GA 184

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Die Polarität
von Dauer und Entwickelung
im Menschenleben

Die kosmische Vorgeschichte der Menschheit

Fünfzehn Vorträge, gehalten in Dornach
vom 6. September bis 13. Oktober 1918

GA 184

1968

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 6. September 1918

Ich möchte gerne einiges von dem, was in den Betrachtungen, die wir in diesem Sommer hier schon angestellt haben, vorgebracht worden ist, vertiefen, und in den nächsten Tagen wollen wir einiges Geschichtliche und auch einiges Sachliche dazufügen. Heute möchte ich vorbereitend Sie auf einige geschichtliche Tatsachen hinweisen, und aus diesen geschichtlichen Tatsachen, vorzugsweise aus der Offen­barung gewisser geschichtlicher Persönlichkeiten, einige Folgerungen, die sich einer gründlicheren Betrachtung ergeben, Ihnen vorführen.

Diejenigen, welche in die Mysterien eingeweiht sind, zu allen Zeiten eingeweiht waren, haben mit Recht immer einen Ausspruch getan. Es ist der, daß auf der einen Seite, wenn man die beiden Strömungen des Weltanschauungslebens, die wir angeführt haben, den Idealismus und den Materialismus, nicht im rechten Maße einzuschätzen weiß, man dann entweder in der Gefahr schwebt, durch eine Falltüre in ein Kellerloch der Weltanschauung zu fallen, oder aber bei den verschie­denen Wegen, die man einschlägt, um eine Weltanschauung zu ge­winnen, in eine Sackgasse kommen kann. Das Kellerloch, in das man fallen kann durch eine Falltüre, die man leicht unbemerkt läßt im Weltanschauungsleben, dieses Kellerloch sehen die Mysterieneinge­weihten aller Zeiten an als den Dualismus, der nicht die Brücke findet zwischen dem Ideellen, man könnte auch sagen, ideell gefärbten Spirituellen, und dem Materiellen, dem Stofflichen. Und die Sack­gasse, in die man sich verirren kann beim Wandeln verschiedener Wege der Weltanschauungen, wenn man nicht zurechtkommt mit dem Ausgleich zwischen Idealismus und Materialismus, diese Sackgasse ist für Mysterieneingeweihte der Fatalismus. Deutlich neigt ja wieder­um die neuere Zeit auf der einen Seite zur dualistischen Weltanschau­ung, auf der andern Seite zur fatalistischen Weltanschauung, wenn auch das eine oder das andere von den neuzeitlichen Weltanschau­ungen nicht eingestanden oder eigentlich nicht einmal eingesehen wird.

Nun möchte ich zuerst aus dem Leben in der Abenddämmerung

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des vierten nachatlantischen Zeitraums eine Persönlichkeit - zunächst skizzenhaft charakterisiert - mit Bezug auf das Weltanschauungs­leben hinstellen, und dann andere Persönlichkeiten betrachten, die mehr charakteristisch sind für das Weltanschauungsleben unserer Epoche, der fünften nachatlantischen Epoche.

Eine sehr, sehr charakteristische Persönlichkeit innerhalb des abendländischen Weltanschauungslebens ist Augustinus, der gelebt hat von 354 bis 430 der christlichen Zeitrechnung. Wir wollen mit einigen Gedanken des Augustinus gedenken aus dem Grunde, weil, wie Sie ja aus der Jahreszahl sehen, er in der Abenddämmerung lebt des vierten nachatlantischen Zeitraums, der im 15. Jahrhunderte seinen Abschluß findet. Man kann schon deutlich bemerken, wie dieser Ab­schluß herannaht, vom 3., 4., 5., 6. nachchristlichen Jahrhunderte angefangen. Nun ist Augustinus durchgegangen durch Eindrücke verschiedenster Weltanschauungen. Über diese Dinge haben wir ja schon gesprochen. Vor allen Dingen ist Augustinus durchgegangen durch den Manichäismus und durch den Skeptizismus. Er hat alle diejenigen Impulse in seine Seele aufgenommen, die man bekommt, wenn man auf der einen Seite in der Welt alles Ideale, Schöne, Gute sieht, alles dasjenige, was von Weisheit erfüllt ist, und dann auch alles dasjenige, was übel ist, was Böses ist. Und wir wissen ja, daß der Manichäismus dadurch zurechtzukommen sucht - es ist das grob aus­gedrückt, aber es kann auch so ausgedrückt werden - mit diesen bei­den Strömungen in der Weltenordnung, daß er gewissermaßen ewig dauernde Polarität annimmt, einen ewig dauernden Gegensatz des Lichtes, der Finsternis, des Guten, des Bösen, des Weisheitsvollen, des Übels.

Mit diesem Dualismus kommt der Manichäismus nur dadurch zu­recht, in seiner Art zurecht, daß er gewisse alte, vorchristliche Grund­begriffe mit dieser seiner Annahme von der Polarität der Weltenerscheinungen verbindet, vor allen Dingen verbindet gewisse Vor­stellungen, die sich nur begreifen lassen, wenn man weiß, daß in alten Zeiten von den Menschen im atavistischen Hellsehen die geistige Welt geschaut worden ist, so geschaut worden ist, daß die Schauungen in ihrem Inhalte ähnlich sind den Eindrücken, welche die sinnliche

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Wahrnehmungswelt macht. Dadurch, daß der Manichäismus solche Vorstellungen, ich möchte sagen, von einem sinnlichen Schein des Übersinnlichen in sich aufgenommen hat, macht er auf viele den Ein­druck, als ob er das Geistige vermaterialisierte, als ob er das Geistige in sinnlichen Formen vorstellte. Es ist das ja ein Fehler, den auch noch neuere Weltanschauungen, den zum Beispiel, wie ich Ihnen aus­einandergesetzt habe in diesen Tagen, auch die neuere Theosophie vielfach macht. Augustinus ist gerade vom Manichäismus mit da­durch abgekommen, daß er diese Versinnlichung, diese Vermaterialisierung des Spirituellen im Laufe geläuterteren Vorstellungslebens nicht mehr ertragen konnte. Das war einer der Gründe, die ihn ab­gebracht haben.

Dann ist Augustinus auch durchgegangen durch den Skeptizismus, der insoferne eine berechtigte Weltanschauung ist, als er den Men­schen aufmerksam darauf macht, daß man durch die bloße Betrach­tung dessen, was man aus der sinnlichen Welt und aus den Erfahrun­gen und Erlebnissen der sinnlichen Welt gewinnen kann, nichts er­fahren kann über das Übersinnliche. Und wenn man dann zugleich der Anschauung ist, daß man das Übersinnliche als solches nicht er­halten kann, dann zweifelt man an der Erkenntnis der Wahrheit über­haupt. Auch durch diesen Zweifel an der Erkenntnis der Wahrheit überhaupt ist Augustinus durchgegangen. Er hat die stärksten Im­pulse dadurch erhalten.

Nun muß man, wenn man einsehen will, wodurch sich Augustinus eigentlich hineingestellt hat in die abendländische Weltanschauung, auf den Hauptpunkt seiner Anschauung hinweisen, jenen Haupt­punkt, von dem alles Licht ausstrahlt, das in Augustinus waltet, und der eben der Hauptpunkt seiner späteren, seiner letztgebildeten Welt­anschauung gewesen ist. Das ist der Punkt, der in dieser Art charak­terisiert werden kann: Augustinus kam darauf, daß Gewißheit, wahr­haftige Gewißheit, keiner Täuschung unterworfene Gewißheit eigentlich der Mensch nur erringen kann mit Bezug auf dasjenige, was er im Inneren seiner Seele erlebt. Alles übrige kann ungewiß sein. Ob die Dinge, die unseren Augen erscheinen, die unseren Ohren hörbar werden, die auf unsere andern Sinne einen Eindruck machen,

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ob diese Dinge wirklich so konstituiert sind, wie das nach der Aussage der Sinne angenommen werden muß, das kann man nicht wissen; man kann nicht einmal wissen, wie diese Welt eigentlich aussieht, wenn man die Sinne vor ihr verschließt. - So denken Persönlichkeiten, die im Sinne des Augustinus über die äußere, erfahrbare Welt denken. Sie denken sich, daß diese äußere erfahrbare Welt, wie sie dem Menschen vorliegt, keine unbedingte Gewißheit und keine wahrhaftige Gewiß­heit geben könne, daß man aus ihr nichts gewinnen könne, worauf man als auf einem festen Punkte einer Weltanschauung stehen könnte. Dagegen ist man bei dem, was man in seinem Inneren erlebt - ganz gleichgültig, wie man es erlebt - unmittelbar dabei, man ist es selbst, der die Vorstellungen, die Gefühle im Inneren erlebt; man weiß sich im inneren Erleben drinnenstehend. Und so ergibt sich für einen sol­chen Denker wie Augustinus die durch das innere Erleben belegbare Tatsache: Mit Bezug auf dasjenige, was der Mensch in seinem Inneren erlebt als Wahrheit, kann er keiner Täuschung sich hingeben. Man kann der Meinung sein, daß alles übrige, was die Welt sagt, der Täu­schung unterworfen sei, aber man kann unmöglich daran zweifeln, daß dasjenige wahrhaftig und wirklich von uns im Inneren erlebt wird, was wir eben als unsere Vorstellungen, als unsere Gefühle erleben. - Diese feste Grundlage für das Zugeben einer unbezweifel­baren Wahrheit, sie bildet einen der Ausgangspunkte der Augustini­schen Weltanschauung.

Wiederaufgenommen hat diesen Punkt in ganz eklatanter Weise im fünften nachatlantischen Zeitraum Cartesius, der 1596 bis 1650 gelebt hat, also schon in der Morgendämmerung der fünften nachatlan­tischen Periode. In Cartesius' bekanntem: Ich denke, also bin ich -, das da bleibt, wenn wir alles übrige bezweifeln, sieht auch Cartesius den Ausgangspunkt, und er ist eigentlich mit dieser Anschauung ganz auf dem Standpunkte des Augustinus.

Nun liegen die Sachen doch so, daß mit Bezug auf das Weltan­schauungsleben man immer sagen muß: Wer in irgendeinem Zeit­punkte in der Menschheitsentwickelung drinnensteht, der kommt zu gewissen Anschauungen. Gewisse Perspektiven dieser Anschauungen sieht er dann nicht; diese sehen dann die Späteren. Man möchte sagen:

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Den Späteren ist es immer aufbewahrt, gründlicher, wahrer irgend etwas zu sehen, als derjenige sehen kann, der gewisse Dinge aus­sprechen muß in einem gewissen Zeitpunkte der Menschheitsent­wickelung. - Und über diese Tatsache kommt man nicht hinweg. Und gut ist es, wenn insbesondere auf unserem anthroposophischen Standpunkte das der Fall ist, was ich öfter schon erwähnt habe, wenn auf unserem anthroposophischen Standpunkte bewußt und gründlich erkannt wird: Auch dasjenige Wissen, das man in der Gegenwart, und sei es auch ein noch so ausgeprägtes, über spirituelle Dinge erwerben kann, es darf nicht aufgefaßt werden wie eine Summe von absoluten Dogmen. Man muß sich klar sein darüber, daß Spätere in kommenden Zeiten auftreten werden, die gerade an dem, was wir heute vorzubringen in der Lage sind, Wahreres sehen werden, als wir selbst sehen können. Darauf beruht eigentlich die geistige Ent­wickelung der Menschheit. Und alles Hemmnis, alles Hindernis des geistigen Fortschrittes der Menschheit beruht schließlich darauf, daß die Menschen das nicht zugeben wollen, daß sie gern Wahrheiten überliefert haben möchten, die nicht die Wahrheiten eines bestimmten Zeitalters sind, sondern die absolute, zeitlose Dogmen sind.

Wir können heute gerade wiederum von unserem Gesichtspunkte aus auf Augustinus zurückblicken, und wir werden uns sagen müssen: Steht man auf Augustinischem Standpunkte, dann wird man scharf hinzusehen haben darauf, daß er Ungewißheit über die Wahrheit in allen äußeren Offenbarungen annimmt, wahrhaftige Gewißheit in dem Erleben desjenigen, was wir in unserer Seele tragen. - Das setzt vor­aus, wenn jemand sich einer solchen Anschauung hingibt, daß er als Mensch einen gewissen Mut hat. Man brauchte vielleicht gar nicht das, was ich jetzt sage, so dezidiert zu erwähnen, wie ich es tun muß, wenn nicht gerade in unserer Zeit es charakteristisch wäre für das Weltan­schauungsleben, daß eben gerade dieser Mut fehlt. Und dieser Mut, den ich hier meine, er äußert sich nach zwei Richtungen hin. Die eine Richtung ist diese, daß man kühnlich, wie Augustinus, sich gesteht: Wahrhaftige Gewißheit findest du nur mit Bezug auf dasjenige, was du im Inneren erlebst. - Dann muß der andere Pol dieses Mutes da sein, der eben gerade in der Gegenwart nicht da ist; man muß den

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Mut dann auch haben, sich zu gestehen: In der äußeren sinnlichen Offenbarung ist diese wahrhaftige Gewißheit über die Wirklichkeit nicht enthalten. - Es gehört schon ein innerlicher Denkermut dazu, der äußeren Wirklichkeit, die dem heutigen Materialismus zum Bei­spiel als absolut sicher gilt, die wahrhaftige Gewißheit in ihren Aus­sagen abzusprechen. Und es gehört auf der andern Seite ein gewisser Mut dazu, sich zu sagen: Wahrhaftige Gewißheit erfließt nur, wenn man so recht sich dessen bewußt wird, was man im Inneren erlebt.

Gewiß, es ist auch in unserer Zeit solches wiederum gesagt worden, und es gibt in unserer Zeit Menschen, die von ihren Mitmenschen, insofern diese zu einer Weltanschauung kommen wollen, diesen zweifach sich äußernden Mut fordern. Dennoch muß man heute über die Sache anders denken, wenn man erschöpfend denken will, und darin zeigt sich eben die ganze historische Stellung des Augustinus für den heutigen Menschen, daß man über diese Sache etwas anders denken muß. Heute muß man nämlich das wissen, was weder Augustinus noch Cartesius erwogen haben - ich habe es da, wo ich den Cartesius be­sprochen habe in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» ausgeführt -, heute muß man sagen: Der Glaube, daß man zu einem Befriedigenden des Weltanschauungslebens durch das Ergreifen des unmittelbaren Inneren des Menschen, so wie es heute von dem Menschen erlebt wird, kommen könne, dieser Glaube wird von jedem Schlafe wider­legt. Jedesmal, wenn der Mensch der heutigen Zeit in die Bewußt­losigkeit des Schlafes zurücksinkt, wird ihm zwar nicht dasjenige, wovon Augustinus spricht - die absolute wahrhaftige Gewißheit des inneren Erlebens -, aber die Wirklichkeit dieses inneren Erlebens wird ihm entrissen. Jedesmal vom Einschlafen bis zum Aufwachen ist die Wirklichkeit dieses wahrhaftigen Erlebens entflohen. Und der Mensch der heutigen Zeit, der in etwas anderer Art das Innere erlebt, als man es noch erlebt hat im vierten nachatlantischen Zeitraum, selbst in der Abenddämmerung zur Zeit des Augustinus, der muß sich sagen: Möge noch so scharf, noch so offenbar eine Gewißheit im Inneren erlebt werden, für das Leben nach dem Tode gibt das doch keine Gewißheit, aus dem einfachen Grunde, weil wir ja mit jedem Schlafe die Wirklichkeit hinuntersinken sehen in das Unbewußte, der

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heutige Mensch weiß nicht, ob nicht auch in das Unwirkliche. - Es darf also heute nicht mehr geschlossen werden, was man in seinem Inneren scheinbar absolut sicher erlebt, das könne nicht angefochten werden. Es kann theoretisch nicht angefochten werden, aber die Tat­sache des Schlafes selber widerlegt es.

Indem man den Blick auf das eben Gesagte hinwendet, erkennt man aber auch gleich, wie eigentlich Augustinus mit einem viel größeren Rechte als später Cartesius, der die Sache doch mehr oder weniger nur nachgesprochen hat, zu dieser Anschauung hat kommen können. Durch den ganzen vierten nachatlantischen Zeitraum, auch durch das Zeitalter des Augustinus hindurch, lebte in den Menschen noch etwas von Nachklängen des alten, atavistischen Hellsehens. Die Geschichte notifiziert das leider heute viel zu wenig, weiß eigentlich auch nicht viel davon. Aber zahlreich waren die Menschen den ganzen vierten nachatlantischen Zeitraum hindurch, die aus persönlicher Erfahrung wußten: Es gibt ein geistiges Leben - weil sie dieses geistige Leben eben schauten. Aber sie schauten es zumeist in diesem vierten Zeitraume - ungleich wie im dritten oder zweiten Zeitraume - dadurch, daß es in ihr Schlafleben hineinspielte. So daß man sagen kann: Für den vierten nachatlantischen Zeitraum war es bei den Menschen noch nicht so wie jetzt im fünften nachatlantischen Zeitraum, daß der Schlaf völlig bewußtlos verläuft. - Die Leute des vierten nachatlan­tischen Zeitraums wußten noch: Vom Einschlafen bis zum Auf­wachen ist eine Zeit, in der in anderen Formen das wirkt, was sie als Vorstellungen, als Gefühle vom Aufwachen bis zum Einschlafen haben. Es tauchte gewissermaßen das wache Wahrheitsleben unter in das dämmerhaft bewußte Schlafesleben. Und man wußte: Was man als innere Wahrheit erlebt, das hat nicht nur Wahrheit, sondern auch Realität, hat auch Wirklichkeit. Denn man kannte die Augenblicke des Schlafeslebens, in denen sich zeigte, wie vorhanden ist als wirk­liches, als reales, nicht bloß als abstraktes Leben dasjenige, was man im Inneren erfährt. Es kommt nicht darauf an, ob jemand heute noch beweisen kann oder nicht, daß Augustinus selbst aus eigener Erfah­rung heraus hätte sagen können: Ich weiß, es dauert durch den Zeit­raum vom Einschlafen bis zum Aufwachen dasjenige, was man innerlich

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zwar wahr, aber unwirklich erlebt. - Aber daß man eine solche Anschauung fassen konnte, daß man auf sie sich stellen konnte, das war in der Zeit des Augustinus durchaus möglich.

Nun, wenn Sie dies, was ich jetzt mit Bezug auf das Subjektive des Menschen ausgeführt habe, verallgemeinern auf den ganzen Makrokosmos, so kommen Sie auf etwas anderes; Sie kommen dann auf das­jenige, aus dem dieses Subjektive in älterer Zeit, also noch im vierten nachatlantischen Zeitraum, eigentlich hervorgegangen ist, wodurch es möglich geworden ist. Man hat sich - sprechen wir jetzt von der vorchristlichen Zeit, namentlich das Mysterium von Golgatha ist die Grenze zwischen alten atavistischen Anschauungen und späteren neuen, die auch heute erst im Aufgange sind - in der vorchristlichen Zeit noch an gewisse lebendige Mysterienwahrheiten halten können. Die Mysterienwahrheiten, die ich damit meine, sind diejenigen, die sich beziehen auf das große Geheinmis der Geburt und des Todes. Das Geheimnis der Geburt und des Todes betrachten ja gewisse Mysterieneingeweihte als ein Geheimhis, welches, wie sie meinen, der profanen Welt nicht mitgeteilt werden solle, weil die Welt noch nicht dazu reif sei. Aber innerhalb der Mysterien war auch in der vorchrist­lichen Zeit eine gewisse Anschauung vorhanden über den Zusammen­hang zwischen Geburt und Tod im großen Weltenleben, in das der Mensch ja auch mit seinem ganzen Wesen eingeschaltet ist. In dieser vorchristlichen Zeit hat man durch die Mysterien vorzugsweise den Blick hingewendet auf die Geburt, auf alles Geborenwerdende in der Welt. Wer die Weltanschauungen der alten Zeiten kennt, der weiß auch, daß die Betonung des Geborenwerdens, des Entstehens, des Sprießens und Sprossens diese alten Weltanschauungen ganz vorzugs­weise beschäftigte. Und ich habe es ja öfter betont, welcher Gegensatz da eingetreten ist durch das Mysterium von Golgatha. Ich habe es in der folgenden Weise erwähnt: Man denke daran, wie sechshundert Jahre etwa vor dem Mysterium von Golgatha Buddha, der dasteht in der Menschheitsentwickelung wie der Abschluß der vorchristlichen Weltanschauung, zu seinen Anschauungen geführt wird dadurch, daß er unter anderem einen Leichnam sieht. Tot ist Leiden -, und wie ein Axiom gilt es dem Buddha: Das Leiden muß überwunden werden;

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es muß ein Mittel gefunden werden, sich vom Tode abwenden zu können. - Der Leichnam ist dasjenige, wovon sich Buddha abwendet, um zu dem zu kommen, was, zwar spiritualisiert, aber für ihn doch das­jenige ist, worinnen das sprossende, sprießende Leben erfühlt werden kann.

Und wenn wir sechshundert Jahre nach dem Mysterium von Gol­gatha an andern Orten bei gewissen Menschen Umschau halten, dann sehen wir, wie der Anblick des Leichnams des Christus am Kreuze nicht dasjenige wird, wovon man sich abwendet, sondern dasjenige, wozu man sich hinwendet, dasjenige, worauf man mit seinem ganzen Herzen blickt als das Symbolum, welches die Weltenrätsel, insoferne sie sich auf den Menschen und sein Werden beziehen, enthüllen soll.

Es ist das ein wunderbarer Zusammenhang innerhalb dieser zwölf Jahrhunderte: sechshundert Jahre vor dem Mysterium von Golgatha gibt die Abwendung von einem Leichnam dasjenige, was Aufstieg sein soll in der Weltanschauung; sechshundert Jahre nach dem Myste­rium von Golgatha ist ausgebildet das Symbolum, das Bildnis des Kruzifixus, die Hinwendung zum Tode, die Hinwendung zum Leich­nam, um daraus die Kraft zu schöpfen, zu einer Weltanschauung zu kommen, die auch auf das menschliche Werden Licht wirft. Unter den vielen Dingen, welche den gewaltigen Umschwung, der im Erdenwerden eingetreten ist durch das Mysterium von Golgatha, charakteri­sieren, ist dieses Buddha-Symbolum: die Abwendung von dem Leich­nam, und das Christus-Symbolum: die Hinwendung zu dem Leichnam, der als der Leichnam des höchsten auf der Erde erschienenen Wesens gilt.

Es war eben wirklich so, daß in einer gewissen Beziehung die alten Mysterien das Rätsel der Geburten in den Mittelpunkt der Welt­anschauungen gerückt haben. Aber damit haben die Mysterien, da sie ja Mysterienwissen und nicht bloß triviale Anschauungen vermitteln wollten, zu gleicher Zeit ein tiefes kosmologisches Geheimnis vor die Seele hingestellt: sie haben den Blick auf dasjenige gewendet, was mit dem Leben der Geburten im Weltenlaufe zusammenhängt. Und man kommt nicht darauf, das Leben der Geburten im Weltenlaufe zu ver­stehen, wenn man nicht zurückgeht auf das alte Mondenrätsel. Wir

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wissen ja, die Verkörperung der Erde, bevor sie Erde geworden is, war der alte Mond. Und in verschiedenen Erscheinungen, die mit unserem jetzigen Monde, mit dem Nachzügler des alten Mondes, zusammenhängen - Sie können das in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» nachlesen -, hat man Nachwirkungen dessen zu sehen, was in der alten Mondenzeit, in derjenigen Zeit, die dem Erdenwerden vorangegangen ist, geschehen ist.

Nun gäbe es im Erdenwerden keine Geburten, durch alle Reiche der Natur hindurch gäbe es keine Geburten im Erdenwerden, wenn nicht die Gesetzmäßigkeit des alten Mondes waltete beziehungsweise seines Nachzüglers, welcher der Trabant unserer Erde ist. Alles Geborenwerden durch die Reiche der Natur und des Menschen hindurch hängt mit der Wirksamkeit des Mondes zusammen. Damit hängt auch zu­sammen, daß die Eingeweihten der alten Hebräer den Jahve als eine Mondgottheit betrachteten, Jahve als den Hervorbringenden, den die Hervorbringungen ordnenden Gott, als eine Mondgottheit ansahen. Dies sah man klar ein, daß kosmologisch allem Geborenwerden durch die Reiche hindurch zugrunde liegen die Mondengesetze. Und so konnte man auch gewissermaßen symbolisch ein tiefes Geheimnis der Kosmologie aussprechen, indem man sagte: Indem das Mondenlicht auf die Erde fällt, rührt von alldem, was durch dieses Mondenlicht dargestellt wird, alles sprießende, sprossende, alles geborenwerdende Leben her. - Man hat sich in den höchsten Mysterien in vorchrist­lichen Zeiten nicht gewendet an das Sonnenleben, man hat sich ge­wendet an das vom Monde reflektierte Sonnenleben, indem man von dem Geheimnis der Geburten gesprochen hat. Die eigentümliche Nuance, die über die vorchristlichen Weltanschauungen in ihren Tiefen ausgegossen ist, sie rührt schon einmal davon her, daß man in den alten Mysterien das Mondengeheimnis kannte.

Nur wie etwas ganz Verhülltes, wie etwas, das für die Menschen, die nicht gut vorbereitet sind, wenig erträglich ist, hat man das Sonnengeheimnis betrachtet, weil man wußte, daß es eine Täuschung, eine Maja ist, wenn man meint, durch den Strahl der Sonne, der auf die Erde fällt, werden hervorgelockt die sprießenden, sprossenden Wesen der verschiedenen Reiche. Man wußte, von dem Sonnenleben hängt

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nicht das Geborenwerden ab, sondern umgekehrt, das Versengt­werden, das Abnehmen des Lebens, das Hinsterben des Lebens. Das war das Mysteriengeheimnis, daß der Mond geboren werden läßt die Wesen und die Sonne sie sterben läßt. Wie hoch man also sonst auch aus andern Gründen das Sonnenleben verehrte in den alten vorchrist­lichen Mysterien, man verehrte das Sonnenleben als den Grund des Todes. Daß die Wesen sterben müssen, das ist nicht zuzuschreiben jener Sonne, die wir kennen aus der «Geheimwissenschaft» als die zweite Verkörperung der Erde, ist aber wohl zuzuschreiben der gegen­wärtigen, uns so herrlich am Horizonte erscheinenden Sonne.

Nun ja, der Untergang des Lebens, das Gegenteil der Geburten, hängt mit dem Sonnenleben zusammen. Dafür aber auch etwas an­deres, etwas, was noch nicht so wichtig war in der vorchristlichen Zeit, was aber in der nachchristlichen Zeit ganz besonders wichtig geworden ist: Alles bewußte Leben hängt mit dem Sonnenleben zusammen. Und dasjenige bewußte Leben, durch das der Mensch gerade im Ver­laufe seines Erdenwerdens geht, jenes Bewußtsein, das insbesondere aufleuchtet im fünften nachatlantischen Zeitraum, dem wir selbst an­gehören, das hängt ganz intensiv mit dem Sonnenleben zusammen. Wir müssen nur dieses Sonnenleben so geistig betrachten, wie wir das in den verflossenen Vorträgen dieses Sommers schon getan haben. Ist die Sonne zwar der Schöpfer des Todes, des versengenden Lebens im Kosmos und auch für den Menschen, so ist doch die Sonne zu gleicher Zeit die Schöpferin des bewußten Lebens. Dieses bewußte Leben war in den vorchristlichen Zeiten nicht so wichtig, weil es ersetzt war durch das atavistisch-hellseherische Leben, das noch eine Mondenerbschaft war. Für die nachchristliche Zeit ist wichtig ge­worden, wichtiger als das Leben, das Bewußtsein; denn nur dadurch kann das Ziel des Erdenwerdens erfüllt werden, daß dieses Bewußtsein in entsprechender Weise von den Menschen erlangt wird. Sie müssen es schon entgegennehmen, dieses Bewußsein, von dem Geber des­selben, von dem aber auch das Todesleben, nicht das Leben der Ge­burten, kommt.

Daher tritt durch das Mysterium von Golgatha in die Erdenent­wickelung ein, gewissermaßen als diejenige Macht, welche für diese

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Erdenentwickelung nun das Wichtigste geworden ist, der Sonnensohn, der Christus, der durch den Leib des Jesus von Nazareth gegan­gen ist. Das hängt also zusammen mit tiefen kosmischen Geheimnis­sen. Versuchet zu erkennen - so etwa sagten die alten Mysterieneingeweihten zu ihren Schülern - aus eurem Schlafleben, in das die Mondenkräfte hineinspielen, auch wenn ihr wach seid - wir wissen ja, daß der Mensch auch wachend zum Teil schläft -, das Mondenleben, das in dieses Schlafesleben so hineinspielt, wie in das Dunkel der Nacht der silberne Mondenschein hineinspielt. - Die christlichen Ein­geweihten haben dagegen zu ihren Schülern zu sagen: Versuchet zu erkennen, daß aus dem wachen Leben das Bewußtsein herausleuchtet dadurch, daß in dieses wache Leben hineinspielen die Sonnenkräfte, so wie vom Morgen bis zum Abend die Sonne draußen im Erdenleben leuchtet.

Dieser Umschwung hat sich vollzogen durch das Mysterium von Golgatha. Und während in den vorchristlichen Zeiten das Wichtigste war, den Ursprung des Lebens zu erkennen, ist nunmehr das Wich­tigste geworden, den Ursprung des Bewußtseins zu erkennen. Nur dadurch, daß man die angedeutete kosmologische Weisheit zu ver­binden versteht mit dem, was man als wahrhaftige Gewißheit in seiner Seele erlebt - das heißt, nur dadurch, daß man Geisteswissenschaft durch das Innere erfaßt -, nur dadurch kommt man dazu, innerhalb desjenigen, was sonst in diesem Inneren nicht die Wirklichkeit ver­bürgt, die geistige Wirklichkeit verbürgt zu erhalten.

Mit den Mitteln, die Augustinus hatte, mit den Mitteln, die dann diejenigen haben, die auf Augustinischen Grundsätzen stehen, kann man nicht weit kommen, weil jeder Schlaf die wahrhaftige Gewißheit des innerlich Erlebten widerlegt. Erst wenn zu diesem innerlich Er­lebten hinzu seine Wirklichkeit erlebt wird, dann kommt man zu einem wirklichen, festen Stehen auf dem Boden dieses inneren Erlebens.

Das, was wir heute denken, das, was wir heute fühlen in unserem gegenwärtigen Erdenleben, es hat in diesem gegenwärtigen Erdenleben noch keine Wirklichkeit - das erkennen heute schon einige naturwissenschaftlich denkende Menschen an -, das ist unwirklich

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gegenüber der Gegenwart. Und das Eigentümliche ist gerade das: Was wir am intimsten erleben, dasjenige, in dem uns geradezu die Wahrheit unbezweifelbar aufleuchtet, ist kein Wirkliches in der Gegenwart, aber es ist dieses der eigentliche tragende Keim unseres nächsten Erdenlebens. Wir dürfen von dem, wovon Augustinus spricht und für das es bei ihm keine Bürgschaft gibt, wir dürfen von diesem sprechen wie von dem Keim für das nächste Erdenleben. Wir dürfen sagen: Es ist gewiß wahr, daß die Wahrheit in unserem Inneren aufleuchtet, aber sie leuchtet auf als Schein. Heute ist sie noch Schein, aber im nächsten Erdenleben wird das, was jetzt Schein ist und als Schein Keim ist, zur Frucht, die gerade das nächste Erdenleben so belebt, wie der Keim der Pflanze in diesem Jahr die sichtbare Pflanze im nächsten Jahr belebt. - Nur dann, wenn man die Zeit überwindet, dann findet man in dem, was innerlich erlebt werden kann, eine Wirklichkeit. Wir würden nimmermehr diejenigen Menschen sein, die wir sein sollen, wenn die innerlich erlebte Wahrheit jetzt gegenwärtig eine solche Wirklichkeit wäre wie die äußere Welt. Wir würden nimmermehr frei werden können. Von Freiheit könnte gar nicht die Rede sein. Wir würden aber auch keine Persönlichkeit sein können; wir würden eingespannt sein in die Naturordnung. Dasjenige, was in uns geschähe, würde notwendig geschehen. Wir sind eine Persönlichkeit, und namentlich eine freie Persönlichkeit nur dadurch, daß auf den Wogen des notwendigen Geschehens sich wie ein Wunder heraushebt der Schein dessen, was wir in unserem Inneren erleben, und was erst in unserem nächsten Erdenleben eine solche äußere Wirklichkeit wird wie diejenige, die wir in unserer Umgebung sehen.

Das ist das Trügerische der Zeit, dem sich alle Phantasie heute noch hingibt: man zieht nicht in Erwägung, daß dasjenige, was als unwirk­lich innerlich aufleuchtet in einem Erdenleben, Realität wird im näch­sten Erdenleben. Nun, gerade über diesen Punkt reden wir dann morgen und übermorgen weiter.

Aber wir sehen, wie wir von dem Gesichtspunkte, den wir heute uns erobern können, den Augustinischen Standpunkt überschauen können, wie wir gewissermaßen das sehen können an Augustinus, was er noch nicht sehen konnte. So steht vielleicht gerade für uns ganz besonders

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signifikant Augustinus in der Abenddämmerung des vierten nachatlantischen Zeitraums drinnen, indem er mit besonderer Präzision hinweist auf die eine Strömung im Weltengeschehen, auf die ideelle, und in der ideellen Strömung im Weltengeschehen versucht, einen festen Punkt zu finden. Das versuchte Augustinus. Wir wollen heute nur die historische Tatsache einmal hinstellen.

Noch nicht war zu seiner Zeit den Leuten aufgegangen der unge­heure Umschwung, der mit Bezug auf das Mysterium der Geburten und des Todes eingetreten war; denn erst aus diesem Mysterium des Todes kann dann herausquillen die wirkliche Befestigung der absoluten Gewißheit der im Inneren der Menschenseele erlebten Wahr­heit.

Wir werden nun einen großen Sprung machen, um eine andere Per­sönlichkeit so zu charakterisieren, wie wir für die Abenddämmerung des vierten nachatlantischen Zeitraums das charakterisierten, was sich in der Persönlichkeit des Augustinus offenbarte. Wir wollen ebenso charakteristische Persönlichkeiten des fünften nachatlantischen Zeit­raums nach einer gewissen Richtung hin schildern. Zwei will ich herauswählen. Eine dieser Persönlichkeiten, von der ausgehend sich nach einer gewissen Richtung hin dasjenige charakterisieren läßt, was im fünften nachatlantischen Zeitraum für die Menschheit heraus­kommt, ist der Graf Saint-Simon, der gelebt hat von 1760 bis 1825. Eine andere Persönlichkeit ist der Schüler von Saint-Simon, Auguste Comte, der gelebt hat von 1798 bis 1857. Haben wir in Augustinus eine Persönlichkeit, welche mit allen Mitteln, die ihr von seiten ihrer Erkenntnis zur Verfügung stehen, das Christentum zu befestigen ver­sucht, so haben wir auf der andern Seite sowohl in Saint-Simon wie in Auguste Comte Persönlichkeiten, welche an dem Christentum im Grunde vollständig irre geworden sind. Wir werden uns am leich­testen eine Vorstellung machen von dem, was in Auguste Comte, in gewissem Sinne auch in Saint-Simon lebte, wenn wir, wenigstens schematisch, einige der Hauptgedanken von Auguste Comte uns einmal vorführen.

Auguste Comte ist im hohen Grade ein Repräsentant für ein ge­wisses Weltanschauungsleben in unserer Zeit, und nur der Umstand,

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daß man sich so wenig kümmert um die Art, wie sich die verschiedenen Weltanschauungsimpalse in das Leben der Menschen einfügen, be­wirkt, daß man so jemanden wie Auguste Comte auch so studiert wie eine Rarität des geschichtlichen Lebens. Man weiß eben nicht, daß im Grunde genommen, wenn auch vielleicht nicht überall, zahlreiche Menschen von Auguste Comte etwas schülerhaft beeinflußt sind -darauf kommt es aber nicht an -, und in der wesentlichen Grundrich­tung ihres Denkens mit Auguste Comte übereinstimmen. So daß man sagen kann: Auguste Comte ist der Repräsentant für einen großen Teil des Weltanschauungslebens der Gegenwart.

Auguste Comte sagt: Die Menschheit hat sich entwickelt. Sie hat sich entwickelt durch drei Stadien hindurch. Beim dritten Stadium ist sie jetzt angelangt. Wenn man durch diese drei Stadien hindurch das Seelenleben der Menschen beobachtet, so findet man, daß in dem ersten Stadium die Vorstellungen der Menschen vorzugsweise hinneigten zur Dämonologie. Das erste Stadium der Entwickelung also im Auguste Comteschen Sinne wäre das Dämonologische. Die Menschen haben sich vorgestellt, daß hinter den Erscheinungen der Natur, welche sinnenfällig sind, geistige Wesen tätig, wirksam sind, die so vorzustellen sind, wie eben im trivialen Leben Geister vorgestellt werden. Überall werden Dämonen gewittert, große und kleine Dämo­nen gewittert. Das war das erste Stadium.

Dann sind die Menschen übergegangen, als sie sich schon etwas weiter entwickelt hatten, von dem Standpunkt der Dämonologie zu dem Standpunkt der Metaphysik. Während sie sich zuerst Dämonen, Elementarwesen oder dergleichen vorgestellt haben hinter allen Er­scheinungen, stellten sie sich dann in abstrakten Begriffen faßbare Gründe vor. Metaphysisch wurden die Menschen, nachdem sie nicht mehr Dämonengläubige sein wollten. Das zweite Stadium ist also das der Metaphysik: man denkt gewisse Begriffe aus und verbindet diese Begriffe mit seinem eigenen Leben, so daß man meint, durch solche Begriffe könne man an die Urgründe der Dinge herankommen.

Über dieses Stadium ist die Menschheit nun auch hinausgeschritten. Sie ist nun in das dritte Stadium eingetreten, von dem Auguste Comte, ganz auch im Sinne seines Lehrers Saint-Simon, annimmt, daß der

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Mensch nicht mehr zu Dämonen hinschaut, wenn er sich über die Urgründe der Welt unterrichten will, auch nicht zu metaphysischen Begriffen, sondern lediglich zu dem, was die sinnenfällige Wirklichkeit der positivistischen Wissenschaft gibt. Das dritte Zeitalter ist also das der positivistischen Wissenschaft. Was man durch die äußere wissen­schaftliche Erfahrung geoffenbart bekommen kann, das soll der Mensch betrachten als dasjenige, was ihn aufklärt für eine Welt­anschauung. Er soll über sich selber sich so aufklären wollen, daß diese Aufklärung in demselben Sinne gehalten ist, wie die metaphy­sische Aufklärung über die Raumordnungen auf klärt, wie die Physik über die Kräfteordnungen, die Chemie über die Stoffordnungen, die Biologie über die Lebensordnungen auf klärt. Alles dasjenige, was so durch die einzelnen Wissenschaften, deren Zusammenklang Auguste Comte in seinem großen Werke über die positive Philosophie aus­führlich im einzelnen darzustellen versuchte, alles das, was so durch die einzelnen positiven Wissenschaften erfahren werden kann, be­trachtete Auguste Comte als dasjenige, was einzig und allein des Men­schen im dritten Stadium würdig ist. Das Christentum selber betrachtet er noch, zwar als die höchste Ausbildung, aber doch nur als die letzte Phase der Dämonologie. Die Metaphysik ist dann aufgetreten; sie gab den Menschen eine Summe von abstrakten Begriffen. Zu etwas wirk­lich Realem, das den Menschen auch ein menschenwürdiges Dasein auf der Erde hier geben könne, bringt es erst die positive Wissen­schaft; so meint Auguste Comte. Daher will auch Auguste Comte eine Kirche begründen auf Grundlage der positivistischen Wissenschaft, die Menschen in solche sozialen Strukturen bringen, die auf Grund­lage der positivistischen Wissenschaft gefaßt sind.

Es ist sehr merkwürdig, zu welchen Dingen Auguste Comte - ich will heute nur einige charakteristische Züge hervorheben - eigentlich zuletzt gekommen ist. Er hat sich ja mit der Gründung einer Kirche, der positivistischen Kirche, viel beschäftigt. Und diese positivistische Kirche - wenn Sie einzelne Dinge daraus entnehmen, so werden Sie ja gleich den Geist kennenlernen - sollte auch eine Art Kalender ein­führen. Eine große Anzahl von Jahrestagen sollte zum Beispiel dem Andenken von solchen Leuten wie Newton oder Galilei gewidmet

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sein, den Trägern der positivistischen Wissenschaften; diese Tage des Jahres, die diesen Leuten gewidmet sind, sollten verwendet werden zum Verehren dieser Leute. Andere Tage sollten verwendet werden zum Verlästern solcher Leute wie Julian des Abtrünnigen oder Napoleons. Auch das sollte geregelt sein. Aber das Leben sollte überhaupt im weitgehendsten Maße durchaus nach den Grundsätzen der positivisti­schen Wissenschaft geregelt sein.

Wer das Leben heute kennt, der weiß, daß die Menschen gewiß in keiner großen Anzahl mit solchen Idealen, wie sie Auguste Comte gehabt hat, Ernst machen wollen. Aber das ist ja doch nur aus Feig­heit; denn in Wahrheit denken die Menschen schon so, wie Auguste Comte gedacht hat. Wenn man studiert, welches Bild die positivi­stische Kirche des Auguste Comte gibt, so bekommt man tatsächlich den Eindruck: Die Struktur dieser Kirche stimmt ganz genau mit der Struktur der katholischen Kirche überein, nur fehlt der positivistischen Kirche des Auguste Comte der Christus. Und das ist das Merkwürdige. Das ist dasjenige, was man sich geradezu vor die Seele stellen soll als das Charakteristische: Auguste Comte sucht eine katholische Kirche ohne Christentum. Dazu ist er gekommen, indem er diese drei Stufen: das Dämonologische, das Metaphysische und das Positivistische, in seine Seele aufgenommen hat. Man könnte sagen: Er hat alle Einklei­dung des Christentums, wie sie in der Geschichte sich bis zu ihm er­geben hat, als etwas sehr Gutes betrachtet; aber den Christus selbst wollte er aus dieser Kirche beseitigen. Das ist doch im Grunde das Wesentliche, worauf es bei Auguste Comte ankommt: eine katholische Kirche ohne den Christus.

Das ist außerordentlich charakteristisch für die Morgendämmerung der fünften nachatlantischen Zeit. Denn so wie Auguste Comte denkt, so mußte ein Geist denken, der den Romanismus ganz und gar in seiner Seele aufgenommen hatte, aus diesem Romanismus heraus dachte, aber zu gleicher Zeit völlig dachte im Sinne der fünften nachatlantischen Zeit mit ihrem antispirituellen Charakter. So sind Auguste Comte und sein Lehrer Saint-Simon im höchsten Grade charakteri­stisch für die Morgendämmerung des fünften nachatlantischen Zeit­raums. Aber in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum wird sich

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viel entscheiden. Daher treten auch die andern Nuancierungen, die noch möglich sind, auf. Ich will heute, wie gesagt, einige historische Lichtblicke vor Ihnen eröffnen; wir werden dann darauf weiterbauen.

Einen merkwürdigen Gegensatz zu Auguste Comte bildet Schelling, der da lebte von 1775 bis 1854. Auch er ist gewissermaßen charakte­ristisch für die Morgendämmerung des fünften nachatlantischen Zeit­raums. Ich kann Ihnen ja von Schellings mannigfaltig in sich ge­gliederter Weltanschauung, über die wir von diesem oder jenem Ge­sichtspunkte schon öfter gesprochen haben, selbstverständlich nicht einmal schematisch heute sprechen; aber auf einiges Charakteristische möchte ich Sie hinweisen.

Gesagt habe ich: Augustinus steht in der Abenddämmerung des vierten nachatlantischen Zeitraums auf dem Punkte, die eine Strö­mung, die ideelle, so zu betrachten, daß sich ihm aus ihr ein fester Punkt ergeben soll, auf dem er stehen kann. Nun kommen wir in den fünften nachatlantischen Zeitraum herein: In der Morgendämmerung haben wir solche Geister wie Saint-Simon und Auguste Comte, die in der anderen, in der rein natürlichen, materiellen Ordnung den festen Punkt suchen der positivistischen Wissenschaft. Da haben wir die beiden Richtungen: Augustinus auf der einen Seite, Auguste Comte auf der andern Seite stehend. Schelling suchte hinter dem, was man in der Welt sehen kann mit den gewöhnlichen Mitteln des fünften nachatlantischen Zeitraums, zuerst abstrakt-philosophisch, mit ungeheurer Energie nach einer Brücke zwischen dem Idealen und dem Realen, dem Idealen und Materialen - Sie finden die wesentlichen Punkte in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» dargestellt -; er suchte mit ungeheurer Energie nach einer Überbrückung dieser Gegensätze. Er kam zuerst nur zu allerlei abstrakten Gedanken in dieser Überbrük­kung. Indem er zuerst namentlich auf denselben Grundlagen gebaut hat, auf denen Johann Gottlieb Fichte baute, kam er etwas weiter und versuchte, etwas in der Welt als ein Sein zu erfassen, das ideal und real zu gleicher Zeit ist. Dann kam eine Zeit in Schellings Leben, in der ihm unmöglich schien, mit den Mitteln der Abstraktionen, zu denen es dieser fünfte nachatlantische Zeitraum im Laufe der Zeit gebracht hatte, zu einer solchen Brücke zu kommen. Unmöglich erschien ihm

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dieses. Er sagte sich eines Tages: Die Menschen haben ja doch eigent­lich nur auf dem Boden der neuzeitlichen Gelehrsamkeit solche Be­griffe gewonnen, mit denen man die äußere Naturordnung begreifen kann. Aber für das, was hinter dieser äußeren Naturordnung ist, der Sphäre, wo man die Brücke zwischen Idealem und Realem bauen kann, dafür haben wir keine Begriffe. - Und sehr interessant ist es, daß Schelling eines Tages das Geständnis gemacht hat: es käme ihm vor, wie wenn die gelehrten Leute der letzten Jahrhunderte einen stillen Vertrag geschlossen hätten, der dahin ginge, alles Tiefere aus der Weltanschauung auszuschalten, das nach dem wirklichen, wahrhaftigen Leben führen will. Daher müsse man zu den ungelehrten Leuten gehen. Das war auch die Zeit, in der sich Schelling auf Jakob Böhme eingelassen hat, so daß er dann aus Jakob Böhme jene spirituelle Vertiefung fand, die ihn zu seiner letzten, zu seiner theosophischen Periode in seinem Leben führte, aus welcher hervorgegangen ist die schöne Schrift über die Freiheit des Menschen, die schöne Schrift über die Gottheiten von Samothrake, über die Kabirengottheiten; dann die «Philosophie der Mythologie» und die «Philosophie der Offen­barung».

Was Schelling namentlich in dieser letzten Periode seines Lebens ganz besonders gesucht hat, das war, das Eingreifen des Mysteriums von Golgatha in die Menschheitsgeschichte zu begreifen. Das hat er ganz besonders gesucht. Und es ist ihm dabei aufgegangen, daß man mit den Begriffen, die der neueren Gelehrsamkeit zur Verfügung stehen, nicht dazu kommen kann, jenes Leben zu verstehen, in wel­chem das Mysterium von Golgatha fließt, also auch nicht das wahre Menschenleben zu verstehen. Dadurch kam Schelling - und das ist der Zug, den ich bei ihm jetzt besonders hervorheben möchte, wir werden in den nächsten Tagen weiter auf diesen Dingen bauen - zu einer An­schauung, die nun der seines Zeitgenossen Auguste Comte völlig ent­gegengesetzt war. Und das ist das Merkwürdige: Wir können sagen, Auguste Comte sucht einen Katholizismus, ich möchte besser sagen eine katholische Kirche, ohne Christentum; Schelling sucht aus seinen Anschauungen heraus ein Christentum ohne Kirche. Ein Christentum ohne Kirche: Schelling sucht gewissermaßen das ganze moderne

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Leben zu verchristen, zu durchchristen, so daß alles, was der Mensch denken und fühlen und wollen kann, durchpulst wäre von dem Christus-Impuls. Ein abgesondertes kirchliches Leben für das Chri­stentum sucht er nicht, namentlich nicht nach dem Muster, wie es schon war in der historischen Entwickelung, obwohl er dieses Leben sorgfältig betrachtet. So haben wir die zwei Extreme: den Auguste Comteschen Gedanken einer Kirche ohne Christus, den Schelling­schen Gedanken des Christus ohne Kirche.

Ich wollte diese historischen Ausblicke vor Ihre Seele hinstellen, um eben auf diesen Dingen aufbauen zu können. Denn wir sehen einen Geist, Augustinus, der den festen Punkt sucht im Idealismus, einen Geist, Auguste Comte, der den festen Punkt sucht im Realismus, eine Persönlichkeit wie Schelling, welche die Brücke schlagen will. Das alles sind Tendenzen, die der Entwickelung vorangehen, in der wir selbst eben stehen.

Nun kann man folgendes sagen: Man kann überblicken dasjenige, was sich da zugetragen hat durch viele Jahrhunderte hindurch, was sich zugetragen hat im Weltanschauungsleben, und man kann dann seinen Blick werfen auf die Art, wie sich die Vorstellungen der Men­schen im weitesten Umkreise ausbilden. Da kommt einem gerade durch das Studium von Auguste Comte ein sehr wichtiges Aperçu, aber Auguste Comte konnte dieses Aperçu nicht rein fassen, weil er ja ganz in seinen positivistischen Vorurteilen drinnensteckte. Aber etwas, was für uns ein wichtiger Ausgangspunkt der nächsten Tage werden kann, ergibt sich gerade, wenn man den ganzen Zusammenhang, ich möchte sagen, Augustinus, Auguste Comte, Schelling, ins Auge faßt, ein Aperçu, das ich an den Schluß dieser Betrachtungen heute hinstellen will, weil ich möchte, daß es zunächst einmal in Ihre Seelen sich hineinsetzt. Wir werden dann in den nächsten Tagen zu reden haben von dem, was in bedeutsamer Weise mit diesem Aperçu zu­sammenhängt. Weil nun dieses Aperçu sich gerade ergibt aus einer Betrachtung dessen, was ich vorausgesetzt habe, stelle ich es apho­ristisch hin, ohne im einzelnen die Begründung geben zu können, warum man dieses nicht bei Auguste Comte, aber bei andern stehende Aperçu gerade findet, wenn man sich vom Standpunkte des Späteren,

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wie ich es heute angedeutet habe, einläßt auf einen in diesem Fall nicht viel Späteren: desjenigen, der im Anfange des 20. Jahrhunderts über jemanden denkt, der am Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dachte. Aber es ist heute schon wichtig - was ich immer wieder und wiederum betont und auch diesmal scharf charakterisiert habe -, daß man das Weltanschauungsleben nicht nur in abstracto so für sich betrachtet, sondern so, wie es sich eingliedert in das gesamte Leben der Menschheit. Nur dadurch kommt man zu einem Wirklichkeitsstandpunkt, daß man diese Eingliederung in das Gesamtleben der Menschheit ins Auge faßt.

Nun sind sich gerade Saint-Simon und Auguste Comte klar darüber, daß sie zu ihrem Positivismus nur kommen konnten in der modernen Zeit, daß der Positivismus unmöglich gewesen wäre in einer früheren Zeit. Auguste Comte besonders empfindet es stark: Wie ich denke - so sagt er sich ungefähr -, so kann man nur in unserem Zeitalter denken. - Das ist etwas, was als etwas ungeheuer Wichtiges dasteht in der modernen Bewegung, und das hängt zusammen eben mit jenem Aperçu, das ich meine. Wenn man gerade zugrunde legt das, was Auguste Comte als Ausgangspunkt für seine Dreigliederung betrachtet, so kann man auch ganz in seinem Sinne sagen, diese Dreigliederung sei Theologie, Metaphysik und das, was er - ob nun recht oder un­recht, das ist gleichgültig - positivistische Wissenschaft nennt.

Nun ist das Eigentümliche, daß man fragen kann: Wer wird am leichtesten Gläubiger von einer dieser Richtungen? Ich bitte, mich in bezug auf dasjenige, was ich jetzt mit Bezug auf dieses Aperçu sagen werde, ja nicht mißzuverstehen, ja nicht irgendwie dies als einseitig radikales Dogma aufzufassen, und auch nicht es so aufzufassen, als ob es für die Gegenwart grobklotzig beobachtet werden könnte mit apodiktischer Gewißheit; sondern es muß betrachtet werden der ganze Entwickelungsgang der Menschheit, wenn man das ins Auge fassen will, was ich jetzt aussprechen will. Aber man kann dann nicht fragen: Wer wird Gläubiger?, sondern: Wer wird am leichtesten Gläubiger einer dieser Richtungen? - Und da ergibt sich durch eine sorgfältige Beobachtung, so sehr auch die Tatsachen zu widersprechen scheinen: Am leichtesten wird Gläubiger der Theologie - nicht Träger

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der Theologie, nicht Theologe, sondern Gläubiger - ich spreche nicht von der Religion, sondern von der Theologie -, der Soldat! Am leichtesten wird Gläubiger der Metaphysik der Beamte, insbesondere der juristische, und am leichtesten wird Gläubiger der positivistischen Wissenschaft der Industrielle.

Es ist wichtig, wenn man das Leben beurteilen will, nicht im Ab­strakten stehenzubleiben, sondern wirklich unbefangen auf das Leben hinzublicken. Dann aber muß man sich solche Fragen aufwerfen.

Ich möchte das nur eben heute am Schlusse als ein Aperçu behan­delt wissen, das sich gerade dann ergibt, wenn man sich auf Auguste Comte intimer einläßt, weil er sich dessen bewußt ist: Nur für Indu­strielle ist er vollständig verständlich, und nur im industriellen Zeit­alter konnte er eigentlich auftreten mit seinen Anschauungen. Das aber hängt damit zusammen, daß der Industrielle am leichtesten Gläu­biger der positivistischen Wissenschaft wird, der Soldat am leichtesten Gläubiger nicht etwa bloß der christlichen, sondern jeder Theologie wird, der Beamte am leichtesten der Gläubige wird der Metaphysik.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 7. September 1918

Ein völliger Einblick in die Verhältnisse, die wir jetzt berühren, ist doch nicht möglich, ohne daß man genauer hinsieht auf das Wesen des Menschen in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen, im Schlafzustande. Schematisch ist Ihnen ja allen dieser Schlafzustand bekannt: Es trennt sich dasjenige, was man, wenn man es so nennen will, Ich und astralischen Leib nennt, von dem physischen Leib und dem Ätherleib. Wenn man aber das Wesen des Schlafes genauer ins Auge fassen will, dann muß man doch darauf aufmerksam werden, daß der Mensch gerade im Schlafzustande die Wirklichkeit dessen er­lebt, wovon wir gestern so gesprochen haben, daß wir sagten: Augustinus sucht im inneren Erleben die wirkliche, wahrhaftige Ge­wißheit über die Welt zu erfassen. - Aber der Mensch erfaßt im Wachzustande nicht völlig sein Inneres. Man muß sich klar darüber sein, daß dasjenige, was man als Ich und als astralischen Leib be­zeichnet, im Wachzustande durchaus nicht wirklich zum Bewußtsein des Menschen kommt, sondern daß in diesem Wachzustande nur ein Abbild, ein Spiegelbild von Ich und astralischem Leib zum Bewußtsein des Menschen kommt. Im Schlafzustande, also vom Einschlafen bis zum Aufwachen, würde der Mensch, wenn er sich bewußt wäre - wir können auch sagen, wenn er sich bewußt wird durch jene Übungen, die Ihnen zur Verfügung stehen, die Sie ja beschrieben finden in den verschiedenen Schriften -, es würde der Mensch durch den Schlafzustand, wenn er sich bewußt würde, was er da erlebt, gewissermaßen die wahre Gestalt von Ich und astralischem Leib erleben, nicht das Spiegel­bild, wie im Wachzustande, sondern die wahre Gestalt. Da muß man aber dann sich klar sein darüber, daß diese wahre Gestalt von Ich und astralischem Leib so vor des Menschen Seele tritt, so vor das imagi­native Bewußtsein tritt, daß während des Schlafzustandes der Mensch in dem inneren Erleben das wirklich in sich, innerhalb seines Ich und seines astralischen Leibes erlebt, also in sich erlebt, was wir dritte Hier­archie nennen, die Hierarchie der Angeloi, Archangeloi und Archai.

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Während des Wachzustandes erlebt der Mensch diesen innigen Zu­sammenhang, in dem er eigentlich sein ganzes Leben hindurch mit den als Angeloi, Archangeloi und Archai bezeichneten Wesenheiten steht, nicht. Und darinnen besteht eben für den Wachzustand die Täuschung, daß es bleibt bei dem abstrakten Ich, das der Mensch er­lebt, und bei den schattenhaften Vorstellungen und Gedanken, die des Menschen Seele erfüllen - denn schattenhaft sind sie doch -, oder gar bei dem halb traumhaft vor sich gehenden Gefühl der Wollungen. Das ist das Wesentliche, daß der Mensch während des Wachzustandes dabei bleiben muß, dieses Schattenhafte seines Ich und seines astra­lischen Leibes zu erleben, und daß er sich nicht bewußt werden kann, daß in sein Ich hereinwirken die Wesenheiten der dritten Hierarchie. In dem Augenblicke, wo der Mensch wirklich im Schlafe aufwachen würde, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, würde er nicht eine äußere Natur um sich herum haben, aber er würde in sich erfühlen die Wesenheiten der Engel, Erzengel und der Zeitgeister. Und davon kommt es, daß wir in unserer Seelenverfassung etwas haben, was wir sonst nicht hätten. Würde in unser Ich und in unseren astralischen Leib nicht die Hierarchie der Angeloi hereinwirken, so würden wir uns nicht als Persönlichkeit fühlen können. Also dadurch, daß die Hierarchie der Angeloi hereinwirkt in unsere geistig-seelische Wesen­heit, fühlen wir uns als freie Persönlichkeit.

Dadurch, daß die Hierarchie der Archangeloi hereinwirkt, fühlen wir uns als Angehörige der ganzen Menschheit. Wir könnten auch sagen, dadurch, daß die Erzengeiwesen in unser geistig-seelisches Sein hereinleuchten, daß sie dieses inspirieren, fühlen wir uns eigentlich als Mensch. Und dadurch, daß die Wesenheit der Archai, der Zeitgeister, in unser Wesen hereinpulsiert, es intuitiert, fühlen wir uns als Erdenwesen, das heißt als Angehörige nicht nur der gegenwärtigen Menschheit, sondern als Angehörige der ganzen Erdenmenschheit vom Anfange des Erdenwerdens bis zum Ende des Erdenwerdens. Dadurch also fühlen wir uns als Glieder der ganzen Erdenentwickelung. Wir fühlen das ja nur dumpf, weil wir eben die Zeitgeister dumpf in uns erfühlen.

Wir können nicht sagen, daß wir uns als Persönlichkeit schauen;

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das können wir erst dann, wenn wir zum imaginativen Bewußtsein kommen. Es bleibt dieses imaginative Bewußtsein eine Art Spiege­lung, solange wir unsere Gedanken nur so erleben, daß wir durch das freie Gedankenleben uns als Persönlichkeit fühlen. Werden wir uns noch einmal klar darüber, wodurch wir uns als Persönlichkeit fühlen: Wir fühlen uns als Persönlichkeit dadurch, daß wir willkürlich einen Gedanken an den andern setzen können. Sie würden sogleich aufhören, sich als Persönlichkeit zu fühlen, wenn Sie gezwungen wären, einen Gedanken an den andern anzureihen so, wie eine Naturerschei­nung sich an die andere anreiht. Dieses Erlebnis der inneren Freiheit - in der Fortführung unseres Denkens liegt das Sich-Erfühlen als Per­sönlichkeit -, das ist noch, was am klarsten dem Menschen zum Be­wußtsein kommt während des Tagwachens. Und es kommt während des Tagwachens dadurch zum Bewußtsein, daß vom Einschlafen bis zum Aufwachen der Mensch durchtränkt ist von seinem Engelwesen, daß dieses Engelwesen zu unserem Ich gehört.

Schon viel apathischer, viel weniger stark und intensiv fühlen wir uns als Angehöriger der ganzen Menschheit, weil wir natürlich dem Erzengelwesen, welches macht, daß wir uns als Mensch fühlen können, ferner stehen als dem Engelwesen Und dasjenige, was uns hereinsetzt als Persönlichkeit in die ganze menschliche Entwickelungsströmung, das bleibt für die meisten Menschen etwas recht, recht Schattenhaftes. Wir versuchen ja, auf dem Boden der Geisteswissenschaft gerade dieses Sich-Erfühlen in der ganzen Erdenmenschheit wachzurufen, indem wir uns klarwerden: In der fünften nachatlantischen Zeit erlebt der Mensch in dieser Weise, in der vierten nachatlantischen Zeit hat er in jener Weise erlebt, in der dritten nachatlantischen Zeit in anderer Weise. Wie sich die Seelenverfassung ändert durch die verschiedenen Zeitperioden hindurch, bewirkt durch die verschiedenen Zeitgeister, die Wesenheiten aus der Hierarchie der Archal, davon verschaffen wir uns auf dem Boden der Geisteswissenschaft ein Bewußtsein. Dieses Bewußtsein gibt ja eigentlich erst dem Menschen die Möglich­keit, sich als geschichtliches Wesen zu fühlen, darauf aufmerksam zu werden: Ich lebe als Persönlichkeit im 20. Jahrhundert. Den meisten Menschen kommt es ja gar nicht zum Bewußtsein, daß ihre Persönlichkeit

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nur denkbar ist, nur real sein kann als Persönlichkeit dadurch, daß sie in eine bestimmte Zeitperiode hineingestellt ist. Dieses leben­dige Durchtränktsein der menschlichen Geist-Seelenwesenheit von den Wesenheiten der dritten Hierarchie, das ist dasjenige, was dem Menschen zum Bewußtsein kommen würde, wenn er imaginative Erkenntnis in etwas intensiver Weise anstrebte.

Nun, im gewöhnlichen Gang der Menschheitsentwickelung ist, wie Sie ja einsehen, diese imaginative Erkenntnis nicht da. Es dämpft sich ab vom Einschlafen bis zum Aufwachen die Wirklichkeit des Ich und des astralischen Leibes, und im Wachen verliert der Mensch den Zu­sammenhang mit den Wesenheiten der dritten Hierarchie. Das rührt davon her, daß namentlich in unserem Zeitenzyklus der Mensch während des Wachens auch einer Täuschung hingegeben ist. Er ist ja, wie wir eben gesehen haben, während des Schlafens der Täuschung hingegeben, als ob sein Ich und sein astralischer Leib dann untätig wären. Sie sind nicht untätig; sie sind in lebendiger Wechselwirkung mit den Wesenheiten der dritten Hierarchie. Im Wachzustande, da ist die Sache so, daß uns im jetzigen Zeitenzyklus unser physischer Leib und unser Ätherleib gewissermaßen, man könnte sagen, widerrechtlich unser Geist-Seelenwesen absorbieren; sie durchtränken sich mit die­sem Geist-Seelenwesen. Normal wäre es für den Menschen ganz anders; normal wäre es für den Menschen so, daß der Mensch im Wachzustande sich als Ich und astralischer Leib erfühlt und den physischen Leib und den Ätherleib wie eine Art Schale fühlt, in die er hineinschlüpft, wie etwas, das er mit sich trägt. Aber so fühlt sich eben der Mensch nicht. Er fühlt sich so, wie wenn der physische Leib und der Ätherleib er wären. Das ist er gar nicht. Wir sind schon dieses Geist-Seelenwesen, das des physischen und des Ätherleibes sich wie eines Werkzeuges bedient, aber wir können uns über die Täuschung nicht erheben, die liegt in den Wirkungen unseres Zeitenzyklus. Wir müssen gleichsam dasjenige, was uns beim normalen Bewußtsein vor­kommen würde wie der Hammer, den wir in der Hand haben und mit dem wir schlagen, wir müssen uns mit unserem physischen Leib und unserem Ätherleib identisch fühlen; wir müssen uns der Täuschung hingeben, wir seien es, die da fleischlich durch den Raum gehen. Das

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sind aber nicht wir; das ist nur so, weil widerrechtlich das Bewußtsein unseres Ich absorbiert wird von unserem physischen Leib und unserem Ätherleib. Und dieses rührt davon her, daß im gegenwärtigen zeitenzyklus die ahrimanischen Mächte mächtiger sind, als sie in der Normalentwickelung der Menschheit sein würden. Sie ziehen ge­wissermaßen das Ich und den Astralleib an den physischen und Äther­leib heran und bewirken beim Menschen die Täuschung, daß dieser Kopf, den er an sich trägt, er selber sei, daß diese Hände und der ganze Leib er selber sei. Widerrechtlich eignet sich der physische Leib das Bewußtsein an, so daß es so erscheint, als ob unser physischer Leib unsere Persönlichkeit bewirkte. Wer glaubt, daß sein physischer Leib irgendwie seine Persöniichkeit bewirkt, der unterliegt derselben Täuschung wie jemand, der vor einen Spiegel sich hinstellt und glaubt, der Spiegel produziert ihn, weil er sein eigenes Bild zurück­gestrahlt bekommt. Zu sagen: dieses Fleischgebilde, das wir an uns tragen, seien wir, ist nicht gescheiter, als wie wenn jemand seine Hand vor den Spiegel hält und glaubt, der Spiegel produziere ihm seine Hand heraus. Und dennoch, unter dieser Täuschung lebt die ganze heutige Wissenschaft. Die ganze heutige Wissenschaft glaubt, daß das­jenige, was wir innerlich als Persönlichkeit erleben, irgend etwas zu tun habe mit dem physischen Leib und dem Ätherleib, und glaubt nicht, daß der physische Leib und der Ätherleib dieses Ich und astra­lische Wesen zurückstrahlen, jenes Scheinbild formen, das wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen anerkennen als unser Ich und als unsere Gedanken, das heißt, unseren astralischen Leib.

Das ist gewissermaßen die Fundamentalwahrheit, die man zunächst einsehen muß. Mit Bezug auf diese Fundamentalwahrheit nun geben sich die jetzigen Menschen aus den Kräften unseres jetzigen Zeiten-zyklus heraus einer Bewußtseinstäuschung hin, die eben in dem be­steht, was ich gerade gesagt habe: Wir glauben, was wir innerlich an Gedanken oder auch an Gefühlen erleben, erhalten wir von unserem Leibe. Aber der Mensch unterliegt naturgemäß dieser Täuschung, er kann sich dieser Täuschung bei seinem heutigen Bewußtseinszustande nicht entziehen. Geradeso wie die Sonne, wenn sie unten am Horizont ist, größer erscheint, als wenn sie oben ist - man weiß, es ist eine

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Täuschung, aber es erscheint doch so-, so muß es dem Menschen er­scheinen, daß er gewissermaßen als Fleisch und Blut sich für seine Persönlichkeit hält. Das ist eine Bewußtseinstäuschung. Aber dieser Bewußtseinstäuschung, welcher der Mensch heute unterliegt, unterlag er nicht immer, sondern diese Bewußtseinstäuschung ist eigentlich wesentlich eine charakteristische Eigenschaft der Menschheit in der nachchristlichen Zeit, nach dem Mysterium von Golgatha. Vor dem Mysterium von Golgatha war nicht eine Bewußtseinstäuschung vor­handen, sondern eine andere Art von Täuschung. Vor dem Mysterium von Golgatha glaubte der Mensch nicht sein Bewußtsein mit seinem physischen Leib verbunden. Davon erzählt natürlich die Geschichte nichts, aber es ist doch so. Einem Menschen des 2., 3. Jahrtausends vor der christlichen Zeitrechnung zuzumuten, daß er seine Seele irgendwie produziert gehalten hätte von seinem physischen Leibe, ist ein Unsinn. Kein Mensch hat in alten Zeiten sein seelisch-geistiges Wesen so an den Leib gebunden gefühlt wie der heutige Mensch.

Dafür aber hatte dieser Mensch der vorchristlichen Zeiten ein lebendiges Bewußtsein von den Wesenheiten der dritten Hierarchie. Das hatte er schon. Dadurch, daß er wußte: meine Seele ist nicht mit meinem Leibe identisch, dadurch hatte er ein deutliches Bewußtsein, daß diese Seele nicht gebunden ist an das Blut oder an die Muskeln und so weiter, sondern daß diese Seele gebunden ist an die Wesen­heiten der dritten Hierarchie. Nur ergab sich für ihn eine andere Täu­schung, nicht eine Bewußtseinstäuschung, sondern eine Lebenstäuschung. Er hielt diese Seele mit den Wesenheiten der dritten Hier­archie in ähnlicher Weise gebunden an die äußere Natur, wie der heutige Mensch seine Seele an seinen physischen Leib gebunden meint. Der heutige Mensch gibt sich der Bewußtseinstäuschung hin, seine Seele sei an seinen physischen Leib gebunden, und dadurch sieht er Engel, Erzengel und Archai nicht, weil sie ihm sein physischer Leib verdunkelt. Der alte Mensch - trotzdem er ein deutliches Bewußtsein hatte, daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie da sind, mit seiner Seele verbunden - sah auch nicht unmittelbar, sondern dunkel in die äußere sinnenfällige Natur. Der heutige Mensch in seiner Bewußtseinstäuschung glaubt, daß seine Seele an seinen Leib gebunden ist;

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der alte Mensch glaubte, daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie an die äußere Natur gebunden seien, die er mit seinen Sinnen wahrnahm. Damals vermischte er göttliche Wesenheiten, die Wesenheiten der dritten Hierarchie, mit Naturerscheinungen, und er sah sie durch Naturerscheinungen ausgedrückt. Der heutige Mensch versetzt seine Seele in sein Fleisch und Blut, der alte Mensch die Wesenheiten der dritten Hierarchie in die äußere Natur hinein. Er hatte ja keine Natur­wissenschaft, wie wir heute, sondern er betrachtete die Naturerschei­nungen als bewirkt von diesem oder jenem Dämon, mehr oder weniger geistig-göttlichen Wesenheiten, über die er sich einer Lebenstäuschung hingab. Er gab sich einer Lebenstäuschung hin deshalb, weil er sie gewissermaßen sinnlich vorstellte, wie in Naturerscheinungen wirk­sam. Das ist wichtig, daß mit der Entwickelung der Menschheit dies vorgegangen ist, daß der Mensch in der vorchristlichen Zeit sich der charakterisierten Lebenstäuschung hingegeben hat, während der Mensch nach dem Mysterium von Golgatha sich hingibt einer Be­wußtseinstäuschung. Die Wirksamkeit des Christus Jesus - davon werden wir dann noch morgen sprechen - soll gerade darinnen be­stehen, in ähnlicher Weise, wie das durch die alten Mysterien für die alte Lebenstäuschung der Fall war, diese Bewußtseinstäuschung im Menschen wenigstens dem Bewußtsein nach aufzuheben; durch das «Christus in mir» soll der Mensch fühlen, daß dasjenige, was Ich und astralischer Leib ist, in freier Geistigkeit lebt, nicht an sein Fleisch und Blut gebunden ist. Schauen kann er es natürlich nur auf geistes-wissenschaftlichem Wege; fühlen kann er es durch das Paulinische «Nicht ich, der Christus in mir».

Aus dem, was ich Ihnen dargestellt habe, werden Sie die Gründe dafür sehen, daß der Mensch gewissermaßen die Zweiheit zu erleben hat, auf der einen Seite die Naturordnung, die keine Ideale enthält, die notwendig das eine Geschehen an das andere knüpft, in dem rein bloß Ursache an Wirkung und Wirkung an Ursache gegliedert wird, so daß man niemals denken kann: durch dasjenige, was in der Natur selbst vor sich geht, werden moralische oder sonstige Ideale ver­wirklicht. Auf der andern Seite wird sich der Mensch bewußt, daß er kein menschenwürdiges Dasein entfalten würde, wenn er nicht Ideale

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hätte, wenn er nicht an etwas anderes sich halten würde als Mensch, denn an die bloße äußere Naturordnung. Aber er kann nicht, mit dem gangbaren Bewußtsein, mit dem er heute ausgestattet ist, seine Ideale so sehen, daß er sie wirksam glauben könnte wie Elektrizität oder Magnetismus oder wie die Wärmekraft, so daß diese Ideale imstande wären, in die Naturordnung einzugreifen. Daher stellt sich ihm die Naturordnung und die ideale Ordnung nebeneinander, und er kann die Brücke nicht schlagen. Er kann die Brücke nicht schlagen aus dem Grunde, weil er in die Welt bei Tag und bei Nacht nicht blickt, wo diese Brücke zu schlagen ist. Würde der Mensch bei Tag das Normalbewußtsein, das ahrimanfreie Bewußtsein haben: Ich bin als Per­sönlichkeit nicht anders gebunden an meinen physischen Leib und an meinen Ätherleib, als ich gebunden bin, wenn ich vor einem Spiegel stehe und der Spiegel mir mein Bild zurückstrahlt -, würde der Mensch dieses Bewußtsein über sein Ich und seinen astralischen Leib haben, würde er dieses Ich und diesen astralischen Leib als ein Wirk­liches, nicht als ein bloßes Spiegelbild erkennen, dann würde er auch durch dasjenige, was er als Ideale hat, anerkennen: Das sind reale Kräfte wie Elektrizität und Magnetismus, nur wirken sie nicht in der Gegenwart, sondern sie erobern sich ihre Wirksamkeit von der jetzigen Inkarnation bis zur nächsten Inkarnation, von diesem Erdendasein bis in das nächste Erdendasein hinüber.

Und würde der Mensch im Wachzustande erkennen, daß sein Ich und sein astralischer Leib verbunden sind mit den Wesenheiten der dritten Hierarchie, würde der Mensch mit andern Worten sich wirklich voll durchschauen, nicht bloß erfühlen als freie Persönlichkeit, als Mensch und als Erdenmensch, würde der Mensch das so in sich er­fühlen, wie er falsch nacherfühlt, er sei ein Mensch aus Fleisch und Blut, dann würde er auch nicht glauben, daß die Naturordnung drau­ßen, die sich seinen Sinnen darbietet, dasjenige ist, was stark genug ist an Wirklichkeit, um der Kraft der Ideale zu widerstehen. Er würde wissen, daß dasjenige, was heute Naturordnung ist, zerfällt mit allen Stoffen, daß es keine Erhaltung des Stoffes gibt, sondern daß das­jenige, was Natur ist, sich vernichtet. Und wenn das nicht mehr da ist, was heute Natur ist, dann wird ein anderes äußeres sinnenfälliges

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Wirkliches an die Stelle getreten sein: das, was heute Ideale sind, wird die Natur der nächsten Zeiten sein. So daß wir sagen können: Wir erleben heute Naturordnung (siehe Zeichnung, rot) und ideale Ord­nung (gelb). Der Physiker glaubt, es gäbe eine Erhaltung der Kraft

# Bild s. 39a

und des Stoffes, die Naturordnung gehe fort, dieselben Atome und dieselben Kräfte, die spielen in alle Zukunft hinein. Er weiß dann nichts anderes zu sagen, dieser Physiker, wenn er ehrlich ist, als:

Die ideale Ordnung, die ist ein Traum gewesen, die muß versinken und verschwinden, wie der Traum selber, so daß also am End­zustande der Erde der Idealtraum nicht mehr da sein wird, begraben sein wird.

Geisteswissenschaft zeigt, daß dies eine Unwahrheit ist, eine Täu­schung. Wir haben die Naturordnung, aber es gibt keine Erhaltung der Kraft und des Stoffes, sondern dasjenige, was Naturordnung ist, hört auf an einer bestimmten Stelle, und dasjenige, was heute Idealordnung

# Bild s. 39b

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ist, das bildet die Fortsetzung der Naturordnung. Von dem -ich habe es schon ausgeführt-, was heute um unsere Augen herum ist, um unsere Ohren herum ist, um unsere gesamten Sinne herum ist, wird, wenn die Erde in den Venuszustand gekommen ist, nichts mehr vorhanden sein. Dann wird in jenem Nichts darinnen die Möglichkeit gegeben sein, daß die Ideale der heutigen Menschheit äußere Natur­ordnung geworden sind. Keine Weltanschauung, die nicht die Ver­nichtung des Sinnlichen erkennt, kann irgendeine Hoffnung haben, daß das Ideale die Kraft hat, sich zu verwirklichen; denn wenn das Sinnliche ewig wäre, wenn es eine Erhaltung der Kraft und des Stoffes gäbe, so würde die ideale Welt ein bloßer Traum sein. Das ist das un­geheuer Bedeutungsvolle, daß der Menschheit in der Gegenwart diese Aufklärung kommen muß, daß die Ideale der Gegenwart die Natur der Zukunft sind, und daß es eine große Täuschung ist, wenn geglaubt wird, daß die Atome, daß die Kräfte ewig seien; die sind eben gerade nicht das Ewige, die sind das Zeitliche. Das ist ja, man möchte sagen, auch die Fatalität der Geisteswissenschaft, daß sie einer Anschauung widersprechen muß, die geradezu der heutigen landläufigen Wissen­schaft als die allergewisseste gilt, und die doch nichts anderes ist als eine ahrimanische Täuschung.

Blicken wir noch einmal zurück zu dem, worauf ich Sie eben auf­merksam gemacht habe. Vor dem Mysterium von Golgatha war das­jenige, was als menschliche Täuschung bezeichnet werden kann, Lebenstäuschung; nach dem Mysterium von Golgatha ist es Bewußt­seinstäuschung. Wenn man dieses weiß, versteht man sehr vieles in der Menschheitsentwickelung. Vor allen Dingen versteht man, warum vor dem Mysterium von Golgatha die Menschen, die ja atavistisches Hellsehen hatten, das, was sie sahen, doch nicht in der wahren Gestalt sahen, sondern sie sahen die geistigen Wesenheiten der höheren Hierarchien als Dämonen. Daher haben wir in den alten Mythologien im wesentlichen Dämonologie. Die Götter der alten Mythologien sind durchwegs Dämonen. Das beruhte darauf, daß die Lebenstäuschung da war, daß der Mensch gewissermaßen eine Art falsche Naturordnung als göttliche Ordnung denken mußte, wie er heute eine falsche Leibesordnung als Menschheitsordnung denken muß.

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Nun kam das Mysterium von Golgatha. Die Menschen mußten sich rnit ihrer Seelenverfassung gewissermaßen darauf einrichten, zu er­kennen, was sich durch das Mysterium von Golgatha ergeben hat. Es stand im wachen Zustande vor dem Mysterium von Golgatha die menschliche Seele zu den Wesen der höheren Hierarchie in einer un­mittelbareren Beziehung als heute, wo die Bewußtseinstäuschung vor­liegt. Man sah die Wesen der höheren Hierarchie, dichtete sie nur um durch die Lebenstäuschung in Zeus, Apollo und so weiter; das sind Wesenheiten der dritten Hierarchie, aber sie sind umgedichtet, sie sind eben unter dem Einfluß der Lebenstäuschung gesehen, wie wir heute alles, was sich auf den Menschen bezieht, unter dem Einfluß der Bewußtseinstäuschung sehen. Aber mit alledem ragte herein in die Menschheit eine göttliche Weltenordnung. Denken Sie nur, wie nahe der Mensch vergangener Zeiten seine Menschenwelt der göttlichen Weltenordnung wußte! Da war die menschliche Hierarchie, dann kam die göttliche Hierarchie. Der Mensch fühlte sich nicht, ich möchte sagen, nach oben so abgeschlossen wie heute, sondern er setzte die Welt nach Richtung der Götter fort. Wie nahe fühlte der Grieche seine Götterwelt der menschlichen Welt, der menschlichen Hierarchie!

Nun kam das Mysterium von Golgatha. Da war dann das nicht mehr der Fall. Nicht das Mysterium von Golgatha - das sollte ja gerade den Ersatz bieten für das, was verlorengegangen war -, aber die Zeit brachte das in die Menschheitsentwickelung hinein, daß die Menschen abgeschnitten wurden von diesem bewußten Zusammen­hang mit der göttlich-geistigen Welt der dritten Hierarchie. Doch ein Gedächtnis, ein historisches Gedächtnis war davon geblieben. Und so kam denn die erste Zeit nach dem Mysterium von Golgatha. Die Men­schen mußten schon etwas anders denken als vor dem Mysterium von Golgatha, aber es wirkte noch etwas herein von der unmittelbaren Vergangenheit. In der unmittelbaren Vergangenheit wußte die Mensch­heit, daß die göttlich-geistigen Wesenheiten ins Erdenweben hereinwirken und das beeinflussen und ordnen, was der Mensch auf der Erde tut. Daher war der alte Mensch davon überzeugt, wenn er Staaten begründete - wenn man das Wort «Staat» da anwenden will, es ist nicht ganz richtig, aber die Menschen sind heute gewohnt, so zu

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sprechen -, wenn die alten Menschen also soziale Strukturen, möchte man sagen, begründeten, so wußten sie: Diese sozialen Strukturen sind unter dem Einfluß der dritten Hierarchie begründet. Der Mensch empfand seine Einrichtungen auf der Erde als Göttereinrichtungen. Sie brauchen nur die ägyptische Geschichte zu studieren, gar nicht einmal auf Hellseherisches sich einzulassen, so werden Sie darauf kommen, daß der Ägypter voll überzeugt war, daß dasjenige, was die Menschen in ihrem gesellschaftlichen Zusammenleben hier auf der Erde tun, von den Wesenheiten der dritten Hierarchie eingerichtet ist. Das war so vor dem Mysterium von Golgatha. Nach dem Mysterium von Golgatha blieb nur das Gedächtnis davon. Und was war die Folge? Nun, Sie wissen, nach und nach richtete sich nach dem Myste­rium von Golgatha die Kirche ein. Die Kirche richtete eine bestimmte Art von Stufenfolge in den kirchlichen Würden ein: da gab es Dia­kone, Archidiakone, Bischöfe, Erzbischöfe und so weiter. Es wurden solche Stufenfolgen eingerichtet. Aber hinter dieser Einrichtung der Stufenfolgen war ein ganz bestimmter Gedanke. Das tritt bei den ersten Kirchenschriftstellern sehr klar noch hervor. Lesen Sie Diony­sius den Areopagiten, so können Sie das deutlich herausentnehmen. Es sollte eine solche Einrichtung in der Kirchenverwaltung da sein, daß diese Kirchenverwaltung ein Abbild ist der göttlichen Ordnung. So wie sich der Diakon zu dem Archidiakon verhält, so sollte das ein Abbild sein, wie sich der Engel zu dem Erzengel verhält. Und wieder­um, wie sich der Archidiakon zu dem Bischof verhält: Abbild vom Erzengel zum Arché. Und so sollte die soziale Struktur der Kirche eine Art Abbild der Theokratie sein: Oben in der geistigen Welt stehen stufenweise die Hierarchien, unten sollen, als Abbild der geistigen Hierarchien, die kirchlichen Würdenträger stufenweise stehen. Das war in der ersten Zeit nach dem Mysterium von Golgatha nicht juri­stisch gedacht, sondern das war theokratisch gedacht, das war ein Abbild; die kirchliche Hierarchie war als Abbild der geistig-göttlichen Hierarchie gedacht. So dachte man in den ersten christlichen Jahr­hunderten auf Erden solche Einrichtungen zu pflegen, welche die Stellungen der Menschen zueinander auf der Erde als Abbild er­scheinen lassen der Hierarchien oben in der geistigen Welt.

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Nun ging den Menschen allmählich verloren das Bewußtsein, das sie noch gedächtnismäßig, historisch gedächtnismäßig an die Zeit der alten Theokratie hatten, wo sie noch wußten, daß die irdischen Ein­richtungen wirklich eine Folge der göttlichen Taten sind. Das ging den Menschen verloren. An die Stelle einer lebendigen Götterwelt, die man in alten Zeiten geschaut hatte, von der man dann noch wußte, traten abstrakte Begriffe. An die Stelle des Bewußtseins, daß da oben eine Welt von Götterindividualitäten ist, traten die abstrakten metaphysischen Begriffe. Und es kamen die Jahrhunderte, wo die Menschen an die Stelle individueller Götter - die Christen nannten sie Engel - abstrakte Begriffe, eine Metaphysik von abstrakten Be­griffen setzten. Die Götterordnung, die ihr Abbild haben sollte in der Menschenordnung, gab etwas Theokratisches; die Anwendung von bloßen Begriffen auf die menschliche Gesellschaftsordnung gab etwas, ja, was bloß dazu bestimmt sein konnte, Ordnung zu halten im menschlichen Zusammensein. Hatte man früher ersonnen, in der menschlichen gesellschaftlichen Struktur, in der sozialen Struktur der Menschheit ein Abbild der göttlichen Welt zu schaffen, so sann man in der metaphysischen Zeit nur danach, Ordnung zu halten, die Bösen zu bestrafen, die Guten nicht zu bestrafen oder auch zu belohnen, je nachdem Ordnung zu schaffen, so daß die gesellschaftliche Ordnung bestehen kann. Als an die Stelle der lebendigen Götter abstrakte meta­physische Begriffe getreten waren, da handelte es sich nur noch darum, eine menschliche Ordnung zu schaffen, die gewissermaßen den Men­schen so abstempelte, den einen zum Vorgesetzten des andern machte, nicht weil das Vorgesetztsein ein Abbild sein sollte des Verhältnisses des Erzengels zum Engel, sondern weil nur dadurch Ordnung sein kann, daß einer befiehlt, der andere gehorcht. Abstraktion trat an die Stelle des lebendigen Durchwirktseins der sozialen Ordnung.

Das ist im wesentlichen dann die Zeit der realen Metaphysik das Mittelalter hindurch. Das römische Bewußtsein hat im wesentlichen die Elemente zu dieser metaphysischen Ordnung gegeben, die sich überall ausgebreitet hat. Eine Erinnerung an die theokratische Ord­nung bildet etwa noch die Benennung «Fürst», welcher der erste ist, weil einer der erste sein muß, wie in der göttlichen Hierarchie auch

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einer der erste ist. Eine Erinnerung an die bloße metaphysische Ord­nung, die Beamtenordnung, Verwaltungsordnung, damit eben Ord­nung ist, bildet das Wort «Graf», was zusammenhängt mit grapho, schreiben. Daß man alles registriert, indem man Ordnung hält, indem man Urkunden schreibt, indem man Verträge macht, das ist die meta­physische Ordnung.

Dann kam die neuere Zeit herauf. Die brachte den Unglauben an die abstrakten Begriffe, den Unglauben an die Metaphysik. Man konnte nur noch an das äußerlich Sinnenfällige auch im Menschen­leben glauben. Ein Bewußtsein jener Traditionen, die noch vorhanden waren in alten Zeiten, wo eben Traditionen ein lebendiges Bewußt­sein davon waren, daß in der sozialen Struktur irgend etwas anderes wirkt - früher glaubte man: Götter, nachher: metaphysische Begriffe-, so ein lebendiges Bewußtsein konnte in der neueren Zeit nicht mehr da sein. Das muß erst wiederum errungen werden auf den Wegen, die eben durch die Geisteswissenschaft angedeutet werden. Und ein radikales Ausmerzen alles Bewußtseins von der geistigen Grundlage der sozialen Struktur, das hat der Industrialismus bewirkt. Daher fühlten Auguste Comte und Saint-Simon sich besonders verbunden mit dem Zeitalter des Industrialismus, da sie nur positivistische Wissen­schaft gelten lassen wollen, das heißt dasjenige, was sich nur auf die äußere, sinnenfällige, kausal notwendige Naturordnung bezieht.

Damit hat aber auch der Wahrheitsbegriff selbst eine totale Umände­rung erfahren. Dafür haben die heutigen Menschen noch nicht die rechten Empfindungen, daß der Wahrheitsbegriff eine Geschichte durchgemacht hat; dafür hat man heute noch keine richtige Vor­stellung. Die Menschen, die sich noch in einer theokratischen Ord­nung wußten, hatten keinen solchen Wahrheitsbegriff wie die Men­schen, die heute zu ihrem Wahrheitsbegriff kommen auf Grund der Autorität der Naturwissenschaft. Es ist außerordentlich schwierig, über diese Dinge zu reden. Heute denkt man: In bezug auf die Weltenordnung ist Wahrheit die Übereinstimmung der Vorstellung mit einer äußeren Wirklichkeit. - Das ist von der Naturwissenschaft her. Ein solcher Wahrheitsbegriff war auch in den ersten christlichen Jahr­hunderten nicht da; es war noch ein anderer, und dieser andere Wahrheitsbegriff

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hängt wesentlich mit der theokratischen sozialen Ordnung zusammen. Dieser Wahrheitsbegriff, wie er heute in allen Seelen lebt, den gab es dazumal wirklich nicht. Diese außerordentlich wichtige Tatsache verkennt man. Der Wahrheitsbegriff, der dazumal herrschte, den kann man viel eher erfassen, wenn man ihn heranrückt an das Gottesurteil, an die Vorstellung des Gottesurteils. Wenn zwei Men­schen einen Zweikampf auskämpfen - wie man sich heute zum Duell stellt, berührt uns nicht, ich gebrauche das nur als Beispiel -, so läßt sich nicht von vornherein durch irgendwelche Berechnung entschei­den: der A siegt und der B unterliegt; da würden sie ja wohl kaum den Zweikampf antreten; sondern die Wahrheit stellt sich erst im Laufe des Geschehens heraus. Wir haben ja heute diesen Wahrheitsbegriff noch, wenn Krieg geführt wird. Man würde wohl auch nicht Krieg führen, wenn man von vornherein alles wüßte, so wie wenn man im chemischen Laboratorium ein Experiment macht, alles er­wogen hat, und dann weiß, wie es ausgeht; wenn man von vornherein wüßte, wie ein Krieg ausgeht, würde man den Krieg nicht führen. Da steckt heute noch der alte Wahrheitsbegriff drinnen, daß sich die Wahrheit erst im Geschehen enthüllen kann, daß man nichts anderes tun kann, als schauen, wie das Gottesurteil ausfällt. Das ist der alte Wahrheitsbegriff.

Diejenigen, die wie Auguste Comte oder wie die Sozialisten heute vollständig mit diesem Wahrheitsbegriff gebrochen haben - die andern Menschen haben es nämlich nicht, sie glauben es nur -, die erkennen nur eine solche Wahrheit an, wo sich das Geschehen seinem Verlaufe nach vorhersehen läßt. «Erkennen, um vorherzusehen», das ist das Losungswort von Auguste Comte. «Erkennen, um vorherzusehen», das ist die radikale Umkehrung des Wahrheitsbegriffes in unserer heutigen Zeit. Aber mit diesem Wahrheitsbegriff, den wir heute haben, können wir nur die Natur erfassen. Und darüber geben sich die Menschen noch einer ganz kolossalen Täuschung hin. Sie glauben zum Beispiel, das geschichtliche Leben mit diesem Wahrheitsbegriff, den Auguste Comte, Saint- Simon haben, erfassen zu können. Das kann man nicht! Auch mit dem alten Wahrheitsbegriff des Gottesurteils kann man es nicht, denn der stand unter dem Einfluß der Lebenstäuschung;

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unser heutiger Wahrheitsbegriff steht unter dem Einfluß der Bewußtseinstäuschung. Es muß der Wahrheitsbegriff der Anthro­posophie kommen, der Wahrheitsbegriff, der in viel umfassenderer Weise gewonnen wird, als zum Beispiel Augustinus seinen Wahrheitsbegriff gewonnen hat; denn der unterlag, wie ich Ihnen auseinander­gesetzt habe, der Täuschung.

Das ist mit vielem verbunden, daran hängt sehr vieles. Denn daß man im allgemeinen in abstracto von einer Entwickelung des Wahr­heitsbegriffes redet, das genügt nicht, sondern man muß im einzelnen wissen, wie der Wahrheitsbegriff die menschliche Seele andere Wege führt, je nachdem dieser Wahrheitsbegriff geartet ist. Heute in dem­selben Sinne von Nationalität zu sprechen, wie das in der vorchrist­lichen Zeit möglich ist, ist ein Anachronismus; denn in der vorchrist­lichen Zeit war es nicht nur eine menschliche Anschauung, daß die göttliche Ordnung hereinragte in die menschliche Ordnung, sondern es war wirklich so. Jetzt ragt sie nicht mehr herein. Wo daher im Menschen heute das Bewußtsein gehängt wird an Naturordnungen, an dasjenige, was bloß durch die Geburtenfolge hervorgebracht wird, an das nationale Prinzip zum Beispiel, da ist man in einem Anachro­nismus. Der Mensch ist heute dazu gezwungen, andere Strukturen für seine gesellschaftliche Ordnung in der nachchristlichen Zeit zu suchen als solche, die von außen bewirkt werden. Der alte Mensch konnte auf seine Nationalität sehen, weil er die Nationalität als eine Einrichtung der göttlichen Ordnung und das irdische Leben als ein Abbild der göttlichen Ordnung ansah. Der moderne Mensch kann nicht in demselben Sinne, ohne in einen Anachronismus zu verfallen, die Nation selber als etwas Besonderes verehren, er muß nach andern gesellschaftlichen Strukturen trachten. Die Nation als etwas Beson­deres verehren, würde die heutige ahrimanische Täuschung bewirken. Nationen sind Reste der vorchristlichen Zeit, und über sie muß die moderne Menschheit hinauskommen durch jene Entwickelung, die ich Ihnen angedeutet habe. Man muß einsehen, wie konkret die Men­schen nach einer besonderen Ausbildung des Wahrheitsbegriffes streben. Das ist wichtig, wenn auch heute unbequem. Aber wir müssen ja, wenn wir uns unbefangen auf den Standpunkt der wahren Erfassung

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der Wirklichkeit stellen, so manche unbequeme Wahrheit hinnehmen.

Die Menschen gehen heute dem nun förmlich entgegen, was Anthroposophie will. Diejenige Weltanschauung, die in Auguste Comte einen besonderen Vertreter gefunden hat, beschränkt sich nur auf die äußere Naturordnung. Es muß wiederum vorgedrungen werden zur geistigen Welt, und die Brücke muß geschlagen werden zwischen Realität und Idealität. Das ist ja gerade dasjenige, was ich dem Sinne nach in diesen Vorträgen besonders andeuten will. Es kann aber nicht geschehen dadurch, daß man bloß von diesen Dingen redet, sondern dadurch, daß man die konkreten Impulse, die in der Welt sind, erfaßt. Da muß man aber auf gewisse Tatsachen ganz unbefangen hinblicken. Mit den Dingen, die wir jetzt betrachten, sind kuriose Tatsachen ver­knüpft. Denken Sie einmal, ich habe Ihnen gestern gesprochen von Saint-Simon und von Auguste Comte. Beide betrachten nur die positi­vistische Wissenschaft, das heißt dasjenige als ausschlaggebend, was lediglich auf das sinnenfällige Leben, auf die kausale Naturordnung sich bezieht. Und dennoch liegt die sonderbare Tatsache vor, daß Auguste Comte sich von seinem Lehrer und Führer Saint-Simon ab­gewendet hat, weil nach und nach Saint-Simon Auguste Comte zu mystisch geworden ist; und die Anhänger von Auguste Comte haben sich vielfach von ihm abgewendet, weil er in seinem Alter ganz mystisch geworden ist. Es liegt die sonderbare Tatsache vor, daß Saint-Simon sowohl wie Auguste Comte auf der einen Seite ganz direkt stehen auf dem Boden des ahrimanischsten Wissenschaftstums und sich bewußt im Zeitalter des Industrialismus auf den Boden des ahrimanischsten Wissenschaftstums stellen, und Mystiker werden! Merkwürdig, eine merkwürdige Tatsache ist es!

Man muß nach dem Warum einer solchen Tatsache fragen. Das Warum einer solchen Tatsache ergibt sich aber nur, wenn man unbe­fangen dieses Der-Spiritualität-Entgegenleben der Menschen ins Auge faßt. Unbewußt streben die Menschen nach der Spiritualität. Und auch solche Menschen, die wie Auguste Comte und Saint-Simon bloß die äußere Naturordnung erfassen wollen, streben nach der Spiritualität hin.

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Nun liegt im neueren Menschheitsleben ein sehr Eigentümliches vor. Wir nehmen eine andere Tatsache, die wir auch ganz unbefangen, ohne irgendeinen nationalen Chauvinismus, der uns nicht geziemt, ins Auge fassen wollen. In den Anschauungen, die sich als Blüte aus den neueren Volkstümern heraus ergeben, charakterisiert sich in einer ge­wissen Weise dasjenige, was in diesen Volkstümern unten zu finden ist. Und von diesem Gesichtspunkte ausgehend, möchte ich Sie auf eine andere Tatsache hinweisen, möchte ich Sie hinweisen auf einen sehr tonangebenden englischen Philosophen, Bentham, der da gelebt hat von 1748 bis 1832. Bentham kann als charakteristisch für das Denken seines Volkes gelten. Und man hat mit einem gewissen Rechte die Anschauungen Benthams als Utilitarismus, auch im tieferen Sinne als Utilitarismus bezeichnet; denn ein gewisser Grundsatz liegt mit Bezug auf die ideale Weltordnung dem Benthamschen Denken zu­grunde. Diesen Grundsatz, man nennt ihn gewöhnlich die Maxi­mation der menschlichen Glückseligkeit. Diese menschliche Glückseligkeit besteht darinnen, daß Bentham den Satz aufgestellt hat, das Gute, also das ideal Anzustrebende, bestehe in dem größten Glück der größten Anzahl von Menschen auf Erden. Fassen wir diesen Satz recht ins Auge: Das Gute besteht in der größten Glückseligkeit der größten Anzahl von Menschen auf Erden. - Dieser Satz von der Maximation des Glückes auf Erden ist in der Tat ein Grundnerv der Utilitäts­philosophie.

