GA 189

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I Wie setzen wir unser soziales Urteil in die Wirklichkeit um?

#G189-1957-SE009 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

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I

Wie setzen wir unser soziales Urteil

in die Wirklichkeit um?

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Unter den Vorträgen, die ich in der letzten Zeit hier gehalten habe, wurde vielfach die jetzt drängende, brennende soziale Frage behan­delt. Daß das, was man soziale Frage nennt, seit langem und auch in der Gegenwart etwas im sozialen Leben der ganzen Menschheit Drän­gendes und Brennendes ist, kann ja heute jeder wissen, der nicht wie ein seelisch Schlafender die Ereignisse, in die sein eigenes Dasein hin­einversponnen ist, beobachtet. Inwiefern in den Lebensnotwendig­keiten der modernen Menschheit und in der ganzen neueren Entwick­lung der Menschheit die soziale Frage eine bestimmte Gestaltung an­genommen hat, die Gestaltung, die heute so einschneidend für das Le­ben ist, das kann aus den Vorträgen ersehen werden, die ich hier und auch, wenigstens in ihrem Extrakt, an einzelnen Orten der Schweiz öffentlich gehalten habe. So ist unter uns, die wir in die anthroposo­phische Bewegung hineinverstrickt sind, das Bedürfnis entstanden, auch von unserem Gesichtspunkte aus über die Schicksale der Mensch­heit, namentlich auch mit Bezug auf die soziale Frage, zu einem Urteil zu kommen, das auf die uns mögliche Weise in die Wirklichkeit um­gesetzt werden könnte.

Längere Zeit schon haben sich Mitglieder von uns bemüht, ihre Kraft in den Dienst unserer so schwierigen Zeit zu stellen. Mancherlei ist dabei bedacht, mancherlei in Aussicht genommen worden. Selbst­verständlich kann ja jeder nur in der Weise in die Ereignisse eingrei­fen, die ihm durch sein Schicksal, durch sein Karma, durch seine -sagen wir - Menschheitsposition vorbestimmt ist. Aus den verschie­denerlei Aspirationen, die aus unserer Mitte herausgekommen sind, ergab sich nun das folgende: die drei Herren, welche es sich zur be-sonderen Aufgabe gesetzt haben, in Stuttgart zu arbeiten in einem Sinne, der den Lebensnotwendigkeiten der gegenwärtigen Zeit ange­messen ist, diese drei Herren, die Sie ja gut kennen, Herr Molt, Herr

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Dr. Boos, Herr Kühn, erschienen bei mir im Beginne des Februar, und es entstand die Absicht, das, was wir aus unserer Weltauffassung und Lebensanschauung gewinnen können, so gut es zunächst geht und wie es zunächst zweckmäßig erscheint, praktisch zu machen. Wenn es sich nun nicht um Betrachtungen, sondern um Wirklichkeiten handelt, dann kann ja immer nur die Rede von dem sein, was in einem ganz bestimmten Zeitpunkte das Angemessene, das Entsprechende ist, was geeignet ist, in einer gewissen Beziehung einen Anfang zu machen. Wer nicht einen angemessenen Anfang machen will, sondern gleich, wie man sagt, mit der Tür ins Haus fallen will, wird in der Regel nichts Besonderes erreichen. Nach den Antezedenzien, die vorlagen, handelte es sich für uns zunächst darum, irgend etwas zu tun, was uns im gegenwärtigen Zeitpunkt gerade mit Bezug auf das schwerge-prüfte deutsche Volk richtig scheinen kann. Wenn man den Blick auf die gegenwartigen Ereignisse wirft, dann stellt sich einem ja als zu­nächst bedeutsamste Erscheinung vor Augen, daß eine Kluft, ein Ab­grund besteht zwischen den Menschenklassen. Auf der einen Seite dieses Abgrunds stehen die bisher die Geschicke der Menschheit mehr oder weniger leitenden Kreise, auf der anderen Seite das gerade mit den realen Forderungen der sozialen Frage herausrückende Proleta­riat. Das Proletariat kommt allerdings für den Einsichtigen in zwei Gestalten in Betracht: das Proletariat als solches und die Führer des Proletariats. Ich habe of+mals hier auseinandergesetzt, wie alle die Ge­danken, die Aspirationen, Impulse, welche die Führer des Proletariats in ihren Köpfen haben, und mit deren Hilfe sie ihren Einfluß gewin­nen innerhalb des Proletariats, im Grunde die Erbschaft des bourgeoi-sen Denkens der letzten Jahrhunderte sind. Darüber haben wir von den verschiedensten Gesichtspunkten aus hier gesprochen und die Din­ge zu erhärten versucht.

Eine der bedeutsamsten Erscheinungen aber blieb doch diese, daß eine tiefe Kluft zwischen diesen beiden Menschengruppen ist. In den letzten Tagen konnte ja jedem, der die Zeitgeschichte miterlebt, diese Kluft deutlich vor Augen treten: auf der einen Seite Paris, wo sich der Gesichtspunkt der bisher leitenden Kreise der Menschheit geltend macht, und wo die Geschicke der Menschheit und der Gegenwart in die Hand genommen werden; auf der anderen Seite Bern mit einer Versammlung, in der alles das lebt, was durch eine tiefe Kluft von

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dem anderen geschieden ist. Wer aufmerksam verfolgt hat, was von Paris ausgeht, und was andererseits in Bern versucht worden ist auf dem sozialistischen Kongreß, der wird nicht umhin können, sich zu gestehen, daß das Wesentliche, das, was bedeutsam und dauernd ein­greifen wird in die Menschheitsentwicklung, zunächst wohl gar nicht das ist, was in Paris, in Bern gedacht und gewollt wird, sondern daß an diesen zwei Orten zwei ganz verschiedene soziale Sprachen gespro­chen werden. Und wenn man innerlich ehrlich ist, so kann man nicht anders, als sich gestehen: das sind zwei total voneinander verschiede­ne Sprachen, in denen man sich vorläufig nicht verstehen kann.

Bei gehöriger Betrachtung dieser so bedeutsamen Erscheinung kann jedem die Richtigkeit dessen auffallen, was ich hier oftmals gesagt habe: daß viel tiefere Grundlagen aufgesucht werden müssen, um die­se Dinge zu verstehen und um an Lösungsmöglichkeiten mitzuarbei­ten, als die Grundlagen sind, die auf der einen oder anderen Seite heute noch gesucht werden. Es kommt einem immer wiederum so vor, wie ich vorgestern im öffentlichen Vortrage in Basel gesagt habe:

Die soziale Frage, die soziale Bewegung ist heute in einem großen Teil der zivilisierten Menschheit schon als eine Tatfrage, als eine Ereignis-frage in einer Weise vorhanden, wie wohl kaum etwas so tief Ein­schneidendes in diesem geschichtlichen Leben der Menschheit je vor­handen war. So läßt es sich für jeden Einsichtigen an. Und wie oft habe ich hier darauf aufmerksam gemacht: die tieferen Grundlagen findet man nur in jener Wirklichkeitsbetrachtung, von der hier in der geisteswissenschaftlichen Bewegung, in der anthroposophisch orientier­ten Geisteswissenschaft, auch für die soziale Betrachtung des Lebens und der Dinge, ausgegangen wird!

Ich habe gerade bei unserer Silvester-Betrachtung aüf etwas, wie 1ch glaube, Bedeutsames hingewiesen, und zwar darauf, daß es heute möglich ist, für die Menschheit ganz und gar pessimistisch zu sein, und das nicht auf Grundlage irgendeines emotionellen Urteils, sondern auf Grundlage wirklicher sozialer Berechnung. Ich habe Ihnen dazumal einen Aufsatz vorgelesen von einem Manne, der wirklich in dieser Weise sozial rechnen kann. Und ich habe Ihnen gesagt: es ist nur nüchtern, so pessimistisch zu denken, wenn man sich nicht auf der anderen Seite der Tatsache bewußt ist, daß das Sich-Wenden an den Geist noch helfen kann. Aber dafür sollte sich immer mehr und mehr

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ein Bewußtsein bilden, daß nur Grund ist zum Glauben an zerstöreri­sche Kräfte, die furchtbar wirken werden in den nächsten Jahrzehn­ten, wenn die Menschen sich nicht jener Wirklichkeitsbetrachtung zu­wenden wollen, die aus der Geisteswissenschaft folgt. Selbstverständ­lich sind nicht die Dogmen der einen oder anderen geisteswissenschaft­lichen Richtung gemeint, sondern gemeint ist überhaupt ein Appellie­ren an die Geisteskräfte, welche in diesem bedeutsamen Wendepunkte der Entwicklung der Menschheit die einzig heilsamen und helfenden Kräfte sein können.

So wird in einer gewissen Weise diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft, weil sie ja nicht aus einer Willkür hervorgegan­gen ist, sondern aus der Beobachtung der Zeitenkräfte, zugleich in ei­nem ihrer Glieder im eminentesten Sinne ein Zeit-Heilmittel. Sie ist ja wirklich nicht ein Programm eines Einzelnen oder einzelner Indivi­duen, sondern sie ist hervorgegangen aus der Beobachtung dessen, was die geistige Weltenlenkung selber diktiert als notwendig zum Herein­kommen in den gegenwärtigen Menschheitsverlauf. Nur deshalb kann man von anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft so sprechen, sonst wäre solches Sprechen ja selbstverständlich eine Anmaßung. Aber was seinem Ursprunge nach aus ehrlicher Bescheidenheit hervorgeht, braucht, wenn es sich geltend machen will, nicht vor dem Vorwurf zurückzuschrecken, daß es sich um eine Anmaßung handelt.

Man kann sagen, daß das, was von Paris ausstrahlt, einer Lebens­auffassung entspricht, welche sich in den letzten viereinhalb Jahren ad absurdum geführt hat. Von Bern strömte aus, was eine Anzahl von Menschen für ein Heilmittel hält, was aber aus einem nicht genügend tiefen Quell geschöpft ist. Von Paris strömt aus, wovor sich fast die ganze Menschheit fürchtet; von Bern wollte das ausströmen, worauf eine große Anzahl von Menschen glaubt, hoffen zu können. Und diese beiden Dinge sprechen heute noch eine ganz verschiedene Sprache. Man kann sich über den Abgrund hinüber und herüber nicht verstän­digen. Man wird sich erst verständigen, wenn die Seelen einen inneren Appell an die Geisteswissenschaft werden richten wollen.

Aus solchen Impulsen heraus entstand der Gedanke, zunächst we­nigstens zum Verständnis eines Teiles der Menschen zu sprechen. Denn auf Verständnis kommt es an. Das habe ich immer wieder und wie­derum betont: wir kommen nicht weiter im sozialen Chaos, wenn es

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uns nicht, bevor die Instinkte allzu zügellos werden, gelingt, bei einer genügend großen Anzahl von Menschen der zivilisierten Welt Ver­ständnis hervorzurufen. Das lag ja auch dem Geiste meiner Vorträge in Zürich, Bern und Basel jetzt zugrunde. Mit den verschiedenen Men­schen, mit denen ich in dieser Zeit gesprochen habe, konnte immer wieder und wiederum die Frage erörtert werden: Wie kann man den Zugang zum Verständnis finden? oder: Ist es denn überhaupt noch möglich, bevor ein vollständiges Debakel hereinbricht, den Weg zum Verständnis der Menschen zu finden? Nun, die letztere Frage kann ja für einen in der Wirklichkeit denkenden Menschen nicht aufgewor­fen werden. Denn ein wirklichkeitsgemäß denkender Mensch stellt nicht Hypothesen auf über das, was möglich oder unmöglich ist, son­dern er greift zu dem, was er zu tun für notwendig hält. Wenn man einen Weg geht, so handelt es sich darum, den ersten Schritt zu tun. Und man soll ja nicht glauben, daß wenn der erste Schritt anders aus­schaut als das, was man als Ziel sehen will, deshalb dieser erste Schritt unzweckmäßig sein müßte. Der erste Schritt eines weiten Weges kann ja immer nur über eine sehr kleine Strecke dieses Weges führen. Es handelt sich nur darum, wenn man nach einem bestimmten Ziele geht, daß man erstens nicht nach der entgegengesetzten Richtung oder nach links oder rechts von dem Ziele geht, und zweitens, daß man den Wil­len hat, wenn man die Wegrichtung einmal angetreten hat, bei dieser Wegrichtung auch zu verbleiben, sich nicht durch alles mögliche nach links und rechts stoßen zu lassen. Außerdem muß man bei Zeitereig­nissen anknüpfen an das, was da ist, nicht in die Luft hinein bauen, wenn man sich auf einen gewissen Wirklichkeitsstandpunkt stellen will. Der Gedanke muß an irgend etwas anknüpfen, das gezeigt hat, daß nach einer Richtüng hin eine reale Strömung sich ergießt. Manch­mal kann es auch scheinen, als ob der erste Schritt etwas höchst Un­glückseliges wäre. Daß er es nicht ist, kann sich vielleicht erst nach einiger Zeit herausstellen.

Die drei genannten Herren, Herr Molt, Herr Dr. Boos und Herr Kühn haben nun mit mir über die Sache verhandelt. Da ein geistiger Anhub zu geschehen hatte, ein Appell an das Verständnis der Men­schen, mußte zunächst einmal die Frage aufgeworfen werden: Wo hat man gesehen, daß etwas derartiges auf die Gedanken der Menschen gewirkt hat? Erinnern Sie sich einmal an jenen Aufruf «An die Kulturwelt»,

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sogenannte Kulturwelt, welchen eininal - es waren größ­tenteils, glaube ich, Professoren - neunundneunzig deutsche Persön­lichkeiten erlassen haben. Man kann, wenn man nicht aus Emotionen, sondern aus der Wirklichkeit heraus urteilt, über diesen Aufruf kaum ein anderes Urteil fällen, als daß er reichlich ungeschickt war. Es wa­ren eben Professoren zum großen Teil. Aber der Aufruf hat Eindruck gemacht, er hat den Weg zu den Gedanken in einer recht unglückseli­gen Weise gefunden. Und er spukt heute noch immer. Er war in einem gewissen Sinne eine Wirklichkeit, gerade eine Wirklichkeit, die zum Unheil des deutschen Volkes mehr beigetragen hat als manches andere, denn er hat Wellen geschlagen.

Und so konnte man denken: Wie wäre es, wenn man jetzt, wo alles drängt, im Gegensatz zu dieser Summe von Gedanken, die aus anti­quierten Vorstellungen herrühren, die dazumal zur Unzeit an die Menschheit erlassen worden sind, einen aus den wirklichen Lebensver­hältnissen der gegenwärtigen Menschheit herausgeholten Appell zur Verständigung an die Menschheit richten würde? Zunächst, wie sich aus der Sache selbst ergibt, einen Appell an das deutsche Volk, welches ja das Schicksal erlebt hat, daß der Staatsrahmen weggefegt wurde, in dem es seine vermeintliche Aufgabe realisieren wollte. An dieses deut­sche Volk sollte appelliert werden, um es darauf aufmerksam zu ma­chen, daß ja die Tatsachen zu ihm sprechen und nicht bloß irgendwel­che Worte, irgendwelche Urteile, irgendwelche Gedanken. Während ein großer Teil der Menschheit ein solches Wort vielleicht deshalb nicht hören würde, weil die alten Rahmen noch da sind, wird viel­leicht doch das deutsche Volk hören - so kann man wohl denken -, weil es nicht mehr auf dem Boden des Alten stehenbleiben kann, son­dern einen neuen Boden für seine Lebensaufgabe notwendig suchen muß. Die Menschen sind ja einmal so: Solange das Alte nur ein biß­chen hält - wenn es nicht gerade Röcke sind - halten sie unbedingt daran fest und verschlafen alles, was sie darauf hinweist, daß es un­möglich ist, an diesem Alten festzuhalten. Man glaubt gar nicht, wel­che Rolle Bequemlichkeit im innersten Leben des Menschen eigentlich spielt.

Aus diesem Gedanken heraus habe ich also eine Art Manifest ver­faßt, von dem ich mir denke, daß es von den Seelen gehört werden könnte, die heute auf einem gesunden Boden der Wirklichkeit für eine

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Verständigung in bezug auf unsere eigentümliche Kulturfrage zu ge­winnen sind, daß es verstanden werden könnte zunächst von den ver­ständigen Menschen des deutschen Volkes, an das es unmittelbar ge­richtet ist. Ich meine aber, daß es auch von den Feinden des deutschen Volkes gelesen werden sollte, als etwas, was in der Gegenwart von diesem deutschen Volke bedacht und angemessen gefunden wird, um in die Wirklichkeit umgesetzt zu werden. Ich dachte: neunundneunzig haben dazumal unterschrieben; wenn man wiederum neunundneunzig findet unter den Deutschen Deutschlands, des ehemaligen Deutsch­lands, des ehemaligen t'sterreichs und vielleicht diese neunundneunzig vermehren kann um eine kleine Anzahi von Persönlichkeiten, die für ein Verständnis der gegenwärtigen Lebensnotwendigkeiten in neutra-len Ländern, namentlich in der Schweiz, zu gewinnen sind, so wäre etwas Positives getan im Gegensatz zu dem damals von den neunund­neunzig unternommenen Negativen.

Also ich bitte, mich richtig zu verstehen: Der Appell ist zunächst an das deutsche Volk gerichtet. Es ist aber gedacht, daß das, was inner­halb des deutschen Volkes dergestalt besprochen wird, in der ganzen Kulturwelt gehört werde.

Ich werde diesen Appell hier zur Verlesung bringen. Die Gedanken werden Ihnen ja bekannt und vertraut sein, weil wir sie oftmals be­sprochen haben. Es soll gar niemand belehrt werden, sondern die Men­schen sollen darauf aufmerksam gemacht werden, daß es einen Weg gibt, und wie der rechte Zugang zu diesem Wege zu finden ist. Gewiß kann man an der Kürze der Darstellung Anstoß nehmen. Aber es han­delt sich ja nicht um ein Schulbuch, sondern um einen Hinweis, daß in­nerhalb der Menschheit etwas da ist, was helfen kann. Der Aufruf heißt:

«An das deutsche Volk und an die Kulturwelt!»

«Sicher gefügt für unbegrenzte Zeiten glaubte das deutsche Volk seinen vor einem halben Jahrhundert aufgeführten Reichsbau. Im Au­gust 1914 meinte es, die kriegerische Katastrophe, an deren Beginn es sich gestellt sah, werde diesen Bau als unbesieglich erweisen. Heute kann es nur auf dessen Trümmer blicken. Selbstbesinnung muß nach solchem Erlebnis eintreten. Denn dieses Erlebnis hat die Meinung ei­nes halben Jahrhunderts, hat insbesondere die herrschenden Gedanken

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der Kriegsjahre als einen tragisch wirkenden Irrtum erwiesen. Wo liegen die Gründe dieses verhängnisvollen Irrtums? Diese Frage muß Selbstbesinnung in die Seelen der Glieder des deutschen Volkes trei­ben. Ob jetzt die Kraft zu solcher Selbstbesinnung vorhanden ist, da­von hängt die Lebensmöglichkeit des deutschen Volkes ab. Dessen Zu­kunft hängt davon ab, oh es sich die Frage in ernster Weise zu stellen vermag: wie bin ich in meinen Irrtum verfallen? Stellt es sich diese Frage heute, dann wird ihm die Erkenntnis aufleuchten, daß es vor einem halben Jahrhundert ein Reich gegründet, jedoch unterlassen hat, diesem Reich eine aus dem Wesensinhalt der deutschen Volkheit entspringende Aufgabe zu stellen. - Das Reich war gegründet. In den ersten Zeiten seines Bestandes war man bemüht, seine inneren Le­bensmöglichkeiten nach den Anforderungen, die sich durch alte Tra­ditionen und neue Bedürfnisse von Jahr zu Jahr zeigten, in Ordnung zu bringen. Später ging man dazu über, die in materiellen Kräften begründete äußere Machtstellung zu festigen und zu vergrößern. Da­mit verband man Maßnahmen in bezug auf die von der neuen Zeit geborenen sozialen Anforderungen, die zwar manchem Rechnung tru­gen, was der Tag als Notwendigkeit erwies, denen aber doch ein großes Ziel fehlte, wie es sich hätte ergeben sollen aus einer Erkennt­nis der Entwicklungskräfte, denen die neuere Menschheit sich zuwen­den muß. So war das Reich in den Weltzusammenhang hineingestellt ohne wesenhafte, seinen Bestand rechtfertigende Zielsetzung. Der Ver­lauf der Kriegskatastrophe hat dieses in trauriger Weise geoffenbart. Bis zum Ausbruche derselben hatte die außerdeutsche Welt in dem Verhalten des Reiches nichts sehen können, was ihr die Meinung hätte erwecken können: die Verwalter dieses Reiches erfüllen eine weltge­schichtliche Sendung, die nicht hinweggefegt werden darf. Das Nicht-finden einer solchen Sendung durch diese Verwalter hat notwendig die Meinung in der außerdeutschen Welt erzeugt, die für den wirklich Einsichtigen der tiefere Grund des deutschen Niederbruches ist.

«Unermeßlich vieles hängt nun für das deutsche Volk an seiner un­befangenen Beurteilung dieser Sachlage. Im Unglück müßte die Ein­sicht auftauchen, welche sich in den letzten fünfzig Jahren nicht hat zeigen wollen. An die Stelle des kleinen Denkens über die allernäch­sten Forderungen der Gegenwart müßte jetzt ein großer Zug der Le­bensanschauung treten, welcher die Entwicklungskräfte mit starken

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Gedanken zu erkennen strebt, und der mit mutigem Wollen sich ihnen widmet. Aufhören müßte der kleinliche Drang, der alle diejenigen als unpraktische Idealisten unschädlich macht, die ihren Blick auf diese Entwicklungskräfte richten. Aufhören müßte die Anmaßung und der Hochmut derer, die sich als Praktiker dünken, und die doch durch ihren als Praxis maskierten engen Sinn das Unglück herbeigeführt haben. Berücksichtigt müßte werden, was die als Idealisten verschrie­enen, aber in Wahrheit wirklichen Praktiker über die Entwicklungs­bedürfnisse der neuen Zeit zu sagen haben.

«Die ,Praktiker' aller Richtungen sahen zwar das Heraufkommen ganz neuer Menschheitsforderungen seit langer Zeit. Aber sie wollten diesen Forderungen innerhalb des Rahmens altüberlieferter Denkge­wohnheiten und Einrichtungen gerecht werden. Das Wirtschaftsleben der neueren Zeit hat die Forderungen hervorgebracht. Ihre Befriedi­gung auf dem Wege privater Initiative schien unmöglich. Uberleitung des privaten Arbeitens in gesellschaftliches drängte sich der einen Menschenklasse auf einzelnen Gebieten als notwendig auf; und sie wurde verwirklicht da, wo es dieser Menschenklasse nach ihrer Le­bensanschauung als ersprießlich erschien. Radikale Uberführung aller Einzelarbeit in gesellschaftliche wurde das Ziel einer anderen Klasse, die durch die Entwicklung des neuen Wirtschaftslebens an der Erhal­tung der überkommenen Privatziele kein Interesse hat.

«Allen Bestrebungen, die bisher in Anbetracht der neueren Mensch­heitsforderungen hervorgetreten sind, liegt ein Gemeinsames zugrun­de. Sie drängen nach Vergesellschaftung des Privaten und rechnen da­bei auf die Ubernahme des letzteren durch die Gemeinschaften (Staat, Kommune), die aus Voraussetzungen stammen, welche nichts mit den neuen Forderungen zu tun haben. Oder auch, man rechnet mit neueren Gemeinschaften (zum Beispiel Genossenschaften), die nicht voll im Sinne dieser neuen Forderungen entstanden sind, sondern die aus überlieferten Denkgewohnheiten heraus den alten Formen nachge­bildet sind.

«Die Wahrheit ist, daß keine im Sinne dieser alten Denkgewohn­heiten gebildete Gemeinschaft aufnehmen kann, was man von ihr auf­genommen wissen will. Die Kräfte der Zeit drängen nach der Er­kenntnis einer sozialen Struktur der Menschheit, die ganz anderes ins Auge faßt, als was heute gemeiniglich ins Auge gefaßt wird. Die sozialen

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Gemeinschaften haben sich bisher zum größten Teil aus den sozialen Instinkten der Menschheit gebildet. Ihre Kräfte mit vollem Bewußtsein zu durchdringen, wird Aufgabe der Zeit.

«Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muß, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des andern übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbstän­digkeit mit den anderen zusammenwirken muß.

«Das wirtschaftliche Leben kann nur gedeihen, wenn es als selb­ständiges Glied des sozialen Organismus nach seinen eigenen Kräften und Gesetzen sich ausbildet, und wenn es nicht dadurch Verwirrung in sein Gefüge bringt, daß es sich von einem anderen Gliede des sozia­len Organismus, dem politisch wirksamen, aufsaugen läßt. Dieses po­litisch wirksame Glied muß vielmehr in voller Selbständigkeit neben dem wirtschaftlichen bestehen wie im natürlichen Organismus das At­mungssystem neben dem Kopfsystem. Ihr heilsames Zusammenwirken kann nicht dadurch erreicht werden, daß beide Glieder von einem ein­zigen Gesetzgebungs- und Verwaltungsorgan aus versorgt werden, sondern daß jedes seine eigene Gesetzgebung und Verwaltung hat, die lebendig zusammenwirken. Denn das politische System muß die Wirt­schaft vernichten, wenn es sie übernehmen will; und das wirtschaftli­che System verliert seine Lebenskräfte, wenn es politisch werden will.

« Zu diesen beiden Gliedern des sozialen Organismus muß in voller Selbständigkeit und aus seinen eigenen Lebensmöglichkeiten heraus gebildet ein drittes treten: das der geistigen Produktion, zu dem auch der geistige Anteil der beiden anderen Gebiete gehört, der ihnen von dem mit eigener gesetzmäßiger Regelung und Verwaltung ausgestatte­ten dritten Glied überliefert werden muß, der aber nicht von ihnen verwaltet und anders beeinflußt werden kann, als die nebeneinander bestehenden Gliedorganismen eines natürlichen Gesamtorganismus sich gegenseitig beeinflussen.

«Man kann schon heute das hier über die Notwendigkeiten des so­zialen Organismus Gesagte in allen Einzelheiten vollwissenschaftlich begründen und ausbauen. In diesen Ausführungen können nur die Richtlinien hingestellt werden für alle diejenigen, welche diesen Not­wendigkeiten nachgehen wollen.

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«Die deutsche Reichsgründung fiel in eine Zeit, in der diese Not­wendigkeiten an die neuere Menschheit herantraten. Seine Verwal­tung hat nicht verstanden, dem Reich eine Aufgabe zu stellen durch den Blick auf diese Notwendigkeiten. Dieser Blick hätte ihm nicht nur das rechte innere Gefüge gegeben; er hätte seiner äußeren Politik auch eine berechtigte Richtung verliehen. Mit einer solchen Politik hätte das deutsche Volk mit den außerdeutschen Völkern zusammen­leben können.

«Nun müßte aus dem Unglück die Einsicht reifen. Man müßte den Willen zum möglichen sozialen Organismus entwickeln. Nicht ein Deutschland, das nicht mehr da ist, müßte der Außenwelt gegenüber-treten, sondern ein geistiges, politisches und wirtschaftliches System in ihren Vertretern müßten als selbständige Delegationen mit denen ver­handeln wollen, von denen das Deutschland niedergeworfen worden ist, das sich durch die Verwirrung der drei Systeme zu einem unmög­lichen sozialen Gebilde gemacht hat.

«Man hört im Geist die Praktiker, welche über die Kompliziertheit des hier Gesagten sich ergehen, die unbequem finden, über das Zu­sammenwirken dreier Körperschaften auch nur zu denken, weil sie nicht von den wirklichen Forderungen des Lebens wissen mögen, son­dern alles nach den bequemen Forderungen ihres Denkens gestalten wollen. Ihnen muß klar werden: entweder man wird sich bequemen, mit seinem Denken den Anforderungen der Wirklichkeit sich zu fügen, oder man wird vom Unglücke nichts gelernt haben, sondern das Her­beigeführte durch weiter Entstehendes ins Unbegrenzte vermehren.»

Während ich meine Zürcher, Basler und Berner Vorträge hielt, ha­ben sich die Herren Molt, Dr. Boos, Kühn, in Deutschland bemüht, annähernd hundert Unterschriften für diesen Aufruf zu finden. An­dere Herren haben sich in Österreich und hier in der Schweiz bemüht.

Nun, es war ja bisher nur kurze Zeit, aber immerhin, wir, die wir ja einen ersten Schritt machen wollten, können voll zufrieden sein mit dem, was sich bis jetzt ergeben hat. Denn einen solchen Aufruf, der unterstützt ist in der gleichen Weise, wie es der unglückselige Auf­ruf von dazumal war, den haben wir. Bei meinen letzten Vorträgen in Zürich, die darum in Zürich gehalten wurden, weil jetzt die Schweiz gewissermaßen der Drehpunkt ist für alle Verhältnisse der zivilisierten

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Welt, bestand für mich die Absicht, schon darauf hinzuweisen, daß da oder dort Menschen sich finden, bei denen das Verständnis reift. Und so war es uns natürlich wichtig, das Ergebnis vor dem letz­ten Zürcher Vortrage kennen zu lernen. Es ergab sich das sehr Erfreu­liche, daß mir schon am 11. gemeldet werden konnte: «Bis jetzt un­gefähr hundert Namen, exklusive Schweiz undWien, beisammen.»Das wurde mir von Deutschland gemeldet, wo sich unsere Freunde nach allen Richtungen auf den Weg gemacht haben, um diese Sache in der entsprechenden Weise in Wirklichkeit umzusetzen. Von Wien bekam ich am gleichen Tage folgendes Telegramm: «Haben derzeit, 11. mit­tags, 73 Unterschriften, morgen sicher mehr.» Und am folgenden

Tage: «Gesamtresultat 93 Unterschriften». Das konnte aus Wien ge­meldet werden. Dann ergab sich noch eine weitere Anzahl von nach­träglich gemeldeten Unterschriften. Die bisherigen Resultate sind also befriedigend. Und es wäre zu wünschen, daß, da wir ja jetzt so weit sind, daß eine Anzahl von Menschen, und auf eine solche kommt es ja bei einer solchen Aktion immer an, unter denen immerhin auch solche sind, die bekannt sind, auf die man etwas geben wird, daß eine Anzahl von Menschen einen solchen Aufruf, wo es nur sein kann, veröffentli­chen, so daß er gesehen, gelesen wird, damit er vor die Augen derer kommt, die es angeht. Eigentlich geht er alle Menschen in der Gegen­wart an. Man kann schon sagen: in den Untergründen der mensch­lichen Seelen gibt es etwas, was die Menschen dazu aufruft, eine solche Sache verstehen zu lernen. Ich habe Ihnen ja im Laufe der Vorträge erzählt, wie die Idee, die jetzt in dieser Form zutage tritt, durchaus nicht neu bei mir ist sondern daß ich mich in der Zeit, in der die kriegerische Katastrophe in eine entscheidende Wendung eingetreten ist, bemüht habe, diesem notwendigen Impuls an den Stellen, die für mich in Betracht kamen, zur Wirksamkeit zu verhelfen. Ich habe Ihnen geschildert, wie das geschehen ist. Ich sagte dazumal Leuten, die für die Sache in Betracht kamen: Es ist nicht ein Programm, nicht ein Ideal, sondern es ist das, was beobachtet ist als Entwicklungskräfte der neuen Menschheit, was sich unbedingt in den nächsten zehn, zwan­zig, dreißig Jahren verwirklichen will und verwirklichen wird. Nicht darum kann es sich handeln, ob es sich verwirklicht oder nicht, sondern lediglich darum, wie es sich verwirklicht. Und gar manchem, auf den es dazumal ankam, sagte ich: Sie haben nun die Wahl, entweder Vernunft

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anzunehmen und durch Vernunft so etwas zu verwirklichen, oder soziale Kataklysmen und Revolutionen zu erleben. Überzeugen konnten sich die Leute nur zu bald, daß das letztere keine falsche Prophezeihung war. Aber schwer findet der heutige bequeme Mensch den Weg von einem gewissen Verständnis zu dem Lebensmut, der not­wendig ist, um so, wie es ihm nach seiner Position möglich ist, die Sache in die Wirklichkeit überzuführen.

Hier in der Schweiz sind ja auch schon einzelne Unterschriften ge­leistet worden. Man hat hier immer das Bedenken, daß ja im ersten Teile dieses Aufrufes einiges gesagt ist über die notwendige Selbstbe­sinnung des deutschen Volkes und über den Irrtum, in dem das deut­sche Volk befangen war. Da sagt man dann, man habe als Schweizer doch nicht die Möglichkeit, dem deutschen Volke über die Grenzen hinüber Lehren zu geben. Ich glaube, so sollte man heute nicht mehr denken. Solche Dinge mögen als alte Gedankenmumien eine gewisse Bedeutung gehabt haben vor dem Jahre 1914; aber in der Gegenwart hat das keine Bedeutung mehr. In der Gegenwart sollte auch die Eng­herzigkeit, die aus einer solchen nationalen Beurteilungsweise kommt, aufhören. Das sollte nämlich das Unglück der letzten viereinhalb Jahre die Menschen gelehrt haben. Man sollte heute schon anders denken können - auch in der Schweiz -, als man vor viereinhalb Jahren gedacht hat. Denn man sollte auch hier einiges gelernt haben, so daß das Denken dem Bild entspricht, das einen überkommt, wenn man mit einiger Einsicht die letzten viereinhalb Jahre verfolgt hat. Sie erscheinen einem dann wirklich wie Jahrhunderte, die sich über die Menschheit ergossen haben. Und höchst merkwürdig erscheint es einem, wenn aus den alten nationalen und sonstigen Vorurteilen her­aus, die nun wirklich mit dem Jahre 1914 ihren Abschluß gefunden haben sollten, oder aus sonstigen Gedankenmumien heraus, die Leute heute eine neue Weltordnung, eine neue europäische Karte gestalten wollen. Dieses europäische Kartengebäude wird schnellstens umgewor­fen durch die anderen Kräfte, die die allein mächtigen sind in der Ge­genwart, die die einzigen bestimmenden sind für dasjenige, was man Politik genannt hat: die sozialen Faktoren. Denn alles übrige ist heute Maske. Das aber ist die Wirklichkeit. Und die Europäer werden sich sehr täuschen, wenn sie aus den alten Gedankenmumien heraus urtei­len und auch ihre Einwände machen.

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Natürlich kann man sagen - ich könnte Ihnen nämlich sehr leicht ein Vademecum aller Widerlegungen geben -: ja, aber damit sind ja Impulse für alle Staaten angegeben; das könnte ja erst werden, wenn alle Staaten den Anfang damit machen. Nein, ein einziger sogenann­ter Staat kann damit den Anfang machen; es ist so, daß ein einziger den Anfang machen kann! Und wenn einer den Anfang macht, dann hat er etwas getan für die ganze Menschheit. Das ist eben gerade das Unglück für das deutsche Volk, daß seine Reichsgründung in die Zeit der neueren Geschichte hineingefallen ist, in der bei einer Reichsgrün­dung schon die Notwendigkeit vorhanden war, diesem Reich diese Aufgabe zu stellen! Und weil sich dieses Reich nicht auf diese Auf­gabe einließ, hat man gar nicht verstanden, wozu es überhaupt in der Welt da ist. Hätte es sich diese Aufgabe gestellt, so wären alle Ereig­nisse anders verlaufen, denn man hätte seine Daseinsbedingungen vor Augen gehabt und seine Daseinsberechtigung eingesehen.

Heute urteilen die Leute ja aus Gedankenmumien heraus. Es gibt eine Menge von Leuten in Europa, die nicht von ihren alten europäi­schen Gedankenmumien loskommen, die aber doch die Allerweltper­sönlichkeit Wilson heute aus einem gewissen Schreck heraus - ich weiß nicht, wie ich es sagen soll - wie einen Erlöser betrachten. Aber die Leute müssen sich doch sagen: Sehen wir jetzt ganz von einer Be­urteilung Wilsons ab, und stellen wir die Tatsachen-Frage: Wodurch ist dieser Wilson in seinem Lande der einflußreiche Mensch geworden, der er ist? - Dadurch ist er es geworden, daß er gegen alle anderen Parteien, aus einem gesunden amerikanischen Instinkt heraus, dieje­nige Politik getrieben hat, die genau entgegengesetzt ist dem, in das jetzt ein großer Teil von Europa hineinsegeln will. Ein großer Teil von Europa will hineinsegeln in eine Gemeinschaft, in eine gesell­schaftliche Gemeinschaftspolitik, in der die freiheitlichen individuellen Kräfte des einzelnen Menschen untergehen. Wilson verdankt seine Wahl und seinen Einfluß einzig und allein dem Umstande, daß er als amerikanischer Demokrat zur Entfesselung derjenigen Kräfte beige-tragen hat, die als individuelle Kräfte im Wirtschaftsleben enthalten sind. Nehmen wir einmal hypothetisch an: Europa verwirklicht die Ideale des Bolschewismus, die Ideale der Berner Sozialdemokratie, das heißt der Sozialdemokratie des sozialistischen Kongresses. Was wäre die Folge davon, daß diese Leute erreichten, wovon sie träumen? -

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Dann würde aus Europa ein Gebilde, aus dem (trotz aller nationalen Vorurteile) alle freien Kräfte notwendigerweise nach dem freien Ame­rika hinüberfluten würden, in dem Wilson gerade durch das Entgegen­gesetzte groß geworden ist. Eine furchtbare Konkurrenz zwischen Eu­ropa und Amerika müßte sich entspinnen, bei der unmöglich etwas anderes geschehen könnte, als daß Europa in den Pauperismus ver­fällt und Amerika reich wird, nicht aus einem Unrecht heraus, son­dern aus einer Torheit der europäischen Sozialpolitik heraus. So würden die Dinge sich gestalten, wenn die europäische Menschheit nicht im Sinne ihrer Aufgabe die sozialen Kräfte so deuten und ver­wirklichen würde, daß sie dem gesunden sozialen Organismus ent­sprechen.

Wir haben es daher in diesem Aufrufe nicht etwa mit etwas Aus­gedachtem zu tun, sondern mit einem Hinweis auf Kräfte, die über­all in der Wirklichkeit vorhanden sind, die verwirklicht werden müs­sen, ohne deren Verwirklichung wahrhaftig nicht nur das Schicksal Deutschlands und Österreichs, sondern dasjenige von ganz Europa kein anderes sein kann, als der Verarmung, der Verelendung und der Ungeistigkeit zu verfallen.

Wir leben in einer ernsten Zeit, in der sich mit kleinen Gedanken nicht auskommen läßt. In den Menschen lebt auch etwas, was sie hin­zieht zu dem, was in diesem Aufrufe ausgesprochen ist. Man kann das schon beobachten. Und weil das so ist, weil man hoffen kann, doch den Zugang zu den Seelen, zu den Herzen der Menschen zu fin­den, ist nun versucht worden, das, was während der kriegerischen Katastrophe in der damals notwendigen Form versucht worden ist, wie ich es Ihnen erzählt habe, so umzugestalten, wie es für die heuti­gen Verhältnisse notwendig ist.

Ich möchte nur hoffen, daß niemand denke, eine solche Sache hätte eine absolute Bedeutung. Ich habe im Januar 1918 einem Herrn, auf den es später ankam, in der Form, in der sie dazumal verfaßt war, von dieser Sache gesprochen, jedoch hinzugefügt: diese Sache kann na­türlich nach den Zeitverhältnissen immer andere und andere Formen annehmen; denn es handelt sich nicht um eine Theorie, nicht um ein Programm, nicht um ein Ideal, sondern um etwas, was aus der Wirk­lichkeit heraus gedacht ist. Und ich habe weiter gesagt: weil es aus der Wirklichkeit heraus gedacht ist, so handelt es sich für mich gar

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nicht um etwas Utopisches. Die Utopisten, die Programme aufstel­len, denken sich, daß alles schlecht ist, wenn diese Dinge nicht so ver­wirklicht werden, wie sie sie in ihren Programmen formulieren. Mir kommt es darauf überhaupt nicht an. Es könnte zum Beispiel sein, daß eine solche Sache in die Seelen einschlägt, und daß man sie, weil sie praktisch gedacht ist, beginnt in das praktische Leben umzusetzen. Es kann heute schon ganz klar gesagt werden, wie man es anzufangen hat, um es auf jedem Gebiete ins praktische Leben umzusetzen. Aber ich konnte mir denken, daß dann von dem, was hier gesagt ist, was auch in meinen Vorträgen in Zürich, Bern und Basel gesagt worden ist, kein Stein auf dem anderen bleibt, sondern alles sich anders ge­staltet. Dem, der wirklichkeitsgemäß denkt, kommt es nicht darauf an, daß seine Formeln, seine Sätze sich verwirklichen, sondern daß irgendwo in der Wirklichkeit angepackt wird. Man wird dann schon sehen, was herauskommt. Vielleicht geht es auch auf einem anderen Wege - das will ich durchaus als eine Möglichkeit andeuten -, daß aber das herauskommen muß, was den Verhältnissen angemessen ist, das ist sicher. Denn es ist nicht irgendein abstraktes Ideal, irgendein Programm angestrebt, sondern es sind einfach die Wirklichkeitskräile angepackt. So weit wie möglich von aller Phantasterei, von aller Schulmeisterei entfernt soll das sein, um was es sich handelt. Daher war ich so erstaunt, als mir eine vielgenannte Persönlichkeit, von der einer der genannten drei Herren angenommen hatte, daß sie diesen Aufruf auch unterschreiben könnte, sagen ließ, sie hätte geglaubt, daß gerade ich, wenn ich einen solchen Aufruf machte, mehr an den Geist der Menschheit appellieren würde, und hinzufügte, daß jetzt nur Heil in die Menschheit kommen könne, wenn diese wiederum den Weg zum Geist finde.

Die Leute wollen also, daß man immer die Phrase vom Geist wie­derholt: Geist, Geist und Geist! Aber darum handelt es sich nicht, son­dern darum, daß sich der Geist zeigt und sich imstande erweist, die Tatsachen wirklich zu gestalten. Das sind im Grunde die größten Schädlinge, die fortwährend vom Geiste reden, ohne auf die Wirk­lichkeit dieses Geistes hinzudeuten; denn sie reden eigentlich nur im Sinne einer Ideologie. Und es ist dankenswert, daß sich aus dem Schoße unserer Gesellschaft heraus Persönlichkeiten gefunden haben, welche Verständnis, und zwar Tatverständnis haben für das, was hier

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gewollt wird, so daß sie auch wirklich etwas tun. Und immerhin zei­gen sich ja die Echos.

Unser Freund Dr. Boos hat dann, nachdem mein letzter Vortrag in Zürich beendet war, und ich hingewiesen hatte auf das Ergebnis die­ses Aufrufs, seinerseits seinen Appell erlassen, daß sich gleich aus der Versammlung heraus solche Menschen melden und ihre Adresse ange­ben sollten, die gewillt seien, praktisch an der Sache mitzuarbeiten. Und auch da war das Ergebnis ein für diesen Abend ja außerordent­lich befriedigendes. Gewiß sind auch Einwendungen gemacht worden. Ich kann die Einwendungen gut verstehen; aber sie sind so, daß man eben daraus sieht: die Menschen stehen heute nicht in der Wirklich­keit, sie sind Schwarmgeister. Gerade diejenigen, die man bis heute für die größten Praktiker gehalten hat, sind eigentlich Schwarmgei­ster. Deshalb habe ich in Zürich in einem Vortrag gesagt: Was ist so recht ein Beispiel für einen Schwarmgeist der Gegenwart, für einen Schwärmer? - Der General Ludendorff: das ist der Typus, der Re­präsentant eines Schwarmgeistes, ein Mensch, der sich meinetwillen gut oder schlecht, aber meiner Meinung nach schlecht auf Strategie verstanden hat, in bezug auf alles andere aber ganz fern allem Leben und aller Wirklichkeit war, nichts ahnte von den Bedingungen der Wirklichkeit, in der er tätig sein sollte; ein so abstrakter Idealist war er, wie nur irgendein sozialistischer Utopist abstrakter Idealist ist. Man sollte endlich einmal diesen verruchten Begriff des ,Praktikers', der so unendliches Unheil über die Menschheit gebracht hat, ganz tüchtig ins Auge fassen. Diese Praxis, die bisher gegolten hat, die nichts anderes ist, als durch Brutalität in Wirklichkeit umgesetzte Schwarnigeisterei, unwirkliche Denkungsweise, die ist es, die vor allen Dingen verschwinden muß. Darauf kommt es an. Und das, was kom­men muß, muß aus einem Geiste heraus geschaffen werden, zu dessen Träger sich gerade die anthroposophisch orientierte geisteswissenschaft­liche Bewegung machen will.

Das habe ich Ihnen heute als etwas, was ja immerhin auch aus dem Schoße unserer Bewegung hervorgegangen ist, mitteilen wollen an diesem episodisch in unsere Vortragsreihe eingefügten Abend.

II Die vordringlichste Aufgabe Angeborener und erworbener Idealismus

#G189-1957-SE026 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

II

Die vordringlichste Aufgabe

Angeborener und erworbener Idealismus

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Betonen möchte ich immer wieder und jetzt auch in Anknüpfung an das gestern im Zusammenhang mit unserem Aufruf Gesagte, daß es mir in der heutigen Lebenslage der Menschheit vor allem darauf an­kommt, in möglichst vielen Menschen ein richtiges soziales Verständnis hervorzurufen. Sie müssen nicht vergessen, daß die Lebensverhältnisse, wie sie sich in der neueren Zeit entwickelt haben, über einen großen Teil der zivilisierten Welt hin eine Art von Chaos hervorgebracht ha­ben; diesem wird nur beizukommen sein, wenn von den Menschen­seelen selbst ausgegangen wird. Außere Mittel, seien es solche der Ge­setzgebung, oder in der Form einer bloß äußeren Ordnung des Wirt­schaftslebens, werden, so wie die Lage nun einmal geworden ist, nicht in durdigreifender Weise der Menschheit helfen können. Gewiß kann es in einzelnen Territorien noch eine Weile gehen, aber es wäre heute falsch, zu glauben, daß die vorliegenden Verhältnisse sich auf die Dau­er auf Einzelterritorien werden halten können inmitten der sozialen Welle, die sich als eine die ganze Menschheit umfassende entwickelt. Hilfe kann von keiner anderen Seite kommen als aus dem sozialen Verständnis heraus, das sich in Menschenseelen gegenüber den sozialen Verhältnissen bildet.

Man kann das, was ich jetzt etwas komplizierter gesagt habe, ja auch einfacher sagen. Man kann sagen: Was jetzt in eine Unordnung hineinstrebt, wird erst dann wieder gegen eine Ordnung hinstreben, wenn die Menschen sich als geeignet erweisen, diese Ordnung zu ma­chen. Und sie werden sich nur geeignet erweisen, die Ordnung herbei­zuführen, wenn sie wirkliches soziales Verständnis erwerben, von dem die heutige Menschheit - die Menschheit aller Parteirichtungen -himmelweit entfernt ist. Dieses soziale Verständnis zu verbreiten, ist die vordringlichste Aufgabe. Die Tatsache ist von durchgreifender Wichtigkeit, daß es etwas ganz anderes ist, was in den Seelen der Millionen

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und Abermillionen Proletarier selbst lebt, und etwas anderes, was in den Führern lebt. Die Führer tragen zum großen Teil die Erb­schaft der bürgerlichen Lebensauffassung in sich, die sie, nur in einer etwas agitatorisch verbrämten Form, auf die Lebensverhältnisse des Proletariats anwenden wollen.

