GA 181

Aus SteinerWiki
ansehen im RUDOLF STEINER VERLAG

RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Erdensterben und Weltenleben
Anthroposophische Lebensgaben
Bewußtseins-Notwendigkeiten
für Gegenwart und Zukunft

Einundzwanzig Vorträge, gehalten in Berlin
vom 22. Januar bis 6. August 1918

GA 181

1967

Inhaltsverzeichnis


9

ERDENSTERBEN UND WELTENLEBEN

10


11

ERSTER VORTRAG Berlin, 22. Januar 1918

Meine lieben Freunde, ich brauche wohl nicht zu sagen, daß es mir eine große Freude sein muß, daß ich in dieser schweren, prüfungsreichen Zeit wieder hier mit Ihnen zusammen sein darf. Und da wir jetzt hier nach langer Zeit zum ersten Male wieder uns über Gegenstände der Geisteswissenschaft besprechen können, so wird es uns besonders naheliegen, in dieser schweren Zeit zu gedenken, wie Geisteswissenschaft fern sein soll davon, bloße Theorie zu sein, wie sie vielmehr sein soll ein substantieller, fester Halt, der da zusammenbindet die Seelen der Menschen, zusammenbindet nicht nur die Seelen derjenigen Menschen, die hier auf dem physischen Plane sind, sondern mit diesen auch die Seelen derjenigen, die in den geistigen Welten leben. Dies liegt uns so nahe, besonders in dieser Zeit, da ungezählte Seelen den physischen Plan verlassen haben unter Umständen, von denen wir so oft gesprochen haben, in dieser Zeit, da so viele Seelen draußen den schwersten Prüfungen, die vielleicht die Weltgeschichte bisher überhaupt Menschen auferlegt hat, ausgesetzt sind. Absehend von den allgemeinen Vorstellungen, welche durch unsere Seelen am Beginne dieser Vorträge hier und an andern Orten fließen, sei es heute einmal in individueller Form versucht, unsere Gefühle, unsere Empfindungen hinzulenken zu denjenigen, die draußen stehen, wie auch zu denjenigen, die schon in dieser Ereignisse Folge durch des Todes Pforte gegangen sind.

Die Ihr wachet über Erdenseelen,
Die Ihr webet an den Erdenseelen,
Geister, die Ihr über Menschenseelen schützend
Aus der Weltenweisheit liebend wirkt,
Höret unsre Bitte,
Schauet unsre Liebe,
Die mit Euren heffenden Kräftestrahlen
Sich einen möchten
Geistergeben, Liebe sendend!

12

Und mit Bezug auf die, welche in dieser Zeit bereits durch die Todespforte gegangen sind:

Die Ihr wachet über Sphärenseelen,
Die Ihr webet an den Sphärenseelen,
Geister, die Ihr über Seelenmenschen schützend
Aus der Weltenweisheit liebend wirkt,
Höret unsre Bitte,
Schauet unsre Liebe,
Die mit Euren helfenden Kräfteströmen
Sich einen möchten
Geisterahnend, Liebe strahlend!


Und der Geist, dem wir uns zu nahen suchen durch die Jahre schon durch die von uns angestrebte Geist-Erkenntnis, der zu der Erde Heil, zu der Menschheit Freiheit und Fortschritt durch das Mysterium von Golgatha gehen wollte, Er sei mit Euch und Euren schweren Pflichten!

13

Vielleicht wird die schwere Zeit der Prüfungen, in denen die Menschheit steht, doch eine solche sein, welche immer mehr und mehr die Bedeutung geistiger Vertiefung den Menschenseelen nahelegt; dann wird diese schwere Zeit der Prüfungen nicht umsonst an dieser Gegenwart und für die Zukunft für die Menschheit vorübergegangen sein. Man hat nur heute das Gefühl - und diese Dinge werden ja nicht ausgesprochen, um irgendeine Kritik zu üben an irgend jemandem, sondern gerade um zu appellieren an die rechten und richtigen Gefühle -, man hat das Gefühl, daß die Zeit noch nicht gekommen ist, in der die Menschen von der Schwere der gegenwärtigen Zeitereignisse genügend gelernt haben. Man hat das Gefühl, daß immer noch deutlicher und deutlicher aus dem Geiste der Zeit heraus zu den Menschenseelen, zu den Menschenherzen gesprochen werden muß. Denn es sind ja nicht Menschenstimmen allein, die heute sprechen können; es sind die Stimmen, die geheimnisvoll herausklingen aus den schwerwiegenden und außer ihrem Schwerwiegenden so bedeutungsvollen Tatsachen.

Es steht mir das Ganze, das ich heute, ich möchte sagen, wie stammelnd und ungenügend zu Ihnen sprechen kann, insbesondere deshalb vor Augen, weil mir die diesmalige schweizerische Reise gar manches gerade mit Bezug auf das Verhältnis unserer Geistesbewegung zu den Aufgaben der Zeit gezeigt hat. Wer jenen Vortragszyklus aufmerksam gelesen hat, den ich vor dem Kriege in Wien gehalten habe über die Erlebnisse des Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt und über dasjenige, was dort an Beziehungen zum menschlichen Leben überhaupt auseinandergesetzt werden konnte, der weiß, wie damals vor dem Kriege auf die tieferen Ursachen, die tieferen Grundlagen der nachher so furchtbar sich auslebenden Zeitereignisse hingewiesen worden ist. Und man darf sagen, alles was man so zwischen den Zeilen des Lebens jetzt erfahren kann, ist eigentlich nach außen hin als ein lebendiger Beweis für die Richtigkeit des damals Gesagten aufzufassen. Mit einem radikalen Wort wurde damals, ich möchte sagen, die allgemeine Krankheit der Zeit bezeichnet, wie Sie wissen.

Man merkt schon hie und da, daß nun einiges von den großen Ereignissen gelernt worden ist. Allein, man merkt andererseits auch klar

14

und deutlich, gerade wenn man Einzelheiten scheinbar unbedeutender Dinge im Zusammenhange betrachtet, wie unbeweglich im Laufe der letzten Jahrhunderte das menschliche Denken auf dem physischen Plan geworden ist, wie langsam die Menschen in irgendwelche Entschlüsse, in irgendwelche Maßnahmen, die sie treffen sollen, hineinkommen. Ich möchte heute einleitungsweise von einigem zu Ihnen sprechen, das gerade im Laufe dieser Schweizer Reise erlebt werden konnte, weil es, wie mich dünkt, notwendig ist, daß diejenigen, die sich für unsere Bewegung interessieren, auch im Bilde ihres ganzen Zusammenhanges ein wenig drinnenstehen können. Nur einzelnes aber, aphoristisch, soll vorgebracht werden.

Als ein besonders befriedigendes Ereignis durfte es betrachtet werden, daß während meiner diesmaligen Anwesenheit in der Schweiz sich aus den Kreisen jüngerer Akademiker der Zürcher Hochschule Leute gefunden haben, die einen Vortragszyklus von mir in Zürich gerade so gestalten wollten, daß er die Fäden zieht zu den verschiedenen akademischen Wissenschaften. Ich habe dann vier Vorträge in Zürich gehalten, von denen der erste das Verhältnis der anthroposophischen Geisteswissenschaft zur Psychologie, zur Seelenwissenschaft behandelte, der zweite das Verhältnis dieser Geisteswissenschaft zur Geschichte, der dritte das Verhältnis der Geisteswissenschaft zur Naturwissenschaft, und der vierte ihr Verhältnis zur Sozialwissenschaft, zu den großen sozialen, juristischen Völkerproblemen unserer Zeit. Man geht vielleicht nicht fehl, wenn man, zwar selbstverständlich in weitem Abstande von demjenigen, was man gerne wünschen möchte, aber doch gerade damals ein gewisses Interesse für dieses Fädenziehen zu den akademischen Wissenschaften sehen konnte. Es konnte ja gezeigt werden, daß die akademischen Wissenschaften überall auf diejenige Ergänzung warten, man könnte auch sagen, auf diejenige Erfüllung warten, die nur von seiten der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft kommen kann, und daß die Teilwissenschaften der Gegenwart Halbheiten, vielleicht sogar Viertelheiten bleiben, wenn sie diese Ergänzung nicht haben können. Nirgends, wo es mir gestattet war, in der Schweiz Vorträge zu halten, habe ich versäumt, überall durchblicken zu lassen, was eigentlich

15

nach dieser Richtung hin unserer Gegenwart fehlt, und was diese unsere Gegenwart erlangen muß, um es den Tendenzen, die sie in eine richtige Zukunft hinüberführen, einzuverleiben. Man kann sagen, daß man immerhin empfinden konnte, daß, nachdem in der Schweiz anfänglich ein starker, kurios starker Widerstand gegen unsere Bestrebungen vorhanden war, in der letzten Zeit allmählich - und gewiß ist der Widerstand nicht geringer geworden, ist sogar stärker geworden - neben dem Widerstande sich ein regeres Interesse entwickelte; und es könnte schon sein, da ja das Karma unseren Bau in die Schweiz gebracht hat, daß gerade das Wirken in diesem Lande eine große Bedeutung haben könnte. Insbesondere wenn es so gestaltet wird, wie ich mich bemühte, es zu gestalten: daß unser Wirken Zeugnis ablegt auch zugleich für jene Quellen geisteswissenschaftlicher Forschungen, die in vieler Beziehung leider ungehoben und unbeachtet gerade im deutschen Geistesleben verborgen sind. Dies ist ein Gefühl, das einen heute auf der einen Seite sogar mit einer gewissen Wehmut und in tragischer Weise berührt, auf der andern Seite auch gewiß mit tiefer Befriedigung. Man kann ja sagen: Wer das ganze Gewicht der Tatsache ins Auge faßt, daß mit allem übrigen auch dieses deutsche Geistesleben gegenwärtig von vier Fünfteln der Welt - wie sie sich selbst brüsten zu sein - verketzert, wirklich verketzert wird, wer sich das ganze Schwerwiegende dieser Tatsache vor Augen hält - was man nicht immer tut -, der wird auf der einen Seite wehmütige, auf der andern Seite befriedigende Hoffnungen darauf setzen können, daß vielleicht gerade von seiten der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft auch nach dem Außen der Welt wieder die Möglichkeit geboten sein wird, diesem deutschen Geistesleben jene Stimme zu verschaffen, die es haben muß, wenn nicht der Entwickelung der Erde Schaden geschehen soll. Man findet und wird immer finden die Möglichkeit, zu allen Menschen, ohne Unterschied der Nationalität, zu sprechen, wenn man den Menschen im wahren Sinne vom Geist spricht, das heißt wenn man von den wahren Quellen des Geisteslebens zu ihnen spricht.

Wehsnütig könnte es auch stimmen, daß, indem man auf der einen Seite sieht, daß diese geisteswissenschaftlichen Bestrebungen einigen

16

Boden gewinnen, auf der andern Seite deutlich zutage tritt, wie auch ein solches Land wie die Schweiz es immer schwieriger und schwieriger hat, sich noch aufrechtzuerhalten gegenüber dem, was heute anstürmt. Es ist nicht leicht, gegenüber dem Druck von vier Fünfteln der Welt sich irgendein freies Urteil zu gestalten; und es ist nicht leicht, selbst die Worte zu finden, um in einem solchen Lande - das zwar ein neutrales ist, in dem aber die vier Fünftel der Welt doch eine bedeutende Rolle spielen - alles das zu sagen, was gesagt werden muß. Die Verhältnisse der Welt haben sich eben sehr zugespitzt.

Nun kommt uns auf diesem Boden allerdings zugute, daß das bloße Wort, die bloße Lehre dort gerade unterstützt wird durch die Formen und Schöpfungen unseres Dornacher Baues, der ja auch vor das äußere Auge das hinstellt, was unsere Geisteswissenschaft will, und damit zeigen kann, daß diese Geisteswissenschaft schon da, wo man sie ins praktische Leben eingreifen läßt, wo man sie nicht brutal zurückweist, fähig ist, das Leben, das in der Gegenwart so große Anforderungen an den Menschen stellt, zu meistern und zu handhaben.

Wenn man heute über das Verhältnis zwischen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft und dem andern Wissen und Wollen der Welt spricht, so handelt es sich ja darum, daß man wirklich ganz neue, ungewohnte Vorstellungen an die Menschen heranbringen muß. Die Menschen sind im allgemeinen in den Untergründen ihres Bewußtseins ganz dunkel davon überzeugt, daß von da oder dort irgend etwas Neues kommen müsse. Aber sie sind auch unerhört unelastisch in bezug auf ihr Denken, unerhört langsam im Aufnehmen. Man kann schon Sagen: Ein Grundzug ist in unserer schnellebigen Zeit der, daß die Menschen so furchtbar langsam denken. In Kleinigkeiten tritt einem das entgegen. In Zürich ist es zustande gekommen, daß die Fäden anthroposophischer Geisteswissenschaft zu den akademischen Wissenschaften gezogen werden konnten. In Basel habe ich öffentlich früher gesprochen als in Zürich. Kurze Zeit, bevor ich von der Schweiz wieder abreisen mußte, kam auch von Basel die Aufforderung an mich heran, ganz innerhalb eines akademischen Zusammenhanges über die Beziehungen der anthroposophischenGeisteswissenschaft zu den andern Wissenschaften zu sprechen. Aber es war

17

natürlich zu spät, so daß der Sache nicht mehr nähergetreten werden konnte. - Ich erwähne dies aus zwei Gründen: erstens, weil es eine große Wichtigkeit gehabt hätte, unmittelbar in einem nur der akademischen Wissenschaft gewidmeten Raume, veranstaltet von der Basler Studentenschaft, von unserer Geisteswissenschaft zu sprechen; auf der andern Seite erwähne ich es deshalb, weil die Leute so langsam waren, daß sie erst vor Toresschluß kamen. Es ist ein Charakteristikon. daß die Menschen immer vor Toresschluß sich zu dem entschließen, wozu Elastizität des Denkens, die Fähigkeit, schnell aufzunehmen, früher führen könnte. Es ist ja notwendig, diese Dinge unter uns zu besprechen, damit wir uns nach ihnen richten können. Man braucht heute nur eines dieser Themen ins Auge zu fassen, von denen ich in der letzten Zeit gesprochen habe, so wird man das Bedeutsame, das zu geschehen hat, schon sehen.

Ich habe in Zürich unter anderem auch gesprochen über die Fäden, die zu ziehen sind zwischen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft und der Geschichtswissenschaft, dem geschichtlichen Leben der Menschheit. Wir haben ja heute eine Geschichte. Sie wird gelehrt, wird gelehrt den Kindern, wird gelehrt den Akademikern. Aber was ist diese Geschichte? Sie ist etwas, was nicht einmal eine Ahnung hat von den Kräften, die im geschichtlichen Leben der Menschheit walten, aus dem einfachen Grunde, weil das ganze intellektuelle Leben von heute darauf ausgeht, den Verstand des Menschen in Bewegung zu setzen; die gewöhnlichen sogenannten vollbewußten Begriffe und Ideen in Bewegung zu setzen und von da aus alles zu verstehen.

Ja, so kann man die äußere sinnenfällige Natur verstehen, so kann man jenes Denken verstehen, das so große Triumphe auf dem naturwissenschaftlichen Felde erlebte; aber indem man dieses Denken auf die Geschichte anwandte, hat man die Geschichte zu einer Naturwissenschaft machen wollen. Man hat sich im 19. Jahrhundert bemüht, die Geschichte so zu betrachten, wie man in der Naturwissenschaft die sinnenfälligen Dinge betrachtet. Das ist jedoch eine Unmöglichkeit, aus dem einfachen Grunde, weil die geschichtlichen Tatsachen zum Leben in einem ganz andern Verhältnisse stehen als die naturwissenschaftlichen.

18

Was halten die Menschen im geschichtlichen Leben sich vor Augen? Welches sind die geschichtlichen Impulse?

Wer da glaubt, die geschichtlichen Impulse mit jenem Verstande auffassen zu können, der in der Naturwissenschaft ganz gut angewendet werden kann, der trifft nie die geschichtlichen Impulse; denn diese wirken in der menschlichen Entwickelung so wie die Träume in unserem eigenen Traumleben. Die geschichtlichen Impulse wirken nicht herein in das gewöhnliche Bewußtsein, mit dem wir den Alltag oder die Naturwissenschaft beherrschen; sondern was in der Geschichte geschieht, das wirkt als solche Impulse, wie das, was nur in unser Traumleben hereinspielt. Man kann sagen, geschichtliches Werden ist ein großer Traum der Menschheit. Aber was in die Träume hineinspielt als hinhuschende Bilder, es wird klar und deutlich in den Imaginationen der Geisteswissenschaft. Daher gibt es keine Geschichte, die nicht eine Geisteswissenschaft ist; und die Geschichte, die heute gelehrt wird, ist keine Geschichte.

Herman Grimm ist es aufgefallen, daß der Geschichtsschreiber Gibbon als er die ersten Zeiten der christlichen Zeitrechnung schildert, nur den Untergang des Römischen Reiches schildert, nicht das allmähliche Herauf kommen des Christentums, sein Wachsen und Gedeihen. Aber Herman Grimm wußte natürlich den Grund nicht, weshalb ein guter Geschichtsschreiber jedenfalls einen Verfall gut schildern kann, nicht aber ein Wachsen und Werden. Der Grund ist der, daß auf die Art, wie man heute geschichtlich begreifen will, nur das begriffen werden kann, was zugrunde geht, nicht das, was wird, nicht das, was wächst. Das lebt in die Menschenentwickelung sich so hinein, wie sich sonst Träume in das individuelle Leben hineinleben. Daher kann es nur von dem geschildert werden, der Imaginationen haben kann. Und wer nicht Imaginationen haben kann, der mag ein Ranke, der mag ein Lamprecht sein: er schildert nur den Leichnam der Geschichte, nicht das Wirkliche des geschichtlichen Werdens. Denn die Impulse des geschichtlichen Werdens werden vom Bewußtsein nur geträumt; und versucht es das gewöhnliche Bewußtsein, das, was geschichtlich wird, aufzufassen, so kann es dies nur auffassen, wenn es schon im Unterbewußtsein ist.

19

Auch die neuere Zeit bietet uns interessante Beispiele dafür. Wer diese neuere Zeit verfolgte, hat gesehen, wie in den letzten Jahrzehnten das Interesse der Menschen für große Fragen des Weltzusammenhanges mehr oder weniger ganz erstorben oder verakademisiert worden ist - was fast gleichbedeutend mit Ersterben ist -, verschulmäßigt worden ist, ja, verschulmäßigt worden ist. Es ist ein tiefer Zusammenhang zwischen dem Verschulmäßigen der Zeit und der Tatsache, daß ein Schulmeister gegenwärtig an der Spitze der bedeutendsten Republik die Parole für die Menschheit ausgeben will. - Wenn man sich fragt, wo war in den letzten Jahrzehnten Sinn für große Menschheitszusammenhänge, für Ideen, welche, man möchte sagen, eine Art religiösen Charakter hatten, wenn auch einen brutal religiösen Charakter, während alles andere mehr oder weniger im Sterben war, wo war etwas? - so kann man doch sagen, wenn man die Verhältnisse richtig durchschaut: Es war beim Sozialismus. - Da waren Ideen, aber Ideen, die sich niemals auf das geistige Leben richteten, die sich nur auf das brutal materielle Leben richteten. Aber es stand leider diesen Ideen keine andere Welt von Ideen gegenüber. Kennt man nun das, was da an Ideen des Sozialismus an die Oberfläche getreten ist, so findet man: Es sind gewissermaßen geschichtliche Ideen, es sind Träume der Menschheit. Aber was für Träume? Man muß einen Sinn haben für dieses Geträumtwerden der geschichtlichen Ereignisse der Menschheit. Ich versuchte es in den Vorträgen in der Schweiz in der Weise den Leuten klarzumachen, daß ich sagte: Man versuche nur einmal, diejenigen Leute, die sehr gescheit sind, die aber gar nicht Verständnis haben für das, was ich jetzt Traumimpulse nenne, zu lenkenden und führenden Persönlichkeiten zu machen; man wird sehen, wie weit man kommt. - Man versuche es nur einmal damit, die Frage praktisch zu beantworten: Wie kann man ein Gemeinwesen - so sagte ich, auch im öffentlichen Vortrage - so schnell als möglich systematisch zugrunde richten? - Man ordne die Sache so an, daß man ein Parlament über dieses Gemeinwesen setzt und in dieses Parlament lauter Gelehrte und Professoren hineinbringt, das ist ein sicheres Mittel, um ein Gemeinwesen systematisch zugrunde zu richten. Es brauchen nicht angestellte Professoren zu sein, es

20

können auch sozialistische Führer sein, unter denen ja die Bewegung genügend Professoren hat. Man muß für solche Dinge eine Empfindung haben, dann wird man sich sagen: Wie ist eigentlich diese ganze umfassende Theorie des Sozialismus gekommen? Wollte man die sozialistischen Theorien - vielleicht wird die Menschheit heute einen traurigen Beweis dafür im Osten erleben können, wenn sie nicht früher aufhört und versucht, sie weiterzuführen - in die Wirklichkeit überführen, so würden sie nur zerstören können. Wie ist es gekommen, daß diese sozialistischen Ideen in den Köpfen der Menschen Platz gegriffen haben? Was sind sie eigentlich, diese Theorien? Wer dies wissen will, der muß von innen heraus die Geschichte der vier letzten Jahrhunderte kennen, insbesondere aber die des 18. und des 19. Jahrhunderts. Er muß wissen, daß das, was Geschichte der letzten vier Jahrhunderte ist, etwas ganz anderes ist als dasjenige, was in den Geschichtsbüchern steht; er muß wissen, daß die Geschichte der vier letzten Jahrhunderte, und namentlich die der zwei letzten, wirklich ein Bild menschlicher Klassen- und Standeskämpfe ist. Und Karl Marx zum Beispiel hat nichts anderes getan als dasjenige, was die Menschheit im Laufe der vier oder der zwei letzten Jahrhunderte geträumt hat, was wirklich da war, was aber jetzt ausgeträumt ist und einer neuen Zeit Platz machen muß, in dem Moment, als es schon ausgeträumt war, als Theorie aufzustellen. Der Sozialismus, der in seinen Theorien aufgestellt wurde in dem Augenblick, als die Tatsache bereits verträumt war, zeigt, daß der Verstand das schon Zugrundegegangene, das schon Leichnam Gewordene braucht, wenn er sich mit denjenigen Erkenntnismitteln an die Sache macht, die zum Beispiel in der Naturwissenschaft ganz gut gelten können. Man wird gerade aus solchen Erkenntnissen heraus einsehen müssen, daß jetzt die Welt an einem Zeitenwendepunkte wirklich steht, wo sie in der Auffassung des geschichtlichen Werdens der Menschheit - und die Gegenwart ist ja auch geschichtlich geworden, und wenn man in die Zukunft hineinlebt, lebt man auch in geschichtliches Werden hinein - umlernen muß; man wird einsehen müssen, daß dieses geschichtliche Werden nicht anders zu verstehen ist, als daß man es geisteswissenschaftlich

21

versteht. Man bekommt ja nicht einmal ein richtiges Bild der allerjüngsten Ereignisse, wenn man die Geisteswissenschaft außer acht läßt. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, das ich in der letzten Zeit öfter angeführt habe.

Ein wichtiges Ereignis, das zwischen den Zeilen des europäischen Lebens im Mittelalter sich zugetragen hat - wir sind ja hier unter uns, können daher solche Sachen sagen, trotzdem die draußen stehende Menschheit öfter über derartiges lacht; aber sie wird nicht immer lachen -, ist dasjenige, daß im Laufe des Mittelalters die Kunde, das Wissen des westlichen Weltteils der europäischen Menschheit verlorengegangen ist. Es waren ja immer Verbindungen vorhanden, besonders zwischen Irland und England und demjenigen Gebiete, das man heute Amerika nennt. Von Irland und England aus sind immer gewisse Verbindungen nach Westen gepflogen worden, und erst in dem Jahrhunderte, in dem dann die sogenannte Entdeckung Amerikas erfolgt ist, ist noch durch eine päpstliche Urkunde verboten worden, sich mit Amerika zu beschäftigen. Natürlich hat es damals nicht «Amerika» geheißen. Der Zusammenhang mit Amerika ist eigentlich erst in dem Zeitpunkt geschwunden, als die sogenannte Entdeckung Amerikas durch die Spanier erfolgt ist; aber die äußere Geschichte ist so undeutlich, daß eigentlich heute die Menschen das Gefühl haben, man habe in Europa vor dem Jahre 1492 Amerika überhaupt nicht gekannt. Das glauben ja fast alle Leute. Und ähnliche Tatsachen, welche die Geisteswissenschaft aus ihren Quellen heraus geltend machen müßte, könnten viele angeführt werden. Wir stehen heute eben vor einem Zeitenwendepunkt, in dem gerade das geschichtliche Leben unter dem Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft betrachtet werden muß. Man wird nun vielleicht sagen: Da aber Geisteswissenschaft, so wie wir sie betrachten, doch eigentlich erst in unserer Zeit aufgehen kann, wie steht es denn dann mit früheren Zeiten?

Wenn wir in frühere Zeiten zurückgehen, dann finden wir etwas anderes, das gewissermaßen sich schon messen kann mit dem, was wir heute die Imaginationen der Geisteswissenschaft nennen; wir finden den Mythos, die Sagen, und aus der Kraft des Mythos, aus der Kraft der Sage, die Bilder waren, konnten wahrhaftig realere, wirklich-

22

keitsgemäßere - auch politische - Impulse genommen werden als aus den abstrakten Lehren der heutigen Geschichte oder Sozialökonomie oder dergleichen. Denn was Menschen zusammenhält, was das Zusammenleben der Menschen bedingt, es braucht nicht in abstrakten Begriffen aufgefaßt zu werden. Im Mythos wurde es früher zum Ausdruck gebracht. Nun, wir können heute nicht wieder Mythen dichten, wir müssen eben zu Imaginationen kommen und mit Imaginationen das geschichtliche Leben erfassen und daraus wieder politische Impulse prägen, die wahrhaftig anders sein werden als die phantastischen Impulse, von denen heute so viele Menschen träumen, oder wie wir sagen wollen: als die schulmeisterlichen Impulse. Es ist heute gewiß schwierig, den Menschen noch zu sagen: Das geschichtliche Leben ist etwas, was eigentlich dem gewöhnlichen Vorstellen gegenüber im Unterbewußtsein verläuft. Aber auf der andern Seite pocht dieses dem Menschen verborgene Leben gar sehr an die Pforten der Ereignisse, an die Pforte der menschlichen Impulse überhaupt. Man kann sagen - gerade bei den Zürcher Vorträgen hat sich das gezeigt -, man möchte heute überall zusammenkommen mit denjenigen Erkenntnisbestrebungen, die auch zum Geiste hinwollen, aber mit lauter unzulänglichen Mitteln. In Zürich macht man ja insbesondere Bekanntschaft mit der dort bereits akademiefähig gewordenen analytischen Psychologie, der sogenannten Psychoanalyse, und gerade an meine Vorträge haben sich die merkwürdigsten Auseinandersetzungen über die Beziehungen der anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft zur Psychoanalyse angeschlossen. Aber die Psychoanalytiker kommen sozusagen mit geistig verbundenen Augen an diese Welt der Geisteswissenschaft heran, können sich nicht in sie hineinfinden. Aber diese Welt pocht an die Türe desjenigen, was heute den Menschen erschlossen werden soll.

Da ist zum Beispiel in Zürich ein Professor Jung, der erst jüngst wieder eine Broschüre über Psychoanalyse geschrieben hat - er hat viele Schriften darüber verfaßt - und der manches Problem darin berührt; aber er zeigt damit gerade, daß er alles nur mit unzulänglichen Mitteln anpacken kann. Ich will eine Tatsache anführen, aus deren Erwähnung Sie gleich sehen werden, was ich meine. Jung führt

23

ein Beispiel an, das überhaupt viel von den Psychoanalytikern angeführt wird.

Einer Frau passiert das Folgende. Sie ist eines Abends in einer Gesellschaft eingeladen, sie soll in einem Hause zum Abend bleiben. Die Dame des Hauses, wo sie eingeladen ist, soll gleich, nachdem das Abendessen verlaufen ist, in einen Badeort reisen, weil sie nicht ganz gesund ist. Das Abendbrot nimmt seinen Verlauf, die Dame des Hauses fährt ab, die Gäste gehen auch fort. Mit einem Trupp Gäste geht auch die eingeladene Dame, die ich meine. Die Leute gingen, wie man das ja zuweilen zu tun pflegt, wenn man abends aus einer Gesellschaft kommt, nicht auf dem sogenannten Bürgersteig, sondern sie gingen auf der Mitte der Straße. Da kommt auf einmal eine Droschke um eine Ecke gefahren. Die Leute wichen dem Wagen nach den Bürgersteigen hin aus, aber jene erwähnte Dame nicht. Sie lief mitten auf dem Fahrdamm weiter, gerade vor den Pferden vorweg. Der Kutscher schimpfte, aber sie lief immer in derselben Weise weiter, bis sie an eine Brücke kam, die über einen Fluß führte. Da beschloß sie, um dieser unangenehmen Situation zu entgehen, sich über die Brücke in den Fluß zu stürzen. Das tat sie, und sie konnte von den Leuten der Gesellschaft, die ihr nachgelaufen waren, gerade noch gerettet werden. Und weil es nun für die Gesellschaft das Nächstliegende war, wurde sie gerade wieder in das Haus der abgereisten Frau, wo sie herkamen, zurückgebracht. Sie fand dort den Gatten jener abgereisten Dame und konnte in seinem Hause mit ihm einige Stunden zubringen.

Nun denken Sie sich, was ein Mensch mit unzulänglichen Mitteln alles aus einer solchen Begebenheit machen kann. Man findet dann, wenn man nach Art der Psychoanalytiker an die Sache herangeht, jene geheimnisvollen Provinzen in der Seele, die uns davon unterrichten, daß die Seele schon in ihrem siebenten Lebensjahre irgendein Erlebnis gehabt hat, das mit Pferden zusammenhängt, so daß die Frau auf jenem Fortgange aus der Gesellschaft, indem der Anblick der Droschkenpferde jenes frühere Erlebnis aus dem Unterbewußtsein heraufrief, dadurch so perplex gemacht worden ist, daß sie nicht zur Seite sprang, sondern vor der Droschke davonlief. So wird für den Psychoanalytiker der ganze Vorgang ein Ergebnis des Zusammenhanges

24

gegenwärtiger Erlebnisse mit «ungelösten Seelenrätseln» aus dem Gebiete der Erziehung und so weiter. Alles dies aber ist ein Verfolgen der Dinge mit unzulänglichen Mitteln, weil der betreffende Psychoanalytiker nicht weiß, daß dieses im Menschen waltende Unterbewußte wesenhafter ist, als er annimmt, daß es sogar auch viel raffinierter und viel gescheiter ist als das, was der Mensch aus seinem bewußten Verstande hat. Auch viel mutiger und viel kühner ist oft dieses Unterbewußtsein. Denn der Psychoanalytiker weiß nur nicht, daß ein Dämon in der Seele jener Frau saß, die weggegangen, ich könnte ebensogut sagen, schon hingegangen ist mit dem unterbewußten Gedanken, allein zu sein mit dem Manne, wenn die Frau abgereist sein wird. Das alles ist veranstaltet mit den raffiniertesten Mitteln des Unterbewußtseins, denn man tut alles viel sicherer, wenn man mit dem Bewußtsein nicht dabei ist. Die Dame lief einfach vor den Rossen einher, um abgefangen zu werden, wenn es so weit ist, und verhielt sich danach. Aber solche Dinge durchschaut der Psychoanalytiker nicht, weil er nicht voraussetzt, daß es überall eine geistig-seelische Welt gibt, zu der die Menschenseele in Beziehung steht. Aber Jung ahnt so etwas. Aus den zahlreichen Dingen, die ihm auftreten, ahnt er, daß die Menschenseele zu zahlreichen andern Seelen in einer Beziehung steht. Aber er muß doch Materialist sein, denn sonst wäre er doch kein gescheiter Mensch der Gegenwart. Was macht er also? Er sagt: Überall steht die Menschenseele - man sieht das an den Dingen, die mit der Menschenseele vorgehen - in Beziehung zu außer- seelischen geistigen Tatsachen. - Diese gibt es aber doch nicht! Also wie hilft man sich da? Nun, die Seele hat eben einen Körper, der von andern Körpern abstammt, und diese wieder von andern; dann gibt es eine Vererbung, und Jung konstruiert sich zusammen, daß die Seele vererbungsgemäß alles das nachlebt, was man an Verhältnissen zum Beispiel zu den heidnischen Göttern erlebt hat. Das steckt noch in einem, durch Vererbung steckt es in einem, und das werden «isolierte Seelenprovinzen», die erst heraufkatechisiert werden müssen, wenn man die Menschenseele davon befreien will. Er sieht es sogar ein, daß es der Menschenseele ein Bedürfnis ist, dazu eine Beziehung zu haben, und daß sie das Nervensystem ruinieren, wenn es

25

nicht heraufgeholt wird ins Bewußtsein. Daher spricht er den Satz aus, der ganz berechtigt ist aus der modernen Weltanschauung heraus: Die Menschenseele kann nicht, ohne daß sie innerlich zugrunde geht, ohne Beziehung zu einem göttlichen Wesen sein. Dies ist ebenso sicher, wie es auf der andern Seite sicher ist, daß es ja ein göttliches Wesen gar nicht gibt. Die Frage nach der Beziehung des menschlichen Seelenwesens zum Gotte hat mit der Frage der Existenz Gottes nicht das geringste zu tun.

So steht es in seinem Buche. Also bedenken wir, was da eigentlich vorliegt Es wird wissenschaftlich konstatiert, daß die Menschenseele sich ein Verhältnis zu Gott konstruieren muß, daß es aber ebenso sicher ist, daß es töricht wäre, einen Gott anzunehmen; also ist die Seele zu ihrer eigenen Gesundheit verurteilt, sich einen Gott vorzulügen. Lüge dir vor, daß es einen Gott gibt, sonst wirst du krank! - das steht eigentlich in dem Buch.

Man sieht aber daraus, daß die großen Rätselprobleme a die Pforten pochen, und daß sich die Gegenwart nur gegen diese Dinge stemmt. Würde man mutig genug sein, so würde auf Schritt und Tritt heute etwas ähnliches zutage treten. Man ist nur nicht mutig genug! Denn ich sage dies alles nicht, um dem Professor Jung etwas am Zeuge zu flicken, sondern weil ich glaube, daß er in seinem Denken schon mutiger ist, als alle andern. Er sagt das, was er sagen muß nach den Voraussetzungen der Gegenwart. Die andern sagen es nicht, sie sind noch weniger mutig.

Diese Dinge muß man alle bedenken, wenn man so recht ins Auge fassen will, was es eigentlich heißt, die Geisteswissenschaft kommt mit einer solchen Wahrheit wie dieser: Was im geschichtlichen Leben der Menschheit und folglich auch im Leben der politischen Impulse geschieht, das hat nichts zu tun mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, kann nichts zu tun haben mit dem gewöhnlichen Bewußtsein; sondern wirklich verstanden und gehandhabt kann es nur werden, wenn das imaginative Bewußtsein eintreten kann. Man könnte auch mit Beziehung auf den charakteristischsten Vertreter der - wie ich in der letzten Zeit öfter sagte - antisozialen Geschichtsauffassung in der Politik sagen, daß der Wilsonianismus ersetzt werden muß durch ein

26

imaginatives Erkennen der Wirklichkeit. Nur ist der Wilsonianismus sehr verbreitet, und manche Menschen sind Wilsonianer, ohne daß sie es ahnen. Es kommt nicht auf Namen an, sondern auf die Tatsachen, die unter den Menschen leben. Ich kann ja in gewisser Beziehung unbefangener über Wilson sprechen, weil ich immer betonen kann, daß ich in dem schon vor dem Kriege gehaltenen Zyklus in Helsingfors ein Urteil über Wilson abgegeben habe und nicht nötig hatte, durch Woodrow Wilson erst während des Krieges belehrt zu werden, wes Geistes Kind auf dem Throne von Amerika sitzt. - Man könnte aber recht gut nachweisen die lobhudelnden Stimmen, die es überall über Woodrow Wilson gegeben hat und die erst seit gar nicht so langer Zeit verklungen sind. Jetzt weiß man gar viel. Jetzt weiß man sogar, daß dieser Herr, der auf dem Throne von Amerika sitzt, zur Abfassung seiner wirksamsten republikanischen Urkunden sich alte Botschaften des seligen Kaisers Dom Pedro von Brasilien vom Jahre 1864 nimmt und die darin enthaltenen Sätze einfach abschreibt, nur daß er an den Stellen, wo Dom Pedro sagte: Ich muß für die Interessen Südamerikas eintreten -, jetzt dafür setzt: Ich muß für die Interessen der Vereinigten Staaten von Amerika eintreten - und so weiter, mit der gehörigen Umformung. Als auch in unserem Territorium seinerzeit die beiden Bücher Wilsons «Die neue Freiheit» und «Nur Literatur» erschienen sind, da waren der lobhudelnden Stimmen nicht weniger; es ist noch nicht lange her, nur so fünf, sechs Jahre. Auf diesem Gebiete des Wilsonianismus haben ja die Menschen einiges gelernt. Aber mit Bezug auf viele andere Dinge wäre es schon notwendig, daß gelernt und gelernt würde von den so tief, tief einschneidenden Ereignissen der Gegenwart. Dazu ist allerdings notwendig, daß manche Dinge sehr ernst genommen würden, die gerade auf dem Grund und Boden der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis nur erblühen können. Man klagt ja auch diese anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft sehr leicht an, daß sie theoretisch sei, und hält ihr vor, wie andere Richtungen unmittelbar zu Werke gehen, wie sie nicht die Menschen damit plagen, Weltenentwickelungen begreifen zu sollen, sondern wie sie den Menschen von Liebe sprechen, von allgemeiner Menschenliebe,

27

was man lieben und wie man lieben soll. Nun, Jahrtausende ist in dieser Weise von der Liebe gesprochen worden, wie es auch jetzt wieder viele Leute haben wollen; trotzdem lebt sich die Liebe so aus, wie sie sich jetzt auslebt. Lassen Sie erst einmal eine viel kürzere Zeit Geisteswissenschaft die menschlichen Seelen ergreifen, dann werden Sie sehen, daß diese Geisteswissenschaft, wenn sie die menschlichen Seelen wirklich ergreift, in den menschlichen Herzen schon als Liebe aufgehen wird. Denn Liebe kann nicht gepredigt werden. Liebe kann allein wachsen, wenn sie richtig gepflegt wird. Aber dann wächst sie. Und sie ist ein Kind des Geistes. Sie ist auch beim Menschen ein Kind des wirklichen Erkennens, jenes Erkennens, das nicht auf die bloße Materie geht, sondern das auf den Geist geht.

Damit habe ich heute in einem einleitenden Vortrage nichts anderes tun wollen, als auf einige Empfindungen hinzudeuten, die uns gerade in dieser Zeit vielleicht bedeutsam sein werden. Aber ich habe angedeutet, wie ich es in den nächsten Zweigvorträgen hier halten will. Ich habe gerade alles das zu besprechen, was in der Menschenseele heute Kraft und Mut und Hoffnung erwecken kann. Ich möchte von alledem sprechen, was Geisteswissenschaft anderes der Menschheit geben kann, als was ihr Jahrhunderte gegeben haben, und ich möchte von der Geisteswissenschaft als von etwas Lebendigem sprechen, das in uns nicht Theorie ist, sondern das in uns einen zweiten, einen geistigen Menschen gebiert, der den andern trägt und hält in der Welt. Und das glaube ich vor allen Dingen, daß es die Gegenwart braucht. Es gab im Mittelalter eine Zeit, Sie kennen sie alle, wo viele Menschen den manchmal sehr phantastischen Drang hatten, Gold zu machen. Warum wollten sie Gold machen? Sie wollten damit etwas, was sich unter den gewöhnlichen irdischen Verhältnissen nicht realisieren läßt. Warum? Weil sie einsahen, daß die gewöhnlichen irdischen Verhältnisse, ohne durchgeistigt zu sein, ohne von den geistigen Impulsen durchzogen zu sein, den Menschen nicht eine wahre Befriedigung geben können. Das ist ja schließlich auch der Inhalt der Lehre des Evangeliums. Nur sehen die Menschen gewöhnlich an dem Wichtigsten vorbei, sie kritisieren die Anschauung der Evangelien, daß das Reich Gottes herabgekommen ist. Ja, aber ist es nicht da? Es ist da!

28

Es ist nur nicht in den äußeren Gebärden. Es muß innerlich ergriffen werden. Es muß nur nicht verleugnet werden, wie es in unserer Zeit verleugnet wird. Und auch von diesem Herabkommen des Reiches des Geistes wollen wir in der nächsten Zeit sprechen. So wollte ich heute nur, ich möchte sagen, einen Grundton anschlagen. Unsere Zeit ist auch darauf angewiesen - die Zahl derjenigen, die jetzt durch die Todespforte gegangen sind, zählt ja nach Millionen -, die Brücke zu bauen zu dem Reich, in welchem die Toten leben. Sie leben unter uns, und wir können sie finden. Wie wir sie finden können, auch davon wollen wir wieder in einer erneuerten Weise sprechen.

29

ZWEITER VORTRAG Berlin, 29. Januar 1918

Es ist öfter im Zusammenhange Unserer Betrachtungen aufmerksam gemacht worden auf den durch die Zeiten leuchtenden, an dem griechischen Apollotempel stehenden Spruch «Erkenne dich selbst!». Vieles, unendlich vieles von Aufforderung, nach Menschenweisheit und damit nach Weltenweisheit zu streben, liegt in diesem Spruch. Der Spruch hat allerdings eine bedeutsame Erneuerung, eine Vertiefung erfahren durch den Impuls, den das Mysterium von Golgatha gegeben hat. Von allen diesen Dingen werden wir vielleicht, wenn die Zeiten es gestatten, im Verlaufe dieses Winters noch zu sprechen haben. Wir werden versuchen den Weg zu finden gerade zu solchen Zielen, die damit angedeutet sind.

Da möchte ich denn heute ausgehen von einer scheinbar äußerlichen Betrachtung des Menschen, also gewissermaßen von einer äußerlichen Form der menschlichen Selbsterkenntnis, die aber nur scheinbar eine äußerliche ist, die trotzdem eine erste, gewichtige Kraft ist, wenn man sich ihrer bemächtigt, um auch in das innere Wesen des Menschen einzudringen. Ich möchte ausgehen, aber eigentlich doch nur scheinbar ausgehen von der äußeren menschlichen Gestalt.