Nun muß man ins Auge fassen, daß dieser Satz, nicht von Bentham selbst und seinen Anhängern, aber von denen, die auf spirituellem Boden stehen, als absolut ahrimanisch bezeichnet wurde. Die Okkul­tisten des eigenen Landes sagen von Bentham, er habe diesen rein teuflischen Satz aufgestellt. Sie nennen ihn teuflisch, denn, so sagen die Okkultisten, wenn es richtig wäre, daß das Gute in der größten Glückseligkeit der größten Anzahl von Menschen besteht, so müßte das Böse bestehen in dem größten Glück der geringsten Anzahl von Menschen.

Ich sage jetzt nicht etwas, was ich selber als Definition oder als Explikation Ihnen vorführen will, sondern was man sagt. Also, auf der einen Seite, englische Philosophie Benthams: Maximation des Glückes;

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auf der andern Seite der englische Spiritualismus, welcher sagt: Benthams Satz ist rein teuflisch, denn es müßte dann das Böse das größte Glück der geringsten Anzahl von Menschen sein; woraus folgen würde, daß das Böse und das Glück miteinander bestehen könnten, was der Spiritualist unter alien Umständen nicht gelten lassen kann. Ich führe Ihnen hier nur eine Tatsache des geistigen Lebens vor, die im eminentesten Sinne signifikant ist für die un­geheuerste Opposition, in welcher auf einem gewissen Gebiete der Erde der Spiritualismus zur äußeren Weltanschauung sich befindet.

Und nun stelle ich heute wiederum, indem ich Sie darauf aufmerk­sam mache, daß in der morgigen Betrachtung sich diese Gegensätze lösen sollen, ein Aperçu an den Schluß meiner Betrachtungen. Sie können drei Dinge zusammenstellen: Goetheanismus, Comteanismus und Benthamismus. Diese drei Dinge stehen in dreifach verschiedener Weise in einer gewissen Beziehung zu dem spirituellen Streben der Menschen nach der Zukunft. Der deutsche Goetheanismus ist als solcher so geartet, daß sich aus ihm entwickeln kann der Spiritualis­mus; der französische Comteanismus ist so geartet, daß sich neben ihm Spiritualismus entwickeln kann, wie bei Auguste Comte und Saint-Simon eine merkwürdige Mystik neben der positivistischen Philo­sophie eintritt; beim englischen Utilitarismus, bei Bentham, ist gar nichts anderes möglich, als daß die schärfste Opposition auftritt von seiten des Spiritualismus gegen die volkstümliche Anschauung. Das ist etwas, was im Boden der Entwickelung selber liegt. Das fran­zösische Wesen muß sich so entwickeln, daß nebeneinander hergehen Idealismus und Realismus, Mystik und Positivismus; in England, innerhalb des britischen Wesens, werden sich immer mehr und mehr die Dinge so entwickeln, daß von den Geistern, die dort Spiritualisten werden, in schärfster Weise das eigene Volkstum nach und nach be­kämpft werden muß, das heißt dasjenige, was das Volkstum als philosophische Blüte absetzt.

Bei Auguste Comte - ich führe Ihnen nicht Theorien vor, sondern ich sage Ihnen auch die Tatsachen dazu, wenigstens einzelne Tat­sachen -, trotzdem er, als er sich dem Positivismus zugewendet hat, seinen Lehrer Saint-Simon abgetan hat, ist eine so deutliche Hinneigung

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zum Mystizismus vorhanden, daß er am Schlusse seines Lebens in deutlicher Weise eine Trinität annimmt. Er verehrt dreierlei: erstens den Großen Fetisch, zweitens das Große Medium, drittens das Große Wesen. Und er sagt: Der Große Fetisch ist der Mutterschoß der Menschheit im Raume. Der Raum ist das Medium, aus dem die Menschheit heraus aus dem Mutterschoße wird. Das Große Wesen ist die über die Erde ausgebreitete Menschheit in abstracto selber. Diese Trinität erkennt Auguste Comte an. Eine merkwürdige Verquickung des Positivismus mit dem Mystizismus! Davon wollen wir morgen weitersprechen.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 8. September 1918

Ich werde Sie zuerst zu erinnern haben an etwas schon gestern Ausgeführtes, an das wir dann die weiteren Betrachtungen anschließen können. Ich führte gestern im wesentlichen aus, daß man keinen Ein­blick bekommen kann in die Stellung des Ideellen oder auch Spiri­tuellen zum Materiellen in der Welt, zu der rein kausalen Naturordnung, wenn man nicht Rücksicht darauf nimmt, welches eigentlich das Wesen des menschlichen Schlafes ist.

Ausgegangen sind wir ja von dem Gedanken des Augustinus, der in dem inneren Erleben wahrhaftige Gewißheit über die Welt erfahren wollte. Wir können uns heute nicht mehr auf diesen Gedanken stellen, sagte ich, aus dem einfachen Grunde, weil wir heute wissen müssen, daß jeder Schlaf des Menschen diesen Gedanken widerlegt. Denn wir könnten nimmermehr irgendwie festhalten an dem Gedanken, daß dasjenige, was der Mensch in seinem Inneren erlebt, sich post mortem, nach dem Tode erhält, also dieses im Inneren vom Menschen Erlebte ein wirklich Ewiges ist, wenn wir so hinblicken müßten auf die Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen, wie das gewöhnliche heutige Bewußtsein darauf hinblickt. Das gewöhnliche heutige Bewußtsein sieht, wie sich herabdämmert während des Schlafes dasjenige, was im Inneren des Menschen erlebt wird. Nun aber sagten wir, sobald der Mensch nur die erste Stufe des Hineinschauens in die geistige Welt absolviert, so merkt er, daß vom Einschlafen bis zum Aufwachen das­jenige, was wir das Ich des Menschen und seinen astralischen Leib nennen - also das eigentliche Geist-Seelenwesen des Menschen -, von innen so verbunden ist mit dem Wesen der Angeloi, Archangeloi und Archai, wie der Mensch sonst hier während des Wachens verbunden ist mit Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich. Nur weil der Mensch durch die weltgegnerischen Mächte sein Bewußtsein herabgedämpft erhält im Schlafe, kann er nicht merken, daß er während des Schlafes mit der Hierarchie der Angeloi, Archangeloi, Archai verbunden ist, daß die sein Ich und seinen astralischen Leib mit ihrer eigenen Wesenheit

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durchtränken, daß die seinen astralischen Leib und sein Ich halten und tragen. Und wir haben ausgeführt, wie von diesem Zusammen­hang des Menschen mit den Geistwesen dreierlei herrührt: Erstens, daß wir mehr oder weniger deutlich auch im gewöhnlichen Bewußt­sein das Gefühl der Persönlichkeit haben. Wir wissen uns als ein Ich. Wir würden uns nimmermehr als ein Ich mit dem nur wissen, was uns während des Wachens zur Verfügung steht. Wie eine Nachwirkung desjenigen, was wir während des Schlafes erleben, ist das während des Tages, während des Wachens fortdauernde Gefühl der freien Persön­lichkeit. Das rührt davon her, daß vom Einschlafen bis zum Auf­wachen das Engelwesen aus der geistigen Welt, zu dem wir gehören, mit uns verbunden ist. Aber auch das Erzengelwesen oder eigentlich eine Reihe von Erzengelwesen ist mit unserem Geist-Seelenwesen ver­bunden. Und davon rührt her als Nachwirkung im Wachen, daß wir uns wissen als Angehörige der ganzen Menschheit, daß wir uns über­haupt als Mensch auf der Erde erkennen.

Das Bewußtsein von seiner freien Persönlichkeit, wenn auch nicht ganz deutlich, hat eigentlich jeder Mensch. Schon schattenhafter steht im Hintergrunde das Bewußtsein, daß man Mensch im allgemeinen ist. Ja, gewisse Philosophen, wie Feuerbach oder wie selbst Auguste Comte, sie haben die Meinung vertreten, daß das schon eine bedeu­tende Entdeckung ist für den Menschen, wenn er darauf kommt, sich als Mensch im allgemeinen, als Angehöriger der ganzen Menschheit zu fühlen. Und gestern haben wir gehört, wie Auguste Comte von dem Großen Wesen spricht; damit meint er nichts anderes als den Men­schen. Aber Comte spricht vom Standpunkte der gewöhnlichen mate­rialistischen Wissenschaft; er weiß nicht, was spirituell zugrunde liegt diesem im Hintergrunde unseres Seelenlebens liegenden Bewußtsein, daß man Mensch ist. Man würde gar nichts davon ahnen können, daß man Mensch ist, wenn nicht dasjenige, was im Schlafe getrennt ist von unserem physischen und Ätherleib, durchtränkt wäre von dem Erz­engelwesen.

Und wiederum sind wir von dem sogenannten Zeitgeist, von dem Wesen aus der Hierarchie der Archai durchtränkt. Das, was davon stammt, bleibt aber schon ein recht dunkles, schattenhaftes Bewußtsein.

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Ja, die heutige Menschheit hat es gar nicht, wenn sie sich nicht hineingestellt fühlt in die Geschichte, in das geschichtliche Leben. Die orientalische Weltanschauung ist überhaupt nicht vorgedrungen bis zu diesem Bewußtsein, als Erdenmensch zu leben. Das ist im be­sonderen die Aufgabe gewesen der abendländischen Kultur, sich als geschichtliches Wesen zu fühlen, als Wesen - also, sagen wir für uns -, die dem 19., 20. Jahrhundert angehören. Aber viel mehr als die Jahreszahl und noch einige äußerliche historische Daten - wir werden gleich nachher hören, wie wenig diese für das wirkliche Leben eigent­lich Bedeutung haben -, viel mehr kennt davon das gegenwärtige materialistische Menschheitsbewußtsein nicht. Denn erst die Geistes­wissenschaft führt uns dahin, zu erkennen, wie sich die Seelenverfas­sung des Menschen von Jahrtausenden zu Jahrtausenden ändert, wie der Mensch ein anderer wird, und wie wir jetzt zurückblicken nach alten Zeiten und wissen, daß die Menschen der dritten nachatlantischen Zeit, die ägyptisch-chaldäischen Völker, eine ganz andere Seelen- und Menschheitsverfassung hatten als wir heute. Dieses Sich-drinnen-stehend-Fühlen in der ganzen Entwickelung der Menschheit, das haben wir als einen Nachklang unserer Verbindung mit dem Arché­wesen, mit dem Arché, während der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen. So daß wir also vom Einschlafen bis zum Aufwachen mit dieser dritten geistigen Hierarchie uns verbunden wissen sollten.

Nun, wie ist der Unterschied unseres Lebens vom Einschlafen bis zum Aufwachen, also jeden Tag, von dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt? Jeden Abend beim Einschlafen legen wir, ich möchte sagen, provisorisch, auf Widerruf, unseren physischen und Ätherleib ab. Der bleibt uns erhalten. Da sind wir mit diesen genann­ten Wesenheiten der dritten Hierarchie verbunden; wir kehren beim Aufwachen wiederum zurück in unseren physischen und Ätherleib. Anders ist es, wenn wir nicht mehr zurückkehren können, wenn wir gestorben sind. Da wird unser physischer und Ätherleib den Triebkräften des Irdisch-Werdenden übergeben, scheinbar. Wir wissen, daß das scheinbar ist, wir haben ja davon neulich gesprochen, daß das scheinbar ist; aber für unser Erleben wird unser physischer und Ätherleib den Erden- und den Himmelsräumen übergeben. Wir aber kommen

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dann in dieser Zeit zwischen Tod und neuer Geburt nicht nur wie im Schlafe in Berührung mit diesen Wesenheiten der dritten Hierarchie, sondern in ebenso innige Berührung mit den Wesen der zwei­ten Hierarchie, mit den Exusiai, also den Geistern der Form, mit den Dynameis, den Geistern der Bewegung, mit den Geistern der Weis­heit, Kyriotetes, und auch mit den Wesenheiten der ersten Hierarchie, mit den Seraphim, Cherubim, Thronen. So wie wir hier unser Mensch­heitswesen hinrichten auf die Welt und im Umkreis der Welt uns alles dasjenige erscheint, was in den Reichen der Natur enthalten ist, so werden wir uns, jetzt nicht äußerlich, sondern innerlich, bewußt des Hereinspielens der höheren Hierarchien zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Das ist im wesentlichen von einem bestimmten Ge­sichtspunkte aus der Unterschied zwischen dem Schlaf und dem Tot-sein des Menschen, daß wir eigentlich nur während des Schlafens unmittelbar - mittelbar auch - mit den Wesenheiten der dritten Hier­archie zusammenhängen, nach dem Tode aber mit den Wesenheiten aller drei Hierarchien, bis hinauf zu den höchsten geistigen Wesen­heiten.

Nun, wenn Sie dies festhalten, dann werden Sie weiter einsehen können, wie der Mensch überhaupt sich in das ganze Weltenall hineinstellt, wie der Mensch als Mikrokosmos mit dem ganzen Weltenall, mit dem Makrokosmos zusammenhängt. Vergegenwärtigen wir uns das, was ich gesagt habe, einmal schematisch. Sagen wir also: Unser Geistwesen steht nach dem Tode innerlich im Zusammenhange mit den Wesen der dritten Hierarchie, mit den Wesenheiten der zweiten Hierarchie, mit den Wesenheiten der ersten Hierarchie, so wie es äußerlich hier in Zusammenhang steht mit Tierreich, Pflanzenreich, Mineralreich, aus denen es sich selber aufbaut. Nun besteht aber ein anderer Zusammenhang. Wenn Sie kennenlernen alles dasjenige, was die Wesenheiten der dritten Hierarchie zunächst wirken - sie haben noch andere Aufgaben, aber wir sprechen ja immer nur partieweise von den Dingen, nicht wahr, es sind ja die Wesen der dritten Hierarchie einzelne individuelle Wesen, die jedes einzeln für sich, und auch durch ihre Wirkungen zusammen tätig sind, die etwas hervorbringen, etwas schaffen -, wenn Sie sich vergegenwärtigen, was diese Wesenheiten

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der dritten Hierarchie wirken, so ist das zunächst alies dasjenige, zunächst sage ich, was vorgeht in geschichtlichen Leben der Mensch­heit (siehe Zeichnung Seite 57). Sie können den Gedanken auch so fassen: Niemand weiß etwas von der Wirklichkeit des geschichtlichen Lebens der Menschheit, der nicht eine Ahnung davon hat, daß das­jenige, was eigentlich Geschichte ist, in Wirklichkeit nicht von den Menschen gemacht wird, sondern von den Wesenheiten der dritten Hierarchie. Die Wesenheiten der dritten Hierarchie - Angeloi, Arch­angeloi, Archai - machen eigentlich die Geschichte, und der Mensch nimmt Teil an dem Werk dieser dritten Hierarchie, indem er daraus in der charakterisierten Weise sein Bewußtsein als Persönlichkeit hat, sein Bewußtsein als Mensch, als geschichtliches Erdwesen. Also daß der Mensch drinnensteht in der Welt, das ist, weil diese Wesenheiten das geschichtliche Leben machen, und der Mensch das, was er innerlich ist und wodurch er innerlich zusammenhängt mit dem geschichtlichen Leben, wiederum von diesen Wesenheiten hat. Das äußere geschicht­liche Leben, das die landläufige Geschichte verzeichnet, das ja im wesentlichen doch eine fable convenue ist, das ist nur ein Abbild von dem innerlich geschichtlichen Leben, das geschaffen wird in seinem Werdegange von den Wesen der dritten Hierarchie.

Nun können wir fragen: Was haben nun in ähnlicher Weise die Wesen der zweiten und ersten Hierarchle für eine Aufgabe, also die Exusiai, Dynameis, Kyriotetes, die Formgeister, die Bewegungsgeister, die Weisheitsgeister? Ja, die haben eine viel umfassendere Aufgabe. Wir sehen zunächst von ihrer Beziehung zum Menschen ab. Sie können sich diese Aufgabe am besten vor die Seele führen, wenn Sie das Augenmerk lenken auf Ihren Ätherleib. Nicht wahr, wenn Sie von Ihrem Ich ausgehend zunächst den Weg nach innen nehmen, so kommen Sie zu Ihrem Astraleib. Durch Ihren astralischen Leib hängen Sie zusammen mit dem geschichtlichen Leben der Menschheit. In das geschichtliche Leben der Menschheit wirken wiederum her­ein die Wesenheiten der dritten Hierarchie, die das geschichtliche Leben der Menschen machen. Aber wenn Sie weitergehen, wenn Sie bis zum Ätherleib hinuntergehen, da ist dieser Ätherleib eine sehr komplizierte Wesenheit. Der Mensch kennt nicht viel im heutigen

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Bewußtsein von der ganzen Kompliziertheit, die diesem menschlichen Ätherleib zugrunde liegt. Aber Sie bekommen ja einen gewissen Be­griff, was da alles arbeiten muß an diesem Ätherleib, wenn Sie die «Geheimwissenschaft im Umriß» studieren; da ist Ihnen in der Auf­einanderfolge der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit, also der auf­einanderfolgenden Verkörperungen unserer Erde gezeigt, wie dieser Ätherleib sich herausbildet aus dem gesamten Kosmos, und wie die Wesenheiten der höheren Hierarchien mitwirken. Bringen wir das in eine anschauliche Formel, so können wir von einem gewissen Ge­sichtspunkte aus sagen: Alles das im Weltenwerden, was also jetzt umfassender ist, womit unser Ätherleib ebenso zusammenhängt wie unser astralischer Leib mit dem geschichtlichen Leben der Mensch­heit, das wird geschaffen und gebildet von den Wesenheiten der zwei­ten Hierarchie, von den Exusiai, Dynameis, Kyriotetes. Also ich werde, um dies zu veranschaulichen, sagen: Von den Wesenheiten der zweiten Hierarchie wird alles dasjenige gemacht, was in den menschlichen Ätherleib hineinwirkt.

Aber dadurch ist wieder etwas anderes gegeben. Wenn Sie des Morgens aufwachen und untertauchen in Ihren Ätherleib, dann tauchen Sie eigentlich ein in das Geschöpf der Wesenheiten der zwei­ten Hierarchie. Und Sie tauchen auch in Ihren physischen Leib unter. Von diesem physischen Leib, den das Mysterienwesen daher den Tempel des Menschen nennt, ist das, was die äußerliche Anatomie und Physiologie zutage fördert, eben wirklich nur die alleralleräußerste Hülle. Von diesem ungeheueren Wundergebilde des menschlichen physischen Leibes bekommt man nur einen Begriff, wenn man weiß: er ist das Geschöpf des Zusammenwirkens der Wesenheiten der ersten Hierarchie. Wenn Sie des Morgens beim Aufwachen untertauchen in Ihren physischen Leib, so tauchen Sie eigentlich in das Werk höchster Hierarchien unter. Also denken Sie, wie im Leben die Dinge verteilt sind: Hier zwischen Geburt und Tod, wenn wir wachen, tauchen wir unter zunächst in unseren astralischen Leib, in dem wirksam ist das geschichtliche Leben der Menschheit. Wir tauchen aber auch unter in unseren Ätherleib, das Geschöpf der zweiten Hierarchie, in dem wirk­sam ist vieles vom Kosmos, das ätherische Leben des Kosmos. Und

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# Bild s. 57

wir tauchen unter in unseren physischen Leib, der die Schöpfung ist der Wesenheiten der ersten Hierarchie. Und wenn wir leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, dann leben wir nicht mit dem Ge­schöpf, sondern mit den Schöpfern selber.

Nun haben Sie einen der beträchtlichen Unterschiede in dem Leben zwischen Geburt und Tod und dem Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Hier tauchen Sie unter, indem Sie in Ihre Leib­lichkeit untertauchen, in alles dasjenige, was Geschöpf ist der höheren Hierarchien. Wenn Sie sterben, tauchen Sie unter in die Hierarchien selber. Sie gehen von dem Geschöpf zu den Schöpfern. So hängen die Dinge zusammen.

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Und nun fragen wir einmal, indem wir dies eben Auseinander­gesetzte überblicken: Was ist nun eigentlich unsere Erde? Das, was gewöhnlich Geologie oder andere Wissenschaften von unserer Erde erkunden, ist ja wiederum nur die äußere Hülle. Was ist unsere Erde eigentlich? Sie wissen ja: Unseren physischen Leib, wir haben ihn gemeinsam mit dem ganzen mineralischen Reich. Dadurch daß wir unseren physischen Leib mit dem ganzen mineralischen Reich gemein­sam haben, stehen wir in unserem Wachzustande in einem Teil der Erde darinnen. Unseren Ätherleib haben wir mit dem ganzen Pflanzen­reich gemeinschaftlich, stehen drinnen in einem zweiten Gliede unserer Erde. Unseren Astralleib haben wir mit dem Tierreiche gemeinschaft­lich. Das Ich haben wir für uns selber. Da stehen wir drinnen in den drei Reichen der Erde, und aus den drei Reichen besteht eigentlich unsere ganze Erde. Das ist der Grund und Boden gewissermaßen, auf dem wir stehen, nicht physisch, sondern mit unserem Menschenwesen. Aber das kann man nicht sehen, das bleibt übersinnlich. Indem wir auf diesem Boden stehen, ist sein unterstes Glied das mineralische Reich.

Nun erinnern Sie sich aus der «Geheimwissenschaft», daß das mineralische Reich bei den früheren Verkörperungen unserer Erde nicht da war; der Mond hatte noch nicht ein mineralisches Reich, ebensowenig die alte Sonne, ebensowenig Saturn. Sie brauchen das nur in der «Geheimwissenschaft» nachzulesen. Auf der Erde, bei der vierten Verkörperung unserer Erde, ist erst das mineralische Reich entstanden. Ich bitte Sie, das genau festzuhalten. Es ist eine schwierige Sache, aber es ist eine außerordentlich wichtige Sache. Gewissermaßen drei Bildungen mußten vorangehen, bevor die mineralische Erde sich herausgebildet hat. Wir nennen diese drei Bildungen die drei Elemen­tarreiche, das mineralische Reich ist das vierte. Wir könnten auch so sprechen bei den früheren Verkörperungen: Bei der Saturnverkörpe­rung unserer Erde: erstes Elementarreich; bei der Sonnenverkörpe­rung unserer Erde: zweites Elementarreich - die Wesen, die damals Mineralreich waren, waren früher Elementarreich -; bei der Monden­zeit - nicht der heutigen Zeit, der alten Mondenzeit -: drittes Ele­mentarreich. Im Fortschreiten zur Erde entsteht das mineralische Reich als das vierte Reich. Das trägt der Mensch in sich.

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Im Mineraireich stehen, heißt, in der vierten Bildung stehen. Dieses Mineralreich tragen wir in uns; dadurch nur sind wir eigentlich sicht­bare Wesen. Dieses Mineralreich ist aber auch das einzig Abgeschlos­sene in uns. Erst wenn die Erde ihr Ende erreicht haben wird, wenn sie in eine andere Verkörperung eingetreten sein wird, wird der Mensch ebenso abgeschlossen sein im Pflanzenreich, wie er heute im Mineralreich abgeschlossen ist. Dann würde er in der fünften Bildung stehen. Also die Erde wird an einen Endzustand kommen, wird neuer­dings entstehen: Jupiterzeit; der Mensch wird, so wie er heute sein Verhältnis zum Mineralreich hat, dann sein Verhältnis zum Pflanzen­reich haben. Er wird in der fünften Bildung stehen. Im Pflanzenreich stehen, heißt, in der fünften Bildung stehen.

Es wird eine neue Verkörperung unserer Erde kommen, wir nennen sie die Venusverkörperung, die Venuszeit. Der Mensch wird dann für sich im Tierreiche stehen, nicht Tier sein, sondern im Tierreiche stehen; das ist, wie Sie wissen, etwas anderes, als Tier sein. Im Tierreiche stehen aber heißt, in der sechsten Bildung stehen. Und dann kommt der Abschluß, ich möchte sagen, die Septime des ganzen Wer­dens. Wir nennen sie die Vulkanverkörperung der Erde. Der Mensch ist dann auf der höchsten Stufe seiner Bildung angelangt, er ist dann erst ganz Mensch geworden. Im Menschenreich stehen, heißt, in der siebenten Bildung sein, in der siebenten Bildung stehen. Und in sieben Bildungen schließt sich das Leben des Menschen ab.

Schauen wir uns den heutigen Menschen an. Er steht, wie wir sehen, im Mineralreich; er steht noch nicht im Pflanzenreich. Wenn der Mensch im Pflanzenreich stehen wird, wird sein ganzes Leben ein an­deres sein. Er wird sich fühlen nicht als Persönlichkeit, sondern so, wie er sich heute als Persönlichkeit fühlt, wird er sich als Mensch fühlen, er wird sich fühlen als Glied der ganzen Menschheit. Er wird zum Beispiel, wenn er einmal im Pflanzenreiche stehen wird, es uner­träglich finden, daß er einen bestimmten Grad des Glückes hat, wenn neben ihm jemand mit Unglück herumgeht. Heute fühlt sich der Mensch wie durch eine Scheidewand von andern Menschen abge­schlossen. Das muß so sein, sonst würde der Mensch niemals seine Persönlichkeit entwickeln können. Aber im künftigen Jupiterreich,

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wo der Mensch in der fünften Bildung stehen wird, wird es anders sein; da wird es ein ganz unerträglicher Gedanke sein, daß der eine glücklich, der andere neben ihm unglücklich sein kann, weil sich die Menschen nicht als Organismus fühlen, wie man in abstracto sagt. Jetzt fühlen sie sich ja nicht als Organismus: das ist aber eine Unwahr­heit, eine Täuschung, eine Maja. Aber die Zeit wird kommen, wo der Mensch im Pflanzenreich stehen wird, wo er ein einzelnes Glück nicht erträglich finden wird, wenn neben ihm Unglück ist.

Dieser Gedanke liegt zugrunde jenen Spiritualisten, von denen ich Ihnen gestern gesprochen habe. Ich habe Ihnen gesagt: Die eng­lischen Spiritualisten werden in Zukunft einen großen Kampf aus­zufechten haben gegen die gesamte englische Volkskultur. Die Blüte dieser Volkskultur ist der Utilitarismus; und dasjenige, was dieser Utilitarismus herausgetrieben hat bei Bentham, das ist im wesentlichen der Grundsatz, den man nannte die Maximation des Glückes. Immer mehr wird dieser Utilitarismus das Denken erfüllen. Daher wird dieses Denken nur durch die Opposition der spirituell Gesinnten zur Spiri­tualisierung kommen können. Das ist die Perspektive der Zukunft: Die spirituell Gesinnten werden dort die Volkskultur zu überwinden haben, sie zu überwinden haben bis zur Vernichtung. Deshalb konnte ich Ihnen anführen, daß Bentham, der aus der Volkskultur heraus zu dem Grundsatze gekommen ist, das Gute auf der Erde bestünde in der Glückseligkeit der größten Anzahl von Menschen, seine heftigsten Gegner hat in den spirituell Gesinnten seines eigenen Landes, die ihm sagen: Das ist eine rein teuflische Definition, denn diese Defini­tion kann man nur machen, wenn man nichts bedenkt als die bloße Gegenwart. Denkt man ein wenig an die Zukunft der Entwickelung, so weiß man, daß der Gedanke ganz unerträglich ist: Glückseligkeit der größten Anzahl, weil das Gegenteil wäre: die Glückseligkeit der geringsten Anzahl, und das müßte das Böse sein. Aber Böses und Glückseligkeit haben nichts miteinander zu tun; denn in der Zukunft wird dadurch, daß der Mensch sich im Pflanzenreich stehend fühlt, sich als Glied der ganzen Menschheit fühlt, dieses Gegenteil eine Unmöglichkeit sein. So wie heute ein wichtiges organisches Glied dem Menschen nicht einfach ausgeschnitten werden kann, ohne daß der

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ganze Menschenorganismus zugrunde geht, so wird künftig, wenn die Erde im Pflanzenreich steht, nicht eine bestimmte Gruppe von Men­schen leidensvoll sein können, ohne daß das Ganze leidet. Das ist ein bestimmter Entwickelungszustand, der kommt. Und weil durch Bentham eine Definition des Glückes gegeben wird, die gar keine Zukunft hat, die nur Gegenwart hat, muß sie bekämpft werden gerade von denjenigen, welche die Spiritualität anstreben.

Ja, warum soll das ein Gegensatz sein, Wenn gesagt wird: Gutes definiert durch Bentham als die Glückseligkeit der größten Anzahl, Böses definiert als die Glückseligkeit der geringsten Anzahl? Ein ab­strakter Gegensatz ist es nicht für den Verstand, aber der Spiritualist denkt nicht abstrakt, der Spiritualist denkt konkret. Er denkt nicht: Was ist das Gegenteil von dem andern? - sondern er denkt an das Reale, das sich entwickelt, und das stimmt zumeist mit den bloßen Gedanken der Menschen nicht überein.

Und in einem noch höheren Grade wird der einzelne Mensch am Ganzen teilnehmen, wenn er in der sechsten Bildung steht. Und dann noch ganz besonders, wenn er Vollmensch ist, ganz vergeistigter Mensch, in der siebenten Bildung.

Ja, aber wir haben daraus gesehen, daß so, wie wir jetzt auf dem festen Boden der Erde stehen, wir als Menschen, insoferne wir Ge­schöpfe sind, doch eigentlich nur bis zur vierten Bildung kommen. Wir haben das mineralische Reich, das ist fertig. Die andern Reiche, wie sie heute bestehen, werden zum Teil zugrunde gehen, und der Mensch wird sie in anderer Weise ausbilden: das Pflanzenreich, so wie ich es geschildert habe. Das Tierreich und Menschenreich wollen wir heute nicht mehr schildern, aber nächstens einmal.

So steht der Mensch heute, wenn er sich als Geschöpf, unter an­deren Geschöpfen stehend, betrachtet, in der vierten Bildung. Aber er ragt in die andern Bildungen hinein, denn wir haben ja gesehen: Schon im Schlafe steht der Mensch unter dem Einfluß der dritten Hierarchie. Diese Hierarchie ist weiter als er, die steht heute schon in der fünften Bildung, und die andern Wesen sind noch weiter. Er ragt also in die höheren Bildungsstufen hinein. Ich bitte Sie, die Geduld zu haben, diese subtilen Gedanken wirklich durchzudenken; denn Sie

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müssen jetzt den Unterschied machen, zwischen Sich-Denken als Geschöpf und Sich-Denken als unabhängiges Geistwesen, das Sie zum Beispiel im Schlafe sind oder zwischen Tod und neuer Geburt. Insoferne Sie sich hier denken in Ihrem physischen, in Ihrem Äther-leib, astralischen Leib und Ich, insofern denken Sie sich als Geschöpf auf der Erde, sind in der vierten Bildung; aber Sie ragen in die fünfte, sechste und siebente Bildung hinein. Indem Sie ja nicht bloß in Ihrem Leibe leben, sondern auch außerhalb Ihres Leibes, im Schlafe oder im Tode, da ragen Sie in die andern Hierarchien hinein, und diese andern Hierarchien sind weiter. Wir können also sagen: Wenn wir die Erde mit allem, was darauf und darinnen ist, als geschöpfliches Wesen be­trachten, so ist sie als geschöpfliches Wesen bis zur vierten Stufe herangekommen, und wir sind mit ihr ebenfalls bis zur vierten Stufe herangekommen. Allein wir ragen dadurch, daß wir uns als selb­ständige Persönlichkeiten fühlen, daß wir uns als Mensch fühlen, daß wir uns als Glied der Erdenentwickelung fühlen, daß wir wissen, unser Ätherleib ist Geschöpf der zweiten Hierarchie, unser physischer Leib ist Geschöpf der ersten Hierarchie, wir ragen dadurch hinauf in die anderen Sphären, in die anderen Bildungselemente.

Aber es hat ja nicht seinen Abschluß mit der siebenten Bildung. Die Evolution geht weiter, und indem wir hineinragen in die höheren Bildungsformen, ragen wir auch in eine achte Bildungsform hinein, die berühmte achte Sphäre. Wir können ruhig sagen: In einer ge­wissen Weise, indem wir zu hochentwickelten Stufen höherer Wesen­heiten hinaufragen, ragen wir, indem wir im Gottesreich drinnenstehen oder Geisterreich - wie Sie wollen -, hinein in die achte Bil­dung. Aber wir ragen hinein in diese achte Bildung mit den feinsten Bestandteilen unserer Geistwesenheit. Dieses Hineinragen in die achte Bildung, das ist ein großes Geheimnis, aber wir können uns doch eine Vorstellung machen von einem, ich möchte sagen, sehr geringfügigen, wenig intensiven Hineinragen in die achte Bildung, wenn wir uns das Folgende denken.

Wir wissen, im Mittelpunkte der Erde steht das Mysterium von Golgatha. Blicken wir zurück zu diesem Mysterium von Golgatha, wie es sich vom Jahre 1 bis 33 unserer Zeitrechnung, im 747. Jahre seit

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der Gründung Roms, vollzogen hat, so steht es im ersten Drittel der vierten nachatlantischen Zeit drinnen. Wir sprechen von jener Kultur­entwickelung der Menschheit, in die das Mysterium von Golgatha hineingefallen ist, als von der vierten nachatlantischen Kulturstufe. Wir wissen, die dritte nachatlantische Kulturstufe ist ja vorangegangen der griechisch-lateinischen Kulturepoche. Wir stehen jetzt in der fünften, denn die vierte, in die das Mysterium von Golgatha fiel, hat im 15. nachchristlichen Jahrhundert geendet. Also wir stehen im ersten Drittel der fünften nachatlantischen Kulturperiode. Nun, der Mensch entwickelt sich durch die Kulturperioden hindurch, aber wenn wir diese Kulturperioden schildern, dann schildern wir eigentlich etwas, was der Mensch nicht voll mitmacht. Sie alle waren gewiß in der alten ägyptisch-chaldäischen Periode verkörpert, die die dritte nachatlantische Zeit ist, dann wiederum in der griechisch-lateinischen Kulturperiode und in der jetzigen; aber Sie durchleben doch immer nur von der aufeinanderfolgenden Zeit - wenn es gut geht, nicht wahr, selbst einer der achtzig Jahre alt wird - eben nur achtzig Jahre, und dazwischen liegt die viel längere Zeit, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verläuft. Also von dem, was wir schildern, indem wir die aufeinanderfolgenden Entwickelungsperioden der Erde schil­dern, lebt der Mensch ja nur einen Teil mit.

Sie könnten freilich sagen: Nun ja, der Mensch erlebt hier im physischen Leib nur einen Teil mit; aber er lebt wahrhaftig nicht um­sonst im physischen Leib: er erlebt die Welt vom Gesichtspunkt des physischen Leibes aus, weil er dasjenige, was er vom physischen Leib aus erlebt, nicht zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erleben könnte. - Mag das, was der Mensch zwischen dem Tod und einer neuen Geburt im reinen geistigen Reiche erlebt, nun höher oder weniger hoch geschätzt werden, darüber wollen wir heute nicht spre­chen, aber es ist anders als dasjenige, was der Mensch hier durch seinen Leib erlebt, und es ist sehr wichtig, das zu berücksichtigen. Und der Mensch ist wahrhaftig nicht umsonst durch seinen Leib in die Welt hineingestellt; denn das, was er durch seinen Leib in der Welt erleben kann, immer in Episoden der Gesamtmenschheitsentwickelung, das könnte er eben nicht erleben, wenn er nicht die Leibesentwickelung

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hätte. Es ist eine durchaus unzutreffende Vorstellung, wenn man der irdischen Leibesentwickelung in asketischer Art gegenübersteht, wenn man sie etwa nur als den Feind des höheren Menschen be­trachtet. Das ist sie in Wahrheit nicht, sondern dasjenige, was dem Menschen etwas gibt, das er auf keinem andern Weg erlangen könnte. Und der Mensch irrt gar sehr, der das Leben im Leibe verachtet, der den Leib als etwas Niedriges ansieht, denn es bedeutet eben ein Höchstes, ein Wichtigstes, ein Bedeutungsvollstes im Gesamtleben des Menschen. Und Geisteswissenschaft kann am allerwenigsten sich jenem Mystizismus oder jener verkehrten Richtung des Christentums -nicht der richtigen, aber verkehrten Richtung - anschließen, welche ver­achtet dasjenige, was sie die irdische Welt nennt. Der Mensch erlebt eben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt die Welt von einer andern Perspektive aus; er erlebt sie so, wie er sie erleben kann: in ihn herein wirken jetzt nicht die Geschöpfe wie durch den physischen Leib und Ätherleib, sondern die Schöpfer selbst. Da erlebt er etwas anderes.

Daher kommt es, daß wir während unserer Erdenlauf bahn nicht nur die Aufgabe haben, das Sinnenfällige, sondern auch das Über­sinnliche kennenzulernen. Denn das geschichtliche Leben der Mensch­heit, das ein Ergebnis der dritten Hierarchie ist, wir können es nicht kennenlernen von der Perspektive des Erdenlebens aus. Und für unsere Zeit - ich bitte, darauf zu achten, daß ich sage: für unsere Zeit, denn es war in der vorchristlichen Zeit nicht so-, für unsere Zeit ist es ganz wesentlich, daß sich der Mensch bewußt werde: er muß, während er hier auf Erden lebt zwischen Geburt und Tod, auch kennenlernen, wenn er sich als geschichtliches Wesen kennenlernen will, dasjenige, was Engel, Erzengel und Archal als geschichtliches Leben wirken. Kennenlernen die Welt nur so, wie sie heute die Natur-wissenschafter kennenlernen wollen, kennenzulernen die Welt so, wie sie die Geschichte schildert, als ob die Geschichte gemacht wäre von Menschen allein, nicht von den Wesenheiten der dritten Hierarchie, das heißt, nur die alleräußersten Schalen des geschichtlichen Werdens kennen. Nur der lernt die Geschichte kennen, der sich bewußt ist: er muß gewissermaßen anschauen hier im physischen Leibe, was die

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Wesen tun auf der Erde, die er zwischen dem Tod und einer neuen Geburt in einer ganz andern Weise - wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf, der ja nur vergleichsweise gebraucht ist -, die er da persönlich, individuell, in ihren himmlischen Taten kennenlernt. Die muß er in ihren Wirkungen auf der Erde im geschichtlichen Leben kennenlernen.

Aber so war es nicht immer; so ist es in der Zeit, in der wir jetzt leben. So war es vor allen Dingen nicht in der dritten nachatlan­tischen Zeit, vor dem Jahre 747, in der ägyptisch-chaldäischen Zeit. Wir wissen, daß da das ganze seelische Leben, der ganze Seelenzustand der Menschen ein anderer war. Da strahlte das überirdische Leben in das gewöhnliche Menschenleben herein, da wußte der Mensch, wenn er es sich auch anders deutete, als wie wir das jetzt in den Mythologien auslegen: Die Wesenheiten der dritten Hierarchie wirken herein in sein Ich und seinen astralischen Leib. - Er meinte die Wesenheiten der dritten Hierarchie, nannte sie Osiris oder Zeus oder Apollo oder Minerva oder wie immer, aber er wußte: Diese Wesen­heiten, die er nur in dieser Weise ausdichtete und ausdeutete - aber die Ausdichtung und Ausdeutung bezog sich auf diese Wesenheiten -, sie wirken herein. Wenn er sie auch nicht hätte sehen wollen, er hätte sie innerlich gesehen, denn es war in jenen alten Zeiten nicht die Be­wußtseinstäuschung vorhanden, die heute vorhanden ist; sondern es war eben nur die Lebenstäuschung vorhanden, die diese Gestalten, wie man sagt, anthropomorphisierte. Aber von diesen Gestalten wußte man.

Das ist auch solch ein Punkt, durch den das ganze Leben der Men­schen ein anderes geworden ist. Heute weiß der Mensch im gewöhn­lichen Bewußtsein nicht, was da in sein Leben hereinspielt. Der Mensch wurde geboren als eine Seelenwesenheit in dieser dritten nach-atlantischen Zeit, wurde wieder geboren in der vierten nachatlan­tischen Zeit, und wieder geboren in unserer Zeit. Dasjenige, was die Wesenheiten der dritten Hierarchie als geschichtliches Leben aus­wirken, schaut er nicht, aber er sollte es kennenlernen, er sollte es wirklich kennenlernen! Nicht in der wahren Gestalt, sondern in der mythologischen Gestalt lernte es der alte Mensch kennen.

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Versetzen Sie sich jetzt einmal in solch eine Menschenseele - es gibt mehr Inkarnationen, wie Sie wissen, aber wollen wir einmal drei auf­einanderfolgende auffassen: eine ägyptische, eine griechische, eine aus dem fünften nachatlantischen Kulturzeitraum -, versetzen wir uns einmal in eine solche Menschenseele. Sie hat während des dritten, während des ägyptisch-chaldäischen Kulturzeitraumes, das erlebt, was sie eben erleben konnte dadurch, daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie in das Leben hereinspielten. Das war allmählich herab­gedämmert. Einige hatten es noch erlebt im vierten, im griechisch-lateinischen Zeitraum; viele Menschen hatten es namentlich bis zum Jahre 333 nach dem Mysterium von Golgatha noch in ordentlicher Weise erlebt, dann ist es allmählich verschwunden; dann mußten sich die Menschen immer mehr und mehr auf dasjenige beschränken, was in der äußeren Sinnenwelt vorhanden ist, wenn sie sich nicht so innerlich entwickelten, daß sie auf einem andern Wege wiederum die geistige Welt kennenlernen und darum aufsteigen konnten zu den Wesenheiten der dritten Hierarchie.

Und nun, wenn wir eine solche Seele betrachten, die jetzt wiederkommt, sie kommt mit all dem, was sie in der dritten nachatlantischen Zeit, im ägyptisch-chaldäischen Kulturzeitraum in sich aufgenommen hat, mit all dem kommt sie, aber nehmen wir einmal an, solch eine Seele sträube sich dagegen, in der jetzigen Inkarnation die Taten der dritten Hierarchie im geschichtlichen Leben der Menschheit zu be­trachten, und daß sie sich sage: Was geht mich das an, was die Engel, Erzengel und Archai getan haben; für mich ist Geschichte dasjenige, was Menschen hier auf der Erde jemals verrichtet haben. - Eine solche Seele berücksichtigt nicht, daß in all dem, was Menschen auf der Erde verrichtet haben, mitspielen die Taten der dritten Hierarchie. Nehmen wir jetzt der Deutlichkeit willen an - für manche Seelen gilt es auch in bezug auf den vierten, den griechisch-lateinischen Zeitraum, eben bis zum Jahre 333 -, aber nehmen wir der Deutlichkeit willen an, eine solche Seele komme herüber aus dem ägyptisch-chaldäischen, aus dem dritten nachatlantischen Zeitraum: da hatte sie nicht nötig, sich anzustrengen, um etwas von den Taten der dritten Hierarchie zu wissen, denn da kam das von selber herein in das Menschenleben; da

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trägt sie das noch in sich, diese Seele. Also sagen wir, was diese Seele dazumal in sich verarbeiten konnte, das trägt sie in sich. Einem alten Ägypter hätte man nicht sagen können - er hatte keinen rechten Be­griff vom geschichtlichen Leben, aber er sah doch auf das geschicht­liche Leben hin -, ihm aber hätte man über dieses geschichtliche Leben nicht sagen können: Die Menschen machen die Geschichte. - Er würde nur gelacht haben, denn er sah ja, daß die Wesenheiten der dritten Hierarchie die Geschichte machten, wenn er sie auch in seiner Art versinnlicht darstellte.

Das alles tragen die Menschen der Gegenwart in sich, aber unbewußt natürlich; es ist ins Unterbewußte hinuntergezogen. Jetzt geben sie sich dem Glauben hin, daß Geschichte etwas ist, was die Menschen auf der Erde gemacht haben. Da kommt eine merkwürdige Seelenver­fassung zustande, die ich Sie bitte, ganz genau auf sich wirken zu lassen. Wenn wir auf eine solche Seele in der Gegenwart hinblicken würden, so würden wir sagen, diese Seele lehnt es ab, sich ins ge­schichtliche Leben der Menschheit in Wirklichkeit hineinzustellen, sie sagt: Ich will nichts wissen von den Taten der Archai, der Erz­engel, der Engel; ich will nur aus äußeren Zeugnissen wissen, was die Menschen gemacht haben seit jenen alten Zeiten. - Aber dadurch kann sich eine solche Seele nicht weiterentwickeln, dadurch bleibt eine solche Seele in Wirklichkeit auf dem Standpunkte stehen, auf dem sie gestanden hat in der alten ägyptischen Zeit; sie hat nur die Reife einer Seele der alten ägyptischen Zeit, sie läßt sich nicht ein darauf, die Wirklichkeit zu ergreifen. Die Engel, Erzengel und Archai, sie haben sich weiterentwickelt, sie haben das gemacht, was von der Menschheit seither erlebt werden konnte. Solch eine Seele sagt: Was die Hierarchien schon gemacht haben da oben in der geistigen Welt, darauf lasse ich mich nicht ein; ich lasse mich nur auf meine eigenen Fähigkeiten ein. - Die Fähigkeiten sind aber keine andern als die, welche sie auch schon hatte während der alten ägyptischen Zeit.

Zahlreiche solche Seelen leben in der Gegenwart, und denken Sie, in welcher eigentümlichen Lage eine solche Seele ist! Bis zum Jahre 333 konnte eine Seele noch nicht in diese Lage kommen, denn da reichte noch immer die geistige Welt von selbst herein; jetzt aber, seit

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dieser Zeit, können Seelen in einer merkwürdigen Lage sein: Sie können der Wirklichkeit ja nicht widerstreben, in der Wirklichkeit stehen sie natürlich drinnen in dem, was die Engel, Erzengel und Archai tun, aber sie leugnen das mit ihrem Bewußtsein, sie nehmen in ihr Bewußtsein nur dasjenige auf, was hier auf der Erde durch Men­schen selber bewirkt worden ist.

Das ist ein Fall, wo die Menschen als Geschöpfe in der vierten Bil­dung stehen, denn die vierte Bildungsstufe ist alles dasjenige, was ge­schöpflich geschieht. Also was seit der ägyptischen Zeit die Menschen auf der Erde gemacht haben, gehört zur vierten Bildung, aber der Mensch selbst ragt darüber hinaus, und dadurch, daß er seit dem Jahre 333 überhaupt mit seinem ganzen Wesen nicht bewußt in das hineinragen kann, wohinein er in Wirklichkeit ragt, dadurch steht er mit seinem Wesen sogar noch über der siebenten Bildungsstufe, er steht in der achten Bildungsstufe drinnen. So daß also heute die Möglichkeit vorhanden ist, daß Seelen in Wahrheit in der achten Bildungs­stufe drinnenstehen, aber es nicht anerkennen, weil sie die in der achten Stufe liegende Wirksamkeit des geschichtlichen Lebens der Menschen durch die Engel, Erzengel und Archai nicht anerkennen, sondern nur die vierte Stufe anerkennen, so daß die achte Sphäre in ihnen unbewußt bleibt. Das ist eine außerordentlich wichtige Tatsache.

Wenn aus dieser Lage der Seele heraus eine Weltanschauung ent­steht, was entsteht dadurch? Der Mensch ignoriert seine eigene Wirk­lichkeit, er gibt nicht zu, daß er in ein hohes Geistesreich hinaufragt, trotzdem er wirklich hinaufragt, sondern er gibt nur zu, daß er im Reiche der Menschen darinnensteht. Diese Seelenverfassung ist erst klar zutage getreten in dem, was ich in diesen Tagen das Industriezeitalter genannt habe. Erst das Drinnenstehen der Menschen im ganzen industriellen Leben hat sie dazu geführt, völlig innerhalb einer Weltanschauung die Tatsache zu ignorieren, daß der Mensch in die geistige Welt hinaufragt, und nur mit den äußeren Taten der Menschen zu rechnen. Das ist etwas Bedeutsames. Man kann die Gegenwart nicht verstehen, wenn man nicht weiß, daß es heute zahlreiche Menschen gibt, die mit ihrer Weltanschauung in die achte Sphäre hineinragen, und diese Tatsache ignorieren, das heißt: alle Schäden über die Erde

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bringen, die das Hineinragen in eine Weltensphäre bringt, wenn man ihr Dasein leugnet. Denn dadurch, daß der Mensch leugnet, in die achte Sphäre hineinzuragen, in die achte Bildungsstufe hineinzuragen, schließt er sich aus von den guten Wesen dieser Bildungsstufe und liefert sich an den ahrimanischen Geist der betreffenden Bildungsstufe aus. Sein Denken wird, statt göttlich oder geistig, ahrimanisch.

Man muß, wenn man geisteswissenschaftlich spricht, auf die Tat­sachen dieser Welt in ihrer Wahrheit hindeuten. Und die Wahrheit ist einmal, daß zum Beispiel so etwas wie die materialistische Geschichts­auffassung des Karl Marx, der gelebt hat von 1818 bis 1883, daß die Weltanschauung des Karl Marx eine rein ahrimanische ist. Ihr Ge­heimnis beruht darauf, daß nur anerkannt wird das materiell im Erdenwesen Geschehene, daß ignoriert wird das Hinaufragen der Geistigkeit des Menschen in die übersinnlichen Welten, und daß da­durch, durch diese Ignorierung, der Mensch den ahrimanischen Mächten verfällt. Denn sobald der Mensch sein Bewußtsein aus­schließt von den Welten, in die er hinaufragt, verfällt er den ahrima­nischen oder luziferischen, in diesem Falle den ahrimanischen Mächten.

Nun, wir stehen heute vor der Tatsache, daß zahlreiche Menschen eine rein ahrimanische Weltanschauung vertreten, für diese rein ahri­manische Weltanschauung kämpfen, und dadurch aber auch über die Erde heraufbeschwören alles dasjenige, was kommen muß, wenn statt der göttlichen Ordnung die ahrimanische Ordnung über die Erde sich verbreitet. Benthams Philosophie, von der ich Ihnen gestern sprach, ist zunächst ein äußerer theoretischer Ausdruck dieser ahrimanischen Anschauung. Der Marxismus ist ein solcher Ausdruck, der auch schon schöpferisch ist, der gestaltend ist, der einen ungeheueren Einfluß hat. Und die Trägheit des Bourgeoislebens weiß nichts davon und hat sich nicht gekümmert durch Jahrzehnte, was sich auf dem Boden des sozialen Lebens entwickelt hat an Elementen solcher Weltanschau­ungen. Der Marxismus ist ein extremer Ausdruck. Er wird weiterwirken. Das, was zunächst bloß Wissen sein sollte, wird Geschehen werden, wird tatsächlich Wirklichkeit werden. Nur die Einsicht in diese Dinge, die nun wiederum Wollenbildend ist, kann Hilfe sein in diesen Dingen.

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Solche Wahrheiten sind einschneidende, solche Wahrheiten sind wahrhaftig nicht geeignet für bloße Sonntagssensationen; solche Wahrheiten sind dasjenige, was im Innersten zusammenhängt mit dem ganzen Kulturleben der Gegenwart. Und vieles wird davon abhängen, daß sich die Menschen darauf einlassen, dasjenige, was in ihren Ge­danken lebt, im Zusammenhänge mit der ganzen Weltenordnung zu erkennen. Denn in unseren Tagen sind wir in denjenigen Zeitenzyklus eingetreten, in dem wir nicht weiterkommen können, ohne in furchtbare Katastrophen hineinzufalien, wenn wir nicht einsehen, wie sich dasjenige, was sich im Menschen selber vollzieht, gegenüber dem Werden des ganzen Kosmos ausnimmt.

Solche Wahrheiten, wenn man sie herausfindet aus dem Suchen nach der Wahrheit - Sie können die Versicherung hinnehmen -, solche Wahrheiten sind zunächst bestürzend. Wenn man ein Gefühl hat für das Einschlagende der großen Wahrheiten in der Welt, so kennt man auch das Gefühl des Bestürzenden dieser großen Wahrheiten. Be­quem ist das Hineinleben in das Wahrheitsleben nicht. Nur wer ober­flächlich ist, könnte meinen, es sei nicht bestürzend, sich sagen zu müssen: Leute, von denen auch eine große Anzahl von Menschen glaubte - was ja auch wahr ist! -, sie strebten ehrlicherweise nach der Wahrheit, sind durchpulst von ahrimanischem Geiste! Es schlägt sich aufs Herz, meine lieben Freunde! Daher versucht man, wenn sich solche Wahrheiten ergeben, mit ihnen zurechtzukommen. Dazu, um sie bei einem Ohr hinein-, beim andern Ohr hinausgehen zu lassen, sind diese Wahrheiten nicht da. Sie sind auch nicht dazu da, daß man sie bei seinem einsamen Meditieren findet und sie als Sensationen hin­nimmt. Dazu sind sie alle nicht da, diese Wahrheiten. Man muß mit ihnen fertig werden, man muß finden können, wie dasjenige, was man als Weltenentwickelung kennt, was rings um einen herum ist, auch als Urteile der Menschen, dazu stimmt, daß so etwas da ist.

Wer, wie ich, gesehen hat, wie groß die Anzahl der Menschen heute ist - jetzt können sich ja die Menschen durch äußere Tatsachen davon überzeugen -, die vom Marxismus oder marxismusähnlichen Anschau­ungen lebt, dem stellt sich schon die Notwendigkeit heraus, diesen Dingen etwas näher zu Leibe zu gehen. Da sagt man sich oft: Vielleicht

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bist du doch ein Illusionär! - Man braucht ja deshalb nicht gleich die ganze geistige Welt zu bezweifeln, selbstverständlich nicht, aber be­züglich solcher konkreter Wahrheiten sagt man sich doch oftmals:

Vielleicht gibst du dich da doch irgendwelchen Illusionen hin! -Das tiefe Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber der Wahrheit, das muß sich ja gerade gegenüber geistigen Wahrheiten ergeben. Dann sucht man immer tiefer und tiefer zu schürfen. Es gibt aber in der Tat nicht weniges, sondern vieles, recht vieles, welches arge Bestätigungen liefert desjenigen, was ich Ihnen jetzt eben auseinandergesetzt habe als den ahrimanischen Charakter zum Beispiel des Marxismus oder ähnlicher Weltanschauungen.

Ich habe, als ich vor einiger Zeit hier sprach, Ihnen eine gewisse Zumutung gestellt. Ich habe davon gesprochen, daß die Zeit, so wie wir sie erleben, eigentlich eine Täuschung ist, daß die Zeit in Wirk­lichkeit etwas ganz anderes ist, als wie sie der Mensch erlebt, weil der Mensch die Zeit nicht perspektivisch nimmt, so sagte ich dazumal. Den Raum erlebt der Mensch schon perspektivisch; die ferneren Bäume sieht er kleiner als die nahen Bäume. In Wirklichkeit ist auch die Zeit ebenso perspektivisch zu sehen. Die in der Zeit entfernten Ereignisse sind anders zu sehen als die in der Zeit nahen Ereignisse. Es ist aber nur die Grundlage dafür, daß die Zeit wirklich das ist, als was die Forscher aller Zeiten sie angesehen haben: die Zeit ist das wichtigste Medium der menschlichen Täuschung. Wir denken uns, daß zum Beispiel die Wesen der höheren Hierarchien auch so durch die Zeit fließen, wie unser eigenes Seelenleben durch die Zeit fließt: es ist keine Wahrheit darin. In Wahrheit liegt das Wesen der höheren Hierarchien in abgeflossenen Zeiten, aber sie wirken herüber aus den abgeflossenen Zeiten, wie im Raume von einem entfernten Orte man herüberwirken kann, meinetwegen durch Lichtsignale oder so etwas, auf in einem nahen Orte im Raume liegende Wesen. Die Zeit ist nicht das, als was sie die Menschen ansehen, die Zeit ist auch nicht das, als was sie solche Philosophen wie Kant ansehen, sondern die Zeit ist in ihrer Wirklichkeit etwas ganz anderes. Und das, was der Mensch als Wirklichkeit ansieht, ist eben auch eine Maja, eine große Täuschung. Vor allen Dingen bleibt immer das stehen, wovon wir glauben, indem

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wir in der Zeit als Täuschung leben, daß es vergangen sei. Es bleibt aber da; die Zeit wird wirklich zu etwas wie zu einem Raume. Und man sieht auf die rückwärtigen Ereignisse so, wie man auf entfernte Gegenstände im Raume sieht, wenn man wahrhaftig sieht. Die Zeit ist eine Täuschung.

Und weiter weiß die Geisteswissenschaft, daß die Quellen zu andern großen Täuschungen in menschlichen Weltanschauungen davon her­rühren, daß der Mensch in bezug auf die Zeit der Täuschung unter­liegt. Wenn unter Ihnen viele Physiker wären, würde ich selbst rein physikalisch mich hier aussprechen können. Ich würde Ihnen an physikalischen Formeln zeigen können, daß so, wie der Physiker die Zeit - das t, wie er es bloß nennt - in die physikalischen Formeln ein­führt, diese Zeit nur eine Zahl ist, also etwas ganz Unbekanntes, keine Wirklichkeit, sondern ein reiner Schein ist. Ein Wirkliches ist immer nur die Geschwindigkeit, aber die gerade sieht der Physiker als eine Folge der Zeit an. Da Sie ja keine Physiker sind und sich wahrschein­lich auf das Verständnis der Sache nicht einlassen werden, will auch ich mich nicht weiter darauf einlassen.

Die Zeit ist Täuschung, das ist eine schwerwiegende Wahrheit, weil die Zeit als Täuschung vielen andern Täuschungen des Lebens zugrunde liegt. So zum Beispiel sieht man alle Dinge falsch, wenn man im geschichtlichen Leben die Zeit falsch anwendet. So denken etwa die Menschen, in den ersten drei christlichen Jahrhunderten hätten sich gewisse Dinge zugetragen, die seien jetzt vorbei. - In Wirklichkeit müßten sie denken: Der Erzengel oder die Wesenheit aus der Hier­archie der Archai, die dazumal die Ereignisse geleitet hat, ist noch da; das wirkt in anderer Weise weiter. - Das Vergangensein ist nur eine Täuschung. Es hängt viel davon ab, daß man gegenüber der geistigen Wirklichkeit gerade den perspektivischen Charakter der Zeit kennen-lernt, daß man weiß, man muß sich über die Ereignisse im Zeitenlaufe ebenso täuschen - während man das nicht glaubt -, wie man sich über die Ereignisse im Raume täuscht, wenn man keine Perspektive zugibt. Denken Sie einmal, wie groß die Täuschung wäre, wenn Sie keine Perspektive zugeben würden, wenn Sie das Entfernte im Raume als so wirksam auf sich selbst betrachten würden wie das Nahe. Sie

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schauen auf einen fernen Berg hin. Von der Luft, die Sie umgibt, hängt wesentlich Ihre Gesundheit ab; von der Luft auf dem fernen Berge nicht, denn wollen Sie sie als gesundheitsfördernd haben, so müssen Sie hingehen. Die Wirklichkeit hängt im wesentlichen, sobald es um die Wirklichkeit im Leben sich handelt, mit der Perspektive zusammen. So ist es aber auch mit Bezug auf die Zeit. Wir leben richtig in der Gegenwart, wenn wir nicht glauben, daß die ferneren Ereignisse der Vergangenheit ebenso gewogen werden können wie die nahen Ereignisse. Wenn wir im dritten nachatlantischen Zeitraum die ägyptisch-chaldaische Zeit betrachten und nur dasjenige ins Auge fassen, was die Dokumente liefern, und sie so registrieren, wie sie die Torengeschichte registriert, die fable convenue, die sich eben heute Geschichte nennt, dann machen wir den perspektivischen Fehler, Denn es hat überhaupt für das heutige Leben gar keine Bedeutung, was die Menschen äußerlich an Taten während der ägyptischen Zeit gemacht haben, aber was die Engel und Erzengel und Archai gemacht haben, das hat Bedeutung; das tritt aber nur in der perspektivisch ge­bildeten Betrachtung hervor. Daher ist es ein Grundsatz, und nicht nur heute, wo wir alle diese Dinge wiederentdecken müssen auf dem Boden der Anthroposophie, sondern in allen Zeiten war es ein Grundsatz für alle geistigen Forscher, daß die Zeit als solche eine Täuschung ist, und niemals wurde von einem wirklichen Kenner der Wirklichkeit mit der Zeit so gerechnet, daß sie für eine Wahrheit gehalten wurde, daß sie selbst für eine wahre Wirklichkeit gehalten worden wäre.

Nun trat das Eigentümliche zutage, dieser Karl Marx, von dem ich Ihnen gesprochen, auf den heute Millionen schwören, wenn auch mehr oder weniger in Schattietungen, mehr oder weniger in Formeln - aber darauf kommt es nicht an; wer die Dinge kennt, weiß, daß Tausende von Menschen auf ihn schwören, oder wenn sie nicht äußerlich be­wußt schwören, so tun sie es unterbewußt -, dieser Karl Marx hat ver­sucht, die Frage zu beantworten: Welches sind die wahren Güter der Menschheit? Was ist es wirklich, was in der Menschheit geleistet wird? - Es ist außerordentlich originell, wie er die Frage beantwortet hat, denn so ist sie noch nie beantwortet worden; was menschliche Güter sind, wurde immer in irgendeiner andern Weise betrachtet, als

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Karl Marx es betrachtet. Was menschliche Güter sind, wurde betrachtet, sagen wir zum Beispiel danach, ob es weither gebracht wer­den muß, ob viel Verstand notwendig ist, es aufzufinden oder der­gleichen. Ich habe Ihnen das einmal dadurch klarzumachen gesucht, daß ich Ihnen sagte: Menschliche Arbeit muß man auch qualitativ be­trachten, man muß sich überhaupt ganz aufs Konkrete einlassen. Wir betrachten den kunstvollen Gotthardtunnel. Kein Mensch kann heute so etwas bauen wie den Gotthardtunnel, der nicht Differential- und Integralrechnung kennt, und Differential- und Integralrechnung ist eine Leibnizsche oder, wenn es in England besser gefällt, eine Newtonsche - die beiden stritten sich ja um die Ehre - Erfindung. Man kann also sagen, Newton oder Leibniz haben mitgearbeitet am Gott­hardtunnel. Ja, ohne sie hätte man ihn ganz gewiß nicht bauen können! Nun muß man die Arbeit von Newton oder Leibniz in einer ganz an­dern Weise bewerten, als man die Arbeit eines Menschen bewertet, der einen Stein auf den andern legt im Gotthardtunnel. Das ist ein solcher Gesichtspunkt, wie man menschliche Güter, Menschenarbeit zu bewerten hat. Die Wertlehre der menschlichen Arbeit, des mensch­lichen Lebens hat verschiedene Gestaltungen gehabt. Man hat von den verschiedensten Gesichtspunkten Arbeit, Lebensgüter bewertet, noch niemals so, wie Marx gewertet hat. Karl Marx nimmt ein einziges Element auf in seine Wertlehre. Für ihn ist alles dasjenige, was Wert im menschlichen Leben hat, nur dadurch Wert, daß es kondensierte Zeit ist, kondensierte Arbeitszeit namentlich. Ob irgend etwas in drei Stunden, in sechs, in zwölf Stunden hergestellt werden kann, danach bemißt sich sein volkswirtschaftlicher, sein weltwirtschaftlicher Wert. Darauf beruht ein großer Teil der Theorie von Marx, die heute so gang und gäbe ist, daß man es erleben kann, daß, wenn da oder dort irgendein Mensch der sogenannten höheren Stände von seinem Stand­punkte aus über Arbeit spricht, ein Arbeiter aufsteht, ein richtiger Sozialist, und sagt: Bitte, lesen Sie nach bei Karl Marx - er hat natür­lich das Buch nicht bei sich -, bitte, Seite 374, da werden Sie das oder jenes finden.

Man muß das Leben wirklich kennen, um über das Leben urteilen zu können, sonst wird man überall erstaunt sein, daß da oder dort dies

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oder das geschieht. Was geschieht, geschieht aus den Impulsen der Menschenseele heraus. Wenn man sich aber so wenig kümmert, wie in den letzten Jahrzehnten die Menschen der Erde sich um das geküm­mert haben, was auf dem Grunde der Menschenseele eigentlich vor sich gegangen ist, dann sollte man gar nicht erstaunt sein, wenn zu­letzt das Ganze katastrophal zusammenbricht. Was ich aber ausgeführt habe, führte ich aus einem besonderen Grunde aus. Es ist das erste Mal, daß das Originelle eintritt, daß dasjenige, was nur die Quelle der Täuschung ist, zum Maßstabe aller volkswirtschaftlichen Werte ge­macht wird: die Zeit in der Form der Arbeitszeit.

Nehmen Sie das also vom Standpunkte einer höheren Perspektive aus. Die in die Wirklichkeit einsichtigen Menschen haben immer ge­wußt: Zeit ist Täuschung. - Nun kommt einmal jemand, der sagt: Aber das, was in der Welt Wert hat, hat nur so viel Wert, als konden­sierte Arbeitszeit drinnen ist. - Heißt das nicht mit andern Worten:

Also eure Wirklichkeit ist Illusion, und nur dasjenige, was konden­sierte Zeit ist, hat wirklichen Wert? Die Täuschung wird gerade von denjenigen, die ganz materialistisch sein wollen, die ganz nur auf dem Boden der Wirklichkeit stehen wollen, bis in die Form der Zeit zur Wirklichkeit gemacht, und die Wirklichkeit wird übersehen.

Das ist nur ein Beispiel. Ich könnte Ihnen zahlreiche vorführen von Dingen, die trösten, wenn man bestürzt ist über Wahrheiten, die, wenn man ein Herz hat für das Leben der Menschheit, donnerähnlich einschlagen in das Gemüt. Aber wenn man dann die Dinge im Kon­kreten studiert, wenn man dann auf die Hand schaut einem solchen, wie es Karl Marx ist, von dem man weiß, sein Geist wirkt ahrimanisch, und ihn frägt : Wie verfährst du im einzelnen? - dann ist es schon so, daß man auf das Ahrimanische kommt, und daß man fühlt: Du darfst solche Wahrheiten dir gestehen. - Ich wollte Ihnen nur ein Beispiel hier anführen. Es ist ja im Grunde genommen auch nicht leicht, sich sagen zu müssen: Alles dasjenige, was wie anachronistisch in die Welt hereinragt heute, es ragt dadurch herein, daß die Menschen sich her­ausstellen aus der geistigen Welt, die ihnen dadurch zur achten Sphäre wird, und daß sie die Welt nur geschöpflich nehmen. - Wenn Sie dies nehmen, dann werden Sie schon mit allem Schwergewicht empfinden,

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was es heißt, wenn ich immer wieder und wiederum betone: Es kommt heute gar nicht darauf an, daß ein Mensch inhaltlich etwas Schönes sagt, etwas, was man zugeben kann, sondern es kommt darauf an, was aus dem, was man sagt oder tut, wirklich wird. Ich muß immer wieder und wiederum erzählen, wie von mir immer von neuem der Versuch gemacht worden ist - Sie wissen, ich sage das nicht aus irgend­einer albernen Eitelkeit heraus -, darauf aufmerksam zu machen, wie es nicht darauf ankommt, daß man diesen oder jenen Gedankeninhalt hat, sondern daß man darauf sieht, wie dieser oder jener Gedankeninhalt wirkt. Sie können einen Gedanken haben, der wunderschön ist. Wenn Sie aber keine Ahnung haben, wie der Gedankeninhalt in der Wirklichkeit wirkt, so kann er das Entgegengesetzte bewirken. Ich versuchte an verschiedenen Beispielen solche Dinge klarzumachen, schon seit Jahren. So zum Beispiel im Anfange des Jahrhunderts, des 20. Jahrhunderts, hielt ich einmal einen Vortrag, in dem ich sagte -ich fasse jetzt vieles, was damals auseinandergesetzt worden ist, in wenige Worte zusammen, weil ich nur illustrieren will - : Es gibt heute Leute, mehr als es je gegeben hat, die sind programmäßig Pazifisten, reden sehr schön über die Führung der Menschheit von ihrem pazi­fistischen Standpunkte. Noch niemals eigentlich hat der Pazifismus solchen Umfang angenommen wie in dieser Zeit - also ich redete im Anfang des Jahrhunderts. Und das ist, sagte ich, das deutliche Zeichen, daß wir vor dem größten Kriege der Menschheit stehen. - Denn so unreal zu denken über menschliche Zusammenhänge, wie man innerhalb dieser Kreise gedacht hat, so sehr nur auf den Inhalt der Gedanken zu gehen, so wenig ein Bewußtsein davon zu haben, wie die reale Wirksamkeit desjenigen ist, was in der Seele lebt, das man nur er­kennen kann durch die ganze Weltperspektive, so war man früher nicht. Das tut man erst im Zeitalter, in dem sich alle die Dinge aus­breiteten, von denen wir jetzt gesprochen haben.

Woher kommt es, daß geradezu für viele Menschen etwas tonangebend sein kann, was gar nichts weiter ist als Gedankeninhalt, aber ganz unwirklicher, der nie etwas zu tun haben kann mit dem, was ge­schieht: der Woodrow Wilsonsche Gedankeninhalt, der auch nichts anderes ist als ägyptisch-chaldäischer Gedankeninhalt, der sich nicht

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kümmert darum, daß eine geistige Wirklichkeit in der Geschichte da ist, sondern nur abstrakte Gedanken aneinanderfügt, woher kommt es? Es kommt von all diesen Eigentümlichkeiten unseres Zeitalters. Eine künftige Geschichtsschreibung wird auf den Namen Woodrow Wilson alles dasjenige, was unsere Zeit hervorgebracht hat an unrealen, das Gegenteil bewirkenden Gedanken, zu taufen haben.

Das ist dasjenige, was einschneidend ist in unser Weltanschauungs­leben, einschneidend sein muß, und was man nicht betrachten darf vom Standpunkte von heute auf morgen, sondern was man betrachten muß vom Standpunkte der ganzen Kosmologie aus, vom Standpunkte des Darin-Hineingestelltseins. Wer solche Fragen beantwortet von dem Gesichtspunkt, der sich ergibt aus einer ganzen Weltanschauung, der urteilt über solche Menschen, wie etwa Woodrow Wilson ist, nicht aus Sympathien oder Antipathien, sondern er urteilt so, wie man ob­jektiv über irgend etwas urteilt. Das aber ist der Anachronismus, daß sich sehr viele Leute heute nicht darauf einlassen können, weil es un­bequem ist, den Dingen ins Antlitz zu schauen. Man kann den Dingen nicht ins Antlitz schauen, wenn man nicht tiefer in die Dinge hineinforscht. Von solchen Seelen, die heute in keiner Beziehung stehen zu dem geschichtlichen Leben, muß das gesagt werden: es sind Seelen, die ignorieren dasjenige, was an wirklicher Geschichte durch die dritte Hierarchie geschehen ist, und die daher nicht mit den wirklichen Impulsen zu tun haben, wenn sie sprechen, sondern im Grunde ge­nommen nur mit Worthülsen zu tun haben.

Das ist eine Grundanforderung unserer Zeit, daß man sich bekanntmache damit und einsehe, daß, wenn wir die schönsten Begriffe haben, die der menschliche Verstand fassen kann, die schönsten Begriffe, die ganz gut ausreichen, um die Natur, die um uns herum ausgebreitet ist, zu erforschen, wir doch niemals etwas verstehen werden von der Ge­schichte. Denn die Geschichte spielt sich nicht ab so, wie sich das Naturleben abspielt; Geschichte spielt sich ab als Taten geistiger We­senheiten. Das ist das, was sich zu den andern Weltanschauungen hin­zufinden muß. Von der Theokratie, wie ich es Ihnen gestern geschil­dert habe, sind die Menschen ausgegangen, indem sie sich während der Zeit der Theokratie noch erinnert haben an das alte Hereinragen

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der theokratischen Ordnung; dann ist die metaphysische Zeit gekommen, die im wesentlichen das Verwaltungsbeamtentum der gan­zen Welt ausgebildet hat; dann ist die rein materialistische Zeit ge­kommen, die Zeit der Industriellen. Das würde vollständig hinein­führen in das Irreale gegenüber dem Geistigen, wenn nicht das Gegengewicht kommen würde des Sich-wieder-Hineinarbeitens in das Reale, in das Wirkliche, das man aber nur betrachten kann, wenn man aufsteigen kann zu dem, was sich für den Menschen im gewöhnlichen Leben im heutigen Zeitenzyklus verhüllt. Wir müssen wieder lernen, von übersinnlichen Dingen zu sprechen, wenn wir von Geschichte sprechen wollen. Im 19. Jahrhundert hat man vielfach von geschicht­lichen Ideen gesprochen - nun, jeder weiß, daß man mit Ideen eben keinen Baum umhacken kann; aber daß das geschichtliche Leben der Menschheit von Ideen bewirkt wird, das glauben zum Beispiel die Ranke-Anhänger und ähnliche Historiker. Das wird man einsehen müssen, daß auch diese Zeit, die bloße metaphysische Zeit, überwunden werden muß, sonst wird überwuchern jene Weltanschauung, die rein auf das Sinnliche beschränkt ist. Es muß die Menschheit dem Spirituellen sich entgegenarbeiten. Das kann sie nur, wenn sie zu­nächst wenigstens auf dem Gebiet der Geschichte sich durcharbeitet von der Scheingeschichte in der zeitlichen Aufeinanderfolge bis zu dem realen Geschehen, das hinter der äußeren sinnlichen Wirklichkeit so greifbar, möchte ich sagen, gerade bei der Geschichte ist. Dann wird man aber auch nicht mehr soziale oder ähnliche Programme machen aus Ideen heraus, die bloß auf das äußere Leben sich beziehen, sondern dann wird man seine sozialen Programme wiederum aus den Offenbarungen der geistigen Welt heraus verkünden. Von diesen Offenbarungen aus der geistigen Welt heraus sind jene Programme, die die Menschen heute machen, aber sehr, sehr verschieden.

Davon wollen wir dann das nächste Mal sprechen. Nächsten Freitag werde ich diese Betrachtungen fortsetzen; sie lassen sich nicht so schnell abschließen.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 13. September 1918

Ich werde fortfahren, in mehr aphoristischer Form Ihnen weiteres vorzubringen über das Thema, in dem wir ja jetzt schon seit Wochen drinenstehen, und das ich Ihnen immer bezeichnet habe dadurch, daß ich sagte: Die große Schwierigkeit in Weltanschauungsfragen liege jetzt - dieses «jetzt» betone ich ja immer - darin, daß es aus den An­schauungen der Gegenwart heraus den Menschen schwierig wird, eine Brücke zu schlagen zwischen dem, was Idealismus genannt wird, und dem, was bezeichnet werden kann als Anschauung über die natürliche Ordnung der Dinge. Indem der moderne Mensch versucht, eine solche Brücke zu schlagen, indem er versucht, sich klarzuwerden, wie zum Beispiel die moralischen Ideen - wenn wir aus der Summe der Ideen eine Gruppe herausnehmen -, jetzt nicht äußerlich, sondern innerlich-real zu den Anschauungen, zu den Begriffen sich verhalten, die man entwickelt über den Gang der kausalen Naturordnung, ver­fällt er in eine Art von Weltanschauungsdualismus, wie man geisteswissenschaftlich das ausdrücken könnte. Das haben wir ja immer wie­der betont. Der Mensch versucht, eine solche Brücke zu schlagen, aber es gelingt ihm nicht.

Es wird uns leichter sein, dasjenige genau ins Auge zu fassen, was für diese Frage in Betracht kommt, wenn wir diesen neuzeitlichen Dualismus vergleichen mit dem, was entsprechend im Altertum - ich meine in der vorchristlichen Zeit, so wie wir von der vorchristlichen Zeit sprechen - als Ähnliches existiert hat. Das unserem heutigen Dualismus Ähnliche war in alten Zeiten für die Menschheit etwas, was man nennen kann Fatalismus. Man war bis ins 2., 3. vorchristliche Jahrhundert, und dann später noch mehr - es wurde aber immer mehr anachronistisch - geradezu gedrängt, in den Fatalismus zu verfallen. Und im Grunde genommen ruht auch auf dem Grunde der griechi­schen Weltanschauung der Fatalismus. In der neueren Zeit ist aller Fatalismus eigentlich anachronistisch; das heißt, er gehört nicht mehr in die Gegenwart herein. Verführt, könnte man sagen, waren die

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Menschen der alten Zeit zum Fatalismus, verführt sind die Menschen der neueren Zeit, und ganz besonders der Gegenwart, zum Dualismus.

Nun wollen wir einmal uns klarmachen, worauf es beruhte, daß die alten Menschen so leicht dem Fatalismus verfallen konnten. Wir wis­sen ja, die Seelenverfassung der Menschen hat sich radikal geändert im Laufe der Entwickelung, und es ist ein Aberglaube, wenn man nur so, wie es etwa der landläufige Darwinismus tut, eine sukzessive Ent­wickelung annimmt. Für die Seelenverfassung liegt eine radikale Um-änderung vor, und in dieser Beziehung ist die Geschichte am aller­meisten eine fable convenue. Die Seelenverfassung der alten Menschen war so, daß ihnen eigentlich niemals das Naturgemäße so entgegen­getreten ist, wie es den heutigen Menschen entgegentritt, und dem­gegenüber auch das Geistige nicht so begriffsmäßig, so vorstellungsmäßig, wie es dem heutigen Menschen entgegentritt. Alles dasjenige, was der alte Mensch von der Natur vorstellte, stellte er so vor, daß er das Naturgemäße mit dem Geistigen verquickt vorstellte, und wieder­um das Geistige stellte er sich so vor, daß er für die Vorstellung Bilder aus dem Gange der Natur nahm. Hatte man alte Götterlehren, so sind die eigentlich ganz durchtränkt, als Mythe ganz durchtränkt von Vor­stellungen, die der sinnenfälligen Natur entnommen sind. Sprach man von der Natur, so sprach man nicht so, wie wir heute sprechen, so trocken, so abstrakt, sondern man sprach von elementarer Geistig­keit, von Wesenheiten, welche die Naturerscheinungen tragen, be­wirken.

Das beruhte nicht auf einer großen Kindlichkeit der Ausdrucks­weise, sondern es beruhte auf der wirklichen Anschauung, auf der wirklichen Seelenverfassung. Der alte Mensch sah die Natur nicht so, wie wir sie unter dem Einfluß der heutigen Wissenschaft sehen, auch wenn wir nicht Wissenschafter sind; er sah sein Geistiges nicht so ab­strakt, nicht so bloß vorstellungsgemäß, wie wir es heute sehen müs­sen. Durch dieses Durcheinanderschwimmen von Natur und Geist trug sich der Mensch selbst in den Fatalismus hinein; denn indem sich in der neulich geschilderten Weise die Naturerscheinungen für den Menschen durchtränkten von Geistestaten, war selbstverständlich alles Leben in der äußerlichen Weise beabsichtigt, wie menschliche

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Taten beabsichtigt sind. Es war zwar ein Bild, aber der alte Mensch hatte kein anderes Bild; das aber führt notwendig zu der Täuschung des Fatalismus.

Im Laufe der Zeit nun entstand eine andere Seelenverfassung. Wir haben diese Änderung der Seelenverfassung von den allerverschieden­sten Gesichtspunkten bis jetzt schon charakterisiert; wir wollen sie heute von einem ganz besonderen Gesichtspunkte ins Auge fassen. Wir wollen uns heute einmal die Frage vorlegen, die wir aber nur beantworten können auf Grundlage von alldem, was wir in den letzten Vorträgen vor unsere Seele hingestellt haben: Was ist es eigentlich sachlich, was der Mensch sieht, wenn er die Naturordnung verfolgt, und was ist es sachlich, was der Mensch innerlich erdenkt, wenn er heute von Geist spricht? Jetzt rede ich nicht davon, daß wir in der Geisteswissenschaft von Geist sprechen, sondern ich rede davon, wie das allgemeine Menschheitsbewußtsein heute, mehr oder weniger so oder so nuanciert, von Geist spricht.

Wir wissen ja, daß der Mensch, auch wenn er nicht Theoretiker ist - von Theoretikern sehen wir ab -, rein instinktiv, wenn er heute die Naturordnung überschauen will, an das Walten von Stoff und Kräften kommt. Ich rede jetzt nicht von den naturwissenschaftlichen Theorien von Stoffen und Kräften, sondern ich rede davon, wie einfach der heutige Durchschnittsmensch sich die Natur vorstellt, indem er in seinen Vorstellungen über die Natur dazu kommt, in den Natur­erscheinungen ganz instinktiv stoffliche und kraftdurchsetzte Vor­gänge seinen Anschauungen zugrunde zu legen. Da wird der Mensch geführt - wenn man die Dinge untersucht, wenn man wirklich sach­gemäß die Dinge untersucht, wir wissen das ja - zu einer Illusion. Denn eigentlich ist all das, was ausgesagt werden kann in solchen Zu­sammenhängen über das, was Stoff und Kräfte sind, alles ist Illusion. Die Grundlage der heutigen Naturanschauung ist Illusion. Das be­ruht nicht auf einer Fehlerhaftigkeit des Denkens allein, das beruht einfach auf der heutigen Seelenkonstitution, auf der heutigen Seelen­verfassung. Wir reden nicht mehr wie etwa die indische Weltanschau­ung von Maja oder Illusion, weil wir den Tatbestand im gewöhnlichen Leben nicht durchschauen. Wir durchschauen diesen Tatbestand nicht,

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so daß wir eigentlich, wenn wir die Natur vorstellen, immer in der Illusion leben. Das ist das eine.

Das andere ist: Wie steht es mit der heutigen Geistanschauung? Diese heutige Geistanschauung ist etwas, was sehr, sehr in Abstrak­tionen schwebt. Sie können dies am besten verfolgen, wenn Sie sich die eine oder andere Philosophie nehmen. Es ist schon ganz gleich­gültig, welche Philosophie Sie nehmen. Sie können eine so halbver­worrene, in Wortgetändel ablaufende Philosophie nehmen wie die Euckensche, Sie können eine etwas auf sichereren Grundlagen ruhende wie die Liebmannsche nehmen, Sie können sich auf eine solche ein­lassen, welche mehr zum populären Bewußtsein spricht, wie die Schopenhauersche und so weiter: da wird in Philosophien und Welt­anschauungen der Gegenwart von Geist gesprochen; wenn die Philo­sophien nicht rein positivistisch sind, wie die Comtesche, die wir neulich kennenlernten, wenn sie nicht materialistisch sind, so wird immerhin von den Philosophen von Geist gesprochen. Aber was ist das, wovon da in den Philosophien gesprochen wird, und was Geist genannt wird aus der heutigen Seelenkonstitution heraus? Geradeso wie dasjenige, was der Mensch wie ein Netz durch die Naturerschei­nungen hindurchzieht, indem er eine gewisse stoffliche und kraftliche Ordnung annimmt, die Naturanschauung zur Illusion macht, so ist alles das, was heute in den landläufigen Anschauungen über den Geist gesagt wird, im Grunde eine Halluzination, und die gebräuchlichen Philosophien sind eigentlich nur eine Summe von nicht bemerkten Halluzinationen. Im Grunde genommen ist der Mensch heute so kon­stituiert, daß er mit seiner Seele, wenn er zur Natur hinsieht, zwischen der Illusion, wenn er zum Geiste hinsieht, zwischen der Halluzination schwebt. Was die Philosophen vom Geiste träumen, indem sie rein aus Begriffen heraus eine gewisse Anschauung vom Geiste sich kon­struieren wollen, das ist eigentlich nur eine Summe von feinen Hallu­zinationen, allerdings von feinen, aber eben doch von Halluzinationen. Es sind Gebilde, die aus Gründen, über die wir heute nicht sprechen wollen, aus dem Inneren des Menschen aufsteigen, die als solche unmittelbar mit der Wirklichkeit nichts Rechtes eigentlich zu tun haben.

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Ich habe Sie öfters aufmerksam gemacht auf solche Erscheinungen der Tatsachenwelt, welche klar zeigen, daß alles das, was die Menschen sich vorstellen können, nicht viel zu tun zu haben braucht mit der Wirklichkeit. Ich habe, um dies zu erhärten, hingewiesen darauf, daß zum Beispiel in ihrer Naivität eine ganze Anzahl von Philosophen heute davon reden, der Mensch müsse zusammengesetzt gedacht wer­den aus Leib und Seele. Selbst die weltberühmte Wundtsche Philo­sophie spricht von Leib und Seele und gibt sich der Meinung hin, daß sie vorurteilslos ist. Aber in Wirklichkeit - auf das habe ich ja schon aufmerksam gemacht -, was ist die ganze Wundtsche Philosophie oder ähnliche Philosophien? Es ist nur die Ausführung desjenigen, was das achte allgemeine Konzil von Konstantinopel im Jahre 869 beschlossen hat: daß man nicht sprechen dürfe - so ungefähr konnte man den dazumal ja allerdings verklausulierten Konzilsbeschluß definieren -, wenn man vom Menschen spricht, von Leib, Seele und Geist, sondern daß das Geistige nur eine Eigenschaft des Seelischen sei, daß man nur sprechen dürfe von Leib und Seele. Und die Trichotomie Leib, Seele und Geist war ja eine ketzerische Anschauung durch das ganze Mittel­alter hindurch. Die theologischen Philosophen haben gebebt, wenn sie durch die Wirklichkeit dazu gedrängt worden waren, von Leib, Seele und Geist nur etwas anzudeuten, denn es war eben eine ketze­rische Anschauung. Unter dieser Anschauung stehen die Philosophen noch heute. Sie führen nur dasjenige aus, was jenes Konzil von Kon­stantinopel dazumal dogmatisiert hat, und sie glauben, vorurteilslos zu sein, sie glauben, daß sie etwas, was aus ihren reinen Anschau­ungen, Forschungen folgt, ausführen, während sie in Wahrheit Ausführer eines Konzilsbeschlusses sind. Man muß die Dinge ohne Illusion anschauen; man muß auf die Wirklichkeit hinschauen. Unsere jungen Studenten lernen überall in der Philosophie dasjenige, was das Konzil von Konstantinopel 869 beschlossen hat.

Nun behaupte ich durchaus nicht, daß dasjenige, was heute gelehrt wird, eine direkte Folge oder Wirkung jenes Konzilsbeschlusses ist; sondern was dazumal dogmatisiert wurde auf dem achten Konzil in Konstantinopel, das war als Dogma auch wiederum nur der gedank­liche Ausfluß von tieferen Geschehnissen, die unter der Oberfläche

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der Dinge verborgen sind und die heute noch fortlaufen. Und alies dasjenige, was dogmatisieren will - gleichgültig, ob es die braven Philosophen des Konzils von Konstantinopel gemacht haben oder die braven Professoren der heutigen Universitäten -, alle diese Begriffsgespinste sind im Grunde genommen nur begriffliche Halluzina­tionen, welche aufsteigen in dem Menschen und zu dünn sind, möchte ich sagen, an Realitätsgehalt, um die Wirklichkeit, die darunter waltet, wirklich zu erfassen. Weil der heutige Mensch seiner Seelenkonsti­tution nach gewissermaßen pendelt zwischen dem Halluzinatorischen seiner Begriffswelt und dem Illusorischen seiner Naturanschauung, deshalb liegt für ihn die Gefahr des Dualismus vor. Und er wird immer in der Gefahr sein, alles, was er als Ideen, als Ideale ausheckt, nur tragen zu können in die halluzinatorische Sphäre der Begriffe, die nicht an die Wirklichkeit heranreicht; oder aber, er wird, was er über die Natur ausheckt, tragen können in die Illusionssphäre der Natur­anschauung, die wiederum nichts mit der wahren Wirklichkeit zu schaffen hat, die eben eine Illusion ist. Der Mensch ist eben niemals dazu veranlagt, dasjenige, was er Wahrheit nennt - ein Wort -, un­mittelbar zu finden, ich möchte sagen, bequem zu finden. Er muß von etwas, was im Leben ihm Zwiespalt, Zweifel, Skeptizismus bringen kann, ausgehen und zur Wahrheit durchdringen. In dem heutigen Ent­wickelungszyklus ist der Mensch gezwungen, aufzusteigen von dem Pendeln zwischen der Halluzination der Philosophie und der Illusion der Naturanschauung zu dem wahrhaft Wirklichen, zu dem, was wirk­lich ist.

Nun könnte man die Frage aufwerfen - ich spreche natürlich mehr oder weniger aphoristisch, erst das Ganze soll einen Zusammenhang dann geben: Was kann man denn als nächsten Grund dafür angeben, daß der alte Mensch mehr in den Fatalismus, der neuere Mensch mehr in den Dualismus in Weltanschauungsfragen hat verfallen können, oder verfallen kann? Man verfällt in solche Gefahren dann, wenn man sich überläßt dem bloßen Begriffsspiel, man könnte heute auch sagen: der bloßen Dialektik.

Nun werden Sie freilich einwenden: Die heutigen Menschen bei ihrem Wirklichkeitssinn sind gar nicht dazu veranlagt, einem bloßen

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Begriffsspiel zu verfallen. - Sie irren gar sehr! Künftige Zeitalter, die das unsrige objektiver einschätzen werden, die werden schon ein­sehen, daß niemals in der Menschheit vorhanden waren solche Nei­gungen, zu theoretisieren, mit bloßen Begriffen zu spielen, als gerade in der Gegenwart. Der Mensch verläßt heute sehr gern die Wirklich­keit und wendet sich dem bloßen Begriffsspiel zu. Wenn man aber die Wirklichkeit verläßt und anfängt, seine Begriffe zu drehen, zu wenden, zu verbinden, zu trennen, in dem Augenblick, wo man von der Wirk­lichkeit abgekommen ist, dann ist schon die Gefahr vorhanden ent­weder des Fatalismus oder des Dualismus. Dasjenige, worauf es an­kommt, und was sich der heutige Mensch ganz besonders anzuerziehen hat, das ist eben der oft von den verschiedensten Gesichtspunkten auch hier betonte Wirklichkeitssinn.

Nun ist es namentlich geistigen Dingen gegenüber nicht ganz leicht, sich den Wirklichkeitssinn anzuerziehen, denn gerade geistigen Din­gen gegenüber steckt man mehr, als man glaubt, im bloßen Begriffsspiel, in einer spielerischen Dialektik. Und dasjenige, was als äußere Illusion erscheint, sobald es hereinspielt ins moralisch-geistige Leben der Menschen, ist sehr stark geeignet, das Illusionsmäßige zu fördern. Über gewisse Dinge versucht der Mensch immer zu theoretisieren. Er versucht zu theoretisieren über das Gute und das Böse, über die Freiheit oder die Notwendigkeit; über die allerwichtigsten Fragen des Lebens, kann man sagen, ist der Mensch eigentlich furchtbar geneigt zu theoretisieren, das heißt, sich einem bloßen Begriffsspiel zu über­lassen. Und was man heute da oder dort an Weltanschauungsdiskus­sionen trifft, das läuft eigentlich in der Regel nur innerhalb der Begriffsdialektik. Die Menschen täuschen sich allerdings auch sogar darüber, indem sie glauben, Begriffe zu haben, aber in Wirklichkeit ja gar nicht Begriffe haben können; sondern sie haben neben dem Be­griff noch die Sympathien und Antipathien für gewisse Begriffe und gegen gewisse Begriffe, und nach seinen Sympathien und Antipathien bildet sich dann ein Mensch diesen oder jenen Begriffszusammenhang und dergleichen. Aber darauf will ich weniger Rücksicht nehmen. In den weitaus meisten Weltanschauungsdiskussionen, die ja ein Be­griffsspiel bilden in Fragen, ist ein Absehen von der Wirklichkeit.

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Gehen wir, um das klarzumachen, was ich hiermit eigentlich meine, von einer im Leben oft auftretenden Tatsache aus: vom Haß, vom Vor­handensein des Hasses. So etwas, wie das Vorhandensein des Hasses in der Menschennatur, will man erklären. Mit einer bloßen Begriffsspielerei versucht man sehr häufig, solche und ähnliche Dinge zu er­klären. Der Haß ist da als eine Seelenerscheinung, als eine psycho­logische Realität. Aber wer sich auf diese Dinge einläßt, findet sehr bald, daß man die ganze Farbe der Erscheinung des Hasses mit ge­wissen Begriffen, die man sich darüber macht, doch nicht eigentlich einfangen kann. Solche Dinge, wie Haß, kann man nur verstehen, werin man versucht, von der Illusionswelt zu der wahren Wirklich­keitswelt zu kommen. Der Haß ist etwas, was aus einer tieferen Wirk­lichkeitswelt in die menschliche Seele hereinspielt. Man muß sich nun fragen: Dieser Haß, ist er in der Wirklichkeitswelt dasselbe, als was er in der menschlichen Seele erscheint? Wenn er in der Wirklichkeits­welt etwas anderes ist, als er in der menschlichen Seele erscheint, dann werden wir bald einsehen, wie nahe es liegt, daß man zu keiner geistigen Anschauung kommt, wenn man bloß den Haß in der mensch­lichen Seele kennenlernt. Wenn man den Haß mit geisteswissenschaftlichen Methoden aufsucht im Kosmos - jetzt nicht im einzelnen Menschen, in die einzelne Menschenseele spielt er herein, der Haß -, wenn man ihn aufsucht im Kosmos, so ist er da etwas ganz anderes. Man findet dasselbe, was in der Menschenseele als Haß sich verwirk­licht, auch draußen im Kosmos. Man muß nur nicht darauf herein­fallen, bloß solche Naturkräfte zu suchen, wie sie die heutige wissen­schaftliche Illusion sucht, sondern man muß in die Wirklichkeit hin­einschauen, die hinter der Natur ist, dann findet man schon im Kos­mos das Entsprechende für den Haß. Aber im Kosmos ist dieser Haß etwas wesentlich anderes, als er in der menschlichen Seele ist. Im Kosmos ist der Haß eine Kraft, ohne welche niemals Individualisie­rung eintreten könnte. Niemals könnten Sonderwesen entstehen, auch das menschliche Sonderwesen könnte nicht entstehen, wenn es nicht im Kosmos die Kraft des Hasses gäbe. Ich spreche nicht von dem illusionistischen Abstoßen der Atome, sondern ich spreche von etwas Realem. Im Kosmos entsteht Haß, aber im Kosmos darf Haß nicht so

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moralisch bewertet werden, wie wenn er in die Menschenseele herein­spielt. Im Kosmos ist Haß eine Kraft, welche aller Individualisierung zugrunde liegt. Die ganze Welt würde in eine große Einheit ver­schwimmeln,so wie es die nebulosen Pantheisten gern haben möchten, es würde sich kein Wesen sondern, es würde sich nicht gliedern, wenn nicht durch den ganzen Kosmos das waltete, was die Menschen zu­nächst nicht sehen im Kosmos, was aber in die Menschenseele herein-spielt und in der Menschenseele die besondere Form, die man da als Haß kennenlernt, annimmt.

Nun entsteht allerdings die Frage: Wie ist das Verhältnis des Mensch­lichen zu diesem Kosmischen? Von einer gewissen Seite her habe ich Ihnen schon etwas darüber angedeutet; wir wollen heute noch einiges Aphoristische dazufügen. Als einsichtige Philologen - heute ist auch die Philologie erstens verabstrahiert, und zweitens ziemlich philiströs geworden -, aber als die einsichtigeren Philologen die Sprachen studierten, welche man bei den sogenannten wilden Menschen in Amerika hatte finden können, als die «Zivilisierten», ich sage das unter Anführungszeichen, in Amerika eingedrungen waren, als also diese Zivilisierten die wilden Amerikaner entdeckt hatten, da fanden die einsichtigeren Philologen, daß es doch merkwürdig sei, was diese wilden Menschen für logisch durchsichtig ausgebildete Sprachen haben! Eine ganze große Anzahl solcher Sprachen fanden sich da, in denen sich, wie die Philologen versichern können und wie es auch wahr ist, die Finessen des Spanischen und Italienischen in der Sprachbildung und Sprachgliederung zusammenfinden. Bei den wilden Eingeborenen Grönlands fand man solche Dinge. Nun ist es ganz zweifellos: jenen Intellekt, auf den der moderne Mensch so stolz ist, den hatten diese Wilden nicht. Dieser moderne Intellekt würde auch nicht sehr weit kommen, wenn er sich auf Sprachbildung und auf Sprachschöp­fung einließe; denn was der moderne Intellekt zustande bringt, wenn er sprachschöpferisch auftreten will, davon kann man sich mancher­orts hinlänglich überzeugen. Da waltete in der Tat in der Menschenseele, die noch eine wilde war, die noch nicht den gegenwärtigen Intellekt hatte, objektive Vernunft, jene objektive Vernunft, die ich Ihnen auch sonst neulich einmal im Sprachschöpferischen der Menschheit

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wirksam zeigte. Da waltete Vernunft. Diese Vernunft, die da waltete, die traf den Menschen noch nicht so stark individualisiert, wie die heutige Weltvernunft den Menschen trifft; sie traf den Men­schen noch weniger individualisiert, weniger gesondert, und wirkte in ihm noch mehr als kosmische Vernunft. Und so ist es auch in der Entwickelung der Menschheit gekommen. Der Mensch war in jenen alten Zeiten nicht jenes wilde Wesen, von dem die heutige Anthro­pologie illusionistische Vorstellungen erweckt, sondern er war ein Glied eines Gesamtorganismus - obwohl das natürlich bildlich ge­sprochen ist - und er individualisierte sich nach und nach. Also er war ein Glied und drückte noch mehr die kosmische Vernunft aus, oder man könnte auch sagen, in ihm drückte sich mehr die kosmische Ver­nunft aus.