Dies ist eine ganz wesentliche Tatsache, und man trägt ihr nur Rech­nung, wenn man sich entschließt, zunächst auf soziales Verständnis hinzuwirken. Selbst wenn man sich gestehen muß, daß die äußeren Verhältnisse zunächst noch verworrener sind als sie es bisher waren, so würde man doch von einer falschen Voraussetzung ausgehen, wenn man glauben wollte, daß man durch irgendwelches Pfuschen da oder dort etwas erreichen könnte. Was den Menschen heute fehlt, das ist ja soziales Verständnis. Es fehlt den Menschen aus dem Grunde, weil die ganze Entwicklung des Denkens, Fühlens und Wollens der Mensch­heit in der neueren Zeit nicht darauf angelegt war, soziales Verständ­nis herbeizuführen. Dieses ist auch bei vielen Menschen, in denen der sozial8 Impuls heute mächtig ist, außerordentlich gering.

Fassen Sie das nicht so auf, als ob es besonders weitgehender Kennt­nisse, weitmaschiger Wissenschaft bedürfe, um soziales Verständnis zu entwickeln. Nicht daran liegt es, sondern daran, daß die elementar­sten Voraussetzungen für ein soziales Verständnis der heutigen Menschheit einfach fehlen. Die Menschen denken an ganz andere Din­ge als an die, an die gedacht werden muß, wenn es sich um die Erwer­bung des primitivsten sozialen Verständnisses handelt. - Es ist ganz richtig, wenn man heute vor allen Dingen seine Aufmerksamkeit dar­auf richtet, den Weg zu finden, der wegführt von den abstrakten schwarmgeistigen Begriffen, bei denen sich viele Menschen heute be­ruhigen. Viele Menschen glauben, daß die heutige Zeit die Möglich­keit habe, das soziale Problem von irgendeinem ethischen oder reli­giösen Standpunkte aus zu ordnen. Diese Möglichkeit besteht aber nicht. Man kann heute den Leuten noch so gute religiöse, ethische Lehren predigen; die können das Gemüt erwärmen und haben manche Wirkung gerade in einem egöistischen Sinne. Es müßten aber die Be­griffe fähig gemacht werden, in das normale menschliche Getriebe einzugreifen.

Auf die Erwerbung des Verständnisses kommt daher heute unend­lich viel an. Ich sagte: Die Menschen, in denen der soziale Impuls heute

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mächtig wogt und sprüht, haben vielfach primitive Begriffe. Es gibt ja noch viele Menschen, sowohl in den leitenden Kreisen wie in der proletarischen Welt, die sich vorstellen, daß eine einfache Umschichtung eine wirkliche Änderung bringen könne. Also zum Beispiel wenn die­jenigen, die bisher oben waren, die Minister und Staatssekretäre, her­unterpurzeln und die anderen, die bisher in irgendwelchen Proletarier-positionen waren, hinaufsteigen, wenn also einfach eine Umschichtung stattfinde. Es wäre eine ganz irrtümliche Vorstellung, wenn man sich einbilden würde, daß dadurch die Dinge anders werden können. Manche Leute werden bestreiten, solch eine Vorstellung zu haben, ha­ben sie aber im Grunde dennoch. Sie sind nur umnebelt von allerlei Parteianschauungen, und dadurch kommt ihnen nicht zum Bewußt­sein, daß sie eigentlich die Vorstellungen haben, die ich jetzt angedeu­te habe. Es kommt aber darauf an, daß die Menschen sich in wirklich einfacher Weise ein Verständnis erwerben für die hier sowie in öffent­lichen Vorträgen vielfach behandelte notwendige Dreigliederung des sozialen Organismus; es kommt darauf an, daß alle Einzelheiten in den sozialen Maßnahmen sich so entwickeln, daß Rechnung getragen werde der Notwendigkeit, die in dieser Dreigliederung liegt. Ob man nun Maßnahmen zu treffen hat mit Bezug auf den Bau einer Eisen­bahn, die einer Privatgesellschaft oder dem Staate übertragen werden soll, oder ob man zu entscheiden hat über die Art und Weise, wie man bei irgendeiner Gelegenheit Leistungen entlohnt - ich sage nicht Ar­beitskräfte, sondern Leistungen -, bei allen diesen Dingen kommt es darauf an, daß man seinen Maßnahmen die Richtung gibt nach dieser Dreigliederung, nach der Verselbständigung des geistigen, des rechtlich-politischen und des wirtschaftlichen Lebens. Gewiß können Sie Fragen aufwerfen: wie soll das eine oder das andere geschehen? Das sind in dem Stadium, in dem heute die Sache steht, zum großen Teil falsch aufgeworfene Fragen. Der Geist, der in dieser Dreigliederung lebt, läßt sich etwa in der folgenden Weise umschreiben: Was ist, um ein Beispiel herauszugreifen, das beste Besteuerungssystem? Nun handelt es sich heute gar nicht darum, dieses beste Besteuerungssystem auszu­denken, sondern darum, auf die Dreigliederung hinzuarbeiten. Und wenn diese Dreigliederung sich immer mehr und mehr verwirklicht, so wird durch die Tätigkeit dieser Dreigliederung des sozialen Orga­nismus das beste Steuersystem entstehen. Es handelt sich darum, die

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Bedingungen herzustellen, unter denen die besten sozialen Einrichtun­gen entstehen können. Denn darum, daß irgendeiner den Gedanken hat, das beste auszuspintisieren, darum kann es sich gar nicht handeln, das hat gar keinen Wirklichkeitswert. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, irgendeiner von Ihnen wäre ein so großes Genie, wie es noch gar nicht dagewesen ist in der menschheitlichen Entwicklung, und dadurch in der Lage, das beste Steuersystem auszudenken. Wenn Sie aber al­lein in der Welt stehen mit ihrem so ausgezeichnet ausgedachtem Steu­ersystem, und die anderen wollen das nicht, sie wollen vielleicht ein weniger gutes, aber sie wollen das Ihrige nicht: - das ist es dann, worauf es ankommt. Nicht darauf kommt es an, das Beste zu denken, sondern dasjenige zu finden, auf Grund dessen die Menschheit in ihrer Gesamtheit das Beste tun wird. Nun können Sie allerdings sagen: ir­gendwo muß man doch anfangen! Man muß die Dreigliederung ein­richten, auch wenn die Menschen sie scheinbar nicht wollen.

Das ist etwas anderes, denn da handelt es sich nicht um etwas, was die Menschen so wie irgendein Steuersystem wollen können oder nicht wollen können, sondern das wollen im Grunde alle Menschen, wenn sie es nur verstehen. Wenn Sie den richtigen Weg finden, können Sie es den Menschen wirklich verständlich machen, weil die Menschen im Unterbewußten wollen, daß sich das in den nächsten Jahrzehnten über die zivilisierte Welt hin realisiert. Das ist nicht ausgedacht, son­dern das ist beobachtet, was die Menschen wollen. Und nicht deshalb weisen es heute noch zahlreiche Menschen zurück, weil sie es nicht wollen, sondern weil sie noch voller Vorurteile sind und eigentlich gegen die Sache arbeiten, die sich durchaus realisieren will. Das Pri­märe gilt es zu beachten. Das Primäre ist das, wofür nach kürzerer oder längerer Zeit Verständnis wird erweckt werden können, wenn nur erst einiges von dem, was heute noch dieses Verständnis hindert, beseitigt sein wird. Es sind ja natürlich noch immer gewisse Führer-persönlichkeiten da, die sich in den Weg stellen. Diese Führerpersön­lichkeiten werden nicht zu überzeugen sein; die müssen erst selbst ihre Köpfe blutig schlagen an den Widerständen, die sich ihnen bieten wer­den. Und solche Widerstände wird es viele geben. Deshalb darf die Sache auch nicht, wenn sie heute nicht gleich auf den ersten Anhieb geht, so wie man es sich vorstellt, als eine vergebliche bezeichnet wer­den. Etwas derartiges muß vorbereitet sein. Es muß etwas da sein,

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wenn das, was sich jetzt in falscher Weise realisiert, sich selbst ad absurdum geführt haben wird, wenn vieles von dem, was jetzt in die Welt tritt, nicht mehr da sein wird, so wie jetzt die deutschen Fürsten nicht mehr da sind, die sich auch 1913 noch nicht träumen ließen, daß sie 1919 nicht mehr da sein würden. Wenn das fort ist, was die Leute jetzt vielfach noch bejubeln, dann muß wenigstens et­was da sein in den Köpfen, in den Herzen der Leute, auf das zurück­gegriffen werden kann. Es muß vorbereitet werden, der Boden muß geschaffen werden. Wenn Sie einmal genügend lange und gründlich in diese Dreigliederung in Geistesleben, politisches Leben, wirtschaftli­ches Leben eingedrungen sind, dann wird schon das Bedürfnis bei ihnen entstehen, ihr Verständnis in diesen Dingen zu vertiefen. Dieses Verständnis ist eben durchaus notwendig, sonst redet man, selbst wenn man allen guten Willen in seine Rede hineinversetzen kann, ohne Zu­sammenhang mit der Realität. Der soziale Organismus ist ebenso be-stimmten Gesetzen unterworfen wie der natürliche menschliche Orga­nismus. Handeln Sie gegen die Gesetze des sozialen Organismus, und sei es auch auf Grund der Prinzipien, so können Sie nichts erreichen. Sie können höchstens die Menschen in eine Sackgasse hineinführen.

Sagen Sie nun nicht: Wo bleibt aber die Freiheit des Menschen, wenn er hineingestellt sein soll in einen sozialen Organismus, der be­stimmte Gesetze hat? Genau so gut könnten Sie fragen: Kann denn der Mensch frei sein, wenn er täglich gezwungen ist, zu essen? Es steht ihm gar nicht frei, nicht zu essen. Die Dinge, die in der Welt einer gewissen Gesetzmäßigkeit unterliegen, auch wenn der Mensch in diese Gesetzmäßigkeit hineingestellt ist, haben mit dem Problem der Frei­heit nicht das Geringste zu tun, sowenig wie es mit der Freiheit zu tun hat, daß wir nicht den Mond herunterfassen können.

Zur Erwerbung von sozialem Verständnis ist erforderlich, daß wir uns in die Lage versetzen, auf das Fundamentale, auf das Primare zu­rückzugehen und nicht in dem Sekundären oder Tertiären, in dem, was nur Folge-Erscheinung ist, mit unserem Verständnis stecken zu bleiben. Man kann beispielsweise aus einer gewissen Lebenslage her­aus sagen: Der Mensch braucht im Minimum so und so viel an Werten

- also sagen wir an Geld, weil wir schon einmal die Werte in Geld umgesetzt haben -, um sein Leben zu fristen. Man kann von einem Existenzminimum reden in einer bestimmten Lebenslage. Man kann

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aber von diesem Existenzminimum so reden, daß man auf der einen Seite etwas scheinbar höchst Selbstverständliches und auf der anderen einen völligen Unsinn sagt. Das will ich Ihnen an einem Beispiel ver­suchen klar zu machen.

Wenn Sie die gegebenen Lebensverhältnisse auf irgendeinem Terri­torium nehmen, so können Sie vielleicht schon aus der Empfindung heraus sagen: ein Handarbeiter braucht so und so viel als Existenz-minimum, sonst kann er nicht leben in dieser Gemeinschaft. Das kann ein scheinbar ganz selbstverständlicher Gedanke sein. Wie ist es aber, wenn sich das nach den Voraussetzungen, die ich eben angegeben habe, innerhalb eines bestimmten sozialen Organismus nicht verwirklichen läßt? Diese Frage müssen Sie sich vor allen Dingen beantworten: was dann, wenn das zu verwirklichen unmöglich ist?

Das ist nun kein primärer Gedanke, wenn man so überlegt, wie ich es jetzt dargestellt habe. Bei der Forderung eines abstrakten Existenz­minimums geht man nicht auf die fundamentalen Dinge zurück, son­dern man knüpft an etwas Sekundäres an, an eine bloße Folge-Er­scheinung. Man muß zur Erlangung seines sozialen Verständnisses im­mer in der Lage sein, an die fundamentalen Dinge anzuknüpfen. Fun­damental ist, daß man sich eine lebensfördernde Ansicht darüber ver­schaffen kann, wie gerade nach den Lebensbedingungen des sozialen Organismus das Existenzminimum sein kann. Mit lebensfördernd meine ich in diesem Falle eine solche Ansicht, daß eine mögliche sozia­le Lage und ein mögliches soziales Zusammenleben der Menschen dar­aus folgt. Das ist das Primäre. Und nun kommt man allerdings auf gewisse Vorstellungen, die der heutigen Menschheit zum großen Teil recht unbequem sind, weil in den letzten Jahrhunderten versäumt worden ist, die primitive Schulbildung, die auf solche Dinge hinarbei­ten soll, wirklich in diese Richtung zu lenken. Es dürfte den Menschen bald klar werden, daß man, um ein halbwegs gebildeter Mensch zu sein, nicht bloß wissen soll, daß drei mal neun siebenundzwanzig ist, sondern man sollte zum Beispiel auch wissen, was das für ein Ding ist, das man ,Grundrente' nennt. Nun frage ich Sie, wieviele Menschen heute eine deutliche Vorstellung haben von dem, was Grundrente ist? Ohne aber den sozialen Organismus auch inbezug auf solche Dinge zu überblicken, läßt sich überhaupt keine gedeihliche Fortentwicklung der Menschheit herbeiführen.

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Die verworrenen Verhältnisse auf diesem Gebiete führen heute die Menschen zu ihren verkehrten Vorstellungen. Die Grundrente, die man irgendwie berechnen kann nach der Produktivität, die ein Stück Boden auf irgendeinem Territorium hat, ergibt für ein staatlich be­grenztes Territorium eine bestimmte Summe. Der Boden ist nach seiner Produktivität, das heißt nach der Art oder nach dem Grade der rationellen Ausnützung gegenüber der Gesamtwirtschaft so und so viel wert. Für die Menschen ist es heute sehr schwierig, diesen einfa­chen Bodenwert als klaren Begriff zu denken, weil sich im heutigen kapitalistischen Wirtschaftsleben der Kapitalzins oder das Kapital überhaupt konfundiert hat mit der Bodenrente, weil anstelle des wirklichen volkswirtschaftlichen Wertbegriffes der Bodenrente durch das Hypothekenrecht, das Pfandbriefwesen, das Obligationenwesen ein Truggebilde getreten ist. Es ist im Grunde genommen alles in un­mögliche, unwahre Vorstellungen hineingetrieben worden. Es ist na­türlich nicht möglich, im Handumdrehen eine reale Vorstellung von der Grundrente zu bekommen. Aber denken Sie einfach als Grund­rente den volkswirtschaftlichen Wert des Grund und Bodens eines Ter­ritoriums mit Bezug auf seine Produktivität. Nun besteht ein not­wendiges Verhältnis zwischen dieser Grundrente und dem, was ich vorhin als Existenzminimum des Menschen angegeben habe. Heute gibt es ja manche Sozialreformer und Sozialrevolutionäre, die von ei­ner Abschaffung der Grundrente überhaupt träumen, die glauben, daß zum Beispiel die Grundrente abgeschafft ist, wenn man den ge­samten Grund und Boden - wie sie sagen - verstaatlicht oder ver­gesellschaftet. Dadurch, daß man etwas in eine andere Form bringt, ist aber das Wesentliche nicht immer geändert. Ob nun die ganze Ge­meinschaft den Grund und Boden besitzt, oder ob ihn so und so viele einzelne besitzen, das ändert gar nichts am Vorhandensein der Grund­rente. Sie maskiert sich nur, sie nimmt andere Formen an. Grundrente so definiert, wie ich es vorhin getan habe, ist eben immer da. Nehmen Sie auf einem bestimmten Territorium die Grundrente und dividieren Sie sie durch die Einwohnerzahl des betreffenden Territoriums, so be­kommen Sie als Quotienten das allein mögliche Existenzminimum. Das ist ein Gesetz, das bestimmt ist wie ein Gesetz der Physik, das nicht anders sein kann. Das ist aber eine primäre Tatsache, etwas Fun­damentales, daß niemand in Wirklichkeit in einem sozialen Organismus

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mehr verdient als die gesamte Grundrente dividiert durch die Einwohnerzahl ergibt. Was mehr verdient wird, entsteht durch Koali­tionen und Assoziationen, durch welche Verhältnisse geschaffen wer­den, in denen eine Persönlichkeit mehr Werte erwerben kann als eine andere. Es kann aber in den mobilen Besitz eines einzigen Menschen gar nicht mehr übergehen, als was ich jetzt bezeichnete. Aus diesem Minimum, das überall wirklich existiert, wenn auch die realen Ver­hältnisse es zudecken, geht alles wirtschaftliche Leben, insofern es sich bezieht auf den mobilen Besitz des Einzelnen, hervor. Von dieser fun­damentalen Tatsache muß ausgegangen werden. Darauf kommt es an, daß man nicht von einer sekundären, sondern von dieser primären Tatsache ausgeht. Sie können diese primäre Tatsache vergleichen mit irgendeiner anderen, zum Beispiel mit der primären Tatsache, die auch für das Wirtschaftsleben gilt, daß auf einem bestimmten Territorium nur eine bestimmte Menge eines Rohproduktes ist. Sie könnten es na­türlich auch als wünschenswert bezeichnen, wenn mehr von diesem Rohprodukt vorhanden wäre, und könnten ausrechnen, wieviel mehr man dann von diesem Territorium haben würde. Aber das Rohprodukt läßt sich nicht beliebig vermehren; dies ist eine primäre Tatsache. Ebenso ist es eine primäre Tatsache, daß in Wirklichkeit in einem so­zialen Organismus durch Arbeit - auch wenn einer noch so viel ar­beitet - nicht mehr verdient werden kann als das, was dieser Quo­tient, den ich angeführt habe, ergibt. Alles übrige ist, wie gesagt, durch Koalitionen unter den Menschen erworben.

Die sozialen und politischen Einrichtungen können im Widerspruch zu dieser Tatsache stehen. Darum ist es nötig, das ganze organisieren­de Denken in die Richtung zu bringen, in der die Tatsachen laufen. Zufriedenheit unter Menschen kann nur dadurch entstehen, daß solche Dinge eingesehen werden. Denn bringt man das Ordnende, das in die Wirklichkeit sich umsetzende Denken in die Richtung, die die Natur des sozialen Organismus fordert, dann richtet sich das andere danach, und der Fall kann gar nicht eintreten, daß der eine sich gegenüber dem anderen benachteiligt glaubt. Das ist das, was als ein Gesetz dem wirklichen Leben des sozialen Organismus zugrundeliegt. Richtige Ge­danken, Wirklichkeitsbegriffe können Sie über solche Dinge nur be­kommen - ich habe Ihnen das Beispiel von der Beziehung des Exi­stenzminimums zu der Grundrente angegeben -, wenn Sie ausgehen

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von dem fundamentalen Prinzip der Dreigliederung. Denn nur unter dem Einflusse dieser Dreigliederung ist es möglich, daß die Menschen Maßnahmen treffen, durch die das Zusammenleben der Menschen auf einem Territorium sich nun wirklich in produktiver Weise entwickeln kann. In der produktivsten Weise wird sich nämlich das Leben ent­wickeln, wenn es in der Richtung der Gesetzmäßigkeit verläuft, und nicht im Gegensatz zu ihr; also im Sinne des sozialen Organismus le­ben, das ist es, worauf es ankommt.

Nun muß man sich allerdings folgendes klar machen: Aus der äu­ßeren Beobachtung des Lebens gewinnen Sie nicht die Einsicht in das Fundamentale der Dreigliederung, geradesowenig wie Ihnen Beob­achtung noch so vieler rechtwinkliger Dreiecke den pythagoräischen Lehrsatz ergibt; aber wenn Sie ihn einmal haben, dann ist er überall anwendbar, wo ein rechtwinkliges Dreieck ist. So ist es auch mit die­sen fundamentalen Gesetzen. Sie sind überall anwendbar, wenn man sie einmal in der richtigen Weise wirklichkeitsgemäß erfaßt hat. Und Sie haben ja noch Gelegenheit, die Notwendigkeit dieser Dreigliede­rung aus den Fundamenten der Geisteswissenschaft heraus zu begrei­fen. Bedenken Sie also, was als diese Dreigliederung angegeben wird:

Das Leben der irdischen Geistigkeit, wenn ich so sagen darf, - Kunst, Wissenschaft, Religion und, wie schon erwähnt, auch Privat- und Strafrecht, das ist das eine Gebiet. Das zweite Gebiet ist das politische Zusammenleben der Menschen, das sich bezieht auf das Verhältnis von Mensch zu Mensch. Das dritte ist das wirtschaftliche Leben, das sich bezieht auf das Verhältnis des Menschen zu dem, was gewissermaßen untermenschlich ist, was der Mensch braucht, damit er sich erheben kann zu seiner eigentlichen Menschlichkeit. Um diese drei Gebiete han­delt es sich bei der Dreigliederung. Gemäß diesen drei Gliedern soll der Mensch hineingestellt sein in den sozialen Organismus. Er muß so hineingestellt sein. Denn die drei Glieder haben jedes in bezug auf die menschliche Wesenheit als solche einen ganz anderen Ursprung. Alles irdische Geistesleben ist gewissermaßen der Nadiklang dessen - was ich jetzt sage, gilt für unseren Zeitraum -, was der Mensch erlebt hat in dem Leben vor dem Heruntersteigen durch die Geburt ins phy­sische Dasein. Da lebte der Mensch als geistige Individualität in gei­stigem Zusammenhange mit den höheren Hierarchien mit den entkör­perten Seelen, die in der geistigen Welt sind, die augenblicklich nicht

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auf Erden verkörpert sind. Was der Mensch hier als Geistesleben ent­wickelt, sei es, daß er sich religiöser Übung hingibt, in religiöser Ge­meinschaft lebt, sei es, daß er künstlerisch tätig ist, sei es, daß er als Richter über einen andern urteilt, der einem Menschen ein Unrecht zu­gefügt hat, alles das, was in diesem Geistesleben sich auslebt, rührt von den Kräften her, die sich der Mensch in dem Zusammenleben mit den höheren Hierarchien in der geistigen Welt angeeignet hat, bevor er durch die Geburt ins physische Dasein eintrat. Da müssen Sie unter­scheiden zwischen dem Zusammenleben mit anderen Menschen gemäß dem Einzeischicksal und dem Zusammenleben mit anderen Menschen gemäß dem, was ich jetzt eben charakterisiert habe. Im irdischen Da­sein kommen wir mit dem einen und anderen Menschen in individuel­le Verhältnisse hinein. Die sind abhängig von unserem individuellen Karma, führen zurück in frühere oder weisen hin auf spätere Erden-leben. Aber von diesen individuellen Beziehungen zwischen Mensch und Mensch müssen Sie solche unterscheiden, die dadurch entstehen, daß Sie zum Beispiel einer gewissen religiösen Gemeinschaft angehö­ren. Da denken Sie oder fühlen Sie mit einer Anzahl von anderen Menschen innerhalb dieser religiösen Gemeinschaft gleich. Oder neh­men Sie an, ein Buch erscheine. Die Menschen lesen das Buch, nehmen Gedanken durch das Buch auf - das ist eine Gemeinschaft, die man da eingeht. Das irdische Geistesleben, ob es sich nun auf Erziehung und Unterricht oder auf anderes bezieht, besteht darin, daß man zu Menschen in Beziehung tritt, mit Menschen Gemeinschaften entwickelt, um durch diese Gemeinschaft selber im Geiste weiter zu kommen. Das alles aber ist ein Ausleben von Verhältnissen, in denen man in ganz anderer Form drinnensteckte, bevor man in das irdische Geistesleben herunterstieg. Das hat nichts zu tun mit dem individuellen Karma, sondern mit dem, was sich vorbereitete in der in der geistigen Welt verlebten Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. So daß man die Quelle für das, was ich im Speziellen als das geistige Gebiet bezeichnet habe, zu suchen hat in dem Leben, das der Mensch durchge­macht hat, bevor er sich anschickte, durch die Geburt ins irdische Da­sein herunterzusteigen.

Dann gibt es etwas, das man bloß dadurch durchmacht, daß man hier auf der Erde lebt zwischen Geburt und Tod. In dieses Leben wächst man allmählich erst hinein. Tritt man als Kind durch die Geburt

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ins Dasein, so trägt man noch viel - wenn ich mich eines recht törichten Vergleiches bedienen darf, es ist ja nicht hart, was man trägt

- von den Eierschalen der geistigen Welt um sich. Das Kind ist sehr geistig, trotzdem es gerade den physischen Leib am meisten aus­zubilden hat. Aber in seiner Aura hat es viel Geistiges; was es mit­bringt, ist sehr verwandt mit dem irdischen Geistesleben. Allmählich tritt man aber immer mehr und mehr ein in das Leben, das ganz der Zeit zwischen Geburt und Tod angehört.

In diesem Leben, das zunächst auf nichts Geistiges hinweist, liegen die Quellen zu dem Leben des politischen Staates begründet. Der po­litische Staat hat es nur mit dem zu tun, was der Mensch durchlebt zwischen Geburt und Tod. Daher soll sich auch in das politische Staats-leben nichts hineinmischen, was auf etwas anderes Bezug hat als auf das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, insofern wir Wesen sind zwischen Geburt und Tod. Mischte sich der Staat in irgend etwas hinein, was sich auf etwas anderes bezog als auf das öffentliche Rechtsleben zwischen Geburt und Tod, breitete zum Beispiel der Staat seine Fittiche aus über das geistige Leben, über Kirche und Schule, so pflegte man an den Orten, wo man über solche Dinge urteilsfähig war, zu sagen: «So herrscht der widerrechtliche Fürst dieser Welt!» In all das, was Gegenstand staatlicher Organisation ist, gehört eben nichts anderes hinein als das, was sich auf das Leben zwischen Geburt und Tod bezieht.

Das dritte Glied ist das wirtschaftliche. Dieses wirtschaftliche Leben, welches wir führen müssen dadurch, daß wir essende und trinkende Menschen sind, daß wir uns kleiden müssen und so weiter, das wirt­schaftliche Leben zwingt uns Menschen dazu, in das Untermenschliche hinunterzutauchen. Das fesselt uns an etwas, was unter dem Niveau unseres Vollmenschentums liegt. Indem wir uns beschäftigen müssen mit dem Wirtschaftsleben, indem wir untertauchen müssen in das Wirtschaftsleben, leben wir etwas aus, was, sozial betrachtet, mehr in sich hat, als man gewöhnlich meint. Insoweit man im Wirtschaftsleben steht, kann man nicht dem Geistigen, nicht einmal dem Rechte leben, sondern man muß untertauchen in ein Untermenschliches. Aber gerade dadurch, daß wir in ein Untermenschliches untertauchen, nehmen wir etwas in uns hinein, was dadurch Gelegenheit bekommt, sich zu ent­wickeln. Während wir im wirtschaftlichen Leben tätig sind und die

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höheren Gedanken schweigen müssen, auch das Verhältnis von Mensch zu Mensch nur hereinspielt aus einem anderen Gebiete, arbeitet sich in unserem Unterbewußtsein das aus, was wir dann durch die Pforte des Todes hindurch in die geistige Welt hinein tragen. Während wir im irdischen Geistesleben den Nachkiang dessen ausleben, was wir geistig vor unserem Niederstieg auf die Erde durchlebt haben, wäh­rend wir im Rechtsleben des politischen Staates nur das ausleben, was zwischen Geburt und Tod liegt, lebt sich im Wirtschaftlichen, in das wir mit unserem höheren Menschen nicht untertauchen können, etwas aus, bereitet sich etwas vor, was auch geistig ist, was wir durchtragen durch die Pforte des Todes. Die Menschen möchten, daß das Wirt­schaftsleben nur für die Erde da sei. Dies ist aber gar nicht der Fall. Gerade weil wir in das Wirtschaftsleben untertauchen, bereitet sich für uns als Menschen etwas vor, was wiederum zur übersinnlichen Welt Beziehung hat. Daher sollte niemand darauf verfallen, das Wirt­schaftsleben gering zu schätzen. Gerade dieses äußere materielle Leben hat einen gewissen Bezug auf das nachtodliche Leben, so sonderbar und paradox das erscheint. So daß tatsächlich die drei Gebiete für den Kenner des Menschen auseinanderfallen: das rein geistige Gebiet weist auf das vorgeburtliche Leben; das politische Staatsgebiet weist auf das Leben zwischen Geburt und Tod; und das Wirtschaftsleben weist auf das Leben nach dem Tode. Wir entwickeln die Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben wahrhaftig nicht umsonst. In allem, was wir auf dem Boden des Wirtschaftslebens an Brüderlichkeit entwickeln, liegen An­tezedenzien, Vorbedingungen für das Leben nach dem Tode. Ich deute Ihnen dadurch zunächst nur skizzenhaft an, wie sich aus der drei­fachen Gliederung der Menschennatur gerade in dieser Beziehung für den Geisteswissenschafter Unterscheidungen ergeben, welche das so­ziale Leben notwendig in drei voneinander verschiedene Gebiete gliedern.

Das ist das Eigentümliche der Geisteswissenschaft: Läßt man sich auf sie ein, so wird sie unmittelbar praktisch. Sie beleuchtet das Le­ben um uns herum, und in der heutigen Zeit haben die Menschen keine andere Möglichkeit, das Leben wirklich in seinen realen Ver­hältnissen zu beleuchten, als auf das Geisteswissenschaftliche irgend­wie einzugehen. Daher wäre es wünschenswert, daß gerade von denen, die sich für diese geisteswissenschaftliche Bewegung interessieren, Verständnis

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ausstrahlen würde auf die anderen; denn der Geisteswissen­schafter hat es verhältnismäßig leichter, diese Dinge zu durchschauen. Er kennt so etwas wie vorgeburtliches und nachtodliches Leben von einem geisteswissenschaftlichen Gesichtspunkte aus, und es ergibt sich ihm die Notwendigkeit der Dreigliederung des Lebens von diesem Gesichtspunkte aus. Man kann die Notwendigkeit der Dreigliede­rung schon heute einsehen. Aber gründlicher, umfassender wird man einen Einblick in sie gewinnen, wenn man auch noch die geisteswissen­schaftlichen Fundamente hat, von denen ich hier gesprochen habe.

Wieviel ist nicht im Laufe der letzten Jahrhunderte in schwarm-geistiger Art gesprochen worden, indem man von einer allgemeinen Sittenlehre und dergleichen redete, indem man das Religiöse möglichst getrennt hat von dem äußeren alltäglichen Leben! Wir stehen nun ein­mal an einem Zeitpunkt, wo wir Begriffe auszubilden haben, welche untertauchen können in das alltägliche Leben, welche nicht bloß rei­chen bis zu der Verheißung der Erlösung, bis zu der Forderung des:

«Kinderlein, liebet einander!» Sie tun es ja doch nicht, wenn sie es nicht müssen oder wenn nicht etwas anderes vorliegt! Die Begriffe, die wir entwickeln, müssen Trag- unr Stoßkraft genug haben, um das heute so kompliziert gewordene Wirtschaftsleben wirklich zu verste­hen. Also einfach durch die Erkenntnis der Menschennatur ist die Notwendigkeit der Dreigliederung des gesunden sozialen Organismus gegeben.

Das müßte heute als die allererste Grundlage zu einem Neuaufbau möglichst vielen Menschen klar werden. Dieses bloße Reden vom Gei­ste, auf das ich schon gestern hingewiesen habe, ist gegenwärtig viel­leicht schädlicher als der Materialismus, der in der Mitte des neunzehn­ten Jahrhunderts angefangen und sich bis heute weiter verbreitet hat. Denn das bloße Reden vom Geiste, das bloße Hinseufzen zum Geiste, das bloße Anbeten des Geistes entspricht nicht mehr unserer Epoche. Unserer Epoche entspricht es, den Geist zu realisieren, dem Geiste die Möglichkeit zu geben, unter uns zu leben. Heute genügt es nicht, an den Christus zu glauben, sondern es ist heute notwendig, daß die Menschen den Christus in ihrem Handeln, in ihrem Wirken verwirk­lichen. Darauf kommt es an. Wenn die Menschen auf diesem Gebiete gesundes Denken und Empfinden entwickeln, dann fließt dieses ge­sunde Denken und Empfinden auch in anderes ein. Bedenken Sie doch,

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daß ein großer Teil der heutigen offiziellen Vertreter dieses oder jenes christlichen Bekenntnisses von dem Christus redet; wenn man sie aber frägt: warum ist der, den sie als den Christus bezeichnen, der Chri­stus, so können sie nur eine scheinbare Antwort geben und bewegen sich eigentlich in einer inneren Lüge. Viele Theologen reden heute vom Christus, allein wenn man sie fragen würde: Wodurch unterscheidet sich das, was sie in ihren Begriffen haben als das Christuswesen, von dem Jahve-Gotte, dem einfachen Gotte, der die Welt durchwallt und durchwest? - sie würden keine Antwort geben können. Der große Theologe Harnack in Berlin hat ein Buch geschrieben über «Das We­sen des Christentums». Was er da als Wesen des Christentums schil­dert, ist der alttestamentliche Jahve; denn der hat gerade diese Eigen­schaften. Es ist jedoch eine innere Lüge, Jahve als Christus zu bezeich­nen. Und so ist es bei hunderten und aberhunderten, bei tausenden von denen, die heute das Christentum predigen; sie predigen eigent­lich nur den Gott im allgemeinen, den Gott, von dem man sagen kann: «ex deo nascimur». Den Christus hat man erst gefunden, wenn man eine Art innerer Wiedergeburt erlebt hat. Den Gott, von dem es heißt: «Ex deo nascimur», muß man anerkennen, wenn man ein-fach ein gesundes Menschenwesen ist. Atheist sein heißt in Wirklich­keit krank sein. Aber von dem Christus kann man erst reden, wenn man eine Art Wiedergeburt des seelischen Lebens erlebt hat, und zwar gerade im Sinne des gegenwärtigen Menschheitszyklus. Dafür genügt nicht, daß man einfach dadurch da ist, daß man als Mensch geboren wurde. Heute ist der Mensch, so wie er geboren wird, notwendig mit Vorurteilen behaftet. Wir werden nun einmal nicht anders als mit Vorurteilen behaftet geboren. Das ist das Wesen des heutigen Men­schen. Und bleibt der Mensch so, wie er heute geboren ist, dann trägt er die Vorurteile durch das ganze Leben hindurch. Er lebt einseitig. Man kann sich heute nur retten, wenn man innere Toleranz hat, wenn man einzugehen vermag auf die Meinungen anderer Menschen, selbst wenn man sie für Irrtümer hält. Wenn man Verständnis, innigstes Verständnis aufbringen kann für die Meinungen anderer Seelen, auch wenn man sie für Irrtümer hält, wenn man liebevoll das, was der an­dere denkt und fühlt, in sich aufnehmen kann wie das, was man selbst denkt und fühlt, wenn man sich diese innere Toleranz, diese Fähigkeit aneignet, so kommt man allmählich über die uns heute in

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unserem Menschheitszyklus angeborenen Vorurteile hinaus. Und man lernt sich sagen: «Was du verstanden hast in einem der geringsten meiner Brüder, das hast du von mir verstanden», denn der Christus hat nicht nur in der Zeit zu den Menschen gesprochen, als das Chri­stentum entstanden ist, sondern er hat sein Wort wahr gemacht: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten». Und er offen­bart sich auch immer. Einstmals hat er gesagt: «Was ihr einem der geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan»; heute sagt er zu dem Menschen: Was du in einem der geringsten deiner Brü­der mit innerer Toleranz verstehst, auch wenn es ein Irrtum ist, das hast du von mir verstanden, und ich werde dich die Vorurteile über­winden lassen, wenn du diese deine Vorurteile abschleifst an dem toleranten Aufnehmen dessen, was der andere denkt und fühlt. -Das ist das eine. Das ist mit Bezug auf das Denken der Weg, zu dem Christus zu kommen. Dann kann der Christus so in uns einziehen, daß wir nicht nur Gedanken über ihn haben, sondern daß der Chri­stus in unseren Gedanken lebt. Dahin gelangen wir aber nur auf diese Weise, die ich jetzt eben geschildert habe.

Das zweite hat Bezug auf den Willen. In der Jugend ist der Mensch zuweilen idealistisch. Das ist ein angeborener Idealismus. Den haben wir einfach dadurch, daß wir als Menschen geboren sind. Heute, in unserem Zeitalter, genügt dieser Menschheits-Idealismus nicht mehr. Heute brauchen wir noch einen anderen Idealismus, den wir uns selbst anerziehen, den wir nicht einfach dadurch haben, daß wir Menschen sind, sondern zu dem wir uns hinbändigen. Solch einen Idealismus brauchen wir. Wir brauchen einen Idealismus, den wir uns selber er­worben haben. Das ist dann der Idealismus, der mit den Jugendjahren nicht verschwindet, sondern der uns durch das ganze Leben jung und idealistisch erhält. Eignen wir uns einen solchen Idealismus an, den wir uns selber anerziehen, dann bringen wir auf Grund eines jetzt nicht logischen, sondern Wirklichkeitsgesetzes auch die Stoßkraft auf, nicht bloß als einzelne egoistische Menschen zu handeln, sondern uns hineinzustellen in den sozialen Organismus, um im Sinne dieses sozia­len Organismus zu handeln. Keiner, der sich heute nicht zum selbst-erworbenen Idealismus erzieht, wird wirkliches soziales Verständnis erwerben.

Das «Ex deo nascimur» ist uns angeboren. Der Weg zu Christus

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geht auf der einen Seite durch übersinnliche Gedanken, auf der ande­ren Seite durch den Willen. Er geht durch den Gedanken, indem wir von vornherein überzeugt sind: wir werden heute geboren als vorur­teilsvolle Menschen, wir müssen unsere Vorurteile durch das tolerante Anhören der Meinungen anderer abschleifen und uns dadurch die richtigen Urteile erwerben.

Was den Willensweg anbelangt, so erhält unser Wille heute nur dann das richtige soziale Feuer, wenn wir selbsterworbenen Idealis­mus haben, einen Idealismus, den wir in uns hineingetrieben haben durch eigene Tätigkeit. Das gibt Wiedergeburt. Und was wir gefun­den haben, indem wir es uns als Mensch erworben haben, das führt erst zum Christus.

Nicht der Gott, dem gegenüber wir sagen «ex deo nascimur» darf als Christus bezeichnet werden; denn das ist eine innere Unwahrheit. Diesen Gott kannte auch das Alte Testament. Der Gott, der zu uns spricht, wenn wir uns als Menschen während unseres Lebens nach die­sen zwei Richtungen, die ich bezeichnet habe, umgewandelt haben, der wird von uns deutlich als ein anderer empfunden als der bloße Va­tergott. Dieser Gott ist der Christus. Von diesem Christus spricht die moderne Theologie eigentlich sehr wenig. Dieser Christus muß als ein sozialer Impuls in die Menschheit hineinkommen. Viele sprechen heu­te von dem Christus so, daß ihre Rede nichts weiter ist als eine innere Lüge.

Nun sind solche Dinge ja nicht so einzusehen, wie man sie sich heute spintisierenderweise ausmalt, indem sich logisch Glied an Glied reiht. Ich habe Ihnen neulich einmal gesagt: es gibt ein Wirklichkeitsver­ständnis, das ein anderes ist als ein bloßes äußeres logisches Verständ­nis. Aber wenn der Mensch so etwas in sich entwickelt, was ich soeben als eine Wiedergeburt bezeichnet habe, dann wird heute des Menschen Denken in die Nähe des Christus gebracht, und er lernt so denken und empfinden, wie er denken und empfinden muß, wenn er sich heu­te zum Heile der Menschheit in die menschliche Gesellschaft hinein­stellen soll. Er lernt nämlich dann auch über andere Sachen richtig denken und empfinden, wenn er über dieses Fundamentale richtig denkt und empfindet. Davon ist aber das geistige Leben der neueren Menschheit furchtbar weit abgekommen. Und der Grund ist vielfach der, daß dieses geistige Leben der neueren Menschheit aufgesogen

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worden ist von dem politischen Staatsleben. Befreit werden muß das geistige Leben der Menschheit von dem politischen Staatsleben, damit es wieder fruchtbar und impulsiv werden kann für die menschliche Entwicklung. Sonst werden alle Gedanken verrenkt, und nach den verrenkten Gedanken falsche Wirklichkeiten geschaffen.

Ich habe schon einmal Wilsons Definition der Freiheit angeführt. Für den, der etwas von Philosophie versteht, ist es gewiß nicht beson­ders bedeutsam, wie heute ein Staatsmann die Freiheit definiert. Aber als Symptom ist bedeutsam, was in einem Menschen lebt, wenn er diese oder jene Gedanken über die Freiheit hat. Wilson sagt nun: Das, was sich innerhalb gewisser Verhältnisse so anpaßt, daß es sich frei bewegen kann, von dem sagen wir, es ist frei. Wir sagen also: Wenn in einer Maschine sich der Korb frei bewegen kann, wenn er nicht da und dort anstößt, sondern sich frei bewegen kann, dann läuft der Korb frei. Oder ein Schiff, das so konstruiert ist, daß es mit der Wind-richtung läuft, bewegt sich frei vorwärts. Würde es gegen die Wind-richtung laufen, so wäre es gefesselt, wäre nicht frei. So ist auch der Mensch frei, wenn er im sozialen Mechanismus an die Verhältnisse angepaßt ist. - Da kann man ja dann nur vom sozialen Mechanis­mus sprechen.

Es ist nicht so wichtig, daß solche Gedanken in einem Kopfe leben und realisiert werden, sondern daß das, was realisiert ist, in solchen Gedanken sich auslebt. Daran erkennt man, ob es gesund ist oder dem Gesunden zuwiderläuft. Der Gedanke ist ganz verrenkt. Warum? Sie brauchen sich jetzt nur einmal mit den Empfindungen, die Sie sich aus der Geisteswissenschaft erworben haben, das folgende zu überlegen:

wenn Sie angepaßt sind an die äußeren Lebensverhältnisse, wenn Ihr Leben im Sinne dieser Anpassung an die Verhältnisse verläuft, nir­gends anstößt, so sind Sie frei -, wie ein Schiff, das mit dem Winde läuft, sind Sie frei. Aber so steht der Mensch ja nicht in der ganzen Welt darinnen! Wenn nämlich das Schiff in der Windrichtung läuft, so läuft es frei, aber es muß auch einmal stehen bleiben können. Das ist es gerade, was für den Menschen sehr wichtig ist, daß er sich auch ein­mal umdrehen und gegen die Windrichtung stellen kann, damit er nicht nur den Verhältnissen angepaßt ist, sondern seinem eigenen In­neren angepaßt werden kann. Man kann sich nichts Unrichtigeres, nichts Tolleres denken als Wilsons Definition der Freiheit, denn sie

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widerspricht der Menschennatur, ist das Gegenteil von dem, was der wirklichen Freiheit des Menschen zugrunde liegt. Wenn man den Menschen mit einem Schiff vergleichen will, das frei im Winde läuft, so muß man ihn vergleichen mit einem solchen Schiff, das, wenn es in einer Richtung gelaufen ist, sich auch umdrehen kann, sich gegen den Wind stellen kann, damit es nun nicht weiter zu laufen braucht. Denn wenn der Mensch immer nur im Sinne der äußeren Verhältnisse laufen muß, dann ist er natürlich frei für die Verhältnisse, aber er ist nicht für sich frei. Man hat den Menschen ganz verloren in der heutigen Weltbetrachtung und Lebensauffassung. Er ist herausgefallen aus der Welt- und Lebensauffassung. Er muß wieder hineingestellt werden in die Welt.

Dieses hat seine sehr, sehr ernsten Seiten; es ist nur symptomatisch erfaßt, aber es hat sehr ernste Seiten. Denn der Mensch steht heute im sozialen Organismus so darinnen, daß er eigentlich nur läuft wie das Schiff mit dem Winde, und die kapitalistische Wirtschaftsordnung hat insbesondere über den Proletarier das Schicksal verhängt, daß er nur mit dem Winde laufen und niemals stehen bleiben und gegen den Wind sich stellen kann, um Ruhe zu haben. Ich habe im öffentlichen Vortrag in Basel gesagt: innerhalb der kapitalistischen Wirtschafts­ordnung braucht der Kapitalist bloß die Arbeitskraft des Arbeiters; der gesunde soziale Organismus muß so veranlagt sein, daß der Kapi­talist auch die Ruhe des Arbeiters braucht. Das abstrakt-kapitalisti­sche Kapital braucht nur die Arbeitskraft. Das Kapital, welches durch die Dreigliederung der rein menschlichen Stoßkraft zurückgegeben wird, wird auch die Ruhe des Arbeiters brauchen, wird die Ruhe aller Menschen brauchen. Denn das wird sich sozial hineinstellen müssen in den sozialen Organismus, wird wissen, wie es von dem sozialen Organismus getragen wird und ihn seinerseits wieder tragen muß.

Es kommt darauf an, daß der Proletarier soviel Arbeitskraft er­sparen kann, um an dem geistigen Leben teilnehmen zu können, und daß man den Willen hat, dem Arbeiter soviel Ruhe zu geben, ihn so­viel ersparen zu lassen von seiner Arbeitskraft, damit er von sich aus herankommt, um an dem geistigen Leben teilzunehmen.

Die bürgerliche Wirtschaftsordnung hat allmählich eine tiefe Kluft entstehen lassen: Das Geistige, das sie produziert, gilt nur für diese bürgerliche Wirtschaftsordnung und hat gar keinen Zusammenhang

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mit dem proletarischen Leben. Der Kapitalismus hat es dahin ge­bracht, nur auf die Arbeitskraft angewiesen zu sein und nicht auf die Ruhe des Proletariers. Solche Dinge erscheinen heute noch abstrakt. Sie werden es nicht mehr sein dürfen; denn von dem richtigen Ver­ständnis dieser Dinge hängt die heilsame Entwicklung der menschli­chen Gegenwart und Zukunft ab.

Nun habe ich Ihnen wiederum einige Andeutungen gemacht über eine Beziehung mancher geisteswissenschaftlicher Fundamentalsätze zu dem sozialen Leben. Man möchte so gern, daß gerade eine geistige Bewegung, wie die unsrige ist, auch in sich selbst als ein kleiner sozia­ler Organismus gesunde an dem Durchdringen von praktischen Le­bensbegriffen mit geisteswissenschaftlichen, geistig-wissenschaftlichen Begriffen, damit jenes schreckliche Bürgerliche, das sich herausgebildet hat zum Unheil der Menschheit, diese ungesunde Abtrennung des wirtschaftlichen Lebens von dem geistigen Leben, aufhöre. Gliedern muß sich der soziale Organismus, damit es nicht mehr Menschen gibt, die Coupons abschneiden und in dem Couponabschneiden nichts an­deres als Sklavenhalter sind, weil für die Coupons, die sie abschnei­den, so und so viel Leute ohne Zusammenhang mit ihnen schwere Arbeit verrichten müssen. Nachher gehen die Couponabtrenner in die Kirche und beten zu Gott um ihre Erlösung, oder auf Versammlun­gen, um da theoretisch über alle möglichen schönen Dinge zu reden, machen sich aber gar keine Begriffe darüber, welcher Unsinn darin liegt, ein abstraktes Geistesleben zu führen, einen Zusammenhang mit einem Gott zu suchen, während man auf der anderen Seite durch das Abschneiden der Coupons am Sklavenhalten, an der Ausnützung der Arbeitskraft teilnimmt. Sie trennen die Dinge in ungesunder Wei­se, wenn Sie nicht darauf eingehen, sie in gesunder Weise zu trennen. Das ist es, worum es sich handelt, was versäumt worden ist und korri­giert werden muß: diese abstrakte Trennung zwischen einer in Wol­kenkuckucksheim schwebenden Religiositat und Ethik und dem äu­ßeren Leben, das man gedankenlos im Sinne der Struktur, die der un­gesunde soziale Organismus heute angenommen hat, einfach weiter-treibt. Vor allen Dingen muß durchschaut werden, daß das Unglück der heutigen Zeit aus dieser bürgerlichen Trennung des Abstrakten und des Konkreten gekommen ist. Gerade in einer solchen Bewegung, wie die unsrige ist, kann man den Anfang machen, eine Art gesunden,

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kleinen sozialen Organismus hervorzurufen, wenn man sich bestrebt, alles das, was sich in einer solchen Bewegung als krankhafte Bildun­gen geltend macht, das Sektiererwesen, auszutreiben. Unter nichts hat man mehr zu leiden gehabt in dieser anthroposophisch orientierten Geistesbewegung als darunter, daß immer wieder und wieder da und dort Tendenzen zum Sektierertum auftauchten. Ohne daß die Leute es merken, streben sie nach irgendeiner Sektiererei. Das Gegenteil von Sektenbildung muß anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sein. Dann wird sie auch den unbewußten und unterbewußten Forde­rungen der Gegenwart entgegenkommen, die wahrhaftig nicht darauf hinauslaufen, neue Sekten zu bilden, sondern etwas auszubilden, was aus dem ganzen Menschen für alle Menschen, und aus allen Menschen für den ganzen Menschen sich entwickelt.