Eine Betrachtung dieser äußeren menschlichen Gestalt findet man heute in dem, was als Wissenschaft anerkannt ist, eigentlich nur mehr in einem Sinne, der für eine höhere Geistbetrachtung ziemlich unbefriedigend ist. Man darf schon sagen: Wer heute den Menschen als Menschen erkennen will, findet wenig Anregung zu solcher Menschenerkenntnis in der Wissenschaft, allerdings in der Wissenschaft, so wie sie eben in der Gegenwart getrieben wird. Denn, was diese Wissenschaft schon hervorgebracht hat, was vorliegt, das können Sie wiederum aus den verschiedenen Andeutungen meines letzten Buches «Von Seelenrätseln» ersehen. Dieses Buch gibt wichtige, bedeutungsvolle Bausteine zu einer weitausblickenden Erkenntnis des menschlichen Wesens. Aber diese Bausteine werden eben gegenwärtig nicht gesucht. Und was heute Anatomie, Physiologie und so weiter bieten,

30

gibt sehr wenig dem Fragenden, der ernsthaft in das Wesen des Menschen aus einer Erkenntnis der äußeren physischen Menschengestalt eindringen will. Da gibt heute im Grunde genommen viel mehr dasjenige, was künstlerische Betrachtungsweise ist. Man darf schon sagen: Vieles läßt heute die Wissenschaft unbefriedigt. Und wenn jemand sich nur entschließen kann, im Goetheschen Sinne auch in der Kunst, namentlich in der künstlerischen Betrachtung der Welt wirkliche, substantielle Wahrheit zu suchen, so findet er vielleicht heute mehr Wahrheit auf diese Weise, als bei dem, was anerkannte Wissenschaft ist. Es wird in der Zukunft eine Weltanschauung geben, welche gerade die aus der Geisteswissenschaft hervorgegangene sein wird, so sehr man das heute noch nicht durchschauen kann. Eine Weltanschauung wird es geben, die aus einem gewissen menschlichen Erkenntnisbedürfnis wissenschaftliches Empfinden der Welt und künstlerisches Empfinden der Welt in einer höheren Synthese und Harmonie vereinigen wird. Darin wird dann viel mehr Hellsehen sein als in jenem Hellsehen, von dem heute mancher Mensch träumt, aber eben nur träumt.

Wenn wir an die menschliche Gestalt herantreten, so können wir zunächst etwas Wichtiges an ihr wahrnehmen, wenn wir unseren Blick richten - was Sie gewiß mehr oder weniger alle schon getan haben - auf diesen Grundstock der menschlichen Gestalt, der uns im Skelett entgegentritt. Sie alle haben gewiß schon ein menschliches Skelett gesehen und die Differenzierung bemerkt, welche zwischen dem Kopfteil und der übrigen Menschengestalt besteht. Sie werden dabei bemerkt haben, daß der Kopf, das Haupt, in einer gewissen Weise eine abgeschlossene Ganzheit ist, die eigentlich wie auf einer Säule auf alledem aufsitzt, was das Gliedsystem, was den übrigen menschlichen Organismus ausmacht. Man kann sehr leicht beim Skelett den auf dem übrigen menschlichen Organismus ruhenden Kopf abheben. Wenn Sie in dieser Weise die oberflächlichste Differenzierung ins Auge fassen, kann Ihnen auffallen, daß der Kopf, das Haupt, eigentlich mehr oder weniger annähernd kugelförmig gestaltet ist; es ist keine vollkommene Kugelform, aber es ist die Kugelform veranlagt im menschlichen Haupt. Nun muß man als geisteswissenscbaftlicher Forscher

31

sogar davor warnen, äußere oberflächliche Analogien einer Erkenntnisbestrebung zugrunde zu legen. Aber die Anschauung des menschlichen Hauptes als der Kugelform sich annähernd ist keine oberflächliche Betrachtung der Form des menschlichen Hauptes; denn der Mensch ist wirklich eine Art Zweiheit zunächst, und die Kugelgestalt seines Hauptes ist keineswegs etwas Zufälliges. Man muß nur ins Auge fassen, was man eigentlich an dem menschlichen Haupt vor sich hat. Erste Andeutungen zu dem, was ich hier meine, wurden gegeben innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Betrachtungen in der Schrift, die ich benannt habe «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», worin ich schon angedeutet habe, wie in der Tat das menschliche Haupt ein Abbild darstellt des ganzen Universums, des gerade uns äußerlich als Raumkugel, als Hohlkugel entgegentretenden Universums.

Wenn man diese Dinge bespricht, muß man auf etwas aufmerksam machen, was dem heutigen Menschen für die wichtigste Art der Betrachtung noch fern liegt, was er auf einem Gebiete immer anwendet, was er aber gerade da nicht anwenden will, wo es von ungeheurer Tragweite ist. Niemandem, der einen Kompaß, eine Magnetnadel in die Hand nimmt, und wenn diese Magnetnadel mit einem Ende nach dem magnetischen Nordpol, mit dem andern nach dem magnetischen Südpol gerichtet ist, wird es heute einfallen, die Ursachen dafür, daß diese Magnetnadel sich gerade so richtet, bloß in der Magnetnadel selbst zu suchen; sondern der Physiker wird sich gedrängt fühlen, die Magnetnadel und die von dem magnetischen Nordpol der Erde ausgehende magnetische Kraft als ein Ganzes anzusehen, indem diese magnetische Kraft das eine Ende der Nadel nach dem Nordpol richtet und das andere nach dem Südpol. Da sucht man die Veranlassung zu dem, was in der Magnetnadel im kleinsten Raume geschieht, in dem großen Universum. Dasselbe macht man jedoch nicht, wo man es auch machen sollte, wo es aber sehr darauf ankommen würde, daß man es machte. Wenn jemand heute wahrnimmt - und zwar gerade als Wissenschafter -, daß sich in einem Lebewesen ein anderes Lebewesen bildet, also zum Beispiel wenn jemand wahrnimmt, daß sich im Huhn das Ei bildet, so geschieht auch etwas im kleinsten Raume; da aber

32

fällt es dem Menschen gewöhnlich nicht ein, das, was er sich bei der Magnetnadel sagen muß, jetzt auch anzuwenden und zu sagen: Es liegt nicht im Huhn, sondern im ganzen Kosmos, daß sich im Huhnkörper der Eikeim bildet. - Gerade so aber, wie an der Magnetnadel das große Universum beteiligt ist, so ist im Huhnkörper, im Mutterhuhn - trotz aller Vorgänge, die daran mitbeteiligt sind - der ganze Kosmos in seiner Sphärengestalt, in seiner Kugelgestalt beteiligt. Diejenigen Vorgänge, die in der Vererbungslinie zurückführen zu den Vorfahren, wirken bloß mit, wenn sich im Mutterorganismus der Eikeim bildet. Das ist heute noch eine Ketzerei gegenüber der offiziellen Wissenschaft, aber doch eine Wahrheit. Und in der verschiedensten Weise wirken die Kräfte des Kosmos mit. Und so wahr es ist, daß sich in der Tat beim Menschen - das, was ich sage, beweist die empirische Embryologie - das Haupt, in seiner Keimanlage zunächst, aus dem ganzen Universum herausbildet, so wahr es ist, daß das menschliche Haupt zuerst im Mutterorganismus entsteht, so wahr ist es auf der andern Seite, daß die ursächlichsten Kräfte zu dieser Entstehung aus dem ganzen Kosmos heraus wirken und daß der Mensch in seinem Haupte ein Abbild ist des ganzen Kosmos. Nur das, was am Haupte hängt, das Skelett, kann man sagen - wenn man es nur besonders beachtet -, das ist eigentlich in seiner Konfiguration, in seiner Formung mehr zusammenhängend mit dem, was in der Vererbungslinie liegt, was mit Vater und Mutter, Großvater und Großmutter zusammenhängt, als mit dem, was im Kosmos draußen ist. So ist auch in bezug auf seine Entstehung, in bezug auf seine Entwickelung der Mensch ein Doppelwesen, zunächst. Er ist seiner Gestalt nach auf der einen Seite aus dem Kosmos herausgebildet, und das kommt in der Kugelgestalt seines Hauptes zum Vorschein; er ist auf der andern Seite herausgebildet aus der ganzen Vererbungsströmung, und das kommt in dem ganzen übrigen Organismus, der am Kopfe hängt, zum Vorschein. Die ganze äußere Formung des Menschen zeigt ihn uns als ein Zwitterwesen, zeigt uns, daß er einen doppelten Ursprung hat.

Eine solche Betrachtungsweise hat nicht nur die Bedeutung, daß wir durch sie etwas wissen lernen, sondern noch eine ganz andere. Wer

33

heute nach der Anleitung der gewöhnlichen offiziellen Wissenschaft den Menschen betrachtet, wer zum Beispiel ins Mikroskop hineinschaut und den Keim sich entwickeln sieht, und nur das sieht, was dadrinnen ist - so wie man an der Magnetnadel etwa sehen wollte, warum diese die Fähigkeit hat, sich so in der Richtung von Nord nach Süd einzustellen -, der lebt in einem Gedankenmassiv, das ihn unbeweglich macht und unbrauchbar für das äußere Leben, besonders wenn man so vorgeht, wie in der äußeren Wissenschaft. Und wendet man solche Gedanken auf die Sozialwissenschaft an, so genügen sie nicht, oder sie führen zur Weltenschulmeisterei, die man mit einem andern Worte auch «Wilsonianismus» nennen kann. Es handelt sich also darum, welches Denken in uns herangezogen wird, welche Formen in unseren Gedanken entstehen, indem wir uns gewissen Gedanken hingeben. Zu wissen über die Dinge, ist das, was noch die geringere Bedeutung hat. Was in uns die bestimmte Art des Wissens macht, welche Brauchbarkeit sie mit sich bringt, das ist es, worauf es ankommt. Und wenn man einen offenen Sinn dafür hat, den Menschen in Zusammenhang mit dem Weltenganzen anzuschauen, dann werden in uns auch diejenigen Gedanken erweckt, welche in die ethische Weltbetrachtung, in die juristische Weltbetrachtung hineinführen, die in Wirklichkeit die höchste sein soll, die aber heute eben etwas ganz Sonderbares ist. Sie sehen also, es gibt gewisse andere Impulse noch, um ein solches Wissen, wie es hier gemeint ist, aufzusuchen, als die Befriedigung, ich will nicht Sagen, der Neugier, sondern der bloßen Wißbegierde.

So steht der Mensch vor uns als ein Doppelwesen, als ein Zwitterwesen. Das hat eine viel tiefere Bedeutung noch. Und ich möchte heute nur die Grundtöne anschlagen, die uns beschäftigen sollen, um in Ihren Seelen ein Gefühl von der Wichtigkeit dessen, was wir betrachten, hervorzurufen.

Bleiben wir dabei stehen, daß das Haupt im weiteren Verlaufe unseres Lebens - das Haupt, das uns jetzt entgegentritt als ein Abbild der ganzen Welt - im wesentlichen der Vermittler ist für unser Erkennen, ich will nicht sagen das Werkzeug, denn ich würde damit etwas nicht ganz Richtiges aussprechen. Aber nicht das Haupt allein

34

ist der Vermittler für unser Erkennen - bleiben wir beim Erkennen, beim Wahrnehmen der Welt -, das Haupt vermittelt es, aber auch der übrige Mensch. Und da der übrige Mensch, sogar seinem Ursprunge nach, von dem Haupte ganz verschieden ist, etwas anderes ist, so besteht der Mensch, auch insofern er Erkennender ist, aus dem Kopfmenschen und - ich nenne ihn so, wie ich ihn schon früher genannt habe - dem Herzensmenschen, weil sich im Herzen das andere alles konzentriert. Wir sind in der Tat zwei Menschen: ein Kopfmensch, der wahrnehmend zu der Welt in Beziehung steht, und ein Herzensmensch. Der Unterschied ist der, daß der Mensch, so sehr er manchmal auf die Welt schimpft, lediglich seinen Kopf benutzt zur Erkenntnis. Was liegt dem eigentlich zugrunde? Wenn man Parallelen ziehen würde zwischen der Kopferkenntnis und der Herzenserkenntnis, so würde nicht viel darauf ankommen. Es würde der, welcher mit dem Herzen zu erfassen vermag, was der Kopf erkennt, wärmer sein in seiner Erkenntnis als der andere. Es würde eine Differenzierung unter den Menschen geben, aber der Unterschied würde nicht sehr groß sein. Wenn man aber nun mit der geisteswissenschaftlichen Erfahrung an die Dinge herantritt, so stellt sich etwas ganz anderes heraus. Erkenntnisse, Wahrnehmungen eignet man sich ja an. Nach und nach geschieht es, daß die Wahrnehmungen, die Erkenntnisse an uns herankommen. So ist denn das Folgende der Fall. Wie wir uns mit dem Kopfe zur Welt verhalten, wie wir da wahrnehmen und erkennen, das geschieht in einer gewissen Beziehung schnell; und wie wir uns mit dem übrigen Organismus zur Welt erkennend verhalten, das geschieht langsam. Zu all dem übrigen an Differenzierungen, was ich schon im vorigen Winter in bezug auf die Entwickelung der Welt und der Menschen angeführt habe, kommt noch hinzu, daß unser Kopf mit seinem Erkennen eilt, der Übrige Organismus nicht eilt. Das hat eine ungeheuer tiefe Bedeutung. Wenn wir schulmäßig erzogen werden, sieht man eigentlich nur auf die Kopferziehung. Die Menschen werden heute nur für den Kopf erzogen; das können sie schulmäßig machen. Denn der Kopf schließt im äußersten Falle, wenn er sich lange an der Erkenntnisentwickelung beteiligt - aber bei den meisten Menschen geht es nicht so weit -, in den Zwanziger

35

Jahren des Lebens ab. Dann ist der Kopf fertig mit seinem Erkennen, mit seinem Aneignen der Welt. Der übrige Organismus braucht dafür die ganze Zeit bis zum Tode. Und man kann schon sagen: Der Kopf geht in dieser Beziehung ungefähr dreimal so schnell wie der übrige Organismus; der übrige Organismus hat Zeit, er geht dreimal langsamer, er macht ein ganz anderes Tempo. Daher ist es für den, der die Gabe hat, solche Dinge durch Erkenntnis zu beobachten, klar, daß er, wenn er irgend etwas ergriffen hat durch den Kopf, warten muß, bis er es mit dem ganzen Menschen vereinigt hat. Um etwas als etwas Lebensvolles aufzunehmen, muß man wirklich, wenn das Aufnehmen durch den Kopf etwa einen Tag gedauert hat, drei bis vier Tage warten, bis man es voll aufgenommen hat. Der gewissenhafte Geistesforscher wird nie das erzählen, was er nur mit dem Kopfe aufgenommen hat, sondern nur das, was er mit seinem ganzen Menschen begriffen hat. Das hat eine außerordentliche, weit- und tiefgehende Bedeutung.

Wir können heute eigentlich unseren Kindern nach den bestehenden Einrichtungen nur eine Art von Kopfwissen geben, wir geben ihnen nicht ein Wissen, das der übrige Organismus verträgt. Es bleibt beim Kopfwissen, bei einem Wissen, das schon so präpariert ist, daß es schnell aufgenommen werden muß durch den Kopf, und daß man sich später daran erinnern kann. Zwar bei Gegenständen, wo es sich um den Unterricht handelt, erinnert man sich später nicht mehr daran, da ist man froh, wenn man die Dinge nur bald nach dem letzten Examen wieder weg hat. Ein Wissen, das ganz von dem übrigen Organismus verarbeitet werden kann, es würde unter allen Umständen später, wenn man sich wieder daran erinnerte, Liebe, Freude, Herzlichkeit dafür entwickeln. Mit den tiefsten Geheimnissen der Mysterien der Menschheit hängt es zusammen, wie man den Unterricht gestalten soll, damit der Mensch später zeitlebens, wenn er auf seine Unterrichtszeit zurück sieht, sich mit Herzlichkeit, mit Freude, mit einer gewissen Beseligung danach zurücksehnen kann.

Auf diesem Gebiete ist ungeheuer viel zu tun. Denn wer mit den einschlägigen Dingen bekannt ist, der weiß, daß alles, was wir heute insbesondere an Kinder heranbringen, schon von vorneherein so

36

präpariert ist, daß der übrige Organismus es nicht annimmt, daß es später keine Freude macht. Damit hängt aber zusammen, daß die Menschen in unserer Zeit verhältnismäßig früh seelisch altern. Denn das ist ja das Geheimnis des Menschen: Wenn der Kopf zum Beispiel achtundzwanzig Jahre ist, so ist der übrige Organismus, der in seiner Entwickelung nachläuft, erst ein Drittel oder ein Viertel dieser Zeit. Der übrige Organismus hält ein Tempo ein, das dreimal, viermal langsamer ist. Andere Beziehungen werden wir noch kennenlernen. Also der Mensch könnte, wenn man pädagogisch diesen Mysterien entgegenkommen würde, etwas aufnehmen, was so fruchtbar, so gedeihlich ist, daß es ausreichen würde bis zu der Zeit, wo er stirbt. Denn, wenn er bis zum fünfundzwanzigsten Jahre solche Dinge aufgenommen hat und für sie nur dreimal längere Zeit zum Verarbeiten braucht, so würde sie der übrige Organismus bis zum fünfundsiebzigsten Jahre verarbeiten können. Für den Menschen aber in seiner gesamten Wesenheit hat das Wissen, das sich der Kopf aneignet, nicht eine umfassende Bedeutung, sondern nur dasjenige innerlich wissentliche Erleben, das sich der ganze Mensch in seiner ganzen Wesenheit aneignet. Aber demgegenüber ist sogar heute das öffentliche Leben abgeneigt; es will nur das aufnehmen, was Kopfweisheit ist. Denn denken Sie einmal - Sie können sich an den Fingern herzählen die ganze Bedeutung dessen, was ich jetzt meine: Jemand könnte bis zu seinem fünfzehnten Jahre so viel mit dem Kopfe aufnehmen, daß er, wenn er diese Begriffe verarbeitete und wenn diese Begriffe sich zum Beispiel auf die Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten beziehen würden, er mit fünfundvierzig Jahren reif sein würde, in eine Stadtverwaltung, in ein Parlament gewählt zu werden; denn da muß er sich als ein ganzer Mensch hineinstellen. Denn man muß sagen: Wenn man dem Menschen bis zum fünfzehnten Jahre solche Begriffskräfte beibringen kann, daß sie mit seinem ganzen Lebenswesen verarbeitet werden könnten, so wird er mit dem fünfundvierzigsten Jahre reif sein, um in eine Stadtverordnetenversammlung oder in ein Parlament gewählt zu werden. Und den Anschauungen der Alten, die noch ein lebendiges Wissen von diesen Dingen aus den Mysterien hatten, lagen solche Dinge noch zugrunde. Heute dagegen gehen die Bestrebungen

37

dahin, die Altersgrenze möglichst herabzusetzen, denn heute ist jeder mit zwanzig Jahren ebenso reif, wie es sonst jemand mit achtzig war. Aber nicht begierdliche Forderungen können darin entscheiden, sondern nur eine richtige Erkenntnis.

Diese Dinge haben also schon eine grundbedeutsame Anwendung für das Leben. Unser ganzes öffentliches Leben ist darauf eingestellt, nur das zu berücksichtigen, was die Menschen durch ihre Köpfe sind. Aber trotzdem es so ist, daß eigentlich heute die Menschen, indem sie miteinander sozial verkehren, weisheitsvoll nur mit den Köpfen verkehren, so ist dieser Kopfverkehr - denken Sie nur einmal nach: es ist der ganze soziale Verkehr nur ein Kopfverkehr! - ganz ungeeignet, um ein soziales Leben zu konfigurieren. Denn woher ist denn der Kopf? Der Kopf des Menschen - wir haben das ausgeführt - ist nicht von dieser Erde, er ist gerade aus dem Kosmos heraus geschaffen. Will man mit dem Kopfe die Erdenangelegenheiten besorgen, so kann man es nicht. Mit dem Kopfe ist niemand ein Nationaler, mit dem Kopfe ist niemand ein solcher, der irgendeinem Teil der Erde angehört. Mit dem Kopfe sollen wir nur das entscheiden, was der ganzen Welt angehört. Um jedoch das entscheiden zu können, was der Erde angehört, müssen wir erst während unseres ganzen Lebens mit demjenigen zusammenwachsen, was der Erde angehört und was uns zu einem Bürger der Erde macht, nicht zu einem Bürger des Himmels. Diese Dinge müssen so sein. Was dem öffentlichen Urteile zugrunde liegen kann, das muß man aus den tieferen Erkenntnissen über den Menschen selbst hervorholen. Und wiederum muß man ins Auge fassen - ich will heute nur Fäden zeichnen, die Dinge werden noch weiter ausgeführt werden: Was Goethe als Metamorphosegedanken äußerte, das hat eine tiefe Bedeutung, und das hat eine viel weitere Anwendung noch, als Goethe selbst zu seiner Zeit daraus machen konnte.

Unser Haupt ist also herausgebildet aus dem Kosmos. Betrachten wir die Sache geisteswissenschaftlich, so müssen wir sagen: In der ganzen Zeit, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verläuft, arbeiten wir vor - wir arbeiten ja da im Kosmos -, um unser Haupt zu bilden. Wir arbeiten an unserem Organismus, indem wir vorzugs-

38

weise zwischen Tod und neuer Geburt an unserem Haupte arbeiten. Dieses Haupt ist in gewisser Beziehung das Grab der Seele, hinsichtlich dessen, wie die Seele war vor der Geburt oder, wenn wir sagen wollen, vor der Empfängnis. Da kommen jene Tätigkeiten zur Ruhe, die wir zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in einem geistigen Leben ausführen. Und zu demjenigen, was in gewisser Beziehung herausgeformt wird aus der geistigen Welt, wird dann dasjenige hinzugefügt, was als angehängt daranhängt aus der Vererbungsströmung. Aber was ist das, was aus der Vererbungsströmung daranhängt? Das ist trotzdem etwas, was mit dem Haupte zusammenhängt. Ich habe schon früher darauf aufmerksam gemacht: Dasjenige was am Menschen ist außer seinem Haupte, das ist die Anlage für das Haupt in der nächsten Inkarnation. Der ganze übrige Organismus ist etwas, was durch Metamorphose übergehen kann zu dem Haupt der nächsten Inkarnation. Die Kräfte, die wir während des ganzen Lebens ausbilden, entreißen sich, wenn wir durch die Pforte des Todes gehen, dem ganzen übrigen Organismus; aber sie bleiben in jenen Formungen, die der übrige Organismus während des Lebens hatte; das trägt man durch die Zeit zwischen Tod und nächster Geburt und formt es um zum Haupte. In unserem Haupte haben wir also immer auch das, was Erbschaft ist aus der früheren Inkarnation. Und in unserem übrigen Organismus haben wir zu gleicher Zeit etwas, was bestimmend wirkt für die Gestaltung unseres Hauptes in der kommenden Inkarnation. In dieser Beziehung sind wir auch eine Zwienatur.

Denken Sie, wie man, wenn man so anschaut, daß der Mensch wirklich ganz hineingestellt ist in kosmische Zusammenhänge, dann darauf kommt, daß er wirklich nicht bloß in dem Zeitenteil und Raumesteil entsteht und sich bildet, den man im äußeren physischen Anschauen vor sich hat, sondern daß er in einem ungeheuer großen Zusammenhange drinnensteht. Es ist außerordentlich reizvoll, nicht nur so, wie es schon Goethe gemacht hat, hinzuschauen auf einen Knochen der Wirbelsäule und dann auf die Kopf knochen, um sich zu sagen, die Kopfknochen sind nur umgeformte Wirbelknochen, sondern es ist außerordentlich reizvoll zu sehen, wie alles, was am Haupte

39

ist, auch am übrigen Organismus ist. Nur gehört eine außerordentlich vorurteilslose Betrachtung dazu, um nicht nur beispielsweise die Nase und alles, was am Haupte ist, als eine solche Umbildung zu erkennen, sondern auch alles, was am übrigen Organismus, nur in einer jüngeren Metamorphose, ist; das alles wird umgebildet in einer älteren Metamorphose zu dem, was uns dann am Haupte entgegentritt.

Ich sagte: Pädagogisch sind die Konsequenzen einer solchen Anschauung außerordentlich wichtig, und wird sich einmal das Denken der Menschen dieser geisteswissenschaftlichen Erkenntnis zuwenden, dann werden ungeheuer bedeutungsvolle Forderungen für so etwas, wie es zum Beispiel die praktische Pädagogik ist, hervorgehen.

Vor allen Dingen ist eines bedeutsam: Wir werden alt in unserem Leben. Aber eigentlich können wir nur sagen, unser physischer Leib wird alt. Denn so sonderbar es ist - ich habe das auch schon erwähnt -, unser Ätherleib, der nächste geistige Teil unseres Wesens, wird immer jünger. Je älter wir werden, desto jünger wird unser ätherischer Leib. Und während wir Runzeln bekommen und kahlköpfig werden dem physischen Leibe nach, werden wir, oder können wir wenigstens dem ätherischen Leibe nach immer pausbackiger und blühender werden. Aber wir müssen allerdings - so wie schon die äußere Natur dafür sorgt, daß der physische Leib älter wird - dafür sorgen, daß unser Ätherleib Jugendkräfte zugeführt erhält. Das können wir aber nur, wenn wir durch den Kopf solche geistige Vorstellungsnahrung einführen, daß sie ausreicht, um im ganzen Leben verarbeitet zu werden.

Es kann einem geisteswissenschaftlichen Betrachter vorschweben, wie man Kinder in frühester Jugend darüber unterrichtet, wie der Mensch ein Abbild ist des gesamten Universums, ein Abbild der göttlichen weisen Weltenordnung, aber einer solchen göttlichen Weltenordnung, daß es unmittelbar, elementar ergriffen wird, und nicht indem man dem Menschen unverstandene Bibelworte vorsagt. Das alles aber muß aus dem Geiste der Geisteswissenschaft geschaffen werden, dann wird es ein vollsaftigeres Kopfwissen geben als heute. Das aber wird für den Menschen zeit seines Lebens ein Quell der Verjüngung sein, während unser gegenwärtiger Unterricht nicht ein solcher Quell der Verjüngung ist, sondern das Gegenteil. Und wenn

40

wir heute in der glücklichen Lage sind, wegen unseres früheren Unterrichtes nicht die fürchterlichsten Sauertöpfe zu sein, so ist das nur deshalb, weil die heutige Art für den Kopf zu sorgen - die sich seit ungefähr vier Jahrhunderten vorbereitet hat und die heute auf ihren Gipfelpunkt gelangt ist -, noch nicht so viel hat ruinieren können von dem, was doch aus alten Zeiten als Erbkultur vorhanden ist. Aber wenn wir so fortfahren, daß wir bloß für den Kopf unterrichten, dann sind wir auf dem besten Wege, wirklich Sauertöpfe zu erziehen. Ich habe schon neulich gesagt - der Krieg hat ja die Sache unterbrochen -, groß waren in den Jahren vor dem Kriege die Züge nach den Sanatorien, groß waren die Mittel, um seine Nervosität wegzubringen.

Das alles hängt damit zusammen, daß dem Kopfe nicht das gegeben wird, was der ganze Mensch braucht. Ich habe es auch erwähnt, wie wenig man findet, daß in der richtigen Art einiges für diese Dinge gesorgt wird. Denn ich muß immer wieder daran denken, wie ich vor einigen Jahren einmal ein Sanatorium aufsuchte, um dort jemanden zu besuchen. Wir kamen gerade hin, als Mittagszeit war. Die ganze Menge der Sanatoriumsgäste defilierte an uns vorbei. Es waren ja zum Teil recht merkwürdige Menschenkinder, die wirklich ihre Nervosität zum Teil auf ihrem Gesichte geschrieben hatten und ihr Hände- und Füßegezappel hatten. Aber ich lernte dann den Allernervösesten, den Allerzappeligsten in jenem Sanatorium kennen, nämlich den dirigierenden Arzt. Und es muß schon gesagt werden, daß ein dirigierender Arzt nicht die rechte Hand findet zur Kur für seine Gäste, wenn er selbst derjenige ist, dem die Kur am meisten not täte. Sonst jedoch war er ein außerordentlich liebenswürdiger Mensch, aber er war ein Beispiel für diejenigen Menschen, die in ihrer Jugend jedenfalls nicht das aufgenommen haben, was sie zeitlebens verjüngt halten kann. Solche Dinge lassen sich nicht durch irgendwelche vereinzelten Reformen ändern und aus Verhältnissen, in denen sie sind, in andere Verhältnisse bringen; solche Dinge lassen sich nur verbessern, wenn der ganze soziale Organismus verbessert wird. Daher muß man seine Aufmerksamkeit auf den ganzen sozialen Organismus richten. Es ist schon durch die großen Weltgesetze dafür gesorgt,

41

daß der Mensch als einzelner auf solchem Gebiete seinen Egoismus nicht befriedigen kann, sondern daß er gewissermaßen sein Heil nur finden kann, wenn er es sucht in der Gemeinsamkeit mit den andern.

So stelle ich mir vor - und jeder, der nicht bloß das, was im Sinnlichen lebt, wie es heute üblich ist, sich vorstellt, sondern der hinauszublicken vermag von dem Sinnlichen ins Übersinnliche, aus dem die Kräfte hereinkommen müssen zur Reformation der Welt für die nächste Zukunft, kann sich das vorstellen -, so stelle ich mir vor, daß auf solchem Gebiete, aber auch noch auf andern, die Einführung des Geisteswissenschaftlichen in das Leben geschehen kann, dadurch geschehen kann, daß man in ehrlicher, aufrichtiger Weise im Konkreten das ausarbeitet, wozu die Geisteswissenschaft die Impulse geben kann. Sie sehen, man braucht in dem Sinne, von dem wir ja oft gesprochen haben und immer wieder sprechen werden, nicht zu drängen nach visionärem Hellsehen, sondern man braucht nur sinnvoll den Menschen als Ebenbild der Weltengeistigkeit zu erfassen, dann kommt einem schon die Geistigkeit. Man kann unmöglich den Menschen in seiner Ganzheit auffassen und durchschauen, ohne daß man das, was dem Menschen Geistiges zugrunde liegt, durchschaut und ins Auge faßt. Aber eines ist notwendig, ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht: die Ablegung einer gegenüber allen Weltanschauungsfragen heute so furchtbar vorhandenen Untugend, die Ablegung der Erkenntnisbequemlichkeit des Menschen. Unsere ganze geisteswissenschaftliche Betrachtung zeigt uns ja, daß man Schritt für Schritt vorwärtsgehen muß, daß man Neigung haben muß, auf Einzelheiten einzugehen, um ein Ganzes aus diesen Einzelheiten aufzubauen, daß man gewissermaßen vom sinnlich Nächstliegenden ausgehen muß, um ins Übersinnliche aufzusteigen. Man kann an dem sinnlich Nächstliegenden das Übersinnliche fast mit Händen greifen. Denn wer in richtiger Weise das menschliche Haupt ins Auge fassen kann, der sieht in ihm das, was aus dem ganzen Weltenall herausgebildet ist, und er sieht in dem übrigen Menschenorganismus dasjenige, was sich wieder hineinbildet ins Weltenall, um wieder zurückzukommen aus dem Weltenall in der nächsten Inkarnation. Man kann, wenn man richtig das äußere Sinnenfällige betrachtet, schon in ganz rechter Art

42

zu dem Übersinnlichen kommen. Aber man hat nötig, die Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen, den Menschen wenigstens so weit zu seinem Rechte kommen zu lassen, daß man ihm in bezug auf seine Erkenntnis das zugesteht, was man beispielsweise der Uhr oder einem ganz gewöhnlichen Dinge zugesteht. Niemand, wenn er nur ein bißchen gelernt hat, wie die Sachen mechanisch zusammenwirken, wird zugeben, ohne daß er bei der Uhr den Zusammenhang der Räder und so weiter ins Auge fassen kann, eine Uhr nicht zu verstehen. Über den Menschen jedoch redet jeder, ohne eine solche Anforderung zu stellen, und zwar glaubt jeder auch über das höchste Wesen des Menschen reden zu können, und beruft sich dann sehr häufig darauf, daß er sagt: Ja, die Wahrheit muß eben «einfach» sein -, und dann jene Anklage gegen die Geisteswissenschaft zimmert, die immer darin besteht, daß die Geisteswissenschaft ja viel zu kompliziert sei. Die menschliche Begierde mag allerdings dahin gehen, in fünf Minuten oder vielleicht in gar keiner Zeit sich das anzueignen, was zur Erkenntnis des höchsten Wesens des Menschen notwendig ist. Aber der Mensch ist nun einmal ein kompliziertes Wesen. Gerade darin besteht seine Größe im Weltenall, daß er ein kompliziertes Wesen ist, und man muß den Hang nach Bequemlichkeit der Erkenntnis überwinden, wenn man wirklich in das Wesen des Menschen eindringen will. Für unsere Zeit gibt es kein Verständnis desjenigen, was not tut, wenn man sich nicht in die Lage versetzen will, die ganze Kompliziertheit der menschlichen Natur wenigstens ahnungsvoll zu durchdringen. Denn dadurch, daß wir nur Kopfwissen pflegen, daß wir nicht mit dem ganzen Menschen das, was das Haupt lernt, verarbeiten wollen, und schon dem Haupte nicht so etwas geben, was von dem ganzen Menschen verarbeitet werden kann, dadurch stellen wir den Menschen in die soziale Ordnung so hinein, daß wir gewissermaßen das irdische Leben nicht zum Abbilde eines übersinnlichen, geistigen Lebens machen wollen. Wir leiden an einem merkwürdigen Zwiespalt. Das ist aber jetzt nicht ein Zwiespalt wie die andern Zwiespältigkeiten, von denen ich jetzt gesprochen habe, sondern das ist ein schädlicher Zwiespalt, den wir überwinden müssen.

Das menschliche Leben hat sich im Laufe der Entwickelung verändert.

43

Um das zu beobachten, braucht man nur vier Jahrhunderte zurückgehen, ja nicht einmal so weit. Wer nicht aus der landläufigen Literaturgeschichte, sondern wer aus der Geistesgeschichte das Leben aus seiner Wirklichkeit kennt, der weiß, wie unendlich verschieden das Leben und Denken noch des 18. Jahrhunderts von dem des 19. Jahrhunderts ist. Wir brauchen nur etwas zurückzugehen und werden sehen, wie seit vier Jahrhunderten das ganze menschliche Denken sich geändert hat. Das ganze menschliche Denken, das sich so geändert hat, ist allmählich bis zum 20. Jahrhundert dazu gekommen, immer abstraktere Begriffe auszubilden. Es sind immer mehr Kopfbegriffe gekommen. Wenn wir die vollsaftigen Begriffe der Menschen im 13., im 14. Jahrhundert nehmen, wenn wir die Naturwissenschaft dieser Jahrhunderte ansehen: Es ist ein grandioser Unterschied gegenüber dem Abstrakten, gegenüber der trockenen Gesetzmäßigkeit der heutigen Naturwissenschaft! Es gibt ein sehr bekanntes Buch, das dem Basilius Valentinus zugeschrieben wird. Sehr interessante Dinge finden sich darin. Vor kurzem hat nun ein schwedischer Gelehrter ein Buch über die «Materie» geschrieben und auch verschiedenes von Valentinus darin zitiert, und sein Urteil darüber ist: Das verstehe, wer kann; man kann es eben nicht verstehen. - Wir glauben es sehr gern, daß er nichts von diesem Buche des Valentinus verstehen kann. Denn Valentinus lesen mit den Begriffen, die man aus der Physik und Chemie heute mitbringt, ist ganz unverständlich! Das hängt mit denselben Dingen zusammen, mit denen etwa die Tatsache zusammenhängt, daß sich die gute alte Lebensweisheit «Morgenstunde hat Gott und Gold im Munde» umgewandelt hat im Laufe der Zeit in jene andere Lebensweisheit «Morgenstunde hat Gold im Munde». Dadurch ist der gut europäische Ausspruch «Morgenstunde hat Gott und Gold im Munde» amerikanisch geworden: «Morgenstunde hat Gold im Munde.»

Jene alte Zeit war in bezug auf die Beschreibung und die Auffassung der Natur durchdrungen von dem, was aus dem ganzen Menschen kommt. Heute ist es Kopfwissen. Dadurch ist es auf der einen Seite abstrakt, trocken und füllt den Menschen nicht sein ganzes Leben hindurch aus; und auf der andern Seite ist es doch sehr geistig. Wir stehen vor dieser Zwienatur, daß wir das Geistigste eigentlich

44

heute erzeugen; diese abstrakten Begriffe sind das Geistigste, was es geben kann, aber sie sind unfähig, den Geist zu begreifen. Es ist ungeheuer leicht einzusehen, in welchen Zwiespalt der Mensch hineinkommt durch jene geistigen Begriffe, die er sich ausgebildet hat. Er ist gerade in diesen geistigen Begriffen merkwürdigerweise Materialist geworden. Aber wenn die Begriffe richtig sind, würde nie der Materialismus aus ihnen entstehen. Einfach das Vorhandensein der abstrakten Begriffe ist schon die erste Widerlegung des Materialismus. In diesem Zwiespalte leben wir drinnen. Wir haben uns seit vier Jahrhunderten ungeheuer vergeistigt, und wir müssen in diesem Geistigen, das wir nur abstrakt haben, wieder das lebendige Geistige finden. Wir sind dazu aufgestiegen, nur gegenständliche Begriffe zu haben, aber wir müssen wieder zur Imagination, zur Inspiration, zur Intuition kommen. Wir haben abgelegt, was aus früherer uralter Erbweisheit in Imaginationen, Inspirationen und Intuitionen uns überkommen war. Wir müssen es wiederbekommen, nachdem wir uns der Vollsaftigkeit des Wissens des ganzen Menschen soweit entäußert haben.

Das ist etwas, was einen schon erfüllen kann mit dem Ernst gegenüber dem Geisteswissenschaftlichen. Und wenn ich in diesen zwei Vorträgen, die ich jetzt wieder vor Ihnen halten durfte, mehr einleitend gesprochen habe, so war meine Absicht, zu zeigen, wie aus der äußerlichsten Betrachtung des Menschen der Impuls hervorgehen kann, sich mit demjenigen zu beschäftigen, was der Welt geistig zugrunde liegt. Es wird die Menschheit im Verfolgen dieser Impulse und Ideen auf etwas kommen, was ihr heute so ungeheuer abgeht: innere Wahrhaftigkeit. Man kann nicht wirklich fruchtbar nach dem Geist streben, wenn man nicht in innerer Wahrhaftigkeit strebt, und man wird niemals fehl gehen, wenn man sich durch Lebenserfahrung die Erkenntnis erwirbt, daß eine richtige Harmonie zwischen Kopfwissen und Herzenswissen nur möglich ist, wenn man sich wahrhaftig in das Leben hineinstellt. Denn deshalb wollen gerade die Menschen der Gegenwart das Kopfwissen nicht in Herzenswissen überführen, weil das Herzenswissen nicht nur länger braucht, sondern weil es auch gegen das Kopfwissen reagiert, es zurückstößt, wenn es unwahr ist. Der übrige Mensch macht sich dann als eine Art Gewissen bemerk-

45

bar. Davor fürchtet sich die nur für den Kopf geneigte Menschheit der Gegenwart.

Und jetzt zum Schlusse - weil es sich für uns ja immer darum handeln muß, wenn wir so unter uns zusammen sind, auch die Stellung unseres geisteswissenschaftlichen Strebens, das wir in solcher Art charakterisierten, wie es heute und das letzte Mal geschehen ist, in der ganzen Welt einzusehen -, zum Schlusse einige Bemerkungen, die sich für uns unmittelbar praktisch ergeben.

Geisteswissenschaft kann auch nur gedeihen, wenn man mit ihr Ernst macht in der Wahrhaftigkeit; denn sie muß ja an tiefste Bedürfnisse der Menschheit gerade in der Gegenwart herangehen. Sie muß sich jenen Gewissensqualen aussetzen, die sehr leicht entstehen können, wenn das Herz zum Kopfe Nein sagt. Denn immer sagt das Herz zum Kopfe Nein, wenn nicht Geistiges gesucht wird, oder wenn Wissen nur angestrebt wird aus einem bloßen Egoismus, aus Begierde, Ehrgeiz und so weiter. Aus diesem Grunde war es schon notwendig, in dem Betriebe der Geisteswissenschaft nach keiner Seite hin auch nur leise Kompromisse aufkommen zu lassen. Geisteswissenschaft muß aus sich selbst heraus positiv betrieben werden; man kann nicht Kompromisse schließen mit Halbheiten, Viertelheiten oder Achtelheiten; es ist heute eine zu ernste Angelegenheit. Wir dürfen wohl, nachdem wir einiges einleitend gesagt haben, diese Bemerkungen folgen lassen, die nicht persönlich gemeint sind, wenn sie auch an Persönliches anschließen. Einen großen Teil der Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft kann man nur verstehen, wenn man ihn seiner Genesis nach, seinem Werden nach ins Auge faßt. Da oder dort tritt zum Beispiel jemand auf, der sich in der heftigsten Weise gegen die Geisteswissenschaft wendet. Es gibt auch andere Fälle, als ich jetzt meine, aber in vielen Fällen geht die Gegnerschaft gegen Geisteswissenschaft aus so etwas hervor, wie ich jetzt einen konkreten Fall anführen will.