Da haben Sie eine tatsächliche Andeutung, wie das Kosmische, das da wirkt, hereinspielt in die Menschenseele. Und nun können Sie das auch übertragen auf eine solche Spezialerscheinung wie den kos­mischen Haß, der sich in die Menschenseele hereinfindet. Und wir wissen ja, es muß auf geistigem Gebiete ähnlich wie auf natürlichem Gebiete gesprochen werden von gewissen Polaritäten. Wie ist das­jenige hereingekommen, was kosmische Vernunft ist in der Sprache? Heute ist die Menschheit nicht mehr sprachschöpferisch, sie war sprachschöpferisch; was heute in den Sprachen auftritt, sind nur Residuen. Wie ist in die Menschenseele jene kosmische Vernunft her­eingedrungen, wie ist sie individuell geworden? Suchen wir uns diese Frage zu beantworten, so kommen wir zu alle dem, was wir das Ahrimanische nennen. Und wie dringt aus dem Kosmischen so etwas herein wie die Erscheinung des Hasses in der Menschenseele? Da kommen wir auf das dem Ahrimanischen polarisch entgegengesetzte Luziferische. Der heutige Mensch schämt sich, von Ahriman und Luzifer zu sprechen, während er sich nicht schämt, von positiver oder negativer Elektrizität oder positivem oder negativem Magnetismus zu reden. Das aber, daß er sich schämt, ist eben nur beruhend auf einem modernen Aberglauben.

Auch wenn wir uns klar sind darüber, daß diese Tatsache vorliegt, daß wirklich geistige Entitäten, geistig Wesenhaftes hereintrat auf der

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einen Seite als Luziferisches in solchen Gebilden wie dem Haß, oder als Ahrimanisches in solchen Dingen wie der Sprache oder auch dem Denken, so müssen wir auf der andern Seite uns auch darüber klar­werden, wie die Dinge bedeutsam sind im ganzen Weltenzusammen­hange, wie das sich in den ganzen Weltenzusammenhang hineinstellt. Wenn ich den Haß so ansehe, daß ich sage, auf ihm beruhen die großen Anfangstatsachen, eben daß es sich individualisieren, absondern kann, daß nicht alles ineinanderschwimmt in einem allgemeinen Urbrei, so deute ich auf das Phänomen, auf die Tatsache des Hasses in ur­urferner Vergangenheit hin, in jener Vergangenheit, in welcher der Mensch noch nicht in seiner heutigen Form vorhanden war; ich deute auf eine sehr, sehr ferne Vergangenheit hin. Ich gebe Ihnen also gewissermaßen eine Anschauung vom Haß, welche einer fernen, fer­nen Vergangenheit entspricht, derjenigen Vergangenheit, in der der Mensch sich noch nicht herausgegliedert hat aus der übrigen Weltenordnung. Wir können von den verschiedenen Naturreichen sprechen, von denen wir wissen - Sie brauchen nur meine «Geheimwissenschaft im Umriß» zu lesen -, wie sie sich aufgebaut haben als mineralisches, pflanzliches, tierisches, menschliches Reich. Wir können von diesen Naturreichen sprechen. Wenn wir vollständig, nicht von ihrem Illu­sorischen, sondern von ihrer Wirklichkeit sprechen, lebt in alldem die Kraft des Hasses darinnen, aber des Hasses so, wie ich ihn Ihnen als kosmischen Haß veranschaulicht habe.

Nun kommt ein Zeitpunkt in der Evolution, wo in die Menschenseele hereinspielt dasjenige, was sonst allgemeine kosmische Tat­sache ist; es spielt herein in die Menschenseele durch luziferische, ahrimanische Kräfte: jetzt ist es in der Menschenseele drinnen, jetzt ist es herausgehoben aus dem Kosmischen, wie sich dieses Kosmische aus der Vergangenheit bis jetzt gebildet hat.

Nun wissen wir - wenn wir schematisch zeichnen das Kosmische der Vergangenheit bis zum heutigen Zeitpunkt (violett) - nachdem

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wir so viel gesprochen haben über das sogenannte Gesetz von der Erhaltung der Kraft oder des Stoffes, das es ja nicht gibt! -, daß gewissermaßen dasjenige, was rein natürlich real in der Gegenwart ist, aufhört bis auf den Stoff hin. Wir wissen: Dasjenige, was heute bloß geistig anschauliche Gegenwart hat, ist Keim auch für das Stoff­liche der Zukunft (rot). - Wenn wir die Dinge geistig anschauen, so müssen wir sagen: All dasjenige, was nun Vergangenheitsordnung ist, das ist herausgeflossen aus dem Geistigen. Das Herausgeflossene wird sein Ende finden. Was Zukunftsordnung ist, fließt erst heraus aus dem Geistigen. Es könnte sich niemals zur Naturordnung festsetzen, wenn es Erhaltung der Kraft und des Stoffes gäbe. Aber das ist der stärkste aller Aberglauben, die jemals existiert haben, daß es eine Erhaltung des Stoffes und der Energie gäbe. Das Geistige, das sich heute ankündigt in bloßen Gedanken, das ist ebenso der Keim für die Naturordnung der Zukunft, wie der kleine Pflanzenkeim, der sich in der Pflanze des heurigen Jahres erst ankündigt, der Keim ist für die Pflanze des nächsten Jahres.

Dadurch steht der Mensch selber in einer zwiespältigen Weise in der Weltenordnung drinnen. Und man wird gewiesen auf den Men­schen in seiner Zwiespältigkeit, wenn man den ganzen Zusammen­hang verstehen will, wenn man vor allen Dingen einen Übergang finden will von dem kosmischen Haß zu dem individuell-seelischen Haß, der in der Menschennatur auftritt. Sie wissen, wenn wir den Menschen so anschauen, wie er heute vor uns steht, so können wir sagen: Vorstellung, Fühlen und Wollen ist sein Wesen. Er gliedert sich uns in vorstellendes, in fühlendes, in wollendes Wesen, die eine Einheit bilden. Aber all das Schöne, das die Philosophie darüber sagt, das kommt ja doch auf keinen grünen Zweig, wenn man nicht auf der andern Seite auch wiederum die Dinge klar und genau unterscheiden kann. Nun werden selbst die etwas begriffsspitzigen Psychologen der Gegenwart darauf aufmerksam, daß man vom Wollen eigentlich nichts Rechtes weiß. Ich habe Ihnen ja das Wesen des Wollens auseinandergelegt; heute genügt es, darauf hinzudeuten, daß auch die Psychologie der Gegenwart sich sagen muß, vom Wollen weiß man nichts Rechtes. Das Wollen wird ja eigentlich auch im wachen Menschenleben seiner

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Entität, seiner Wesenheit nach verschlafen. Man könnte auch sagen, der Mensch reicht nicht hinunter mit seiner Seele zum Wollen. Er glaubt - ich habe das bei der Besprechung des Augustinus ausein­andergesetzt an einer konkreten Tatsache -, er glaubt, dieser Mensch, drinnenzustehen in der Wesenheit selbst, indem er vorstellt; das kann er aber nicht bezüglich des Wollens sagen. Denn wie sich irgendeine gewollte Absicht verknüpft auch nur mit dem komplizierten Mecha­nismusorgan der Handbewegung oder des Gehens der Beine, davon weiß der Mensch ebensowenig im wachen Leben, wie er weiß von seinem Leibe, wenn er schläft, oder von seiner Umgebung, wenn er schläft. Das Wollen wird eigentlich verschlafen vom gegenwärtigen Menschen. Dringt man nun vor durch die Methode der Geisteswissen­schaft vom bloßen Vorstellen zum Wollen, so lernt man aus den Tatsachen heraus, allerdings aus den geistigen Tatsachen heraus, begreifen, wie es kommt, daß der Mensch sein Wollen heute verschläft.

Mit unserem Denken, mit unserem Intellekt als Menschen wären wir eigentlich sehr schlimm daran, wenn nicht der andere Umstand wäre, den ich erwähnt habe, und den ich gleich nachher weiter aus­führen werde. Mit unserem Denken wären wir eigentlich sehr schlimm daran, denn unser Denken bleibt im Grunde genommen immer mit Bezug auf unser menschliches Wesen kindlich. Unser Denken erwirbt sich im Laufe unseres Lebens zwischen Geburt und Tod einiges Wissen über die unmittelbare Gegenwart der Welt; über Vergangenheit und Zukunft nichts, oder höchstens etwas in Hypothesen, die aber gleich zerfallen, wenn man sie nur wirklich ernstlich anfaßt. Dieses Denken, das ist eben Zukunftskeim. Und so wenig der Keim in der Pflanze heute etwas ist, was in der Wirklichkeit der Pflanzenwelt schon eine Bedeutung hat, sondern im besten Falle erst im nächsten Jahre haben wird, ebensowenig hat das heutige Denken schon einen Wirklichkeitswert. Es verhält sich zu dem, was es seinem Wirklich­keitswert nach sein kann, so, wie das kleine Kind sich zum Menschen verhält. Das Denken ist eigentlich ganz für die Zukunft angelegt; aber erst das, was so daraus wird, wie aus dem Pflanzenkeim die Pflanze wird, das wird in der Zukunft eine reale Bedeutung haben. Der eigentliche Inhalt, die Substanz des Denkens, hat heute nur einen

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Keimwert. Steigen wir aber geisteswissenschaftlich ins Wollen hinunter und versuchen wir, das Subjekt des Wollens zu erkennen - Wollen ist ja nur eine Tätigkeit -, aber versuchen wir, das Subjekt unseres eigenen Wollens zu erkennen, dann ist das Wollen etwas, das in sich trägt das Bewußtsein von fernster Vergangenheit, kosmischer Vergangenheit. Sie können niemals mit dem Intellekt, ohne durch Imagination, Inspiration und Intuition sich in das Wollen hineinzustellen, irgend etwas über die Evolution der Welt verstehen; denn nur im menschlichen Wollen, das zu gleicher Zeit den ganzen mensch­lichen Organismus aufbaut, liegt ein Subjekt, welches, so wie Sie das Gedächtnis in bezug auf Ihr gewöhnliches Leben haben, so das Ge­dächtnis über die kosmische Vergangenheit hat.

Das ist der Unterschied zwischen dem menschlichen Intellekt und dem menschlichen Wollen, daß der menschliche Intellekt höchstens ein Gedächtnis für das persönliche, individuelle Leben entwickelt, daß das Wollen, zu dem der Mensch mit seinem Intellekt nicht hin­unterreicht, das Gedächtnis der kosmischen Vergangenheit hat. Der Mensch trägt in sich das Gedächtnis der kosmischen Vergangenheit, aber er kann es zunächst, ohne geisteswissenschaftliche Forschung, mit seinem Intellekt nicht erreichen. So kann man sagen, auf der einen Seite steht der Mensch da als wollendes Wesen, trägt in sich, wenn ich das Gedächtnis nennen darf - es ist nur bildlich gesprochen -, das Gedächtnis der kosmischen Vergangenheit. Er steht da als in­telligentes Wesen, trägt in sich als intelligentes Wesen nur die Gegen­wart, weil der Intellekt nur Keim ist für die Zukunft, noch nicht etwas Gegenwärtiges. Wie der Pflanzenkeim - ich muß es immer wieder sagen - noch nichts Gegenwärtiges ist, sondern etwas Zukünftiges, so ist der Intellekt im Verhältnis zum Wollen geradeso wie der kleine Pflanzenkeim zu der ganzen Pflanze. Indem wir Wollende sind, stehen wir allerdings als kosmische Menschen durch das Individuelle auf dem Boden der ganzen Vergangenheit; indem wir intelligente Men­schen sind, stehen wir in der Gegenwart da und bereiten uns vor, in die Zukunft hinüberzuwachsen.

So ist eigentlich unser Wollen im Verhältnis zu unserem Intellekt auch zu vergleichen, könnte man sagen, mit einem Greise und einem

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Kind. Wie sich der Greis zum Kinde verhält, verhält sich, natürlich mit entsprechender Ausdehnung der Zeit, unser wollender Mensch zu unserem denkenden Menschen.

Wodurch wird der Ausgleich geschaffen? Nun wirkt eben herein in unseren denkenden Menschen das, was ich vorhin und oft schon das Ahrimanische genannt habe, die kosmische Vernunft. Würden wir auf uns Menschen angewiesen sein, ohne daß Ahriman wirkte, so wäre es mit unserem Intellekt in der Gegenwart ganz anders bestellt. Die römisch-katholische Kirche könnte furchtbar zufrieden sein mit einer Menschheit, welche nur das Maß des Intellekts hätte, das heute aus der menschlichen Natur herauswächst. Denn dieser Intellekt ist eben im Verhältnis zu dem, wozu der Mensch im gesamten Kosmos veranlagt ist, kindlich, ebenso wie unser Wollen greisenhaft ist.

In unser Denken - und dieses Denken ist ja nicht in der Evolution denkbar ohne die Mitwirkung zum Beispiel des sprachlichen Elemen­tes - wirkt das Ahrimanische herein. In unser Wollen wirkt das Luzi­ferische hinein. Das Ahrimanische, das durchdringt uns, indem es unseren Intellekt, der in der Gesamtevolution heute noch schwächer ist, der ein kindlicher ist, auf eine gewisse Sonnenhöhe hinaufschraubt. Aber es entsteht dadurch auch die Kehrseite: wir haben einen Intellekt, der eigentlich nicht aus uns wächst; wir haben ungefähr einen solchen Intellekt, den man vergleichen könnte nicht mit einer Pflanze, die aus dem Boden wächst und dann den Keim hat, sondern mit einer Pflanze, der eine andere Pflanze aufgesetzt ist, die nicht einen Keim trägt, son­dern eine andere Pflanze trägt, und zwar eine weitaus vollkommenere Pflanze.

Unser Intellekt ist ahrimanisch geordnet, ahrimanisch durchglie­dert. Dadurch hat unser Intellekt für den Menschen etwas Verblen­dendes. Selbstverständlich stehen wir nicht auf dem Standpunkt, wenn wir Geisteswissenschafter sind, daß wir diesen Intellekt, weil er ahrimanisch ist, nicht gebrauchen sollen; sondern man muß nur illusionsfrei die Dinge anschauen, man muß sich nur klar darüber sein, daß der menschliche Intellekt ein Licht ist, das stark scheint, stärker scheint als dasjenige scheinen könnte, was als Intellekt heute schon aus der Menschennatur herausfließt. Es hat das intellektuelle Prinzip

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für die Menschennatur etwas Verblendendes, etwas die Dinge für ihn in eine gewisse Sphäre Rückendes, in der er geblendet wird. So wie ein starkes, aufs stärkste blendendes Licht auf die Dinge fallen würde, so ist es, wenn der Mensch selbst mit seinem Intellekt die Dinge beleuchtet. Dadurch macht er sie sich ja eigentlich im wesent­lichen zur Illusion.

So wie in unseren Intellekt hereinspielt das Ahrimanische, so spielt herein in unser Wollen, damit es einschläft, damit es richtig einschläft, das Luziferische. Wie unseren keimhaften Intellekt das ahrimanische Prinzip aufhellt, so schläfert ein, lullt ein unser Wollenssubjekt, das eigentlich das Gedächtnis der ganzen Vergangenheit in sich trägt, das Luziferische, so daß der Mensch nichts weiß von dieser Vergangen­heit.

Das ist etwas tiefer erfaßt die Grundlage des Dualistischen im Men­schen, dieses Dualistischen, das überbrückt werden muß, das aber nicht überbrückt werden kann, wenn man bloß an Theorien sich wendet, sondern das nur überbrückt werden kann, wenn man sich an die Tatsachen selber wendet, an die Tatsachen des geistigen Lebens, wenn man weiß, daß anders urständet unser Intellekt in der Welt als unser Wollen. Mit unserem Intellekt und unserem Wollen ist es so, wie wenn man ein Kind und einen Greis nebeneinanderstellt und sich künstlich täuschen würde, indem man das Abstraktum Mensch auf­stellt, das eben ein bloßes Abstraktum ist, und sagt: Das Kind ist ein Mensch, und der Greis ist ein Mensch. - Solche Begriffe liegen ja den heutigen Menschen, indem sie alles durcheinanderwerfen. So auch stellt man heute die Behauptung von der einheitlichen Seele auf und glaubt, die Seele als solche urstände in gleicher Weise mit dem in­tellektuellen Denken wie mit dem liebenden Wollen, während man in der Weise, wie ich es eben angedeutet habe, wenn man den Menschen wirklich, tatsächlich verstehen will, unterscheiden muß. Das, was wir durch bloßen Intellekt als Weltanschauung denken, kann daher nie­mals an die Wirklichkeit heran, bleibt Halluzination, weil es her­kommt von einem Durchsetztsein unseres Intellekts mit geistiger Wesenheit, welche nicht zu dieser Welt gehört: mit ahrimanisch­geistiger Wesenheit, die nicht zu der Weltenordnung gehört, in die

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wir mit unseren Augen hinausblicken. Ebenso ist es auf der andern Seite in bezug auf das Wollen, das durchsetzt ist mit luziferischer Wesenheit.

Diese Dinge hat man immer gefühlt, und so oder so haben sie die Leute ausgesprochen. Wenig wird zum Beispiel bemerkt, daß schon das Alte Testament eine Ahnung wenigstens hat von diesem polari­schen Gegensatz des Ahrimanischen und Luziferischen. Ich sage, es wird wenig bemerkt, denn die Menschen lesen so hübsch, wenn sie die Bibel lesen, Kapitel für Kapitel hintereinander, und unterscheiden ja auch da nicht; unterscheiden einen solchen Gegensatz nicht, wie er besteht zwischen dem Buch Hiob und den Büchern Moses. Aber in diesem Gegensatz zwischen den Büchern Moses und dem Buche Hiob liegt schon eine Ahnung jenes polarischen Gegensatzes zwischen Ahrimanischem und Luziferischem, den man auffassen muß. Moses stellt die Frage nach dem Bösen der menschlichen Natur, also nach etwas, wie da - wenn ich so charakterisieren darf - der kosmische Haß, der menschliche Haß soin den Menschen hereinspielt. Nach dem Bösen stellt Moses die Frage. Und er führt dann vor in einem groß­artigen Bilde den Sündenfall. Wir wissen, daß sich hinter diesem Sün­denfall verbirgt das, was wir den Eintritt des Luziferischen in die menschliche Natur nennen. Dann knüpft sich eine gewisse Folgerung, eine gewisse Konsequenz an diese Anschauung des Moses, daß eigentlich von dieser menschlichen Sünde - meinetwillen vormenschlichen Sünde, wenn Ihnen das besser gefällt - alles Unglück und auch der Tod herrührt. So daß inan sagen kann, des Moses Anschauung ist: Unglück und Tod sind der Sünde Folge.

Die radikal entgegengesetzte Anschauung ist die des Buches Hiob. Da haben Sie erstens nicht eine Schlange, sondern ein rein geistiges Wesen, ein ahrimanisches Wesen, welches herankommt an das gött­liche Wesen selbst. Und da handelt es sich bei Hiob nicht um einen Menschen wie bei Adam, der der Sünde verfallen kann, sondern ge­rade um einen, der «gerecht» sein soll. Und wodurch will denn dieses Wesen, das an den Gott herantritt, erreichen, daß Hiob sündig wird? Dadurch, daß er Unglück über ihn bringt! Es ist genau das Umge­kehrte: Dieses Wesen will Unglück bringen über den Hiob, auf daß

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er sündige. Das Unglück ist schon da, und vom Unglück soll die Sünde kommen. Bei Moses soll das Unglück von der Sünde kommen, im Buch Hiob die Sünde vom Unglück: Dieser Gegensatz wird ge­fühlt. Schon da spielt ein gewisser geahnter Dualismus hinein. Es ist ein radikaler Gegensatz in der Anschauung zwischen dem mehr heid­nischen Buch Hiob und dem vollen jüdischen Buche des Moses. Aber wie gesagt, die Dinge werden so hintereinander gelesen, ohne daß man auf sie immer achtet.

Heute ist es für die Menschheit ganz unbedingt notwendig, daß nicht jenes blödsinnige «Selbsterkennen», das man oftmals als irgend etwas Begehrenswertes definiert, die Menschen verführe, sondern daß der Mensch wirklich sich selbst erkennen lernt, daß er ebenso sachlich unterscheiden lernt Intellekt und Wille, wie er unterscheiden lernt Wasserstoff und Sauerstoff; sonst kann er über einen gewissen Dualis­mus nur scheinbar hinauskommen.

Nun aber bereitet sich dasjenige, was in irgendeinem Zeitalter ge­schieht, immer lange vor. Und studieren kann man doch eigentlich immer nur dasjenige, was besonders signifikant in einem bestimmten Zeitalter hervortritt. Indem wir gründlich dabei zu Werke gehen wollen, die Brücke zu schlagen im Dualismus der Gegenwart, wollen wir vor allen Dingen noch einmal hinschauen einerseits auf das Hallu­zinatorische des Intellektes, das zusammenhängt mit alldem, was ich geschildert habe, und auf der andern Seite auf das Illusorische der Naturerscheinungen, was wiederum zusammenhängt mit dem, was ich geschildert habe. Dadurch wird der Mensch in eine Art von Seelenzwiespalt im Leben hineingeführt. Es wirkt in ihm, ich möchte sagen zweiströmig, das, wofür er anstreben muß, daß es einströmig wirke. Und die eine Strömung wirkt heute besonders verführerisch: die­jenige Strömung, die aus dem Verhältnis hervorgeht, das der Mensch mit seiner Seele zur Naturordnung hat. Der heutige Mensch, der darinnen eine gleichgeartete Wirklichkeit für alle Dinge sieht - der Anatom, wenn ich ein naheliegendes Beispiel wähle, oder der Physio­loge -, nimmt heute den menschlichen Leib und unterscheidet nur äußerlich, nicht innerlich, die einzelnen Glieder dieses Leibes. Er legt, möchte ich sagen, das Herz neben die Leber und untersucht beide

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nur rein äußerlich, nimmt nicht Rücksicht auf die Zeitperspektive, von der ich neulich gesprochen habe; während in der Tat man über die Natur des Herzens sowohl wie der Leber nur einen ordentlichen Aufschluß bekommt, wenn man diese Zeitperspektive berücksichtigt, wenn man zum Beispiel wirklich geisteswissenschaftlich in der Embryologie so vorgeht, daß man zeitlich unterscheiden lernt in der Anlage des Embryonalen die Anlage des Herzens, und ferner, daß man sie nicht einfach nebeneinander und aus Zellen bestehen läßt, was einerseits richtig und andererseits ein Unsinn ist. Denn etwas kann zu gleicher Zeit richtig und ein Unsinn sein, wie wir wissen.

Wie also die heutige Wissenschaftsströmung die Naturordnung sich erklären will, nimmt sie gewissermaßen keine Rücksicht auf das­jenige, was zeitlich auseinanderliegt, stellt es nebeneinander und kommt dadurch zu ihrer Abstraktion. Da ist die Versuchung beson­ders groß, einfach eines so neben das andere zu stellen: Ursache, Wir­kung; Ursache, Wirkung; Ursache, Wirkung - abstrakte illusorische Kausalordnung! Wie wissen aus den Darstellungen, die ich Ihnen hier im vorigen Jahr und auch schon dieses Jahr gegeben habe, daß man so die Natur nicht betrachten kann, daß die Natur nur erklärlich wird, wenn man sie in erster Linie als Abbild betrachtet eines Geistigen. Da kommt man dann zur wahren Metamorphosenlehre, da kommt man zum wirklichen Goetheanismus. Da erscheint einem das Haupt des Menschen als eine Bildung, die abbildet urferne Vergangenheit; da erscheint einem der Extremitätenorganismus als dasjenige, was hin­weist auf eine ferne Zukunft. Aber da ist dasjenige, was im einzelnen dasteht, nicht nur nach Ursachen nebeneinander, sondern es ist Imagi­nation, Abbild eines hinter ihm Stehenden. Wir begreifen das mensch­liche Haupt nicht, wenn wir es nur so begreifen, wie wenn es herauf­wüchse aus dem übrigen menschlichen Organismus, während es in Wahrheit gebildet ist aus dem ganzen Kosmos heraus, und auf andere Art aus dem Kosmos heraus, als zum Beispiel der Extremitätenorga­nismus. In der Physik würde es jeder lächerlich finden, wenn man er­klären will, eine Magnetnadel zeige deshalb immer nach Norden, weil sie innerlich die Kraft hat, nach Norden zu zeigen; sondern man er­klärt es sich in dem einen Pol und in dem andern Pol daraus, daß der

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Kosmos, also der Erdenmagnetismus, richtunggebend für die Magnetnadel ist. Nur beim Menschen oder sonst beim Organismus soll alles geradlinig herauswachsen aus ihm selber! Geradeso wie die Magnetnadel aus kosmischen Gründen auf der einen Seite nach Norden, auf der andern Seite nach Süden weist, so weist - jetzt aus zeitlichkos­mischen Gründen - der Mensch mit seinem Haupt nach rückwärts in urferne Vergangenheiten, sogar in Vergangenheiten, in denen sich die Erde selber metamorphosiert hat, und er weist mit seinem Extre­mitätenorganismus in urferne Zukünfte hin. Er ist zeitlich kosmisch orientiert. Und das wird die Ausbildung der Metamorphosenlehre sein, das ist wirklicher Goetheanismus: das Aufsteigen von der bloßen illusorischen Kausalordnung zu der Auffassung der Natur durch Imagination. Indem man dasjenige, was man vor sich hat, als Bild erkennt von einem andern, erhebt man sich über die bloße Illusion.

Aber man darf bei der Natur nicht stehenbleiben. Man braucht dann ein Korrelat, man braucht ein Ergänzendes. De4enige, der so über die Natur redet, würde wiederum zum Phantasten, wenn er bloß die Natur so auffassen würde, und wenn er nicht auch auf der andern Seite erklären würde: Auch das, was neuere Philosophie als Geist der Natur gegenüberstellt, ist Halluzination, auch bei dem darf nicht stehengeblieben werden. Indem dasjenige, was heute lebt, sich lang­sam entwickelt hat, hat die Menschheit die verschiedensten Stadien durchgemacht, um nach und nach übend aufzurücken, möchte ich sagen, zum Stehen der menschlichen Seele in der Geist-Erfassung. Und da kann man drei Stufen unterscheiden. Wie man sagen kann, daß die Naturauffassung heute noch etwas recht Verworrenes hat, und hinstrebt nach den Stufen der Erkenntnis, die geschildert sind in meinem Buche «Wie erlangt man Erkennmisse der höheren Welten?» als Imagination, Inspiration und Intuition, so kann man sagen, hat sich nach und nach das Menschlich-Seelische intellektuell herausgebildet durch drei Stufen zum wirklichen Stehen im Geiste, zum wirklichen Erfassen im Geiste.

Das sind die drei Stufen: Das ahnende Erleben des Geistes, was natürlich etwas Halluzinatorisches ist, weil man den Geist in der Gegenwart nimmt und nicht erkennt, daß er Keim für die Zukunft ist;

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das ahnende Erleben, das träumerisch-ahnende Erleben des Geistes. Die zweite Stufe ist die prophetische Vision, wo etwa in dem Sinne der alten hebräischen Propheten wirklich in Visionen Zukünftiges er­lebt wird, wo also schon drinnen lebt etwas davon, daß der Geist keimhaft ist für die Zukunft. Und die dritte Stufe, die noch wenig verstan­den wird sogar, die aber doch etwas Tiefes hat, ist das apokalyptische Anschauen der Welt. Aber alles das sind Vorstufen für das geisteswissenschaftliche Anschauen, das sich auf der andern Seite aber ver­binden muß - weil es sonst in der Luft schweben würde, bildlich ge­sprochen - mit der bildhaften Anschauung über die Natur. Bildhafte Anschauung über die Natur hebt einen hinaus über das Illusorische der Naturwissenschaft. Reales Verhalten gegenüber demjenigen, was durch das Ahnende der Zukunft, durch das visionäre Schauen der Zu­kunft - prophetisches visionäres Schauen, apokalyptisches Schauen - geht, das hebt uns hinaus über das Halluzinatorische des Geisteslebens.

Wir dürfen unbedingt nicht - das ist des Menschen Aufgabe in der Gegenwart - den Geist so nehmen, wie ihn die neueren Philosophien nehmen. Wir dürfen die Natur nicht so nehmen, wie sie die naive Naturanschauung oder auch die theoretische Naturwissenschaft der Gegenwart nimmt. Sondern wir müssen gewissermaßen die Verblen­dung, die wir über die Natur haben, ablegen und erkennen, wie die Natur bloß Bild ist von einem andern, und wir müssen erkennen, wie der Geist, so wie er sich heute der Philosophie darstellt, bloß Schatten­bild ist. Dann wird die Brücke geschlagen zwischen der gewöhnlichen Geistanschauung und der gewöhnlichen Naturanschauung.

Und ein drittes wird bestehen. Niemals kann man durch bloße Dis­kussionen so etwas überwinden wie den Dualismus, sondern nur da­durch, daß man die Tatsachen ins Auge faßt, aber dann die vollstän­digen Tatsachen, und zu der Zweiheit ein drittes findet. Daher muß das Symbolum, das dies ausdrückt, eine Trinität ausdrücken. Wir sind natürlich uns heute klar, daß Begriffe wiederum nur so etwas, was oben schwimmt, ausdrücken. Aber man muß Begriffe haben; überschätzt man sie nicht, so richten sie keinen Schaden an. Wir sprechen hier von dem Normalmenschlichen, von dem Luziferischen und dem Ahrimanischen, und stellen das auch dar: es soll Mittelpunktsdarstellung

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unseres Baues sein. Daß eine Anschauung, die in einer Dreiglie­drigkeit verläuft, da sein musse, das ahnte auch Auguste Comte, indem er jene Trinität aufstellt, von der ich Ihnen neulich gesprochen habe. Diese wahre Trinität, welche Geistanschauung und Naturanschauung umfassen wird und dadurch wirklich den Dualismus überwinden wird, muß die anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft in sich enthalten. Daher kann man nicht, ohne ernsthaftig einzugehen auf alle Licht- und Schattenseiten des heutigen Naturforschens, des heutigen Geistforschens, auch zu wirklicher anthroposophischer Geisteswissen­schaft kommen. Man muß die Dinge schon ernst nehmen. Mit dem bloßen Zusammenwerfen und dem Theorienbilden über das Zusam­mengeworiene wird dem Ernst der heutigen Zeit gegenüber nichts getan sein.

Das Leben verläuft nicht in einem Urbrei, sondern verläuft differen­ziert und individualisiert. Dasjenige, was eine Zukunft anstreben muß, muß von vorneherein differenziert angestrebt werden. Heute ist noch immer die Unart vielfach vorhanden, alles, wenn ich mich trivial aus­drücken darf, über einen Leisten zu schlagen. Wenn heute einer eine politische Theorie hat, so bildet er ungefähr nach dieser politischen Theorie auch alles andere aus, Weltanschauungen und so weiter. Wenn heute einer philosophische Anschauungen hat, so verwendet er sie auch als Politik und so weiter, schlägt alles über einen Leisten, und zwar über denjenigen gerade, den der Betreffende als seinen Lieblingsleisten handhabt. Das ist so in unserer heutigen Zeit. Das Leben ver­läuft differenziert. Illusionsfrei ist nur derjenige Mensch, der weiß, wie das Leben differenziert verläuft. Die Zukunft strebt nicht nach einem Urbrei des Lebens, sondern nach einer starken Gliederung: nach dem geistigen Leben als Wissenschaft, einem gewissen inneren Leben, von dem man sich heute noch wenig eine Vorstellung macht, und das man nach den Gepflogenheiten der alten Zeiten ein religiöses Leben nennen kann, und nach dem politischen Leben. Wirft man die Dinge durcheinander, will man das eine nach dem andern regeln, dann verfällt man in solche Fehler, wie die sind, die ich Ihnen im vorigen Jahre, oder gar vor zwei Jahren, hier einmal charakterisiert habe. Denn die Dinge gehen in getrennten Strömungen: Auf der einen

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Seite das soziale Leben nach dem Sozialismus, auf der andern Seite das religiöse Leben nach der Gedankenfreiheit, und das wissenschaft­liche Leben nach der Pneumatologie, nach der Geist-Erkenntnis. Nur in dem lebendigen Zusammenwirken der drei wird die Zukunft eine gewisse Heilkraft für die menschliche Entwickelung haben, nicht ein Paradies auf Erden, das gibt es nicht, aber eine gewisse Heilkraft. Aber gar nicht gut wäre, wenn man etwa das äußere Leben pneu­matologisch vorstellte, religiöse Sekten gründen will, diese mit pneu­matologischem Leben durchziehen wollte, also Politik treiben würde vom Standpunkte der Pneumatologie. Das würde nichts sein. Ebenso würde es nichts sein, wenn man im alten Sinne in Religionsgemeinschaften Politik treiben würde. So wenig die Hände das verrichten können, was das Haupt des Menschen verrichten kann, so wenig die Beine das verrichten können, so wenig kann Pneumatologie dasjenige leisten, was Sozialismus leisten soll, oder Religion dasjenige leisten, was der Sozialismus leisten soll, oder was Pneumatologie leisten soll. Auf Differenzierung gewisser Dinge, aber jetzt nicht theoretisch bloß, sondern auf Differenzierung im Leben von gewissen Dingen kommt es an. Und das ist dasjenige, wonät ich diese Betrachtungen heute schließen und morgen fortsetzen will. Sie sollen ja, wie gesagt, nur aphoristisch sein, sollen einiges Neue beibringen zu den Grundfragen, die uns jetzt beschäftigen.

Worte im Anschluß an den Vortrag siehe Hinweise am Schluß des Bandes.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 14. September 1918

Es sind mir in der Gegenwart Mystiker bekanntgeworden, welche versuchten, sich über das Wesen des Menschen in folgender Art auf­zuklären. Ich will das Resultat, zu dem sie gekommen zu sein glauben, anführen. Sie sagen etwa so: Wenn man den Menschen, so wie er auf der Erde wandelt, betrachtet, ist sein ganzes Dasein eine Art Rätsel. Er ragt mit seinem Seelensein ganz gewaltig über dasjenige hinaus, was er imstande ist, in seinem gesamten Menschsein darzustellen, sich selber gewissermaßen zu offenbaren in dem Ausleben des Wechselver­hältnisses zu andern Menschen. Daher müsse man annehmen - so meinen solche Mystiker -, daß der Mensch eigentlich seinem Wesen nach etwas ganz anderes sei, als was er hier in seinem Erdenwandel er­scheint. Er müsse ein umfassendes kosmisches Wesen sein, das eigent­lich seiner inneren Natur nach viel, viel mächtiger sei, als dasjenige, was sich hier auf Erden in einem darstelle; er müsse durch irgendwelche Gründe sich verscherzt haben das Leben im großen Kosmos und müsse hereingebannt sein in dieses Erdendasein - so sagte mir wörtlich zum Beispiel ein mystischer Anhänger dieser Richtung -, um hier die Bescheidenheit zu lernen, um hier zu lernen, sich zu bescheiden, um hier auch einmal sich klein zu fühlen, während er in Wahrheit ein großes, mächtiges kosmisches Wesen sei, das aber in irgendeiner Weise sich unwürdig gemacht habe, dieses kosmische Wesen aus­zuleben.

Ich weiß, daß es sehr viele Menschen gibt, die über eine solche Idee bloß lachen. Aber derjenige, der von tieferen Gesichtspunkten aus das Leben versteht, weiß, daß auch solch eine mystische Idee schließlich der großen Schwierigkeit entspringt, das Lebensrätsel zu lösen, welche Schwierigkeit der Menschenseele immer schärfer und schärfer sich aufdrängt, gerade je mehr sich diese Menschenseele in die wahre Wirklichkeit zu vertiefen sucht. Ich will selbstverständlich nichts irgendwie Geartetes anführen für diese eben charakterisierte Idee einer heutigen mystischen Richtung. Ich wollte sie nur anführen als etwas,

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was eben auch in Menschenseelen als Begriff Platz gefunden hat. Man könnte ja ebensogut ein Dutzend anderer, mehr oder weniger philo­sophischer oder mystischer Lösungen des Menschenrätsels in ab­stracto anführen.

Wenn man dann versucht, darauf zu kommen, was dem zugrunde liegt, daß die verschiedensten Menschen in solch verschiedener Weise, manchmal in recht ausgefallener Art sich klarzuwerden versuchen, was es eigentlich mit dem Menschen hier in seinem Erdensein für eine Bewandtnis habe, so kommt man zu Verschiedenem. Vor allen Dingen kommt man darauf, daß gerade mit Bezug auf die großen, realen Fragen des Daseins die Menschen eines für sich nicht erfüllen wollen, was sie im Kleinen ganz gewiß bei jeder möglichen täglichen Gelegen­heit zugeben: Bei jeder möglichen täglichen Gelegenheit wird der Mensch zugeben, daß man durch seine Wünsche sich nicht die Wahr­heit vernebeln soll, daß dasjenige, wovon man wünscht, es sei wahr, nicht maßgebend sein kann für die Objektivität der Wahrheit. Im ge­wöhnlichen Leben, im Kleinen, wird das der Mensch ohne weiteres zugeben; im Großen sehen wir gewissermaßen die Unmöglichkeit der Menschen, zu einer wirklichkeitsgemäßen Weltanschauung zu kom­men, gerade darinnen, daß die Menschen nicht umhin können, ihre Wünsche geltend zu machen, wenn es sich um die Ergreifung der Wahrheit handelt. Und meistens spielen ja die große Rolle gerade solche Wünsche, die man unbewußte Wünsche nennen könnte, von denen der Mensch gar nicht zugibt, daß sie Wünsche in seiner Seele sind. Doch sind diese Wünsche in der Seele vorhanden; sie bleiben unterbewußt oder unbewußt. Und gerade das wäre die Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Schulung, solche Wünsche, die unbewußt bleiben, sich zum Bewußtsein zu bringen, um sich über das illusionäre Leben hinauszuwinden und in die Sphäre der Wahrheit einzudringen.

Solche unbewußten Wünsche, sie spielen insbesondere dann eine Rolle, wenn im Inneren des Menschen die höchsten Lebenswahrheiten sich geltend machen sollen, die Lebenswahrheiten über das Wesen des menschlichen Lebens selbst, sagen wir jetzt dieses gewöhnlichen menschlichen Lebens, wie es in der physischen Welt verläuft zwischen Geburt und Tod. Eine wirkliche, sachgemäße, wirklichkeitsgemäße

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Betrachtung muß stets auf den ganzen Verlauf des Lebens sehen, wenn das Leben verstanden sein will. Und denken Sie sich den Fall, eine solche wirklichkeitsgemäße Betrachtung des Lebens gäbe ein Resultat, das der Mensch, wenn auch in unterbewußten Wünschen, ganz und gar nicht wünschte: Dann würde der Mensch alles tun, um durch scheinbare Logik über ein unbequemes Ergebnis hinwegzukommen.

Nicht wahr, es spricht ja im Grunde genommen zunächst, wenn man nur das Erdenleben betrachtet, nichts gerade dafür, daß die Wahrheit den menschlichen Wünschen entsprechen muß, auch wenn die Wünsche unbewußte sind. Es könnte immerhin so sein, daß die Wahrheit auch über das menschliche Leben ganz und gar nichts An­genehmes ist.

Geisteswissenschaftliche Betrachtung zeigt, daß das nun wirklich so ist. Freilich, es läßt sich ein höherer Gesichtspunkt finden, von dem aus die Sache vielleicht wiederum anders erscheint. Aber für das Leben, das der Mensch gerne führen möchte auf dieser Erde, stellt sich die Sache bei wahrhaftiger Betrachtung schon so, daß gerade die Wahrheit über den Menschen so ist, daß die meisten Bequemlinge des Lebens ein leises Gruseln - wenn auch unterbewußtes Gruseln, Sie werden aber verstehen, was ich meine -, ein leises unbewußtes, manchmal sehr starkes unterbewußtes Gruseln empfinden. Es muß aber dann das ganze Menschenleben betrachtet werden.

Wir wissen, daß dieses ganze Menschenleben, genau und objektiv betrachtet, in verschiedene Perioden zerfällt. Sie können von diesen Perioden lesen in meinem kleinen Büchelchen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft». Wir wissen, daß man den Menschen nur versteht, wenn man das Leben betrachtet zunächst von der Geburt bis zum Zahnwechsel, von dem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife, von der Geschlechtsreife bis zum Anfang der Zwanzigerjahte, sagen wir im Mittel bis zum einundzwanzigsten Jahre; dann wiederum bis zum achtundzwanzigsten Jahre. Man kann das Leben des Menschen so verstehen, wie man irgend etwas natur­wissenschaftlich zu verstehen sucht, wenn man eingeht auf diese Periodizität des menschlichen Lebens von sieben zu sieben Jahren.

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In jeder dieser Perioden spielt sich im menschlichen Leben Bedeut­sames ab. Nach dem, was wir gestern wieder angeführt haben, wissen Sie, daß der Mensch dasteht im Leben, sich einordnend in den Kos­mos - ich habe Sie an das Bild von der Magnetnadel gestern erinnert -, so daß zum Beispiel seine Hauptesformation weit, weit in urferne Ver­gangenheit, seine Extremitätenformation in ferne Zukunft weist, so wie die Magnetnadel mit einem Pol nach Norden, mit dem andern Pol nach Süden weist.

Diese Zuordnung zum Kosmos, sie ist aber anders in jeder einzelnen der menschlichen Hauptperioden. In jeder einzelnen der menschlichen Hauptperioden greifen andere Kräfte in die Menschheitsorganisation ein. In unseren ersten sieben Lebensjahren waltet im Grunde genom­men ganz etwas anderes in uns, als in den zweiten sieben Lebensjahren. Alles das, was im siebenten Jahre ungefähr dadurch zum Ausdrucke kommt, daß sich, man möchte sagen, wie an einem Ufer das ganze Wachstum staut, indem es die bleibenden Zähne herausstaut, das alles, was da staut im Vorstoßen der bleibenden Zähne, das spielt aus den Kräften des Kosmos heraus in den ersten sieben Lebens­jahren. Und wiederum ist etwas da, was der Mensch zurücknimmt in seiner Bildung. Dasjenige, was der Mensch zurücknimmt in seiner Bildung, indem er geschlechtsreif wird, das, womit er sich da, ich möchte sagen, tingiert, es bildet sich dadurch, daß gewisse Entwicke­lungskräfte, die durchaus im Kosmos begründet sind, sich in der zweiten Lebensepoche ausbilden und so weiter.

Nun ist die Sache aber so, daß man sagen muß: Im ganzen Menschen stehen die verschiedenen Glieder doch in Wechselwirkung. Das Kind bis zum Zahnwechsel, es entwickelt auch eine gewisse psychische Tätigkeit; und diese psychische Tätigkeit ist gerade in diesen ersten Lebensjahren außerordentlich wichtig. Ich erinnere nur an den wahr­haftig weisen Ausspruch Jean Pauls, der gesagt hat, daß man im Be­ginne seines Lebens von seiner Amme zweifellos mehr für das Leben lernt, als von seinen sämtlichen Professoren in den akademischen Jahren. In diesem Ausspruch ist schon irgend etwas sehr Weises, etwas sehr Richtiges. Man muß nur die Dinge in der richtigen Weise einschätzen. Man lernt vieles in diesen ersten sieben Lebensjahren,

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nur bleibt das Erlernte gewissermaßen intellektuell und auch sonst in der Dumpfheit des Seelenlebens, das noch fast ein körperhaftes Leben ist, drunten. Aber lesen Sie nur einmal nach in meinem Bücheichen «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», so werden Sie sehen, daß man dieses Leben, das da das Kind in den ersten sieben Lebensjahren entfaltet, auch anders bewerten kann, als man das gewöhnlich tut. In diesen ersten sieben Jahren waltet wirklich nicht ge­ringe Weisheit im menschlichen Organismus. Wenn das Kind - wie der Bourgeoisausdruck lautet - «das Licht der Welt» erblickt hat, ist sein Gehirn noch ziemlich undifferenziert. Es differenziert sich erst im Laufe der Zeit, und dasjenige, was da an Gehirnstrukturen auftritt, das entspricht wahrhaftig, wenn man es studiert, den Einflüssen einer tieferen Weisheit als alles, was wir im späteren Leben, wenn wir Maschinen konstruieren oder irgend etwas wissenschaftlich treiben, an Weisheit aufbringen können. Wir können das natürlich nicht später in bewußter Weise, was wir unbewußt vollbringen, wenn wir eben erst, wie gesagt, das Licht der Welt erblickt haben. Da waltet kosmische Vernunft in uns, jene kosmische Vernunft, von der wir auch sprechen mußten, als wir die Entwickelung der Sprache anführten. Wahrhaftig, eine hohe kosmische Vernunft waltet in dem Menschen in den ersten sieben Lebensjahren.

Diese kosmische Vernunft richtet sich dann in den Zweiten sieben Lebensjahren darauf, den Menschen zu tingieren mit dem, was zur Sexualreife führt; da waltet sie, diese kosmische Intellektualität, in einem geringen Maße schon. Man möchte sagen: Dasjenige, was da bleibt, was nicht im Inneren verwendet wird, ja, das steigt halt in den Kopf herauf. Der bekommt so etwas ab - es ist ja meistens auch da­nach! Aber dasjenige, was da der Kopf abbekommt, das ist eigentlich etwas, was im Inneren des Menschen, im Unbewußten des Seelen­lebens, erspart wird. Und dann geht es weiter in den siebenjährigen Perioden.

Nun studiert man heute gewöhnlich das ganze Menschenleben, das sogenannte normale Menschenleben nicht; denn um dieses normale Menschenleben zu studieren, ist eine gewisse Hingabe notwendig, erst an den wahren Menschen selbst, dann aber auch an die großen kosmischen

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Gesetzmäßigkeiten. Und so kurios es klingt, dasjenige, was in den ersten Kinderjahren, in den ersten sieben Jahren in dem Men­schen waltet, man kann es nicht verstehen, selbstverständlich nicht als Kind, auch nicht als Jüngling oder Jungfrau, auch nicht, wenn man sich schon einbildet, das ganze Leben zu fassen, in den Zwanzigerjahren. Man kann es nicht verstehen. Man kann zu einlgem Verständ­nis kommen von dem, was sich in der Kindheit abspielt, wenn man dieses Verständnis innerlich im Menschen, in innerlichem Erleben sucht, so etwa zwischen seinem sechsundfünfzigsten und dreiund-sechzig sten Lebensjahre. Das höchste Alter, das Greisenalter, gibt uns erst die Möglichkeit, einen geringen Einblick zu bekommen in das­jenige, was in uns waltet in den ersten sieben Kinderjahren. Das ist eine unbequeme Sache; denn der Mensch will heute, wenn er kaum den jungen Dachsjahren entwachsen ist, ein Vollmensch sein. Und unbequem ist es heute, sich zu gestehen, daß es hier auf der Welt etwas gibt, sogar an einem selbst etwas gibt, wozu, um es zu ver­stehen, man die Wende der Fünfzigerjahre erreichen muß. Und wiederum, wenn es sich um Verständnis handelt, um innerlich-menschliches Verständnis, wie wir es zunächst als Mensch erringen können, so kann man von demjenigen, was in den Jahren, in denen sich die Ge­schlechtsreife ausbildet, also sich vom siebenten bis zum vierzehnten Lebensjahre in der Menschennatur abspielt, einiges verstehen lernen so zwischen dem neunundvierzigsten und sechsundfünfzigsten Jahre, im Beginn der Fünfzigerjahre.

Es wäre nun gut, wenn solche Wahrheiten Geltung gewännen, denn durch solche Wahrheiten würde man eben das Leben verstehen lernen, während die andern Wahrheiten, die man gewöhnlich über den Menschen aufstellt, solche sind, wie man sie wünscht. Man merkt das nur nicht, daß unbewußte Wünsche da sind. Und wiederum, das­jenige, was sich in uns abspielt von der Geschlechtsreife bis zum ein­undzwanzigsten Jahre, darüber bekommt man einigen innerlichen, erlebten Aufschluß, so daß man ein gewisses Urteil darüber haben kann, zwischen dem zweiundvierzigsten und neunundvierzigsten Lebensjahr, und wiederum, was sich in den Zwanzigerjahren bis zum achtundzwanzigsten Jahre abspielt, darüber kann man einigen Aufschluß

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bekommen zwischen dem fünfunddreißigsten und zweiundvierzigsten Lebensjahr. Das, was ich in bezug auf diese Dinge sage, das beruht auf wirklicher Lebensbeobachtung, die man machen muß, indem man sich in die geisteswissenschaftliche Beobachtung einarbeitet, und nicht jenen Firlefanz von Selbsterkenntnis treibt, der heute oftmals Selbsterkenntnis genannt wird, sondern wirkliche Selbsterkenntnis, das heißt, Menschenerkenntnis treibt. Und just nur in der Zeit vom achtundzwanzigsten bis fünfunddreißigsten Jahre ungefähr kann man etwas erleben, was man gleichzeitig, indem man es erlebt, auch verstehen kann; da ist ein gewisses Gleichgewicht zwi­schen Verstehen und Denken. In der ersten Hälfte des Lebens kann man Verschiedenes denken, kann man Verschiedenes vorstellen; um das verständnisvoll zu erleben, was man in der ersten Hälfte des Lebens vorstellen kann, muß man die zweite Hälfte des Lebens ab­warten.

Es ist eine unbequeme Wahrheit, aber es ist so im Leben. Ich kann mir sogar Menschen denken, die sagen: Ja, wenn der Mensch in seiner ganzen inneren Gesetzmäßigkeit so abgezirkelt ist, wo bleibt denn da der freie Wille des Menschen? Wo bleibt die Freiheit? Wo bleibt das Bewußtsein vom Menschtum? - Gewiß, ich kann mir auch vorstellen, daß jemand sich unfrei empfindet aus dem Grunde, weil er nicht gleichzeitig in Europa und in Amerika sein kann, daß jemand sich unfrei empfindet, weil er den Mond nicht herablangen kann. Aber nach den menschlichen Wünschen richten sich eben die Tatsachen nicht, sondern auch da, wo es sich darum handelt, daß der Mensch über sich selber Aufschluß gewinne, auch da ist es notwendig, daß die Tatsachen ins Auge gefaßt werden. Diese Tatsachen liegen so: Wir leben nicht umsonst ein sich modifizierendes, ein sich metamor­phosierendes Leben. Wir leben dieses Leben so, daß jede Lebensperiode im Verhältnis zu anderen ihren Sinn und ihre Bedeutung hat. Und dazu leben wir, wie wir sagen, das normale Leben, wenn uns ein solches gegönnt ist, bis in die Sechzigerjahre hinein - über das frühe Sterben werden wir auch von diesem Gesichtspunkte aus morgen noch reden -, daß sich uns in einer gewissen Weise erst in der zweiten Lebenshälfte aufklärt, was in der ersten Lebenshälfte in uns waltet.

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Der Mensch würde viel sicherer und richtiger sich in der Welt orientieren können, wenn diese Erkenntnis des Lebens etwas Platz greifen würde. Denn dann würde er auf einem wahren Lebensgrund bauen, während man heute vielfach, weil man sich nicht nach der Objektivität, sondern nach den Wünschen richtet, eben einfach daran testhält: Nun ja, bis in die Zwanzigerjahre muß man ja etwas lernen, aber nachher ist man ein fertiger Mensch, dann ist man reif zu einem jeglichen im Leben. Dadurch übersieht man ganz und gar die inneren Zusammenhalte des Lebens. Das Leben kennenzulernen, ist eben wirklich eine innere Aufgabe. Und man darf, gerade wenn es sich um diese intime Aufgabe handelt, nicht außer acht lassen, daß Wünsche schweigen müssen, und daß die Objektivität in Betracht gezogen wer­den muß.

Nun stellt sich ein gewisser Ausgleich ein im Laufe der mensch­lichen Evolution. In früheren Zeiten war die Sache ganz anders, dar­über habe ich schon vorgetragen: Sie erinnern sich, wie ich von der menschilchen Entwickelung von der atlantischen Zeit bis heute, von dem Immer-jünger-Werden der Menschheit gesprochen habe. Ein ge­wisser Ausgleich ist dadurch eingetreten, daß im Laufe der Evolution sich herausgestellt hat, daß das eine Element verwandt wurde mit dem andern. Wenn das nicht eingetreten wäre, dann müßte man im Leben einfach die Sache so halten: Wer erst in den Zwanzigerjahren ist, müßte gewisse Dinge, die sich auf Wahrheiten in dem Menschen be­ziehen, die man erst in den Vierzigerjahren so lebendig ergreifen kann, wie ich es jetzt charakterisiert habe, dem Vierzigjährigen glauben. So ist es nicht ganz, sondern im Laufe der Menschheitsentwickelung sind die Begriffe selbst, die Vorstellungen solche geworden, daß man eine gewisse empfindungsgemäße Überzeugung haben kann in dem einen Lebensalter von dem andern. Wenn man genügend Hingabe hat, um von den Vierzigjährigen und Fünfzigjährigen die Lebenserfahrungen sich sagen zu lassen, vorausgesetzt selbstverständlich, daß sie welche gemacht haben, heute machen die Menschen meistens keine, läßt man sich diese Lebenserfahrungen sagen, wenn man noch jünger ist, so ist man heute doch nicht auf bloßen Autoritätsglauben angewiesen, das ist schon durch die Entwickelung so geworden; sondern indem

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man dann denkt - man kann als junger Mensch nur denken -, liegt in der Art und in dem Charakter, welche die Gedanken angenommen haben, mehr als das, was bloß an den Glauben appelliert, es liegt darinnen schon eine gewisse Möglichkeit, auch einzusehen. Man müßte sonst sagen: In der Jugend denkt der Mensch, im Alter be­greift er. Aber es liegt schon darin etwas, was einem mehr als eine Glaubensüberzeugung, eine bloße autoritative Überzeugung beibringen kann. Das gibt einen gewissen Ausgleich.

Aber nehmen Sie das, was ich gesagt habe, als Lebenswahrheit auf. Wenn Sie das als Lebenswahrheit nehmen, so wird es Ihnen ein Licht werfen auf die Lebenspraxis. Denken Sie doch einmal, wenn das, was ich sagte, im Leben da ist, wenn es gedacht und gefühlt und empfun­den wird von Menschen, wie sich das im Verhältnis der Menschen ausdrückt! Wie es gewissermaßen bindende Glieder schafft von Seele zu Seele! Der Mensch, der noch jung ist, sieht auf den alten in einer besonderen Weise hin, wenn er weiß: Der kann etwas erleben, was im Verhältnis zu ihm, der bloß denken kann, ein Begreifen des Ge­dachten ist. Man ist in einer ganz andern Weise interessiert für die Mitteilungen, die einem ein Mensch in einem andern Lebensalter machen kann, wenn man in einer solchen Weise das Leben versteht. Und man bewahrt sich wiederum sein Interesse, auch wenn man ein höheres Lebensalter errungen hat, für dasjenige, was als jüngere Leute, sogar als Kinder herumwimmelt. Sie erinnern sich, wie oft ich den Ausspruch getan habe: Der Weiseste kann von dem kleinen Kinde lernen! - Gewiß, gerade der Weiseste wird gern und liebevoll von dem kleinen Kinde lernen. Wenn er sich auch nicht gerade unter­richten lassen will über Moral oder sonstige Lebensanschauungen von dem kleinen Kinde, so würde er sich von dem Kinde unendlich viel Weisheit holen können gerade in bezug auf kosmische Geheimnisse, die sich in dem kleinen Kinde noch ganz anders ausleben als im späteren Menschen. Das Interesse, das von Seele zu Seele waltet, ver­größert sich ganz wesentlich, wenn solche Dinge nicht bloß abstrakte Theorien sind, sondern wenn solche Dinge Lebensweisheiten sind.

Wirkliche Geisteswissenschaft hat schon einmal die Eigentümlich­keit, daß sie die Bande der Liebe, welche im wesentlichen auf den

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Banden des gegenseitigen Interesses beruhen müssen, das die Men­schen aneinander haben, verstärkt, erhöht, erkraftet. Gewöhnliche Verstandesweisheit kann den Menschen trocken lassen, so trocken, wie mancher Gelehrte ist. Geisteswissenschaft, wirklich in ihrer Substanz erfaßt, kann den Menschen nicht trocken lassen, sondern wird unter allen Umständen die Menschen lieben lassen, will das gegenseitige menschliche Interesse erkraften und erhöhen.

Ich habe heute vorgehabt, Ihnen eine kleine Anzahl von solchen Dingen zu sagen, die unangenehm für das Leben sind, aber die Wahr­heiten sind, die Tatsachen sind, weil man geisteswissenschaftlich nicht weiterkommt, wenn man sich nicht daran gewöhnt, den Tatsachen, auch wenn sie unbequem sind, kühn ins Auge zu schauen.

Eine andere Tatsache ist diese - es geht das schon aus den gestrigen Betrachtungen hervor -, daß der Intellekt, wie wir ihn erreichen kön­nen im gegenwärtigen Menschheitszyklus, überhaupt nur geeignet ist, Verständnis zu erwecken über einen gewissen Zeitraum hin. Ich beneide eigentlich nicht diejenigen Menschen, die leichten Herzens heute darangehen, den Aeschylos, sogar den Homer, die Psalmen und so weiter zu übersetzen, wahrhaftig, ich beneide diese Menschen nicht! Daß in unserer heutigen Zeit der Glaube existieren kann, ein solches philiströses Geflunker wie die Übersetzungen der griechischen Dramen vom Herrn Wilamowitz gäbe wirklich den Aeschylos oder so etwas wie­der, das ist eben nur ein trauriges Zeichen der Gegenwart. Man kann nicht, sobald es irgendwie ins Große geht, beobachten; man hat oft­mals auch nicht die Geduld, im Kleinen zu beobachten. Es würde gut sein, wenn man geradezu zur Übung versuchte, im Kleinen zu be­obachten. Ich will Ihnen ein Beispiel von einer recht kindlichen, kleinen Sache anführen.

Ich las neulich in diesen internationalen Heften, die hier in der Schweiz erscheinen, einen Aufsatz, worin sich der sozialistische Schriftsteller Kautsky über einen russischen Sozialisten besonders be­klagte, weil dieser russische Sozialist ihn in der fürchterlichsten Weise zitiert hat, so daß geradezu das Gegenteil von dem, was in Kautskys Büchern steht, als die Kautskysche Meinung angeführt wird. Daß irgendeine absichtliche Entstellung des Kautskyschen Textes dabei

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vorlag, war nach der Natur der Sache und nach der Natur der Persön­lichkeiten ziemlich ausgeschlossen. Ich las dann den Aufsatz des Be­treffenden selber, mußte aber auch finden, es sei kurios, was da ange­führt wurde als Kautskysche Meinung. Und noch während ich las, bildete ich mir eine Ansicht darüber, denn es interessierte mich, wie überhaupt so etwas möglich sein konnte; aber ich kam sehr bald, in­dem ich den Aufsatz las, darauf, was geschehen sein mußte, und das bestätigte sich mir auch nachher, weil sich der Betreffende entschul­digte; das aber sah ich erst später. Der Betreffende hat nicht das Kautskysche Buch in deutscher Sprache gelesen, sondern hat es in russischer Übersetzung gelesen, und hat, indem er seinen Aufsatz in Deutsch geschrieben hat, es wieder rückübersetzt. Das also war ge­schehen: Übersetzung aus dem Deutschen ins Russische und Rück­übersetzung. Dabei ist das Gegenteil von dem, was in dem deutschen Buche stand, herausgekommen und zitiert worden!

So viel ist nur notwendig, wenn eine Sache von einer Sprache in eine andere Sprache ganz ehrlich übersetzt wird, so viel nur ist notwendig, um Dinge ins Gegenteil zu verkehren! Dabei braucht es gar nicht mit unrichtigen Dingen zuzugehen, sondern im Grunde genommen nur mit den Grundsätzen, die heute gewöhnlich überhaupt im Übersetzen tätig sind. Es ist eine kleine, kindische Beobachtung, die ich angeführt habe. Aber wer Geduld hat, solche und ähnliche Dinge im Leben zu beobachten, der sollte es eigentlich schon nicht mehr unverständlich finden, wenn man ihm sagt: Den Homer mit dem, was uns heute zur Verfügung steht, so ohne weiteres zu verstehen, ist eine Unmöglich­keit; es ist auch nur ein eingebildetes Verständnis.

Nun, das ist die Außenseite der Sache. Es kommt aber eine wesent­lich innere Seite der Sache. Die Seelenverfassung der Homerischen Zeit war eine so wesentlich andere als die Seelenverfassung des heu­tigen Menschen, daß der heutige Mensch von der Möglichkeit des Homer-Verständnisses auch dadurch weit abliegt. Denn die heutige Seelenverfassung ist so, daß sie wesentlich von der Intellektualität tingiert ist. Das war die Homerische Seelenverfassung nicht. Diese Tingierung kann der Mensch heute nicht ablegen, wenn er in der ge­wöhnlichen alltäglichen Seelenverfassung bleibt. Diese Seelenverfassung

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zwingt den Menschen stärker, als er glaubt, und stärker, als er sich dessen bewußt ist, in abstrakten Begriffen zu leben, in denen Homer ganz und gar nicht lebte. Aber es wird wiederum dem Men­schen schwer, das mit seinen unterbewußten oder unbewußten Wün­schen in Einklang zu bringen, so daß er sich sagt: Ja, mit dem Ver­ständnis, das das Normalverständnis der Gegenwart ist, muß man dar­auf verzichten, so etwas zu verstehen, was der Zeit Homers oder auch nur der Zeit des Aeschylos entstammt. - Dieses Verzichten des Menschen, das ist etwas, was gar sehr den unterbewußten Wünschen nicht entspricht. Da muß die Geisteswissenschaft eintreten, die nicht bei der gewöhnlichen Seelenverfassung bleibt, sondern die eine umfassende Seelenverfassung hervorruft, so daß man sich versetzen kann in Seelenverfassungen, die anderer Art sind als die Normalseelenverfas­sungen der Gegenwart. Mit den geisteswissenschaftlichen Mitteln kann man wiederum in dasjenige eindringen, was mit dem Gegen­wartsverstande, mit der Gegenwartsseelenverfassung nicht zu er­reichen ist. Dieser Verzicht, diese Resignation wäre von ungeheurer Wichtigkeit für den heutigen Menschen, sich zu sagen: Nur über eine gewisse Wegstrecke der Entwickelung der Menschheit reicht das Verständnis, das wir haben können. - Auch mit einem Blick in die Zukunft ist es nicht so ganz unwichtig, sich solche Dinge vorzuhalten.

Sie können heute sich noch so deutlich ausdrücken, noch so klar schreiben oder sprechen, das Gesprochene festhalten, es wird gar nicht allzulange dauern - denn in der nächsten Zukunft gehen die Zeiten schneller, wenn ich mich des paradoxen Ausdrucks bedienen darf, als dies in der Vergangenheit war -, so wird es völlig unmöglich sein, in derselben Weise das, was wir heute sprechen oder schreiben, zu ver­stehen, wie wir es verstehen. Es ist wiederum nur über eine gewisse Spanne in die Zukunft hinein, daß unser Verständnis geeignet ist, das zu verstehen, was wir reden und schreiben. Der Historiker geht auf Urkunden zurück, will sich nur auf äußere Urkunden verlassen. Aber davon hängt es nicht ab, ob man etwas versteht oder nicht, ob Urkun­den da sind oder nicht, sondern ob die Verständnismöglichkeit so weit reicht. Nun, für fernere Zeiten zurück reicht diese Verständnismöglichkeit

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erst recht nicht. Und wenn man dann die Resignation nicht hat, dann kommen Kant-Laplacesche Theorien oder dergleichen her­aus. Darüber habe ich ja öfter schon gesprochen. Was ist schließlich so eine Kant-Laplacesche Theorie anderes als der ohnmächtige Versuch, mit dem Verstande der Gegenwart etwas auszudenken über den Wel­tenursprung, trotzdem sich unser Verständnis, unsere normale Seelen­verfassung von diesem Weltenursprung so weit entfernt hat, daß, was man so mit dem gegenwärtigen Weltenverständnis ausdenkt über die Zeit, die sich decken soll mit der Kant-Laplaceschen Theorie, dem gar nicht mehr ähnlich schauen kann.

Dieses Wissen, daß es nötig ist, zu andern Erkenntnisarten zu grei­fen, wenn man über eine gewisse Zeit und Wegstrecke hinweggeht, das ist es, was Geisteswissenschaft auch erzeugen muß. Über ein ge­wisses Zeitalter zurück kann der Mensch nichts erkennen, wenn er nicht zu geisteswissenschaftlicher Forschung greift, wenn er nicht ver­sucht, mit anderen Sinnen als mit denen, an die der Intellekt gebunden ist, das Dasein zu verstehen. Nun, wenn man dies ins Auge faßt, was ich eben sagte, wird man wohl einsehen, wie eng umrissen der Hori­zont des Gegenwartsmenschen sein muß, wenn er nicht zu anderen Stufen des Forschens, zu anderen Stufen des Erkennens seine Zuflucht nehmen will für diejenigen Dinge, zu denen die gewöhnliche Intellek­tualität, die heute eigentlich das Tonangebende ist, nicht hinreicht, um diese Dinge zu erkennen. Wir wissen, man kann aufsteigen zur imaginativen, zur inspirierten, zur intuitiven Erkenntnis. Diese Er­kenntnisarten führen dann in andere Wegstrecken hinein; sie erst können dasjenige ergänzen, was nur wie eine Insel des Daseins über­schaut werden kann, wenn man sich auf die Gegenwartsseelenverfassung verläßt.

Dasjenige, was die Gegenwartsseelenverfassung umfaßt, ist eigent­lich an das menschliche Ich gebunden; das können Sie ja nachlesen in meiner «Theosophie», «Geheimwissenschaft im Umriß» und so weiter. Aber der Mensch trägt in sich auch andere Glieder seiner Wesenheit, wir wissen: den astralischen Leib, den ätherischen Leib, den physi­schen Leib. Aber seine gewöhnliche heutige Seelenverfassung reicht nicht hinab in den astralischen Leib, nicht in den ätherischen Leib,

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nicht in den physischen Leib. Denn das, was der Anatom von außen erkennt, das ist ja die Außenseite. Das innere Erkennen reicht nicht über das Ich hinaus, geschweige denn etwa über den physischen Leib. Man muß dazu kommen, den Menschen von innen aus verständnisvoll zu verfolgen, und schon jene Lebenserkenntnis, von der ich im An­fang der heutigen Betrachtungen gesprochen habe, ist ein Anfang dieser Innenerkenntnis, schon das, was man in der zweiten Lebens­hälfte begreifen kann, ist ein Anfang, wenn auch ein schwacher Anfang; zum besseren Anfang muß man eben zur Geisteswissenschaft aufsteigen. Wenn man den Menschen innerlich ergreift, so steigt man vom bloßen Intellekt zum Wollen hinunter. Gestern habe ich erwähnt: Das Subjekt des Wollens, der eigentlich Wollende in uns, er bewahrt das kosmische Gedächtnis auf. Man muß also in den Menschen hin­untersteigen. Dasjenige, was der Mensch, wenn er den Willen dazu hätte, bei Entwickelung von normaler Lebensweisheit in der zweiten Lebenshälfte entwickeln könnte, wäre ein Anfang zu diesem Hinuntersteigen. Es würde allerdings nicht über viel, aber es würde über das­jenige aufklären, was der Mensch zum Leben braucht. Steigt er aber dann hinunter mit der entwickelten höheren Erkenntnis, dann er­öffnet sich ihm durch das Hineinsteigen in sein eigenes Wesen das Ge­dächtnis des Kosmos. Dann kommt allerdings etwas anderes heraus als die Kant-Laplacesche Theorie, zum Beispiel nämlich, was wir ge­rade in unserer Physis an uns tragen. Sie wissen, es ist seiner Anlage nach unser Ältestes, geht bis in die vierte zurückliegende Erdeninkarnation zurück. Steigt man da hinunter, so lernt man erkennen, wie diese vierte zurückliegende Erdeninkarnation der Saturnzeit war. Aber man kann lernen aus der gewöhnlichen Lebensweisheit, die sich in der zweiten Lebenshälfte eröffnet, was man zu tun hat, um tiefer und tiefer noch in das Wesen des Menschen hineinzusteigen, der ein Ab­bild ist der Welt, und dadurch, daß er dieses Abbild, sich selbst, er­kennen lernt, die Welt erkennen lernt.

Unterbewußte oder unbewußte Wünsche sind es zumeist, die den Menschen beherrschen, wenn er leichten Herzens oder in voller Be­quemlichkeit so etwas ausdenkt, wovon er sich eigentlich sagen müßte, daß es seinem Ausdenken nicht zugänglich ist, wie etwa die Kant-Laplacesche

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Theorie oder ähnliches. Und damit berühren wir wiederum - wir müssen uns, ich möchte sagen, in Kreisen unseren Aufgaben nähern - dasjenige, was den Menschen der Gegenwart hindert, die Brücke zu bauen zwischen der Idealität und der Realität, was uns ja jetzt sehr beschäftigt.

Über diese Dinge hinwegzukommen, waren die nach Weltanschau­ung suchenden Menschen der verschiedensten Zeiten bemüht. Aber es ist schwierig, über diese Dinge vollständig zur Klarheit zu kommen, eben deswegen, weil es unbequem ist, weil man sich nicht gerne den wirklichen Tatsachen nähert. In unserer Zeit ist es ja üblich geworden, ich möchte sagen, überall die Hälfte der Sache anzuerkennen, die an­dere Hälfte nicht. Dafür ein geradezu klassisches Beispiel: Karl Marx sagt einmal, die Philosophen hätten sich bisher nur bemüht, mit ihren Begriffen die Welt zu interpretieren; es käme aber darauf an, die Welt zu verändern, man müsse wirklich Gedanken finden, durch welche die Welt verändert wird. - Das erste ist absolut richtig. Die Philosophen haben sich bemüht, insoferne sie Philosophen sind, die Welt zu inter­pretieren, und wenn sie ein bißchen gescheit waren, so haben sie gar nicht geglaubt, daß sie etwas anderes können, als die Welt interpre­tieren. Nur just das Urbild alles philosophischen Philisteriums, der Wilhelm Traugott Krug, der von 1809 bis 1834 in Leipzig gewirkt hat und von der Fundamentalphilosophie an bis zu den höchsten Stufen der Philosophie eine Menge Bücher geschrieben hat, hat von den Hegel-Philosophen verlangt, sie sollen nicht nur Begriffe, sondern auch einmal die Entwickelung der Schreibfeder deduzieren - worüber Hegel sehr fuchtig geworden ist. Aber auch auf diesem Gebiete ist die Resignation notwendig, die da sagt: Gewiß, wir Menschen sind be­rufen, als ganze Menschen die Welt zu verändern, insoferne die Welt aus Menschenleben besteht. Aber dasjenige Denken, was das Denken der Gegenwart ist, ist eben nicht befähigt, diese Veränderung hervor­zurufen. Da muß man die Resignation haben, sich zu sagen: Dieses Denken, das der Mensch der Gegenwart hat, das so glorios ausreicht, das wirklich ganz geeignet ist, die Natur zu verstehen, dieses Denken ist völlig ungeeignet, da etwas zu erreichen, wo es sich darum handelt, daß wirken soll das Wollen.

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Das ist aber eine unbequeme Wahrheit. Denn wenn man das durch­schaut, sagt man nicht mehr: Die Philosophen haben sich bisher be­müht, die Welt zu interpretieren, es kommt aber darauf an, die Welt zu verändern - und hat den geheimen Glauben, daß man durch irgendeine Dialektik etwas dazu beitragen könne; sondern man sagt sich: Die Philosophen haben eben deshalb, weil die Philosophen die Dinge anführen können, nur zum Interpretieren ausgereicht. Bei der Natur genügt es, wenn wir sie bloß interpretieren, denn die Natur ist - man möchte sagen: Gott sei Dank - ohne uns da, und wir können uns damit begnügen, sie zu interpretieren. Das soziale, das politische Leben, das ist nicht so ohne uns da, und da können wir uns nicht be­gnügen, es bloß aufzufassen mit solchen Begriffen, die nur geeignet sind, das Leben zu interpretieren und es nicht zu gestalten. Da ist es schon notwendig, daß man von dem bloßen Theoretisieren, das ja zu­meist in Halluzinationen besteht, wie ich gestern ausgeführt habe, und das so richtig das Steckenpferd der Gegenwart ist, aufsteigt zum Leben der Wirklichkeit. Und das Leben der Wirklichkeit in den Tatsachen fordert, daß man nicht so geradlinig es nehme, dieses Leben, wie man gewohnt ist, es zu nehmen. Gewiß, Vorstellungen, die ein Mensch dem andern übermittelt, führen zu etwas; aber sie führen nicht immer zu dem gleichen. Absolute Wahrheiten gibt es ebensowenig wie ab­solute Tatsachen, und absolute Tatsachen ebensowenig wie absolute Wahrheiten. Alles ist relativ. Und wie eine Sache, die ich ausspreche, wirkt, darüber entscheidet nicht bloß, ob ich die Sache für wahr halte oder nicht, sondern darüber entscheidet, wie die Menschen in einem bestimmten Zeitalter sind, wie sie darauf, wenn ich mich des Aus­drucks bedienen darf, reagieren. Ich will Ihnen einen bedeutsamen Fall anführen, der sehr wichtig zu beachten ist.

Wenn man ungefähr vor das 14. Jahrhundert der christlichen Zeit­rechnung zurückgeht, so konnte man vor jenem Jahrhundert den Leuten Mystik vortragen. Dazumal hatten mystische Begriffe noch die Stoßkraft, daß sie auf Leute erzieherisch, impulsierend wirkten. Die orientalische Bevölkerung Asiens, die indische, japanische, chinesische, die hat diese Eigenschaften noch vielfach aufbewahrt, weil ältere Eigenschaften von gewissen Gliedern der Menschheit in späteren

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Zeiten bewahrt werden. Man kann in der Gegenwart noch manches studieren, was bei den europäischen Bevölkerungen in früheren Zeiten auch der Fall war; aber die ganze Seelenverfassung der Menschheit hat sich geändert. Und wer heute zum Beispiel Mystik tradiert, Mystik vor­trägt, der muß sich darüber klar sein, daß immer mehr und mehr das Zeitalter heranrückt, wo man, indem man Mystik, richtige Mystik - Meister Eckartsche, Taulersche Mystik und dergleichen - den Leuten übermittelt, man durch die Art, wie sie darauf reagieren, dasjenige ihnen beibringt, was Luzifer aus dem Menschen nur so herauslockt, was sie zu Zank und Streit bringt. Und es kann durchaus sein, daß man durch nichts besser irgendeine Sekte präparieren kann für Zank und Streit, für Uneinigkeit, für gegenseitiges Geschimpfe, als wenn man ihr mystisch fromme Reden hält. Nun, geradlinig verstanden, scheint das geradezu eine Unmöglichkeit; aber es ist eine Tatsachenwahrheit. Es ist eine Tatsachenwahrheit, denn es kommt nicht allein auf den In­halt dessen an, was man sagt, sondern auf die Art und Weise, wie der Mensch reagiert auf die Dinge. Und man muß die Welt kennen. Und man muß vor allen Dingen nicht nach seinen Wünschen seine An­schauungen einrichten.

Ich kann da immer wieder an jenes Gespräch erinnern, das ich ein­mal in einer süddeutschen Stadt hatte mit zwei katholischen Priestern, die in meinem Vortrage waren, welchen ich dazumal über Bibel und Weisheit gehalten habe. Die zwei katholischen Priester konnten eigent­lich nichts Rechtes einwenden. Der Vortrag enthielt gerade Dinge, wo sie nichts Rechtes hahen einwenden können. Nun können aber Prie­ster, auch wenn sie nichts einwenden können, so etwas natürlich nicht gelten lassen; sie müssen also etwas einwenden. Da sagten sie: Ja, dem Inhalte nach könnten wir ja das, was Sie gesagt haben, ungefähr auch sagen. Aber das, was wir sagen, sagen wir so, daß es jeder Mensch ver­stehen kann; Sie sagen es doch nur für eine gewisse Anzahl von Men­schen, die eine gewisse Bildung haben, und dasjenige, was man vor­bringt für die Menschen, das muß für alle verständlich sein. - Darauf sagte ich ihnen: Ja, sehen Sie, wovon Sie glauben, daß es allen Men­schen verständlich ist, und was ich darüber glaube, darauf kommt es nicht an. Auf unsere theoretischen Anschauungen über dieses, was die

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Menschen verstehen, kommt es nicht an, sondern auf das Studium der Wirklichkeit kommt es an. Und da können Sie ja selber leicht eine Wirklichkeitsprobe machen. Ich frage Sie: Wenn Sie nun diese Me­thoden anwenden und heute in Ihrer Kirche das vorbringen in der Art, wie Sie glauben, daß es allen Menschen verständlich ist - gehen alle Menschen zu Ihnen in die Kirche, oder bleiben heute nicht schon manche draußen? Daß manche draußen bleiben, das ist viel wichtiger, als daß Sie glauben, Sie reden für alle Menschen. Denn das ist die Wirklichkeit, daß da schon einzelne draußen bleiben. Daß Sie glauben, Sie reden für alle Menschen, das ist Ihr Glaube. Und für diejenigen, die nicht mehr zu Ihnen in die Kirche gehen, für die rede ich, weil ich die Meinung habe, daß man sich der Wirklichkeit zu fügen hat, und daß man zu denen auch reden kann, die nicht mehr in die Kirche gehen, und die doch den Weg in die geistigen Welten zu suchen be­rechtigt sind. - Da ist an einem trivialen Beispiel der Unterschied be­leuchtet, wie man wirklichkeitsgemäß denkt, sich seine Ansichten von der Wirklichkeit diktieren läßt, und wie die meisten Menschen das, was sie eben gerade sich ausspintisieren und ausdenken und auswün­schen, zu wissen glauben und dann darauf schwören. Der Wirklich­keitsforscher ist sogar jederzeit bereit, irgend etwas, was er für richtig hält, wieder abzulegen, und wenn die Tatsachen ihn belehren, zu einer andern Gedankenrichtung zu kommen, weil die Wirklichkeit nicht so geradlinig ist, wie die Menschen sie wünschen.

Und so kann es also durchaus sein und wird immer mehr und mehr der Fall sein - das ist die Tendenz der Entwickelung der menschlichen Natur -, daß man, während man die frömmste Mystik, die innigste Mystik einer Sekte beibringen will, die Menschen dieser Sekte immer zänkischer und zänklscher werden. Aber ebensowenig geht es, ein­seitig naturwissenschaftliche Anschauungen den Menschen beizubrin­gen. Um naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, braucht man viel Scharfsinn, und Sie wissen: Ich bin durchaus nicht geneigt, irgendwie jemandem nachzustehen in der vollen Anerkennung der naturwissenschaftlichen Wahrheiten. Aber die Tatsache besteht auch:

Wenn man der Welt nur naturwissenschaftliche Wahrheiten oder naturwissenschaftlich geartete Wahrheiten beibringen würde, so

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würde dieser Scharfsinn, der dazu aufgewendet wird, naturwissen­schaftliche Wahrheiten zu finden, wesentlich dazu beitragen, die Men­schen zur Unfreiheit zu verdammen. So wie einseitige Mystik immer mehr und mehr in Zank und Streit führen würde, würde einseitige Naturwissenschaft im Sinne der heutigen Zeit die Menschen zur inner­lichen Unfreiheit, zur innerlichen Gebundenheit bringen. Sie sehen also, es ist vollständig erwogen, wenn die Geisteswissenschaft sich be­müht, weder einseitig mystisch zu sein, noch einseitig naturwissen­schaftlich zu sein, sondern ohne Unterschätzung oder Überschätzung des einzelnen einem jeden gerecht wird, aber von der Dualität zur Trinität vorbereitet. Nicht das Entweder-Oder, sondern das Sowohl-als-Auch, Beleuchtung des einen durch das andere, das ist dasjenige, wozu die Geisteswissenschaft von selber führt. Es ist zum Beispiel auch immer vom Übel, wenn ein rein naturwissenschaftlich gesinnter Mensch über die Mystik schimpft; denn das, was er sagt, wird in der Regel dummes Zeug sein. Aber es ist ebenso in der Regel dum­mes Zeug, wenn ein rein mystischer Mensch, der nichts weiß von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, über die Naturwissenschaft schimpft. Über die Mystik schimpfen - wenn ich so variieren will -, sollte sich eigentlich nur ein Mystiker gestatten, und über Naturwis­senschaft schimpfen da und dort, sollte sich nur einer gestatten, der Naturwissenschaft kennt. Dann werden seine Dinge schon so sein, wie er sagt, da sie richtig abgewogen werden. Aber immer wird es vom Übel sein, wenn über Naturwissenschaft abgesprochen wird von einem, der nichts davon versteht und der vielleicht glaubt, ein großer Mystiker zu sein, oder wenn ein Naturforscher von Mystik nichts versteht und über die Mystik aburteilt. Auf geisteswissenschaftlichem Boden ist oft und oft gesagt worden: Gewisse Wahrheiten müssen den Men­schen paradox anmuten, weil sie so sehr dem Bequemlichkeitsstandpunkt des gewöhnlichen Lebens widersprechen.

Nun, ich habe Ihnen heute eine ganze Reihe von Dingen vorgeführt, die gewissermaßen unaufgelöst an Ihre Seele herangeschlagen haben. Ich habe Ihnen vorgeführt einiges von Lebenstatsachen, die einge­standen werden müssen, wenn man auch die Dinge anders haben möchte. Mancher, der sich heute für einen großen Menschen hält, der

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vieles vermag, hat keine Ahnung von diesen Lebenswahrheiten. Aber das ist gerade dasjenige, was den Katastrophen unserer Zeit zugrunde liegt, daß unsere Zeit so notwendig hat, dieses Leben kennenzulernen und dieses Leben nicht kennenlernen will.

Von einigem, was zur Auflösung manchen Widerspruches, der mit Recht heute an Ihre Seelen herangeschlagen hat, führen soll, wollen wir dann morgen reden.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, September 1918

Wer das geistig-seelische Leben des Menschen betrachtet, kann man­cherlei Vorstellungen nicht brauchen, die insbesondere im gegenwärtigen Leben und in den gegenwärtigen Anschauungen gang und gäbe sind. Eine solche Vorstellung, die nicht brauchbar ist, wenn es sich um das geistig-seelische Leben des Menschen handelt, ist zum Beispiel die Vorstellung vom Entwickeln, die Vorstellung, daß eins aus dem andern, oder ein Zustand aus dem andern, besser gesagt, her­vorgehe. Um nicht mißverstanden zu werden, betone ich ausdrücklich, daß ich nicht etwa nun etwas sagen will über die Unbrauchbarkeit einer solchen Vorstellung wie die der Entwickelung. Wir haben gestern zum Beispiel in ausgiebiger Weise von der Vorstellung der Entwicke­lung Gebrauch gemacht; aber wenn man von dem seelisch-geistigen - nicht von dem seelisch-leiblichen - Leben des Menschen spricht, dann kann man die Vorstellung der Entwickelung nicht brauchen. Wir haben gestern über das seelisch-leibliche Leben gesprochen, wie es verläuft zwischen der Geburt und dem Tode; da brauchten wir die Vorstellung der Entwickelung. Anders liegt die Sache, wenn man von dem geistig-seelischen Leben des Menschen spricht. Da kommen, wenn man wirklichkeitsgemäß spricht, andere Begriffe, andere Ideen in Frage, als zum Beispiel die Idee der Entwickelung.

Das geistig-seelische Leben des Menschen, so wie man es innerhalb der äußeren sinnenfälligen Wirklichkeit kennt, verläuft ja, wie wir wissen, in Denken, Fühlen und Wollen. Nun, wenn man den geistig-seelischen Verlauf des Lebens nach Denken, Fühlen und Wollen wirk­lichkeitsgemäß verstehen will, dann muß man auf folgendes Rücksicht nehmen. Indem der Mensch im Denken, Fühlen und Wollen lebt, also indem er irgend etwas fühlt und das Gefühlte durch Gedanken zum Ausdruck kommt, oder auch indem er etwas von der äußeren Welt wahrnimmt, das Wahrgenommene dann in Gedanken zum Ausdruck kommt, oder indem der Mensch handelt, seinen Willen also in die Tat umsetzt, kurz, indem er geistig-seelisch sein Leben verlebt,

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kommen immer Verhältnisse in Betracht, die sich abspielen zwischen geistigen Wesenheiten. Man darf, wenn man das Geistig-Seelische, in dem der Mensch drinnensteht mit seiner Seele, schildern will, nicht davor zurückschrecken, von den Beziehungen zu reden, die zwischen den geistig-seelischen Wesenheiten stattfinden.

Nehmen wir zum Beispiel an, der Mensch sei mehr denkend. Nun, ganz getrennt sind in der Wirklichkeit niemals die Tätigkeiten Denken, Fühlen und Wollen. Wenn man denkend ist und sich also Gedanken bildet, so waltet schon der Wille, indem man denkt; in dem Prozeß, in dem Vorgang des Denkens waltet der Wille drinnen. Und auch indem man etwas will, indem man etwas ausführt, waltet in dem Ge­wollten, in dem Ausgeführten der Wille darin. Es ist so, daß der Mensch bald mehr denkend ist und weniger wollend, wenn er denkt, wenn er sinnt; daß er mehr wollend ist und weniger denkend, wenn er handelt, oder auch wenn er sich irgendeinem Gefühlserlebnis hin­gibt. Aber all das, was wir so besprechen, wie ich es jetzt eben getan habe, ist ja nur eine ganz äußerliche Charakteristik der Sache. Will man die Wirklichkeit treffen über diese Dinge, die wir gerade berühren, so muß man ganz, ganz anders sprechen. Da muß man zum Beispiel sein Augenmerk darauf richten: Ich nehme irgend etwas in der Außen­welt wahr; das regt mich an, mir Vorstellungen darüber zu bilden. Ich handele nicht; mein Wollen beschränkt sich auch darauf, meine Körperlichkeit auf die äußere Welt zu richten und die Welt wahrzu­nehmen, Gedanken aneinanderzureihen. Also ich bin mehr sinnend, wahrnehmend betätigt, das heißt aber in Wirklichkeit: ich versetze mich in eine geistige Region, in welcher gewisse geistige Wesenheiten, die mehr hinneigen zur ahrimanischen Natur, die Oberhand haben. Gewissermaßen stecke ich meinen Kopf, bildlich gesprochen, in eine Region hinein, in welcher Wesenheiten, die mehr ahrimanischer Natur sind, die Oberhand haben. Statt also zu sagen, was nur dem Scheine entspricht: Ich sinne über etwas nach -, müßte ich der Wirklichkeit gemäß sagen: Ich betätige mich in einer geistigen Region, in welcher über andere geistige Wesen, gewissermaßen sie dämpfend, Wesenhei­ten die Oberhand haben und in diesem Oberhand-Haben ihnen die Waage halten, welche mehr zur ahrimanischen Natur hinneigen.

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Solch eine Sache, wenn man sie ausspricht, macht zunächst einen vagen, einen unbestimmten Eindruck. Aber man kann diese Dinge nicht anders aussprechen als vage, denn sie verlaufen eben in der Re­gion des Geistigen, und unsere Sprache ist für das Sinnenfällig-Wirk­liche gebildet. Man kann aber solche Dinge bildhaft zum Ausdruck bringen, indem man gewissermaßen den Vorgang aus dem Menschen herausnimmt und ihn mehr ins Kosmische rückt. Deshalb wird die Wissenschaft der Eingeweihten die Tatsache, die man äußerlich da­durch charakterisiert, daß man sagt: Ich sinne über etwas nach, was mich angeregt hat-, bildhaft ausdrücken etwa in der folgenden Weise:

Der Mensch lebt - so wie ich es dargestellt habe in diesen Tagen im Bilde der Magnetnadel, die kosmisch nach Norden und Süden weist, also nicht ihre Richtung von innen heraus bestimmt - kosmisch im Kosmos drinnen, und er ist im Kosmos orientiert. Er lebt so, daß wir in einer gewissen Weise seine Orientierung ins Auge fassen, wenn wir sagen: Er ist kosmisch so orientiert, daß, gewissemaßen wechselnd und pendeind, seine Orientierungsrichtungen nach den Tierkreis-zeichen gehen können (siehe Zeichnung, Tierkreis). Er ist wechselnd orientiert nach Widder, Stier, Zwillingen, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann, Fische. Er ist aber auch so orientiert, daß zunächst eine hauptsächliche Zuordnung stattfindet, daß er mit dem, was seine Ilauptesratur betrifft, wenn man diese Orientierung des Tierkreises zugrunde legt, nach oben, mit dem, was seine Extremitätennatur betrifft, nach unten orientiert ist. Deshalb kann man sagen: Es besteht schon etwas in dieser Orientierung wie ein Waagebalken, der das Obere von dem Unteren trennt (siehe Zeich­nung). Und was würde die kosmische Orientierung des Menschen - wenn wir ihn so betrachten würden, wie ich Sie jetzt mir nicht wünsche -, wenn wir ihn so betrachten würden, daß er weder denkt noch handelt, sondern einfach lässig sich dem allgemeiner Lebensgefühl überläßt, halb schläft und halb wach ist, wenn er weder passiv noch aktiv, sondern passiv-aktiv ist, wenn er so hinlullt im Leben:

Da geht natürlich in ihm auch sehr viel vor, nur merkt er nichts davon. Aber wenn wir diesen Zustand charakterisieren wollten - wie gesagt, in welchem ich Sie in diesem Augenblicke nicht wünsche -, dann

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# Bild s. 125

würden wir sagen, der Waagebalken liegt horizontal (siehe Zeich­nung). - Wollten wir aber den Menschen so charakterisieren, daß er in einem Zustand der Seelenverfassung ist, wie ich Sie jetzt mir zum Bei­spiel wünschen möchte: Sinnend, angeregt und aufnehmend dasjenige, wovon eben die Rede ist, dann müßte man den Waagebalken anders zeichnen, dann müßte man sagen: Alle die Seelen, die hier sitzen, oder wenigstens eine Anzahl von Seelen, die her sitzen, die versetzen sich in eine Region, wo gewisse Wesenheiten den Waagebalken auf der einen Seite heben. - Im physischen Leben würde man, wenn die Waage in Tätigkeit tritt durch irgendein Übergewicht, sagen: der Waagebalken senkt sich. Wir reden aber jetzt vom Geistigen; da muß man sagen, der Waagebalken hebt sich. Es werden also gewisse Wesenheiten, wenn der Mensch im «Sinnen» ist, in der Region, in die er sich dann versetzt, den Waagebalken heben in der Richtung von der Waage zur Jungfrau hin (siehe Zeichnung, blau); so daß ich dann den Waagebalken

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so zeichnen muß, daß gewisse Wesenheiten, die zur ahrimanischen Natur neigen, den Waagebalken so heraufheben: Es würde das also der Mensch im Sinnen sein (siehe Zeichnung, Pfeil, blau, Waagebalken von Jungfrau zu Fischen). Man kann also fragen: Was bedeutet es, wenn der Mensch im Sinnen ist? Das bedeutet, daß er seine Lage als Mensch im ganzen Kosmos drinnen so ausnützt, daß er die Kräfte, in denen er schwingt, ausnützt, um in eine kosmische Re­gion hineinzukommen, in welcher dieser Gleichgewichtszustand herrscht. Also Sie denken sich im Sinnen; und indem Sie sich im Sinnen denken, müssen Sie sich denken, daß Ihr - wenn ich jetzt so sagen darf- geistiger Raum, in den Sie sich dann versetzen, drinnensteht in einer Region, wo ein zur Ruhe gekommener Kampf statt­findet: Die Wesenheiten hier links würden die Wesenheiten rechts, und umgekehrt, bekämpfen. Aber indem Sie im Sinnen sind, ist der Kampf nicht da, sondern er ist zur Ruhe gekommen. Doch die Ruhe bedeutet, daß gewisse zur ahrimanischen Wesenheit hinreigende Wesen die Oberhand haben, so wie wenn ein Waagebalken in schiefer Lage zur Ruhe kommt, nicht mehr schwankt, weil etwas hinunter­zerrt. Das würde die Wirklichkeit sein, die dem Sinnen, der denkenden Betätigung entspricht.

Dasjenige, was der Mensch im gewöhnlichen sinnenfälligen Dasein Denken nennt, das ist nur ein Majagebilde, das ist nur eine Illusion. Dasjenige, was Denken in Wirklichkeit ist, müssen Sie kosmisch so schildern, daß Sie nach der ganzen Lage des Menschen, wie er dann im Kosmos drinnensteht, fragen. Und diese Lage des Menschen, wie er im Kosmos drinnensteht, die Ihnen Antwort gibt, was gewisse Wesenheiten der geistigen Welt tun, die antwortet Ihnen auch darauf, was denkende Betätigung, was Sinnen ist. Also es ist im Grunde ge­nommen eine Illusion, wenn wir das Denken so schildern, wie wir es im gewöhnlichen Leben schildern. Wir müßten, wenn wir es der Wirk­lichkeit gemäß schildern wollten, sagen: Wir befinden uns in einer sol­chen Region, in der in unserem Denkraum die Gedanken dadurch zu­stande kommen, daß gewisse zum Ahrimanischen hinneigende Wesenheiten die Waagschale gehoben haben auf der einen Seite. Das ist der wirkliche Vorgang.

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Betrachten wir einen anderen Vorgang im menschlichen Geist­Seelenleben: Daß wir handeln, nicht toben, sondern handeln, daß also unsere Handlungen von Absichten, das heißt, von Gedanken durchzogen sind. So wie man das im gewöhnlichen Leben beschreibt, es sich im gewöhnlichen Leben vorstellt, ist es wiederum eine bloße Illusion. Denn auch wenn wir handelnd sind, versetzen wir uns in eine gewisse kosmische Region. Da ist es aber jetzt so, daß in dieser kosmischen Region gewisse Wesenheiten, welche zum luziferischen Wesen hinneigen, die Waagschale in dem andern Sinne zum Steigen bringen, so daß wir dann den kosmischen Waagebalken so zu zeichnen haben (siehe Zeichnung, rot), und die Richtung, in welcher von der ruhigen Lage abweichend diese Wesenheiten den Waagebalken heben, würde durch diesen Pfeil angedeutet werden. Wir sind, indem wir mit Absicht, also wollend, wirklich wollend handeln, dann in einer ge­wissen Region des Kosmos orientiert, in welcher der Waagebalken von gewissen luziferischen Wesenheiten so gehalten wird. Nur ist es jetzt so, daß die Ruhe vorangegangen ist, und eben, indem wir uns in die Region des Handelns versetzen, fangen diese luziferischen Wesen­heiten an, den Waagebalken erzittern zu machen; wir versetzen uns dann in eine Art von Kampf, der im Kosmos stattfindet. Die luzi­ferischen Wesenheiten fangen an, gegen ahrimanische Wesenheiten zu kämpfen, und in der labilen Lage, in dem Schwanken des Waagebalkens drückt sich der Kampf aus, der in unserem Wollen sich wirk­lich abspielt zwischen ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten. Das also, was wir im gewöhnlichen Sprechen und im gewöhnlichen Vorstellen als Wollen schildern, das ist nur eine Maja, das ist nur die äußere Illusion. Wir sprechen richtig von dem Wollen, wenn wir sagen: Als wollende Menschen sind wir in einer Region, in welcher eine Hebung stattgefunden hat des Weltenwaagebalkens durch die luziferischen Wesenheiten (siehe Zeichnung, von Stier zu Skorpion gehend); aber diese Hebung, die hat stattgefunden ohne uns. Wir ver­setzen uns in eine solche Region, wo eine solche Hebung ohne uns stattgefunden hat. Wir suchen eine solche Region auf, und gerade solch eine Region, wo die Ruhe beginnt in Bewegung überzugehen, wo die Ruhe beginnt, in ein rhythmisches Spiel überzugehen.

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Ich habe in dem ersten unserer Mysterien angedeutet - dort mußte es natürlich im dramatischen Bilde angedeutet werden -, daß wir uns nicht vorstellen sollen, es ginge, wenn der Mensch seelisch-geistig etwas denkt oder fühlt, nur in ihm etwas vor, sondern Weltenkräfte werden da bewegt. Und bildhaft ist das in dem einen szenischen Bilde so ausgedrückt, daß, während Capesius und Strader sich in einer ge­wissen Weise verhalten, große kosmische Vorgänge vor sich gehen. Die gehen wirklich vor, wenn auch nicht in der sinnlichen, sondern in der übersinnlichen Welt; in der sihnlichen Welt kann man sie eben nur so versinnlichen, wie es dort in dem Drama versinnlicht ist. Das ist aber dort im Drama ganz deutlich ausgesprochen, daß das Verhalten des Menschen hier, wie wir es schildern, eigentlich nur ein Abglanz ist der Wirklichkeit; daß im Kosmos Bedeutsames vorgeht, wenn der Mensch in seiner Seele das kleinste will oder denkt. Wir können nie­mals in unserer Seele etwas wollen oder denken, ohne daß wir uns in Regionen versetzen, in denen geistige Kämpfe stattfinden oder geistige Kämpfe zur Ruhe kommen, oder geistige Kämpfe schon ausgefochten worden sind und wir uns in das Ergebnis des Ausfechtens versetzen und so weiter.