Denken Sie nur einmal darüber nach, wie Sie über das innerlich Sektiererische in Ihrer eigenen Seele hinauskommen können. Sektiere­risches lebt heute wie ein Atavismus, wie eine ungesunde Erbschaft in zahlreichen Seelen, weil kein Wille vorhanden ist, wirkliches Geistes­leben in die Verhältnisse des äußeren Lebens hineinzutragen. Nur durch solche sektiererische Schwarmgeistigkeit konnte es geschehen, daß gerade diesem Aufruf, von dem ich Ihnen gestern gesprochen habe, und den ich Ihnen vorgelesen habe, vorgeworfen wurde: man hätte erwartet, daß gerade von dieser Seite auf den Geist hingewiesen werde! Das habe ich allerdings nie gekonnt, in dem Sinne solcher Schwarnigeister auf den Geist hinzuweisen. Als sich im Anfange der neunziger Jahre von Amerika aus die Adler-Unoldsche ethische Be­wegung verbreitete, wendete ich mich mit aller Kraft dagegen, weil ja eine Bewegung lür ethische Kultur hätte gegründet werden sollen, die auf gar nichts basiert war und mit gar nichts im Leben zusammen-hing, als eben nur damit, daß man ethische Grundsätze verbreiten wollte. Lebensverständnis, Verständnis des Lebens aus dem Funda­mentalen dieses Lebens heraus, das ist es, was der heutigen Mensch­heit nottut, nicht Phrasen dreschen, nach denen man die Dinge so oder so machen soll. Und mit Bezug auf den sozialen Organismus ist die Dreigliederung das, worüber zunächst als über etwas Fundamen­tales nachgedacht, nachgeforscht, nachgesonnen werden muß, was ein­gehen müßte in die menschlichen Gemüter, so daß sie es so beherrschen, wie man das Einmaleins beherrscht.

III Die Gedankenformen des modernen sozialistischen Denkens

#G189-1957-SE046 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

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III

Die Gedankenformen

des modernen sozialistischen Denkens

#TX

Es wird Ihnen ersichtlich sein, wie das, was von mir hier und an­dernorts gerade über das soziale Problem der Gegenwart vorgebracht worden ist, durchaus aus geisteswissenschaftlichen Untergründen fließt, und wie versucht worden ist, in den Aufruf, den ich Ihnen neulich hier verlas, das einfließen zu lassen, was aus der tieferen Einsicht in die gegenwärtige Weltenlage über das soziale Problem praktisch ge­dacht werden muß. Wir sollten nicht müde werden, uns immer wieder und wiederum die Hauptsache vor die Seele zu führen, die heute dar­in besteht, daß Mittel und Wege gefunden werden zur Aufklärung, zur Möglichkeit, Verständnis hervorzurufen für das, was als Tatenan­sätze, als Handlungen in die Menschheit hineinkommen muß, wenn über das Wesen des sozialen Organismus in der richtigen Art gedacht wird. Sie haben ja begriffen, daß das ganze Denken und Empfinden, und damit auch das Wollen der Menschheit radikal anders geworden ist seit der Mitte des 15. Jahrhunderts, und daß die Gesamtgeschichte, soll sie für die Menschheit fruchtbar gemacht werden, von dem Ge­sichtspunkte aus revidiert werden muß, der sich für den fünften nach-atlantischen Zeitraum aus dieser radikalen Metamorphose der Seelen-verfassung der Menschheit ergibt. Die Eigentümlichkeit der Entwick­lung in diesem unserem fünften nachatlantischen Zeitraume bewirkt, daß bei Menschen, die mit einem gewissen Wollen ausgestattet sind, mögen wir es für ein richtiges oder unrichtiges, gutes oder schlechtes halten, das diesem Wollen zugrundeliegende Denken bestimmte For­men annimmt. Und von diesem Denken, das bestimmte Formen an­genommen hat, ist ja unsere ganze soziale Bewegung im wesentlichen gestaltet. Der sozialen Bewegung liegen die Gedanken zugrunde, wel­che die Menschen entsprechend dem Grundcharakter unseres Zeitalters sich bilden können.

Bei der Dreiteilung, von der wir jetzt öfters gesprochen haben, und

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die auch in dem Aufruf behandelt ist, ist der eigentliche politische Staat, von dem die meisten glauben, er umfasse den gesamten sozialen Organismus, ja, den sie überhaupt mit dem sozialen Organismus ver­wechseln, gewissermaßen nur ein Departement, ein Glied des dreige-teilten sozialen Organismus. Wenn Sie verstehen, worauf die ganze Dreigliederung des sozialen Organismus hinausläuft, und auf der an­deren Seite zu verstehen suchen, wie sich im modernen Leben die Ein­seitigkeit herausgebildet hat, den sozialen Organismus ganz zu zen­tralisieren, gewissermaßen den Staat alles verschlingen zu lassen, dann haben Sie in dem Zusammenhalten dieser beiden Dinge ein Wichtiges für das Verständnis der Sache gegeben. Und von einem ernsten Ge­sichtspunkte aus heute die soziale Bewegung zu verstehen, ist das Al­lernotwendigste für den Menschen der Gegenwart. Mit Bezug auf das, was zu geschehen hat, werden die Menschen noch lange so wie jetzt im Unbestimmten tappen. Das kann gar nicht anders sein. Aber worauf gesehen werden muß, worauf hingearbeitet werden muß, das ist: so­ziales Verständnis zu verbreiten, die Möglichkeit zu schaffen, den so­zialen Organismus wirklich zu verstehen.

Es ist gerade von diesem Gesichtspunkte aus außerordentlich inter­essant, zu beobachten, welcher Art das Denken solcher Menschen ist, die sich nach einer gewissen Richtung hin sozial betätigen. Uns muß es ja mehr darauf ankommen, die Artung, die Formung, die Gestal­tung des Denkens der Menschen zu beobachten, und weniger auf den Inhalt zu sehen, denn wir haben bei den verschiedensten Gelegenhei­ten betonen müssen: Was schließlich die Menschen denken, darauf kommt es sehr, sehr viel weniger an, als wie sie denken, wie das Denken orientiert ist. Schließlich ist es für das Einschneidende und Durchgreifende der gegenwärtigen Weltenbewegung gar nicht so sehr von Bedeutung, ob einer reaktionär im urältesten Sinne ist, ob er libe­ral, ob er demokratisch, sozialistisch oder bolschewistisch ist. Was die Leute sagen ist gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist, wie die Men­schen denken, in welcher Art ihre Gedanken sich formen. Sie werden heute die Erfahrung machen können, daß Persönlichkeiten auftreten, deren Denk-Inhalte, deren Programme radikal sozialistisch sind, die aber in ihren Gedankenformen ganz gleich sind denen, die über ein großes Gebiet der Erde hin kürzlich gestürzt worden sind.

Wir müssen also schon auf das Tiefere sehen, was alledem zugrundeliegt.

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Denn von den Programmen, die, wie ich neulich in Basel ge­sagt habe, heute wie Urteilsmumien unter uns herumwandeln, wird in der Zeitbewegung sehr, sehr wenig abhängen. Vieles wird davon abhängen, daß die Leute lernen, anders zu denken, die Gedanken an­ders zu formen, anders zu bilden. Gegenwärtig gibt es ja, um das Denken der Menschen in eine andere Richtung zu lenken, noch nichts anderes als das geisteswissenschaftliche Denken, das deshalb auch von den meisten für phantastisch angesehen wird. Dabei sind die Leute, die es phantastisch nennen, eben selber Phantasten, wenn auch vielfach materialistische Phantasten; aber Phantasten sind sie, sie sind Theore­tiker und können sich nicht auf die Wirklichkeit einlassen. Das aber, was sich gestaltet, wird aus der Artung des Denkens sich herausent­wickeln. Gerade mit Bezug hierauf möchte ich Ihnen heute einiges auseinandersetzen.

Wer hinsieht auf die Art und Weise, wie sich nach und nach die An­schauungen innerhalb der proletarischen Bewegung gebildet haben, und wie sie sich bis heute gestaltet haben, der sieht innerhalb der pro­letarischen Welt alle möglichen Anschauungen. Uns soll heute die eine Tatsache besonders interessieren, daß weitaus die größte Anzahl unter den Proletariern sich ganz radikal zu dem ursprünglichen oder zu ei­nem fortgebildeten Marxismus bekennt. Es ist ja sehr eigentümlich:

Karl Marx, nachdem er den französischen sozialen Positivismus ken­nengelernt und dann von London aus sich die soziale Welt, das soziale Werden betrachtet hatte, bildete sich auf dieser Grundlage dann seine außerordentlich einschneidenden sozialistischen Theorien, die nach und nach die gesamte proletarische Welt ergriffen haben. Es ist also eigentlich der marxistische Gedanke, der sich ausbreitete, der durch das Zündfeuer der letzten Katastrophe sich so ausgewachsen hat, wie er heute schon ist, und der sich weiter auswachsen wird. Unter den Sozialisten selbst gibt es eine große Anzahl, die sich einfach so auf Karl Marx berufen, daß sie sagen, sie seien Marxisten. Der eine be­hauptet, er stünde auf ganz orthodox-marxistischem Standpunkt, der andere behauptet, einen fortgeschrittenen Marxismus zu vertreten und so weiter und so weiter. Alles geht aber auf Marx zurück.

Nun liegt ja ein Ausspruch von Karl Marx selbst vor, der auf ge­wisse Seiten dieser Sache einen recht tiefen Blick tun läßt. Karl Marx betonte einmal, als er über den Marxismus sprach, daß er, Karl Marx,

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jedenfalls kein Marxist sei. Das ist ein Ausspruch, den man insbeson­dere in der heutigen Zeit nicht aus dem Auge verlieren sollte. Denn nur wenn man auf solche Dinge sieht, merkt man, worauf es an­kommt: eben auf die Art, wie sich die Gedanken formen, nicht was eigentlich ausgesprochen wird. Die bequeme Art, auf Programme zu bauen, wird die Menschheit gerade in unserer schwerlebigen Zeit nicht gebrauchen können. Und ein Weg führt, wenn er auch noch so weit ist, von Karl Marx zu W. J. Lenin, der sich nun auch für einen wirk­lichen, echten Marxisten hält. Und wenn man über Lenin heute spricht, so spricht man ja nicht über eine einzelne Persönlichkeit, son­dern man spricht über eine Bewegung, die man ja meinetwillen in Grund und Boden kritisieren kann, die aber schon als Impuls weite, weite Kreise zieht; diese Bewegung verbreitet sich aber auch durch gewisse Methoden, die sie eingeschlagen hat, und von denen ihre Trä­ger überzeugt sind, daß sie eigentlich der wahre Marxismus sind.

Nun kommt man am leichtesten dem hier angedeuteten Problem bei, wenn man in den Mittelpunkt der Betrachtungen die Einseitigkeit stellt, die Platz gegriffen hat, und die darin besteht, alles gewisser­maßen dem Staate aufbuckeln zu wollen, während man es in Wirk­lichkeit mit einem dreigliederigen Organismus zu tun hat, von dem der Staat nur ein Teil ist. Es ist schon interessant, die Gedankenfor­mung bei Karl Marx selbst zu verfolgen, einmal ganz abzusehen von dem, was er inhaltlich gesagt hat, und mehr auf seine Gedankenfor­mung zu sehen. Wer zum Beispiel an Marx herangeht und seine Schriften liest mit der Meinung, er werde jetzt durch die Lektüre eine Vorstellung darüber empfangen, wie der soziale Organismus sich ge­stalten werde, der wird sich sehr enttäuscht sehen. Angaben wie Sie sie den Mitteilungen der Geisteswissenschaft über den sozialen Orga­nismus entnehmen, werden Sie bei Karl Marx vergeblich suchen. Dar­um handelte es sich ihm bei seiner Art, die Gedanken zu bilden, ei­gentlich nirgends. Wenn Sie die nationalökonomischen Ansichten über die soziale Gestaltung in den Schriften von Karl Marx verfolgen, so kommen Sie zu der Feststellung: Karl Marx hat eigentlich über den sozialen Organismus keine neuen Gedanken entwickelt. Originelle Gedanken darüber, wie die Welt werden soll, macht sich Karl Marx nämlich nicht. Er untersucht: wie haben die Menschen gedacht, welche das moderne kapitalistische Zeitalter herbeigeführt haben, wie hat

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sich Lohnfrage, Kapitalfrage, Grundrentenfrage und so weiter ausge­bildet unter der kapitalistischen Herrschaft? Und er zergliedert die Nationalökonomie der kapitalistischen Herrschaft. Sie finden wichtig­ste Vorstellungen, die Karl Marx dem Proletariat überliefert hat, schon bei Ricardo und anderen. Karl Marx sagt: In der kapitalisti­schen Wirtschaftsordnung, die sich allmählich in der neueren Zeit her­ausgebildet hat, haben die Menschen Meinungen gehabt, aus denen heraus die modernen Lohnverhältnisse, die modernen Kapitalverhält­nisse, die modernen Grundrentenverhältnisse entstanden sind. Und jetzt versucht er weiter zu denken. Nicht daß er sagt, was an die Stelle dieser sozialen Gliederung, die sich unter dem Kapitalismus herausgebildet hat, treten soll; er zeigt nur, daß sich unter dieser ka­pitalistischen Herrschaft als eine besondere Menschenklasse das Pro­letariat hat bilden müssen. Das ist da, das ist eine Realität. Er zeigt nun, wohin die kapitalistische Herrschaft führt. Er beweist, daß sie sich selbst ad absurdum führt, daß sie, auf ihrem Höhepunkt ange­langt, in ihr Gegenteil umschlagen muß. Immer mehr und mehr sam­meln sich Kapitalien in den Händen einzelner, bis sie übergehen auf den einzelsten, der dann zu gleicher Zeit die Gemeinsamkeit ist. So sehr sich auch Marx und die Marxisten dagegen sträuben, das dem Worte nach anzuerkennen, das Kapital geht nach Marx über auf die staatliche Ordnung, so daß der Staat eigentlich der einzige Großkapi­talist wird; aber er enthält dann in der von ihm geschaffenen Volks­vertretung alle am Staate teilnehmenden Menschen.

Gerade aus dieser Auseinandersetzung haben sich die verschieden­sten sozialistischen Meinungen in der neueren Zeit gebildet. Karl Marx und sein Freund Friedrich Engels haben ja lange Zeit gewirkt, haben im Laufe von Jahrzehnten viel dazu beigetragen, Gedanken, die sie ursprünglich geäußert hatten, zu modifizieren, zu erweitern, zu begrenzen, wie das geschehen muß bei Menschen, die nicht stehenblei­ben, sondern sich selber, die Welt beobachtend, weiterentwickeln. Auf Grundlage des Marxismus entstand nun, weil die Gedanken von Karl Marx eben dem Proletariat in die Seele hineinsprachen, eine große Bewegung, die in den verschiedenen Ländern die verschiedensten For­men angenommen hat. Der Sozialismus, der sich auf der Grundlage des Marxismus gebildet hat, hat eine andere Nuance in England, eine andere in Frankreich, er hat die radikalste Nuance in Deutschland

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bekommen, und diese ist dann auf Rußland übergegangen. Aber das, was eine ganz wesentliche Prinzipien frage ist, das Verhältnis der prole­tarischen Welt zum Staate, ist eigentlich mehr oder weniger in eine Art nebulose Atmosphäre eingelaufen. Die Leute bildeten gerade da­durch innerhalb des Sozialismus viele Parteien, die sich bis aufs Mes­ser bekämpften, weil sie gerade das Verhältnis des Proletariats zum Staate, wie er sich geschichtlich im Laufe der neueren Entwicklung gebildet hat, in der verschiedensten Art auffaßten. Nun spielen da die verschiedensten Strömungen hinein, die wir heute nicht berühren wol-len. Allein den Weg wollen wir doch kurz andeuten, der sich von Karl Marx bis zu Lenin zieht. Denn Lenin behauptet gerade der echteste Marxist zu sein, der Karl Marx am besten versteht, während zahl­reiche andere Sozialisten, die sich auch Marxisten nennen, von Lenin als Abtrünnige und Verräter und mit den verschiedensten anderen Namen bezeichnet werden; manche werden auch wegen ihres Verhal­tens während des sogenannten Weltkrieges Sozial-Chauvinisten ge­nannt und dergleichen.

Ein Wesentliches in der Gedankenform bei Karl Marx besteht, wie ich soeben gesagt habe, darin, daß kein positiver Gedanke vorliegt, wie die Sache werden soll, daß etwas Auflösendes in seiner Gedan­kenform ist. Karl Marx sagt einfach: Ihr kapitalistischen Denker habt es so gesagt und gemacht, daraus muß euer eigener Untergang folgen. Dann wird das Proletariat oben sein. Was das Proletariat ma­chen wird, das weiß ich nicht, das wissen andere auch nicht, das wird sich dann schon zeigen. Sicher ist nur, daß ihr kapitalistischen Denker euch durch eure eigenen Maßnahmen und durch das, was ihr aus der Welt gemacht habt, den Untergang bereitet; wie es dann sein wird, wenn das Proletariat da ist, was das tun wird, das weiß ich nicht, das wissen andere auch nicht, das wird sich dann schon zeigen.

Wenn Sie dieses so nehmen, wie ich es eben dargestellt habe, dann haben Sie die Gedankenform. Es wird einfach das, was in der Außen­welt ringsherum sich zeigt, aufgenommen und durchdacht; wenn man aber mit dem Gedanken zu Ende ist, dann vernichtet sich der Gedan­ke, kommt zu nichts, läuft gewissermaßen ins Nichts aus. Das muß dem, der für derartiges eine Empfindung hat, so stark auffallen. Wenn man Karl Marx studiert, so findet man immer: Es wird von gewissen Gedanken ausgegangen: die sind aber eigentlich nicht seine Gedanken,

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sondern die der neueren Zeit. Und dann treibt man in etwas hinein, was eigentlich den Gedanken strudelt, was ihn verwirrt, und ihn aus­laufen läßt in das Zerstörerische, an das nichts angesetzt werden kann. Außerordentlich interessant ist, wie diese bei Karl Marx schon ein-schlagende Gedankenform sich in höchster Potenz - man möchte sa­gen bis zum Genialen potenziert - bei Lenin zeigt. Lenin deutet Karl Marx so, daß Marx ein absoluter Gegner des Staates sei, daß er von dem Gedanken ausgegangen sei: wenn die Unterdrückung des Prole­tariats aufhören solle, so muß der Staat, wie er sich historisch ent­wickelt hat, beseitigt werden. Das ist interessant, weil gerade die, welche Lenin als Gegner betrachtet, eigentlich dem Staate, wie er sich historisch herausgebildet hat, alles aufbuckeln möchten. So daß wir in sozialistischen Kreisen heute diese beiden Gegensätze haben: Auf der einen Seite die richtigen Staatsfanatiker, die alles verstaatlichen wol­len, auf der anderen Seite Lenin, der absolute Gegner des Staates, der das Heil der Menschheit nun nicht sieht in der Abschaffung - denn das hält er für eine Utopie -, sondern in dem allmählichen Abster­ben des Staates. Und gerade wenn man betrachtet, wie Lenin da denkt, kommt man auf die Gedankenform, die in ihm lebt. Lenin denkt so: Das Proletariat ist die einzige Klasse, die, nachdem die an­deren sich selber ad absurdum geführt, zum Untergang reif gemacht haben, obenauf kommen kann. Diese proletarische Menschenklasse wird das, was sich als Bourgeoisie-Staat herausgebildet hat, zur höch­sten Vollkommenheit treiben. Bitte geben Sie acht auf die Gedanken­Form! Lenin sagt nicht etwa, was die Anarchisten sagen: «Schaffen wir den Staat ab!» Das fällt ihm gar nicht ein! Er ist ein Gegner des Anarchismus, die Abschaffung des Staates würde er für den größten Unsinn halten. Er sagt vielmehr: Wenn die Entwicklung so fortgeht, wie die Bourgeoisie sie eingeleitet hat, dann ist die Bourgeoisie bald reif zum Untergang. Das Proletariat wird sich der Staatsmaschinerie - wie er sagt - bemächtigen, wird den Staat, den die Bourgeoisie als ein Werkzeug zur Unterdrückung des Proletariats begründet hat, vervollkommen, wird also gerade den vollkommensten Staat machen. Welche Eigenschaft hat aber der vollkommenste Staat? fragt jetzt Le­nin. Und er glaubt echter Marxist zu sein, wenn er sagt: die Eigen­tümlichkeit des vollkommenen Staates, wenn er entsteht - und er wird entstehen durch das Proletariat, als letzte Konsequenz der Bourgeoisie,

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- ist, daß er selber abstirbt. Der gegenwärtige Staat kann eben nur als ein von der Bourgeoisieklasse geschaffener Staat existie­ren, weil er unvollkommen ist; wenn ihn das Proletariat vollkommen ausgestaltet, wenn das Proletariat das zuende führt, was die Bour­geoisie angefangen hat, dann bekommt der Staat seine richtige Impul­sivität, die darinnen besteht, daß er stirbt, daß er von selber aufhört.

Das ist nur die charakteristischte Gedankenform in dem Denken von Lenin. Sie sehen das potenziert, was bei Marx schon zu finden ist: Der Gedanke, der gebildet wird, läuft ins Nichts aus. Nur daß Lenin ein sehr realistischer Denker ist, der aus dem geschichtlichen Hergang darauf kommt: der Staat muß vervollkommet werden; er stirbt jetzt nur deswegen nicht, weil er unvollkommen ist; daraus hat er seine Lebenskraft. Wenn ihn das Proletariat vollkommen macht, dann hat es den Grund dazu gelegt, daß er allmählich abstirbt.

Sie sehen, aus der Wirklichkeit heraus wird eine Vorstellung ge­formt, und diese Vorstellung hat heute in einem großen Teile von Ost­Europa die Tendenz, sich zur Realität auszudehnen. Sie ist nicht eine bloße Vorstellung, sie geht in Wirklichkeit über. Der Proletarier sagt:

Ihr Bourgeois habt diesen modernen Staat entstehen lassen, ihr habt ihn nur benützt als ein Instrument zur Unterdrückung des Proleta­riats, er ist der Staat der bevorzugten Klasse. Er dient euch dazu, die proletarische Klasse zu unterdrücken; dem verdankt er seine Lebens­fähigkeit. Nun wird das Proletariat kommen, wird die Klassenherr­schaft abschaffen, wird den Staat zum vollkommenen Wesen machen; dann kann er nicht leben -dann stirbt er. Und dann entsteht das, was entstehen soll, von dem kein Mensch, wie Lenin sagt, heute wissen kann, was es ist. Das soziale Ignorabimus, das ist es, was aus diesem Sozialismus fließt. Das ist nun sehr interessant; denn die Denkweise, die heute das soziale Vorstellen ergriffen hat, ist aus der Naturwis­senschaft heraus gebildet, und wie die Naturwissenschaft mit Recht von ihrem einseitigen Standpunkt zu dem Ignorabimus gekommen ist: #SE189-054

Das ist der tiefere Zusammenhang, und das muß man vor al­len Dingen verstehen. Nun kann man, wenn man sich diese Gedan­kenform erst klar gemacht hat, auf einige wichtige Punkte in der An­schauungsweise eines solchen Mannes wie Lenin hindeuten. Er legt zum Beispiel ein besonderes Gewicht darauf, daß sich innerhalb des bourgeoisen Staates der Bürokratismus ausgebildet hat, die militäri­sche Maschinerie, wie er sie nennt. Diese bürokratische militärische Maschinerie ist entstanden, weil sie gebraucht wird von den leitenden Klassen zur Unterdrückung der proletarischen Klassen. Daher ist der radikalste Flügel des Sozialismus, der Bolschewismus, sich klar dar­über, daß das, was er will, nur verwirklicht werden kann durch das bewaffnete Proletariat. Ohne Waffen ist aussichtslos, was auf dieser Seite gewollt wird. Und dieses wird durch historische Beispiele belegt:

Die französischen Kommunen konnten gerade solange wirken, als die, die da obenauf gekommen waren, Waffen hatten. In dem Augenblick, da sie entwaffnet waren, ging es nicht mehr. Das ist einer der Punkte, daß darauf gesehen werde, das Proletariat als bewaffnete Arbeiter-macht zu organisieren. Was soll nun von diesem Proletariat, das als bewaffnete Arbeitermacht auftritt, getan werden? Es geschieht ja heu­te zum Teil schon. Es geschieht in einer Weise, von der man annehmen sollte, daß manche Menschen darüber erwachen könnten aus dem tie­fen sozialen Schlaf, den sie so lange Zeit geschlafen haben. Was soll geschehen? Aufhören soll vor allen Dingen der Staat als Klassenstaat. Das, was die Bourgeoisie begründet hat als Klassenstaat, soll über­nommen werden von der bewaffneten Arbeiterschaft. Und nun ist es interessant, daß mit klaren und deutlichen Worten gerade bei solchen Menschen, die bis zu einer gewissen Genialität die Gedankenform des modernen sozialistischen Denkens ausgebildet haben, zum Vorschein kommt, was eigentlich durch die geschichtliche Entwicklung in den Proletarierseelen veranlagt worden ist.

Lenin weist zum Beispiel darauf hin, daß an Stelle der Beamten und militärischen Hierarchie eine Art Verwaltung treten müsse, die aber nur aus Gewählten besteht; und er weist ferner darauf hin, daß so, wie die Verhältnisse heute liegen, man für die Staatsverwaltung nichts anderes im Kopf zu haben braucht, als die heute übliche allge­meine Schulbildung. Und er gebraucht selber einen merkwürdigen Ausdruck, der viel aussagt. Lenin sagt, daß das, was heute Staat genannt

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wird, so umgewandelt werden soll, daß eine große Fabrik ent­stehe mit allgemeiner Buchhaltung. Um das zu bewirken, und um da die Kontrolle und dergleichen auszuüben, kann man so ziemlich mit den vier Rechnungsarten, mit dem, was allgemeine Volksbildung sein kann, auskommen.

Nun sollte man über solche Dinge nicht einfach spotten, sondern sich klar darüber sein, daß ja auch diese Anschauung nichts anderes ist, als die letzte Konsequenz der bourgeoisen Entwicklung. So wie nun eben das moderne soziale Gebilde sich rein wirtschaftlich ergeben hat, muß man sagen, daß gerade die Kapitalisten, die kapitaldirigie­renden Menschen, zumeist nichts anderes im Kopfe haben, als wovon Lenin verlangt, daß die späteren Arbeiteraufseher es haben sollen.

W'ürden Menschen da sein, zu denen der Proletarier, so wie ihn die neuere Entwicklung hat entstehen lassen, hinsehen könnte, an die er glauben könnte wegen ihrer besonderen Fähigkeiten, zu denen er als zu einer gewissen berechtigten Autorität aufsehen könnte, dann wür­de sich alles anders gestaltet haben. Aber er kann ja nicht zu solchen Menschen hinsehen. Er kann ja nur auf diejenigen schauen, die im Grunde genommen hinsichtlich ihrer geistigen Qualitäten nicht anders sind als er, die nur das Kapital vor ihm voraus haben. Er findet kei­nen Unterschied zwischen sich und denen, die dirigieren. Das tritt, nur in streng theoretische Formeln gefaßt, bei Lenin zutage.

Begreifen kann man also gerade an den radikalen Formeln des Lenin, wie die Dinge sich ergeben haben. Nun wird Ihnen allen selbst­verständlich auf der Zunge liegen zu sagen: Ja, aber es kommt doch so viel Schreckliches heraus bei der Sache, es ist doch alles so furchtbar! Dennoch handelt es sich darum, daß man den Dingen ganz offen ins Auge schaut, daß man sich schon die Unbequemlichkeit macht, auf die Gedanken der Menselien einzugehen. Wenn so einfach zeitungsgemäß geschildert wird, was da oder dort durch die radikalen Sozialisten geschieht, so kann man bürgerliche Entrüstung haben, die heute schon vielfach in bürgerliche Angstmeierei übergeht; aber der Drang, die Dinge zu verstehen, der ist ja heute noch nicht besonders groß.

Es muß nun folgendes, was zum Teil schon geschieht, und nament­lich das, was noch geschehen wird, unbedingt verstanden werden: Ge­rade Lenin, der sich für einen echten Marxisten hält, weist darauf hin, wie schon durch Marx eine bestimmte Anschauung über die Entwicklung

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der sozialen Ordnung in die neuere Zeit und in die Zukunft hin­ein eingeleitet worden ist. Eigentlich denken diese Leute, daß sich die soziale Neugestaltung in zwei Phasen vollziehen muß. Die erste Phase besteht darin, daß einfach das Proletariat einrückt in die bourgeoise Staatsform, von der Lenin meint, daß wenn sie vollkommen sein wird, sie durch sich selber absterben werde. Das Proletariat wird ein­rücken, wird das zu Ende führen, was nach den Anschauungen und Impulsen des Proletariats aus dem bourgeoisen Staate werden kann. Schon durch Marx selber ist ausgeführt worden, daß das ja noch nicht zu irgendwelchen wünschenswerten Zuständen führen kann. Wo­zu wird diese erste Stufe der sozialen Phase im Sinne des Marx­Leninismus führen? Sie wird dazu führen, wenn man es banal dar­stellt, - aber die Leute stellen es ja selbst so banal dar - daß wer nicht arbeitet, auch nicht essen kann, daß jeder eine bestimmte Arbeit zu verrichten hat, und daß er dann durch diese Arbeit Anspruch hat auf die Artikel, die zu seinem Lebensunterhalt notwendig sind. Die Leute sind sich aber klar darüber: dadurch wird nicht irgendeine Gleichheit unter den Menschen herbeigeführt, sondern dadurch wird die Ungleichheit nur fortgesetzt. Auch erhält der Mensch dadurch nicht das Erträgnis seiner Arbeit. Das betont Karl Marx, das betont auch Lenin. Es muß ja von der Gemeinsamkeit, also von dem Staat (oder wie man das nennen will, was da von der bourgeoisen Weltord­nung übrig bleiben wird) alles das abgezogen werden, was nötig ist für das Schulwesen, für öffentliche Dienste und so weiter. Der alte Lasallesche Gedanke vom Recht auf den vollen Arbeitsertrag muß natürlich im Sinne dieses Sozialismus fallengelassen werden. Also auch da kommt keine Gleichheit heraus; denn die Verhältnisse bringen es mit sich, daß die Menschen, selbst wenn sie gleiche Arbeit leisten, ver­schiedene Ansprüche an das Leben stellen. Das gibt natürlich dieser Sozialismus durchaus zu; dadurch ist aber sogleich wieder eine Un­gleichheit bedingt. Kurz, es ist die Anschauung dieser Sozialisten, daß sich in der ersten Phase der sozialistischen Ordnung einfach die bour­geoise Ordnung fortsetzt, daß diese bourgeoise Ordnung nur durch das Proletariat besorgt wird. Sehr interessant ist, wie sich Lenin direkt über die Sache ausspricht. Es sagt zum Beispiel an einer Stelle seines Werkes «Staat und Revolution», daß etwas eintreten würde wie bour­geoise Ordnung, bourgeoiser Staat, ohne die Bourgoisie.

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An diesem Worte, das Lenin selber gebraucht, daß der bourgeoise Staat da sein wird ohne die Bourgeoisie, ersehen Sie, was ich immer betone, und was ich für außerordentlich wichtig halte: daß die Leute, die heute sozialistisch denken, nur die Erbschaft der Bourgeoisie ange­treten haben. Die Gedanken sind die bourgeoisen Gedanken. Ein die Gedankenform so bis zur Genialität fortbildender Mensch wie Lenin sagt, die nächste Phase sei: bourgeoiser Staat ohne die Bourgeoisie, die entweder totgeschlagen oder zur dienenden Kaste gemacht wird. Da wird es keine Gleichheit geben, da wird nur das Proletariat oben sein, und es wird, anstatt daß von Monarchen oder von sonstigen ähnlichen Gebilden ernannt und dekoriert wird, gewählt werden. Das Proletariat wird verwalten und Gesetze geben zu gleicher Zeit. Aber es ist der bourgeoise Staat, nur ohne die Bourgeoisie.

Das alles gibt keineswegs einen idealen Zustand. Wenn also irgend jemand fragt: Was haben diese Leute aus der menschlichen gesellschaft­lichen Ordnung gemacht? - dann wird Lenin einfach antworten: wir haben euch ja nichts anderes versprochen als eine erste Phase, in der wir das, was ihr als bourgeoisen Staat begründet habt, bis in seine letzten Konsequenzen ausführen, nur führen jetzt wir es aus, als Pro­letarier werden wir es ausführen. Früher habt ihr es gemacht, jetzt machen wir es. Aber wir machen dasselbe, was ihr gemacht habt, -bourgeoiser Staat, nur ohne die Bourgeoisie. Jeder wird entlohnt nach seiner Arbeit, die Ungleichheit aber bleibt bestehen.

Lenin sagt: Der bürgerliche Staat ohne die Bourgeoisie wird zum Absterben des Staates führen. Der Staat wird dann völlig abgestorben sein, wenn die Gesellschaft die Regel verwirklicht haben wird, die er als sein Ideal betrachtet, und wenn der enge bürgerliche Rechtsbegriff abgeschafft sein wird, der mit der Hartherzigkeit eines Shylock be­rechnen läßt, ob einer am Ende nicht eine halbe Stunde weniger gear­beitet oder etwas mehr bezahlt bekommen hat als der andere. Dieser enge Horizont wird erst am Ende der ersten Phase überschritten sein. Bis zum Ende der ersten Phase wird noch immer, und zwar dann na­türlich gesteigert, der bürgerliche Rechtsstaat bestehen, der mit der Hartherzigkeit eines Shylock berechnen läßt, ob einer am Ende nicht eine halbe Stunde weniger gearbeitet oder etwas mehr bezahlt be­kommen hat als der andere. Dieser bürgerliche Shylock-Standpunkt wird sich also in die erste Phase des Sozialismus herein erstrecken.

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Da haben Sie, was diese Leute zunächst einzig und allein verspre­chen: Ihr habt es für eure Kaste gemacht, wir machen die Sache für das Proletariat. Von Demokratie zu reden ist Unsinn, denn die De­mokratie würde doch nur dazu führen, daß die Minorität unterdrückt würde. Das Proletariat wird alles so machen, wie ihr es gemacht habt. Dadurch aber wird es das, was ihr zu einem Scheinleben erweckt habt, zum Absterben bringen; dann kommt erst die zweite Phase.

Auf diese zweite Phase des Sozialismus weist Karl Marx schon hin, weist auch Lenin wieder hin, aber in einer merkwürdigen Weise. Ich halte für außerordentlich wichtig, daß dies ins Auge gefaßt werde:

Marx in der Gestalt des Lenin sagt: Wir werden die bourgeoise Ord­nung bis zu ihren letzten Konsequenzen treiben; dann wird das ab­sterben, was Staat ist, und die Menschen werden die Gewohnheit er­langt haben, keinen Rechtsstaat mehr zu brauchen, überhaupt keinen Staat mehr zu brauchen, der Staat wird aufhören. Denn all das, was der Staat zu tun hat, wird nicht mehr nötig sein. Die Zeit, in der je­der nach dem Grundsatze entlohnt wird: wer nicht arbeitet, darf auch nicht essen, wird eben aufhören. Sie ist die erste Phase des Sozialis­mus. Dann wird die Zeit kommen, wo jeder nach seinen Fähigkeiten und Bedürfnissen wird leben können, nicht nach seiner Arbeit. Und das wird die höhere Stufe sein, zu der all das, was jetzt zunächst an­gestrebt wird, nur der Übergang ist. Da wird man nicht mehr fragen, ob einer eine halbe Stunde länger oder kürzer gearbeitet hat, da wird erst die Zeit gekommen sein, wo man die Gleichwertigkeit geistiger und künstlerischer Arbeit in der richtigen Weise taxieren wird, da wird jeder an seinen Posten gestellt sein durch die naturgemäße sozia­le Ordnung und jeder nach seinen Fähigkeiten nicht nur arbeiten können, sondern wollen, weil die Menschen sich durch das Zivilisiert-sein in der ersten Phase gewöhnt haben, die Arbeit nicht als etwas zu betrachten, was sie aus Notwendigkeit tun, sondern sie werden sich dazu drängen. Und damit wird es sich ergeben, daß auch jeder nach seinen Bedürfnissen seinen Lebensunterhalt finden wird. Da wird man nicht mehr eine bürgerliche Shylock-Rechtsordnung brauchen und fra­gen, ob einer eine halbe Stunde länger oder kürzer gearbeitet hat, son­dern man wird einsehen, daß der, welcher eine bestimmte Arbeit hat, auch vielleicht zwei Stunden weniger lang zu arbeiten braucht. Kurz­um, jeder wird nach seinen Fähigkeiten arbeiten und nach seinen Bedürfnissen

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leben. Das ist die höhere Ordnung. Übergänge, die nun ein­mal nötig sind, weil der bourgeoise Staat, damit er abstirbt, bis zu seinem Ende entwickelt werden muß, führen zu Zuständen, in denen man auf der einen Seite sagt: «Ignorabismus», das heißt wir wissen es nicht, von denen man aber auf der anderen Seite sagt, sie würden sich als eine zweite, höhere Phase des Sozialismus herausbilden.

Es ist ja interessant, was gerade Lenin über diese höhere Phase des Sozialismus sagt. Als Ignoranz bezeichnet er es, wenn man die Mög­lichkeit behauptet, daß die Menschen, so wie sie heute sind, eine so­ziale Ordnung verwirklichen können, in der jeder nach seinen Fähig­keiten und nach seinen Bedürfnissen sich ausleben kann. Denn keinem Sozialisten kann es in den Sinn kommen, zu versprechen, daß die hö­here Entwicklungsphase des Kommunismus eintreten muß. Dieses Zeitalter, das von den großen Sozialisten vorausgesehen wird, setzt eine Produktivität der Arbeit und einen Menschenschlag voraus, der von dem heutigen weit entfernt ist, von diesem heutigen Menschen, der mir nichts dir nichts imstande ist, Wäscheläden zu plündern und das Blaue vom Himmel zu verlangen. Das ist das außerordentlich In­teressante und Bedeutungsvolle. Erste Phase: Sozialisierung mit den heutigen Menschen, letzte Konsequenz der bourgeoisen Weltordnung ein Staat, der durch seine eigenen Qualitäten abstirbt. Höhere Phase mit Menschen, die ganz anders geworden sind als heute, mit einem neuen Menschenschlag.

Sehen Sie, das ist das Ideal in der Abstraktion: Erst wird die bour­geoise Ordnung zu ihrem Ende geführt, wo sie sich selbst ad absur­dum führt; dadurch wird der Staat zum Absterben gebracht, durch diesen Prozeß ein neuer Menschenschlag gezüchtet, dessen Menschen gewohnt sein werden, nach ihren Fähigkeiten zu arbeiten, nach ihren Bedürfnissen zu leben, wo es unmöglich sein wird, daß jemand stiehlt, weil gerade so, wie wenn heute irgendwo eine Dame beschimpft wird, die anständigen Leute sich dagegen auflehnen, dann die Anständigen sich von selber auflehnen werden. Man wird keine militärische oder bürokratische Kaste benötigen, die eingreift und so weiter und so wei­ter. Und auf welchem Glauben beruht das? Auf dem Aberglauben an die wirtschaftliche Ordnung! Auf der einen Seite hat der Kapitalis­mus eine wirtschaftliche Ordnung erzeugt, welcher kein Geistesleben gegenübersteht, sondern nur eine Ideologie. Diesen Zustand will der

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Sozialismus auf die Spitze treiben. Alles weg, außer Wirtschaftsleben! Und dann, meint er, werde dies einen anderen Menschenschlag her­vorbringen.

Es ist außerordentlich wichtig, sich dieses Aberglaubens an das Wirtschaftsleben bewußt zu werden, gemäß welchem heute eine unge­heure Anzahl von Menschen sich einbildet, daß wenn das wirtschaft­liche Leben in ihrem Sinne eingerichtet werde, dadurch nicht nur eine wünschenswerte soziale Ordnung entstehe, sondern sogar ein neuer Menschenschlag, der in eine wünschenswerte soziale Ordnung hinein­paßt, gezüchtet werde.

Das alles ist die moderne Form des Aberglaubens, die sich nicht auf den Standpunkt stellen kann, daß hinter aller äußeren, ökonomischen und materiellen Wirklichkeit das Geistige mit seinen Impulsen waltet und vom Menschen als Geistiges aufgenommen werden muß. Das alles ist die Verkennung des Geistigen. Soll die Menschheit gesunden, dann ist das nur auf geistigem Wege möglich, indem die Menschen geistige Impulse als geistige Erkenntnisse und als soziales Denken und sozia­les Fühlen, gebaut auf geisteswissenschaftlichen Grundlagen, in sich aufnehmen. Durch wirtschaftliche Evolutionen wird niemals der neue Mensch erzeugt, sondern einzig und allein von innen heraus. Dann aber muß das geistige Leben frei auf sich selber gestellt sein. Ein Gei­stesleben, wie es sich im Laufe der letzten Jahrhunderte herausgebil­det hat, das früher gefesselt war von dem rein kameralistischen Staa­te, jetzt gefesselt ist von dem Wirtschaftsstaate, wird niemals imstande sein, den neuen Menschen wirklich zu gebären. Deshalb muß auf der einen Seite die Freiheit des Geisteslebens angestrebt werden dadurch, daß das geistige Leben sein Departement für sich hat. Auf der ande­ren Seite muß angestrebt werden, daß der Mensch das Wirtschaftsle­ben rein als Wirtschaftsleben führt, daß der Staat, der nur mit dem Verhältnisse von Mensch zu Mensch zu tun hat, nicht Wirtschafter ist. Denn das Wirtschaftsleben geht darauf aus, alles, was in sein Gebiet drängt, zu verbrauchen. Insoferne der Mensch selber im Wirtschafts­leben drinnensteht, wird er verbraucht, und er muß sich fortwährend vor diesem Verbrauchtwerden retten. Er wird sich retten können, wenn er ein entsprechendes Verhältnis von Mensch zu Mensch aufrich­tet. Und das ist dann im regulierenden eigentlichen Staate verwirk­licht. So daß man bei einer unbefangenen Betrachtung der heute behandelten

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Dinge sagen kann: gerade das ist das Wesentliche in den Impulsen, die sich durch die moderne soziale Bewegung herausgebildet haben, daß sie von einem Denken erfüllt sind, das eigentlich ins Nichts hineingeht. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, jemand würde in entsprechender Anwendung dieser Gedankenform das folgende vertreten: ich will die vollkommenste Ausgestaltung der modernen Erziehungsmethode ersinnen; da komme ich dazu, daß man den Men­schen so erziehen muß, daß er möglichst viel aufnimmt vom Todes-Prinzip, daß er, wenn er erzogen ist, möglichst anfängt zu sterben. Das wäre ein Gedanke, der sich als real erfaßter Gedanke in sich selbst vernichtet. Aber nun der Leninsche Gedanke vom Staat: Ge­rade wenn der Staat vollkommen ist, rüstet er sich zum Absterben. Daraus sehen Sie schon, daß das moderne Denken gar nicht zu einer produktiven, fruchtbaren Vorstellung gelangen kann. Auf dem Ge­biete des geistigen Lebens nicht, weil dieses zu einer bloßen Ideologie geworden ist, nur Gedanken umfaßt oder Naturgesetze, die auch nur Gedanken sind, und weil das Geistesleben außerdem gefesselt ist von dem Wirtschaftsleben oder von dem politischen Leben. Das hat ja ins­besondere diese Kriegskatastrophe gezeigt. Denken Sie sich doch, wie viel von diesem geistigen Leben abhängig war. Da hat sich die Fesse­lung in der furchtbarsten Weise gezeigt, überall, über die ganze Erde hin.

Dann sehen Sie es ja auf dem Gebiete des Staatslebens. Die Sozia­listen, die die Halbgedanken der Bürgerlichen zu Ende denken, den­ken einen Staat aus, der die Eigentümlichkeit hat, sich selber zum Ab­sterben zu bringen. Und auf dem Gebiete des Wirtschaftslebens geben sich alle dem Aberglauben hin, daß dieses Wirtschaftsleben, das das Leben in Wirklichkeit verbraucht, weshalb wir gerade als Gegenge­wicht die beiden anderen Departemente haben müssen, damit auch die Wirtschaft ihrerseits erhalten bleibe, - daß dieses Wirtschaftsleben den neuen Menschenschlag hervorrufen werde.

Auf keinem Gebiete ist es dem modernen Denken gelungen, zu etwas zu kommen, was lebensfähige Zustände herbeiführen kann. Was aber auf dem Boden der Geisteswissenschaft auf diesem Gebiete ge­wollt wird, das ist eben gerade, aus todeswürdigen, lebenswürdige Zu­stände herauszugestalten. Aber dann genügt es wirklich nicht, daß, wie das jetzt in der Gegenwart viele hoffen und wie es sich da oder dort

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auch schon vollzieht, diejenigen, die vorhin unten gewesen sind, jetzt oben sind, und jene oben sind, die vorhin unten gewesen sind. Die jetzt unten sind, haben früher oben reaktionär oder bourgeois ge­dacht; die jetzt oben sind, denken sozialistisch. Aber die Gedanken-formen sind im Grunde ganz dieselben. Denn nicht darauf kommt es an, was einer denkt, sondern wie einer denkt. Und sobald man dies versteht, hat man eben schon den Grundimpuls zum Verstehen gerade dieser Dreiteilung des sozialen Organismus, die eben auf die Wirk­lichkeit geht, auf das, was sich als die Gesundheit des sozialen Orga­nismus herausentwickeln muß.

Es ist aus dem geisteswissenschaftlichen Erkennen das Wichtigste für die Zeit herauszuholen und wir müssen uns hüten, diese tief, tief ern­ste und bedeutungsvolle Seite unserer geisteswissenschaftlichen Bewe­gung zu verkennen. Wir verkennen sie aber, wenn wir uns dazu hin­reißen lassen, gerade auf dem Gebiete des anthroposophisch orientier­ten Geisteswissens in irgendwelche Sektiererei zu verfallen. Es sollte schon jeder mit sich zu Rate gehen mit Bezug auf die Frage: wieviel steckt in mir noch Sektiererisches? Denn die moderne Menschheitsbe­wegung geht darauf aus, alles Sektiererische auszutreiben, nicht sek­tiererisch zu sein, nicht abstrakt zu sein, sondern menschenfreundlich zu sein, weite, nicht enge Gesichtspunkte zu gewinnen. Insofern von einer gewissen Seite her diese unsere Bewegung aus der theosophischen herausgewachsen ist, stecken in ihr eben Keime zu sektiererischem Treiben. Diese Keime müssen aber erstickt werden. Das Sektiererische muß ausgetrieben werden. Und die weiten Horizonte sind uns vor allen Dingen nötig, das unbefangene Hinblicken auf die Wirklichkeit.