Ich war einmal in Frankfurt am Main, um Vorträge zu halten. Da telephonierte mich jemand an, daß ein Herr mich sprechen wollte. Ich hatte nichts dagegen und sagte, er könne mich dann und dann sprechen. Der Betreffende kam und sagte: «Ach, ich bin Ihnen eigentlich

46

seit langer Zeit immer so nachgereist, um zu sehen, ob ich Sie einmal sprechen könnte.» Ich konnte nichts dagegen haben, aber ich hatte auch nichts dafür. Der Betreffende redete dann so um allerlei herum. Aber man kann schon nicht anders, als Geisteswissenschaft ernst zu nehmen, und wenn man das will, dann muß man manches, was sich aufspielt und als gelehrt erweisen will, abweisen. Man kann nicht mit allem Möglichen Kompromisse schließen. Ich war nicht unhöflich gegen den Mann, aber ich ließ ihn ablaufen, ließ ihn merken, daß ich weiter keine Notiz von ihm nehmen würde. Es war meine tiefste Überzeugung, daß der Mann hohles Zeug herumredete, aber daß er dabei Anlehnung suchte. Das trat ja wirklich in unzähligen Fällen hervor. - Was ich jetzt sage, spreche ich nicht aus Albernheit, sondern um eben gewisse Vorgänge zu charakterisieren. - Also ich mußte diesen Mann ablaufen lassen. Es war vieles außerordentlich schmeichelhaft, was der Mann sagte, aber es kam nur darauf an, ob an seinen «auch» geisteswissenschaftlichen Bestrebungen etwas Wahres sei. Bald darnach traten in der Schweiz Ankündigungen dieses Mannes auf, aus denen hervorging, daß über das «Dämonische», über das «Teuflische» der Steinerschen Geisteswissenschaft in Grund und Boden zu reden wäre. - Ich könnte auch noch eine Nachgeschichte dieser Sache erzählen, aber das will ich schon nicht. Es ist dies aber eine von den Arten, wie da oder dort Gegner auftreten. Es sind sehr häufig Menschen, welche eigentlich irgendwie Zusammenhang gesucht haben, und deren Suchen nach Zusammenhang eben aus bestimmten Gründen ignoriert werden mußte. Vieles mußte ignoriert werden, um die Geisteswissenschaft rein zu erhalten. Das mußte man sich schon auferlegen.

Nun will ich im Zusammenhang damit etwas anderes erwähnen. Unser sehr verehrter Freund Dr. Rittelmeyer hatte vor kurzem in der Zeitschrift «Die christliche Welt» über das Verhältnis Unserer Geisteswissenschaft zur religiösen Frage gesprochen und dabei versucht, manches andere Vorurteil gegen unsere Geisteswissenschaft in einer außerordentlich anerkennenswerten und dankenswerten Weise zurückzuweisen. Ich hoffe, daß sich alle von Ihnen mit dem Aufsatze, der von Dr. Rittelsneyer in der «Christlichen Welt» erschienen ist, bekannt

47

machen werden. Nun aber hat sich Dr. Johannes Müller, der ja vielen bekannt ist, bemüßigt gesehen, eine Reihe von Aufsätzen über drei Nummern in derselben «Christlichen Welt» gegen diese Abhandlung Dr. Rittelmeyers zu schreiben. Es ist wirklich nicht meine Absicht, irgendwie auf das einzugehen, was Dr. Johannes Müller geschrieben hat. Denn seit einer langen Reihe von Jahren, die nach vorne keinen Anfang hat, war es im wesentlichen immer mein Bestreben, über Dr. Johannes Müller nicht zu reden; denn ich habe Gründe, die Geisteswissenschaft von dilettantischen Bestrebungen freizuhalten, sie nicht irgendwie in Kompromisse zu verwickeln. Und ich glaube, daß dies am besten zu erreichen ist, wenn man sich um das nicht kümmert, wenigstens nicht sprechend kümmert, was ja angeblich durch seinen eigenen Wert wirken muß, wenn es wirken kann. Niemals habe ich Dr. Johannes Müller in einem besonderen Zusammenhange erwähnt. Nun besteht ja in unserer Zeit nicht viel Gefühl dafür, was auf diesem Gebiete eigentlich in Wirklichkeit Wahrheit und Unwahrheit ist. Wenn Sie die Johannes Müllerschen Aufsätze jetzt durchgehen, so werden Sie finden, daß sie schon ein gut Stück von dem enthalten, was man durch Leichtsinn bewirkte oder durch sonst etwas bewirkte objektive Unwahrheiten nennen muß. Sie strotzen davon. Solche Dinge muß man nahe ins Auge fassen. Ich hatte in einem Falle eine solche Unwahrheit zu charakterisieren: die Dessoirschen Unwahrheiten in meinen «Seelenrätseln». Ich bin nun sehr gespannt, denn auf das, wie dort dem Professor an der Berliner Universität nachgewiesen ist zu schreiben, müßte eigentlich etwas erfolgen. Man lese nur den Aufsatz, den ich als zweiten in meinem Buche «Von Seelenrätseln» geschrieben habe über die Art, wie Professor Dessoir wirkt. Jeder natürlich, der nach diesem Aufsatze, der jetzt vorliegt, über das Dessoirsche Buch schreibt und diesen Aufsatz nicht berücksichtigt, ist ein Mitschuldiger an diesen Dingen. Aber diese Sachen nimmt man heute nicht so, indem mancher sich heute ausredet: Ich habe es nicht gewußt -, als ob nicht der, welcher etwas behauptet, die Dinge erst richtig ins Auge zu fassen hätte. - Nun, über derlei Kinkerlitzchen, daß meine Plakate «marktschreierisch» und so weiter wären, darüber lasse ich lieber diejenigen urteilen, welche die Johannes Müllerschen

48

Vorträge und Plakate kennen; und daß bei meinen Vorträgen auf die besondere Sensationsbedürftigkeit der Menschen spekuliert werden sollte, darüber lasse ich ebenfalls andere urteilen. Es ist noch nicht lange her, da hat mir ein sehr geschätzter alter Herr, der sich wirklich ein sehr gewissenhaftes Urteil über diese Dinge bilden will, gesagt, er wundere sich eigentlich, daß in meine Vorträge so viele Menschen kämen, denn ich legte es gar nicht darauf an, daß sie leicht wären. Nun kann man sehr leicht beweisen, daß die Johannes Müllerschen Beschuldigungen unwahr sind. Denn auf die bloße Ankündigung hin kommen in einer Stadt, wo die Geisteswissenschaft noch nicht Fuß gefaßt hat, gewöhnlich nicht sehr viele Leute in meine Vorträge, wo aber viele kommen, da kommt das daher, weil an solchem Orte wirklich darum geworben und gearbeitet worden ist. Ich will jedoch nicht weiter darauf eingehen, höchstens noch auf den letzten Abschnitt der Johannes Müllerschen Aussprache hinweisen, die sich darin ergeht, daß ich von dem «Drama Gottes» spreche, der durch den Menschen erlöst werden soll und dergleichen, und wo Johannes Müller anderthalb Spalten dadurch zustande bringt, daß er an einer beliebigen Stelle aus meinem Buche «Das Christentum als mystische Tatsache» einige Sätze bringt, die er aus ihrem Zusammenhange herausreißt, wie es ihm gerade einfällt. Aber durch das, was er vorher ausgelassen hat, wird alles, was er sagt, zum absolutesten Unsinn. In meinem Buche über das Christentum wird über das «Drama Gottes und seine Verzauberung» das Gegenteil gesagt. Johannes Müller redet sich jedoch damit heraus, daß er aus meinen Schriften nicht hat klar werden können. Das glaube ich ihm ganz bestimmt! Aber ohne auch nur das geringste verstanden zu haben, macht sich Johannes Müller über dieses Buch her. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Buch in dem Mysterium von Golgatha - im Unterschiede von allen übrigen Mysterien - den Hauptnerv sieht. Dafür hat Johannes Müller keine Empfindung. Ich wurde also niemals verlangen, daß er mein Buch verstehen sollte, glaube auch nicht, daß er dazu in der Lage wäre, aber er kritisiert es. Und das Merkwürdige ist dies: Im Jahre 1902 ist dieses Buch gedruckt worden; es lag also im Jahre 1906 vier Jahre lang vor. Man wußte, ich habe gerade damals in der damaligen ersten Auflage

49

mein Verhältnis zur Naturwissenschaft auf der einen Seite, zur Philosophie auf der andern Seite auseinandergelegt. Das «Christentum als mystische Tatsache» ist bekanntgeworden. Nun, wenn es Jo­hannes Müller noch nicht bekanntgeworden ist, so ist das seine Sache. Aber ich erwähne, daß es 1906 bekannt war, und daß es ebenso mit meiner Gesamtweltauffassung verbunden war, wie zum Beispiel meine «Philosophie der Freiheit». Wer sich also im Jahre 1906 über mich eine Meinung bildete, der mußte mich vom Standpunkte meiner ganzen Weltanschauung aus nehmen und konnte im Grunde genom­men nicht Halbheiten nehmen. Also 1906 war die Tatsache da, daß das «Christentum» vier Jahre bereits erschienen war. 1906 aber wurde mir das Buch «Die Bergpredigt» von Johannes Müller zugeschickt. Darin stand als Widmung: «Herrn Dr. R. Steiner in angenehmer Erinnerung an die ‹Philosophie der Freiheit›. Mainberg, 17. VIII. 06.» Diese Angelegenheit gehört zu denjenigen, wo ich in die Notwendig­keit versetzt war, zu ignorieren; denn es war nicht möglich, Kompro­misse zu schließen nach jenen Richtungen, von denen ich gesprochen habe. Und ich betrachte es als mein gutes Recht, statt jemandem zu sagen: Ich sehe Ihre Dinge als dies und das an, zu schweigen, wenn er in dieser Weise an mich herantritt. Aber daß man schweigt, ärgert unter Umständen die Leute am allermeisten. Ich sagte, man müsse die Gegnerschaft gegen die Geisteswissenschaft in den realen Verhält­nissen suchen. Das ist den Leuten oft viel unangenehmer, wenn man die realen Verhältnisse aufdeckt. Ich könnte noch unangenehmere Dinge erzählen. Aber wer jetzt die Aufsätze von Dr. Johannes Müller über unseren Freund Dr. Rittelmeyer liest, der wird vielleicht gut tun, nicht bloß in diesen Dingen die Gegnerschaft zu suchen, sondern in solchen Beiträgen, von denen ich einen kleinen anführte. Man muß überall nachgehen, ob man nicht viel wahrere Gründe als die an der Oberfläche liegenden findet. Es wurmt, wenn jemand «in angenehmer Erinnerung an die ‹Philosophie der Freiheit›» herankommt und der andere nicht darauf eingeht und keine Antwort gibt.

Ich wollte Ihnen diesen kleinen Beitrag vielleicht auch zur Psycho­logie Johannes Müllers nicht vorenthalten, damit Sie auch dort klarer sehen, als Sie vielleicht bloß durch seine Aufsätze sehen würden.

50

DRITTER VORTRAG Berlin, 5. Februar 1918

Was wir wiederholt auseinandergesetzt haben, was wir hier öfter von den verschiedensten Gesichtspunkten aus besprochen haben: daß jener Wechselzustand zwischen Wachen und Schlafen eine tiefere Bedeutung im Menschenleben noch hat, als es für die äußere Beobachtung scheint - man sollte dieses für eine Gesamtweltbetrachtung, für ein im idealsten Sinne praktisches Stehen in der Welt wohl bedenken. Für die gewöhnliche Beobachtung liegt ja die scheinbare Tatsache vor, daß der Mensch mit seinem Bewußtsein wechselt zwischen Wachzustand und Schlafzustand. Wir wissen, daß dies nur eine scheinbare Tatsache ist. Denn wir haben es von den verschiedensten Gesichtspunkten aus oftmals besprochen, daß der sogenannte Schlafzustand nicht bloß dauert zwischen Einschlafen und Aufwachen, sondern daß er für einen gewissen Teil unseres Wesens auch andauert in der Zeit vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Wir müssen schon sagen: Wir sind niemals vollständig, durchgreifend mit unserem Gesamtwesen wach. Der Schlaf dehnt sich in unseren Wachzustand hinein aus. Mit einem Teile unseres Wesens schlafen wir fortwährend. Wir können uns nun fragen: Mit welchem Teile unseres Wesens sind wir eigentlich fortdauernd während des sogenannten Wachens wirklich wach?

Wir sind wach mit Bezug auf unsere Wahrnehmungen, mit Bezug auf alles, was wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen aus der sinnlichen Welt herein durch unsere Sinne wahrnehmen. Das ist ja gerade das Charakteristische des gewöhnlichen Wahrnehmens, daß wir von einem Nichtverbundensein mit der äußeren Sinneswelt übergehen beim Erwachen zu einem Verbundensein mit ihr, daß eben sehr bald unsere Sinne beginnen tätig zu sein, und dies reißt uns heraus aus jenem dumpfen Zustand, den wir im gewöhnlichen Leben als den Schlafzustand kennen. Also mit unseren Sinneswahrnehmungen sind wir im wahren Sinne des Wortes wach. Weniger wach schon - eine ordentliche Selbstbeobachtung kann das jedem ergeben, wir haben es auch öfter erwähnt, und Sie können Genaueres darüber in meinem

51

Buche «Von Seelenrätseln» finden -, weniger wach, aber so, daß wir den Zustand als wirkliches Wachsein bezeichnen können, sind wir mit Bezug auf unser Vorstellungsleben. Wir müssen ja das Wahrnehmungsleben von dem- eigentlichen Denk- und Vorstellungsleben unterscheiden. Wenn wir abgezogen von der Sinneswahrnehmung, also nicht nach außen gewandt, nachdenken, so sind wir bei diesem Nachdenken schon im gewöhnlichen Sinn des Wortes und auch im höheren Sinn des Wortes wach, wenn auch dieses Wachsein im bloßen Vorstellungsleben immerhin eine Nuance vom Träumerischen hat, beim einen Menschen mehr, beim andern weniger. Wenn sich auch bei manchen Menschen in das Vorstellungsleben gut Träumerisches hineinmischen kann, so können wir doch im großen und ganzen sagen: Wir sind wach, auch wenn wir vorstellen.

Aber nicht wach sind wir, indem wir fühlen. Gewiß, die Gefühle wogen herauf aus einem unbestimmten, undifferenzierten Seelenleben, und dadurch, daß wir die Gefühle vorstellen, daß sich immer Vorstellungen, also wache Tätigkeiten hineinmischen in das Fühlen, meinen wir, im Fühlen seien wir auch wach. Das ist jedoch in Wirklichkeit nicht so. In Wirklichkeit ist die Regsamkeit unserer Seele im Fühlen ganz genau dieselbe wie im gewöhnlichen Träumen. Es besteht eine tiefe Verwandtschaft zwischen dem Traumzustande und dem eigentlichen Gefühlszustande. Würden wir jederzeit fähig sein, das, was wir träumen - der größte Teil des Traumlebens geht uns ja verloren -, ebenso mit dem Vorstellen zu beleuchten, wie wir unser Gefühlsleben beleuchten, so würden wir über das Traumleben ganz genau in demselben Grade Bescheid wissen wie über das Gefühlsleben, denn die eigentlichen Gefühle sind nicht anders in der Seele anwesend als die Träume. Gefühle, Affekte, sogar in gewissem Sinne das Leidenschaftsleben ist in unserer Seele so anwesend wie das Träumen. Kein Mensch kann durch sein Wachleben sagen, was sich eigentlich da abspielt, wenn er fühlt, oder in dem, was er fühlt. Das wogt, wie gesagt, herauf aus einem unbestimmten, undifferenzierten Seelenleben, und das wird dann durch das Licht des Vorstellens beleuchtet. Aber es ist ein Traumleben. Diese Verwandtschaft des Affekt- und Gefühlslebens mit dem Traumleben haben ja auch Nichtokkultisten

52

gut erkannt, zum Beispiel der vorzügliche Ästhetiker Friedrich Theodor Vischer, der oft betont hat, welche tiefe Verwandtschaft im Seelen- leben des Menschen besteht zwischen Fühlen und Träumen.

Noch weiter unten im Seelenleben liegt nun das eigentliche Willensleben. Was weiß denn der Mensch darüber, was eigentlich in seinem Inneren vorgeht, wenn er sagt: Ich will ein Buch ergreifen - und wenn der Arm sich ausstreckt und das Buch ergreift? Was sich da vollzieht zwischen Muskel und Nerv, was da im Organismus vor sich geht und was auch in der Seele vor sich geht, damit ein Willensimpuls in Bewegung, in Handlung übergeht, das wird vom Menschen nicht stärker gewußt, als die Ereignisse des tiefen traumlosen Schlafes von ihm gewußt werden. Es ist in der Tat so: Das eigentliche Wesen unseres Willenslebens wird wieder von unserem Vorstellungsleben beleuchtet. Dadurch erscheint es so, als wenn es uns bewußt wäre, aber das eigentliche Wesen des Willenslebens liegt in Wirklichkeit auch vom Aufwachen bis zum Einschlafen in einem vollständigen Schlafzustande.

Wir sehen also: Wirklich wach, im richtigen Sinne des Wortes wach sind wir nur in bezug auf unser Wahrnehmen in der Sinneswelt und unser Vorstellungsleben; schlafend, auch in bezug auf den Wachzustand, sind wir mit Bezug auf das Gefühlsleben, das wir eigentlich träumen, und gar erst mit Bezug auf unser Willensleben, das wir eigentlich fortwährend verschlafen. So dehnt sich der Schlafzustand in den Wachzustand hinein aus. Stellen wir uns also vor, wie wir da durch die Welt schreiten: Was wir mit unserem Bewußtsein wachend durchleben, ist eigentlich nur die Wahrnehmung der Sinneswelt und unsere Vorstellungswelt; und eingebettet in dieses Erleben des Menschen ist eine Welt, in der unsere Gefühle und Willensimpulse schwimmen, eine Welt, die um uns herum ist, wie die Luft um uns herum ist, aber die in das gewöhnliche Bewußtsein gar nicht hereintritt. Wer an die Sache so herantritt, wird wahrhaftig nicht sehr weit davon entfernt sein, um sich herum eine sogenannte übersinnliche Welt anzuerkennen.

Nun hat das Ganze, was ich jetzt gesagt habe, aber bedeutsamere Konsequenzen. Hinter dem, was ich erwähnt habe, verstecken sich

53

bedeutsame Tatsachen des Gesamtlebens. Wer das Leben kennenlernt, welches die Menschenseele zwischen dem Tode und einer neuen Geburt führt - Sie brauchen sich ja nur in mehr abstrakter Form mit diesem Leben bekanntzumachen durch den Vortragszyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», der im Frühling 1914 in Wien gehalten wurde und der gedruckt ist -, wer sich damit bekanntmacht, der wird sehen, daß wir in dieser Welt, die wir da schlafend durchwandeln, gemeinsam mit den sogenannten Toten leben. Die Toten sind ja fortwährend da. Sie sind sich bewegend, sich verhaltend in einer übersinnlichen Welt da. Wir sind nicht von ihnen getrennt durch unsere Realität, wir sind von ihnen nur getrennt durch den Bewußtseinszustand. Wir sind nicht anders von den Toten getrennt, als wir im Schlafe getrennt sind von den Dingen um uns herum: Wir schlafen in einem Raume, und wir sehen nicht Stühle und vielleicht anderes nicht, das in dem Raume ist, trotzdem es da ist. Wir schlafen im sogenannten Wachzustande mit Bezug auf Gefühl und Willen mitten unter den sogenannten Toten - wir nennen es nur nicht so -, geradeso wie wir die physischen Gegenstände nicht wahrnehmen, die um uns herum sind, wenn wir schlafen. Wir leben also nicht getrennt von der Welt, in der die Kräfte der Toten walten; wir sind mit den Toten in einer gemeinsamen Welt. Getrennt von ihnen sind wir für das gewöhnliche Bewußtsein nur durch den Bewußtseinszustand.

Dieses Wissen von dem Zusammensein mit den Toten wird einer der wichtigsten Bestandteile sein, welchen die Geisteswissenschaft dem allgemeinen Menschheitsbewußtsein, der allgemeinen Menschheitskultur für die Zukunft einzupflanzen hat. Denn die Menschen, welche glauben, daß dasjenige was vor sich geht, nur dadurch vor sich geht, daß die Kräfte wirken, die man im Sinnesleben wahrnimmt, kennen eben nichts von der Wirklichkeit; sie wissen nicht, daß in das Leben, welches sich hier abspielt, die Kräfte der Toten fortwährend hereinwirken, daß sie fortwährend da sind. Und wenn Sie sich jetzt erinnern, was ich im ersten Vortrage gesagt habe, wo ich ausführte, daß man im Grunde genommen heute in der materialistischen Zeit eine ganz falsche Ansicht über das geschichtliche Leben hat, daß wir

54

die Geschichte in ihren wirklichen Impulsen eigentlich träumen oder verschlafen, so werden Sie sich auch eine Vorstellung davon bilden können, daß in dem, was wir vom geschichtlichen Leben verträumen oder verschlafen, die Kräfte der Toten leben können. Eine Geschichtsbetrachtung wird in der Zukunft kommen, die mit den Kräften derjenigen rechnen wird, welche durch des Todes Pforte gegangen sind und mit ihren Seelen in der Welt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben. Ein Bewußtsein mit der Gesamtmenschheit, auch mit der sogenannten toten Menschheit, wird der Menschheitskultur eine ganz neue Färbung zu geben haben.

Die Betrachtungsweise, die sich dem Geistesforscher ergibt, der nun praktische Anwendung von dem eben Gesagten machen kann, zeigt manche konkrete Einzelheit über dieses Zusammenleben der sogenannten Lebenden mit den sogenannten Toten. Würde der Mensch bis in seine Gefühle und bis in seine Willensimpulse ihrem Wesen nach mit seinem Vorstellen hinunterleuchten können, dann würde er ein fortwährendes lebendiges Bewußtsein von dem Dasein der Toten haben. Das hat er nun allerdings nicht. Und das gewöhnliche Bewußtsein hat es nicht aus dem Grunde, weil sich die Dinge merkwürdig verteilen innerhalb unseres Bewußtseinslebens. Man könnte sagen: Für das Begreifen eines höheren Weltenzusammenhanges ist eigentlich viel wichtiger als die Anschauung des Wachzustandes und des Schlafzustandes etwas Drittes. Was ist dieses Dritte?

Dieses Dritte ist, was dazwischen liegt, was für den gegenwärtigen Menschen eigentlich immer nur ein Augenblick ist, an dem er so vorbeigeht: Es ist das Aufwachen und das Einschlafen. Der gegenwärtige Mensch hat nicht viel Aufmerksamkeit für das Aufwachen und das Einschlafen. Und dennoch: Aufwachen und Einschlafen sind im Gesamtbewußtsein des Menschen außerordentlich wichtig. Wie wichtig sie sind, das ergibt sich, wenn man die von Unbewußtheit durchzogenen Erlebnisse des gewöhnlichen Bewußtseins erhellt mit den Erlebnissen des hellseherischen Bewußtseins. Nachdem wir so viele Jahre Vorbereitungen für so etwas gepflogen haben, können wir ja ganz unbefangen aus den übersinnlichen Tatsachen heraus solche Dinge auch einmal beleuchten.

55

Es gibt durchaus eine Möglichkeit für das hellsichtige Bewußtsein, nicht nur im allgemeinen sich bekanntzumachen mit den Tatsachen der übersinnlichen Welt, mit der Welt, in der wir uns zum Beispiel aufhalten zwischen Tod und neuer Geburt, sondern es gibt eine Möglichkeit für das hellsichtige Bewußtsein - obwohl diese Möglichkeit nicht so leicht ist, wie die eben genannte und charakterisierte -, im einzelnen, wenn ich mich grob ausdrücken will, in Kontakt, in Korrespondenz zu kommen mit der einzelnen entkörperten Seele. Das wissen Sie ja. Einfügen will ich nur noch: Schwieriger - schwierig für das allgemeine wissenschaftliche Begreifen der übersinnlichen Verhältnisse - ist die Beobachtung nur aus dem Grunde, weil da viel mehr Hindernisse zu überwinden sind. So wenig es in der Gegenwart vielen Menschen gelingt, allgemeine wissenschaftliche Resultate über die übersinnliche Welt zu gewinnen, so kann man doch nicht sagen, daß dies außerordentlich schwierig ist; denn es ist nicht etwas, was der gewöhnlichen menschlichen Seelenfähigkeit so durchaus fern liegt. Aber schwieriger ist es, im einzelnen mit diesen Seelen in Verbindung zu kommen, aus dem einfachen Grunde, weil die reale, die konkrete einzelne Verbindung der hier im Leibe lebenden Menschenseele mit der entkörperten Seele voraussetzt, daß der, der solche Verbindung anstrebt, der in die Lage kommt, solche Verbindung zu haben, Kontakt also mit einzelnen entkörperten Seelen zu haben, wirklich in einem gewissen höheren Maße in rein Geistigem leben kann, unbeirrt durch den Umstand, daß solches konkretes Leben im rein Geistigen sehr leicht gerade niedere Triebe des Menschen erwecken kann, aus Gründen, die ich oft angeführt habe: daß die höheren Fähigkeiten der übersinnlichen Wesenheiten mit niederen Trieben der Menschen - nicht mit höheren Trieben der im Leibe verkörperten Menschen - Verwandtschaft haben, wie die niederen Triebe übersinnlicher Wesenheiten mit den höheren, geistigen Eigenschaften der Menschen Verwandtschaft haben. Ich beschreibe es als ein bedeutendes Geheimnis im Verkehr mit der übersinnlichen Welt, ein Geheimnis, an dessen Inhalt sehr leicht der eine oder der andere scheitern kann. Aber wenn diese Klippe überwunden wird, wenn der Mensch übersinnlichen Verkehr haben kann, ohne daß er dadurch von der Welt geistiger Erlebnisse

56

abgelenkt wird, so ist ein solcher Verkehr durchaus möglich. Aber er gestaltet sich sehr, sehr verschieden von dem, was man gewohnt ist, hier in der sinnlichen Welt als Verkehr anzusehen.

Ich will ganz im Konkreten sprechen: Wenn Sie hier in der Sinneswelt von Mensch zu Mensch reden, so reden Sie, der andere antwortet Ihnen. Sie wissen, Sie erzeugen Ihre Worte durch Ihr Stimmorgan; die Worte kommen aus Ihren Gedanken heraus. Sie fühlen, Sie sind der Schöpfer Ihrer Worte. Sie wissen, Sie hören sich, während Sie sprechen, und während der andere antwortet, hören Sie den andern, und Sie wissen dann: Sie sind still, den andern hören Sie jetzt. - Sehen Sie, man gewöhnt sich tief ein in ein solches Verhältnis dadurch, daß man sich nur bewutßt ist, in der physischen Welt mit andern Wesen zu verkehren. Der Verkehr mit den entkörperten Seelen ist aber nicht so. So merkwürdig es klingt: Der Verkehr mit den entkörperten Seelen ist genau umgekehrt. Wenn Sie selber Ihre Gedanken dem Entkörperten mitteilen, so sprechen nicht Sie, sondern es spricht er. Es ist genau so, wie wenn Sie mit jemandem sprechen würden, und das, was Sie denken, was Sie mitteilen wollen, sprechen nicht Sie aus, sondern das spricht der andere aus. Und was der sogenannte Tote Ihnen antwortet, kommt Ihnen nicht zu von außen, sondern das steigt von Ihrem Inneren auf, das erleben Sie als Innenleben. Daran muß sich das hellsichtige Bewußtsein erst gewöhnen, muß sich erst gewöhnen> daß man selber in dem andern der Fragende ist, und daß der andere in einem der Antwortende ist. Diese vollständige Umstülpung des Wesens ist notwendig.

Wer bekannt ist mit solchen Dingen, der weiß, daß solche Umstülpung des Wesens nicht leicht ist. Denn sie widerspricht allem, was der Mensch gewohnt ist; denn die Gewohnheiten bilden sich im Laufe des Lebens aus; aber nicht nur das, sie widerspricht sogar allem, was dem Menschen angeboren ist. Denn zu glauben, daß man selber spricht, wenn man frägt, und daß der andere still ist, wenn man antwortet, das ist doch dem Menschen angeboren. Und dennoch ist das eben Gesagte der Fall im Verkehr mit den übersinnlichen Wesen. Diese Umstülpung des Wesens, die das hellsichtige Bewußtsein erfährt, wird Sie aber darauf aufmerksam machen können, daß ein gut

57

Teil von der Nichtwahrnehmbarkeit der Toten darauf beruht, daß sie eben mit den Lebenden in einer Weise verkehren, wie es den Lebenden nicht nur ungewohnt, sondern ganz unmöglich erscheint. Die Lebenden hören einfach nicht, was ihnen die Toten sagen aus der Tiefe ihres Wesens heraus; und die Lebenden achten nicht darauf, wenn ein anderer dasselbe sagt, was sie selbst denken, was sie selbst fragen wollen.

Nun liegt aber die Sache so, daß von zwei für den gegenwärtigen Menschen vorüberhuschenden Bewußtseins-Mittelzuständen - vom Aufwachen und Einschlafen - immer nur der eine geeignet ist für das Fragen und der andere nur für das Antworten. Das Eigentümliche ist, daß, wenn wir einschlafen, dieser Moment des Einschlafens besonders günstig ist für das Fragenstellen an den Toten, das heißt für das Hören der Fragen, die wir an den Toten stellen, von ihm aus. Wenn wir einschlafen, sind wir besonders dafür disponiert, aus dem Toten heraus- zuhören, was wir fragen wollen. Nun schlafen wir aber im gewöhnlichen Bewußtsein gleich hinterher ein, und die Folge ist, daß wir tatsächlich Hunderte von Fragen an die Toten stellen, von Hunderten von Dingen zu den Toten im Einschlafen reden, daß wir aber nichts davon wissen, weil wir hinterher einschlafen. Dieser vorübergehende Moment des Einschlafens ist ein Moment von ungeheurer Bedeutung für unseren Verkehr mit den Toten. Und wiederum der Moment des Aufwachens: Er disponiert uns ganz besonders dazu, die Antworten der Toten zu vernehmen. Würden wir nicht sogleich in das sinnliche Wahrnehmen übergehen, sondern würden wir beim Momente des Aufwachens verweilen können, so würden wir in diesem Momente sehr geeignet sein, Botschaften von den Toten entgegenzunehmen. Nur würden diese Botschaften uns so erscheinen, als wenn sie aus unserem eigenen Inneren aufsteigen.

Sie sehen, zwei Gründe gibt es für das eine und für das andere, warum das gewöhnliche Bewußtsein nicht auf den Verkehr mit den Toten achtet. Der eine liegt darin, daß wir sogleich an das Aufwachen und an das Einschlafen einen Zustand anschließen, der geeignet ist auszulöschen, was wir in diesen Momenten erleben; der andere ist, daß die Dinge uns, sagen wir, ungewohnt oder eigentlich unmöglich

58

vorkommen. Wenn wir einschlafen: Die hundert Fragen, die wir an die Toten richten können und auch wirklich richten, sie gehen im Schlafleben unter aus dem Grunde, weil wir ganz ungewohnt sind, das, was wir fragen, zu hören und nicht zu sagen. Und das wiederum, was uns der Tote beim Aufwachen sagt, beurteilen wir nicht so, als ob es von dem Toten käme, weil wir es nicht erkennen, wir halten es für etwas, was aus uns selbst aufsteigt. Das ist der zweite Grund, warum sich der Mensch nicht hineinfindet in den Verkehr mit den Toten.

Diese allgemeinen Erscheinungen werden allerdings doch zuweilen durchbrochen, und zwar in der folgenden Weise. Was der Mensch im Einschlafen erlebt als das Von-sich-aus-Fragen stellen an die Toten, setzt sich in einer gewissen Weise durch den Schlafzustand hindurch fort. Wir blicken, indem wir weiterschlafen, unbewußt zurück zu dem Moment des Einschlafens, und durch diese Tatsache können sich Träume einstellen. Solche Träume können tatsächlich Wiedergaben sein der Fragen, die wir an die Toten stellen. Das ist schon einmal so, daß wir in den Träumen viel mehr, als wir meinen, uns den Toten nähern, zu den Toten hinsprechen, wenn auch das, was im Traume erlebt wird, unmittelbar schon beim Einschlafen gesprochen war. Aber der Traum holt es herauf aus den undifferenzierten Tiefen der Seele. Doch der Mensch mißdeutet es leicht; er nimmt die Träume, wenn er sich dann später an sie als Träume erinnert, meistens nicht als das, was sie sind. Träume sind eigentlich immer ein aus unserem Gefühlsleben hervorgehendes Zusammenleben mit den Toten. Wir haben uns zu ihnen hinbewegt, und der Traum gibt uns eigentlich oft Fragen, die wir an Tote gestellt haben. Er gibt uns schon unser subjektives Erlebnis, aber so, als wenn es von außen kommen würde. Der Tote spricht zu uns, aber wir sprechen es eigentlich selber. Es scheint nur so, als wenn der Tote spricht. Es sind in der Regel nicht Botschaften, die von den Toten kommen, was uns in den Träumen entgegentritt, sondern der Traum, den wir von den Toten haben, ist der Ausdruck des Bedürfnisses dafür, daß wir mit den Toten zusammen sind, daß es uns gelungen ist, mit den Toten im Momente des Einschlafens zusammenzukommen.

59

Der Moment des Aufwachens überbringt uns die Botschaften von den Toten. Dieser Moment des Aufwachens wird ausgelöscht durch das nachfolgende Sinnesleben. Aber es kommt doch auch die Tatsache vor, daß wir im Aufwachen, wie aus dem Inneren der Seele heraufsteigend, irgend etwas haben, von dem wir, wenn wir nur eine genauere Selbstbeobachtung haben, sehr gut wissen können: Es kommt nicht aus unserem gewöhnlichen Ich heraus. Das sind oftmals Botschaften der Toten

Sie werden mit diesen Vorstellungen zurechtkommen, wenn Sie nicht schief denken über ein Verhältnis, das Ihnen ja jetzt vor die Seele getreten sein wird. Sie werden sagen: Dann ist der Moment des Einschlafens geeignet, um an den Toten Fragen zu stellen; der Moment des Aufwachens ist geeignet, um von dem Toten die Antworten zu bekommen. Das liegt also auseinander. Sie werden dies nur richtig beurteilen, wenn Sie die Zeitverhältnisse in der übersinnlichen Welt richtig ins Auge fassen. Dort ist das wahr, was in einer merkwürdigen Intuition Richard Wagner in dem Satz ausgesprochen hat: Die Zeit wird zum Raume. - Es wird wirklich in der übersinnlichen Welt die Zeit zum Raume, so wie ein Raumpunkt dort ist, ein anderer dort. Also ist die Zeit nicht vergangen, sondern ein Raumpunkt ist nur in einer größeren oder geringeren Entfernung. Die Zeit wird wirklich übersinnlich zum Raume. Und der Tote spricht nur die Antworten, indem er etwas weiter von uns absteht. Das ist natürlich wieder ungewohnt. Aber das Vergangene ist nicht vergangen in der übersinnlichen Welt; das ist da, es bleibt da. Und mit Bezug auf das Gegenwärtige handelt es sich nur um das Sich-Gegenüberstellen an einem andern Ort gegenüber dem Vergangenen. Das Vergangene ist ebensowenig fort in der übersinnlichen Welt, wie das Haus fort ist, aus dem Sie heute abend weggegangen sind, um hierher zu kommen. Das ist an seinem Orte, und so ist das Vergangene in der übersinnlichen Welt nicht weg, es ist da. Und ob Sie nun nahe oder mehr entfernt sind von dem Toten, das hängt von Ihnen selbst ab, wie weit Sie mit dem Toten gekommen sind. Es kann sehr weit sein, kann aber auch sehr nahe sein.

Wir sehen also: Dadurch, daß wir nicht nur schlafen und wachen, sondern aufwachen und einschlafen, stehen wir in einer fortwährenden

60

Korrespondenz, in einem fortwährenden Kontakt mit den Toten. Sie sind immer unter uns, und wir handeln wirklich nicht nur unter dem Einfluß derjenigen, die als physische Menschen um uns herum leben, sondern wir handeln auch unter dem Einfluß derer, die durch des Todes Pforte gegangen sind und einen Zusammenhang mit uns haben.

Ich möchte heute solche Tatsachen hervorheben, die uns immer tiefer und tiefer von einem gewissen Gesichtspunkte aus in die übersinnliche Welt hineinführen.

Nun können wir einen Unterschied machen zwischen verschiedenen Seelen, welche durch des Todes Pforte gegangen sind, wenn man einmal erfaßt hat, daß ein solcher Kontakt fortwährend mit den Toten da ist. Wenn wir eigentlich immer durch das Feld der Toten gehen, entweder indem wir im Einschlafen Fragen stellen an die Toten, oder Antworten von ihnen bekommen im Aufwachen, dann wird es uns auch nahegehen, wie wir mit den Toten in Verbindung stehen, je nachdem die Toten durch des Todes Pforte gegangen sind als jüngere Menschen oder als ältere. Die Tatsachen, die hier zugrunde liegen, zeigen sich allerdings nur dem hellsichtigen Bewußtsein. Aber das ist ja nur das Wissen davon, die Realität findet fortwährend statt. Jeder Mensch steht so mit den Toten in Verbindung, wie es eben durch das hellsichtige Bewußtsein ausgesprochen wird. Wenn jüngere Menschen - Kinder oder Jugendliche - durch des Todes Pforte gehen, dann zeigt sich namentlich, daß ein gewisser Zusammenhang bestehen bleibt zwischen den Lebendigen und diesen Toten, ein Zusammenhang, der anderer Art ist, als wenn ältere Menschen in Frage kommen, die in der Abenddämmerung ihres Lebens durch die Todespforte gegangen sind. Da ist ein durchgreifender Unterschied. Wenn wir Kinder verlieren, wenn jugendliche Menschen von uns weggehen, ist es eigentlich so, daß sie im Grunde genommen gar nicht richtig von uns weggehen, sondern eigentlich bei uns bleiben. Das zeigt sich dem hellsichtigen Bewußtsein dadurch, daß die Botschaften, die beim Aufwachen uns zukommen, gerade lebendig, lebhaft sind, wenn es sich um Kinder oder jugendliche Personen handelt, die gestorben sind. Da ist eine Verbindung zwischen den Zurückgebliebenen und den Verstorbenen vorhanden, die man schon so bezeichnen kann, daß

61

man sagt: Ein Kind, einen jugendlichen Menschen hat man in Wirklichkeit gar nicht verloren; sie bleiben eigentlich da. - Und sie bleiben vor allem aus dem Grunde da, weil sie nach dem Tode ein lebendiges Bedürfnis darnach zeigen, in unser Aufwachen hineinzuwirken, in unser Aufwachen hinein Botschaften zu senden. Es ist schon sehr merkwürdig, aber es ist so, daß mit alledem, was mit dem Aufwachen zusammenhängt, das jugendlich verstorbene Menschenkind außerordentlich viel zu tun hat. Dem hellsichtigen Bewußtsein wird es ganz besonders interessant, wie es eigentlich jugendlich früh verstorbenen Seelen zu danken ist, wenn die Menschen im äußeren physischen Leben eine gewisse Frömmigkeit, eine gewisse Neigung zur Frommheit empfinden. Denn das sagen ihnen die früh verstorbenen Seelen. Ungeheuer viel wird mit Bezug auf Frömmigkeit gewirkt durch die Botschaften der früh verstorbenen Seelen.

Anders ist es, wenn Seelen im Alter, im physischen Alter dahingehen. Da können wir das, was sich dem hellsichtigen Bewußtsein zeigt, in einer andern Weise darstellen. Wir können sagen: Die verlieren uns nicht, denen bleiben wir mit unseren Seelen. - Merken Sie den Gegensatz: Die jugendlichen Seelen verlieren wir nicht, sie bleiben unter uns; die älter verstorbenen Seelen verlieren uns nicht, die nehmen gewissermaßen etwas von unseren Seelen mit sich. - Es ist nur vergleichsweise gesprochen, wenn ich mich vergleichsweise ausdrücken darf. Die älter verstorbenen Seelen ziehen uns mehr zu sich hin, während die jugendlich Verstorbenen sich mehr zu uns hinziehen. Daher haben wir selbst im Momente des Einschlafens viel an die älteren verstorbenen Seelen zu sagen, und wir können ein Band zur geistigen Welt besonders dadurch weben, daß wir uns geeignet machen, uns an die älteren verstorbenen Seelen im Momente des Einschlafens zu richten. Mit Bezug auf diese Dinge kann der Mensch wirklich einiges tun.

Wir sehen also, wir stehen mit den Toten in einer fortwährenden Verbindung; wir haben eine Art Fragen und Antworten, eine Wechselwirkung mit den Toten. Um uns besonders zum Fragen geeignet zu machen, also gewissermaßen um den Toten nahezukommen, ist folgendes das richtige. Gewöhnliche abstrakte Gedanken, also Gedanken,

62

die aus dem materialistischen Leben heraus sind, bringen uns wenig mit den Toten zusammen. Die Toten leiden auch unter unseren Zerstreuungen im rein materiellen Leben, wenn sie in irgendeiner Weise zu uns gehören. Wenn wir dagegen das festhalten und pflegen, was uns gefühlsmäßig und willensmäßig mit den Toten zusammenbringt, dann bereiten wir uns gut dazu vor, an die Toten entsprechende Fragen zu richten, bereiten uns gut dazu vor, im Momente des Einschlafens mit den Toten in Beziehung zu kommen. Diese Beziehungen sind ja vorzugsweise dadurch vorhanden, daß die betreffenden Toten im Leben mit uns in Zusammenhang gestanden haben. Der Zusammenhang im Leben begründet das, was weiter folgt für den Zusammenhang nach dem Tode. Es gibt natürlich einen Unterschied, ob ich mit irgend jemandem gleichgültig spreche oder mit Anteil, ob ich mit ihm so spreche, wie ein Mensch mit einem andern spricht, wenn er diesen andern lieb hat, oder ob ich mich gleichgültig verhaltend spreche. Es gibt einen großen Unterschied, ob ich mit jemandem wie beim Five-o’clock-tea rede oder ob mich ganz besonders interessiert, was ich von dem andern vernehmen kann. Wenn man intimere Beziehungen schafft im Leben zwischen Seele und Seele, solche Beziehungen, die auf Gefühlen und Willensimpulsen beruhen, und wenn man, nachdem eine Seele durch des Todes Pforte gegangen ist, vorzugsweise solche gefühlsmäßigen Beziehungen, solches Interesse an der Seele, solche Neugier zu den Antworten, die sie geben wird, festhalten kann, oder wenn man vielleicht den Drang hat, ihr selbst etwas zu sein, wenn man in diesen Reminiszenzen zu der Seele leben kann, Reminiszenzen, die nicht aus dem Inhalte des Vorstellungslebens zu der Seele fließen, sondern aus den Beziehungen zwischen Seele und Seele, dann ist man besonders geeignet, um im Momente des Einschlafens fragend an die Seele heranzukommen.

Um dagegen Antworten, Botschaften zu bekommen im Momente des Aufwachens, dazu wird man besonders geeignet, wenn man fähig und geneigt ist, auf das Wesen des betreffenden Toten während seines Lebens erkennend einzugehen. Bedenken Sie, wie man, besonders in der Gegenwart, an den Menschen vorbeigeht, ohne sie wirklich kennenzulernen. Was kennen eigentlich heute die Menschen voneinander?