Das, was ich Ihnen jetzt geschildert habe, das ist im menschlichen seelisch-geistigen Wesen vorhanden. Nur ist es verborgen vor dem Leben, das der Mensch zwischen Geburt und Tod verlebt; aber es ist die Wahrheit im Geistigen. Ich habe in anderem Zusammenhange in diesen Tagen davon gesprochen, daß der Mensch, indem er mehr in­tellektualistisch sich zur Welt verhält, wie es in der modernen Welt Sitte ist, eigentlich in Halluzinationen lebt. Im Grunde sind die Vorstellungen, die wir uns bilden über unser Denken, Fühlen und Wollen, Halluzinationen, und die Wirklichkeit, die dahintersteckt, die ist jene, die wir auf diese Weise bildlich veranschaulichen können. In Wirk­lichkeit steckt hinter unseren geistig-seelischen Vorgängen das eben Geschilderte; es offenbart sich für den Menschen im Abglanz so, daß es ihm erscheint als Denken, Fühlen und Wollen. Und sobald wir den Menschen betrachten, wie er geistig-seelisch ist, findet der Begriff der Entwickelung, der Evolution, keine Anwendung. Es wäre ein völliger Unsinn, wenn man davon sprechen würde, daß zum Beispiel der

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Mensch erst in einem gewissen Lebensalter sinnig wird, vorher mehr einer tobenden Willensnatur hingegeben ist, und daß sich das eine aus dem andern entwickle. In der geistigen Region entwickelt sich in die­ser Weise nichts, sondern wir können nur sagen, wenn wir beim Kinde sehen, daß es anders vorstellt, fühlt und will als der Greis, so ist das Kind eben versetzt in eine andere geistige Region, wo die Kämpfe zwischen den verschiedenen Wesenheiten sich anders abspielen. In dieser geistigen Region findet eine solche Entwickelung nicht statt wie diejenige, von der wir gestern gesprochen haben. In dieser geistigen Region verstehen wir das Vergangene nur, wenn wir sagen, das Kampfbild, das Beziehungsbild, das Bild von den Wechsel­verhältnissen der Wesenheiten, die wir hinter den höheren Hierarchien suchen, dieses Bild ist ein anderes als das Bild, das wir in dem Wechsel­spiel der Hierarchien haben, wenn wir von der Gegenwart reden. Und wiederum kommt ein anderes Bild heraus, wenn wir von der Zukunft reden. Wir sehen andere Bilder in dem Verhältnisse zwischen den ver­schiedenen Wesenheiten der Hierarchien an, je nachdem wir Vergan­genheit, Gegenwart und Zukunft ansehen. Und ein Unding wäre es, zu sagen, das Kampfesbild der Zukunft entwickle sich aus dem Kamp­fesbild der Vergangenheit. Diese Dinge sind in der Region des Geistigen in einer gewissen Beziehung nebeneinander, nicht nachein­ander. Daher kann auch nicht von Entwickelung gesprochen werden, sondern nur von einer geistigen Perspektive, worauf ich Sie in anderem Zusammenhange schon aufmerksam gemacht habe. So daß man sagen kann: Wenn wir den Menschen als geistig-seelisches Wesen betrach­ten, so hat es keinen Sinn, von ihm zu sagen, daß er erst Kind ist, Zahnwechsel durchmacht, daß er dann geschlechtsreif wird und der­gleichen. Das, was in der Region des Leiblich-Seelischen als Evolu­tion, als Entwickelung erscheint, das ist gebunden an ein Geistig­-Seelisches, in dem von Entwickelung nicht gesprochen werden kann, sondern nur von dem Übergehen, im Wechselverhältnis zwischen den Wesen der höheren Hierarchien, von einem Bilde zu einem andern; in diesem Wechselverhältnis also zwischen den Wesen der höheren Hierarchien.

Sie bekommen kein wirkliches Verständnis von dem Verhältnis des

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Zeitlichen zum Ewigen, wenn Sie das nicht in Betracht ziehen, was ich im Zusammenhange von gestern zu heute auseinandergesetzt habe. Denn in dem Zusammenhange von gestern zu heute habe ich ausein­andergesetzt, wie der Mensch als leiblich-seelisches Wesen in der Ent­wickelung der Zeit so drinnensteht, daß er sogar erst als Greis das­jenige verstehen kann, was sich in ihm abspielt, während er Kind ist: da haben wir es voll zu tun mit dem Begriff der Entwickelung. Wir müssen jedoch anerkennen, daß der Mensch als geistig-seelisches Wesen gar nicht in einer Entwickelung drinnensteht, daß der Begriff der Zeit in der Form, wie wir ihn im äußeren sinnenfälligen Leben kennen, gar nicht anwendbar ist, wenn wir vom geistig-seelischen Wesen des Menschen sprechen, daß wir fehlgehen, wenn wir die Zeit hineintragen in die Sphäre der höheren Hierarchien. In der Sphäre der höheren Hierarchien dauert alles. Da verlaufen die Dinge nicht in der Zeit, da haben wir es nur zu tun mit Perspektiven, in denen wir die Kämpfe und Wechselverhältnisse zu sehen haben. Der Zeitbegriff ist nicht anwendbar auf die Wechselverhältnisse in den höheren Hier­archien, und wir treiben nur eine Verbildlichung des Wesens der höhe­ren Hierarchien, wenn wir den Zeitbegriff anwenden. Daher können Sie in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» verfolgen, wie vor­sichtig ich andeute, daß dasjenige natürlich zeitlich im Bilde dar­gestellt werden muß, namentlich wo ich von der Saturn- und Sonnenzeit rede, wo das so geschildert wird, daß ich eigentlich sehr scharf dar­auf aufmerksam mache, daß der Zeitbegriff nur bildhaft auf dasjenige angewendet wird, was der Sonnenzeit vorangegangen ist, und noch auf die halbe Sonnenzeit selbst. Sie können das in meiner «Geheimwissenschaft» nachlesen. Solche scheinbar nebensächlichen Bemer­kungen in diesem Buche aus der Geisteswissenschaft sind von aller-höchster Wichtigkeit, denn gerade in dieser nebensächlichen Bemer­kung liegt die Grundlage für das Verständnis des Unterschiedes zwi­schen Zeitlich-Vergänglichem und Ewig-Dauerndem.

Wenn Sie das ins Auge fassen, was ich jetzt eben gesagt habe, dann können Sie sagen, ich hätte gestern versucht, Ihnen das Menschen­wesen zu schildern rein in der Zeit, und es spielte der Zeitbegriff in der gestrigen Schilderung des Menschenwesens eine sehr. sehr erhebliche

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Rolle, eine solche Rolle, daß es ja von der Zeit abhängt, ob man ein gewisses Begreifen hat; nämlich von der Zeit, die man durchiebt hat bis zur Greiseraaaftigkeit, oder die man noch nicht durchlebt hat, bei der man sich noch in der Kindhaffigkeit befindet. Alles das, was wir gestern auseinandersetzten, war im strengsten Sinne auf den Zeitbegriff gebaut. Da haben wir im Lichte des Geistigen geschildert, was leiblich-seelisch dem Menschenwesen zugrunde liegt. Heute habe ich dasjenige geschildert, was geistig-seelisch dem Menschen zugrunde liegt. Und das kann nur geschildert werden, wenn man es in der Region der Dauer schildert, wenn man es so schildert, daß man - was ja schwierig ist - doch darauf führt, daß auf diese Region, in der wir sind als geistig-seelischer Mensch, der Zeitbegriff gar keine Anwendung hat.

Wir sind also tatsächlich in dieser Beziehung ein zwiespältiges Wesen, und indem wir uns durch das Leben hindurch entwickeln, ent­wickeln wir uns so, daß wir ruhig und in Geduld auf der einen Seite abwarten müssen, bis unser leiblich-seelisches Wesen reif wird, irgend etwas zu verstehen. Auf der andern Seite stehen wir fortwährend ohne Entwickelung in der Region der Dauer darinnen, wo wir gewisser­maßen nur einmal in der Kindheit auf einen Ort in der Region der Dauer blicken, während der Greisenhaftigkeit auf einen andern Ort in der Region der Dauer blicken. Hier auf der Erde ist der Mensch so lebend, daß dasjenige, was sich in der Region der Dauer abspielt, her­unterstrahlt in das andere, was sich in der Region der Zeit abspielt; die beiden vermischen sich miteinander.

Die Wissenschaft des Eingeweihten hat die Aufgabe, dasjenige, was sich vermischt, auseinanderzuhalten, denn nur im Auseinanderhalten kann es verständlich werden. Die Wissenschaft der Eingeweihten hat immer dasjenige, was in der Region der Dauer ist, das Obere, das­jenige, was in der Region des Vergänglichen ist, das Untere genannt. Aber indem der Mensch hier auf der Erde lebt, ist er für seine Anschauung eine Vermischung des Oberen und des Unteren, und er kann niemals zu irgendeinem Verständnisse seines eigenen Wesens kom­men, wenn er dasjenige anschaut, was sich hier vermischt hat; er kann nur zu einem Verständnisse seines Wesens kommen, wenn er die bei­den Dinge, die sich vermischen, auseinanderzuhalten versteht. Daher

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werden Sie es begreiflich finden, daß gegenüber dem Aspekte, den das Erdenleben gibt, Sie im normalen Bewußtsein nicht festhalten können, daß die Dinge so sind, wie ich sie gestern geschildert habe; auch können Sie mit dem gewöhnlichen Bewußtsein nicht festhalten, daß die Dinge so sind, wie ich sie heute geschildert habe. Und der­jenige, der nur auf das gewöhnliche Bewußtsein bauen will, der kann sagen: Du hast uns ja gestern über den Menschen etwas geschildert, was wir nicht sehen, was gar nicht Wirklichkeit ist, denn der Mensch entwickelt sich nicht so, wie du es gestern geschildert hast; mancher ist in der Jugend schon sehr reif - und so weiter. Das ist aber eine Einwendung vom Standpunkte der Täuschung aus. Die Wirklichkeit ist so, wie ich sie Ihnen gestern und heute geschildert habe, und der Mensch verfällt in der Gegenwart in den Dualismus, weil er das Untere nicht so flüssig sieht, wie ich es gestern dargestellt habe. Der Ein­geweihte muß dem Starren, welches das Untere hat, die Starrheit neh­men und es in Fluß bringen. Die gewöhnliche Anschauung sieht den Menschen an, der vor einem steht; der Eingeweihte muß den Vorgang betrachten, der sich abspielt zwischen Geburt und Tod: er muß den Menschen im Flusse sehen.

Und wiederum, indem der Eingeweihte Denken, Fühlen und Wollen betrachtet, das im Flusse ist, muß er den Fluß zum Stillstand bringen, und er muß dasjenige, was dadurch, daß es an den Leib gebunden ist, scheinbar in der Zeit verläuft, in der Region der Dauer schauen, in der Region des Nebeneinander, aber des geistigen Nebeneinander. Die Menschen streben ja nach der Wissenschaft der Eingeweihten, und sie geben auch äußerlich gern zu: Die Umwelt, so wie sie der Mensch be­obachtet, die sinnenfällige Umwelt ist eine Maja, eine große Täu­schung, eine Illusion. Aber wenn es auf den Ernst ankommt, dann gehen die Menschen doch nicht darauf ein, sondern möchten sowohl die obere Region wie die untere Region mit dem Majabegriff schildern. Man soll hübsch schematisierte Zeichnungen geben, die ganz nach dem Muster der Majavorstellungen gemacht sind, und soll damit in die geistige Welt hinauf- oder hinunterrücken, über oder unter das Bewußtsein. Die Menschen sagen einem: Ja, du schilderst ja nicht so, daß ich begreifen kann. - Aber hinter diesem: Du schilderst ja nicht

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so, daß ich begreifen kann -, steht nur das: Du forderst mich auf, zu andern Ideen und Vorstellungen zu kommen, als diejenigen sind, die in der Maja sind; du forderst mich auf, zu Vorstellungen zu kommen, die in der Region des Wirklichen sind.

Es kann auch einen andern Einwand geben. Es kann jemand sagen: Ja, was geht mich schließlich das alles an, was da im Unteren vorgeht! Wenn nur der Zeitbegriff im Ernst auf die menschliche Entwickelung angewendet wird, oder wenn man hinblickt auf die Region der Dauer im Leben, kommt man ja ganz gut aus. - So können die Menschen sagen, wenn man in der Maja stehenbleibt, wenn man sich die Be­griffe bildet, die gekommen sind von dem Vermischten, und in der Maja stehenbleibt. Ja, zur Not leben, schlafend leben können Sie ja noch, indem Sie nur in der Region der Dauer bleiben. Aber erstens: Sie können mit diesen Begriffen, die Sie sich hier bilden - und wenn sie noch so scharfsinnige Begriffe wären, wenn sie noch so sehr vor den Gelehrten der Gegenwart bestehen könnten -, Sie können mit diesen Begriffen zur Not, aber auch nur zur Not, leben, aber Sie kön­nen mit diesen Begriffen nicht sterben. Sterben kann niemand mit diesen Begriffen, die hier gebildet werden. Und da, sobald man dieses Geheimnis streift, beginnt der große Ernst der geisteswissenschaft­lichen Erkenntnis. Diejenigen Begriffe, die gebildet werden ohne die Wissenschaft der Eingeweihten, diese Vorstellungen, die führen nach dem Tode in eine unrechtmäßige, ahrimanische Region. Sie kommen nicht in die Region des Menschlichen, für die sie eigentlich vorbe­stimmt sind, wenn Sie es verschmähen, Begriffe zu bilden, wie sie die Wissenschaft der Eingeweihten gibt.

In früheren Zeiten haben höhere geistige Wesenheiten den ata­vistisch hellseherisch veranlagten Menschen auf übersinnlichem Wege die Begriffe der Einweihung gelehrt. Daher war - und zwar im wesentlichen bis zum Jahre 333 nach dem Mysterium von Golgatha - für die Menschen eine Art übersinnlicher Unterricht vorhanden, der sie nicht nur geeignet machte zum Leben, sondern auch zum Sterben. Seit diesem Zeitpunkte ist die Notwendigkeit eingetreten, daß der Mensch hier auf der Erde durch seine Anstrengungen, durch sein Be­greifen sich zubereitet die Seele, die in der richtigen Weise durch die

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Pforte des Todes gehen kann. Vor der Wissenschaft der Eingeweihten gibt es nicht leicht einen frivoleren Ausspruch als denjenigen, der da besagt: Man könnte ja warten, bis man eintritt in die Region nach dem Tode, um zu sehen, was es da gibt. - Die Wissenschaft der Einge­weihten sagt einem: Wer also wartet, der versündigt sich gegen das Leben. - Denn Sie würden furchtbar erschrecken, wenn Ihnen irgend­ein Eingeweihter - per impossibile - schildern würde, was Sie für Mißgeburten wären, wenn Sie dieselbe Gesinnung Ihr Leben hin­durch zwischen dem Tod und dieser Geburt gehabt hätten, wenn Sie sich da zwischen dem Tod und dieser Geburt hindurch gesagt hätten: Ich warte ab, bis ich auf die Erde hingeboren werde; da werde ich ja sehen, wie das Wesen ist, das dann mit Fleisch überzogen ist, das im Blute lebt. - Da können Sie durch den allerdings wohltätigen Ein­fluß nicht absehen davon, sich zuzubereiten diejenigen Kräfte, die Sie vor dem Geborenwerden als Mißgeburt bewahren. Da behüten Sie höhere Wesenheiten. Dieses geistige Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt - so sagen die Wesen, die drüben lehren -, das ist nicht bloß da für unsere Region, das ist da, auf daß in der rechtmäßigen Weise vorbereitet werde die Region des Unteren, damit nicht Miß­geburten dort entstehen, sondern wirklich edelgebildete Menschen entstehen.

Aber auch das Leben hier auf der Erde ist nicht allein für die Erde da, sondern es ist da, daß der Mensch auch sterben kann in der rich­tigen menschlichen Weise. Es muß der Mensch sich hier durch das Aufnehmen von Begriffen der höheren Region seine untere Natur so zubereiten, daß er nicht in eine ahrimanische Region eintritt, die eine unberechtigte ist. Natürlich gibt es auch berechtigte ahrimanische Regionen, aber diese wäre eine unberechtigte, die nicht seinem Mensch­tum entsprechen würde. Das ist das erste.

Das zweite aber ist dieses, daß Sie zur Not als einzelner Mensch leben können - aber man lebt ja nicht in der Wirklichkeit als einzelner Mensch -, wenn Sie von der Region der Dauer absehen, aber Sie kön­nen nicht innerhalb der menschlichen sozialen Ordnung leben. Die menschliche soziale Ordnung ist gelenkt und geleitet von den Wesen­heiten der höheren Hierarchien. Und wenn Sie auch nur die geringfügigste

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Beziehung eingehen von Mensch zu Mensch - und unser ganzes Leben besteht in Beziehungen zwischen Mensch und Mensch -und es fließt dasjenige, was in diese Beziehungen hineinströmt, nicht aus dem Bewußtsein des Drinnenstehens in der geistigen Region, der Region der Dauer, dann verderben Sie das soziale Zusammensein, dann wirken Sie mit an den katastrophalen Erscheinungen, an den Erscheinungen der Zerstörung, der Vernichtung auf dem Erdball. Und eine soziale oder politische Anschauung, welche nicht vom Gei­stigen ausgehen würde, wirkt vernichtend, zerstörerisch. Lebendig auf das Werdende wirkt nur eine Anschauung, welche mit der Region der Dauer rechnet im politischen, im sozialen, überhaupt im mensch­lichen Zusammenleben. Das ist die große, ernste Wahrheit, welche durch die Wissenschaft der Eingeweihten immer mehr und mehr an die Menschen herantreten muß. Und die Zeichen der Zeit sprechen heute so, daß eben die Zeit abgelaufen ist, in welcher wie bis zum Jahre 333 höhere Wesenheiten übersinnlichen Unterricht erteilten, an dem der Mensch nicht bewußt teilzunehmen brauchte, weil ihm dieser Unterricht zum großen Teil im Schlafe oder im Dämmer­zustand erteilt worden ist. Jetzt muß der Mensch das, was er so zu er­halten notwendig hat, als Mensch unter Menschen erfahren. Da muß der Mensch jenen Hochmut einfach ablegen, der ihn veranlaßt zu sagen, daß er sich immer die eigene Überzeugung bilden könne. In der Region der Vergänglichkeit muß er etwas begreifen, wie: daß der alte Mensch dem jungen etwas zu sagen hat, was eben nur der alte Mensch dem jungen sagen kann. Und wenn man schon das begreift, warum sollte nicht auch begriffen werden, daß es eben eine Wissen­schaft der Eingeweihten gibt, die man von Mensch zu Mensch auf­nimmt. Das ist ja auch ein Ferment des sozialen Lebens, wie es sich in die Zukunft hinein entwickeln muß, daß der Mensch dasjenige, was er in irgendeinem Zeitpunkt - wenn wir jetzt von der Region der Zeit sprechen - nicht selbst erkennen kann, von seinen Mitmenschen auf­nimmt. Und ich habe Ihnen gestern ja gesagt: Es ist durch die Ent­wickelung in der Zeit die Sache so eingerichtet, daß man nicht auf bloßen Autoritätsglauben hin die Dinge aufzunehmen braucht, son­dern daß man in dem, was man sich als Vorstellung bildet, schon eine

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Art von Überzeugung, die auch aus dem eigenen Inneren quillt, haben kann. - Ich habe das in einer ganzen Reihe meiner Bücher betont, daß auf dem Boden der Geisteswissenschaft der Autoritätsglaube nicht blühen soll. Aber das muß sicher sein für alle diejenigen, die wirklich auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen: Man ist nicht ein­geweiht dadurch, daß man einfach sich im Sinne der heutigen Zeit wie der Hahn auf den Mist stellt und von seiner eigenen Überzeugung zu krähen beginnt in jedem beliebigen Lebensalter! Damit kann man alle möglichen Programme, von denen man glaubt, daß sie die Welt beherrschen können, aufstellen, aber niemals eine Wissenschaft liefern, welche in das Leben und Walten der Welt wirklich hineinläuft. Immer mehr und mehr wird für das Leben und Walten der Welt die Wissen­schaft der Eingeweihten eben notwendig sein.

Gab es in alten Zeiten die Initiation wie ein Denken, das den Men­schen gegeben war, gegen die Zukunft hin müssen sich die Menschen zu dem, was durch Initiation in die Welt kommt, mit ihrem vollen eigenen Willen hinwenden. Da widersprechen auch mancherlei Wünsche, unterbewußte Wünsche. Denn nicht leicht kann der Mensch den großen Ernst aufbringen, der nötig ist, um sich in all das, was mit dem Gesagten gefordert ist, in der richtigen Art hineinzuleben.

Es wird. einem eigentlich recht schwer, der heutigen Menschheit schon zu sagen, wie sehr sie guten Willens sein muß, weil sie diesen guten Willen oftmals für einen herzlosen Willen hält. Wer so recht eindringt in den Sinn der Geisteswissenschaft, der weiß, daß es, der Zukunft entgegenrückend, keinen anderen Weg gibt, sich Seelensubstanz zu schaffen, die in der richtigen Weise durch die Pforte des Todes gehen kann, die in der richtigen Weise in das soziale Leben der Menschheit sich hineinstellen kann, als das Studium der Geisteswissen­schaft, der Einweihung. Man kann sich hineinleben, dann kommt der Kontragedanke: Da steht einer drinnen in diesem Leben und hat Men­schen, die er aus irgendwelchem Grunde liebt, und die nichts wissen wollen von dieser großen Anforderung unserer Zeit, von dem Sich-Hinwenden zum spirituellen Leben. Da entsteht der Wunsch in ihm, daß doch auch diese Menschen selig werden sollen, und es kommt ihm herzlos vor, wenn demgegenüber die volle Wahrheit betont wird.

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Aber derjenige, der auf diesem Gebiete guten Willens ist, der weiß, daß es nicht wirklich guten Willens ist, wenn man die Augen zumacht und sagt: Na ja, die wollen zwar nichts wissen von dem spirituellen Leben, aber sie können auch ohne das selig werden -, sondern wenn man sagt: Es muß eben alle Anstrengung gemacht werden, damit das spirituelle Leben auf die Erde komme. - In dem Positiven liegt das­jenige, was anzustreben ist, gar nicht so sehr in dem Nachgeben den Gedanken, die so innig mit Wünschen zusammenhängen, den Gedan­ken, wie es nun mit denen steht, die nichts wissen wollen vom spiri­tuellen Leben, sondern in der gutwilligen Hingabe an das spirituelle Leben, in dem Versuch, dieses spirituelle Leben in die Welt hineinzutragen, um die Menschen, wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf, zur Seligkeit zu bringen.

Hinter dem, was oftmals «liebevoll» genannt wird, steckt nicht nur Oberflächlichkeit, sondern es steckt auch ein Verkennen der wahren Verhältnisse. Und derjenige, der heute aus der Wissenschaft des Ein­geweihten heraus spricht, der spricht nicht etwa nur, um ein theore­tisches Erkennen an die Menschenseele heranzubringen, sondern er spricht aus dem warmen Herzen heraus, aus Liebe zur Menschheit, weil er weiß, wie sehr die Zeichen der Zeit dafür sprechen, daß die nächste große Aufgabe die ist, dieses spirituelle Leben an die Men­schenseele heranzubringen und in das Leben der Menschen so hinein­zuwirken, daß dieses spirituelle Leben an die Menschenseele heran­kommt. Dazu ist es natürlich notwendig, in einer gewissen mutvollen Art sich der Entwickelung der Menschheit in der Zeit gegenüberzustellen. Die Anschauungen vom Oberen und vom Unteren, die heute herauskommen müssen, die klar durchschaut werden müssen, die müssen auch möglichst an die Menschenseele herangebracht werden.

Wenn Sie das Leben so überschauen, wie es heute vorurteilsvoll illusionistisch überschaut wird, ja, da sprechen Sie nicht von dem Ganzen vom Leben, da sprechen Sie eigentlich nur von einem sehr geringen Teile des Lebens. Ich habe die Probe darauf gemacht. Ich kenne zum Beispiel die verschiedenen Goethe-Biographien, die exi­stieren. Was in diesen Goethe-Biographien steht, gewiß, es gibt Auf­schluß über mancherlei, was Goethe getan und getrieben und gedacht

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und vorgestellt hat zwischen seiner Geburt und seinem Tode. Aber sobald diese Goethe-Seele durch die Pforte des Todes getreten ist, hat das, was in Biographien von dem Standpunkte der gegenwärtigen illusionistischen Weltanschauung aus geschildert wird, nicht die allergeringste Bedeutung für die Region, in welche die Menschenseele ein­tritt nach dem Tode, und die eine andere Mischung bildet zwischen der Region der Dauer und der Region der Vergänglichkeit. Denn auch diese ist ja vergänglich: der Mensch tritt wieder durch eine neue Geburt ins Dasein. Für diejenige Region, in die der Mensch eintritt durch die Pforte des Todes, kann man mit alledem, was man durch die illusionistische Weltanschauung erkundet, durch die illusionistische Biographie, die das Leben zwischen Geburt und Tod verzeichnet, nichts anfangen. Da entscheidet allein die Frage: Wie hat die Seele zum Kosmos gesprochen? - Was ein Mensch seinen Mitmenschen mit­geteilt hat, und wären es die schönsten Dinge hier auf Erden gewesen, das ist nicht zum Kosmos gesprochen, wenn es nicht selbst aus gei­stiger Erkenntnis herausgeflossen ist. Aber zum Kosmos ist gesprochen, was Goethe durchlebt hat, wenn man sein Leben so betrachtet, daß man die siebenjährigen Perioden gerade in bezug auf das Goethe-Leben schildert. Wie hat sich Goethe von sieben zu sieben Jahren ge­ändert! Wie fiel merkwürdigerweise die große Umkehr seines Lebens in den Ablauf einer siebenjährigen Periode, als er nach Italien ging, oder wenigstens den Beschluß faßte, nach Italien zu gehen! Dasjenige, was sich unter der Region, welche die Biographien im gewöhnlichen Sinne bildet, von sieben zu sieben Jahren abspielt, das spricht in den Kosmos hinein; damit ist auch etwas anzufangen, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes getreten ist. Und dasjenige, was Goethe geäußert hat, indem auf ihn gewirkt haben die Wesenheiten aus der Region der Dauer, was so geschildert werden kann, wie ich heute geschildert habe, das hat wiederum eine Beziehung zu der Region, in die man eintritt nach dem Tode. Schildern Sie das Goethe-Leben von dem Gesichtspunkte aus, der sich ergibt aus der gestrigen Betrach­tungsweise von sieben zu sieben Jahren: was Goethe gespürt hat, wenn er eine solche Devise geschrieben hat über einzelne Kapitel seiner Werke wie: «Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die

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Fülle». Wer Goethes Leben betrachtet vom Standpunkte der Ver­gänglichkeit, vom Standpunkte der Entwickelung, und auf ein solches Wort stößt wie das, das Goethe als Motto über das eine Kapitel seiner Werke hingeschrieben hat: «Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle», wer mit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis an ein solches Wort stößt, er stößt gewissermaßen an den ewigen Goethe. Und wer wiederum mit geisteswissenschaftlicher Gesinnung an irgend etwas bei Goethe stößt, wo hereintönt in das, was Goethe sagt, das­jenige, was aus der Region der Dauer fließt, wo die Hierarchien ihr Wechselspiel verlaufen lassen, der wiederum stößt an dasjenige, was der ewige Goethe ist. Kennenzulernen nicht bloß das Zeitliche in der Welt, sondern das Ewige, das man nur kennenlernen kann auf dem Umwege der Geisteswissenschaft, das ist die Aufgabe, die von der Gegenwart an den Menschen erwächst durch die Entgegennahme der Wissenschaft der Initiation. Dasjenige, was frühere Zeiten darbieten, muß der Mensch der Gegenwart in dem Lichte sehen, das ihm von der Gegenwartswissenschaft der Initiation herkommen kann.

Innerhalb der katholischen Kirche gibt es etwas, was man verglei­chen kann mit der Wirkung eines roten Tuches auf ein gewisses Wesen. Wenn derjenige Katholik, der sich heute oftmals für den waschechten hält, irgendeiner Weltanschauung aufmutzen kann, sie wäre eine Weltanschauung der «Emanation», sie stellte die Welt vom Gesichtspunkte der Emanation vor, dann ist diese Weltanschauung verurteilt - für ihn selbst vielleicht weniger, aber für die gläubigen Schäfchen sicher, für die er schreibt oder spricht. Man braucht nur einer Weltanschauung anhängen zu können das Prädikat, sie sei eine emanierende! Dieser emanationistischen Weltanschauung stellt der­jenige, der sich heute als den waschechten Katholiken glaubt, ent­gegen die kreationistische Weltanschauung, die Weltanschauung der Schöpfung aus dem Nichts, die Erschaffung aus dem Nichts. Und man stellt - wiederum in dualistischer Weise - die wie das rote Tuch wir­kende emanationistische Weltanschauung auf der einen Seite hin, die kreationistische Weltanschauung, die Schöpfung aus dem Nichts, auf der andern Seite. Die kreationistische Weltanschauung nimmt man an, die emanationistische weist man ab. Der Emanationismus ist insbesondere

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dasjenige, was auf dem Umwege durch die Gnosis im Abendlande bekanntgeworden ist. So wie er im Abendlande bekanntgeworden ist - die Literatur, die zugrunde liegt, ist ja zum größten Teile vernichtet worden -, so ist dieser Emanationismus schon eine Art von Zerrbild; und weil im Grunde genommen auf katholischer Seite nur das Zerr­bild gekannt wird, so entsteht das große Mißverständnis. Denn was man da kennt als Emanationslehre, als Hervorgehen des einen Aon aus dem andern Aon, wo immer der weniger vollkommene oder der weniger hohe Aon aus dem vollkommeneren Äon hervorgeht, das, was gewöhnlich äußerlich-exoterisch als die Gnosis geschildert wird, ist eigentlich schon eine korrumpierte Sache. Das weist zurück auf eine Weltanschauung, die ganz anderer Natur war, und die insbesondere für die alten Zeiten, in denen noch die geistigen Lehrer aus dem Übersinnlichen selbst die Menschen gelehrt haben, möglich war; es weist zurück der Emanationismus, der eben, wie gesagt, schon eine Korruption ist, zurück auf eine Wissenschaft, die eben in alter Form sich bezog auf die Region der Dauer, auf das Obere. Und für dieses Obere kann man in einer gewissen Weise den Emanationismus ver­teidigen, nicht in der Form, wie man ihn korrumpiert kennt, sondern in der Form, wo eigentlich innerhalb der Emanationslehre nur von einer Perspektive in der Zeit, nicht von einer eigentlichen Entwicke­lung gesprochen wird. Wo aber, eben weil von einer eigentlichen Ent­wickelung nicht gesprochen wird, auch nicht von einem Hervorgehen aus dem Nichts gesprochen werden konnte, denn das wäre ja auch eine Entwickelung, wenn auch eine Entwickelung am radikal extremen Punkt, da kann nicht davon gesprochen werden, daß eins aus dem andern hervorgeht, aber so, wie wir - indem wir heute über die Region der Dauer gesprochen haben - auch nicht gesprochen haben von einem Hervorgehen, sondern von einem Wechselverhältnis in den Wesen, denen eben die Dauer eignet.

Wenn man aber wiederum von der Region der Vergänglichkeit spricht, dann kann man allerdings von der Entwickelung sprechen; dann aber auch von dem extremen Fall der Entwickelung, von dem wir im Grunde genommen, implizite, in diesen Tagen sehr viel ge­sprochen haben. Denn ist es nicht ein fortwährendes Entstehen aus

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dem, was der Welt gegenüber nichts ist, wenn wir sagen: die gegen­wärtigen Ideale sind die Keime der Zukunft, und die gegenwärtigen Realitäten sind die Früchte der Vergangenheit? Dieses richtig ange­sehen, gibt wiederum den wahren, nicht den korrumpierten Kreatio­nismus. Die Forderung, die heute ergeht an die Menschen, ist diese:

Dasjenige, was gemeint war im Emanationismus, im richtigen Lichte zu sehen und es anzuwenden auf die geistig-seelische Welt; dasjenige, was im wahren, nicht im korrumpierten Kreationismus vorgestellt wird, im richtigen Lichte zu sehen und es anzuwenden nicht auf die Schöpfer, sondern auf die Schöpfung, auf das Leiblich-Seelische. In der Anerkennung der Dualität, in dem Durchschauen der Dualität, nicht in dem nebulosen Vermischen des dualistisch Orientierten, liegt die Errettung, die Erlösung der Weltanschauung, richtig zu sehen die Region der Dauer, und richtig zu sehen die Region der Vergäng­lichkeit, und sie auseinanderhalten zu können. Dann kann man sagen: Beschaue ich die Wirklichkeit, die vor mir steht, so ist sie ein Ab­glanz, aber zu gleicher Zeit eine Auswirkung, ein Abglanz, indem sie der Region der Vergänglichkeit angehört, von der Evolution be­herrscht ist; eine Auswirkung, indem sie der Region der Dauer an­gehört und von dem beherrscht wird, was man eben bekommt, wenn man in richtiger Weise das sieht, was wir heute für das geistig-seelische Leben charakterisiert haben. Derjenige, der richtig spricht, der sagt nicht, der Kreationismus ist richtig und die Emanation ist falsch, oder die Emanation ist richtig und der Kreationismus ist falsch, sondern der weiß, daß beides notwendige Faktoren sind, um das Volleben zu begreifen. Die Überwindung des Dualismus kann nicht in der Theorie herbeigeführt werden, sondern nur im Leben selber. Derjenige, der theoretisch einen Ausweg sucht zwischen der Region des Oben und der Region des Unten, der Region der Vergänglichkeit und der Region der Dauer, der theoretisch durch Begriffe, durch Vorstellungen, durch Ideen einen Ausgleich sucht, der kommt nicht zu Rande, der wird immer in eine verworrene Weltanschauung hineinkommen, weil er durch den Intellekt dasjenige sucht, was im Leben gesucht werden soll. Im Leben aber sucht man die Wahrheit nur dann, wenn man weiß: Man muß den Blick hinrichten auf der einen Seite in die Region

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der Dauer und da dasjenige erkennen, was allerdings in der äußeren Wirklichkeit sich nicht darstellt, und dann auch in die Region der Ver­gänglichkeit, und da auch alle Menschen und alle Wesen so betrachten, wie es eigentlich der äußeren Wirklichkeit widerspricht. Aber wenn man ausgerüstet mit beidem ist und entgegentritt irgendeinem Wirk­lichen, dann fließt es, indem man dieses Wirkliche erlebt, es erlebend erschaut, aus den Elementen zusammen, aus denen es selber entstan­den ist: aus der Auswirkung der Region der Dauer und dem Abglanz der Region der Vergänglichkeit. Dadurch ergreift man es im Leben, wenn man nicht eine theoretische Weltanschauung haben will, die in Begriffen, in Ideen sich auslebt, sondern wenn man zwei Weltanschau­ungen haben will: die eine für die Region des Geistig-Seelischen, die andere für die Region des Leiblich-Seelischen, und in dem lebendigen Zusammenleben der beiden Weltanschauungen, nicht in einer Theorie dasjenige haben will, was das Leben nährt und befruchtet. Dann kommt man allein aus dem Dualismus heraus.

Das ist es, was als eine Forderung an die Menschheit der Gegenwart herantritt. Nicht darum handelt es sich, daß Religionsstifter auftreten, welche den Menschen Spiritualismus lehren, nicht darauf kommt es an, daß auf der andern Seite irgendwelche wissenschaftlichen Sektenstifter auftreten, die den Menschen Materialismus lehren; sondern dar­auf kommt es an, daß man die Materie materiell in der Evolution, das Geistige immateriell, spirituell begreift in der Region der Dauer, und die Wirklichkeit aus diesem zusammen ansieht. Das Materielle be­leuchten lassen vom Geistigen, das Geistige erhärten lassen vom Ma­teriellen, das ist dasjenige, was in die Weltanschauung der Zukunft einfließen muß. Nicht darauf kommt es an, daß Philosophen auftreten, welche den Menschen Definitionen der Wahrheit geben, oder auf der andern Seite Definitionen auch geben von dem, was die Wissenschaft lehrt, um in theoretischer Weise einen sogenannten monistischen Ein­klang zu stiften, sondern darauf kommt es an, daß der Dualismus zwi­schen Wahrheit und Wissenschaft erkannt werde, und im lebendigen Leben das Verhältnis gesucht werde zwischen Wahrheit und Wissen­schaft, um so zu einer lebendigen, nicht zu einer theoretischen Erkenntnistheorie zu kommen. Nicht Wahrheit oder Wissenschaft, sondern

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sowohl Wahrheit wie Wissenschaft: die Wissenschaft getragen von dem Gewichte der Wahrheit, das Gewicht der Wahrheit durchleuchtet von dem Lichte der Wissenschaft, anerkennend, daß der Mensch dualistisch in der Welt drinnensteht und erst in seinem Leben, in seinem Werden überwinden kann dasjenige, was als Dualistisches zu überwinden ist. Nicht Kantianismus, der da glaubt, daß dasjenige, was in der äußeren Welt lebt, nicht das «Ding an sich» dar­bietet, sondern Wahrheit und Wissenschaft ist die Aufgabe der Menschheit der Zukunft auch auf denkerischem Gebiete, das heißt, die Anerkennung, daß allerdings dasjenige, was um uns herum ist, Maja ist, aber Maja ist dadurch, daß wir uns als Mensch in dieser Weise in die Welt hineinstellen, und daß wir, solange wir uns so hinein­stellen, dualistisch hineingestellt sind. Wir machen durch dieses unser Hineinstellen die Maja, und überwinden, indem wir selber lebendig werden, diese Maja im Leben, nicht in der Idee, nicht in der Theorie.

Das ist ja auch der Inhalt meines kleinen Büchelchens von «Wahr­heit und Wissenschaft», meines Buches der «Philosophie der Freiheit». Die letztere wird ja in den nächsten Tagen in neuer Auflage wohl auch hier zu bekommen sein. Ich habe einzelne Ergänzungen gemacht, der Text ist gegen früher nicht verändert, aber sehr erheblich um vieles in den verschiedensten Punkten erweitert.

So handelt es sich darum, zu begreifen die Zeichen der Zeit, und aus ihnen heraus das spirituelle Leben auf den verschiedensten Gebieten der menschlichen Betätigung zu pflegen.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 20. September 1918

Im besonderen heute Gedanken an die Fünfjahrfeier der Grundstein­legung unseres Baues zu knüpfen, ist ja nicht nötig. Es ist insbeson­dere nicht nötig innerhalb desjenigen Kreises, der durch diese fünf Jahre hindurch mit dem Bau mehr oder weniger räumlich verbunden war. Auch ist in dieser katastrophalen Epoche wahrhaftig nicht die Zeit zu besonderen Feierlichkeiten, und es soll auch nicht gerade das Gedenktagfeiern ein Gebrauch innerhalb unserer Bewegung werden. Nur die paar Worte seien heute zu Ihnen gesprochen.

Der Bau, er konnte nicht in der Zeit vollendet werden, in der es sich vielleicht mancher vorgestellt hat, der dazumal die Grundstein­legung mitgemacht hat, oder an der Grundsteiniegung irgendwie in Gedanken oder sonst beteiligt war. Aber das ist ja zunächst nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist bei diesem Bau, auch wenn er heute unfertig vor uns steht, daß er überhaupt da ist. Selbst wenn er noch unfertiger wäre, wäre das Wesentliche, daß er da ist, und daß man aus seinen Formen sieht, aus welchem Geiste heraus er da sein soll. Über sein inneres Gefüge, über sein Wesen haben wir ja öfter gesprochen. Daß der Bau da ist, das wollen wir aber gründlich verzeichnen für uns selber als eine Tatsache, als eine Tatsache, die uns in einer gewissen Weise auch verpflichtet. Es ist eben doch nicht ein und dasselbe, ob diese letzten fünf Jahre die Anthroposophische Gesellschaft oder unsere geisteswissenschaftliche Bewegung ohne diesen Bau bestanden hätte, oder ob sie mit diesem Bau besteht. Es ist nicht dasselbe, ganz und gar nicht dasselbe. Dieser Bau ist vor allen Dingen ein Wahr­zeichen für diese Bewegung. Dieser Bau ist dasjenige, was in ge­wissem Sinne den Menschen weithin sichtbar macht, daß eine solche Bewegung in der Welt zu sein hat. Daß der Bau uns verpflichtet, zeigt uns ja auch das Verhalten der Außenwelt zu diesem Bau. Diese Außen­welt wäre weit weniger auf unsere ganze Bewegung aufmerksam ge­worden, wenn dieser Bau nicht da wäre. Es ist in der heutigen Zeit, abgesehen von allem übrigen, schon einmal so, daß das sichtbare

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Zeichen für die Menschen heute viel bedeutet. Bei dem Umstande, daß ja wohl ein gut Stück des Wirkens für die geisteswissenschaftliche Bewegung in der nächsten Zeit Kampf sein wird gegen feindliche Be­wegungen, muß gar wohl bedacht werden, daß der Bau als Tatsache nicht wenig dazu beiträgt, daß in kräftiger Weise feindliche Bewegun­gen da sind. Man würde sich weniger um uns kümmern, wenn dieser Bau nicht da wäre. Daher genügt es nicht, wenn wir eine gewisse Befriedigung darüber haben, daß der Bau hat entstehen können, sondern es ist notwendig, mit dieser Befriedigung auch das Gefühl zu verbin­den, daß es, wie der Südpol zum Nordpol oder der Nordpol zum Süd­pol, zu dem Hinschauen auf diesen Bau als unsere Sache gehört, daß wir in der rechten Art für die anthroposophlsche Sache eintreten. Ich möchte sagen, wir dürften eigentlich keine Freude, keine Befriedigung haben an dem Bau, wenn wir nicht zu gleicher Zeit alle Kraft daransetzen würden, für die anthroposophische Sache einzutreten. Denn der Bau würde die Veranlassung sein für die Zerstörung unserer Sache, wenn sich nicht genügend verteidigende Kraft finden würde. Ich möchte sagen, wenn wir keinen Bau hätten, könnten wir uns den Luxus gönnen, der anthroposophischen Sache nur anzugehören, denn sie hätte eben nicht das sichtbare Zeichen, das auch diejenigen Men­schen aufmerksam macht, die sichtbare Zeichen brauchen. Aber wenn wir Freude haben am Bau, wenn wir Befriedigung haben über den Bau, dann müssen wir auch damit eine gewisse Verpflichtung verbin­den, für die anthroposophische Sache einzutreten.

Gewiß, die hauptsächlichsten Mißverständnisse knüpfen sich an die anthroposophische Sache selbst, aber auch über den Bau wird man unzählig die gröbsten Mißverständnisse heute noch hören, Man braucht nur immer wieder und wieder die Bekanntschaft von dem oder jenem zu machen, der diesen Bau besucht oder der von diesem Bau spricht, so wird man schon sehen, welche Mißverständnisse herrschen. Wir sollten uns bemühen, solche Mißverständnisse richtig­zustellen. Mannigfaltiges anderes zeigt ja auch, wie das Positive wirkt, und dieser Bau ist eben auch ein Positives. Wir werden mit manchem negativen Zurechtrückenwollen böswilliger Angriffe wahrhaftig nicht sehr weit kommen; aber wir werden weit kommen. wenn wir uns bemühen,

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das Positive vor der Welt in das rechte Licht zu rücken. Leute, die am Bau gewesen sind - dafür gibt es Zeugnisse -, die den Bau auf sich haben wirken lassen, sie haben eben Positives gesehen, und sie haben, wenigstens mancher, keine schlechte Meinung über die Sache, die mit diesem Bau verbunden ist, bekommen, Wir müssen uns nur hüten, gerade an diesen Bau, wenn die Leute ihn besuchen, anzu­knüpfen alle möglichen Mystizismen. Dasjenige, was der Bau ist, kann wirken, wenn wir objektiv als künstlerische Auswirkung der geisteswissenschaftlichen Grundtatsachen und Grundbeobachtungen den Bau interpretieren. Den Leuten allerlei Mystisches aufbinden wollen, das wird ganz gewiß den Bau und unsere ganze Sache kom­promittieren.

An ein paar solche praktische Gedanken wollte ich heute an­knüpfen. Das Wichtigste ist, daß wir gedenken der vor fünf Jahren erfolgten Grundsteinlegung, der Wesensbedeutung dieses Baues, die ja aus der inneren Natur der anthroposophischen Sache heraus als allerlebendigste Empfindung vor unserer Seele stehen soll. Gedanken über den Bau haben wir oftmals geäußert, werden wir bei den mannigfaltigsten Gelegenheiten auch künftig äußern. Heute hüllen wir in ein an den Bau uns treu bindendes Gefühl die Gedanken, die uns in der Seele erstehen, wenn wir zurückblicken auf die Zeit, da wir hier auf diesem Hügel vor fünf Jahren den Grundstein legten.

Oftmals habe ich Ihnen davon gesprochen, wie die menschliche Seele sich im Laufe der Menschheitsentfaltung verwandelt hat, wie kurzsichtig es ist, zu glauben, daß die Seelenverfassung von heute ver­standen werden könne, wenn man nicht zurückblicken will auf die ver­schiedenen Verwandlungsformen, welche diese menschliche Seele durchgemacht hat. Wir blicken - ich brauche das nicht zu wieder­holen - zurück auf die verschiedensten Epochen der Erdenentwicke­lung, haben insbesondere öfter charakterisiert die nachatlantische Epoche, um darauf hinzuweisen, wie sich die Seelenverfassung der Menschen in dieser nachatlantischen Epoche fortwährend verändert hat. Man muß, gerade wenn man von diesen Dingen spricht, vom Abstrakten zum Konkreten fortschreiten. Man muß versuchen, immer intensiver und intensiver die Frage zu beantworten: Wie hat es denn

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in vorzeitlichen Epochen in dieser Menschenseele eigentlich aus­gesehen? Wir blicken ja zurück zu einer Urepoche, in welcher - man darf es von ihr mehr als im bildlichen Sinne sagen - göttliche Lehrer selber die Menschen unterrichteten über die heiligen Geheimnisse des Daseins. Und wir wissen, daß sich von dieser Urepoche an in der man­nigfaltigsten Weise die Menschen dann bekanntgemacht haben mit diesen Geheimnissen des Daseins. Von Epoche zu Epoche sind eben wirklich die Vorstellungen der menschlichen Seele andere und andere geworden. Vorstellungen, die wir heute auch haben in der Weise, daß wir sie alle Augenblicke mit Worten benennen, sie leben in uns, sie lebten auch in früheren Verfassungen unserer Seele; aber sie lebten in früheren Verfassungen unserer Seele ganz, ganz anders. Viele unserer landläufigsten Begriffe lebten gar sehr anders. Und ich will heute von scheinbar recht landläufigen Begriffen sprechen, zwei Begriffen, die heute in der menschlichen Seele leben. Wenigstens bezeichnet sie alle Augenblicke der Mensch aus seinem Sprachschatz heraus durch Worte, die früher auch lebten in der menschlichen Seele, aber ganz, ganz anders. Ich will von den zwei Vorstellungen Raum und Zeit sprechen.

Der Raum, er ist heute für die Menschen das denkbar Abstrakteste. Was stellen sich die Menschen heute viel unter Raum vor! Drei auf­einander senkrecht stehende Dimensionen, oder, wenn man Philo­sophielehrbücher durchliest, das Ausgedehntsein der physischen Ge­genstände, oder noch andere Definitionen des Raumes gibt es. Aber das alles - denken Sie, wie nüchtern, kalt, abstrakt das alles ist! Drei aufeinander senkrecht stehende Dimensionen, oder alles dasjenige selbst, was über den Raum die Geometrie lehrt: wie furchtbar ab­strakt, wie nüchtern begriffsmäßig! So begriffsmäßig, daß der ganze Raum - mit der Zeit übrigens - für Kant zum subjektiven Schatten, zur bloßen Anschauungsform der sinnlichen Erscheinungen geworden ist. Dieses Abstraktum Raum, von dem der heutige Mensch kaum viel mehr weiß, als daß es Länge, Breite und Höhe hat, dieses Abstraktum Raum war eine ganz, ganz andere Vorstellung in ferner Vergangen­heit, eine Vorstellung, von der allerdings einiges bei besonders emp­findenden Menschen heute noch vorhanden ist; doch nur eine Spur

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davon ist heute noch vorhanden. Man muß aber gar nicht so außer­ordentlich weit zurückgehen - bis ins 6., 7., 8. vorchristliche Jahr­hundert - und man darf schon behaupten: In dieser Zeit war Raum, so wie man Raum erlebte, etwas ganz anderes für die Menschenseele als dieses nüchterne Abstraktum, das der Raum heute für die Men­schenseele ist. Die Menschenseele erlebte noch in der frühgriechlschen Zeit, indem sie den Raum erlebte, etwas, womit sie sich lebendig ver­bunden fühlte. Sie empfand sich hineingestellt in ein lebendiges Etwas, indem sie sich in den Raum hineingestellt empfand.

Davon hat der Mensch heute höchstens noch eine Spur von Emp­findung; einige Menschen haben Spuren von Empfindungen - davon will ich gleich nachher sprechen - von diesem mit der Persönlichkeit selber, mit dem menschlichen Wesen Darinnenstehen im Raume. Aber der Mensch der Vorzeit sagte etwas aus, womit er eine bedeutsame Be­ziehung von sich zum Weltenall meinte, wenn er unterschied oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. Von unseren abstrakten drei Dimensionen, die sich mit sonst gar nichts beschäftigen, als daß sie aufeinander senkrecht stehen - was eine sehr einförmige Beschäfti­gung durch die Ewigkeit sein würde, wenn man gar nichts anderes täte, als senkrecht aufeinanderstehen wie die drei Dimensionen der Geometrie -, mit diesen drei Dimensionen hat das Lebendige, das man meinte, wenn man in alten Zeiten von oben und unten, von rechts und links, von vorne und hinten sprach, eigentlich furchtbar wenig zu tun.

Oben und unten: es war etwas Lebendiges, als der Mensch noch in alten Zeiten empfand, wie er zuerst ein kleines Kind war und sich von unten nach oben aufrichtete, als er empfand, wie der Lebenslauf be­steht in einer Entfaltung in der Richtung von oben und unten. Der Lebenslauf besteht im Erleben der Richtung des Oben und Unten. Nur ein kleines Stück Weges von der Erde weg legt man im normalen Leben von der Erde nach aufwärts im Wachsen zurück, wenn man nicht in der ahrimanischen Zeit der Luftschiffe lebt oder in der atlan­tischen Zeit - aber da war es nicht sehr hoch über der Erde, Sie wissen das aus meiner Beschreibung der Atlantis -, und empfindet sich dabei erlebend im Oben und Unten, im Gegensatze von oben und unten.

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Aber dieser Gegensatz von oben und unten, er war empfunden in den alten Zeiten als der Gegensatz der Bewußtseinswelt und der objektiven Welt, der bewußten und der unbewußten Welt. Wie sich Subjekt zum Objekt verhält, das wurde tief empfunden, wenn man oben und unten empfand. Oben, und immer weiter und weiter nach oben kommen die Götterwelten, nach unten die Welten, die den Göttern gegensätzlich sind, und der Mensch ist hineingestellt in das Oben und Unten.

Bis zu solchen Menschen wie Goethe - Sie brauchen nur seinen «Faust» zu studieren - finden Sie noch Reste des Bewußtseins von oben und unten. Und zu diesem Oben und Unten empfand dann der Mensch hinzu das Rechts und Links. Abstraktionen müssen wir ge­brauchen, wenn wir heute von rechts und links sprechen. Dem Men­schen der Vorzeit war ein Erleben in rechts und links wirkliche Er­fahrung, man möchte sagen, eine wirkliche Beobachtungswelt. Das Oben und Unten ist die Linie von Unendlichkeit zu Unendlichkeit oder vom Bewußten zum Unbewußten. Rechts und links: man emp­fand, indem man rechts und links empfand, den Zusammenhang in der Welt zwischen Sinn und Gestalt, zwischen Weisheit und Form. Sie brauchen sich nur einmal eine Symmetrieachse zu zeichnen; dasjenige, was rechts davon und links davon ist, gibt zusammen die Form, und Sie können nicht das Rechts und Links verbinden, ohne sinnvoll es zu verbinden, ohne es aufeinander zu beziehen.

Ist oben und unten hinweisend auf des Menschen geheimnisvolle Beziehung zu den geistigen und materiellen Welten, so ist die Erfah­rung des Rechts und Links die Beziehung des Menschen zu der in der Form sich ausbreitenden Welt. Und indem er die Form im Rechts und Links aufeinander bezieht, indem er Weisheit walten läßt in den symmetrisch rechts und links angeordneten Formen, empfindet er sich in diesem zweiten Elemente des Raumes. Dieses Erleben des Sinnes in der Gestalt, der Weisheit in der Form, in allen möglichen Variationen, dieses Sich-drinnen-Fühlen in diesem Zusammenklange von Sinn und Gestalt, von Weisheit und Form, das erlebte der alte Mensch als das­jenige, was uns heute die abstrakte zweite Dimension ist. Und das Oben und Unten und das Rechts und Links verband sich zu dem, was die Ebene ist, was die Fläche ist. was noch nicht im Sinnenfälligen

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existieren kann, was Dicke braucht, Vorne und Hinten braucht, wenn es im Sinnenfälligen existieren soll.

Und in diesem dritten, in dem Vorne und Hinten, da empfand der alte Mensch das Hereinspringen des Materiellen in das Geistige.

# Bild s. 150

Oben und unten, links und rechts empfand er noch als Geistiges. Es kann kein materielles Dasein haben, wenn etwas bloß oben und unten ist, und rechts und links; es ist bloß Bild, muß bloß Bild sein im Raume. Erst durch die Dicke wird es materiell. Und der Mensch emp­fand in alten Zeiten lebhaft: Indem du wächst, machst du wenige Schritte vom Erdboden nach aufwärts in der Richtung des Oben und Unten. Indem du gehst, kannst du dich frei bewegen, du bist in dem Elemente deines Willens: vorne und hinten. Dazwischen steht das Sich-völlig-frei-Bewegen rechts und links beim Stehenbleiben.

Diesen dreifachen Gegensatz als in das All hineingestellt in seinem Wesen, empfand der alte Mensch: dieses Stehenbleiben gegenüber dem Rechts und Links, dieses Hineinschreiten in die Welt gegenüber dem Vorne und Hinten, dieses sich langsam von unten nach oben Bewegen

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in der Richtung oben-unten. So empfand der alte Mensch. Und er empfand, indem er das Oben und Unten erlebte, im Weltenall webend alles dasjenige, was wir heute die Intelligenz, die Vernunft des Weltenalls nennen. Ihm war dem Raume einverwoben mit dem Oben und Unten alles dasjenige, was an Intelligenz waltet im Weltenall; und dadurch, daß er teilnehmen kann in seinem Wachsen von unten nach oben an dieser Intelligenz des Weltenalls, fühlte sich der Mensch selbst intelligent. Die Teilnahme an dem Oben und Unten war ihm zu gleicher Zeit die Teilnahme an der Weltenintelligenz. Und die Teil­nahme an dem Rechts und Links, an dem Zusammen-Verwobensein von Sinn und Gestalt, von Weisheit und Form, war ihm das Gefühl, das durch die Welt webt. Und sein Verhalten im ruhigen Stehen, die Welt überschauen, war ihm sein Verbundensein in bezug auf sein eigenes Gefühl mit dem Weltengefühl. Und sein Schreiten durch den Raum in der Richtung vorne und hinten war ihm die Entfaltung seines Willens, das Sich-Hineinstellen in das Weltenall, in den Weltenwillen, mit seinem eigenen Willen. So empfand er sein Lebendigsein wie verwoben mit dem Oben und Unten, mit dem Rechts und Links, mit dem Vorne und Hinten. Bewußtes und Unbewußtes - oben und unten; Weisheit und Form - rechts und links; Geist und Materie - vorne und hinten. So empfand der alte Mensch.

Aber er empfand zu gleicher Zeit unbestimmt - ich drücke mich kraß aus -: Stellt man sich auf den Kopf, so ist das Unten oben, und das Oben unten. Aber so ist es auch bei den Gegenfüßlern, und wenn man sich selber mit zur Erde rechnet: das Unten oben, das Oben unten. Und so kann man sich auch vorstellen, daß einmal durch irgend etwas anderes das, was sonst rechts ist, vorne, und was sonst links ist, hinten ist. Diese Richtungen, sie sind ebenso webend und lebend im Raume, wie sie in einer gewissen Beziehung ununterscheidbar sind, wie sie inelnanderwebend sind. Der alte Mensch empfand, indem er also sich in dem dreigeteilten Raume drinnen erlebte, daß das Göttliche in dieser Dreiteilung waltet. Das Göttliche im Raume waltend, wies den Menschen auf das Göttliche in der Dauer.

Und er erlebte - und das, was ich jetzt sage, erlebte der Mensch wirklich - im Raume das Göttliche in seiner Offenbarung dreigeteilt

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waltend. Und ihm war es das Abbild des dreifaltigen Gottes: Vater, Sohn und Geist, oder wie sonst der dreigeteilte Gott hieß. Die Drei­faltigkeit ist wahrhaftig nicht im Gedanken ausgesonnen, ist nicht im Gedanken erfunden. Die Dreifaltigkeit mit all ihren Eigentümlich­keiten, sie war erlebt im Abbilde, als der alte Mensch den dreigeteilten Raum lebendig erfuhr.

Und so wie Unklarheit in einer gewissen Beziehung herrschen kann über das Oben und Unten, wie rechts und links auch vorne und hinten werden kann, so kann unter Umständen auch Unklarheit hineinkom­men in die Wechselbeziehungen von Gott, Sohn und Geist. Aber in­dem im Gebiete der Vergänglichkeit, im Gebiete des Raumes der Mensch in den drei Dimensionen, nicht abstrakt, nicht geometrisch wie wir, sondern konkret erlebte, wie sich im Raume das Göttliche aus-lebt, und indem er dies erlebte, auch das Vergängliche erlebte, da be­zog er dieses Vergängliche auf das Element der Dauer, und es wurde ihm der dreigeteilte Raum das Abbild der dreigeteilten Geistigkeit.

Lebe ich hier unten auf der Erde, so lebe ich eben in der Dreifaltig­keit des Raumes; aber diese Dreifaltigkeit des Raumes, sie ist der abbildliche Beweis für die Dreifaltigkeit des göttlichen Ursprungs der Welt. Das ist ungefähr die Idee des alten Menschen. Heute ist der Raum ein Abstraktum geworden, und nur einige Menschen empfinden die Tiefendimension, die Dickedimension, wie sie entstehen: Oben und unten, vorne, hinten; rechts und links die Ebenendimension. Davon ist auch bei Philosophen heute nicht viel Erlebnis zu finden. Aber darum kommen doch einige Menschen, die sich die Dinge überlegen, die nicht ganz schlafen, darauf, daß die Tiefendimension eigentlich erst in der gar nicht sehr weit unter dem Bewußtsein liegen­den unbewußten Beobachtung zustande kommt. Das Tiefesehen erleben noch die Menschen, aber das ist der letzte schattenhafte Rest des Raumeserlebens.

In den entwickelten Religionen ist nun vorangegangen dem wirk­lichen Verständnis der Dreifaltigkeit das Verständnis für die Einheit des Gottes. Das Verständnis für die Einheit des Gottes hat einen ähn­lichen Ursprung wie das Verständnis für die Dreifaltigkeit des Gottes durch den Raum.

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Geisteswissenschaft, sie sucht ihre Dinge aus den göttlichen Tat­sachen selbst heraus. Törichte Menschen kommen dann und sagen, es gäbe diese oder jene äußeren Belege nicht. Nun ja, darüber haben wir schon manches erzählt, ich könnte noch vieles erzählen, es soll uns heute nicht beschäftigen. Nur darauf will ich hinweisen, daß es viel­fach nur die Unwissenschaftlichkeit der heutigen sogenannten Wissen­schaft ist, wenn man die Belege nicht finden kann. Ich will Ihnen nur ein einziges sagen, gewissermaßen auch als äußeren Beleg dafür, daß der alte Mensch so empfunden hat, wie ich es Ihnen heute dargestellt habe. Warum haben denn die alten Rabbiner Gott auch Raum ge­nannt? Weil sie das so empfunden haben in älteren Zeiten, auch inner­halb des Judentums, was ich Ihnen eben für die Menschheit dargestellt habe. Könnte auf verschiedenen Gebieten die Wissenschaft wirklich denken, so würde sie unzählige Rätsel finden, die aber zu gleicher Zeit wahrhaftige Beweise sind, äußere Beweise für dasjenige, was die Gei­steswissenschaft, allerdings aus den geistigen Tatsachen heraus, zu finden hat. Einer der Gottesnamen bei den Rabbinern ist auch Raum; Raum und Gott ist dasselbe.

Einen ähnlichen Ursprung wie die Dreifaltigkeit des Göttlichen hat auch die Einheit des Göttlichen. Die hängt zusammen mit dem leben­digen Erleben der Zeit. Auch die Zeit ist nicht als jenes Abstraktum von den alten Menschen empfunden worden, als welches wir sie heute empfinden; nur ging das konkrete Erleben der Zeit noch früher verloren als das konkrete Erleben des Raumes. Liest heute einer mit wirklichem Verständnis Plato oder Aristoteles, nicht so, wie mancher Schulmeister ihn liest - ich habe Ihnen ja öfter jene Notiz, die sich Hebbel in sein Tagebuch geschrieben hat, angeführt, wo ein Schul­meister vor der Tatsache steht, daß der wiederverkörperte Plato in seiner Schule als Schüler sitzt, und siehe da, der Schullehrer liest mit seiner Klasse gerade einen Dialog des Plato und der wiederverkörperte Plato bekommt von diesem Schulmeister eine recht schlechte Zensur; das hat sich Hebbel in sein Tagebuch notiert -, wer also heute mit wirklichem, tieferem Verständnis Plato und Aristoteles liest, der liest überall noch in Plato und Aristoteles, wie in dem 6., 7., 8. Jahrhundert der vorchristlichen Zeit eigentlich ein gutes Gefühl dafür noch voll

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vorhanden war. Wenn es auch schon abgeschattet war bei Plato und Aristoteles, so ist es doch noch deutlich fühlbar, dieses Erfühlen vom Raum, von dem ich gesprochen habe. Aber das Gefühl für das lebendige Erlebnis der Zeit ist noch früher verlorengegangen. So ganz und gar lebendig war es im zweiten nachatlantischen Zeitraum, in der urpersischen Zeit, wo es natürlich bei den Zarathustra-Schülern ein Frösteln hervorgerufen hätte, wenn man ihnen davon gesprochen hätte, daß die Zeit so eine Linie ist, die ganz gleichmäßig von der Ver­gangenheit in die Zukunft verläuft.

Wiederum war in der Gnosis ein mehr schattenhaftes Gefühl vor­handen - aber kaum, daß es noch zu erkennen ist - von dem Leben­digen der Zeit, indem man nicht davon sprach, daß da so eine Linie von der Vergangenheit in die Zukunft verläuft, sondern indem man von Äonen sprach, von den Schöpfern, die früher da waren und aus denen die späteren hervorgegangen sind, wo ein Äon an den andern immer die Impulse der Schöpfung übergeben hat. Gewissermaßen war die Zeit in der Imagination so vorgestellt, daß in der Hierarchienfolge das vorhergehende Wesen immer an das nächstfolgende die Impulse abgab, und das nächstfolgende war gewissermaßen immer hervorgebracht von dem vorhergehenden, das vorhergehende war das nächstfolgende umfassend. Man blickte hinauf zum Vorhergehenden als zu dem Göttlicheren gegenüber dem Nachfolgenden. «Später» erlebte man als ungöttlicher, «früher» erlebte man als göttlicher. Dieses Hinblicken auf die Wendung, welche die Entwickelung vom Göttlichen ins Ungöttliche nimmt, das war im lebendigen Erleben und Erfahren der Zeit enthalten. Es würde alles auseinanderfallen, wenn sich nicht zur Einheit weben wollte das Göttliche und das Ungöttliche, was identisch ist mit unseren heutigen Abstraktionen von Vergan­genem und Zukünftigem.

Aber in diesem Bilde der Zeit, zurückblickend und immer Umfassen­deres und Umfassenderes umfassend, bis zum «Alten der Tage», in dieser Imagination empfand man das Abbild des Einheitsgottes. So wie der dreigeteilte Raum, der dreifaltige Raum als das Abbild erlebt worden ist der Dreifaltigkeit des Gottes, so wurde die Zeit empfunden als das Abbild der Einheitlichkeit des Gottes. Der Grund des Monotheismus

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liegt im alten Zeiterleben; der Grund, die Trinität zu empfinden, liegt in dem alten Raumerleben. So hat sich der Menschen Seelenverfassung geändert; so ist gewissermaßen abstrakt und nüch­tern geworden, was lebendig war. So paradox es klingen mag: Der gegenwärtige Mensch stellt sich ganz gewiß etwas Abstraktes vor, wenn er vom Raume spricht, und er stellt sich, wie ich glaube, eine lebendige Beziehung vor, wenn er von einem Freunde spricht. Aber jene Konkretheit, jenes elementare Erleben, das heute von Freund zu Freund spricht, das ist zum Beispiel noch abstrakt gegen das intensive Weltenerleben, das der alte Mensch hatte, indem er Raum und Zeit erlebte, die ihm die Abbilder der Einheit und der Dreiheit des Gött­lichen waren.

So sind wir nüchtern geworden und abstrakt mit Bezug auf Raum und Zeit, und ein anderes muß an die Stelle von Raum und Zeit treten, das wir wiederum erleben müssen, das verinnerlichter werden muß, verinnerlichter sein muß. Wir müssen lernen, jenen Dualismus, jenen Gegensatz in der Welt zu empfinden, von dem ich in der letzten Woche gesprochen habe. Denken Sie sich einmal, jemand würde nur die sich kräuselnde Wasseroberfläche sehen. Diese sich kräuselnde Wasser­oberfläche ist im Grunde eine abstrakte Linie. Was ist das Konkrete?

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Da unten das Wasser, und da oben die Luft. Und aus der Zweiheit Luft und Wasser, in dem Zusammenwirken ihrer Kräfte, entsteht die Maja, die sich kräuselnde Oberfläche. So ist aber unsere Welt die sich kräuselnde Oberfläche, und so sind wir als Menschen, wenn wir uns nur so anschauen, wie wir uns innerhalb der Maja anschauen. Schauen

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wir uns in Wirklichkeit an, so müssen wir uns hier auch sehen: unten das Wasser, oben die Luft. Unten das Wasser - wir sehen es, indem wir die vergängliche Entwickelung beobachten, wie ich sie in der letzten Woche Ihnen vorgeführt habe, wo der Mensch sich so ent­wickelt, daß er dasjenige, was er als Kind vorstellen kann, erst als Greis begreifen würde. Was er in der Zeit der Geschlechtsreife vor­stellt, weiß er etwas früher, aber doch auch erst gegen die Greisen­haftigkeit zu und so weiter, wie ich den menschlichen Lebenslauf dar­gestellt habe, wo man erst im Alter dasjenige an sich selber begreift, was man in der Kindlieit und Jugend gewesen ist. Es verläuft das Leben nicht scheinbar, sondern in Wirklichkeit so an der Oberfläche. Ich habe gesagt: Solch eine Übersicht brauche man vielleicht zum Leben auch heute an der Oberfläche nicht, aber zum Sterben braucht man sie. - Das ist die Vorstellung vom Unteren; dazu gehört die Vor­stellung des realen Oberen, der Region der Dauer, von der ich Ihnen am letzten Sonntag gesprochen habe, wo der Mensch nicht sich ent­wickelt, sondern das, was der Dauer angehört, auch sein ganzes Leben hindurch von der Geburt bis zum Tode hat. Aber heute können wir nicht betrachten, wie das Untere und das Obere sich verweben, wenn wir nicht das Untere da erfassen, wo es droht, starr zu werden, wo es droht, sich zu verhärten; und wenn wir nicht das Obere da er­fassen, wo es droht, sich zu verflüchtigen, sich zu vergeistigen; wenn wir nicht die Empfindung entwickeln für den Gegensatz: Göttliches -Luziferisches - Ahrimanisches. Der alte Mensch hatte etwas Leben­diges in seiner Seele, wenn er von seinem Raumerlebnis, von seinem Zeiterlebnis sprach; der Mensch der Erdenzukunft muß innerliche Begriffe, innerliche Vorstellungsimpulse entwickeln: Göttliches -Ahrimanisches - Luziferisches.

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ACHTER VORTRAG Dornach, 21. September 1918

Ich habe Sie in den Vorträgen der vorigen Woche darauf hingewiesen, wie versucht werden muß mit Hilfe der Wissenschaft der Initiation von der scheinbaren Wirklichkeit, die uns eigentlich fortwährend umgibt, vorzudringen zu der wahren Wirklichkeit. Und ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß jenes Streben, welches den meisten Men­schen sympathisch ist, das Streben nach einer einheitlichen verstandesmäßigen Welttheorie, gerade abzieht von der Wirklichkeit, daß es gerade hineinführt in die Täuschung gegenüber der Wirklichkeit, daß man vielmehr anstreben müsse, zwei Strömungen der Wirklichkeit zu unterscheiden, insbesondere auch in bezug auf die Menschenerkennt­nis, um dann lebendig dasjenige, was man von jeder dieser beiden Strömungen wissen kann, mit dem andern zu verbinden.

Rekapitulieren wir uns noch einmal kurz, was wir ausgeführt haben mit Bezug auf diese zwei Strömungen in der Menschenerkenntnis, und versuchen wir dann, uns die nötigen Anforderungen einer Wirklich­keitsanschauung auf dieser Grundlage zu verschaffen. Ich sagte Ihnen: Das Menschenleben verläuft eigentlich so, daß der Mensch erst in der zweiten Lebenshälfte begreifen kann, was er in der ersten Lebens­hälfte denkend, überhaupt seelisch durchmacht - und ich sagte: Wirk­sam ist in uns vernünftiges Wesen in den ersten sieben Lebensjahren, von der Geburt bis zum Zahnwechsel, Vernünftiges waltet in uns, aber dasjenige, was da als Vernünftiges waltet, und auch dasjenige, was wir schon in diesen ersten Lebensjahren lernend aufnehmen, wir begreifen es noch nicht durch unsere eigenen Menschenkräfte, wenn wir die eine Strömung nur ins Auge fassen, von der wir zu reden haben. Wäre der Mensch lediglich auf sich als Mensch, als Erdenmensch an­gewiesen, er würde erst im hohen Lebensalter, Ende der Fünfzigerjahre und Anfang der Sechzigerjahre, begreifen können, was er als Kind bis zum Zahnwechsel denkt, fühlt und will. Also man wird erst im höchsten Alter gewissermaßen zur Selbsterkenntnis mit Bezug auf sein inneres Kindheitsleben reif. Die Kräfte im Menschen, die erfassen

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können, was man in dem ersten Kindheitsalter innerlich ver­nünftig durchlebt, die werden eben erst so spät in dem menschlichen Leben geboren.

Dann haben wir eine zweite Lebensepoche, die vom Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreife dauert. Denken Sie nur - wir haben es dar­gestellt in dem Bücheichen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» -, was da der Mensch vor­stellend, fühlend, wollend durchmacht bis zur Geschlechtsreife. Durch eigene menschliche Kräfte, durch menschliche Erdenkräfte würde der Mensch erst Ende der Vierzigerjahre, Anfang der Fünfzigerjahre be­greifen können, was er da durchlebt.

Und wiederum, was wir durchleben von der Geschlechtsreife bis in die Zwanzigerjahre hinein: erst in den letzten Dreißigerjahren, An­fang der Vierzigerjahre würden wir es durch die eigenen menschlichen Kräfte begreifen. Was wir ausdenken, meinetwillen auch an Idealen ausbilden, die Tragweite davon, den Lebenswert, wir würden ihn erst erfassen, wenn wir nur auf unsere menschlichen Lebens kräfte angewiesen wären, in den Dreißigerjahren. Nur dasjenige, was wir vom achtundzwanzigsten bis fünfunddreißigsten Jahre etwa erleben, das steht für sich, das können wir ungefähr begreifen. Dieses mittlere Glied des menschlichen Lebenslaufes, das hat ein gewisses Gleich­gewicht, da können wir ausdenken und begreifen zu gleicher Zeit; in den andern Lebensaltern nicht.

Sie bekommen einen Begriff von menschlicher Entwickelung in einem Lebenslauf, wenn Sie das, was wir so angeführt haben, durch­denken; wie der Mensch in der Zeit als Erdenmensch sich entwickelt, davon bekommen Sie eine Vorstellung. Selbsterkenntnis, insofern wir an die Zeit gebunden sind, wäre eigentlich nur in dieser Weise möglich, daß wir immer warteten, bis das entsprechende Lebensalter ein­tritt, um dasjenige zu begreifen, was wir in einem andern, früheren Lebensalter denken. Das ganze menschliche Leben gehört zusammen. Wir würden als Persönlichkeit, wenn wir nur Erdenmensch in der Zeit wären, gar nicht von uns etwas Schlagkräftiges wissen, wenn wir nicht im Alter zurückschauten auf dasjenige, was sich in der Jugend in uns heranentwickelt hat.

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Dies ist die eine Seite des Menschen, die eine Strömung des Menschenlebens. Mit Bezug auf diese Strömung ist der Mensch ganz und gar der Zeit unterworfen, mit Bezug auf diese Strömung kann er ein­fach nichts machen, als warten, bis die Zeit der Reife da ist. Aber ich habe Sie schon aufmerksam darauf gemacht: So, wie wir es durch­leben im Majadasein, nimmt sich das menschliche Leben ja nicht aus; so nimmt sich das menschliche Leben aus, wenn wir es in der Zeit sich abspielend betrachten. Dennoch ist das, was man so ausführt über den zeitlichen Verlauf des Menschenlebens, die wahre Wirklichkeit. Denn mit demjenigen, was wir sonst erleben zwischen Geburt und Tod, ich sagte Ihnen, mit dem kann man zur Not, wenn man oberflächlich blei­ben will, leben, aber man kann damit nicht sterben. Denn alles das­jenige, was man sonst weiß, was man lernt dadurch, daß es uns andere beibringen, was man lernt dadurch, daß es sich die Menschheit im Lauf der Geschichte angeschafft hat, kurz, was man als zeitlicher Mensch auf eine andere Weise lernt, als daß man im Alter auf die Jugend zurückblickt, das vergeht im Tode, das tragen wir von der einen Strömung zunächst nicht durch des Todes Pforte durch. Nur das, was wir uns so erworben haben, daß es dieser Entsprechung ge­mäß ist, das tragen wir durch die Todespforte durch. Glauben Sie auch nicht, daß Sie das gar nicht tun, was ich damit kennzeichne! Derjenige von Ihnen, der in ein späteres Lebensalter gekommen ist, sieht schon selber in seinem Unterbewußten auf die früheren Lebensalter zurück. Es spielt sich das schon ab, wenn es sich auch im Unterbewußten ab­spielt, was ich so charakterisiert habe. Und Sie würden nichts von dem äußeren zeitlichen Leben durch die Todespforte tragen, wenn es sich nicht so abspielte. Im Zeitalter des Materialismus beachten das ja allerdings die Menschen nicht, aber alles dasjenige, was den Menschen das Zeitalter des Materialismus beibringen kann, kann ja nicht mit­genommen werden durch die Todespforte hindurch. Für die Welt hat nur das Bedeutung, was Sie in diesem Sinne durchmachen, daß Sie im Alter begreifen, was in der Jugend sich abgespielt hat in Ihrem ganzen Menschen. Das ist die eine Strömung.

Die andere Strömung ist aber dadurch herbeigeführt, daß der Mensch nicht bloß ein leiblich-seelisches Wesen ist. Als leiblichseelisches

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Wesen verläuft sein Dasein so in der Zeit, wie wir es jetzt wieder dargestellt haben. Aber der Mensch ist auch ein geistig­seelisches Wesen. Und durch dieses geistig-seelische Wesen ist er nicht bloß im Reiche der Zeit, wie wir es eben charakterisiert haben, son­dern er ist als geistig-seelisches Wesen im Reiche der Dauer. Da ist er allerdings auch wiederum etwas ganz anderes - wir haben es ja dargestellt -, als es ihm erscheint. Da macht er keine Entwickelung durch, da ist er dasselbe Wesen von der Geburt bis zum Tode. Aber sein Denken, Fühlen und Wollen ist etwas ganz anderes, als was es ihm selber erscheint. Sein Denken und auch ein Teil seines Fühlens ist ein Sich-Versetzen in kosmische Regionen, wo Götterkampf stattfindet, wie ich es Ihnen dargestellt habe vor acht Tagen, und wiederum ist das Wollen und ein Teil des Fühlens das Sich-Versetzen in eine andere Region des Kosmos, wo Götterkampf stattfindet. Sinnen, sagte ich Ihnen, heißt, sich in eine gewisse Region der Geistigkeit versetzen und teilnehmen an gewissen Kämpfen der einen Geistesart gegen die andere; ebenso heißt Wollen teilnehmen an gewissen Kämpfen, wenn auch in dem einen oder in dem andern Fall diese Kämpfe zur Ruhe ge­kommen sind. Es ist eine tiefe Wahrheit, was Sie dargestellt finden in der «Pforte der Einweihung», daß, während sich in uns geistig-seelische Vorgänge abspielen, große kosmische Dinge geschehen.

Ebenso wie der Mensch nichts ahnen will im Zeitalter des Materialismus von seinem Leiblich-Seelischen, das in der Zeit verläuft, so will der Mensch nichts wissen von diesem Geistig-Seelischen, das im Reich der Dauer spielt, das aber ganz anders aussieht als sein Denken, Fühlen, Wollen im gewohnlichen Leben, und das sich, wenn man es wirklich betrachtet, abspielt als Geisteskämpfe. So paradox es für den materialistisch denkenden Menschen klingt: Wenn Sie einen Gedanken fassen, ist es etwas ganz anderes als dasjenige, als was Sie es selber in der Maja ansehen. Nehmen wir nur an, Sie fassen einen Gedanken, sagen wir wie einen derjenigen, die wir gestern erwähnt haben: Sie fassen den Gedanken an den Raum. In dem Augenblick, wo Sie an den Raum denken - auch nur in der Abstraktheit, wie die Gegenwart an den Raum denkt -, in dem Augenblicke, wo Ihr Geist sich mit dem Raumgedanken erfüllt, stecken Sie mit Ihrer Seele in einer geistigen

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Region drinnen, wo Ahriman einen mächtigen Kampf kämpft gegen andersgeartete Hierarchien. Und Sie könnten den Gedanken an den Raum nicht haben, ohne daß Sie lebten in einer Region, wo Ahriman gegen andere Hierarchien kämpft. Und wenn Sie ein Wollen ent­falten, wenn Sie zum Beispiel sagen: Ich will spazierengehen! - selbst wenn es ein so unbedeutendes Wollen ist, sobald Sie dieses Wollen in die Tat umsetzen, stecken Sie geistig in einer Region drinnen, wo die luziferischen Geister kämpfen gegen Geister anderer Hierarchien. Das Weltengeschehen ist eben, vom Gesichtspunkte der Wissenschaft der Initiation betrachtet, etwas wesentlich anderes als der schattenhafte Abglanz, den wir von ihm wahrnehmen, indem wir als Menschen zwischen Geburt und Tod in der Maja leben. Denn dasjenige, was wir als Maja so wahrnehmen, das ist nichts anderes als ein Etwas, das sich vergleichen läßt mit dem Wellenkräuseln an der Oberfläche des Meeres. Ich habe Ihnen gestern das Bild dargestellt: Das Wellenkräuseln an der Oberfläche des Meeres, es ist eigentlich im Grunde genommen etwas, was nicht da wäre, wenn nicht unter ihm das Meer wäre, über ihm die Luft. Die Kräfte, welche dieses Wellenkräuseln hervorrufen,

# Bild s. 161

sind innerhalb des Meeres, sind in der Luft, und das Wellen­kräuseln ist nur das Abbild desjenigen, was an Kräften von oben und unten zusammenschlägt. So ist unser Leben in der Maja zwischen Ge­burt und Tod nichts anderes, als was zusammenschlägt aus diesen

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Geisterkämpfen, die sich in Wahrheit, wenn wir denken, fühlen oder wollen, im Reiche der Dauer abspielen, und aus jenem Entwickelungsverlaufe in der Zeit, der sich so abspielt, daß wir erst im späten Alter dasjenige erfassen, was wir in der Jugend ausdenken. Unser Leben ist im Grunde ein Nichts, wenn wir es nicht aus dem Zusammenfluß und Zusammenschluß dieser beiden wahren Wirklichkeiten betrachten. Hinter unserem Leben sind diese beiden wahren Wirklichkeiten.

Nun ist nicht nur hinter unserem Leben auf der einen Seite der zeit­liche Verlauf, der uns nötigen würde, zu warten und zu warten, um etwas zu begreifen, was wir vorher erdacht haben, und sind nicht nur die Vorgänge in der Dauer, die sich abspielen unser ganzes Leben hindurch in gleicher Weise zwischen Geburt und Tod, sondern wir selbst stehen drinnen in dieser Wirklichkeit, und unser Drinnenstehen erscheint uns auch nur in seinem Abbilde. Unser ganzes Ver­hältnis zur Welt erscheint uns nur in seinem Abbilde. Die Wahrheit er­kennen, erfordert immer, daß man sich erkrafte, sie zu erkennen; sie kommt nicht zu uns, wenn wir bloß passiv bleiben wollen. Die Wahr­heit erkennen, heißt, sich stehend erkennen in den beiden Strömungen, die ich angedeutet habe: im Reiche der Zeit und im Reiche der Dauer. Und indem wir drinnenstehen in diesen beiden Reichen und sich auch mit uns ein Leben abspielt, das gegenüber den wahren Kräften keine andere Bedeutung hat als das Meeresgekräusel gegenüber den Stürmen der Luft und gegenüber dem auf und ab wogenden Flusse unten, ver­bringen wir unser Leben zwischen Tod und Geburt, und dann auch wieder zwischen Geburt und Tod. Die Kräfte und Mächte machen sich mit uns zu tun, während wir das Leben so verbringen. Denn immer sind mächtige Kräfte da, welche auf der einen Seite sich Mühe geben, uns dem gewöhnlichen Erdenleben, wie es in der Maja ver­läuft, zu entreißen; aber ebenso sind andere Kräfte da, welche sich alle Mühe geben, uns dem Reiche der Dauer zu entreißen.

Auf der einen Seite - halten wir das gut fest - haben wir unseren zeit­lichen Lebensverlauf, wo wir im Begreifen erst spät reif werden für das, was sich mit uns in der Zukunft abspielt. Es gibt Kräfte und Mächte, welche uns beschränken wollten auf das, was wir so als Mensch sind, welche uns als Menschen so gestalten möchten, daß sich dies mit

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uns abspielt. Das heißt also: Es gibt Kräfte und Mächte, welche wollen, daß unser Leben wirklich so verläuft, auch in der Maja, auch im Erden­verlaufe so verläuft, daß wir als Kind dies oder jenes erleben, aber nichts davon begreifen, gleichsam ein Schlafesleben führen bis zum achtundzwanzigsten Lebensjahre, dann anfangen, das Gleichzeitige an uns etwas zu begreifen, und dann, wenn wir über das fünfund­dreißigste Jahr hinaus sind, anfangen, das Frühere zu begreifen. Es gibt Kräfte und Mächte, welche uns zu einem bloß zeitlichen Men­schen machen möchten, zu einem Menschen, der die erste Hälfte seines Lebens mehr oder weniger ein Pflanzen-, ein Schlafesleben führt, und in der zweiten Hälfte seines Lebens rückschauend begreift, was sich während dieses Schlafes abgespielt hat. Kräfte und Mächte gibt es, welche den Menschen in der ersten Hälfte seines Lebens zum Träu­mer, in der zweiten Hälfte seines Lebens zu einem Wesen machen möchten, das sich dieser Träume erinnert und dadurch erst in der zweiten Hälfte seines Lebens zum Selbstbewußtsein komme. Praktisch würde sich, wenn diese Kräfte und Mächte allein auf uns wirken könnten, das so ausnehmen, daß wir eigentlich erst in dem Anfang der Dreißigerjahre, oder höchstens im achtundzwanzigsten Lebensjahre, seelisch geboren werden. Vorher würden wir wie schlaftrunken auf der Erde herumgehen.

Wenn das so wäre, wie diese Wesen wollen, würden wir losgerissen werden von unserer ganzen kosmischen Vergangenheit. Unser jetziges Dasein beruht ja darauf, daß wir in dem Sinne, wie ich es in der «Ge­heimwissenschaft im Umriß» dargestellt habe, eine kosmische Vergangenheit durch Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit durchgemacht haben. Während dieses Durchgangs durch die Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit haben Wesen der höheren Hierarchien - die ein besonderes Interesse haben, daß im Kosmos Menschen entstehen -, Wesen, welche die Schöpfer der Menschheit sind, uns entwickelt und in das Erdendasein hereingestellt. Im Erdendasein sind wir nun nach der einen Strömung solche Menschen, wie wir es da geschildert haben. Die Kräfte und Mächte sind da, die uns nur als solche Erdenmenschen gestalten wollten. Würden sie siegen, dann würden sie uns losreißen von unserer Saturn-, Sonnen- und Mondenvergangenheit. Sie würden

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uns im Erdenleben konservieren, sie würden uns nur zu Erdenmen­schen machen. Das streben gewisse Mächte an. Es sind die ahrimani­schen Mächte. Ahriman strebt an, uns zu bloßen Zeitenmenschen zu machen, strebt an, unser Erdenleben loszureißen von unserer kosmi­schen Vergangenheit. Er strebt an, die Erde ganz und gar zu einem Wesen für sich zu machen und uns mit ihr ganz tellurisch, ganz irdisch zu machen.

Andere Kräfte und Mächte gibt es, die streben das gerade Gegenteil an. Die streben an, uns diesem zeitlichen Leben ganz zu entreißen, uns solches Denken, Fühlen und Wollen zu geben, das ganz und gar nur einträufelt aus der Region der Dauer. Diese Wesen streben an, uns ohne unser Zutun von der Kindheit an ein gewisses Quantum von Denken, Fühlen und Wollen gewissermaßen zu inspirieren und es uns dann durch den ganzen Lebenslauf zu erhalten. Würden sie siegen, so würde unser ganzes zeitliches Leben verdorren. Wir würden endlich -sogar sehr bald, es wäre schon längst geschehen, wenn diese Wesen gesiegt hätten - abstreifen, ablegen die physische Körperlichkeit, das leiblich-geistige Wesen, und wir würden reine Geister werden. Aber es würde unsere Aufgabe nicht erfüllt werden, insoferne diese Auf­gabe vom Erdensein kommt. Wir würden hinweggezogen werden vom Erdensein. Diesen Wesen ist die Erde zu schlecht, sie hassen die Erde, sie mögen die Erde nicht. Sie möchten den Menschen von der Erde hinwegheben, sie möchten ihm ein Dasein rein im Reiche der Dauer geben; sie möchten, daß er ausschalte von sich all dasjenige, was so in der Zeit verläuft, wie ich es dargestellt habe. Das sind die luziferischen Wesenheiten. Die luziferischen Wesenheiten streben das Gegenteil von den ahrimanischen Wesenheiten zunächst an. Die ahri­manischen Wesenheiten suchen den Menschen mit dem ganzen Erdendasein loszureißen von der kosmischen Vergangenheit und das Irdische zu konservieren. Die luziferischen Wesenheiten streben, die Erde wegzuwerfen, alles Irdische vom Menschen wegzuwerfen, und den Men­schen ganz und gar zu spiritualisieren, so daß nichts Irdisches auf ihn wirkt, so daß er nicht durchsetzt und durchkraftet werde von dem Irdischen. Sie möchten in ihm nur ein kosmisches Wesen haben, sie möchten, daß die Erde abfiele von der Evolution, daß sie verworfen

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würde im Weltenall. Während Ahriman will, daß gerade die Erde sich verselbständige, gewissermaßen für den Menschen die ganze Welt werde, streben die luziferischen Wesenheiten an, daß die Erde verwor­fen werde, weggeworfen werde von der Menschheit, und die Mensch­heit hinauferhoben werde in das Reich, in welchem die luziferischen Wesenheiten selber sind, in welchem die luziferischen Wesenheiten ihr Dasein haben in der reinen Welt der Dauer. Um dieses zu erreichen, versuchen die luziferischen Wesenheiten fortwährend, uns die Intelli­genz, die wir als Menschen haben, automatisch zu machen, und sie versuchen, den freien Willen in uns zu unterdrücken. Würde die In­telligenz rein automatisiert werden, würde der freie Wille unterdrückt werden, dann würden wir mit automatischer Intelligenz, und nicht aus unserem Wollen, sondern aus Götterwollen heraus dasjenige voll­bringen können, was uns obliegt. Wir würden rein kosmische Wesen werden können. Das streben die luziferischen Geister an. Sie streben an, uns gewissermaßen zu reinen Geistern zu machen, solchen, die nicht eigene Intelligenz haben, sondern nur kosmische Intelligenz, die nicht eigenen freien Willen haben, sondern in denen alles dasjenige, was Denken und Handeln ist, automatisch verläuft, wie bei der Hier­archie der Angeloi und in vieler Beziehung in der Hierarchie der luzi­ferischen Wesenheiten selber, aber da in anderer Beziehung. Zu reinen Geistern wollen uns die luziferischen Wesenheiten machen; den Erdeneinschlag wollen sie verwerfen. Dazu wollen sie uns eine Intelligenz schaffen, die ganz und gar unbeeinflußt ist von jeglichem Gehirn, und in der ganz und gar kein freier Wille webt.

Die Wesen, die sich um Ahriman scharen, die ahrimanischen Wesenheiten, die wollen im Gegenteil gerade den menschlichen Intellekt ganz besonders pflegen, und ihn immer mehr und mehr so pflegen, daß er in immer größere und größere Abhängigkeit von allem Erdendasein kommt; und sie wollen den menschlichen Willen, den Eigenwillen ganz besonders ausbilden: also alles dasjenige, was gerade die luziferischen Wesenheiten unterdrücken wollen. Die ahrimanischen Wesenheiten, oder besser gesagt, die dienenden Geister des Ahriman, die wollen dieses gerade voll ausbilden. Das ist ganz besonders wichtig zu berücksichtigen. Der Mensch würde dadurch zu einer Art Selbstgenügsamkeit

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kommen. Er würde zwar ein Träumer sein in seiner Jugend, aber er würde ein ganz gescheiter Mensch in seinem Alter werden und würde manches verstehen durch eigene Erfahrung; doch er bekäme nichts geoffenbart aus den geistigen Welten. Verhehlen wir uns das nicht: Alles, durch was man in der Jugend klug ist, ist nur aus Offenbarung erstanden, eigene Erfahrung tritt erst im Alter ein. Und die ahrimanischen Wesenheiten wollen uns auf diese eigene Erfahrung beschränken. Wir würden frei wollende Wesen sein, aber wir würden als geistig-seelische Wesen höchstens erst im achtundzwanzigsten Lebensjahre geboren werden. Denken Sie nur einmal: als Mensch stehen wir eigentlich zwischen diesen beiden Willensrichtungen der geistigen Welten drinnen. Und wir haben als Mensch in einem ge­wissen Sinne die Aufgabe, uns so hindurchzuleben in der Welt, daß wir weder Ahriman noch Luzifer folgen, sondern ein Gleichgewicht finden zwischen den beiden Strömungen.

Man kann sich vorstellen, daß auch noch unserem materialistischen Zeitalter gruselig wird, wenn die Menschen hören, was da eigentlich auf dem Grunde der Menschennatur sich abspielt. Weil den Menschen gruselig wird davor, war es ja so eingerichtet in der Weltenordnung, daß in alten Zeiten göttliche Lehrer den Menschen ein überbewußtes Wissen mitteilten, damit die Menschen nicht selber sich diesem Gei­steskampfe entgegenzustellen brauchten. Da konnten dann die Ein­geweihten gegenüber der äußeren Welt schweigen von diesem Geisteskampfe. Menschen, die von diesem Geisteskampfe, der sich gewisser­maßen bei jedem Menschen hinter der Szene des Lebens abspielt, wis­sen, wußten, die gab es immer. Immer gab es Menschen, welche sich davon überzeugt hatten, daß das Leben ein Sich-Hindurchwinden durch einen Kampf ist, daß das Leben eine Gefahr in sich schließt. Aber immer mehr und mehr bestand auch der Grundsatz, die Men­schen nicht hinzuführen zur Schwelle der geistigen Welt, sie nicht hinzugeleiten zu dem Hüter der Schwelle, damit sie nicht - verzeihen Sie den trivialen Ausdruck, aber er paßt - das Gruseln bekommen. Aber die Zeiten sind vorüber, in denen das möglich ist. Denn Zeiten werden eintreten in der zukünftigen Erdenentwickelung, in welcher die Scheidung wird eintreten müssen zwischen den Kindern des

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Luzifer und den Kindern des Ahriman, entweder das eine oder das andere. Aber wissen, daß man drinnensteht und im Drinnenstehen das Leben wissend führen muß, das muß heute als Lebensnotwendigkeit für die menschliche Zukunft gesagt werden und muß verstanden wer­den. Eine bloße Wissenschaft des Schweigens kann es für die Zukunft nicht geben.

Derjenige, welcher sich wissend einleben will in das Leben, der muß in einer gewissen Beziehung, ich möchte sagen, kosmisches Empfin­den entwickeln. Was heißt das, kosmisches Empfinden entwickeln? Das heißt, er muß lernen, die Welt etwas anders anzusehen, als man sie gewohnt ist von dem Gesichtspunkte der Maja anzusehen. Wenn man mit der Wissenschaft der Einweihung durch die Welt geht, dann treten Gefühle auf, die nicht da sind, solange man in dem Wissen der Maja bloß lebt. Es treten Gefühle auf, die der gewöhnliche Mensch nicht nur als paradox, sondern als töricht ansieht, als phantastisch ansieht, die aber so berechtigt sind wie möglich, gerade der wahren Wirk­lichkeit gegenüber. Derjenige, der ausgerüstet mit der Wissenschaft der Einweihung einem Menschen gegenübertritt, er schwebt hin und her zwischen zwei Empfindungen. Du Mensch - denkt er sich -, du schwebst in zwei Möglichkeiten: entweder du verfallst ganz dem Zeit­lichen, du rulneralisierst dich, du erstarrst, indem du bloßer Erden­mensch wirst und deine kosmische Vergangenheit verlierst; oder aber du verflüchtigst dich im Geiste zu einem geistigen Automaten, du erreichst dein Ziel als Mensch nicht, trotzdem du Geist bist. - Man möchte sagen: Wenn man so einem Menschen gegenübersteht, treten einem eigentlich immer aus ihm heraus zwei Menschen entgegen, der eine, der in der Gefahr schwebt, in seiner Form zu versteinern, in seiner Form dicht und starr zu werden und mit der Erde zusammenzuwach­sen, und der andere, der in der Gefahr schwebt, alles, was zum Mine­ralisierenden, zum Sich-Erhärtenden neigt, auszustoßen, ganz weich, quallig zu werden und endlich sich aufzulösen als geistiger Automat im All. Diese zwei Wesen treten eigentlich denen, die mit der Wissen­schaft der Initiation ausgerüstet sind, entgegen, wenn man einen Men­schen betrachtet. Man hat immer, ich möchte sagen, Angst - verzeihen Sie, man muß die Worte so wählen, wie sie die Sprache darbietet, es

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klingt also manches paradox, wenn man ins Reich der Wirklichkeit hineinweist -, die Menschen, wie sie einem entgegentreten, könnten plötzlich alle so werden wie jene merkwürdigen Gestalten, die man manchmal an Felsenwänden sieht: Ritter zu Pferde, wie aus dem Felsen herausgebildet, oder andere Gestalten in den Bergen, schlafende Jung­frauen und so weiter, die Menschen könnten so etwas werden und sich mit dem Gestein der Erde vereinigen und nur fortleben als minerali­sierte Form. Oder aber sie könnten ausstoßen dasjenige, was sie in die Mineralisierung hineinweist und könnten quallig werden: diejenigen Organe, die sich zusammengezogen haben, könnten aufquellen, die Ohren könnten riesig groß werden, könnten den Kehlkopf mit um­fassen, aus den Schultern heraus könnten flügelartige Organe mit alle­dem zusammenwachsen; das alles so weich wie eine Meeresqualle, aber sich wie aus der eigenen wogenden Wellenform heraus auf­lösend.