Neulich habe ich gesagt: Wer Coupons abschneidet, soll sich klar sein, daß in diesen abgeschnittenen Coupons menschliche Arbeitskraft steckt, und daß er, insofern menschliche Arbeitskraft versklavt ist in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, teilnimmt an der Verskla­vung. Darauf darf nicht erwidert werden: ,Das ist entsetzlich!' oder dergleichen, denn diese Erwiderung: ,Das ist entsetzlich!' ist die furchtbarste Theorie, ist etwas, was einen sehr leicht gerade zu dem heutigen modernen sektiererischen Treiben bringen kann. Ich habe dieses oft in anderer Form gesagt: Da hören die Leute von Luzifer und Ahriman und sagen sich, um Gotteswillen, ja weit, weit weg, ich habe nichts zu tun mit Luzifer und Ahriman, ich habe nichts mit ihnen zu

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tun, ich bin nur beim guten Gotte! - Um so tiefer verfallen die Leute dem Luzifer und Ahriman, wenn sie auf so abstrakte Weise an die Dinge herankommen. Man muß schon die Aufrichtigkeit und Ehrlich­keit haben, zu wissen, daß man drinnensteckt in dem gegenwärtigen sozialen Prozesse, und daß man nicht bloß durch irgendwelche Selbst­täuschung herauskommt, sondern daß man sein Möglichstes tun soll, damit der soziale Prozeß im Ganzen zur Gesundung kommt. Der Ein­zelne kann sich nicht helfen - so wie die Menschheit heute entwik­kelt ist -, sondern er muß das Seinige dazu tun, um der armen Menschheit mitzuhelfen. Nicht darauf kommt es heute an, daß wir uns sagen: ich will ein guter Mensch sein, uns hinsetzen, Gedanken aussenden, die alle Menschen lieben, und so weiter, sondern darauf, daß wir, in diesem sozialen Prozesse drinnenstehend, uns verstehen, daß wir das Talent entwickeln, auch schlecht zu sein mit der schlech­ten Menschheit; nicht weil das gut ist, schlecht zu sein, sondern weil eine soziale Ordnung, die überwunden werden muß, den einzelnen eben dazu zwingt, so zu leben. Nicht von der Illusion, wie brav, wie gut wir sind, sollen wir leben wollen, und uns die Finger ablecken, wie wir selber besser sind als die anderen, sondern wir sollen wissen, wie wir drinnenstehen in der sozialen Ordnung und uns keinen Illu­sionen hingeben. Denn je weniger wir uns den Illusionen hingeben, desto mehr wird der Elan in uns Platz greifen, mitzuarbeiten an dem, was zur Gesundung des sozialen Organismus führt, die Fähigkeiten uns zu erobern, aufzuwachen aus dem Schlafzustand, der die heutigen Menschen so tief umfangen hat. Und da kann nichts anderes helfen, als die Möglichkeit, die energischeren Gedanken, die eindringlicheren Gedanken zu fassen, die in der Geisteswissenschaft gegeben sind, ge­genüber den schwachen, lässigen, gelähmten Gedanken, die heute in der offiziellen Wissenschaft vorhanden sind.

Ich muß daran denken, wie ich vor vielleicht heute achtzehn, neun­zehn Jahren im Berliner Gewerkschaftshaus einmal davon gesprochen habe, wie die Wissenschaft der Gegenwart eine bürgerliche Wissen­schaft ist, und wie die Entwicklung darauf hinauslaufen muß, gerade die Gedanken, gerade die Wissenschaft von dem bourgeoisen Elemente zu befreien. Das verstehen die Führer des Proletariats heute durchaus nicht, denn sie sind davon überzeugt, daß die bürgerliche Wissen­schaft, die sie übernommen haben, etwas Absolutes ist. Was wahr ist,

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ist wahr. Darüber denken die Sozialisten auch nicht nach, wie das zu­sammenhängt mit der bourgeoisen Entwicklung. Sie reden von den Impulsen, von den Emotionen des Proletariats, aber sie denken ganz bürgerlich. Nun werden gewiß viele von Ihnen auch sagen: ja, aber was wahr ist, ist doch eben wahr! Ja, eine gewisse Summe - sagen wir - von chemischen, physikalischen, mathematischen Wahrheiten ist freilich wahr, die kann nicht auf bürgerliche Weise wahr sein und auf proletarische Weise wahr sein. Ganz gewiß ist der pythagoräische Lehrsatz nicht auf bourgeoise Weise wahr oder auf proletarische Weise wahr, sondern einfach wahr. Darum handelt es sich aber auch nicht, sondern darum, daß die Wahrheiten ein gewisses Feld umschließen. Bleibt man auf diesem Felde stehen, so kann das, was darinnen ist, ge­wiß wahr sein, aber es sind Wahrheiten, die just den bürgerlichen Krei­sen nützlich und bequem und angemessen sind, während außerhalb manches andere liegt, was man auch wissen kann, was aber einfach von der Bourgeoisie unberücksichtigt bleibt. Also darauf kommt es nicht an, daß die chemischen und mathematischen Wahrheiten wahr sind, sondern daß es außer diesen Wahrheiten auch noch andere gibt, die erst das richtige Licht auf jene werfen, und daß dadurch eine ganz andere Nuance herauskommt und die Wissenschaft auf einen breiteren wis­senschaftlichen Horizont, der eben kein bourgeoiser sein kann, gestellt wird. Nicht ob die Sachen wahr sind oder nicht, sondern was man von der Wahrheit haben will, darauf kommt es an. Und selbst auf die Qualität der Wahrheit färbt die Sache ab. Gewiß, die Chemieprofes­soren an den Universitäten werden nicht sonderliche Sprünge machen können, weil im Laboratorium der Chemieprofessor derjenige ist, der die Dinge kennt, der weiß, daß er selber am wenigsten denkt: da den­ken die Methoden. Aber sobald dasselbe Denken übergeht in die Ge­schichte, die Literaturgeschichte, in das, was überhaupt die Menschen heraushebt aus dem wirtschaftlichen Leben und erst in eine menschen­würdige Sphäre bringt, da geht es dann gleich los. Und die Geschich­te, die wir jetzt haben, ist nichts anderes als eine bürgerliche fable convenue, ebenso die Philosophie, und andere Wissenschaften. Nur ahnen das die Leute nicht, nehmen es als objektive Wissenschaft hin.

Da kann nur gesundendes Leben Platz greifen, wenn derwissenschaft­liche Betrieb seiner Selbstverwaltung zurückgegeben wird, kurz, wenn jene Dreigliedrigkeit eintritt, von der ich nun öfter gesprochen habe.

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Ich muß noch eine kleine Korrektur anbringen. Ich sagte neulich, als ich darauf aufmerksam machte, daß sich in Stuttgart für unseren Aufruf das deutsche Komitee gebildet hat, daß die Herren Dr. Boos, Molt und Kühn dieses Komitee bilden; ich wurde darauf aufmerksam gemacht, daß in Stuttgart auch unser Freund Dr. Unger in wesentli­cher Weise mitwirkt, und daß das nicht vergessen werden darf.

Nun habe ich heute gerade versucht, aus der Zeitgeschichte heraus Ihnen wiederum die Dinge zu beleuchten. Es liegt mir wirklich sehr am Herzen, daß unsere Freunde gerade vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus versuchen, immer tiefer und tiefer in das soziale Pro­blem einzudringen. Sie haben die Grundlagen dazu, um es zu verste­hen, und auf das Verständnis kommt es zunächst an. Wer in die heu­tige Zeitgeschichte hineinschaut, denkt nicht daran, daß man durch solch einen Aufruf und alles, was sich daran anschließt, auf einen Er­folg von heute auf morgen rechnen kann. Die in Zürich gehaltenen Vorträge werden ja, erweitert und durch konkrete einzelne Fragen ergänzt, demnächst als Buch erscheinen, so daß man das, was im Auf­rufe in ein paar lapidaren Sätzen enthalten ist, in aller Ausführlich­keit haben wird. Das Nächste ist, daß sich die Bewegungen, die heute Raubbau am sozialen Organismus treiben, erst einmal ad absurdum führen. Die müssen sich erst bis zur völligen Ratlosigkeit und bis zum Unglück entwickeln. Aber man muß zu rechter Zeit etwas schaffen, worauf dann zurückgegriffen werden kann, wenn das Alte sich selbst ad absurdum geführt hat. Deshalb ist es so unendlich notwendig, daß die Impulse, die einmal in Ihre Herzen gelegt worden sind, nicht wie­derum fallengelassen werden, sondern daß jeder von Ihnen, wo er nur kann, mitwerke an dem, was notwendig zu geschehen hat.

IV Historischer Materialismus, Klassenkampftheorie und Mehrwertlehre

#G189-1957-SE066 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

IV

Historischer Materialismus,

Klassenkampftheorie und Mehrwertlehre

#TX

In diesen Betrachtungen habe ich gesagt, wie im Laufe der Mensch­heitsentwicklung im unbewußten Innern der menschlichen Seele etwas ganz anderes vorgehen kann, als was mehr an ihrer Oberfläche offen­bar wird. Der Mensch kann glauben, er strebe diesem oder jenem nach, während in Wahrheit in den Tiefen seiner Seele Impulse walten, die auf ganz anderes hinzielen. Diese Wahrheit ist in unserer Zeit be­sonders bedeutungsvoll. Wir sehen heute eine ganze Menschenklasse ihr Wollen in einer bestimmten Richtung lenken. Gerade da kann man aber die Erfahrung machen, wie an der Seelenoberfläche, wo sich im Bewußtseinszeitalter das Bewußtsein entwickelt, etwas ganz anderes zutage tritt, als was unten in den Seelentiefen lebt, wo Impulse nach Verwirklichung streben, von denen heute im Bewußtsein eben noch nichts vorhanden ist.

Von drei Dingen wird das proletarische Bewußtsein heute ausge­füllt: erstens von der materialistischen Geschichtsauffassung; zweitens von der Anschauung, daß allem, was in der Welt vorgeht, bis jetzt in Wahrheit Klassenkämpfe zugrunde gelegen haben; von dem, was heute vor sich geht, wird geglaubt, es sei nur eine Spiegelung von Klassen-kämpfen. Das dritte ist die Mehrwertlehre, das heißt die Lehre von dem Mehrwert, der durch die unbezahlte Arbeitskraft der Arbeiter ent­steht, und der den Profit ausmacht, den der Arbeitgeber dem Arbeiter abnimmt, ohne daß dieser dafür entschädigt wird. Aus diesen drei Gliedern setzt sich im wesentlichen zusammen, was im Bewußtsein des Proletariats die Impulse entstehen läßt, aus denen die moderne so­ziale Bewegung ihre Kräfte schöpft.

Damit ist aber nur bezeichnet, was im Bewußtsein des Proletariats lebt. In den Seelentiefen der ganzen gegenwärtigen Menschheit, in den tieferen Seelenschichten auch des Proletariats, leben drei andere Dinge. Nur weiß die Welt von diesen drei anderen Dingen heute

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recht wenig. Die Welt strebt wenig nach Selbsterkenntnis und daher weiß sie nichts von dem, was eigentlich in den Seelentiefen nach ge­schichtlicher Verwirklichung strebt. Diese drei anderen Dinge sind:

erstens eine der neueren Zeit angemessene Durchdringung des geisti­gen Lebens, das, was man Geisteswissenschafl nennen kann. Das zwei­te ist Freiheit des Gedankenlebens, Gedankenfreiheit. Das dritte ist im echten und wahren Sinne Sozialismus. Nach diesen drei Dingen strebt auch das Proletariat; aber es weiß nichts davon. Und seine In­stinkte folgen den anderen drei Dingen, von denen ich gesagt habe, daß sie im Oberflächenteil des Seelenlebens, im eigentlichen Bewußt­sein, tatig sind.

Nun stellt sich gerade an diesem Unterschiede zwischen dem be­wußten proletarischen Streben und dem unterbewußten Impulse mit besonderer Deutlichkeit heraus, daß ein völliger Gegensatz zwischen diesen beiden ist. Nehmen Sie die materialistische Geschichtsauffas-sung. Sie ist hervorgegangen aus dem Materialismus der neueren Zeit überhaupt, der seit vier Jahrhunderten in der Menschheitsentwicklung heraufgestiegen ist. Dieser Materialismus hat sich zuerst bei den füh­renden Klassen der Menschheit auf dem Felde der Naturwissenschaft geltend gemacht, hat dann die Wissenschaft überhaupt ergriffen, und beim modernen Proletariat, das im Grunde genommen nur das Erbe der bürgerlichen wissenschaftlich orientierten Vorstellungsart über­nommen hat, hat er sich dann in die materialistische Geschichtsauffas-sung umgewandelt. Diese geht davon aus, daß alles geistige Leben ge­wissermaßen nur der Rauch ist, der aus den Vorgängen des Wirtschafts­lebens, aus all dem, was sich im Gebiete des ökonomischen Lebens der Menschheit abspielt, aufsteigt. Wirklich im geschichtlichen Verlaufe des Menschenlebens ist nur das, was im Gebiete der Warenerzeugung, der Produktion, des Handels, der Konsumtion vorgeht, und je nach­dem wie die Menschen in irgendeinem Zeitalter gewirtschaftet haben, je nachdem haben sie dies oder jenes religiös geglaubt, diese oder jene Kunstform gepflegt, das oder jenes als ihr Recht, ihre Sittlichkeit an-gesehen. Das geistige Leben ist im wesentlichen eine Ideologie, das heißt, es hat keine in ihm selbst liegende Wirklichkeit, es ist ein Spie­gelbild der draußen sich abspielenden Wirtschaftskämpfe. Freilich kann das, was die Menschen in ihre Vorstellungen aufgenommen ha­ben, was sie künstlerisch empfinden, was sie im sittlichen Wollen zum

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Ausdruck bringen, wiederum zurückwirken auf die Wirtschaftskämp­fe. Aber letzten Endes ist alles geistige Leben eine Spiegelung des äu­ßeren wirtschaftlichen Lebens. Das ist es, was man materialistische Ge­schichtsauffassung nennt. Wenn das menschliche Leben nur eine Spie­gelung von rein äußerlichen, materiellen wirtschaftlichen Kräften ist, und wenn hinzukommt, daß die Welt überhaupt nur Sinnliches ist, und die Gedanken der Menschen nur Sinnliches abspiegeln, wenn dann der Mensch nur in solchen Vorstellungen leben, nur das als wirk­lich empfinden will, was sich in der Sinnenwelt offenbart, dann ist dies eine Abkehr von allem wirklichen Geistesleben und bedeutet, daß der Mensch darauf verzichtet, einen selbständigen, in sich ruhenden Geist anzuerkennen.

So hat die neuere Zeit ihre Bemühung darauf gerichtet, immer mehr und mehr Beweise zusammenzutragen, um behaupten zu dürfen, daß es einen selbständigen, im Übersinnlichen lebenden Geist, ein Geistiges überhaupt, nicht gibt. Das spielt sich an der Oberfläche des menschli­chen Seelenlebens ab und macht im wesentlichen den Inhalt des neu­eren Bewußtseins aus, nachdem die Menschheit in das Zeitalter des Bewußtseins soeben eingetreten ist. In den alleruntersten Gründen des Seelenlebens aber strebt gerade die neuere Menschheit nach dem Geist. Sie hat - möchte man sagen - ein innerstes, tiefstes Bedürf­nis nach Geist. Ein Blick auf die Entwicklung der Menschheitsgeschich­te kann dieses bestätigen.

Wir schauten oftmals zurück auf die besondere Geistesart der ersten nachatlantischen, der indischen Kulturperiode und haben sie von den verschiedensten Gesichtspunkten aus charakterisiert. Was wir von ihr kennengelernt haben, wird dem, der unbefangen die Dinge anzu­schauen vermag, sagen können, daß das Geistesleben, wie es in der uralten, nur von der Geisteswissenschaft aufzufindenden indischen Kulturperiode existierte, auf den unbewußten Intuitionen beruht; wohl gemerkt: unbewußt; denn es handelte sich damals um ein atavi­stisches Geistesleben.

Gehen wir dann zum urpersischen Geistesleben weiter und suchen wir nach seinen Quellen, so werden wir finden, daß dieses persische Geistesleben aus unbewußten Inspirationen fließt.

Das ägyptisch-chaldäische Geistesleben ragt ja schon in die sogenann­ten historischen ägyptischen Zeiten herein. Wenn man die Geschichte

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unbefangen genug betrachtet, kann man schon darauf kommen, daß man es in der Wissenschaft der alten Ägypter und Chaldäer zu tun hatte mit unbewußten, aber in der Seele lebenden Imaginationen.

Nun kam das griechisch-lateinische Geistesleben. In ihm blieben die alten Imaginationen erhalten, durchdrangen sich jedoch mit Begriffen, mit Ideen. Das Wesentliche, was das griechische Leben auszeichnete, war, daß die Griechen als erste in der Menschheitsentwicklung dieses Element hatten, welches vor ihnen als seelischer Impuls nicht vorhan­den war. Die Griechen hatten bereits Ideen, Begriffe; das Genauere habe ich in meinem Buch «Die Rätsel der Philosophie» dargestellt. Aber alle Begriffe und Ideen der Griechen waren von Bildlichkeit, von Imaginationen durchzogen. - Das merkt man heute nicht, insbeson­dere wenn von jenem sonderbaren Griechentum die Rede ist, von dem unsere Gymnasial- und Universitätsbildung spricht. Wenn der Grieche zum Beispiel das Wort ,Idee' aussprach, so war das, was er dabei ins Seelenauge faßte, nichts so abstrakt Begriffliches, wie es uns heute vorschwebt, wenn wir das Wort Idee aussprechen. Der Grieche hatte bei dem Wort Idee die Vorstellung, daß vor ihm gewissermaßen etwas Visionäres schwebte, das aber doch deutlich in einen Begriff gefaßt war. Es war etwas Anschauliches. Idee ist zugleich Gesicht. Im Griechi­schen würde man von Ideologie nicht haben sprechen können, obwohl das Wort dem Griechischen nachgebildet ist; jedenfalls nicht so haben sprechen können, daß man dasselbe dabei empfunden hätte, was man heute empfindet, wenn man von Ideologie spricht; denn dem Griechen waren seine Ideen etwas Wesenhaftes, etwas vom Bilde Durchzogenes.

Nun ist das Eigentümliche, daß in unserer fünften nachatlantischen Zeit die Imaginationen für die Bewußtseinsseele verloren gegangen sind, und daß zunächst die Begriffe geblieben sind.

Unser neueres Geistesleben, aus dem alles Bildhafte herausgepreßt ist, so daß nur Abstraktionen geblieben sind, wird, bei aller seiner Nüchternheit und Trockenheit, von jenen Leuten, die gebildet sein wollen, ganz besonders geliebt. Die neuere Zeit lebt ja gewissermaßen von Abstraktionen und will alles auf irgendeinen abstrakten Begriff gebracht haben. Gerade in dem, was man bürgerlich praktisches Leben nennt, herrscht der abstrakte Begriff im allerumfänglichsten Sinne. Aber schon macht sich wiederum geltend - das charakterisiert gerade unsere Gegenwart und wird die nächste Zukunft charakterisieren -, daß

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die in den Tiefen schlummernden unterbewußten Impulse der menschli­chen Seelen wiederum nach Imaginationen streben. So daß man von der fünften Epoche sagen kann: Begriffe, die nach Imaginationen streben.

1. Urindische Kultur periode:

Unbewußte Intuitionen als Quelle des Geisteslebens

2. Urpersische Kultur periode:

Unbewußte Inspirationen als Quelle des Geisteslebens

3. Aegyptisch-chaldäische Kultur periode:

Unbewußte Imaginationen als Quelle des Geisteslebens

4. Griechisch-lateinische Kulturperiode:

Unbewußte Imaginationen mit Begriffen

5. Neue Zeit: Begriffe, die nach Imaginationen streben

Diesem Streben nach Imaginationen kommt unsere Geisteswissen­schaft entgegen. Nur weiß eben der weitaus überwiegende Teil der Menschheit noch nichts von dem, was in den Seelen unten vorgeht. Daher sieht man alles Geistesleben in den bloßen Begriffen und Vor­stellungen und fühlt sich mit diesen Vorstellungen ziemlich hilflos. Denn Begriffe als solche haben für sich keinen eigentlichen Inhalt. Und es ist eigentlich bisher das Schicksal der leitenden Kreise gewesen, daß sie immer mehr und mehr eine gewisse Vorliebe für das rein begriff­liche Denken entwickelt haben. Diese Vorliebe für rein begriffliches Denken erzeugte aber noch etwas anderes. Hilflos ist dieses rein be­griffliche Denken! Es erzeugt das Streben nach einer Anlehnung an diejenige Wirklichkeit, die man nicht ablehnen kann, weil sie sich eben den Sinnen anpaßt: an die äußere sinnliche Wirklichkeit. Dieser Glaube an die äußere sinnliche Wirklichkeit ist im wesentlichen ent­standen aus der begrifflichen Hilflosigkeit der modernen Menschheit.

Auf allen Gebieten des geistigen Lebens drückt sich diese Hilflosig­keit des Begriffslebens aus. In der Wissenschaft will man vor allen Dingen experimentieren, damit durch das Experiment irgendetwas herauskomme, was der Sinnenwelt sonst nicht gegeben ist; man kommt eben, wenn man bloß die Sinneswelt vorstellungsgemäß ver­arbeitet, über diese Sinneswelt nicht hinaus; denn die Begriffe selbst enthalten keine Realität. In der Kunst gewöhnt man sich immer mehr und mehr daran, das Modell nachzuahmen, sich nur an das äußere Objekt zu halten. In der Kunst ist es bisher das Schicksal der leitenden

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Kreise der Menschheit gewesen, immer mehr und mehr im bloßen Studium der äußeren sinnlichen Wirklichkeit aufzugehen. Die Fähig­keit, aus dem Geiste heraus zu schöpfen und das Geistige durch die Mittel der Kunst darzustellen, ging mehr und mehr verloren. Man strebt nur nach Naturalismus, nach einer Nachahmung dessen, was die Natur als solche in der Außenwelt darstellt, weil aus dem abstrakten Geistesleben nichts hervorquillt, was selbständig für sich gestaltet werden kann.

Betrachten Sie die Entwicklung der neueren Künste, so werden Sie das überall bewahrheitet finden. Diese strebten immer mehr und mehr nach Naturalismus hin, nach einer Darstellung dessen, was man äu­ßerlich sieht und wahrnimmt. Das gipfelte zuletzt in dem, was man Impressionismus nennt. Diejenigen, die vor dem Impressionismus künstlerisch gestrebt haben, versuchten, irgendein äußeres Objekt in der Kunst wiederzugeben. Dann kamen solche, die aus alledem die letzten Konsequenzen zogen und sagten: Wenn ich nun wirklich einen Menschen vor mir habe oder einen Wald, und ich diesen Menschen oder diesen Wald male, so gebe ich ja gar nicht meinen Eindruck wie­der; denn in dem Augenblicke, wo ich vor dem Wald stehe, da be­scheint ihn die Sonne in einer gewissen Weise, aber nach wenigen Au­genblicken ist die Sonnenbeleuchtung eine ganz andere. Was soll ich denn eigentlich festhalten, wenn ich naturalistisch sein will? Ich kann ja gar nicht festhalten, was mir die Außenwelt zeigt, denn sie zeigt ja alle Augenblicke ein anderes Gesicht. Ich will einen Menschen malen, der lächelt, - aber das nächste Mal macht er ein griesgrämiges Ge-sicht! Was soll ich nun eigentlich malen? Soll ich über das lächelnde das griesgrämige Gesicht darüber setzen? Wenn ich äußere Objekte in ihrem zeitlichen Bestand darstellen wollte, so müßte ich schon die Ob­jekte selber zwingen. Naturobjekte lassen sich nicht zwingen, aber die menschlichen Objekte müßte man schon zwingen, wenn sie Modell sitzen, möglichst die Pose des Ausdrucks zu behalten. Dann aber ma­chen sie, wenn man die Natur nachzuahmen versucht, den Eindruck, als ob sie vom Starrkrampf befallen wären. So geht es also nicht. -Daher wurden sie Impressionisten; sie wollten nur den unmittelbaren vorübergehenden Eindruck festlegen. Dann kann man aber nicht mehr ganz naturalistisch sein, sondern muß schon allerlei Mittel an­wenden, durch die man nicht die Natur nachahmt, sondern den Schein

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hervorruft, den die Natur in einem bestimmten Augenblicke als Of­fenbarung auf einen macht. Und nun entstand eine Klippe: man wollte, um recht naturalistisch zu sein, impressionistisch werden, und siehe da, man konnte im Impressionismus nicht mehr naturalistisch bleiben! Jetzt wendete sich das Ganze um. Einige versuchten, nicht mehr Impressionen zu geben, nicht mehr den äußeren Eindruck fest­zuhalten, sondern gerade das, was in ihrem Inneren aufstieg, und soll­te es noch so primitiv sein; man suchte das Innere festzuhalten. Diese wurden Expressionisten.

Denselben Gang könnten wir auf dem Gebiete des sittlichen, ja so­gar des Rechtslebens darlegen; überall entspringt das Streben einer Vorliebe für das abstrakte Geistesleben. Man muß nur die Entwick­lung der neueren Menschheit richtig ansehen, dann wird man schon darauf kommen, daß überall dieses Streben nach Abstraktion darin enthalten ist. Was ist beim modernen Proletariat daraus geworden? Als dieses an die Maschine gestellt wurde, eingespannt wurde in den seelenlosen modernen Kapitalismus, war es eben mit seinem ganzen Schicksal nur an das Wirtschaftsleben gebunden. Dieselbe Vorstellungs-richtung, welche die Angehörigen der bürgerlichen Kreise zum Natu­ralismus in der Kunst gebracht hat, brachte das Proletariat zu der Lehre, die sich in der materialistischen Geschichtsauffassung ausdrückt. Überall hat eben das Proletariat die letzten Konsequenzen gezogen aus dem, was sich innerhalb der bürgerlichen Kreise ausgebildet hatte, diese letzten Konsequenzen, vor denen die bürgerlichen Kreise so furchtbar zurückschaudern.

Wie hat man es innerhalb der bürgerlichen Kreise mit dem Religiö­sen gehalten? Früher hatte man wenigstens atavistisch dunkle Vor­stellungen von dem Christus-Mysterium. Man hatte eine Ahnung dar­über ausgebildet, daß man aus dem abstrakten Geistesleben heraus sich keine Vorstellung mehr machen kann, wie in dem Jesus der Chri­stus gelebt hat. So beschränkte man sich auf das, was sich im Beginne der christlichen Entwicklung innerhalb der Sinneswelt abgespielt hat, auf die bloße Jesulogie. Der Christus wurde mehr und mehr als Mensch betrachtet, während der Christus, der der übersinnlichen Welt angehört, dem Blickfeld der Menschen immer mehr entschwand. Das abstrakte Seelenleben fand keinen Weg zu dem Christus, begnügte sich mit dem Jesus. Was machte das proletarische Bewußtsein daraus?

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Es sagte sich: Wozu brauchen wir dann überhaupt noch eine besondere religiöse Anschauung über den Jesus? Die Bürgerlichen haben ja den Jesus bereits zu dem schlichten Mann aus Nazareth gemacht. Wenn Jesus der schlichte Mann aus Nazareth ist, dann ist er selbstverständ­lich unseresgleichen. Wir sind abhängig vom Wirtschaftsleben, warum soll Jesus nicht vom Wirtschaftsleben abhängig gewesen sein? Hat man da noch ein Recht, ihm eine besondere andere Mission zuzu­schreiben, ihn den Begründer eines ganz neuen Menschheitszeitalters zu nennen, da er ja doch nur der schlichte Mann aus Nazareth ist, der eben seinerzeit aus den wirtschaftlichen Vorgängen heraus, in die er versetzt war, seine Lehre verkündet hat? Die wirtschaftlichen Vor­gänge zur Zeit der Begründung des Christentums muß man studieren und die Art und Weise wie ein schlichter Handwerker, der dem Hand­werk entlaufen ist, im Herumziehen allerlei Ideen entwickelt hat im Sinne der Wirtschaftsordnung des damaligen Palästina. Daraus wird man dann ersehen, warum der Jesus gerade das behauptet hat, was er behauptet hat. Letzte Konsequenz der modernen protestantischen Theologie ist eben die materialistische Jesus-Lehre, die für das mo­derne Proletariat und den Menschen keine tragende Kraft mehr hat.

Die Gedankenfreiheit, die innerliche Gedankeninitiative, ist nun wiederum etwas, wonach das unterbewußte tiefere Seeleninnere der modernen Menschheit strebt. Das, was auf der Oberfläche des Seelen­lebens im Bewußtsein lebt, macht sich vor, daß es gerade nach dem Gegenteile zu streben habe, und strebt auch nach dem Gegenteile. Da­her rumort das Unterbewußte in einer radikalen Opposition, die eben in unseren furchtbaren Gegenwartskämpfen zum Ausdruck kommt. Autoritätsfrei wollten die leitenden bürgerlichen Kreise der neueren Zeit werden. Sie sind hineingeplumpst in alle möglichen Ar­ten von Autoritätsglauben. Vor allen Dingen sind sie hineingeplumpst in einen blinden Autoritätsglauben gegenüber allem, was in die Sphä­re des Staates gehört, der für das Bürgertum die höchste Autorität ge­worden ist. Was steht denn für dieses moderne Bürgertum höher als das ,fachmännische Urteil'? Der Mensch frägt nach dem fachmänni­schen Urteil in allen Dingen auch seines äußeren Lebens. Wer abge­stempelt mit dem Diplom der Universität in das Leben hinaustritt, der weiß die Dinge. Wenn er ein Theologe ist, frägt man ihn mit Be­zug auf das, was Gott mit der Menschheit vorhat. Man frägt ihn mit

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Bezug auf das, was im Menschenleben Recht ist, wenn er ein Jurist ist; man frägt ihn, was dem Menschen Heilung bringen kann, wenn er ein Mediziner ist, und man frägt ihn über alle möglichen Dinge der Welt, wenn er aus irgendeiner Ecke der philosophischen Fakultät heraus kommt. Die modernen Philosophen haben immer gelächelt, wenn ihr Blick auf ein Buch des ehrwürdigen Philosophen der vorkantischen Zeit, des Wolf, fiel. Dieses Buch trägt den Titel: «Vernünftige Ge­danken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt». Über ein solches Buch lächelt man. Aber daß in den geistigen Laboratorien, die der Staat für seine Bürger errichtet hat, der ganze Inhalt der menschlichen Vernunft gebraut werde, daran glauben die leitenden Kreise der neueren Zeit mit aller Festigkeit. Diese leitenden Kreise haben ja keineswegs danach gestrebt, daß jeder sein eigenes Bewußtsein habe, sondern sie haben danach gestrebt, das Bewußtsein zu uniformieren, es so einzurichten, daß es im Grunde im weitesten Sinne ein Staatsbewußtsein ist. Das moderne Bewußtsein ist viel mehr ,Staatsbewußtsein' geworden, als die Menschen eigentlich glauben. Die Menschen denken sich den Staat als ihren Gott, der ihnen alles gibt, was sie brauchen. Sie brauchen sich nicht weiter mit den Dingen zu beschäftigen, denn der Staat sorgt ja dafür, daß alle vernünftigen Zweige des Lebens geregelt werden.

Ausgeschlossen von dem Staatsleben war das Proletariat mit Aus­nahme der paar Gebiete, zu denen man es in demokratischen Staats-gebilden zugelassen hat. Das Proletariat war selbst mit dem, was den ganzen Menschen nach sich zieht, mit seiner Arbeitskraft, in das Wirt­schaftsleben eingespannt. Darum zog es nun wiederum nur für sein Leben die letzte Konsequenz. Der moderne bürgerliche Mensch hat ein Staatsbewußtsein, und wenn er das auch nicht immer zugibt, so macht er doch sehr gerne Staat mit diesem Staatsbewußtsein. Man braucht wahrhaftig nicht bloß auf seine Karten drucken zu lassen:

«Reserveleutnant und Professor», um mit dem Staatsbewußtsein Staat zu machen; man kann es in ganz anderer Form tun. Aber das Prole­tariat hatte kein Interesse am Staat. Es war in das Wirtschaftsleben eingespannt. Sein Fühlen wurde nun auch wiederum die letzte Kon­sequenz des bürgerlichen Fühlens, aber entsprechend seinem Leben. Sein Bewußtsein wurde das Klassenbewußtsein des Proletariats. Und so sehen wir, weil diese proletarische Klasse nichts zu tun hat mit dem

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Staate, dieses Klassenbewußtsein auf Internationalismus gebaut. Zu dem modernen Staate konnte nur der Bürgerliche hinneigen, weil der moderne Staat für den Bürgerlichen sorgt, und der Bürgerliche für sich gesorgt haben will. Der Staat aber sorgte nicht für den Proleta­rier. Der fühlte sich in der Welt drinnenstehend nur insofern er seiner Klasse angehörte. Und die Entstehung der proletarischen Klasse ist durch alle Staaten in der gleichen Art vor sich gegangen. Daher bil­dete sich dieses internationale Proletariat heraus, welches sich im be­wußten Gegensatz zu dem fühlte, was bürgerlich war, und was mit derselben Kraft des Bewußtseins nach dem Staate und nach den Staatsfaktoren hinstrebte. Und es entstand eine außerordentlich sug­gestive Ausbildung dieses Klassenbewußtseins im Proletariat in der modernen Zeit. Ich weiß nicht, wieviele von Ihnen proletarische Ver­sammlungen besucht haben. Wie schlossen denn diese proletarischen Versammlungen immer? Sie schlossen immer damit, daß man in pro­letarischer Konsequenz das nachgemacht hat, was durch so viele bür­gerliche Veranstaltungen aus bürgerlichen Interessen heraus angege­ben wurde! Womit schloß oder begann man zum Beispiel in Mittel­europa die bürgerlichen Versammlungen? Mit dem Kaiserhoch! Jede Proletarier-Versammlung schloß: «Es lebe die internationale revolu­tionäre Sozialdemokratie!» Man muß nur bedenken, was für eine un­geheure suggestive Kraft dieses von Woche zu Woche vom Proletarier gehörte Wort bedeutet, und wie das ein Einheitsbewußtsein durch die Massen treibt, so daß jede Gedankenfreiheit selbstverständlich ausge­trieben wird. Das saß fest in der Seele. Es gab ja, wenn es auch immer seltener wurde, in früheren Zeiten von Bürgerlichen einberufene Ver­sammlungen, zu denen auch Sozialdemokraten eingeladen wurden. Der Vorsitzende sagte dann am Schluß: Ich bitte die Herren Sozial­demokraten zuerst hinauszugehen, denn ich werde jetzt die Versamm­lung auffordern, sich von den Sitzen zu erheben und das Kaiserhoch auszubringen. Es hat in früheren Zeiten proletarische Versammlungen gegeben, bei denen Bürgerliche zu den Diskussionen zugelassen waren. Der proletarische Vorsitzende hat am Schluß gesagt: Ich bitte die Her­ren der bürgerlichen Klasse sich jetzt hinauszubegeben, denn es wird das Hoch auf die internationale revolutionäre Sozialdemokratie aus-gebracht. So wurde das zusammengeschweißt, was die Seelen als das sie uniformierende Klassenbewußtsein durchzog. Das Gegenteil von

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dem, was gerade in den Herzen tiefer unten sitzt, das Gegenteil von der Sehnsucht nach individueller Gedankenfreiheit, nach einer indivi­duellen Formung des Bewußtseins! Das ist das zweite.

Das dritte, was in den Tiefen der modernen Seele nach Verwirkli­chung drängt, ist der Sozialismus, der einfach dadurch zu kennzeich­nen ist, daß man sagt: die moderne Seele strebt im Zeitalter des Be­wußtseins dahin, daß der einzelne sich in dem sozialen Organismus darinnenstehend fühlen kann. Man will den sozialen Organismus als solchen begründen, man will sich als Glied dieses sozialen Organismus fühlen. Das heißt, man will sich von einem solchen Bewußtsein durchdringen, daß man immer die Empfindung hat: Was ich tue, tue ich so, daß ich weiß, wieviel Anteil der soziale Organismus an mir hat, und wie ich wiederum Anteil habe an dem sozialen Organismus. Der Mensch lebt ja im sozialen Organismus. Aber, wie gesagt, heute ist die Empfindung für den sozialen Organismus nur erst in den un­terbewußten Seelenregionen vorhanden.

Wenn heute ein Maler ein Bild malt, wird er mit Recht sagen: die­ses Bild muß mir bezahlt werden, denn ich habe meine Kunst in die­ses Bild hineingelegt. Was ist seine Kunst? Seine Kunst ist etwas, was die Gesellschaft, was der soziale Organismus ihm erst möglich gemacht hat! Gewiß, seine künstlerischen Fähigkeiten hängen von seinem Kar­ma, von seinen früheren Erdenleben ab; aber daran glauben ja die Leute heute nicht, wobei sie sich freilich einer Selbsttäuschung hin­geben. Aber insofern wir den Anteil außer Acht lassen, den unsere durch die Geburt aus höheren Regionen herabsteigende Individualität uns an unserem Können gibt, insofern sind wir ja in dem, was wir können, ganz abhängig von dem sozialcn Organismus. Der moderne Mensch beachtet das aber nicht in seinem Bewußtsein, und so ist statt des sozialen Empfindens im Bewußtsein seit vier Jahrhunderten zu­nächst immer mehr und mehr eine egoistische, antisoziale Denkart entstanden; die antisoziale Denkart, die sich namentlich darinnen aus­drückt, daß jeder Mensch zunächst an sich denkt und so viel als mög­lich herauszubekommen sucht aus dem sozialen Organismus. Das Ge­fühl, dem sozialen Organismus alles wieder zurückgeben zu müssen, was man von ihm bekommen hat, das haben heute die wenigsten. Ge­rade in den leitenden bürgerlichen Kreisen ist mit Bezug auf das Gei­stesleben allmählich der denkbar größte Egoismus entstanden, der

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Egoismus, der den bloßen geistigen Genuß als etwas besonders Be­rechtigtes ansieht für den Menschen, der ihn sich verschaffen kann. Man hat aber keinen Anspruch auf geistigen Genuß, der einem durch den so­zialen Organismus bereitet wird, wenn man nicht an dem Orte, an den man gestellt ist, dem sozialen Organismus ein entsprechendes Äquiva­lent wiederum zurückgeben will. Das muß man sich klar machen.

Nun hat das Proletariat, das ja nicht hat teilnehmen dürfen an dem geistigen Teil des sozialen Organismus, sondern das im Wirt­schaftsleben und in dem seelenlosen Kapitalismus eingespannt ist, wie­der nur die letzte Konsequenz dieses bürgerlichen Egoismus gezogen in der Mehrwertlehre. Der Arbeiter sieht: er produziert ja eigentlich das, was in der Fabrik, an der Maschine hergestellt wird; also will er auch haben, was dafür einkommt. Er will nicht, daß ein Teil davon abgezogen wird und an einen anderen Ort geht. Und weil er nichts anderes sieht, als den Kapitalisten, der ihn an die Maschine stellt, so glaubt er selbstverständlich, daß aller Mehrwert an den Kapitalisten geht und er sich zunächst kämpfend gegen den Kapitalisten wenden müsse. Objektiv betrachtet, steckt natürlich in dem, was dem sogenann­ten Mehrwert entspricht, noch etwas ganz anderes. Was ist Mehrwert? Mehrwert ist alles das, was durch Handarbeit produziert wird, ohne daß diese Handarbeit dafür eine Entschädigung bekommt. Stellen Sie sich vor, es gäbe keinen Mehrwert, und alles würde dem Handwerker für seine unmittelbaren Bedürfnisse zufließen. Dann gäbe es selbst­verständlich keine geistige Kultur, überhaupt keine weitere Kultur! Es gäbe nur Wirtschaftsleben, es gäbe überhaupt nur das, was durch Handarbeit zutage gefördert werden kann! Es kann sich daher gar nicht darum handeln, daß der Mehrwert der Handarbeit zufließt, son­dern nur darum, daß der Mehrwert in einem Sinne, mit dem der Hand­werker einverstanden sein kann, verwendet werde. Das wird aber nur geschehen, wenn man Verhältnisse schafft, in denen der Handarbeiter Verständnis haben kann für die Wege, welche der Mehrwert nimmt.

Hier berührt man den Punkt, wo von der bürgerlichen Ordnung der neueren Zeit am meisten gesündigt worden ist. Man hat die Ma­schinen, die Fabriken begründet. Man hat Handel getrieben, das Ka­pital in Zirkulation gebracht, den Arbeiter an die Maschine gestellt und ihn so in die kapitalistische Wirtschaftsordnung eingespannt. Da soll er arbeiten. Aber man ist gar nicht auf die Idee gekommen, daß

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etwas anderes vom Arbeiter benötigt wird als seine Arbeitskraft. In einem gesunden sozialen Organismus muß vom Arbeiter nicht nur die Arbeitskraft gebraucht werden, sondern auch die Ruhe, das, was ihm an Kraft übrigbleibt, wenn er gearbeitet hat. Und nur diejenigen Ka­pitalisten sind eigentlich berechtigt, welche ein ebenso großes Interesse haben an der ersparten Arbeitskraft des Proletariers, wie sie ein In­teresse haben an der wirtschaftlichen Verwendung dieser Arbeitskraft. Diejenigen Kapitalisten haben nur eine Berechtigung, die dafür sor­gen, daß der Arbeiter nach einer bestimmten Arbeitszeit irgendwie an das herankommen kann, was allgemein menschliches, geistiges und sonstiges Bildungsgut ist.

Dazu muß man dieses Bildungsgut erst haben. Die bürgerliche Ge­sellschaftsklasse hatte dieses Bildungsgut entwickelt; daher konnte sie gut allerlei populäre Bildungsanstalten begründen. Was hat man nicht alles geschaffen an solchen Volksküchen des geistigen Lebens! Was ist nicht auf diesem Gebiete alles gegründet worden! Aber wel­ches Gefühl mußten diese Volksküchen des geistigen Lebens bei dem Proletarier erwecken? Kein anderes, als daß ihm da die Bürgerlichen etwas abgeben, was sie unter sich ausgekocht haben. Da hatte er na­türlich das Mißtrauen: aha, die wollen mich bürgerlich machen, indem sie mir ihre Milch der frommen Denkungsart da in der Volksküche einflößen! Diese ganzen bürgerlichen Wohlfahrtsbewegungen sind vielfach Schuld an den Tatsachen, die heute so schreckhaft an dem Ho­rizont des sozialen Lebens auftauchen. Das, was heute auftritt, stammt eben aus viel ernsteren Untergründen als man gewöhnlich meint. Den Mehrwert will ich haben! - das ist das egoistische Prinzip, das als letzte Konsequenz des bürgerlichen Egoismus, der nun auch den Mehr-wert haben wollte, erscheint. Wiederum zieht das Proletariat die letzte Konsequenz. Und statt des in den Untergründen der Seelen schlummernden wahren Sozialismus, erscheint auf der Oberfläche des Seelenlebens, im Bewußtsein, die Mehrwertlehre, die im eminentesten Sinne antisozial ist; denn jeder, der den Mehrwert einheimsen will, will ihn zur Befriedigung seines Egoismus einheimsen.

So haben wir heute einen Sozialismus, der nicht sozialistisch ist, so wie wir heute ein Streben nach einem Bewußtseinsinhalt haben, der kein Bewußtseinsinhalt ist, sondern das Ergebnis des wirtschaftlichen Zusammenhanges einer Menschenklasse, und der sich ausdrückt im

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Klassenbewußtsein des Proletariats. Und so haben wir heute ein Gei­stesstreben, welches den Geist verleugnet und seine letzte Konsequenz gefunden hat in der materialistischen Geschichtsauffassung.

Diese Dinge müssen durchschaut werden; sonst versteht man die Gegenwart nicht. Und wie wenig waren die bürgerlichen Kreise ge­neigt, nach dieser Richtung hin wirklich ein Durchschauen der Ver­hältnisse auszubilden, wie wenig sind sie noch heute, nachdem die Tat­sachen so deutlich, so brennend gesprochen haben, geneigt, sich dieses Bewußtsein anzueignen! Es wird auf keinem anderen Wege möglich sein, an Stelle des heutigen antisozialen Strebens im Proletariat ein wirklich soziales Streben herauszubringen, als daß man versucht, das Wirtschaftsleben auf seine gesunde, selbständige Basis zu stellen als ein Glied des sozialen Organismus, das seine eigene Gesetzgebung und seine eigene Verwaltung hat, in das der Staat sich nicht hineinmischt. Mit anderen Worten, es muß angestrebt werden, daß der Staat auf keinem Gebiete selbst Wirtschafter ist. Dann kann sich das, was in den Tiefen der Menschenseelen ersehnt wird, wirklicher Sozialismus im Wirtschaftsleben, ausbilden. Und es muß angestrebt werden, daß von diesem Wirtschaftsleben das Leben des eigentlichen politischen Staates abgesondert wird, der nun seinerseits weder Anspruch erhebt auf das Wirtschaftsleben, noch auf das eigentliche Geistesleben, Kul­turleben, Schulleben und so weiter. Wenn dieses Staatsleben keine An­sprüche macht nach beiden Seiten hin, sondern das bloße Rechtsleben verkörpert, dann bringt es zum Ausdruck, was hier in der physischen Welt das Verhältnis begründet von Mensch zu Mensch, jenes Verhält­nis, das alle Menschen vor dem Gesetze gleich macht. Nur ein solches Staatsleben kann eine wirkliche Freiheit des Gedankens entwickeln.

Als ein drittes Glied des gesunden sozialen Organismus muß sich das auf sich gestellte Geistesleben ausbilden, das auch aus der Wirk­lichkeit des Geistes heraus schöpfen kann, das zu wirklicher Geistes­wissenschaft vordringen muß.

Was in den Tiefen der Menschenseelen heute erstrebt wird, ist schon der gesunde soziale Organismus, der aber dreigliederig sein muß.

So kann man die Dinge betrachten, wie wir sie heute betrachtet ha­ben, und Geisteswissenschaft soll auch in diesem Sinne ernst und tief genommen werden, nicht als etwas, das man nur so wie eine Sonntag­nachmittagspredigt hinnimmt; denn das ist bürgerlich. Bürgerlich ist

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es, neben seinem Wirtschaftsleben, das man zur Not nur für einen kleinen Kreis selbst besorgt, wenigstens zu besorgen glaubt, und ne­ben dem Staatsleben, für das man den Staat sorgen läßt, auch so ein bißchen Geistesleben zu entwickeln, indem man zum Pfarrer geht, oder sich der Theosophie widmet oder dergleichen. Es ist gut bürger­lich. Und in eminent bürgerlicher Weise hat gerade die theosophische Bewegung das Geistesleben in der neueren Zeit hingestellt. Man kann sich nichts Bürgerlicheres denken als diese moderne theosophische Be­wegung. Sie ist so recht aus den Bedürfnissen des Bürgertums als eine sektiererische Geistesbewegung hervorgewachsen. Das war der Kampf, seitdem wir versucht haben, aus dieser theosophischen Bewegung et­was herauszuarbeiten, was durchdrungen sein sollte vom modernen Menschheitsbewußtsein und in die Menschheit als Bewegung hinein­gestellt werden sollte. Immer war der Widerstand des bürgerlichen sektiererischen Elementes da, das tief verankert ist im Oberflächenteil der menschlichen Seele. Aber man muß über das hinauskommen; das anthroposophische Streben muß als ein solches erfaßt werden, welches von der Zeit gefordert wird, welches uns nicht kleine, sondern große Interessen geben soll, uns nicht bloß dazu anleiten soll, uns in kleinen Zirkeln zusammenzusetzen und Zyklen zu lesen. Das ist ja gut, wenn man Zyklen liest, ich bitte Sie, jetzt durchaus nicht daraus die Schluß­folgerung zu ziehen, daß man in der Zukunft keine Zyklen lesen soll; aber man soll nicht dabei stehen bleiben. Man soll, was in den Zyklen steht, wirklich ins Menschenleben einführen, indem man zunächst das Verhältnis zum Bewußtsein der neueren Zeit sucht. Lesen wir also erst recht Zyklen, und wir werden dann schon sehen, daß das, was in den Zyklen enthalten ist, auch wirklich in unsere Lebenskraft übergeht! Dann wird das die beste soziale Nahrung für die in der Gegenwart strebenden Seelen sein. Denn so ist schon alles gedacht, und so ist schließlich auch unser Bau gedacht, namentlich in dem, was künstle­risch mit ihm angestrebt wird. Er ist gedacht durchaus im Sinne der neueren Zeit, und er kann in einer anderen als in dieser Art in der Gegenwart ganz und gar nicht gedacht werden. Ich weiß nicht, ob Sie sich schon überlegt haben, wie gerade dieser Bau auch in sozialer Beziehung ein Produkt der allerallerneuesten Zeit ist, und wie es zu ihm gehört, daß man auch im Sinne dieser allerallerneuesten Zeit strebt. Denken Sie sich doch einmal: ein Bau, dessen Inneres gar kei­nen

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Zweck hat, von dem wenigstens ein größerer Teil des Inneren gar keinen Zweck hat, wenn er für sich selbst dastehen soll! Er muß im Zusammenhange mit der ganzen übrigen Weltordnung stehen, wenn er überhaupt einen Sinn haben soll; selbst bei Tag würde es da oben in der Kuppel stockfinster sein, die finsterste Nacht würde herrschen, wenn nicht von außen das elektrische Licht hineinkäme! Ganz ange­wiesen auf das, was draußen geschieht, ist dieser Bau, er ist so recht aus dem Allerallerneuesten herausgeboren. Daher muß er sich auch im Zusammenhange entwickeln mit dem, was die allerneueste Zeit jetzt auch innerlich, nicht an der Oberfläche der Seele, gerade als Gei­stiges anstreben muß.