63

Es gibt - wenn man gleich dieses etwas sonderbare, frappierende Beispiel nehmen darf - Ehen, die Jahrzehnte dauern, ohne daß die beiden Eheleute sich auch nur irgendwie kennenlernen. Es ist so. Es ist aber durchaus möglich - was nicht von einem Talent abhängt, es ist eigentlich von der Liebe abhängig -, verständnisvoll auf das Wesen des andern einzugehen und dadurch eine wirkliche Vorstellungswelt von dem andern in sich zu tragen. Das aber bereitet besonders gut dazu vor, im Momente des Aufwachens von dem Toten selbst Antworten zu empfangen. Daher ist man eigentlich auch eher geneigt, beim Aufwachen von einem Kinde, von einem Jugendlichen Antworten zu empfangen, weil man Jugendliche doch noch immer eher kennenlernt als die, welche sich verinnerlicht haben und älter geworden sind.

So können die Menschen schon etwas dazu tun, um in der rechten Weise das Verhältnis zwischen den Lebenden und den Toten zu begründen. Eigentlich ist unser ganzes Leben von diesem Verhältnis durchzogen. Wir sind als Seelen eingebettet in die Sphäre, in der auch die Toten sind. Der Grad - das habe ich schon vorhin gesagt -, in dem wir fromm sind, hängt sehr stark damit zusammen, wie die jugendlich verstorbenen Menschen auf uns wirken. Und würden nicht jugendlich verstorbene Menschen in das Leben hereinwirken, so gäbe es wahrscheinlich überhaupt keine Frömmigkeit. Daher verhalten sich die Menschen zu jung verstorbenen Seelen am besten so, daß sie das Andenken mehr im allgemeinen halten. Trauerfeiern für Kinder oder jugendlich verstorbene Menschen sollten immer etwas Kultushaftes, etwas Generelleres haben. Man sollte beim Tode von jugendlich Verstorbenen eine Art von Kultus haben. Die katholische Kirche, die alles auf das jugendliche, auf das kindliche Leben abnuanciert, die es überhaupt nur mit Kindern zu tun haben möchte, Kinderseelen zu verwalten haben möchte, sie wendet daher wenig die Bitte an, individuelle Reden zu halten für das kindliche Leben, das mit dem Tode geschlossen hat. Das ist ganz besonders gut. Die Trauer, die wir um Kinder haben, ist anderer Art, als unsere Trauer um ältere Leute. Die Trauer um Kinder möchte ich am liebsten Mitgefühltrauer nennen; denn die Trauer, die wir um ein Kind haben, das uns hinweggestorben

64

ist, ist eigentlich vielfach eine Reflexion aus unserer eigenen Seele gegenüber dem Wesen des Kindes, das eigentlich dageblieben ist in unserer Nähe. Wir leben das Leben des Kindes mit, und das Wesen des Kindes macht da die Trauer mit. Es ist Mitgefühltrauer. Wenn die Trauer dagegen besonders gegenüber älter verstorbenen Personen auftritt, kann man sie nicht als Mitgefühltrauer bezeichnen; sie ist dann immer als eine egoistische zu bezeichnen, und sie wird am besten durch die Erwägung getragen, daß der Tote uns dann eigentlich mitnimmt, wenn er älter geworden ist; er verliert uns nicht, wenn wir versuchen, uns geeignet zu machen, um mit ihm zusammenzukommen. Daher können wir dem älteren Toten gegenüber das Andenken mehr individuell gestalten, mehr in Gedanken tragen, können in Gedanken vereint bleiben mit dem, was wir in Gedanken mit ihm gepflogen haben, wenn wir versuchen, nicht als ein unbequemer Genosse uns zu benehmen. Er hat uns, aber er hat uns auf eine sonderbare Art, wenn wir Gedanken haben, die gar nicht von ihm aufgenommen werden können. Wir bleiben bei ihm, aber wir können ihm zur Last werden, wenn er uns mitschleppen muß, ohne daß wir solche Gedanken in uns hegen, die er mit sich vereinigen kann, die er geistig in entsprechender Weise anschauen kann.

Bedenken Sie, wie konkret das herauskommt, was unsere Beziehungen zu den Toten sind, wenn wir wirklich geisteswissenschaftlich unsere Beziehungen zu den Toten beleuchten können, wenn wir wirklich in der Lage sind, das ganze Verhältnis der Lebenden zu den Toten ins Auge zu fassen. Es wird der Menschheit der Zukunft schon wichtig werden, dies ins Auge zu fassen. So trivial es klingt - weil man sagen kann, daß jede Zeit eine Übergangszeit ist -, unsere Zeit ist doch eine Übergangszeit. Unsere Zeit muß übergehen in eine spirituellere Zeit. Sie muß wissen, was aus dem Reiche der Toten kommt, muß wissen, daß wir hier von den Toten so umgeben sind, wie von der Luft. Es wird in Zukunft einfach eine reale Empfindung sein: Wenn jemand älter hinweggestorben ist, darfst du ihm nicht zum Alp werden; du wirst ihni aber zum Alp, wenn du Gedanken in dir trägst, die er nicht in sich aufnehmen kann. Bedenken Sie, wie sich das Leben bereichern kann, wenn wir dies in uns aufnehmen. Dadurch

65

wird ja erst das Zusammenleben mit den Toten zu einem realen gemacht werden.

Ich habe öfter gesagt: Geisteswissenschaft will nicht eine neue Religion gründen, will auch nicht etwas Sektiererisches in die Welt setzen, sonst verkennt man sie vollständig. Ich habe dagegen oft betont, daß sie das religiöse Leben der Menschen vertiefen kann, indem sie reale Grundlagen schafft. Das Totenandenken, der Totenkult hat seine religiöse Seite. Auf dieser Seite des religiösen Lebens wird eine Grundlage geschaffen, wenn das Leben geisteswissenschaftlich beleuchtet wird. Aus dem Abstrakten werden die Dinge herausgehoben, indem das Richtige geschieht. Es ist zum Beispiel nicht gleichgültig für das Leben, ob einem jugendlichen Menschen oder` einem älteren eine richtige Totenfeier gehalten wird. Denn diese Dinge, ob eine richtige oder eine falsche Totenfeier einem Verstorbenen gehalten wird, das heißt eine Feier, die nicht aus dem Bewußtsein heraus kommt, was ein jugendlich verstorbener Mensch ist und was ein älter verstorbener - diese Tatsache, ob eine Totenfeier richtig oder unrichtig gemacht wird, ist für das Zusammenleben der Menschen viel wichtiger als ein Gemeinderatsbeschluß oder ein Parlamentsbeschluß, so sonderbar es klingt. Denn die Impulse, die im Leben wirken, werden aus den Menschenindividuen selber herauskommen, wenn die Menschen im richtigen Verhältnis zu der Welt der Toten stehen. Heute möchten die Menschen alles durch abstrakte Struktur der sozialen Ordnung einrichten. Die Menschen sind froh, wenn sie wenig nachzudenken brauchen über das, was sie tun sollen. Viele sogar sind froh, wenn sie nicht viel nachzudenken haben über das, was sie denken sollen. Aber das ist ganz anders, wenn man ein lebendiges Bewußtsein, nicht nur von einem pantheistischen Zusammenleben mit einer Geisteswelt, sondern ein lebendiges Bewußtsein von einem konkreten Zusammenleben mit einer geistigen Welt hat. Man kann voraussehen ein Durchtränktwerden des religiösen Lebens mit konkreten Vorstellungen, wenn eben durch Geisteswissenschaft dieses religiöse Leben vertieft werden wird. Der Geist ist ja - ich habe auch das öfter erwähnt - im Jahre 869 für die abendländische Menschheit auf dem achten ökumenischen Konzil in Konstantinopel

66

abgeschafft worden. Damals wurde zum Dogma erhoben, daß der Mensch von den Katholiken nicht angesehen werden dürfe als bestehend aus Leib, Seele und Geist, sondern nur aus Leib und Seele, und der Seele wurde zugeschrieben, daß sie auch «geistige Eigenschaften» habe. Dieses Abschaffen des Geistes hat eine ungeheuer große Bedeutung. Daß man im Jahre 869 in Konstantinopel den Beschluß gefaßt hat, daß der Mensch nicht dürfe begabt gedacht werden mit «anima» und «spiritus», sondern daß er nur «unam animam rationalem et intellectualem» besitze, das ist Dogma. «Die Seele hat geistige Eigenschaften», dies hat seit dem 9. Jahrhundert Dämmerung gebreitet über das geistige Leben des Abendlandes. Das muß wieder überwunden werden. Der Geist muß wieder anerkannt werden. Das, weswegen man im Mittelalter im eminenten Sinne als ein Ketzer galt, nämlich wenn man die Trichotomie - Leib, Seele und Geist - anerkannte, das muß wieder als richtige, echte Menschenanschauung gelten. Dazu wird es einiges brauchen für die Menschen, die heute selbstverständlich jede Autorität ablehnen und darauf schwören, daß der Mensch nur aus Leib und Seele bestehe, und zwar sind dies nicht etwa bloß Leute eines gewissen religiösen Bekenntnisses, sondern auch solche, welche Professoren hören, Philosophen und andere hören. Und die Philosophen - wie Sie überall lesen können - unterscheiden ja auch nur zwischen Leib und Seele, lassen den Geist weg. Das ist ihre «unbefangene» Weltbetrachtung, die aber nur davon herrührt, daß einmal im Jahre 869 auf einem Kirchenkonzil der Beschluß gefaßt worden ist, den Geist nicht anzuerkennen. Aber man weiß das nicht. Philosophen, die weltberühmt geworden sind, zum Beispiel Wilhelm Wundt, ein großer Philosoph von seines Verlegers Gnaden, aber weltberühmt, teilt selbstverständlich auch den Menschen ein in Leib und Seele, weil er es für unbefangene Wissenschaft hält - und nicht weiß, daß er nur dem Konzilsbeschluß von 869 folgt. Man muß schon auf die wahren Tatsachen sehen, wenn man das durchschauen will, was sich in der Welt der Wirklichkeit vollzieht. Sieht man auf diesem Gebiete, das wir besonders heute berührt haben, auf die wahren Tatsachen, dann wird einem ein Bewußtsein erschlossen von einem Zusammenhange mit jener Welt, die in der Geschichte verträumt und

67

verschlafen wird. Geschichte, geschichtliches Leben, man wird es nur im rechten Lichte sehen können, wenn man auch ein rechtes Bewußtsein entwickeln kann über den Zusammenhang der sogenannten Lebenden mit den sogenannten Toten. Davon wollen wir weiter reden, wenn wir uns hier wieder sehen.

68

VIERTER VORTRAG Berlin, 5. März 1918

In einer der letzten Betrachtungen, die wir hier gepflogen haben, habe ich von dem Verhältnis gesprochen, in welchem die hier im Leibe verkörperten Menschenseelen zu den entkörperten Menschenseelen, zu den sogenannten Toten stehen können, oder eigentlich immer stehen. An diese Betrachtungen möchte ich heute mit einigen andern Bemerkungen anknüpfen.

Wir wissen aus Verschiedenem, was durch die Geisteswissenschaft an unsere Seelen herangetreten ist, daß der Menschengeist im Laufe der Erdenentwickelung auch seine Entwickelung durchmacht. Wir wissen ferner, daß der Mensch sich nur dadurch selbst erkennen kann, daß er sich in fruchtbarer Weise die Frage vorlegt: Wie verhält sich der Mensch in einer bestimmten Inkarnation, in dieser Inkarnation, in der er eben ist, zu den geistigen Welten, zu den geistigen Reichen? Welche Stufe der Entwickelung der allgemeinen Menschheit ist erreicht, wenn wir selbst in einer bestimmten Inkarnation leben?

Wir wissen, wie die mehr ausführliche Betrachtung dieser Gesamtentwickelung der Menschheit uns darüber zur Einsicht kommen läßt, daß in früheren Zeiten, in früheren Epochen der Menschheitsentwickelung ein gewisses, wir haben es atavistisches Hellsehen genannt, über die Menschheit ausgegossen war, daß in früheren Epochen der Menschheitsentwickelung gewissermaßen die Menschenseele näher war den geistigen Welten. Während sie damals den geistigen Welten näher war, war sie ferner ihrer eigenen Freiheit, ihrem eigenen freien Willen, dem sie wiederum näher ist in unserer Zeit, in der sie im allgemeinen mehr abgeschlossen ist von den geistigen Welten. Erkennt man das Wesen des Menschen innerhalb der Gegenwart wirklich, so muß man sagen, im Unbewußten, im eigentlich Geistigen des Menschen besteht natürlich dasselbe Verhältnis zur gesamten geistigen Welt. Aber im Wissen, im Bewußtsein kann heute der Mensch selber dieses Verhältnis sich im allgemeinen nicht in derselben Weise vergegenwärtigen; gewisse Einzelne können es, aber im allgemeinen

69

kann es sich der Mensch nicht so vergegenwärtigen, wie ihm das in früheren Zeitepochen möglich war. Wenn wir nach den Gründen fragen, warum der Mensch heute das Verhältnis seiner Seele zur geistigen Welt, das selbstverständlich in derselben Stärke vorhanden ist wie nur je, wenn auch in anderer Art, sich nicht zum Bewußtsein bringen kann, so rührt das davon her, daß wir bereits die Mitte der Erdenentwickelung überschritten haben, uns gewissermaßen in der absteigenden Entwickelungsströmung des Erdendaseins befinden, daß wir mit unserer physischen Organisation - wenn das auch natürlich für die äußere Anatomie und Physiologie nicht bemerkbar ist - physischer geworden sind, als es früher der Fall war, und daß wir so während der Zeit zwischen Geburt oder Empfängnis und Tod nicht mehr die Organisation haben, um unseren Zusammenhang mit der geistigen Welt uns voll zum Bewußtsein bringen zu können. Wir erleben heute tatsächlich - dessen müssen wir uns nur ganz klar sein - in den unterbewußten Seelenregionen, und wenn wir noch so materialistisch sind, viel mehr als das ist, wessen wir uns im allgemeinen bewußt werden können.

Das geht aber noch weiter. Und da komme ich auf einen sehr wichtigen Punkt in der gegenwärtigen Menschheitsentwickelung. Es geht so weit, daß der Mensch in der Gegenwart im allgemeinen nicht in der Lage ist, alles das wirklich durchzudenken, durchzuempfinden, durchzufühlen, was in ihm eigentlich gedacht, empfunden, gefühlt werden könnte. Der Mensch ist heute zu viel intensiveren Gedanken, zu viel intensiveren Gefühlen und Empfindungen veranlagt, als er sie haben kann durch die, ich möchte sagen, grobe Stofflichkeit seines Organismus. Das hat eine gewisse Folge, die Folge nämlich, daß wir in der gegenwärtigen Zeit der Menschheitsentwickelung nicht in der Lage sind, mit der völligen Ausbildung unserer Anlagen in unserem Erdenleben fertig zu werden. Darauf hat im Grunde genommen wenig Einfluß, ob wir in jungen Jahren sterben oder als alte Leute. Für jung und alt Sterbende gilt es, daß der Mensch heute, vermöge der Grobstofflichkeit seines Organismus, nicht voll ausleben kann, was er ausleben würde, wenn er eben feiner, intimer in bezug auf seinen Leib organisiert wäre. Und so bleibt - ob wir, wie gesagt, jung oder alt

70

durch des Todes Pforte gehen - während unserer Erdenorganisation ein gewisser Rest unverarbeiteter Gedanken, unverarbeiteter Empfindungen und Gefühle, die wir aus dem angegebenen Grunde eben wirklich nicht verarbeiten können. Wir sterben heute alle gewissermaßen so, daß wir Gedanken, Gefühle und Empfindungen unverarbeitet lassen. Diese Gedanken, Gefühle und Empfindungen - und immer wieder muß ich betonen, ob wir jung oder alt sterben, es kommt auf dasselbe hinaus - sind unverarbeitet da, und wir haben, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, eigentlich alle noch den Drang, weiter im Irdischen zu denken, weiter im Irdischen zu fühlen, weiter im Irdischen zu empfinden.

Bedenken wir einmal, was das für eine Tragweite hat. Wir werden nach dem Tode frei, gewisse Gedanken, Gefühle und Empfindungen dann erst auszubilden. Wir wurden viel mehr auf der Erde leisten, wenn wir diese Gedanken, Gefühle und Empfindungen während unseres physischen Lebens ganz ausleben könnten. Wir können es nicht. Tatsächlich ist es so, daß jeder Mensch heute nach dem Maße der Anlagen, die in ihm sind, auf der Erde viel mehr leisten könnte, als er tatsächlich leistet. Das war in früheren Epochen der Menschheitsentwickelung nicht so, als die Organismen feiner waren und ein gewisses bewußtes Hineinschauen in die geistige Welt vorhanden war und die Menschen aus dem Geiste heraus wirken konnten. Da leisteten die Menschen in der Regel alles, was sie ihren Anlagen gemäß leisten konnten. Wenn auch der Mensch heute so stolz ist auf seine Anlagen, die Sache verhält sich doch so, wie geschildert.

Indem die Sache so ist, wird man aber auch für die heutige Zeit die Notwendigkeit anerkennen können, daß dasjenige, was die Toten unverarbeitet durch die Pforte des Todes tragen, für das Erdenleben nicht verlorengehe. Das kann nur dann sein, wenn wir in dem öfter erwähnten Sinne die Verbindung mit den Toten nach Anleitung der Geisteswissenschaft wirklich pflegen, wirklich aufrechterhalten, wenn wir uns bemühen, die Verbindung mit den Toten, mit denen wir karmisch verbunden sind, zu einer bewußten, einer voll bewußten zu machen. Dann leiten sich die nicht ausgelebten Gedanken der Toten durch unsere Seele herein in die Welt, und durch dieses Hereinleiten

71

können diese stärkeren Gedanken dann - diese Gedanken, die der Tote haben kann, weil er vom Leibe befreit ist - in unseren Seelen wirken. Unsere eigenen Gedanken können wir auch nicht bis zur vollen Ausbildung bringen, aber diese Gedanken können wirken.

Wir sehen daraus: Was uns den Materialismus gebracht hat, das sollte uns zu gleicher Zeit darauf aufmerksam machen, wie nötig, wie unbedingt nötig ein Suchen nach einem konkreten, einem wirklichen Verhältnis zu den Geistern der Toten eigentlich für die Gegenwart und die nächste Zukunft ist. Es fragt sich nur: Wie können wir die Gedanken, die Empfindungen und Gefühle, die herein wollen aus dem Reiche, in dem die Toten sind, in unsere Seelen entsprechend hereinbekommen? Auch dazu haben wir schon Gesichtspunkte angegeben, und ich habe bei einer letzten Betrachtung hier gesprochen von den wichtigen Momenten, die der Mensch wohl beachten sollte: von dem Moment des Einschlafens und dem Moment des Aufwachens. Ich will heute einiges noch genauer charakterisieren, das damit im Zusammenhang steht.

In diese Welt, in der wir mit unserem gewöhnlichen Wachleben sind, die wir von außen wahrnehmen und in der wir handeln durch unseren Willen, der auf unseren Trieben beruht, in diese Welt kann der Tote nicht unmittelbar herein. Aus dieser Welt ist er, indem er durch die Pforte des Todes gegangen ist, entrückt. Aber wir können dennoch eine Welt gemeinsam mit den Toten haben, wenn wir, angespornt durch die Geisteswissenschaft, den Versuch machen - der ja in unserer heutigen materialistischen Zeit allerdings ein schwieriger Versuch ist -, sowohl die innere Welt unseres Denkens, wie auch die Welt unseres Lebens etwas in Zucht zu nehmen und sie nicht, wie wir es gewohnt sind, frei laufen zu lassen. Wir können gewisse Fähigkeiten ausbilden, die uns einen gemeinsamen Boden mit den Geistern, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, zuweisen. Es sind natürlich gerade in der Gegenwart außerordentlich viele Hindernisse im allgemeinen Leben vorhanden, um diesen gemeinsamen Boden zu finden. Das erste Hindernis ist das, was ich vielleicht noch weniger berührt habe. Aber was darüber zu sagen ist, geht aus andern Betrachtungen, die ebenfalls hier gepflogen worden sind, auch schon

72

hervor. Das erste Hindernis ist, daß wir im allgemeinen in unserem Leben mit unseren Gedanken zu verschwenderisch sind. Wir sind alle heute, in unserer Gegenwart, verschwenderisch in bezug auf unser Gedankenleben, ich könnte auch sagen: Wir sind ausschweifend in bezug auf das Gedankenleben. - Was ist damit eigentlich gemeint? Der heutige Mensch lebt fast ganz unter dem Eindrucke des Sprichwortes: Gedanken sind zollfrei. Das heißt, man soll eigentlich fast alles durch die Gedanken schießen lassen, was durch die Gedanken schießen will. Bedenken Sie nur einmal, daß doch das Sprechen ein Abbild unseres Gedankenlebens ist, und bedenken Sie, auf welches Gedankenleben das Sprechen der meisten Menschen heute schließen läßt, wenn sie so schnattern, von Thema zu Thema wandern, die Gedanken nur so schießen lassen, wie sie gerade kommen, das heißt: Verschwendung treiben mit der Kraft, die uns zum Denken verliehen ist! Und wir treiben fortwährend Verschwendung, wir sind ganz ausschweifend in unserem Gedankenleben. Wir gestatten uns ganz beliebige Gedanken. Wir wollen etwas, was uns gerade einfällt, oder unterlassen es auch, indem wir einen andern Gedanken einschieben. Kurz, wir sind abgeneigt, unsere Gedanken in gewisser Beziehung unter Kontrolle zu nehmen. Wie unangenehm ist es zum Beispiel manchmal: Jemand fängt etwas zu reden an; man hört ihm eine, zwei Minuten zu; da ist er aber bei einem ganz andern Thema. Nun hat man aber das Bedürfnis, über das, womit man angefangen hat zu reden, sich weiter zu unterhalten. Das kann wichtig sein. Man muß dann aufmerksam machen: Wovon haben wir eigentlich angefangen zu reden? - Dergleichen passiert heute alle Augenblicke, so daß man, wenn wirklich Ernst in das Leben gebracht werden soll, an das begonnene Gespräch erinnern muß. Dieses Verschwenden der Gedankenkraft, dieses Ausschweifen der Gedankenkraft verhindert, daß aus der Tiefe unseres Seelenlebens diejenigen Gedanken zu uns heraufkommen, die nicht die unsrigen sind, sondern die wir mit dem Geistigen, mit dem allgemein waltenden Geist gemein haben. Dieses Drängen in beliebiger Weise von Gedanke zu Gedanke läßt uns nicht dazu kommen, im Wachzustande zu warten, bis aus den Tiefen unseres

73

Seelenlebens die Gedanken heraufkommen, läßt uns nicht auf Eingebungen warten, wenn ich mich so ausdrücken darf. Das aber ist etwas, was - und zwar besonders in unserem Zeitalter, aus den angedeuteten Gründen - geradezu gepflegt werden sollte, so gepflegt werden sollte, daß man wirklich in der Seele die Stimmung ausbildet, welche darin besteht: wachend warten zu können, bis sich Gedanken gewissermaßen aus dem tiefen Untergrunde der Seele heraufheben, die sich deutlich ankündigen als das, was uns gegeben ist, was wir nicht gemacht haben.

Man soll nicht glauben, daß das Ausbilden einer solchen Stimmung in raschem Fluge vor sich gehen könnte. Das kann es nicht. So etwas muß gepflegt werden. Aber wenn es gepflegt wird, wenn wir uns wirklich bemühen, einfach wach zu sein, und nicht, wenn wir die unwillkürlichen Gedanken ausschließen, gleich einzuschlafen, sondern einfach wach zu sein und auf das zu warten, was man eingegeben bekommt, dann bildet sich nach und nach diese Stimmung aus. Dann bildet sich in uns die Möglichkeit aus, Gedanken in unsere Seele hereinzubekommen, die aus der Tiefe der Seele kommen und dadurch aus der Welt kommen, die weiter ist als unsere Egoität. Wenn wir so etwas wirklich ausbilden, werden wir schon wahrnehmen, daß in der Welt nicht bloß das vorhanden ist, was wir mit Augen sehen, mit Ohren hören, mit den äußeren Sinnen wahrnehmen, und wie unser Verstand diese Wahrnehmungen kombiniert, sondern daß ein objektives Gedankenweben in der Welt vorhanden ist. Dies haben heute noch die wenigsten Menschen als ihre ureigene Erfahrung. Dieses Erlebnis von dem allgemeinen Gedankenweben, in dem die Seele eigentlich drinnen ist, ist noch nicht irgendein bedeutsameres, okkulteres Erlebnis; es ist etwas, was jeder Mensch haben kann, wenn er die angedeutete Stimmung in sich ausbildet. Er kann dann das Erlebnis haben, daß er sich sagt: Im alltäglichen Leben stehe ich in der Welt, die ich durch meine Sinne wahrnehme und mit dem Verstande mir zusammenkombiniert habe. Dann aber komme ich in die Lage, wie wenn ich, am Ufer stehend, eintauche in das Meer und da webe in dem wellenden Wasser. So kann ich, am Ufer des sinnlichen Daseins stehend, eintauchen in das webende Meer der Gedanken; da bin ich

74

dann wirklich wie in einem webenden Meer drinnen. - Man kann dann das Gefühl haben, daß man ein Leben ahnt wenigstens, das stärker, intensiver ist als das bloße Traumleben, das aber doch zwischen sich und der äußeren sinnlichen Wirklichkeit eine solche Grenze hat, wie es das Traumleben für die sinnliche Wirklichkeit hat.

Man kann, wenn man will, von solchen Erlebnissen als von Träumen sprechen. Es ist kein Träumen! Denn die Welt, in die man da eintaucht, diese Welt der wogenden Gedanken, die nicht unsere Gedanken sind, sondern die Gedanken, in die man untergetaucht ist, das ist die Welt, aus der unsere physisch-sinnliche Welt aufsteigt, gewissermaßen verdichtet aufsteigt. Unsere physisch-sinnliche Welt ist so wie die Eisblöcke, die Eisklöße im Wasser: das Wasser ist da, die Eisklöße verhärten sich, schwimmen darin. Wie das Eis aus dem Stoffe des Wassers besteht, nur zu anderem Aggregatzustande gefügt ist, so erhebt sich unsere physisch-sinnliche Welt aus diesem wogenden, wellenden Gedankenmeer. Das ist der wirkliche Ursprung. Die Physik spricht nur von ihrem «Äther», von den wirbelnden Atomen, weil sie nicht weiß, welches die wirkliche Urstofflichkeit ist. Shakespeare war dieser wirklichen Urstofflichkeit näher, da er eine seiner Personen sagen ließ: Die Welt der Wirklichkeit ist aus Träumen gewoben. - Die Menschen geben sich in bezug auf solche Dinge nur allzu gern Täuschungen hin. Sie möchten eine grobklotzige atomistische Welt hinter der physischen Wirklichkeit finden. Aber wenn man überhaupt von einem solchen «hinter der physischen Wirklichkeit» sprechen will, so muß man von dem objektiven Gedankenweben, von der objektiven Gedankenwelt sprechen. Dazu kommt man aber nur, wenn man die Ausschweifung, die Verschwendung in bezug auf die Gedanken einstellt und jene Stimmung entwickelt, die dann kommt, wenn man warten kann auf das, was man populär als Eingebung bezeichnet.

Für die, welche sich etwas mit Geisteswissenschaft beschäftigen, ist es nicht so schwierig, diese hier gekennzeichnete Stimmung zu entwickeln. Denn die Art des Denkens, die man entfalten muß, wenn man anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft treibt, leitet die

75

Seele an, eine solche Stimmung zu entwickeln. Und wenn man ernst diese Geisteswissenschaft treibt, dann kommt man zu dem Bedürfnis, solch intimes Gedankenweben in sich zu entwickeln. Dieses Gedankenweben aber bietet uns die gemeinsame Sphäre, in der wir auf der einen Seite, die sogenannten Toten auf der andern Seite sind. Das ist der gemeinsame Boden, wo man sich mit den Toten treffen kann. In die Welt, die wir mit unseren Sinnen wahrnehmen und mit unserem Verstande kombinieren, kommen die Toten nicht herein; aber sie kommen herein in die Welt, die ich eben charakterisiert habe.

Ein zweites ist gegeben in dem, was ich im vorigen Jahre einmal besprochen habe: in dem Beobachten feiner, intimer Lebenszusammenhänge. Sie erinnern sich, um anzudeuten, was ich eigentlich damit meine, habe ich auf ein Beispiel hingewiesen, das man in der psychologischen Literatur finden kann. Schubert macht auch darauf aufmerksam; es ist noch aus der älteren Literatur, aber man kann solche Beispiele immer wieder und wieder im Leben finden. - Ein Mensch ist gewohnt, täglich einen bestimmten Spaziergang zu machen. Als er ihn eines Tages auch wieder macht, hat er, indem er an einen bestimmten Punkt seines Weges ankommt, die Empfindung, er müsse stehenbleiben, zur Seite treten, und es kommt ihm der Gedanke, ob es eigentlich recht ist, die Zeit mit diesem Spaziergange zu verbringen. In diesem Augenblick fällt auf den Weg ein Stein, der sich vom Felsen abgespalten hat und der ihn ganz sicher getroffen hätte, wenn er nicht durch seine Gedanken veranlaßt worden wäre, einen Schritt zur Seite zu treten.

Es ist dies ein grobes Erlebnis, auf das jeder aufmerksam wird, dem dergleichen im Leben passiert. Aber solche Erlebnisse, wenn sie auch feiner geschürzt sind, drängen sich täglich in unser ganz gewöhnliches Leben herein. Wir beachten sie in der Regel nicht. Wir rechnen nur mit dem im Leben, was geschieht, nicht aber mit dem, was hätte geschehen können und dadurch nicht geschehen ist, daß irgend etwas eingetreten ist, was uns von diesem oder jenem abgehalten hat. Wir rechnen mit dem, was passiert ist, wenn wir zu Hause eine Viertelstunde aufgehalten worden sind und einen Gang nun eine Viertelstunde später machen, als beabsichtigt. Oft und oft würde sehr Merk

76

würdiges herauskommen, wenn wir darüber nachdenken wollten, was denn eigentlich alles anders geworden wäre, wenn wir nun nicht aufgehalten worden wären und eine Viertelstunde früher von Hause weggegangen wären.

Versuchen Sie einmal, systematisch so etwas wirklich in Ihrem Leben zu beobachten, was alles anders geworden wäre, wenn nicht im letzten Augenblicke, als Sie haben weggehen wollen, jemand gekommen wäre, auf den Sie vielleicht sehr böse waren, der Sie einige Minuten aufgehalten hat. Fortwährend drängt sich alles, was hätte anders sein können, nach seiner Veranlagung, in das menschliche Leben herein. Wir suchen einen kausalen Zusammenhang zwischen dem, was im Leben wirklich passiert. Wir denken nicht daran, mit derjenigen Subtilität durch das Leben zu gehen, die in der Annahme eines Abbrechens von veranlagten Geschehensketten liegen würde, so daß, ich möchte sagen, fortwährend über unser Leben eine Atmosphäre von Möglichkeiten ausgegossen ist.

Wenn wir dies mitbeachten, dann haben wir eigentlich immer das Gefühl, wenn wir um zwölf Uhr Mittags etwas tun, nachdem wir Morgens einmal zehn Minuten aufgehalten worden sind: Es steht das, was wir um zwölf Uhr Mittags tun, oftmals - es kann ja auch anders sein - nicht nur unter dem Einfluß der vorhergehenden Ereignisse, sondern auch unter dem Einfluß des Unzähligen, was nicht geschehen ist, wovon wir abgehalten worden sind. Dadurch daß wir das Mögliche, nicht nur das äußerlich-sinnlich Wirkliche, mit unserem Leben in Zusammenhang denken, werden wir zu der Ahnung getrieben, wie wir eigentlich im Leben so drinnenstehen, daß das Aufsuchen von Zusammenhängen des Folgenden mit dem Vorhergehenden eine recht einseitige Art ist, das Leben anzusehen. Wenn wir uns wirklich solche Frage stellen, dann wird wiederum etwas in unserem Geist angeregt, was sonst unangeregt bliebe. Wir kommen dazu, gleichsam zwischen den Zeilen des Lebens zu beobachten; wir kommen dazu, das Leben in seiner Vieldeutigkeit kennenzulernen. Wir kommen schon dann dazu, gewissermaßen uns in der Umgebung drinnen zu sehen, wie sie uns formt, wie sie uns Stück für Stück im Leben vorwärtsbringt. Das beachten wir ja für gewöhnlich viel zu

77

wenig. Wir beachten meistens nur, welche inneren Triebkräfte uns von Stufe zu Stufe leiten. Nehmen Sie irgendein einfaches, gewöhnliches Beispiel, an dem Sie ersehen können, wie Sie das Äußere nur in sehr fragmentarischer Weise mit Ihrem Inneren in Zusammenhang, in ein Verhältnis bringen.

Versuchen Sie einmal den Blick zu werfen auf die Art, wie Sie Ihr Aufstehen am Morgen vorzustellen gewohnt sind. Sie werden zumeist, wenn Sie sich das klarzumachen versuchen, eine sehr eindeutige Idee davon bekommen: die Idee, wie Sie getrieben werden, aufzustehen, aber vielleicht auch noch dies sich recht nebulos vorstellen. Aber versuchen Sie nur einmal, ein paar Tage lang über den Gedanken nachzudenken, der Sie eigentlich jeweils aus dem Bette treibt; versuchen Sie sich völlig klarzumachen, welcher einzelne Gedanke Sie konkret aus dem Bette treibt, also sich klarzumachen: Gestern bist du deshalb aufgestanden, weil du gehört hast, daß im Nebenzimmer der Kaffee bereitet worden ist; das hat dich aufmerksam gemacht, das hat bewirkt, daß du dich gedrängt fühltest, aufzustehen; heute passierte dir etwas anderes. Ich meine, machen Sie sich konkret klar, nicht was Sie aus dem Bette getrieben hat, sondern was das treibende Außen war. Der Mensch vergißt gewöhnlich, sich in der Außenwelt zu suchen, daher findet er so wenig sich in der Außenwelt. Wer nur ein wenig auf so etwas achtet, der wird wieder leicht jene Stimmung entwickeln, vor der die Menschen heute geradezu eine heilige, nein, eine «unheilige» Scheu haben, jene Stimmung, die darin besteht, daß man wenigstens einen Untergedanken bei dem ganzen Leben hat, den man eigentlich im gewöhnlichen Leben nicht hat. Es bringt sich zum Beispiel der Mensch in ein Zimmer hinein, er bringt sich an irgendeinen Ort, aber er denkt wenig daran: Wie verändert sich der Ort, wenn er hineintritt? - Andere Menschen haben zuweilen davon eine Anschauung, aber selbst diese Anschauung von außen ist heute nicht sehr verbreitet. Ich weiß nicht, wie viele Menschen eine Empfindung dafür haben: Wenn eine Gesellschaft in einem Raume ist, dann ist der eine Mensch oftmals doppelt so stark da wie der andere; der eine ist stark da, der andere schwach. - Das ist etwas, was von den Imponderabilien abhängt. Sie können leicht die Erfahrung machen: Ein

78

Mensch ist in einer Gesellschaft, er huscht hinein, er huscht wieder hinaus, und man hat das Gefühl, als ob es ein Engel gewesen ist, der herein- und heraushuschte. Mancher dagegen ist so stark da, daß er nicht nur mit seinen beiden sichtbaren Beinen da ist, sondern mit allerlei unsichtbaren Beinen - wenn man so sagen darf - auch da ist. Die andern beachten es in der Regel sehr wenig, obwohl es für sie sehr wahrnehmbar sein kann, aber der Mensch selber beachtet es von sich aus schon gar nicht. Der Mensch hat gewöhnlich nicht jenen Unterton, den man haben kann von der Veränderung, die man durch seine Anwesenheit in der Umgebung hervorruft; man bleibt bei sich, man fragt nicht bei der Umgebung an, was man da für eine Veränderung hervorbringt. Aber die Ahnung, das Echo seines Daseins in der Umgebung wahrzunehmen, kann man sich anerziehen. Und denken Sie nur, wie das äußere Leben an Intimität gewinnen würde, wenn so etwas systematischer anerzogen würde, wenn die Menschen nicht bloß die Orte mit ihrer Anwesenheit bevölkern würden, sondern ein Gefühl dafür haben würden, was das ausmacht, daß sie an einem Orte sind, sich dort geltend machen, daß sie eine Veränderung dadurch hervorrufen, daß sie an diesem Orte sind.

Das ist nur ein Beispiel. Solche Beispiele könnte man für alle möglichen Lagen des Lebens anführen. Mit andern Worten, man kann auf ganz gesunde Weise - nicht dadurch, daß man sich fortwährend selber auf die Füße tritt, sondern auf ganz gesunde Weise - das Medium des Lebens verdichten, so daß man fühlt, was man selber für einen Einschnitt im Leben macht. Dadurch lernt man den Anfang desjenigen kennen, was Karmaempfindung, was Schicksalsempfindung ist. Denn wenn man vollständig empfinden würde, was dadurch geschieht, daß man dies oder jenes tut, daß man da oder dort ist, wenn man gewissermaßen immer das Bild vor sich hätte, das man in der Umgebung mit seinem Tun, mit seinem Sein hervorbringt, dann hätte man ein deutliches Gefühl seines Karma vor sich, denn Karma ist aus diesem Miterlebten gewoben.

Jetzt aber will ich nur darauf hinweisen, wie das Leben durch die Einfügung solcher Intimitäten reicher wird, wenn wir so zwischen den Zeilen des Lebens beobachten, wenn wir so auf das Leben hin-

79

zuschauen lernen, daß wir gewissermaßen darauf aufmerksam werden, daß wir da sind, wenn wir mit «Gewissen» da sind. Dann entwickeln wir durch solches Bewußtsein wiederum etwas von der gemeinsamen Sphäre mit den Toten. Und wenn wir in einem solchen Bewußtsein, das zu diesen zwei Säulen hinblicken darf, die ich jetzt charakterisiert habe: gewissenhaftes Verfolgen des Lebens, und Sparsamkeit, nicht Verschwendungssucht in den Gedanken -, wenn wir eine solche innere Stimmung entwickeln, dann wird es von Erfolg, von dem für die Gegenwart und Zukunft notwendigen Erfolg begleitet sein, wenn wir uns in der geschilderten Weise den Toten nähern. Wenn wir dann Gedanken ausbilden, die wir anknüpfen an, jetzt nicht bloß gedankenmäßiges Zusammensein mit einem Verstorbenen, sondern an gefühlsmäßiges, interessevolles Zusammensein, wenn wir solche Gedanken an Lebenssituationen mit dem Toten weiterspinnen, Gedanken an das, wie wir mit ihm gelebt haben, sodaß sich ein Gefühlston zwischen uns abgespielt hat, wenn wir so anknüpfen nicht an gleichgültiges Zusammensein, sondern an Momente, wo uns das interessiert hat, wie er dachte, lebte, handelte, und wo ihn interessiert hat, was wir in ihm anregten, so können wir solche Momente nützen, um gewissermaßen das Gespräch der Gedanken fortzusetzen. Und wenn man dann diesen Gedanken ruhen lassen kann, so daß man übergeht in eine Art Meditation, daß dieser Gedanke gewissermaßen dargebracht wird am Altar des inneren geistigen Lebens, dann kommt der Augenblick, wo wir gewissermaßen von dem Toten Antwort bekommen, wo er sich wieder mit uns verständigen kann. Wir brauchen nur die Brücke herzustellen von dem, was wir an dem Toten entwickeln, zu dem, wodurch er seinerseits wieder herüberkommen kann zu uns. Diesem Herüberkommen wird es aber besonders nützen, wenn wir imstande sind, wirklich in tiefster Seele ein Bild zu entwickeln von der Wesenheit des Toten. Das ist ja etwas, was der heutigen Zeit auch wirklich sehr ferne steht, weil - wie ich schon in früheren Betrachtungen gesagt habe - die Menschen sehr aneinander vorübergehen, oft im vertrautesten Lebenskreise zusammen sind und dann auseinandergehen, ohne daß sie sich kennen. Das Kennenlernen braucht ja nicht darauf zu beruhen, daß man sich analysiert. Wer sich von dem mit ihm Lebenden

80

analysiert weiß, der fühlt sich, wenn er eine feiner veranlagte Seele ist, auch geprügelt. Also darauf kommt es nicht an, daß man sich analysiert. Die beste Kenntnis vom andern erlangt man, wenn das Herz zusammenstimmt; man braucht sich gar nicht irgendwie zu analysieren.

Ich bin davon ausgegangen, daß solche Pflege des Verhältnisses zu den sogenannten Toten in unserer Zeit ganz besonders notwendig ist, gerade weil wir nicht durch Willkür, sondern einfach durch die Evolution der Menschheit im Zeitalter des Materialismus leben. Weil wir nicht imstande sind, bevor wir durch die Pforte des Todes gehen, alle unsere Anlagen an Gedanken, Gefühlen und Empfindungen auszubilden, auszugestalten. Weil noch etwas bleibt, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, deshalb ist es notwendig, daß die Lebenden den Verkehr mit den Toten aufrechterhalten, damit das gewöhnliche Leben der Menschen bereichert werde durch diesen Verkehr mit den Toten. Wenn man doch nur den Menschen der Gegenwart dies ans Herz legen könnte, daß das Leben verarmen muß, wenn der Toten vergessen wird! Und richtiges Gedenken der Toten können doch nur diejenigen entwickeln, die irgendwie karmisch mit ihnen verbunden waren.