Und solche Empfindungen, ich möchte sagen kosmische Empfin­dungen, man hat sie nicht nur gegenüber dem Menschen, wenn man mit der Erkenntnis der Initiation an die Dinge herantritt, sondern man überträgt schließlich das, was durch diese kosmische Empfindung spricht, auf alles. Sie haben ja bemerkt: die Tendenz zum Erstarren, zum Felsigwerden, sie kommt von Ahriman; die Tendenz zum Ver­flüchtigen, zum zuerst Qualligwerden, dann Sich-Auflösen, sie kommt von Luzifer. Es beschränkt sich das nicht gegenüber dem, was einem am Menschen selbst entgegentritt, sondern es dehnt sich aus auf alles, was einem in der Abstraktheit entgegentritt. Man lernt empfinden alles Geradlinige als ahrimanisch, alles Gebogenlinige als luziferisch. Der Kreis ist das Sinnbild des Luzifer, die Gerade ist das Sinnbild des Ahriman. Wir schauen das menschliche Haupt an: dieses menschliche Haupt mit seiner Tendenz - Sie können es am Skelett sehen - zu ver­steinern, zu verknöchern, in der Form, die ihm die Erde gibt, sich fest­zuhalten, ist ahrimanische Bildung. Wären die Kräfte, die im mensch­lichen Haupte wirken, im ganzen Menschen wirksam, der Mensch würde die Gestalt des Ahriman erhalten, wie Sie ihn drüben auf unserer Gruppe haben, und er wäre ganz durchdrungen, ich möchte sagen, von Kopfigkeit, er wäre ganz eigene Intelligenz, aber egoistische

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Intelligenz, und ganz Eigenwille, so daß der Wille in der Form selber zum Ausdrucke kommt.

Beschauen wir aber den andern Menschen, nicht den Kopfmen­schen, sondern den Extremitätenmenschen im weiteren Sinne, so haben wir die Vorstellung: Wenn dasjenige, was in dem übrigen Men­schen an Kräften wirkt, den ganzen Menschen durchwirkte, so würde der Mensch so gebildet sein, wie drüben auf der Gruppe die Figur des Luzifer ausgestaltet ist. Und wo wir hinschauen, überall, ob im Naturleben oder im sozialen Leben, wir können, mit der Wissenschaft der Initiation ausgestattet, in das Ahrimanische und in das Luziferische hineinschauen. Wir müssen es nur empfinden, das Ahrimanische und das Luziferische. Und diese Empfindung auszubilden, das liegt schon in der Notwendigkeit der Entwickelung der Menschenzukunft. Der Mensch muß fühlen lernen: Luziferisches Wesen waltet durch die Welt. Dieses luziferische Wesen waltet auch durch das menschliche Zusammenleben. Und dieses luziferische Wesen möchte vor allen Dingen alles, was Gesetzlichkeit in der Welt ist, was die Menschen jemals an Gesetzen aufgestellt haben, aus der Welt herausschaffen. Im menschlichen Zusammenleben ist dem Luzifer nichts so sehr verhaßt, als alles das, was irgendwie nach Gesetz riecht.

Ahriman möchte überall Gesetze haben; Ahriman möchte überall Gesetze so eben hinschreiben. Und wiederum ist das menschliche Gemeinschaftsleben aus dem Hasse des Luzifer gegen die Gesetzmäßig­keit und aus der Sympathie des Ahriman für Gesetzmäßigkeit zu­sammengewoben, und man begreift dieses Leben nicht, wenn man es nicht dualistisch versteht. Ahriman liebt alles dasjenige, was äußere Form ist, was erstarren kann. Luzifer - «die Luzifere» - lieben alles dasjenige, was formlos ist, was die Form auflöst, was flüssig und be­weglich wird. Am Leben muß man lernen, Gleichgewicht zu schaffen zwischen dem Erstarrenwollenden und dem Flüssigwerdenden.

Sehen Sie sich die Formen unseres Baues an: Überall das Gerade in das Gebogene übergeführt, Gleichgewicht gesucht, überall der Ver­such gemacht, das Erstarrende wieder aufzulösen in Flüssiges, überall Ruhe in der Bewegung geschaffen, aber die Ruhe wiederum in die Bewegung versetzt. Das ist das ganz Geistige an unserem Bau. Wir

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müssen als Menschen der Zukunft anstreben, in der Kunst und im Leben etwas zu gestalten, indem wir wissen: Da unten Ahriman, der alles erstarren lassen will, da oben Luzifer, der alles verflüchtigen will; beides aber muß unsichtbar bleiben, denn in der Welt der Maja darf nur das Wellenkräuseln drinnen sein. Und wehe, wenn Ahriman oder Luzifer selber sich hineindrängen würden in dasjenige, was Leben sein will! Und so ist unser Bau geworden ein Gleichgewichtszustand im Weltenall, der entrungen ist, herausgehoben ist aus dem Reiche des Ahriman und dem Reiche des Luzifer. Es gipfelt alles in der Mittelfigur unserer Gruppe, in diesem Menschheitsrepräsentanten, in dem alles Luziferische und Ahrimanische ausgelöscht werden soll. Und daß es so ist, daß es herausgeholt ist aus dem, was geistig nur bleiben soll, das kommt zur Darstellung in der Gruppe, wo das Luziferische und Ahrimanische im Gleichgewichte einander auch noch sichtbarlich entgegengestellt werden, damit die Menschen es verstehen lernen.

Das ist die Perspektive, die man heute hinstellen muß vor die Men­schen, damit die Menschen begreifen lernen, wie sie den Gleichgewichtszustand finden sollen zwischen Ahrimanischem und Luzi­ferischem. Das Ahrimanische richtet uns immer, ich möchte sagen, auch seelisch-geistig geradlinig; das Luziferische bringt uns immer in wellige oder kreisförmige Bewegung und vermannigfaltigt uns. Haben wir einseitig die Tendenz nach Monismus, streben wir an, die ganze Welt als eine Einheit zu erklären, dann zupft uns Ahriman bei einem Ohr; werden wir Monadisten, einseitige Monadisten, erklären wir die Welt aus vielen, vielen Atomen oder Monaden nur, ohne Einheit, dann zupft uns Luzifer beim andern Ohrläppchen. Und im Grunde genommen, für denjenigen, der einsichtig ist, stellt sich die Sache so dar, daß wenn Monisten mit Pluralisten, mit Monadologen streiten, da ist eigentlich der Mensch, der da streitet, zumeist recht unschuldig daran; denn hinter ihm, da zupft ihn, wenn er Monist ist, der Ahriman bei dem Ohrläppchen und bläst ihm ein alle die schönen Gründe, all die eigengeglaubte Logik, die er für seinen Monismus aufbringt; und wenn er Leibnizianer ist oder anderer Monadologe, da ist der Luzifer da und bläst ihm für die Vielfaltigkeit oder für die Mannigfaltigkeit der geistigen Wesenheiten all die schönen Gründe ein. Denn dasjenige,

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was gesucht werden muß, ist der Gleichgewichtszustand, die Einheit in der Vieiheit, die Vielheit in der Einheit. Das ist aber unbequemer, als entweder die Einheit oder die Vielheit zu suchen, wie es überhaupt unbequemer ist, einen Gleichgewichtszustand zu suchen als irgend etwas, worauf man wie auf einem Faulbett gut ausruhen kann. Die Menschen werden entweder Skeptiker oder Mystiker. Die Skeptiker fühlen sich als freie Geister, die alles bezweifeln können, die Mystiker fühlen sich als gottdurchdrungen, die alles in ihrem Inneren liebend, erkennend umfassen. Im Grunde sind die Skeptiker nur Ahrimanschüler, die Mystiker nur Luziferschüler. Denn dasjenige, was von der Menschheit anzustreben ist, ist der Gleichgewichtszustand: mystisches Erleben in der Skepsis, Skepsis im mystischen Erleben. Es kommt nicht darauf an, ob man Montaigne oder Augustinus ist, sondern es kommt darauf an, daß dasjenige, was der Montaigne ist, durch den Augustinus beleuchtet wird, und dasjenige, was der Augustinus ist, durch den Montaigne beleuchtet wird. Die Einseitigkeiten führen den Menschen nach der einen oder nach der andern Strömung ab.

Was ist das eigentlich, das Luziferische? Das Luziferische ist eigentlich da, um uns kopflos zu machen, uns die eigene Intelligenz und den freien Willen zu nehmen, und die luziferischen Geister, das luziferische Element will eigentlich, daß wir schon im achtundawan­zigsten Jahre sterben, das will uns nicht alt werden lassen. Man sagt übrigens besser «die luziferischen Geister», aber «Ahriman», denn wenn es auch Scharen in der Gefolgschaft des Ahriman gibt, Ahriman stellt sich selbst als eine Einheit dar, weil er nach Einheit strebt, und das luziferische Element stellt sich als Vielheit dar, weil es eben nach Vielheit strebt; deshalb spricht man es so aus, wie ich es heute im Laufe des Vortrags schon getan habe. Und wenn es ganz nach Luzifer, nach den luziferischen Geistern gehen würde, so würden wir Kinder werden, Jünglinge und Jungfrauen werden, würden gutes Wissen der Dauer eingeträufelt erhalten, aber wir würden mit ungefähr achtund­zwanzig Jahren die Sklerose bekommen und bald danach vertrotteln, damit dasjenige, was wir als menschliches Begreifen entwickeln können, gerade als Sklerose ausgestoßen würde, und dasjenige, was wir in der Jugend aufnehmen, automatisiert vergeistigt werden könnte. Die luziferischen

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Geister möchten uns gleich in die geistige Welt nehmen und uns nicht erst Jupiter-, Venus-, Vulkanentwickelung durchmachen lassen, bevor wir kosmische Wesen werden. Sie betrachten das als nicht notwendig; sondern von der Erde weg den Menschen an das gött­lich-geistige Ziel zu bringen mit dem, was er schon sich durch Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit entwickelt hat, das erstreben sie. Das ist eine Strömung, die möglichst schnell laufen will mit dem Menschen; das ist eine voreilige Strömung. Die luziferischen Geister möchten mit uns dahinstürmen und uns möglichst bald in die kosmische Wesenhaftig­keit hineinführen. Die ahrimanischen Geister, die möchten unsere Vergangenheit tilgen und uns zurückführen mit der Erde an den Aus­gangspunkt, möchten auslöschen unsere Vergangenheit, uns auf der Erde konservieren und dann uns dahin zurückversetzen, wo wir als Saturnwesen waren. Es ist eine rückläufige Bewegung, eine retar­dierende Bewegung. Aus einer voreiligen und aus einer rückläufigen Bewegung ist das Leben schließlich zusammengesetzt, und der Gleich­gewichtszustand zwischen beiden muß gefunden werden.

Sagen Sie nicht, diese Dinge seien schwierig, denn darauf kommt es gar nicht an. Ich habe Ihnen gestern vorgeführt, wie in alten Zeiten die Menschen Raum- und Zeiterlebnisse gehabt haben, wie sie den Raum konkret erlebt haben, wie sie die Zeit konkret erlebt haben. Das, was wir so abstrakt erleben, sie haben es konkret erlebt. Wir müssen lernen, unsere Umgebung so anzuschauen, daß wir überall dieses Zu­sammenspielen im Erstarren, Verflüchtigen, vom Davonlaufen und Zurückwerfen, vom Geradlinigen und Krummlinigen im Gleichgewichte erleben. Schlafen kann man mit dem, was die Welt einfach anschaut. Wenn man wachend sie anschaut, dann droht sie einem, in all ihrem Wesen, sobald sie aus der Gleichgewichtslage herauskommt, zu erstarren oder sich zu verflüchtigen. Dieses Gefühl müssen wir ent­wickeln, und so lebhaft muß es in der Menschheit der Zukunft wer­den, wie das alte Raum- und Zeitgefühl in den Menschen der Vergan­genheit war.

Man kann an unserer Gruppe verschiedenes empfinden. Man kann in der Mitte den Menschheitsrepräsentanten mit seinen Linien und Flächen und Formen fühlen, wo alles Luziferische und Ahrimanische

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ausgelöscht ist. Die Formen sind da, aber so weit es sich in der Men­schengestalt tilgen läßt, ist das Luziferische und Ahrimanische getilgt. Man kann Luzifer und Ahriman in ihren Formen festgehalten finden. Man kann empfinden diese Gegensätzlichkeit des Mittelmenschen, des Luzifer und Ahriman, und kann mit diesem Gefühle durch die Welt gehen: man wird dasjenige, was diesem Gefühle entspricht, überall in der Welt finden. Und wer sich aneignen wird dasjenige, was in diesen Gefühlen lebt, die man an dieser Trinität entwickeln kann, der wird sich viel aneignen für eine gewisse Autopsie des Lebens. Es wird sich viel enthüllen von der Welt, wenn man sie so ansehen wird, wie sich diese Gefühle aus der Trinität ergeben. Der Mjttelmensch oder Menschheitsrepräsentant; Ahriman; Luzifer. Und wie dem alten Raumgefühil die Dreifaltigkeit sich offenbarte, dem alten Zeitgefühl die Einheit des Göttlichen, so wird sich ein Höchstes an Welten-geheimnissen der Menschheit der Zukunft enthüllen müssen, indem sie das Erstarrende, das Sich-Verflüchtigende, das Davonlaufen, das Zurückschieben, das Geradlinige, das Krummlinige, das Gesetz-mäßiges-Liebende, das Gesetzmäßiges-Hassende und so weiter, kon­kret aufzufassen in der Lage ist. Überall im Leben den Schwingungs-zustand erkennen, das ist es, worauf es ankommt. Denn das Leben ist nicht möglich, ohne daß ein solcher Schwingungszustand darinnen ist. Sie können ja auch, wenn Sie eine Pendeluhr haben, die Schwin­gungen vermeiden wollen, das Pendel stillstehen lassen: aber die Uhr wird Ihnen dann nichts nützen; damit sie die Zeit angibt, muß das Pendel ausschlagen. So muß der Pendelzustand im Leben drinnen sein. Überall muß das bemerkt werden. Davon wollen wir morgen weitersprechen.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 22. September 1918

Wenn wir uns einmal vergegenwärtigen, was uns jetzt nicht aus den verschiedenen Einzelheiten, sondern aus dem Gesamtsinn der zuletzt hier gehaltenen Vorträge folgt, auch zum Beispiel aus dem gestrigen, so können wir sagen: es ist dies, daß von jener Kultur, welche die unsrige in energischer Weise gegen die Zukunft hin ablösen muß, gefordert wird, daß die Menschen tiefer hineinblicken in die wahre Wirklichkeit, daß vor allen Dingen solche Schlagworte, oder viel­leicht besser gesagt Schiagtheorien, wie die von Monismus, Idealismus, Realismus und so weiter, ihr Ende finden, und daß die Menschen ein­sehen, wie die Majawirklichkeit, die Wirklichkeit der äußeren Er­scheinungen, die um uns henim sind, ein Zusammenfluß ist von wirk­lichen zwei Welten, und wir können schon sagen, von zwei Welten, die miteinander im Kampfe sind. Auf die Wirklichkeit schauen, heißt nämlich etwas ganz anderes, als nur theoretisch, wie es etwa die heutige Naturwissenschaft macht, dasjenige verfolgen, was in der Welt der Erscheinungen, in der Welt der Phänomene rings um uns herum ist.

Wir lassen uns zunächst, um diesen Satz praktisch zu erörtern, auf ein konkretes Beispiel ein. Nicht wahr, jeder wird glauben, daß mate­rialistische Weltanschauung, jene materialistische Weltanschauung, die sich namentlich seit den sechziger, siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts unter den zivilisierten Nationen ausgebreitet hat, und auch die materialistische Lebensführung, die ja aus den Vorstellungen der materialistischen Weltanschauung herausfließt, daß diese auch in ihren Wirkungen den Menschen materialistischer machen. Man glaubt natürlich, wenn man die Welt nur so obenhin nach den Erscheinungen ansieht, daß dasjenige eintritt, was aussieht wie eine äußere Verwirk­lichung der Ideen, die sich der Mensch in den Kopf setzt. Aber so ist es nicht. Sobald man die aufeinanderfolgenden Gestaltungen in der Wirklichkeit ins Auge faßt, stimmt das ganz und gar nicht, daß sich die Welt irgendwie einrichte nach den Ideen, die sich die Menschen in die Köpfe setzen. Und man begreift erst, daß dies mit der Wirklichkeit

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nicht stimmen kann, wenn man durchschaut, daß der Mensch in der Form, wie wir das auseinandergesetzt haben, eine Doppelnatur ist, und daß in ihm wirklich Ahrimanisches und Luziferisches in der charakterisierten Weise fortwährend durcheinanderarbeiten. Nur da­durch, daß das so ist, ist folgende konkrete Erscheinung möglich. Nehmen wir an, eine genügend lange Zeit würde ein Zeitalter sich materialistischen Vorstellungen hingeben, wie es das unsrige getan hat. Es würde auch, durch diese Vorstellungen verführt, im bewußten Wollen eine Art materialistischer Lebensführung entwickeln. Die Folge davon wird nicht eintreten in demjenigen Teil der Menschennatur, welcher der Träger des bewußten Lebens ist. Dieser Träger des bewußten Lebens hat den tiefgehenden Einfluß zunächst nicht auf das menschliche Leben, den man ihm beizulegen geneigt ist bei ober­flächlicher Anschauung; sondern die Wirkung tritt im Unbewußten ein, so daß Sie sich schematisch das so vorstellen können: In der be­wußten Hauptesnatur des Menschen lebt Materialismus, und das Unterbewußte - diejenige Natur, die also erst ihre Metamorphose durchmacht, indem wir durch die Todespforte durchgegangen sind und hinüberleben zur nächsten Erderinkarnation, die wir aber doch als unvollendete Bildung jetzt in uns tragen -, diese, sagen wir untere Natur des Menschen, ist der Träger des unbewußten Seelenlebens, und dieses unbewußte Seelenleben wird merkwürdigerweise unter dem Einflusse des Materialismus immer spiritueller und spiritueller. Also die wirkliche Folge materialistischer Vorstellungen, die wirkliche Folge auch materialistischer Lebensführung ist, daß die untere Natur des Menschen immer spiritueller und spiritueller wird. So daß Sie also sich folgendes vorzustellen haben. Wenn Sie recht sehr sich vertiefen in Kraft- und Stoffvorstellungen und nur an diese glauben, und wenn Sie Ihr Leben so einrichten, daß Sie sagen: Essen und Trinken und nachher das Nichts mit dem Tode - und alle einzelnen Handlungen in diesem Stile halten, so geht der Materialismus wirklich in Ihre Lebens­führung über, und die untere Natur wird dann immer spiritueller und spiritueller.

Nun fordert aber diese untere Natur, die immer spiritueller und spiritueller wird, daß etwas auf sie wirke; sie kann allein ihren Weg,

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den sie ja machen muß durch die Weltentwickelung, nicht machen. Und die Folge davon, daß im Haupte, in der oberen Natur des Men­schen nur materialistische Vorstellungen und materialistische Sym­pathien sind, ist die, daß diese obere Natur auf die untere Natur des Menschen nicht wirken kann, und daß daher die untere Natur des Menschen andern Wirkungen ausgesetzt ist wegen der Ohnmacht der oberen Natur: sie ist ausgesetzt den Wirkungen des luziferischen Prin­zips. Das luziferische Prinzip lebt sich nicht, wie ich gestern gesagt habe, in der sinnenfalligen Wirklichkeit aus; die luziferischen Wesen sind geistige Wesen. Sie treten ein in die untere Natur des Menschen, wenn sie unter dem Einflusse des Materialismus immer spiritueller und spiritueller wird, und eben wegen des Materialismus nichts vom Men­schen selbst in die untere Natur einfließen kann. Und die paradoxe Wahrheit tritt vor unsere Seele, daß ein materialistisches Zeitalter in Wirklichkeit vorbereitet eine spirituelle, aber luziferische Kultur.

Betrachten wir auch den umgekehrten Fall, nehmen wir an, eine nicht vom Spiritualismus durchzogene, sondern rein auf Tradi­tionelles sich stützende kirchliche Wahrheit ergreife die Menschen, oder arbeite dahin, die Menschen zu ergreifen. Verwandt mit einer solchen kirchlichen Wahrheit ist der abstrakte Idealismus, der, nament­lich im Moralischen, nur an abstrakte Ideale glaubt und keinen Sinn dafür hat, auf welche Weise diese abstrakten Ideale entstehen; denn mögen solche Ideale noch so schön sein, sie taugen nicht, wenn man nicht einen Sinn dafür hat, auf welchem Wege solche Ideale Kräfte werden können. Rein religiöse und rein idealistische Vorstellungen haben wiederum die Folge, daß die untere Natur des Menschen immer materieller und materieller wird. Während materialistische Vorstellungen Spiritualismus fördern in der unteren Natur des Menschen, fördern rein kirchliche, ohne spirituellen Einfluß traditionell auf-gebaute Anschauungen oder der abstrakte Idealismus das Materieller-und Materiellerwerden der unteren Menschennatur. Man möchte sagen, der Typus für dieses Materiellerwerden der unteren Menschen-natur durch Traditionell-Kirchliches, Abstrakt-Kirchliches - ver­zeihen Sie, daß ich einen so drastischen Vergleich gebrauche -, ist der feiste Pfaffe, der sich gerade den traditonell-kirchlichen Vorstellungen

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hingibt und dabei immer mehr und mehr sich sein Bäuchlein anmästet. Es ist nur ein Vergleich, es ist keine Tatsache und kein Gesetz, das ich meine; ich will nur veranschaulichen, aber es entspricht dies einer in den Untergründen der Dinge liegenden Wirklichkeit. Nun aber hat wiederum jenes Materieller- und Materiellerwerden der unteren Menschennatur keine Nahrung, wenn im Kopfe nur die tradi­tionellen oder abstrakt-idealistischen Vorstellungen sind. Daher ist eine Menschheit, die eine solche Kultur begründet, vorzugsweise aus­gesetzt nicht ihrer eigenen Kopfnatur, sondern den ahrimanischen Einflüssen. So daß wir sagen müssen: Abstrakt-Religiöses, Abstrakt-Idealistisches fördert im wesentlichen den Materialismus, und zwar einen ahrimanisch orientierten Materialismus, während umgekehrt materialistisches Vorstellen einen Spiritualismus fördert, und zwar einen luziferisch orientierten Spiritualismus.

Alle diese Dinge, sie beruhen ja im Grunde genommen darauf, daß die wahre Wirklichkeit ganz anders gestaltet ist als die äußere scheinbare Wirklichkeit. Aber man ist jetzt darauf angewiesen, die wahre Wirklichkeit ihrer Gesetzmäßigkeit, ihrer Wesenheit nach kennen­zulernen, und insbesondere wird die Sozialwissenschaft, die Wissen­schaft von dem menschlichen Zusammenleben und vom geschichtlichen Leben der Menschheit immer durchzogen werden müssen von einer solchen Geisteswissenschaft, die in der von mir in diesen Vor­trägen angedeuteten Art wirklich die Brücke baut zwischen der Natur-ordnung und der Geistesordnung, die reale Brücke baut, nicht die abstrakte, die der Monismus baut. Dazu wird aber notwendig sein, daß gewisse Gesetze, die auch von eingeweihter Seite, aber von nicht richtig für die Gegenwart denkender eingeweihter Seite, dem allge­meinen Menschheitsbewußtsein ferngehalten werden, daß diese Ge­setze der wahren Wirklichkeit immer mehr und mehr bekannt werden.

Ein solches Gesetz können Sie sich in der folgenden Weise vor die Seele stellen. Sie wissen, wenn Sie den wirklichen Sinn meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» verfolgen, wann im irdischen Sinne das­jenige, was wir gegenwärtig Menschtum nennen, auf der Erde eigent­lich aufgetreten ist. Dieses Menschtum hat auch im gestern wieder­holten Sinne eine kosmische Vorgeschichte, Saturn-, Sonnen-, Mondengeschichte,

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aber die Erdengeschichte war ja zunächst eine Wieder­holung, und das Erdenmenschtum ist in einer ganz bestimrnten Zeit aufgetreten. Und wenn Sie nachiesen in meiner «Geheimwissenschaft», dann werden Sie finden, daß dieses Menschtum aufgetreten ist in der gleichen Zeit, in welcher auf der Erde klar und deutlich hervorgetreten ist die Entstehung des mineralischen Reiches. Denn wir wissen: Das, was wir jetzt das mineralische Reich nennen, das war ja in der Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit nicht in der gleichen Art vor­handen. Es waren die drei dem mineralischen Reich vorangehenden elementarischen Reiche vorhanden. Das mineralische Reich trat in die Erdenentwickelung ein, und gleichzeitig mit dieser makrokosmischen Tatsache des Eintretens des Mineralreichs in die Erdenentwickelung tritt dann der Mensch in seiner gegenwärtigen Form in die Erdenentwickelung ein, in der Form, in der er gegenwärtig seinen Leib hat, also in seiner gegenwärtigen Leibesgestaltung. Wenn auch diese Leibesgestaltung ihre volle Ausbildung erst später im Laufe der Zeit gefunden hat, die Anlage zu dieser gegenwärtigen menschlichen Leibesgestaltung, Leibesformung, ist gleichzeitig mit dem Eintritt des mineralischen Reichs in die Erdenentwickelung eingetreten. So daß der Mensch in gewissem Sinne eine Verbindung eingegangen ist als Erdenmensch, oder indem er Erdenmensch geworden ist, zwischen dem vierten Gliede seiner Wesenheit, das dann sich zu dem Ich aus­gebildet hat, und dem Mineralreiche. Man könnte auch sagen, im menschlichen Mikrokosmos entspricht das Ich dem makrokosmischen Mineralreich.

Nun wissen wir - das ergibt ja eine einfache oberflächliche Betrachtung der Natur -, daß das kosmische Mineralreich kristallinisch ge­staltet ist. Unsere Schüler müssen ja auch in der Schule die verschie­denen Kristallgestalten, in denen diese oder jene Mineralien kristalli­sieren, kennenlernen; sie müssen sie zuerst nach geometrischen Ge­setzen, wie sie aus sich selbst vorgestellt werden können, kennen­lernen und dann, wie sie in der Wirklichkeit in dem Mineralreich vor­kommen, Oktaeder, Würfel und so weiter. Wenn wir diese in geo­metrischen Formen ausdrückbaren Gestalten des Mineralreichs an­sehen, so haben wir im wesentlichen die dem Mineraireich ureigene

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Gestalt vor uns. Diese Kristallisationen, oder besser diese Kristall­formen, sind das dem Mineralreich in gewissem Sinne Eingeborene, das ihm Ureigentümliche. Und die Erde hat mit der Eingliederung des Mineralreiches in ihre kosmische Entwickelung zugleich die Tendenz aufgenommen, ihre mineralischen Stoffe zu kristallisieren, zu kristalli­sieren in den Formen, in denen eben das Mineralreich kristallisiert.

Nun gibt es einen Gegenpol, einen polarischen Gegensatz zu dieser Form des Mineralreichs. Wie sich diese Sache verhält, das bitte ich Sie, durch folgendes Bild sich vorzustellen. Wir wollen uns durch ein Bild einer wichtigen Tatsache im Leben nähern. Nicht wahr, Sie ken­nen die sehr bekannte Erscheinung des Auflösens von irgendwelchen Substanzen. Sie wissen, wenn Sie eine gewisse Menge Salze in eine gewisse Menge Wasser werfen, so ist das Wasser fähig, dieses Salz voll­ständig aufzulösen, so daß das Salz in seiner festen Gestalt nicht mehr da ist, sondern im Wasser aufgelöst ist. Sie wissen ja auch, daß für gewisse Zwecke des praktischen Lebens das feste Salz nichts nützen würde, sondern es nötig ist, dieses feste Salz in Flüssigkeit aufzulösen. Nun, dasjenige, was als Tendenz zur Kristallisationsform der Mine­ralien in der Erdenentwickelung ist, das darf so wenig nut dieser Erde verbunden bleiben, als für gewisse praktische Zwecke die feste Form des Salzes dem Salz bleiben darf. Die Köchin muß in der Lage sein, diese feste Form des Salzes in die Auflöseform zu verwandeln; sie muß Auflösungsmittel verwenden, sonst würde ja das Salz nichts nützen. So auch muß im Kosmos die Tendenz der Erde zur Kristalli­sierung des Mineralischen aufgelöst werden. Das heißt, es muß eine Gegentendenz, eine polarische Gegentendenz da sein, welche es da­hin bringt, daß wenn die Erde am Ziele ihrer Entwickelung angelangt sein wird und sich anschicken wird, zur nächsten Form, zur Jupiter­form überzugehen, diese kristallinische Tendenz nicht mehr da ist, sondern aufgelöst ist, verschwunden ist. Der Jupiter darf nicht mehr die Neigung haben, die mineralischen Substanzen zu kristallisieren. Diese Tendenz zu kristallisieren muß im besonderen nur dem beson­deren Erdenkörper erhalten bleiben, und diese Tendenz zur Kristallisierung muß aufhören, wenn die Erde am Ziele ihrer Erdenentwicke­lung angelangt sein wird.

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Nun ist der polarische Gegensatz zur Tendenz des Kristallisierens jene andere Tendenz, welche der menschlichen Form - nicht der tierischen - eingeprägt ist. Und jeder Leichnam, den wir in irgendeiner Form dem Erdenplaneten übergeben, durch Begräbnis oder durch Feuer oder wie immer, jeder Leichnam, in dem die menschliche Form als bloße mineralische Form noch wirkt, jeder Leichnam, der also verlassen ist von seinem Seelisch-Geistigen, der wirkt genauso entgegengesetzt der mineralischen Kristallisationstendenz, wie die negative Elektrizität entgegengesetzt wirkt der positiven Elektrizität, oder wie die Finsternis entgegengesetzt wirkt dem Lichte. Und am Ende der Erdenentwickelung werden die sämtlichen, im Laufe dieser Entwickelung der Erde mitgeteilten Menschenformen - ich sage: Menschenformen, denn in dieser Form des Menschen liegt die Krafttendenz, und auf die Kraft, nicht auf die Substanz kommt es dabei an -, diese menschlichen Formen werden kosmisch die Mineralisie­rungstendenz, die Kristallisationstendenz im Mineralisieren auf­gelöst haben.

Sie sehen, wie sich da wiederum ein Punkt ansetzt, wo die Brücke geschlagen wird zwischen zwei Weltenströmungen, die durch die Naturwissenschaft nicht geschlagen werden kann. Denn die Naturwissenschaft untersucht dasjenige, was mit der Menschenform nach dem Tode vorgeht, rein mineralogisch; sie wendet nur die minera­logischen Gesetze an; sie sucht nur dasjenige auf, was in der Tendenz des Kristallisierens der Erde liegt und behandelt so den Leichnam auch. Dadurch kann sie nie darauf kommen, welche bedeutsame Rolle im Haushalte des ganzen Erdenwesens die Leichname der Menschen, die toten Menschenleiber, ihre Form, spielen. Die Erde hat sich schon wesentlich verändert seit der Mitte der lemurischen Zeit, seit die Mineralisation eingetreten ist und damit die Kristallisationstendenz. Das, was an der Erde heute weniger mineralisch ist, weniger nach Kristallisationstendenz neigt als in der Mitte der lemurischen Zeit, das ist verdankt den sich auflösenden Formen der Menschenleiber. Und wenn die Erde an ihrem Ziele angelangt sein wird, so wird gar keine Kristallisationstendenz mehr da sein. Die sämtlichen der Erde über­gebenen Menschenformen werden sich als der polarische Gegensatz

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ausgewirkt haben und die Kristallisation aufgelöst haben. Da wird das Ereignis des menschlichen Todes auch als rein physische Erscheinung in den ganzen Haushalt der Weltenordnung hineingestellt. Da wird die Brücke geschlagen zwischen Erscheinungen, die, wie die Todeserscheinung, sonst ganz unverständlich im Haushalte der Welt dastehen, und jenen Erscheinungen, welche die Naturwissenschaft heute schildert. Und es ist wichtig, daß man solche Anschauungen auch immer mehr und mehr ausbildet, welche der naturwissenschaftlichen Weltanschauung erst ihr wahres, ihr echtes Gepräge geben. Das, was ich Ihnen hier auseinandergesetzt habe, ist ja ebenso eine naturwissen­schaftliche Tatsache, wie andere naturwissenschaftliche Tatsachen es sind, die von der heutigen Naturwissenschaft aus gefunden werden. Aber es ist eine Tatsache, auf die die Naturwissenschaft mit ihren heutigen Methoden aus sich heraus nicht kommen kann. Die Natur­wissenschaft mit ihren heutigen Methoden muß notwendigerweise unvollständig bleiben und kann daher das Ganze der Lebenserschei­nungen nicht erfassen. Daher muß diese Naturwissenschaft ihre Er­gänzung durch die Geisteswissenschaft finden.

Und wenn man kennen wird solche umfassenden Gesetze, wie dieses ist: durch die dem Erdenplaneten überlieferten Menschenformen wird die Kristallisationstendenz der Erde aufgelöst -, wenn man solche Gesetze kennen wird, dann werden diese Gesetze den Geist der Menschheit auch bereit machen, in bezug auf die geistige Entwickelung tiefer in die Wirklichkeit einzudringen. Derjenige, der nur im Sinne der heutigen Naturwissenschaft denkt und forscht, kann nicht die Brücke schlagen von der Naturwissenschaft herüber zu der sozialen und politischen Wissenschaft. Allein derjenige, der die großen, aus der Geisteswissenschaft folgenden Gesetze kennt, die sich auf das Große der Natur in der Weise beziehen, wie ich das jetzt auseinandergesetzt habe, der findet dann die Möglichkeit, hinüberzugeleiten über die Brücke, die von der Naturwissenschaft zur Menschenwissenschaft, vor allem zum geschichtlichen und politischen Leben der Menschheit führt. Der Naturforscher wird sich heute durchaus nicht genieren, davon zu reden, daß Polarität in der Natur ist. Er wird unterscheiden zwei Magnetismen, den Nord- und Südmagnetismus: er wird unterscheiden

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zwei Elektrizitäten, die positive und die negative Elektrizität. Und wird man einmal die Naturwissenschaft mehr in die richtigen Bahnen der Goetheschen Weltanschauung leiten, dann wird auch die Naturwissenschaft noch mehr Goetheanismus sein, als sie es heute sein kann, wo sie es fast gar nicht ist. Dann wird das Gesetz der Polarität in der ganzen Natur als das Grundgesetz erkannt werden, wie es im Grunde genommen schon figuriert hat in den alten Mysterien aus atavistischer Forschung heraus. In den alten Mysterien baute man alles auf die Erkenntnis der Polarität in der Welt. In der Naturwissenschaft selbst, das heißt in der Erkenntnis der Naturordnung, geniert sich der Forscher heute nicht, die Polarität anzuerkennen; aber in der Men­schenordnung und in der Geistesordnung will er nicht an diese Polari­tät heran. Und doch, dasjenige, was wir luziferisch und ahrimanisch nennen, entspricht in bezug auf den Geist und seine Ordnungen, in die der Mensch auch hineingestellt ist, voll dem, was in der Naturwissenschaft zum Beispiel als Nord- und Südmagnetismus oder als positive und negative Elektrizität anerkannt ist. Niemals wird man verstehen, den wirklichen Einklang zu schaffen zwischen Geist und Natur, wenn man nicht die wahren Dinge von konkreter Polarität des Ahrimanischen und Luziferischen in der Geistesordnung finden wird. Denn nicht in abstrakten Begriffen, die einfach übertragen wer­den von der Natur auf den Geist, kann die wahre Wirklichkeit ge­funden werden, sondern nur allein dadurch, daß man in den Geist selbst sich hineinzuvertiefen vermag und die dem Geist entsprechen­den Polaritäten da findet.

So auch muß es mit den andern Naturtatsachen sein. Man kann nicht einfach Naturtatsachen studieren und dann sagen, man begründet auf diesen naturwissenschaftlichen Tatsachen eine geistige Ordnung, eine geistige Weltanschauung. Da kommt nichts dabei heraus. Soll das geistige Leben studiert werden in seiner Wirklichkeit, sollen auch nur diejenigen Erscheinungen des Lebens begriffen werden, in denen der Geist hereinspielt, dann muß man zu dem Entschluß kommen, die geistigen Ordnungen selbst zu studieren. Auch dasjenige, was sich aus den Menschenseelen und den Menschenverrichtungen heraus in irgendeinem Zeitalter abspielt, man kann es nicht naturwissenschaftlich

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erklären, sondern man kann es in Wirklichkeit nur verstehen, wenn man es geisteswissenschaftlich erklärt.

Wenn man zum Beispiel gewisse Erscheinungen der Gegenwarts­kultur ins Auge fassen will, dann muß man dies so machen, daß man wirklich auseinandersetzt, in welchem Grade das Luziferische und in welchem Grade das Ahrimanische in diese Gegenwartskultur hineinspielt. Diesen Versuch hatte ich 1914 gemacht, vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Katastrophe, in den Vorträgen «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» in einem Zyklus, den ich vor dieser Kriegskatastrophe in Wien gehalten habe. Und da möchte ich doch hinweisen auf die entscheidende Stelle, in der das ganz Wesentliche auseinandergesetzt wird, was in der Gegenwart spielt. Da sagte ich : «Darum tritt diese Geisteswissenschaft jetzt in der Welt auf, weil die Menschheitsentwickelung es notwendig macht, daß diese Durchdrin­gung der geistigen Welten und ihrer Daseinsbedingungen in den Seelen immer mehr und mehr, zuerst instinktiv und dann bewußt leben wird. Ich will Ihnen eine reine Äußerlichkeit mitteilen, damit Sie sehen, wie man immer mehr dazu kommen wird, auch das Leben auf dem physischen Plan nur dadurch in seinem wahren Gehalt be­urteilen zu können, daß man die Gesetze des geistigen Daseins be­greift, eine reine Äußerlichkeit, die aber ungeheur wichtig ist. Wenn wir auf die Natur hinblicken, so sehen wir das merkwürdige Schau­spiel, daß überall nur eine geringe Anzahl von Keimen verwendet wird, um das gleichartige Leben fortzupflanzen, daß aber eine unge­heuer große Anzahl von Keimen zugrunde geht. Wir blicken hin auf das Heer der ungeheuer vielen Fischkeime, die im Meere vorhanden sind. Nur wenige von ihnen werden Fische, die anderen gehen zu­grunde. Wir sehen hinaus auf das Feld und sehen die ungeheuer vielen Kornkeime. Nur wenige werden wieder zu Kornpflanzen, die anderen gehen als Getreidekörner zugrunde, indem sie zu menschlicher Nah­rung und anderem verwendet werden. Ungeheuer viel mehr muß in der Natur erzeugt werden, als was sozusagen im gleichmäßig fort-fließenden Strom des Daseins wirklich Frucht wird und wieder keimt. So ist es gut in der Natur, denn da draußen in der Natur herrscht die

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Ordnung und Notwendigkeit, daß das, was so abfließt von seinem zu ihm gehörigen, in sich selbst begründeten Strom des Daseins und Fruchtens, verwendet wird, so verwendet wird, daß es dem anderen fortlaufenden Strom des Daseins dient. Die Wesen würden nicht leben können, wenn alle Keime wirklich fruchteten und zu der in ihnen liegenden Entwickelung kämen. Es müssen Keime da sein, welche dazu verwendet werden, daß sozusagen Boden gegründet wird, aus dem die Wesen herauswachsen können. Nur scheinbar, der Maja nach, geht etwas verloren, in Wirklichkeit geht innerhalb des Naturschaffens doch nichts verloren. In dieser Natur waltet der Geist, und daß so scheinbar etwas vom fortlaufenden Strom der Entwickelung verlorengeht, das ist in der Weisheit des Geistes begründet, das ist geistiges Gesetz, und wir müssen diese Sache vom Standpunkt des Geistes ansehen. Dann kommen wir schon darauf, inwiefern auch das seine gute Daseinsberechtigung hat, was scheinbar vom fortlaufenden Strom des Weitgeschehens hinweggeführt wird. Geistgegründet ist dieses; daher kann es auch, insoferne wir geistiges Leben führen, auf dem physischen Plane Geltung haben.

Meine lieben Freunde, nehmen Sie den uns ganz naheliegenden kon­kreten Fall: Es müssen öffentliche Vorträge gehalten werden über unsere Geisteswissenschaft. Die werden vor einem Publikum gehalten, das eben einfach durch die Veröffentlichungen zusammengetragen wird. Da geht etwas Ähnliches vor wie mit den Getreidekörnern, die nur zum Teil im fortlaufenden Strom des Daseins verwendet wer­den. Man darf nicht zurückschrecken davor, daß man unter Umstän­den vor viele, viele Menschen scheinbar ohne Wahl die Ströme des spirituellen Lebens bringen muß, und daß sich dann nur wenige her-aussondern und wirklich eintreten in dieses spirituelle Leben, An­throposophen werden und im fortlaufenden Strome mitgehen. Auf diesem Gebiete ist es noch so, daß diese verstreuten Keime an viele herandringen, welche zum Beispiel nach einem öffentlichen Vortrage weggehen und sagen : Was hat der Kerl da für tollen Unsinn ge­schwatzt! - Unmittelbar angeschaut in bezug auf das äußere Leben, ist das so wie, sagen wir, die Keime, die im Meer als Fischkeime ver­lorengehen; aber vom Standpunkt einer tieferen Forschung ist es

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nicht so. Die Seelen, die da gekommen sind durch ihr Karma, die dann fortgehen und sagen: Was hat der Kerl da für tollen Unsinn geschwatzt! - die sind noch nicht reif, die Wahrheit des Geistes zu emp­fangen, aber notwendig haben es ihre Seelen in der jetzigen Inkar­nation, heranschwingen zu fühlen das, was als Kraft in dieser Geistes­wissenschaft liegt. Und das bleibt doch in ihren Seelen, sie mögen noch so schimpfen, es bleibt als Kraft in ihren Seelen für ihre nächste Inkarnation, und dann sind die Keime nicht verloren, sie finden Wege. Es unterliegt das Dasein in bezug auf das Geistige den gleichen Ge­setzen, ob wir dieses Geistige in der Naturordnung verfolgen oder in dem Fall, den wir als unseren eignen Fall anführen konnten.

Aber nehmen wir jetzt an, wir wollten die Sache auch auf das äußere materielle Leben übertragen und man wollte sagen: Nun, man macht es im äußeren Leben ebenso. - Ja, meine lieben Freunde, das ist es gerade, daß man es macht, was ich jetzt schildern werde, daß wir einer Zukunft entgegenleben, wo sich das immer mehr herausbildet! Man produziert immer mehr und mehr darauf los, man gründet Fabriken, man fragt nicht : Wieviel wird gebraucht? - wie es einmal der Fall war, als es Schneider im Dorf gab, die nur dann einen Anzug machten, wenn er bestellt wurde. Da war es der Konsument, der an­gab, wieviel erzeugt werden soll, jetzt wird für den Markt produziert, die Waren werden zusammengestapelt, soviel als nur möglich. Die Produktion arbeitet ganz nach dem Prinzip, nach dem die Natur schafft. Die Natur wird in die soziale Ordnung hinein fortgesetzt. Das wird zunächst immer mehr überhandnehmen. Aber hier betreten wir das Feld des Materiellen. Im äußeren Leben hat das geistige Ge­setz, weil es eben für die geistige Welt gilt, keine Anwendung, und es entsteht etwas sehr Merkwürdiges. Da wir unter uns sind, können wir ja solche Dinge sagen. Die Welt freilich wird uns heute darin kein Verständnis entgegenbringen.

Es wird also heute für den Markt ohne Rücksicht auf den Konsum produziert, nicht im Sinne dessen, was in meinem Aufsatz ,Geisteswissenschaft und soziale Frage' ausgeführt worden ist, sondern man stapelt in den Lagerhäusern und durch die Geldmärkte alles zusam­men, was produziert wird, und dann wartet man, wieviel gekauft

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wird. Diese Tendenz wird immer größer werden, bis sie sich - wenn ich jetzt das Folgende sagen werde, werden Sie finden, warum -in sich selber vernichten wird.»

Es ist die wichtigste der gegenwärtigen sogenannten Kriegsursachen in diesem Satze enthalten; aber sie ist aus dem geistigen Leben abzu­leiten.

«Es entsteht dadurch, daß diese Art von Produktion im sozialen Leben eintritt, im sozialen Zusammenhang der Menschen auf der Erde genau dasselbe, was im Organismus entsteht, wenn so ein Kar­zinom entsteht. Ganz genau dasselbe, eine Krebsbildung, eine Kar­zinombildung, Kulturkrebs, Kulturkarzinom! So eine Krebsbildung schaut derjenige, der das soziale Leben geistig durchblickt, wie über­all furchtbare Anlagen zu sozialen Geschwürbildungen aufsprossen. Das ist die große Kultursorge, die auftritt für den, der das Dasein durchschaut. Das ist das Furchtbare, was so bedrückend wirkt, und was selbst dann, wenn man sonst allen Enthusiasmus für Geistes­wissenschaft unterdrücken könnte, wenn man unterdrücken könnte das, was den Mund öffnen kann für die Geisteswissenschaft, einen dahin bringt, das Heilmittel der Welt gleichsam entgegenzuschreien für das, was so stark schon im Anzug ist und was immer stärker und stärker werden wird. Was auf seinem Felde in dem Verbreiten geistiger Wahrheiten in einer Sphäre sein muß, die wie die Natur schafft, das wird zur Krebsbildung, wenn es in der geschilderten Weise in die Kultur eintritt.»

Vorher finden Sie in diesem Vortrage alles dasjenige, was aus dem Ahrimanischen und Luziferischen herausgeholt wird, auseinandergesetzt. Aber Sie können es ersehen aus diesem Vortrage, daß man auf die Erkenntnis der Wirklichkeit in der sozialen Krebs- oder Karzinombildung nur kommt, nicht wenn man einfach vergleicht das soziale Leben mit den Naturtatsachen, sondern wenn man aus dem Ahrimanischen und Luziferischen heraus die Tendenzen, die in der gegenwärtigen sozialen Ordnung wirken, finden kann, der Wirklich­keit gemäß finden kann. Dasjenige, was in der sozialen Ordnung vor­geht, muß auf geistigem Wege gesucht werden. Und wenn es auf materialistischem Wege gesucht wird, so kann nichts weiter zustande

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kommen als höchstens ein Vergleich, eine Analogie des sozialen Ge­schehens mit den abstrakten Naturtatsachen.

Daß in der heutigen Gesellschaftsordnung eine Summe von Krebs­geschwüren waltet, das wurde dazumal ausgesprochen - die Vorträge sind datiert vom 9. bis 14. April 1914 -, aber nur ausgesprochen als zusammenfassend dasjenige, was im Grunde genommen unsere ganze anthroposophische Entwickelung hindurch von mir in den ver­schiedensten Formen gesagt wurde, um die Menschheit auf den Zeit­punkt vorzubereiten, wo das soziale Krebsgeschwür seine besondere Krisis erreichen würde, 1914! Jetzt erscheint ein Buch, ein an sich ziemlich wertloses, törichtes Buch, es trägt die Jahreszahl 1918, im Verlag Max Rascher in Zürich : G. H. Meray, «Weltmutation». Ich werde Ihnen einige Stellen aus diesem Buche vorlesen, dessen Verfasser ganz und gar hingeordnet ist seinem Intellekt nach auf die bloße Auffassung wirtschaftlicher Tatsachen, der daher, geradeso wie jene Vorträge über das innere Wesen des Menschen geeignet sind, die Wirklichkeit zu fördern, durch dieses Buch die Abkehr von der wahren Wirklichkeit, die Verführung zu falschem Denken fördert. Aber ich werde Ihnen einzelne Stellen aus diesem Buche mitteilen. Es wird ja versucht, bloß durch Analogien, durch Vergleiche mit Naturtatsachen, die Entwickelung der europäischen und amerikani­schen Zivilisation zu begreifen. Während Sie in meinen Vorträgen von 1914 Wirklichkeit haben, haben Sie hier abstrakte monistische Vergleiche, bloße Analogien, die nichts eigentlich besagen, weil man im Grunde, wenn man bloß von Naturtatsachen redet und dann dar­auf hinweist, daß so etwas in der sozialen Ordnung auch da ist, nichts versteht von der sozialen Ordnung, sondern nur durch Analogie darauf hinweist, und das Verständnis eher verdunkelt als aufhellt. Aber was kommt dabei zustande? Es wird gezeigt, wie allmählich in das abendländische Kulturleben schon seit der Antike Zersetzungskeime eingetreten sind, wie die Zivilisation innerlich angefressen worden ist. Und solch ein Aperçu wird dann zusammengefaßt in Worte wie: «Diese krankhaften Veränderungen begannen in den frisch aufblühenden Frührenaissancestädten, in den noch rein produktiven

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Stadt-Republiken des aufstrebenden Bürgertums, als sie ihre Riesenzelle von Krebs zu ernähren hatten, sich darauf einrichteten und sich so zu einem Apparate der Ernährung eines Krebsknotens umwandeln mußten....

Die Entstehung dieser Einrichtung, dieser Organisation, aus der die Struktur des modernen Staates wurde, ging mit einer gleichzeitigen Umwandlung des produktiven Gewebes vor sich, die durchaus nicht als zu ihrem eigenen Leben gehörig zu betrachten ist.»

Er nennt das Zivilisation, die Zivilisationsordnung, ein produk­tives Gewebe, das heißt, er hebt nur ein Gewebe von Naturtatsachen herauf, nicht die wirkliche Geistestatsache.

«Denn normalerweise können im Körper fremdartige Elemente mit einander nicht in Berührung kommen, ohne eine Entzündung hervorzurufen, - wie ja zu Beginn solche Entzündungen bei der Berührung der Soldaten des Burggrafen mit dem Bürgertum auch vorkamen (denken wir an das Glockensignal der letzteren, das sie zu Scharen rief !) - normal wäre nur das völlige Ausschneiden des Giftknotens gewesen; damit wurde auch begonnen, und das Bestreben läßt sich auch später noch verfolgen. In dem Momente aber, wo die beiden Elemente, der Krebsknoten und das arbeitende Gewebe, sich bereits ohne Entzündung vertragen konnten, entstand etwas Anormales, eine Abnormität, die sich nur unter pathologischen Bedingungen halten konnte.

Solche Abnormitäten finden wir überall in den Organismen, wo Geschwülste, Geschwüre, Eiterungen, kurz fremdartige Elemente, derart umwoben werden, daß daraus keine Entzündung mehr ent­steht. Das Gewebe, das sich da bildet, ist eine Deformität, die nach der Heilung zu nichts weiterem im Organismus zu gebrauchen ist. Doch während der Krankheit dient sie zum Schutze des Organismus, sie bildet eine Einrichtung, die das Krankheitsgift für den Körper unschädlich macht, wenn auch diese Bildung bisweilen hypertrophisch ins Maßlose wächst, und an sich schon eine schwere Krankheitserscheinung werden kann..

So entstand auch der moderne Staat als eine Deformität des vollständig durchwühlten, arbeitenden Lebens, bei deren Entstehung aber das ganze Gewebe zum eigenen Schutze zusammenwirken mußte, um

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das Böse darin zu paralysieren, und um die zersetzenden Giftwirkungen aufzuheben. Der Staat entstand dementsprechend als eine geson­derte Struktur, die zwar das produktive Leben durchflicht, er selbst aber wurde nie zur Struktur, zum Apparate der Produktivität. Das System der ganzen modernen Volkswirtschaft bildete sich eben neben dem Staate gesondert aus....

Die unmittelbarsten Beziehungen zum Giftknoten haben die Reich­sten, die für den Umsatz ihrer Waren eines umfangreichen Schutzes bedürfen. Daher sind sie eifriger und, als Reiche, auch befähigter, dem Burgherrn eine höhere Ernährung zu geben; braucht er Geld, so sind sie es, die es ihm verschaffen; will er etwas bei der Stadt erreichen, wendet er sich an die Patrizier, wobei es im Interesse dieser selbst liegt, daß der Stadtfürst gekräftigt wird, während diejenigen, deren Stoff­umsatzkreis nicht über die Mauern reicht, eine stets natürliche Ab­neigung (physiologisch: eine negative chemotaktische Wirkung) gegen den Burgherrn empfinden. Sie dulden ihn eigentlich nur wegen des Schutzes des Mauerrings. Die toxische Wirkung» - das heißt : die Giftwirkung - «wandelt aber die Individualität der Patrizier nicht mehr um - oder nur selten, selten werden sie selber kriegerische Adelige - sie gehören schon viel zu sehr dem antitoxischen, arbeiten­den Gewebe an. Ihr Reichtum ist aus diesem entstanden und mit diesem verknüpft: wohl zeigt sich eine toxische Wirkung - aber nicht auf das Individuum, sondern : - auf das Protoplasma,» - und Proto-plasma, das ist nun das Vermögen! - «auf das Vermögen.

Während früher das Vermögen durchaus noch nicht dazu diente, als Kapital zu funktionieren, sondern nur die Reserven des Lebens und des Wohlstandes bildete, ändert sich jetzt seine Rolle : das Vermögen fängt an, Arbeitsprozesse an sich zu knüpfen.»

Bei dieser Stelle bitte ich Sie, sich zu erinnern, wie ich 1908 in seither auch gedruckten Vorträgen in Nürnberg darauf aufmerksam gemacht habe, wie entzogen wird dem unmittelbar persönlichen Ein­fluß die moderne wirtschaftliche Ordnung, und wie das Geld, das heißt, das Kapital als solches, zu arbeiten beginnt. Ich sagte : Immer mehr und mehr arbeitet sich die gegenwärtige soziale Ordnung unter ahrimanischem Einfluß so herauf, daß der eine bald unten, bald oben ist.

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Auf die Persönlichkeit kommt es nicht mehr an, sondern es kommt darauf an, daß das Geld als solches wirtschaftet, bald einen heraufwirft, bald wieder hinunterwirft. Die Aktie, die Kapitalanhäufung und sein Gegenpol, das Kreditwesen, dieses Apersönliche und Antipersön­liche, ist dasjenige, was sich als das ahrimanische Gegenbild des Geist­selbstes für die Zukunft der sozialen Ordnung entwickeln soll.

Das alles ist hier, in diesem Buche selbst, rein ahrimanisch ausgesprochen. Aber es besteht die Gefahr, daß so etwas, weil es auf jeder Seite mit Riesenanmerkungen aus der Naturwissenschaft auftritt, furchtbaren Respekt hervorruft. Jahre, nachdem auf die Wirk­lichkeit durch geisteswissenschaftliche Untersuchungen hingewiesen worden ist, tritt, sogar mit denselben Worten, für dieselbe Erschei­nung dieses ahrimanische Zerrbild der Geisteswissenschaft auf. Das wird den Menschen imponieren, trotzdem es sie verführt und ver­sucht, weil sie niemals zum Verständnis der Wirklichkeit kommen werden, wenn sie nicht die Brücke schlagen wollen zwischen rein äußerlichen, naturwissenschaftlichen Tatsachen, die hier verwendet werden, und den rein geisteswissenschaftlichen Vorgängen, die eben nur durch Geisteswissenschaft gefunden werden können. Aber so wird es sicher kommen, daß ein solches Ding, wie andere Dinge, die aufgetreten sind, die ich im Laufe der Vorträge besprochen habe, als wahre Wissenschaft hingenommen wird, während man die Wissen­schaftlichkeit der Geisteswissenschaft ganz gewiß in der nächsten Zeit in der furchtbarsten Weise bekämpfen wird, in einer Weise, die Sie sich vielleicht heute gar noch nicht in ihrer Intensität vorstellen wollen.

Diese Dinge müssen schon einmal durchschaut werden. Sie müssen um so mehr durchschaut werden, als sie ja Tatsachen betreffen, welche gerade unterhalb des Scheines der äußeren Realität liegen. Zur Einsicht in diese Tatsachen gehört schon der gute Wille, wirklich den geisteswissenschaftlichen Forschungen vernünftig und mit gesundem Menschenverstande wahrhaftig zu folgen.

Entgegengesetzte Strömungen, Polaritäten, müssen im Gleichgewichte gehalten werden. Das kann nur geschehen, wenn fortwäh­rend neue Einflüsse in das Erdengeschehen kommen, die unmittelbar von der geistigen Welt selbst ausgehen, das heißt, wenn immer neue

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und neue Tatsachen, welche die Welt betreffen, aus dem Geiste heraus geoffenbart werden.

Als man mir einmal in Rom einen Jesuiten heranschleppte, da hatte ich über solches eine Unterredung mit ihm, obwohl ich wußte, daß es nichts nütze und daß es eigentlich ganz verlorene Liebesmühe ist, aber es geschieht ja dann aus andern Beweggründen heraus; auch da ist es nötig, auf die wahre Wirklichkeit, und nicht auf den äußeren Schein zu sehen. Ich versuchte, dem Jesuiten klarzumachen, daß er ja erstens selber eine Offenbarung des Übersinnlichen im Verlauf des Mysteriums von Golgatha und dessen, was darüber geschrieben ist, durch die inspirierten Evangelisten annehmen muß, daß die katholische Kirche, an die er ja doch auch als Jesuit glauben werde, an­nimmt eine fortdauernde Entwickelung des spirituellen Lebens in ihren Heiligen. Er erwiderte mir, was ja selbstverständlich war: Ja, das ist alles richtig, aber das ist aus; das darf man nicht willkürlich herbeiführen. Wolle man sich zum spirituellen Leben heute durcharbeiten, so sei dies ein teuflisches Beginnen; man dürfe das Myste­rium von Golgatha, die Evangelien, das Leben der Heiligen studieren, aber man dürfe nicht, wenn man nicht dämonischen Gewalten ver­fallen will, irgendwie anstreben, mit der geistigen Welt in eine un­mittelbare Beziehung zu kommen. - Das ist ja selbstverständlich, daß das von dieser Seite gesagt wurde. Solche Beispiele könnte ich Ihnen viele anführen.

Von gewissen Seiten her besteht der schärfste Gegenkampf gerade gegen das Einfließen immer neuer und neuer spiritueller Wahrheiten. Selbst den uns ja gewiß nicht sympathischen Spiritismus fürchtet zum Beispiel die römisch-katholische Kirche furchtbar, weil sie in der Angst lebt, es könnte doch einmal durch ein Medium irgend etwas aus der geistigen Welt herüberkommen, was von der Kirche nicht zugegeben werden kann, weil sie bloß in ihren alten Traditionen bleiben will. Und sie fürchtet den Spiritismus, weil er ja materialistische Grundlagen hat, und weil er leicht - wie sie seit Jahrzehnten her glaubt - Anhänger gewinnen kann dadurch, daß man auf einem Um­wege irgend etwas eingeträufelt finden könnte aus der spirituellen Welt in die Welt, die eben die römisch-katholische Kirche beherrschen will.

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Nun wissen Sie ja, in den siebziger Jahren, 1879, entstand die Möglichkeit eines gewaltigen, tiefgehenden Einflusses von der geistigen Welt. Ich habe es öfter dargestellt, wie ein Geisterkampf, der vorher in den geistigen Welten stattgefunden hat, eingeflossen ist in die irdische Ordnung, in die Michael-Ordnung. Seit jener Zeit sind be­sondere Gelegenheiten gegeben, daß Spirituelles von den Menschen, die das wollen, aufgenommen werde. Man glaube nun nicht, daß die Eingeweihten der römisch-katholischen Kirche solche Dinge nicht wissen! Sie kennen sie natürlich; aber sie richten ihre Dämme da­gegen auf. Und gerade im Zusammenhang mit der Tatsache, daß das spirituelle Leben von den geistigen Welten aus ganz besonders gefördert wird vom Jahre 1879 an, hat voraus sehend die römisch-katho­lische Kirche das Infallibilitätsdogma aufgerichtet, um einen Damm aufzubauen durch das Infallibilitätsdogma gegen etwaigen Einfluß irgendwelcher neuer spiritueller Wahrheiten. Selbstverständlich, wenn die Leute mit Bezug auf ihre Weltanschauung nur dasjenige in sich verarbeiten dürfen, was ex cathedra von Rom aus verkündet wird in dem Lichte des Unfehlbarkeitsdogmas, so ist ein mächtiger Damm aufgerichtet gegen das Einfließen irgendwelcher spiritueller Wahr­heiten, die aus der geistigen Welt selber kommen. Das ist das eine, das römische Element, welches seine Naturbedingungen in früheren Zeiten hatte und herüberbrachte aus diesen Naturbedingungen frü­herer Zeiten die Starrheit im Traditionellen, die Starrheit im Aus­schließen desjenigen, was gerade aus den geistigen Welten an spiri­tueller Substantialität in die Menschenseelen einfließen könnte.

Eine andere Strömung ist in demjenigen Zentrum zu suchen, wel­ches im hohen Grade - ungefähr in derselben Zeit, als sich von Rom aus das Infallibilitätsdogma vorbereitete - festzuhalten ist in der englischen und amerikanischen, englisch sprechenden Bevölkerung. Wir haben von diesem okkulten Zentrum in mancherlei Zusammenhängen hier schon gesprochen. Geradeso wie das Traditionelle und falsch Idealistische im Haupte bewirkt, daß Ahrimanisches sich geltend macht in dem unteren Menschen, so bewirkt, wie Sie gesehen haben, der Materialismus, daß sich Spirituelles im unteren Menschen entwickelt. Und selbstverständlich, wenn es nicht von neuen spirituellen

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Wahrheiten, die sich von Zeit zu Zeit der Welt enthüllen, genährt wird vom Haupte des Menschen, dann wird es von luziferischen Kräften, von luziferischen Prinzipien abgefangen. Das Zentrum, das von großem Einflusse ist auf die englisch-amerikanische Bevölke­rung - das ist der beste Ausdruck -, das strebt vorzugsweise dahin, mit dem andern Pol zu rechnen. Jene okkulte Maurerei, die in jenem Zentrum verankert ist, und die von diesem Zentrum aus einen großen Einfluß hat auf den Gang der äußeren Kultur der ganzen zivilisierten Welt, die befördert ebenso - und zwar die Dinge durchschauend -den Materialismus, wie ihn Rom durch die Unfehlbarkeit des Papstes befördert hat. Rom hat durch die Unfehlbarkeit einen Damm aufrich­ten wollen gegen das Hereinfließen von spirituellen Wahrheiten aus den geistigen Welten; jenes Zentrum fördert in bewußter Weise in der modernen Kulturwelt die Ausbreitung des Materialismus, die Ausbreitung materialistischer Vorstellungen in einer mehr oder weniger materialistischen Lebensführung. Und das Eigenartige dieser Erscheinung ist, daß in der Regel, wenn die anglo-amerikanischen Eingeweihten über Rom sprechen, sie das Richtige sagen; und wenn sie noch so schimpfen über Rom, so sagen die das Richtige. Sie wissen aber auch, daß es ein spirituelles Leben und die Möglichkeit eines fort­dauernden Einflusses gibt, aber sie halten das geheim und lassen es nur durch unbekannte Kanäle in die Zivilisation einfließen. Und die nicht englischsprechende Bevölkerung innerhalb der zivilisierten Welt hat in den letzten Jahrzehnten - man kann sagen, in dem letzten halben Jahrhunderte - in ausgiebigstem Maße dasjenige aufgenom­men, was dort durch jenes Zentrum eingeflossen ist. Denn die andern Kulturen sind keineswegs in ihrer gegenwärtigen Struktur Eigen­kulturen, sondern sie sind vielfach genährt von jener materialistischen Tendenz, die aus jenem Zentrum stammt.

Und wiederum, wenn Rom über jenes Zentrum, über das okkulte Freimaurertum, die Orden, spricht, so sagt es Richtiges. So daß man sagen kann: Von Rom wird Richtiges gesagt, von dem okkulten Frei­maurertum der westlichen Länder wird auch Richtiges gesagt. Das ist eben gerade die Schwierigkeit, daß diese Dinge in der Wirklichkeit im eminentesten Sinne das Menschenwesen entweder nach der luziferischen

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oder ahrimanischen Seite werfend sein können, daß sie aber durchaus in dem, was sie aussagen, nicht anzugreifen sind, weil sie das Richtige sagen. Wenn sie über die andern reden, sagen sie das Richtige!

Das ist ein Faktum, das man innerhalb der gegenwärtigen Kulturtendenzen sehr wohl und sehr gründlich ins Auge zu fassen hat. Denn die gegenwärtige Menschheit ist eben einmal geneigt, nicht auf das­jenige zu schauen, was aus irgendeiner Sache wird, sondern immer auf dasjenige, was dem Worte nach in irgendeiner Propaganda ausgesprochen wird. Aber auf den Wortlaut dieser oder jener Propaganda kommt es eben gar nicht an, sondern es sollte durch den Materialismus in der Vorstellungswelt auch die untere Natur des Menschen materialistisch gemacht werden; nun wird diese aber gerade dadurch spiritualisiert. Und es müßte darauf ankommen, durch einen abstrak­ten Idealismus im Reden von allen möglichen schönen moralischen Idealen den Menschen moralischer zu machen; man macht ihn aber, verzeihen Sie - in übertragenem Sinne gebraucht -, fettleibig, materia­listisch in seiner niederen Natur; man macht ihn dumpf und schläfrig. Und während auf der einen Seite die starke Tendenz besteht, den Menschen ahrimanisch zu sklerotisieren, und dieses insbesondere jesuitische Tendenz ist, besteht auf der andern Seite die entschiedene Tendenz, die luziferischen Wesenheiten in den Dienst der materialisti­schen Weltenordnung zu stellen, damit eben durch den Materialismus eine Geistigkeit, eine Spiritualisierung, die aber luziferisch orientiert ist, herauskomme. Es genügt eben wirklich nicht, wenn man nur dasjenige, was sich an der Oberfläche abspielt, ins Auge faßt seinem wortwörtlichen Sinne nach, sondern man muß eingehen auf die wahre Wirklichkeit, die - wie gerade unsere Fälle heute zeigen, so paradox sie sich ausnehmen - oftmals das gerade Gegenteil von dem be­zwecken, was man nach oberflächlicher Maja-Anschauung geneigt ist zu glauben. Gegenwärtig ist es schon so, daß von den verschiedensten Seiten in der Welt gearbeitet wird nach dem Grundsatze der okkulten Orden, aber die Sache geheimgehalten wird. Es arbeitet sowohl Rom nach okkulter Ordnung, wie auch jenes andere Zentrum nach okkul­ter Ordnung arbeitet. Aber die Macht liegt gerade darinnen, daß die

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Menschen in der Dumpfheit gehalten werden, und es ihnen nicht gesagt wird, was eigentlich geschieht. Dalier auch der Haß und die Feindschaft gegen diejenigen, die dann auftreten und ihnen sagen, was geschieht. Und besonders schädlich ist die Naivität, der sich manche Menschen hingeben, jene Naivität, die immer wieder und wiederum glaubt, man erreicht etwas gerade bei den angedeuteten Strömungen, wenn man ihnen zeigt: Aus unserer spirituellen Wissenschaft folgt eine schöne Auffassung über den Christus Jesus - oder dergleichen, wenn man ihnen zeigt, wie ja die tieferen Wahrheiten der Geisteswissen­schaft im wahren Christentum zu finden sind. Es ist eine Naivität, wenn man glaubt, gewisse Kreise dadurch zu gewinnen, daß man zeigt, man habe eine Wahrheit, die sie eigentlich nach ihren ganzen Voraussetzungen anerkennen müßten. Das ruft ja gerade die Gegner­schaft hervor! Je mehr wir zeigen in gewissen Kreisen, daß wir die Wahrheit haben, desto schlimmer die Gegnerschaft, und je mehr sich diese Wahrheit als wirksam erweist, desto intensiver wird jene er­scheinen. Man hat in den letzten Zeiten nur gewartet, ob der Moment kommen wird, wo die anthroposophischen Bücher eine größere Auf­lage erleben, wo doch tausende und tausende von Menschen auf An­throposophie hören, um von gewisser Seite - nicht weil man glaubt, daß Anthroposophie die Unwahrheit sagt, sondern weil man fürchtet, daß Anthroposophie die Wahrheit sagen werde - diese Anthropo­sophie anzugreifen. Das ist es, was ins Auge gefaßt werden muß. Keine Naivität sollte gerade auf unserem Boden walten, sondern durchdringende Erkenntnis, vorurteilsloses, unbefangenes Anschauen dessen, was geschieht.

Gerne hätte ich, daß Sie aus diesem Vortrage eine Empfindung da­von mitnehmen würden; denn noch einmal sei wiederholt, was ich im Eingange des heutigen Vortrages sagte: Nicht so sehr auf die Einzelheiten kommt es an, sondern darauf, daß wir eine Gesamtempfindung von dem, was im ganzen Geiste dieser Vorträge steckt, erhalten und dann uns immer fähiger und fähiger machen, uns in die Gegenwarts­kultur und in das Gegenwartsleben so hineinzustellen, wie es einem in der Gegenwart richtig wachenden, nicht schlafenden Menschen ent­spricht. Davon dann das nächste Mal weiter.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 4. Oktober 1918

Heute und in den nächsten Tagen möchte ich einige Folgerungen aus den Betrachtungen der letzten Zeit, die hier gepflogen worden sind, für das menschliche Leben selber ziehen. Ich bemerke im voraus namentlich mit Bezug auf gewisse Gedanken, welche der Anthroposophie als solcher entgegengebracht werden von der Außenwelt, wie hinsichtlich dieser Gedanken gewisse Anschauungen eigentlich gewonnen werden sollten und von uns betont werden sollten. Im Leben der Natur, in der Ordnung der Natur erkennt heute jeder Mensch genau dasselbe an, allerdings abgestimmt für die Ordnung der Natur, was wir durch die anthroposophische Geisteswissenschaft für das geistige Leben, für die geistige Ordnung geltend machen wollen. Allerdings muß anthroposophische Anschauung mißver­standen werden, wenn sie sich irgendwie darauf einläßt, moderne Geisteswissenschaft zu verquicken mit irgendwelchem althergebrach­tem, an Aberglauben grenzenden Irrtum oder Mystizismus. Wir müssen uns gewöhnen, solche Bezeichnungen wie ahrimanisch, luzi­ferisch, die uns geläufig geworden sind für die geistige Ordnung, so zu gebrauchen, allerdings dann auf einer höheren Stufe des Daseins, wie der Naturforscher auf seinem Gebiete, sagen wir, positive und negative Elektrizität, positiven und negativen Magnetismus oder Ähnliches gebraucht. Wir müssen uns nur wiederum im Unterschied von der landläufigen und vorurteilsvollen Naturwissenschaft klar darüher sein, daß natürlich in dem Augenblick, wo man herauf kommt zur Betrachtung der geistigen Ordnung der Welt, solche Begriffe, die für die Naturwissenschaft einen gewissen bestimmten, man kann sagen, sogar stark abstrakten Inhalt haben, konkreter, eben geistiger gefaßt werden müssen.

Nun wissen wir, daß das Menschenwesen, so wie es uns zunächst im Leben zwischen Geburt und Tod entgegentritt, uns darbietet dasjenige, was wir gewohnt worden sind, den physischen Leib zu nennen, dann darüber hinaus dasjenige, was wir Ätherleib nennen. oder was

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ich versuche, um gewissermaßen einen gangbareren Ausdruck zu gewinnen, Bildekräfteleib zu nennen, dann dasjenige, was schon Bewußt­seinscharakter hat, was wir gewohnt worden sind, den astralischen Leib zu nennen, was aber noch nicht jenen Bewußtseinscharakter hat, der unser uns zunächststehendes heutiges Bewußtsein durchzieht. Das­jenige, was wir heute das Unterbewußte nach dem Brauch vieler Leute nennen, das würde dem astralischen Leib angehören. Dann das, was wir als unser gewöhnliches Bewußtsein bezeichnen, welches wechselt zwischen Schlaf- und Wachzuständen, welches in die Schlafzustände hinein nur die chaotischen Träume sendet, welches in den Wachzuständen sich nicht mit Anschauungen begnügt, sondern zu Urteilen und Begriffen, die abstrakt sind, Zuflucht nimmt, das alles bezeichnen wir als jenes Glied der menschlichen Wesenheit, welches wir das Ich nennen. Nur in diesem letzten Gliede der menschlichen Wesenheit, im eigentlichen Ich, könnte man sagen, kennt sich der Mensch der Gegenwart aus. Dieses Ich wird ihm gespiegelt von seinem Bewußt­sein. Dieses Ich ist dasjenige, in dem sich alles Denken, Fühlen und Wollen der Seele eigentlich abspielt. Alles übrige, astralischer Leib, Ätherleib und der physische Leib in seiner wahren Gestalt, liegt unterhalb des Bewußtseins und auch unterhalb des Ich. Denn das­jenige, was die gewöhnliche Wissenschaft, Anatomie, Physiologie und so weiter, vom physischen Leib konstatieren kann, das ist ja nur seine Außenseite; das ist im Grunde genommen auch nichts anderes als unser Bewußtseinsinhalt von dem menschlichen physischen Leib, den wir geradeso gewinnen, wie wir einen andern sinnenfälligen In­halt gewinnen. Das ist das äußere Bild des physischen Leibes für unser Bewußtsein, das ist aber nicht der physische Leib selber.

Also, die drei Glieder der menschlichen Wesenheit, die wir nach der Entwickelung als vorirdisch bezeichnen - Sie kennen diese Entwickelung aus meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» -, diese drei Glieder sind zunächst außerhalb des Feldes menschlicher Bewußtheit gelegen. Nun wissen Sie, daß wir bezüglich der geistigen Ordnung hin­weisen auf Wesenheiten, die sich nach oben hin als Hierarchien, als Mitglieder der Hierarchien so anschließen an den Menschen, wie sich nach unten hin die drei Naturreiche, das tierische, pflanzliche, mineralische

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Reich anschließen. In dem Augenblicke, wo wir nun geistig den Menschen betrachten, können wir nicht mehr nur von denjenigen Inhalten des astralischen, des ätherischen, des physischen Leibes sprechen, von denen die gewöhnliche Wissenschaft oder auch die Anthroposophie spricht, wenn sie nur Rücksicht nimmt auf dasjenige Leben des Menschen, das in der sinnenfälligen Welt offenbar wird. Und ich habe deshalb schon in früheren Betrachtungen dieses Herbstes erwähnt, daß mit diesen, nennen wir sie nun untere Glieder der menschlichen Natur, daß mit diesen unteren Gliedern der menschlichen Natur, wenn wir sie ihrer Wahrheit nach betrachten, im wesent­lichen verbunden sind die Geister der einzelnen Hierarchien.

Nun können wir, im Sinne dessen, was ich Ihnen gerade in An­knüpfung an Goethes Weltanschauung neulich vorbrachte, sagen :

Insofern sich der Mensch durch diese seine drei Glieder in der Zeit entwickelt, insofern er jene Entwickelung durchmacht, welche man verfolgen kann von seiner Geburt bis zu seinem Tode, insofern hängt er zusammen mit gewissen geistigen Kräften, die hinter seiner Entwickelung liegen. Ich habe es Ihnen dadurch klarzumachen versucht, daß ich sagte: Wenn wir dieses (siehe Zeichnung) als Wesenheit des heutigen Menschen betrachten, so müssen wir rückgängig in der Ent­wickelung mit dieser seiner Wesenheit verbunden denken die gei­stigen Kräfte, die wir als die Glieder der höheren Hierarchien erkannt

# Bild s. 198

haben. Diese geistigen Kräfte wirken ja nun, wie Sie wissen, unmittel­bar in sein Ich beim normalen Menschen nicht herein, außer den Gei­stern der Form, denjenigen, die man Exusiai nennt. Also außer diesen Geistern der Form, jenen Kräften, welche dem Menschen seine ihm ureigene Form geben, wirken in das gegenwärtige Bewußtsein des Menschen die andern geistigen Kräfte nicht herein. Wir bekommen

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einen zwar spärlichen, aber doch immerhin einigermaßen möglichen Begriff von den Geistern der Form, wenn wir den Blick wenden auf diejenige Formung des Menschen - es ist nur ein Teil, ein Glied seiner allgemeinen Formung -, die er noch während der Zeit seines physi­schen Lebens annimmt. Wir werden alle geboren als mehr oder weniger kriechende Wesen. Wir haben die Vertikale nicht in unserer Gewalt. Nun hängt mit dem Aufrechten des Menschen - nicht gerade mit dem mathematisch Aufrechten, aber mit der Kraft, die aufrechte Lage als seine Lage zu haben - ungeheuer viel in der Gesamtwesenheit des Menschen zusammen. Und wenn man den Unterschied des Menschen vom Tiere betrachtet nach rein äußeren Merkmalen, so sollte man nicht auf diejenigen Dinge sehen, auf die gewöhnlich gesehen wird, auf die Zahl der Knochen und der Muskeln und so weiter, die ja der Mensch im wesentlichen mit dem Tiere gemein hat, sondern man sollte gerade auf diese Aufrichtekraft, die dem werdenden Menschen seine Formung gibt, achten. Es ist nur ein Teil dessen, was in Betracht kommt, aber es ist ein wesentlicher Teil. Dieselbe Kraft, die da als Aufrichtekraft in unser physisches Werden eingreift, sie ist von der Art wie alle die Kräfte, die uns als Menschen, als Erdenmenschen unsere Form geben. Und nur diese Kräfte, die von solcher Art sind, greifen in unser Ich ein.

Dagegen greifen andere Kräfte, wir nennen sie die Kräfte der kosmischen Bewegung, der kosmischen Weisheit, des kosmischen Willens, bezeichnen sie als Dynamis, Kyriotetes, Throne, alte Namen gebrauchend für diese im modernen Geiste gesehenen Dinge, ein in dasjenige, was nicht ins Bewußtsein des Menschen hereinfällt, was also angehört seinem astralischen Leibe, seinem Bildekräfteleib oder Ätherleib und seinem physischen Leib. So daß man, wenn man diese Glieder der Menschennatur ohne diesen geistigen Inhalt betrachtet, den ich eben angeführt habe, dann eigentlich von einer bloßen Illusion, von einem bloßen Scheingebilde redet. In Wahrheit stecken wir nicht in dem, was sich als äußerer Schein darbietet, sondern in den angedeuteten geistigen Kräften darinnen.

Nun wirken aber auf den Menschen gewissermaßen zeitlich - wie ich neulich in Anknüpfung an Goethes Weltanschauung gesagt habe -,

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ohne daß sie mit seiner Entwickelung unmittelbar zusammenhängen, jene beiden Kräftearten herein, die wir als luziferische oder ahrimanische bezeichnen. Wir können sagen: mehr geistig die luziferi­schen Kräfte (siehe Zeichnung, rot), mehr vom Unterbewußten her die ahrimanischen Kräfte (lila). Daher haben wir eine Dreigliedrigkeit im kosmischen Hineingestelltsein des Menschen in das Dasein. So daß

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wir sagen : Es gibt in der Menschennatur gewisse geistige Kräfte, die unmittelbar mit seiner Entwickelungsströmung zusammenhängen. Es gibt zwei andere Kräfteströmungen, die luziferische und die ahrimanische, die nicht mit seiner unmittelbaren Entwickelungsströmung zusammenhängen, sondern zeitlich auf ihn einwirken, die also hinzu­kommen zu dem, was eigentlich zum Menschen gehört.

Betrachten wir nun das Leben. Wenn wir das Leben betrachten - denken Sie doch, wir sehen nicht nur den Kräftestrom, der eigentlich zu uns gehört, wir sehen immer etwas, was aus den drei Kräfteströmen zusammengeflossen ist. Was immer wir überschauen, sei es die äußere Sinneswelt, sei es das zwischen Lust und Leid, Freude und Schmerz, Tat und Trägheit verlaufende menschliche geschichtliche Leben, wir sehen es so, daß die drei Strömungen ineinandergeflossen

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sind. Wir unternehmen im gewöhnlichen Leben nicht dasjenige, was zum Beispiel der Chemiker unternimmt, wenn er Wasser nicht ein­fach als die Flüssigkeit hinnimmt, als die sie sich im Äußeren darbietet, sondern es zerlegt in Wasserstoff und Sauerstoff. Geisteswissenschaft muß diese Zerlegung unternehmen. Geisteswissenschaft muß sich ein­lassen auf diese geistige Chemie, sonst wird niemals das menschliche Leben durchdrungen werden können.

Nun haben wir ja von den verschiedensten Gesichtspunkten aus hingewiesen auf die besondere Eigenart jener Wesenheit, die wir als luziferisch bezeichnen, und die besondere Eigenart jener Wesenheit, die wir als ahrimanisch bezeichnen. Es handelt sich nun darum, noch von einem andern Gesichtspunkte, von dem Gesichtspunkte des unmittelbaren Menschenlebens auch einmal auf diese Dinge einzugehen. Wir können dann fragen: Wo ist denn eigentlich im Menschenleben der Punkt, wo die luziferischen Kräfte besonderen Einfluß gewinnen, und wo ist wiederum der Punkt, wo die ahrimanischen Kräfte beson­deren Einfluß gewinnen?

Ja, wenn sich der Mensch überlassen könnte seiner ruhigen, in seinem ureigenen Wesen gelegenen Entwickelung - er kann es aber nicht, Sie wissen es aus früheren Betrachtungen, er würde erst in der zweiten Lebenshälfte zu einiger Selbsterkenntnis kommen können -, dann würde er nicht ausgesetzt sein dem zeitlichen Eingreifen der luziferischen und ahrimanischen Mächte. Aber im wirklichen Leben, so wie wir es zu durchleben haben, ist der Mensch eben diesem zeit­lichen Eingreifen der luziferischen und ahrimanischen Mächte aus­gesetzt, ja, er muß sogar mit den luziferischen und ahrimanischen Mächten rechnen. In alidem nun, was beim Menschen mehr in das Gebiet des Bewußten gehört, aber so, daß der Mensch diese Bewußt­heit nicht durch Natur bloß anstrebt, sondern über diese Natur hin­ausgeht - wir gehen über die Natur hinaus, wenn wir zum Beispiel in der ersten Lebenshälfte schon Selbsterkenntnis haben -, in alldem, was der Mensch durch sein Bewußtsein anstrebt, liegt etwas, was wir nicht anders nennen können als Überbewußtes. Unser Bewußtsein würde ganz anders aussehen, wenn nicht in diesem Bewußtsein eben Überbewußtes liegen würde. Überbewußtheit ist es, was den Menschen

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dazu veranlaßt, mehr hereinzutragen in das geschichtliche Leben, als er hereintragen würde, wenn er sich nur seiner bloßen physischen Ent­wickelung überließe. Wir wären heute in diesem Zeitpunkte der menschlichen Erdenentwickelung in einer ganz andersgearteten Kultur darinnen, wenn nicht eingeflossen wäre in dasjenige, was sich nur durch die Menschheit an Bewußtheit entwickelt hat, Über­bewußtes. Aber mit diesem Überbewußten ist schon durchaus ge­geben die Möglichkeit des Eingriffes luziferischer Mächte. Man muß nur in der richtigen Weise erkennen, wie luziferische Mächte ins Bewußtsein hereinwirken. Der Mensch würde niemals veranlaßt sein, ein anderes Denken zu entwickeln als ein solches, welches ich Ihnen als das Ideal der Goetheschen Weltanschauung neulich charakterisiert habe, wenn nicht luziferische Mächte hereinspielten. Durch die luzi­ferischen Mächte bildet der Mensch Hypothesen, durch die luzi­ferischen Mächte bildet der Mensch Phantasien über die Wirklichkeit. Er ergreift nicht bloß die Wirklichkeit, er vereint mit dem Bewußten das Überbewußte. Er macht sich allerlei Ideen über die Wirklichkeit, Ideen, die ihn dann wiederum befähigen, gründlicher mit dieser Wirklichkeit zusammenzuwachsen, als er sonst zusammenwachsen würde. Und wenn wir erst das ganze Gebiet der Kunst ins Auge fassen, müssen wir ja betonen, daß innerhalb der Kunst, in der das Überbewußte eine so große Rolle spielt, wenn die Kunst nicht ausarten will in reinen Naturalismus, das luziferische Element im höch­sten Grade sich wirksam erweisen muß. Es geht nicht an - das habe ich immer wieder und wiederum betont -, einfach zu sagen, der Mensch soll in seinem Leben sich dem Luziferischen fernhalten. Wenn er sich dem Luziferischen fernhielte, würde der Mensch nicht ein wirk­liches Leben führen können, sondern er würde zum Urphilister werden müssen. Dasjenige, was immer wieder und wiederum wie ein Sauer­teig die Menschheit rettet, sie aus dem Philistertum herauszustreben anspornt, das ist schon die luziferische Regsamkeit.

Aber diese ganze luziferische Regsamkeit, sie verursacht zu gleicher Zeit, daß der Mensch in einer gewissen Weise, man kann sagen, die Welt aus der Vogelperspektive zu betrachten geneigt ist. Alles das, was im Laufe der Zeit auftritt als Programme, als sehr schöne Ideen,

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mit denen man immer glaubt, das goldene Zeitalter in der einen oder in der andern Weise herbeiführen zu können, alles das rührt von den in den Menschen einströmenden luziferischen Neigungen her. Alles das, wodurch der Mensch aus dem Zusammengewachsensein mit der Wirklichkeit herausstrebt, durch das er gewissermaßen seine Schwingen höher heben würde, als es der Zusammenhang ist, in den er als Mensch hineingestellt ist, alles das weist auf Luziferisches. Luzi­ferisch in der Menschennatur ist derjenige Trieb, der uns immerfort veranlaßt, unser Interesse gegenüber unseren Mitmenschen zu ver­ringern. Wenn wir unserer ureigenen Menschennatur folgen würden, also denjenigen Entwickelungskräften, die in des Menschen eigener Strömung liegen, würden wir ein weit über das Maß dessen hinausgehendes Interesse für unsere Mitmenschen haben, als wir es in Wirk­lichkeit haben. Die luziferische Wesenheit in der Natur des Menschen, die bewirkt eine gewisse Interesselosigkeit gegenüber den andern Menschen. Und man sollte, wenn man den Menschen in seiner Wesen­heit studiert, gerade auf diesen Punkt einen großen Wert legen. Vieles in der Welt würde anders sein, wenn wir seiner Realität nach aner­kennen würden diesen unseren Drang, ein viel zu großes Interesse für dasjenige zu haben, was wir selber auskochen, und ein viel zu geringes Interesse für dasjenige, was andere Menschen denken und fühlen und wollen. Menschenkenntnis in rechtem Sinne erlangt man nur, wenn man seine Menschenanschauung durchstrahlt mit der Frage: Was treibt mich hinweg von dem Interesse, das ich an andern Menschen entwickeln kann? Und es muß eine Aufgabe der Menschenkultur in der Zukunft sein, gerade diese Menschenkenntnis zu entwickeln. Heute nennt man vielfach noch Menschenkenntnis dasjenige, was einer sagt über die Menschen, je nachdem er sich einbildet, sie seien so oder so, oder sie sollten so oder so sein. Die Menschen nehmen, wie sie sind, und sich klar darüber sein, daß jeder, wie er ist, selbst der Verbrecher - auch das muß gesagt werden -, noch immer etwas Wichtigeres uns sagt über die Welt, als es die Einbildungen sind, die wir uns über die Menschenwesenheit machen, wenn wir uns noch so schöne Gedanken aushecken: dieses sich sagen, das heißt, dem Luzi­ferischen die richtige Gleichheitslage in uns geben. Es würde ein

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solches Streben nach Menschenkenntnis unendlich viel offenbaren. Und aus der Natur der menschlichen Erdenentwickelung war eigent­lich keine Zeit weiter entfernt von dem wirklichen, echten Interesse an der unmittelbaren Menschennatur als die heutige Zeit. Man verwechsle dasjenige, was hier gemeint ist, nicht mit einer Kritiklosigkeit gegenüber dem Menschen. Wer freilich wiederum von der Idee aus­geht: Alle Menschen mußt du als gut ansehen und alle Menschen gleich lieben -, der macht sich die Sache ja allerdings recht luziferisch bequem, denn er geht erst recht von seinen Phantasien aus. Alle Men­schen gleich zu betrachten, das ist erst recht eine luziferische Phan­tasie. Es handelt sich nicht darum, eine allgemeine Idee zu pflegen, sondern gerade darum, auf das Konkrete jedes einzelnen Menschen einzugehen und dafür ein liebevolles, vielleicht besser gesagt, in­teressevolles Verständnis zu entwickeln.

Nun können Sie fragen : Was soll denn dann eigentlich diese ganze luziferische Kraft in uns, wenn sie uns abhält davon, gegen die Men­schennatur im weisheitsvollen Sinne tolerant zu sein und Interesse zu entwickeln? Sie hat ihre gute Berechtigung im Haushalte des Geistes, wenn ich mich des philiströsen Ausdruckes bedienen darf. Diese luzi­ferische Kraft muß schon auch da sein, weil wir, wenn wir nur in der fortlaufenden Strömung wären und die natur - und geistgemäße Hinneigung zur Erkenntnis eines jeden Menschen entwickeln würden, in unserer Menschenkenntnis - verzeihen Sie den harten Ausdruck - ersaufen würden. Wir würden ertrinken, wir würden nicht recht zu uns kommen können. Gerade das ist zusammenhängend mit vielen Geheimnissen des Daseins, daß in diesem Dasein nichts eigentlich ist, was nicht, wenn es in der Konsequenz verfolgt wird, bis in seine Ex­treme in der Konsequenz verfolgt wird, dann zum Bösen wird, zum Unglück. Dasjenige, was uns so recht mit Menschen zusammenbringt, was uns finden läßt den andern Menschen in uns selbst, das würde be­wirken, daß wir ertrinken in unserer Menschenkenntnis, wenn nicht fortwährend der luziferische Stachel da wäre, der uns immer wieder und wiederum hinwegbebt vom Ertrinken, der uns immer wieder und wiederum an die Oberfläche heraufhebt und zu uns bringt und das Interesse nachher an uns selbst erweckt. Gerade in unseren Beziehungen

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zu den Menschen leben wir in einem fortwährenden Wech­selspiel zwischen unserer ureigenen Kraft und der luziferischen Kraft. Und derjenige, der da sagt, es wäre gescheiter, wenn die Menschen nur ihrer ureigenen Kraft folgen und gar nicht vom Luziferischen berührt würden -, der soll auch gleich behaupten, wenn er eine Waage hat mit zwei Waagebalken und zwei Waageschalen, er nehme lieber die eine Waagschale weg und wiege bloß mit der andern, mit einer Waagschale also. Das Leben geht eben in Gleichgewichtszuständen ab, nicht in absoluten dinglichen Verhältnissen. Das ist dasjenige, was man zunächst mit Bezug auf das menschliche Leben vom luzi­ferischen Einschlag sagen kann. Er ergreift das Bewußtsein, aber so, daß sich Überbewußtes in das Bewußtsein hereinmischt.

Der ahrimanische Einschlag ergreift zunächst hauptsächlich das Unterbewußte im menschlichen Leben. In all dasjenige, was die unter­bewußten, oftmals so raffinierten Triebe der Menschennatur sind, da hinein mischen sich die ahrimanischen Kräfte. In all das, was im Men­schenleben spielt aus dem Unterbewußten heraus, da mischen sich hinein die ahrimanischen Kräfte. Will man, ich möchte sagen, per­sönlich Ahriman und Luzifer charakterisieren, so kann man sagen: Luzifer ist ein hochmütiger Geist, der am liebsten in die Vogelper­spektive hinauf enteilt und vieles überblickt; Ahriman ist ein moralisch einsamer Geist, der sich nicht leicht sehen läßt, der im Unterbewußten des Menschen sein Wesen treibt, auf das Unterbewußte des Menschen wirkt, Urteile heraufzaubert aus diesem Unterbewußten. Die Menschen glauben dann, daß sie aus ihrem Bewußtsein urteilen, während sie nur aus ihren unterbewußten Trieben und aus ihren unterbewußten, raffinierten Impulsen oftmals das Urteil heraufzaubern, oder auch her­aufzaubern lassen eben durch die ahrimanischen Kräfte.

Religiöse Darstellungen sind ja, wie wir wissen, oftmals aus alten, heute überholten geisteswissenschaftlichen Anschauungen hervorgegangen. Und Petrus nennt nicht mit Unrecht gerade Ahriman den herumschleichenden Löwen, der zu verschlingen sucht, wen er nur erhaschen kann. Aus diesem Grund nennt Petrus den Ahriman so, weil in der Tat Ahriman im Verborgenen, das heißt, im Unter­bewußten der menschlichen Natur herumschleicht und dadurch sein

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Weltenziel zu erreichen strebt, daß er die unterbewußte Kraft des Menschen an sich heranlotst, um mit ihr in der Weltenentwickelung geistig andere Ziele zu erreichen, als sie in der geradlinigen Menschenströmung selbst liegen.

In bezug auf das geschichtliche Leben sind es immer luziferische Kräfte, die uns große, aber mit der Menschennatur nicht rechnende Weltenträume aushecken lassen. Wieviel ist ausgeheckt worden im Laufe des menschlichen Denkens an Weltbeglückungsideen! Und nach der Überzeugung derjenigen, die solche Weltbeglückungsideen aushecken, kann die Welt eben nur glücklich werden durch diese Ideen. Es rührt das davon her, daß solches luziferisches Denken per­spektivischer Art ist, sich in die Vogelperspektive erhebt und all das­jenige, was da drunten herumwimmelt, unberücksichtigt läßt und glaubt, nach den Linien der Gedanken, die in der Vogelperspektive gefaßt werden, ließe sich die Welt einrichten. Solche Weltbeglückungsideen, die eben immer auf mangelnder Menschenkenntnis beruhen, sind luziferischer Art. Weltmachtsträume, die aus gesonderten menschlichen Gebieten herkommen, sind ahrimanischer Art. Denn aus dem Unterbewußten herauf entwickeln sich diese Weltmachts­träume. Ahrimanisch ist es, ein gewisses Gebiet des menschlichen Daseins zu umfassen und in diesem einzelnen Gebiet eigentlich die ganze Welt umspannen und umfassen zu wollen. Alles, was mit Herr­schaftsgelüsten des Menschen über andere Menschen zusammenhängt, alles, was einem gesunden sozialen Wollen widerstrebt, ist ahrimanischer Natur. Derjenige Mensch, von dem man sagen könnte - aber jetzt nicht im abergläubischen, sondern in unserem Sinne -, daß er von Luzifer besessen ist, verliert das Interesse für seine Mit­menschen. Derjenige Mensch, der von Ahriman besessen ist, möchte möglichst viele Menschen beherrschen, geht dann darauf aus, wenn er klug ist, die menschliche Schwäche zu benützen, um gerade durch die menschliche Schwäche die Menschen zu beherrschen. Denn das ist ahrimanisch: im Unterirdischen, im Unterbewußten menschliche Schwächen aufzusuchen, um die Menschen zu beherrschen.

Nun müssen wir fragen : Woher kommt denn das alles? Das ist ja vor allem die Frage, die uns interessieren muß : Woher kommt denn

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das alles? Welcher Art sind denn solche Wesenskräfte wie die ahrimanischen und die luziferischen? Nicht wahr, wir wissen, unsere Erde ist die Metamorphose - um diesen Goetheschen Ausdruck zu gebrauchen - vorhergehender kosmischer Weltenkörper, die vierte Metamorphose. Und um Ausdrücke zu haben, haben wir gesagt: Die Erde war zuerst verkörpert als Saturn, dann als Sonne, dann als Mond und ist jetzt als Erde verkörpert. Also wir wissen, diese Erde ist die vierte Verkörperung ihrer kosmischen Wesenheit, die vierte Meta­morphose. Sie wird weitere Metamorphosen durchmachen. Das alles müssen wir in Erwägung ziehen, wenn wir nun weiter fragen wollen: Welche Bedeutung im ganzen kosmischen Zusammenhange, in dem der Mensch drinnensteht, haben die ahrimanischen und die luzi­ferischen Kräftewesenheiten? - Wir wissen, mit der Gestaltung, welche der uns zunächst berührende Teil des Kosmos, unsere Erde, ange­nommen hat, hängen die Geister der Form zusammen. Und wenn man das ganz besonders Charakteristische der Erdenbildung ins Auge faßt, so ist es identisch mit dem Wesenhaften, was - wie ich vorhin sagte - allerdings nur zum kleinsten Teile, aber doch in dem liegt, wie wir die Schwerkraft überwinden in unserer eigenen Aufrichte­kraft. Diese Geister der Form sind gewissermaßen die regierenden Kräfte des irdischen Daseins, der gegenwärtigen Metamorphose unseres Planeten. Diese Geister der Form, sie wirken aber, wie wir wissen, durch andere Geister, die wir Archai, Archangeloi, Angeloi nach alten Benennungen in unserer modernen Weise benennen.