So könnten Sie sich vieles überlegen, was mit diesem Bau im Zu­sammenhang steht. Der Bau ist schon ein Repräsentant des modern­sten Geistesleben und wird nur dann richtig verstanden, wenn man den Gedanken zu fassen vermag, daß er wie eine Art Kometenstern ist, der aber einen Schwanz nachziehen muß. Der Schwanz besteht darinnen, daß nun wirklich, was gefühlsmäßig von der Anthroposo­phie ausstrahlt, in den Menschenseelen lebt. Aber es möchte leicht ge­schehen, daß viele sich zu diesem Bau ähnlich stellen, wie sich manche Katholiken zur modernen Astronomie gestellt haben, gerade führende Katholiken, als die Astronomie die Kometen zu gewöhnlichen Welten-körpern gemacht hat, während sie vorher als Zuchtruten galten, die von irgendeinem sinnlich gedachten Geist zum Himmelsfenster her­ausgehalten werden. Als die Zeit kam, wo die katholisch orientierten Führer nicht mehr ableugnen konnten, daß es mit den Kometen eine ähnliche Bewandtnis habe wie mit den anderen Himmelskörpern, er­fanden sie jedoch ein Auskunftsmittel. Einige ganz Gescheite sagten:

Nun ja, der Komet besteht aus dem Kern und aus dem Schwanz; für den Kern können wir nicht ableugnen, daß er ein Himmelskörper ist wie ein anderer, aber der Schwanz ist es nicht, der hat noch denselben Ursprung, den man früher angenommen hat! - So könnte es auch sein, daß die Menschen das Bewußtsein bekommen: Nun ja, den Bau wollen wir noch gelten lassen; aber all die vertrakten Empfindungen, die sich an den Bau als Schwanz angliedern sollen, von denen wollen wir nichts wissen! Aber dieser Bau gehört als ein Komet mit seinem Schwanz zusammen, und es wird notwendig sein, daß alles, was mit ihm in Verbindung steht, auch mit ihm in Verbindung empfunden wird!

V Abwege der modernen Bewußtseinsentwicklung. Fichte und Lenin

#G189-1957-SE082 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

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Abwege der modernen Bewußtseinsentwicklung.

Fichte und Lenin

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Wir haben gestern wiederum von einer bestimmten Seite her in die soziale Bewegung der Gegenwart einzudringen versucht. Den Gegen­stand unserer Betrachtung bildete die Tatsache, daß man gerade in der Gegenwart, um eine Bewegung innerhalb der Menschheit überhaupt zu verstehen, sorgfältig unterscheiden muß zwischen dem, was an der Oberfläche der Seele im gewöhnlichen Bewußtsein vorgeht, und dem, was auf der anderen Seite sich in der Tiefe der Seele, in den unterbe­wußten Regionen abspielt. Da haben wir drei Impulse der modernen proletarischen Bewegung ins Auge gefaßt: zunächst die sogenannte materialistische Geschichtsauffassung; dann haben wir uns angesehen, was der Proletarier von seinen Führern gelernt hat, was er versteht unter der Klassenkampf-Bewegung, die allem geschichtlichen Gesche­hen zugrunde liegen soll; und dann haben wir unser Augenmerk auf die sogenannte Mehrwert-theorie gerichtet, die so tief einschneidend in den Proletarierseelen gewirkt hat. Das sind die Dinge, die an der Oberfläche des Seelenlebens des modernen Proletariers liegen. In den Tiefen unten wühlt und west etwas ganz anderes. Während sich der moderne Proletarier einer Täuschung hingibt, indem er sich sagt: alles geschichtliche Werden ist nur eine Spiegelung der rein wirtschaftlichen Vorgänge, die das geistige Leben wie einen Rauch nach der Oberfläche schicken -, lechzt er eigentlich mit der ganzen modernen Menschheit nach einer gewissen geistigen Erkenntnis der Welt. Aber er weiß noch nichts davon, daß eigentlich die unterbewußten Tiefen seiner Seele nach geistiger Erkenntnis lechzen. Gerade das, was so in den unterbe­wußten Regionen des Seelenlebens vorgeht und sich an der Oberflä­che durch etwas ganz anderes maskiert, das rumort dann oftmals in den allerwildesten Instinkten. Ebenso weiß der moderne Proletarier nicht, wenn er das Wort Klassenkampf ausspricht, daß er dadurch nur zu maskieren versucht, was ebenfalls die Seelentiefen der modernen

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Menschheit wie eine tiefe Sehnsucht erfüllt: der Impuls nach Ge­dankenfreiheit. Auf dem Wege vom Unterbewußten zum Bewußten verkehrt sich das Streben nach Gedankenfreiheit in sein Gegenteil. Das allerintensivste Leben in einem ganz autoritativen Element, dem bloßen Klassenbewußtsein, hat zu seinem Untergrunde eigentlich das Streben nach Gedankenfreiheit. Und der wirkliche Sozialismus, nach dem unsere Zeit in ihren Tiefen hinstrebt, drückt sich in dem aus, was eigentlich das Gegenteil des Sozialismus ist: in dem Streben, egoistisch allen Mehrwert einzuheimsen.

Wer dieses Geheimnis der gegenwärtigen proletarischen Bewegung nicht versteht, kommt den sozialen Impulsen der Gegenwart doch nicht nahe. Nachdem wir uns dies gestern vor unsere Seele geführt haben, wollen wir heute einige dazugehörige Wahrheiten ins Auge fassen.

Für den, der tiefer hineinschauen will in die wirklichen Vorgänge, entsteht ein ganz anderes Verhältnis zu einer weltgeschichtlichen Be­wegung, als für den, der nur die Oberfläche betrachtet. Der radikalste Ausdruck der gegenwärtigen sozialen Bewegung ist nun der Bolsche­wismus, der mehr eine soziale Methode ist und inhaltlich nichts ande­res als das, was auch sonst der radikale Sozialismus, wie er sich nennt, in sein Wollen aufgenommen hat. Wer Geschichte nicht theoretisch, sondern der Wirklichkeit gemäß betrachtet, sucht vor allen Dingen zu verstehen, wie sich gewisse Strömungen im Weltenwerden der Mensch­heit gerade in ihren radikalsten Ausgestaltungen offenbaren; denn an den radikalen Ausgestaltungen kann man oftmals das am besten er­kennen, was sich da, wo weniger Radikalismus herrscht, häufig ver­birgt, trotzdem es nicht weniger wirksam ist. Man muß schon, wenn man diese historische Schlußfolgerung des Bolschewismus, die die Ge­schichte selbst in den schreckenerregenden Tatsachen heute gezogen hat, verstehen will, sich ein wenig im neueren Geschichtsleben umsehen.

Auf die Frage: Wer ist denn eigentlich Bolschewist? - wird man heute mit verschiedenen Namen antworten. Die immer wiederkehren­den Namen sind Lenin und Trotzki. Aber ich will Ihnen einen dritten Bolschewisten nennen, bei dessen Nennung Sie vielleicht ein wenig er­staunt sein werden, der aber doch, ich kann es nicht anders sagen, von einem Gesichtspunkte aus ein echter Bolschewik ist, und zwar ist das Johann Gottlieb Fichte! Ich habe Ihnen öfters von Johann Gottlieb

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Fichte gesprochen, habe auch versucht, Ihnen die Lebensgeschichte Fichtes von etwas tieferen Gesichtspunkten aus darzustellen. Wir ha­ben uns auch einiges von den Hauptgedanken Fichtes vor die Seele geführt. Es wird nicht zu leugnen sein, daß Fichte einer der energisch­sten Denker der neueren Zeit war; ebensowenig, daß er ein Idealist im echtesten Sinne des Wortes war. Fichte hat seine sozialistische An­schauung in einer kleinen Schrift ausgesprochen, betitelt «Der geschlos­sene Handelsstaat». Wenn man untersucht, wie sich das in der Wirk­lichkeit gestalten würde, was Fichte da als eine Art Idealbild sozialer Zustände darstellt, so kann man nur sagen: verwirklicht würde die­ses soziale Ideal, das Fichte in seinem Büchelchen «Der geschlossene Handelsstaat » darstellt, den Bolschewismus ergeben! Manchmal erin­nern einen die Schriften von Trotzki Satz für Satz fast wörtlich, so weit das bei so auseinanderliegenden Dingen der Fall sein kann, an den «Geschlossenen Handelsstaat» von Fichte.

Nun ist allerdings Fichte ein längst verstorbener Bolschewik. Aber das ist es eben, was dazu auffordert, der Sache etwas weiter nachzu­gehen. Wir haben in Fichte vor allen Dingen einen einsamen Denker zu sehen, der zu hohen philosophischen Ideen gekommen ist, und der auch darüber nachgedacht hat, wie die für ihn schreienden Ungerech­tigkeiten der Gesellschaftsordnung seiner Zeit ausgemerzt werden könnten und wie sich ein gerechter sozialer Zustand ergeben könnte. Und da webt er aus seinem Seeleninneren heraus ein Bild der gesell­schaftlichen Ordnung, das ungefähr in derselben Weise auf die Glie­derung der Menschheit hinzieht, wie es auf gewaltige Weise der heuti­ge russische Bolschewismus tut, und wie es seine Nachfolger tun wer­den. Ich kann mir denken, daß viele Menschen, die berührt sind von den mancherlei Ungerechtigkeiten, welche sich ihnen innerhalb der heutigen gesellschaftlichen Ordnung aufdrängen, sich gefesselt fühlen von den recht einfachen Anschauungen Fichtes, die im «Geschlossenen Handelsstaat» entwickelt sind. Ich brauche es Ihnen nicht darzustel­len, denn es genügt, das, was der Bolschewismus tut, mit den gabilde­ten Worten eines Philosophen dargestellt zu denken; dann hat man die Darstellung des «Geschlossenen Handelsstaats» bei Johann Gott-lieb Fichte.

Gerade diese Tatsache kann Ihnen die Berechtigung jener Dreiglied­rigkeit des gesunden sozialen Organismus erweisen. Worauf zielt denn

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eigentlich diese Dreigliedrigkeit? Ich habe in öffentlichen Vorträgen angedeutet, wie sich diese soziale Denkweise von anderen unterschei­det. Ich habe gesagt: Wenn man heute auf das hinblickt, was sich zum Teil schon in diesem oder jenem Staatsgefüge verwirklicht hat, auf das, nach dessen Verwirklichung auch sozialistisch denkende und ge­sinnte Köpfe streben, so hat man des Gefühl, daß das, was die Men­schen bereits als einen mittelalterlichen Aberglauben empfinden, sich auf der anderen Seite tief in ihren Seelen eingenistet hat. Es ist, als ob die menschlichen Seelen ein gewisses Gelüste hätten nach Aberglauben, und wird ihnen der Aberglaube auf der einen Seite ausgetrieben, so' wendet er sich nach der anderen Seite hin. Deshalb wird man sowohl gegenüber manchem Bestehenden im sozialen Leben, wie auch gegen­über dem, was gerade sozialistisch gesinnte Köpfe wollen, an die Szene im zweiten Teile von Goethes «Faust» erinnert, wo Wagner den Homunculus herstellt. Homunculus soll eben aus Ingredienzien mechanisch nach nüchternen Verstandesgrundsätzen zusammengesetzt werden. Die Alchimisten, die man als abergläubische Leute ansieht, stellten sich vor, daß man das nicht so ohne weiteres könne, und stell­ten diese künstliche Herstellung eines Menschleins, des Homunculus, in Gegensatz zu der Entstehung eines wirklichen menschlichen Orga­nismus. Man kann einen wirklichen menschlichen Organismus nicht aus Ingredienzien zusammenstellen; man muß die Bedingungen her­beiführen, unter denen er gewissermaßen von selbst entstehen kann. Den alchimistischen Aberglauben auf naturwissenschaftlichem Gebiete vermeinen die Menschen überwunden zu haben. Der Aberglaube auf sozialem Gebiete aber blüht. Er versucht, aus allerlei Ingredienzien des menschlichen Wollens eine künstliche Gesellschaftsordnung herzu­stellen.

Diese Denkweise ist der hier aus geisteswissenschafflichen Unterla­gen heraus vertretenen diametral entgegengesetzt. Die hier vertretene Denkweise strebt danach, allen sozialen Aberglauben abzustreifen und darauf auszugehen, praktisch die Frage zu beantworten: welche Bedingungen müssen hergestellt werden, nicht damit der eine oder der andere aus seiner besonderen Gescheitheit heraus irgendein sozia­listisches Ideal verwirklichen könne, sondern damit die Menschen im sozialen Leben untereinander, im gegenseitigen Zusammenwirken die notwendige soziale Gestaltung herbeiführen?

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Da findet man aber, daß tatsächlich dieser soziale Organismus eben­so wie der natürliche Organismus aus drei in sich relativ selbständigen Gliedern bestehen muß. Geradeso wie der menschliche Kopf, der hauptsächliche Träger der Sinnesorgane, durch die Sinnesorgane in ei­nem besonderen Verhältnis zur Außenwelt steht, wie er für sich zen­tralisiert ist, wie wiederum das rhythmische, das Lungen- und At­mungssystem sowie das Stoffwechselsystem für sich zentralisiert sind, und wie diese drei in einer relativen Selbständigkeit zusammenwir­ken, so ist es eine fundamentale Notwendigkeit, daß der soziale Or-ganismus dreigliedrig ist, und daß diese drei Glieder voneinander re­lativ miabhängig sind. Nebeneinander müssen der selbständig auf sich gestellte Geistesorganismus, der selbständig auf sich gestellte Organis­mus des politischen Staates im engeren Sinne und das selbständig auf sich gestellte Wirtschaftsleben wirken können. Jede dieser Körper­schaften ist mit eigener Gesetzgebung und Verwaltung ausgestattet, die sich aus ihren eigenen Verhältnissen und Kräften heraus ergeben müssen. Das scheint abstrakt zu sein, aber diese Dreigliederung ist ge­rade das Element, welches die Gesamtmasse der Menschheit so glie­dert, daß aus dem Zusammenwirken aller Glieder ein gesunder sozia­ler Organismus sich ergeben kann. Es kann sich also nicht darum handeln, auszudenken, wie sich der soziale Organismus gestalten soll. Auf sozialem Gebiete geht nämlich unser Denken nicht so weit, daß wir eine Struktur des sozialen Organismus ohne weiteres angeben könnten. Eine Struktur des sozialen Organismus kann der einzelne Mensch von sich aus ebensowenig verwirklichen, wie der einzelne Mensch, der ohne Zusammenhang mit der Gesellschaft auf einer ein-samen Insel aufwachsen würde, von sich aus die Sprache erlernen könnte. Alles Soziale ersteht im Zusammenwirken, aber im geregel­ten, auf dieser Dreigliedrigkeit aufgebauten, wirklich harmonischen Zusammenwirken der Menschen. Erst wenn man diese Richtung, die auf die wirkliche praktische Gestaltung, das wirkliche praktische Le­ben geht, recht ins Auge faßt, versteht man, wie ein Mensch wie Jo­hann Gottlieb Fichte dazu gekommen ist, ein soziales System auszu­denken, das in seiner Verwirklichung eigentlich Bolschewismus ist.

Was ist denn Fichte für eine Persönlichkeit? Fichte ist einer der charakteristischsten Denker der neueren Zeit. Er ist gewissermaßen der Mann, der das Denken, das sich ja, wie wir wissen, auch entwikkelt

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hat, das nicht immer das gleiche war (lesen Sie das nach in mei­nen «Rätseln der Philosophie»), in der energischsten Weise und in sei­ner reinsten Gestaltung ausgebildet hat. Gerade an einer Persönlich­keit wie Fichte kann man sehen, wozu das Denken wird, wenn der Mensch es ganz nur aus sich, aus dem Ich heraus schöpfen will. Und wendet man dann dieses reine Denken, so wie es ist, auf die soziale Struktur an, so entsteht das Bild, das Fichte im «Geschlossenen Han­delsstaat» gegeben hat. Das kann nur der begreifen, der einsieht, daß solch ein Denken wie das Fichtesche gar nicht geeignet ist, die soziale Struktur zu finden. Das ganz nur aus dem Impulse des Ich heraus schöpfende Denken ist nicht in der Lage, die soziale Struktur zu finden, so wie der einzelne Mensch nicht die Sprache erfinden kann; vielmehr kann die soziale Struktur nur gefunden werden, indem man die Menschen in ein solches Verhältnis zueinander bringt, daß sie im gegenseitigen Verkehr und in ihrem Zusammenhang diese soziale Struktur schaffen können. Man muß gewissermaßen Halt ma­chen vor gewissen Dingen, die sich auf die soziale Struktur beziehen, und darf den Weg nur so weit verfolgen, daß man zeigt: So müssen die Menschen zueinander stehen, Wenn in ihrem Zusammenwirken der soziale Organismus sich verwirklichen will! Das ist wirklichkeits­gemäßes, erfahrungsgemäßes Denken! Fichtes Denken ist aus dem reinen Ich herausgeboren. Und aus dem reinen Ich herausgeborenes Denken, wenn auch in etwas anderer Form, ist schließlich auch das bol­schewistische Denken. Es ist dieses Denken gerade deshalb antisozial, weil es nur aus den Offenbarungen des Ich herausgeboren ist; es ist diese Form nicht im menschlichen Gemeinschaftsleben entstanden. Das Gemeinschaftsleben des Proletariats hat diese Form auf Autorität hin angenommen, wobei die einzelnen Führer maßgebend waren.

Es entsteht nun die Frage: wodurch gibt denn eigentlich dieses Ge­meinschaftsleben gerade auf sozialem Gebiete mehr als das innere Le­ben des einzelnen Menschen? Da muß man sich schon recht klar ma­chen, worauf eigentlich die reinste Gestaltung des Denkens, wie sie bei Fichte auftritt, führt. Wer keine philosophische Vorbereitung besitzt, sondern als gewöhnlicher Mensch gewohnt ist, Zeitungen oder leicht­faßliche Bücher zu lesen, vielleicht auch Universitätswissenschaft, wie sie heute besteht, zu verfolgen, und sich so als gewöhnlicher Mensch an Fichtes Bücher heranmacht, der kommt nicht mit, der muß sich an

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den Gedanken wie aufgespießt fühlen - so energisch sind sie und so abstrakt entwickelt er sie. Es ist eben für die meisten Menschen ein reines Gedankengespinst, was Fichte da darbietet.

Der Grund davon ist, daß dieses Denken eben ein reines Denken ist, das abgesehen von aller Welterfahrung nur das herauswebt aus der Seele, was sich eben aus der Seele herausweben läßt. Wenn Sie Fichtes «Wissenschaftslehre» studieren, schreiten Sie von Satz zu Satz in einer abstrakten Höhe vor, so daß Sie oftmals gar nicht wissen, warum Sie denn eigentlich diese Gedanken hegen sollen, denn sie sa­gen Ihnen gar nichts. Sie können viele Seiten von Fichtes «Wissen­schaftslehre» lesen, und Sie erfahren: Das Ich setzt sich selbst. Das ist zunächst auf vielen Blättern auseinandergesetzt. Das nächste: Das Ich setzt das Nicht-Ich, ist wiederum auf vielen Seiten auseinandergesetzt. Das dritte: Das Ich setzt sich selbst, begrenzt durch das Nicht-Ich, und das Nicht-Ich als begrenzt durch das Ich. Nun sind Sie schon fast durch die «Wissenschaftslehre» durch, in welcher nur diese Sätze in einer sehr stark in die Breite gehenden Deduktion auseinandergesetzt werden. Sie werden sagen: das interessiert mich gar nicht, denn schließlich sind das ja ganz ausgehöhlte Abstraktionen. Aber dennoch, wenn Sie wiederum das Fichtesche Leben und Streben so betrachten, wie ich es Ihnen einmal vor einiger Zeit hier dargestellt habe, dann bekommen Sie Respekt vor Fichte, vor diesem Hinstreben zu einem reinen Denken.

Woher kommt denn dieser merkwürdige Widerspruch? Er rührt da­von her, daß einmal in der Menschheitsentwicklung es notwendig ge­worden ist, zu diesem reinen, nur von reinen Gedanken erfüllten Denken zu gelangen. Das menschliche Denken ist ja, namentlich in älteren Zeiten, immer nur von Bildern erfüllt gewesen. Menschen wie Fichte, Schelling und Hegel haben einmal das gedacht, was nur reine Gedanken, bildlose Gedanken sind. So hätte der Grieche nie denken können, so hätte der Römer nicht denken können, so hätte man im ganzen Mittelalter nicht denken können; denn die Scholastik ist etwas ganz anderes trotz all ihrer Abstraktheit.

Wozu ist denn solch ein abstraktes Denken in der neueren geschicht­lichen Entwicklung aufgetreten? Darum, weil die Menschen sich ein­mal innerlich anstrengen mußten! Und es gehört eine starke innere Anstrengung dazu, um sich zum Beispiel im Fichteschen Sinne zu einer

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solchen Abstraktheit zu erheben, um kraftvoll sich solche Abstraktio­nen zu erringen, von denen der banausische, wirklichkeitssinnliche Mensch sagt, das tauge ja gar nichts, denn da sei alle Erfahrung aus­gepreßt. Das ist auch durchaus der Fall. Aber es mußte eben einmal zu solchen Abstraktionen vorgeschritten werden. Sobald man aber die innere Stoßkraft des Seelenlebens noch ein Stück über diese Abstrak­tionen hinaus weiterentwickelt, geht es in das spirituelle Leben hinein. Es gibt keinen gesunden Weg der neueren Mystik, der nicht durch das energische Denken hindurchführt. Daher mußte zunächst das energi­sche Denken errungen werden.

Der nächste Schritt ist, daß dann über dieses energische Denken hin­aus zum wirklichen Erleben des Spirituellen gegangen wird. Natürlich geht das alles in der geschichtlichen Entwicklung langsam vor sich, aber der Weg der Menschheit geht doch darauf hin. Und diese Sehn­sucht, die eigentlich heute alle Menschen beherrscht, aus der Abstrak­tion heraus zum spirituellen Leben zu kommen, liegt geheimnisvoll auch der in der modernen proletarischen Bewegung verankerten Kraft zugrunde.

Der Proletarier bestreitet das Wirken von geistigen Kräften in der Geschichte; da sollen nur die wirtschaftlichen Kräfte wirken. Er bleibt bei der gröbsten äußeren Wahrnehmung stehen und betrachtet das so Wahrgenommene als das allein geschichtlich Werdende. Das geistige Leben ist ein bloßer Überbau, eine Ideologie, ein Spiegelbild der äu­ßeren wirtschaftlichen Vorgänge. Er stellt sich das so vor, weil der mo­derne Mensch, wenn er in sich blickt, die alten atavistischen Schauun­gen nicht mehr zu entdecken vermag; er erblickt in sich bloße Ab­straktionen, bloße abstrakte Gedanken, in denen er keine Wirklich­keit mehr finden kann; denn dazu müßte er den nächsten Schritt ma­chen, den ich eben charakterisiert habe. Daher sucht ein jeder die Wirklichkeit, nach der er sich eigentlich aus seinem Inneren heraus sehnt, in der äußeren Welt. Und weil der Proletarier seit dem Kapi­talismus eingespannt ist in das bloße Wirtschaftsleben, sucht er diese Wirklichkeit im Wirtschaftsleben.

Was wird der naturgemäß nächste, selbstverständliche Schritt sein? Daß man durchschauen wird, daß innerhalb der wirtschaftlichen Ord­nung nichts letzten Endes wirklich Treibendes liegt. Als das Treiben­de in der Geschichte wird gerade im Gegensatz zu diesem geschichtlichen

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Materialismus aus dem Inneren die Kraft erwachsen, zum Spiri­tuellen vorzudringen. Es ist nur die Karikatur des in den Tiefen der menschlichen Seele liegenden Sehnens, was im historischen Materialis­mus zum Vorschein kommt. Ebenso ist im Klassenbewuj'tsein die Kraft der einzelnen menschlichen Individualität enthalten, die in sich selber einen Inhalt sucht, den sie noch nicht hat finden können. Weil sie sich noch selbst leer vorkommt, lehnt sie sich an die ganze Klasse an, um sich als Menschheit im Zusammenhang stark zu fühlen.

Und so gehen alle die Impulse, die heute an der Oberfläche der so­zialen Bewegung walten, im Geheimen hervor aus der Quelle, die ich Ihnen eben bezeichnet habe. Daher konnte, als Fichte wirkte, und die Zeit noch nicht reif war für geisteswissenschaftliches Streben, nichts anderes zum Vorschein kommen als ein Denken, das eigentlich auf das Herankommen der spirituellen Welt wartet, und das für die äußere Wirklichkeit nichts taugt. Und wenn das Denken, das eigentlich auf die geistige Welt angewendet werden sollte, radikal, konsequent, ge­walttätig angewendet wird auf die äußere sinnliche Wirklichkeit, so bewirkt es nicht Aufbau dieser sinnlichen Wirklichkeit, sondern Zer­störung. Ich habe Ihnen öfters über die Funktionen des Bösen ge­sprochen. Ich habe Ihnen gesagt, welche Kräfte eigentlich in dem wirk­sam sind, was wir das Böse im Menschen nennen. Ich sagte Ihnen:

gehen wir nur von unserem Sinnesplan einen Plan höher in den näch­sten geistigen Plan hinein, dann bemerken wir durch die Anschauung dieses geistigen Planes, was eigentlich im Bösen wirkt. Denn würden die Kräfte, die in Dieben, Räubern, Mördern leben, nicht hier in der Sinneswelt ausgelebt, sondern würde der Mensch das, was er in der Sinneswelt unrechtmäßigerweise auslebt, metamorphosiert, umgewan­delt auf dem höheren Plane ausleben, so wäre es da vollberechtigt. Dahin gehört es. Das Böse ist ein versetztes Gutes. Nur dadurch, daß die ahrimanischen Kräfte das, was in eine ganz andere Welt gehört, in unsere Welt hereindrücken, entsteht die Artung des Bösen. Und so entsteht auch ein zerstörerisches Denken, wenn das soziale Ideal heraus­gesponnen wird aus dem eigenen menschlichen Innern und das reine Denken nicht wartet auf die Erfüllung durch die spirituelle Welt.

Das gibt einen Einblick in den Unterschied zwischen all den zahl­reichen Abstraktionen, die heute herrschen, und dem, was hier ange­strebt wird in einer wirklichen praktischen Erfassung des sozialen Organismus.

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Denn in dem, was im menschlichen Zusammenleben ange­regt wird, in dem, was Menschen im Zusammenleben ausbilden, wenn es richtig zustande gebracht wird, leben sich nicht abstrakte Gedanken aus. Abstrakte Gedanken leben sich aus, wenn der Mensch wirklich ehrlich einsam ist. Abstrakte Gedanken leben sich nicht aus, wenn die Menschen zusammen sind. Da leben sich verborgene, geheimnisvolle Imaginationen aus. Und erst diese geheimnisvollen Imaginationen geben, wenn sie verwirklicht werden, dem sozialen Organismus eine entsprechende Struktur. Daher hängen die Fortschritte, die in der neu­eren Geisteswissenschaft gemacht werden, ganz wesentlich mit den ein­zig heilsamen Impulsen für eine sozialistische Weltordnung zusammen. Und die Mängel und Schäden, das Ungesunde des gegenwärtigen sozialen Organismus besteht darin, daß er gerade in Fichtescher Weise das, was nur in der Erfahrung erfaßt werden kann, aus den bloßen inneren Forderungen herausweben will.

Wenn man betrachtet, wie in der neueren Zeit danach gestrebt wor­den ist, den Staat immer mehr und mehr zu einem Einheitsstaat zu machen, ihn in sich zu zentralisieren, dann wird man sich darüber klar, daß das zu nichts anderem hat führen können als zu Erschütte­rungen und Störungen des sozialen Organismus. Und die Gründe für diese Erschütterungen und Störungen liegen eben durchaus tiefer, als derjenige meint, der diese moderne proletarische Bewegung nur als eine Lohn- oder Brotbewegung betrachtet. Denn nicht darauf kommt es an, selbst wenn eine Lohn- oder Brotbewegung heute notwendig sein sollte oder vorliegen würde, daß nach einer Änderung der Brot-verhältnisse, der Brotversorgungsverhältnisse gestrebt wird, sondern darauf, wie danach gestrebt wird. Und auf das Wie kommen Sie durch solche Betrachtungen, wie ich sie heute wiederum mit Ihnen an­stelle.

Denken Sie an die Frage des Mehrwerts, auf die wir gestern am Schluß gekommen sind. Wer die proletarische Bewegung miterlebt hat, weiß, wie tief diese Frage eingeschlagen hat, als sie von gewissen Führern in die proletarischen Seelen eingepflanzt worden ist. Worauf beruht denn die sogenannte Mehrwert-theorie? Sie beruht wirklich auf dem, was ich auch vorgestern im öffentlichen Vortrage in Basel ausgesprochen habe: daß heute eigentlich eine reale Unwahrheit in dem Verhältnis des Arbeitgebers zu dem Arbeitnehmer herrscht, und

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weder der Arbeitgeber noch der Arbeitnehmer an der Oberfläche ihres Seelenlebens davon wissen. Der Tatbestand wird maskiert. Aber wenn es auch nicht gewußt wird, es wirkt dennoch in der Seele als Tatsache, es wirkt als Empfindung, es wirkt aus unterbewußten Tie­fen herauf.

Halten wir uns noch einmal die Hauptsache vor Augen: Der Ar­beitnehmer steht heute zu dem Arbeitgeber in einem ganz bestimmten Verhältnisse, das der Arbeitnehmer als menschenunwürdig empfindet, wenn er auch manchmal in seiner bewußten Beschreibung ganz ande­res vorbringt. Er empfindet es in seiner Seele als menschenunwürdig, weil es dazu führt, daß er seine Arbeitskraft wie eine andere Ware dem Unternehmer zu verkaufen hat. Und er empfindet in den gehei­men Untergründen seiner Seele, daß eigentlich nichts vom Menschen verkauft werden darf. Verkauft der Mensch seine Arbeitskraft, so geht im Grunde der ganze Mensch mit.

Nun könnte die Frage anders gestellt werden, und sie wird ge­wöhnlich gerade vom sozialistischen Denken so gewendet: Wie kommt man dazu, in der richtigen Weise die Arbeitskraft zu vergüten? Die sozialen Ideale laufen zumeist darauf hinaus, der menschlichen, hand­werklichen Arbeitskraft ihre volle Vergütung zuzuwenden. Es liegt aber ein ganz anderer Tatbestand vor. Für den, der die Volkswirt­schaft durchschaut, ist nämlich klar, daß die menschliche Arbeitskraft überhaupt nicht gegen etwas anderes ausgetauscht werden kann, denn menschliche Arbeitskraft ist nicht gegen irgendeine Ware oder einen Warenrepräsentanten wie das Geld austauschbar. Das ist kein realer Vorgang, sondern nur ein, wenn auch in die Wirklichkeit umgesetzter, phantastischer Vorgang. Daß der Handwerker arbeitet und dann Geld bekommt für die Aufwendung seiner Arbeitskraft, das ist kein wirklicher Vorgang, sondern der wirkliche Vorgang ist maskiert. Es handelt sich um eine reale Unwahrheit. Eigentlich geht etwas ganz anderes vor. Die Arbeitskraft steht jetzt so im sozialen Organismus darinnen, wie wenn der Arbeiter sie zu Markte brächte und der Un­ternehmer ihm diese Arbeitskraft mit dem Lohne abkaufte. So ist es aber gar nicht. Auf dem Wirtschaftsgebiete kann man überhaupt nur eine Ware gegen eine andere austauschen - Ware dann allerdings im allerweitesten Sinne genommen -, und alles Wirtschaftsleben besteht ja in Wirklichkeit nur im Austausch von Waren.

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Was ist nun eine Ware, vor der Wirklichkeit gedacht? Ein Grund­stück ist als solches noch keine Ware. Die Kohle, die sich unter der Erde befindet, ist als solche noch keine Ware. Nur das ist eine Ware, was in Zusammenhang gekommen ist mit menschlicher Tätigkeit, sei es, daß es seinem inneren Wesen nach durch menschliche Tätigkeit ver­ändert worden ist, sei es, daß es durch menschliche Tätigkeit von ei­nem Ort zum andern gebracht worden ist. Wenn Sie diese zwei Eigen­schaften nehmen, so finden Sie alles, was sich irgendwie unter den Be­griff der Ware unterbringen läßt. Man hat viel gestritten über die Na­tur der Ware. Wer Einsicht hat in den volkswirtschaftlichen Zusam­menhang, weiß, daß vor der Wirklichkeit nur diese Definition der Ware einen Wert hat.

Nun haben sich in dem modernen sozialen Organismus zahlreiche Verquickungen der Warenzirkulation mit anderem ergeben, und das hat diesen modernen sozialen Organismus zu seinen revolutionären Konvulsionen getrieben. Es ist eben eine realisierte Phantasik, wenn man heute glaubt, nicht nur Ware gegen Ware, sondern Ware gegen menschliche Arbeitskraft, wie im Lohnverhältnis, tauschen zu können; auch wenn man glaubt, Ware oder deren Repräsentanten, das Geld, gegen das, was nicht Ware sein kann, Grund und Boden zum Bei­spiel, solange er vom Menschen nicht verändert ist, tauschen zu kön­nen. Denn der Grund und Boden ist als solcher kein Objekt des Wirt­schaftsprozesses. Auf dem Grund und Boden werden Objekte des Wirtschaftsprozesses gewonnen durch menschliche Tätigkeit, aber Grund und Boden als solcher kann kein Objekt des Wirtschaftspro­zesses sein. In bezug auf die Bedeutung des Grund und Bodens im sozialen Organismus kommt in Betracht, daß der eine oder andere ein Recht hat, ausschließlich diesen Boden zu benützen und zu bearbeiten. Dieses Recht auf den Boden ist es, was eine reale Bedeutung für den sozialen Organismus hat. Der Boden selber ist nicht Ware; es entste­hen nur Waren auf ihm. Und was da eingreift, ist das Recht, das der Besitzer hat auf den Grund und Boden. Wenn Sie also käuflich, das heißt durch Tausch, ein Grundstück erwerben, so erwerben Sie in Wirklichkeit ein Recht, das heißt, Sie tauschen eine Sache gegen ein Recht, wie es ja schließlich auch beim Kaufe von Patenten der Fall ist.

Da greift man tief hinein in jene Verquickung, die so Unseliges be­wirkt hat, in die Verquickung des reinen politischen Rechtsstaates mit

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dem Wirtschaftsleben. Hierfür gibt es keine andere Heilung als die Auseinandergliederung. Das Wirtschaftsleben muß man für sich wal­ten lassen in der reinen Warenproduktion, Warenzirkulation, Waren-konsumtion, in einem assoziativen Leben, in dem sich Produktion, Konsumtion, die einzelnen Berufsinteressen, die die Menschen zusam­menschließen, in ein entsprechendes Verhältnis stellen. Aber innerhalb dieser Assoziationen und assoziativen Gruppen wird nur gewirtschaf­tet; so wie im menschlichen Verdauungssystem eben nur die Verdau­ung vor sich geht. Diese Verdauung wird dann auf der anderen Seite von dem selbständigen Lungen-Herzsystem ergriffen, das seinerseits mit der Außenwelt in Beziehung steht. So muß auch aus einer beson­deren Quelle heraus das, was im Wirtschaftsleben als Recht verankert ist, festgestellt werden. Das heißt, es muß alles das, was sich auf poli­tische Verhältnisse bezieht, neben dem Wirtschaftsleben eine relative Selbständigkeit haben.

Wenn man das durchschaut, bemerkt man auch die Unwahrheit, die in dem Verhältnisse liegt zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und die sich so darstellt, als wenn die Arbeitskraft wirklich vergütet würde. Sie wird nämlich zunächst gar nicht unmittelbar vergütet, son­dern nur mittelbar. Was vorliegt, ist ein gewisses scheinbares, aber zur wirtschaftlichen Gewalt gewordenes Recht, durch das der Arbeitgeber den Arbeiter an die Maschine oder in die Fabrik hineinzwingt, -nicht ganz offenbar, aber eigentlich im geheimen hineinzwingt. Das, was nun getauscht wird, ist in Wirklichkeit nicht Arbeitskraft gegen Ware oder Warenrepräsentanz, das heißt Geld, sondern Leistungen:

Vom Arbeiter produzierte Waren werden gegen andere Waren bezie­hungsweise Geld eingetauscht. Gegen die Waren, die der Unternehmer ihm gibt, tauscht der Arbeiter die Waren ein, die er produziert. So wird erst die Unwahrheit, als ob Ware gegen Arbeitskraft getauscht würde, offenbar. Und das empfindet der moderne Proletarier im Ge­heimen als menschenunwürdig, indem er sich sagt: du produzierst so und so viel an Ware, und davon gibt dir der Unternehmer nur so und so viel ab.

Das rechtmäßige Verhältnis zwischen dem Arbeitnehmer und dem Unternehmer kann nämlich gar nicht in der Sphäre des Wirtschafts-prozesses hergestellt werden, sondern nur in der Sphäre des politi­schen Staates, als ein Rechtsverhältnis. Darauf kommt es an. Steht

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der Mensch auf der einen Seite auf dem Boden des Wirtschaftslebens und auf der anderen Seite auf dem Boden des selbständigen Rechts­lebens, dann wird dieses Wirtschaftsleben von zwei Seiten her be­stimmt; auf der einen Seite vom Rechtsleben, auf der andern Seite ist es abhängig von den von der Menschentätigkeit unabhängigen Natur­faktoren. Ich habe Ihnen in den öffentlichen Basler Vorträgen ange­führt, daß in einer bestimmten Bodengegend, um zum Beispiel Weizen hervorzubringen, mehr Arbeit aufgewendet werden muß als in ande­ren Gegenden, wo die Ertragsfähigkeit sogar noch höher ist. Das sind die Naturgrundlagen. Diese grenzen auf der einen Seite an das Wirt­schaftsleben an. Auf der anderen Seite muß das, was zum Beispiel als ein Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sich herausstel­len soll, aus dem Rechtsleben in das Wirtschaftsleben fließen.

Nun werden Leute, die von den Dingen bloß die Oberfläche sehen, sagen: ja, aber das ist ja heute schon der Fall, denn es wird ein Ar­beitsvertrag geschlossen. Was nützt das, wenn der Arbeitsvertrag ge­schlossen wird über etwas, was eigentlich ein kaschiertes Lügenver­hältnis ist? Der Arbeitsvertrag wird nämlich geschlossen gerade über das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer in bezug auf die Arbeitskraft und ihre Entlohnung. Erst dann wird das richtige Verhältnis hergestellt werden, wenn der Vertrag nicht geschlossen wird über die Entlohnung, sondern über die Art und Weise, wie Arbeit­geber und Arbeitnehmer die Leistung, die hervorgebracht wird, teilen. Dann wird der Arbeiter - und darauf kommt viel mehr an als auf alles, was die Leute heute glauben - einsehen, daß ohne Mehrwert-Erzeugung gar nicht auszukommen ist. Aber er muß sehen können, wie der Mehrwert entsteht. Er darf nicht in ein Lügenverhältnis hin-eingebaut werden. Dann wird der Arbeiter einsehen, daß es ohne Mehrwerterzeugung überhaupt keine geistige Kultur, daß es auch keinen Rechtsstaat geben kann, denn das alles fließt aus dem Mehr-wert. Wenn aber der soziale Organismus gesund ist, ergibt sich das al­les aus dem dreigliedrigen sozialen Organismus.

Nun kann man natürlich über diese Anschauung nicht nur stunden­lang, sondern wochenlang sprechen, und das haben wir ja fast schon getan; aber wir kommen natürlich immer wieder zu neuen Einzelhei­ten, die uns die Sache verständlicher machen sollen, denn jede einzelne konkrete Frage läßt sich ahnen, die entstehen wird, und deren Beantwortung

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im praktischen Leben durch die Dreigliederung versucht wer­den wird.

Da muß vor allen Dingen folgendes bedacht werden: Im Wirt­schaftsleben werden Waren ausgetauscht. An das Wirtschaftsleben ist angegliedert das Leben des politischen Staates im engeren Sinne. Der begrenzt die Arbeitskraft im menschlichen Zusammenleben, im Rechts­leben. So daß, während das Wirtschaftsleben auf der einen Seite von der Naturgrundlage abhängig ist, es auf der anderen Seite von dem abhängig ist, was durch den Rechtsstaat festgestellt wird, also zum Beispiel Arbeitszeit, Verhältnis der Arbeit zum einzelnen Menschen, zu seiner Stärke, zu seiner Schwäche, seinem Lebensalter. Es kann nicht einen Maximal-Arbeitstag oder so etwas geben, sondern es kann in Wirklichkeit nur eine Begrenzung nach oben und nach unten geben. Das alles sind Bedingungen, die dem Wirtschaftsleben von der Seite des Rechtsstaates zufließen, ebenso wie die Naturgrundlage ihm von der anderen Seite her entgegentritt.

Wird einmal der soziale Organismus in dieser Weise gesunden, dann wird auch das ganz Ungeheuerliche verschwinden, daß die Entloh­nung aus dem Wirtschaftsleben selbst heraus erfolgt. Die Tatsache, daß der Lohn bei guter Konjunktur steigt, in der Krise dagegen vermin­dert wird, wird sich in das Entgegengesetzte verwandeln. Die gute Konjunktur wird entstehen können unter dem Einfluß des Arbeits­lohnes und umgekehrt.

Besonders ersichtlich kann das auch sein bei der Grundrente, die heute vielfach abhängig ist von dem Preise der Waren, die auf dem Grund und Boden erzeugt werden, von dem Marktpreis der Waren. Das gesunde Verhältnis ist umgekehrt, wenn das Recht, das sich in der Grundrente zum Ausdruck bringt, seinerseits den Marktpreis beein­flußt. Vielfach stellen sich unter dieser Dreigliederung gerade die um­gekehrten Verhältnisse gegenüber den heutigen ein, die unsere revolu­tionären Konvulsionen verursacht haben. Das ganze Leben wird in ei­ner anderen Weise verlaufen.

Was ist vor allen Dingen zu beachten in dem Verhältnisse zwischen dem Wirtschaftsleben und dem politischen Staat im engeren Sinne? Wählen wir als Beispiel etwas, was manchmal recht unangenehm emp­funden wird: das Steuerzahlen. In bezug auf das Steuerzahlen han­delt es sich nur darum, klar zu durchschauen, wie die Steuer aus dem

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Mehrwert heraus erfließen muß, indem man im demokratischen poli­tischen Zusammenleben die Lebensbedingungen des politischen Orga­nismus immer ebenso vor Augen hat, wie man das Wirtschaftsleben vor Augen hat, indem man kauft und verkauft, und so aus den menschlichen Bedürfnissen heraus die Realität dieses Wirtschaftsver­hältnisses deutlich wahrnimmt. Auch hieraus wird sich das Gegenteil von dem ergeben, was vorhanden ist. Ich sage nicht, daß man die Steu­ergesetzgebung ändern soll; unter den heutigen Verhältnissen läßt sich vieles nicht ändern, es sei denn, daß die Fehler auf eine andere Seite verschoben werden. Aber unter dem Einfluß des gesunden dreiglie­drigen Organismus werden sich über manches im sozialen Leben ganz andere Anschauungen herausbilden. Man wird einsehen, daß es für das soziale Leben als solches, für das Leben des Menschen im sozialen Organismus bedeutungslos ist, wenn der Mensch Geld einnimmt. Denn indem der Mensch Geld einnimmt, sondert er sich heraus aus dem sozialen Organismus, und dem sozialen Organismus kann das höchst gleichgültig sein. Für seine Funktionen hat es gar keine Bedeutung, was der Mensch einnimmt; denn erst indem der Mensch ausgibt, wird er ein soziales Wesen. Beim Ausgeben fängt der Mensch erst an, in sozialer Weise zu wirken. Und da handelt es sich darum, daß gerade beim Ausgeben - ich denke nicht an indirekte Steuern, sonderii an Ausgaben-Steuern, was ganz etwas anderes ist -, daß gerade beim Ausgeben das Steuerzahlen einsetzen muß. Natürlich kann ich Ihnen das nicht in Einzelheiten auseinandersetzen, obwohl diese ausgearbei­tet werden können - weil es viel zu weitgehende volkswirtschaffliche Kenntnisse voraussetzt, um es in einem Vortrag auseinanderzusetzen. Aber einiges davon kann doch - ich möchte sagen - mitteilend an­gewendet werden.

In dem gesunden, von den übrigen Gliedern des sozialen Organis­mus abgegliederten Wirtschaftsleben kann sich zeigen, daß zum Bei­spiel auf einem Territorium aus geographischen Gründen Weizen infol­ge der Naturgrundlage teurer erzeugt werden muß als in dem anderen. Und da kann sich herausstellen, daß durch das bloße Assoziationsle­ben der Ausgleich nicht geschaffen wird. Dann kann durch das Rechts-leben die Sache völlig korrigiert werden, indem einfach in einem sol­chen Falle - das würde sich sogar von selbst ergeben - die, die den Weizen billiger kaufen, das heißt weniger ausgeben, höhere Steuern

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zu zahlen haben als die, welche den Weizen teurer kaufen, also mehr ausgeben müssen.

Sie können, wenn der Rechtsstaat eben das Recht im Wirtschaftsle­ben in der richtigen Weise reguliert, wenn nicht die Rechte nur ver­wirklichte Interessen des Wirtschaftsleben sind, wenn nicht in dem Reichstag der Bund der Landwirte sitzt, sondern die bloß sitzen, die von Mensch zu Mensch über das Recht zu befinden haben, eine voll­ständige Regulierung im Wirtschaftsleben herbeiführen. Ich deute das abstrakt im allgemeinen an. In allen Einzelheiten wäre das auszu­führen. Das Steuerverhältnis is demnach eine Frage, die zwischen dem Wirtschaftsleben und dem Rechtsleben geregelt werden muß.

Das Verhältnis aber zwischen dem Wirtschaftsleben und Rechtsleben auf der einen, dem Geistesleben auf der anderen Seite ist so, daß es sich überhaupt nur auf vertrauendes Verständnis begründen kann. So wie die Steuerabgabe eine zwangsmäßige sein muß, auch im gesunden sozialen Organismus, so kann auf der anderen Seite die Abgabe für das geistige Leben nur eine freiwillige sein; denn das geistige Leben muß völlig auf den Geist der Menschheit gestellt werden. Es muß völ­lig emanzipiert werden von allem anderen. Dann wirkt es wiederum gerade in der tiefsten, intensivsten Weise auf dieses andere zurück.

