 18341919. «Natürliche Schöpfungsgeschichte», Berlin 1868.

79 in meinem Buche «Die Rätsel der Philosophie » : Das Buch erschien zuerst unter dem

Titel «Welt- und Lehensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert», 1900/01.

Die stark erweiterte Ausgabe von 1914 trägt den Titel «Die Rätsel der Philosophie

in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt», Gesamtausgabe, Stuttgart 1955. Über

Max Stirner (1806-1856) und sein Haupt-ueerk «Der Einzige und sein Eigentum»

(1845) wird in dem Kapitel «Die radikalen Weltanschauungen» gesprochen.

82 Oskar Hertwig, 1849-1922, «Das Werden der Organismen, eine Widerlegung der Darte-inschen Zufallslehre », 1916; « Zur Abwehr des ethischen, des sozialen und des politischen Darwjnismus», 1918.

83 « Der Leuchter, Weltanschas'ung und Lebensgestaltung»: Darmstadt, 1919. Die zitierte Stelle von Jakob von Uexküll (18641944) findet sich in seinem Aufsatz «Der Organismus

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als Staat und der Staat als Organismus» auf S. 95. - In dem Aufsatz von Friedrich Niebergall (l866-1932) «Der Aufstieg der Seele» heißt es auf S. 282:

«So verlockend es ist, in diesem Zusammenhang noch von Johannes Müller und seinem zu sprechen so wollen wir uns doch nach einer anderen, der philosophischen Provinz des geistigen Lebens wen­den.» Es folgt ein kurzer Abschnitt über Rudolf Eucken und auf Seite 283 ein langerer Abschnitt üher die «Theosophie, die sich gegenwärtig vor allem an den Namen Rudolf Steiner knüpft. » Die Ausführungen schließen auf Seite 284 mit dem von Rudolf Steiner zitierten Passus.

93 auf Arithmetik, Rechnen, Geometrie: Das Wort Geometrie wurde sinngemäß statt dem Worte «Geographie» gesetzt, das im Stcnogramm und in früheren Ausgaben an dieser Stelle steht.

94 unseres lieben Herrn Molt: Emil Molt, 1876-1936, Direktor der Zigaretten-Fabrik «Waldorf-Astoria ». Er richtete für die Angehörigen der Firma Arbeiterbildungs-kurse ein. Sein Wunsch, für die Kinder der Fabrikarbeiter eine im Sinne Rudolf Steiners geführte Schule zu haben, wurde der Anstoß für die Begründung der ersten «Waldorfschule»in Stuttgart.

96 Wilamowitz: Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, 1848-1941.

102 Eucken: Rudolf Eucken, 1846-1926, «Der Kampf um einen geistigen Lebens-inhalt », 1896; «Einführung in eine Philosophie des Geisteslebens», 1908.

Paulsen: Friedrich Paulsen, 1846-1908, «Einleitung in die Philosophie», 1892; «System der Ethik», 1889.

106 Wilhelm Förster, 1832-1921.

113 am letzten Freitag: Öffentlicher Vortrag vom 16. Mai, 1919, abgedruckt in : Rudolf Steiner «Neugestaltung des sozialen Organismus», Gesamtausgabe Dornach 1963.

116 in dem sogenannten Bagdadbahnprohlem: Die Deutsche Bank, welche schon den Aus­bau der Bahnverbindung Konstantinopel-Ankara finanziert hatte, erhielt 1903 auch die Konzession für die Weiterführung der Bahn über Bagdad nach Basra am Per­sischen Golf. Dies führte in den folgenden Jahren zu politischen Auseinander­setzungen mit England und Rußland, die eine Ausweitung des deutschen Eittlußes in dieser Zone befürchteten.

der unglückselige Helfferich: Karl Helfferich, 1872-1924, wurde 1906 Direktor der Bagdadbahn, 1908 Direktor der Deutschen Bank. 1915 bis 1917 hatte er, zunächst als Staatssekretär des Reichaschatzamtes, dann als Staatssekretär des Inneren und Stellvertreter des Reichskanzlers, die Verantwortung für die Finanzierung des Krieges und für die wirtschaftliche Kriegsführung. Am 23.4.1924 kam er, kurz vor einem großen Wahlsieg seiner Partei, durch das Eisenbahnunglück bei Bellin­zona ums Leben.