Nun interessieren uns von diesen Wesenheiten zunächst die Archai oder Urkräfte, die Urbeginne. Wir wissen, in der Rangordnung der gei­stigen Wesenheiten stehen gewissermaßen die Geister der Form unmittelbar über den Urkräften. Dadurch ist in dem Entwickelungsgange, der des Menschen ureigener ist - den ich hier weiß schematisiert habe mit einfachen Kreidestrichen (siehe Zeichnungen S.198 und 200)-, die Sache so, daß die Kräfte der Archai gewissermaßen dienende Kräfte sind der Geister der Form. In unserer menschlichen Wesenheit wirken Archai, wirken Exusiai : Geister, die wir als Urkräfte bezeich­nen, Geister, die wir als Geister der Form bezeichnen. Aber außer­dem ist immer noch das Folgende vorhanden : Da sind gewisse geistige

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Kräfte der Form, Formgeister vorhanden, die sich maskieren als Urkräfte, als Archai. Die könnten also Exusial sein, machen sich aber nicht als Exusiai geltend, sondern machen sich als Archai geltend; sie maskieren sich. Das ist das Wesentliche, daß wir dahinterkommen, wie in der Welteneinrichtung geistige Wesenheiten, die eigentlich auf einer andern Stufe der Entwickelung stehen, sich maskieren.

Das hat aber eine ganz bestimmte Folge. Diese Urkräfte, die eigentlich nicht Urkräfte sind, sondern Geister der Form, von denen kann nun ebenso abhängig sein dasjenige, was in der äußeren Erdenform lebt, wie es abhängig ist von den eigentlichen Geistern der Form. Aber das Bedeutsame ist, daß in unserem irdischen Dasein alles das, was mit dem Raume zusammenhängt, indem es im Raum sich ge­staltet, aus dem Raumlosen heraus sich gestaltet. Das Räumliche be­greifen wir nur vollständig, wenn wir es in seiner Bildhaftigkeit auf Urbilder zurückführen, die raumlos sind. Das ist ja natürlich das Schwierige für das abendländische Denken, daß es sich das Raumlose so schwer vorstellen kann. Aber dennoch ist es so, daß sich alles das­jenige, was mit unserem ureigenen Menschentum zusammenhängt, was hervorgeht aus den Geistern der Form, indem es Gestaltung im Raume annimmt, die Wirkung ist des Raumlosen. Konkret gespro­chen, indem wir uns als einzelner Mensch, der wir zuerst auf allen vieren kriechen, aufrichten, die Schwerkraft im aufrechten Gestalten überwinden, stellen wir uns in den Raum hinein; aber die Kraft, die dem zugrunde liegt, die strebt aus dem Raumlosen in den Raum hinein. Also wenn wir als Menschen nur unterworfen wären den zu uns gehörigen Geistern der Form, so würden wir in aller Art, uns in den Raum hineinzustellen, verwirklichen das Raumlose im Raume; denn die Geister der Form leben nicht im Raume. Wer das Göttliche im Raume sucht, findet es nicht; selbstverständlich findet er es nicht. Dasjenige, was im Raume als Gestaltung auftritt, ist eine Verwirk­lichung des Raumlosen.

Diejenigen Wesenheiten, welche eigentlich Geister der Form sind, aber sich als Archai, als Urkräfte maskieren, die wären also eigentlich nach ihrer Wesenheit bestimmt für das Raumlose. Aber sie treten in den Raum ein, sie wirken im Raume. Und das ist der eigentliche ahrimanische

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Charakter, daß geistige Wesenheiten, die durch ihre Wesen­heit bestimmt sind, raumlos zu sein, vorgezogen haben, im Raume zu wirken. Dadurch entsteht im Raume die Möglichkeit, so zu gestalten, daß die Gestaltung nicht aus dem Raumlosen direkt hereinstrahlt, sondern daß das Räumliche im Räumlichen wieder abgebildet wird, das eine durch das andere im Raume.

Wenn ich einen konkreten Fall sagen darf: Wir Menschen sind alle voneinander verschieden, weil wir alle aus dem Raumlosen ins Leben hereingestellt sind. Unsere Urbilder sind im Raumlosen. Alles ist überhaupt verschieden. Sie kennen die berühmte Erzählung, wie unter der Anleitung Leibnizens - Prinzessinnen haben manchmal nichts anderes zu tun - Prinzessinnen gesucht haben im Garten nach zwei voll­ständig sich gleichenden Baumblättern und keine gefunden haben, weil es wirklich nicht einmal zwei gleiche Blätter gibt. Wir alle also sind in gewisser Beziehung Gestalten aus dem Raumlosen heraus, insofern wir uns nicht gleichen. Aber dennoch gleichen wir uns; namentlich wenn wir blutsverwandt sind, gleichen wir uns. Wir gleichen uns, weil es auch geistige Wesenheiten gibt, die das Räumliche nach dem Räumlichen bilden, die nicht bloß das Räumliche nach dem Raumlosen bilden, sondern das Räumliche nach dem Räumlichen bilden. Wir gleichen uns, indem ahrimanische Kräfte uns durchziehen. Das muß schon der Mensch sich gestehen, sonst wird er immer bloß über ahrimanische und luziferische Kräfte schimpfen, aber sie nicht verstehen wollen.

An diesem Beispiel sehen Sie am anschaulichsten, wie Ahriman ins Leben hereinspielt. Sofern Sie sich getrauen, sich zu sagen: Ich bin ein Mensch für sich meiner Gestalt nach, und ich gleiche keinem an­dern -, insofern liegen Sie in der geraden Entwickelungslinie. Und wenn nur die geltend wäre in der Welt, wenn nicht die ahrimanische Seitenströmung ankommen würde, dann könnte keine Mutter sich freuen darüber, daß ihr das Töchterchen so furchtbar ähnlich sieht, denn es würde ihr auffallen, wie jeder einzelne Mensch ein räumliches Abbild eines Raumlosen ist, und kein Räumliches einem andern Räumlichen gleicht. Das Eintreten von gewissen Geistern der Form in den Raum gibt Veranlassung zum Ahrimanischen. Natürlich beschränkt

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sich dieses Ahrimanische nicht bloß auf das Gleiche der Men­schen, sondern es erstreckt sich auf vieles; aber wir konnten das aus einem Beispiele anführen.

Nun bitte ich Sie, sich an diejenige Betrachtung zu erinnern, die ich angeknüpft habe, nicht zu Ihrem Troste, sondern aus der Sache heraus, nachdem ich ausgeführt habe, daß der Mensch eigentlich zur Selbsterkenntnis erst gescheit wird in der zweiten Hälfte seines Lebens. Ich habe gesagt : Insofern unser Leben einen solchen zeitlichen Verlauf hat, und wenn es nur diesen zeitlichen Verlauf hätte und nichts anderes auf uns wirkte, so könnten wir in der Tat zur Selbsterkenntnis erst kommen in unserer zweiten Lebenshälfte. Aber nun wirken, sagte ich dazumal, in der ersten Lebenshälfte luziferische Kräfte und erzeugen eine Selbsterkenntnis, die nicht aus unserer ureigenen Menschennatur folgt. Ich habe aber entgegengestellt dem, was das menschliche Leben wäre, wenn es nur seiner ureigenen Natur folgte, dasjenige, was ich genannt habe das Reich der Dauer. In bezug auf alles dasjenige, was zu der ureigenen Menschennatur gehört, sind wir als Fünfzigjähriger ein anderer Mensch, als wir als Zwanzig­jähriger sind; wir entwickeln uns. Mit Bezug auf alles dasjenige, in dem wir uns nicht entwickeln, gehören wir nicht unserer Leiblichkeit, sondern dem Geistig-Seelischen an und hängen zusammen mit dem Reich der Dauer, mit jenem Reich, in dem die Zeit keine Rolle spielt. So wie zugrunde liegt allem Räumlichen ein Raumloses, so liegt zu­grunde allem Zeitlichen ein Dauerndes. Wir wären ganz andere Men­schen, wenn wir nicht zusammenhingen mit dem Reich der Dauer. Wir würden gewissermaßen mit dem achtundzwanzigsten oder neun­undzwanzigsten Jahre erst, wie ich vor einiger Zeit sagte, aus einer gewissen Lebensträumerei heraus aufwachen. Aber wir leben im Reich der Dauer, und so wird ausgeglichen das Hindösen der ersten Lebenshälfte und das furchtbare Gescheitsein in der zweiten Lebenshälfte durch das Reich der Dauer.

Diesem Reich der Dauer gehören nun an alle geistigen Wesenskräfte der höheren Hierarchien, die wir kennen, mit einziger Ausnahme der Geister der Form. Die spielen herein in das Reich der zeitlichen Entwickelung. Aber sie schaffen herein - indem sie raumlos-räumlich

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leben, indem sie gewissermaßen ihr Leben zwischen der Raumlosig­keit und Räumlichkeit zubringen - die Gestalten aus dem Raumlosen ins Räumliche. Das unterliegt einem Zeitprozesse, es spielt ihr Leben in die Zeit hinein. Aber die andern Wesenheiten, die in der Hierarchienordnung höher hinauf liegen als die Geister der Form, die sind rein der Dauer angehörige Wesenheiten. Von ihnen als Zeitwesenheiten zu sprechen, kann nur vergleichsweise geschehen; meint man es der Wirklichkeit nach, so ist es ein Unsinn. Es ist eben schwierig, über diese Dinge zu reden, aus dem einfachen Grunde, weil in der gegenwartigen Zeitentwickelung die wenigsten Menschen eine regsame Empfindung haben für Begriffe und Ideen, die man ent­wickelt, indem man aus dem Raum und aus der Zeit hinausgeht. Raumloses werden die meisten Menschen heute überhaupt nur für Phantasie erklären, ebenso Zeitloses, Dauerndes, Unvergängliches, aber dann auch Unwandelbares.

Nun gibt es also über den Wesenheiten der Exusiaiordnung hinauf nur Wesenheiten, die dem Reich der Dauer angehören. Aber es gibt solche unter ihnen, die sich als Zeitenwesen maskieren, die in die Zeit eintreten. So wie die andern Wesen, die ahrimanischen, die ich charak­terisiert habe, in den Raum eintreten, so gibt es Wesenheiten, die in die Zeit eintreten. Das sind luziferische Wesenheiten, Wesenheiten, die eigentlich in der Hierarchienordnung zu den Geistern der Weisheit gehören, aber als Geister der Form wirken, weil sie in der Zeit wirken. Und dasjenige, was sonst im Leben zeitlos in der Menschenseele wirken würde, das wird durch diese Geister in die Zeit hereingerückt. Daher kommt es, daß zum Beispiel gewisse Dinge, die für uns immer da sein könnten, wenn wir nur dem Reich der Dauer folgen dürften, auch der Zeit unterliegen; zum Beispiel von uns vergessen werden können, oder besser oder schlechter erinnert werden können und dergleichen, was ja nur mit unserer leiblich-seelischen Natur zusammenhängt, nicht mit unserer geistig-seelischen Natur; das Erinnern, das Ge­dächtnis.

Also Geister der Dauer, die sich als Geister der Zeit maskieren, sind die luziferischen Kräfte; eigentlich Wesenheiten, Wesenskräfte in der kosmischen Ordnung von einer sehr hohen Natur, höhere

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Kräfte als diejenigen, von denen, wenn sie auch noch so theologisch durchgebildet zu sein glauben, manche Pastoren reden, wenn sie vom Göttlichen sprechen. Nun, das wovon die Pastoren sprechen, sind in Wirklichkeit viel geringere Kräfte, wie wir ja schon gerade auch hier an diesem Orte erwähnt haben.

Diese luziferischen Kräfte haben in sich die Möglichkeit, dasjenige, was sonst für unsere menschliche Anschauung uns rein geistig dauer­haft erscheinen würde, gewissermaßen in die Zeit zu übersetzen, ihm den Schein des zeitlichen Verlaufes zu geben. Und durch diesen Schein des zeitlichen Verlaufes gewisser Erscheinungen in uns selbst kommt einzig und allein die Behauptung des Menschen, daß seine geistige Betätigung zusammenhinge mit stofflichen Vorgängen. Würden wir nicht in unserer Seele gewissermaßen durchsetzt sein von luziferischer Wesenheit, dann würde uns unsere geistige Betätigung als Geistiges unmittelbar erscheinen. Wir würden gar nicht auf die Idee kommen, daß dasjenige, was geistige Betätigung ist, am Stoffe hängen könnte. Wir würden uns bewußt werden, daß das einzige Bild, welches ich oftmals gebrauche, auch das einzig richtige ist: daß der, welcher glaubt, seine geistige Betätigung gehe aus dem Stoffe hervor, einem Menschen gleicht, der sich vor einen Spiegel hinstellt und glaubt, daß das Spiegelbild von einer Wesenheit hinter dem Spiegel herrührt. Gewiß, das Bild ist davon abhängig, wie der Spiegel geformt ist; so ist unser Denken abhängig von unserer Leiblichkeit. Aber der Leib wirkt nicht anders als ein Spiegel. Das würde dem Menschen in der Anschauung selbst unmittelbar sich offenbaren, wenn nicht der luziferische Schein da wäre, daß aus dem Stofflichen heraus die geistige Betätigung gestaltet wird. So sehr Luzifer sich hineinmischt ins Überbewußte, so sehr ruft er wieder den Schein her­vor, der uns in ähnlicher Weise nasführt, wie wenn wir einem Spiegel entgegengehen und den Spiegel zerschlagen, um zu sehen, wie sich der angreift, der dahinter ist.

Dieser Schein, daß Geistiges aus dem Stofflichen stammen könne, das ist im wesentlichen ein luziferischer Schein. Und man kann sagen: Der, welcher behauptet, Geistiges sei stoffliches Produkt, erklärt, wenn er es auch nicht ausspricht, Luzifer zu seinem Gott. - Die Behauptung,

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Geistiges gehe hervor aus Stofflichem, die ganz identisch ist mit der Behauptung, der Spiegel bringt die Spiegelbilder hervor in dem Sinne, als ob die Wesenheiten hinter dem Spiegel wären, diese Behauptung, Stoff bringt Geistiges hervor, menschliches Geistiges, die ist ganz identisch mit der Erklärung, wenn sie auch nicht aus­gesprochen wird: Luzifer ist Gott.

Wir können auch nach dem Gegenpol fragen. Eine luziferische Vorspiegelung ist diese, daß der Spiegel, das Stoffliche, ein Geistiges aus sich herausströmen lasse. Der Gegenpol ist der, daß auch die Täu­schung beim Menschen vorhanden ist, als ob das, was in der sinnen­fälligen Welt ist, jemals auf das menschliche Innere wirklich wirken könnte. Wäre nicht die ahrimanische Illusion da, die durch Kräfte entsteht, welche aus dem Raumlosen in das Räumliche eintreten, dann würde der Mensch durchschauen, wie niemals auf seine Wesenheit die Kräfte Einfluß gewinnen können, die im Stofflichen verankert sind. Die Behauptung, daß im Stofflichen Kräfte verankert sind, Energien verankert sind, die im Menschen weiterwirken können, diese Behauptung ist eine rein ahrimanische, und der sie tut, erklärt Ahriman zu seinem Gotte, auch wenn er es nicht ausspricht.

Dennoch, der Mensch schwebt zwischen diesen beiden Illusionen; der Mensch schwebt zwischen der einen Illusion, die ihm immer wie­der und wiederum vorgaukelt, daß der Spiegel die Bilder als Wesen­heiten aus sich herausströmen läßt, als ob der Stoff geistige Betäti­gungen hervorbringen könnte. Die andere Illusion ist diese, daß in dem äußeren sinnenfälligen Dasein Energien enthalten sind, die irgendwie umgesetzt zu der menschlichen Betätigung führen können. Das eine ist die luziferische, das andere ist die ahrimanische Illusion.

Dasjenige, was unsere heutige Zeit so charakterisiert, ist, daß sie keine Neigung hat, auf das Geistige ebenso einzugehen, wie sie auf die Naturordnung eingeht. Es ist ja allerdings leichter, so über den Geist vom Standpunkt eines nebulosen Mystizismus oder vom Standpunkt abstrakter Naturbegriffe zu reden, als sich in wirklich wissenschaft­licher Weise, so wie man das für die Natur selber tut, auf die geistigen Vorgänge und geistigen Impulse konkret einzulassen. Wir leben nun einmal in dem Zeitalter, in dem der Mensch anfangen muß, bewußt

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sich über das aufzuklären, was in seinem Seelischen wirkt. Wir kennen die Gründe, warum die Zeit abgelaufen ist, in welcher der Mensch im Unbewußten die Impulse finden konnte, die ihn weiter lenkten; heute muß der Mensch beginnen, bewußt einzutreten in das Feld, in dem eben sein Seelisches lebt, und dieses Seelische die Bewußtheit erzeugt.

Wir können also sagen, daß der Mensch eigentlich ein ganz anderes Wesen wäre, wenn er nur seiner ureigenen Natur und den guten geistigen Kräften in der Welt folgen würde in seiner Entwickelung, als er jetzt ist, da er in Wirklichkeit dieser urzeitlichen Entwickelung folgt im Zusammenwirken mit den zeitlich auf ihn wirkenden luzi­ferischen und ahrimanischen Kräften. Die Frage ist nun diese : Wie stellt sich ein Gleichgewichtszustand her zwischen diesen drei Kräf­ten? Um diesen Gleichgewichtszustand herzustellen, oder wenig­stens, um zu erkennen, wie er herzustellen ist, muß man auf folgendes sehen.

Die äußere Naturwissenschaft macht es sich sehr bequem, indem sie für gewisse Gebiete so nach dem Prinzip urteilt: Ein Messer gehört zum Essen, also nimmt man, indem man zum Rasieretui geht, ein Rasiermesser heraus und schneidet sich damit dasjenige, was auf den Tisch kommt. So sind sehr viele heutige naturwissenschaftliche Urteile gebildet, zum Beispiel das über den Tod. Nicht viel mehr verwendet die heutige Naturwissenschaft von zunächstliegenden Begriffen für die Erscheinung des Todes, als das Aufhören eines Organismus. Das ist bequem, denn man kann dann, wie das ja heute manche, die sich Forscher nennen, in grotesker Weise machen, vom Pflanzentode, vom Tiertod und Menschentod im gleichen Sinne sprechen. Aber das ist wirklich nichts anderes, als wenn man sprechen würde vom Messer und meinte das Tischmesser und das Rasiermesset in einer Kategorie. In Wahrheit ist dasjenige, was Tod genannt werden kann, etwas an­deres bei der Pflanze, etwas anderes beim Tier, etwas anderes beim Menschen. Nur weil man bei allen dreien das Aufhören der organi­schen Funktionen sieht, generalisiert man.

Wenn man den Tod in der Menschennatut studiert - und wir haben ja öfter von der Erscheinung des Menschentodes gesprochen -, dann

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zeigt innerhalb der Menschennatur dieser Tod ein solches Wesen, daß man ihn als die Ausgleichskraft für die luziferischen Kräfte in einer gewissen Weise ansehen kann. Nicht wahr, der Tod ist ja nicht nur die einmalige Erscheinung, denn der Mensch beginnt eigentlich zu sterben, indem er geboren wird; indem die Impulse des Sterbens schon in ihm liegen, vollzieht der Tod sich in einem gewissen Zeit­punkte. Alles was an Kräfteimpulsen zum Tode führt, das sind zugleich diejenigen Kräfte, welche das Gleichgewicht herstellen mit den luziferischen Kräften. Denn durch den Tod wird der Mensch aus dem Zeitlichen hinausgeführt in das Reich der Dauer.

Nun wissen wir, daß die luziferischen Kräfte gerade darinnen ihr Wesen haben, daß sie eigentlich dem Reich der Dauer angehören und das, was sie im Reich der Dauer machen sollten, ins Reich der Zeitlich­keit hereintragen. Das würde keinen Ausgleich haben, wenn nicht dem Reich der Zeitlichkeit der Tod eingefügt wäre, der den Menschen wiederum herausführt aus dem Reich der Zeitlichkeit in das Reich der Dauer. Der Tod ist der Ausgleicher gegenüber dem Luziferischen. Das Luziferische trägt die Dauer in die Zeit herein; der Tod trägt die Zeit in die Dauer hinaus. So ist es abstrakt ausgesprochen, allein in dieser Abstraktion liegt eben eine Unsumme von Konkretem.

Was haben wir sagen müssen von Ahriman? Er macht ähnlich das Ähnliche. Ich habe Ihnen den konkreten Fall des Ähnlichen in der Menschennatur angeführt, das mit dem Ahrimanischen zusammen­hängt. Diesem Ähnlichen, dem muß ebenso ein Gegengewicht geschaffen werden oder geschaffen sein - man kann natürlich nicht teleologisch sprechen, also geschaffen sein -, es muß da sein dieses Gegengewicht, welches eigentlich gegen die Ähnlichkeit wirkt. Nur führt man sonderbarerweise vielfach die Ähnlichkeit zurück auf dieses Gegengewicht durch einen der verworrenen Begriffe, die da kommen, wenn man sich nicht einläßt auf tiefere Zusammenhänge. Das Gegen­gewicht für die Ähnlichkeit ist die Vererbungskraft: wir sind nicht nur ähnlich in der Form, die auf unsere Gestaltung führt, sondern wir tragen in uns innere Vererbungskräfte. Durch diese Vererbungs­kräfte, die wir in uns tragen, wirken wir eigentlich der Ähnlichkeit der Form entgegen. Nur eine verworrene Wissenschaft schiebt Ähnlichkeit

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und Vererbung zusammen. Wir sehen unseren Eltern ähnlich, bekommen aber zu gleicher Zeit von unseren Eltern in unserem inneren Menschen gewisse Kräfte mitvererbt, die danach streben, uns wiederum zum Urbilde des Menschen zurückzuführen. Eigentlich ist das, was wir vererbt bekommen, im Kampfe gegen die Ähnlichkeit. Eine feinere Betrachtung des Menschenlebens kann schon darauf kommen, selbst ohne übersinnliche Betrachtung, ganz durch äußerliche Betrachtung. Versuchen Sie einmal, das Leben in der rechten Weise zu fragen, versuchen Sie einmal, Menschen zu betrachten, die ihren Eltern, Großeltern und so weiter nach dieser oder jener Formeigenschaft besonders ähnlich sehen, und sehen Sie dann auf die ver­erbten moralischen Impulse: dann werden Sie sehen, daß die vererbten moralischen Impulse in der Regel entgegengesetzt wirken den gleichen Formgestaltungen.

Wenn Sie gerade bei den von der Geschichte verzeichneten hervorragenderen Persönlichkeiten sich die Bilder ansehen, welche deren Formgestaltung als ähnlich dem Vorfahren erscheinen lassen, so wer­den Sie überall sehen, daß zu gleicher Zeit in der Biographie seelische Eigenschaften verzeichnet sind - und die gerade vererbte Eigen­schaften sind -, die sich auflehnen gegen diejenigen, von denen diese Formähnlichkeiten hergekommen sind. Dies ist wesentlich eines der Geheimnisse des Lebens. Und es würden Vorfahren ihre Nachkom­men, es würden Eltern ihre Kinder viel, viel besser verstehen, wenn sie in völliger Vorurteilslosigkeit solch ein Faktum ins Auge fassen könnten. Wenn zum Beispiel - verzeihen Sie, daß ich solche Dinge sage, aber wir sind ja nicht in einer Philistergesellschaft - eine Mutter ein Söhnchen hat, das ihr ganz besonders ähnlich ist, so kann sie sich darüber freuen, daß ihr das Söhnchen ähnlich ist; aber für die Er­ziehung könnte es sehr nützlich sein, wenn sie sich nun sagt: Was wollen sich da in diesem Söhnchen für Eigenschaften entwickeln, die ähnlich denen sind, weswegen ich mich mit meinem Manne so oft zanken muß? - Auf solche konkreten Impulse, die im Leben eine ungeheure Bedeutung haben, sollte man den Blick richten. Man wird die Erkenntnis solcher Impulse für die Erziehungsaufgabe der Zu­kunft, der zukünftigen menschlichen Entwickelung, ganz besonders

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nötig haben. Denn man wird nicht aus abstrakten Grundsätzen heraus in der Zukunft erziehen können, sondern man wird nach Unterlagen, nach empirischen, konkreten Unterlagen erziehen müssen. Und diese konkreten, empirischen Unterlagen ergeben sich nicht, wenn man das Leben nicht lesen kann. Man muß es lesen können ; aber dazu muß man die Buchstaben kennen. Im Konkreten sind es ja, wie Sie wissen, viel mehr, aber zum notwendigsten Buchstabieren für die nächste Zukunft genügt schon, wenn man die drei Buchstaben : die normale Entwickelung, das Ahrimanische und das Luziferische kennt. Aber wer sie nicht kennt, kann nicht lesen, so wie derjenige, der nicht das Abc kennt, kein Buch lesen kann. Das sind einfach die Buchstaben, durch die man das Leben kennen, das Leben lesen lernt. Und der Geist des Utopischen, der in der Menschheit so vielfach verbreitet ist, er wird sich nur besiegen lassen dadurch, daß man das Leben wird lesen lernen. Dann muß man sich aber einlassen darauf, die im Leben spielenden Kräfte zu studieren.

Nun kann natürlich jemand sagen : Du erklärst uns hier etwas als die ureigene Menschenwesenheit, was man aber nirgends findet. - Das ist ja selbstverständlich ; aber das ist kein anderer Einwand, als den derjenige macht, welcher sagt : Du erklärst mir hier, daß in dem dahinfließenden Flußwasser Wasserstoff und Sauerstoff darinnen ist ; ich finde nichts davon. - Es ist eben nötig, auf diese Dinge einzugehen, vor allen Dingen sich einen richtigen Begriff von dem zu machen, was Form ist. Ich habe früher einmal folgenden Vergleich gebraucht, den ich wiederholen möchte.

Man kann in Koblenz oder irgendwo ankommen, auch in Basel, und kann den Rhein bewundern und kann sich veranlaßt fühlen zu dem Ausdruck: Dieser Rhein, nun fließt er, man weiß nicht wie lange, gewiß seit Jahrhunderten, vielleicht aber seit unvordenklichen Zeiten dahin. Wie alt ist dieser Rhein! - Was ist denn da eigentlich alt? Das Wasser, das Sie anschauen, das wird in einigen Tagen ganz woanders sein, das wird weg sein : das ist sicher nicht alt, denn es war vor einigen Tagen noch gar nicht da, sondern ganz woanders. Was Sie da sehen, ist sicher nicht alt, das dürfen Sie nicht für jahrhundertealt halten. Und wenn Sie vom Rhein sprechen, sprechen Sie wahrscheinlich auch

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nicht von der Rinne in der Erde, die da ist, wo das Wasser drinnen fließt ; Sie sprechen wirklich von etwas, das Sie eigentlich gar nicht vor sich haben. Sie können nämlich nicht, wenn Sie von der Wirklichkeit sprechen, von demjenigen sprechen, was Sie vor sich haben, denn das, was Sie vor sich haben, ist ein Zusammenfluß von durch die Welt wirkenden Strömungen, und ist nur der Gleichgewichtszustand. Und überall, wo Sie hinsehen, sehen Sie nur Gleichgewichtszustände Die Wirklichkeiten, in die müssen Sie erst eindringen. Aber nur durch das Eindringen in die Wirklichkeiten ist auch ein Buchstabieren des Lebens möglich.

Morgen werde ich nun sprechen von dem Zusammenhang des luziferischen und ahrimanischen Impulses mit dem Christus-Jahve­Impuls, damit Sie sehen, wie sich dieser Christus-Jahve-Impuls in Wirklichkeit in diese Strömungen hineinstellt.

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ELFTER VORTRAG Dornach, 5. Oktober 1918

Aus den mannigfaltigsten Andeutungen und Ausführungen, die ich über das Christus-Mysterium gemacht habe, werden Sie haben ent-nehmen können, daß man zu unterscheiden hat zwischen demjenigen, was im allgemeinen Entwickelungsgang der Menschheit gelegen hatte zut Zeit dieses Mysteriums von Golgatha, und dem, was durch das Mysterium von Golgatha in diese Menschheitsentwickelung hineingekommen war. Nach der Art, wie wir jetzt die Menschheitsentwicke­lung kennengelernt haben, wissen Sie, daß wir es zu tun haben mit einer fortlaufenden Strömung von Kräften, die von den Wesenheiten der höheren Hierarchien herrühren und die zur ureigenen Natur des Menschen gehören, und mit zwei seitlichen Strömungen, mit der luziferischen und der ahrimanischen Strömung.

Nun handelt es sich darum, daß die luziferische und die ahrimanische Strömung gewissermaßen ihren Höhepunkt, den Höhepunkt ihres nützlichen Wirkens innerhalb der Menschheitsentwickelung gerade zur Zeit des Mysteriums von Golgatha erreicht haben, und in gewissem Sinne, wenn man den Ausdruck gebrauchen darf, der Menschheit Gefahr drohte, daß dieser Höhepunkt überschritten werde und dadurch das notwendige Gleichgewicht zwischen dem ahrimanischen Wirken und dem luziferischen Wirken für die ganze Menschheitsentwickelung verlorengehen könnte. Im Laufe dieser Menschheitsentwickelung trat ja folgendes zutage. Betrachten wir die fortschreitende Menschheitsentwickelung als eine gerade Linie (siehe Zeichnung S.220), so können wir sagen, dieser fortschreitenden Menschheitsentwickelung gehören an - wir wollen beginnen mit der lemurischen Zeit - das lemurische Zeitalter, das atlantische Zeitalter und unser Zeitalter, das fünfte, wie immer wir das bezeichnen, das nachatlantische Zeitalter. Wenn ich als rote Linie einzeichne die Stärke der luziferischen Wirkung, so kann man diese etwa so einzeich­nen. Man kann sagen, im lemurischen Zeitalter ist eine gewisse Stärke da, die wächst, nimmt dann wiederum ab, und diese luziferische Stärke

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wird sehr gering und geht dann ganz unter im atlantischen Zeitalter, um im nachatlantischen Zeitalter sich wiederum zu erheben. So daß im atlantischen Zeitalter im Grunde genommen - also ich rede jetzt nicht vom einzelnen Menschen, sondern ich rede von der Mensch­heitsentwickelung - in der geschichtlichen Entwickelung der Mensch­heit wenig vom unmittelbaren Eitiflusse des Luziferischen da ist (siehe Zeichnung, rot).

# Bild s. 220

Dafür aber war in diesem Zeitalter die ahrimanische Entwickelung, was ich einzeichne mit einer gelben Linie, und ich müßte diese so zeichnen, daß sie besonders im atlantischen Zeitalter stark ist und hier, nachatlantische Zeit, wiederum schwächer wird - ich rede jetzt von der geschichtlichen Entwickelung - und wir müssen uns klar sein, daß wir, wenn wir so etwas charakterisieren, immer das berück­sichtigen müssen, was ich neulich einmal gesagt habe: Wenn Luzifer besonders stark wirkt, so ruft er im Unterbewußtsein Ahriman hervor. Also wenn in unserem fünften Zeitalter die luziferische Kurve beson­ders da ist, so bedeutet das nicht, daß, weil Luzifer besonders wirkt, etwa Ahriman außerhalb unseres Kreises liege; im Gegenteil, es gilt gerade, daß, weil Luzifer unter den historischen Kräften stark wirkt, Ahriman in den unterbewußten Regionen des Menschen besonders sein Wesen treibt.

Sie sehen also, es ist eine Art Wellenlinie sowohl für ahrimanisches Wirken wie für luziferisches Wirken im Verlauf der menschlichen

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Erdenentwickelung da. Aus den beider Stärken des Ahrimanischen und Luziferischen muß ein Gleichgewichtszustand hergestellt werden. Dieser Gleichgewichtszustand ist nun in der geschichtlichen Entwicke­lung niemals ein vollkommener gewesen. Es gab Zeiten, in denen die luziferischen Wirkungen sehr stark waren, Zeiten, in denen die ahri­manischen Wirkungen sehr stark waren.

# Bild s. 221

Wenn wir das Zeitalter der menschlichen Entwickelung ins Auge fassen, in dem sich die Menschheit dem Mysterium von Golgatha näherte, da finden wir, daß der Gleichgewichtszustand zwischen dem luziferischen und ahrimanischen Kräftewesen ein außerordentlich labiler ist, ein schwankender ist, kein rechtes Gleichgewicht eigentlich da ist. Wir haben auf der einen Seite jene Menschheits strömung, die sich dem Mysterium von Golgatha zu bewegt, und die uns historisch erscheint in der Entwickelung der semitischen Völker. Diese Mensch­heitsströmung ist insbesondere zugänglich für das luziferische Wesen, wodurch ahrimanische Wirkungen stark im Unterbewußten erzeugt werden.

Dagegen das griechische Wesen ist stark zugänglich für die historischen ahrimanischen Kräfte, wodurch starke luziferische Wirkungen im Unterbewußten erzeugt werden. Man versteht die semitische und die griechische Kultur, die ja polarische Gegensätze sind, nur dann vollständig, wenn man dies Schwanken in der Weltentwickelung des Menschen zwischen Ahrimanischem und Luziferischem gehörig ins

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Auge faßt. Aber für die abendländische Bevölkerung war in der Zeit, in der also vor auswärts das Mysterium in die Erdenentwickelung hereinfiel, der Einluß des Griechentums ein ganz ungeheuer bedeut­samer. Dieser Einfluß des Griechentums, er war aber schon im Abnehmen, besser gesagt, er hatte seinen Höhepunkt überschritten. Dem Griechentum drohte eine absteigende Entwickelung. Und diese ab­steigende Entwickelung, die dem Griechentum drohte, die kann man so ausdrücken, daß man sagt: Die Griechen haben gerade durch den ahrimanischen Einschlag, den sie gehabt haben, der sich in ihrer Kunst als luziferisches Element kundgab, eine hohe Weisheit entwickelt. Und diese Weisheit, sie hat, wie wir öfter charakterisiert haben, einen sehr individuellen, menschlich individuellen Charakter angenommen. Aber sie war im Grunde genommen am größten da, wo noch hereinleuchtet in die griechische Weisheit aus uralter Zeiten dasjenige, was geistige Wesen selber die Menschen gelehrt hatten.

Wir wissen ja, daß in Urzeiten die Lehrer der Menschheit unmittel­bar aus der geistigen Welt heraus Inspirierte, Initiierte waren. Durch solche aber haben die geistigen Wesenheiten der Welt selber ge­sprochen, und wir können, wenn wir in uralte Zeiten der Mensch­heitsentwickelung noch in dem Beginne des fünften Zeitalters zurück­blicken, auf eine wunderbare Urweisheit blicken. Die war gewisser­maßen in Begriffen und Ideen so geläutert, daß sie sich in diesen Be­griffen und Ideen dem Menschenwesen angepaßt hatte. Während sie in früheren Zeiten durch die großen Eingeweihten in mehr bildlicher, imaginativer Form verkündet worden war, war sie durch die Griechen in Ideen, in Begriffe gefaßt worden, hatte sich dadurch der Menschen angepaßt. Aber dasjenige, was eigentlich bewundernswürdig an den Griechen ist, dasjenige, was selbst noch die Philosophie des Plato durchtönt, das ist noch ein Nachklang jener Urweisheit, welche die Menschheit, ich möchte sagen, aus dem Munde der Götter selber emp­fangen hat. Aber diese Weisheit drohte den Menschen verlorenzugehen.

Wenn man zurückblickt auf dasjenige Zeitalter der griechischen Geistesentwickelung, das Nietzsche das tragische Zeitalter genannt hat, dann blickt man zurück auf die großen griechischen Philosophengestalten,

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auf Anaxagoras, auf Heraklit, und man erblickt in ihnen, ich möchte sagen, letzte Träger der Götterweisheit, die aber schon um­gesetzt ist in Ideen und Begriffe. Thales ist gewissermaßen der erste, der rein auf natürlichen Begriffen fußt; er ist schon getrennt von dem unmittelbar lebendigen Eindruck der Urweisheit der Menschheit, der noch bei Anaxagoras wahrzunehmen ist. Der Menschheit drohte nach und nach diese Urweisheit verlorenzugehen. Nun war aber aus dieser Urweisheit geflossen dasjenige, was in alter Zeiten den Men­schen befähigt hat, überhaupt über den Menschen etwas zu wissen. Menschenerkenntnis, es war ja auch etwas, was die griechische und was alle Urweisheit durchtränken sollte. Die Mysterien sollten Men­schenerkenntnis geben. «Erkenne dich selbst» war einer der Weis­heitssprüche. Aber diese alte Menschenerkenntnis, sie war auf dem Umwege durch Luzifer vermittelt, und der Mensch erarbeitete sie durch ahrimanische Kräfte. Sie war ganz und gar gebunden an den Gleichgewichtszustand zwischen ahrimanischen und luziferischen Kräften.

Nun stellte sich zur Zeit, als die alte Welt zu Ende ging, als von der andern Seite her das Mysterium von Golgatha kam, für die Menschheit ein leichter Überschuß ein an ahrimanischen Kräften. Die ahrimanischen Kräfte waren damals besonders stark. Jetzt, seit dem 16. Jahrhundert, ist wiederum etwas Ähnliches der Fall, eine Art Renaissance der ahrimanischen Kräfte. Aber in jener Zeit waren die ahrimanischen Kräfte eben besonders stark, in welcher das Mysterium von Golgatha hereinkam. Und durch die Stärke dieser ahrimanischen Kräfte wurde namentlich das bewirkt, daß das menschliche Seelenleben nach der Abstraktheit hingetrieben wurde, bis zu jener Ab­straktheit, die uns dann im römischen Wesen entgegentritt, welches durch und durch abstrakt ist. Man muß sich fragen: Was wäre mit der Menschheit geschehen, wenn nur in dieser hier eben charakterisierten Entwickelungsströmung der Entwickelungsgang fortgegangen wäre, wenn nicht das Mysterium von Golgatha gekommen wäre? Das wäre eingetreten, daß der Mensch nicht mehr hätte einen Begriff, eine Vor­stellung, eine Empfindung fassen können von der menschlichen Per­sönlichkeit selbst.

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Damit ist außerordentlich Bedeutsames gesagt. Das drohte den Menschen, weil ihnen nichts mehr auf dem Wege von den Göttern her ge­sagt werden konnte, weil selbst die Traditionen verlorengegangen waren von diesem Götterwege der Weisheit über die Persönlichkeit, daß sie sich selber immer mehr und mehr ein Rätsel werden sollten. Man muß diese Wahrheit in ihrer ganzen Stärke fühlen: Ohne das Mysterium von Golgatha hätte den Menschen gedroht, daß sie sich immer mehr und mehr ein Rätsel geworden wären. Die Menschen hätten Weisheit erringen können, aber nur über die Natur, nicht über sich. Und sie hätten allmählich vergessen müssen, daß sie aus dem Geiste geboren sind. Sie hätten das vollständig verlernen müssen.

Da kam das Mysterium von Golgatha. Und von den verschieden­sten Gesichtspunkten, von denen aus man das Mysterium von Gol­gatha charakterisieren kann, ist auch der eine Gesichtspunkt zu be­achten, daß durch den Einschlag des Mysteriums von Golgatha den Menschen die Fähigkeit wiederum gebracht worden ist, aus geistigen Höhen, die ihnen vom irdischer Felde aus verlorengegangen waren, sich als Persönlichkeit zu fassen. Der Christus-Impuls brachte den Menschen die Möglichkeit, sich wiederum als Persönlichkeit zu fassen, aber jetzt als Persönlichkeit sich zu fassen durch innere Kräfte.

Es ist heute für den Menschen außerordentlich schwierig, sich vorzustellen, wie der alte Mensch zu seinem Persönlichkeitsbewußtsein gekommen ist, weil die Leute einem heute nicht glauben wollen, wie ganz anders die äußere Weltanschauung für den alten Menschen war. Man kann eine solche Gestalt wie Julian den Abtrünnigen, den Apo­staten, nicht verstehen in seiner ganzen welthistorischen Bedeutung, wenn man nicht weiß, daß er einer der letzten von denjenigen war, welche die Sonne noch anders gesehen haben, als der heutige Mensch sie sieht. Der heutige Mensch sieht die Sonne wie einen physikalischen Körper. Die Mondenwirkung ist ihm noch länger geblieben als Naturwirkung. Im Monde gehen heute noch die Liebenden spazieren und schwärmen und träumen, im Monde wächst und blüht die Phantasie, im Monde, da dämmert es und die Mondscheinpoesie, die wahre und die falsche, sie ist heute noch immer unter den Menschen verbreitet. So, aber viel intensiver, wie heute noch manche im Monde fühlen, so

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fühlten die alten Menschen, wenn sie aufwachend der Sonne an­sichtig wurden. Wenn die alten Menschen aufwachend der Sonne an­sichtig wurden, dann redeten sie nicht nur von dem Sonnenlicht, dann empfanden sie: Aus diesem Himmelswesen strömt mit dem Strahl in uns ein dasjenige, was uns wärmend und uns durchleuchtend durch­dringt, was uns zur Persönlichkeit macht.

Das fühlte noch Julian der Apostat, und er glaubte, daß das den Menschen erhalten werden könne. Und das war sein Irrtum; das war auch seine große Tragik. Aus dem physischen Sonnenstrahl trat der sich entwickelnden Menschheit die Persönlichkeit nicht mehr entgegen. Auf einem geistigen Wege wurde den Menschen diese Er­kenntnis der Persönlichkeit gebracht. Was die Sonne draußen im Raume nicht mehr geben konnte, was nicht mehr auf dem Wege von außen an den Menschen herankommen konnte, es mußte aus dem tiefsten Inneren des Menschen aufsteigen. Der Christus mußte selber sein Weltengeschick mit den Menschen verbinden, damit im fort­währenden Schwanken der Waagschale zwischen Ahriman und Luzifer die Menschen nicht aus ihrer fortschreitenden Bahn fielen. Und man muß in vollem und tiefem Ernste nehmen, daß der Christus aus gei­stigen Höhen zu den Menschen heruntergestiegen ist und sein Ge­schick mit dem Geschick der Menschen verbunden hat. Wie ist das? Das ist das Eigentümliche: Wenn die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha in die Sinneswelt hineingeschaut haben, dann sahen sie zugleich ein Geistiges. Das habe ich Ihnen ja an der Sonnenan­schauung eben klargestellt. Das ging den Menschen verloren. Die Menschen mußten dafür ein anderes bekommen, sie mußten ein Geisti­ges empfangen, aus dessen Geistigkeit sie zu gleicher Zeit den Ein­druck der sinnenfälligen Wirklichkeit hatten. Das ist das Merkwür­dige beim Mysterium von Golgatha und seinem Verhältnis zu der menschlichen Erkenntnis.

Und dieses Mysterium von Golgatha, das der Erdenentwickelung den eigentlichen Sinn gegeben hat, es ging eigentlich, unbemerkt für die Römer, in einem kleinen Winkel der Welt vor sich, und Tacitus weiß eigentlich noch nichts Rechtes von dem Mysterium von Gol­gatha, obwohl er hundert Jahre nach dem Mysterium von Golgatha

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seine ausgezeichnete römische Geschichtsbetrachtung aufgestellt hat. Die Geschichte sagt eigentlich nichts über das Mysterium von Gol­gatha, denn die Evangelien sind keine Geschichte; sie sind geschrieben so, wie ich es darstelle in meinem Buch «Das Christentum als mystische Tatsache»: sie sind eigentlich aufs Leben angewendete Mysterienbücher. Und wenn sich die Theologen noch so viel Mühe geben werden: Geschichte, so wie Geschichte über andere Ereignisse existiert, wird nie da sein über das Mysterium von Golgatha. Denn das soll gerade das Charakteristische sein des Mysteriums von Gol­gatha, daß man geschichtlich, auf dem Wege der äußeren tatsächlichen Geschichte, nichts darüber wissen soll. Wer über das Mysterium von Golgatha etwas wissen will, muß ans Übersinnliche glauben. Histo­risch-sinnlich läßt sich das Mysterium von Golgatha nicht beweisen.

So wie der alte Mensch ins Sinnliche geschaut hat und Übersinn­liches mitbekommen hat, so soll der moderne Mensch, wenn er nicht die Erkenntnis der Persönlichkeit verlieren will, auf das Mysterium von Golgatha als auf ein Übersinnliches hinschauen und aus dem Hinschauen auf das Übersinnliche die Überzeugung erhalten: Auch dies ist historisch geschehen, worüber keine Geschichte berichtet. -Wer das nicht ins Auge faßt, daß es im Laufe der geschichtlichen Ent­wickelung der Menschheit über das wichtigste geschichtliche Ereignis keine Geschichte gibt, daß darüber äußerlich nichts verzeichnet ist, was man Geschichte nennt, wer das nicht faßt, faßt das ganze Verhältnis des Mysteriums von Golgatha zum modernen Menschen nicht. Denn der moderne Mensch soll an dem Mysterium von Golgatha lernen, an die Tatsächlichkeit von etwas sich zu wenden, von dem er keine historische Urkunde hat. Und wirksam soll dieses Tatsächliche sein. Denn was haben wir denn gestern eigentlich erwähnt als von Ahri­man und Luzifer kommend? Wir haben erwähnt, daß Luzifer die Menschengemüter abzieht von dem Interesse am Nebenmenschen. Würde nur Luziferisches in der Menschheit wirken, wir würden immer mehr und mehr verlieren das Interesse an unseren Mitmen­schen. Es würde uns wenig berühren, wie der eine oder der andere Mensch denkt. Man bekommt sogar einen recht guten Maßstab, wie­viel Luziferisches in einem Menschen ist, wenn man frägt: Interessiert

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der Mensch sich für andere Menschen objektiv, tolerant, oder interessiert er sich doch eigentlich nur für sich selbst? - Luziferische Naturen haben wenig Interesse für ihre Mitmenschen, sind in sich ver­steift, verstockt, halten nur dasjenige für richtig, was sie selber aus­denken, was sie selber empfinden, sind nicht zugänglich für die Urteile von andern. Würde das Luziferische in derselben Weise weiter ge­wirkt haben in der Menschenentwickelung, wie es bis zum Mysterium von Golgatha hin gewirkt hat, dann wurde die Menschheit eben all­mählich in die Bahn hineingekommen sein, die damit zu charakteri­sieren wäre, daß die Menschen in sich verstockte und verschlossene Seelen würden, jeder sich nur um sein Eigenes kümmerte, jeder nur sein eigenes Ausgedachtes für wahr hielte und keinen Sinn hätte, in die Herzen der andern hineinzuschauen. Das aber ist nichts anderes als die Kehrseite des Verlustes der Persönlichkeit. Denn indem wir eben die Möglichkeit, den Menschen als Persönlichkeit zu erkennen, verlieren, verlieren wir auch das Verständnis für die Persönlichkeit des Mitmenschen. Es gab sehr viele Leute - viel mehr als man denkt, gerade im Zeitalter, in dem das Mysterium von Golgatha herannahte - in der griechischen, in der römischen Welt, in Afrika, im Westen von Asien, viele Menschen, welche in gewissem Sinne Hochmütige des Geistes waren, Leute, welche durch die Welt gingen, wie, man kann nicht sagen Sonderlinge, aber wie hochmütige, einsame Menschen, die einsam sein wollten. Es gab viele solche, es gab auch solche, die eine Philosophie daraus machten, sich nicht um die andern Menschen zu kümmern, sondern nur dem zu folgen, was man selbst in sich trug. Das war durch das Herausfallen des Luziferischen aus der Gleich­gewichtslage bewirkt.

Und gar das Ahrimanische, das war sogar in einer Überkraft vor­handen. Es zeigt sich ja am allerbesten in der Anschauung der ersten römischen Kaiser, der Julier, von denen nur in einer etwas frag­würdigen Weise der allererste, Augustus, initiiert war, während unter den andern es höchstens solche gab, die sich die Initiation er­zwangen, die sich aber alle für Göttersöhne, das heißt, für Initiierte hielten, dafür hielten, daß sie von den Göttern abstammten. Denn das Ahrimanische offenbart sich insbesondere dadurch, daß der

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Mensch nicht unter Menschen leben will wie Persönlichkeit unter Persönlichkeiten, sondern daß er Macht entwickeln will, wie ich gestern ausgeführt habe, daß er herrschen will, herrschen will durch Benützung der Schwächen anderer. Das waren die zwei großen dro­henden Gefahren zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, denen die Menschheit verfallen wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht gekommen wäre: Interesselosigkeit für die Mitmenschen, Herrschaftsgelüste jedes einzelnen. Indem der Christus sein Geschick mit dem Menschheitsgeschick verbunden hat, hat er etwas außerordentlich Tiefes in die Menschheit hineinverpflanzt. Vielleicht verstehen Sie mich am besten, wenn ich Ihnen schematisch davon spreche, was eigentlich der Christus in die Menschheit hineinverpflanzt hat. Wir Menschen, wir haben, wie ich Ihnen gezeigt habe, Kräfte, die wir durch unser ureigenes Wesen entwickeln. Sie wissen ja, in einer ge­wissen Beziehung werden wir erst in der zweiten Lebenshälfte ge­scheit durch unser ureigenes Wesen. Das habe ich Ihnen des langen und breiten und wiederholt ausgeführt. Aber damit noch nicht genug. Das, was ich Ihnen da ausgeführt habe für das Gescheiterwerden des Menschen zwischen Geburt und Tod, gilt ja im Grunde genommen nur für die Erdenentwickelung, und wir sollen ja weiter gescheit wer­den durch die Jupiter- und Venusentwickelung und Vulkanent­wickelung. Diese Kräfte, die wir entwickeln sollen im Lauf der Jupiter- und Venusentwickelung, liegen jetzt auch schon in uns.

Nun ist folgendes geschehen: Sie wissen, was der Mensch an Selbsterkenntnis erwerben kann in der ersten Lebenshälfte, kann er nicht durch seine ureigene Menschenwesenheit erwerben. Er muß es durch Luzifer erwerben. Seine ureigene Menschenwesenheit geht weiter. Luziferisches gibt ihm, indem es ihm in der ersten Lebenshälfte einen Einschlag gibt, die Selbsterkenntnis; diese glanzvolle Selbsterkenntnis wird in der zweiten Lebenshälfte durch Ahriman abgedämpft. Mit dem Christus-Impuls tritt eine andere Strömung in die Menschheitsentwickelung ein: zum tiefsten Inneren des Menschen spricht der Impuls, der mit dem Mysterium von Golgatha eintritt. Und wenn der Mensch durch seine ureigenen Kräfte das entwickeln sollte, was ihn von sich aus zu denjenigen kosmischen Einsichten

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führen würde, die durch den Christus in die Erdenentwickelung hereingekommen sind, dann würde der Mensch erst während der Venusentwickelung die Fähigkeit dazu erlangen. Also wenn der Mensch noch so gescheit wird bis zu seinem Tode, er würde bis zu seinem Tode auf der Erde von sich selbst aus nicht das erreichen können, was er dadurch erreicht, daß der Christus-Impuls sein Schicksal mit der Erdenentwickelung verbunden hat.

Wir durchleben also unser Erdenleben, ohne daß wir in der Lage sind, vermöge unserer ureigenen Entwickelung bis zu unserem Tode dahin zu kommen, den Christus-Impuls zu begreifen. Daraus geht Ihnen doch folgendes hervor: Es gab Zeitgenossen des Christus, seine Schüler; sie verkehrten mit ihm, sie konnten auch durch die Tradition der Urweisheit so viel Weisheit über ihn gewinnen, daß sie die Evangelien später schreiben konnten; aber verstehen konnten sie ihn eigentlich nicht. Denn sie konnten ja bis zu ihrem Tode damals ganz gewiß nicht zu dem Verständnis des Christus-Impulses kommen. Wann konnten sie denn erst dazu kommen? Nach ihrem Tode, in der Zeit nach dem Tode. Wenn wir annehmen, daß, sagen wir, Petrus oder Jakobus Zeitgenossen Christi waren, wann waren denn Petrus oder Jakobus reif, den Christus zu verstehen? Erst im 3. Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha. Im 3. Jahrhundert nach dem Myste­rium von Golgatha, denn bis zu ihrem Tode wurden sie nicht reif, sondern erst im 3. Jahrhundert wurden sie reif.

Wir berühren damit ein sehr bedeutsames Geheimnis; wir wollen es uns ganz genau vor die Seele führen. Die Zeitgenossen Christi mußten erst durch ihren Tod gehen, mußten in der geistigen Welt bis ins 2., 3. Jahrhundert leben, dann konnte ihnen in dem Leben nach dem Tode die Erkenntnis Christi aufgehen, und dann konnten sie inspirieren diejenigen, die gegen Ende des 2. Jahrhunderts oder vom 3. Jahrhundert an über den Christus-Impuls schrieben. Dadurch gewinnt auch das Schreiben über den Christus-Impuls, weil es durch eine mehr oder weniger deutliche, oder auch mehr oder weniger getrübte Inspiration der Kirchenväter ging, ein ganz besonderes Gesicht, aber erst vom 3. Jahrhundert an. Darum ist es, daß im Grunde genommen der für das Mittelalter dann maßgebende Augustinus in

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dieses Zeitalter fällt. Und daraus ersehen Sie, worauf man angewiesen war beim Verständnis des Christus-Impulses: die Venusweisheit, wenn ich so sagen darf, die der Mensch jetzt noch nicht erleben kann bis zu seinem Tode, sondern erst nach seinem Tode - in folgenden Jahrhunderten sogar erst -, diese Venusweisheit hereininspiriert zu bekommen auf die Erde. Und es war, man möchte sagen, wenn der Ausdruck nicht gar so töricht wäre, aber es gibt keinen rechten anderen, noch ein Glück, daß im 2. und 3. Jahrhundert inspiriert wer­den konnte, die Inspiration anfangen konnte; denn hätte man länger gewartet, über das Jahr 333 hinaus, dann hätte die Menschheit immer mehr und mehr sich verstockt gegen die geistige Welt und keinerlei Inspiration angenommen.

Sie sehen, die Wirksamkeit des Christus-Impulses in die Mensch­heit herein ist im Laufe der Jahrhunderte der christlichen Entwicke­lung an mancherlei Geheimnisse gebunden. Und derjenige, der sie heute wieder aufsuchen will, der findet die wichtigsten Bestandteile der Erkenntnis des Christus-Impulses nur, indem er das übersinnliche Erkennen ergreift. Denn die ersten wirklichen Lehrer der Menschheit über den Christus-Impuls waren im Grunde genommen Tote, wie Sie aus meinen eben getanen Ausführungen haben ersehen können, Leute, die Zeitgenossen Christi waren, und die erst im 3. Jahrhundert reif waren, ein vollständiges Verständnis zu erhalten. Im 4. Jahrhundert konnte dann dieses Verständnis wachsen; aber es wuchs auch die Schwierigkeit, Menschen zu inspirieren. Und im 6. Jahrhundert wuchs die Schwierigkeit noch mehr, bis endlich jene Zeit eintrat, wo Ordnung geschaffen wurde von Rom aus in diesem Hereininspirieren von geistigen Geheimmssen uber das Christus-Mysterium in die Mensch­heit und dem Dawider-sich-Sträuben der verstockten Menschheit. Da hat Rom endlich Ordnung geschaffen im 9. Jahrhundert, 869, auf dem Konzil von Konstantinopel, wo man nun endlich den Geist ab­geschafft hat. Es wurde Rom endlich zu bunt, diese Inspiriererei, und man stellte das Dogma auf, daß der Mensch in seiner Seele etwas Geistartiges hat, aber daß es ketzerisch ist, an den Geist zu glauben. Die Menschen sollten von dem Geiste abgezogen werden. Das ist ja im wesentlichen das, was mit dem achten ökumenischen Konzil in

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Konstantinopel 869, das ich öfter erwähnt habe, zusammenhängt. Es ist nur eine Folge dieser Abschaffung des Geistes, wenn Jesuiten heute - wie ich Ihnen neulich angeführt habe - einem sagen: Na ja, früher, da gab es Inspirationen, aber heute ist die Inspiration teuflisch, man darai nicht übersinnliche Erkenntnisse anstreben, denn da, da kommt der Teufel.

Doch diese Dinge hängen mit dem Tiefsten zusammen, das einen interessieren muß, wenn man wahrhaft in die Geisteswissenschaft eindringen will. Sie hängen nämlich zusammen mit einem gewissen Anerkennen eines Weisheitscharakters, den viele sogenannte Geisteswissenschafter, namentlich solche, die oftmals in sogenannten Ge­heimgesellschaften zusammengeflossen sind, nicht anerkennen. Es gibt, ich möchte sagen, einen gewissen Betrug, der immer wieder und wiederum in die Menschheit hineingetragen wird, hineingetragen wird von denjenigen, die geistige Geheimnisse kennen. Und dieser Betrug hüllt sich in einen falschen Gegensatz, in eine falsche Polarität. Haben Sie nicht gehört, daß die Leute sagen, es gibt Luzifer, und sein Gegner ist Christus-, daß die Leute die Polarität aufstellen: Christus-Luzifer, als Gegner? Ich habe Ihnen ausgeführt, daß selbst noch die Goethesche Faust-Idee unter der Konfundierung von Ahriman und Luzifer leidet, daß Goethe nicht genau auseinanderhalten konnte das Ahri­manische und das Luziferische Der zweite Aufsatz in meinem Büchel­chen über «Goethes Geistesart» handelt auch davon.

Damit aber ist etwas außerordentlich Bedeutsames gemeint. Der wahre Gegensatz, den diejenigen, die wahr reden wollen aus der geistigen Welt, den Menschen mitgeteilt haben, der wahre Gegensatz ist der zwischen Ahriman und Luzifer, und der Christus-Impuls bringt etwas anderes, und hat nichts zu tun mit der Polarität Ahriman-Luzi­fer, sondern er bewegt sich in der Gleichgewichtslinie. Und auf der Anerkennung dieser Tatsache beruht etwas ungeheuer Bedeutsames. Davon wollen wir dann morgen weitersprechen.

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 6. Oktober 1918

Ich habe gestern aus der Wissenschaft heraus, die man nennen muß die Wissenschaft der Initiation, zwei Bemerkungen gemacht, an die ich Sie erinnern will, weil wir daran anknüpfen müssen. Zunächst sagte ich mit Bezug auf das Mysterium von Golgatha: Die tiefsten Wahrheiten, die sich auf dieses Mysterium von Golgatha beziehen, müssen nach der Natur der Sache solche sein, welche nicht durch äußere sinnenfällige, historische Zeugnisse belegt werden können. Wer einen Beweis für die Tatsachen, die sich mit dem Mysterium von Golgatha abgespielt haben, auf äußerem historischem Wege sucht, so wie man nach historischen Zeugnissen für andere Tatsachen sucht, der wird solche Zeugnisse nicht finden können, weil das Mysterium von Golgatha sich so in die Menschheit hineinstellen soll, daß der Zugang zu seinen Wahrheiten sich zuletzt auf übersinnlichem Wege vermittelt. Die Menschen sollen sich gewissermaßen gewöhnen, wenn ich mich trivial ausdrücken darf, das Wichtigste im Erdendasein so zu haben, daß sie sich ihm nicht auf sinnlichem, sondern nur auf über­sinnlichem Wege nähern können. Das zweite, was ich gestern gesagt habe, ist dieses, daß der Mensch mit jenem Verständnisse, das ihm nach seiner Entwickelung zugeteilt ist als Erdenwesen, eigentlich bis zu seinem Tode - also wohlgemerkt: selbst bis zu seinem Tode - nicht so weit kommt, daß er aus seinem eigenen, innerhalb der Sinnenwelt sich entwickelnden Verständnisse zu einem Begreifen des Mysteriums von Golgatha kommen könnte. Ich habe gesagt: Erst nach dem Tode, erst Post mortem entwickelt sich im Menschen, also im Menschen während seines Aufenthaltes in der übersinnlichen Welt, dasjenige Verständnis beziehungsweise die Kräfte zu demjenigen Verständnis, welches den vollen Aufschluß geben kann über das Mysterium von Golgatha. Deshalb sagte ich gestern etwas, was ganz selbstverständlich von der äußeren Welt als eine Absurdität hingestellt werden wird, als eine paradoxe Sache hingestellt werden wird. Ich sagte, daß eigentlich selbst die Zeitgenossen Christi erst im 2. und 3. Jahrhundert, nachdem

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das Mysterium von Golgatha abgelaufen war, zum Verständnisse kommen konnten - also erst in ihrem jenseitigen Leben -, und daß dann dasjenige, was geschrieben worden ist in diesen Jahrhunderten über das Mysterium von Golgatha, unter der Inspiration derjenigen Menschen geschrieben worden ist, die Zeitgenossen gewesen waren und aus der geistigen Welt, aus der übersinnlichen Welt heraus inspirierend auf die richtigen Schriftsteller des 2. und 3. Jahrhunderts gewirkt haben.

Nur in scheinbarem Widerspruch damit steht, daß die Evangelien, die ja Inspirationsbücher sind, wie Sie aus meiner Darstellung im «Christentum als mystische Tatsache» entnehmen können, Inspirationsschriften vom Christentum sind. Die inspirierten Evangelien konnten nur deshalb die Wahrheit über das Christentum äußern, weil sie, wie ich ja auch schon öfter betont habe, nicht aus der ureigenen Wesenheit vom Menschen heraus geschrieben worden sind, sondern noch mit dem letzten Reste der atavistisch-hellseherischen Weisheit über das Mysterium von Golgatha handelten.

Das, was ich so über die Beziehung der Menschheit zu dem Myste­rium von Golgatha sagte, ist herausgeschöpft aus der Wissenschaft der Initiation selbst. Wenn man so etwas dann aus dieser übersinn­lichen Erkenntnis heraus erkundet hat, dann kann man ja wohl fragen: Wie nimmt sich so etwas aus, wenn man damit vergleicht die Tat­sachen des äußeren geschichtlichen Lebens? - Daher will ich im Be­ginne unserer heutigen Betrachtungen, als den besonders charakteristischen Fall - zunächst nur wie eine Frage, deren Antwort sich uns ergeben soll am Ende der heutigen Betrachtungen -, einen typi­schen Kirchenschriftsteller des 2. Jahrhunderts hervorheben. Ich könnte ebensogut, müßte aber dann die ganze Betrachtung selbstver­ständlich in anderer Form hier vor Ihnen vorbringen, Clemens von Alexandrien, könnte Origenes, ich könnte irgendeinen anderen Kir­chenschriftsteller wählen. Ich wähle einen, der oft genannt wird: Tertullian. Ich möchte an der Persönlichkeit des Tertullianus die Frage aufwerfen: Wie verhielt sich der äußere Verlauf des christlichen Lebens zu diesen übersinnlichen Tatsachen, von denen ich gestern gesprochen habe. deren wesentlichsten Inhalt ich Ihnen heute wiederholt habe?

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Tertullian ist eine seht merkwürdige Persönlichkeit. Derjenige, der so die Dinge hört über Tertullianus, die gewöhnlich gesagt werden - ja, der kommt zu nicht viel mehr als zu einem Wissen, welches davon beherrscht wird, daß Tertullianus derjenige gewesen sein soll, der den Glauben an die Wesenheit des Christus, an den Opfertod, an die Auf­erstehung, dadurch gerechtfertigt habe, daß er gesagt haben soll: Credo, quia absurdum est - Ich glaube, gerade weil es absurd ist, weil es der Vernunft nicht einleuchtet. - Die Worte: Credo, quia absurdum est - finden sich im ganzen Tertullianus nicht. Sie finden sich ebenso nicht im ganzen Schrifttum der übrigen Kirchenväter; sie sind rein er­funden, aber sie sind dasjenige, wodurch sich die Meinung der späteren Zeit über Tertullian bis heute oftmals zum Dogma gemacht hat. Wenn man dagegen an Tertullianus selbst herantritt - man braucht wahr­haftig nicht sein Anhänger zu werden -, dann bekommt man, je genauer man die Persönlichkeit des Tertullianus kennenlernt, immer mehr und mehr Respekt vor diesem merkwürdigen Mann. Vor allen Dingen bekommt man Respekt davor, wie Tertullianus die lateinische Sprache, diese lateinische Sprache, die ja ein Ausdruck der abstrak­testen menschlichen Denkweise ist, diese lateinische Sprache, die auch schon zu seiner Zeit bei den andern Schriftstellern geworden ist der Ausdruck für das durch und durch prosaische Römertum, mit einem wahren Feuergeist handhabt: er bringt Temperament, er bringt Beweglichkeit, er bringt Empfindung und eine heilige Leidenschaft in die Art seiner Darstellung hinein. Und obzwar er ein typischer Römer ist, der sich so abstrakt ausdrückt wie nur irgendein Römer gegenüber dem, was man oftmals wirklich nennt, obzwar er nach der Anschauung der griechisch gebildeten Leute der damaligen Zeit nicht einmal ein besonders gebildeter Mensch ist, schreibt er mit Eindring­lichkeit, mit innerer Kraft, schreibt er so, daß er aus der abstrakten römischen Sprache heraus geradezu der Schöpfer der christlichen Sprechweise geworden ist. Und die Art und Weise, wie er spricht, dieser Tertullianus, die ist wahrhaftig eindringlich genug. In einer Art Schutzschrift für die Christen redet er, man darf sagen, so, daß das geschriebene Wort wirkt, wie wenn man es unmittelbar von einem von heiliger Leidenschaft ergriffenen Menschen gesprochen hörte. Es gibt

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solche Stellen, wo Tertullian Verteidiger der Christen wird, die, wenn sie angeschuldigt werden, unter einer Prozedur, die dem Foltern sehr ähnlich ist, nicht leugnen, sondern gestehen, daß sie Christen sind und woran sie glauben. Da sagt Tertullian: Überall sonst beschuldigt man diejenigen, die gefoltert werden, daß sie leugnen; bei den Christen macht man es umgekehrt: man erklärt sie für verrucht, wenn sie ge­stehen, was in ihrer Seele ist. Man will sie durch das Foltern nicht dazu zwingen, daß sie die Wahrheit sagen, was allein einen Sinn hätte; man will sie dazu zwingen, daß sie die Unwahrheit sagen, während sie die Wahrheit sagen. Und wenn sie die Wahrheit gestehen aus ihrer Seele heraus, so betrachtet man sie als Bösewichter.

Kurz, Tertullian war schon ein Mann, welcher einen feinen Sinn hatte für das Absurde im Leben. Und Tertullian war bereits ein Geist, der zusammengewachsen war mit dem, was sich entwickelt hatte als christliches Bewußtsein und christliche Weisheit, ein feiner Beobachter des Lebens. So ist es wirklich etwas Bedeutsames, wenn er solch ein Wort hinwirft: Ihr habt Sprichwörter, ihr sagt im Leben sehr häufig aus unmittelbarstem Empfinden der Seele heraus: Gott befohlen, Gott will es - und so weiter. Das aber ist Christenglaube: die Seele bekennt sich, wenn sie gerade unbewußt sich ausspricht, als eine Christin. - Tertullian ist auch ein Mann mit unabhängigem Geist. Tertullian ist ein Mann, welcher den Römern, zu welchen er selber gehört, sagt: Betrachtet den Christen-Gott und überlegt euch dann, was ihr empfinden könnt über wahre Religiosität. Und ich frage euch, ob dasjenige, was ihr als Römer in die Welt einführt, wahrer Religiosität entspricht, oder ob dasjenige wahrer Religiosität entspricht, was die Christen wollen. Ihr führt Krieg und Mord und Totschlag in die Welt ein; das wollen die Christen gerade nicht. Eure Heiligtümer sind Gotteslästerungen, weil sie Siegeszeichen sind, und Siegeszeichen sind keine Heiligtümer, sondern Zeichen der Heiligtumschändung. - Das sagte Tertullian seinen Römern! Es war ein Mann mit Unabhängig­keitsgefühl, und hinblickend auf das Treiben Roms sagte er: Betet man vielleicht, indem man naturgemäß zum Himmel schaut, oder indem man zum Kapitol schaut? - Dabei war Tertullian keineswegs ein Mann, der aufging im abstrakten Römertum, denn er war tief durchdrungen

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von der Anwesenheit des Übersinnlich-Wesenhaften in der Welt. Jemanden, der auf der einen Seite so unabhängig und frei und zugleich so aus dem Übersinnlichen heraus spricht wie Tertullian, den soll man suchen, selbst innerhalb der damaligen Zeit, wo das Über­sinnliche den Menschen noch näher lag als später! Und Tertullian sagte nicht nur in rationalistischer Weise: Die Christen sagen die Wahrheit, ihr erklärt sie als Bösewichter -, während man doch nur dafür, daß die Menschen das Unwahre sagen unter der Folter, sie als Bösewichter erklären sollte. - Gewiß, das war rationalistisch, wenn auch mutig, aber Tertullian sagte noch andere Dinge; Tertullian sagte zum Beispiel: Wenn ihr nur wirklich hinschaut, ihr Römer, auf eure Götter, welche Dämonen sind, und diese Dämonen wirklich be­fragt, da werdet ihr die Wahrheit erfahren. Aber ihr wollt nicht von den Dämonen die Wahrheit erfahren. Stellt man einen von einem Dämon Besessenen, aus dem der Dämon redet, einem angeklagten Christen gegenüber und läßt ihn von dem Christen in der richtigen Weise befragen: der Dämon läßt sich als Dämon erkennen; und wenn auch mit Furcht, so wird er auch von dem Gotte, den der Christ an­erkennt, sagen: Das ist der Gott, der nun in die Welt gehört! - Tertullian ruft nicht nur das Zeugnis der Christen, sondern auch das Zeugnis der Dämonen an, indem er sagt, daß die Dämonen sich auch als Dämonen bekennen werden, wenn man sie nur befragt, angstlos befragt, und daß sie gerade so, wie es auch in den Evangelien be­schrieben ist, den Christus Jesus als den wirklichen Christus Jesus anerkennen.

Es ist jedenfalls eine merkwürdige Persönlichkeit, die da im 2. Jahr­hundert als ein Römer den Römern gegenübersteht. Auffallend wird uns diese Persönlichkeit, wenn wir nun sehen, wie sie sich zu dem Mysterium von Golgatha verhält. Die Worte, die Tertullianus über das Mysterium von Golgatha gesprochen hat, sie sind etwa die fol­genden: Gekreuzigt ist Gottes Sohn. Wir schämen uns nicht, weil es schmählich ist. Gestorben ist Gottes Sohn; es ist völlig glaubhaft, weil es töricht ist. - Die Worte bei Tertullian heißen: Prorsus credibile est, quia ineptum est. Glaubhaft ist es, völlig glaubhaft ist es, weil es töricht ist. - Also: Gestorben ist Gottes Sohn; es ist völlig glaubhaft,

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weil es töricht ist. Und begraben ist er, auferstanden, es ist gewiß, weil es unmöglich ist. - Aus diesem Worte: Prorsus credibile est, quia ineptum est - aus diesem Worte ist das andere Unwahre geprägt worden: Credo, quia absurdum est.

Verstehen wir recht das Wort, das da Tertullianus ausspricht von dem Mysterium von Golgatha. Tertullianus sagt: Gekreuzigt ist Gottes Sohn. Wenn wir Menschen hinschauen auf diese Kreuzigung, so schämen wir uns dessen nicht, weil es schmählich ist. - Was meint er damit? Er meint damit, daß das Beste, was auf der Erde passieren konnte, schmählich sein muß, weil es die Art der Menschen ist, das Schmähliche zu tun, nicht das Vorzügliche zu tun. Würde irgend etwas, meint Tertullian, als eine schönste Tat hingestellt werden, von den Menschen getane schönste Tat, so könnte sie nicht die vorzüg­lichste für das Erdengeschehen sein. Die vorzüglichste Tat für das Erdengeschehen wird schon diejenige sein, die dem Menschen Schande macht, nicht Ruhm bringt; das meint er damit.

Weiter: Gestorben ist Gottes Sohn. Es ist völlig glaubhaft, weil es töricht ist. - Gestorben ist Gottes Sohn; es ist völlig glaubhaft, weil die menschliche Vernunft es töricht findet. Würde die menschliche Vernunft es gescheit finden, so würde es nicht glaubhaft sein, denn dasjenige, was die menschliche Vernunft gescheit findet, kann nicht das Höchste sein, kann nicht das Höchste der Erde sein. Denn die menschliche Vernunft ist nicht so hoch mit ihrer Gescheitheit, daß sie gerade an das Höchste gerät, sondern sie gerät an das Höchste, wenn sie töricht wird.

Begraben ist er, auferstanden. Es ist gewiß, weil es unmöglich ist. - Innerhalb der Naturerscheinungen ist es unmöglich, daß ein Toter aufersteht; aber das Mysterium von Golgatha hat nach des Tertulli­anus Meinung mit den Naturerscheinungen nichts zu tun. Würde man irgend etwas als Naturerscheinung bezeichnen müssen, so würde es nicht das Wertvollste der Erde sein. Dasjenige, was das Wert­vollste der Erde ist, darf keine Naturerscheinung sein, muß also inner­halb des Reiches der Natur unmöglich sein. Gerade deshalb ist er be­graben worden und auferstanden, und es ist deshalb gewiß, weil es unmöglich ist.

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Zunächst möchte ich diesen Tertullianus insbesondere mit diesen in seinem Buche «De carne Christi» stehenden Worten, die ich eben angeführt habe, wie eine Frage hinstellen. Ich versuchte ihn zu charak­terisieren, erstens als einen freien, unabhängigen Geist, zweitens als einen solchen Geist, der in unmittelbarer Umgebung der Menschen auch das Dämonisch-Übersinnliche sieht. Aber ich führte Ihnen zu gleicher Zeit drei seiner Sätze vor, wegen welcher Tertullianus von allen gescheiten Menschen als ein Tropf eigentlich angesehen werden müßte.

Es ist allerdings bei solchen Dingen immer merkwürdig, daß die Menschen einseitig urteilen; wenn sie so einen noch dazu falschen Satz aufbringen, wie Credo, quia absurdum est, dann beurteilen sie danach einen ganzen Menschen. Es ist aber eben nötig, daß man die drei Sätze, die ja allerdings nicht so ohne weiteres einleuchten -Tertullianus will auch gar nicht so ohne weiteres einleuchten -, zu­sammenhält erstens mit der unabhängigen Geistigkeit des Tertullianus, dann zusammenhält mit seinem restlosen Bewußtsein von dem Mit­wirken der übersinnlichen Welt innerhalb der menschlichen Um­gebung.

Und jetzt wollen wir dasjenige vor unsere Seele hinstellen, was ge­eignet ist, einigermaßen wiederum von einem andern Gesichtspunkte aus Licht zu verbreiten über das Mysterium von Golgatha. Das­jenige, was uber das Mysterium von Golgatha Licht zu verbreiten geeignet ist, sind zwei Erscheinungen im Leben der Menschheit, von denen ich schon einige Worte in der vorgestrigen Betrachtung ge­sprochen habe: die eine Erscheinung ist der Tod, die zweite Er­scheinung die Vererbung. Der Tod, der mit dem Ende des Lebens zusammenhängt, die Vererbung, die mit der Geburt zusammenhängt. Hinsichtlich des Todes und der Vererbung ist es wichtig, daß man klar sieht mit Bezug auf das Menschenleben und auf die menschliche Wissenschaft. Aus alledem, was ich Ihnen nun seit Wochen darstelle, können Sie nämlich das Folgende entnehmen: Wenn der Mensch auf seine Umgebung hinblickt mit seinen Sinnen und das Sinnliche mit seinem Verstande sich begreiflich machen will, dann treten unter den Erscheinungen der Sinne ihm auch entgegen die Erscheinungen der

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Vererbung: daß gewissermaßen die Eigenschaften der Vorfahren in den Nachkommen spuken und der Mensch aus dem Unterbewußten dieser vererbten Kräfte heraus hindelt. Dasjenige, was mit dem Myste­rium der Geburt zusammenhängt, alle diese verschiedenen vererbten Merkmale, wir studieren sie oftmals, wenn wir nicht einmal an diese vererbten Merkmale denken: wenn wir zum Beispiel Völkerkunde treiben, reden wir ja, ohne daß wir darauf aufmerksam sind, immer von vererbten Merkmalen. Man kann nicht ein Volk studieren, ohne daß man eigentlich alles, was man studiert, im Kreise der vererbten Merkmale sieht. Wenn Sie von irgendeinem Volke, von den Russen, von den Engländern, von den Deutschen und so weiter reden, so reden Sie von denjenigen Eigenschaften, die in das Gebiet der Ver­erbung gehören, die der Sohn immer vom Vater, der Vater vom Großvater und so weiter erwirbt. Das Gebiet der Vererbung, das mit dem Mysterium der Geburt zusammenhängt, ist eben ein weites, und wir sprechen, indem wir von dem äußeren Leben, in das der Mensch hineingestellt ist, reden, vielfach von den Tatsachen, von den Kräften der Vererbung, ohne daß wir uns dessen immer bewußt sind. Daß das Mysterium des Todes sich hineinstellt in das Sinnenleben der Menschen, das ist ja jetzt eine immerdar vor Augen tretende Tatsache, so daß man nicht viele Worte darüber zu machen braucht. Aber wenn man nun, ich möchte sagen, rückwärts das menschliche Erkenntnis­vermögen betrachtet, so zeigt sich ein anderes. Es zeigt sich nämlich, daß dieses menschliche Erkenntnisvermögen geeignet ist, vieles in der Naturordnung zu begreifen, aber es erklärt sich dieses mensch­liche Erkenntnisvermögen für souverän und will alles begreifen, was in diese Naturordnung sich hineinstellt. Nun ist dieses menschliche Erkenntnisvermögen niemals geeignet, die Tatsache der Vererbung, die mit dem Mysterium der Geburt zusammenhängt, und die Tatsache des Todes zu begreifen. Und die eigentümliche Erscheinung tritt auf im Menschenleben, daß die ganze menschliche Anschauung durch­setzt ist von falschen Begriffen, weil diese Anschauung Erscheinungen zur Sinneswelt rechnet, die zwar in der Sinneswelt sich kundgeben, die aber ihrem ganzen Wesen nach geistiger Art sind. Wir zählen den Menschentod - mit dem Tod der Tiere und der Pflanzen ist es etwas

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anderes, ich habe vorgestern darauf aufmerksam gemacht - unter die Erscheinungen, die sich in der Sinneswelt abspielen, weil es so zu sein scheint. Aber dadurch erreichen wir nicht, daß wir etwas erfahren können über den Menschentod. Niemals würde eine Naturwissen­schaft etwas sagen können über den Menschentod, sondern wir er­reichen nur das, daß wir uns unsere ganze menschliche Anschauung in ein Scheinbild verwandeln, denn wir mischen überall die Tatsachen des Todes hinein. Und wir erfahren über die Natur in ihrer Wahrheit nur dann etwas, wenn wir den Tod auslassen und wenn wir die Ver­erbungsmerkmale auslassen. Das Eigentümliche der menschlichen Erkenntnis ist, daß sie verdorben wird - wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf -, zum Scheinbild gemacht wird, weil sie glaubt, sie könne sich über die ganze Sinneswelt auslassen, also auch über Tod und Geburt; und weil sie in ihre Auffassung der Natur Tod und Geburt hineinmischt, verdirbt sie sich ihre ganze Anschauung über die Sinneswelt. Man gelangt niemals zu einer Anschauung dar­über, was der Mensch als Sinneswesen ist, wenn man die Eigenschaften der Vererbung, die ja mit der Geburt zusammenhängen, mit zu der Sinneswelt rechnet. Man verdirbt sich das ganze Bild des Menschen - ich habe drei Strömungen dargestellt, die gerade Linie, die normale Entwickelung, die seitliche luziferische und die seitliche ahrimanische -, die ganze Entwickelung des Menschen, die eben gerade fortläuft, wenn man Geburt und Tod zum Wesen des Menschen, insofern der Mensch der Sinneswelt zugehört, hinzurechnet.

So sonderbar steht es mit dem menschiichen Erkenntnisvermögen. Dieses menschliche Erkenntnisvermögen wird unter der Anleitung der Natur selber dazu getrieben, Falsches zu denken, weil es, wenn es in Wahrheit denken könnte, sich aus der Natur ein Bild heraussondern müßte, in dem keine Vererbung und kein Tod im Menschenleben drinnen ist. Man müßte abstrahieren von Tod und Vererbung; man müßte auch nichts geben auf Tod und Geburt und müßte, abgesehen von diesen, sich ein Bild machen; dann würde man ein Naturbild bekommen. In der Goetheschen Weltanschauung haben die ver­erbten Merkmale und der Tod keinen Platz. Sie gehen nicht hinein, sie passen nicht hinein. Das ist das Eigentümliche gerade der Goetheschen

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Weltanschauung: Sie können nichts mit Tod und Vererbung innerhalb der Goetheschen Weltanschauung machen. Deshalb ist sie gerade so gut, und deshalb kann man sie als ein wahres Naturbild der Wirklichkeit annehmen, weil Tod und Vererbung darin keinen Platz haben.

Nun hat man bis in die Zeit des Mysteriums von Golgatha noch aus gewissen geistigen Untergründen heraus naturgemäßer über Tod und Vererbung gedacht. Die semitische Bevölkerung betrachtete die vererbten Merkmale als eine unmittelbare Fortwirkung des Gottes Jahve; man versteht die Jahve-Anschauung nur, wenn man dieses weiß. Sie stellte heraus das, was sich auf die Vererbung bezog - wenigstens da, wo man noch die Jahve-Anschauung gut verstanden hat -, aus der bloßen Natur, und sah darinnen unmittelbar ein Fortwirken Jahves. Der Gott Abrahams, der Gott Isaaks, der Gott Jakobs, das war nichts anderes als die fortwirkenden, vererbten Merkmale. Und die griechische Weltanschauung wiederum suchte, wenn ihr das auch in ihrer Dekadenz wenig gelang, etwas in der Menschennatur zu er­fassen, was in dem Menschen auch zwischen Geburt und Tod lebt, was aber mit dem Tod nichts zu tun hat, suchte etwas herauszuheben aus der Summe der Erscheinungen, in das der Tod sich nicht hineinmischen kann. Die griechische Weltanschauung hatte einen gewissen Horror vor dem Begreifen des Todes; gerade weil sie auf das Sinnliche hingerichtet war, wollte sie den Tod nicht begreifen, da sie instinktiv spürte: Wenn man den Blick rein auf die Sinneswelt richtet - wie Goethe es wieder getan hat -, dann ist der Tod ein Fremdling. Er paßt nicht hinein in die Sinneswelt, er ist ein Fremdling.

Nun aber entstanden gewisse andere Anschauungen daraus, und dieses Anderswerden gewisser alter Anschauungen, das trat gerade ganz besonders charakteristisch hervor bei den tonangebenden Völ­kern und Menschen, als sich die Zeit dem Mysterium von Golgatha näherte. Die Menschen - wenn ich mich einmal populär ausdrücken will - verloren immer mehr die Möglichkeit, atavistisch hineinzuschauen in die geistige Welt; dadurch kamen sie immer mehr und mehr zu dem Glauben, daß Geburt und Tod oder Vererbung und Tod auch zu der Sinneswelt gehören. Sie gehen ja in der Sinneswelt herum,

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und zwar in sehr handgreiflicher Weise, möchte ich sagen, Ver­erbung und Tod. Die Menschen kamen immer mehr und mehr zu der Anschauung, daß Vererbung und Tod zu der Sinneswelt gehören. Und das nistete sich ein in die ganze menschliche Anschauung. Die ganze menschliche Anschauung wurde schon Jahrhunderte vor dem Mysterium von Golgatha durchdrungen von dem Glauben, daß Vererbung und Tod mit der Sinneswelt irgend etwas zu tun haben. Dadurch bildete sich etwas sehr, sehr Merkwürdiges aus. Sie werden es nur begreifen, wenn Sie den Geist von dem, was ich in diesen Tagen gesagt habe, in der richtigen Weise auf sich wirken lassen.

Die Tatsache der Vererbung, man sah sie, indem man sie in die Naturerscheinungen hereinrückte. Man glaubte, sie sei eine Naturerscheinung; immer mehr und mehr wurde der Glaube verbreitet, die Vererbung sei eine Naturerscheinung. Jede solche Tatsache, die auf­tritt im Leben, ruft ihren polarischen Gegensatz hervor; Sie können sich im menschlichen Leben gar nicht einer Tatsache hingeben, ohne daß diese Tatsache ihren Gegensatz hervorruft. Das Leben der Men­schen verläuft eben im Gleichgewicht von Gegensätzen. Das ist eine Grundbedingung aller Erkenntnis, daß man anerkennt, daß das Leben in Gegensätzen verläuft, und nur der Gleichgewichtszustand zwischen Gegensätzen angestrebt werden kann. Was war deshalb die Folge dieses Glaubens, daß die Vererbung hereinfällt in die Natur­erscheinungen, zu den Naturerscheinungen gehöre? Die Folge davon war eine furchtbare Verunglimpfung des menschlichen Willens. Diese Verunglimpfung des menschlichen Willens, sie besteht darinnen, daß man - weil der Gegensatz sich ausbildete - eine Tatsache der Vor­zeit, die wir in der Geheimwissenschaft kennen als den Einfluß der luziferisch-ahrimanischen Geister, in den menschlichen Willen herein-rückte, und eine Tatsache, die man eigentlich auf dem Naturfeld suchte, so wirksam hat in der menschlichen Seele, daß es einen hineintrieb in eine moralische Weltanschauung. Weil man die Vererbung herausstellte in die Naturerscheinungen und sie auf diese Weise ver­kannte, bildete sich der Gegensatz heraus: Der Glaube, daß durch den menschlichen Willen einstmals das geschehen sei, was dann als Erb­sünde durch die Welt geht. Es wurde gerade durch die falsche Einreihung

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der Vererbung in die Naturerscheinungen das Grundübel erzeugt, die Erbsünde auf das Moralfeld zu schieben.

Damit war auch das Denken der Menschen verdorben; denn es kam dieses Denken nicht dazu, den richtigen Glauben anzunehmen, daß so, wie sich gewöhnlich die Menschen die Erbsünde vorstellen, die ganze Vorstellung eine Gotteslästerung ist, eine furchtbare Gotteslästerung. Ein Gott, der so, wie es sich die meisten Menschen vorstellen, man möchte sagen, rein aus Ambition heraus zuläßt, daß im Paradiese das geschieht, was gewöhnlich vom Paradiese erzählt wird, der das nicht aus solchen Intentionen heraus tut, wie es in der «Geheimwissen­schaft im Umriß» dargestellt wird, sondern so, wie das gewöhnlich dargestellt wird, der wäre wahrhaftig kein hoher Gott. Und dem Gotte diese Ambition beizulegen, ist eine Gotteslästerung. Nur dann, wenn man dazu kommt, die vererbten Merkmale, dasjenige, was sich von dem Vorfahren auf den Nachkommen vollzieht, nicht ins mora­lische Licht zu stellen, sondern selbst als sinnenfällige Tatsache schon im übersinnlichen Lichte zu sehen, nur wenn man hinschaut auf Übersinnliches und nicht erst eine moralische Deutung unternimmt, wenn man im übersinnlichen Lichte das schaut, was man nicht mit rabbinischer Theologie in eine moralische Weltinterpretation umsetzen soll, nur dann kommt man auf das, um was es sich auf diesem Gebiete handelt. Die rabbinische Theologie wird immer durch den Verstand uminterpretieren dasjenige, was sich als Vererbungskräfte in der Sinneswelt ausbreitet, und wofür man sich schulen sollte durch Geistanschauung, damit man schon in den vererbten Merkmalen in der Sinneswelt den Geist entdeckt. Das ist das, worauf es ankommt. Und den Hauptwert lege ich darauf, daß Sie einsehen: Ohne dieses Mysterium von Golgatha wäre die Menschheit in der Zeit des Myste­riums von Golgatha dazu gekommen, den Geist zu verleugnen, weil sie abgekommen wäre davon, für die Vererbungsmerkmale, die innerhalb der Sinneswelt sind, den Geist anzuerkennen, weil die Men­schen dazu gekommen sind, immer mehr und mehr rabbinistische sowohl wie sozialistische Interpretationen an die Stelle der Geistanschauung zu setzen. Darauf beruht ungeheur viel, daß man sich genötigt sieht zu sagen: Du begreifst nichts in der Sinneswelt, wenn

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du dich nicht ausstattest für dasjenige, was in der Sinneswelt schon ein übersinnlicher Fremdling ist, weil es geistige Zusammenhänge hat. Auf die Vererbungszusammenhänge muß man mit der geistigen, mit der übersinnlichen Anschauung hinweisen. Der Verstand aber, der umgesetzt hat das Sinnliche, das schon ein Übersinnliches, ein Gei­stiges ist, in ein verstandesmäßig aufgefaßtes Moralisches, dieser Geist, der ist derjenige, dem der Geist Christi, der Geist des Myste­riums von Golgatha entgegensteht. Das mit Bezug auf die Vererbung und mit Bezug auf den Tod.

Gewiß, gerade die Kirchenväter konnten konstatieren, daß auch unter den Heiden die Menschen zahlreich waren, die von der Unsterb­lichkeit überzeugt waren. Aber um was handelt es sich denn dabei? Nur in alten Zeiten hatte es sich dabei darum gehandelt, daß man er­kannt hat: Der Tod ist in der Sinneswelt schon eine übersinnliche Er­scheinung. Man hatte sich schon zur Zeit des Mysteriums von Golgatha die Weltanschauung dadurch verdorben, daß man den Tod als eine sinnliche Erscheinung genommen hat und dadurch die Todeskräfte auch ausbreitete über die übrige Sinneswelt. Der Tod muß als ein Fremdling innerhalb der Sinneswelt angesehen werden. Dann nur kann reine Wissenschaft von der Naturordnung entstehen.

Dazu ist gekommen dasjenige, was manche Philosophen des ausgehenden Altertums über die Unsterblichkeit ersonnen haben. Sie haben sich gewendet an das Unsterbliche im Menschen. Daran haben sie sich mit Recht gewendet, denn sie haben sich gesagt: Der Tod ist da in der Sinneswelt. - Das haben sie aber aus einer korrumpierten Welt­anschauung heraus gesagt; denn aus einer nichtkorrumpierten Welt­anschauung heraus hätten sie sagen müssen: Der Tod ist nicht da in der Sinneswelt, er tritt nur scheinbar in die Sinneswelt herein. - Und sie stellten allmählich die Sinneswelt so vor, daß der Tod darin Platz hat. Damit verdirbt man sich aber alle andern Dinge. Selbstverständ­lich verdirbt man sich alle andern Dinge, wenn man sie sich so vorstellt, daß der Tod einen Platz darin hat. Wenn sie sich aber aus einer korrumpierten Weltanschauung heraus das sagten, dann mußten sie sich noch etwas anderes sagen, dann mußten sie sich sagen: Wir müs­sen uns an irgend etwas wenden, das dem Tod widerspricht, an ein

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Übersinnliches, das dem Tod widerspricht. - Ja, dadurch, daß die Menschen im ausgehenden Altertum aus einer korrumpierten Weltanschauung heraus sich an das unpersönlich Geistige gewendet haben, war diese unsterbliche geistige Welt - wenn sie das auch anders ge­nannt haben - die luziferische Welt. Wie der Mensch die Dinge be­nennt, darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, was wirklich in seinen Vorstellungen kraftet. Und so war es: die luziferische Welt. Und wie auch die Worte anders lauteten, die Philosophen des ausgehenden Heidentums hatten eigentlich in allen ihren Interpre­tationen nichts anderes gesagt, als: Wir wollen als Seelen, indem wir dem Tod entgehen, zu Luzifer uns flüchten, der uns aufnimmt, so daß wir die Unsterblichkeit haben. Wir sterben ins Reich des Luzifer hin­ein. - Das war der wahre Sinn.

Die Nachzügler der Kräfte, welche in der menschlichen Erkenntnis aus all diesen Voraussetzungen heraus, die ich Ihnen heute gesagt habe, walten, die sieht man noch heute walten. Denn was müssen Sie sich denn eigentlich sagen, wenn Sie die Worte, die ich heute aus der Initiationsweisheit heraus wiederum zu Ihnen gesprochen habe, ernst nehmen? Sie müssen sagen: Es gibt des Menschen Ursprung und es gibt sein Ende. Beide dürfen nicht mit dem, was der Mensch als Ver­stand hat, der für die Natur taugt, ergriffen werden. Man kommt zu einer falschen Anschauung sowohl über das Übersinnliche wie auch über das Sinnliche, wenn man Geburt und Tod in das Sinnliche hineinmischt, wohinein sie nicht gehören, weil sie Fremdlinge sind. Man verdirbt sich beides. Man verdirbt sich die Geistauffassung und ver­dirbt sich die Naturauffassung. Was ist die Folge? Nun, eine der Folgen zum Beispiel ist diese: Es gibt eine Anthropologie, die den Ursprung des Menschen auf sehr niedrige Wesen zurückführt und ganz naturwissenschaftlich handelt, sehr gescheit dabei handelt. Gehen Sie durch alle diese Anthropologien, die den Menschenursprung zu­rückführen auf niedrige Wesen, die sie sich so vorstellen, als ob das­jenige, was heute unter den wilden Völkern noch heimisch ist, am Ausgange des Menschengeschlechts gewesen wäre. Man urteilt natur­wissenschaftlich ganz richtig, wenn man solch eine Vorstellung hat. Aber die Schlußfolgerung, die man daraus ziehen sollte, ist nämlich

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die folgende: Gerade weil das naturwissenschaftlich so richtig ist - vor der Naturwissenschaft richtig ist, die da glaubt, daß Geburt und Tod in die Sinneswelt gehören -, deshalb ist es falsch, deshalb war es an­ders am wirklichen Ursprung des Menschen. Und als Kant und Laplace ihre Theorie ausgedacht haben, haben sie aus der Naturwissenschaft heraus ihre Kant-Laplacesche Theorie gebildet. Man kann scheinbar nichts dagegen einwenden, aber gerade deshalb war es anders, weil die Kant-Laplacesche Theorie vom Standpunkt der heutigen Naturwissen­schaft richtig ist. Sie kommen zu dem Richtigen, wenn Sie sowohl für den Menschenursprung und das Menschenziel, wie für den Erdenursprung und das Erdenziel als richtig anerkennen das Gegenteil von dem, was naturwissenschaftlich in dem heutigen Sinne richtig ist. Anthroposophie wird um so mehr das Richtige sagen über den Erdenursprung, je mehr sie im Widerspruche steht mit dem, was aus einer im heutigen Sinne richtigen Naturwissenschaft gesagt werden kann. Daher steht Anthroposophie gar nicht im Widerspruch mit der heu­tigen Naturwissenschaft! Sie läßt die Naturwissenschaft gelten, aber sie erweitert sie nicht über ihre Grenzen hinaus, sondern sie zeigt gerade diejenigen Punkte auf, wo übersinnliche Anschauung ein­greifen muß. Anthroposophie wird, je logischer sie ist, je richtiger sie ist in bezug auf die heutige, dem Menschen notwendige und einge­borene Naturordnung, um so mehr das nicht sagen, was nicht war am Ausgangspunkte des Menschendaseins und der Erde! Und um so weniger wird die Naturwissenschaft das treffen, was den Tod betrifft, je mehr sie aus ihren Vorstellungen heraus über den Tod phantasiert.

Aber dies wäre zunächst ohne das Mysterium von Golgatha menschliches Erdenschicksal geworden, daß gerade über die wichtig­sten Dinge aus einer korrumpierten Weltanschauung hätte gedacht werden müssen; denn das hing durchaus nicht etwa von dem menschlichen Willen ab, durchaus nicht etwa von einer menschlichen Schuld ab, sondern das hing lediglich an der menschlichen Entwickelung. Der Mensch kam einfach im Laufe seiner Entwickelung dahin, diesen Fleisch- und Blut- und Knochenzusammenhang, in dem er drinnen-steckt, für sich selbst zu halten. Ein alter Ägypter würde ja zunächst in der älteren, besseren ägyptischen Zeit furchtbar komisch berührt

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gewesen sein, wenn jemand behauptet hätte, das, was da herumwandelt auf zwei Beinen, aus Blut und Fleisch und Knochen besteht, das sei ein Mensch. Aber diese Dinge hängen nicht ab von theoreti­schen Erwägungen, diese Dinge kann man nicht ausspintisieren oder entspintisieren; sondern es wurde nach und nach für den Menschen eine selbstverständliche Eigenschaft, das Gebilde aus Fleisch und Blut und Knochen, das in Wahrheit ein Abbild ist aller Hierarchien, für sich selbst anzusehen. Es wurde so sehr Irrtum über diese Sache verbreitet, daß kurioserweise bei einzelnen, die auf den Irrtum darauf kamen, ein Hineintapsen in einen noch größeren Irrtum stattfand.

Gewiß, einige kamen schon darauf - aber sie kamen auf eine ahri­manisch-luziferische Art darauf -, daß der Mensch nicht das ist, was da aus Fleisch und Blut und Knochen besteht. Sie sagten: Wenn wir etwas Besseres sind als diese Zusammenfügung aus Fleisch und Blut und Knochen, dann wollen wir vor allen Dingen das Fleischliche ver­achten, dann wollen wir den Menschen als etwas Höheres ansehen, dann wollen wir den sinnlichen Menschen von uns abtun! - Nun ist aber gerade dieses Bild aus Fleisch und Blut und Knochen mit dem Ätherleib und Astralleib zusammen, so wie es der Mensch sieht, ein Scheingebilde. In Wirklichkeit ist es das reinste Ebenbild der Gottheit. Nicht weil wir den Teufel sehen sollen in der Welt, ist es - wie ich aus­einandergesetzt habe - ein Irrtum, sondern weil wir den Gott sehen sollen in unserer eigenen Welt in uns, deshalb ist es ein Irrtum, sich zu identifizieren mit der sinnlichen Natur. Das ist auch ganz falsch, sich zu sagen: Ja, ich bin nun ein ganz hohes Wesen, ein furchtbar hohes Wesen, eine furchtbar hohe Seele, und da (Zeichnung) ist diese minderwertige,

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gräßliche Umgebung. - So ist es nicht, sondern die Sache ist so: Da sind die Reiche der höheren Hierarchien, alle göttlichen Wesen­heiten (siehe Zeichnung S.248); die haben als ihr Götterziel betrachtet,

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ein Gebilde zusammen zu formen (blauer Kreis), das ihr Abbild ist. Dieses Gebilde präsentiert sich äußerlich als der sichtbare Menschenleib. Und in dieses Gebilde, das ein Abbild ist der Gottheit und das verleumdet wird, jämmerlich verleumdet wird, wenn man es für niedrig erachtet, in dieses Gebilde haben hineingelegt die Geister der Form das menschliche Ich, die jetzige Seele, die das Baby ist unter den menschlichen Gliedern, wie ich oftmals gesagt habe (Punkt im blauen Kreis).