Das sind nun solche Skizzen, die ich Ihnen geben kann von der Art und Weise, wie der soziale Organismus, wenn er gesund ist, funktio­nieren muß. Diese Dreigliederung ist nichts Erfundenes, sie ist einfach das, was man beobachten kann, wenn man die tieferen Kräfte in der Menschheitsentwicklung, die gerade heute in Wirksamheit getreten sind, erkennt, und die sich in den nächsten zehn, zwanzig, dreißig Jahren verwirklichen werden, mag auch der eine dies und der andere jenes wollen. Es kann sich nur um das Wie handeln. Die Kräfte sind beobachtet, und sie sind in die Form der Anschauung gebracht. So aber muß man überhaupt leben mit Bezug auf das geschichtliche Le­ben. Die Freiheit, die sich auf etwas ganz anderes bezieht, wird hier­durch ebensowenig gestört, wie durch die Tatsache, daß man nicht auf den Mond hinaufgreifen kann, trotzdem man es vielleicht wollte, und dergleichen. Die Freiheit realisiert sich nach den Notwendigkeiten, die sowohl in dem natürlichen wie in dem geschichtlichen Werdeprozesse liegen.

VI Urgedanken sozialer Einrichtungen. Das Geld

#G189-1957-SE099 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

VI

Urgedanken sozialer Einrichtungen.

Das Geld

#TX

In einem Vortrag, den Kurt Eisner vor der Basler Studentenschaft kürzlidi gehalten hat, findet sidi ein sehr merkwürdiger Satz. Eisner geht von der der heutigen Außenwelt gegenüber wirklidi kuriosen Frage aus, ob denn das, was man jetzt als den gegenwärtigen Mensch­heitszustand erleben kann, eine Wirklichkeit, oder ob es nicht viel­leicht ein bloßer Traum sei; ob nicht das, was die Menschheit jetzt er-lebt, eigentlich nur eine Art von geträumter Wirklichkeit sei. Der Satz, den er dort ausgesprochen hat, lautet:

«Höre ich nicht oder sehe ich nicht klar, daß tief in unser Leben hinein Sehnsucht lebt und nach Leben drängt, zu erkennen, daß unser Leben, wie wir's heute leben müssen, doch nur die deutliche Erfindung irgendeines bösen Geistes ist. Stellen Sie sich vor, verehrte Anwesende, einen großen Denker, der nichts von unserer Zeit wüßte und der un­gefähr vor zweitausend Jahren gelebt und geträumt hätte, wie etwa in zweitausend Jahren die Welt aussehen würde, er hätte nicht mit blühendster Phantasie wohl eine Welt sich ausdenken können wie die, in der wir zu leben verurteilt sind. Das Bestehende ist doch in Wahr­heit die einzige Utopie in der Welt, und das, was wir wollen, was als Sehnsucht in unserem Geiste lebt, ist die tiefste und letzte Wirk­lichkeit, und alles andere ist schauderbar. Wir verwechseln nur Traum und Wachen. Diesen alten Traum unseres heutigen nutzlosen Daseins abzuschütteln ist unsere Aufgabe. Ein Blick in den Krieg:

läßt sich eine menschliche Vernunft denken, die dergleichen ersinnen könnte? Wenn dieser Krieg nicht das gewesen ist, was man wirklich nennt, so haben wir vielleicht geträumt, und wir wachen nun. Wir sind eine Gesellschaft, in der die Menschen trotz Eisenbahn und trotz Dampf und elektrischen Funken doch nur einen kleinen Teil dieses Sternes erblicken, auf dem wir geboren sind (und so weiter). »

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Das ist die Empfindung, der Kurt Eisner, kurz vor seinem Tode, in Basel Ausdruck gegeben hat. Die Wirklichkeit nötigt also heute den Menschen, sich zu fragen: Träumen wir oder wachen wir? Ist diese Wirklichkeit überhaupt eine wahre Wirklichkeit? Und es wäre eigent­lich ganz gut, wenn die Menschen heute in ausgiebigerem Maße sich diese oder ähnliche Fragen stellen könnten. Denn vor allen Dingen handelt es sich darum, daß wir gegenüber dem, was uns in der äuße­ren Welt umgibt, in der Lage sind, die wahre Wirklichkeit zu durch­schauen. Heute kommt es darauf an, das für die Welt Notwendige, vor allen Dingen das für unser soziales Leben Notwendige, nicht mehr nach den Denkgewohnheiten zu beurteilen, in die man sich im Laufe der letzten Jahrhunderte hineingewöhnt hat. Denn diese Denkge­wohnheiten sind es, die zu der heutigen Katastrophe geführt haben. Wenn man den Zusammenhang wirklich erkennt, so sieht man das. In­nerhalb dieser Denkgewohnheiten konnten sich manche so recht als Lebenspraktiker empfinden, die von den allerärgsten Abstraktionen ausgegangen sind und versucht haben, diese Abstraktionen in Wirk­lichkeit überzuführen. Und gerade dadurch, daß die Menschen ihre Denkgewohnheiten haben einfließen lassen in die sozialen Zustände, in das Zusammenleben der Menschen, ist diese Wirklichkeit allmählich ein unwirkliches, lebensunfähiges Gebilde geworden. In diesem Gebil­de steht der Mensch zwar darinnen und er hält es für eine Wirklich­keit, aber es fehlen ihm die Kräfte, um lebensmögliche Zustände her­beizuführen.

Das sind die Dinge, die man heute nicht scharf genug betonen kann, und die sich jeder, der den Tatsachen mit unbefangenem Blick ins Auge schaut, klar und deutlich sagen müßte. Diese Tatsachen, wenn sie sich auch zunächst in der äußeren alltäglichen Welt abspielen, reden eine Sprache, die deutlich darauf hinweist, daß die Heilung der Zustände nur aus den Impulsen der geistigen Welt kommen kann. Denn das, was sich in den letzten Jahrhunderten der geistigen Welt entfremdet hat, was gewissermaßen ohne Rücksicht auf diese geistige Welt gewirt­schaftet hat, ist heute in eine Sackgasse hineingekommen, aus der es sich nicht wieder herausfinden wird. Und es ist nur eine Gedankenlo­sigkeit, wenn heute noch immer geglaubt wird, daß man mit densel­ben Mitteln weiter wirtschaften könne, mit denen die Welt in diese Katastrophe hineingetrieben worden ist.

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Wir haben erlebt, daß die Menschheit glaubte, einen Zustand her­beigeführt zu haben, der zu bezeichnen sei als Zustand höchster ma­terieller Zivilisation. Denken wir zurück, wie bequem wir es eigent­lich hatten, bevor der August 1914 angebrochen ist, wie wir mühelos von Land zu Land reisen konnten, wenn wir gerade innerhalb der Menschheitsströmung waren, die dazu die äußeren Mittel besaß. Den­ken wir, wie leicht es war, sich bis an die entferntesten Orte der Welt über die Landesgrenzen hinüber telegraphisch oder telephonisch zu verständigen. Denken wir an alles, was die Menschheit eben die mo­derne Zivilisation genannt hat. Und denken wir an das, was seit dem August 1914 in Europa aus dieser modernen Zivilisation geworden ist. Bedenken wir die Zustände, in denen wir heute leben. Es gehört ja wahrhaftig nicht gerade sehr viel dazu, um einzusehen, daß das eine nicht ohne das andere ist, daß in unserem damaligen Leben, so ,be­quem', so ,zivilisiert' es war bis zum August 1914, die jetzigen Zu­stände drinnen steckten, so drinnen steckten, daß ich es dazumal in dem vor dem Kriege gehaltenen Wiener Vortrag als das Wirken einer gesellschaftlichen Krebskrankheit, eines Karzinoms innerhalb der menschlichen Gesellschaft, bezeichnet habe. Man muß einen gewissen Wert darauf legen, daß dazumal, als alles noch so ,bequem', die Welt noch so ,zivilisiert' war, als alles nach dem Wunsche der Menschen ging, deren soziale Lage die Erfüllung von solchen Wünschen erlaubte, die Geisteswissenschaft denjenigen, der die Tatsachen durchschaute, zu der Aussage nötigte: wir leben nicht in einer gesunden, sondern in ei­ner kranken Gesellschaft. Zur Heilung wurde ja dieser kranken Ge­sellschaft seit langem angeboten das, was anthroposophische Den­kungsart ist. Und es wird nichts anderes geben, um zur Heilung zu kommen, als eben einzusehen, daß alles andere mehr oder weniger Kurpfuscherei ist, was nicht zu dieser nach dem wirklichen Geistigen hingewandten Denkweise greifen will. Wir müssen wieder Wirklich­keit hineingießen in die Träume, die die Menschheit heute träumt. Wo­her soll diese Wirklichkeit kommen? Da, wo die Lebenspraktiker ihre Gedanken hernehmen, ist sie nicht vorhanden. Da allein ist Wirklich­keit vorhanden, wo der Geist geschaut wird. Von da müssen auch die Prinzipien, die Impulse geholt werden, die in die Sozietät hineinflie­ßen können. Deshalb muß auf diesen Zusammenhang der Dinge im­mer hingewiesen werden.

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Ich habe Ihnen im Zusammenhang dieser Vorträge öfters auch den Namen Fritz Mauthners erwähnt. Er hat, indem er das Denken der Gegenwart abteilt in eine Reihe von Schlagworten, die er alphabe­tisch anordnet, zwei Bände zusammengebracht, die er ein «Philosophi­sches Wörterbuch» nennt, in denen aber eigentlich in Mauthners Art und mit seiner Kritik, die manchmal eine ätzende, laugenhafte ist, das Denken der Gegenwart verzeichnet steht. Da ist unter anderem auch vom Staate, von der res publica die Rede. Fritz Mauthner ist aus sei­nen Anschauungen heraus auch zu einer Art von Antwort gekommen auf die Frage: Was ist eigentlich der Staat? Seine Definition ist keine andere als diese: der Staat ist ein notwendiges Übel. Ableugnen kön­nen die Leute seine Notwendigkeit nicht. Aber einigen ist doch schon aufgegangen, daß die soziale Struktur, die wir heute den Staat nen­nen, zu dem geführt hat, in dem wir nun drinnen leben. Daher nen­nen sie ihn ein notwendiges Übel; denn sein übler Charakter in sei­ner heutigen Gestalt steht den Leuten vor Augen. Es frägt sich aber, wie man zu einer positiven Vorstellung kommt im Gegensatz zu die­ser negativen.

Wenn einer etwas verneint, so muß eigentlich auf das Bejahende hingewiesen werden. Sagt daher jemand: der Staat ist ein notwendiges Übel, - so handelt es sich darum, das Gute zu definieren, zu dem der Staat, als ein Übel, in Gegensatz gestellt wird. Was ist dieses Et­was, von dem der Staat das Gegenteil sein soll? Für den geisteswissen­schaftlichen Zusammenhang ergibt sich etwas sehr Merkwürdiges. Man versteht ja den Staat nur, wenn man die Rechtsstruktur, die sich im Staate ausbreitet, und nach der Besitzverhältnisse, Arbeitsverhält­nisse und so weiter geregelt werden, durchschaut, und wenn man sich frägt: womit läßt sich diese Rechtsstruktur eigentlich vergleichen?

Aus manchen Schilderungen haben Sie die Beziehungen kennenge­lernt, die in der geistigen Welt bestehen in den Zeiten, die der Mensch durchlebt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Wie verhalten sich diese Beziehungen, die zwischen Mensch und Mensch bestehen in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, zu den Rechtsbe­ziehungen, die innerhalb der staatlichen Gemeinschaft auf dem physi­schen Plane hergestellt werden? So bald man diese Frage verständig aufwirft, bekommt man die Antwort: das staatliche Gefüge ist das genaue Gegenteil! Das staatliche Gefüge ist mit Bezug auf die menschlichen

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Beziehungen, die durch den Staat hergestellt werden, das ge­naue Gegenteil von dem, was die menschlichen Beziehungen in der geistigen Welt sind. Das gibt Ihnen eine wirkliche Vorstellung von dem Staate. Die Menschen, die nichts von der geistigen Welt wissen, können nämlich gar keine Vorstellung von dem Staate gewinnen, weil sie lauter negative Bestimmungen haben über das Verhältnis zwischen Mensch und Mensch. Die positiven Bestimmungen sind die, welche sich ergeben, wenn Seele zu Seele sich in Beziehung setzt in der geisti­gen Welt. Lesen Sie zu diesem Zwecke, der hier angedeutet wird, das Kapitel über die seelische Welt in meiner «Theosophie». Da werden Sie finden, daß eine gewisse Regelung der Beziehungen von Seele zu Seele stattfindet, die sich dann fortsetzt auch in dem, was man Gei­sterland nennen kann, und daß diese Beziehungen geregelt sind durch Kräfte, die von Seele zu Seele gehen, und die man ausdrücken kann durch das Zusammenwirken von Sympathie und Antipathie. Lesen Sie in diesem Kapitel in meiner «Theosophie», wie Sympathie und Antipathie ein gewisses Verhältnis zustande bringen zwischen den See­len in der geistigen Welt. Da werden Sie sehen, daß in der geistigen Welt alles auf Innerlichkeit beruht, nämlich auf dem, was von Seele zu Seele wirkt durch die Sympathie- und Antipathiekräfte. Was von Seele zu Seele durch die Antipathiekräfte wirkt, wird beim Menschen auf dem physischen Plan durch die Leiblichkeit zugedeckt; und weil das eigentliche wesenhafte Verhältnis von Seele zu Seele hier auf dem physischen Plan zugedeckt ist, muß im Staate das Äußerlichste an die Stelle treten: das Rechtsverhältnis. Während das, was geschildert wer­den muß von der eigentlichen Geisteswelt, die Entfaltung der inner­lichsten Kräfte der Seele ist, ist das, was im Staate leben kann, das Alleräußerlichste in der Beziehung von Mensch zu Mensch. Und der Staat ist nicht gesund, wenn er ein anderes als das alleräußerlichste Rechtsverhältnis begründen will. Deshalb muß von dem Staate alles ausgeschaltet werden, was nicht auf dem alleräußerlichsten Rechtsver­hältnis zwischen Mensch und Mensch beruht. Dem eigentlichen Staate muß gegenüberstehen auf der einen Seite das geistige Gebiet, die Ver­waltung der geistigen Kulturangelegenheiten, auf der anderen Seite das reine Wirtschaftsleben, der dritte Teil des sozialen Organismus. Während der eigentliche Staat das volle Gegenteil der geistigen Welt darstellt, bedeutet das geistige Leben eine Art Fortsetzung dessen, was

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wir durchlebt haben in der wirklichen geistigen Welt, bevor wir durch die Geburt ins irdische Dasein heruntergestiegen sind. Was wir hier durchleben in Religion, Schule, Erziehung, Kunst, Wissenschaft und so weiter, neben anderem, was wir in dieser Beziehung von Mensch zu Mensch entwickeln, ist die irdische Fortsetzung, aber nur mehr als bloßer Abglanz, als bloße Spiegelung, von dem, was vor der Geburt wirkliches geistiges Leben ist. Und im Wirtschaftsleben, in diesem ge­wöhnlichen, materiell genannten Leben haben wir die Ursache von mancherlei, was wir zu durchleben haben, wenn wir durch die Todes-pforte gegangen sind, also im nachtodlichen Leben. Der Staat aber hat keine Beziehung zu dem geistigen Leben. Er ist das Gegenteil des gei­stigen Lebens. Das muß der Mensch, der die Gegenwart mit ihren schauderhaften Tatsachen verstehen will, durchschauen lernen. Der ge­genwärtige Mensch muß verstehen lernen, daß es notwendig ist, die geistige Wirklichkeit wiederum ins Auge zu fassen, um zu einer An­schauung über die äußere Wirklichkeit zu kommen. Antipathie und Sympathie wirken zusammen in der geistigen Welt. Was uns von der geistigen Welt her an Antipathien bleibt, was noch weiter auszuleben ist an Antipathien, die wir von der geistigen Welt her uns erhalten haben, das lebt sich hier als geistige Kultur aus. Wir lernen uns als Menschen durch die Sprache verstehen und gewissermaßen durch sie ein geistiges Band von Mensch zu Mensch knüpfen, weil wir durch dieses Verstehen der Sprache gewisse Antipathien überwinden müssen, die uns geblieben sind aus der geistigen Welt. Wir lernen in gewissen Vorstellungen miteinander sprechen, gemeinsame Gedanken entwik­keln in einer gemeinsamen Kunst, einem gemeinsamen Religionsbe­kenntnis, weil wir dadurch gewisse Antipathien überwinden, die wir in der geistigen Welt gegeneinander gehabt haben. Und wir lernen, hier im Wirtschaftsleben aufeinander angewiesen zu sein, für einander zu arbeiten, wirtschaftliche Vorteile miteinander auszutauschen, weil wir dadurch die Grundlage legen für gewisse Sympathien, welche sich im nachtodlichen Leben zwischen den Seelen entspinnen sollen, zwi­schen denen nicht schon hier ein Anziehungsband da ist durch das ge­wöhnliche Karma.

So müssen wir die hiesige irdische Welt mit der geistigen Welt zu verknüpfen verstehen. Und schließlich ist schon die am intensivsten wirkende Ursache unserer heutigen katastrophalen Zeit die Tatsache,

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daß der Mensch ganz außer Zusammenhang gekommen ist mit der wirklichen geistigen Welt, und daß ihm in einem hohen Grade die gei­stige Welt eigentlich zu einer Art Phrase geworden ist. Immer mehr und mehr wurde diese geistige Welt zu einer Art Phrase im Laufe der letzten vier Jahrhunderte innerhalb der leitenden Menschenklas­sen. Und immer mehr und mehr entwickelten sich in dumpfen In­stinkten in den weiten Massen des Proletariats die unterbewußten, unbewußten Sehnsuchten nach etwas anderem, als die sogenannte Bil­dung, Wissenschaft, Kunst, Religion und so weiter der leitenden Kreise bieten kann.

Daran wollen sich die Menschen so schwer gewöhnen, daß wir in bezug auf das Geistesleben lernen müssen, nach und nach eine ganz neue Sprache zu verstehen. Die Menschen möchten am liebsten die al­ten Sprachen weitersprechen. Denn es werde schon gehen, so meinen sie, wenn man in der alten Sprache weiterspricht. Da hört man sal­bungsvolle Propheten in der Gegenwart ihre Anschauungen entwik­keln. Ich habe Sie schon einmal auf eine solche Anschauung hingewie­sen. Einer, auf den viel gegeben wird in der Gegenwart, sagt zum Bei­spiel: dieser Weltkrieg hätte gezeigt, daß die Menschen wohl in einer Art äußerer Organisation lebten, daß sie aber einander innerlich nicht nahe gekommen wären. Und so hätte sich in der Gestalt dieses Welt­krieges ein Rückfall in die alte Barbarei ergeben. Dann werden zur Rettung aus dieser Barbarei eigentlich nur gewisse - man könnte sa-gen - Phrasen-Gefühle entwickelt, die die Menschen darauf verwei­sen, sich wiederum zu einer Art von innerlichem geistigen Leben zu­rückzuwenden. Darauf kommt es aber heute nicht an, daß man die Menschen ermahnt, sie sollen wieder gut christlich werden, sie sollen wieder lernen, ihre Mitmenschen zu lieben, sie sollen ein innerliches Band von Mensch zu Mensch finden. Heute kommt es viel mehr dar-auf an, eine Kraft des Geistes zu entwickeln, welche imstande ist, den äußeren Verhältnissen wirklich eine Struktur zu geben, so daß der soziale Organismus lebensfähig werde. Man kann, wenn man ganz ehrlich ist, gar nicht sagen, daß die Menschen der Gegenwart haupt­sächlich und in erster Linie daran kranken, daß sie nicht an den Geist glauben. Es gibt ja noch genügend Menschen in der Gegenwart, die an den Geist glauben, und schließlich hat ja noch jedes Dörfchen seine Kirche, wo - denke ich - viel vom Geiste geredet wird. Und einen

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gewissen Respekt vor dem Geiste haben sogar die, welche ihn be­kämpfen. Ein gewisses Reden vom Geiste liegt den Menschen noch in den Denkgewohnheiten. Der Anzengrubersche Mensch, der da sagt:

,So wahr ein Gott im Himmel ist, bin ich ein Atheist', der ist gar keine so große Seltenheit, wenn er auch nicht immer diese Worte aus­spricht. Nicht darauf kommt es an, daß die Menschen an den Geist glauben, sondern darauf, daß der Geist wirksam werde in alleni ma­teriellen Leben, daß eingesehen werde, daß die Materie nirgends ohne den Geist sein kann.

Von dieser Einsicht ist man aber heute weiter entfernt als je. Der eine tut vornehm, verachtet das äußere materielle Leben, betrachtet es als ein notwendiges Übel und wendet sich dem innerlichen Leben zu, wird vielleicht sogar Theosoph, damit er neben dem äußeren Le­ben sein inneres entwickeln kann; denn das äußere Leben ist geistlos, und man muß sich dem inneren, beschaulichen Leben hingehen. Ein anderer geht nicht gerade in dieser - das sozialistische Denken wür-de sagen - dekadentesten bürgerlichen Vorstellungsweise auf, aber er hat doch so den Glauben: Auf der einen Seite ist materielle Wirklich­keit, in der Kapital, menschliche Arbeitskraft, Kredit, Pfandbriefe, Obligationen, Geld überhaupt leben. Das ist die geistlose Wirklich­keit. Auf der anderen Seite ist das, was man aus dem innersten Her­zen als die eigentliche Geistwirklichkeit anstreben muß.

Man könnte noch viele Variationen dieser eigentümlichen Auffas­sung des Verhältnisses von materiellem und geistigem Leben, wie es in der Gegenwart herrscht, anführen; denn die Menschen haben schon vielfach das Gefühl, daß wenn man zum Geist geht, man sich eigent­lich von der äußeren materiellen Wirklichkeit abkehren müsse. Schließlich hängt ja damit auch zusammen, daß wir in der Gegenwart so viele gebrochene Existenzen, so viele Menschen haben, die mit dem äußeren Leben unzufrieden sind. Meine lieben Freunde, ich rede wahr­haftig nicht pro domo, denn ich bin eigentlich nur durch mein Karma gerade zu dem gemacht worden, als was ich wirke. Und wäre ich durch mein Karma zu etwas anderem gemacht worden, so würde ich das auch zu verstehen wissen. Ich rede nicht pro domo. Aber trotzdem darf ich sagen: es gibt nichts Uninteressantes im Leben, wenn nur ein gesunder sozialer Organismus da ist, in welchen der Mensch in der richtigen Weise gerade seinem Karma gemäß hineingestellt ist. Im

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Grunde genommen hat kein Mensch Veranlassung dazu, irgendeine Strömung in der Welt als minderwertiger zu betrachten als eine an­dere. Die Gesundung des sozialen Organismus muß allerdings herbei­geführt werden in der Weise, daß der letzte Arbeiter ebenso zusam­menhängt mit einem geistigen Leben, wie derjenige, der nun zufällig im geistigen Leben selbst sich beschäftigen kann. Denn das ist der größte Schaden in dem sozialen Leben der Gegenwart, daß es abge­schlossene Kreise gibt, innerhalb welcher sich besondere Interessen entwickeln, die den anderen eigentlich nicht zugänglich sind. Fühlen Sie doch nur, wie sich in der neueren Zeit immer mehr und mehr das Abgeschlossensein in Religion, in Kunst und in allem anderen inner­halb der bürgerlichen Kreise herausgebildet hat, und wie die proleta­rischen Kreise außerhalb stehen. Darum macht man ihnen ja ,Volks-veranstaltungen', begründet ,Volkshäuser', gibt Innerhalb der leitenden Kreise hat man heute die Möglichkeit, aus gewissen Bildungsgrundlagen, Erziehungsgrundlagen heraus dem Menschen, - sagen wir, um ein konkretes Beispiel zu wählen, - von der Sixtinischen Madonna zu sprechen. Ich habe Arbeiter herumge­führt in Galerien und habe sehen können, welch eine Lüge es ist, dem heutigen Proletarier irgend etwas vorzuführen, was ähnlich ist den Empfindungen, die der heutige Bürgerliche haben kann gegenüber der Sixtinischen Madonna. Das ist nicht möglich. Versucht man es doch, so setzt man nichts anderes als eine Lebenslüge in Szene, denn es gibt ja kein gemeinsames Leben zwischen den Klassen. Und wo kein gemein­sames Leben zwischen den Klassen ist, kann man auch nicht eine Sprache

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sprechen, die beide wirklich verstehen. Die bisher leitenden Kreise haben das Schicksal gehabt, durch die bisherige Menschheitsentwick­lung zum Beispiel auch in der Kunst etwas zu erhalten, was in ihren Lebensempfindungen wurzeln kann. Durch die Art und Weise, wie die Menschheit bisher gelebt hat, ist ein Bild, wie die Sixtinische Madon­na eine Gabe geworden für die leitenden Kreise. Für die nicht leiten­den Kreise ist sie zunächst unverständlich. Da muß erst die Sprache gesucht werde, die beiden gemeinschaftlich sein kann, das heißt, es muß erst angestrebt werden, ein wirklich allgemein-menschliches Bil­dungsleben zu finden. Und von diesem allgemein-menschlichen Bil­dungsleben sind unsere Schulen, unsere Universitäten weit entfernt.

Damit wird es nicht getan sein, daß verwirklicht werde, was man so oft anstrebt: die allgemeine Volksschule. In einer allgemeinen Volks­schule wird man das lehren müssen, was von einem freien Geistesle­ben ausgeht, das als selbständiges Glied in einem gesunden sozialen Organismus verankert ist. Man wird ganz anders lehren müssen, als man heute lehrt. Denn im tiefsten Innern versteht ja der Proletarier nicht, was heute in der Volksschule gelehrt wird.

Nun werden Sie einen Widerspruch finden in dem, was ich sage. Den können Sie mit Recht finden, und können sagen: In der Volks­schule sind ja noch alle gleich, warum sollte das Proletarierkind weni­ger verstehen von dem, was gelehrt wird, als das bürgerliche Kind? -Das bürgerliche Kind versteht eben in Wirklichkeit auch nichts; denn unser ganzes Volksschulwesen ist so ungesund, daß eigentlich alles das unverständlich ist, was in der Volksschule gelehrt wird. Und nur bei einigen, den leitenden Kreisen Angehörigen, die das Geld haben, um höhere Schulen zu besuchen, werfen dann diese höheren Schulen einen Schatten zurück auf die Volksschule, und dadurch versteht man etwas von dem, was man früher gelernt hat. Solche, die keine Gelegenheit haben, Schatten zurückzuwerfen auf das früher Gelernte, haben eben gar keine Möglichkeit, die Schulbildung, die heute als eine geträumte Wirklichkeit unter uns lebt, fruchtbar aufzunehmen.

Dieses sollte man sich vor Augen halten, als mit dem Ernst der Zeit, dem Ernst der Situation aufs innigste zusammenhängend. Und ist es denn nicht mit Händen zu greifen, daß nur ein neues Geistesleben dem Abhilfe schaffen kann? Denn versuchen Sie es doch nur einmal, auf dem einen oder anderen Gebiete ehrlich zu sein! Denken Sie zum

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Beispiel an das, was im Verlaufe der letzten Jahrzehnte sich abgespielt hat auf dem Gebiete der Kunst und des Kunstverständnisses. Versu­chen Sie sich einmal geistig vor Augen zu führen, wie über Kunst ge­redet worden ist, was Künstler darüber gesagt haben, wie gemalt, wie gebildhauert werden muß und dergleichen, was Kritiker dann als ihre Auffassung gegenüber diesen Malern und Bildhauern geltend gemacht haben! Verfolgen Sie das alles und versuchen Sie es einmal dem Pro­letarier klar zu machen, der acht Stunden an der Maschine steht und der das Ganze nun auch anhören soll; - das ist Quark für ihn, ist überhaupt nichts für ihn! Für ihn ist das ein Leben, das die anderen untereinander treiben, von dem er in antisozialer Weise ausgeschlossen ist, von dem er daher auch nicht die Vorstellung gewinnen kann, daß es zu einem menschenwürdigen Dasein notwendig sei, von dem er nur die Vorstellung gewinnen kann: das ist alles Luxus. Nicht daß ich die Dinge verurteile; ich will nur charakterisieren. Alles das ist zu verste­hen. Aber bedenken Sie, was diese gute bürgerliche Gesellschaftsord­nung, die sich bis zum Jahre 1914 so bequem entwickelte, für Blüten getrieben hat. Ich habe es noch erlebt in den achtziger Jahren, wo zum Beispiel die Wiener Jünglinge alle nachgemacht haben, was da­mals, von Paris ausgehend, als neue Kunstrichtung galt. Diese Jüng­linge haben Verse über Verse gemacht, haben alles mögliche getan, um möglichst dunkle Ringe um die Augen zu haben, sie gingen sinnend auf der Straße herum, priesen die Vorzüge der Dekadenz, erklärten, daß sie überhaupt nur schlafen wollten in einem Zimmer, in dem der Duft der Tuberose alles durchströmte und so weiter. Und dann hat man aus diesen Untergründen heraus besprochen, wie nun ein Vers gestaltet sein muß. Ich will das nicht verurteilen, was da zum Aus­druck gekommen ist; es ist eben auch eine Seite der Menschheit zum Ausdruck gekommen; es ist ein extremer Fall. Aber zum Schlusse hat man es eben so getrieben, daß etwas herausgekommen ist, was einem großen Teil der neueren Menschheit als nichts anderes erscheinen konn­te als ein luxuriöses Geistesgetriebe, was diesem Teil der Menschheit jedenfalls nicht als eine Notwendigkeit zu einem menschenwürdigen Dasein erscheinen konnte. Und schließlich hängt doch im Leben alles ab von dem, was in den Menschenseelen pulsiert, von der Art, wie die Menschenseelen sich im Leben bewegen können. Es war schon ein soziales Karzinom, das in furchtbarer Weise zum Ausbruche gekommen

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ist. Aus diesen Dingen heraus muß erkannt werden, daß die Tat­sachen nun so weit gediehen sind, daß wir eben nicht mit den alten Vorstellungen weiterreden dürfen, sondern daß wir eine neue Sprache lernen müssen. Und ist es da nicht mit Händen zu greifen, daß nun etwas Allgemein-Menschliches angestrebt werden muß?

Es wird nicht gleich verstanden werden, inwiefern es allgemein-menschlich ist, aber mit unserem Bau wurde eben etwas Allgemein-Menschliches angestrebt. Da sollte nichts drinnen sein, was nur den Bürgerlichen interessieren und wovon der Proletarier nichts verstehen kann. Wenn auch gerade höchste geistige Anforderungen gestellt wer­den, so ist das, was angestrebt worden ist, ganz allgemein menschlich; es ist, wenn es auch aus dem Geistigen herausgeholte Formen sind, etwas, was jeder Mensch verstehen kann. Gewiß ist vieles daran un­vollkommen, und das Bürgerliche strömt einem ja aus mancherlei noch zu; aber im Ganzen, in der Hauptsache ist das (ich meine selbst­verständlich jetzt nicht die Menschen), was angestrebt worden ist, ganz allgemein menschlich. Von dem Lebensgesichtspunkte aus kann es verstanden werden. Wohl muß man heute noch in verschiedener Weise zu den einen und zu den anderen reden, weil die Menschen von verschiedenen Lebensgesichtspunkten her kommen. Aber möglich ist es heute, auch an das allereinfachste, primitivste Gemüt das her-anzubringen, was aus unseren Formen und den sonstigen Dingen un­seres Baues sprechen soll. Und so müßte auf jedem Lebensgebiete nun wirklich der Versuch gemacht werden, herauszukommen aus dem Al­ten und eine neue Sprache zu sprechen, einzusehen, wie es eben gerade die alten Vorstellungsarten waren, die uns in diese Katastrophe hin-eingeführt haben.

Heute wird vielfach gesagt, dem modernen sozialistischen Streben, das ja manchen Leuten einen rechten Schrecken einjagt, möge entge­gengehalten werden der Geist der Bergpredigt, wo die Mühseligen und Beladenen nicht durch den Klassenkampf, sondern durch die Lie­be eine neue Weltordnung heraufführen wollten. Ich führe Ihnen nichts Ausgedachtes an, sondern Redensarten, die von sehr bekannten Moralpaukern heute gepredigt werden, und die in den letzten Wo­chen unzählige Male wiederholt worden sind. Erst vor ein paar Tagen hätten Sie in Bern hören können, daß wieder jemand gesagt hat: man solle zurückkehren zu dem reinen Geiste des Christentums, zu dem

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Geiste der Bergpredigt; der stecke nicht im modernen Klassenkampf. Leider - so wurde hinzugefügt - sei der christliche Geist bisher nur im Privatleben geltend gewesen; nun müsse er auch einziehen in das Leben der Staaten: das äußere öffentliche Leben müsse durchchristet werden. - Und dann kommen die Menschen und sagen: das ist ein­mal vom Geiste gesprochen! Da wird endlich gesagt, wie der Weg ver­läuft, auf dem sich die moderne Menschheit loslöst von dem unseligen Materialismus und wiederum zurückwendet zu dem Geiste der Liebe! Aber die Tatsache liegt immerhin vor, daß die Leute fast zweitausend Jahre lang so geredet haben und das nichts geholfen hat, und daß sie endlich merken könnten, daß heute eine andere Sprache notwendig ist.

Man merkt aber heute oftmals noch gar nicht, worin der Unter-schied zwischen den zwei Sprachen liegt. Man merkt noch gar nicht, daß das etwas anderes ist, was vertreten wird von dem neuen Geistes­leben, welches unmittelbar in die materiellste Wirklichkeit eingreifen will, weil es überzeugt davon ist, daß in aller Materie Geist lebt, und Materie als Materie, und nicht in unwirklicher Weise als etwas Ver­ächtliches, genommen werden muß. Und wo scheinbar nur Materie ist, da sieht man den Geist einfach nicht. Daher muß man sich klar dar­über sein, daß es heute drängt, solchen Geist zu entwickeln, der die Wirklichkeit meistert, der in das materielle Leben untertauchen kann, der nicht nur zu sagen weiß: vertieft euch in das Innere, ihr werdet den Gott im Innern finden, ihr werdet den Ouell der Liebe in euch entwickeln können, ihr werdet den Weg dann finden von der heutigen sozialen Ordnung zu einer solchen, in welcher der Mensch dem Men­schen innerlich nahe steht! Nein, es handelt sich heute darum, solchen Geist, solche Sprache, solche Christen zu finden, die nicht bloß von ethischen und von religiösen Dingen reden, sondern die so stark im Geiste sind, daß der Geist die alleralltäglichsten Dinge zu umfassen vermag. Vom Geiste aus muß gefragt werden: was soll geschehen, um den heilenden Weg aus den Verheerungen des Kapitalismus zu finden, aus den Bedrückungen, denen die menschliche Arbeitskraft ausge­setzt ist?

So wie die Dinge sind, nehmen die Menschen mit ihrem Empfinden wohl wahr, was hemmend, was krankmachend ist im sozialen Orga­nismus, sehen aber nicht bis auf die Grundlagen. Daß heute das Geld viele Schäden hervorruft, das sieht man ja im Kleinen und im Großen.

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Im Kleinen, in seiner nächsten Nähe sieht es mancher, daß mit dem Geld etwas nicht in Ordnung ist, - auch solche, die es nicht ha­ben. Es ist eben die Zeit gekommen, wo die alte Gelassenheit aufhört, die sich noch ein wenig über die Dinge hinweggesetzt hat mit dem Sprichwort: ,Der eine hat das Portemonnaie, der andere hat das Geld'. Die Zeit ist gekommen, wo man dieses Sprichwort nicht mehr wahr haben will. Die Leute, auch wenn sie nur noch selten über die Grenze kommen, merken ja, daß manche Schäden des Geldwesens vorhanden sind. Nicht wahr, es ist ja tiefer Friede eingetreten, aber die Leute können jetzt noch weniger über die Grenze als während des Krieges. Da draußen bedeutet eine Mark so und so viel, hier ist sie ganz wenig wert, An die Geldfrage schließt sich die Währungsfrage, die Valuta­frage, an. Die Leute merken im Kleinen und im Großen, daß mit dem Gelde irgend etwas los ist, was schon mit den gewöhnlichsten Men­schenzuständen zusammenhängt. Sie denken nach, wie man den Schä­den, die heute eingetreten sind, abhelfen könnte. Aber sie merken nicht, daß es heute notwendig geworden ist, von den gewöhnlichen äußeren Gedanken, die sich an die Verhältnisse selbst anschließen, zu den Urgedanken vorzudringen.

Allen menschlichen Einrichtungen liegen gewisse Urgedanken zu-grunde. Das menschliche Leben bringt es mit sich, daß sich die Ein­richtungen nach und nach entfernen können von diesen Urgedanken. Da ziehen sich diese Urgedanken zurück in das menschliche Innere und werden Empfindungen, werden Instinkte, die sich dann in einer Weise äußern, daß man in ihnen die Urgedanken nicht gleich erkennt. Was heute als soziale Forderungen auftritt, ist die Reaktion der Urgedan­ken auf die heutigen menschlichen Verhältnisse. Und die Menschen, die sich ihre Gedanken bloß nach den heutigen Verhältnissen bilden, sind die ärgsten Schwarmgeister; denn alle proletarischen Forderungen sind nichts anderes als maskierte Empfindungen, die in den Urgedan­ken wurzeln. Zu solchen Urgedanken gehört die Trennung des geisti­gen -, des politischen Staatslebens und des wirtschaftlichen Lebens, wie sie hier vertreten worden ist. Danach streben eigentlich die In­stinkte hin. Und nicht eher werden sie ruhen, bis nicht wenigstens die Richtung nach diesen Urgedanken wiederum genommen wird in die­ser Zeit, in der wir in einer schweren Krisis leben, weil wir uns so weit von den Urgedanken entfernt haben.

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Alles andere wird Quacksalberei sein, auch mit Bezug auf die aller­äußerlichsten materiellen Fragen. Denn heute frägt mancher, sogar von Lehrkanzeln herab: Was ist denn eigentlich Geld? Ungeheuer viel wird über die Frage diskutiert, ob Geld eine Ware oder ein bloßes Wertzeichen sei. Der eine ist der Meinung, daß das Geld auch eine Ware unter anderen Waren ist, die auf dem Wirtschaftsmarkte ausge­tauscht werden, daß man nur eine bequeme Ware gewählt hat, damit man über gewisse sonstige Konflikte des heutigen Wirtschaftslebens hinwegkommt. Nun denken Sie einmal, Sie seien Tischler, und es gäbe kein Geld. Sie müssen essen, Sie müssen Gemüse haben, Käse haben, Butter haben, aber Sie sind Tischler, verfertigen nur Tische und Stühle. Nun müssen Sie sich mit Ihren Tischen und Stühlen auf den Markt begeben und müssen versuchen, zum Beispiel einen Stuhl loszu­werden, damit Ihnen jemand für den Stuhl eine gewisse Menge von Nahrungsmitteln gibt. Einen Tisch müssen Sie loswerden, damit Ihnen ein anderer einen Anzug gibt. Denken Sie sich nur, was das heißen würde! Aber eigentlich tut man gar nichts anderes! Es ist nur dadurch maskiert, daß eine allgemein gangbare Ware, das Geld, da ist, für die man alles übrige eintauschen kann, und daß dann die anderen Waren warten können, bis sie gebraucht werden.

Nun scheint es aber so, als ob das Geld nur eine Zwischenware wäre. Daher sind manche Nationalökonomen der Ansicht, daß das Geld eine Ware ist. Das Papiergeld ist eben nur als Ersatz für die Wa­re anzusehen. Denn die Ware, auf die es ankommt, ist eigentlich das Gold, und die Staaten sind genötigt worden, die Goldwährung einzu­führen, da der führende Wirtschafisstaat der Gegenwart, England, das Gold als alleinige Wertware, Ausgleichsware gewählt hat, und die an­deren Staaten folgen mußten. Die Mitteiware ist eben da, und der Tischler braucht nicht mit seinen Stühlen zu Markte zu gehen, sondern verkauft seine Waren an den, der sie gerade haben will. Dafür be­kommt er Geld und kann sich nun seinerseits sein Gemüse und seinen Käse kaufen.

Die andern haben eine entgegengesetzte Meinung über das Wesen des Geldes. Nach ihnen kommt es nicht darauf an, ob man das Stück­chen Gold hat oder nicht, sondern darauf, daß ein Ersatzmittel exi­stiert, auf das der Stempel gedruckt ist. Unser modernes Papiergeld trägt ja einen solchen Stempel: dieses Papier gilt so und so viel. Und

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es gibt Nationalökonomen, die es als höchst unnötig betrachten, daß für das Papiergeld in den Banken der entsprechende Goldwert liegt. Es gibt ja auch, wie Sie vielleicht wissen, einzelne Staaten, die bloße Papierwährung haben, die keinen Goldschatz für die Papierwährung haben. Die können auch damit in einer gewissen Weise unter den heu­tigen Voraussetzungen Wirtschaft treiben.

Jedenfalls sehen Sie daraus - und wir müssen uns ja auf unserem Gebiete auf die Basis eines rein menschlichen Standpunktes stellen -, daß es heute gescheite Menschen gibt, die das Geld als eine Ware be­trachten, während andere gescheite Menschen es als eine bloße Ab­stempelung, als bloße Marke betrachten. Was ist es nun eigentlich? Unter den heutigen Verhältnissen ist es eigentlich beides! Darauf kommt es an, daß man das einsieht, daß es unter den heutigen Ver­hältnissen beides ist, daß heute auf der einen Seite, namentlich im in­ternationalen Verkehr, das Geld nur den Charakter einer Ware hat; denn das andere sind alles Überschreibungen von Guthaben. Was im Ernste als Deckung gilt, das sind die Goldwarenaustausche, die von Staat zu Staat stattzufinden pflegen. Alles übrige beruht nur darauf, daß man das Vertrauen hat: wenn so und so viel Papier oder Wechsel oder so etwas von einem Staat zum anderen geliefert wird, so hat der­jenige, der diesen Wechsel, dieses Papier liefert, wirklich auch das Gold, daß also für die Ware Gold da ist, die dann wie eine andere Ware behandelt wird. Sie geben ja auch einem Kaufmann Kredit, gleichgültig ob er Gold oder Fische oder irgend etwas anderes besitzt, wenn nur eine Deckung durch irgend etwas Reales vorhanden ist. Al­so ist namentlich im internationalen Verkehr das Geld Ware.

Aber der Staat hat sich hineingemischt und das Geld allmählich zu etwas bloß Taxiertem, Abgestempeltem gemacht. So wirkt das eine mit dem anderen zusammen. Die Schäden, die vorhanden sind, rühren lediglich davon her, daß man nicht die ganze Verwaltung des Geldes abschiebt in das Gebiet, das wir als das dritte Glied des gesunden so­zialen Organismus bezeichnet haben. Würde man die gesamte Geld-verwaltung abschieben in den Wirtschaftsorganismus, daß heißt sie vom Staatsorganismus loslösen, so würde das Geld Ware und würde auf dem Warenmarkte seinen Warenwert haben müssen. Es würde nicht mehr die heute vorhandene kuriose Abhängigkeit da sein, die sich ausdrückt durch ein merkwürdiges Verhältnis zwischen Währung

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und Lohn. Das Kuriose ist heute, daß die Währung sinkt, wenn der Lohn steigt, und der Arbeiter oftmals gar nichts hat, wenn man ihm noch so viel Lohn gibt, weil er für diesen Lohn sich nichts anderes kaufen kann, als er sich früher kaufen konnte um seinen viel geringe­ren Lohn. Wenn die Löhne und zugleich die Lebensmittelpreise stei­gen, das heißt, wenn die Währung eine ganz andere wird, dann helfen alle übrigen Verhältnisse nichts. Dem kann nur abgeholfen werden, indem man die Verwaltung auch dieses Wirtschaftsgutes, des Geldes, loslöst vom politischen Staate, und wenn das Geld, das da ist, um eben Vergleiche des einen mit dem andern hervorzurufen, auch von dem dritten, von dem Wirtschaftsgliede des gesunden sozialen Orga­nismus verwaltet werden kann.

So lösen sich wirklich auf dem Wege in die Dreigliedrigkeit auch die Spezialprobleme in einer gesunden Weise. Deshalb muß derjenige, welcher für den sozialen Organismus wieder gesunde Gedanken ent­wickeln will, zu den Urgedanken zurückgehen. Heute fragen die Ver­walter der Staaten: Was sollen wir gegenüber der in das Chaos hin­eingekommenen Währung tun? Die einzige Antwort, die ihnen gege­ben werden muß, ist diese: Um Gotteswillen, laßt die Hände davon, insofern ihr Verwalter des politischen Staates seid, und tretet die Ver­waltung von Währung und Geld an den Wirtschaftsorganismus ab! Einzig und allein da können die gesunden Grundlagen geschaffen werden für diese Angelegenheiten. Man muß wirklich zurückgehen können auf das, was heute die Dinge gesund macht. Vor der Kriegs-katastrophe bestand ja die sonderbare Tatsache, daß weil von Staat zu Staat ein Zustand da war, auf den die innerstaatlichen politischen Taxationen keinen Einfluß hatten, wir zwischen den einzelnen Staaten Verhältnisse hatten, die sich zum Beispiel im Wirtschaftsleben durch das Wirtschaftsleben selbst ergaben. Von Staat zu Staat, also interna­tional, ergaben sich diese Verhältnisse. Innerhalb der einzelnen Staa­ten wirkten sie nicht, weil da der Staat seine Struktur ausdehnte über das Wirtschaftsleben. Das brachte die Konflikte hervor, die nur aus der Welt geschafft werden können, wenn wir die Dreigliedrigkeit wirklich anstreben. Dann werden jederzeit die Tatsachen des einen Gliedes in der sozialen Organisation die Tatsachen des anderen Glie­des korrigieren, wenn diese korrigiert werden müssen. Es ist gar nicht anders möglich, als heute zu den Urgedanken zurückzugehen, zu dieser

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praktischen Trinität: Geistesleben, Staatsieben, Wirtschaftsleben. Denn nur die Menschen, die in eine solche gesellschaftliche Organisa­tion hineingestellt sein werden, werden die Fragen, die heute zu lösen sind, von dem einen oder von dem anderen Gesichtspunkte her lösen können. Nur wenn in dem einen Gliede gewirtschaftet, in dem ande­ren demokratisch Recht gesprochen, respektive Recht festgesetzt wird, in dem dritten alle geistigen Verhältnisse geordnet werden, nur dann kann eine Gesundung des sozialen Organismus herbeigeführt werden. Aber geradeso, wie im menschlichen Organismus die drei Glieder zu­sammenwirken, das Kopfsystem mit dem Herz-Lungensystem und dem Stoffwechselsystem, so wirken natürlich auch im gesunden sozia­len Organismus die drei Glieder zusammen. Das eine wirkt in das andere hinüber. So wie Sie eine Magen-Indisposition im Kopfe ver­spüren, weil der Kopf vom Magen nicht ordentlich versorgt wird, trotzdem die drei Systeme getrennt sind, so wirkt auch im sozialen Organismus, wenn er ganz gesund ist, das eine Glied, sagen wir das Wirtschaftsglied, hinüber in das Rechtsglied und in das geistige Glied. Gerade dann wirken sie in der richtigen Weise zusammen, wenn sie in sich relativ selbständig sind. Aber dieses richtige Zusammenwirken ohne Indisposition stellt sich eben nur dann heraus, wenn die drei Glieder selbständig sind und jedes nach seinen Gesetzen verwaltet wird. Wie ragt zum Beispiel das Geistesleben in das Wirtschaftsleben hinein? Wissen Sie, welches das geistige Element im Wirtschaftsleben ist? Das Kapital ist der Geist des Wirtschaftslebens! Und ein großer Teil der Schäden unserer heutigen Zeit beruht darauf, daß die Kapi­talverwaltung, die Kapitalfruktifizierung dem Geistesleben entzogen worden ist. Das Verhältnis des körperlich Arbeitenden zu dem mit Hilfe des Kapitals Organisierenden muß im gesunden sozialen Orga­nismus ebenso als ein bloßes, auf gegenseitigem Verständnis beruhen­des Vertrauensverhältnis behandelt werden können, wie zum Beispiel die Wahl der freien Schule. Im gesunden sozialen Organismus wird jene Abschließung zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiter, so wie sie heute besteht, notwendigerweise aufhören. Heute steht der Arbeiter an der Maschine und weiß nichts, als was an der Maschine vorgeht. Daher treibt er natürlich seine Allotria außerhalb der Fabrik. Der Unternehmer hat wiederum sein eigenes Leben, so wie es sich her­ausgebildet hat - ich habe Ihnen vorhin die Jünglinge geschildert,

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die mit tiefen Rändern unter den Augen herumliefen und Tuberosen am Bette hatten, wenn sie schliefen. Der Unternehmer führt das los­gelöste Geistesleben, losgelöst eben für andere, für ihn nicht. Wenn sich aber ein Geistesleben ausbildet, das körperlich Arbeitende und geistig Arbeitende umfaßt, dann ist der Kapitalismus auf eine soziale Grundlage gestellt, allerdings nicht wie die Schwarmgeister der Ge­genwart meinen, sondern so, daß nun wirklich eine Möglichkeit ge­schaffen wird, daß jeder einzelne Arbeiter in einem Geisteszusammen­hang steht mit allen denen, die seine Arbeit organisieren und das Produkt seiner Arbeit in den sozialen Organismus oder sogar in die ganze Welt überleiten!