Wenn wir zu einem unmittelbaren Verkehr mit den Toten hinstreben, der sich so gestaltet wie der Verkehr zu den Lebenden - ich habe auch darüber gesprochen, daß die Dinge gewöhnlich deshalb als besonders schwierig empfunden werden, weil sie nicht bewußt sind; aber nicht alles, was wirklich ist, ist auch bewußt, und nicht alles, was gewußt wird, ist deshalb unwirklich -, wenn wir den Verkehr mit den Toten in dieser Weise pflegen, dann ist er vorhanden, dann wirken die im Leben unausgebildeten Gedanken der Toten in dieses Leben herein. Es ist ja allerdings eine Zumutung an unsere Zeit, was damit gesagt wird. Jedoch, man sagt so etwas, wenn man davon überzeugt ist durch die geistigen Tatsachen, daß unser soziales Leben, unser ethisches, unser religiöses Leben unendliche Bereicherung erfahren würden, wenn die Lebenden sich von den Toten beraten ließen. Heute ist man ja schon abgeneigt, zum Beraten den Menschen bis in ein gewisses Alter kommen zu lassen. Denken Sie nur einmal, daß man

81

es heute für das einzig Richtige betrachtet, daß der Mensch so jung wie möglich in Stadt- und Staatsverrichtungen komme, weil er so jung wie möglich reif zu allem möglichen ist - auch nach seiner Ansicht heute. In Zeitaltern, in denen man bessere Kenntnis hatte von dem Wesen des Menschen, wartete man, bis die Menschen ein gewisses Alter hatten, um in diesem oder jenem Rate zu sein. Nun sollen gar die Menschen warten, bis die andern gestorben sind, um sich dann von ihnen beraten zu lassen! Dennoch müßte gerade unsere Zeit auf den Rat der Toten hinhorchen wollen. Heil wird erst entstehen können, wenn man in der angedeuteten Weise wird auf den Rat der Toten hinhorchen wollen.

Geisteswissenschaft mutet schon einmal dem Menschen Energisches zu. Das muß verstanden werden, muß begriffen werden. Geisteswissenschaft verlangt nach einer gewissen Richtung hin, daß der Mensch wirklich nach Konsequenz und Klarheit trachtet. Und wir stehen heute vor der Notwendigkeit, nach Klarheit zu suchen innerhalb unserer katastrophalen Ereignisse, da dieses Suchen nach Klarheit das Allerwichtigste ist. Mehr als man glaubt, hängen solche Dinge, wie sie heute wieder besprochen worden sind, mit den großen Anforderungen unserer Zeit zusammen. Ich habe schon auch in diesem Winter hier darauf hingewiesen, wie ich versuchte, viele Jahre bevor diese Weltkatastrophe hereinbrach, in meinen Vortragszyklen über die europäischen Völkerseelen auf manches hinzudeuten, was im allgemeinen Menschheitszusammenhange heute zu finden ist. Wenn Sie jenen Zyklus über «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie», den ich einmal in Kristiania gehalten habe, zur Hand nehmen, werden Sie ein gewisses Verständnis gewinnen können für das, was sich in den heutigen Ereignissen abspielt. Es ist nicht zu spät, und es wird sich manches abspielen, wofür Sie auch noch Verständnis aus diesem Zyklus, selbst noch für die nächsten Jahre, werden gewinnen können.

So wie die Menschen auf der Erde heute zueinander stehen, sind ihre Verhältnisse nur für den wirklich durchdringbar, der die geistigen Impulse zu schauen vermag. Und die Zeit rückt immer mehr und mehr heran, wo es ein wenig nötig werden wird, daß die Menschen

82

sich die Frage vorlegen: Wie verhält sich zum Beispiel das Empfinden und das Denken des Ostens zum Denken und Empfinden Europas, namentlich Mitteleuropas? Und wie verhält sich dieses wieder zum Denken des Westens, zum Denken Amerikas? Diese Frage sollte in allen möglichen Varianten vor die Menschenseele treten. Man sollte sich schon jetzt ein wenig fragen: Wie sieht der Orientale heute Europa an? Der Orientale, der auf Europa viel schaut, hat von ihm heute die Empfindung, daß das europäische Kulturleben sich in eine Sackgasse hineinführt, sich zu einem Abgrund geführt hat. Der Orientale hat heute das Gefühl, daß er nicht verlieren darf, was er aus seinen alten Zeiten sich an Spiritualität heraufgebracht hat, wenn er das übernimmt, was Europa ihm geben kann. Der Orientale verachtet nicht die europäischen Maschinen zum Beispiel, aber er sagt sich heute - es sind dies eigene Worte eines berühmten Orientalen, was ich hiermit ausspreche: Wir wollen schon annehmen, was die Europäer an Maschinen und Werkzeugen geformt haben, aber wir wollen es in den Schuppen stellen, nicht in die Tempel und nicht in die heimatlichen Wohnungen, wie es die Europäer tun! - Der Orientale sagt, der Europäer hätte die Möglichkeit verloren, den Geist in der Natur zu schauen, die Schönheit in der Natur zu schauen. Indem der Orientale auf das schaut, was er allein sehen kann, wie der Europäer nur bei äußerlich Mechanischem, bei dem äußerlich Sinnlichen im Handeln und in der Betrachtung stehenbleiben will - denn das kann er ja nur sehen -, da glaubt der Orientale, daß er berufen sei, die alte Geistigkeit wieder aufzuwecken, die alte Geistigkeit der Erdenmenschheit zu retten. Der Orientale, der in konkreter Art von geistigen Wesenheiten spricht - Rabindranath Tagore hat es zum Beispiel vor kurzem getan -, sagt: Die Europäer haben in ihre Kultur diejenigen Impulse einbezogen, die nur dadurch einbezogen werden können, daß sie vor ihren Kulturwagen den Satan gespannt haben; sie benutzen die Kraft des Satans, um vorwärtszukommen. Der Orientale ist dazu berufen - meint Rabindranath Tagore -, diesen Satan wieder auszuschalten und Spiritualität über Europa zu bringen.

Da liegt schon ein Phänomen vor, an dem leider heute zu stark vorübergegangen wird. Wir haben mancherlei erlebt - darüber will ich

83

nächstens reden -, aber wir haben zum Beispiel innerhalb unserer Entwickelung vieles außer acht gelassen, was wir in diese Entwickelung hereingebracht hätten, wenn wir zum Beispiel spirituelle Substanz, wie sie von Goethe kommt, ich will nur diesen einen Namen nennen, wirklich lebendig in unserer Kulturentwickelung hätten. Nun kann jemand sagen: Der Orientale kann heute nach Europa schauen und kann dann wissen, in diesem europäischen Leben lebt Goethe. - Er kann es wissen. Sieht er es? Man kann sagen, die Deutschen haben ja zum Beispiel eine Gesellschaft gegründet, die «Goethe-Gesellschaft», ich meine nicht den «Goethe-Verein». Und nehmen wir an, der Orientale wollte sie kennenlernen - die große Frage des Orients und des Okzidents ist schon ins Rollen gekommen, sie hängt doch zuletzt von geistigen Impulsen ab -, er wollte sich über die Goethe-Gesellschaft unterrichten und die Realität ins Auge fassen. Dann würde er sich sagen: Goethe hat so stark gewirkt, daß sich sogar in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit geboten hat, in einer seltenen Weise Goethe für die deutsche Kultur fruchtbar zu machen, sozusagen ein günstiger Umstand, wie er sich dadurch geboten hat, daß eine Fürstin mit ihrer ganzen Umgebung sich gefunden hat, wie es die Großherzogin Sophie von Sachsen-Wei,nar war, die den Nachlaß Goethes in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts hergenommen hat, um diesen Nachlaß zu pflegen, wie noch nie einer gepflegt worden ist. Das ist da. Aber betrachten wir als äußeres Instrument die Goethe-Gesellschaft. Sie ist auch da. Nun war vor einigen Jahren wieder einmal der Posten des Präsidenten dieser Goethe-Gesellschaft vakant. Innerhalb der ganzen Weiten des Geisteslebens fand sich nur ein ehemaliger Finanzminister, den man zum Präsidenten der Goethe-Gesellschaft gemacht hat! Das ist das, was äußerlich gesehen wird. Solche Dinge sind schon wichtiger, als man eigentlich denkt. Was notwendiger wäre, das ist, daß zum Beispiel der für Spiritualität entflammte und für Spiritualität verständige Orientale in die Möglichkeit käme, zu wissen, daß innerhalb der europäischen Kultur so etwas doch auch da ist wie eine anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft. Doch das kann er ja nicht wissen. Das kann nicht an ihn heran, weil es nicht durch kann durch das, was sonst da

84

ist - natürlich nicht nur in der einen Erscheinung. Es ist nur symptomatisch, was dadurch da ist, daß der Präsident der Goethe-Gesellschaft ein ehemaliger Finanzminister ist und so weiter. Ich brauchte nicht aufzuhören mit solchen Beispielen.

Das ist nun, ich möchte sagen, eine dritte Forderung: durchgreifendes, mit der Wirklichkeit verbundenes Denken, ein Denken, mit dem man nicht stehenbleibt bei Unklarheiten, bei unklaren Lebenskompromissen. Bei meiner letzten Reise hat mir jemand über ein Faktum, das mir bereits schon gut bekannt war, etwas in die Hand gedrückt. Ich will Ihnen von der Sache nur den einen kurzen Auszug hier geben: «Wer jemals die Bänke eines Gymnasiums gedrückt hat, dem werden die Stunden unvergeßlich sein, da er im Plato die Gespräche zwischen Sokrates und seinen Freunden ‹genoß› - unvergeßlich wegen der fabelhaften Langenweile, die diesen Gesprächen entströmt. Und man erinnert sich vielleicht, daß man die Gespräche des Sokrates eigentlich herzhaft dumm fand; aber man wagte natürlich nicht, diese Ansicht zu äußern, denn schließlich war der Mann, um den es sich handelte, ja Sokrates, der ‹griechische Philosoph›. Mit dieser ganz ungerechtfertigten Überschätzung des braven Atheners räumt das Buch von Alexander Moszkowsi (Verlag Dr. Eysler & Co., Berlin) gehörig auf. Der Polyhistoriker Moszkowski unternimmt in dem kleinen, unterhaltend geschriebenen Werk nichts Geringeres, als Sokrates seiner Philosophenwürde so ziemlich vollständig zu entkleiden. Der Titel ist wörtlich gemeint. Man wird nicht fehlgehen in der Annahme, daß sich an das Buch noch wissenschaftliche Auseinandersetzungen knüpfen werden.»

Das nächste, wozu der Mensch mit seinem Empfinden kommt, wenn er von so etwas Kenntnis nimmt, das ist, daß er sich sagt: Was ist das für etwas Merkwürdiges, daß jemand kommt wie der Alexander Moszkowski und den Beweis liefern will, daß Sokrates ein Idiot war? Das ist das Nächstliegende, was die Leute empfinden. Aber das ist eine Kompromißempfindung, die nicht herrührt von einem klaren, durchgreifenden Denken, die nicht herrührt von einem Sich-Gegenüberstellen der wahren Wirklichkeit.

85

Damit möchte ich noch ein anderes vergleichen. Es gibt heute schon Bücher, die vom psychiatrischen Standpunkte aus geschrieben sind über das Leben Jesu. Darin wird das, was Jesus alles getan hat, vom Standpunkte der heutigen Psychiatrie aus untersucht und mit allerlei krankhaften Handlungen verglichen, und es wird dann vom modernen Psychiater bewiesen aus den Evangelien, daß Jesus ein krankhafter Mensch, ein Epileptiker gewesen sein muß, daß ja die ganzen Evangelien überhaupt nur vom Paulinischen Standpunkte aus zu verstehen sind und so weiter. Ausführliche Berichte gibt es über diese Sache.

Es ist wieder sehr einfach, nun leichten Herzens über diese Dinge hinwegzugehen. Aber die Sache liegt etwas tiefer. Stehen Sie vollständig auf dem Standpunkte der heutigen Psychiatrie, geben Sie diesen Standpunkt der heutigen Psychiatrie so, wie er offiziell anerkannt ist, zu, dann müssen Sie, wenn Sie über das Leben Jesu nachdenken, zu demselben Resultat kommen wie die Verfasser dieser Bücher. Sie können nicht anders denken, denn sonst wären Sie unwahr, sonst wären Sie nicht im wahren Sinn des Wortes moderner Psychiater. Und Sie sind nicht im wahren Sinne des Wortes moderner Psychiater im Sinne der Anschauung Alexander Moszkowskis, wenn Sie nicht denken, daß Sokrates ein Idiot war. Und Moszkowski unterscheidet sich von denen, die auch Anhänger dieser Theorien sind und Sokrates für keinen Idioten halten, nur dadurch, daß die letzteren unwahr sind - und er ist wahr; er geht keinen Kompromiß ein. Denn es gibt keine Möglichkeit, wahr zu sein, auf dem Standpunkte der Weltanschauung Alexander Moszkowskis zu stehen und Sokrates nicht als einen Idioten anzuschauen. Will man beides, will man zugleich Anhänger der modernen naturwissenschaftlichen Weltanschauung sein und dennoch Sokrates gelten lassen wollen, ohne ihn als einen Idioten anzuschauen, so ist man unwahr. Ebenso ist man unwahr, wenn man moderner Psychiater ist und das Leben Jesu gelten läßt. Aber der moderne Mensch will nicht bis zu diesem klaren Standpunkt kommen; denn sonst müßte er sich die Frage ganz anders stellen. Sagen müßte er sich dann: Nun wohl, ich betrachte Sokrates nicht als einen Idioten, ich lerne ihn besser kennen, aber das fordert von mir auch die Ablehnung

86

einer Weltanschauung, wie es diejenige des Moszkowski ist; und ich sehe in Jesu den größten Träger von Ideen, der jemals mit dem Erdenleben in Berührung gekommen ist, das aber erfordert, daß ich die moderne Psychiatrie ablehne, sie nicht gelten lassen darf!

Das ist es, worum es sich handelt: wirklichkeitsgemäßes, klares Denken, das nicht die gewöhnlichen faulen Kompromisse schließt, die ja im Leben da sind, die aber aus dem Leben nur entfernt werden können, wenn man sie in Wahrheit erfassen kann. Es ist leicht zu denken oder entrüstet zu sein, wenn man den Beweis anerkennen soll, daß nach Moszkowski Sokrates ein Idiot ist. Aber richtig ist es, wenn man die Konsequenzen der modernen Weltanschauung zieht, daß sie von ihrem Standpunkte aus in Sokrates einen Idioten sieht. Aber solche Konsequenzen wollen die Leute nicht ziehen: so etwas wie die moderne Weltanschauung ablehnen. Denn sie könnten sonst in eine noch unangenehmere Lage kommen: Man müßte dann Kompromisse machen und sich vielleicht darüber klar sein, daß Sokrates kein Idiot ist; aber wenn man dann vielleicht darauf käme, daß - Moszkowski ein Idiot ist? Er ist ja nun kein mächtiger Mann, aber wenn es nun mächtigere Leute sind, so könnte allerlei und viel Schlimmeres passieren!

Ja, um in die geistige Welt einzudringen, ist wirklichkeitsgemäßes Denken nötig. Das erfordert auf der andern Seite, sich klar vor Augen zu stellen, wie die Dinge sind. Gedanken sind Wirklichkeiten, und unwahre Gedanken sind böse, hemmende, zerstörende Wirklichkeiten. Es hilft nichts, wenn man sich einen Nebel darüber breitet, daß man selber unwahr ist, indem man neben der Weltanschauung des Moszkowski auch die Weltanschauung des Sokrates gelten lassen will. Denn das ist ein unwahrer Gedanke, wenn man beides nebeneinander in seiner Seele postiert, wie es der moderne Mensch tut. Wahr wird man nur, wenn man sich vor Augen führt, daß man entweder auf dem Standpunkt des reinen naturwissenschaftlichen Mechanismus steht wie Moszkowski, daß man dann Sokrates als einen Idioten anzuschauen hat; dann ist man wahr. Oder aber man weiß aus anderem, daß Sokrates kein Idiot war; dann hat man nötig, sich darüber Klarheit

87

zu verschaffen, wie stark das andere abgelehnt werden muß. Wahrsein ist ein Ideal, das die Seele des heutigen Menschen vor sich hinstellen sollte. Denn Gedanken sind Wirklichkeiten. Und wahre Gedanken sind heilsame Wirklichkeiten. Und unwahre Gedanken, auch wenn sie noch so sehr mit dem Mantel der Nachsicht gegen das eigene Wesen zugedeckt werden, unwahre Gedanken, im Inneren des Menschen gefaßt, sind Wirklichkeiten, welche die Welt und die Menschheit zurückbringen.

88

FÜNFTER VORTRAG Berlin, 12. März 1918

Wir haben versucht, gerade mit Beziehung auf die Menschenseelen, die schon durch des Todes Pforte gegangen sind, die Verhältnisse aufzusuchen, die da bestehen zwischen der Welt, in welcher der Mensch lebt zwischen Geburt und Tod, und derjenigen Welt, in der er lebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Wir wollen diese Verhältnisse von den verschiedensten Gesichtspunkten aus zu betrachten versuchen.

Es wird die Menschheit im Laufe der Zeit, wenn sie - wie sie es notgedrungen wird müssen, um die Menschenaufgabe in den nächsten Zeiten zu erfüllen - sich erkennend an die geistige Welt heranmacht, sich davon überzeugen, daß ein richtiges, erschöpfendes Erkennen der Welt und ihrer Beziehung zu den Menschen weit, weit über dasjenige hinausgeht, was durch die physisch-sinnliche Wissenschaft und den Verstand, an den diese Wissenschaft gebunden ist, sich erforschen läßt. Der Mensch kennt gewissermaßen nur einen sehr kleinen Teil der wirklichen Welt - ich meine: der wirksamen Welt, in der er auch selber wirksam drinnensteht -, wenn er sich nur auf dasjenige bezieht, was durch die Sinne wahrnehmbar ist und durch den an die Sinne gefesselten Verstand festgestellt werden kann. Ich habe im Verlaufe der Vorträge darauf hingedeutet, wie der Mensch gewissermaßen seine Beobachtung verfeinern kann, wie er sie ausdehnen kann auf Verschiedenes, was im Leben vorhanden ist, aber eigentlich aus dem Grunde im Leben nicht beachtet wird, weil man nur das ins Auge faßt, was während des Wachlebens des Menschen vom Morgen bis zum Abend geschieht, und nicht berücksichtigt, was geschehen könnte, wovon wir in gewissem Sinne abgehalten werden, daß es geschehe. Ich habe, um wenigstens von diesen Dingen, die man zunächst mehr erfühlen muß als denken, Ihnen vorläufige Begriffe darüber zu geben, darauf hingewiesen, daß man sich ja nur zu überlegen braucht, wie, man zum Beispiel von einem Ausgang abgehalten sein könnte, zu dem man sich für irgendeine Tagesstunde angeschickt hat,

89

indem jemand zu Besuch kommt. Man hat sich vielleicht vorgenommen, um elf Uhr vormittags auszugehen, aber man kann es erst eine halbe Stunde später. Man stelle sich nun vor, wie unter Umständen - selbstverständlich unter Umständen - der Tag doch ganz anders verlaufen wäre, wenn man zu der vorgenommenen Zeit ausgegangen wäre, wie einem irgend etwas anderes in dieser halben Stunde, die man versäumt hat, hätte zustoßen können, das einem nun überhaupt entgangen ist und einem gar nicht zugestoßen ist. Man überlege sich, wieviel solcher und ähnlicher Ereignisse im Laufe des Tages den Menschen treffen, und man wird eine Vorstellung davon bekommen, was alles hätte geschehen können. Man wird vergleichen können - gefühlsmäßig - diese Vorstellung von dem, was alles hätte geschehen können, mit dem, was dann wirklich vom Morgen bis zum Abend nach dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung sich tatsächlich ereignet hat.

Man wird gut tun, um sich von diesen Dingen eine wirklich deutliche Vorstellung zu machen, sie zu vergleichen mit ähnlichen Dingen in der Natur draußen; denn in der Natur gehen in gewisser Weise Dinge vor, die in ähnlicher Weise beurteilt werden müssen. Ich habe öfter darauf hingewiesen, doch einmal ein Augenmerk darauf zu haben, wie zum Beispiel in der Natur fortwährend Samenkräfte in großer Zahl verlorengehen. Denken Sie nur einmal daran, wie viele von den großen Mengen von Heringseiern im Laufe eines Jahres zu wirklichen Heringen werden, und was davon verloren geht. Dehnen Sie diese Vorstellung aus über das gesamte Leben. Versuchen Sie sich vorzustellen, wieviel an für das Leben veranlagten Keimen im Weltenlaufe nicht zu ihrer Ausbildung kommen, wieviel im Weltenlaufe stecken bleibt, was nicht zur Ausbildung kommen kann, was nicht im voll entwickelten sprießenden und sprossenden Leben da ist. Aber man glaube gar nicht, daß dies nicht auch zur Wirklichkeit gehöre. Es gehört ebenso zur Wirklichkeit wie das, was zu seiner vollen Ausbildung kommt, es kommt nur nicht bis zu einem gewissen Punkt, es nimmt einen andern Verlauf, gerade wie unsere eigenen Vorgänge des Lebens einen andern Verlauf nehmen, wenn wir, wie ich angedeutet habe, durch irgend etwas aufgehalten werden; das eine sind Lebenszusammen

90

vorgänge, das andere sind Naturvorgänge, die gehemmt werden und die sich, indem sie gehemmt werden, in einer andern Weise dann fortsetzen. Solche Dinge kann man noch viel weiter ausdehnen.

Man frage sich nun, ob nicht sehr ähnlich ist mit diesen beiderlei Beispielen ein anderes, das fragend und rätselhaft sehr in das Menschenleben hereinragt. Wir wissen, daß die normale Lebensdauer eines Menschen siebzig bis neunzig Jahre ist. Wir wissen aber auch, daß die weitaus größte Zahl der Menschen viel früher stirbt, und wir sehen daraus, daß die Vollendung des Lebens nicht erreicht wird. Wie in der Natur die Samenkeime auf einer gewissen Stufe zurückbehalten werden und nicht zur vollen Reife kommen, ebenso kommen die Lebensvorgänge des Menschen nicht zur vollen Reife. Und wiederum sehen wir auch, wie unsere täglichen Handlungen nicht zur vollen Reife kommen, aus den eben angeführten Gründen. Das alles kann uns darauf aufmerksam machen, daß gewissermaßen zwischen den Zeilen des Lebens eine Menge steckt, das man nicht beachtet, das gewissermaßen statt überzugehen in die Reiche, wo es sinnlich wahrnehmbar werden kann, stecken bleibt in geistigen Bereichen.

Wenn Sie so etwas nicht bloß als eine Phantasie ansehen, sondern wirklich fruchtbar überlegen, so werden Sie schon den Übergang finden, wenn auch nicht zu einem vollgültigen Beweise, so doch zu einer Vorstellung von etwas sehr Bedeutungsvollem. Wie wir im Leben als Menschen handeln, so gehen die Sachen in der Weise vor, daß wir uns für die gewöhnlichen Lebenshandlungen unsere Taten, unsere Willensimpulse überlegen. Wir überlegen, was wir tun sollen, und führen dann aus, was wir überlegt haben. Aber das Leben verläuft nicht nur in dieser Weise, daß wir Handlungen uns vornehmen und sie dann ausführen, sondern es verläuft so, daß sich in das Leben etwas hineinstellt, was uns sehr oft nur wie eine Summe von Zufällen vorkommt, was uns vorkommt wie regellos, eben wie zufällig zusammenhängend, und was wir mit dem Worte «unser Schicksal» bezeichnen. Das Schicksal ist für den materialistisch denkenden Menschen eben das, was sich zusammensetzt aus den Ereignissen, die ihm von Tag zu Tag, wie er sagt, zustoßen. Gewiß, viele Menschen ahnen, daß in diesem Schicksal ein gewisser Plan vorliegt. Aber von dem

91

Fassen des Gedankens an einen solchen Schicksalsplan bis zu dem wirklichen Durchschauen dessen, was da eigentlich vorgeht, kommt es in der Regel nicht, weil man das, was ich jetzt meine, obwohl es etwas sehr Bedeutungsvolles ist, im Leben nicht beachtet. Gegenwärtig kommt ja die sogenannte analytische Psychologie, die Psychoanalyse auf manches, was heute an die Pforten der Menschheit pocht. Die Vertreter dieser analytischen Psychologie gehen nur mit unzulänglichen Erkenntnismitteln an die Dinge heran. - Ich habe öfter im Kreise unserer Freunde auf ein paradoxes Beispiel aufmerksam gemacht, das die Psychoanalytiker jetzt fortwährend anwenden, weil es am Ausgangspunkte der Psychoanalyse die Menschen darauf gestoßen hat, daß es allerlei Geistiges im Leben gibt, von dem sich die gewöhnlichen Menschen keinen Begriff machen. Dieses paradoxe Beispiel wollen wir uns noch einmal vor die Seele führen, wenn es auch einige von Ihnen schon kennen. Eine Dame wird eingeladen in eine Abendunterhaltung und nimmt an dieser Abendunterhaltung teil, die aus dem Grunde veranstaltet wird, weil die Frau des Hauses, wo die Gesellschaft stattfindet, an diesem Abend abreisen wird. Sie soll ins Bad fahren, weil sie krank ist. Die Abendgesellschaft geht in tadelloser Weise vor sich. Die Dame des Hauses ist bereits nach ihrem Badeort abgefahren, die Gäste brechen sozusagen mit ihr zu gleicher Zeit auf, gehen fort. Eine Gruppe dieser Gäste befindet sich auf der Straße. Und während sie so weitergehen, kommt um die Ecke herum eine Droschke gefahren. Ich sage ausdrücklich: eine Droschke, nicht ein Auto. Diese Droschke saust die Straße daher. Eine der Damen sondert sich aus der übrigen Gesellschaft ab. Während die andern Leute der Gesellschaft, die mit ihr zusammen gehen, der Droschke ausweichen, hat sie die besondere Idee, vor den Pferden der Droschke einherzulaufen; sie läuft auf der Straße vor den Pferden weiter fort, hinten die Pferde und sie vorne ,weg, bis sie den Gedanken bekommt, sie müsse doch irgend etwas tun, um sich aus dieser Situation zu retten. Da kommt sie laufend vor den Pferden der Droschke auf eine Brücke, die über einen Fluß geht, und denkt sich: Wenn sie sich jetzt ins Wasser stürzt, ist sie vor den Pferden sicher. Aber die andern Personen der Gesellschaft, die mit ihr

92

gingen, sind, wie Sie sich denken können, ihr nachgelaufen und fangen sie noch zuletzt ab. Und die Verhältnisse ergeben es: Sie wird in das Haus zurückgebracht, das sie soeben verlassen hat, und wird dort aufgenommen. Schön, die Dame des Hauses ist fort; sie wird dort aufgenommen und ist nun in der Lage, eine Beziehung zu dem Hausherrn fortzusetzen, die sich einmal bei einem gemeinsamen Aufenthalt mit dem Hausherrn angesponnen hat.

Der Psychoanalytiker sucht nun nach verborgenen Seelenprovinzen. Er findet, daß diese Dame einmal, als sie ein Kind war, irgendwelche Erfahrungen mit Pferden gemacht hat, daß diese Erlebnisse nun aus dem Unbewußten heraufkommen und so weiter. Wer aber das Seelenleben des Menschen kennt, wird auf alle diese Firlefanzereien der Psychoanalyse nicht eingehen können; denn wenn solche verborgene Seelenprovinzen und dergleichen auch vorhanden sind - was gar nicht geleugnet werden soll -, so sind sie doch nur die Vorbereiter dessen, worauf es ankommt, und nicht das, worum es sich in Wirklichkeit handelt. Worauf es in Wirklichkeit ankommt, das ist, daß der Mensch - also auch diese Dame, von der jetzt die Rede ist - ein unterbewußtes Bewußtsein hat, das unter Umständen viel schlauer und raffinierter ist als das Oberbewußtsein. Im Oberbewußtsein hat sich jene Dame, wie die meisten von Ihnen denken werden, ziemlich tapsig benommen, aber im Unterbewußtsein dachte Etwas viel schlauer als das, was im Oberbewußtsein gedacht hat. Im Unterbewußtsein dachte Etwas: Heute abend ist die Frau des Hauses abgefahren, ich muß auf irgendeine Weise sehen, wie ich mit dem Manne zusammenkommen kann, ich muß irgend etwas anstellen, muß die nächste Gelegenheit dazu benutzen. Das Unterbewußtsein ist sogar etwas prophetisch, es ahnt voraus, was geschehen wird, wenn man vor Pferden herläuft. Das alles kann in raffiniertester Weise vom Unterbewußtsein veranstaltet werden. Das Oberbewußtsein ist nicht so schlau; das Unterbewußtsein hat aber diese Schlauheit, die sich noch dadurch besonders erhöht, daß eine gewisse prophetische Gabe hinzutritt. Ich erwähne dieses Beispiel aus dem Grunde, weil es nur ein besonderer Fall ist von etwas, was ganz allgemein vorhanden ist. Jeder Mensch trägt in sich etwas, was viel umfassender, auch viel

93

intensiver ist nach den verschiedensten Richtungen hin, als sein gewöhnliches Bewußtsein. Ja, wenn der Mensch alles das wüßte, was er in seinem Unterbewußtsein wirklich weiß: er wäre furchtbar gescheit und raffiniert dazu und würde ungeheuer viel auszudenken verstehen.

Man kann nun die Frage aufwerfen: Ist das, was da im Unterbewußtsein des Menschen lebt, nun eigentlich ganz untätig? Für den, der die Welt geistig zu beobachten versteht, ist es nicht ganz untätig. Im Gegenteil, es ist fortwährend tätig, ist wirklich fortwährend tätig. Was bei dieser Dame - und in ähnlichen Fällen kommt die Sache nur in einer abnormen Weise unter dem Einfluß von ganz besonderen Ereignissen, Begierden und Neigungen zum Vorschein -, aber was bei dieser Dame einmal in besonderer Weise zum Vorschein gekommen ist, das ist beim Menschen auf einem bestimmten Gebiete immer vorhanden, das begleitet ihn das ganze wache Leben. Wieso ist das? Daß es bei dieser Dame - es könnte ja unter Umständen auch ein Herr sein - einmal in einer solchen Weise zum Vorschein gekommen ist, das rührt nur davon her, daß diese unterbewußte Wissenschaft, die der Mensch vom Leben hat, zuweilen etwas über die Schnur haut. Das kommt beim gewöhnlichen Bewußtsein auch vor, daß man einmal besonders etwas tut, was eigentlich aus den gewöhnlichen Lebensgewohnheiten herausfällt, was einmal ein Ausnahmefall im Leben ist. So ist es auch bei diesem Unterbewußtsein. Aber hier, in diesem Falle, ist nur etwas Besonderes herausgekommen, was immer im Menschen tätig ist - wie tätig ist?

Was wir Schicksal nennen, ist wirklich eine recht komplizierte Sache. Unser Schicksal scheint so an uns heranzutreten, daß seine Ereignisse uns zustoßen. Nehmen wir gleich einen eklatanten Fall des Schicksals, einen Fall, den ja manche Menschen kennen. Nehmen wir an, irgend jemand lerne einen andern Menschen kennen, der dann im Leben sein Freund, seine Frau oder der Mann oder dergleichen wird. Das wird von dem gewöhnlichen Oberbewußtsein so ausgelegt, daß es uns zugestoßen ist, daß wir selbst gar nichts dazu getan haben, daß der betreffende Mensch in unsere Lebenssphäre hereingetreten ist. Das ist aber nicht die Wahrheit. Die Wahrheit ist vielmehr eine andere.

94

Mit derjenigen Kraft, die im Unterbewußtsein ruht und die ich eben angedeutet habe, legen wir von dem Momente ab, wo wir durch die Geburt ins Dasein treten, und noch mehr, wo wir anfangen, zu uns Ich zu sagen, unseren Lebensweg so an, daß er in einem bestimmten Augenblick die Wege des andern kreuzt. Die Menschen achten nur nicht darauf, was für merkwürdige Sachen herauskommen würden, wenn man einen bestimmten Lebensweg verfolgen würde, etwa den eines Menschen, der sich in einem bestimmten Augenblicke zum Beispiel verlobt. Wenn man sein Leben verfolgen würde, wie es sich entwickelt hat durch Kindheit und Jugend, von Ort zu Ort, bis der Mensch dazugekommen ist, sich mit dem andern zu verloben, dann würde man viel Sinnvolles in seinem Ablauf finden. Man würde dann finden, daß der Betreffende gar nicht so ohne weiteres dahingekommen ist, daß ihm etwas bloß zugestoßen ist, sondern daß er sich sehr sinnvoll hinbewegt hat bis dahin, wo er den andern gefunden hat. Das ganze Leben ist durchzogen von einem solchen Suchen, das ganze Schicksal ist ein solches Suchen. Allerdings müssen wir uns vorstellen, daß dieses Suchen nicht so abläuft, wie das Handeln unter gewöhnlicher Überlegung. Das letztere geht in gerader Linie vor sich; das Handeln im Unterbewußtsein geht stark und persönlich vor sich. Aber dann ist es etwas, was im Unterbewußtsein des Menschen sinnvoll vor sich geht. Es ist gar nicht einmal richtig, wenn man vom Unbewußten redet, man sollte Überbewußtes oder Unterbewußtes sagen, denn unbewußt ist es nur für das gewöhnliche Bewußtsein. Bei jener Dame, welche die Sache so raffiniert angelegt hat, um in das Haus des betreffenden Mannes wieder zurückzukommen, ist das Unterbewußte für sich viel bewußter, als die Dame selbst in ihrem Überbewußtsein ist. Und so ist es auch für das, was uns im Leben führt, so daß unser Schicksal ein bestimmtes Gewebe ist, das uns führt, und das ist sehr, sehr bewußt. Dagegen spricht gar nicht, daß der Mensch oft mit seinem Schicksal so wenig einverstanden ist. Würde er alle Faktoren überschauen, so würde er finden, daß er schon einverstanden sein könnte. Eben weil das Oberbewußtsein nicht so schlau ist wie das Unterbewußtsein, beurteilt es die Tatsachen des letzteren falsch und sagt sich: Es ist mir etwas Unsympathisches zugestoßen -, während

95

der Mensch aus einer tiefen Überlegung heraus das, was man im Oberbewußtsein unsympathisch findet, in Wirklichkeit gesucht hat. Eine Erkeimtnis der tieferen Zusammenhänge würde es dahin bringen, einzusehen, daß ein Klügerer die Dinge sucht, die dann Schicksal werden. Worauf beruht das alles?

Das beruht darauf - wenn man über solche Dinge redet, für die ja die gewöhnliche Sprache keine rechten Worte hat, kann man natürlich immer nur vergleichsweise sprechen, aber die Vergleiche meinen Wirklichkeiten -, es beruht darauf, daß unser gewöhnliches Kopfbewußtsein, auf das sich mancher Mensch viel einbildet, sozusagen ein Sieb ist. Es ist ein Vergleich, aber ein gültiger Vergleich, der auf eine Wirklichkeit hinweist. Unser Kopfbewußtsein ist ein Sieb. Wenn man in ein Sieb Wasser gießt, so rinnt es durch, es füllt das Sieb nicht. Diese Dinge, die da gedacht und überlegt werden und dann im Schicksalsgewebe zum Ausdruck kommen, gehen durch unser Kopfbewußtsein wie durch ein Sieb. Das ist der Grund, warum wir von ihnen im Oberbewußtsein nichts wissen. Das Kopfbewußtsein läßt sie durchgehen wie durch ein Sieb, aber der Mensch im Unterbewußtsein läßt sie nicht durchgehen. Nur weil sie im Oberbewußtsein durchgehen wie durch ein Sieb, weiß er von ihnen nichts; aber sie werden doch im Menschen aufgehalten.

Wenn einmal wirklich in vernünftiger Weise Naturwissenschaft getrieben werden wird, dann werden sich die Menschen fragen: Wie stellen sich solche Dinge beim Tier dar, und wie beim Menschen? - Beim Tier sind diese Erlebnisse so, daß sie ganz durch das Tier durchgehen, da ist das ganze Tier ein Sieb. Beim Menschen werden sie zwar nicht im Haupte, nicht im Kopfe, aber doch durch den ganzen Menschen aufgehalten. Nur weil im gewöhnlichen Leben bloß der Kopf denkt und nicht der ganze Mensch, so denkt der Mensch sie unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht mit. Nur wenn zum Beispiel Hysterie eintritt, die darin besteht, daß auch der andere Teil des Menschen zu denken anfängt - was ja durch krankhafte Verhältnisse eintreten kann, im allgemeinen aber nicht eintreten sollte -, dann kommen solche Ausnahmefälle vor, wo einmal mitgedacht wird, was sonst schicksalsmäßig verläuft, und wo der Mensch, wie man sagen könnte,

96

«Schicksal macht» - wie jene Dame, die ja Schicksal gemacht hat. Also der Mensch hält die Sache doch auf, und da stellt sich etwas höchst Merkwürdiges heraus. Warum geht durch das ganze Tier die Sache durch, und warum wird sie beim Menschen aufgehalten?

Das ist aus dem Grunde, weil das Tier keine Hände hat, das heißt, die Gliedmaßen sind mit der Erde immer verbunden, sind Beine oder sie sind Flügel, was den Vorgang etwas anders macht. Aber daß der Mensch diejenigen Gliedmaßen, die beim Tier Beine sind, umgeformt hat, das macht es, daß seine Arme und Hände so eingeschaltet sind in seinen Organismus, daß er seine Gedanken in seinem Schicksal in sich aufhält. Man kann nur nicht mit den Händen denken, man kann nur das Schicksal mit ihnen aufhalten; daher übersieht der Mensch sein Schicksal. Die Hände sind geradeso Gedankenorgane, wie der ätherische Teil des Kopfes es ist. Der ätherische Kopfteil tut beim Denken etwas ganz ähnliches, wie der Mensch im Leben mit seinen Händen tut: Mit den Händen macht der Mensch in sich stocken den Strom des Handelns, der sein Schicksal durchzieht. Es ist für den Menschen so eingerichtet, daß nur die gröberen Verstandestätigkeiten der Hände und Arme zum Ausdruck kommen. Jeder Mensch weiß, daß er in den Händen, vor allem in den Fingerspitzen, einen besonderen Spürsinn hat; aber dieser Spürsinn stellt das Allergröbste in dieser Beziehung dar. Denn es handelt sich hier um etwas sehr Feines: das ist ein sehr schwaches, kaum glimmendes Denken, was die Menschen da entwickeln und bei künstlerischer Tätigkeit zum Ausdruck bringen können; aber die Hände sind eigentlich so eingeschaltet in den Gesamtorganismus des Menschen, daß sie das Denkorgan sind für das Schicksal. Der Mensch lernt im gegenwärtigen Entwickelungszyklus noch nicht mit den Händen denken. Würde er es lernen, würde er die Geheimnisse der Hände kennenlernen, so würde dies zu gleicher Zeit eine Einführung in die Erkenntnis der Grundgesetze des schicksalsmäßigen Zusammenhanges sein.

Das sieht sehr sonderbar aus, aber es ist so. Wir haben hier einen der Punkte, wo Geisteswissenschaft auf der einen Seite sagt: In den Händen, die ein unterbewußtes Denken entwickeln, wird das Schicksal gedacht. - Die Naturwissenschaft achtet heute noch nicht darauf.

97

Sie muß, wenn sie nur ganz grob die menschliche Organisation betrachtet, selbstverständlich darauf kommen zu sagen: Der Mensch ist ein vollkommeneres Tier. - Das ist er ja auch. Aber in dem, was man dabei nicht beachtet, liegt gerade der wesentliche Unterschied des Menschen vom Tier. Bedenken Sie einmal: Wie ist beim Tier das Haupt? Beim Tier ruht das Haupt unmittelbar über der Erde. Beim Menschen ruht das Haupt so, daß das, was beim Tier die Erde trägt, vom Menschen selbst getragen wird; die Schwerpunktslinie des Hauptes fällt, bevor sie die Erde trifft, in den menschlichen Organismus hinein, wenn ich mich grob ausdrücken will: Sie geht durch das Zwerchfell. Der Mensch steht zu sich selber so, wie das Tier zur Erde. Wenn wir die Schwerpunktslinie des Kopfes beim Tier nehmen, so fällt sie direkt auf die Erde, ohne durch das Zwerchfell und durch den Organismus durchzugehen. In der Orientierung des Organismus zum ganzen Kosmos liegt beim Menschen das Wesentliche, und mit dieser Orientierung hängt zusammen, daß seine Arme und Hände anders organisiert sind, als die entsprechenden Gliedmaßen beim Tier. Da wird die Naturwissenschaft von der einen Seite her in Zukunft arbeiten; sie wird einmal fragen: Wie hängt es denn eigentlich beim Menschen mit dem Dynamischen, mit den Kräfteverhältnissen zum Weltenall zusammen, daß der Mensch aus dem Kosmos heraus nicht ein Vierbeiner, sondern ein Zweihänder ist? Das wird ihm aus dem Kosmos heraus organisiert! Und da arbeitet er sich entgegen, indem er aus dem Kosmos heraus so organisiert wird, daß die Schwerpunktslinie seines Kopfes in ihn selbst hereinfällt, und er seine eigene Erde wird. Indem er sich da seine Hände und Arme in einer besonderen Weise ausorganisiert, lebt er sich dadurch demjenigen entgegen, daß die Hände wieder ihrerseits das Schicksal ergreifen können, geradeso wie die Organisation des menschlichen Kopfes auch mit seiner aufrechten Stellung zusammenhängt. Der Mensch hat sein vollkommeneres Gehirn dadurch, daß die Schwerpunktslinie des Kopfes durch ihn durchgeht, nicht direkt auf die Erde fällt. Im Weltenall sind überall Kräfte, und wenn etwas anders orientiert ist, dann ist die Masse anders verteilt. Das wird man für die unorganische Natur zugeben, aber beim Menschen kann man es heute noch nicht beachten. Dadurch

98

kommt man nicht darauf, wie das Materielle dem Geistigen im Menschen entgegenarbeitet, wie in ihm überall das Materielle das Geistige durchwirkt.

Das ist die eine Seite. Da können wir sagen: Wir lassen den Menschen ins Auge fassen, wie er auf seinem eigenen Zwerchfell ruht, und wir stehen darinnen, wenn wir bis zum Zwerchfell herab mit dem Unterbewußten denken, in dem Verstande des Schicksals, wie wir sonst nur in dem Verstande der überlegten Handlungen stehen. Aber nun steht der Mensch noch in anderer Weise im Leben darinnen; denn wir haben gesehen, daß er, wenn wir nicht nur einseitig sein Haupt betrachten, sondern seinen ganzen übrigen Organismus, daß er erwägend, aber unterbewußt erwägend, sein Schicksal bestimmt, sein Schicksal kennt.