# Bild s. 248

Wäre also das Mysterium von Golgatha nicht gekommen, dann hätte der Mensch nur falsche Anschauungen gewinnen können über Vererbung und über den Tod, und diese falschen Anschauungen, die würden immer höher und höher sich gesteigert haben. Jetzt treten sie manchmal in atavistischer Weise auf - wie in manchen sozialistischen Gruppen heute eine Weltanschauung vertreten wird, die ein Atavismus

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ist -, in solchen Anschauungen, die den Tod und die Geburt hinzurechnen zu den sinnlichen Erscheinungen. Und in der weiteren Entwickelung der Menschheit müßte das liegen, daß vor dem Men­schen sich überhaupt das Tor zuschlösse in die übersinnliche Welt, und was er in der sinnlichen Welt schon finden kann vom Übersinnlichen, Vererbung und Tod, das würden seine Verführer werden, die gerade heimtückisch auftreten, indem sie sagen: Wir sind sinnlich - während sie es gar nicht sind. Nur wenn wir einer Natur nicht glauben, die uns den Tod und die Geburt vorspiegelt, dann kommen wir auf die Wahrheit. So paradox ist der Mensch nun einmal in die Welt hin­eingestellt.

In den Menschen mußte eingepflanzt werden etwas, was dieser Entwickelung das Gleichgewicht halten konnte, was den Menschen hinwegführen konnte von diesem Glauben, daß Vererbung und Tod im Menschenleben sinnliche Erscheinungen sind. Dazu mußte etwas vor ihn hingestellt werden, was ihm klarmachte: Tod und Vererbung sind übersinnliche, sind nicht sinnliche Erscheinungen. Deshalb muß dasjenige Ereignis, welches wiederum dem Menschen die Wahrheit anweist über diese Dinge, nicht für die gewöhnlichen Menschenkräfte erreichbar sein, denn die sind ja auf dem Wege zur Korruption und müssen durch einen kräftigen entgegengesetzten Anstoß zurechtge­rückt werden. Und dieser entgegengesetzte Anstoß war das Mysterium von Golgatha, indem es sich hingestellt hat in die Menschheitsentwik­kelung als etwas, was übersinnlich ist, so daß für den Menschen ferner die Wahl liegt: Entweder glaubst du an dieses Übersinnliche, näherst dich ihm aber nun erkennend auf übersinnliche Weise, oder du ver­fällst in alle jene Anschauungen, die sich ergeben müssen, wenn du Tod und vererbte Merkmale als der Sinnenwelt angehörig betrach­test. - Daher sind Ingredienzien einer wahren Anschauung über das Mysterium von Golgatha die beiden Grenztatsachen dieses Mysteriums von Golgatha: die Auferstehung, die nicht gedacht werden kann ohne ihren Zusammenhang mit der Conceptio immaculata, geboren nicht in der Art, wie durch die Geburt eine Tatsache der Menschheit vor­gespiegelt wird, sondern auf übersinnliche Weise, und durch den Tod gegangen auf übersinnliche Weise. Das sind die beiden Grundtatsachen,

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die das Christus Jesus-Leben begrenzen müssen. Niemand ver­steht die Auferstehung, die sein soll die Vorstellung, welche hingestellt wird als die wahre Vorstellung gegenüber der falschen Vorstellung, daß der Tod der Sinneswelt angehört, niemand versteht diese Auferstehung, wenn er nicht ihr Korrelat ebenso annimmt, die Con­ceptio immaculata, die unbefleckte Empfängnis, die Geburt als eine übersinnliche Tatsache. Die Menschen wollen das verstehen, Auf­erstehung und Conceptio immaculata, und die neueren protestantischen Theologen wollen sogar schon innerhalb der Theologie mit dem gewöhnlichen Menschenverstand, der aber nur ein Schüler der Sinneswelt ist, und zwar der korrumpierten Sinnesanschauung, die sich herausgebildet hat seit dem Mysterium von Golgatha, diese Tat­sache begreifen. Und wenn sie sie nicht begreifen können, werden sie Harnackianer oder etwas ähnliches, leugnen die Auferstehung ab, machen allerlei Redensarten darüber. Nun, und die Conceptio imma­culata, die betrachten sie überhaupt schon als etwas, wovon ein ver­nünftiger Mensch nicht reden kann.

Dennoch, es hängt innig zusammen mit dem Mysterium von Gol­gatha, daß im Mysterium von Golgatha enthalten ist die Metamor­phose des Todes, das heißt seine Metamorphosierung aus einer sinn­lichen Tatsache in eine übersinnliche Tatsache, und die Metamorphose der Vererbung, das heißt, daß dasjenige, was uns die Sinneswelt vorspiegelt über die Vererbung, die mit dem Mysterium der Geburt zu­sammenhängt, ins Übersinnliche hinübergesetzt wird in der Con­ceptio immaculata.

Was auch immer Irrtümliches, Unzulängliches über diese Dinge ge­gesagt worden ist, die Aufgabe der Menschen ist nicht, unverständig diese Dinge hinzunehmen, sondern sich solche übersinnlichen Er­kenntnisse anzueignen, daß sie diese Dinge, die im Sinnlichen nicht begriffen werden können, durch das Übersinnliche begreifen lernen. Wenn Sie sich die verschiedenen Zyklen, in denen über diese Dinge gesprochen worden ist, wenn Sie insbesondere auch an den Inhalt des von mir besprochenen fünften Evangeliums denken, dann werden Sie eine Reihe von Wegen finden, diese beiden Dinge zu verstehen, aber nur zu verstehen auf übersinnlichem Wege. Denn es ist recht, daß

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- solange der Verstand der Schüler der Sinnlichkeit bleibt, so wie es heute den Menschen in der Weltanschauung erscheinen muß - der Mensch diese Tatsache nicht begreifen kann. Gerade wenn die höchsten Tatsachen des Erdenlebens solche sind, daß der Verstand, der der Schüler der Sinnlichkeit ist, sie nicht begreifen kann, gerade dann sind sie wahr. Es ist daher gar nicht zu verwundern, wenn die Wissen­schaft der Initiation von der sogenannten äußeren Wissenschaft be­kämpft wird, denn sie spricht ja von den Dingen, die ganz selbstver­ständlich - gerade weil sie nicht in Widerspruch mit wahrer Natur­wissenschaft stehen - jener Naturordnung widersprechen müssen, die aus der korrumpierten Naturanschauung kommt. Und vielfach ist auch die Theologie verfallen, wenn auch nach einer andern Richtung hin, der korrumpierten Naturanschauung. Und wenn Sie das andere nehmen, was ich gestern ausgesprochen habe, daß der Mensch erst nach dem Tode zu einer richtigen Anschauung des Mysteriums von Golgatha kommen kann, so werden Sie das nicht mehr unbegreiflich finden, wenn Sie sich überlegen, daß der Mensch durch den Tod, durch die Pforte des Todes in eine Welt eintritt, in der ihm nicht mehr vor­gegaukelt werden kann, daß der Tod zur Sinneswelt gehört, denn er sieht den Tod von der andern Seite - ich habe diese Dinge oftmals geschildert - und er lernt immer mehr und mehr den Tod von der andern Seite betrachten. Dadurch aber wird er immer reifer, auch das Mysterium von Golgatha zu betrachten in seiner wahren Gestalt. Und so muß man sagen: Wäre das Mysterium von Golgatha nicht gekom­men - aber das, was man so sagt, ist nur zu begreifen in übersinnlicher Erkenntnis -, dann würden die Menschen sterben. Es würde auch das Böse in der Welt sein, es würde auch Weisheit in der Welt sein. Aber da die Menschen durch ihre Entwickelung einer korrumpierten Naturanschauung verfallen mußten, mußten sie über den Tod eine falsche Anschauung haben. Dadurch wenden sie sich, indem sie sich an die Unsterblichkeit wenden wollen, an Luzifer, und sie verfallen Luzifer gerade, wenn sie sich an den Geist wenden wollen. Sie werden wie das liebe Vieh, wenn sie sich nicht an den Geist wenden, und sie wer­den dem Luzifer verfallen, wenn sie sich an den Geist wenden. Die Welt nach vorne sehen: man will unsterblich in Luzifer sein; nach

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rückwärts sehen: man interpretiert die Welt um, indem man dasjenige, was schon als Vererbungsmerkmal übersinnlich ist, ins Moralische umsetzt und dadurch die mittelalterliche Gotteslästerung fabriziert von der Erbsünde.

Vor allen diesen Dingen bewahrt die wirkliche Hingabe an das Mysterium von Golgatha. Sie stellt eine wahre Anschauung, auf über­sinnlichem Wege gewonnene wahre Anschauung über Geburt und Tod in die Welt herein. Und die Menschen sollen durch eine solche wahre Anschauung geheilt werden vor der falschen, vor der korrum­pierten Anschauung. Daher ist der Christus Jesus auch der Heilende, der Heiland. Daher wirkt er - weil die Menschen sich nicht etwa bloß aus Nichtsnutzigkeit heraus den Weg einer korrumpierten Weltan­schauung gewählt haben, sondern durch ihre Entwickelung, durch ihre Natur dazu gekommen sind -, daher wirkt er auch heilend, daher ist er wirklich nicht nur der Lehrer, sondern der Arzt der Menschheit.

Diese Dinge, sie muß man bedenken - aber wie gesagt, immer wieder muß ich es wiederholen: was nur durch übersinnliche Erkennt­nis angeschaut werden kann -, wenn man sich frägt: Zu welchen Erkenntnissen mögen denn die Seelen gekommen sein, die im 2. christ­lichen Jahrhundert solch einen Geist inspiriert haben wie Tertullian? - Wir müssen hinschauen auf die Toten, die vielleicht Zeitgenossen des Christus Jesus waren und solch einen Tertullian inspiriert haben. Gewiß, weil viel Erkenntniskorruption in der Welt war, kam manches verkehrt, getrübt, in dieser oder jener getrübten Nuance heraus. Aber hören wir durch die Worte eines Tertullian hindurch die dazumal toten, aber inspirierenden Zeitgenossen Christi, dann begreifen wir solche Worte wie die des Tertullian, dann begreifen wir, daß er sagen konnte so etwas wie: Gekreuzigt ist Gottes Sohn. Wir schämen uns des nicht, weil es schmählich ist. - Die Menschen mußten durch kor­rumpierte Anschauung in das Schmähliche hineinkommen; dasjenige, was der Sinn der Erde im höchsten Maße ist, das wird sich im Men­schenleben zeigen als eine schmähliche Tat. Gestorben ist Gottes Sohn. Es ist völlig glaubhaft, weil es töricht ist, Prorsus credibile est, quia ineptum est. - Weil es für das, was der Mensch selbst bis an sein Lebensende im Physischen durch seinen gewöhnlichen Verstand erreichen

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kann, Torheit ist, so ist es gerade dasjenige, was wahr ist in dem Sinne, wie ich Ihnen das heute auseinandergesetzt habe. Und begraben ist er und auferstanden, es ist gewiß, weil es unmöglich ist - weil innerhalb der korrumpierten Naturerscheinung es das gar nicht gibt.

Wenn Sie die Worte des Tertullian im übersinnlichen Sinne nehmen als inspiriert von den damals lange toten Zeitgenossen Christi, so werden Sie sich vielleicht sagen: Ja, gewiß, aufgenommen hat es der Tertullian so, wie er sie durch seine Seelenbeschaffenheit aufnehmen konnte! - aber Sie werden ihren inspirierten Ursprung ahnen können. Es konnte freilich zu solchem Ursprung den Zugang nur gewinnen ein Mann, der so gründlich mit seinem inneren Wissen im Übersinn­lichen drinnenstand, daß er von den Dämonen als Zeugen des Gött­lichen sprach wie von Menschenzeugen; denn Tertullian sprach davon, daß die Dämonen selber sagen, sie seien Dämonen, und daß sie den Christus anerkennen. Das war die Vorbedingung dazu, daß Tertullian überhaupt etwas wahrnehmen konnte, was ihm eininspiriert wurde.

Für diejenigen, die im falschen Sinne Christen sein wollen, hat die Sache etwas sehr, sehr Unbehagliches, etwas recht Unbehagliches. Denn denken Sie einmal, wenn selbst die Dämonen die Wahrheit aus­sagen und auf den wahren Christus hindeuten, da könnten sie am Ende einmal, die Dämonen, von einem Jesuiten befragt werden! Es könnte einmal irgend jemand, von dem der Jesuit behauptet, daß er mit Dämonen in Berührung steht, ins Gespräch gezogen werden von die­sen Dämonen über den wirklichen Ursprung des jesuitischen Christus, und der Dämon könnte dann sagen: Deiner ist nicht der Christus, sondern der des andern ist es. - Sie begreifen die jesuitische Angst vor der geistigen Welt! Sie begreifen, daß es etwas sehr Beängstigendes hat, wenn man der Gefahr ausgesetzt werden könnte, daß aus irgend­einem Winkel der übersinnlichen Welt man desavouiert würde! Dann könnte man als Kronzeugen den Tertullian bringen und könnte sagen:

Ja, sieh mal, lieber Jesuit, der Dämon, der sagt selber, daß dein Gott der falsche ist, und der Tertullian, den du doch anerkennen mußt als einen richtigen Kirchenvater, sagt, daß gerade Dämonen die Wahrheit über sich und über den Christus sagen, wie es auch in der Bibel steht. -

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Kurz, die Sache wird sehr brenzlig, sobald es von der übersinnlichen Welt, wenn auch nur in einer unberechtigten Form, zugegeben wird, daß Dämonen für die Wahrheit zeugen. Denn selbst wenn man den Luzifer zitieren würde: über den Christus würde er nicht die Unwahr­heit sagen! Aber es könnte herauskommen, daß etwas anderes die Unwahrheit über den Christus ist.

Initiationswahrheiten klingen manchmal anders als dasjenige, was die Menschen bequem finden, anzuerkennen. Allerdings führt das dazu, daß vieles in die Kreuz und Quer geht, wenn versucht wird, Initiationswahrheiten heute in die äußere Welt einzuführen, insbesondere dann, wenn solche Initiationswahrheiten eingeführt werden müssen in die unmittelbare Wirklichkeit. Ja, sobald das Feld sich eröffnet, wo aus dem Übersinnlichen heraus gesprochen wird, da kommen zuweilen recht merkwürdige Konflikte zustande, wenn dem entgegengehalten wird dasjenige, was nicht aus dem Übersinnlichen herausquillt!

Wir können das schon oftmals auf das gewöhnliche Leben anwen­den. Ich habe es mit einer gewissen Befriedigung empfunden, daß einer Anregung, die ich nur für mich gesagt habe innerhalb der Lehre - und Dinge, die ich innerhalb der Lehre sage, sage ich als meine Über­zeugung, die für niemanden unmittelbar etwas Bindendes haben soll -, daß einer Anregung Folge gegeben worden ist und dieser Bau aus den ganzen Bedingungen unseres Zeiterlebens heraus «Goetheanum» genannt worden ist. Ich sage, selbst mit Zuziehung gewisser übersinnlicher Impulse erscheint mir das als etwas Richtiges und Gutes. Verlangte aber von mir selber jemand verstandesmäßig alle Gründe dafür, ich solle sie ihm herzählen am Daumen und an den übrigen Fingern, so würde ich mir selbst höchst philiströs vorkommen, wenn ich alle möglichen verstandesmäßigen Gründe aufzählen sollte für das­jenige, was aus einer tiefen Notwendigkeit heraus empfunden wird; sowohl alle Gründe für wie gegen würden mir wie rechte Talmi­weisheit vorkommen. So wie in diesem Falle ist man oftmals, wenn man gerade für den Willen übersinnliche Impulse geltend macht. Die Menschen sagen oftmals: Das verstehe ich nicht, das begreife ich nicht. - Nun, kommt es denn schon furchtbar viel darauf an, daß der

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andere oder man selber die Sache begreife? Denn was heißt «begreifen»? Begreifen heißt ja nichts anderes, als, die Sache in das Licht gestellt sehen, wo die Gedanken ruhen, die man seit Jahrzehnten be­quem für sich passend gefunden hat. Sonst heißt es ja weiter nichts, das, was die Menschen so «verstehen» nennen! Was man selber ver­stehen nennt, heißt oftmals nicht viel gegenüber den Wahrheiten, die aus der übersinnlichen Welt heraus eröffnet werden. Es ist gerade bei den übersinnlichsten Gebieten, wenn sie unmittelbar nicht bloß Lehre sind, sondern in den Willen hereingreifen sollen, in die Tatenwelt hereingreifen sollen, immer etwas Mißliches, wenn man nach Men­schenverstand befragt wird: Warum, warum, warum ist das und das der Fall? Oder: Wie kann man dies und dies und dies verstehen? - In dieser Beziehung müßte man sich gewöhnen, gewisse Dinge der übersinnlichen Welt in Parallele zu stellen mit dem, was man ja für die Naturtatsachen fortwährend zugibt, aber nur in Parallele. Ich weiß nicht - wenn Sie hier hinausgehen, und der Flock oder Wolf oder wie der Hund hier heißt, Sie beißt, und Sie vorher nicht gebissen waren, aber nachher gebissen sind -, ob Sie dann die Frage stellen: Warum hat der mich gebissen? Oder: Wie kann ich das verstehen? - Was ist das für ein Verständniszusammenhang? Sie werden sich es durch die Tatsache erzählen lassen. So handelt es sich eben darum, daß eben auch gewisse übersinnliche Dinge erzählt werden müssen. Und daß ihrer viele sind, das können Sie aus dem entnehmen, was ich heute angedeutet habe, daß in der Sinneswelt zwei Scheine sind, die ihre eigene Wesenheit verhüllen: der Tod und die Geburt des Menschen, die eigentlich Übersinnliches in die Sinnenwelt hereintragen, Fremd­linge sind in der Sinneswelt, sich aber maskieren und sich für sinnliche Erscheinungen ausgeben und dadurch ihre falsche Maske auch über die übrige Natur ausbreiten, so daß die übrige Natur auch von dem heutigen Menschen falsch gesehen werden muß.

Diese Dinge gründlich zu verstehen, gründlich in seine Erkenntnisgesinnung aufzunehmen, das gehört zu den Anforderungen des Men­schenlebens in der Zukunft, insbesondere zu den Anforderungen, die von den Zeitgeistern selber an diejenigen gestellt werden, die Er­kenntnis für die Zukunft suchen wollen, die auf irgendeinem Gebiete

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Willen entfalten wollen. Insbesondere müßten ergriffen werden die geistigen Kulturzweige, Theologie, Medizin, Jurisprudenz, Philosophie, Naturwissenschaft, Technik selbst und soziales Leben und sogar Politik; Politik, ja, ja, wahrhaftig, auch dieses sonderbare Gebilde! In all das müßte eingeführt werden von denjenigen, welche die Zeit verstehen, das, was aus der Geisteswissenschaft folgt.

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DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 11.Oktober 1918

Sie wissen jetzt schon von den allerverschiedensten Seiten her, daß die Entwickelung der neuzeitlichen Menschheit einen entscheidenden Punkt durchgemacht hat im 15. Jahrhundert, dem Beginne des fünften nachatlantischen Kulturzeitalters. Es ist ja, wie wir wissen, dadurch charakterisiert, daß mit diesem Zeitpunkt der Eintritt der Menschheit in die Entwickelung durch die Bewußtseinsseele beginnt, während in dem vorhergehenden griechisch-römischen Zeitraume die Entwicke­lung der Menschheit vorzugsweise verlaufen ist in der Region der Verstandes- oder Gemütsseele. Nun handelt es sich darum, daß man eine solche Wahrheit, wie diese ist, daß wir mit dem 15. Jahrhundert in das Zeitalter der Bewußtseinsseele eingetreten sind, nicht allein theoretisch, nicht abstrakt nimmt, sondern mit dem vollen Lebensernst, daß man gewissermaßen den Willen hat, immerfort zu be­denken: wie muß es mit unserer Seelenverfassung stehen, was müssen wir zu dieser Seelenverfassung tun, damit genügt werde der Tatsache, daß wir eben im Zeitalter der Entwickelung der Bewußtseinsseele stehen?

Nun, vor allen Dingen handelt es sich darum, daß wegen dieses Zeitalters der Bewußtseinsseele eben die Menschheit veranlaßt ist, sich bewußt zu gewissen Anschauungen hindurchzuringen, die in früheren Zeitaltern nicht bewußt erstrebt worden sind. Wir wissen ja, daß unter den vielen, mehr oder weniger wichtigen Dingen, die von dem eben Angeführten betroffen werden, auch das wichtigste Ereignis, welches im Erdenleben sich abgespielt hat, mit betroffen wird: das Ereignis von Golgatha. Denn wir haben es öfter betont: das Ereignis von Golgatha ist so in die Menschheitsentwickelung eingetreten, daß es zunächst nicht vollbewußt von den Menschenseelen in seiner Be­deutung erfaßt werden konnte, sondern daß dieses vollbewußte Erfassen nach und nach nur eintreten kann. Und wir haben ja auch öfter betont, daß immer durch die uns bekannten Kräfte die Neigung der Menschheit entsteht, auf der einen Seite in ihrer Entwickelung

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zurückzubleiben, auf der andern Seite über das Ziel hinauszuschießen. So finden wir in der menschlichen Geisteskultur zahlreiche Bestre­bungen, die unbewußte Art des Erfassens des Ereignisses von Gol­gatha beizubehalten und möglichst wenig die bewußte Entwickelung, welche die Menschheit durchmacht, anzuwenden auf dieses Ereignis von Golgatha. Wir hzben ja in jungster Zeit erst sich abspielen sehen auf dem Gebiete einer religiösen Gemeinschaft den Kampf zwischen der Bestrebung, möglichst nur das Althergebrachte, Unbewußte über das Mysterium von Golgatha gelten zu lassen, während sich mit aller­dings unzulänglichen Mitteln, aber immerhin doch eben geltend ge­macht hat in dem, was man modernste katholische Bestrebungen nannte, das Streben, bewußter, als es bisher geschehen ist, zu einem Begreifen auch des Mysteriums von Golgatha vorzudringen. Das Sträuben gegen das geisteswissenschaftliche Vordringen zum Myste­rium von Golgatha ist ja kein anderes als das Streben derjenigen, die dieses Mysterium von Golgatha möglichst in der unbewußten Sphäre in bezug auf die Menschenseelen erhalten wollen.

Will man sich ersprießlich nähern dem Verständnisse, das für die Entwickelung der Bewußtseinsseele ganz besonders notwendig ist, dann muß man vor allen Dingen versuchen, von den verschiedensten Seiten her sich über das eigene Menschenwesen aufzuklären, auf­zuklären nicht durch Redereien, sondern durch Orientierung an den Tatsachen. Betrachten wir also unser Zeitalter möglichst tatsachengemäß; machen wir zunächst auf Tatsachen aufmerksam, die ganz besonders bedeutsam sind für die Entwickelung innerhalb des Zeit­alters der Bewußtseinsseele.

Mit großem Stolze, mit einem wahren Hochmut redet man ja in der neueren Zeit in diesem Zeitalter der Bewußtseinsseele von dem naturwissenschaftlichen Zeitalter. Man hat mit diesem Reden in einem ge­wissen Sinne recht, denn nicht nur diejenigen, die heute naturwissen­schaftlich gebildet sind, leben in diesem naturwissenschaftlichen Zeit­alter, sondern es leben unter den gebildeten Menschen weitaus die meisten in der naturwissenschaftlichen Strömung des Zeitalters; denn es kommt nicht darauf an, um im naturwissenschaftlichen Zeitalter zu leben, ob man denkt, wie heute Botaniker über die Pflanzen, Zoologen

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über die Tiere, Anthropologen über die Menschen denken, es kommt nicht darauf an, daß man mehr oder weniger von der Anthropologie, der Botanik, der Zoologie weiß, sondern es kommt darauf an, daß man seine Gedanken über die Welt so ausbildet, daß sie in der Rich­tung des naturwissenschaftlichen Denkens liegen. Und diese Richtung des naturwissenschaftlichen Denkens, die schlagen eigentlich die mei­sten Menschen ein, die heute irgend etwas sogar nur mit Schulbildung zu tun haben, die also nicht Analphabeten oder nahezu Analphabeten sind. Also die Menschen, die heute überhaupt in Betracht kommen, sie schlagen eine naturwissenschaftliche Denkungsart ein; daran hindert sie nicht, daß sie manchmal fleißig in die Kirche gehen, den Predigten zuhören, daß sie, wie man sagt, religiös, fromm sind. Denn fragen Sie sich nur einmal, wieviel diese religiöse Frornmheit heute noch wirkt im allgemeinen Menschenleben, selbst wenn man glaubt, noch so fromm zu sein oder sein zu sollen? Auf die Gedanken über die Welt haben die religiösen Empfindungen, die in diesem oder jenem Reli­gionsbekenntnis entwickelt werden, außerordentlich wenig Kraft, einzuwirken. Überall im äußeren Leben, in weitesten Kreisen der heutigen Bevölkerung, denkt man eben naturwissenschaftlich orientiert. Das Religiöse ist mehr oder weniger für die meisten Menschen der Gegenwart nur eine Beigabe. Man kann also schon sagen, das neuere Zeitalter der Bewußtseinsseele ist stolz, ja hochmütig auf seine naturwissenschaftlichen Errungenschaften und die damit zusammenhängende naturwissenschaftliche Richtung seines Denkens, und es sieht dieses Zeitalter mit einem gewissen Hochmut auf frühere Zeit­alter hin.

Denken Sie nur, mit welchen Empfindungen, mit welchen spießig-saftig selbstzufriedenen Empfindungen der richtige heutige Mensch zurücksieht auf die Vorfahren, von denen er sagt, daß sie an Gespen­ster geglaubt haben. Man braucht sich nicht so sehr gegen diese Be­hauptung zu wenden, die Vorfahren hätten an Gespenster geglaubt. Das haben sie getan. Wir wollen heute weniger die Aufmerksamkeit wenden auf den Begrifsinhalt des Satzes: Unsere Vorfahren haben an Gespenster geglaubt, und wir sind so gescheit, daß wir nicht mehr an Gespenster glauben -, sondern wir wollen uns mehr halten an den

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Gefühlsinhalt, den man dabei empfindet, wenn wir in die Gegenwart hineinschauen, wie sie uneilt über die dummen Voffahren, die an Gespenster geglaubt haben, und wie wir nun endlich darüber hinaus sind im naturwissenschaftlichen Zeitalter und nicht mehr an Ge­spenster glauben. Dieses Uneil, daß die Vorfahren an Gespenster ge­glaubt haben, das ist an sich eine halbe und deshalb eine außerordent­lich gefährliche Wahrheit; denn halbe Wahrheiten sind oftmals schlim­mer als ganze Irrtümer, weil man die ganzen Irrtümer leicht erkennt, die halben Wahrheiten aber in der Welt selbst gespenstisch spuken.

Es ist ja richtig: Wenn man zurückgeht ins frühere Zeitalter, zu­rückgeht in die Zeit vor und nach dem Mysterium von Golgatha und in noch länger zurückliegende Zeiten, ins dritte nachatlantische Kul­turzeitalter, da findet man in der Hauptsache, daß die Menschen an Gespenster, an Dämonen glauben, wie ich Ihnen das neulich selbst bei dem großen Tertullianus vorgeführt habe. Das ist richtig. Aber diesem Zeitalter geht ein anderes voran, wo die Menschen auch von Gespenstern geredet haben, aber nicht in dem Sinne, wie sie in den eben charakterisierten Zeitaltern an diese Gespenster geglaubt haben. Sie haben geredet von den Gespenstern im zweiten, im ersten nachatlan­tischen Kulturzeitalter, indem sie sich bewußt waren: Das, was sie vorstellen, das ist ein Ergebnis ihrer Vorstellungskraft. Sie können sich nach ihrer Vorstellungskraft nur Gespenster vorstellen. Aber indem sie sich Gespenster vorstellen, sind die Gespenster Bilder von der dahinterstehenden geistigen Welt. - Also es gab ein langes Zeit­alter, in dem die Menschen zwar die Vorstellungen von Gespenstern sich gebildet haben, aber wußten, daß hinter den Gespenstern, die sie als Bilder angesehen haben, die geistige Welt war. Sie bildeten sich gewissermaßen in ihrer Vorstellungswelt, die sie gespenstisch ausmalten, die geistige Welt ab. Dann aber hatte man die geistige Welt mehr oder weniger vergessen, besser gesagt, aus der Anschauung ver­loren; es blieben die bloßen Bilder, die man dann als Realitäten ansah, und daraus entstand der Gespensteraberglaube, der also Verfall desjenigen ist, aus dem er hervorgegangen ist.

So daß man sagen kann: Die Alten haben sich ihr Bewußtsein so ausgebildet, daß sie eben jene Kräfte zur Entwickelung brachten, die

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dem Bewußtsein gegeben waren, und sie beschränkten sich instinktiv darauf, in ihren Vorstellungen nichts anderes zu haben als Gespenster. In alten Zeiten haben sie durch die Gespenster die Götter vorgestellt, und später haben sie die Gespenster als Realitäten genommen. Nicht daß die Gespenster falsch gewesen wären, sondern die Ansicht der Menschen über die Gespenster ist falsch geworden.

Nun, daß die Vorfahren sich Gespenster vorgestellt haben und daß Gespenstervorstellen ein Aberglaube ist, das gesteht der moderne Mensch in seinem Urteile über die Alten zu, leckt sich die Finger ab in Selbstzufriedenheit und findet sich gescheit. Daß in noch älteren Zeiten die Menschen durch die Gespenster die geistige Welt vorge­stellt haben, das zu erkennen, darauf läßt er sich nicht ein, denn die geistige Welt interessiert ihn heute nicht besonders, nur die natürliche Welt. Und so fühlt er sich unendlich erhaben über die Vorfahren, indem er aus seinem Bewußtsein heraus sich Vorstellungen bildet über die Natur. Das Zeitalter der Bewußtseinsseele verlangt aber etwas anderes von uns, als die Vorfahren gekonnt haben. Wir müssen uns aufklären über das, was wir eigentlich haben, wenn wir die Naturanschauung haben.

Nun, wir bilden uns ja auch Vorstellungen aus unserem Bewußtsein heraus, wenn wir so recht moderne, selbstzufriedene, aufgeklärte, gescheite Menschen sind; wir bilden uns Vorstellungen über die Natur. Aber wenn man diese ganze Vorstellungswelt über die Natur nimmt und sie prüft, vorurteilslos prüft, dann findet man, daß wir zwar die Vorstellungen haben, aber daß wir die Natur in diesem Vorstellen nicht einfangen können. Es bleiben, wie die Leute dann sagen, Gren­zen des Naturerkennens. Ich habe öfter einen Philosophen der Gegen­wart angeführt, der ja als philosophischer Schriftsteller wenig bekannt­geworden ist, aber der manches ausgeschwatzt hat von dem, was die andern nicht aus schwatzten, weil sie es nicht so tief untersucht haben: Richard Wahle, der zwei große Bücher und allerlei kleine geschrieben hat, ein großes Buch schon in den neunziger Jahren, welches heißt: «Das Ganze der Philisophie und ihr Ende»; und vor einigen Jahren hat er das Buch geschrieben «Über den Mechanismus des geistigen Lebens». Dieser Richard Wahle ist ein Mensch, den man einen Exponenten

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der Menschen der Gegenwart nennen könnte, man könnte sagen, wie Richard Wahle denkt, so denken eigentlich alle Menschen, die in naturwissenschaftlicher Weise orientiert sind. Sie denken so wie er; nur zieht er die letzten Konsequenzen, und so tritt denn bei ihm der sonderbare, krasse Fall ein, daß er Professor der Philosophie wurde, und über das Ende der Philosophie gleich ein dickes Buch schrieb, ein Buch, in dem er den Beweis zu führen suchte aus der naturwissenschaftlichen Denkweise heraus, daß es keine Philosophie geben soll. In diesem seinem Bande: «Über den Mechanismus des geistigen Lebens» drückt sich dieser Professor der Philosophie und philosophische Schriftsteller ganz sonderbar über seine Kollegen, die Philosophen aus. Er sagt nämiich über seine Kollegen so ungefähr: Die Philosophen glichen und die Philosophie gleiche einem Restau­rant; früher seien Köche und Kellner herumgestanden und hätten ungenießbare Speisen bereitet und an die Gäste abgegeben; jetzt stünden sie herum und hätten überhaupt nichts zu tun. Also dieser eine Koch oder Kellner oder Philosoph, der sagt, daß die Philosophie mit einem Restaurant zu vergleichen sei, in dem früher lauter ungesunde Speisen fabriziert wurden von Köchen und Kellnern - von Kollegen dieses Philosophen - und jetzt ist die Sache gar so weit ge­kommen, daß nicht einmal mehr ungesunde Speisen durch die Philo­sophenköche der Gegenwart gekocht werden, sondern daß die Köche und Kellner herumstehen. Er muß sich natürlich, da er ein solcher Koch oder Kellner oder Philosoph ist, selbst so vorkommen, daß er eigentlich höchst unnötig herumsteht. Da hat er sich denn in seinen beiden Büchern eine letzte Aufgabe, wie er glaubt, gestellt; nachher soll es keine Philosophen mehr geben, er soll der letzte sein. So un­gefähr ist der tiefere Gehalt seiner Bücher. Er soll der letzte sein, denn er hat sich nun die Aufgabe gestellt - ja, wie soll ich diese nun charak­terisieren? Richard Wahle also als einer der Kellner oder Köche unter den andern Köchen oder Kellnern, die früher ungesunde Speisen der Philosophie fabriziert und jetzt überhaupt nichts mehr zu tun haben, ist unter diesen Köchen und Kellnern damit beschäftigt, ein Gift zu fabrizieren, woran sie alle verenden! Das ist ein außerordentlich in­teressantes Schauspiel! Und wenn man gewöhnt ist, die Geschichte in

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ihrer Entwickelung symptomatisch zu betrachten, so ist es ein ernstes und sehr bemerkenswertes Symptom der Gegenwart. Denn scharf­sinnig und tief eingedrungen in die Probleme des naturwissenschaft­lichen Denkens ist dieser Philosoph.

Nun bin ich zwar überzeugt, daß die allermeisten von Ihnen, wenn Sie eines dieser Bücher in die Hand nehmen, es sehr bald wiederum aus der Hand legen, weil diese Bücher außerdem in der modernen Philosophengelehrtensprache gehalten sind, und diese ja, nicht wahr, mit einer Terminologie ausgerüstet ist, die derjenige, der nicht eingefuchst darinnen ist, nicht versteht, die er erst lernen muß. Aber den­noch, wer diese Sprache handhaben kann, der kann wissen, daß in diesen Büchern eine Unsumme von Scharfsinn steckt, wie er in der Gegenwart fabriziert werden kann, und daß in den jammervollen Umschreibungen, die gerade in diesen Büchern stecken, eine ahnende Erkenntnis liegt, die allerdings ganz anders präzisiert werden muß, als sie Richard Wahle präzisiert. Aber man möchte sagen: Diese eigen­tümliche Leidenschaft, dieses eigentümliche Leidenschaftliche, das er hat, loszugehen auf die Fabrikation dieses Giftes, von dem ich ge­sprochen habe, für die andern Köche und Kellner, die bezeugt, daß diese Erkenntnis in ihm pulst, sonst würde er nicht als wohlbestallter Professor der Philosophie gesagt haben, der Mensch habe nicht mehr Weisheit als ein Tier, und unterscheide sich vom Tier nur dadurch, daß das Tier wenigstens nicht so vernünftig sei, nach Weisheit zu streben, der Mensch aber sogar nach Weisheit strebt, also vernünftig ist, weil er dasjenige ahnt, was es für ihn gar nicht geben kann.

Da pulst eben eine wichtige Erkenntnis, wenn diese Erkenntnis auch mehr oder weniger negativer Natur ist: darinnen pulst die Erkenntnis über das Naturwissen der Gegenwart. Dieses Naturwissen soll näm­lich über die Natur handeln, es soll gewissermaßen vorstellungsgemäß die Natur vergegenwartigen für das moderne Bewußtsein. Aber wenn man nun wirklich Umschau hält in den Vorstellungen, die man sich heute bildet über die Natur gerade in den allergelehrtesten Zusammen­hängen, dann findet man, daß das menschliche Bewußtsein heute eigentlich kurioserweise auch nichts anderes tut, als Gespenster aus­denken, nur daß die Alten Gespenster über die Götter ausgedacht

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haben, und die modernen Menschen Gespenster über die Naturtat­sachen ausdenken. Denn dasjenige, was sich die modernen Menschen als Naturwissenschaft vorstellen, ist nicht die Natur, sondern verhält sich zur Natur wie ein Gespenst zu der Wirklichkeit. Das ahnt nämlich solch ein Mensch wie Richard Wahle, daß das Zeitalter der Bewußtseins seele darauf kommen muß: Wir sind gar nicht so sehr erhaben über unsere Vorfahren; die verwendeten die Bewußtseinskräfte und bildeten sich Vorstellungen von Gespenstern, und wir bilden uns auch Vorstellungen von Gespenstern. Der Unterschied ist nur der, daß die Vorfahren schönere Gespenster hatten als die Gespenster sind, welche die heutigen naturwissenschaftlichen Denker fabrizieren, und die im Grunde genommen schreckliche Gespinste von abstrakten Begriffen sind. Aber Gespenster sind es, wie die Gespenster unserer Vorfahren Gespenster waren. Und nicht anders verhalten sich diese Gespenster der Naturwissenschaft, verhält sich diese gespenstische Naturwissen­schaft selber zur Wirklichkeit, als die alten Gespenster sich zu der göttlichen Wirklichkeit verhielten.

Dem Zeitalter der Bewußtseinsseele geziemt es nun, darauf zu kommen, daß dies so ist, daß man nun wirklich in Gespenstern lebt, wenn man in Vorstellungen lebt. Es ist außerordentlich wichtig, daß man im Zeitalter der Bewußtseinsseele auf dieses bedeutungsvolle Faktum kommt. Die Alten haben nicht im Zeitalter der Bewußtseinsseele gelebt, daher durften sie unbewußt bleiben über die Tatsache, daß sie Gespenster vorstellten. Unsere Naturforscher stellen auch Ge­spenster vor; aber wir haben im Zeitalter der Bewußtseinsseele die Aufgabe, zu wissen, daß wir auch Gespenster vorstellen, daß wir nicht die Natur vorstellen, sondern nur Naturgespenster. Und wie unsere Vorfahren sich herausentwickelt haben von ihren weiter zurücklie­genden Vorfahren, welche die Gespenster nicht für Wirklichkeit ge­nommen haben, sondern für Abbilder göttlicher Wirksamkeiten, für Abbilder übersinnlicher Intelligenzen, so müssen wir gerade durch das Zeitalter der Bewußtseinsseele aufsteigen zu dem wirklichen Ge­ständnis: Unsere naturwissenschaftlichen Gespenster sind nicht Wirklichkeiten, wie die heutigen Naturwissenschafter glauben, sondern sind Hinweise auf die Wirklichkeiten, die man eigentlich durch sie suchen

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soll. Täuscht man sich über das Gespenstige der Naturwissenschaft, so kann man auch nicht zu einer Aufklärung über den Menschen kommen. Denn die Natur können wir mit unseren gespenstischen Vor stellungen anschauen, sie tritt doch in ihrer wahren Gestalt vor unsere Augen; den Menschen selbst müssen wir vom Zeitalter der Bewußtseinsseele an bewußt erleben. Da geht es nicht, daß wir bloß gespen­stische Vorstellungen anwenden, sonst machen wir uns selber zum Gespenst. Das ist auch schon reichlich geschehen.

Die Evolutionslehre, die Goethesche Entwickelungslehre, ist nicht falsch, sondern sie tendiert nach dem Richtigen, weil sie die Menschen als Wirklichkeit erfassen will. Die materialistische, darwinistisch ge­färbte Evolutionslehre, die redet von der Abstammung des Menschen von den Tieren. Aber die Sache ist diese, daß etwas in uns schon abstammt von den Tieren, oder wenigstens eine gemeinschaftliche Abstammung von den Tieren hat, doch das sind wir nicht als Menschen, sondern das ist das Gespenst, das die Naturwissenschaft von uns kennt. Erst macht die Naturwissenschaft auch den Menschen zum Gespenst, indem sie nur von seiner Gespensterscheinung weiß, und dann frägt sie: Woher stammt dieses Gespenst? Erst wenn man darauf kommen wird, daß nicht der Mensch, sondern sein Gespenst so be­handelt werden kann, wie die moderne Naturwissenschaft das tut, dann wird man auf diesem Felde das Richtige treffen. Aber man muß leben, und Sie werden mir ohne weiteres zugeben: So wie Sie hierher gegangen, hierher gekommen sind, wären Sie nicht hierher gekommen, wenn Sie bloß den Homunkulus, das Gespenst hergeschickt hätten, als welches Sie sich nach naturwissenschaftlichen Vorstellungen vor­stellen müssen. Und säßen nur die Homunkuli da, die in Ihrem Be­wußtsein von Ihnen selber leben, dann würde ich auch nicht zu diesen Homunkuli sprechen können! Sie tragen schon Ihren wirklichen Menschen hierher, aber nicht im Bewußtsein. Wohl aber muß das Zeitalter der Bewußtseinsseele den wirklichen Menschen ins Bewußt­sein hereinkriegen. Es muß aufrücken vom Homunkulus zum Homo. Wenn das nämlich nicht geschähe, so würde der Mensch dahin kom­men, auch den polarischen Gegensatz von seinem Gespenstischsein zu erleben. Wenn man sich nicht als Gespenst nimmt, sondern in

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seiner Wirklichkeit, wie es die Alten getan haben - die sich zwar als Gespenster vorgestellt haben, aber weil sie atavistische Kräfte in sich hatten, konnte die Wirklichkeit in sie noch hinein, während in den heutigen Menschen nur das herein kommt, was durch seine Bewußt­seinsseele kommen kann -, wenn man aber in der Bewußtseinsseele nur das Gespenst vom Menschen hat, dann kommen durch diese Bewußtseinsseele moralisch-spirituelle Impulse nicht herein. Und wenn Sie sich die Begleiterscheinungen der gespenstischen Natur­wissenschaft anschauen, ja, dann finden Sie schon, daß dieses neuere Zeitalter, das eine gespenstische Naturwissenschaft hat, niemals eigent­lich gelten lassen will, daß aus der geistigen Welt selber Impulse herankommen für das sittliche Handeln. Diejenigen sittlichen Impulse, mit denen die heutige Menschheit arbeitet, sind uralt, stammen noch aus atavistischen Zeitaltern; denn die heutige Menschheit will nicht den Geist fragen, wenn Impulse für das Handeln herauskommen, sondern sie will die Natur fragen. Sie will fragen: Was ist die menschliche Natur? Was sind da für Triebe in der menschlichen Natur?

Es ist furchtbar, wie die neuere Menschheit eigentlich nur die Natur befragen will, aber von der Natur kennt sie nur ein Gespenst. Daher lastet und kraftet in dem modernen Menschen unbewußt die Wirk­lichkeit und fordert Einlaß durch das Bewußtsein, weil wir im Zeit­alter der Bewußtseinsseele leben.

Damit habe ich Ihnen etwas vom Wichtigen in der Situation der Gegenwart klargestellt. Ich habe Sie darauf hingeführt, daß in dieser Situation der Gegenwart die Sache so liegt, daß auf der einen Seite die Menschen sich gespenstische Vorstellungen über die Natur bilden und experimentierende Naturforscher werden auf allen Gebieten; dann tritt der Mensch selber in seiner Wirklichkeit an sie heran, und dann betrachten diese Leute diesen Menschen in seiner Wirklichkeit. Aber die gespenstischen Begriffe der Naturwissenschaft sind unzulängliche Mittel. Daher werden jene Leute keine Menschenbeobachter, sondern nur Beobachter des Menschengespenstes: Psychoanalytiker. Psycho­analyse ist so recht das Kind der gespenstischen Naturwissenschaft; deshalb nenne ich immer die Psychoanalyse etwas, was mit unzu­länglichen Mitteln arbeitet.

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Nun können wir fragen: Wodurch ist denn diese Situation herbei­geführt worden? Diese Situation ist herbeigeführt worden dadurch, daß durch die Konstellation, die hervorgerufen worden ist in der Erdenentwickelung, ein ganz bestimmtes Verhältnis vorliegt zwischen der ureigenen menschlichen Entwickelung und den beiden Seiten­strömungen, der ahrimanischen und der luziferischen. Ich habe in der verschiedensten Weise auf die normale Entwickelung gewissermaßen hingewiesen, dann auch auf die beiden Seitenströmungen: die luzi­ferische, die ins Erdenleben in der lemurischen Zeit, die ahrimanische, die in der atlantischen Zeit eingeflossen ist. So sind sie drinnen in der Menschheitsentwickelung, diese drei Strömungen, und dasjenige, was in der Menschheitsentwickelung geschieht, steht unter dem Einflusse dieser drei Strömungen.

Alles das, was in diesen Strömungen drinnenliegt, bewirkte, daß ein wichtiger Knotenpunkt in der ganzen menschlichen Entwickelung um ein bestimmtes Jahr herum auftrat. Es lag in diesem Jahr, da, wo die drei Strömungen zusammenfließen, ein Knotenpunkt menschlicher Entwickelung, der nur durch die verworrenen äußeren Verhältnisse verdeckt ist, so daß man nicht genau sieht, was geschieht, sondern nur das Verworrene sieht. Dieser wichtige Knotenpunkt lag um das Jahr 666 nach dem Mysterium von Golgatha herum. Dazumal, 666 nach Christi Geburt, hätte etwas geschehen sollen und auch geschehen können, was nicht geschehen ist. Sie werden gleich hören, aus wel­chem Grunde es nicht geschehen ist.

Im Jahre 666 hätte kommen können - sichtbarlich für die äußere Menschheit, namentlich für die abendländische Menschheit - ein be­deutsames Wesen, das nicht auf dem physischen Plane aufgetreten wäre, aber sich der Menschheit sehr deutlich vernehmbar gemacht hätte auch äußerlich, so daß die Menschen ihm verfallen wären. Wenn dieses Wesen in der Gestalt, wie es selbst die Sache projektiert hat, aufgetreten wäre, dann würden wir heute nicht 1918 schreiben, sondern - minus 666 - erst 1252; denn dieses Wesen würde die Menschen so inspiriert haben, daß sie auch die Zeitrechnung danach gerichtet hätten. Dieses Wesen würde, wenn es hätte so erscheinen können, wie es selbst dies projektiert hat, etwas sehr Eigentümliches bewirkt haben.

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Die Sache liegt nämlich so: 333 Jahre vorher, also gerade im Jahre 333 nach Christo, da war die Mitte des vierten nachatlantischen Zeit­raumes, gerade die Mitte des griechisch-lateinischen Zeitraumes. Nun können Sie sich ja ausrechnen: 747 beginnt es, 1413 schließt es, das sind 2160 Jahre, wie es sein soll. Nehmen Sie die Hälfte von 2160 Jahren, so bekommen Sie 1080 Jahre, so daß 1080 Jahre seit 747 ver­flossen waren in der Mitte des nachatlantischen Zeitalters. Also wenn wir 747 wegrechnen, haben wir 333: so daß also im Jahre 333 nach unserer Zeitrechnung die Mitte des griechisch-römischen Zeitalters war. Sie war nicht vor dem Mysterium von Golgatha, sondern eigent­lich erst nach dem Mysterium von Golgatha, diese Mitte; sie bedeutet die höchste mögliche, aber eigentlich nicht äußerliche Wirklichkeit, weil ja in der äußeren Wirklichkeit die andern Strömungen mit ein­laufen. Aber wenn die Entwickelung geradlinig fortgegangen wäre und nicht die seitlichen Strömungen gekommen wären, dann wäre das die richtige Mitte, und es wäre der Höhepunkt gewesen des Zeit­alters der Verstandes- oder Gemütsseele. Da hätte die Verstandes­- oder Gemütsseele zu ihrer äußersten, höchsten Entfaltung kommen müssen. So ist es nicht gekommen, weil gewissermaßen schon der Wurm nagte, der da projektierte 333 Jahre danach, 666, eine ganz bestimmte Prozedur mit der Menschenentwickelung vorzunehmen. Die Prozedur, die da mit der Menschenentwickelung vorgenommen werden sollte durch dieses Wesen, den Sorat, das Tier, sollte darin bestehen, daß dieses Wesen, das schon voll ausgebildet hatte die Bewußtseinsseele, während der Mensch erst bei der Verstandes- oder Gemütsseele angekommen war, dem Menschen geben wollte alle die seelisch-geistigen Errungenschaften, die der Mensch damals nicht hatte vermöge seiner Verstandes- oder Gemütsseele, sondern die er erst bekommen kann mit der Bewußtseinsseele, die also dem Menschen erst eignen können im späteren Zeitalter. Verfrüht sollte sie dem Menschen zukommen, die Kultur der Bewußtseinsseele. Und nach den Weltenverhältnissen war 666 der günstigste Zeitpunkt; da konnte dieses Wesen solchen Einfluß auf die Erde nehmen, daß es hätte sagen können: Ich lehre jetzt den Menschen alles, was sie jemals durch ihre Bewußtseinsseele finden können. Ich träufle das, was die andern

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Götter, die ich bekämpfe, erst im nächsten Kulturzeitalter den Men­schen geben wollen, den Menschen jetzt schon ein in dem Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele. - Die Vermischung der Verstandes-oder Gemüts seele mit der Bewußtseinsseele auf ungerechtfertigte Art, das war dasjenige, was beabsichtigt war.

Es wäre ja wohl kaum gelungen, etwa die ganze Menschheit, die ja wiederum natürlich auf verschiedenen Stufen der Entwickelung steht, dazu zu bringen, in die Verstandes- oder Gemütsseele herein schon den Inhalt der Bewußtseinsseele zu bringen, aber bei einer großen Anzahl von Menschen hätte es gelingen können. Es hätte so gelingen können, daß, wenn dieses Wesen wirklich seinen Zweck erreicht hätte, dann unter den Menschen, namentlich der gebildeten Welt des Abendlandes, eine Anzahl Genies aufgestanden wären. Denn Genies wären sie ja gewesen. Das, was Menschen, die nicht ganz hätten mitgehen können, die noch mit der Entwickelung zurückbleiben, normalerweise erst im Jahre 2493 wissen werden - denken Sie, in der Mitte des Zeitalters, das 1413 begonnen hat; denn wenn Sie zu 1413 die Hälfte eines Kulturzeitalters dazurechnen, also 1080, so bekommen Sie 2493-, das hätte dazumal - zwar nicht so, wie diesen Menschen dann, aber durch geniale Kräfte der ahnungsvollen Phantasie - hinübersprudeln und der ahnungslosen abendländischen Menschheit sich offenbaren können.

Es waren merkwürdige Erscheinungen projektiert. Wenn Sie sich die naturwissenschaftlichen Ideale der Gegenwart denken, die Leute schildern hören, wie wir es in den letzten Jahrzehnten so herrlich weit gebracht haben - denken Sie sich nun, was dieselben Menschen sich für Vorstellungen machen könnten von dem, wie die Erdenmensch­heit im Jahre 2493 sein werde, wenn sie nun schon im Jahre 1918 so gescheit sind! Also Maschinen und so weiter würden die Menschen nicht gemacht haben, würden nicht experimentiert haben, nicht den Schleppgang gegangen sein, aber mit genialen Kräften würden sie alles vorher geahnt haben und vieles auch gemacht haben. Dieses Jahr 666 war bestimmt, die Menschheit geradezu zu überschwemmen mit einem Erkennen und mit einer Kultur, die von den der Menschheit ureigenen Göttern eben erst im dritten Jahrtausend der Menschheit zugedacht ist. Es ist nicht auszudenken, braucht auch nicht ausgedacht

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zu werden, in welche Situation die sogenannte gebildete Welt ge­kommen wäre, wenn sie in solcher Weise mit diesem sechshundert­sechsundsechziger Wissen überschwemmt worden wäre. Die Men­schen würden in ihrer mangelnden Selbstzucht verkommen sein. Denn schlagen Sie die Geschichten auf, die ja immer nur die ein­seitigen Dinge erzählen über die Seelenverfassung, welche die Men­schen 666 hatten, so werden Sie schon darauf kommen, wie die Men­schen sich verhalten haben würden, wenn sie nun in dieser Weise Genialitäten unter sich gehabt hätten. Sie haben es schon so herrlich weit gebracht mit dem, was sie nun entwickelt haben bis zum Jahre 1914; wohin würden die Menschen erst gekommen sein, wenn sie nun mit all dieser Weisheit des Tieres überschwemmt worden wären! Aber projektiert war es von gewissen höheren Geistern, namentlich von einem Wesen ahrimanischer Natur, das der Führer dieser Geister sein sollte, das dann erschienen wäre, wenn auch nicht auf dem phy­sischen Plane, aber das eben wirklich erschienen wäre.

Das mußte verhindert werden. Und wenn auch noch so viele glauben, man soll doch der Menschheit nichts vorenthalten, wenn ihr so etwas gegeben werden kann: da es nicht im geistigen Sinne der menschlichen Entwickelung lag, mußte es verhindert werden. Und es konnte verhindert werden dadurch, daß die Waage gehalten wurde. Denken Sie, 333 war der Zeitpunkt der Mitte des vierten nachatlan­tischen Zeitalters; 333 Jahre später war 666; da hätten die ahrimani­schen Mächte mächtig allen Hochmut materialistischer Art, aber mit genialen Kräften, in die Höhe gebracht. Da konnte nur das Gleichgewicht gehalten werden dadurch, daß 333 Jahre früher, also im Be­ginne der Zeitrechnung, das Wesen aufgetreten war, das seine eigene Substanz in die Menschheitsentwickelung zum Gleichgewicht hineinsetzte und verhinderte, daß 333 Jahre nach 333 dieses Wesen auftrat, von dem ich gesprochen habe.

Da haben Sie den einen Waagebalken: von 333 bis 666 sind 333 Jahre. Da haben Sie den andern Waagebalken, der das Gleichgewicht bewirkt: von 333 zurück bis zum Mysterium von Golgatha. Dadurch ist ein Gleichgewichtszustand hervorgerufen. Dadurch ist etwas ge­schehen, das gewissermaßen hinter den Kulissen der äußeren profanen

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Zeichnung aus GA 184, S. 271
Zeichnung aus GA 184, S. 271

Geschichte sich abgespielt hat. Etwas, was hätte geschehen können, ist verhindert worden durch etwas anderes, was wirklich geschehen ist, aber eben auch nur, wie ich neulich auseinandergesetzt habe, mit übersinnlichen Kräften erfaßt werden kann, weil der ganze Vorgang mit übersinnlicher Bedeutung sich für die Erdenentwickelung ab­spielte.

Was hätte denn also eigentlich geschehen sollen von 666 an, wenn das Tier dazumal in die Menschheitsentwickelung hätte eingreifen können, ohne daß vorher das Mysterium von Golgatha dagewesen wäre? Was hätte denn geschehen können? Sie werden sich eine Vor­stellung von dem machen können, was hätte geschehen können, wenn Sie das bedenken, was ich vorhin gerade charakterisiert habe. Die Menschen eilten zu dem 15. Jahrhundert; hätte das Tier von 666 an seinen Unfug mit den Menschen getrieben bis ins 15. Jahrhundert hinein, dann hätte es sich ganz und gar bemächtigt dessen, was heran­zog. Es zog heran das gespenstische naturwissenschaftliche Erfassen der Welt, und damit die Emanzipation der menschlichen Triebe. Weil die Bewußtseinsseele nur erfassen sollte das Gespenst vom Menschen, blieb der wirkliche Mensch zurück; er erfaßte sich nicht. Nun kann im Zeitalter der Bewußtseinsseele der Mensch nur dadurch Mensch werden, daß er es bewußt wird, sonst bleibt er Tier, bleibt er zurück hinter seiner Menschheitsentwickelung.

Das aber wollte das Wesen, das da 666 eingreifen wollte: sich zum Gotte machen. Es sagte: Da werden Menschen kommen; auf den Geist werden sie ihre Blicke nicht mehr hinrichten, der Geist wird sie nicht

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interessieren. Ich werde dafür sorgen - das hat ja dieses Wesen noch erreicht -, daß im Jahre 869 in Konstantinopel ein Konzil abgehalten wird, wo der Geist abgeschafft werden wird. Die Menschen werden sich weiter nicht für den Geist interessieren, sie werden ihr Interesse der Natur zuwenden, gespenstische Vorstellungen über die Natur aus­bilden. Und dann werde ich, was die Menschen dann nicht bemerken, weil sie sich nicht als wirkliche Menschen erkennen werden, sondern als Gespenst, dann werde ich alle Regierung über die Bewußtseinsseele in die Hand bekommen. Ich werde den Menschen über sich selber irreführen; ich werde ihn dabei lassen, daß er nur sich als Gespenst faßt, und ich werde dann in seine Verstandes- oder Gemütsseele schon alle Weisheit der Bewußtseinsseele hineingießen. Dann habe ich ihn, dann habe ich ihn erfaßt.

Denn, was wäre dann erreicht? Der Mensch muß, wenn er einiger­maßen normal sich entwickelt, wenn er so sich entwickeln würde, daß jenes Wesen nichts weiter dabei zu tun hätte, vorschreiten zum Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch; das wäre ihm gründlich weg­genommen. Er sollte bei der Bewußtseinsseele bleiben, er sollte das erhalten, was die Erde ihm geben kann, aber nicht mehr, nicht hin­ausgehen zu Jupiter-, Venus- und Vulkanentwickelung. Käme es dazu, daß er im richtigen Zeitalter durch die ihm ureigenen Kräfte den In­halt der Bewußtseinsseele bekommt, dann wäre schon in ihm durch die Entwickelung, die er mittlerweile im normalen Sinne durchge­macht hat, die Anlage vorhanden, auch zum Geistselbst und so weiter aufzusteigen. Aber das sollte verhindert werden. Deshalb sollten die Menschen die Bewußtseinsseele mit ihrem Inhalte schon früher in die Verstandes- oder Gemütsseele eingeflößt, eingeimpft erhalten. Dann wäre der Mensch in seiner Entwickelung bei der Bewußtseinsseele stehen geblieben; dann wäre er ein Unding von Wissen, welches ihm vom sechsten Zeitraum an überlassen sein würde! Dann aber wäre es mit ihm aus; er würde sich nicht weiterentwickeln, sondern das seiner Bewußtseinsseele einverleiben, alles in seinen äußersten Egoismus stellen, in den Dienst der Bewußtseinsseele.

Das war dieses Wesens Absicht, das da 666 erscheinen wollte: abzu­schneiden, dafür zu sorgen, daß abgeschnitten werde die zukünftige

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Erdenentwickelung; daß die Entwickelung, nachdem die Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenentwickelung verlaufen ist, abgeschlos­sen wird, der Mensch dann nicht weiter den Gang einschlägt, den die­jenigen Wesen der höheren Hierarchien mit ihm gehen wollen, die vom Anfange an seine normale Entwickelung in die Hand genommen haben.

Das konnte nur dadurch verhindert werden, daß diese Waage, dieser Gleichgewichtszustand, in die Weltenentwickelung des Menschen ein­geflossen ist, daß ebensoweit zurück von der Mitte der vierten nachatlantischen Zeit, wie der Zeitpunkt vorwärts gelegen wäre, in den das Tier hat eingreifen wollen, ebensoweit zurück das Eingreifen Christi, das Mysterium von Golgatha, gelegt worden ist.

Sie sehen, welche Zusammenhänge sich unter den Tatsachen ver­bergen, welche die äußere Maja eigentlich enthält. Im Zeitalter der Bewußtseinsseele kann es gar nicht anders gehen, als daß die Menschen sich aufklären über solche Dinge. Denn das heißt ja, bewußt werden, daß man nicht mehr unbewußt hinlebe. Denken Sie, wir stehen doch alle drinnen in dem, was nur dadurch herbeigeführt worden ist, daß - wie sich ein gewisser Brief in den Evangelien ausdrückt - das Tier in Fesseln geschlagen worden ist durch den Christus Jesus. Das ist eine höchst merkwürdige Tatsache, daß in diesem Brief des Jakobus, der in manchen Originalevangelien als echt angesehen wird, als apokryph von der abendländischen Kirche ausgegeben wird, gerade die wichtigste Tatsache von dem «die Waage halten» des Tieres durch den Christus Jesus ausgesprochen wird. Man wußte in gewissen Kreisen, was man nicht unter die Menschen des Abendlandes kommen lassen soll, wenn man verhindern will, daß die Erkenntnis über die Geheim­nisse Christi immer mehr und mehr in die Bewußtseins seele übergehen.

Wenn Sie das, was ich heute gesagt habe, nehmen, dann werden Sie auch nicht verwundert sein, daß der Schreiber der Apokalypse mit einem gewissen Temperament darüber spricht. Sie werden leicht das­jenige, was ich heute über das Zeitliche sage, vereinigen können mit dem, was ich von andern Gesichtspunkten aus über das Tier von 666 gesagt habe. Die Dinge sind ja immer von verschiedenen Aspekten her beleuchtet, Sie wissen, das müssen wir tun. Der Schreiber der

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Apokalypse drückt sich mit einem gewissen Temperament aus an der Stelle, wo er von dem Auftreten des Tieres spricht und unge£ähr sagt: «Die Zahl dieses Tieres ist 666, und es ist eines Menschen Zahl.» - Besser gesagt, es ist des Menschen Zahl, des Menschen, der sich sträuben will dagegen, zu sagen «Nicht ich, sondern der Christus in mir». Immer bewußter und bewußter müssen doch diese Dinge für die Menschen werden, da die Menschen schon einmal in das Zeitalter der Bewußtseinsseele eingetreten sind.

Aber nehmen Sie nur die Tatsachen, wie sie heute noch liegen! Bilden Sie daraus nicht eine tantenhafte Kritik, sondern eine Aufforderung zu wirklichem Tun, aber nehmen Sie doch die Sache, wie sie liegt. Würde man heute zu den ganz gescheiten Menschen der Gegenwart sprechen von solchen Dingen, wie wir eben gesprochen haben, denken Sie sich, man setzte sich mit jemandem von den auf irgendeinem Gebiete ganz gescheiten führenden Menschen der Gegen­wart zusammen und erzählte eine solche Sache: Malen Sie sich nur aus, was der sich für ein Urteil heute bildet! Aber nehmen Sie das, was Sie sich da ausmalen müssen, ja im rechten Ernste, dann werden Sie sich sagen müssen: Wir sind allerdings in das Zeitalter der Mensch­heitsentwickelung eingetreten, in dem man am wenigsten verstanden wird, wenn man von der geistigen Wissenschaft spricht, welche gerade diesem Zeitalter am allerangemessensten ist.

Ich möchte sagen, niemals haben zwei Parteien in der Welt sich so wenig verstanden, wie heute die geistige und die ungeistige sich ver­stehen. Das heißt, die geistigen können schon die ungeistigen ver­stehen, es ist ja auch nicht besonders schwer; aber die ungeistigen wehren sich mit Händen und Füßen und besonders mit dem Mund gegen irgendwie geartetes Verständnis des Geistigen.

Nun, wundern sollte man sich über diese Tatsache doch nicht, denn auch andere Dinge der Gegenwart passen ja wenig zusammen, und unser Zeitalter ist ja das Zeitalter der großen Diskrepanzen und der großen Disharmonien, wo Entgegengesetztes unmittelbar zusammenstößt. Wenn heute ein Mensch, der zu den «Gescheiten» ge­hört, einen Aufsatz über solche Dinge in die Hand bekommt, wie sie heute vorgetragen sind, so wird er sagen: Es ist merkwürdig, wie das

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in unser Zeitalter hereinkommt, es paßt doch gar nicht herein! - Denn er findet, daß dasjenige, was er denkt, allein in dieses Zeitalter herein paßt, er findet das andere gar nicht zusammenstimmend. Daß es, wenn auch nicht sinnlich, so doch übersinnlich zusammenstimmt, das wollen wir morgen und übermorgen besprechen.

Aber andere Dinge stimmen auch nicht in unserer Gegenwart zu­sammen. Man nehme nur einmal so recht mit dem Ernste einer Lebensbetrachtung solche Schilderungen in die Hand, reflektierende Schilderungen, wie es die Menschheit bis ins 20. Jahrhundert herein so herrlich weit gebracht habe in Humanität, in gegenseitigem Ver­ständnis der Völker! Sie können aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts nach dieser Richtung großartig geschriebene Aufsätze, ganze Bücher finden, butterig geschrieben, süß geschrieben! Ein so richtig fortge­schrittener Mensch der Gegenwart empfand die Schilderung seines eigenen Zeitalters wie etwas, was er wie Honig ablecken konnte. Es gibt schon solche Schilderungen: zahlreich sind diese Schilderungen, wie es so herrlich weit gebracht hat diese Menschheit! Nun, und dann vergleichen Sie damit die Gegenwart seit vier Jahren, ob das so wirklich richtig zusammenstimmt.

Aber, es beruht das doch alles auf der Furcht, die man hat vor dem Eintreten in die Bewußtseinsseele. Denn indem man wirklich in das Zeitalter der Bewußtseinsseele eintritt, muß manches an Wahrheiten über die Menschenentwickelung herauskommen. Und deshalb kommt heute in den wichtigsten Sachen so viel Unsinn zustande, weil die Menschen Furcht haben, weil alle bewußt reden sollten und doch nicht bewußt reden wollen. Darüber wollen wir morgen weitersprechen.

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VIERZEHNTER VORTRAG Dornach, 12. Oktober 1918

Gestern haben wir ein außerordentlich wichtiges Faktum der Mensch­heitsentwickelung seinem inneren Wesen nach zu charakterisieren ver­sucht, wiederum von einem anderen Gesichtspunkte aus zu charak­terisieren versucht, als wir dies schon öfters getan haben, aber von einem außerordentlich bedeutungsvollen Gesichtspunkte aus. Rufen wir uns das kurz noch einmal in die Seele zurück. Ich habe gestern nämlich zu zeigen versucht, daß gewissermaßen eine Art Gleichge­wichtszustand in der Entwickelung der europäischen Menschheit dadurch erreicht worden ist, daß dem Ereignisse, welches nach der Zählung unserer Zeitrechnung 666 hätte eintreten sollen, das andere entgegengesetzt worden ist, das wir als das Ereignis von Golgatha bezeichnen. Ich habe gesagt: Die Menschheit unterliegt einer Ent­wickelung, die ihr gewissermaßen vorbestimmt ist durch diejenige Weltregierung, von der die Menschheit überhaupt ihren Ausgangs­punkt genommen hat. Verfolgt man in Einzelheiten diese menschliche Entwickelung, dann kommt man zu der Einsicht, wie gerade die Seele sich hineinstellen kann in irgendein Zeitalter, in das sie hineingeboren ist. Wir leben im sogenannten fünften nachatlantischen Zeitalter, das im 15. Jahrhundert begonnen hat und das sich ausdehnen wird bis zum Beginne des 4. Jahrtausends, bis zum Ende des 3. Jahrtausends. In diesem Zeitalter soll die Menschheit zu der Entwickelung der so­genannten Bewußtseinsseele kommen. Es werden also alle Angelegen­heiten dieses Zeitalters zuletzt doch nach dem Ziel hindeuten, das man bezeichnen kann als die Ausbildung der Bewußtseinsseele. Schmerz­liche und freudige Ereignisse, Prüfungsereignisse für die Menschheit und solche Ereignisse, die wir als göttliche Gaben auch zur Beseligung der Menschen bezeichnen können, alles Lichtvolle und Schattenvolle soll in diesem Zeitalter dazu dienen, den Menschen immer mehr und mehr aufzuklären über sich selbst und seinen Zusammenhang mit der Welt. Bewußt sich hineinstellen in die Welt und dadurch erst das er­ringen, wovon man in früheren Zeitaltern und bis heute so viel

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phantasiert hat, das man aber nie richtig erkannt hat, das erst erringen, erringen durch Selbstzucht, was man nennen kann die freie menschliche Persönlichkeit, die wirkliche, auf Seibsterziehung gegründete Hand­habung des Willens: das wird, heranziehend, die Aufgabe der Mensch­heit in diesem Zeitalter sein. Man könnte sagen, wenn man sich popu­lär ausdrückt: daß das so vor sich gehe, das ist der Ratschluß derjenigen göttlichen Wesenheiten, mit denen der Mensch von seinem Ausgangs­punkte an verbunden ist, die ihn fortführen von Stufe zu Stufe, denen aber von zwei Seiten her widerstreben diejenigen Mächte, die wir ge­wohnt sind, die ahrimanischen und die luzifer schen Mächte zu nennen.

Nun habe ich gesagt: Denken wir einmal hypothetisch, das Ereignis von Golgatha wäre nicht gekommen, kein Christus hätte sich ent­schlossen, sein göttliches Schicksal mit dem Erdenmenschen-Schick­sale zu verbinden, was wäre dann geschehen? Man kann die Geschichte nicht kennenlernen, wenn man nur dasjenige notifiziert, was sich zeigt; denn man wird niemals zu einer wirklichen, richtigen Abschätzung der Ereignisse kommen, wenn man nur das ins Auge faßt, was sich zeigt. Werden wir zum Beispiel heute von irgendeinem Ereignisse befallen, welches verhindert, daß wir irgend etwas unternehmen, was wir unternommen hätten, wenn dieses Ereignis nicht eingetreten wäre, werden wir zum Beispiel verhindert, morgen irgendwo zu erscheinen, wo uns durch irgendein Eisenbahnunglück vielleicht der Tod ge­troffen hätte: dann kann man nicht sagen, daß man das Ereignis heute richtig wertet, wenn man es nur notifiziert. Denn dieses Ereignis kann ja ganz gewiß, wenn wir es nur an sich betrachten, ein höchst unbe­deutendes Ereignis sein, uns nur abhalten, da zu sein, wo uns morgen der Tod getroffen hätte; und wenn wir nur das Ereignis betrachten, das uns heute getroffen hat, so können wir es nicht verstehen. Gerade deshalb, weil die Menschen nur sinnliche und Verstandeswissenschaft treiben, niemals fragen, was hätte geschehen können, deshalb können sie die Ereignisse nicht in ihrem wahren Wirklichkeitswert beurteilen, deshalb kommen sie auch dann nicht zu einer Einsicht in den wahren Wirklichkeitswert der Ereignisse.

Also wir stellen die Frage: Wenn wir hypothetisch annehmen, daß der Christus nicht sein göttliches Schicksal mit dem menschlichen

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Schicksale verbunden hätte durch das Ereignis von Golgatha, was wäre geschehen? Nun, ich habe Ihnen gestern gesagt: Es wäre ge­schehen, daß im Jahre 666 durch gewisse Maßnahmen, die da möglich geworden wären, die Menschen einen ganz andern Punkt ihrer Ent­wickelung durchgemacht hätten; daß dann die Menschen durch ge­wisse auftretende Genies eine Unsumme von großer Weisheit, etwas phantastischer Weisheit, aber eine Unsumme von Weisheit erlangt hätten. Diese Weisheit würde deshalb für die Menschheit eine so unge­heure Bedeutung gehabt haben, weil im natürlichen Gang der Entwickelung, wenn die Menschen, so wie es ihnen vorbestimmt ist von ihren mit ihrem Ursprunge verbundenen göttlichen Geistern, sich langsam zu dieser Weisheit entwickelten, noch Jahrtausende, wie ich angedeutet habe, darauf werden warten müssen. Sie werden es auch in anderer Weise erhalten, weil sie es durch die eigene Anstrengung be­kommen.

Also, es hätte sozusagen etwas vorweggenommen werden sollen, was die Menschheit durch eigene Anstrengung im Laufe langer, langer Zeiten erst bekommen kann. Die Menschheit hätte es in unreifem Zustande erlangt. Man kann sich heute kaum ausmalen, wie die Ge­schichte der sogenannten zivilisierten Menschheit verlaufen wäre, wenn dieses Ereignis eingetreten wäre. Wie aus einem Instinkt, aber aus einem genialen Instinkt hätte die Menschheit ein unreifes Wissen erlangt. Ungeheure Verwirrung wäre angerichtet worden. Aber noch etwas anderes: Die Menschen wären auf einmal gewissermaßen über­schüttet worden mit diesem Wissen, dadurch wie paralysiert, wie gelähmt, und ihre zukünftige Entwickelung wäre abgeschnitten wor­den. Sie wären nur dazu gekommen, jetzt nicht auf natürliche Weise, wie das hat geschehen sollen seit dem 15. Jahrhundert, sondern auf künstliche Weise schon im 7. Jahrhundert eingeimpft zu bekommen die Bewußtseins seele; aber die ganze Entwickelung zum Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmenschen würde dann weggefallen sein. Der Mensch würde ein außerordentlich vollkommener Erdenmensch ge­worden sein, aber seine Entwickelung zu höheren Stufen würde aus­geschlossen gewesen sein. Das ist dasjenige, was in einer so, ich möchte sagen, temperamentvollen Weise - und ich meine diese temperamentvolle

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Weise wirklich in allem Ernste, nicht wie man das Wort sonst gebraucht - in der Apokalypse, in der Offenbarung des Johannes an­gedeutet wird als die Erscheinung des Tieres. Da wird hingewiesen auf die Zahl 666, was ja so vielen Gelehrten so viel Mühe gemacht hat, um es aufzuklären. Sie haben alle mehr oder weniger vorbeigeraten.

Nun mußte früher - um vorzusorgen, daß dies nicht in der Mensch­heit stattfände und damit die Menschheit eine Gegenkraft habe - das Ereignis von Golgatha in die Entwickelung der Menschheit eintreten, nachdem sie dasjenige aufnehmen konnte, was durch die Erscheinung des Christus Jesus dann eben in die Menschheitsentwickelung einge­flossen ist.

Das ist wiederum ein Gesichtspunkt, um richtig zu beurteilen, was das Ereignis von Golgatha in der Menschheitsentwickelung ist. Es ist dasjenige, was der ganzen Erdenentwickelung ihren Sinn gibt. Ich habe deshalb schon immer gesagt, nur um anzudeuten, was das Ereig­nis von Golgatha für die Erdenentwickelung ist: Wenn von einem andern Planeten unseres Sonnensystems ein Wesen, das gleichwertig wäre mit einem Erdenmenschen, aber diesem Planeten nicht ent­sprechen würde, eines Tages herunterkäme auf die Erde, ihm natürlich auf der Erde alles mögliche unbekannt sein würde; es könnte ein solches Wesen, wenn es plötzlich wie hereingeschneit wäre in das Erdendasein, alles mögliche nicht verstehen, aber eines würde jenes Wesen verstehen. Wenn Sie ein Wesen, von wo immer es herkäme, führen würden vor Leonardos «Abendmahl» und den Christus in seiner Handlung ihm zeigen würden, dann würde dieses Wesen eine Ahnung bekommen nach seiner Art von dem Sinn der Erde. Sie könnten ihm sonst zeigen, was auf der Erde an Naturprodukten vorhanden ist, was auf der Erde an Kunstwerken vorhanden ist: es würde nur dasjenige verstehen, in das in irgendeiner Weise hineinverwoben ist das Schick­sal des Christus Jesus. Was ich gestern ausgeführt habe, das ist herausgeholt - wie ich schon vor acht Tagen bei einer andern Gelegenheit gesagt habe für etwas anderes - rein aus der geistigen Anschauung. Diese geistige Anschauung, die kann allein für den heutigen Menschen die Führerin sein zu lebenswichtigen Tatsachen. Durch die Anschauung

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desjenigen, was sich im Laufe der Zeit vollzieht, mit den über­sinnlichen Sinnen, ergibt sich für das Jahr der Geburt des Christus Jesus und für das Jahr 666 dieser Gegensatz. Aber schauen wir uns jetzt die äußerliche Geschichte daraufhin an. Fragen wir die äußere Geschichte: Gibt sie uns irgendwo eine Bestätigung dafür, daß so etwas wirklich stattgefunden hat?

Nun, da ja die äußere Gelehrsamkeit nicht viel weiß von diesen Dingen, so hat sie auch niemals sehr stark die Ereignisse aufgezeich­net. Aber wenn man die Wahrheit kennt, dann ist es schon so, daß man auch in der äußeren Geschichte geführt wird auf diejenigen Er­eignisse, die dann Aufschluß geben können über Allerwichtigstes. Sehen Sie, hier im Leben geschehen gewisse Dinge. Hinter diesen Dingen steht die geistige Welt. Derjenige, der die Zusammenhänge kennt, weiß dann, wie das eine oder das andere, was geschieht, auf seinen geistigen Hintergrund zu beziehen ist. Derjenige, welcher das Herankommen der neueren Menschheit aus der alten griechisch-lateinischen Zeit, griechisch-römischen Kulturentwickelung betrachtet, dem bleibt, wenn er nur das Äußerliche der Geschichte betrachtet, vieles, vieles rätselhaft. Aber die inneren Zusammenhänge klären die Dinge auf.

Nehmen Sie einmal das Ereignis, das ja die äußere Menschheit nicht viel interessiert, aber das doch ein außerordentlich bedeutsames Er­eignis ist, nehmen Sie den Umstand, daß 529 der Kaiser Justinianus den griechischen Philosophenschulen das Verbot entgegenhält, weiter zu funktionieren; die griechischen Philosophenschulen, den Glanz des Altertums, verbietet. So daß dasjenige, was an Gelehrsamkeit aus uralten Zeiten eingezogen ist in die griechischen Philosophenschulen, was erzeugt hatte einen Anaxagoras, einen Heraklit, später einen Sokrates, einen Plato, einen Aristoteles, durch diesen Erlaß des Kaisers Justinian 529 aus der Welt geschafft wurde. Gewiß, man kann nach dem, was die Geschichte enthält, nun sich Vorstellungen darüber machen, warum dieser Kaiser Justinianus die alte Wissenschaft in Europa sozusagen weggefegt hat; aber man bleibt, wenn man ehrlich über diese Dinge nachdenkt, unbefriedigt von all den Ausführungen, die man da erhält. Da walten, man spürt es, unbekannte Kräfte drinnen.

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Und sonderbar ist es, daß dieses Ereignis zusammenfällt - nicht ganz, aber geschichtliche Tatsachen, die manchmal auch ein paar Jahrzehnte auseinanderliegen, vor den späteren Blicken nehmen sie sich doch als zusammengehörig aus - mit der Vertreibung der Philo­sophen auch aus Edessa durch den Isaurer, Zeno Isaurikus; so daß sozusagen an wichtigsten Stellen der damaligen Welt die gelehrtesten Leute vertrieben werden. Und diese gelehrten Leute, welche bewahrt hatten die alte Wissenschaft, insofern sie noch nicht beeinflußt war von dem Christentum - also im 5. und 6. Jahrhundert unserer christlichen Zeitrechnung -, mußten auswandern. Sie wanderten aus nach Persien und gründseten die Akademie von Gondishapur.

Von dieser Gelehrtenakademie von Gondishapur wird eigentlich selbst unter den Philosophen wenig geredet. Aber ohne daß man das Wesen der von den Resten der alten Gelehrten begründeten Akademie von Gondishapur kennt, versteht man nichts von der ganzen Ent­wickelung der neueren Menschheit. Denn dasjenige, was an alter Gelehrsamkeit hingetragen hatten nach Gondishapur die Weisen, die von Justinianus und Isaurikus vertrieben worden waren, das bildete die Grundiage für eine ungeheuer bedeutsame Lehre, welche in Gondishapur dann im 7. Jahrhundert an die Schüler gegeben worden ist. Und in Gondishapur war es, wo man den Aristoteles, den alten griechischen Weisen, übersetzt hat. Und das Merkwürdige, was ge­schehen ist, das ist: Aristoteles - er wäre ja sonst wahrscheinlich ganz verlorengegangen -, er war zunächst in Edessa von den Gelehrten, dies später durch Isaurikus vertrieben wurden, ins Syrische übersetzt wor­den. Die syrische Übersetzung wurde nach Gondishapur gebracht, und in Gondishapur wurde der syrische Aristoteles ins Arabische übersetzt. Und diese Übertragung des Aristoteles aus dem Griechischen ins Arabische auf dem Umwege des Syrischen, die enthielt etwas sehr Merkwürdiges. Wer einen Einblick gewinnt in die Veränderungen, die vorgehen mit Gedanken, wenn man sie aus einer Sprache in die andere wirklich übersetzt, zu übersetzen versucht, der wird begreifen können, daß gewissermaßen etwas - nun, ich will es hypothetisch sagen - wie Absicht darinnen liegen konnte, nicht den griechischen Aristoteles zu nehmen, sondern den Aristoteles, der den Weg über

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das Syrische ins Arabische genommen hat. Und da kam denn durch die Übersetzung des Aristoteles eine Grundlage zustande, in der die aristotelischen Begriffe in dem Lichte der arabischen Seele, wie sie damals war, erschienen, dieser merkwürdigen Seele der Araber, wie sie damals war, wo schärfstes Denken verbunden war mit einer ge­wissen Phantastik, welche aber in logischen Bahnen verlief und bis zum Schauen sich erhob. Und nun, im Lichte dieser eigentümlichen Lehre, dieser eigentümlichen Anschauung entwickelte sich zu Gondi­shapur eine gewaltige Weltanschauung. Zu Gondishapur war es, wo im 7. Jahrhundert das geschah, was ich angedeutet habe.

Was ich angedeutet habe, ist nicht ein phantastisches Ereignis, es ist nicht einmal etwas, was ganz und gar nicht auf der Erde war; son­dern zu Gondishapur wurde schon gelehrt dasjenige, wovon ich gestern gesprochen habe: dasjenige, was - aufgefaßt in seiner Wesen­heit - der größte Gegensatz, der denkbar größte Gegensatz ist gegen­über dem, was aus dem Ereignis von Golgatha sich entwickelt hat. Und es war ein gewisses Bestreben bei den Weisen von Gondishapur. Dieses Bestreben war - und es war genau das, was ich gestern erzählte und vorhin andeutete - eine umfassende Wissenschaft, die hätte er­setzen sollen die Anstrengungen der Bewußtseinsseele, die aber den Menschen zum bloßen Erdenmenschen gemacht hätte, ihn abge­schlossen hätte von seiner wirklichen Zukunft, der Hineinentwicke­lung in die geistige Welt. Weise Menschen würden entstanden sein, aber materialistisch denkende Menschen, reine Erdenmenschen. Tief hinein hätten sie sehen können auch in das geistige Irdische, in das Ubersinnlich-Irdische; aber abgeschnitten gewesen wären sie gerade von derjenigen Entwickelung, die dem Menschen zugedacht ist von seinen Schöpfern mit dem Geistselbst, Lebensgeist und Geistesmen­schen. Und wer eine Ahnung hat von der Weisheit von Gondishapur, der wird sie zwar halten für eine der Menschheit im höchsten Sinne gefährliche, aber er wird sie zu gleicher Zeit halten für ein unge­heueres Phänomen. Und die Absicht bestand, nicht nur die Umgegend, sondern die ganze damals bekannte zivilisierte Welt, nach Asien und Europa überall hin, mit dieser Gelehrsamkeit zu über­schwemmen.

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Die Ansätze waren dazu auch gemacht. Aber es wurde abgestumpft dasjenige, was von Gondishapur ausgehen sollte, gewissermaßen zurückgehalten von retardierenden geistigen Kräften, die doch zusammenhingen, wenn sie auch wiederum eine Art von Gegensatz bilden, mit dem, was durch den Christus-Impuls beeinflußt war. Es wurde abgestumpft dasjenige, was von Gondishapur ausgehen sollte, zunächst durch das Auftreten Mohammeds, indem Mohammed eine phantastische Religionslehre verbreitete. Vor allen Dingen über die­jenigen Gegenden, über die man verbreiten wollte die gnostische Weisheit von Gondishapur, nahm er sozusagen dieser gnostischen Weisheit von Gondishapur das Feld weg. Er schöpfte sozusagen den Rahm weg, und dann segelte dasjenige nach, was von Gondishapur kam, und konnte nun nicht durch dasjenige durch, was Mohammed getan hatte. Das ist gewissermaßen die Weisheit in der Weltgeschichte; man kennt auch den Mohammedanismus erst richtig, wenn man zu den andern Dingen noch weiß, daß der Mohammedanismus dazu bestimmt war, die gnostische Weisheit von Gondishapur abzustumpfen, ihr die eigentliche, stark ahrimanisch versucherische Kraft, die sie auf die Menschheit sonst ausgeübt hätte, zu nehmen.

Nun, ganz verschwunden aber ist nicht diese Weisheit von Gondi­shapur. Man muß allerdings sorgfältig die Entwickelung der Mensch­heit seit dem 7. Jahrhundert bis in unsere Zeiten herein verfolgen, wenn man verstehen will, was im Zusammenhange mit der gnosti­schen Bewegung von Gondishapur geschehen ist. Das ist nicht er­reicht worden, was der große Lehrer, dessen Name unbekannt ge­blieben ist, der aber der größte Gegner des Christus Jesus war, was der in Gondishapur den Schülern beigebracht hat, aber etwas anderes ist doch erreicht worden. Nur muß man, um es zu erkennen, sorg­fältige Studien machen. Man kann die Frage aufwerfen: Wodurch ist denn eigentlich die gegenwärtige Naturwissenschaft zustande ge­kommen, diese eigentümliche naturwissenschaftliche Denkweise? Das, was ich jetzt sage, ist sogar sorgfältigen Historikern nicht unbe­kannt. Diese gegenwärtige naturwissenschaftiiche Denkweise, wie ich sie Ihnen gestern wiederum charakterisiert habe, sie ist nicht dadurch zustande gekommen, daß sich irgend etwas aus dem Christentum

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in gerader Linie entwickelt hat; nein, die gegenwärtige natur­wissenschaftliche Denkweise hat sozusagen mit dem Christentum als solchem in Wirklichkeit nichts zu tun. Man kann Schritt für Schritt, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verfolgen, wie, zwar abgestumpft, die gnostische Gondishapur-Weisheit über Südeuropa und Afrika nach Spanien, nach Frankreich, nach England sich hineinverbreitet hat und dann über den Kontinent, gerade auch auf dem Umwege durch die Klöster; kann verfolgen, wie das Übersinnliche herausgetrieben und nur das Sinnliche zurückbehalten wird, sozusagen die Tendenz, die Intention zurückbehalten wird; und es entsteht aus der Abstumpfung der gnostischen Weisheit von Gondishapur das abendländische naturwissenschaftliche Denken.

Besonders interessant ist es, den Roger Bacon nach dieser Richtung zu studieren, nicht Baco von Verulam, sondern Roger Bacon, der zeigt, trotzdem er Mönch ist - aber ein von seinen Kollegen nicht sehr angesehener Mönch -, wie in ihn eingeflossen ist die gnostische Weis­heit von Gondishapur. So wenig kennen die Menschen heute die Quellen desjenigen, was in ihren Seelen wirkt, daß man glaubt, vor­urteilsloses naturwissenschaftliches Denken zu haben, während dieses vorurteilslose naturwissenschaftliche Denken in Wahrheit aus der Akademie von Gondishapur heraus entstanden ist.

So ist es also nicht, daß dasjenige, was man herausholt aus dem geistigen Schauen, nicht nachgewiesen werden könnte; man muß nur die richtigen Wege einschlagen, um auch im äußeren Erfahrungsleben aufzuzeigen, wie das sich wirklich zugetragen hat, was aus dem Gei­stigen herausgeholt wird. Gerade solche Betrachtungen werden für die allernächste Zukunft der Menschheit von ungeheurer Bedeutung sein. Denn wenn die Menschheit aus der heutigen Verwirrung, der Verwirrung der letzten Jahre einen Weg finden will, so wird sie sich orientieren müssen über ihre Vergangenheit. Daß die Menschen heute die Veranlagung haben, alles sozusagen in naturwissenschaftlicher Orientierung zu schauen, das hat mit dem Christentum als solchem unmittelbar nichts zu tun, sondern das ist das Ergebnis aus den Voraus­setzungen heraus, die ich charakterisiert habe. So daß wir in der abendländischen Kulturentwickelung wirklich diese zwei Kräfte

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haben, diese zwei Strömungen: auf der einen Seite die christliche Strömung, auf der andern Seite dasjenige, was so tief beeinflußt hat das abendländische Denken, und was man studieren kann, gerade wenn man mittelaherliches Geistesleben studiert.

Dieses mittelalterliche Geistesleben, es wird recht einseitig studiert. Gehen Sie aber einmal hin und sehen Sie sich die Bilder an, die die Maler gemalt haben über die Art und Weise, wie sich die mittelalter­lichen Scholastiker gegen die arabischen Philosophen benehmen. Sehen Sie, wie da im Sinne der abendländischen christlichen Tradition der Scholastiker dargestellt wird, der mit seiner christlichen Lehre dasteht und mit dieser christlichen Lehre die Veranstaltung macht, die es ihm ermöglicht, diese arabischen Gelehrten unter seine Füße zu treten, immer wieder und wiederum dieses leidenschaftliche Motiv: mit der Kraft Christi die arabischen Gelehrten unter die Füße zu treten! Sehen Sie es auf den Bildern, die aus der christlichen Tradition des Abendlandes heraus entstanden sind, und begreifen Sie dann, daß in diesen Bildern alle Leidenschaft des Mittelalters lebt, das Christliche demjenigen entgegenzustellen, was hervorgegangen ist ursprünglich aus der Gegnerschaft gegen den Christus von der Akademie von Gondishapur aus, über die arabische Gelehrsamkeit herüber nach Europa. Und es erscheint dem, der die Zusammenhänge kennt, noch bei Maimonides-Rambam, bei Avicenna, überall erscheint der Nach­klang desjenigen, was ich Ihnen dargestellt habe. Denken Sie doch, der Mensch war dazu bestimmt, und das Mysterium von Golgatha sollte ihm dazu helfen, aus seiner Persönlichkeit heraus die Bewußt­seinsseele zu finden, um dann weiter aufzusteigen zu Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch. Da sollte er aber, von genialer gnostischer Gelehrsamkeit aus, unmittelbar durch Offenbarung etwas bekommen, ohne daß seine Bewußtseinsseele vom 15. Jahrhundert an sich zu ent­wickeln brauchte; wie eine Offenbarung aus der Genialität heraus sollte er da bekommen alles das, was er sonst in eigener persönlicher Tüchtigkeit hätte dann finden müssen im Zusammenhange mit den für ihn bestimmten, ihn bestimmenden göttlich-geistigen Wesen­heiten, zu denen eben der Christus Jesus auch gehört.

Danach richteten sich auch die Gedanken noch bei denen, welche,

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schon ganz abgestumpft, die gnostische Weisheit von Gondishapur hatten wie Averroes. Wer begreift denn eigentlich, wenn er jene törichten Notizen ohne Zusammenhang, die man heute über Averroes in den Lehrbüchern findet, liest, warum Averroes, der spanisch-arabische Gelehrte, sagte: Wenn der Mensch stirbt, so fließt nur die Substanz seiner Seele in die allgemeine Geistigkeit aus; der Mensch hat keine persönliche Individualität, sondern alles, was Seele ist in dem einzelnen Menschen, ist nur Spiegelung der einen All-Seele? - Warum sagte Averroes dies? Weil das ein Zweig ist der Weisheit von Gondishapur, die den Leuten klargemacht hat, nicht daß jeder einzelne die Bewußt­seinsseele entwickeln soll, sondern daß ihnen die Bewußtseinsseelen­-Weisheit als eine Offenbarung von oben herunter zukommen sollte. Dann wäre sie eine ahrimanische Offenbarung gewesen; aber es wäre tatsächlich mit der Menschheit so geworden, daß der Inhalt der Be­wußtseinsseele ein monistischer geworden wäre, und die einzelnen Bewußtseine im Grunde genommen nur Schein geworden wären. Alle Dinge hellen sich auf, die in der abendländischen Kulturent­wickelung leben, wenn man die Dinge geistig betrachtet. Nun müssen wir uns immer wieder und wiederum fragen, erstens: Wie kann diese Entwickelung zur Bewußtseinsseele hin stattfinden? Sie muß ja statt­finden. Zweitens: Was hindert den Menschen heute daran, zur Geistes­wissenschaft sich zu wenden, die ihm allein den Weg weisen kann zur Bewußtseinsseele?

Nun, ich habe Ihnen gestern ausgeführt: Das Naturwissen, auf das die heutige Menschheit besonders stolz ist, dieses Naturwissen führt eigentlich zu Vorstellungen, die nicht die Natur wiedergeben, sondern die eigentlich ein Gespenst enthalten. Dasjenige, was die Menschen wissen über die Natur, das ist nicht Naturwahrheit, das ist ein Gespenst, verhält sich zu der vollwertigen Natur, wie eben ein Gespenst zu einer vollwertigen Wirklichkeit sich verhält. Die Naturforscher wissen nur nicht, daß ihr Wissen ein gespenstisches ist, daß dasjenige, was sie vom Menschen wissen, nicht vom Homo ist, sondern vom Homunkulus. Nun wird der Fortgang der Entwickelung der Menschheit, der mit dem Charakter, den er jetzt hat, im 15. Jahrhundert begonnen hat und bis zum Ende des 3. Jahrtausends gehen wird, so sein, daß immer

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mehr und mehr der Mensch wird einsehen müssen, was er erringt mit so etwas wie zum Beispiel der Naturerkenntnis, wie er sich der Wirk­lichkeit nähert mit dieser Naturerkenntnis. Der Mensch wird nach Erkenntnis streben müssen, und er wird vermeiden müssen die Hindernisse, die ihm entgegentreten, wenn er sein Erkenntnisstreben entwickelt. Die wichtigsten Hindernisse - wir haben sie von einem gewissen Gesichtspunkte aus schon charakterisiert, wir wollen sie uns wieder vor die Seele rufen - entstehen dadurch, daß im naturwissen­schaftlichen Zeitalter, welches ein Kind der Akademie von Gondi­shapur ist, der Mensch eben nur ein gespenstisches Wissen erlangt, weil er sich über die Natur Vorstellungen macht, aus denen das Geistige heraus ist. Und wir können fragen: Warum tut denn der Mensch unseres Zeitalters dieses? Denn dann werden wir eine Vor­stellung bekommen von dem, was der Mensch zu überwinden hat. Warum will denn der Mensch unbewußt ein gespenstisches Naturwissen haben und ist noch so stolz und übermütig in diesem gespen­stischen Naturwissen? Warum?

Nun, in dem Augenblicke, wo man erkennt, voll erkennt, daß dieses Naturwissen nur ein Gespenst von der Natur gibt, fühlt man sich auch veranlaßt, an die wahre Wirklichkeit heranzudringen, die hinter dem Gespenst ist. Man will dann die Wirklichkeit der Natur haben. Man könnte unsere naturwissenschaftliche Weltanschauung nämlich auch von der folgenden Seite aus charakterisieren. Man könnte sagen: Diese naturwissenschaftliche Weltanschauung kommt zu gespenstischen Vorstellungen, beruhigt sich bei ihnen, weil sie sich dem Glauben hingibt, damit hätte sie Vorstellungen über die wirkliche Natur, und dann erfindet sie allerlei Begriffe - die Atome, Moleküle und so weiter, welche, wie Sie wissen, ja durchaus nicht vorhanden sind, sondern nur erfunden sind -, erfindet allerlei Ge­setze, wie Erhaltung der Kraft, Erhaltung des Stoffes, die es in Wirk­lichkeit nicht gibt. Sie sucht alles mögliche Hypothetische hinter dem, was es nicht gibt, hinter dem, was sie nach Naturgesetzen als ge­spenstisch vorstellt. Warum tut sie das? Ja, weil die schon erwähnte geheime Furcht in den Untergründen der Seele sich sogleich geltend macht; nur weiß der Mensch von dieser Furcht nichts, weil es eine

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unbewußte Furcht ist. Ich könnte es auch Feigheit nennen. Denn was würde geschehen, wenn der Mensch sich mutig gestehen würde: Du willst doch einen Begriff von der Natur, nicht ein Naturgespenst, du mußt also zur Wirklichkeit vordringen? - Dann findet man nicht Atome, dann findet man nicht Moleküle, nicht Ostwaldsche, Haeckel­sche Begriffe, dann findet man den Ahriman und seine Scharen! Dann wird die Sache geistig. Derjenige, der wirklich durch wahre Natur­wissenschaft zu der Realität vordringt, der findet den Ahriman. Davor fürchten sich aber die Menschen, denn sie glauben in den Abgrund zu stürzen, wenn sie dort, wo sie bloß den Stoff suchen, der in Wahrheit nicht da ist, den Geist finden. Denn zunächst zeigt sich der Geist, den man nicht anbeten kann, sondern vor dem man sich schützen muß, über den man zur vollen Klarheit kommen muß.