Es muß als eine Notwendigkeit angesehen werden, daß ebenso wie an der Maschine gearbeitet wird, ebenso regelmäßig in Besprechungs­stunden zwischen dem Unternehmer und dem Arbeiter die geschäft­lichen Verhältnisse besprochen werden, so daß der Arbeiter stets einen ganz genauen Überblick hat über das, was geschieht. Für die Zukunft muß angestrebt werden, daß der Unternehmer jederzeit genötigt ist, sich vor dem Arbeiter völlig zu decouvrieren und mit ihm alle Ein­zelheiten zu besprechen, so daß ein gemeinsames Geistesleben die Fa­brik, die Unternehmung umschließt. Darauf kommt es an. Dann ist erst möglich, daß sich jenes Verhältnis herausstellt, bei dem der Arbei­ter sich sagt: der Unternehmer ist ebenso notwendig wie ich; denn was soll meine Arbeit im gesellschaftlichen Organismus, wenn der nicht da ist? Er stellt meine Arbeit an den richtigen Platz. Aber der Unternehmer wird auch genötigt sein, den Arbeiter an den richtigen Platz zu stellen und ihm das Seinige zukommen zu lassen, denn alles wird durchschaubar sein.

Da sehen Sie, wie in das Wirken des Kapitalismus das geistige Le­ben hineinspielen muß. Alles andere ist heute eine bloße Rederei, eine bloße Schwarmgeisterei. Ein gesundes Verhältnis zwischen der Arbeit und dem Kapital kann nicht in sozialistisch-bürokratischer Weise her­beigeführt werden, sondern lediglich dadurch, daß durch ein allen Menschen gemeinsames Geistesleben derjenige, der die individuellen Fähigkeiten dazu hat, in die Lage versetzt wird, diese für den gesun­den sozialen Organismus auszunutzen und kapitalistisch zu produ­zieren. Dabei wird ihm freies Verständnis entgegenkommen von dem, der körperlich arbeitet. Verständnis wird dann entstehen können für

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die Initiative der individuellen Fähigkeiten, die im freien Geistes­leben von vornherein sozialisiert sind, und die nur heute antisozial wirken, weil wir in unnatürlichen Verhältnissen stecken. Auf der freien Initiative der individuellen Fähigkeiten und dem freien Ver­ständnis, das den Leistungen der individuellen Fähigkeiten entgegen­kommt, muß die Sozialisierung beruhen; eine andere gibt es nicht. Alles andere ist Kurpfuscherei. Aus den Symptomen, die sich im sozialen Organismus zeigen, könnte man bereits die Wahrheit dieser Tatsache entnehmen.

Es gibt ja in der Welt zwei Dinge, über deren Wert man im aller­alltäglichsten Leben der verschiedensten Ansicht sein kann und ist. Das eine ist ein Stück Brot, das andere ist eine Weltanschauung. Von einem Stück Brot wird jeder zugeben, daß es dem Menschen ent­spricht, wenn er Hunger hat; darüber diskutiert man nicht, sondern man will das Brot haben. Um ein Stück einer Weltanschauung wird heute viel gestritten; das findet der eine wahr, der andere falsch. Und wenn eine Weltanschauung noch so wahr ist, kann sie sich nicht Geltung verschaffen. Über den Geist kann man streiten; über die Dinge des Wirtschaftslebens kann man nicht streiten. Worauf beruht denn das? Das beruht nur darauf, daß der Geist nicht als eine Wirk­lichkeit wirkt, sondern daß er nur als ein Anhängsel zum Wirtschafts­leben und zum Staatsleben wirkt. Wird er auf sich selber gestellt, ist er dadurch genötigt, seine eigene Wirklichkeit der Welt darzubieten und sich zu offenbaren, dann wird Wirklichkeit aus dem Geistigen heraussprühen. Allerdings wird er dann nicht in die müßigen Rede­reien, und Phrasen der Moralpauker, nicht in die Reden derjenigen hineingehen, die den Leuten erzählen, ihr sollt gut christlich sein und so weiter, und allerlei Tugenden aufstellen, die aber stehen bleiben vor den Toren der äußeren materiellen Wirklichkeit, weil sie nur das als Geist achten, was frei ist von der materiellen Wirklichkeit. Die Brücke muß geschlagen werden von dieser abstrakten Form des Gei­stes zu jenem Geiste, der im Kapital wirkt, der ja nun wirklich auch Geist ist, denn das Kapital organisiert die Arbeit. Aber diese Organi­sierung muß dann tatsächlich von der geistigen Verwaltung ausgehen.

So muß auf der einen Seite die Geldverwaltung dem Wirtschafts­leben überlassen werden, während die Organisierung der Arbeit durch das Kapital dem Geistesleben unterstellt wird. Da sehen Sie das

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Zusammenwirken von Dingen, die äußerlich eines sind; denn natür­lich wird das Kapital in der Fabrik in Geld repräsentiert. Aber das Verhältnis zwischen Arbeiter und Arbeitgeber, dieses ganze Vertrau­ensverhältnis, die Tatsache namentlich, daß an einer bestimmten Stelle ein Arbeitgeber steht, wird vom geistigen Gebiet her organisiert. Was eine bestimmte Ware ist im Vergleiche zum Geld, das wird vom Wirtschaftsleben aus organisiert, und die Dinge fließen zusammen, wie im menschlichen Organismus die Ergebnisse der drei Systeme zusammenfließen, damit der Organismus gesund ist.

So können Sie in die konkreten Dinge hineingehen, in die Dinge des alleralltäglichsten Lebens, und Sie werden sehen, daß das, auf was hier aufmerksam gemacht wird, wirklich Urgedanken sind, aber reale Urgedanken, die der Gesundung des sozialen Organismus zu­grunde liegen müssen.

VII Gesundung des Kapitals durch lebendiges Denken

#G189-1957-SE120 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

VII

Gesundung des Kapitals durch

lebendiges Denken

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Wenn Sie aufmerksam die Zeitentwicklung verfolgen, so werden Sie über die ganze Menschheit hin einen gewissen Zug finden, der wenig geeignet ist, die Gedanken auf das hinzulenken, was die laut vernehmlichen Tatsachen, die sich in der Welt abspielen, selber ver-langen. Es besteht eine allgemeine Abneigung gegen Gedanken, die nicht in altgewohnter Weise laufen. Vielleicht niemals aber lag es so nahe als gerade heute, zu fragen: wie kommt es, daß die Menschen so wenig eingehen wollen auf Gedanken, die sie nicht schon gedacht haben? Man erlebt ja heute ein durch die ganze Zeitentwicklung gehendes Grundphänomen. Schon öfter habe ich darauf aufmerksam gemacht, wie sich dieses vor Jahren ausgesprochen hat. Man könnte eine nette Sammlung anlegen von Reden europäischer Staatsmänner aus dem Frühling und Frühsommer des Jahres 1914, und man würde in allen ihren Ausführungen so ziemlich das gleiche finden, was zum Beispiel der deutsche Staatssekretär Jagow in einer Reichstagsrede dazumal gesagt hat. Es lautete ungefähr: Durch die Bemühungen der europäischen Kabinette ist es gelungen, so befriedigende Verhältnisse zwischen den Großmächten Europas herzustellen, daß der Friede auf lange Zeiten hinaus in Europa gesichert ist. - In verschiedenen Variationen konnte man bei diesen Lebenspraktikern - so nennen sich diese Leute - diese Rede immer wieder finden. Das war dazu­mal. Und wenige Wochen nachher begann jener Weltbrand, der jetzt nur in eine andere Erscheinungsform eingetreten ist.

Was erleben wir jetzt anderes in den Absichten und Maßnahmen der so recht der heutigen Zeit angehörigen Menschen? Ich habe in den letzten Tagen einiges von der sogenannten Berner «Völkerbunds­Konferenz» mitgemacht. Die Leute haben dort mancherlei geredet. Im Grunde genommen war alles, was die bevorstehenden Ereignisse betraf, von demselben Kaliber wie die Reden der europäischen Staatsmänner

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vom Frühling und Frühsommer des Jahres 1914. Diese Menschen reden in den altgewohnten Gedankengeleisen; sie reden, was sie seit Jahren zu reden gewohnt sind. Sie haben im Grunde ge­nommen nichts, aber auch gar nichts aufgenommen von den aus den Tiefen des Weltendaseins heraus sprechenden Lehren der letzten vier­einhalb Jahre. Dies ist eine Tatsache, auf die gerade der Geisteswis­senschafter seine intensivste Aufmerksamkeit lenken sollte; denn über einen großen Teil des europäischen Kontinents ist diese trostlose Gleichgültigkeit gegenüber den Tatsachen verbreitet. Trotz der ver­schiedenen Variationen erscheint doch immer wieder ganz typisch, was aus starken, aber für die heutige Zeit verderblichen Untergrün­den heraus gerade von Seiten einer Weltanschauungsströmung vor­gebracht wird, die wegen der Gleichgültigkeit, der Interesselosigkeit der europäischen Bevölkerung in der nächsten Zeit große Aussichten hat, Eindruck über Eindruck, Eroberungen über Eroberungen zu machen. Als ich noch ein ganz kleiner Knabe war - es ist jetzt lange her - da stand in meinen Religionsbüchern sehr dezidiert, um die Knaben dadurch zur Erkenntnis des Jesus Christus hinzuführen, das Folgende: Der Jesus Christus war entweder ein Heuchler oder ein Narr, oder er war das, was er selber sagte, der Sohn des lebendigen Gottes. Da man nicht annehmen darf, daß der Christus ein Heuchler gewesen sei, da man auch nient annehmen darf, daß er ein Narr gewesen sei, so bleibt nur die andere Möglichkeit, nämlich daß das wahr ist, was er sagte, daß er sei der Sohn des lebendigen Gottes.

- Was so Jahrzehnte vor unserer Zeit in meinem damaligen Reli­gionsbuche stand, das hörte ich neulich in einer Rede, die im Anschluß an die sogenannte Berner «Völkerhunds-Konferenz» von dem Grazer Universitätsprofessor Ude in ßern gehalten worden ist. Da konnte man wiederum die Worte hören: Der Jesus war entweder ein Heuch­ler oder ein Narr, oder er war, was er selber sagte, der Sohn des lebendigen Gottes. «Und da Sie nicht wagen werden - so rief der Mann in die Menge hinein - den Christus einen Narren oder einen Heuchler zu nennen, so kann er nur das gewesen sein, was er selber von sich sagte: der Sohn des lebendigen Gottes!» Das wurde alles mit jesuitischem Temperament in die Menge hineingeworfen, und es waren wohl wenige Leute im Saal, welche sich die gegenüber einer solchen Sache heute einzig und allein bedeutungsvolle Frage stellten:

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Ist nicht dieses Sprüchlein durch Jahrhunderte wiederholt worden vor den Gläubigen, und ist nicht trotz dieses Sprüchleins das große Ver­derben über die Menschheit hereingebrochen? Sollte es heute noch ein Herz und einen Sinn geben, die sich nicht Gedanken darüber machten, wie sinnlos es ist, mitten in der großen Weltkatastrophe die Dinge, die so stark ihre Fruchtlosigkeit bewiesen haben, immer wieder und wiederum in die Menge hineinzuschreien? Und ich hörte eine andere Rede des­selben Grazer Universitätsprofessors über die soziale Frage, und diese Rede war vom Anfang bis zum Ende ohne jeden Hinweis darauf, was eigentlich geschehen soll, was geschehen muß; sie war lediglich eine Art Verurteilung mancher ja gewiß vorhandener Unsitten, die in der Gegen-wart herrschen. Allein auch da merkte man, daß nichts gelernt worden war aus den traurigen Ereignissen der letzten viereinhalb Jahre.

Es ist dies aus dem Grunde ein besseres Beispiel als manche andere, weil unter den zahlreichen Reden, die in Bern gehalten wurden, die des Grazer Professors Ude weitaus die besten waren; denn ihnen lag wenigstens eine Weltanschauung zugrunde, wenn auch eine Welt-anschauung, die, heute propagiert, gerade gefährlich werden muß. Die anderen entstammten der Ohnmacht, sich überhaupt noch zu irgendeiner Weltanschauung oder Lebensauffassung zu erheben. Immer wieder muß man betonen: die Gedanken der Menschen sind heute stumpf und kurz geworden. Sie sind nicht in der Lage, einzu­dringen in die Wirklichkeiten. Sie bewegen sich in Illusionen, bewe­gen sich lediglich an der Oberfläche der Dinge. Man kann heute nicht einsehen, was gerade unsere Zeit von denen fordert, die ein Wort mitreden wollen bei der so notwendigen Neugestaltung der Dinge.

Meine lieben Freunde, sagen wir uns das immer wieder und wieder:

Wir haben durch die letzten vier Jahrhunderte als europäische Menschheit mit ihrem amerikanischen Nachwuchs ein Denken herauf-gebracht, welches nur geeignet ist, das Leblose zu begreifen. Wir haben ein Denken heraufgebracht, welches ganz und gar hingeordnet ist auf das Mathematisch-Technische. Wir sind unfähig geworden, Gedanken zu richten auf das, was in der Natur lebt. Wir begreifen nur das Tote. Was wir in unserer offiziellen Wissenschaft über den Organismus zu sagen wissen, gilt bloß für den toten Organismus, ist eigentlich an den Leichen gewonnen. Heute hat man sich so ein-gewöhnt in dieses Denken, daß man es auch auf den sozialen Organismus

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anwendet. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Mensch­heit heute in weiten Kreisen unfähig ist, sich überhaupt Gedanken über den lebendigen sozialen Organismus zu machen. Höchstens finden die Menschen heute, daß diese Gedanken schwierig seien. Welche Gedanken finden aber die Menschen heute leicht? Solche, die ihnen durch den Katechismus seit Jahrhunderten eingepaukt worden sind, die in ihren ausgefahrenen Geleisen laufen, oder solche, welche Kinder sind der Gedanken, die sich nur auf das Tote im lebendigen Organismus beziehen! Es ist aber in der Gegenwart nötig, den lebendigen sozialen Organismus zu begreifen.

Gehen wir von einem konkreten Beispiel aus. Das sozialistische Denken der Gegenwart richtet sich gegen den Kapitalismus. Der Sozialismus fordert die Vergesellschaftung des gesamten Privatkapi­tals an Produktionsmitteln. Über diese Sozialisierung hat man ja auch schon in reichlichem Maße in der - man nennt sie, glaube ich, -«Nationalversammlung» in Weimar geredet. Die Art und Weise, wie heute über den Kapitalismus geredet wird, entspricht so recht dem toten Denken der letzten Jahrhunderte, welches groß geworden ist innerhalb der rein naturwissenschafrlich-materialistischen Welt­anschauung. Was liegt denn eigentlich in bezug auf den Kapitalismus vor? Es liegt vor, daß er im Grunde genommen zu einem furchtbaren Bedrücker der großen Menschenmasse geworden ist; es liegt vor, daß man wenig wird einwenden können gegen all das, was von Seiten der proletarischen Bevölkerung gegen das Bedrückende des Kapita­lismus in geistiger, rechtlicher, wirtschaftlicher Beziehung gesagt wor­den ist und weiterhin gesagt wird. Aber welche Konsequenz ziehen sozialistisch gestimmte Denker aus dieser ja unleugbaren Tatsache? Die, daß der Kapitalismus abgeschafft werden muß! Er ist ja der Bedrücker, er ist etwas Furchtbares, er hat sich als eine Geißel der neueren Menschheit erwiesen! Darum muß er abgeschafft werden. Was erscheint begreiflicher und fruchtbarer für gewöhnliche Agita­tionen, die sich aber jetzt in erschreckenden Tatsachen über Europa hin ausleben, als diese Forderung nach der Abschaffung des Kapita­lismus? Für den, der sich nicht allein an das tote Denken der letzten vier Jahrhunderte wendet, sondern der in der Lage ist, sich an das lebendige Denken zu wenden, das wir vor allen Dingen für unsere Geisteswissenschaft brauchen, für den ist diese Rede, man müsse den

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Kapitalismus abschaffen, weil er ein Bedrücker, eine Geißel ist, gerade so logisch, gerade so durch die Tatsachenlogik begründet, wie wenn jemand sagen würde: wir atmen fortwährend Sauerstoff ein und die tötende Kohlensäure aus, der Sauerstoff verwandelt sich in uns ja doch in Kohlensäure, warum atmen wir ihn denn erst ein? Er wird ja in uns doch zum todbringenden Gift! Zweifellos wird der Sauer­stoff in uns zum todbringenden Gift, aber um des Lebens willen müssen wir ihn einatmen, denn der Lebensprozeß des menschlichen und tierischen Leibes ist nicht denkbar ohne die Sauerstoffatmung. Eben­sowenig ist ein soziales Leben denkbar ohne die fortwährende Bil­dung von Kapital, namentlich nicht ohne die fortwährende Bildung von produzierten Produktionsmitteln, und im Grunde genommen ist ja das Kapital nichts anderes. Es gibt keinen sozialen Organismus, der nicht angewiesen wäre auf die Mitarbeit der individuellen mensch­lichen Fähigkeiten. Würde im weitesten Umkreise begriffen, welche Forderungen der soziale Organismus stellt, so würde der Arbeiter sagen: es handelt sich darum, daß ich Vertrauen habe zu dem Leiter der Unternehmungen; denn ohne daß er die Unternehmungen leitet, kann ich meine Arbeit nicht leisten. Aber wenn es Leiter von Unter­nehmen gibt, so ist die notwendige Folge, daß Kapital sich ansammelt. Es gibt keine Möglichkeit, der Ansammlung von Kapital zu entgehen. Frägt also ein in gewisser Weise gut meinendes, aber falsch orien­tiertes sozialistisches Denken: wie vernichtet man den Kapitalismus?

- so ist diese Frage gleichbedeutend mit der anderen: wie vernichtet man den sozialen Organismus überhaupt? Wie treiben wir am besten in den Tod des sozialen Lebens hinein?

Es ist ganz klar für jeden, der die Dinge durchschauen kann, daß bei der allervernünftigsten sozialen Ordnung Kapitalien sich ansam­meln, und es ist ebenso klar, daß die Frage: wie verhindert man die Ansammlung von Kapitalien, wie macht man es, damit keine Kapi­talien sich ansammeln? müßig ist. - Aber sehen Sie, diese Gegen­überstellung ist den Menschen heute zu schwer. An solche Gedanken möchten die Menschen heute nicht heran. Sie möchten alles leicht haben gerade mit Bezug auf das Denken. Die Zeit gestattet aber nicht, daß wir es uns gerade mit Bezug auf das Denken leicht machen. Was nämlich immer vergessen wird, ist daß alles Lebendige im Werden ist, daß zum Begreifen alles Lebendigen die Zeit mit in Betracht gezogen

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werden muß, daß das Lebendige einmal so, einmal anders ist. Es ist nicht schwer, sich bei einiger Bedachtsamkeit klar zu machen, daß zum Begreifen des Lebendigen in seiner Konkretheit auch die Zeit dazu­gehört. Denn der menschliche Organismus ist ein Lebendiges. Nehmen Sie Ihren Organismus um halb zwei Uhr herum, - Sie sind ja alle fleißige Leute, die nicht lange in der Kantine bleiben; wenn Sie aus der Kantine kommen und soeben gegessen haben, so sind Sie, wenig­sten wäre das wünschenswert, voll gesättigt, Sie haben keinen Hunger. Sie definieren Ihren Organismus, wenn Sie ihn in seiner Konkretheit um halb zwei Uhr nachmittags nehmen: ein menschlicher Organismus ist ein Lebewesen, das keinen Hunger hat. Aber um halb ein Uhr, wenn Sie zur Kantine gehen, ist es anders, da haben Sie alle Hunger. Da könnten Sie wiederum definieren: ein menschlicher Organismus ist das, was Hunger hat. Was da vorliegt, ist, daß Sie das Konkrete, Lebendige in zwei verschiedenen Zeitpunkten anschauen, und daß das, was in zwei verschiedenen Zeitpunkten notwendig ist für das Gedeihen dieses Organismus, die gerade entgegengesetzten Zustände sind, daß im Organismus etwas herbeigeführt werden muß, was so verarbeitet wird, daß sein Gegenteil eintritt. So ist es im natürlichen Lebendigen, so ist es aber auch im sozialen Lebendigen. Man kann im sozialen Lebendigen niemals verhindern, daß als selbstverständ­liche Begleiterscheinung des Arbeitens der individuellen menschlichen Fähigkeiten Kapital entstehe, daß privates Eigentum an Produktions­mitteln sich herausbilde. Wenn jemand sich als Leitender einem Pro­duktionszweige widmet, und er auch ganz gerecht die erzeugten Pro­dukte teilt mit den handwerklich Mitarbeitenden, der soziale Organis­mus würde gar nicht bestehen können, wenn nichtals Begleiterscheinung Kapital auftreten würde, das der Einzelne besitzt, ebenso wie er das besitzt, was er für seinen eigenen Gebrauch benötigt, was er so pro­duziert, daß er es eintauschen will für seinen eigenen Gebrauch.

Aber ebensowenig wie man denken kann, ob man nicht essen soll, weil man doch wieder hungrig wird, ebensowenig kann man darüber nachdenken, wie jegliche Kapitalbildung für immer verhindert wer­den soll. Man kann nur darüber nachdenken, wie dieses Kapital sich wiederum verwandeln muß in einem anderen Zeitpunkte, was aus ihm werden muß. Sie können nicht, ohne den sozialen Organismus in seiner Lebensfähigkeit zu untergraben, die Kapitalbildung verhindern

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wollen, Sie können nur wollen, daß das, was sich als Kapital bildet, nicht schädlich werde innerhalb des gesunden sozialen Organismus.

Was in solcher Art gefordert werden muß für die Gesundung des sozialen Organismus, ist nur im dreigliedrigen sozialen Organismus möglich. Denn nur im dreigliedrigen sozialen Organismus kann ebenso wie im menschlichen natürlichen Organismus das eine Glied im entgegengesetzten Sinne arbeiten wie das andere Glied. Es liegt im individuellen Interesse, daß ein Glied da ist im sozialen Orga­nismus, in dem die individuellen menschlichen Fähigkeiten zum Aus­druck kommen; es liegt aber in jedermanns Interesse, daß diese individuellen menschlichen Fähigkeiten nicht im Laufe der Zeit zum Schaden des Organismus sich umgestalten. Innerhalb des wirtschaft­lichen Kreislaufes wird sich immer Kapital bilden. Belassen Sie es im wirtschaftlichen Kreislauf, so führt es zu unbegrenzter Besitzanhäu­fung. Was durch die individuellen menschlichen Fähigkeiten sich als Kapital ansammelt, kann nicht in der wirtschaftlichen Sphäre belassen werden; es muß in die Rechtssphäre übergeleitet werden. Denn in dem Augenblick, wo der Mensch für das von ihm allein oder in Gemeinschaft Erzeugte mehr erwirbt als er verbraucht, in dem Augenblicke also, wo er Kapital ansammelt, ist sein Besitz ebenso­wenig eine Ware, wie die menschliche Arbeitskraft eine Ware ist. Besitz ist ein Recht. Denn Besitz ist nichts anderes, als das ausschließ­liche Recht, eine Sache - sagen wir Grund und Boden oder ein Haus oder dergleichen - mit Hinwegweisung aller anderen zu be­nützen, über irgendeine Sache mit Hinwegweisung aller anderen zu verfügen. Alle anderen Definitionen des Besitzes sind unfruchtbar für das Verstehen des sozialen Organismus. In dem Augenblicke, wo der Mensch Besitz erwirbt, muß dieser innerhalb des rein politischen Staates, innerhalb des Rechtsstaates verwaltet werden. Aber der Staat darf nicht selbst erwerben, sonst würde er selbst Wirtschafter. Er hat es nur überzuleiten in den geistigen Organismus, wo die individuellen Fähigkeiten der Menschen verwaltet werden. Heute wird ein solcher Prozeß nur mit den Gütern vollzogen, die unserer Zeit als die min­dersten gelten. Für diese gilt bereits, was ich jetzt ausgeführt habe. Für die wertvollen Güter gilt es nicht. Wenn heute einer etwas geistig produziert, sagen wir, ein sehr bedeutendes Gedicht, ein bedeutendes Werk als Schriftsteller, als Künstler, so kann er ja das Erträgnis bis

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30 Jahre nach seinem Tode seinen Nachkommen vererben; dann geht es als freies Gut nicht auf seine Nachkommen, sondern auf die allge­meine Menschheit über. 30 Jahre nach seinem Tode kann man einen Schriftsteller in beliebiger Weise nachdrucken. Das entspringt einem ganz gesunden Gedanken, dem Gedanken, daß der Mensch auch das, was er in seinen individuellen Fähigkeiten hat, der Sozietät verdankt. Geradeso wie man nicht auf einer einsamen Insel, sondern nur im Zusammenhang mit den Menschen sprechen lernen kann, so hat man seine individuellen Fähigkeiten auch nur innerhalb der Sozietät,

- gewiß auf Grundlage des Karmas, aber das muß entwickelt werden durch die Sozietät. Die Früchte der individuellen Tätigkeit müssen wiederum an die Sozietät zurückfallen. Der Einzelne hat sie nur eine Zeitlang zu verwalten, weil es für den sozialen Organismus besser ist, wenn er sie verwaltet. Man kennt das, was man hervor­gebracht hat, selber am besten, daher kann man es zunächst audi am besten selber verwalten. Diese für die heutige Menschheit mindersten, nämlich die geistigen Güter, werden also in einer gewissen Weise unter Berücksichtigung des Zeitbegriffes sozial taxiert.

Einige kapitalistisch aussehende Zuhörer sollen neulich in Bern wütend geworden sein bei meinem Vortrage - so wurde mir be­richtet -, als ich sagte: Warum sollte denn zum Beispiel ein Gesetz unmöglich sein, das den Kapitalbesitzer verpflichtet, so und so viel Jahre nach seinem Tode sein Kapital zur freien Verwaltung einer Korporation, der geistigen Organisation, des geistigen Teiles des sozialen Organismus zuzuweisen? Man kann sich gewiß verschiedene Arten, ein konkretes Recht festzusetzen, ausdenken. Aber wenn man heute den Menschen zumuten würde, auf etwas zurückzukommen, was in der alten hebräischen Zeit rechtens war: nach einer bestimmten Zeit die Güterverteilung neu vorzunehmen, - so würden sie das heute als etwas Unerhörtes ansehen. Was ist aber die Folge davon, daß die Menschen das als etwas Unerhörtes ansehen? Die Folge ist, daß diese Menschheit in den letzten viereinhalb Jahren zehn Millionen Menschen getötet, achtzehn Millionen zu Krüppeln gemacht hat, und daß sie sich anschickt, weiteres nach dieser Richtung zu tun. Besonnen­heit in solchen Dingen ist denn doch vor allen Dingen notwendig. Es ist tatsächlich nichts Unbedeutendes, wenn verlangt wird, daß zum Begreifen des sozialen Organismus der Zeitbegriff herangezogen wird.

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Man denkt ja den sozialen Organismus ganz zeitlos, wenn man sagt:

das oder jenes soll schon im Entstehungszustand, im status nascens mit dem Kapital geschehen. Man muß das Kapital entstehenlassen, man muß es auch eine Zeitlang verwaltet sein lassen von denen, welche es haben entstehen lassen; man muß aber wieder die Möglichkeit haben, durch einen gesund, das heißt dreigliedrig funktionierenden Organis­mus es in die wirkliche Allgemeinheit der Menschen übergehen zu lassen.

Sie können nicht sagen: Warum sollte denn ein eingliedriger sozialer Organismus nicht das alles auch können? Das glauben nämlich heute noch die Menschen, daß der das auch kann. Es ist aber doch recht schlecht mit der Menschenpsyche gerechnet, wenn man das glaubt. Bedenken Sie nur, was es bedeutet, - denn man muß mit der mensch­lichen Seele rechnen - wenn ein naher oder entfernter Verwandter vor dem Richter steht. Er hat seine besonderen Gefühle als naher oder entfernter Verwandter, aber wenn er zu richten hat, wird er nicht nach diesem Gefühl richten, sondern selbstverständlich nach dem Gesetz. Er wird aus einer anderen Quelle heraus urteilen. Dieses in umfassender Weise psychologisch durchdacht, gibt Ihnen Ausblicke auf die Notwendigkeit, daß die Menschen das, was zusammenfließt im sozialen Organismus, aus drei verschiedenen Richtungen heraus beurteilen, aus drei Quellen heraus verwalten müssen. Unsere Zeit fordert nun einmal, daß man sich auf solche Dinge einläßt. Denn unsere Zeit ist die Zeit des Bewußtseinszeitalters, und dieses will kon­krete Ideen für den Menschen als Richtimpulse seines Handelns haben.

Viele Menschen fordern heute, man solle sich nicht an den Verstand und das abstrakte Denken halten (- denn sie kennen nur das ab­strakte Denken -), sondern aus dem Gemüte heraus urteilen, man solle sich vor allen Dingen in den Grundsätzen, welche das Leben von Mensch zu Mensch betreffen, an einen gewissen Glauben halten, denn das Denken sei doch nur für die eigentlichen Dinge der Wissen­schaft. Das ist darum sehr bedenklich, weil in unserer Zeit die Men­schen gerade zum allerabstraktesten Denken intensiv veranlagt sind. Die Menschen wollen ja nur die gradlinigsten Begriffe festhalten. Und wenn sie sie einmal festgehalten haben, so kleben sie mit unge­heurer Zähigkeit an diesen gradlinigen Begriffen.

Dieses abstrakte Denken ist vorzugsweise dasjenige, das nur den menschlichen Kopf zu seinem Organe hat, das am meisten an das

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physische Organ gebundene Denken. Früher, zur Zeit des atavisti­schen Hellsehens, kam in dieses Denken von der übrigen menschlichen Organisation noch ein nach dem Geiste gerichtetes Denken hinein. Diese Zeit des atavistischen Hellsehens ist vorüber. Bewußt müssen sich die Menschen nunmehr zu Imaginationen aufschwingen, bewußt das spiri­tuelle Leben erfassen. Denn ohne auf das spirituelle Leben einzugehen, bleiben heute die Gedanken der Menschen leer. Woher kommt das?

Sie wissen ja aus den Auseinandersetzungen, die wir in der letzten Zeit gepflogen haben, daß das, was heute bei jedem Menschen Kopf ist, eigentlich der aus der vorigen Inkarnation herübergekommene übrige Organismus, außer dem Kopfe, ist. Ich habe Ihnen das öfters auseinandergesetzt. Die Formkräfte des Kopfes, natürlich nicht die physische Substanz, aber die Formkräfte des menschlichen Hauptes, die ja auch in ihrer Rundung dem Kosmos gleichgebildet sind, gehen nach dem Tode in den Kosmos über. Was unser Leben an Kräften zwischen Tod und neuer Geburt überdauert und in der nächsten Inkarnation zum Kopf wird (- dem sich dann aus dem Leibe der Mutter, befruchtet vom Vater, der übrige Organismus angliedert -), das ist der übrige Leib der vorhergehenden Inkarnation. Den Kopf verlieren wir in bezug auf seine Kräfte, indem wir durch den Tod gehen; den übrigen Leib wandeln wir in bezug auf seine Kräfte um zu unserem Kopf in der nächsten Inkarnation. Die große Masse der heutigen Menschen war in der vorigen Inkarnation so auf die Erde gestellt, daß sie, wie man es damals meinte, im rechten christlichen Sinne Verächter waren des irdischen Jammertales. Diese Verachtung ist ein Gefühl. Das ist an den übrigen Organismus, nicht an den Kopf gebunden. Indem diese Menschen sich heute rëinkarnieren, wird das, was in der vorigen Inkarnation ein scheinbar sehr erhabenes christliches Gefühl war, weil es sich nunmehr im Organ des Kopfes ausbildet und rëinkarniert, in sein Gegenteil umgewandelt, es wird zur Sehnsucht nach der Materie, zur Sehnsucht nach dem materiellen Leben. Die heutigen Menschen sind an einem Wendepunkt der Ent­wicklung angelangt, von dem man sagen muß: in das Haupt ist sehr wenig aus der früheren Inkarnation gekommen. Und gerade deshalb muß etwas Neues in die Menschen hinein, etwas, was jetzige Offen­barung ist, was jetzt aus der geistigen Welt den Menschen neu ge­offenbart wird. Heute ist es nicht möglich, sich bloß auf die Evangelien

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zu berufen. Heute ist es notwendig, auf das hinzuhören, was heute der Menschheit an Geistigem gesagt wird. Audi die katholische Kirche nimmt teil an dem toten Denken, das nicht den lebendigen Organismus begreifen kann. Nicht müde wurden gerade die Redner dieser katholischen Kirche auch jetzt wiederum in Bern mit dem Bekenntnis zu Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes. Aber was nützt es, sich zu Christus, dem Sohn des lebendigen Gottes, zu be­kennen, wenn man diesen Christus nur erfaßt mit einem toten Den­ken, das heißt, wenn er in den eigenen Gedanken zum toten Ideal wird? Wir haben heute nicht nötig, uns zu berufen auf Christus, den Sohn des lebendigen Gottes, sondern wir haben nötig, uns zu berufen auf Christus, den lebendigen Sohn des Gottes, das heißt, auf den Christus, der jetzt lebendig wirkt, indem er neue Offenbarungen der Menschheit zukommen läßt.

Die Geisteswissenschaft will das, was jetzt als neue Offenbarung unmittelbar aus den spirituellen Welten zur Erde strebt, zuth Impuls allen Denkens machen. Dadurch würden die Menschen Gedanken erhalten, die in die Wirklichkeit untertauchen könnten. Diese Ge­danken würden allerdings in vieler Beziehung denen entgegengesetzt sein, die heute die Menschen beherrschen. An die kühnsten Gedanken, die der Wirklichkeit so fremd wie nur möglich sind, möchten sich die Menschen heute halten. Und haben sie einen solchen Gedanken, so klammern sie sich intensiv daran, merken aber nicht, welche Wirk­lichkeiten walten, die den Gedanken unter Umständen modifizieren. Ich will Ihnen ein eklatantes Beispiel vorführen.

So wie die Staatsmänner vom Frühling und Frühsommer 1914 von dem Weltfrieden geredet haben, so redeten jetzt in Bern die verschie-denen, wie man sagt «international» denkenden Menschen von dem kommenden Völkerbund. Sie wissen, der Gedanke des Völkerbundes ist entstanden aus dem Kopfe Woodrow Wilsons heraus. In jener Rede vom Januar 1917 hat Wilson diesen Gedanken vom Völkerbund geäußert. Er hat ihn hingestellt als das, was erstrebt werden müsse, damit die Menschen in der Zukunft nicht wiederum zu so furchtbaren Katastrophen kommen wie die es sind, in welche die Menschen der Gegenwart hineingetrieben wurden. Er hat das Streben nach diesem Völkerbund als etwas absolut Notwendiges bezeichnet. Zu gleicher Zeit sagte er, und das ist das Wichtige, daß die Verwirklichung dieses

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Völkerbundes an eine bestimmte Voraussetzung geknüpft sei; ohne diese Voraussetzung könne von der Begründung eines Völkerbundes überhaupt nicht gesprochen werden. Die notwendige Voraussetzung zur Begründung eines solchen Völkerbundes sei, daß dieser Krieg aus­gehe ohne den Sieg der einen Partei über die andere; denn niemals könne in einer Welt ein Völkerbund verwirklicht werden, wenn auf der einen Seite ein entscheidender Sieg, auf der anderen Seite eine entscheidende Niederlage eintrete.

Das ist die Voraussetzung, die Wilson für die Entstehung eines Völkerbundes machte. Eingetreten ist das genaue Gegenteil von dem, was Wilson als Voraussetzung für einen Völkerbund bezeichnet hat. Dennoch werden die Menschen den Völkerbund so begründen, wie Wilson im Januar 1917 als von einer Hypothese gesprochen hat. Das heißt eben gerade, in seinem Denken der Wirklichkeit ganz fern stehen, sich anklammern an einen Gedanken und gar nicht die Mög­lichkeit haben, mit diesem Gedanken in die Wirklichkeit unterzu­tauchen, die Wirklichkeit zu erfassen, einzubeziehen in seine Ge­danken diese Wirklichkeit. Das aber ist das Allernotwendigste für die Gegenwart! Den Leuten fällt gar nicht ein, daß sie nicht bei ihren Gedanken stehenbleiben dürfen, sondern daß es dringend nötig ist, von diesen Gedanken aus in die Wirklichkeit hineinzuschauen.

Ein Beispiel von einem gut meinenden Menschen konnte man jetzt wieder in Bern erleben an dem Pazifisten Schücking. Es wurde von dem Völkerbund mit allen seinen Einrichtungen gesprochen. Ku­rioserweise fielen sogar die Worte, daß man, entsprechend den Parla­menten innerhalb der einzelnen Staaten, einen Uberstaat und Über­parlamente anstreben müsse. Schücking sagte zum Beispiel: Da werde eingewendet, daß die verschiedenen Staaten doch Individualitäten seien und sich einer einheitlichen, zentralistischen überstaatlichen Lei­tung nicht fügen würden. Dem widerspreche aber, was die National­versammlung in Weimar tue. Da seien gerade die kleinen Territorial-fürstentümer auch Individualitäten, aber es sei doch ein Sinn dafür vorhanden, das Ganze zusammenzufassen. - Es ist dies ein nahe­liegender, ein selbstverständlicher Gedanke für Abstraktlinge; denn was könnte einleuchtender sein, als daß man das, was man im Kleinen kann mit den vielen Fürstentümern, sie nämlich zusammenzufassen durch die Nationalversammlung, nun auch im Großen in bezug auf

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den Überstaat zu verwirklichen sucht? Wer aber real, konkret denkt, wer gleich mit seinen Gedanken in die Wirklichkeit geht, der sagt:

wodurch ist das möglich geworden in Weimar? Doch nur dadurch, daß eine deutsche Revolution stattgefunden hat! Sonst wäre gar keine Rede davon gewesen, daß die Territorialfürsten abgeschafft worden wären.

Es ist so schwer, den Leuten heute klar zu machen, daß ein ganz neues Denken notwendig ist, ein wirklichkeitsfreundliches Denken, und daß die Gesundung unserer Zustände von der menschlichen Neigung für dieses wirklichkeitsbefreundete Denken abhängt. Ein Denken aber, das nichts wissen will von der geistigen Welt, kann nicht in die Wirklichkeit untertauchen, denn in aller Wirklichkeit lebt eben die geistige Welt. Und wenn man nichts wissen will von der geistigen Welt, dann kann man heute schon nicht und in der Zukunft erst recht nicht die Wirklichkeit erfassen. Daher ist eine Hauptbedingung für die Gesundung der heutigen Welt die Hinwen­dung der Menschheit zur geisteswissenschaftlichen Erkenntnis. Die muß die Grundlage bilden, und könnte die Grundlage bilden, kann leicht die Grundlage bilden.

Sagen Sie nicht immer die oberflächlichen, geschwätzigen Worte, es sei schwer, diese Geisteswissenschaft in die Wirklichkeit überzu­führen, weil die Menschen Geisteswissenschaft nicht annehmen wollen. Schaffen Sie die staatliche Oberaufsicht über Universitäten, Gym­nasien, Volksschulen ab, - und in zehn Jahren ist an die Stelle der heutigen, Menschenseelen ertötenden und verderbenden Wissenschaft die Geisteswissenschaft getreten, wenigstens in ihren elementaren Grundlagen! Denn was heute aus dem emanzipierten Drittel des gesunden sozialen Organismus, aus der geistigen Organisation heraus erwachsen kann, wird anders ausschauen als das, was überwacht worden ist von jenem Staate, der nur seine Geistlichen ausbilden wollte, das heißt nur eine Staatstheologie duldete, oder nur seine Juristen ausbilden wollte, daher eben seine Staatsjuristen nur gelten ließ. Von der Medizin gar nicht zu reden, wo es blödsinnig und lächerlich ist, daß eine andere Medizin gelten soll drüben und hüben, über die Grenzen von Staat zu Staat, daß nicht dasselbe Wissen heilsam sein soll für die Menschen hier und dort. Ich habe Ihnen öfter betont, für das sozialistische Denken ist alles geistige Leben eine Ideologie. Welches ist denn der tiefere Grund, daß alles geistige Leben

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für das sozialistische Denken der proletarischen Masse heute eine Ideologie ist? Weil ja alles Wissen getragen werden soll von einem Äußeren, von dem politischen Staate, weil es nur der Schatten des politischen Staates ist! Es ist ja eine Ideologie! Soll das geistige Leben nicht Ideologie sein, so muß es aus seinen eigenen Kräften heraus fortwährend seine Wirklichkeit beweisen, das heißt, es muß auf sich selbst gestellt sein. Das geistige Leben hat seine Wirklichkeit fort­während zu beweisen und darf keine äußere Stütze haben.

Nur ein solches geistiges Leben, das keine andere Stütze hat, das sich lediglich auf die menschlichen Fähigkeiten gestellt sieht, das sich lediglich aus sich selbst verwaltet, ein solches geistiges Leben wird in gesunder Weise auch seine Zweigströmungen in den Kapitalismus hin-einsenden. Denn die Verwaltung durch Kapitalismus ist auch keine an­dere als die durch menschliche Fähigkeiten. Machen Sie das geistige Le­ben an seinem Ursprunge gesund, so wird es auch da gesund, wo es in den Kapitalismus einmundet und das Wirtschaftsleben zu leiten hat.

So hängen die Dinge zusammen, und mit diesem Zusammenhang muß man sich bekannt machen. Meiden muß man das Denken der heutigen Abstraktlinge, das wirklichkeitsfremde Denken, das einem auf Schritt und Tritt überall entgegenkommt, und das die Zustände hervorgerufen hat, von denen unsere heutigen Zustände die Folge sind. Dieses wird nur noch nicht eingesehen.

Heute fragen die Menschen: Wie muß der Überstaat beschaffen sein? und denken an den bisherigen Staat. Was der getan hat, das soll auch der Uberstaat tun. Aber liegt es nicht viel näher, zu fragen, was dieser Staat unterlassen soll? Nachdem die Staaten zur euro­päischen Katastrophe geführt haben, liegt es viel näher, zu fragen, was sie unterlassen sollen. Unterlassen sollen sie, sich einzumischen in das geistige Leben, unterlassen sollen sie, Wirtschafter zu sein, beschränken sollen sie sich auf das bloße politische Gebiet! Heute kann man nicht fragen: wie wird ein Völkerbund begründet? und sich für diesen Völkerbund zum Muster nehmen, was die Staaten getan haben oder tun sollen, sondern es ist besser und zeitgemäßer, zu fragen, was die Staaten unterlassen sollen.

Die Menschen sind noch wenig geneigt, auf diese Dinge wirklich einzugehen. Aber das Schicksal der Menschheit unserer Zeit wird davon abhängen, ob man auf diese Dinge eingeht.

VIII Hegel und Marx. Der Ausgleich in einem vergeistigten Sozialismus

#G189-1957-SE134 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

VIII

Hegel und Marx.

Der Ausgleich in einem vergeistigten Sozialismus

#TX

Gestern führte ich aus, um zu zeigen, wie weit das gegenwärtige Denken von der Wirklichkeit abliegt, daß man jetzt in den Kreisen, die sich mit internationalen Fragen beschäftigen, ganz vergißt, daß die Begründung eines Völkerbundes gemäß der Wilsonschen Idee seinerzeit nur als möglich erachtet wurde im Falle eines Friedens ohne den Sieg der einen oder der anderen Seite. Ich möchte Ihnen heute, damit Sie sehen, in welch scharfer Weise am 22. Januar 1917 Wilson diese Bedingungen für den Völkerbund aufgestellt hat, den betreffenden Abschnitt aus seiner Rede in der deutschen Übersetzung vorlesen. Wilson sagt:

«Vor allem anderen ist damit gesagt, daß ein Friede ohne Sieg sein muß. Es ist nicht angenehm, das sagen zu müssen. Man wolle mir gestatten, meine eigene Auffassung dafür darzulegen und zu betonen, daß mir keine andere Auffassung in den Sinn gekommen ist. Ich suche bloß den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, und zwar ohne alle scho­nenden Vertuschungen. Ein Sieg würde zu bedeuten haben, daß der Friede dem Besiegten aufgezwungen würde, daß der Unterlegene sich den Bedingungen des Siegers zu beugen hätte. Solche Bedin­gungen könnten nur in tiefer Demut, im Zustande der Nötigung und unter unerträglichen Opfern angenommen werden, und es würde eine schmerzende Wunde, ein Gefühl des Grolls und eine bittere Erinne­rung zurückbleiben. Ein Friede, der auf solcher Grundlage ruhte, könnte keinen Bestand haben, sondern wäre wie auf Triebsand ge­baut. Nur ein Friede zwischen Gleichgestellten kann von Dauer sein

- ein Friede, der seinem ganzen Wesen nach auf Gleichheit und auf dem gemeinsamen Genuß einer allen gemeinsam zugutekommenden Wohltat beruht. Die rechte Gesinnung, die rechte Gefühisstimmung zwischen den verschiedenen Nationen ist für einen dauerhaften Frie­den ebenso notwendig, wie die gerechte Beilegung hartnäckiger Streit­fragen über Gebiets- oder Rassen- oder Volkszugehörigkeit. »

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Das wurde dazumal als Bedingung für die Begründung eines Völ­kerbundes geltend gemacht. Und wenn klar gedacht wird, dann muß gesagt werden, daß in dem Augenblicke, in dem es einen solchen Frie­den ohne Sieg nicht gibt, alles Gerede über einen gegenwärtig zu be­gründenden Völkerbund, der doch keine Aussichten auf irgendwelches Gedeihen bieten könnte, aufgegeben werden müßte. Aber das ist nicht geschehen. Die Leute denken nicht der Wirklichkeit entsprechend, sie denken abstrakt und lassen die Gedanken so fortrollen, wie sie einmal zu rollen begonnen haben, ganz gleichgültig, ob diese Gedanken unter Voraussetzungen gefaßt sind, die jetzt noch zutreffen, oder nicht. Es ist dies nur ein eklatantes Beispiel für das Denken, das die Welt in so gro­ßes Unglück gebracht hat. Und ehe man nicht einsehen wird, daß an die Stelle dieses wirklichkeitsfremden Denkens ein anderes treten muß, wel­ches in die Wirklichkeit unterzutauchen vermag, werden sich die Verhält­nisse ganz gewiß nicht in einer der Menschheit heilsamen Art ändern.