Es ist aber noch etwas anderes im Leben des Menschen der Fall. Wir verrichten Handlungen. Diese Handlungen verursachen uns im Leben eine gewisse Befriedigung oder auch Nichtbefriedigung. Denken Sie nur daran: Sie haben jemand irgendeine Wohltat erwiesen, das hat Ihnen eine Befriedigung gewährt; oder Sie mußten irgend etwas unternehmen, was eine Abwehr von irgend etwas ist, und das ist mit Unbefriedigung verknüpft und so weiter. Also Sie haben Verschiedenes, das der Mensch handelnd im Leben ausführt. Ja, wir führen nicht nur unsere Handlungen aus und empfinden darüber die bewußten Befriedigungen oder Nichtbefriedigungen. Das können wir am allerbesten sehen, wenn wir minder ins Leben eingreifende Handlungen geisteswissenschaftlich untersuchen. Eine Handlung ist es ja schon, wenn sie auch keine moralische Bedeutung zu haben braucht, wenn wir zum Beispiel Holz hacken. Es ist eine Handlung, was wir vollbringen, während wir Holz hacken; sie verursacht uns Ermüdung. Über die Ermüdung haben die Menschen allerlei Gedanken. Sie wissen aus dem letzten öffentlichen Vortrage, daß sich die Menschen vorstellen, daß sie von der Ermüdung einschlafen müßten, daß die Ursache des Einschlafens die Ermüdung sei. Von der Ermüdung weiß zwar jeder, daß sie wie als Begleiterscheinung von solchen Handlungen auftritt, wie es zum Beispiel Holzhacken ist. Aber diese Ermüdung ist von einer sehr tiefen Bedeutung, wenn man sie geisteswissenschaftlich unter-

99

sucht. Die Ermüdung ist eigentlich gar nicht das, als was sie uns erscheint. Wir erleben sie als das, was wir Ermüdung nennen, aber sie ist etwas ganz anderes. Sie können sich auch leicht vorstellen, daß Ermüdung, die bei solchen Handlungen zutage tritt - mehr ins moralische oder intellektuelle Leben hineingehende Handlungen sind in dieser Beziehung nur verfeinert, es tritt bei ihnen nicht immer klar zutage, als wenn wir elementarere Handlungen betrachten wie zum Beispiel Holzhacken -, daß diese Ermüdung ein zwiespältiger Vorgang ist. Zunächst müssen wir sprießende, sprossende Lebenskräfte anwenden, die mit unserem Wachstum zusammenhängen, dann aber haben wir diese Kräfte verbraucht, und es findet ein Abbauprozeß in unserem Organismus statt. Dieser Abbauprozeß wird als Ermüdung erlebt. Aber diese Ermüdung ist in Wahrheit eine Betäubung, deren tiefere Bedeutung wir in Wirklichkeit als etwas ganz anderes als eine Folge - in diesem Falle des Holzhackens - erleben. Die Ermüdung ist für das gewöhnliche Leben nur eine Betäubung. Was wird in Wahrheit erlebt?

Natürlich kann man das nur aus der wirklichen geisteswissenschaftlichen Forschung heraus sagen. Wenn wir ermüdet sind nach dem Holzhacken, so zeigt sich an jenen Stellen, die wir als Stellen des Geistorganismus des Menschen kennen, und die man auch die Lotusblumen nennt - Näheres darüber finden Sie in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» -, eine richtige Ausstrahlung an einer der Lotusblumen. Es ist ein Erfolg da; der kommt dem Menschen nicht zum Bewußtsein. Dieser geistige Erfolg wird ihm nicht bewußt. Was ihm zum Bewußtsein kommt, ist das, was ihn betäubt, damit er das nicht an sich wahrnimmt, was als geistiger Erfolg da ist. Denn was da eigentlich ausstrahlt, ist wirklich ein Geistiges. Und man begreift es noch besser, wenn man, um die Geistigkeit dieser Ausstrahlungen ins Auge zu fassen, sagen wir, eine in moralischer Beurteilung exponierte Handlung betrachtet. Nehmen wir an, wir haben nicht bloß Holz gehackt, sondern etwas getan, was einer moralischen Beurteilung unterliegt. Eine solche moralische Beurteilung wird zwar gewöhnlich nur für das engumgrenzte Leben ins Auge gefaßt. Sie hat aber noch eine andere Bedeutung. Alles was der Mensch

100

tut, hat einen Wert im ganzen Entwickelungsgang der Menschheit. Auch die einzelne Handlung hat einen Wert im gesamten Entwickelungsgang der Menschheit. Diese Beurteilung, wieviel eine Handlung wert ist in diesem Entwickelungsgang, faßt der Mensch im gewöhnlichen Bewußtsein ebensowenig auf, wie er die Handlungen des Schicksals durch seinen Kopf auffaßt. Aber er läßt diese Bewertung nicht wie durch ein Sieb durch sein Wesen durchgehen, sondern wie eine Strahlung und strahlt sie durch die Lotusblumen nach außen. Der Mensch übt fortwährend unterbewußt eine Beurteilung, eine Bewertung jeder einzelnen seiner Handlungen aus. Sie können ein engelgleiches Wesen sein und allen Menschen Gutes tun: Sie urteilen im Unterbewußtsein über den Wert solcher Handlungsweise für die Gesamtentwickelung der Menschheit, und zwar sehr objektiv, was manchmal recht anders ausfällt, als man im Oberbewußtsein glauben würde. Oder Sie können ein Dieb sein - womit ich natürlich jetzt nichts weiter meine -, aber Sie beurteilen, indem Sie die Diebeshandlung ausführen, diese ganz objektiv nach dem Wert im Gesamtentwickelungsprozeß der Menschheit. Und das strahlen Sie durch die Lotusblumen unweigerlich vor sich hin. So wie unsere Schicksalsurteile, die durch den Kopf wie durch ein Sieb durchgehen, von unseren Armen und Händen aufgehalten werden, so werden von uns mit Hilfe unserer astralen Lotusblumenorganisation unsere Urteile geleitet, die wir über unsere Handlungen fällen, und zwar auch über die Gedankenhandlungen; die werden wie ein Schein ausgestrahlt durch unsere Lotusblumenorganisation, kommen aus uns heraus. Und dieser Schein geht sehr weit. Er geht über in die Zeit, bleibt nicht im Raume. Deshalb sind ja die Lotusblumen so schwer vorzustellen, weil sie sich fortwährend bewegen und fortwährend den Übergang in die Zeit nehmen. Da wird Raum wirklich zur Zeit. Der Mensch wirft einen Schein vor sich selbst her, aber so, daß dieser Schein in die Zeit übergeht, ein fortwährender Schein wird, der weit über den Tod hinausgeht. Das ganze Leben hindurch urteilt im Unterbewußtsein einer

In uns. Wie einer in uns unser Schicksal denkt, so urteilt einer über alle unsere Handlungen, und dieses Urteil strahlen wir als einen Schein aus.

101

Das ist natürlich wieder, weil es eine imaginative Handlung ist, bildhaft ausgedrückt, aber dieser bildhafte Ausdruck entspricht einer Wirklichkeit. Das Leben ist so, wie wenn von einem Scheinwerferapparat ein Schein weithin ausgestrahlt wird. Sie müssen ihn sich nur nicht räumlich, sondern in der Zeit vorstellen. Sie haben heute zum Beispiel als vierzigjähriger Mensch etwas getan; ihr Leben läuft weiter, geht durch Ihr fünfzigstes, ihr sechzigstes Jahr durch, dann durch den Tod und weiter hinein in das Dasein, das Sie zwischen Tod und neuer Geburt zubringen. Und indem Sie dieses Dasein durchmachen, leben Sie sich Schritt für Schritt ein in das, was Sie in jenes Dasein durch Ihre Lotusblumen während Ihres Erdenlebens fortwährend hineinstrahlen. Sie treffen das alles an, was Sie in die Zukunft hineingestrahlt haben. Das ist etwa so, um es wieder bildlich auszudrücken, wie wenn Sie durch einen Scheinwerferapparat einen Schein erregen würden, der weithin strahlte, und Sie zögen dann längs dieses Scheines und sagten sich: Das ist da ausgestrahlt, das treffe ich alles wieder. Nur sind das die Urteile über Ihre Taten, welche Sie so treffen im Leben zwischen Tod und neuer Geburt. In dieser Beziehung ist der Mensch kein Sieb oder auch, wenn Sie wollen, ein Sieb: er läßt das durch, was er selber unterbewußt erzeugt.

Wiederum ist also im Menschen etwas vorhanden, was ein fortdauernder Kritiker - wenn wir das Wort nicht im pedantisch-philiströsen Sinne gebrauchen wollen - seines eigenen Tuns ist, und was von ihm hineingeworfen wird in seine eigene Zukunft. Man kann auch hier, wenn man will, das Naturwissenschaftliche heranziehen. Dadurch daß der Mensch aufrecht gebaut ist und wiederum also in seinem gewöhnlichen Bewußtseinsapparat auf sich ruht wie auf der eigenen Erde, dadurch wird an den Stellen der Lotusblumen das aufgehalten, was ausgeht von seinem Wandel über die Erde im weitesten Sinne des Wortes. Da wird es aufgehalten, im rechten Winkel umgebrochen und in das Leben hinausgeschickt.

Wir sehen also: In einer komplizierten, aber durchaus überschaubaren Weise stellt sich das, was sonst nur mit dem allgemeinen Ausdruck «das Unbewußte» umfaßt wird, in das menschliche Leben herein. Gerade dadurch, daß der Mensch auf der einen Seite mit seinem

102

Zwerchfell sich abschließt nach unten, ist er mit seinem Unterbewußtsein angegliedert an seinen Schicksalszusammenhang.

Beim Tier kommt dieses Ausstrahlen durch die Lotusblumen nicht in Betracht. Warum? Es hängt das wiederum mit der Orientierung des Tieres im Weltenall zusammen. Dadurch daß der Mensch sein Rückgrat vertikal gestellt hat, im rechten Winkel zu demjenigen des Tieres, dadurch entwickelt er vor allem das, was sich beim Tier gar nicht entwickeln kann, weil dessen Rückgrat horizontal und nicht senkrecht steht. Daher kann das Tier sich keinen «Kritiker» an die Seite stellen und auch nicht die Urteile über Handlungen im tierischen Leben in die Zukunft hineinsenden. Es wird viel herauskommen, wenn sich die Naturwissenschaft aufraffen wird, nicht nur bei dem trivialen Urteil stehenzubleiben, daß man die Gliedmaßen des Tieres in ihren Strukturen und Formen vergleicht mit den Gliedmaßen des Menschen, oder den Kopf der Tiere vergleicht mit dem des Menschen. Der Mensch hat zwar sein vollkommeneres Gehirn, aber sonst ist schließlich der Menschenkopf nicht gar so verschieden von dem Tierkopf, und deshalb konnte auch die materialistische Theorie den Menschen leicht an die Tierreihe angliedern. Aber was den Menschen vom Tiere unterscheidet, ist seine Orientierung im Weltenall. Wird man einmal diese studieren, dann wird man auch naturwissenschaftlich auf etwas ganz anderes kommen. Da wird auch die Geisteswissenschaft richtunggebend sein, wie sie richtunggebend für anderes ist, indem sie hinweist auf bestimmte Vorgänge des Lebens, die dann erst durchschaut werden können, wenn man durch die Geisteswissenschaft die betreffende Richtung erhält.

Wir sehen also, der Mensch ist so organisiert, daß mancherlei in ihm steckt, von dem man sagen kann, daß es auf der einen Seite gescheiter ist als er - manchmal auch raffinierter - in bezug auf die Schicksalsbeurteilung, und daß andererseits auch etwas in ihm steckt, was ein objektiverer Kritiker ist, als er selbst in seinem bewußten Leben ist. Im Menschen also steckt gewissermaßen schon das in komplizierter Weise, was man einen andern Menschen nennen kann, und im Leben kommt das auch zum Ausdruck. Der Mensch schaut seinen Handlungen in der Regel nicht zu. Der Kritiker in ihm bleibt unterbewußt,

103

der wird erst bewußt zwischen Tod und neuer Geburt, wenn jener Schein überall Schritt für Schritt getroffen wird, von dem ich gesprochen habe. Bei einer vernünftigen, eingehenden Lebensbetrachtung jedoch kann man schon darauf kommen, wie dieser Kritiker in den einzelnen Menschen sich doch verschieden verhält.

Vergleichen Sie miteinander zwei Menschentypen, die man im Leben finden kann. Der eine Typus wird häufig bezeichnet als Hansdampf in allen Gassen. Es gibt Menschen, die sind überall anzutreffen, haben niemals Zeit, müssen fortwährend unterwegs sein, müssen ihre Hände - man sagt wohl auch, ihre Nase - überall hineinstecken, müssen überall mittun und so fort. Die Menschen denken nicht weiter darüber nach, sie halten es für eine bloße Lebensgewohnheit, die auf allerlei unterbewußten Dingen beruhen soll. Aber was doch damit zusammenhängt, das ist, daß der Kritiker in dieser Inkarnation, wo der Mensch ein Hansdampf in allen Gassen ist, eine besondere Stellung einnimmt. Diese Kritiker haben auch ihre besondere Individualität. Die Menschen finden es dann schon nach dem Tode. Bei einem solchen Hansdampf - es ist sehr gut, wenn man über solche Dinge auch mit Humor reden kann, denn dadurch, daß man den Humor nicht vollständig verdorren läßt, wenn man in die Geisteswissenschaft eintritt, kommt man über jene, die Geisteswissenschaft so beeinträchtigende Stimmung hinweg; denn diese Stimmung ist etwas, was die Geisteswissenschaft sehr beeinträchtigt -, bei solch einem Hansdampf ist dieser Kritiker etwas wie eine Art Schauspieler, der sehr gern gesehen werden will - nicht nur von Menschen, das bildet er sich nur ein, wohl aber von allerlei geistigen Wesen -, der seine Freude daran hat, daß alles, was da in der geistigen Welt herumwimmelt, immer sehen kann, wenn er herumläuft. Dieser Typus des Hansdampf ist in der geistigen Welt einer, der immer herumläuft und gesehen werden will, und von diesem Gesehen-werden-Wollen, das sich in einen unbewußten Trieb umsetzt, rührt der Charakter «Hansdampf in allen Gassen» her. - Nehmen wir den entgegengesetzten Charakter. Das ist der Mensch, der das vollbringt, was das Leben ihm auferlegt, wozu das Leben ihn drängt, was es von ihm fordert. Er ist nicht überall zu sehen, sondern handelt auch da, wo er nicht gesehen wird, wo es vom

104

Leben gefordert wird und so weiter. Bei diesem nimmt auch der Kritiker eine besondere Stellung ein. Diese Dinge lassen sich schon durchschauen, wenn sie geisteswissenschaftlich betrachtet werden. Da nimmt der Kritiker die besondere Stellung ein, die von dem unbewußten Glauben herrührt, daß alles, was man tut, selbst wenn es nicht von den herumwimmelnden Geistern gesehen wird - wie es der Hansdampf gern möchte -, nicht vergeblich ist, daß keine Kraft in der Welt vergeblich ist, sondern ihre Bedeutung in der Welt hat. Dieser schöne Glaube: Alles was du tust, wenn es auch erst in Jahrtausenden herauskommen sollte, wird irgendwie seine Bedeutung im Gesamtleben der Welt haben -, dieses Bewußtsein liegt dem Gegentypus des Hansdampf zugrunde, ein gewisses Ruhen in der Welt, eine Sicherheit, die von dem eben charakterisierten Glauben herrührt.

Wir sehen daraus, wie das Leben sich aufhellt, wenn man ins Auge faßt, daß der Mensch wirklich nicht nur die Beziehungen hat im Leben, die äußerlich in der Sinneswelt sichtbar sind, sondern daß er wirklich Beziehungen im Leben hat, die sich auf sein Verhältnis zur geistigen Welt gründen.

Ich habe diese Ausführungen heute vorzugsweise aus dem Grunde gemacht, weil ich Ihnen dadurch zwei Elemente in der menschlichen Wesenheit vorgeführt habe: das eine Element, das mit der physischen Organisation des Menschen zwischen Geburt und Tod so zusammenhängt, daß die physische Organisation auf ein Unterbewußtes hinweist, indem gezeigt wird, daß Arme und Hände Denkorgane sind, wenn auch in dieser merkwürdigen Weise Denkorgane, daß sie dem, wofür der Kopf ein Sieb ist, einen besonderen Boden geben. Der Mensch ist in dieser Beziehung ein merkwürdiges Gefäß: Sein Kopf ist Sieb für das Schicksal; aber wenn die Gedanken, die das Schicksal macht, geronnen sind, dann werden sie durch die Arme und Hände aufgehalten. Das andere Element im Menschen ist das, was durch die Lotusblumen strahlt und hineingeht in das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. - Von dem Verhältnisse, das sich einrichtet zwischen diesen zwei Strömungen des Menschen, hängt Bedeutungsvolles ab. Denn betrachten Sie den ganzen Menschen in der Weise, daß Sie sich wirklich die Zwerchfellebene denken, so haben Sie ihn auch da als ein

105

zwiespältiges Wesen: Etwas kommt in ihn hinein, stockt da, stockt durch die Kraft der Arme und Hände, aber geht doch bis in die Zwerchfellebene hinunter. Das ist etwas, was dadurch stockt, daß der Mensch ein vertikales Wesen ist, nicht ein horizontales wie das Tier. Das andere zeigt sich in der Tat so - so sonderbar es klingt, aber die Welt ist voller Rätsel -, daß die Beine und Füße des einen in ähnlicher Weise zu ihm stehen wie die Arme des andern zu ihm. Das hat mit der Erde etwas zu tun. Denn die Strahlungen sieht man eigentlich durch die Erde kommend und durch den Menschen eindringend, aber gelenkt durch die Lotusblumen und hinstrahlend in die Zukunft. Es sind zwei Strömungen, die den Menschen als ein zwiespältiges Wesen zeigen. Im gewöhnlichen Leben sind diese beiden Strömungen ganz voneinander getrennt, und darauf beruht das Leben. Würden sich die zwei Strömungen im Leben verbinden, so wäre das Leben nicht so, wie es tatsächlich ist. Wenn sie zusammenströmten, könnte der Mensch nicht das Ich-Bewußtsein entwickeln, denn das Ich-Bewußtsein beruht darauf, daß die beiden Strömungen im Leben auseinandergehalten werden. Aber dennoch: Nur teilweise werden sie auseinandergehalten; in gewissem anderem Sinne strömen sie zusammen. Es ist tatsächlich so: Was da vom Menschen aus strahlt, um hineinzustrahlen in das Leben zwischen Tod und neuer Geburt, das kann - wenn es der Mensch dazu bringt - mit jenen andern Einstrahlungen, die dann durch die Arme aufgehalten werden, bevor sie durch das Sieb gehen, sich außerhalb des Menschen vereinigen. Die beiden Strömungen, die sonst durch seinen Leib gehen, aber nicht zusammenkommen, können, wenn der Mensch sie aufhält, sich vereinigen. Diese Vereinigung gibt die Möglichkeit der Begegnung des Menschen mit den Verstorbenen, mit denen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind.

Damit habe ich heute durch die Charakterisierung dieser beiden Strömungen eine Einleitung geschaffen zu dem, was wir dann im nächsten Vortrage besprechen wollen über die Beziehungen des Menschen, die er von hier aus zu diesen Verstorbenen haben kann, um diese Beziehungen wieder von einem andern Gesichtspunkte aus zu betrachten.

106

SECHSTER VORTRAG Berlin, 19. März 1918

Wir haben heute vor einer Woche über intimere Fragen des menschlichen Seelenlebens gesprochen, über solche Fragen, die geeignet sind, Vorstellungen vorzubereiten, die sich erstrecken auf das Verhältnis der sogenannten Lebenden, das heißt der im physischen Leibe lebenden Menschen, zu den entkörperten Seelen, zu denjenigen Menschen, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt leben. Nun handelt es sich darum, daß wir gerade, wenn wir ein solches Thema besprechen, uns mit gewissen grundlegenden Vorstellungen bekanntmachen, die uns in der richtigen Weise seelisch einführen können in die Art, wie der Mensch sich in einem solchen Verhältnisse drinnen denken sollte und denken kann. Denn davon, ob der Mensch, der hier auf der Erde lebt, sich bewußt ist, daß er in irgendeinem Verhältnisse zu einem Toten oder überhaupt in einem Verhältnisse zu dieser oder jener Wesenheit der geistigen Welt steht, hängt die Wirklichkeit dieses Verhältnisses gar nicht ab. Es ist eigentlich das, was ich jetzt sage, für den selbstverständlich, der über diese Dinge nachdenkt; aber es ist eben gerade auf dem geisteswissenschaftlichen Gebiete manchmal notwendig, sich das Selbstverständliche nur recht klarzumachen.

Der Mensch steht immer im Verhältnis zur geistigen Welt, steht auch immer in einem gewissen Verhältnis zu denjenigen Toten, die mit ihm karmisch verbunden sind. Es ist also durchaus ein anderes, von der Wirklichkeit dieses Verhältnisses zu sprechen - oder von dem stärkeren oder schwächeren Bewußtsein, das wir von diesem Verhältnis haben können. Wichtig aber ist für jeden - auch für den, der nur glauben kann, daß ihm ein solches Bewußtsein gänzlich ferne liegt -, zu erfahren, was ein solches Bewußtsein sagt; denn es sagt ja einem jeden eigentlich Wirklichkeiten, in denen er immer und immer drinnensteht. Gerade mit Bezug auf das Verhältnis der sogenannten lebenden Menschen zu den sogenannten Toten muß man sich eines klarmachen: dieses Verhältnis ist in gewisser Beziehung schwieriger zum Bewußtsein zu bringen als das Verhältnis zu andern

107

Wesenheiten der geistigen Welt. Sehend, schauend ein Bewußtsein von den Wesenheiten der höheren Hierarchien zu erlangen, ja auch bestimmte Offenbarungen von den höheren Hierarchien zu erhalten, ist verhältnismäßig leichter, als sich bewußt zu werden über ein ganz bestimmtes Verhältnis zu den Toten, das heißt in wahrhaft richtiger Weise sich darüber bewußt zu werden. Und dies ist aus folgendem Grunde.

Der Mensch lebt ja, indem er die Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchläuft, in sehr von den Lebensverhältnissen der physischen Welt verschiedenen Daseinsbedingungen. Sie brauchen nur einen Blick auf das zu werfen, was in dem Vortragszyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» gesagt ist, so werden Sie sehen, welche von der physischen Weltauffassung verschiedenen Vorstellungen und Gedanken man anwenden muß, um über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt zu sprechen. Warum sind denn eigentlich diese Vorstellungen, die man da anwenden muß, gar so verschieden von dem, was einem gewohnt ist für das gewöhnliche Bewußtsein? Das ist deshalb, weil aus gewissen Bedingungen heraus - wir werden das auch noch im Verlaufe dieses Winters besprechen müssen - der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt in einer gewissen Art schon das vorausnimmt, was erst die Lebensbedingungen der nächsten Erdenverkörperung, der Jupiternatur, sein werden. Der Mensch lebt allerdings, man möchte sagen, in geistiger Verfeinerung, lebt so, daß das, was er jetzt zwischen Tod und neuer Geburt durcherlebt, schon an das erinnert, was erste Lebensbedingungen der Jupiterentwickelung sein werden. Weil der Mensch in einer gewissen Weise hier in seinem Leben während der Erdenverkörperung etwas zurückbehalten hat von den früheren Verkörperungen der Erde - vom Mondendasein, Sonnendasein und Saturndasein -, deshalb nimmt er wieder etwas von der Zukunft auf in dem Leben, das er zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchläuft. Dagegen sind die Wesenheiten der höheren Hierarchien, soweit man sie durchschauen kann mit menschlichem Schauen, alle verknüpft - in einer gegenwärtigen Weise verknüpft -, zwar durchaus selbstverständlich mit der ganzen geistigen Welt, aber insofern mit der

108

geistigen Welt, als sich diese gegenwärtig in irgendeiner Form schon auslebt. Sie werden in der Zukunft das Zukünftige offenbaren. So paradox das, was ich jetzt sage, in einer gewissen Weise klingt, so ist es doch so. Es klingt aus dem Grunde paradox, weil ja die Frage entstehen kann, wie die Wesen der höheren Hierarchien ihre Tätigkeit auf die Toten entwickeln, da die Toten schon Zukünftiges in sich tragen. Natürlich tragen auch die Wesenheiten der höheren Hierarchien Zukünftiges in sich und haben die Möglichkeit in sich, das Zukünftige zu bilden. Aber sie tun dies nicht, ohne etwas zu bilden, was für die Gegenwart unmittelbar charakteristisch ist. Das aber ist bei den Toten der Fall. Aus diesem Grunde gehört zum Bewußtwerden des Verkehrs mit den Toten, gewissermaßen als Vorbereitung, das Schauen desjenigen, was die höheren Hierarchien vollführen. Und erst wenn man mit seiner Seele eine mehr oder weniger bewußte Empfindung herbeigeführt hat zu den Wesen der höheren Hierarchien, wird es dieser Seele auf Grund der Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit gegenüber den höheren Hierarchien allmählich möglich, etwas über den Verkehr mit den Toten ins Bewußtsein hereinzubekommen. Ich meine damit nicht, daß man hellseherisch die höheren Hierarchien erfassen muß, aber verstehen, soweit die Geisteswissenschaft dazu die Möglichkeit bietet - und sie gibt die Möglichkeit dazu - muß man das, was von den höheren Hierarchien ins Dasein hereinfließt. Bei allen diesen Dingen kommt es auf das Verstehen an. Dann allerdings, wenn man sich bemüht, geisteswissenschaftlich diese Dinge zu verstehen, können auch jene Daseinsbedingungen eintreten, die schon etwas von einer Verbindung der sogenannten Lebenden mit den sogenannten Toten ins Bewußtsein hereinrufen. Zum Verständnisse dessen ist es notwendig, das Folgende ins Auge zu fassen.

Die geistige Welt, in welcher der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt ist, hat ihre ganz besonderen Daseinsbedingungen, Daseinsbedingungen, die wir in unserem gewöhnlichen Erdenleben eigentlich kaum beachten, ja die uns, wenn sie uns innerhalb einer Lebensauffassung gegeben werden, ziemlich paradox klingen und kurios erscheinen. Da ist vor allem daran festzuhalten, daß der Mensch, wenn er solche Dinge bewußt empfinden will, sich vor allen Dingen ein

109

Gefühl aneignen muß, welches ich nennen möchte ein wirkliches Gemeinschaftsgefühl mit den Dingen des Daseins. Es ist eigentlich ein Erfordernis zur Fortsetzung der geistigen Entwickelung der Menschheit von unserer Gegenwart an, von dieser katastrophalen Gegenwart an, daß der Mensch dieses Gemeinschaftsgefühl mit den Dingen des Daseins allmählich entwickele. Im Unterbewußtsein ist dieses Gemeinschaftsgefühl, wenn auch auf eine niedere Art, durchaus veranlagt. Aber wir müssen nicht so im allgemeinen, wie es etwa die Pantheisten machen, von einem Allgeist schwatzen, wir müssen nicht so im allgemeinen von diesem Gemeinschaftsgefühl sprechen; sondern wir müssen uns im konkreten einzelnen darüber klarwerden, wie man von einem solchen Gemeinschaftsgefühl sprechen kann, wie es sich allmählich in der Seele aufbaut. Denn dieses Gemeinschaftsgefühl ist ein Lebensergebnis. Da kommt folgendes in Betracht.

Sie werden schon öfters gehört haben, wenn Verbrechernaturen, in denen das Instinktive unterbewußt sehr stark wirkt, etwas getan haben, irgendeine Tat verrichtet haben, dann haben sie einen eigentümlichen Instinkt sie werden zum Ort ihrer Tat zurückgetrieben, suchen den Ort ihrer Tat auf, ein unbestimmtes Gefühl treibt sie dorthin. Aber bei solchen Dingen drückt sich nur in besonderen Fällen das aus, was allgemein menschlich in bezug auf viele Dinge ist. Wenn wir nämlich irgend etwas getan haben, etwas verrichtet haben, und sei es die scheinbar unbedeutendste Verrichtung, so bleibt - man kann es nicht anders ausdrücken, obzwar es selbstverständlich wieder in einer Art Imagination ausgedrückt ist - etwas in uns von dem, was wir getan haben, von dem Ding, das wir angefaßt haben beim Tun; eine gewisse Kraft bleibt von dem Ding, das wir angefaßt haben, mit dem wir etwas getan haben, mit unserem Ich verbunden. Der Mensch kann gar nicht anders, als gewisse Verbindungen einzugehen mit all den Wesenheiten, die er trifft, und mit den Dingen, die er anfaßt - wobei ich natürlich nicht bloß das physische Anfassen meine -, mit denen er im Leben irgend etwas tut. Wir lassen überall unsere Merkzeichen zurück, und es bleibt das Gefühl des Verbundenseins mit den Dingen, mit denen wir durch unsere Handlungen in Berührung gekommen sind, in unserem Unterbewußtsein vorhanden. Das kommt bei solchen

110

Naturen, von denen ich eben gesprochen habe, in einer abnormen Weise zum Ausdruck, weil das Unterbewußte sehr instinktiv herauf- leuchtet in das gewöhnliche Bewußtsein; aber im Unterbewußtsein hat jeder das Gefühl, er müsse zu dem zurückkehren, womit er durch sein Handeln in Berührung gekommen ist.

Das ist es auch, was unser Karma begründet; von dem rührt unser Karma her. Und von diesem unterbewußten Gefühl, das sich zunächst nur nebulos ins Dasein hereindrückt, haben wir das allgemeine Gefühl der Gemeinschaft mit der Welt. Weil wir eigentlich überallhin unsere Merkzeichen geben, deshalb haben wir ein solches Gemeinschaftsgefühl mit der Welt. Man kann dieses Gemeinschaftsgefühl, ich möchte sagen, erhaschen, kann es an sich wahrnehmen. Dazu muß man aber gewisse Intimitäten des Lebens ins Auge fassen. Da muß man versuchen, sich wirklich in die Vorstellung hineinzufühlen: Du gehst jetzt über eine Straße -, und dann die Straße durchgehen, und nachdem man gegangen ist, sich immer gehend vorstellen. Dadurch daß man so etwas immer gehend hervorruft, treibt man aus seiner Seele heraus dieses allgemeine Gemeinschaftsgefühl mit der Welt. Bei dem, der sich in mehr konkretem Sinne dieses Gemeinschaftsgefühles bewußt wird, bildet es sich so aus, daß er sich zuletzt sagt Es ist doch eine Verbindung, wenn auch eine unsichtbare Verbindung vorhanden zu allen Dingen, wie zwischen den Gliedern eines einzelnen Organismus. Wie jeder Finger, jedes Ohrläppchen, alles zu uns gehört, was an unserem Organismus ist, wie eines mit dem andern in Verbindung steht, so ist eine Verbindung zwischen allen Dingen und zu allem, was geschieht, soweit das Geschehen in unsere Welt eingreift.

Für dieses Gemeinschaftliche, dieses organisch Durchdringende in den Dingen haben die jetzigen Erdenmenschen nur noch nicht ein vollgültiges Bewußtsein. Sie haben es noch nicht in ihrem Bewußtsein, es bleibt noch im Unbewußten. Während der Jupiterentwickelung wird dieses Gefühl das grundlegende sein, und indem wir uns vom fünften nachatlantischen Kulturzeitraum allmählich in den sechsten hineinarbeiten, arbeiten wir der Ausbildung eines solchen Gefühies vor, so daß dessen Ausbildung, die notwendig wird von unserem Zeitraume in die nächste Zukunft hinein, eine besonders ethische

111

Grundlage, eine besonders moralische Grundlage für die Menschheit abgeben muß, die viel lebendiger werden muß, als das Analoge heute noch irgendwie ist. Das ist in folgender Weise gemeint.

Heute denken sich manche Menschen noch nichts Besonderes dabei, wenn sie sich auf Kosten anderer Menschen bereichern, auf Kosten anderer leben. Nicht nur, daß die Menschen dieses Auf-Kosten- anderer-Leben nicht besonders in eine moralische Selbstkritik einbeziehen, sie denken nicht einmal darüber nach. Wenn sie nämlich darüber nachdächten, würden sie gerade finden, daß einer viel mehr auf Kosten des andern lebt, als es nur den Menschen einfällt. Es lebt nämlich jeder auf Kosten der andern. Nun wird sich das Bewußtsein entwickeln, daß das Leben auf Kosten der andern, auch in der Gemeinschaft, dasselbe bedeutet, wie wenn sich irgendein Organ eines Organismus auf Kosten eines andern Organes in unrechtmäßiger Weise entwickelte, und daß das Glück eines einzelnen Menschen in Wirklichkeit nicht möglich ist ohne das Glück der Gesamtheit. Das ahnen selbstverständlich heute die Menschen noch nicht, aber das muß allmählich ein Grundsatz einer wirklichen Menschenmoral werden. Heute strebt jeder sein eigenes Glück zunächst an, denkt nicht daran, daß das eigene Glück grundlegend nur möglich ist bei dem Glück aller andern.

Also es ist ein Zusammenhang zwischen dem Gemeinschaftsgefühl, von dem ich gesprochen habe, und dem Fühlen, daß eigentlich das ganze Gemeinschaftsleben ein Organismus ist. Das kann sich sehr steigern, kann sich außerordentlich steigern für den Menschen. Er kann ein intimes Empfinden für das Gemeinsamsein mit den Dingen um sich herum entwickeln. Wenn er diese intime Empfindung steigert, bekommt er die Möglichkeit, allmählich auch eine Wahrnehmung von dem zu erhalten, was ich im letzten Vortrage charakterisierte als jenen Schein, der über den Tod hinaus in unsere Entwickelung zwischen Tod und neuer Geburt geworfen wird, den wir wahrnehmen, und aus dem wir unser Karma bilden. Darauf will ich nur hinweisen. Aber man bekommt, wenn man jenes Gemeinschaftsgefühl ausbildet, noch etwas anderes, nämlich die Möglichkeit, wirklich auch mit den Eigentumlichkeiten, mit den Situationen, den Gedanken, den Handlungen

112

eines andern Menschen zu leben, wie wenn sie die eigenen wären. Das ist für das seelische Leben mit einer gewissen Schwierigkeit verbunden: sich in einen Menschen so hineinzudenken, daß das, was er verrichtet, was er denkt und fühlt, von uns so empfunden wird wie das eigene. Wenn man aber in fruchtbarer Weise an das zurückdenken will, was man mit Verstorbenen, die zur Zeit des Lebens mit einem karmisch verbunden waren, gemeinschaftlich hatte, dann bekommt man es nur fertig, sie als entkörperte Menschen wirklich zu erreichen, wenn man imstande ist, dessen, was man mit ihnen gemeinschaftlich durchlebt hat, und wenn es das Kleinste ist, so zu gedenken, wie man eben denkt, wenn man dieses Gemeinschaftsgefühl hat. Man stelle sich also vor, man denkt an etwas, was sich zwischen uns und einem Verstorbenen abgespielt hat, als wir mit ihm am Tisch saßen oder spazieren gegangen sind, oder anderes, und wenn es, wie gesagt, das Kleinste sei. Aber die Seele hat nur die Möglichkeit, sich in das recht hineinzuversetzen, so daß sie die Wirklichkeit erreicht, wenn sie das Gemeinschaftsgefühl wirklich in sich hat; sonst hat sie zu wenig Kraft, um sich in die Sache hineinzuversetzen. Denn fassen Sie es wohl nur von einem solchen Orte aus - wenn ich jetzt vergleichsweise spreche, aber Sie werden mich verstehen -, auf den wir dieses Gemeinschaftsgefühl so werfen, kann der Tote sich uns zum Bewußtsein bringen. Sie können es sich ganz räumlich vorstellen. Sie werden natürlich im Bewußtsein behalten müssen, daß Sie sich dabei nur ein Bild vorstellen, aber Sie stellen sich ein Bild einer richtigen Wirklichkeit vor.

Ich komme noch einmal auf das zurück, was ich vorhin sagte: Sie stellen sich eine einzelne Situation vor, wie Sie mit einem Verstorbenen zum Beispiel an einem Tische gesessen sind oder mit ihm spazieren gingen; dann richtet sich Ihr ganzes Seelenleben nach der Richtung dieses Gedankens hin. Wenn Sie mit dem Verstorbenen in diesem Gedanken nur ein solches Seelenzusammensein entwickeln, wie es diesem Gemeinschaftsgefühl entspricht, dann kann sein Blick von der geistigen Welt aus diesen Gedanken ebenso finden, wie Ihr Gedanke, Ihre Gedankenrichtung die Wirklichkeit findet, auf die sich diese Gedanken richten. Indem Sie diesen Gedanken an den Toten und in

113

dem Grade, wie ich es angedeutet habe, liebevoll in Ihrer Seele anwesend sein lassen, treffen Sie sich in Ihrer seelischen Blickrichtung mit der seelischen Blickrichtung des Toten. Dadurch kann der Tote zu Ihnen sprechen. Er kann nur von dem Orte aus zu Ihnen sprechen, auf den die Richtung Ihres Gemeinschaftsgefühles mit ihm fällt. So hängen die Dinge zusammen. Lernen wir gewissermaßen unser Karma fühlen, indem wir eine Vorstellung davon bekommen, wie wir überall Denkzeichen zurücklassen. Lernen wir uns dadurch mit den Dingen identifizieren, so bilden wir das Gefühl aus, das uns in immer bewußtere und bewußtere Verbindung mit den Toten bringt. Dadurch ist erst die Möglichkeit gegeben, daß der Tote zu uns spricht.

Das andere, das notwendig ist, das ist, daß wir es hören können, daß wir es mit der Zeit wirklich wahrnehmen können. Da müssen wir vor allen Dingen auf das Rücksicht nehmen, was sozusagen als «Luft» liegen muß zwischen uns und dem Toten, damit er zu uns herüber- sprechen kann. Wenn ich es mit Physischem vergleiche: Wenn ein luftleerer Raum hier zwischen uns wäre, würden Sie nicht hören können, was ich sage; die Luft muß es vermitteln. So muß auch etwas sein zwischen den Lebenden und den Toten, wenn der Tote an uns herankommen soll. Es muß gewissermaßen eine geistige Luft da sein, und wir können jetzt davon sprechen, woraus diese geistige Luft besteht, in der wir gemeinsam mit den Toten leben. Aus was besteht diese geistige Luft?

Wenn wir das erfassen wollen, müssen wir uns an das erinnern, was ich in anderem Zusammenhange auch schon dargestellt habe, nämlich wie man die menschliche Erinnerung zustande kommt; denn die Dinge hängen alle untereinander zusammen. Die gebräuchliche Psychologie sagt über die menschliche Erinnerung: Ich habe jetzt einen Eindruck aus der Außenwelt, der ruft eine Vorstellung in mir hervor; diese Vorstellung geht irgendwie in meinem Unterbewußtsein spazieren, sie wird vergessen, und wenn eine besondere Veranlassung dazu ist, kommt sie aus dem Unterbewußten wieder heraus, und dann erinnere ich mich. - Denn eigentlich haben fast alle Psychologien, was die Erinnerung betrifft, so die Empfindung, daß man jetzt auf Grund eines Eindruckes eine Vorstellung hat, dann hat man sie nach einiger

114

Zeit nicht mehr, da ist sie vergessen und spaziert so im Unterbewußten herum, und dann kommt sie durch irgendeine Gelegenheit wieder ins Bewußtsein herauf. Man erinnert sich und glaubt, die gleiche Vorstellung zu haben, die man sich zuerst bildete. Es ist das aber ein vollständiger Unsinn, ein Unsinn, der zwar fast ausnahmslos in allen Psychologien gelehrt wird, der aber deshalb doch ein Unsinn ist. Denn das, wovon da gesprochen wird, geschieht gar nicht. Wenn wir uns durch ein äußeres Erlebnis einen Eindruck bilden und später uns daran erinnern, so kommt gar nicht die zuerst gebildete Vorstellung wieder in uns herauf. Sondern während wir jetzt vorstellen, geht noch ein unterbewußter Prozeß vor sich, ein zweiter Prozeß; der kommt nur während des äußeren Erlebnisses nicht zum Bewußtsein, aber er geht doch vor sich. Und durch Vorgänge, die ich jetzt nicht besprechen will, spielt sich morgen wieder in unserem Organismus das ab, was sich heute abgespielt hat, was aber unbewußt geblieben ist. Und wie heute der äußere Eindruck die Vorstellung hervorruft, so ruft morgen das, was da unten bewirkt worden ist, die neue Vorstellung hervor. Eine Vorstellung, die ich heute habe, vergeht, sie ist nicht mehr da; die spaziert nicht im Unterbewußten herum, sondern wenn ich morgen aus dem Gedächtnis dieselbe Vorstellung habe, so kommt das davon her, daß in mir etwas vorhanden ist, was diese selbe Vorstellung hervorruft. Das wurde aber unterbewußt erzeugt. Wer da glaubt, daß Vorstellungen von unserem Unterbewußtsein aufgenommen werden, darin spazierengehen und schließlich wieder aus der Seele heraufkommen, der sollte, wenn er sich etwa in drei Tagen erinnern will, daß irgend etwas an ihn herangetreten ist, was er nicht vergessen will und was er sich etwa aufschreibt, er sollte sich dann nur auch gleich vorstellen: Der Mensch, an den er sich erinnern will, ist auch dadrinnen in dem, was er sich aufgeschrieben hat, und nach drei Tagen spaziert dann dieser Mensch wieder aus dem Notizbuch heraus. - Geradeso wie in das Notizbuch nur Zeichen hineingekommen sind, so ist in der Erinnerung auch nur ein Zeichen da, und dieses ruft, und zwar in einem abgeschwächteren Grade, das wieder hervor, was von uns erlebt worden ist. Man kann in dieser Beziehung mancherlei geisteswissenschaftlich anführen - wir werden es noch tun, und das

115

wird dies, was ich jetzt ausführe, ganz klarmachen - ich will heute nur an eines erinnern.

Wer memorieren oder irgendwie sich etwas beibringen will, was er behalten will, was man oft in der Jugend «ochsen» nennt, der weiß ganz gut, daß das nicht genügt, was dann als Operation sich vollzieht, wenn man nur etwas wahrnimmt; sondern es werden zuweilen recht sehr äußerliche Hilfen in Anspruch genommen, um irgend etwas dem Gedächtnis einzuverleiben. Beobachten Sie nur einmal jemanden, der sich etwas einochsen will, so werden Sie sehen, was er für Anstrengungen macht, um dieser unbewußten Tätigkeit zu Hilfe zu kommen, die sich dabei abspielt. Da sucht man diesem Unterbewußten irgendwie nachzuhelfen. Das sind ganz zweierlei Dinge: eine Sache der Erinnerung einverleiben und eine Sache gegenwärtig vorstellen. Wenn Sie Menschen studieren können, ihre Charaktere beobachten, so werden Sie bald finden können, wie auch das Menschenstudium zeigt, daß man es dabei mit zwei Dingen zu tun hat: Sie werden finden, daß es Menschen gibt, die schnell etwas auffassen, aber ein furchtbar schlechtes Gedächtnis haben; und umgekehrt gibt es Menschen, die blitzdumm sind, was schnelles Erfassen einer Sache anbelangt, die aber ein gutes Gedächtnis haben, namentlich eine gute Vorstellungs- und Urteilsfähigkeit. Es gehen diese beiden Dinge ganz nebeneinander her, und die Geisteswissenschaft wird in mancher Beziehung auf die wahren Sachverhalte in Wirklichkeit erst aufmerksam machen müssen.