Wahrhaftig nicht aus einem Willkürakt heraus ist in unserer Gruppe drüben der Christus mit Ahriman und Luzifer zusammengestellt, sondern deshalb ist er da zusammengestellt, weil das mit den tiefsten Lebensfragen unseres Zeitalters zusammenhängt, und weil die Dinge der Menschheit bekannt werden müssen, um die es sich dabei handelt. Unser Naturwissen ist ein gespenstisches, muß ein gespenstisches sein, solange man nicht den Mut hat, das Geistige zu suchen; aber da findet man Ahriman. Und unser Seelenwissen liefert uns nicht die wahre Seele, sondern nur ein Bild der Seele. Im Grunde genommen ist das, was heute als Psychologie auf den Akademien und Universitäten ge­lehrt wird, dasjenige, was nur ein Bild der Seele gibt. Und dieses Bild blendet über die Wirklichkeit, denn würde man auf demselben Wege, auf dem dies Bild zustande kommt, weiterforschen, dann würde sich Luzifer zeigen. Das ist das nächste Geistige, das man dann finden würde.

Ja, wer wirklich eindringen kann durch das auch historisch Abge­stumpfte, das heute noch da ist von dem, was in Gondishapur be­gründet werden sollte, der wird finden, daß diese Methode zu sehr genauen Kenntnissen führt über Luzifer und Ahriman. Aber sie sollte eben nur zu Luzifer und Ahriman führen, nicht zu der Führung der Menschheit durch den Christus Jesus.

Das ist etwas, was gefühlt worden ist bei den Scholastikern des

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Mittelalters, welche die arabischen Gelehrten unter die Füße haben treten wollen und sich immer in dieser Situation geschaut haben, was gefühlt worden ist, weil es zusammenhängt mit tiefsten Entwickelungs­impulsen der Menschheit. Dasjenige, was gewissermaßen, statt daß der Mensch es selbst erringen soll im Laufe der Jahrhunderte, dem Men­schen hätte geoffenbart werden sollen durch ahrimanische Vermitt­lung, das würde eine höchst gefährliche Weisheit gewesen sein. Die Menschheit ist auf dem Wege, diese Weisheit, die sich auf drei Dinge bezieht, durch die Bewußtseinsseele zu erringen; aber damals, im 7. Jahrhundert, sollte es auf dem Wege in die Menschheit kommen, den ich angedeutet habe. Auf drei Dinge bezieht sich diese Weisheit; nicht ist es eine Weisheit, welche die Menschheit nicht erringen soll, aber die sie erringen soll unter der Führung des Christus-Impulses. Die drei Dinge, auf die sich diese Weisheit bezieht, sind: Erstens die Natur von Geburt und Tod. Wir haben viel über diese Dinge gespro­chen, und Sie wissen aus der Art, wie wir über Geburt und Tod ge­sprochen haben, daß Geburt und Tod beim Menschen nur durch über­sinnliche Erkenntnisse zu bemeistern sind. Indem der Mensch geboren wird und indem der Mensch stirbt, scheint das Übersinnliche herein in das Sinnliche. Geburt und Tod bleiben Rätsel für den, der sie nur äußerlich-sinnlich begreifen würde, denn sie sind nicht sinnliche Er­scheinungen. Die sinnliche Erscheinung bei Geburt und Tod ist eine unwahre; in Wahrheit sind es übersinnliche Ereignisse. Aber wenn man versucht, übersinnlich in wirklicher Beobachtung die Geheim­nisse von Geburt und Tod zu erforschen, dann stellen sich für die Erkenntnis gewisse Begleiterscheinungen ein. Dann stellt sich vor allen Dingen die Begleiterscheinung ein, daß man erkennt: So, wie man hier in der Sinneswelt lebt, so hat man nur ein scheinbares see­lisches Leben. Gegen diese Wahrheit hat man sich im Abendlande durch Jahrhunderte gesträubt. Sie können das Sträuben verfolgen in meinem Buche «Vom Menschenrätsel»; gleich im Anfange spreche ich davon. Nur mußte ich mich vorsichtiger ausdrücken, weil man ja der äußeren Welt diese Dinge heute noch nicht hingeben kann; sie findet es noch paradox. Aber Sie wissen ja, es geht durch die ganze abendländische Welt dasjenige, was Cartesius formuliert hat, was aber

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auf den Augustinus noch zurückgeführt wird, der Satz: Cogito ergo sum - Ich denke, also bin ich. - Die Menschen glaubten, im Denken die Realität der Seele zu erhaschen. Der Satz müßte anders lauten, wenn man die Wahrheit des in der Sinneswelt lebenden Menschen hinstellen wollte. Man müßte sagen: Ich denke, also bin ich nicht! -Denn in dem Augenblicke, wo wir anfangen, bloß zu denken, wo wir nur innerliches Denken entwickeln, sind wir nicht mehr. Was ist da in uns? Da ist allerdings eine sehr komplizierte Erscheinung, aber das wird uns heute und morgen klarwerden.

Nehmen wir an, dies wäre das menschliche Leben und dies wäre, was der Mensch als das vorstellende, als das denkende Wesen in sich erlebt durch das Leben hindurch: dann ist dieses nur ein Scheingebilde, es geht eigentlich wie eine hohle Röhre von Geburt bis zum

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Tode (siehe Zeichnung, rot), denn die Wahrheit, die liegt vorher. Vor der Geburt, oder sagen wir vor der Empfängnis, da liegt die Wahrheit . da sind wir wirklich in der geistigen Welt im Übersinnlichen, da sind wir wirklich, und an der Grenze, wo wir in die sinnliche Welt ein­treten, da wird nur ein Bild durchgelassen. Wir sind nur ein Bild unseres Lebens vor der Geburt oder vor der Empfängnis. Die Wahr­heit ist gar nicht diese, daß dasjenige, was jetzt lebt, zu Ihnen spricht; wenn ich zu Ihnen spreche, so sind das nur die durchgelassenen Bilder davon. In Wahrheit spricht dasjenige, was in der geistigen Welt war, noch heute. Wir sind nicht ewig dadurch, daß wir dauern, sondern da­durch, daß wir heute noch immer das sind, was wir in Wahrheit vor der Geburt oder Empfängnis waren, was hereinspricht in die Gegenwart.

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Dadurch, daß wir in unsere Leiblichkeit eingezogen sind, sind wir eigentlich zu einem Scheinbilde unseres Wesens für die Zeit des Erdenlebens geworden. Ich denke, also bin ich nicht - über diese tiefe Wahrheit wollte von Augustinus bis zu Cartesius die Philosophie Finsternis breiten. In dieser Finsternis wird man niemals die Ge­heimnisse von Geburt und Tod erkunden. Denn man frägt: Wann hat die Seele angefangen? Mit der Geburt. Wann hört sie auf? Mit dem Tode. Man sollte, wenn man die übersinnliche Wahrheit kennt, anders reden: Wann hat die Seele aufgehört, ihr Leben als Seele zu entfalten? Als wir geboren, beziehungsweise empfangen worden sind. Wann wird sie wieder anfangen, ihr Leben als übersinnliches Wesen zu ent­falten? Wenn wir sterben werden. - Hier auf Erden unterbrechen wir das, damit nicht dasjenige in unserem Leben allein wirkt, was über­sinnlich ist, sondern daß wir die Errungenschaften des Sinnlichen auf­nehmen können und mitnehmen können in unserem Gesamtleben. Nicht von einer schwärmerischen Asketik wird gesprochen, sondern selbstverständlich davon, daß das Erdenleben etwas absolut Notwendiges ist für das Gesamtleben des Menschen. Aber dieses Erdenleben ist gerade dadurch so bedeutsam und tritt mit dem Schein der Materialität auf, weil unser eigentliches Menschenleben als übersinn­licher Mensch aufhört, indem wir in das Erdenleben eintreten, und wieder beginnt, indem wir durch den Tod weiterleben.

Die Geheimnisse von Geburt und Tod, sie beginnen sich erst zu enthüllen, wenn wir uns als übersinnliches Wesen wissen, und wissen, daß wir nur Bild sind von dem, was wir vor der Geburt waren und nach dem Tode sind als seelisches Wesen. Dann müssen wir aber den Mut haben, darauf hinzuschauen, was in uns ist. Wenn da (siehe Zeichnung) nur eine hohle Röhre ist, nur ein Bild, dann müssen wir den Mut haben, uns zu sagen: Lassen wir uns vom Bilde nicht blen­den, sondern stellen wir uns in unserer Erkenntnis Luzifer gegenüber. Erkenntnis zu sammeln, die wirklich ersprießlich ist für das Leben, erfordert Mut, inneren Mut. Das muß immer wieder und wieder be­tont werden. - Das ist das eine: ein Wissen, das sich bezieht auf Geburt und Tod.

Das zweite ist ein Wissen, das sich bezieht auf unseren Lebenslauf

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selber. Dadurch, daß wir unser Verhältnis als Seele zum Leib falsch anschauen, berechtigt falsch anschauen aus den Gründen, die Sie in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» finden können, dadurch hat der Mensch auch eine falsche Anschauung über seinen Lebensverlauf. Den stellt er auch so vor nach dem Bilde, das ich vor einigen Tagen hier bei Ihnen angeführt habe vom «Vater Rhein». Sie erinnern sich, wie ich das Bild vom Vater Rhein gebraucht habe. Jemand stellt sich hin, schaut von der Brücke in Basel hinunter und sagt: Da sehe ich den alten Rhein. Den alten Rhein - ja, ich frage ihn dann: Was ist denn das, der alte Rhein? Das Wasser, das du da unten fließen siehst, das ist ganz gewiß nicht alt, denn das wird in der nächsten Stunde schon weit unten sein und in ein paar Tagen irgendwo im weiten Meere sein . alt ist es aber ganz sicher nicht. Und dasjenige, wovon du sprichst, das scheint mir nicht die bloße Ausgrabung und Ausbauchung der Erde zu sein zwischen den schweizerischen Bergen und der Nordsee. Also, was ist der Vater Rhein, der alte Rhein, von dem man oftmals spricht? Substantiell ist er gar nichts, es bleibt nichts Substantielles übrig, wenn Sie den Begriff des Vater Rhein nehmen. Ebensowenig bleibt in Wahrheit etwas Substantielles übrig, wenn Sie Ihre eigene Leiblichkeit nehmen. Diese eigene Leiblichkeit ist ein fortgehender Strom: Zer­störung, Wiedererneuerung der Säfte, Zerstörung, Wiedererneuerung der Säfte. Da bleibt nichts übrig als die Form, die ein Ergebnis des Geistes ist. In diese Form ergießt sich immer wiederum hinein das­jenige, was als Substanz erscheint, gießt sich hinein, wird zerstört, gerade just wie das Wasser im Vater Rhein.

Durch dasjenige, was in der äußeren Maja, in der Illusion in Wirk­lichkeit entsteht, schauen wir nicht diesen Fluß von stetiger Auflösung und Wiedererneuerung an, der die Wahrheit ist in bezug auf das äußere sinnliche Leben, sondern wir schauen etwas an, was geboren sein soll, Fleischlilumpen ist mit Knochen und Blut gefüllt, was dann größer werden soll, wächst, bis es ganz ausgewachsen ist und dann stehen bleibt bis zum Tode. Das ist ungefähr so vorgestellt, wie wenn wir uns den Vater Rhein als ein Wasserstück - was es natürlich nicht gibt -, aber wie wenn wir uns ein Wasserstück, nicht wahr, von den Schweizer Bergen bis zur Nordsee hin vorstellten und dazu ihn noch

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extra so vorstellten, daß er dann als ruhiges Wasserstück liegen bleibt in seinem Strombette drinnen; so stellen wir uns diese menschliche Leiblichkeit vor. Während sie in fortwährendem Flusse ist, glauben wir, daß sie irgend etwas Starres ist - man kann es nicht einmal in ein richtiges Wort fassen - zwischen Geburt und Tod. Würden wir uns richtig sehen, dann würden wir uns in fortwährendem Flusse sehen und gar nicht die Idee schöpfen können, daß das etwas zu tun hat mit unserem wahren Wesen, was da in fortwährendem Flusse ist. Würde man dasjenige aber sehen, was da fortwährend als Kräfte dem Auflösungs- und Erneuerungsprozeß zugrunde liegt, dann würde mit dem gegeben sein eine medizinische Wissenschaft, jene geistige medizi­nische Wissenschaft, die allerdings eine andere Gestalt haben würde, als die heutige medizinische Wissenschaft sie schon hat. Jene medi­zinische Wissenschaft können Sie nicht etwa danach beurteilen, daß Sie sagen: Nun ja, mit dieser medizinischen Wissenschaft werden also Krankheiten geheilt! - Es werden nicht Krankheiten geheilt, weil es sich nicht darum handeln kann, Krankheiten so zu heilen, wie es die heutigen Menschen haben wollen. Man kann mit wirklicher geistiger medizinischer Wissenschaft nur die gesundenden Kräfte in ihrer Totalität erhalten. Die wahre Heilkunde würde darinnen bestehen, das Leben so einzurichten, daß der Mensch die Kräfte beherrscht, die seine fortwährende Ausscheidung, Auflösung und Wiedererneuerung bewirken. Dann brauchte man keine Apothekerwaren, wenn nicht nur ein einzelner Mensch dies auf seine menschliche Persönlichkeit anzu­wenden weiß, sondern mit den andern Menschen zusammen so lebt, daß es Eingang gewinnen könnte in das ganze menschliche Geschlecht. Ich habe das öfters erwähnt. - Das ist das zweite.

Das dritte, was mit dieser Erkenntnis verbunden wäre, das ist nun eine wahre Naturwissenschaft. Ja, was ist nun wahre Naturwissen­schaft? Ich habe es öfter betont, Geisteswissenschaft bekämpft nicht die Naturwissenschaft, wie sie heute ist, aber sie weiß, daß diese Natur­wissenschaft nicht die Naturwirklichkeit gibt, sondern ein Gespenst. Und nicht darauf kommt es an, daß man dieses Gespenst bekämpft. Wir müssen schon nach unseren menschlichen Veranlagungen uns das Gespenst gefallen lassen. Nicht darauf kommt es an, daß man, so wie

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ich das gestern bei dem Philosophen Richard Wahle erzählt habe, dann em Gift ersinnt - wenn auch nur ein Gift gegen eine Philosophie, ein philosophisches, kein äußeres Gift -, um alle, die etwa naturwissen­schaftlich denken, aus der Welt zu schaffen, sondern darauf kommt es an, daß man gerade herausfindet, in welchem Sinne sie recht haben. Man sollte den Naturwissenschaftern sagen: Wenn ihr behaupten würdet, ihr forscht richtig, so geben wir euch vollständig recht, aber ihr müßt zu gleicher Zeit zugeben: Mit diesem im Sinne des Naturforschens richtigen Forschen kommt ihr nur zu Vorstellungen eines Naturgespenstes, nicht der Naturwirklichkeit. - Das muß man aber durchschauen. Das ist gerade die Aufgabe des Bewußtseinszeitalters, daß man die Dinge in ihrer Wirklichkeit durchschaut.

Nun wird der Natufforscher sagen: Ja, diese und jene Gründe habe ich, mir mein Naturwissen nicht zum Gespenst machen zu lassen! - Der Geistesforscher muß einwenden: Aber du tust ganz recht, ein gespenstisches Naturwissen zu haben. Denn wenn du irgendeine Natursubstanz suchst außerhalb des Gespenstes, dann tust du ja un­recht. Du tust nur recht, wenn du hinter dem Gespenst allerlei Ahri­manisches suchst, wenn du Geistiges dahinter suchst. Also du hast recht, wenn du ein gespenstisches Wissen suchst. - Nun, was ich Ihnen gerade über die Leiblichkeit des Menschen gesagt habe, das nimmt schon stark einen gespenstischen Charakter an. Und derjenige, der nun eindringt in die Natur von einem höheren Gesichtspunkte aus, der betrachtet als eine richtige Naturerscheinung, über die er sich nicht täuscht, eine ganz andere als jene, die gewöhnlich als robuste Natur­erscheinungen aufgeführt werden. Es ist ja das Eigentümliche - und ich werde über diese Erscheinung noch morgen sprechen -, daß uns die Welt trotzdem überall an irgendwelchen Punkten, ich möchte sagen, mit Fingern auf das Richtige hinweist. Irgendwo findet sich schon ein Hinweis auf das, was das Richtige ist, wenn man wissen will, wie man über die Realität von Naturerscheinungen, die um unsere Sinne herum sind, denken soll. Was soll man denn eigentlich betrach­ten? Gibt es in der Natur selbst etwas, was uns aufklärt?

Ja, es gibt etwas: zum Beispiel den Regenbogen; der Regenbogen ist so richtig ein Bild von einer Naturerscheinung. Denken Sie - Sie

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wissen es ja selbst - wenn Sie hinaufkommen würden, wo der Regen­bogen ist, Sie könnten da ganz bequem durchgehen, er ist nur durch das Zusammenwirken von gewissen Vorgängen bewirkt. So spektral wie der Regenbogen, so gespenstisch wie der Regenbogen - nur daß man es nicht merkt - sind alle Naturvorgänge; sie sind nicht das, was sie dem Auge oder dem Ohre oder den andern Sinnen sind, sondern sie sind der Zusammenfluß durch andere Vorgänge, die dann geistig sind. Wir treten auf den Boden, glauben dadrunten die Materie; in Wirklichkeit ist es nur dasjenige, was wir als Kraft wahrnehmen, so wie der Regenbogen, und indem wir auf das Feste zu treten glauben, ist es Ahriman, der von unten herauf die Kraft sendet.

Sobald wir über das bloß Spektrale, über das bloße Gespenstische der Naturerscheinungen herauskommen, treffen wir Geistiges. Das heißt, alles Forschen nach der sogenannten groben Materie ist über­haupt ziemlich unsinnig. Wird man einmal aufgeben - und die Mensch­heit wird es ovor dem 4. Jahrtausend tun - das Suchen nach dem Grobsinnlichen als der Natur zugrunde liegend, dann wird man auf etwas ganz anderes kommen, dann wird man überall in der Natur Rhythmen finden, rhythmische Ordnungen. Diese rhythmischen Ordnungen sind vorhanden, nur macht sich die heutige materialistische Wissen-schaft über diese rhythmischen Ordnungen in der Regel lustig. Wir haben diese rhythmische Ordnung bildhaft ausgedrückt in unseren sieben Säulen, in der ganzen Konfiguration unseres Baues hier. Aber diese rhythmische Ordnung ist in der ganzen Natur vorhanden. Rhythmisch wächst an der Pflanze ein Blatt nach dem andern; rhythmisch sind die Blumenblätter angeordnet, rhythmisch ist alles angeordnet. Rhythmisch tritt das Fieber ein bei einer Krankheit, flutet wieder ab; rhythmisch ist das ganze Leben. Das Durchdringen der Naturrhythmen, das wird wahre Naturwissenschaft sein.

Aber durch das Durchdringen der Naturrhythmen kommt man auch zu einer gewissen Benützung der Rhythmik in der Technik. Das ist dann das Ziel der künftigen Technik: durch zusammenstimmende Schwingungen, Schwingungen, die man im Kleinen erregt und die sich dann ins Große übertragen, durch das einfache Zusammenstimmen ungeheuere Arbeit zu verrichten.

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Nun werde ich Ihnen morgen des ausführlicheren zeigen, warum es wirklich weisheitsvoll ist von der christlichen Weltordnung, die in diesem Sinne die weisheitsvolle göttliche Weltordnung ist, die Mensch­heit im Laufe von Jahrhunderten reif werden zu lassen für diese Er­kenntnisse, von denen ich jetzt gesprochen habe, während sie die Akademie von Gondishapur dem Menschen einfach hat hinwerfen wollen. Denn die Menschheit muß etwas anderes anstreben, wenn diese Erkenntnisse über sie kommen sollen. Diese Erkenntnisse dürfen nur in die Menschheit hineinkommen, wenn erstens, gleichzeitig mit der Entwickelung nach diesen Erkenntnissen hin, stattfindet in dem breitesten Umfange innerhalb der Menschheit eine vollständig selbst­lose soziale Ordnung für den dritten Punkt. Man kann nicht eine rhythmische Technik einrichten, ohne in die Menschheit weiteres Unheil zu bringen, wenn nicht zugleich eine selbstlose soziale Ord­nung angestrebt wird. Eine egoistische Menschheit würde nur zu ihrem eigenen Unheil die rhythmische Technik erlangen. Und man kann jene mit der Heilkraft des Menschen identische Kraft, die ich an zweiter Stelle genannt habe, da, wo man Auflösungs- und Wieder­erneuerungsprozesse, Ausscheidungs- und Aufnahmeprozesse unter dem Einflusse dieser Kraft sieht, nicht ohne weiteres an die Menschheit ausliefern. Man kann diese Kraft nicht ohne weiteres der Menschheit überliefern - wie ich schon von andern Gesichtspunkten aus sagte -, wenn man nicht gleichzeitig züchtet innerhalb der Menschheit die absolute Gewissenhaftigkeit, die sich nicht nur bezieht auf das Verhalten des Menschen in bezug auf das äußerlich Bemerkbare, sondern auch in bezug auf das äußerlich Unbemerkbare; wenn der Mensch sich nicht nur dasjenige verbietet, was äußerlich sichtbar wird, son­dern sich nach einer gewissen Gewissensregel auch das verbietet, was äußerlich nicht sichtbar wird: das Denken, das Fühlen. Denn mit der Erkenntnis dieser Kraft, die verborgen wird dadurch, daß wir unseren Lebensstrom zwischen Geburt und Tod wie einen starren Körper anschauen, mit der Beherrschung dieser Kraft würde man ungeheueres Unheil wiederum anrichten können, wenn sie nicht sich entwickeln würde in dem Lichte der absoluten Gewissenhaftigkeit auch für das Unbemerkbare.

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Und das dritte würde dasjenige sein, was entsprechend ist meinem ersten Punkt, was entspricht der Erkenntnis der Geheimnisse von Geburt und Tod. Ja, diese Geheimnisse von Geburt und Tod, sie setzen in ähnlicher Weise voraus, daß die Menschheit erst einen ge­wissen Reifezustand durchmacht; denn sie setzen voraus, daß der Mensch sich wirklich bewußt gegenüberstellen kann Ahriman und Luzifer. Und de4enige, der ganz erwägen kann, was unter diesem ersten Punkt gemeint ist, der weiß das Folgende, das ich jetzt zum Schlusse vor Sie hinstellen will; morgen wird es weiter ausgeführt. Er weiß das Folgende: Man kann Naturwissen treiben als bloß ge­spenstisches Wissen, und nicht wissen, daß es bloß gespenstisches Wissen ist; man kann sich begnügen mit dem, was eine unwahre Erkenntnis ist. Das hilft einem, es hilft einem wirklich, denn man steht dann nicht vor der Gefahr, an Ahriman heranzukommen. Sie können sich den Ahriman unsichtbar machen; aber Sie müssen sich dann Naturerkenntnis bloß im heutigen Sinne, die aber nicht Wahrheit ent­hält, sammeln. Es ist eine gute Barriere gegen Ahriman, bei der Natur­erkenntnis, also auch bei der Unwahrheit, stehenzubleiben. Sie haben nur die Wahl, entweder Wahrheit zu wollen - dann müssen Sie auch Bekanntschaft machen mit dem, was als Ahrimanisch-Übersinnliches in der Welt wirkt - oder Unwahrheit zu haben. Züchten Sie die Un­wahrheit, sagen Sie: Das gespenstische Naturwissen gibt die wirk­liche Natur -, gut, dann bleiben Sie bei dem, was dem Ahriman recht ist; der will nämlich die Lüge, und er lebt von der Lüge. Und von dieser geheimen Lüge kann er erst recht leben; und nichts ist ihm lieber, als wenn diese Lüge waltet, die in der Anschauung besteht: das gespenstische Naturwissen ist wirkliches Naturwissen.

Und wiederum, ich habe über das gesprochen, was nur ein Schein ist von dem, was im Übersinnlichen ist; ich habe es dargestellt als das durchgelassene Bild. Da hat man auch die Wahl: Entweder man dringt zum Übersinnlichen vor - gut, dann muß man aber auch Auge in Auge, geistig natürlich, dem Luzifer sich gegenüberstellen -, oder man bleibt bei der Unwahrheit und betrachtet den Schein des See­lischen als das Wirkliche. Dann kann man aber niemals Aufschluß gewinnen über Geburt und Tod und über die Unsterblichkeit, denn

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man betrachtet gar nicht die Seele, die unsterblich ist, sondern bloß ein Bild. Das ist es, was ich heute vorläufig vor Ihre Seele hinstellen möchte. Morgen werden wir an diesen Gedanken anknüpfen.

Es ist ein wichtiger Gedanke: Der Erdenmensch hat die Wahl in dem heutigen Zeitalter der Bewußtseinsseele, die Wahrheit anzustreben; dann muß er mutig sich dem Geistigen gegenüberstellen. Oder er wählt, das Geistige zu meiden, dann kann er bei der Illusion bleiben, bei der Nichtwahrheit bleiben. Die Akademie von Gondi­shapur, die wollte dem Menschen ersparen das Streben nach Wahr­heit, wollte dem Menschen ersparen die Mühe der Weiterentwicke­lung, wollte ihm also offenbaren dasjenige, was sie selbst auf ahri­manischem Wege geoffenbart bekommen hat. Die Akademie von Gondishapur, die ihren letzten Schatten, ihr Gespenst in der naturwissenschaftlichen Illusion der Gegenwart hat, diese Akademie von Gondishapur wollte den Menschen zum reinen Erdenmenschen machen. Sie ist in ihren Bestrebungen überwunden worden durch dasjenige, was in die Menschheit schon vor ihrem Entstehen hinein­gestellt worden ist: durch das Mysterium von Golgatha. Davon dann morgen weiter.

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FÜNFZEHNTER VORTRAG Dornach, 13.Oktober 1918

Wir haben gestern gesehen, wie die Seelenverfassung, der wir zuzusteuern haben im Zeitalter der Bewußtseinsseele, sich gewissermaßen geschichtlich zubereitet hat. Halten wir uns nun klar vor die Seele, wie die äußere Weltsituation in bezug auf diese Dinge ist. Wir können gewissermaßen sagen, das Jahr 333 nach Christi Geburt stellt eine Art von Gleichgewichtszustand dar (siehe Zeichnung S.300), der deutlich zu vernehmen ist im geschichtlichen Werden, der aber in der äußeren Geschichte wenig zum Vorschein kommt, aus dem einfachen Grunde, weil sich um ihn die Sachen drehen, möchte ich sagen, und der Drehungspunkt eigentlich, auch selbst in mechanischen Bewegungen, als solcher nicht zu dem System gehört, das sich bewegt. Nehmen Sie eine Waage: Sie sehen die Bewegung der Waagschalen, der Waagebalken; doch der Drehungspunkt selbst, der ist etwas Ideelles, der ist etwas, was man nicht sehen kann. Aber er ist das Allerwichtigste, selbstverständlich; er muß vor allen Dingen unterstützt sein.

Erfassen müssen wir vor allen Dingen, was in diesem Jahre 333, das so wichtig ist, so unvermerkt geschehen ist für die äußere Welt, wie der Drehungspunkt einer Waage. Nun, dieses Jahr 333 ist eben der Mittelpunkt der vierten nachatlantischen Periode, der Mittel­punkt jener wichtigen Periode, die sich abgespielt hat von 747 vor dem Mysterium von Golgatha, als Rom gegründet worden ist, bis 1413 ungefähr, als der griechisch-lateinische Zeitraum zu Ende ging und jenes Zeitalter begann, das dann bis hinüber zum Ende des 4. Jalrrtausends dauern wird, und das unser Zeitraum der Bewußt­semsseele ist. Dieser Mittelpunkt im Jahre 333, der kommt also, wenn man die äußeren Ereignisse betrachtet, so wenig heraus wie der Mittelpunkt der Waage. Allein, mehr könnten wir schon 333 Jahre später zeigen, 666. Das ist das Jahr, von dem wir sagen konnten: Dasjenige, was dann später als die naturwissenschaftliche Denkungsart der Menschheit sich ausgebildet hat, es zeigt sich als vom Moham­medanismus abgestumpfte Unternehmungen der Akademie von

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Gondishapur. Das haben wir ja gestern versucht zu verfolgen, wie sich eine gewisse Art von Geistes- oder Seelenverfassung der Men­schen durch Südeuropa herüber ausbreitete und dann zu jener eigen­tümlichen wissenschaftlichen Stimmung wird, die wir in der modernen Naturwissenschaft eigentlich noch immer haben, die wir auch in der modernen Denkweise viel, viel verbreitet haben. Das sind also 333 Jahre von jenem Zeitalter an, wo man eigentlich nur noch sozusagen zurückblickte nach der alten Zeit, wenn man so war wie Julian der Abtrünnige. Bis 666 sind 333 Jahre; wenn wir dann zurückgehen, den andern Waagebalken nehmen, also 333 Jahre zurückgehen, haben wir gerade das Mysterium sich vorbereitend durch die Geburt des Christus Jesus.

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Nun haben wir ja alle diese Ereignisse im Grunde genommen so betrachtet, daß wir sagten: Was wäre in der Menschheitsentwickelung geschehen, wenn das Mysterium von Golgatha nicht dagewesen wäre? Denn die ganze Begründung der Akademie von Gondishapur und alles das, was sie bewirkt hat, das ist ja unabhängig vom Mysterium von Golgatha geschehen. Die Philosophenschulen in Athen, sie waren in einer gewissen Weise mit dem Christentum schon in Beziehung gekommen. Allein, Justinian hatte sie 529 geschlossen. Reine grie­chische Weisheit ging hinüber durch Syrien nach Gondishapur im neupersischen Reiche. Und alles übrige, was sich darangeschlossen hat, ist dann, wenn es nicht Abstumpfung ist, wenn es dasjenige ist, was eigentlich von Gondishapur aus beabsichtigt war, mit Aus­schluß des Christentums, mit Ausschluß des Mysteriums von Gol­gatha gedacht gewesen. Geschehen in der Wirklichkeit ist nichts, ohne daß der Impuls des Mysteriums von Golgatha seit dem Jahre Null

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unserer Zeitrechnung gewirkt hat; aber beabsichtigt ist vieles natür­lich gewesen.

Nun können wir sagen, auch das, was am Drehpunkte liegt, dasjenige, was im 4. Jahrhunderte tätig war in den Seelen, die nicht zum Christentum hinneigten, das ist auch nur rein zu betrachten, wenn man sich zunächst frägt: Wie wäre die Entwickelung der abendiändischen Menschheit geworden, wenn das Mysterium von Golgatha nicht statt­gefunden hätte? Man kann das schon studieren, selbst historisch, wie diese Entwickelung der abendländischen Menschheit geworden wäre, zum Beispiel bei Augustinus, der die beiden Seiten dem späteren betrachtenden Menschen darbietet. Er ist erst ganz unabhängig vom Christentum, versucht bei den Manichäern seine starken Weltan­schauungsrätsel sich zu lösen, und wird dann zum Christentum erst übergeführt.

Nun können wir aber weiter zurückgehen, und da kommt eine be­deutsame Frage zustande: Was wäre denn der Fall, wenn wir, gerade für die Zeit des Mysteriums von Golgatha, die Entwickelung betrach­teten und uns fragten, wie sah es denn dazumal aus, als das Mysterium von Golgatha drüben in Palästina stattfand, in all den von diesem Ereignis unberührten Gegenden? Das waren ja im Grunde genommen, außer dem engsten Wirkungskreise des Christus selbst, alle Gegenden des Erdenkreises. Wie sah es denn aus in all den Gegenden des Erdenkreises? Wie sah es insbesondere aus in Rom, wohin sich später als besonders wirksam der Impuls des Mysteriums von Golgatha aus­breitete?

Diese Frage ist für unsere Zeit von ganz besonderer Wichtigkeit, diese Frage ist wahrhaftig in unseren Tagen keine irgendwie bloß theoretische: Wie hat es in Rom ausgesehen, als in Palästina drüben das Mysterium von Golgatha sich vollzog? Denn wir werden nachher sehen, wie ähnlich, nur in einer etwas andern Sphäre, gerade unsere unmittelbare Gegenwart der Zeit ist, die man betrachten kann als die Zeit des Mysteriums von Golgatha. Man darf niemals das vergessen, was man leicht vergißt, wenn man jetzt, von hinterher, den Blick zu­rückwendet auf die Zeit des Mysteriums von Golgatha; man muß sich immer wieder und wiederum - aus einem Gemütsbedürfnis heraus

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muß das vor sich gehen - rein empfindungsgemäß versetzen in die Kultur des alten Römischen Reiches, wo ganz unbekannt war, daß da drüben eine einsame Menschenpersönlichkeit mit einigem Anhang auf­getreten war, die ein gewisses Leben durchgemacht hat, den Kreuzestod erlitten hat, und an die sich dann geknüpft haben die Erkenntnisse, die wichtigen Erkenntnisse der nachgeborenen Menschheit über Ge­burt und Tod. Man muß sich immer wieder und wiederum in die Vor­stellung versetzen: Trotzdem sich dieses Ereignis, welches heute als eine vollständige Sonne die Geschichte der Menschen überleuchtet, abgespielt hat im Beginne unserer Zeitrechnung, entwickelte sich ja alles seelische und äußere Leben so über den ganzen Erdkreis hin in den damaligen Zeiten, daß man nichts zur Kenntnis nahm von diesem palästinensischen Mysterium von Golgatha. Daher muß man sich die Frage aufwerfen: Wie sah es denn aus insbesondere in Rom?

Nun werden wir uns leichter verstehen, wenn wir geradezu ausgehen von dem, was man später, 666, in jenen Köpfen wollte, welche die Akademie von Gondishapur vorzugsweise hervorgerufen haben. Wie ich es gestern gesagt habe: Dasjenige, was erst später die Bewußt­seinsseele durch die eigene Arbeit der Menschen erlangen kann, wollte man durch eine Offenbarung, die man selber auf ahrimanischem Wege erhalten hat, den Menschen geben. Im Jahre 666 war ja noch das Zeitalter der Verstandes- und Gemütsseele; da konnten die Menschen durch sich selbst nicht so denken, daß sie über alles bewußt gewesen wären. Das aber wollte man ihnen geben: Man wollte etwas, was erst Jahrtausende später kommen sollte, nun früher der Menschheit geben. Umgekehrt lag die Sache, ganz umgekehrt im Jahre Null, in dem Zeitalter, in welchem sich das Mysterium von Golgatha selbst ab­spielte. 333 Jahre nach 333 wollte man der Menschheit etwas Zukünf­tiges geben, etwas, was ihr erst in der Zukunft vorbestimmt ist. 333 Jahre vorher, also eben um die Zeit des Mysteriums von Golgatha, da wollte man die Menschheit zurückdrängen auf dasjenige, was nach der Normalentwickelung der Menschen Jahrtausende früher in die Menschheitsentwickelung eingezogen ist.

Es ist sehr schwierig, über diese Dinge zu sprechen, aus dem Grunde, weil die Geschichte, die ja selber auch eine Geschichte hat, sich so

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entwickelte, daß über diese Dinge die Menschen eigentlich immer durch die Geschichte in Irrtum hineingetrieben worden sind. Man hat dasjenige, was eigentlich in den südlicheren Gegenden Europas sich wirkungsvoll zugetragen hat, verdeckt, man hat es nicht zum Wissen der Menschheit kommen lassen. Man schildert ja in der Geschichte zum Beispiel auch die Persönlichkeit des ersten römischen Kaisers Augustus. Aber was das für eine bedeutende, was das für eine ein­schneidend wirksame Persönlichkeit war, davon ruft man, absichtlich von gewisser Seite und von den meisten Seiten her unabsichtlich, eigentlich kein Verständnis hervor. Denn der Kaiser Augustus, der stand im Mittelpunkt römischer Bestrebungen, die ganz bewußt herbeizuführen suchten einen solchen Zustand der Weltkultur, welcher vor der Menschheit verdunkeln sollte alles das, was die Verstandesoder Gemütsseele gebracht hat, verdunkeln sollte das, was die Men­schen sich an Kultur seit dem Jahre 747 durch die eigene Arbeit hatten erringen können. Die Menschen sollten vor allen Dingen beschränkt werden auf dasjenige, was bis zu diesem Zeitalter, bis zum Zeitalter der Verstandes- oder Gemütsseele, was namentlich im Zeitalter der Empfindungsseele, der ägyptisch-chaldäischen Zeit, die Menschheit sich errungen hat.

Während also später, 666, die Weisen der Akademie von Gondishapur das Spätere bringen wollten in einer früheren Zeit, sollte zur Zeit des Kaisers Augustus ausgelöscht werden dasjenige, was der Mensch in der Gegenwart sich erringen kann. Dafür aber sollte er in alter Glorie, in alter Bedeutung dasjenige haben, was einer früheren Zeit, der Zeit des alten Persertums, der Zeit der alten ägyptisch-chal­däischen Kultur, der Menschheit eigen war. Und wenn man durch all das Gestrüppe, das als Geschichte sich angehäuft hat, auf die Wirk­lichkeit zurückblickt und sich dann frägt: Was ist es eigentlich, was man in Rom dazumal bewußt konservieren wollte, und was dann durch die Ausbreitung der Impulse des Mysteriums von Golgatha verhindert worden ist zu konservieren, was war es, das durch das Christentum verhindert worden ist, daß es konserviert werden konnte? - so kommt man auf folgendes.

Nun, es war vor allen Dingen ein zweifaches. Erstens wollte man

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konservieren den Sinn, den empfindender Sinn für die alten Kulte, für jene Kulte, welche vor Jahrtausenden schon gang und gäbe waren bei den Ägyptern und in Vorderasien, aber auch noch tiefer nach Asien hinein. Man wollte gewissermaßen den Verstand der Menschen ausschalten, die Intelligenz der Menschen unwirksam machen, bloß die Empfindungsseele zur Ausbildung bringen dadurch, daß man den Menschen all die bedeutenden, all die großartigen, gewaltigen Kulte vorführte, die in alter Zeit wirksam sein sollten, die wirksam waren in der Zeit, als die Menschen noch nicht zur Intelligenz gekommen waren, die wirksam waren in der Zeit, als aus der Empfindungsseele heraus der Kultus der Götter entstehen sollte, damit die Menschen nicht ohne Götter blieben. Da waren große, bedeutungsvolle Kulte, die das Nachdenken ersetzen sollten, die gewissermaßen in einem halb hypnotischen Zustande, nach alten atavistischen Sitten in den Seelen anregen sollten die Belebung des Gottesbewußtseins und der Gott­seligkeit. Dafür wollte man in Rom die Empfindung wiederum be­leben. Man lernt das Spezifische im Unterschiede zwischen dem Römertum und dem Griechentum, das aber dazumal seiner äußeren Vernichtung entgegenging, nur kennen, wenn man auf diese feineren Unterschiede hinschaut. Diese Empfindung, die insbesondere der Kaiser Augustus mit seinem mächtigen, nach rückwärts gewandten Initiationsimpuls in Rom einieiten wollte, diese Impulse, man kannte sie drüben in Griecheniand nicht. Der Grieche wollte nicht zurück­greifen in alte Zeiten. Der Grieche wollte dasjenige vor sich haben, was er selber verstehen konnte, womit er sich vereinigen konnte. Und wäre nicht später der christliche Impuls gekommen, sehr bald ge­kommen, hätte nicht der christliche Impuls sehr rasch gegen die In­tentionen des Augustus und seiner Nachfolger gewirkt, es wäre aus Rom ein noch viel größerer Glanz der Kultushandlungen entsprungen, als aus ihm entsprungen ist.

Also halten wir zunächst das eine fest: Nach den Intentionen des Augustus und seiner Bekenner sollte von Rom, ebenso wie später von der Akademie von Gondishapur eine spätere prophetische Weisheit ausgehen sollte, so von Rom ein mächtiger Kultus ausgehen, der die ganze Welt benebeln würde, indem er ihr nehmen sollte sowohl die

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Möglichkeit der Verstandesseele wie die der späteren Bewußtseinsseele. Hatte die Akademie von Gondishapur geradezu der Mensch­heit die Bewußtseinsseele geben sollen, um das Spätere abzuschneiden, um dadurch, daß die Bewußtseinsseele zu früh gekommen wäre, Geistselbst, Lebensgeist, Geistesmensch abzuschneiden, so wollte dasjenige, was in Rom geschehen sollte, die Bewußtseinsseele gar nicht herankommen lassen, wollte ebenso - schon 333 vor dem Wendepunkt - ausschalten die Verstandes- oder Gemütsseele und vor die Menschheit in mächtigen Seelenkulthandlungen dasjenige hinstellen, was zum Gottesbewußtsein führen soll. Das war die eine Seite, die man nach dem Eingeweihten Augustus in Rom einführen wollte.

Nun hat das, was Verstandes- oder Gemütsseele ist, immer zwei Aspekte. Es ist der eine Aspekt im wesentlichen jene Seite der Ver­standes- oder Gemütsseele, die hinunterneigt zur Empfindungsseele. Sie wissen, wenn wir gliedern, so haben wir Empfindungsseele, Ver­standes- oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele. Die erste, die sich zunächst entwickelt hat, ist die Empfindungsseele, deren Entwicke­lung 747 vor unserer Zeitrechnung abgeschlossen war. Die Verstan­desseele ist diejenige, die sich entwickelt von 747 bis ungefähr 1413 nach Christus - das sind annähernde Zahlen -, und seither ist das Zeitalter der Bewußtseinsseele. Nun ist die mittlere, die Verstandes- oder Gemütsseele, hinneigend auf der einen Seite zu der Empfindungsseele

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(Pfeil), wenn sie sich durchdringen will mit dem Alten, wie das eben gezeigt worden ist. Den Sinn, der aus der Empfindungsseele heraus gewonnen werden soll, den wollte der Augustus beleben. Was

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wird denn dadurch, daß man gewissermaßen zurückschraubt die Verstandes- oder Gemütsseele auf den Standpunkt der Empfindungsseele, was wird denn aus dem Teil, der hinneigt - er ist natürlich noch nicht entwickelt, aber er ist da - zur Bewußtseinsseele, aus dem mehr intelligenten Sinn? Man muß die Frage aufwerfen, und im Zeitalter des Augustus mußte sie ja als eine große Kulturfrage aufgeworfen werden: Was geschieht denn mit dem, was sich nach der Bewußt­seinsseele hin entwickeln will, wenn man diese Entwickelung ab­schneidet, wenn man es nicht kommen läßt zur Weiterentwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele? Was wird denn dann aus dem in der menschlichen Seele, was hinstreben will zur Bewußtseins seele? Was hinstrebt zur Empfindungsseele, das befriedigt man, mehr als es das Maß der normalen menschlichen Entwickelung gestattet, durch den Kultus, den man erneuert. Was aber gibt man dem, das hinstrebt zur Bewußtseinsseele? Man braucht nur das Wort zu nennen, das man in diesem Zusammenhang immer vermieden hat zu erwähnen, damit über eine gewisse Tatsache der Menschheitsentwickelung seit jener Zeit nicht das richtige Licht verbreitet werde, man braucht in diesem Zusammenhange nur das Wort zu nennen und man wird das Ver­ständnis schon fassen können. Man gibt auf der andern Seite der Seele, die man abfertigen will nach ihrer Empfindungsrichtung hin mit dem Kultus, die Rhetorik, die an Stelle des Durchdrungenseins der Seele mit Substanz, mit innerem Inhalt, nur Schale gibt, die dort, wo leben­dige Begriffe walten sollten, nach der Konfiguration der Worte, des Satzbaues strebt.

Ja, unter des Augustus Einfluß wurde in Rom etwas ganz anderes, als früher in Griechenland war. Mag das römische Gewand noch so ähnlich sein dem griechischen Gewand: der römischen Toga sieht man es nicht mehr an, daß man sich in ihrem Faltenwurf fühlt wie der Grieche, der sich drinnen erfühlt hat, sondern man sieht sie an von außen wie das Gewand, das dekorieren soll. Ein Abglanz der Kultus­verehrung ist selbst in der Form des Faltenwurfes der römischen Toga im Gegensatze zu dem griechischen Gewand noch erhalten. Und ein gewaltiger Unterschied würde empfunden werden, wenn man diesen Unterschied nur empfinden wollte, zwischen dem Demosthenes, der

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stotternd war und der trotzdem durch sein stotterndes Äußere das griechische Wesen zum Ausdrucke bringen sollte - nicht in Rhetorik! -, und den römischen Rhetoren, bei denen es darauf ankam, daß jedenfalls kein Stotterer unter ihnen sei, sondern einer, der die Wortfolge und den Satzbau wohl zu formulieren verstand.

Aus dem augusteischen Zeitalter heraus wollte man der Menschheit auf der einen Seite geben die unverstandenen alten Kulte. Man wollte geradezu anstreben, daß sich die Menschheit ja nicht mit dem Ver­ständnis über die Kulte hermacht, ja nicht frägt: Was bedeutet das­jenige, was im Kultus auftritt? Diese Gesinnung hat sich bis in unsere Zeiten auf den mannigfaltigsten Gebieten erhalten. Es gibt sogar Freimaurer heute, die einem etwas ganz Kurioses erzählen. Diesen Freimaurern sagt man zum Beispiel: Ja, ihr habt eine ausgebreitete Symbolik. In dieser ausgebreiteten Symbolik steckt viel darinnen; aber die heutige Freimaurerei kümmert sich gar nicht darum, was eigentlich diese Symbole bedeuten. - Wenn man den Leuten das sagt, dann antworten sie einem: Das finde ich gerade das Schöne in der heutigen Freimaurerei, daß sich jeder bei den Symbolen denken kann das, was er selber will. - Meistens denkt sich ein solcher, was er sich in seiner Einfalt gerade denken kann, und was sehr, sehr weit entfernt ist von der tiefen Bedeutung der Symbole, von der tiefen Bedeutung, die in die Menschengemüter und Seelengemüter hineinführt.

Das ist dasjenige, was man dazumal bewußt erzeugen wollte in Rom: Kultus, ohne zu fragen, was der Kultus für eine Bedeutung hat, ohne sich mit Intelligenz und Wille an den Kultus heranzumachen. Der andere Pol, der notwendig damit verbunden ist, ist die inhaltslose Rhetorik, jene Rhetorik, die nicht nur dann wirkt, wenn man Reden hält, sondern die zum Beispiel ganz als Rhetorik übergegangen ist in das Corpus iuris des Justinianus, und dann die abendländische Welt überschwemmt hat mit dem sogenannten römischen Recht. Dieses römische Recht verhält sich zu dem, was in den Seelen wirksam sein sollte, welche der Bewußtseinsseelenentwickelung entgegengingen, wie Rhetorik zu seelenwarmem Inhalt. Das ist, was jene fröstelnde Kälte, welche im römischen Recht liegt, über die Welt gebracht hat, daß das römische Recht sich verhält zu dem Seelenwarmen, wie Rhe­torik

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zu dem, was man, wenn man es auch stotternd sagt, aus Wärme und Licht der Seele heraus sagt.

Daß nicht aufs Höchste stieg, was Augustus gewollt hat, dafür sorgte, daß von Osten herüberwehte die Luft des Mysteriums von Golgatha. Aber dennoch hat sich, ebenso wie sich die Nachfolgeschaft der Akademie von Gondishapur in unserer heutigen Naturwissen­schaft erhalten hat, so die Nachwirkung dessen, was Augustus gewollt hat, erhalten; aber in der Form, wie er es wollte, hat sie es ebenso­wenig erreicht, wie die Akademie von Gondishapur erreicht hat, was sie wollte. Aus dem Impulse der Akademie von Gondishapur wurde einfach das Übersinnliche herausgetrieben: das ist bis auf die heutige Zeit die naturwissenschaftliche Gesinnung geblieben. Aber dieses Übersinnliche - wenigstens das große Übersinnliche, das wie eine wirkliche Erneuerung der alten Empfindungsseelenreligiosität Au­gustus wollte - wurde auch herausgetrieben. Es wurde dieses Über-sinnliche auch herausgetrieben, und es blieb von dem andern - das also zur Zeit des Mysteriums von Golgatha vorzugsweise in Rom gegründet worden ist - der Katholizismus, die katholische Kirche übrig; denn die katholische Kirche ist die wahre Fortsetzung des augusteischen Zeitalters. Daß die katholische Kirche die Form ange­nommen hat, die sie angenommen hat, beruht darauf, daß sie nicht sich begründet auf das Mysterium von Palästina, daß sie nicht sich be­gründet auf das Mysterium von Golgatha. Das hat nur seine Luft hineingeweht. Was in der katholischen Kirche lebt, das ist höchstens ihr Kultus. Dieser Kultus aber, der in der katholischen Kirche lebt, ist der Kultus, in den nur hineinverwoben ist dasjenige, was vom Mysterium von Golgatha herübergekommen ist; er ist aber in seinen Formen und Zeremonien herübergekommen aus dem Zeitalter der Empfindungsseele der Menschheit.

Recht kann man sich heute nur verhalten zu diesem katholischen Kultus, der wirklich etwas Heiliges, etwas Großes ist, weil er das Heilige, das durch Urzeiten der Menschheit webt, ja bringt - alles hat seine großen, seine gewaltigen Seiten, es darf nur nicht einseitig aus­gebildet werden -, richtig kann man sich nur verhalten zum Beispiel zu seinem Mittelpunkte, zu dem Meßopfer, das ein Abbild der höchsten

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Mysterien aller Zeiten ist, wenn man belebt dasjenige, was tot geworden ist und was bloß für die Empfindungsseele zugerichtet werden soll, durch dasjenige, was in der neueren Zeit über das My­sterium von Golgatha die anthroposophisch orientierte Geisteswissen­schaft wiederum zu sagen hat. Hineintragen kann man in das, was durch den Katholizismus vom Augusteischen konserviert worden ist, dasjenige, was wiedergefunden wird im normalen Entwickelungs­gange der Menschheit durch geisteswissenschaftliche Forschung; ebenso wie man hineintragen muß in das, was - ins Sinnliche abge­stumpft - von dem Wollen der Akademie von Gondishapur geblieben ist, dasjenige, was Geisteswissenschaft aus den geistigen Welten her­ausholen kann. In die Naturwissenschaft muß der Geist einziehen; in die sakramentalen Handlungen, welche die Menschen wieder finden müssen, muß der Geist einziehen. Mit seinem ganzen, schweren, be­deutungsvollen Inhalte wird das, was ich eben gesagt habe, nur der­jenige nehmen, welcher fühlt - und wer längere Zeit sich mit der Geisteswissenschaft befaßt hat, kann das fühlen -, wie ähnlich unsere Zeit in dem, was zum großen Teil unbewußt in den Seelen lebt, der Zeit ist, in welcher das Mysterium von Golgatha sich herangenaht hat an die Menschheit. Ich habe es ja öfter erwähnt, und Sie finden es dar­gestellt in dem ersten meiner Mysterien, in der «Pforte der Ein­weihung», daß so, wie dazumal ein Punkt da war, der nach einem Wendepunkt hinführte, so wie man dazumal zur entsprechenden Zeit, zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, vor diesem Wendepunkt des vierten nachatlantischen Zeitraums, 333, stand, wir heute auch vor einem wichtigen Wendepunkt stehen. Die Zeit ist etwas kürzer, weil die Bewegung der höheren Geister sich in der Geschwindigkeit ändert; man kann nicht so rechnen, daß man heute auch wieder 333 Jahre früher davor stehen soll. Es ändert sich so etwas im Laufe der Zeit; die Geschwindigkeit, mit der sich die einzelnen verschiedenen Geister der höheren Hierarchien fortbewegen, ändert sich. So stehen wir heute im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vor dem Herankommen eines wichtigen Menschheitsereignisses. Und alle Erschütterungen, alle Katastrophen sind nichts anderes als die erdbebenartigen Vor­gänge, die einem großen geistigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts

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vorangehen. Es ist das jetzt nicht ein Ereignis in der physischen Welt, sondern ein Ereignis, das die Menschen als eine Art Erleuchtung haben werden, das herangekommen sein wird, ehe das erste Drittel des 20. Jahrhunderts abgelaufen ist. Man kann es nennen, wenn man das Wort nicht mißversteht, das Wiedererscheinen des Christus Jesus. Aber der Christus Jesus wird nicht im äußeren Leib erscheinen wie zur Zeit des Mysteriums von Golgatha, sondern als wirkend im Men­schen, und man wird ihn empfinden übersinnlich: im Ätherleib ist er da. Derjenige, der sich darauf vorbereitet, kann immerfort in Visionen ihn empfinden, immerfort Ratschläge von ihm empfangen, kann ge­wissermaßen in ein unmittelbar persönliches Verhältnis zu ihm treten. Das alles, was uns so bevorsteht, ist vergleichbar dem, was die Römer vor dem augusteischen Zeitalter als das physisch reale Mysterium von Golgatha empfanden, das sich näherte.

Aber für solche Sachen muß man eben die Empfindung haben. Man muß fühlen an verschiedenen äußeren Erscheinungen, die sich abgespielt haben und die endlich in diese furchtbare Weltkatastrophe geführt haben, wie der Drang zum Kultischen wiederum in den Men­schen vorhanden ist. Im Grunde ist er langsam herangekommen. Bedenken Sie nur, studieren Sie einmal - aber ich bitte Sie, mit wachen Sinnen -, wie gerade feinsinnige Geister seit mehr als einem Jahrhun­dert wiederum diesen Drang fühlen, und aus dem nüchternen rationel­len Verstandesprotestantismus heraus wiederum zum Kultus streben. Sehen Sie, wie gerade diejenigen Geister, die etwas empfinden konnten von der ganzen Bedeutung, die der Kultus in der Seele hat, in den Romantikern nach der Katholizität hinstrebten. Weil sie noch nicht fähig waren, geisteswissenschaftlich sich aufzuhellen dasjenige, was sakramental in die Welt hineinstrebt, deshalb strebten sie nach der Katholizität hin. Solche Geister wie Novalis - und er ist nur durch seine besonders tiefe Geistigkeit, die sich in verhältnismäßig früher Jugend aus ihm entwickelt hat, eine besonders charakteristische Per­sönlichkeit -, sie sind nicht zufrieden im nüchternen Protestantismus, sie streben nach den Formen des Katholizismus hin, aber sie sind natürlich gesund genug, um bewahrt zu bleiben vor dem Übertritt in den Katholizismus. Sie drücken gerade dasjenige aus, was die Zeit

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ausdrucken muß, wenn sie noch gesund sein will: das Streben, in der Welt wiederum etwas Sakramentales, Kultmäßiges zu fühlen, aber nicht etwas, was nur alten Kult hinüberschleppen will, wie es ja auch heute viele da tun, wo invalide Geister auftreten, wo die Invallden des Geisteslebens auftreten, zu denen ich ja allerdings den mir seit Jahren bekannten, in früherer Zeit sehr befreundeten Hermann Bahr zähle. Wir sehen es an diesen Invaliden des Seelenlebens, wie sie hinneigen zu einem mißverstandenen Katholizismus auch in unserer Zeit, bei Hermann Bahr, bei Scheler, bei Börries von Münchhausen, bei all diesen Leuten - es ist eine große Zahl, und ich kenne viele davon -, sie streben in der Invalidität ihres Seelenlebens nach dem Katholizismus hin. Diese Seelenverfassung kennt man sehr gut, diese Seelenverfas­sung entspringt daraus, daß die Leute sich nicht aufraffen können zu einem tätigen inneren Seelenleben, zu einer wirklichen, mutvollen Aktivität des Seelenlebens, da sie, wie gesagt, Invalide des Seelen­lebens geworden sind, und deshalb nach etwas hinstreben, was sich ihnen schon fertig darbietet. Es durchströmt das die ganzen Mythenbücher des Scheler, die sehr geistreich sind, die ganzen mythischen Abhandlungen der letzten Zeit von Hermann Bahr und so weiter. Das ist seelische Invalidität in gewissem Sinne. Das ist jene bequeme Gesinnung, die nicht dasjenige, was die Zeit fordert, aus den Tiefen der Seele hervortreiben will, um im Zeitalter der Bewußtseinsseele wiederum das zu finden, was nach einer Naturwissenschaft hinarbeitet, die in der ganzen Natur selber Sakramentales sieht, der die ganze Natur ein Ausdruck wird der göttlich-geistigen Weltordnung.

Ja, man muß im Zeitalter der Bewußtseinsseele sehr bald zu einem Menschen werden, der die Möglichkeit hat, nicht bloß jene abstrakte, trockene, den ganzen Menschen petrifizietende Naturwissenschaft zu haben, die heute als das Heil der Welt ausgeschrien wird, sondern jene Naturwissenschaft, die sich vertiefen kann zu einem betenden An­schauen desjenigen, was in heiligen Symbolen die Gottheit ausbreitet über die ganze Welt in all den Taten, die den Menschen befriedigen, aber auch in alldem, womit die Gottheit die Menschen prüft. Ist man wieder imstande, sakramental, auf höherer Stufe, das Laboratorium zu prüfen und die Klinik zum Altar zu machen, statt zur bloßen Schlachtbank

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und zur Zimmermannswerkstätte im groben Sinne, dann ist die Zeit gekommen, die gefordert wird durch die göttliche Entwickelung für unsere heutige Seele. Es ist daher kein Wunder, daß in einer sol­chen Zeit vieles mißverstanden werden kann; mißverstanden wird vor allen Dingen durch dasjenige, was noch immer als die Nachzüglerschaft der Akademie von Gondishapur da ist, was also die Natur­wissenschaft nimmt, ohne ein Verhältnis gewinnen zu wollen zu dem Mysterium von Golgatha. Dadurch wird die Naturwissenschaft eine rein ahrimanische Wissenschaft, entspricht allen ahrimanischen Be­dürfnissen der Menschheit, entspricht der Gesinnung, welche nur nach Äußerem die Welt ordnen will. Man kann sagen: Dasjenige, was der Impuls des Mysteriums von Golgatha ist, das muß man immer neu aufnehmen, man muß ernst nehmen das Wort: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Erdenzeiten», bis die Erdenzyklen erfüllt sein werden. Man muß dieses Wort ernst nehmen. Man muß, wenn man an das Mysterium von Golgatha anknüpfen will, die Seelen frisch erhalten, um immer neue und neue Impulse aufzunehmen, die aus der geistigen Welt zyklenweise, nicht immer, zufließen, aber eben von Zeit zu Zeit an die Menschheit herankommen wollen.

Dem gegenüber steht allerdings eine Naturwissenschaft, die nichts wissen will von solchen Einflüssen, die einfach die Forscher hinstellen will ins Laboratorium oder in die Klinik und so weiter, wo alles so in Tretmühlenweise weitergeht. Da erforscht man, wie un­sichtbare Strahlen wirken, ohne sich zu kümmern um dasjenige, was sich darin der Welt offenbart. Man prüft Aspirin oder Acetin oder Phenacetin und so weiter, gibt sie den Patienten ein: wenn man so eins nach dem andern eingibt, da braucht man nur äußerlich sinnlich zu schauen und zu notieren, was man geschaut hat, da braucht man nicht die Seele in Regsamkeit zu versetzen. Das ist die Gesinnung, welche im wesentlichen hervorgegangen ist aus dem Impuls der Akademie von Gondishapur Denn, wäre die durchgedrungen mit ihren Impulsen, dann könnten sich die Menschen heute auf die Faulbank legen und brauchten gar nichts mehr zu tun; sie hätten ja dazu­mal alles, was sie für ihre Bewußtseinsseele hätten erarbeiten wollen, in die Hand gelegt bekommen durch Gnade. Diese Gesinnung ist,

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nur ins Sinnliche umgesetzt, in der äußeren Naturwissenschaft vor­handen.

Die andere Gesinnung ist diese, welche in die Welt gegossen ist von Rom aus, welche fortlebt in den verschiedensten Formen desjenigen, was nicht von Palästina, nicht vom Mysterium von Golgatha ausge­gangen ist, sondern was von Rom ausgegangen ist, und was sich nach den zwei Richtungen hin entwickelt hat: Weihrauch streuen, um einen Kultus zu entwickeln, der nicht nach der Intelligenz verlangt, sondern nur nach der Empfindungsseele, und Rhetorik, die nur nach der Formulierung der Worte strebt, oder nach einer solchen Figu­rierung der menschlichen Handlungen, die in ihrer Gesetzgebung eigentlich selbst eine Rhetorik ist. Beide Seiten, sie haben sich erhalten. Beiden Seiten kann nur geholfen werden, wenn durchschaut wird, wie auf der andern Seite es eine geistlose Naturwissenschaft in der Zukunft nicht geben darf. Ohne daß man die Naturwissenschaft be­kämpft, wird man ihre Grenzen erkennen müssen. Man braucht sie nicht zu bekämpfen, sie liefert, wenn man sie bloß positiv betrachtet, Großartiges, Gewaltiges, und niemand hat ein Recht, über die Naturwissenschaft abzusprechen, der nicht gerade ihre Ergebnisse gut kennt. Wer sie nicht kennt, die Naturwissenschaft, und über sie kritisch ab­spricht, der tut Unrecht, nur der, der an die Naturwissenschaft glaubt, sie kennt, sie durchdrungen hat, sich selbst ihre Methoden angeeignet hat, nur der hat sich dadurch das Recht erworben, über sie abzuspre­chen, nämlich ihre Grenzen anzugeben und zu zeigen, wie die Natur­wissenschaft selbst hineinführen müsse in ein geistiges Erfassen der Welt.

Feindselige Gesinnung hat unter anderem an meinen Schriften auch herausgefunden, daß ich über Haeckel und über die moderne Naturwissenschaft mich anerkennend ausgesprochen habe. Ich würde auf dem Standpunkte der Geisteswissenschaft, auf dem ich stehe, nie­mals wagen, ein absprechendes Wörtchen über die Naturwissenschaft zu sagen, wenn ich nicht vorher alles getan hätte zu ihrer Anerken­nung. Denn auf dem Boden des positiven Geisteslebens hat man nur ein Recht zu negativer Kritik, wenn man auch zu zeigen vermag, daß man dasjenige, was man bekämpft, in den Grenzen, in denen es anzuerkennen

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ist, voll anerkennt. Ich glaube mir das Recht voll erworben zu haben, eine geistige Entwickelung der Menschheit, eine geistige Evolution zu verkündigen, in der ich dargestellt habe, was die Sinne nicht lehren, weil ich auch gezeigt habe, was der Darwinismus und Haeckelianismus für eine Bedeutung im wissenschaftlichen Leben haben.

Man muß, wenn man auf dem Boden der Geisteswissenschaft steht, schon den Anspruch machen, daß die Worte, die man sagt, etwas anders genommen werden, als sie sonst genommen werden. Daher möchte ich auch nicht, daß dasjenige, was ich sagen werde von einem solchen Gesichtspunkte, wie ich es heute getan habe, über den Katholi­zismus oder sonstige Bestrebungen der Gegenwart, vom Standpunkte des gewöhnlichen Philisters aus aufgefaßt und verwechselt werde mit demjenigen, was jede beliebige liberalisierende Gesellschaft kritisch über den Katholizismus oder über ähnliche Bestrebungen vorbringt. Nichts ist anders gemeint als es hier vorgebracht wird, und nichts anderes ist gemeint als dasjenige, was vom Standpunkte der geisteswissenschaft­lichen Forschung wirklich auch gerechtfertigt werden kann. Natur­wissenschaftliche Forschung fordert Vertiefung, so daß sie allmählich hineinführt in das geistige Leben. Dasjenige, was sich seit alten Zeiten erhalten hat, was zum Teil recht abgebraucht worden ist im Laufe des Menschenlebens, es tritt jetzt wiederum, aus den Gründen, die ich eben angeführt habe, auf: Bedürfnis der Menschen nach Sakramen­talismus, Bedürfnis der Menschen nach Formung. Schauen in den Formen das Leben des Göttlichen in der Welt, aber begreifen die Formen; nicht wie in Dogmen sprechen über Luzifer, Ahriman und Christus, sondern diese Trinität auch künstlerisch in Formen vor sich haben: das ist, was wir brauchen.

Aus diesem Gedanken wird in unserem Bau die Mittelpunkts­schöpfung Christus-Luzifer-Ahriman in der Holzstatue hervorgehen; aus diesem Gedanken: in Formen, die ein Ganzes ausdrücken, das­jenige zu schaffen, was in der Entwickelung der Menschheit fordernd liegt, aber so, daß, indem man die Formen anschaut, man durchdringt zu dem Geiste. Solche Formen zu schaffen, das mußte unserem Bau zugrunde liegen. Man hat auch kein Recht, diesen Bau im trivialen

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Sinne aufzufassen, sondern nach der Grundrichtung dessen, was ge­wollt wird aus den großen Forderungen unserer Zeit heraus, wie es notwendig ist in einer Zeit, die sich wiederum, und jetzt in einer neuen Weise, dem Mysterium von Golgatha nähern muß.

So wie in unserer Zeit, ich möchte sagen, der notwendige Zeitpunkt gegeben ist, den Christus wiederum zu finden, den Christus auf höhe­rem Standpunkte zu finden, so sind auch die Widerstände gegen den Christus gegeben. Die Widerstände gegen den Christus waren ja früher da. Wir wissen: Dasjenige, was die Akademie von Gondishapur geben wollte, das wollte überhaupt das Christentum nicht aufkom­men lassen. Dasjenige, was in Rom von Augustus gegründet worden ist, das wollte eigentlich etwas begründen, das nichts mit dem Christus-Impuls zu tun hat. Es ist später zum Katholizismus geworden, weil der christliche Impuls hineingeschlagen hat in den Romanismus. Die Christenverfolgungen, das neronische Zeitalter, die diokletianischen Christenverfolgungen, all das, was vorgegangen ist, auch die Ablehnung des Apollonius von Tyana, all das ist geschehen, weil man sich in Rom so viel als möglich gesträubt hat, das Christentum aufzu­nehmen. Es sollte das gerade ausgeschieden werden, aber es ließ sich nicht ausscheiden. Daher wurde dasjenige, was Romanismus ist, indem es vom Christentum so viel aufnahm, als es ging, katholische Kirche, und die katholische Kirche hat sich in diesem Geiste auch weiter entwickelt: in dem Augenblick, wo wiederum eine neue Offenbarung in die Menschheit eintritt, die weiterführt in der Erkenntnis des Myste­riums von Golgatha, da wendet sich die katholische Kirche davon ab - nicht zu, sondern ab.

Denken Sie doch nur, das Faktum muß man immer wieder und wieder hervorheben: Als Kopernikus, der sogar selber ein Domherr war, also ein richtiger Katholik, die Kopernikanische Lehre aufstellte, da verbot die katholische Kirche die Kopernikanische Lehre als ketzerisch. Bis zum Jahre 1827 war es einem rechtgläubigen Katholi­ken verboten, an die Kopernikanische Lehre zu glauben; seit jener Zeit ist es erlaubt, daran zu glauben. Und dann ist es möglich gewor­den, daß ein Professor der katholischen Philosophie an der Universität gesagt hat: Gewiß, die katholische Kirche hat die Kopernikanische

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Lehre verbannt, hat den Galilei so behandelt, wie sie ihn eben be­handelt hat. Aber das geziemt sich heute nicht mehr, so zu denken; heute geziemt es sich - so sagte der Professor Mülluer dazumal, der katholischer Philosoph war, als er seine Rektoratsrede an der Wiener Universität hielt - zu sagen, daß gerade durch die Entdeckungen des Kopernikus und Galilei über die äußeren Geheimnisse des Weltenalls die Wunder der göttlichen Allmacht um so mehr anschaulich wurden. Das war allerdings christlich gesprochen, aber es wäre, wenn es zen­suriert würde nach den sonstigen Gepflogenheiten, ganz gewiß nicht römisch-katholisch gesprochen. Also es hat immerhin eine Zeitlang gebraucht, bis unter äußerem Zwange anerkannt hat die katholische Kirche, daß durch die Erkenntnis des Weltenalls das Christentum nicht zurückgedrängt, sondern gefördert wird. Wie lange die katholische Kirche braucht, um die geisteswissenschaftlich-anthroposophischen Ergebnisse anzuerkennen, nun, wir wollen es abwarten, müssen uns allerdings beim Abwarten wahrscheinlich darauf verlassen, daß wir zu einem Ergebnisse nicht mehr kommen, solange wir in diesem Erdenleibe verkörpert sind. Das ist die eine Seite der Sache.

Aber es können leicht Verwechslungen und Mißverständnisse ein­treten. Die Verwechslungen und Mißverständnisse, die eintreten können, sind die, daß in den Seelen, im Unterbewußten, heute wirk­lich der Drang ist, sakramental zu empfinden. Eben nach einer höheren Stufe des sakramentalen Empfindens strebt heute die ganze Mensch­heit. Daher benützt selbstverständlich die katholische Kirche dieses Streben der Menschheit, um ihre Rechnung zu finden. Und das möchte man so sehr erreichen, daß innerhalb des heutigen, leider, leider so tiefen Schlafzustandes der Menschheit, die Menschen über die wich­tigsten Dinge, die geschehen, wenn sie auch auf vielen Gebieten sie nicht ändern können als einzelne Menschen, wenigstens aufwachen über dasjenige, was geschieht. Gewiß, man braucht nicht sich zu sagen: Wie ändere ich das als einzelner Mensch? Es ist bei manchen Dingen notwendig, daß man die Zeit walten läßt, bei manchen Dingen not­wendig, daß man im rechten Zusammenhange wirkt. Man braucht nicht gleich für alles nach einem Rezept zu verlangen, aber man braucht ein klares Bewußtsein, um die Dinge beobachten zu können,

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damit, wenn von einem an seinem Orte etwas gefordert wird, er wirk­lich auch weiß, was er zu tun hat. Es ist vor allen Dingen notwendig zu sehen, daß überall, wo es nur möglich ist, die Menschheit, die da glaubt, sehr viel zu denken, heute nämlich schläft; die Menschheit schläft nun einmal, und man möchte sie gerade gewinnen zum wirk­lichen Erkennen desjenigen, was als Impulse in der Menschheitsent­wickelung liegt. Doch das ist schwierig. Aber andere wachen, der Jesuitismus wacht, Rom wacht. Und diese Gewalten benützen jetzt jede Möglichkeit, jeden Kanal, um dasjenige, was in der Menschheit lebt, nicht so sich ausbilden zu lassen, wie es der Bewußtseinsseele entgegengeht, sondern so ausbilden zu lassen, wie es Rom eben ent­spricht. Und würde man nur erwachen über dasjenige, was Rom will, würde man nur die Dinge, die manchmal auf der Hand liegen, die man nach ganz andern Gesichtspunkten beurteilt, würde man erkennen den Finger Roms und des Jesuitismus, dann würde das von unge­heurer Bedeutung sein für die Lösung derjenigen Fragen, die in der nächsten Zeit aus dem wirren Chaos der Gegenwart heraus gelöst werden müssen.

Deshalb ist die Anerkenntnis einer solchen Tatsache, wie diejenige, die wir gestern und heute besprochen haben, auch für die unmittelbare Gegenwart von ungeheurer Wichtigkeit. Man soll heute nicht nach abstrakten Grundsätzen die Welt beurteilen wollen: Da duselt man weiter ein; man soll sie nach wirklichen Erkenntnissen beurteilen wollen. Denn dasjenige, was geschehen muß gegen die nächsten Jahre zu, es wird nur geschehen können von seiten derjenigen Menschen, die ihre Grundsätze, die die Impulse ihres Handelns und Wollens schöpfen aus einer geistigen Erkenntnis des Weltenwerdens. Und ich muß sagen: Man darf nicht, von der einen Seite her, benützen lassen den gesunden, echten, erfreulich erfrischenden Zug der Menschen­seelen nach Sakramentalismus zur Auffrischung alter Kulte. Nicht zur Erkenntnis des Mysteriums von Golgatha benützt man ihn, son­dern zur Fortsetzung des geistlosen Symbolismus Roms, wie er im augusteischen Zeitalter inauguriert wurde und wie es gegenwärtig, zur Befriedigung ihrer Rechnung, wiederum gewünscht wird von Rom aus. Das ist die eine Seite, wie man die Menschenseelen Mißverständnissen

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aussetzen kann, Mißverständnissen gegenüber dem Sakramentalismus, Mißverständnissen gegenüber den Kulten, Mißverständnissen auch gegenüber der Rhetorik, gegenüber dem Leben in Begriffen, in Worten, die man formuliert, und die wahrhaftig nicht entsprungen sind jenen Anstrengungen, die Demosthenes in Grie­chenland gemacht hat, der Steine auf die Zunge gelegt hat, weil er Stotterer war, aber doch den warmen und liebevollen Inhalt seiner Seele den Griechen mitteilen wollte, sondern die entspringen aus Schönrednereien, die die Menschen, wenn sie nicht voll erwachen können in den Impulsen der Menschheitsentwickelung, hinreißen und hinnehmen.

Auch das weiß man auf jenen Seiten, wo man seine Rechnung finden will. Dasjenige, woraus die Menschheit schon hinausstrebt aus einem gesunden Impuls im Laufe der letzten Zeit, sehen Sie, wie es wieder erneuert wurde! Lesen Sie die Schriften und Abhandlungen, die heute erscheinen über die Bestrebungen der katholischen Kirche zur Erneuerung des Corpus iuris canonici, das wiederum auferstehen soll aus seinem Grabe: das Corpus iuris canonici soll wiederum Ge­setz werden für die katholischen Christen. Das System ist zusammen­gestellt. Dann werden Sie empfinden, durch welche Kanäle fließen soll dasjenige, was nach der Rhetorikseite hin fließt von jenem Rom aus, das so klug, so großartig klug, das so großartig auch eingeweiht ist in die Geheimnisse der Menschheitsentwickelung, und das man niemals erfolgreich bekämpfen wird mit äußeren Staatsmachtmitteln, sondern nur mit Mitteln des geistigen Kampfes. Man lasse die Jesuiten überall hinein, aber man gebe überall den Menschen die Möglichkeit, in freier Weise sich ebenso tief geistig zu unterrichten, wie die Jesuiten unterrichtet sind; dann werden die Jesuiten ungefährlich sein. Nur wenn man sich selbst schützt, und das andere nicht schützt, sondern im Gegenteil bekämpft, dann wird der Jesuitismus gefährlich sein. Der Jesuitismus kann überall hereingelassen werden, wenn man den Kampf, der mit ihm geführt werden muß, in ebensolcher Freiheit und in ebenso vorurteilslosem Sinn sich entfalten läßt, wie dasjenige, was von jener Seite kommt. Davon sind wir nach den Lebensgewohn­heiten der Gegenwart weit, weit entfernt.

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Aber dasjenige, was sich verbreiten soll, es verbreitet sich nicht nur von dieser Seite aus. Das, was lebt in römischem Sakramentalismus, in römischer Rhetorik, und was insbesondere heute in der Kanzelrhetorik Triumphe feiert, das ist nur die eine Seite.

Die andere Seite ist dasjenige, was nur schwört auf grobklotzige Naturwissenschaft, die sich nicht vergeistigen will, die die Natur­wissenschaft nur insofern gelten lassen will, als sie zur Technik wird, die ablehnen will alles dasjenige, was durch die gewaltigen, großen Naturerscheinungen gefunden werden kann über den geistigen Gehalt der Welt. Ich habe einmal gesagt, wahrhaftig nicht aus Rhetorik her­aus, sondern aus dem heraus, was aus der tieferen Erkenntnis der Seele kommt: Bevor unsere Physik, unsere Mechanik, unsere ganze äußerliche Wissenschaft nicht durchchristet ist, hat sie nicht ihr Ziel erreicht. - Nicht nur die Geschichte soll von dem Mysterium von Golgatha sprechen, sondern wissen soll man, daß seit dem Mysterium von Golgatha auch die Naturerscheinungen so betrachtet werden müssen, so daß man weiß: Der Christus ist auf der Erde, während er früher nicht auf der Erde war. Nicht nach Atomen und ihren Ge­setzen wird eine wirkliche christliche Wissenschaft suchen, nicht nach Erhaltung des Stoffes und der Kraft, sondern nach der Offenbarung des Christus in allen Naturerscheinungen, die dadurch selber für den Menschen einen Sakramentalismus darstellen.

Betrachtet man so die Natur, dann geht aus dieser Betrachtung der Natur auch eine Betrachtung der moralischen, der sozialen, der poli­tischen, der religiösen Grundsätze des Menscheniebens hervor, die wirklich diesem Leben gewachsen ist. Saugen wir aus der Natur die Göttlichkeit, saugen wir aus der Naturerkenntnis die Kraft des Christus, dann tragen wir in das, was wir der Menschheit als Gesetze vorschreiben, in das, was wir der Menschheit, sei es in der Armen­pflege, sei es sonst auf irgendeinem Gebiete, als einen äußeren sozialen Dienst erweisen wollen, dann tragen wir in all unser Wirken auch die Christologie hinein. Können wir aber nicht die Natur um uns herum als durchdrungen von dem Christus erblicken, können wir nicht in dem, was in Menschentaten lebt, selbst wenn sie prüfende Taten der Menschen sind, den Christus in seiner Wirksamkeit entdecken, so sind

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wir auch nicht imstande, in unser soziales, in unser moralisches, poli­tisches Leben unterzutauchen mit dem, was wirklich von der Zeit gefordert wird. Dann würden wir stehenbleiben auf der einen Seite bei der grobklotzigen Naturwissenschaft, die nichts anderes ist als ein Verkennen des Übersinnlichen, oder wir würden stehenbleiben bei der bloßen Rhetorik, die ein Vermächtnis ist des Romanismus, das Gespenst des Romanismus. Und muß man auf der einen Seite, wenn man von dem mißverstandenen Sakramentalismus und Kultus spricht, auf Rom verweisen, und zwar auf das heutige Rom, auf jenes Rom, das insbesondere durch Leo XIII., den gescheiten Papst, groß geworden ist, dann muß man auch den Namen finden, der diejenige leere Phrasenhaftigkeit in der Rhetorik anzeigt, welche der Mensch, der wirklich mit anthroposophischer Erfassung des Geisteslebens sich durchdringt, heute in der Rhetorik erkennen muß. Wir haben öfter auf diese Rhetorik hier hingewiesen. Ich muß jetzt schon auf Aktuelles eingehen; ich tue es ja gewöhnlich nur, wenn das andere schon der Zeit nach erschöpft ist.

Wo finden wir diejenige Rhetorik, die, ebenso wie die römische Kanzelrhetorik im Jesuitismus, entgegensteht einem invalid gewor­denen Kultus? Wo finden wir die Rhetorik, die der heutigen Natur­wissenschaft, die nach Geistigkeit verlangt, gegenübersteht, und die unsere Menschheit bedroht, weil unsere Menschheit schlafend auf­nimmt dasjenige, was ihr ja vielleicht aus äußeren Gründen notwendig ist, was ihr aber, wo sie erkennen soll, ganz fremd bleiben sollte? Das ist der Wilsonismus! Woodrow Wilsons Name ist derjenige, der da geprägt werden muß für das Leben in bloßer Rhetorik, in bloßer substanzloser Zusammenstellung von Worten, heißen sie nun Völker­bund oder sonstwie; das ist eben das Schwelgen in bloßer Rhetorik. Das ist etwas, was die Menschheit nicht verschlafen sollte. Die heutige Menschheit hat nötig, zu erkennen, was hier betont worden ist: daß der wahre Wilsonismus dasjenige ist, was entgegengesetzt ist dem wahren Fortschritte der Menschheit, und was erkannt werden muß als eine auf tönernen Füßen stehende Rhetorik. So wie die invalid gewordene Seelenverfassung der Menschheit heute einer­seits nach Rom strebt, so tendiert ja die sich mißverstehende, von

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der naturwissenschaftlichen grobklotzigen Weltanschauung angefressene Seele der Gegenwart andererseits nach dem, was heute als bloße Rhetorik durch die Welt weht, und was feindlich ist all dem, was mit dem wahren, segensreichen Fortschritt der Menschheit zu­sammenhängt.

Dies läßt sich nicht mit ein paar bourgeoisen, mit ein paar phill­strösen Gedanken zum Ausdruck bringen. Dasjenige, was von dieser Richtung her unserer Zeit droht, was man nüchtern sehen muß, wenn man die Tagesereignisse ins Auge faßt, das muß auf der andern Seite aber in seiner ganzen Bedeutung erkannt werden. Es darf nicht über alle Menschen der Schlafzustand kommen, daß die Welt verwilsont wird. Mögen die Wilsonianer in Amerika, mögen sie in Europa, mö­gen sie da oder dort leben, es muß auch noch Menschen geben, welche wissen, daß es eine tiefe Verwandtschaft gibt zwischen Jesuitismus auf der einen Seite und Wilsonismus auf der andern Seite. Diese Menschen muß es geben. Diese Menschen müssen allerdings über das Philistertum der Gegenwart hinauswachsen, müssen sich nicht ihr Urteil bilden nach dem, was der Tag oder auch die Jahre bringen, sondern müssen sich ihr Urteil bilden können nach dem, was die Jahrhunderte bergen und was die Jahrhunderte uns offenbaren, wenn wir wirklich und wahrhaftig mit innerster, aktiver Kraft der Seele hinzuschauen vermögen nach jenem Hügel, worauf gestanden hat das Kreuz von Golgatha, das das Symbol ist für alles dasjenige, was als die Offenbarung der uralten Geheimnisse in die Menschheit einge­flossen ist, das aber immer jung und jung sein wird und immer neue und neue Offenbarungen den Menschen bringen wird, wenn die Menschen sich diesen Offenbarungen nicht verschheßen, sei es, daß sie sich einiullen lassen von Rom, sei es, daß sie sich einlullen lassen von der blendenden Rhetorik, nach der sie heute so hinneigen.

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HINWEISE

Hinweise auf Bände der Gesamtausgabe, bei denen kein Erscheinungsjahr angegeben ist, betreffen vorgesehene Bände.


zu Seite

9 die wir angeführt haben: Siehe «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen», Ge­samtausgabe Dornach 1967, 7. Vortrag.

10 Aurelius Augustinus, 354-430, Kirchenvater.

11 wie ich Ihnen auseinaneergesetzt habe in diesen Tagen: Siehe «Die Wissenschaft vom Wer-den des Menschen», Gesamtausgabe Dornach 1967.

12 Cartesius, René Descartes, 1596-1650, französischer Philosoph.

14 « Vom Mensshenrätsel», Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. Ge­samtausgabe Dornach 1957.

19 in een verflossenen Vorträgen dieses Sommers: Siehe «Die Wissenschaft vom Werden des Menschen», Gesamtausgabe Dornach 1967, Vortrag 4, 5 und 6.

22 Graf Claude-Henri de Saint-Simon, 1760-1825, Gründer der nach ihm benannten Bewegung der Saint-Simonisten.

Auguste Comte, 1798-1857, französischer Philosoph, Begründer des Positivismus und der Soziologie.

26 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1775-1854, Natur- und Religionsphilosoph.

27 Sshellings Sshr'ften: «Über die Gottheiten von Samotnrake» (1815), «Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit» (1809), «Philosophie der Mythologie, Philosophie der Offenbarung» (1858).

Jakob Böhme, 1575-1624, protestantischer Mystiker.

29 derjenige, der am Anfange des 20.Jahrhuuderts über jemanden denkt: wer hier gemeint ist, ist dem Herausgeber nicht bekannt.

42 Dionysius Areopagita, von Paulus bekehrt, erster Bischof von Athen.

48 Jeremias Bentham, 1748-1832, englischer Philosoph, Begründer des Utilitarismus.

englische Okkultisten und Spiritualisten: Hier ist wohl auf das Werk von C. G. Harrison, Das Transzendentale Weltenall, deutsche Übersetzung 1897, angespielt, in welchem in einer Fußnote zum 6. Vortrag die Definition des Guten als der größten Glück­seligkeit der größten Anzahl als eine «rein teuffische» bezeichnet wird.

52 Ludwig Feuerbach, 1804-1872, materialistischer Philosoph.

69 Karl Marx, 1818-1883.

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76 Vortrag am Anfang des Jahrhunderts: «Unsere Weltlage (Krieg, Frieden und Theoso­phie)», Berlin 12. Oktober 1905 in «Die Weiträtsel und die Anthroposophie», Ge­samtausgabe Dornach 1967.

77 Woodrow Wilson, 1856-1924, von 1912 bis 1920 Präsident der USA.

82 Rudolf Eucken, 1846-1929.

Otto Liehmann, 1840-1912.

Arthur Schopenhauer, 1788-1860.

83 Wilhelm Wundt, 1832-1920, Arzt, Philosoph und Psychologe.

100 die ich Ihnen... vor zwei Jahren charakterisiert habe: Siehe die Vorrräge vom Oktober1916 in «Innere Entwieklungsimpulse der Menschheit. Der Sinn des geschichtlien Werdens», Gesamtausgabe Dornach 1964.

101 Am Schluß des Vortrags machte Rudolf Steiner noch folgende Bemerkungen, offen­bar veranlaßt durch eine anonyme Zuschrift:

Anhänglich, wiederum nur anhänglich möchte ich eines sagen: ich gebe mich keinen Illusionen hin. Sie wissen - wenigstens diejenigen, die einiges von mir wirklich ver­stehen, dürften das wissen -, ich habe ebensowenig Anlage zum Verfolgungswahn, wie zu irgendwelchen Illusionen des Lebens, denn das alles treibt wirkliche Geistes­wissenschaft gründlich aus. Aber ich muß doch manchmal die eine oder andere Be­merkung machen. Damit die Mitgliedschaft, die sich anthroposophisch nennt, nicht völlig einschläft, muß manchmal die eine oder andere Bemerkung gemacht werden, und ich möchte nicht gerne, daß man sich Illusionen hingibt. Nun, es wäre ja manches zu sagen. Aber mit Rücksicht auf etwas, was in diesen Tagen vorgekommen ist, möchte ich das Folgende sagen: Es ist wahr, diese Bewegung, die ich anthropos-phisch nenne, wird in der nächsten Zeit großen Angriffen ausgesetzt sein von den verschiedensten Seiten her, namentlich von einer Seite her, die jetzt schon deutlich wahrzunehmen ist. Die einzelnen Angriffe kommen sehr, sehr wenig in Betracht, denn was die Leute im einzelnen reden, nun, das ist zumeist so dilettantisch wie irgend möglich. Aber die Tatsache des Angriffes, die bleibt, insbesondere bei den klerikalen Angriffen von jetzt. Und ein gewisses Wollen steckt dahinter, das wichtiger ist als das, was im einzelnen gesagt wird, und das sehr ernst genommen werden muß. Also ich möchte mit Rücksicht auf etwas, was in den letzten Tagen vorgekommen ist, folgendes sagen. Solche Dinge, wie ich sie hier meine, müssen ja selbstverständ­lich im Menschenleben so hingenommen werden, daß man sie, so wie es an mich herantritt, nicht weiter berücksichtigt. Wen es angeht, der weiß schon, um was es sich handelt. Aber das eine möchte ich betonen: Wer mir etwas mitzuteilen hat, wer sich über irgend etwas auseinanderzusetzen hat mit mir, der tue das mit völlig offenem Visier, und tue es auch nicht in der Voraussetzung, daß, wenn er nicht mit offenem Visier auftritt, er mir etwas Nötiges vorzusetzen hat! Ich gebe mich, wie ich schon sagte, keinen Illusionen hin, und wenn man glaubt, daß ich mich Illusionen hingebe, so irrt man sich gar seht. Auch wenn es sich darum handeln sollte, daß selbst hier auf dem Bau Leute herumgehen würden, welche auf zwei Schultern tragen. welche

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sich, wie man sagen könnte, einer gewissen Zweideutigkeit widmen, so ist es nicht nötig, mir das ohne offenes Visier irgendwie beibringen zu wollen. Denn ich bin nicht in der Lage, jedem dasjenige zu sagen, was ich mir zu denken habe. Ich er­kenne mehr von den Leuten, auch von denen, die hier auf dem Bau herumgehen, als ich in der Lage bin, zu sagen; man soll nicht glauben, daß es nötig sei, ohne offenes Visier mich auf solche Dinge aufmerksam zu machen, die vielleicht als Schäden hier existieren können. Denn es ist nicht möglich, sich im gesellschaftlichen Leben, wie es sich abspielen muß, wenn man etwas Reales wie diesen Bau im Auge hat, immer nach dem zu verhalten, was man aus tieferen Ilintergründen als seine wirkliche Erkenntnis hat. Also man soll, wenn man mir schon etwas sagen will, dieses mit offenem Visier tun. sonst wird man sich der Illusion hingeben, daß ich ein Illusionär bin und mir über die Menschen, enit denen ich es zu tun habe, Illusionen machen würde. Das tue ich nicht: ich weiß schon, daß es auch Zweizüngigkeiten gibt.

105 Jean Paul Friedrich Richter, 1763-1825, der Ausspruch steht in «Levana oder Erzieh­lehre», 3. Auflage Stuttgart 1845, Einleitung Seite XXVIII.

106 «Die gestige Führung des Menschen und der Menschheit», Gesamtausgabe Durnach 1956.

111 Ulrich von Wilamowitz-Möllendorf 1848-1932, klassischer Philologe und Übersetzer:

Griechische Tragödien, 3 Bände, Berlin 1904.

Internationale Hefte: Internationale Rundschau, Zürich, 4. Jahrgang, 5. Heft vom 25. April 1918.

Karl Kautsky, 1854-1938, sozialdemokratischer Theoretiker und Historiker,

116 Karl Marx, 1818-1883. «Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpre­tiert; es komme darauf an, sie zu verändern.» In «Thesen über Feuerbach», 1846, 11.These.

Wilhelm Traugott Krug, 1770-1842 (Nachfolger Kants).

118 Meicter Eckart, um 1260-1327, deutscher Mystiker.

Johannes Taaler, um 1300-1361, deutscher Mystiker.

Gespräch in süddeutscher Stadt: Aus Rudolf Steiners Btiefwechsel mit Marie Steiner-von Sivers geht hervor, daß es sieh um colmar handelt, wo Rudolf Steiner am 19. und 21. November 1905 Vorträge hielt: «Die Botschaft der Theosophie in der Gegen­wart» (19. November) und «Die Weisheitslehren des christentums im Lichte der Theosophie» (21. November). Die Vorträge «Bibel und Weisheit» fanden erst später statt.

128 in dem ersten unserer Mysterien: «Die Pforte der Einweihung», 4. Bild. Gesamtausgabe Dornach 1956.

143 «Wahrheit und Wiesenschaft», Gesamtausgabe Dornach 1958.

«Die Philosophie der Freiheit», Grundzüge einer modernen Weltanschauung. Ge­samtausgabe Dornach 1962.

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153 Plato, 427-347 v.Chr. Aristoteles, 384-322 v.Chr. Friedrkh Hebhe4 1813-1863.

Hebheis Tagehücher: «Nach der Seelenwanderung ist es möglich, daß Plato jetzt

wieder auf der Schulbank Prügel bekommt, weil er den Plato nicht versteht». Tage­bücher 1. Band, Nr.1745, Ausgahe R.M. Werner Berlin 1901.

154 Der Alte der Tage: In der Kabbala häufig verwendeter Gottesname. Der Ausdruck stammt aus dem Alten Testament. Im Buche Daniel 7, 9 und 13 heißt der aramäische Name «attiq yomin», von der Vulgata ühersetzt als «antiquns dierum», in der eng­lischen Bibel «the Aneient of days»; die deutsche Übersetzung hat nur «der Alte».

156 wie kh sie in der letzten Woche Ihnen vorgefübrt habe: Siehe den 5. Vortrag.

169 Sehen Sie skh die Formen unseres Baues an: Siehe «Der Baugedanke des Goetheanum», ein Lichtbildervortrag mit 104 Abbildungen des ersten Goetheanum, Bern, 29. Juni 1921. Gesamtausgabe Stuttgart 1958.

171 Michel Hyquem de Montaigne, 1533-1592, französischer philosophischer Schriftsteller.

183 ff. «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Todi"d neuer Geburt», 6. Vortrag. Ge­samtausgabe Dornach 1959.

185 «Geisteswissenschaft io'd soziale Frage», im Bande «Luzifer-Gnosis», Gesammelte Auf­sätze 1903-1908, Gesamtausgabe Dornach 1960; als Sonderdruck: Dornach 1957.

187ff. Zitate aus C. A. Meray, «Weltmutation», Zürich 1918 Seite 124 ff.

189 in seither auch gedruckten Vorträgen: «Die Apokalypse des Johannes» 7. Vortrag 24. Juni

1908. Gesamtausgabe Dornach 1962.

192 «Ich habe es öfter dargestellt»: «Die spirituellen Hintergründe der äusseren Welt - Der Sturz der Geister der Finsternis», Vorträge vom September/Oktober 1917, Gesamt­ausgabe Dornach 1966.

198 was ich Ihnen gerade in Auknüpfung an Goethes Weltanschauung neulich vorbrachte: Siehe die

3 Vorträge vom 27., 28. und 29. September 1918 in Band II der «Geisteswissen­schaftlichen Erläuterungen zu Goethes Faust». Das Faust-Problem. Die romantische und die klassische Walpurgisnacht. Gesamtausgabe Dornach 1967.

209 Gottfried Wilhelm Leibniz 1646-1716, Philosoph. Über die Herkunft der Anekdote konnte der Herausgeber nichts feststellen.

222 Friedrich Nietzsche 1844-1900.

223 Anaxagoras, 500-428 v.Chr. Heraklit, um 300 v.Chr. Thales, um 640 v.Chr.

327

225 Ju'iauas Apostata, 361-363 römischer Kaiser.

Publins Cornelius Tacitus, um 55 bis nach 116 n. Chr., römischer Geschichtsschreiber.

226 «Das Christentum als mystische Titsache i,,sd die Mysterien des Altertums», Gesamtausgabe Dornach 1959.

227 Gaius Julius Caesar Octavianus, Augustus, 63 v.Chr. bis 14 n.Chr., erster römischer Kaiser mit dem Titel «Caesar Augustus».

231 «Goethes Geistesart in ihrer Offenbarung durch seinen Faust und durch das Märchen Von der Schlange und der Lilie'», Gesamtausgabe Dornach 1956.

233 Clemens von Alexandrien, gestorben um 220.

Origenes, 182-254, der Begründer der christlichen Gnostik und Theologie. Tertullian, um 200 n.Chr., Kirchenschriftsteller.

258 Modernste katholische Bestrebungen: Was hiermit gemeint war, konnte der Herausgeber nicht feststellen.

261 Richard Wahle, 1857-1935, «Über den Mechanismus des geistigen Lebens», Wien und Leipzig 1906, Seite 92.

262 Zitat Wahle: «Die Tragikomödie von Weisheit», Wien und Leipzig 1915, Seite 379.

273 in diesem Brief des Jakobus: Im sogenannten Proto-Evangelium des Jakobus findet sich diese Stelle nicht. Eventuell ist der Barnabas-Brief gemeint.

Der Scbreiber der Apokalypse: Apokalypse 13, 18. 280 Justinian I., oströmischer Kaiser, regierte 527-565.

Sokrates, 469-399 v. Chr., griechischer Philosoph.

Aristoteles, 384-322 v.chr., griechischer Philosoph.

281 Zeno Isaurikus, oströmischer Kaiser 474-491, vertrieb die Philosophen aus Edessa im Jahre 489.

283 Mohammed, um 570-632, Stifter des Islam.

284 Roger Bacon, 1214-1294, Franziskanermönch, Geguer der Scholastik.

285 Bilder mittelalterlicher Scholastiker: Thomas von Aquino darstellend, Averroes unter seinen Füssen. Eine solche Darstellung von Benozzo Gozzoli befindet sich im Louvre.

285 Maimouides, genannt Rambam, 1135-1204, jüdischer Philosoph. Aviceuna, 980-1037, arabischer Philosoph.

286 Averroes, 1126-1198, arabischer Philosoph und Arzt.

328

289 « Vom Mensebenrätsel», Ausgesprochenes und Unausgesprochenes im Denken, Schauen, Sinnen einer Reihe deutscher und österreichischer Persönlichkeiten. Ge­samtausgahe Dornach 1957.

Cartesius, René Descartes, 1596-1650, französischer Philosoph, Mathematiker.

306 Demostheues, 383-322 v.Chr.

311 Hermann Bahr, 1863-1934, Wiener Schriftsteller. Max Scheler, 1874-1928, Philosoph.

Börries von Münchhausen, 1874-1949, Dichter.

312 Ich hin bei euch...: Schluß des Matthäus-Evangeliums.

313 Ernst Haeckel, 1834-1919, Zoologe.

314 Solehe Formen zu schaffen: Siehe «Der Baugedanke des Goetheanu"n», ein Lichtbilder­vortrag mit 104 Ahbildungen des ersten Goetheanum, Bern, 29. Juni 1921, Gesamt-ausgabe Stuttgart 1958

315 Apollonins von Tyana, lebte im 1. nachchristlichen Jahrhundert.

Nikolaus Kopernikus, 1473-1543, Domherr in Frauenburg (Westpreußen). 316 Prof. Müllner, Laurenz Müllner, 1848-1911, «Die Bedeutung Galileis für die Philo­sophie», Inaugurationsrede vom 8. November 1894 an der Wiener Universität.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.