Das muß in bezug auf die großen Angelegenheiten der Welt, das muß auch für alles, was ein jeglicher in seinem alltäglichen Leben zu ordnen hat, eingesehen werden. Denn die Maßnahmen, die der Einzelne im alltäglichen Leben trifft, hängen zusammen mit den höchsten Angelegenheiten der Menschheit. Daher muß uns immer wieder die Frage vor die Seele treten: was könnte denn in der Gegen­wart eine wirkliobe Änderung hervorrufen?

Wir wissen ja, bei dem, was wir Annahme der Geisteswissenschaft durch die Menschen nennen, handelt es sich nicht allein darum, daß eine bestiminte Überzeugung von den übersinnlichen Welten aufge­nommen werde. Das wäre das Was. Es handelt sich darum, daß derjenige, der im wahren Sinne des Wortes in sein Denken aufnimmt, was heute gerechterweise aus den geistigen Offenbarungen der Zeit heraus über die übersinnlichen Welten gesagt werden kann, zu einem gewissen Wie in seinem Denken gelangt, daß sich sein Denken allmäh­lich umgestaltet in einer solchen Art, daß er wirklich einen Sinn und ein Interesse erhält für das, was in der Welt wahrhaftig und wirklich vorgeht. Also nicht allein auf das, was wir durch die Geisteswissen­schaft anerkennen lernen, kommt es an, sondern wie wir durch die Gei­steswissenschaft unser ganzes Denken umgestalten. Daher muß uns die Frage ganz besonders naheliegen: wie kommt es, daß in der Gegen­wart ein so starker Widerstand herrscht gegen die Geisteswissenschaft?

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Nun habe ich schon gestern darauf aufmerksam gemacht, daß alles, was man über diesen Widerstand sagen kann, zugleich bezogen wer­den muß auf das, was unter dem Einfluß des dreigliedrigen sozialen Organismus entstehen kann. Ich sagte gestern: man trete nur einmal wirksam dafür ein, daß das Geistesleben auf seine eigenen Füße gestellt wird, für die Unabhängigkeit des Geisteslebens vom Wirt­schaftskreislauf und vom politischen Staatsleben, dann wird man in verhältnismäßig kurzer Zeit Geisteswissenschaft zur Verbreitung bringen. Aber man kann doch noch tiefer auf die Sache eingehen und fragen: Warum sind denn die Leute so wenig geneigt, gerade die Not­wendigkeit einer wahrhaftigen Emanzipation des Geisteslebens, eines Auf-sich-Gesteiltseins des Geisteslebens einzusehen? Der Grund ist, daß das Geistesleben in der neueren Zeit eine gewisse Gestalt angenommen hat, welche die Menschen geradezu abhält, ihre Blicke nach der geisti­gen Welt hin zu richten. Man könnte sogar sagen, daß die gegenwärti­gen traurigen Ereignisse in gewisser Beziehung eine Art von Strafe seien für die notwendigeVerkennung des geistigenLebens, die in der neueren Zeit eingetreten ist. Es muß eingesehen werden, daß man ohne die Überleitung der menschlichen Gedanken in eine soziale Richtung in der Zukunft nicht auskommen wird. Das lehren die Tatsachen, solche Tat­sachen, gegen die anzukämpfen eine Torheit ist. Auf der anderen Seite aber muß ganz tief in seinen Untergründen eingesehen werden, daß jegliche Art von Sozialismus ohne gleichzeitig vor sich gehende Vergei­stigung nicht das Heil, sondern das Unheil der Menschheit bewirken muß. Eine Grundlage, um das einzusehen, verschafft man sich am besten, wenn man das sozialistische Denken in seinem Hervorgehen aus dem übrigen neuzeitlichen Denken einmal gründlich ins Auge faßt.

Andeutungen darüber habe ich Ihnen ja schon gegeben. Wir wollen heute mancherlei von dem zusammenfassen, was wir bisher gehört haben. Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß in Geistern wie Fichte, wenn sie ihr Denken auf das soziale Gebiet lenken, etwas steckt, das zu ganz ähnlichen Anschauungen führt, wie sie uns heute im Bolschewismus entgegentreten. Ich habe das dadurch zum Aus­druck zu bringen versucht, daß ich sagte: Fichte wäre ein wirklicher, echter Bolschewist, wenn er seine sozialen Theorien in die Praxis um­gesetzt hätte. Fichte selbst hatte noch so viel Geistigkeit, daß er, ohne den Menschen gefährlich zu werden, dazumal bolschewistische Ideen

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in seinem «Geschlossenen Handelsstaat», drucken lassen konnte. Heute besteht ja so wenig Neigung, auf den wirklichen Inhalt von Dingen einzugehen, daß es gar nicht gemerkt wird, daß Fichte in seinem «Ge­schlossenen Handelsstaat» ein echter Bolschewist ist.

Das für die neuere Zeit ganz besonders charakteristische Denken ist jedoch in Hegel zum Vorschein gekommen. Von Hegel ist wie­derum Karl Marx abhängig, allerdings in einer höchst merkwürdigen Weise. Wenn uns das auch scheinbar in abstrakte Höhen führt, möchte ich Ihnen doch einmal über die besondere Artung des Hegelschen Den­kens sprechen. Es ist ja in den Wirren der letzten viereinhalb Jahre viel Unzutreffendes gerade über Hegel gesagt worden. Warum sollte man nicht auch einmal objektiv auf seine Denkart eingehen können?

Fassen wir einmal ins Auge, wie Hegel über die Welt gedacht hat, wie er versucht hat, den Blick auf die Offenbarungen der Weltge­heimnisse zu richten. Hegel stellt ja das, was er über die eigentliche Grundwesenheit der Welt zu sagen hat, an verschiedenen Orten ganz übersichtlich dar; am übersichtlichsten in seiner «Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften». Betrachten wir einmal in ganz po­pulärer Weise, welche Weltanschauung da zum Ausdruck kommt. Hegels Weltanschauung zerfällt in drei Teile. Den ersten nennt Hegel Logik. Logik ist aber für ihn nicht die Kunst des subjektiven mensch­lichen Denkens, sondern die Summe aller Ideen, welche in der Welt selbst wirksam sind. Hegel sieht nämlich in den Ideen nicht nur das, was in den menschlichen Köpfen spukt. Das ist für ihn nur die Anschauung der Idee. Ideen sind für Hegel gewissermaßen Kräfte, welche in den Dingen selber wirken. Und Hegel geht nicht weiter zum Wesen der Dinge zurück, als bis zu den Ideen, so daß er gleich­sam in seiner Logik die Summe aller Ideen geben will, die in den Dingen enthalten sind. Die Ideen, die sich noch nicht schöpferisch in der Natur erweisen, die Ideen, die noch nicht im Menschen zur Spiegelung, zum Erkennen gelangen, sind die Ideen an sich, die in der Welt als Ideen wirken. Ich weiß sehr wohl, daß Sie aus dem, was ich sage, vielleicht nicht besonders klug werden können; aber das behaupten ja die Leute schon lange, daß sie aus Hegel nicht klug werden, weil sie sich nicht vorstellen können, daß ein reines Ideen-gewebe existieren kann. Hegel aber sieht in diesem reinen Ideen-gewebe Gott vor der Erschaffung der Welt. Gott ist für Hegel eigentlich

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eine Summe, besser gesagt ein Organismus von Ideen, und zwar in der Form, wie diese Ideen existiert haben, bevor die Natur ent­standen ist, und bevor auf Grundlage der Natur sich der Mensch entwickelt hat. So sucht Hegel die Ideen in der reinen Logik dar­zustellen. Das ist Gott vor der Erschaffung der Welt. Gott vor der Erschaffung der Welt ist also die reine Logik.

Nun könnte man sagen, es wäre schon sehr fruchtbar für das menschliche Geistesleben, wenn jemand alle Ideen hinstellen würde, welche da waren, gleichgültig, ob sie Ideen eines lebendigen Gottes waren, oder ob sie nur als Ideen wie ein Spinngewebe in der Luft

- die es aber damals auch noch nicht gegeben hat -, geschwebt haben mögen; es wäre das schon ein Gewinn für die menschliche Seele. Wenn Sie sich aber diese reine Logik bei Hegel vornehmen (und das ist der Grund, warum so wenige sie vornehmen) -, so finden Sie wiederum nichts als ein Gewebe von Ideen. Begonnen wird mit dem ärmsten Begriffe, dem vom reinen Sein. Dann wird weiter aufge­stiegen zu dem Nichtsein, dann zu dem Dasein und so fort. Sie wer­den also angehalten, die Summe aller Ideen, die sich der Mensch über die Welt macht, auf die er gewöhnlich nicht reflektiert, weil ihm das zu langweilig ist, vom reinen Sein bis zum zweckmäßigen Aufbau des Organismus, abgesehen von jeder äußeren Welt, sich einmal vor die Seele zu stellen. Da bekommen Sie nun eine Summe von Ideen, aber nur von abstrakten Ideen. Und das lebendige Fühlen des Men­schen wird natürlich eine gewisse Stellung einnehmen gegenüber dieser Summe oder diesem Organismus von abstrakten Ideen. Nun könnte jemand einwenden: das ist ein pantheistisches Vorurteil von Hegel, zu glauben, die Ideen als solche seien da; ich stelle mich auf den Standpunkt, ein Gott wäre vor der Erschaffung der Welt dagewesen, der eben diese Ideen gehabt und nach ihnen die Welt geschaffen hätte. Nun versuchen Sie sich aber einmal die Vernuft und das Seelenleben eines Gottes vorzustellen, der nichts anderes in sich gehabt hätte als die Hegelschen Ideen, der also immer nur nachgedacht hätte über das, was zwischen dem Sein und dem zweckmäßigen Organisieren lebt, der in sich nur die Ideen der alleräußersten Abstraktion gehabt hätte! Was würden Sie zu einer solchen Zumutung, sich dieses Seelenleben Gottes zu denken, sagen? Sie würden gar nicht begreifen können, wie ein Gott so ärmlich sein kann, in seiner göttlichen Vernunft nur diese abstrakten

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Ideen zu denken! Und dennoch, für Hegel ist die Summe die­ser abstrakten Ideen Gott selbst, nicht nur der Verstand Gottes, son­dern sogar Gott selbst vor der Erschaffung der Welt! Das Wesentliche ist, daß Hegel in Wirklichkeit nicht über abstrakte Ideen hinaus-kommt, sondern gerade die abstrakten Ideen als das Göttliche ansieht.

Dann schreitet er vor zu dem Zweiten: der Natur. Auch da könnte 1ch Ihnen gewisse definitionsartige Urteile geben über die Art, wie Hegel von der Idee, das heißt von Gott vor der Erschaffung der Welt, bis zu der Natur vorschreitet. Aber auch davon würden Sie wahrscheinlich, wenn Sie sich an Ihre Ihnen bis jetzt gebräuchlichen Denkgewohnheiten halten, nicht gerade sehr viel haben. Die Logik enthält nach Hegel die Idee an und für sich. Die Natur enthält die Idee in ihrem Außersichsein. Was Sie also als Natur überschauen, ist auch Idee, ist eigentlich nichts anderes als das, was die Logik enthält, nur eben in der anderen Form, der des Außersichseins oder des An­dersseins. Und dann nimmt Hegel die Natur durch von der bloßen Mechanik bis zur Darstellung der biologischen, pflanzlichen, tierischen Verhältnisse. Er versucht überall, insoweit die Natur dem Menschen vorliegt, Ideen in ihr nachzuweisen, im Lichte, in der Wärme, in anderen Kräften, in der Schwerkraft und so weiter. Hegel entschädigt den, der seine Abstraktheit sinnvoll hinnehmen kann, durch eine gerade ihm eigene Anschaulichkeit und Bildlichkeit. - Allein diese Anschaulichkeit und Bildlichkeit Hegels wird manchmal gefährlich für das Verständnis dessen, was er eigentlich gewollt hat. Ich habe einmal einem befreundeten Universitätsprofessor gegenüber, einem Philosophen, Hegel zu verteidigen versucht. Sie wissen, ich verteidige Hegel, weil ich es für fruchtbarer halte, alles wirklich Positive zu verteidigen, als immer bloß auf die eigene Meinung zu schwören und alles andere in Grund und Boden zu kritisieren. Wenn irgend etwas gut ist, so verteidige ich es immer; das ist der Positivismus der Gei­steswissenschaft. Aber dazumal kam ich mit jener Verteidigung Hegels etwas schief an. Der Betreffende sagte: ,,Lassen Sie mich in Ruhe mit Hegel; einen Menschen, der über die Kometen nichts anderes zu sagen weiß, als daß sie ein Aussatz am Himmel sind, den kann man doch nicht ernst nehmen!" Natürlich muß man eine solche Bemer­kung, daß die Kometen ein Ausschlag, so etwas wie Masern oder dergleichen am Himmel seien, im ganzen Zusammenhang nehmen.

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Nachdem nun Hegel gewissermaßen ein Register aller Begriffe gegeben hat, aller Ideen, die in der Natur verkörpert sind, steigt er auf zum Dritten: zum Geist. Im Geist sieht er die Idee in ihrem Fürsichsein, das heißt, da ist sie nicht nur so, wie sie war vor der Erschaffung der Welt, nicht nur in ihrem Ansichsein, sondern da ist sie für sich. Die Idee lebt in der menschlichen Seele, dann draußen objektiv, und außerdem noch für sich für den Menschen. Da der Mensch aber Idee ist, weil alles Idee ist, so ist das die Idee in ihrem Fürsichsein. Da versucht Hegel wiederum, die Idee zu verfolgen, wie sie anwesend ist erst in der Seele des einzelnen menschlichen Indivi­duums, dann wie sie anwesend ist - wenn ich einiges überspringe -im Staate. In der Seele des Menschen arbeitet die Idee im Innern; im Staate hat sie sich wiederum verobjektiviert, da lebt sie in den Gesetzen, in den Einrichtungen. In alledem lebt die Idee, da ist sie objektiv geworden. Sie entwickelt sich dann objektiv weiter in der Weltgeschichte. Staat, Weltgeschichte! Da wird also alles an Ideen registriert in der Weltgeschichte, was die Fortentwicklung der Mensch­heit auf dem physischen Plane bewirkt. Alles, was an Ideen in Seele, Staat, Weltgeschichte lebt, führt aber nirgends aus dem physischen Plan hinaus, macht nirgends den Menschen aufmerksam darauf, daß es etwa eine übersinnliche Welt gibt; denn die übersinnliche Welt ist für Hegel eben nur die Summe der Ideen, die in alledem lebt: einmal im Ansichsein vor der Erschaffung der Welt, dann in dem Außer­sichsein in der Natur und in dem Fürsichsein in der menschlichen Seele, im Staat und in der Weltgeschichte.

Und dann entwickelt sich die Idee zum Höchsten, kommt gewis­sermaßen in einem letzten Augenblick des Werdens zu sich, in Kunst, Religion und Philosophie.

I Logik: Idee an und für sich.

II Natur: Idee in ihrem Außersichsein' Anderssein.

III Geist: Idee in ihrem Fürsichsein.

Seele - Staat - Weltgeschichte.

Kunst - Religion - Philosophie.

Wenn die drei: Kunst, Religion und Philosophie im Menschen­leben auftreten, stehen sie über dem Staat und über der Weltge-schichte, aber sie sind doch nur die Verkörperung der reinen Logik,

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die Verkörperung der abstrakten Ideen. In der Kunst stellen sich diese Ideen, die vor der Erschaffung der Welt als Logik existiert haben, im sinnlichen Bild dar, in der Religion durch die gefühlsmäßige Vor-stellung, und in der Philosophie tritt endlich die Idee in ihrer reinen Gestalt selber im menschlichen Geiste auf. Der Mensch erfüllt sich mit Philosophie, blickt auf alles andere, was die Menschheit und die Natur an Ideen hervorgebracht hat, zurück, und fühlt sich nun erfüllt von dem Gotte, der aber seinerseits die Idee ist, die zurückblickt auf ihr ganzes vorhergehendes Werden. Der Gott schaut sich im Men­schen selber an. Aber eigentlich schaut sich die Idee im Menschen selber an. Abstraktion schaut die Abstraktion an.

Man kann sich nichts Genialeres denken als diesen Gedanken über die menschliche Abstraktion, wenn man die Genialität auf dem Gebiete des Abstrakten ins Auge faßt. Und man kann sich eigentlich nichts innerlich Kühneres denken, als wenn der Mensch geltend macht:

das Höchste sind die Ideen; außer den Ideen gibt es keinen Gott; die Ideen sind der Gott und du, Menschenseele, bist auch Idee, nur daß es die Idee in dir zu ihrem Fürsichsein gebracht hat; sie schaut sich an.

Sie sehen, wir schwimmen in Ideen, wir sind selber Ideen, alles ist Idee: die Welt in ihrer alleräußersten Abstraktion. Es ist von unge­heurer Bedeutung, daß gerade um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und während des neunzehnten Jahrhun­derts ein Geist aufgetreten ist, der die Kühnheit hatte zu sagen: Nur derjenige erfaßt die Wirklichkeit, der sie in der abstrakten Idee erfaßt; es gibt keine andere, höhere Wirklichkeit als die abstrakte Idee.

In der ganzen Philosophie Hegels fehlt allerdings vom Anfang bis zum Ende jeglicher Weg, der in die übersinnliche Welt hineinführen würde. Es kann für Hegel gar keinen solchen Weg in die übersinnliche Welt hinein geben; denn stirbt der Mensch, so geht er im Sinne der Hegelschen Philosophie, weil der Mensch eigentlich Idee ist, in die allgemeine Strömung der Weltenideen ein. Und nur über diese Strö­mung der Weltenideen kann man etwas sagen. Es gibt keinen ein­zigen Begriff - das ist eben gerade das Großartige der Hegeischen Philosophie -, der von etwas Übersinnlichem handelte. Alles, was uns - allerdings in eisigster Abstraktion - als Philosophie Hegels entgegentritt, ist selbst übersinnlich, aber eben das Abstrakt-Über-sinnliche. Das erweist sich als gänzlich ungeeignet, um etwas Übersinnliches

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aufzunehmen; es erweist sich nur als geeignet, das Sinnliche in sich aufzunehmen. Durch ein Übersinnliches wird das Sinnliche vergeistigt, allerdings nur in abstrakten Formen; aber zu gleicher Zeit wird alles Übersinnliche abgewiesen, weil die Summe der Ideen, die vom Anfang bis zum Ende gegeben werden, sich eben nur auf die sinnliche Welt bezieht. So kommt - möchte ich sagen - der über­sinnliche Charakter dieser Ideen bei Hegel gar nicht so sehr in Be­tracht, denn dieses Übersinnliche bezieht sich nicht auf ein Übersinn­liches, sondern nur auf das Sinnliche.

Auf dieses möchte ich Sie besonders aufmerksam machen: daß die Tendenz des neuzeitlichen Denkens sich darin äußerte, einmal mit aller Gründlichkeit das Übersinnliche abzuweisen; aber nicht mit dem oberflächlichen Materialismus, sondern mit der höchsten Kraft des geistigen Denkens. Hegel ist daher kein Materialist, er ist objektiver Idealist. Sein objektiver Idealismus vertritt die Anschauung, daß die objektive Idee selbst der Gott, Grundlage der Welt und alles sei.

Wer einen solchen Geistesimpuls ausdenkt, empfindet an diesem Ausdenken eine gewisse innere Befriedigung, die ihn über das, was fehlt, hinwegschauen läßt. Wer ein solches System nicht ursprünglich denkt, sondern es nachdenkt, kann dann um so härter das Unge­nügende empfinden. Darauf habe ich in meinem Buch «Vom Men­schenrätsel» ja hingewiesen.

Jetzt denken Sie sich, daß nicht ein Mensch wie Hegel, mit einem inneren übersinnlichen Impuls, in dieser Weise seine Gedanken spinnt, sondern daß dieses Denken aufgenommen wird von einem anderen Kopf, der nur Sinn hat für das Materielle, wie das bei Karl Marx der Fall war. Dann wird diese idealistische Philosophie Hegels gerade der Anlaß, alles Übersinnliche und damit alles Ideali­stische abzulehnen. So geschah es bei Karl Marx. Dieser eignete sich die Hegelsche Form des Denkens an. Allein, er betrachtete nun nicht die Idee in der Wirklichkeit, sondern er betrachtete die Wirklichkeit so, wie sie sich selbst fortwährend als bloße äußere materielle Wirk­lichkeit fortspinnt. Er setzte den Impuls des Hegeltums fort und materialisierte ihn. So wurzelt gerade der Grundnerv des modernen sozialistischen Denkens in der Gipfelung des modernen idealistischen Denkens. Daß sich auch persönlich und weltgeschichtlich der aller­abstrakteste Denker mit dem allermateriellsten Denker berührt, war

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eine innere Notwendigkeit des neunzehnten Jahrhunderts, ist aber auch die Tragik des neunzehnten Jahrhunderts; es ist gewissermaßen das Umschlagen des Geisteslebens in sein Gegenteil.

Hegel schreitet in den abstrakten Begriffen fort. Das Sein schlägt um, wird zum Nichtsein, kann sich mit dem Nichtsein nicht vertragen, wird dadurch zum Werden. Und so schreitet der Begriff durch Thesis, Antithesis, Synthesis weiter nach einem gewissen inneren Dreiklang, den Hegel großartig handhabt, im Felde der reinen Idee. Karl Marx überträgt diesen innerlichen Dreiklang, den Hegel für Logik, Natur, Geist in der inneren Ideen-Bewegung gesucht hat, auf die äußere materielle Wirklichkeit, indem er zum Beispiel sagt: Aus der neueren privatwirtschaftlich-kapitalistischen Gemeinsamkeitsform der Men­schen entwickelte sich, wie bei Hegel aus dem Sein das Nichtsein, die Trustbildung, die kapitalistische Sozialisierung der privatkapita­listischen Wirtschaft. Wenn die Trusts immer mehr und mehr Betriebs­mittel zusammenfassen, so schlägt gerade das Eigentum an Privat-kapital in sein Gegenteil um. Es entstehen Sozietäten, das Gegenteil der Wirtschaft durch den Einzelnen. Das hat in sein Gegenteil um-geschlagen, in die Antithesis. Jetzt kommt die Synthesis. Das Ganze schlägt noch einmal um, wie das Nichtsein in das Werden, und die Zusammenschweißung der Privatwirtschaften in die Trustwirtschaften schlägt in das noch Größere um, das wiederum die Trustwirtschaften aufhebt, in die Gemeinwirtschaft an Produktionsmitteln. So schreitet die rein außere ökonomische Wirklichkeit im Dreiklang fort. Karl Marx hat da ganz nach dem Muster von Hegel gedacht, nur daß Hegel sich mit seinem Denken im Element der Ideen bewegt, Marx im Weben und Leben der äußeren ökonomischen Wirklichkeit. So liegen die Extreme beieinander, man möchte selbst sagen: wie Sein und Nichtsein.

Sie können nun streiten, so lange Sie wollen, über Idealismus und Realismus, Spiritualismus und Materialismus, da gibt es kein Resultat, kein Ergebnis. Das, was den Menschen trägt, kann einzig und allein gefunden werden, wenn im Sinne der modernen Trinität gedacht wird: der Mensch in der Mitte; das eine Extrem, das Luziferische, auf der einen Seite; das ahrimanische Extrem auf der anderen Seite. Der ahrimanische Materialismus, der luziferische Spiritualismus als die beiden Extreme, der Mensch als Gleichgewichtslage. Sie können,

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wenn Sie zur Wahrheit kommen wollen, nicht Idealist oder Realist, Materialist oder Spiritualist sein, Sie müssen sowohl das eine wie das andere sein. Sie müssen den Geist suchen bis zu einer solchen Intensität, daß Sie ihn als Geist auch in der Materie finden, und Sie müssen die Materie so durchschauen, daß Sie durch die Materie hin­durch den Geist finden können. Das ist die Aufgabe der neueren Zeit, nicht weiter zu streiten über Spiritualismus und Materialismus, sondern die Gleichgewichtslage zu finden. Denn die beiden Extreme, die des Hegelschen Luziferismus und die des Marxschen Ahrimanismus haben sich ausgelebt. Sie waren da, sie haben sich geoffenbart. Es muß nun wirklich das gefunden werden, was den Ausgleich bilden kann. Und das kann eben die anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft sein. Da muß allerdings bis zu einem ebenso reinen Denken heraufgestiegen werden, wie Hegel es erreicht hat; aber dieses reine Denken muß benützt werden, um zu dem Übersinnlichen durchzu-brechen. Man muß nicht Logik finden, das heißt einen Organismus von Ideen, der sich dann doch nur auf die Sinnenwelt beziehen kann, man muß an der Stelle, wo man die Logik entdeckt hat, aus dem Sinnlichen in das Übersinnliche durchbrechen. Dieses Durchbrechen ist eben bei Hegel noch nicht gelungen. Daher wurde die Menschheit wieder zurückgeworfen.

Es hängt in einer gewissen Weise mit dem Reinsten und mit dem Edelsten zusammen, wozu sich das neuzeitliche Denken erhoben hat, daß der Sozialismus ohne den Hinweis auf irgend etwas Geistiges erschienen ist. Und daß es so schwer wurde, in der Gegenwart zum sozialistischen Denken das geistige Denken hinzuzufügen, das ist schon im inneren Entwicklungsgange der Menschheit in einer gewissen Weise mitbegründet. Nur muß man den ganzen Zusammenhang einsehen, da­mit man die Kraft gewinnt, aus dem Zusammenhang heraus das Erlö­sende zu finden. Dazu hat es der wissenschaftliche Betrieb, der heute durch die Universitäten propagiert wird, wahrhaftig nicht gebracht.

Hegel hat den Menschen nicht physisch, sondern gedanklich aus­gepreßt, wie man eine Zitrone auspreßt, bis sie ganz trocken wird; und diese trockene Menschheits-Zitrone ist dann nur noch eine Idee. Sie sitzen hier auf Ihren Stühlen; im Sinne der Hegelschen Philo­sophie sind Sie lauter Ideen, die hier sitzen, nicht Körper, nicht Seelen, sondern Ideen, denn jeder von Ihnen trägt eine Idee in sich;

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die war schon vor der Erschaffung der Welt als abstrakte Idee da. Dann ist jeder für sich Körper, Natur: die Idee im Außersichsein sitzt da auf den Stühlen. Dann ist in Ihnen wiederum die Idee in ihrem Fürsichsein. Sie fassen selbst diese Idee, die Sie sind. Denken Sie, was Sie da für ein Schemen sind! Denken Sie nur, wie Sie aus­gepreßt sind, wenn Sie als Idee dasitzen an sich, außer sich, und für sich, aber immer nur als Idee!

Im Sinne von Karl Marx sind Sie nun alles andere als Ideen; ge­rade weil er durch die Methode des Hegelschen Idealismus gegangen ist, sind Sie für ihn nur das zweibeinig gewordene Tier, als was Sie in der Naturordnung äußerlich erscheinen. Das andere Extrem!

Mußte da nicht, gegenüber dem in der Entwicklung der Mensch­heit Vorhandenen, der Versuch unternommen werden, den Menschen auch in der Anschauung wieder zum Menschen zu machen, das heißt, nicht bloß die allgemeine Idee und auch nicht den bloß tierischen Menschen als das Wesen des Menschen hinzustellen, sondern den wirklichen, individuellen Menschen, der eine Hülle hat, die Gipfel­punkt der Natur ist, der in sich eine seelische Wesenheit hat, die Zielpunkt einer geistigen Welt geworden ist? Zum wirklichen Men­schen mußte wiederum die menschliche Anschauung hingeleitet wer­den. Diesen Versuch habe ich in meiner «Philosophie der Freiheit» gemacht. Das ist die eigentlich historische Stellung des Problems, das vorlag, als es mich hindrängte, die «Philosophie der Freiheit» zu schreiben. Dieses höchstentwickelte Tier, das den Menschen umhüllt, kann nicht frei sein; frei kann auch nicht jener schemenhafte Mensch sein, der Idee in ihrem Ansichsein, Außersichsein, Fürsichsein ist; denn der ist durch die logische Notwendigkeit gebildet. Beide sind nicht frei. Frei ist nur der wirkliche Mensch, der das Gleichgewicht bildet zwischen der Idee, die durchbricht zum wirklichen Geiste, und der äußeren materiellen Wirklichkeit.

Daher ist auch in dieser «Philosophie der Freiheit» versucht wor­den, das sittliche Leben nicht auf irgendeinen abstrakten Grundsatz zu begründen, sondern auf das innere, moralische Erlebnis, das ich damals die moralische Phantasie nannte; auf das, was im individu­ellen Menschen als solchen aus der Intuition heraus schöpft, bildlich ausgedrückt. Kant stellte den kategorischen Imperativ auf: Handle so, daß die Maxime deines Handelns Richtschnur sein kann für alle

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Menschen! Zieh dir einen Rock an, der allen Menschen passen kann! Die freiheitsphilosophische Maxime lautet: Handle so, wie es dir aus deinen höchsten menschlichen Kräften gerade im konkreten Augenblick, im individuellen konkreten Augenblick aus dem Geiste heraus zufließt!

So gelangt man auf dem Umwege durch die Moralphilosophie in die Geistigkeit hinein. Und das wäre vielleicht für die heutige Menschheit ein Weg, um zu einer Auffassung von der geistigen Welt zu gelangen: wenn diese Menschheit zunächst das, was im Grunde genommen nicht so schwer zu verstehen ist, einsehen würde, daß das Sittliche ja ohne jeden Halt ist, wenn es nicht als ein Teil eines über­sinnlichen Geistigen aufgefaßt wird. Hegels Logik ist vom Anfang bis zum Ende eine Summe von abstrakten Ideen. Was schadet das aber schließlich, wenn ich die ganze Natur, alles das, was sichtbarlich da ist, nur als eine Schematik von Ideen ansehe? Schädlich aber ist, wenn das, was uns zum Sittlichen anspornt und impulsiert, nicht aus der geistigen Welt kommt; denn wenn es nicht aus der geistigen Welt kommt, hat es gar keine wahrhaftige Wirklichkeit, ist nur Schall und Rauch, die herauskommen aus dem tierischen Menschen. Wenn der tierische Mensch abstirbt' so ist nichts mehr da. Bei der Hegel­schen Philosophie gibt es keinen einzigen Begriff, der sich beziehen könnte auf irgend etwas, was noch für den Menschen da wäre, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, oder das schon da sein könnte, bevor er durch die Pforte der Geburt gegangen ist. Die Hegelsche Philosophie ist groß, aber sie ist groß als Durchgangspunkt des neunzehnten Jahrhunderts. Hegel in seiner Größe anerkennen führt gerade dazu, ihn fortzusetzen; das zu durchbrechen, was sich ent­gegenstellt da, wo man in das reine Denken, in die reine Logik, in die Idee an und für sich kommt, bis in die übersinnliche Welt hinein. Hegelianer zu sein kann nur das Privatvergnügen von einigen ver­trackten Köpfen darstellen, die am Beginne des zwanzigsten Jahr­hunderts ihre große Geistreichigkeit darin suchten, da zu stehen, wo es einem erlaubt war zu stehen in den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts. Denn das müssen wir lernen: nicht nur abstrakt als Mensch leben zu wollen, sondern in der Zeit zu leben, in der Entwicklung der Zeit zu leben. Wir kommen gerade dadurch ins Lebendige hinein, daß wir die Verabsolutierung verneinen; sonst werden wir nicht mitarbeiten können im Sinne der menschlichen

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Entwicklung. Und darauf kommt es an, daß man mit an der mensch­lichen Entwicklung arbeitet.

Raphael war groß. Die Sixtinische Madonna ist eine sehr bedeutende malerische Schöpfung. Sie richtig zu würdigen ist eigentlich nur der­jenige berechtigt, der, wenn heute ein Maler die Sixtinische Madonna malen würde, sie für ein schlechtes Bild hielte. Denn nicht darauf kommt es an, daß man irgend etwas absolut nimmt, sondern darauf, daß man sich in den großen Menschheitszusammenhang hineinzu­stellen versteht. Und heute liegt nun einmal die Notwendigkeit vor, sich nicht bloß, wie es in der Vorzeit erlaubt war, absolut hinein-zustellen in die Welt, sondern sich bewußt in dem Zeitpunkt zu fühlen, auf den man in einer bestimmten Inkarnation gesetzt ist. So paradox das klingt, zur richtigen Schätzung der Sixtinischen Madonna wird nur der kommen, der heute, wenn ein Maler dieses Bild malen würde, es aus den heutigen Gesinnungen des Malens heraus für ein schlechtes Bild zu halten vermöchte. Denn nichts hat einen absoluten Wert, sondern die Dinge haben ihren Wert an der Stelle in der Welt, an der sie stehen. Bisher konnte man ohne eine solche Einsicht auskommen. Von nun an ist eine solche Einsicht not­wendig. Sie ist ja nicht einmal so besonders tief. Der Finder des pythagoräischen Lehrsatzes war zu seiner Zeit ein großer Mann. Wenn heute einer diesen Lehrsatz erfinden oder entdecken würde, wäre es interessant, nicht mehr. Es wäre ja auch interessant, wenn heute jemand die Sixtinische Madonna malen würde; aber es ist eben nicht die Zeit dazu, es ist nicht das, was geschehen muß an dem Punkte der Entwicklung, an dem wir stehen.

Sie sehen, welche Reformation des Denkens notwendig ist, welche Sozialisierung des Gedankens! Miterleben mit der Menschheit, das ist es, worauf es heute ankommt. Das wird heute den meisten Men­schen durchaus paradox erscheinen. Wir sind aber heute schon einmal in die Notwendigkeit versetzt, gründlich umzudenken, zu wirklich neuen Gedanken zu kommen. Mit den alten Gedanken läßt sich nicht mehr weiterleben. Mit den alten Gedanken kann es nur so sein, daß wenn die Menschen sie fortspinnen, die Welt ihnen über dem Kopf zusammenfallen muß. Daran hängt das Heil der Menschheit, daß die Menschen sich lossagen können von dem alten Denken und wirk­lich neues Denken wollen. Geisteswissenschaft ist neues Denken. Sie

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wird ja deshalb gerade so verpönt, weil sie im Grunde allen alten Denkgewohnheiten widerspricht. Nur die Menschen, die ein Empfinden haben von der Notwendigkeit neuen Denkens, werden für die Geisteswissenschaft im allgemeinen und auch für ihre Offenba­rung hinsichtlich einzelner Gebiete des Seelenlebens, wie zum Beispiel in bezug auf die soziale Frage, eine volle Empfindung haben können.

Ein anderes noch macht die gegenwärtige Zeit zu einer ungesunden:

daß im Unterbewußten die Menschen eigentlich schon daran sind, anders zu denken, aber aus einem historischen Eigensinn heraus dieses im Unterbewußtsein sitzende andere Denken unterdrücken und da­durch die Strafe für das Unterdrücken des Denkens erleiden müssen. Die gegenwartige geschichtliche Entwicklung ist ja in vieler Beziehung eine Strafe für die eigensinnige menschliche Natur, die das in ihren Untergründen Liegende unterdrückt und sich künstlich an das klam­mert, an das sie sich seit Jahrhunderten gehalten hat. Man sollte nicht die inkonsequenten, bequemen Denker, sondern die konse­quenten Denker aus der abgelaufenen, abgestorbenen Zeitepoche nehmen, um an ihnen zu lernen, worin man sich geirrt hat. Charak­teristisch für die abgestorbene Periode sind nicht die Denker, die jedes Konzessiönchen gemacht haben, sondern die, welche auf dem Standpunkte des Alten festgestanden haben. Als im österreichischen Herrenhause vor vielen Jahren einmal alle die Abstraktlinge und liberalen Fortschrittsmänner von Fortschritt und Liberalismus spra­chen und wie man die Religion umwandeln müsse, damit sie den Anforderungen der neueren Zeit entspreche, mit jenen Phrasen, welche alle die braven Spießer, von Gladstone angefangen bis zu den biederen parlamentarischen Spießern des Kontinents immerzu gesagt haben -, da erwiderte der Kardinal Rauscher als ein ganz unmoderner, aber gerade im Alten feststehender Geistlicher: Die katholische Kirche kennt keinen Fortschritt; das, was einmal wahr war, wird durch alle Zeiten wahr sein. Alles, was sich als Neuheit dagegen geltend machen will, hat keine Berechtigung! Das war ein unmoderner, aber in sich vollendeter Geist der alten Zeit. Ebenso Pobedonosceff, der einzige, der in genialer, geistvoller Weise die ganze westliche Kultur der neueren Zeit verurteilt hat, weil sie im Grunde genommen nach seiner Ansicht zu nichts führen wird. Die alte Ordnung, in die sich die moderne Bourgeoisie gewöhnt hatte,

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war nur aufrechtzuerhalten, wenn man die Welt so gestaltet glauben wollte, wie sie der Kardinal Rauscher und wie Pobedonosceff sie selbst gestaltet haben wollten. Hätte man die Welt nicht mit dem Wischiwaschi von Nikolaus II. ausstaffiert, sondern mit den starren Grundsätzen des Pobedonosceff, unser Krieg wäre selbstverständlich nicht gekommen. Nur ist das eine dagegen zu sagen: Man hätte nicht aufbauen können mit den Ideen des Pobedonosceff, weil die Wirk­lichkeit andere Wege nahm als diese Ideen. Und nun kommt es darauf an, der Wirklichkeit zu folgen, nicht indem man Konzessionen macht, nicht indem man sich so verhält, wie sich die meisten Geister im Laufe der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts oder gar in zwei Jahrzehten des zwanzigsten Jahrhunderts verhalten haben, sondern indem man sich wirklich entschließt, etwas zu denken, was so verschieden ist von dem früheren Denken, wie die Verheerungen des Weltkrieges nach der anderen, negativen Seite verschieden sind von dem, was vorher war. Aus dem furchtbaren Unglück, von dem man stets sagt, so etwas habe es im Verlaufe der Geschichte noch nicht gegeben, sollte man lernen Gedanken zu fassen, von denen man sagen kann: so etwas hat es ja noch gar nicht gegeben im Lauf der Geschichte.

Sie sehen, es obliegt nun einmal der Menschheit, einen großen Entschluß zu fassen. Was unbewußt aus Instinkten heraus diesen Entschluß zur Reife bringen will, macht sich als Sozialismus geltend. Nicht eher wird die Welt aus dem Chaos herauskommen, als bis eine genügend große Anzahl Menschen zu dem materiellen Sozialismus den ideellen Spiritualismus hinzufügen werden. So hängen die Dinge heute nun einmal zusammen. Solange aber die Menschen noch nicht einmal so weit sind, daß sie das allernächste Wirkliche sehen, wenn es ihnen unmittelbar vor der Nase steht, solange kann kein Heil ersprießen im geschichtlich-sozialen Werden. Dies sollte gewisser­maßen die innere Seelenpraxis werden, die uns aus den Impulsen der Geisteswissenschaft heraus entstehen kann. Immer wieder und wiederum möchte ich versuchen, Sie auf diese innere Seelenpraxis hinzuweisen. Je stärker Sie empfinden, daß das, was ich in diesen Betrachtungen hinzustellen versuchte, für unsere Zeit notwendig ist, desto richtiger werden Sie sich in der Geistesströmung bewegen, die belebt sein will von anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft.

HINWEISE

#G189-1957-SE150 - Die Soziale Frage als Bewußtseinsfrage

#TI

HINWEISE

#TX

Seite

9 Die Titel der Vorträge wurden in der Ausgabe 1957 vom Herausgeber hin-zugefügt.

Vorträge in der Schweiz:

Rudolf Steiner sprach über «Die soziale Frage» damals in verschiedenen Städten in der Schweiz. Die Vorträge in Zürich vom 3., 5., 10. und 12. März 1919 sind abgedruckt in der Zeitschrift «Gegenwart», 5. Jahrgang (1943), Heft 1-7. diese drei Herren, die Sie ja gut kennen, Herr Malt, Herr Dr. Boos, Herr Kühn:

Kominerzienrat Dr. h. c. Emil Molt (Schwäbisch Gmünd 1876-1936 Stuttgart). Inhaber der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik, aktiv Mirwfrkender in der Dreigliederungsbewegung und Begründer der Freien Waldorfschule in Stuttgart (1919), deren Einrichtung und Leitung auf seine Bitte hin Rudolf Steiner übernahm.

Dr. Roman Boos (Zürich 1889-1952 Arlesheim bei Basel). Sozialwissenschafter. Schriftsteller und Redner und einer der tatkräftigsten Vertreter der Anthro­posophie und Dreigliederungsidee Rudolf Steiners; Leiter der sozialwissenschaft­lichen Vereinigung am Goetheanum in Dornach.

Hans Kühn, Columban-Verlag, Arlesheim bei Basel.

10 auf der einen Seite Paris . . . wo die Geschicke der Menschheit und der Gegen-wart in die Hand genomnien werden:

1919 - 1920. Zwischen den Mittel- und den Westmächten kam es nach Ab­schluß der Waffenstillstände zu Compiégne usw. während des ersten Welt-krieges, zu keiner eigentlichen Friedenskonferenz. Vielmehr war die am 18. Januar 1919 in Versailles eröffnete Friedenskonferenz von Paris lediglich eine Zusammenkunft der delegierten Bevollmächtigten der 27 Esitentestaaten zwecks Einigung über die den Mittelmächten zu stellenden Bedingungen.

auf der anderen Seite Bern mit einer Versammlung:

Internationale Sozialistenkonferenz in Bern, 3.- 10. Februar 1919.

11 wie ich vorgestern im öffentlichen Vortrage in Basel gesagt hahe:

Vergleiche Hinweis zu Seite 9.

bei unserer Silvester-Betrachtung:

Rudolf Steiner, Silvester-Empfindung und Neujahrs-Ausblick, Dornach 1940. Ich hahe Ihnen dazumal einen Aufratz vorgelesen:

Von Walter Rathenau, aus der Neuen Zürcher Zeitung Nr. 1734 vom 28. Dezember 1918.

15 Aufruf «An das deutsche Volk und an die Kulturwelt»:

Wurde 1919 in Stuttgart als Flugblatt gedruckt und verbreitet; ferner wurde er von Rudolf Steiner aufgenommen in sein Buch «Die Kernpunkte der so­zialen Frage in den Lebensnotwendigkeiten der Gegenwart und Zukunft», Dornach 1919.

25 an diesem episodisch in unsere Vortragsreihe eingefügten Abend:

Aus der anscheinend «episodisch» gedachten Betrachtung wurde die zusam­menhängende Vortragsreihe. wie sie hier abgedruckt ist.

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33 Grundrente . . . alles übrige ist . . . durch Koalitionen unter den Menschen erworben:

Vergleiche hierzu Rudolf Steiner, Nationalökonomischer Kurs, Dornach 1933, 14. Vortrag.

42 Wilsons Definition der Freiheit:

Woodrow Wilson, Die neue Freiheit. Ein Aufruf zur Befreiung der edlen Kräfte eines Volkes, Georg Müller Verlag, München 1919.

43 Man hat den Menschen ganz verloren in der heutigen Weltbetrachtung und

Lebensauffassung:

Vergleiche hierzu Rudolf Steiner, Das Suchen nach der Welt im Menschen, nach dem Menschen in der Welt, Dornach 1943.

45 die Adler- Unoldeche ethische Bewegung:

Vergleiche hierzu Rudolf Steiner, Veröffendichungen aus dem literarischen

Frühwerk, Heft XVI, Seite 27 f.

50 wichtigste Vorstellungen, die Karl Marx de,,, Proletariat überliefert hat, schon bei

Ricardo:

David Ricardo (1772-1823), englischer Nationalökonom.

65 del' in Stuttgart auch unser Freund Dr Unger in wesentlicher Weise mitwirkt:

Dr. Carl Unger (Cannstatt bei Stuttgart 28.3.1878 - 4.1.1929 Nürnberg) Ingenieur. Einer der wirksamsten Vertreter der Anthroposophie Rudolf Steiners in Deutschland. Von 1912 bis 1923 im Vorstand der Antliroposophischen Gesell­schaft. Von Januar 1914 bis September 1915 übernahm er neben seiner Tä­tigkeit für seine Maschinenfabrilt auf Ersuchen Rudolf Steiners auch die Leitung des ersten Goetheanum-Baues in Dornach. Unmittelbar vor Beginn seines öffentlichen Vortrages «Was ist Anthroposophie?» traf ihn die Kugel eines geistig Uninachteten tödlich.

Die in Zürich gehaltenen Vorträge werden ja . demnächst als Buch erscheinen:

Siehe Rudolf Steiner, Die Kernpunkte der sozialen Frage in den lebensnot­wendigkeiten der Gegenwart und der Zukunft, Stuttgart 1919.

69 In meine'n Buch «Die Rätsel der Philosophie»:

Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt. Bd 1. 2. 7. Auflage Stuttgart 1955.

70 Urindische Kuleurperiode I urpersische Kulturperiode I ägyptisch-chaldäische Kultur-periode! griechisch-lateinische Kuleurperiode I Neue Zeit:

Vergleiche hierüber die grundlegenden Ausführungen Rudolf Steiners in «Die Geheimwissenschaft im Umriß», 1910.

74 auf ein Buch des ehrwürdigen Philosophen der vorkantischen Zeit, des Wolf:

Christian Freiherr von Wolf (1679-1754).

80 So ist schließlzch auch unser Bau gedacht, namentlich in dem, was künstlerisch mit ihm angestrebt wird:

Siehe Rudolf Steiner, Der Dornacher Bau als Wahrzeichen künstlerischer Entwickelungsimpulse, Dornach 1937.

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83 Ich habe Ihnen öfters von Johann Gottlieb Fichte gesprochen:

Siehe Rudolf Steiner, Die Räeel der Philosophie, Stuttgart 1955; Vorn Menschenrätsel, Dornach 1957; Das Volk S:hillers und Fichtes, Dornach 1930:

Fichtes Geist mitten unter uns, Dornach 1933.

90 Ich habe Ihnen öfters über die Funktionen des Bösen gesprochen:

Vergleiche Rudolf Steiner, Geschichtliche Symptomatologie, Dornach 1942,

5. Vortrag. 99 Der Satz, den er dort ausgesprochen hat, tautet: Der stenographisch festgehaltene Text konnte nicht nachgeprüft werden. 101 daß ich es dazumal in dem vor dem Kriege gehaleenen Wiener Vortrag als das Wirken einer gesellschaftlichen Krehskrankheit . . . bezeichnet habe: Rudolf Steiner, Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt, Dornach 1935, 6. Vortrag. Fritz Mautheer, Philosophisches Wörterbuch: München 1910. 103 in meiner « Theosophie»: Theosophie, Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbe­stirnmung, 1904. 28. Auflage, Stuttgart 1955. 127 Dreißig Jahre nach seinem Tode kann man einen Schriftsteller in beliebiger Weise nachdrucken: Heute beträgt die Schutzfrist in fast allen europäischen Staaten fünfzig Jahre. 129 Den Kopf verlieren wir in bezug auf seine Kräfte, indem wir durch den Tod gehen; den übrigen Leib wandeln wir in bezug auf seine Kräfte um zu unserem Kopf in der nächsten Inkarnation: Über diese Metamorphose der leiblichkeit vergleiche Rudolf Steiner, »Das Rätsel des Menschen» (Band i von »Kosmische und menschliche Geschichte»), Dornach 1934; ferner » Geisteswissenschaftliche Erkenntnis und soziales Ver­ständnis» (Band III von »Die geistigen Hintergründe der sozialen Frage»), Dornach 1950. 134 Wilson . . . Rede in der deutschen Übersetzung: Die Reden Woodrow Wilsons, englisch und deutsch, herausgegeben vom Committee on Public Information of the United States of Arnerica, Der freie Verlag, Bern 1919. 142 in meinem Buch « Vom Menschenrätsel»: Vom Menschenrätsel. Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten, 1916.4. Auflage Dornach 1957. 145 in meiner «Philosophie der Freiheit»: Philosophie der Freiheit, Grundzüge einer modernen Weltanschauung, 1894. 11. Auflage Stuttgart 1955. 148 Pobedonosceff: Konstantin Petrowitsch Pobedonosceff, russischer Jurist und Staatsmann (1827-1907).

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.