Wenn wir so im Leben dieses oder jenes auffassen, und wir fassen ja vom frühen Morgen, vom Aufwachen bis zum Einschlafen etwas von der Welt auf, da machen wir unsere Sympathien oder Antipathien mehr oder weniger bewußt durch mit dem, was wir erfassen, und wir sind meistens zufrieden, wenn wir eine Sache erfaßt haben. Diese Tätigkeit aber, die dann zur Erinnerung führt, ist eine viel ausgebreitetere als jene, die zum Erfassen der Eindrücke notwendig ist. Es geht wirklich viel unterbewußt in unserer Seele vor, und dieses unterbewußt Vorsichgehende widerspricht manchmal in merkwürdiger Weise dem, was bewußt in uns vorgeht. Es kann manchmal sein, daß wir Antipathien empfinden, mit einem Eindruck, den etwas auf uns macht. Das Unterbewußtsein empfindet diese Antipathien gar

116

nicht; es empfindet überhaupt die Eindrücke ganz anders, als das gewöhnliche Bewußtsein. Das Unterbewußte entwickelt nämlich eine merkwürdige Empfindung gegenüber allen Eindrücken, die Empfindung, die ich nicht anders bezeichnen kann - obwohl es immer nur vergleichsweise ist, wenn man Ausdrücke, die der physischen Welt entnommen sind, auf das Geistige anwendet; aber der Ausdruck paßt hier sehr gut -, als daß ich sagen möchte: Das Unterbewußte entwickelt immer, gleichgültig, was im Bewußtsein vor sich geht, gegenüber jedem Eindruck ein gewisses Dankbarkeitsgefühl. - Es ist gar nicht unrichtig, wenn ich sage, ein Mensch kann vor Ihnen stehen, und der bewußte Eindruck, den Sie von ihm haben, kann Ihnen furchtbar unangenehm sein. Der Mensch kann Ihnen die größten Grobheiten ins Gesicht schleudern, der unterbewußte Eindruck hat gegenüber diesem ein gewisses Dankbarkeitsgefühl. Aus dem einfachen Grunde ist dieses Dankbarkeitsgefühl vorhanden, weil alles, was im Leben an die tieferen Elemente unseres Wesens herantritt, unser Leben reicher macht, es wirklich reicher macht. Auch alle unangenehmen Eindrücke machen unser Leben reicher. Das hängt nicht mit dem zusammen, wie wir uns bewußt zu den äußeren Eindrücken verhalten müssen. Ob wir in bewußter Art so oder so zu reagieren haben, das hat nichts zu tun mit dem, was sich unterbewußt abspielt. Im Unterbewußtsein führt alles nur zu einem gewissen Dankbarkeitsgefühl. Das Unterbewußte nimmt jeden Eindruck wie eine Gabe hin, für die es dankbar sein muß. Das tun wir in unserem Unterbewußtsein.

Es ist außerordentlich wichtig, daß man diese unter der Schwelle des Bewußtseins verlaufende Tatsache einmal ins Auge faßt. Was da wirkt und in einem Dankbarkeitsgefühl sich entladet, wirkt auf eine ähnliche Art in uns wie das, was bei einem Eindruck von der Außenwelt in uns hereinwirkt, und was dann Erinnerung werden soll, es geht so neben dem Vorstellen her, und nur der Mensch kann sich bewußt werden über diese Dinge, der auch ein deutliches Gefühl davon bekommt, daß er vom Aufwachen bis zum Einschlafen fortwährend träumt. Ich habe schon im öffentlichen Vortrage gesagt, daß wir in bezug auf unsere Gefühle und unseren Willen fortwährend schlafen und träumen, auch im wachen Leben. Wenn wir so die Welt auf uns

117

wirken lassen, gehen fortwährend unsere Eindrücke und Vorstellungen vor sich; aber darunter träumen wir über alle Dinge, und dieses Traumleben ist viel reicher, als wir meinen. Es wird nur überstrahlt von dem bewußten Vorstellen, wie ein schwaches Licht von einem starken überstrahlt wird. - Sie können gleichsam experimentierend sich über solche Verhältnisse eine Aufklärung verschaffen, wenn Sie auf verschiedene Intimitäten des Lebens achtgeben. Versuchen Sie zum Beispiel folgendes Experiment in sich selbst zu machen: Denken Sie sich, Sie liegen auf einem Ruhebette und wachen auf. Natürlich gibt der Mensch dann nicht auf sich acht, weil gleich hinterher die Welt allerlei Eindrücke auf ihn macht. Aber es kann vorkommen, daß er noch ein wenig ruhig bleibt, wenn er aufwacht. Da kann er dann bemerken, daß er eigentlich schon wahrgenommen hat, bevor er aufwachte. Das kann er besonders dann beobachten, wenn jemand an die Tür geklopft hat und nicht wieder klopfte. Das kann er konstatieren, aber indem er aufwacht, weiß er: Da ist etwas geschehen. Es wird aus der Gesamtsituation klar.

Wenn der Mensch so etwas beobachtet, wird er nicht mehr weit sein von der Anerkennung dessen, was die Geisteswissenschaft zu konstatieren hat: daß wir in einem viel weiteren Umfange wahrnehmend zu unserer Umgebung stehen, als das bewußte Wahrnehmen ist. Es ist einfach richtig, wenn Sie auf der Straße gehen, einem Menschen begegnen, der eben um die Ecke gekommen ist und den Sie deshalb nicht haben sehen können: Sie werden das Gefühl haben, daß Sie ihn doch schon vorher gesehen haben, Sie werden in unzähligen Fällen das Gefühl haben können, daß Sie etwas schon gesehen haben, bevor es wirklich geschehen ist. - Es ist wahr: Wir stehen schon vorher in seelisch-geistiger Verbindung mit dem, was wir nachher wahrnehmen. Es ist durchaus so, nur daß wir übertäubt werden von der nachherigen sinnlichen Wahrnehmung und wirklich nicht auf das achten, was in den Intimitäten des Seelenlebens vor sich geht.

Das ist wieder so etwas, was in einer ähnlichen Weise unterbewußt vor sich geht, wie die Gedächtnisbildung oder wie das, was ich als das Dankbarkeitsgefühl gegenüber allen umliegenden Erscheinungen auseinandergesetzt habe. Die Verstorbenen können zu uns nur sprechen

118

durch das Element, das da durch unsere das Leben durchwebenden Träume durchgeht. In dieses Intime, unterbewußt vorsichgehende Wahrnehmen sprechen die Toten hinein. Und sie können es, wenn wir in der Lage sind, eben mit ihnen die gemeinsame geistig-seelische Luft zu haben. Denn das ist für sie notwendig, wenn sie zu uns sprechen wollen, daß wir etwas ins Bewußtsein hereinbekommen von dem, was ich eben als das Dankbarkeitsgefühl entwickelt habe, ein Dankbarkeitsgefühl gegenüber allem, was sich uns offenbart. Wenn nichts von diesem Dankbarkeitsgefühl in uns ist, wenn wir nicht imstande sind, der Welt dafür zu danken, daß sie uns leben läßt, daß sie unser Leben fortwährend mit neuen Eindrücken bereichert, wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Seele dadurch zu vertiefen, daß wir oft und oft uns gegenwärtig halten können, daß eigentlich das ganze Leben durch und durch eine Gabe ist, so finden die Toten nicht die gemeinsame Luft mit uns. Denn sie können nur durch das Dankbarkeitsgefühl mit uns sprechen, sonst ist eine Wand zwischen uns und ihnen.

Nun werden wir sehen, wie viele Hindernisse da sind, wenn es sich gerade um den Verkehr mit den Toten handelt; denn es handelt sich ja, wie wir aus andern Zusammenhängen gesehen haben, immer um den Verkehr mit denjenigen Toten, mit denen wir karmisch verbunden sind. Haben wir sie verloren, wünschen wir sie im Leben wieder zurück, können wir uns nicht zu dem Gedanken aufraffen: Wir sind dankbar dafür, daß wir sie gehabt haben, ganz unbeschadet dessen, daß wir sie jetzt nicht mehr haben -, so ist eben gerade gegenüber dem Wesen, dem wir uns nähern wollen, unser Dankbarkeitsgefühl nicht vorhanden; dann findet es uns nicht, oder es kann mindestens nicht zu uns sprechen. Gerade die Empfindungen, die man sehr häufig nahestehenden Toten gegenüber hat, sind ein Hindernis, daß die Toten zu uns sprechen können. Andere Verstorbene, die nicht karmisch mit uns verbunden sind, sprechen schon gewöhnlich schwerer zu uns; aber mit Bezug auf die uns Nahestehenden haben wir zu wenig die Empfindung, daß wir ihnen dankbar sind, daß sie uns im Leben etwas gewesen sind, und daß wir nicht an der Vorstellung festhalten sollen, daß wir sie nun nicht mehr haben; denn dies ist eine undankbare Empfindung

119

im weiteren Sinne des Lebens gefaßt. Man soll sich nur einmal klarmachen, wie sehr das Gefühl des Verlorenhabens das andere überwiegt, dann wird man die ganze Tragweite dessen, was ich sage, ins Auge fassen können. - Wir denken uns, wir haben einen lieben Angehörigen verloren. Dann müssen wir uns wirklich aufschwingen können zu der Empfindung von Dankbarkeit, daß wir ihn gehabt haben. Wir müssen selbstlos an das denken können, was er bis zu seinem Tode uns war, und nicht an das, was wir jetzt dadurch empfinden, daß wir ihn nun nicht mehr haben. Denn je besser wir das gerade empfinden können, was er uns während seines Lebens war, desto eher findet er die Möglichkeit, zu uns zu sprechen, desto eher wird es ihm möglich, durch die gemeinsame Luft der Dankbarkeit hindurch mit seinen Worten an uns herankommen zu können.

Um allerdings immer bewußter und bewußter in die Welt hineinzukommen, aus der so etwas herauskommt, sind noch mancherlei andere Dinge notwendig. Nehmen Sie an, Sie haben ein Kind verloren. Das Gemeinsamkeitsgefühl, das notwendig ist, können Sie dadurch zum Beispiel betätigen, daß Sie sich vorstellen, wie Sie mit dem Kinde zusammensitzen, mit ihm spielen, so daß Sie das Spiel genau ebenso interessiert wie das Kind selber. Und wenn Sie so an ein Kind denken können, daß Sie das Spiel so interessiert wie das Kind selber, haben Sie das entsprechende Gemeinschaftsgefühl, wie es auch nur einen Sinn hat mit einem Kinde zu spielen, wenn man ebenso ein Spielfratz ist wie das Kind selbst. Das gibt eine Atmosphäre, die notwendig ist für das Gemeinschaftsgefühl. Also wenn man sich vorstellt, daß man mit dem Kind spielt, und sich so recht lebhaft da hineinversetzt, dann ist der Ort geschaffen, worauf unsere und seine Blickrichtung fallen kann. Bin ich dann imstande, zu erfassen, was der Tote sagt, dann stehe ich mit ihm in einer bewußten Verbindung. Das kann auch wieder durch mancherlei gefördert werden.

Manchen Menschen wird zum Beispiel das Denken außerordentlich leicht. Sie werden sagen: Das ist nicht wahr! - Aber dennoch, es gibt Menschen, denen wird das Denken außerordentlich leicht. Wenn es die Menschen schwierig finden, so ist das eigentlich ein anderes Gefühl. Gerade die Menschen, die das Denken am leichtesten nehmen,

120

finden es am allerschwierigsten. Das ist aus dem Grunde, weil sie eigentlich denkfaul sind. Aber ich meine es in folgender Richtung, daß es die meisten Menschen eigentlich leicht haben mit ihrem Denken. Man kann gar nicht einmal sagen, wie leicht, weil es so furchtbar leicht ist, daß die Menschen denken; man kann nur sagen, sie denken eben, sie bekommen gar keinen Begriff, daß es auch schwer sein könnte. Sie denken eben; sie fassen ihre Vorstellungen und haben sie dann und leben so in ihnen. Aber dann kommen andere Dinge an die Menschen heran, und ich will gleich unser Beispiel nehmen: Geisteswissenschaft. Die Geisteswissenschaft wird nicht deshalb von so vielen Menschen gemieden, weil sie schwer verständlich ist, sondern deshalb, weil eine gewisse Anstrengung dazu gehört, um die geisteswissenschaftlichen Vorstellungen in sich aufzunehmen. Die Menschen scheuen diese Anstrengung. Und wer weiter und weiter geht in der Geisteswissenschaft, der merkt nach und nach, daß in ihr das Fassen der Gedanken wirklich eine Willensaufwendung notwendig macht, daß es eine Willensaufwendung nicht nur gibt, wenn man Zentnergewichte hebt, sondern auch, wenn man Gedanken faßt. Aber das wollen eben die Menschen nicht; sie denken leicht. Gerade wer im Denken vorrückt, kommt darauf, daß er immer schwerer und schwerer denkt, immer und immer schwerfälliger denkt - wenn ich so sagen darf, weil er immer mehr und mehr empfindet: Damit ein Gedanke sich in ihm festlegen kann, muß er Anstrengungen aufwenden. Es gibt eigentlich für das Eindringen in die geistige Welt nichts Günstigeres, als wenn es einem immer schwerer und schwerer wird, Gedanken zu fassen, und eigentlich wäre der am glücklichsten im Fortschreiten in der Geisteswissenschaft, der gar nicht mehr den Maßstab des leichten Denkens anwenden könnte, den man sonst im Leben gewohnt ist, sondern der sich sagen würde: Das ist aber eigentlich eine Drescherarbeit, dieses Denken; man muß sich anstrengen, wie wenn man mit dem Dreschflegel schlagen würde!

Ich kann ein solches Gefühl nur andeuten, aber es kann sich bilden. Es ist gut, es ist günstig, wenn es so wird. Es ist gar manches andere noch damit verbunden, zum Beispiel daß dasjenige allmählich zurücktrete, was viele Menschen haben. Viele sind mit ihrem Denken so

121

rasch, daß jemand von einem Gedankenkomplex nur etwas zu sagen braucht, dann haben sie schon den Zusammenhang des Ganzen erfaßt, dann wissen sie es und wissen immer gleich eine Antwort zu geben. Was würde aber auch sonst die Konversation in den Salons bedeuten, wenn das Denken schwer wäre! Aber man kann bemerken: Indem der Mensch nach und nach bekannt wird mit den inneren Verhältnissen der Dinge, wird es ihm auch schwerer, so hinzutratschen und auf alles gleich mit der Antwort bereit zu sein; denn das kommt vom leichten Denken. Man wird ja auch mit dem Vorrücken im Wissen immer sokratischer, man weiß immer mehr, daß man vieles aufwenden muß und sich nur mit Mühe ein Recht erwirbt, über dieses oder jenes eine Meinung auszusprechen.

Dieses Gefühl, daß Willensanstrengungen zum Fassen der Gedanken gehören, ist verwandt mit einem andern Gefühl in uns, das wir manchmal haben, wenn wir memorieren, wenn wir ochsen sollen und nicht in uns hereinkriegen, was wir hereinkriegen sollen. Man kann die Verwandtschaft zwischen diesen zwei Dingen durchaus empfinden: die Schwierigkeit, etwas gedächtnismäßig zu behalten, und die Schwierigkeit, wenn man in seinem eigenen Denken Willensanstrengungen macht, um etwas zu erfassen. Man kann sich aber darin auch üben; man kann das anwenden, was ich nennen könnte: Gewissenhaftigkeit, Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem Denken. - Es kommt bei manchen Menschen zum Beispiel vor, wenn jemand etwas aus einer gewissen Lebenserfahrung heraus sagt: Der oder jener ist ein guter Mensch -, flugs tratscht der andere: Ein furchtbar guter Mensch! - Denken Sie nur einmal, wie häufig es im Leben ist, daß Antworten nur darin bestehen, daß man anstatt des Positivs den Komparativ erwidert. Es ist natürlich nicht das Geringste dazu vorhanden, daß die Sache dem Komparativ entspräche, es ist nur der absoluteste Mangel dessen, was man denken soll; man hat da das Gefühl, daß man doch etwas erlebt haben soll von dem, was man zum Ausdruck bringen soll, worüber man sprechen will. Es darf selbstverständlich eine solche Lebensforderung nicht allzusehr übertrieben werden, denn sonst ginge in vielen Salons das große Schweigen los.

Aber die Sache ist doch so: Dieses Gefühl, das aus dem Verantwortlichkeitsgefühl

122

gegenüber dem Denken erwacht, aus dem Gefühl, daß das Denken schwierig ist, dieses Gefühl begründet die Möglichkeit und die Fähigkeit, Erleuchtungen zu empfangen. Denn eine Erleuchtung kommt nicht auf die Art, wie der Gedanke den meisten Menschen zuspringt; eine Erleuchtung kommt immer, indem sie so schwierig ist wie etwas, was wir eben als schwierig empfinden. Wir müssen erst lernen, den Gedanken als schwierig zu empfinden, wir müssen erst lernen zu empfinden, daß gedächtnisartiges Behalten noch etwas anderes ist als bloßes Denken. Dann werden wir aber ein Gefühl empfinden können für jenes schwache, traumhafte Heraufkommen von Gedanken in der Seele, die eigentlich nicht recht haften wollen, die eigentlich schon wieder weg sein wollen, wenn sie kommen, die schwierig sind anzufassen. Wir unterstützen uns dabei, wenn wir uns geradezu ein Gefühl davon entwickeln, mit den Gedanken real zu leben. - Machen Sie sich einmal klar, was in Ihrer Seele vorgeht, wenn Sie zum Beispiel die Absicht gehabt haben, irgendwo hinzugehen - und dann ankommen als am Ziel. Gewiß, der Mensch denkt gewöhnlich nicht darüber nach, man kann aber auch darüber nachdenken, was in der Seele vor sich geht, wenn man eine Absicht gehabt hat, sie ausgeführt hat, und dann erreicht ist, was beabsichtigt war. Es ist tatsächlich ein Umschwung in der Seele geschehen. Man kann es manchmal sogar recht auffällig ausgedrückt finden, wenn ein Bergsteiger sich sehr anstrengen muß, um oben auf einem Berge anzukommen, wenn er pustet und pustet und endlich, wenn er oben ankommt, aus- ruft: Gott sei Dank, daß mer da sein! - dann fühlt man, daß ein gewisser Umschwung in seinen Gefühlen sich vollzogen hat. Aber man kann sich auch ein feineres Empfinden nach dieser Richtung aneignen, und dieses feinere Empfinden kann sich in das intimere Seelenleben hinein fortsetzen. Dann ist es ähnlich dem folgenden Gefühl: Wer da beginnt, sich eine Situation mit einem Verstorbenen zu vergegenwärtigen, wer zu probieren beginnt, mit dem Toten gemeinsame Interessen zu haben, mit seinen Gedanken und Empfindungen sich zu verbinden, der wird sich wie auf einem Wege befindlich fühlen. Und dann kommt der Moment, wo man sich wie zur Ruhe gekommen in diesem Gedanken empfindet. Wer das kann: sich erst bewegen in

123

einem Gedanken und dann ins Gleichgewicht kommen mit diesem Gedanken, der empfindet, wie wenn man sich aufgestellt hätte, während man früher gegangen ist. Damit hat man viel getan, um in entsprechender Weise für die Erleuchtungen, welche einem Gedanken geben können, zu sorgen. Man kann auch für die Erleuchtung durch Gedanken dadurch sorgen, daß man den ganzen Menschen einsetzt statt dessen, was man sonst nur im Leben einsetzt. Das führt natürlich schon in stärkere Intimitäten dieses Erlebens hinein.

Wer ein wenig in sein Bewußtsein jenes Dankbarkeitsgefühl heraufholt, von dem ich vorhin gesprochen habe, der wird sogleich bemerken, daß dieses sonst unbewußt bleibende Dankbarkeitsgefühl, wenn es ins Bewußtsein heraufkommt, nicht so wirkt wie das gewöhnliche Dankbarkeitsgefühl; sondern es wirkt so, daß man mit ihm den ganzen Menschen verbinden möchte, wenigstens den Menschen bis in die Arme und Hände hin. Da muß ich auf das aufmerksam machen, was ich über diesen Teil des Menschenempfindens gesagt habe, wo die gewöhnlichen Vorstellungen aufgefaßt werden, aber die intimeren Vorstellungen wie durch ein Sieb durch das Gehirn durchgehen, und eigentlich die Arme und Hände die Empfangsorgane dafür sind. Man kann es aber auch wirklich erleben. Man kann selbstverständlich dabei ruhig bleiben, aber man kann doch so empfinden, als wenn man gegenüber gewissen Eindrücken des Lebens jenes Dankbarkeitsgefühl und auch andere ähnliche Gefühle - zum Beispiel das Verwunderungsgefühl, das Achtungsgefühl - mit den Armen ausdrücken müßte. Fragmentarische Äußerungen dieses Erlebens, daß es in den Armen und Händen zuckt, um eben die unterbewußten Impulse bei den Eindrücken mitzuerleben, kommen zum Ausdruck, wenn sich der Mensch zum Beispiel gedrängt fühlt, gegenüber der schönen Natur die Hände zusammenzuschlagen, oder gegenüber manchem, was ihm passiert ist, die Hände zu falten. Alle Dinge, die uns unterbewußt passiert sind, kommen fragmentarisch im Leben zum Ausdruck. Gegenüber dem, was man nennen könnte «Mitwollen der Hände und Arme mit den äußeren Eindrücken» kann ja der Mensch ruhig bleiben; dann bewegt sich nur sein Ätherleib, die Ätherhände und Ätherarme. Je mehr man sich dessen bewußt wird, ja, je mehr man in die

124

Lage kommt, mitzuempfinden mit dem Armorganismus das, was äußere Eindrücke sind, je mehr man eine so zum Ausdruck kommende Empfindung entwickelt: Wenn du Rot siehst, möchtest du diese Handbewegung machen, denn sie gehört dazu; wenn du Blau siehst, möchtest du jene Handbewegung machen, denn sie gehört dazu -, je mehr man sich dessen bewußt wird, desto mehr entwickelt man auch das Gefühl für Erleuchtungen, für das, was so in die Seele kommen soll, was wir als Eindrücke erhalten sollen. Wenn wir uns so hingegeben haben, wie ich es bei dem spielenden Kinde beschrieben habe, dann verlieren wir uns an den Eindruck, finden uns aber selbst. Aber dann kommt die Erleuchtung, wenn wir uns fähig gemacht haben, den ganzen Menschen für einen Eindruck bereit zu haben, wenn wir auch beim Untertauchen in unsere eigenen Gedanken mit dem Toten dieses Untertauchen selbst mit dem Gemeinsamkeitsgefühl verbinden können und, indem wir hinterher aufwachen, es verbinden können im wirklichen Erleben mit dem ganzen Menschen, wie ich jetzt geschildert habe, wenn wir das bis in die Hände und Arme gehende Dankbarkeitsgefühl empfinden können. Denn die geistige Wesenhaftigkeit, in der sich der Tote zwischen Tod und neuer Geburt befindet, spricht in einem solchen Verkehr so zum lebenden Menschen, daß man sagen kann: Wir finden ihn, wenn wir uns an einem gemeinsamen Geistesorte bei einem Gedanken, den auch er sieht, treffen können, wenn wir uns bei diesem gemeinsamen Gedanken in vollständigem Gemeinsamkeitsgefühl treffen können. Und wir haben die Materialien dazu durch das Medium des Dankbarkeitsempfindens. Denn aus dem Raume, der gewoben ist aus dem Gemeinschaftsgefühl, durch die Luft, die gebildet wird aus dem Empfinden der allgemeinen Dankbarkeit der Welt gegenüber, sprechen die Toten zu den lebenden Menschen.

125

SIEBENTER VORTRAG Berlin, 26. März 1918

Mit ein paar Worten wollen wir zurückkommen, damit der Zusammenhang gewahrt werde, auf das, was vor acht Tagen hier vorgebracht worden ist. Ich sagte: Wenn es sich darum handelt, das Verhältnis der im Leibe verkörperten Menschenseelen zu entkörperten Menschenseelen, die zwischen Tod und neuer Geburt leben, ins Auge zu fassen, so kommt es darauf an, das geistige Auge gewissermaßen auf die «seelische Luft» zu richten, die den Lebenden mit den sogenannten Toten verbinden muß, damit ein Verhältnis zwischen beiden stattfinden könne. Und wir haben zunächst gefunden, daß gewisse Seelenstimmungen, die beim Lebenden vorhanden sein müssen, gewissermaßen die Brücke hinüberschlagen in die Reiche, in denen die sogenannten Toten sind. Seelenstimmungen bedeuten ja immer auch das Vorhandensein eines gewissen seelischen Elementes, und man könnte sagen, eben wenn dieses seelische Element vorhanden ist, wenn es seine Anwesenheit zeigt durch die entsprechenden Gefühle des Lebenden, dann flndet die Möglichkeit eines solchen Verhältnisses statt.

Wir mußten dann darauf hinweisen, daß solche Möglichkeit, also gewissermaßen die seelische Luftverbindung, durch zwei Gefühlsrichtungen beim Lebenden geschaffen wird. Die eine Gefühlsrichtung ist die, welche man nennen könnte das universelle Dankbarkeitsgefühl gegenüber allen Lebenserfahrungen. Ich sagte: Die Gesamtart, wie sich die Seele des Menschen zur Umgebung überhaupt verhält, zerfällt in einen unterbewußten Teil und in einen bewußten. Den bewußten Teil kennt jeder; er besteht darinnen, daß der Mensch mit Sympathien und Antipathien und mit seinen gewöhnlichen Wahrnehmungen verfolgt, was ihn im Leben trifft. Der unterbewußte Teil aber besteht darinnen, daß wir tatsächlich eben unter der Schwelle des Bewußtseins ein Gefühl entwickeln, das besser, erhabener ist als die Gefühie, die wir im gewöhnlichen Bewußtsein entwickeln können, ein Gefühl, das eben nicht anders bezeichnet werden kann als dadurch,

126

daß wir in unserer Unterseele immer wissen, wir haben dankbar zu sein für jede Lebenserfahrung, auch für die kleinste, die an uns herantritt. Daß schwere Lebenserfahrungen an uns herantreten, mag uns gewiß für den Augenblick schmerzlich stimmen; aber für einen größeren Überblick des Daseins nehmen sich auch schmerzliche Lebenserfahrungen so aus, daß man zwar nicht in der Oberseele, aber doch in der Unterseele dankbar dafür sein kann, dankbar dafür, daß vom Universum unser Leben mit fortwährenden Gaben versehen wird. Das ist etwas, was einmal als ein wirklich unterbewußtes Gefühl in der Menschenseele vorhanden ist. Das andere ist, daß wir unser eigenes Ich verbinden mit jedem Wesen, mit dem wir irgendwie im Leben handelnd etwas zu tun gehabt haben. Unsere Handlungen erstrecken sich auf diese oder jene Wesen des Lebens, es können auch sogar unbelebte sein. Aber wo wir etwas getan haben, wo sich unsere Wesenheit mit einer andern Wesenheit handelnd verbunden hat, da bleibt etwas zurück, und dieses Zurückbleibende begründet eine dauernde Verwandtschaft unserer Wesenheit mit alledem, womit wir uns eben jemals verbunden haben. Ich sagte: Dieses Gefühl der Verwandtschaft ist die Grundlage für ein tieferes, der Oberseele gewöhnlich unbekannt bleibendes Gefühl einer Gemeinsamkeit mit der umgebenden Welt, ein Gemeinsamkeitsgefühl.

Der Mensch kann diese beiden Gefühle der Dankbarkeit und der Gemeinsamkeit mit der Umgebung, mit der er irgendwie karmisch verbunden war, wieder auch immer mehr und mehr bewußt ausleben. Er kann gewissermaßen das, was in diesen Gefühlen und Empfindungen lebt, heraufheben in die Seele; und in dem Maße, als er gerade diese beiden Empfindungen heraufhebt in die Seele, macht er sich geeignet, die Brücke zu schlagen zu den Seelen, die ihr Leben zwischen Tod und neuer Geburt verbringen. Denn die Gedanken dieser Seelen können zu uns nur den Weg finden, wenn sie durch den Bereich des von uns entwickelten Dankbarkeitsgefühles wirklich durchdringen können; und wir können einzig und allein dadurch den Weg zu ihnen finden, daß unsere Seele wenigstens einigermaßen sich gewöhnt hat, wirkliche Gemeinschaft zu pflegen. Daß wir imstande sind, dem Universum gegenüber Dankbarkeit zu empfinden, läßt auch

127

zuweilen eine solche Dankbarkeitsstimmung in unsere Seele fallen, wenn wir mit den Toten in irgendeine Verbindung treten wollen, daß wir geübt haben eine solche Dankbarkeitsstimmung, daß wir in der Lage sind, sie fühlen zu können, das bahnt den Gedanken des Toten den Weg zu uns. Und daß wir empfinden können: Es lebt unser Wesen in einer organischen Gemeinschaft, von der es ein Teil ist, wie unser Finger von unserem Körper, das macht uns reif dazu, auch gegenüber den Toten, wenn sie nicht mehr im physischen Leibe anwesend sind, eine solche Dankbarkeit zu empfinden, damit wir mit unseren Gedanken zu ihnen herüberkommen. Wenn man sich auf einem Gebiete so etwas angeeignet hat wie Dankbarkeitsstimmung, die Gemeinsamkeitsempfindung, dann hat man erst die Möglichkeit, sie im gegebenen Falle auch anzuwenden.

Nun sind diese Empfindungen nicht die einzigen, sondern solcher unterbewußter Empfindungen und unterbewußter Seelenstimmungen sind noch mannigfaltige vorhanden. Alles was wir in unseren Seelen ausbilden, bahnt mehr den Weg in die Welt, wo die Toten zwischen Tod und neuer Geburt sind. So stellt sich eine ganz bestimmte Empfindung, die unterbewußt immer vorhanden ist, aber ins Bewußtsein allmählich heraufgebracht werden kann, der Dankbarkeit an die Seite, eine Empfindung, die dem Menschen um so mehr abhanden kommt, je mehr er ins Materialistische umschlägt. Aber im Unterbewußten ist sie bis zu einem gewissen Grade immer vorhanden und ist eigentlich selbst durch den stärksten Materialismus nicht auszurotten. Aber eine Bereicherung, eine Erhöhung, eine Veredelung des Lebens hängt davon ab, daß man solche Dinge auch heraufholt aus dem Unterbewußten ins Bewußte. Die Empfindung, die ich meine, ist das, was man bezeichnen könnte mit dem allgemeinen Vertrauen in das durch uns hindurchflutende und an uns vorbeiflutende Leben, Vertrauen zum Leben! Innerhalb einer materialistischen Lebensauffassung ist die Stimmung des Vertrauens zum Leben außerordentlich schwer zu finden. Sie ist sogar ähnlich der Dankbarkeit gegenüber dem Leben, aber doch wieder eine andere Empfindung, die sich dieser Dankbarkeit an die Seite stellt. Denn Vertrauen zum Leben besteht darin, daß eine unerschütterliche Stimmung in der Seele vorhanden ist, daß das

128

Leben, wie es auch an uns herantreten mag, unter allen Umständen uns etwas zu geben hat, daß wir niemals auch nur auf den Gedanken verfallen können, daß das Leben uns durch dieses oder jenes, was es uns entgegenbringt, nichts zu geben hätte. Gewiß, wir machen schwere Lebenserfahrungen, leidvolle Lebenserfahrungen durch, aber in einem größeren Lebenszusammenhange stellen sich gerade leidvolle und schwere Lebenserfahrungen als die heraus, die uns am meisten das Leben bereichern, uns am meisten für das Leben stärken. Es handelt sich darum, diese fortdauernde Stimmung, die in der Unterseele wieder vorhanden ist, ein wenig in die Oberseele heraufzuheben, diese Stimmung: Du, Leben, du hebst und trägst mich, du sorgst dafür, daß ich vorwärtskomme.

Wenn im Erziehungssystem für die Pflege einer solchen Stimmung etwas getan würde, so wäre außerordentlich viel gewonnen. Erziehung und Unterricht daraufhin anzulegen, geradezu an einzelnen Beispielen zu zeigen, wie das Leben gerade dadurch, daß es oftmals schwer zu durchdringen ist, Vertrauen verdiente, es würde ganz besonders viel bedeuten, wenn diese Stimmung in das Erziehungs- und Unterrichtssystem überginge. Denn indem man geradezu das Leben unter einem solchen Gesichtspunkte betrachtet: Verdienst du Vertrauen, o Leben? - stellt sich heraus, daß man vieles findet, was man sonst nicht im Leben findet. Man betrachte eine solche Stimmung nur ja nicht oberflächlich. Es darf eine solche Sache nicht dazu führen, nun alles glänzend und gut im Leben zu finden. Im Gegenteil, es kann in den einzelnen Fällen gerade dieses Vertrauen-haben-zum-Leben zu einer scharfen Kritik von schlimmen, törichten Dingen führen. Und gerade wenn man kein Vertrauen hat zum Leben, führt das oftmals dazu, daß man vermeidet, Kritik zu üben an Schlechtem und Törichtem, weil man vorübergehen will an dem, wozu man kein Vertrauen hat. Es handelt sich ja nicht darum, daß man zu dem einzelnen Dinge Vertrauen habe, das gehört in ein anderes Gebiet. Man hat zu dem einen Ding Vertrauen, zu einem andern nicht, je nach dem sich die Dinge und Wesenheiten darbieten. Aber zu dem Gesamtleben, zu dem Gesamtzusammenhalt des Lebens Vertrauen haben, darum handelt es sich. Denn, kann man etwas von dem im Unterbewußtsein

129

immer vorhandenen Vertrauen zum Leben heraufholen, so bahnt es den Weg, um das Geistige, die weisheitsvolle Fügung und Führung im Leben auch wirklich zu beobachten. Wer sich, nicht theoretisch, sondern empfindend immer wieder und wieder sagt: So wie die Erscheinungen des Lebens aufeinanderfolgen, so bedeuten sie für mich etwas, indem sie mich in sich aufnehmen und etwas mit mir zu tun haben, wozu ich Vertrauen haben kann -, der bereitet sich gerade damit vor, um das, was geistig lebt und webt in den Dingen, wirklich auch nach und nach wahrzunehmen. Wer dieses Vertrauen nicht hat, der verschließt sich vor dem, was geistig in den Dingen lebt und webt.

Nun die Anwendung auf das Verhältnis der Lebenden zu den Toten. Indem man diese Stimmung des Vertrauens entwickelt, macht man es wiederum dem Toten möglich, mit seinen Gedanken den Weg zu uns zu finden; denn auf dieser Vertrauensstimmung können die Gedanken gewissermaßen von ihm zu uns segeln. Wenn wir im allgemeinen Vertrauen zum Leben, Glauben an das Leben haben, werden wir die Seele in eine solche Verfassung bringen können, daß in ihr jene Eingebungen erscheinen können, welche die von den Toten gesandten Gedanken sind. Dankbarkeit gegenüber dem Leben, Vertrauen zum Leben in der geschilderten Form gehören in einer gewissen Weise zusammen. Wir können, wenn wir nicht dieses allgemeine Weltvertrauen haben, zu einem Menschen nicht ein solch starkes Vertrauen gewinnen, das über den Tod hinausreicht, sonst ist es Erinnerung an das Vertrauen. Sie müssen sich schon vorstellen, daß die Gefühle, wenn sie den nicht mehr im physischen Leibe verkörperten Toten treffen sollen, in einer andern Weise abgewandelt sein müssen als die Empfindungen, die Gefühle, die zu dem Menschen gehen, der im physischen Leibe da ist. Gewiß, wir können zu einem Menschen im physischen Leibe Vertrauen haben, dieses Vertrauen wird auch etwas für den Zustand nach dem Tode nützen. Aber es ist notwendig, daß dieses Vertrauen durch das universelle, durch das allgemeine Vertrauen verstärkt werde, weil ja der Tote nach dem Tode in andern Verhältnissen lebt, weil wir nicht bloß nötig haben, uns an das Vertrauen zu erinnern, das wir schon im Leben zu ihm gehabt haben, sondern weil wir auch nötig haben, immer neubelebtes Vertrauen

130

an eine Wesenheit, die nicht mehr durch ihre physische Anwesenheit Vertrauen erweckt, hervorzurufen. Dazu ist notwendig, daß wir gewissermaßen etwas in die Welt hinaus strahlen, was nichts zu tun hat mit den physischen Dingen. Und mit physischen Dingen nichts zu tun, hat das geschilderte universelle Vertrauen zum Leben.

Ebenso wie sich das Vertrauen neben die Dankbarkeit hinstellt, so stellt sich auch neben das Gemeinschaftsgefühl etwas hin, was immer in der Unterseele vorhanden ist, aber auch wieder in die Oberseele heraufgeholt werden kann. Das ist wieder etwas, was man auch mehr berücksichtigen sollte, als man es tut. Und das kann man, wenn dieses Element, von dem ich jetzt sprechen will, in unserer materialistischen Zeit im Unterrichts- und Erziehungssystem berücksichtigt würde. Davon hängt ungemein viel ab. Soll der Mensch im gegenwärtigen Zeitenzyklus in der richtigen Weise sich in die Welt hineinstellen, dann hat er notwendig, etwas auszubilden, ich könnte auch sagen, etwas aus der Unterseele heraufzuholen, was in den früheren Zeiten des atavistischen Hellsehens von selbst kam, was nicht gepflegt zu werden brauchte, wovon spärliche Reste noch vorhanden sind, die aber nach und nach verschwinden, wie alles aus den alten Zeiten Stammende verschwindet, was aber heute gepflegt werden muß, und zwar gepflegt werden muß aus der Erkenntnis der geistigen Welt heraus, nicht aus unbestimmten Instinkten. Was der Mensch in dieser Beziehung braucht, ist die Möglichkeit, seine Gefühle für das, was ihn im Leben trifft, immer wieder und wieder zu verjüngen, zu erfrischen an dem Leben selber. Wir können das Leben so verbringen, daß wir von einem gewissen Lebensalter an mehr oder weniger uns müde fühlen, weil wir die lebendige Teilnahme am Leben verlieren, weil wir nicht mehr genug für das Leben aufbringen können, damit uns seine Erscheinungen Freude machen. Man vergleiche nur miteinander, wenn man äußere Extreme verbindet: das Ergreifen und Entgegennehmen der Erlebnisse in früher Jugend und das müde Entgegennehmen der Lebenserscheinungen im späten Alter. Denken Sie, wie viele Enttäuschungen mit solchen Dingen zusammenhängen. Es ist ein Unterschied, ob der Mensch imstande ist, seine Seelenkraft gewissermaßen einer fortwährenden Auferstehung teilhaftig werden zulassen,

131

daß ihr jeder Morgen neu ist für das seelische Erleben, oder ob er gewissermaßen im Laufe des Lebens für die Erscheinungen ermüdet.

Dies zu berücksichtigen, ist in unserer Zeit außerordentlich wichtig, weil es bedeutsam ist, daß es auch auf das Erziehungssystem Einfluß gewinne. Wir gehen nämlich gerade mit Bezug auf solche Dinge einer bedeutungsvollen Wendung in der Menschheitsentwickelung entgegen. Die Beurteilung früherer Menschheitsepochen geschieht unter dem Einfluß unserer Geschichte, die ja eine Fable convenue ist, wirklich in außerordentlich schiefer Weise. Man weiß nicht, wie die letzten Jahrhunderte die Menschen dazu gebracht haben, immer mehr und mehr Erziehung und namentlich Unterricht so einzurichten, daß der Mensch in seinem späteren Leben nicht dasjenige von der Erziehung und dem Unterricht hat, was er eigentlich von ihnen haben sollte. Das Äußerste, was wir unter dem Einfluß der heutigen Verhältnisse im späteren Lebensalter für das aufbringen, was wir während der Jugend in der Erziehung aufgewendet haben, ist eine Erinnerung. Wir erinnern uns an das, was wir gelernt haben, was uns gesagt worden ist, und man ist in der Regel auch zufrieden, wenn man sich daran erinnert. Dabei aber berücksichtigt man ganz und gar nicht, daß das menschliche Leben zwar vielen Geheimnissen, aber mit Bezug auf diese Dinge einem bedeutsamen Geheimnisse unterliegt. In einer früheren Betrachtung habe ich hier von diesem Geheimnis schon von einem andern Gesichtspunkte aus eine Andeutung gemacht.