Kapp quietschte, Bethmann Hollweg zeterte: Wolfgang Kapp, 1858-1922, General­landschaftsdirektor in Ostpreußen 1906-1920, Mitbegründer der Deutschen Vater­landspartei.

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,lheobald von Bethmann Hollweg, 1856-1921, Deutscher Reichskanzler 1909-1917. Am 5.Juni 1916 hielt Bethnsann Hollweg im Reichstag eine Rede «Gegen Schmäh­schriften des Generallandschaftsdirektors Kapp. »

121 Rabindranath Tagore, 1861-1941, indischer Dichter und Religionsphilosoph.

126 eine" Ausspruch... Herman Grimm:: Herman Grimm, 1828-1901. Der Ausspruch steht in seinem Buche «Fünfzehn Essays. Vierte Folge. Aus den letzten fünf Jahren» S. 46. In den «Kerapunkten» von Rudolf Steiner wird er auf Seite 146 f. der Ge­samtausgabe zitiert.

129 ah ich ein psychopathisches Kind. . . zu erziehen bekam: Die Arbeit an diesem Zögling wird eingehend geschildert in « Mein Lebensgang », im 6. Kapitel (Gesamtausgabe S. 104 ff.).

135 gestern sogar im öffentlichen Vortrag: Vortrag vom 31. Mai 1919, abgedruckt in «Neu­gestaltung des sozialen Organismus», Gesamtausgabe Dornach 1963.

149/50 das Paulinische Wort: Brief an die Römer, Kap. 7, Vers 7/8.

150 in seinem erhuchteten Vertreter: Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896, Physiologe, Generalsekretär der Akademie der Wissenschaften. Das erste Zitat stammt aus der Rede vom 3. August 1870, und lautet wörtlich: «Die Berliner Universität, demPa­laste gegenüber einquartiert, ist durch ihre Stiftungsurkunde das geistige Leib-regiment des Hauses Hohenzollern. » Reden, Band 1, S. 92. Die Rede «Goethe und kein Ende » wurde am 15. Oktober 1882 gehalten. Der zitierte Passus heißt : «Wie prosaisch es klinge, es ist nicht minder wahr, daß Faust, statt an Hof zu gehen, ungedecktes Papiergeld auszugeben, und zu den Müttern in die vierte Dimension zu steigen, besser getan hätte, Gretchen zu heiraten, sein Kind ehrlich zu machen und Elektrisiermaschine und Luftpumpe zu erfinden. »

158 wie neulich in Tübingen ein Professor: Vergleiche da,u die Ausführungen in diesem

Vortrage auf Seite 161. Es handelt skh um den Juristen Professor Philipp von

Heck, 1858-1943. Er setzte sich später auch schriftlich mit dem Gedanken der

Dreigliederung auseinander. Verglekhe d,szu Rudolf Steiners Ausführungen im

15. Vortrag (S.324/5).

166 Theohald Ziegler, 1846-1918, war von 1886 bis 1911 Professor in Straßburg. Das Buch «Allgemeine Pädagogik» (Straßburg 1901) bildet die Wiedergabe von 6 Vor-trägen, die 1895 in Frankfurt a. M. und im März 1901 in Hamburg gehalten wur­den. Die zitierte Stelle findet sich im S. Vortrag.

169 heim « Aufruf»: Siehe Hinweis zu S. 15.

173 im «Reich»: «Das Reich», Vierteljahrsschrift, herausgegeben in München und Heidelberg von Alexander Freiherr von Bernus. Der betreffende Artikel erschien in Buch 3 des 3.Jahrganges (Okt.1918) und hatte den Titel «Luziferisches und Ahrimanisches in ihrem Verhältnis zum Menschen ».

184 in einem der Vorträge: Im S. Vortrag, Seite 104/105.

198 Richard Wahle, 1857-1935: «Gehirn und Bewußtsein», 1884; «Das Ganze der Philosophie und ihr Ende »,1894; «Über den Mechanismus des geistigen Lebens », 1906.

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204 das neueste Heft der Zeitsch,

dort aber wohnte ein Mann: Felix Koguzki, 1833-1909. Siehe über ihn: «Mein Lebenagang », 3. Kap. (Gesamtausgabe S. 60/61).

«auf der Wieden » : Wieden ist der IV. Bezirk von Wien. Der Name Ist die alte Be-zeichnung für den ehemaligen Vorort, und der Ausdrück «auf der Wieden » wird noch heute für diesen Bezirk Wiens gebraucht.

205 dem deutschen Mystiker Ennemoser: Joseph Ennemoser, 1787-1854. Der genaue Titel des zitierten Werkes (München, 1960) lautet «Das Horoskop in der Weltgeschichte »

208 jener niederösterreichische Schulmeister: Johannes Wurth, Schullehrer in Münchendoif, NÖ. Die erwihnten Tagebücher wurden bald darauf aufgefunden. Siehe Emil Bock «Rudolf Steiner. Studien zu seinem Lebensgang und Lebenswerk», Stuttgart 1961, 1.Kapitel.

209 unser Ranzenberger: Herman Ranzenberger, anthroposophischer Architekt, Mit­arbeiter am ersten Goetheanumbau.

212 Richard Wahle: Siehe Hinweis zu S. 198.

213 in meinem Märchen: Siehe Rudolf Steiner : «Vier Mysteriendramen », Gesamtausgabe Dornach 1962; «Der Hüter der Schwelle», sechstes Bild.

217 neulich im öffentlichen Vortrage: Vortrag vom 16.Juni 1919, abgedruckt in «Neu­gestaltung des sozialen Organismus », Gesamtausgabe Dornach 1963.

219 Asquith und Grey: Herhert Henry Asquith, 1852-1928, war 1908 bis 1916 englischer Premierminister. Edward Grey, 1862-1933, war 1905 bis 1916 englischer Außen-minister.

224 was... der Kulturrat werden soll: Über die Vorglinge, welche mit der Bildung dieses Kulturrates zusammenhängen, berichtet Emil Leinhas in seinem Buche «Aus der Arheit mit Rudolf Steiner».

226 jenen Grafin Ghambord: Heinrich Karl Ferdirand Marie Dieudonné von Artois, Herzog von Bordeaux, Graf von Chsmhord, 1820-1883. Siehe über ihn : «Mein Lchcnsgang», 1. Kapitel (Gesamtausgabe S. 19).

228 auch schon im öffentlichen Vortrage: Siehe Hinweis zu S. 217.

237 Erest Michel, geboren 1889, Sozialwissenschaftler und Psychologe, Honorarprofes­sor für Soziale Bctriehslehre und Sozialpolitik in Frankfurt s. M. «Der Weg zum Mythos», 1919. Die zitierte Stelle findet sich auf Seite 38.

239 Henei Bergson, 1859-1941, französischer Philosoph, Professor am Collége de France in Paris. Rudolf Steiner spricht in seinem Buch «Die Rätsel der Philosophie » aus­führlich über ihn (in dem Kapitel «Der moderne Mensch und seine Weltanschau­ung »).

Karl Marx, 1818-1883.

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259 Paraceleus: Theophrastus Parseelsus, 1493-1541.

Jakob Böhme, 1575-1624.

Tauler: Johannes Tauler, gestorben 1361 in Straßburg.

Eckardt: Meister Eckardt, gestorben 1327 in Köln.

Valentin Weigel, 1533-1588, protestantischer mystischer Schriftsteller. Über ihn, wie auch über die vorgenannten Mystiker, finden sich längere Ausführungen in Rudolf Steiners Buch «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung», Gesamtausgabe Dornach 1960.

261 Gustav Theoder Fechner, 1801-1887: «Elemente der Psychophysik», Leipzig 1860.

Kirchhoff: Gustav Robert Kirchhoff, 1824-1887, Physiker, Professor in Breslau, Heidelberg und Berlin.

Bunsen: Robert Bunsen, 1811-1899, Chemiker, war unter anderem Professor in Marburg und Heidelberg.

Für die Entdeckung der Spektralanalyse durch Kirchhoff und Bunsen wird das Jahr 1859 oder auch 1860 angegeben. In dem von beiden gemeinsam heraus­gegebenen Werk «Chemische Analyse mit Spektralbeobachtungen », 1861, machten sie ihre Entdeckung der Öffentlichkeit bekannt. 1861-1863 gab Kirchhoff ferner in mehreren Folgen seine «Untersuchungen über das Sonnenspektrum und die Spektren chemischer Elemente » heraus.

262 Unser Freund Sellin: Albrecht Wilhelm Sellin, 1840-1933, war Kolornialbeamter. Der Titel des von ihm herausgegebenen Werkes lautet : Tablrau naturel des rap­ports qui existent entre Dieu, l'Homme et l'Univers / Über das natürliche Ver­hältnis zwischen Gott, dem Menschen und der Welt von Lonis Claude de Salat-Martin. In freier Übersetzung herausgegeben von A. W. Sellin. Konstanz-Leipzig

1919.

Lenis Glaude de Salut-Martin: 1743-1803. Sein Hauptwerk «Des erreues et de la vérité» wurde 1782 von Matthias Claudius ins Deutsche übersetzt.

266 in früheren Vorträgen: Im dritten Vortrag, S. 77.

269 Benedetto Croce, 1866-1952, italienischer Kultur- und Geschichtsphilosoph. Die Vorträge erschienen in der Reihe «Wissen und Forschen » unter dem Titel «Grund­riß der Ästhetik», deutsch von Theodor Poppe, Leipzig 1913.

270 Als ich in München sprach: Rudolf Steiner «Kunst- und Kunsterkenntnis », neun Vorträge aus den Jahren 1888-1921, Gesamtausgabe Dornach 1961.

273 Ich habe neulich in Heilbronn gesprochen: Vortrag vom 30.Juni 1919. Es ist keine Nach­schrift vorhanden.

Hamlet-Zitat: 1. Aufzug, S. Auftritt.

275 der letzte öffentliche Vortrag: Vortrag vom 11.Juli 1919: «Die übersinnliche Wesen­heit des Menschen und die Entwickelung der Menschheit», abgedruckt in : «Neu. gestaltung des sozialen Organismus», Gesamtausgabe Dornach 1963.

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Zu Seite;

275 Johann Plenge, geboren 1874, Soziologe, Professor der Staatswisscnachaften in Münster i. w.

Max Scheler, 1874-1928, deutscher Philosoph, Professor in München, Köln und Frankfurt a. M.

280 neulich auch im öffentlichen Vortrag: Siehe Hinweis zu S. 275.

284 Woodrow Wileon: Siehe Hinweis zu S. 16.

285 «Tribüne » : «Die Trihüne », eine Halbmonatsschrlft für soziale Verstandigung, her­ausgegeben von Gustav Seeger und Karl Lieblich. Die Zeitachrift erschien in Tü­bingen. Vergleiche auch den Hinweis zu S. 324.

286 Proftssor Aulard, 1849-1928, französischer Historiker; im «Pays » : «Le Pays », Pariser demokratische Tageszeitung, gegrundet 1917.

288 Herman Grimm: Üher die Begegnungen Rudolf Steiners mit Herman Grimm finden sich mehrere Berichte in «Mein Lebensgang ».

295 Solowjow: Wiadimir Solowjow, 1853-1900, russischer Philosoph.

296 Lenin: Wiadimir Jljitsch Lenin, eigentlich Uljanow, 1870-1924, Giündcr der UdSSR, hcdcutendster Theoretiker des dialektischen Materialismus.

310 vor vielleicht einem Jahr: Siehe Hinweis zu S. 11.

316 vor einiger Zeit: Siehe 12. Vortrag, S. 269.

324 der Tübinger Profissor von Heck: Siehe Hinweis zu S. 158. Der erwähnte Aufsatz von Prof. Heck erschien in Jahrgang 1, Nr.1 der Zeitschrift «Die Tribüne » (Siehe Hinweis zu S. 285). Er hatte den Titel «Die Dreigliederung des sozialen Körpers ». Rudolf Steiner schrieb eine Etwiderung auf diesen Artikel, die in Heft 3/4 der gleichen Zeitschrift erschien. Sie ist enthalten in Rudolf Steiner: «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus und zur Zeitlage 1915-1921», Ge­samtausgabe Dornach 1961, S. 434.

330 Ich habe das ein wenig dargestellt: Der Aufsatz ist wieder abgedruckt in : Rudolf Steiner «Aufsätze über die Dreigliederung des sozialen Organismus», Gesamt­ausgabe Dornach 1961, S. 31.

337 der dicke Erzberger: Matthias Erzberger, 1875-1921, katholisch konservativer Poli­tiker, Abgeordneter der Zentrumapartei im Reichstag. Am 21.Juni 1919 war er (bis März 1920) Reichsfitunzminister und Vizekarzler geworden.

342 Avenarius, Mach, Fritz Adler: Siehe Hinweise zu S. 73/74.

346 der Benediktus..., der jetzt auf dem römischen Stuhle sitzt: Benediktus XV., 1854-1922, Papst seit dem 3. September 1914.

347 zum Beisplel von Har"ack: Adolf Harnack, 1851-1930, Professor für Kirchen-geschichte in Berlin. «Das Wesen des Christentums», sechzehn Vorlesungen an der Universität Berlin, Leipzig 1910.

349 der Abdruck des Vortrages: Vortrag vom 26. April 1919, vor den Arbeitern der Daimler-Werke, Stuttgart-Untertürkheim. Der Vortrag ,,aurde vom Schweizer

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Bund für Dreigliederung als Manuskriptdrück herausgegeben. Innerhalb der Ge­samtausgabe ist der Vortrag abgedrückt in dem Band «Neugestaltung des sozialen Organismus».

353 Wilhelm Wundt, 1832-1920, Physiologe, Psychologe und Philosoph. Professor in Heidelberg, Zürich und Leipzig.

355 Julius Robert Mayer, 1814-1878, Arzt und Naturforscher.

«Die Mystik im Aufgauge des neuzeitlichen Geisteslebens», Berlin 1901. Gesamt-ausgabe Dornach 1960.

358 Ich habe gestern versucht,... davon zu sprechen: Ansprache vom 7. September 1919 zur Eröffnung der Waldorfschule, abgedruckt in «Rudolf Steiner in der Waldorf­schule», Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer, 1919-1924, Gesamtausgabe, Stuttgart 1958.

362 den Kursus für die Lehrerschaft der Waldorfichule: Zur Vorbereitung der künftigen Waldorflehrer auf ihre Aufgabe hielt Rudolf Steiner in der Zeit zwischen dem 21.August und dem S. September täglich zwei pädagogische Vorträge (vormittags) und führte außerdem an den Nachmittagen seminaristische Besprechungen durch. Siehe : «Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik», Gesamt­ausgabe Dornach 1960; «Erziehungskunst. Methodisch-Didaktisches », Gesamt­ausgabe in Vorbereitung; «Erziehungskunst. Seminarbesprechungen und Lehr­planvorträge », Gesamtausgabe, Stuttgart 1959.

366 gestern in der Eröffnungsrede: Siehe Hinweis zu S. 358.

371 in meiner «Geheimwissenschaft»: Siehe Hinweis zu S. 42.

378 Ich habe ja oftmals schon darauf hingewiesen: Die Frage wird ausführlich behandelt in dem Kurs «Das Verhältnis der verschiedenen naturwissenschaftlichen Gebiete zur Astronomie», Gesamtausgabe in Vorbereitung.

in dem bekannten Werk des Kopernikus: Nikolaus Kopernikus, 1473-1543, «De revo­lutionibus orblum coelestium libri sex», 1543.

383 indem Aufsatz: «Die pädagogische Grundlage der Waldorfachule», abgedruckt in «Waldorf-Nachrichten », Stuttgart, Nr.19 (Oktober 1919).

384 Garriere: Moriz Carriere, 1817-1895, Philosoph und Ästhetiker. «Ästhetik», 1859. «Die Kunst im Zusammenhang der Kulturentwicklung und die Ideale der Mensch­heit», 1863-1873.

388 In der «Hilft » : Wochensehrift für Polirik, Literatur und Kunst, herausgegeben von Friedrich Naumann, Berlin 1907-1936. mit Herrn Pfarrer Rittelmeyer: Dr. Friedrich Rittelmeyer, protestantischer Pfarrer, später erster Leiter der Christengemeinschaft «Bewegung für religiöse Erneue-rung ». 391 in der Kulturrats-Sitzung Siehe Hinweis zu S. 224. Herr Molt: Siehe Hinweis zu S. 94.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.