Der Mensch ist ein vielfältiges Wesen. Wir betrachten ihn zunächst, insofern er ein zwiespältiges Wesen ist. Die Zwiespältigkeit - sagte ich in einer früheren Betrachtung - drückt sich schon in der äußeren Leibesform aus. Diese zeigt uns den Menschen als Haupt und als den übrigen Menschen. Wir wollen zunächst den Menschen trennen in das Haupt und den übrigen Menschen. Würde man nur einmal diesen Unterschied im ganzen Bau des Menschen ins Auge fassen, so würde man schon naturwissenschaftlich ganz bedeutende Entdeckungen machen können. Wenn man nämlich den Bau des Hauptes rein physiologisch, anatomisch betrachtet, so stellt sich gerade das Haupt als das heraus, worauf sich die mehr materialistisch gedachte Abstammungslehre,

132

was man heute Darwinische Theorie nennt, anwenden läßt. In bezug auf seinen Kopf ist der Mensch gewissermaßen in diese Entwickelungsströmung hineingestellt, aber nur in bezug auf seinen Kopf, nicht in bezug auf seinen übrigen Organismus. Sie müssen sich, um diese Abstammung des Menschen zu begreifen, die Sache so vorstellen, daß Sie sich, ganz abgesehen vom Größenverhältnis, das menschliche Haupt vorstellen und das andere darangewachsen. Denken Sie sich einmal, die Entwickelung ginge so vor sich, daß der Mensch sich in die Zukunft entwickelte und irgendwelche Organe noch besondere Anhangorgane bekämen. Die Entwickelung, die Umgestaltung könnte ja weitergehen. So war es aber in der Vergangenheit: Der Mensch war vor Zeiten bloß eigentlich als Haupteswesen vorhanden, und dieses Haupt hat sich immer weiter- und weitergebildet, und ist zu dem geworden, was es heute ist. Und was an dem Haupte dranhängt, wenn dies auch physisch größer ist, ist erst später dazugewachsen. Das ist eine jüngere Bildung. In bezug auf sein Haupt stammt der Mensch ab von den ältesten Organismen, und das andere außer dem Haupt ist erst später dazugewachsen. Dadurch kommt es auch, daß das Haupt beim heutigen Menschen immer so wichtig ist, daß es an die vorherige Inkarnation erinnert. Der übrige Organismus - darauf habe ich auch schon aufmerksam gemacht - ist dagegen die Vorbedingung für die spätere Inkarnation. Der Mensch ist in dieser Beziehung ein ganz zwiespältiges Wesen. Das Haupt ist ganz anders veranlagt als der übrige Organismus. Das Haupt ist ein verknöchertes Organ. Es ist so, daß der Mensch, wenn er den übrigen Organismus nicht hätte, zwar sehr vergeistigt, aber ein vergeistigtes Tier wäre. Das Haupt kann niemals, wenn es nicht dazu inspiriert wird, sich als Mensch fühlen. Es weist zurück auf die alte Saturn-, Sonnen- und Mondenzeit. Der übrige Organismus weist nur bis in die Mondenzeit, und zwar in die spätere Mondenzeit zurück; er ist an den Hauptesteil darangewachsen und ist in dieser Beziehung wirklich etwas wie ein Parasit des Hauptes. Sie können es sich gut vorstellen: Das Haupt war einmal der ganze Mensch, es hatte nach unten hin Ausfluß- und Auslauforgane, durch die es sich ernährte. Es war ein ganz eigentümliches Wesen. Aber indem es sich weiterentwickelte,

133

indem sich die Öffnungen nach unten so entwickelten, daß sie sich nicht mehr in die Umgebung hinein öffneten und dadurch nicht mehr für die Ernährung dienen konnten und das Haupt mit den von der Umgebung einstrahlenden Einflüssen in Verbindung bringen konnten, und so das Haupt nach oben zu auch verknöcherte, war der übrige Ansatz nötig geworden. Dieser übrige Organismus ist erst damit nötig geworden. Dieser Teil der physischen Organisation ist erst zu einer Zeit entstanden, als für die übrige Tierheit keine Möglichkeit mehr war, zu entstehen. Sie werden sagen: So etwas, wie ich es jetzt dargestellt habe, ist schwer zu denken. Darauf kann ich aber immer wieder nur entgegnen: Man muß sich eben Mühe geben, so etwas zu denken; denn die Welt ist nicht so einfach, wie es die Leute gerne haben möchten, damit sie nicht viel über die Welt denken brauchen, um sie zu begreifen. In dieser Beziehung erlebt man das Mannigfaltigste, was die Leute für Ansprüche stellen, damit die Welt ja möglichst leicht zu begreifen sei. Darin haben die Menschen ganz merkwürdige Ansichten. Es gibt eine reiche Kant-Literatur von allen den Leuten, die Kant nach allen Richtungen für einen ungeheuren Philosophen halten. Das rührt aber nur davon her, daß die Leute keine andern Philosophen verstehen und schon so viel Gedankenkraft aufwenden müssen, um Kant zu verstehen. Und da er doch immer ein großer Philosoph ist - sich selber hält man ja oft für das Allergenialste -, so begreifen sie die andern erst recht nicht. Und nur weil sie Kant schon so schwer begreifen, ist er für sie ein großer Philosoph. Damit hängt es auch zusammen, daß man sich scheut, die Welt als kompliziert gelten zu lassen, und Kraft aufwenden muß, um sie zu verstehen. Wir haben von diesen Dingen schon von den verschiedensten Gesichtspunkten aus gesprochen. Und wenn einmal meine Vorträge über «Okkulte Physiologie» erscheinen werden, wird man auch im einzelnen lesen können, wie man auch embryologisch nachweisen kann, daß es ein Unsinn ist zu sagen: Das Gehirn ist aus dem Rückenmark entwickelt. Umgekehrt ist es der Fall: Das Gehirn ist ein umgewandeltes Rückenmark von einstmals, und das heutige Rückenmark hat sich an das heutige Gehirn als ein Anhängsel erst angegliedert. Man muß nur begreifen lernen, daß das, was beim Menschen

134

das Einfachere ist, später entstanden ist als das, was als das Kompliziertere erscheint; was primitiver ist, steht auf einer untergeordneteren Stufe, ist später entstanden.

Ich habe diese Einfügung von der Zwiespältigkeit des Menschen nur deshalb gemacht, damit Sie das andere begreifen, was die Folge ist dieser Zwiespältigkeit. Und die Folge ist, daß wir mit unserem seelischen Leben, das sich ja unter den Bedingungen der Leiblichkeit entwickelt, auch in dieser Zwiespältigkeit drinnenstehen. Wir haben nicht nur organisch die Kopfentwickelung und die Entwickelung des übrigen Organismus, sondern wir haben auch zwei verschiedene Tempi, zwei verschiedene Geschwindigkeiten in unserer seelischen Entwickelung. Unsere Kopfentwickelung geht nämlich verhältnismäßig schnell, und die Entwickelung, die den übrigen Organismus zur Ausbildung bringt - ich will sie die Herzensentwickelung nennen -, geht verhältnismäßig langsamer, geht etwa drei- bis viermal langsamer. Was den Kopf zur Bedingung hat, ist mit seiner Entwickelung in der Regel mit den Zwanzigerjahren des Menschen schon abgeschlossen; mit Bezug auf den Kopf sind wir alle mit zwanzig Jahren schon Greise. Und nur weil fortwährend die Erfrischung von dem übrigen Organismus kommt, der sich aber drei- bis viermal langsamer entwickelt, leben wir in einer annehmbaren Weise weiter. Unsere Kopfentwickelung geht schnell; unsere Herzensentwickelung, die aber die Entwickelung des übrigen Organismus ist, geht drei- bis viermal langsamer. Und in diesem Zwiespalt stehen wir mit unserem Erleben drinnen. Unsere Kopfentwickelung kann gerade in unserer Kindheit und Jugendzeit eine ganze Menge aufnehmen. Daher lernen wir in der Kindheit und Jugendzeit. Was aber da aufgenommen wird, muß fortwährend erneuert, erfrischt werden, muß fortwährend eingefaßt werden von dem langsameren Gang der übrigen Organentwickelung, von der Herzensentwickelung.

Nun denken Sie sich, wenn die Erziehung so ist wie jetzt in unserem Zeitalter, wo Erziehung und Unterricht nur auf die Kopfausbildung Rücksicht nehmen, so ist, weil wir in Unterricht und Erziehung gewissermaßen nur den Kopf zu seinem Rechte kommen lassen, die Folge davon die, daß der Kopf wie ein toter Organismus in den langsameren

135

Gang der übrigen Entwickelung sich eingliedert, daß er diese zurückhält, und daß die Menschen seelisch früh alt werden. Diese Erscheinung, daß die Menschen im heutigen Zeitalter innerlich seelisch früh alt werden, hängt im wesentlichen mit dem Erziehungs- und Unterrichtssystem zusammen. Natürlich dürfen Sie nicht denken, daß man jetzt die Frage stellen kann: Wie soll man den Unterricht einrichten, damit er nicht so ist? - Das ist eine sehr bedeutsame Sache, die man nicht mit zwei Worten beantworten kann. Denn fast alles vom Unterricht muß anders eingerichtet werden, damit er nicht nur etwas ist für das Gedächtnis, woran man sich erinnert, sondern etwas, durch das man sich erfrischt, sich erneuert. Man frage sich, wie viele Menschen heute, wenn sie zu einer Kindheitsverrichtung zurückblicken, auf alles, was sie da erlebt haben, was ihnen die Lehrer und die Tanten gesagt haben, so zurückzudenken vermögen, daß sie nicht nur sich erinnern: Das sollst du so und so machen -, sondern daß sie immer wieder von neuem hinuntertauchen in das, was sie in der Jugend durchgemacht haben, liebevoll hinblicken zu jedem Handgriff, zu jeder einzelnen Bemerkung, zu dem Stimmklang, zu der Gefühlsdurchdringung dessen, was ihnen in der Kindheit dargeboten wurde, und es so empfinden, daß es stets ein immer uns erneuernder Verjüngungsquell ist. Das hängt zusammen mit den Tempi, welche wir in uns erleben: daß der Mensch seiner schnelleren Kopfentwickelung folgen muß, die in den Zwanzigerjahren abgeschlossen ist, und dem langsameren Gange der Herzensentwickelung, der Entwickelung des übrigen Menschen, der für das ganze Leben gespeist werden soll. Wir dürfen dem Kopf nicht nur das geben, was nur für den Kopf bestimmt ist, sondern wir müssen ihm auch das geben, woraus der übrige Organismus immer wieder und wieder durch das ganze Leben erfrischende Kräfte ziehen kann. Dazu ist zum Beispiel notwendig, daß alle einzelnen Zweige des Unterrichtes von einem gewissen künstlerischen Element durchzogen sein müssen. Heute, wo man das künstlerische Element flieht, weil man glaubt, daß durch eine gewisse Pflege des Phantasielebens - und die Phantasie ist ja etwas, was den Menschen über die bloße alltägliche Wirklichkeit hinüberbringt - die Phantastik in den Unterricht hineingebracht werden könnte, ist ganz

136

und gar keine Neigung vorhanden, ein solches Geheimnis des Lebens zu berücksichtigen. Man braucht nur auf einzelnen Gebieten etwas zu sehen von dem, was ich jetzt meine - es ist ja natürlich da oder dort noch vorhanden -, dann wird man sehen, daß so etwas schon geleistet werden kann, aber es kann besonders dadurch geleistet werden, daß die Menschen namentlich wieder Menschen werden. Dazu ist Mannigfaltiges notwendig. Auf eines möchte ich in dieser Beziehung aufmerksam machen. Man prüft heute diejenigen, die Lehrer werden wollen, darauf hin, ob sie dieses und jenes kennen. Was aber stellt man dadurch fest? In der Regel doch nur das, daß der Betreffende einmal in der Zeit, für die er gerade die Prüfung abzulegen hat, in seinem Kopf etwas hineingehamstert hat, was er, wenn er einigermaßen geschickt ist, für jede einzelne Unterrichtsstunde sich aus so und so vielen Büchern zusammenlesen könnte, was man sich Tag für Tag für den Unterricht aneignen könnte, was gar nicht notwendig ist, sich in dieser Weise anzueignen, wie es gegenwärtig betrieben wird. Was aber vor allen Dingen bei einem solchen Examen notwendig wäre, das ist, daß man erfahren sollte, ob der Betreffende Herz und Sinn hat, ob er das Blut dafür hat, allmählich ein Verhältnis von sich zu den Kindern zu begründen. Nicht das Wissen sollte man durch das Examen prüfen, sondern erkennen sollte man, wie stark und wie viel der Betreffende Mensch ist. - Ich weiß: Solche Forderungen an die heutige Zeit stellen, heißt für die Gegenwart nur zweierlei. Entweder sagt man: Wer so etwas fordert, ist ja ganz verrückt, ein solcher Mensch lebt nicht in der wirklichen Welt! - Oder, wenn man eine solche Antwort nicht geben will, sagt man: So etwas geschieht ja immerfort, das wollen wir doch alle. - Die Menschen glauben nämlich, daß durch das, was geschieht, schon die Dinge erfüllt werden, weil sie nur das von den Dingen verstehen, was sie selbst hineinbringen.

Ich habe dieses ausgeführt, selbstverständlich um erstens von einer gewissen Seite her ein Licht auf das Leben zu werfen, dann aber auch, um gerade dies, was die Unterseele des Menschen immer fühlt, was so schwer gerade in der heutigen Zeit in die Oberseele heraufzubringen ist, wonach aber die Seele des Menschen verlangt und in der Zukunft

137

immer mehr und mehr verlangen wird, um dies ins rechte Licht zu stellen, daß wir etwas in der Seele brauchen von der Macht, die Kräfte dieser Seele immerfort so zu erneuern, daß wir nicht mit dem fortschreitenden Leben müde werden, sondern immer hoffnungsvoll dastehen und sagen: Jeder neue Tag wird uns ebenso sein wie der erste, den wir bewußt erlebt haben. - Dazu müssen wir aber in einer gewissen Weise nicht alt zu werden brauchen; das ist dringend notwendig, daß wir nicht alt zu werden brauchen. Wenn man heute sieht, wie verhältnismäßig junge Menschen, Männer und Frauen, eigentlich seelisch schon so furchtbar alt sind, so sehr wenig darauf aus sind, jeden Tag aufs neue das Leben als etwas zu empfinden, was ihnen gegeben wird wie dem frischen Kinde, dann weiß man, was auf diesem Gebiete durch eine geistige Zeitkultur eben geleistet werden muß, gegeben werden muß. Und letzten Endes ist es eben doch so, daß das Gefühl, welches ich hier meine, dies Gefühl der nie, nie, nie schwächer werdenden Lebenshoffnung doch geeignet macht, das rechte Verhältnis zwischen den Lebenden und den sogenannten Toten zu empfinden. Sonst bleibt die Sache, die das Verhältnis zu einem Toten begründen soll, zu stark in der Erinnerung stecken. Man kann sich erinnern, was man mit dem Toten während des Lebens erlebt hat. Wenn man aber nicht die Möglichkeit hat, nachdem der Tote physisch fort ist, ein solches Gefühl zu haben, daß man immer neu erlebt, was man während des Lebens mit ihm durchgemacht hat, so kann man nicht so stark fühlen, nicht so stark empfinden, wie es notwendig ist unter diesem neuen Verhältnis zu empfinden: Der Tote ist ja nur noch als Geistwesen da und soll als Geist wirken. - Hat man sich so abgestumpft, daß man nichts mehr erfrischen kann an Lebenshoffnungen, so kann man nicht mehr fühlen, daß eine vollständige Umwandlung stattgefunden hat. Vorher konnte man sich dadurch helfen, daß einem der Mensch im Leben entgegentrat; jetzt aber steht einem nur der Geist zu Hilfe. Man kommt ihm aber entgegen, wenn man dieses Gefühl entwickelt der immerwährenden Erneuerung der Lebenskräfte, um die Lebenshoffnungen frisch zu erhalten.

Ich möchte hier eine Bemerkung machen, die Ihnen vielleicht sonderbar erscheint. Ein gesundes Leben, das besonders nach den Richtungen

138

hin gesund ist, die jetzt hier entwickelt wurden, führt, wenn es nicht zu einer Bewußtseinstrübung kommt, niemals dazu, das Leben als etwas zu betrachten, dessen man überdrüssig ist; sondern das ganz gesund verbrachte Leben führt dazu, wenn man älter geworden ist, jeden Tag dieses Leben immer von neuem, von frischem anfangen zu wollen. Nicht das ist das Gesunde, daß man, wenn man alt geworden ist, denkt: Gott sei Dank, daß man das Leben hinter sich hat! -, sondern daß man sich sagen kann: Ich möchte gleich wieder, wo ich jetzt vierzig oder fünfzig Jahre alt bin, zurückgehen und die Sache noch einmal durchmachen! - Und das ist das Gesunde, daß man sich durch Weisheit darüber trösten lernt, daß man es nicht in diesem Leben ausführen kann, sondern in einer korrigierten Weise in einem andern Leben. Das ist das Gesunde: gar nichts vermissen zu wollen von alledem, was man durchgemacht hat, und, wenn Weisheit dazu nötig ist, es nicht in diesem Leben haben zu wollen, sondern auf ein folgendes warten zu können. Das ist das Vertrauen, das auf richtiges Vertrauen zum Leben und auf die rege erhaltenen Lebenshoffnungen gebaut ist.

So haben wir die Gefühle, die das Leben in der richtigen Weise durchseelen und die zugleich die Brücke schaffen zwischen den Lebenden hier und den Lebenden dort: Dankbarkeit gegenüber dem Leben, das an uns herantritt, Vertrauen zu den Erfahrungen dieses Lebens, intimes Gemeinsamkeitsgefühl, die Fähigkeit, die Lebenshoffnungen durch immer neu erstehende frische Lebenskräfte rege zu machen. Dies sind innere, ethische Impulse, die, in der richtigen Weise erfühlt, auch die allerbeste äußere soziale Ethik abgeben können, weil das Ethische, gerade wie das Historische, nur erfaßt werden kann, wenn es im Unterbewußten erfaßt wird, wie ich es selbst im öffentlichen Vortrage gezeigt habe.

Ein anderes, das ich noch hervorheben möchte für das Verhältnis der Lebenden zu den Toten, ist eine Frage, die immer wieder und wieder auftreten kann, die Frage: Worin besteht eigentlich der Unterschied in dem Verhältnis zwischen Mensch und Mensch, insofern Mensch und Mensch im physischen Leibe verkörpert sind, und zwischen Mensch und Mensch, insofern der eine im physischen Leibe,

139

der andere nicht, oder beide nicht im physischen Leibe verkörpert sind? - Im Hinblick auf einen Gesichtspunkt möchte ich da etwas Besonderes angeben.

Wenn wir geisteswissenschaftlich den Menschen betrachten in bezug auf sein Ich und in bezug auf sein eigentliches Seelenleben, das man auch den astralischen Leib nennen kann - in bezug auf das Ich habe ich oft gesagt, daß es das jüngste, das Baby unter den Gliedern der Menschenorganisation ist, während der astralische Leib etwas älter ist, aber nur seit der alten Mondenentwickelung -, so muß man in bezug auf diese beiden höchsten Glieder der menschlichen Wesenheit sagen: Sie sind noch nicht so weit entwickelt, daß der Mensch die Macht hätte, wenn er sich nur auf sie stützte, sich selbständig zu erhalten gegenüber den andern Menschen. Wenn wir hier beieinander wären jeder nur als Ich und Astralleib, nicht auch in unseren Ätherleibern und physischen Leibern lebend, so wären wir alle wie in einer Art Urbrei beieinander. Es würden unsere Wesen durcheinander verschwimmen; wir wären nicht voneinander getrennt, wir wüßten auch nicht uns voneinander zu unterscheiden. Es könnte gar keine Rede davon sein, daß jemand wüßte - die Sachen lägen ja dann ganz anders, und man kann die Verhältnisse nicht so ohne weiteres miteinander vergleichen -, was seine Hand oder sein Bein wäre, oder was die Hand und das Bein des andern wäre. Aber nicht einmal seine Gefühle könnte man ordentlich als die seinigen erkennen. Daß wir als Menschen uns getrennt empfinden, rührt davon her, daß ein jeder aus der gesamten flüssigen Masse, die wir uns für einen bestimmten früheren Zeitraum vorzustellen haben, in Tropfenform herausgerissen ist. Damit aber die einzelnen Seelen nicht wieder zusammenrinnen, müssen wir uns denken, daß jeder Seelentropfen wie in ein Stück Schwamm hineingegangen ist, und dadurch werden sie auseinandergehalten. Dergleichen ist wirklich geschehen. Nur dadurch, daß wir als Menschen in physischen Leibern und Ätherleibern stecken, sind wir voneinander gesondert, richtig gesondert. Im Schlafe sind wir nur dadurch voneinander gesondert, daß wir dann die starke Begierde nach unserem physischen Leib haben. Diese Begierde, die ganz und gar nach unserem physischen Leib brünstig hinschlägt, trennt uns im

140

Schlafe, sonst würden wir in der Nacht ganz durcheinanderschwimmen, und es würde wahrscheinlich empfindsamen Gemütern sehr wider den Strich gehen, wenn sie wüßten, wie stark sie schon in Zusammenhang kommen mit dem Wesen der Wesenheiten ihrer Umgebung. Aber das ist nicht besonders arg im Vergleich zu dem, was sein würde, wenn dieses brünstige Begierdenverhältnis zum physischen Leib nicht bestünde, solange der Mensch leiblich verkörpert ist.

Nun können wir die Frage aufwerfen: Was sondert unsere Seelen voneinander in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt? So wie wir mit unserem Ich und unserem astralischen Leib zwischen Geburt und Tod einem physischen Leibe und Ätherleibe angehören, so gehören wir nach dem Tode, also zwischen Tod und neuer Geburt, mit unserem Ich und astralischen Leib einem ganz bestimmten Sternengebiete an, keiner demselben, jeder einem ganz bestimmten Sternengebiete. Aus diesem Instinkt heraus spricht man von dem «Stern des Menschen». Sie werden begreifen: Das Sternengebiet - wenn Sie zunächst seine physische Projektion nehmen - ist peripherisch kugelig, und das können Sie in der mannigfaltigsten Weise verteilen. Die Gebiete überdecken sich, jeder aber gehört einem andern an. Man kann auch sagen, wenn man es seelisch ausdrücken will: Jeder gehört einer andern Reihe von Archangeloi und Angeloi an. So wie sich die Menschen hier durch ihre Seelen zusammenfinden, so gehört zwischen Tod und neuer Geburt jeder einem besonderen Sternengebiete, einer besonderen Reihe von Angeloi und Archangeloi an, und sie finden sich dann hier mit ihren Seelen zusammen. Nur ist es so, aber auch nur scheinbar - doch auf dieses Mysterium will ich jetzt nicht weiter eingehen -, daß auf der Erde jeder seinen eigenen physischen Leib hat. Ich sage: scheinbar -, und Sie werden sich verwundern; aber es ist völlig erforscht, wie auch jeder sein eigenes Sternengebilde hat, aber wie diese sich überdecken. Denken Sie sich eine bestimmte Gruppe von Angeloi und Archangeloi. Zu einer Seele gehören Tausende von Archangeloi und Angeloi im Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Denken Sie sich von diesen Tausenden nur einen weg, so kann dieser eine gewissermaßen ausgetauscht werden: dann ist dies das Gebiet der nächsten Seele. In dieser Zeichnung haben zwei Seelen mit Ausnahme

141
Zeichnung aus GA 181, S. 141
Zeichnung aus GA 181, S. 141

des einen Sternes, den sie aus einem andern Gebiete haben, das gleiche, aber absolut gleich haben nicht zwei Seelen ihr Sternengebiet. Dadurch sind die Menschen zwischen Tod und neuer Geburt individualisiert, daß jeder sein besonderes Sternengebiet hat. Daraus kann man ersehen, worauf zwischen Tod und neuer Geburt die Trennung von Seele zu Seele beruht. Hier in der physischen Welt wirkt die Trennung so, wie wir sie kennen durch den physischen Leib: Der Mensch hat gewissermaßen seinen physischen Leib als Hülle, er betrachtet von ihm aus die Welt, und alles muß an diesen physischen Leib herankommen. Alles was in die Seele des Menschen zwischen Tod und neuer Geburt kommt, steht in bezug auf das Verhältnis zwischen seinem astralischen Leib und seinem Ich in einer ähnlichen Weise in Zusammenhang mit einem Sternengebiet, wie hier die Seele und das Ich mit dem physischen Leib in Verbindung stehen. Die Frage also: Wodurch tritt die Sonderung ein? - beantwortet sich auf die Weise, wie ich es eben angegeben habe.

Nun haben Sie aus diesen Betrachtungen heute ersehen, wie wir auf unsere Seele in der Ausbildung gewisser Gefühle und Empfindungen wirken können, damit die Verbindungsbrücke geschlagen wird zwischen den sogenannten Toten und den Lebenden. Auch das letzte, was ich gesagt habe, ist geeignet, um in uns Gedanken, ich darf sagen, empfindende Gedanken oder gedankliche Empfindungen heranzuziehen, die sich wiederum an der Schöpfung dieser Brücke beteiligen können. Das geschieht dadurch, daß wir versuchen, mit

142

Bezug auf einen bestimmten Toten immer mehr und mehr jene Empfindungsart auszubilden, die, wenn man etwas erlebt, in der Seele heraufkommen läßt den Impuls sich zu fragen: Wie würde der Tote dieses jetzt, was du in diesem Augenblicke erlebst, miterleben? Dazu die Imagination schaffen, als ob der Tote neben uns das Erlebnis mitmacht; und das recht lebendig machen, dann ahmt man in einer gewissen Beziehung die Art und Weise nach, wie entweder der Tote mit dem Lebenden oder der Tote mit Toten verkehrt, indem Sie das, was Ihnen verschiedene Sternengebiete geben, auf das Verhältnis Ihrer Seele beziehen oder aufeinander beziehen. Man ahmt schon hier das nach, was von Seele zu Seele spielt durch die Zugeteiltheit zu den Sternengebieten. Wenn man sich gewissermaßen konzentriert durch die Anwesenheit des Toten auf ein unmittelbar gegenwärtiges Interesse, wenn man auf diese Weise den Toten unmittelbar lebendig neben sich empfindet, dann wird aus solchen Dingen, die ich heute erörtert habe, auch immer mehr und mehr das Bewußtsein erwachsen, daß der Tote wirklich an uns herankommt. Die Seele wird sich auch ein Bewußtsein davon entwickeln. In dieser Beziehung muß man eben auch Vertrauen haben zum Dasein, daß die Dinge werden. Denn, wenn man nicht Vertrauen, sondern Ungeduld zum Leben hat, dann gilt die andere Wahrheit: Was das Vertrauen bringt, vertreibt die Ungeduld; was man durch das Vertrauen erkennen würde, verfinstert sich durch die Ungeduld. Nichts ist schlimmer, als wenn man sich durch die Ungeduld einen Nebel vor die Seele zaubert.

143

ANTHROPOSOPHISCHE LEBENSGABEN

144


145

ACHTER VORTRAG Berlin, 30. März 1918

Wer im rechten Sinne das aufgenommen hat, was in den letzten Vor­trägen vorgebracht worden ist über die Art, wie die Menschenseele sich gewissermaßen ihr Verhältnis zu den übersinnlichen Welten be­stimmen kann, wie sie von sich aus an diesem Verhältnis arbeiten kann, den braucht nicht zu schrecken, daß es auf der andern Seite auch einfach Wahrheit ist, daß der Mensch als solcher in einer gewissen Weise abhängig ist vom ganzen Weltenall, von der ganzen Umgebung. Zwischen diesen zwei Dingen pendelt, schwingt eigent­lich das menschliche Leben hin und her: zwischen der freien Her­stellung eines Verhältnisses zur übersinnlichen Welt und zwischen der Abhängigkeit von der Umgebung, vom ganzen Weltenall, und dies namentlich dadurch, daß der Mensch zwischen Geburt und Tod an einen bestimmten physischen Körper gebunden ist. Ein Stück von dieser Abhängigkeit vom Weltenall wollen wir in diesen Tagen in einem besonderen Zusammenhang besprechen, in einem Zusammenhange, welcher der Menschenseele in dieser gegenwärtigen Zeit nahe­liegen kann.

Aus manchem, was Sie aus der Geisteswissenschaft sich angeeignet haben, wird Ihnen vor allem klargeworden sein, daß unsere gesamte Erde, die wir als Gesamtmenschheit bewohnen, eine Art großen Lebe­wesens ist, daß wir selber wie die Glieder innerhalb des großen Lebe­wesens drinnenstehen; und in verschiedenen Vorträgen habe ich über die einzelnen Lebenserscheinungen dieses großen Lebewesens ge­sprochen, das unsere Erde ist. Das Leben der Erde drückt sich in der mannigfaltigsten Weise aus. Unter anderem drückt es sich aber auch dadurch aus, daß gewisse Beziehungen bestehen zwischen den einzel­nen Gebieten der Erde und dem Menschen, der auf der Erde wohnt. So wahr es ist das ist ja eine sehr oberflächliche Wahrheit , daß auf der einen Seite das Menschengeschlecht eine Einheit ist, so wahr ist es aber auch, daß die einzelnen Teile des Menschengeschlechtes, die über die verschiedenen Gebiete der Erde verteilt sind, differenziert

146

sind nach diesen Gebieten, abhängig sind von ihnen, abhängig nicht nur nach den vielen Kräften, welche die äußere Naturwissenschaft und die Geographie erforschen, sondern auch abhängig von vielen geheimnisvolleren Kräften der einzelnen Gebiete der Erdoberfläche. Es bestehen schon gewisse, nicht ganz an der naturwissenschaftlichen Oberflächlichkeit liegende innere Beziehungen des Menschen zu dem Boden, den er bewohnt, zu dem Teil der Erde, dem er entsprossen ist. Das kann man am besten aus der Tatsache ersehen, daß sich solche Beziehungen im Laufe, wenn auch nicht kurzer, aber längerer geschichtlicher Perioden herstellen. Man könnte es schon an der Ver­änderung sehen, welche die europäischen Menschen durchmachen, die nach Amerika hinüberziehen und sich dort ansiedeln, wenn auch selbstverständlich die Zeit der Besiedelung Amerikas durch die Euro­päer noch so kurz ist, daß das, was hierbei in Betracht kommt, vor­läufig nur angedeutet ist, es ist aber stark und deutlich angedeutet. Die äußere Konfiguration des europäischen Menschen ändert sich - es ist, wie gesagt, bisher nur angedeutet -, wenn er Amerika bewohnt, nicht gleich, wohl aber in der Generationenfolge. In der Bildung der Arme und Hände zum Beispiel, aber auch sonst in der Gesichtsbildung werden die Europäer aber stellen Sie sich die Sache nicht schroff vor, sondern nur in Andeutungen den alten Indianern ähn­lich, nehmen allmählich die persönlichen Eigentümlichkeiten des alten Indianertums an.

Diese Dinge sind zunächst im Groben das, was uns hinweist auf gewisse Zusammenhänge zwischen dem großen Organismus der Erde und den einzelnen Gliedern dieses Organismus, eben den einzelnen Teilen der Erdbevölkerung. Wir wissen ja, daß der Mensch so, wie er auf der Erde lebt, in Zusammenhang steht mit übersinnlichen Wesen­heiten, mit den Wesenheiten der höheren Hierarchien. Von dem, was man Volksseele nennt, wissen wir, daß es nicht jenes wesenlose Abstraktum ist, von dem die materialistisch gesinnten Menschen heute sprechen, sondern wir wissen, daß die Volksseele eine Art Erz­engelwesen ist. Wir brauchen nur den in Kristiania gehaltenen Zyklus über die Völkerseelen durchzulesen und werden finden, wie eine Volks­seele ein konkretes, ein wirkliches Wesen ist, in das der Mensch

147

gewissermaßen mit seinem Leben eingebettet ist. Überhaupt steht der Mensch mit höheren und tieferen Wesenheiten der höheren Hier­archien durch sein Wesen in einer fortwährenden Verbindung. Diese Verbindung wollen wir von einem gewissen Gesichtspunkte aus man kann ja solche Dinge immer nur von bestimmten Gesichtspunk­ten aus besprechen heute und in diesen Tagen überhaupt einmal ins Auge fassen.

Um eine solche Betrachtung, wie die heutige ist, richtig ins Auge zu fassen, muß man sich klarmachen, daß es für den geisteswissen­schaftlichen Betrachter der Welt eigentlich das gar nicht gibt, was der materialistische Sinn Materie oder Stoff nennt; das löst sich vor einer wirklich eingehenden Betrachtungsweise auch in Geist auf. Ich habe oftmals einen Vergleich gebraucht, der klarmachen soll, wie es um diese Dinge bestellt ist. Nehmen Sie Wasser. Es kann gefrieren, dann ist es Eis und sieht ganz anders aus. Eis ist Eis, Wasser ist Wasser; aber Eis ist auch Wasser, nur in anderer Form. So ist es ungefähr mit dem, was man Materie nennt: es ist Geist in anderer Form, Geist, so in andere Form übergegangen, wie Wasser beim Eis. Daher haben wir, wenn wir geisteswissenschaftlich sprechen, Geistiges im Auge, auch wenn wir von materiellen Vorgängen sprechen. Überall ist der wirkende Geist. Daß der wirkende Geist auch in materiellen Vorgängen zum Ausdruck kommt, gehört eben zu einer besonderen Erscheinungsform des Geistes. Aber es ist überall wirksamer Geist. Also auch wenn wir mehr materielle Erscheinungen ins Auge fassen, sprechen wir eigentlich von den Wirkungsweisen des Geistes, wie sie sich auf einem gewissen Gebiete als äußere, mehr oder weniger mate­rielle Vorgänge zeigen.

Im Menschen finden fortwährend materielle Vorgänge statt, die eigentlich geistige Vorgänge sind. Der Mensch ißt. Dadurch nimmt er die Stoffe der äußeren Welt in seinen eigenen Organismus auf. Feste Stoffe, die verflüssigt werden, werden in den menschlichen Orga­nismus aufgenommen und machen dabei eine Umwandlung durch. Der menschliche Organismus besteht ja aus allen möglichen Stoffen, die er von außen aufnimmt; aber nicht nur, daß er diese Stoffe auf­nimmt, sondern indem er sie aufnimmt, machen sie auch einen­

148

gewissen Prozeß durch. Die Eigenwärme ist durch die aufgenommene Wärme und durch die Prozesse, welche die aufgenommenen Stoffe in unserem Organismus durchmachen, bedingt. Wir atmen. Mit dem Atmen nehmen wir den Sauerstoff auf; aber wir nehmen nicht nur Sauerstoff in uns auf, sondern indem wir in unserem Atmungs­prozesse zusammengeschaltet sind mit dem, was in der Außenwelt, im Luftraume vorgeht, stehen wir auch in dem Rhythmus der Außen­welt drinnen. Unser eigener Rhythmus steht im Rhythmus des ge­samten Weltenalls drinnen. Ich habe dieses Verhältnis sogar einmal zahlenmäßig vorgeführt. So stehen wir auch mit den rhythmischen Prozessen, die wir im eigenen Organismus durchmachen, mit der Umgebung in einem gewissen Verhältnis. Durch diese Prozesse, durch diese Vorgänge, die also dadurch ablaufen, daß die äußeren Naturvorgänge in uns hineinspielen und in uns weiterspielen, ge­schieht es, daß nun in der Tat diejenigen Wirkungen vermittelt wer­den, die zum Beispiel auch vom Volksgeist auf den einzelnen Men­schen ausgeübt werden. Wir atmen nicht bloß den Sauerstoff, sondern im Sauerstoffatmen lebt Geistiges, und es kann im Sauerstoffatmen der Volksgeist leben. Wir essen nicht bloß, die Stoffe werden in uns auch verarbeitet. Aber dieser stoffliche Vorgang ist zugleich ein geistiger, und es kann, indem wir die Stoffe aufnehmen und in uns verarbeiten, in diesem Vorgang der Volksgeist leben. Das Leben des Volksgeistes mit uns ist nicht irgend etwas bloß Abstraktes, sondern in dem, was wir alltäglich tun und was unser Organismus vollzieht, prägt sich das Leben des Volksgeistes aus. Die materiellen Vorgänge sind zu­gleich Ausdruck von geistigen Wirkungsweisen. Der Volksgeist muß diesen Umweg nehmen, indem er durch den Atem, durch die Nahrung und so weiter in uns einzieht.

Die einzelnen Volksgeister, die wir in dem Vortragszyklus über «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie» nach andern Gesichtspunkten differenziert vorgeführt haben, wirken mit Bezug auf das, was ich eben angedeutet habe, in verschiedener Art auf den Menschen, und dadurch charakterisieren sich die einzelnen Völkercharaktere auf der Erde. Die einzelnen Völkercharaktere sind abhängig von den Volksgeistern.

149

Aber wenn wir geisteswissenschaftlich verfolgen, auf wel­chen Umwegen die einzelnen Volksgeister wirken, so stellt sich zum Beispiel folgendes heraus.

Der Mensch atmet. Dadurch steht er in einem fortwährenden Zu­sammenhange mit der ihn umgebenden Luft. Er atmet sie ein, er atmet sie aus. Und wenn in einem besonderen Falle der Volksgeist durch die Konfiguration der Erde und durch Verhältnisse verschie­denster Art gerade den Umweg über die Atmung wählt und damit durch die Atmung die besondere Konfiguration, die Charakterisie­rung des betreffenden Volkes hervorruft, so kann man sagen: Der Volksgeist wirkt durch die Luft auf das betreffende Volk. Das ist in der Tat namentlich in besonders hervorragendem Maße der Fall bei denjenigen Völkerschaften, die jemals die italienische Halbinsel be­wohnt haben. Auf der italienischen Halbinsel ist die Luft der Ver­mittler für die Wirkungen des Volksgeistes auf den Menschen. Man kann sagen, die Luft Italiens ist dasjenige Mittel, dasjenige Medium, durch das der Volksgeist seine Wirkungen in den Menschen ausprägt, welche die italienische Halbinsel bewohnen, um ihnen die besondere Konfiguration zu geben, durch welche sie eben das italienische Volk sind, das alte römische Volk gewesen sind und so weiter. Man kann also gerade das, was scheinbar materielle Wirkungen sind, in seinen geistigen Untergründen erforschen, wenn man die geisteswissenschaftlichen Wege geht.

Nun kann man die Frage aufwerfen: Wie ist es mit andern Volksgeistern? Wenn man nach andern Gebieten der Erde Ausschau hält, welche Mittel wählen die Volksgeister, um dort die besondere Völkerkonfiguration zum Ausdruck zu bringen? Bei den Völkern, die das heutige Frankreich bewohnt haben oder es heute bewohnen, wirkt der Volksgeist auf dem Umwege durch das flüssige Element, durch alles, was nicht nur als Flüssigkeit in unseren Körper hineinkommt, sondern auch als Flüssigkeit in ihm wirkt. Also durch die Art dessen, was als Flüssigkeit den Organismus kontingiert und auf ihn wirkt, vibriert und webt der Volksgeist und bestimmt dadurch den betreffenden Volkscharakter. Das ist der Fall bei den Völkern, die das heutige Frankreich bewohnt haben oder es heute bewohnen.

150

Nun begreift man aber die Sache nicht vollständig, wenn man dieses Verhältnis des Menschen zu seiner Umgebung nur einseitig ins Auge faßt. Das gäbe doch nur eine sehr einseitige Auffassung, wenn Sie bloß dieses ins Auge faßten. Sie müssen sich dabei an das erinnern, was ich schon öfter gesagt habe: Der Mensch ist ein zwiespältiges Wesen; das Haupt und der übrige Organismus wirken für sich. Eigentlich geschieht die Wirkung, von der ich jetzt mit Bezug auf das italienische und das französische Volk gesprochen habe, nur auf den übrigen Organismus, außerhalb des Hauptes, und von dem Haupte aus geht eine andere Wirkung. Und erst durch das Zusammengehen der Wirkung, die vom Haupte ausgeht, und jener, die vom übrigen Organismus kommt, entsteht in vollständiger Weise das, was sich dann im Volkscharakter ausprägt. Es wird die Wirkung, die vom Haupte ausgeht, sozusagen neutralisiert durch die vom übrigen Orga­nismus ausgehende Wirkung. Daher könnte man sagen: Mit dem, was der Bewohner Italiens durch die Luft einatmet, was überhaupt für den übrigen Organismus, außerhalb des Hauptes, bestimmend ist in der Atmung, mit dem wirkt bei ihm zusammen vom Haupte aus die Kon­figuration des Nervensystems des Kopfes, wie es geistig differenziert ist, also insofern der Mensch Nervenmensch des Hauptes ist. In Frankreich ist es anders. Was im Organismus als Rhythmus lebt, ist ein besonderer Rhythmus für den ganzen Organismus und ein besonderer für den Kopf; der Kopf hat seinen eigenen Rhythmus. Wäh­rend es in Italien die Nerventätigkeit des Kopfes ist, die zusammenwirkt mit dem, was die Luft am Menschen bewirkt, ist es in Frank­reich der Rhythmus, die rhythmische Bewegung des Kopfes, das Vibrieren des Rhythmus im Kopfe mit dem, was durch die Flüssigkeit im Organismus bewirkt wird. So baut sich durch das besondere Zu­sammenwirken des individuellen Menschen im Haupte, mit dem, was der Volksgeist aus der Umgebung heraus bewirkt, der Volkscharak­ter auf.

Daraus kann man ersehen: Man kann studieren, was über den Orga­nismus der Erde hin gliedlich ausgebreitet ist, wenn man sich darauf einläßt, diese Dinge geisteswissenschaftlich zu beobachten. Denn tat­sächlich wird die Menschheit die eigentümliche Konfiguration über

151

die Erde hin nicht verstehen, wenn man derartige Dinge nicht in Betracht zieht.

Wir fragen weiter nach einzelnen Volkscharakteren, fragen nach dem britischen Volkscharakter. Wie der Volksgeist des italienischen Wesens durch die Luft, wie der des französischen Wesens durch das Wässerige geht, so geht der Volksgeist des britischen Wesens durch alles Erdige, hauptsächlich durch das Salz und seine Verbindungen im Organismus. Das Feste ist das Hauptsächlichste. Während das flüssige Element im französischen Volkscharakter wirkt, haben wir im britischen Wesen wirksam das verfestigende, das salzige Element durch alles, was durch die Luft und die Ernährung in den Organismus hineinkommt. Das bewirkt die eigentümliche Konfiguration des britischen Volkscharakters. Aber auch hier wirkt vom Kopfe aus wieder etwas neutralisierend auf das aus der Umgebung Kommende. Ge­radeso wie Rhythmus im übrigen Organismus und im Haupte ist, so ist auch Verdauung, Stoffwechsel im übrigen Organismus und im Haupte. Wie der Organismus des Kopfes seinen Stoffwechsel voll­führt, wirkt die Art und Weise dieses Austausches der Stoffe zusam­men mit dem salzigen Element im Organismus, und das bewirkt den britischen Volkscharakter. Also das Erdige im Zusammenhang mit dem Stoffwechsel des Hauptes macht den britischen Volkscharakter aus. Und man kann sagen: Indem die Volksseele durch das salzige Element wirkt, schlägt ihr entgegen vom Haupte her die Eigentümlichkeit des Stoffwechsels des Hauptes.

Sie werden alle einzelnen Züge eines Volkscharakters studieren können, wenn Sie diese besonderen Metamorphosen in der Wirkungs­weise der Volksseelen ins Auge fassen.

Wir fragen weiter nach dem Westen hinüber. Beim Amerikanertum ist es wieder anders, da wirkt ein unterirdisches Element. Während wir es also beim britischen Wesen zu tun haben mit dem Erdigen, mit dem Salzigen, ist beim amerikanischen Volkscharakter ein unter­erdiges Element wirksam, etwas, was unter der Erde vibriert. Das hat da einen vorzüglichen Einfluß auf den Organismus. Besonders durch die unterirdischen magnetischen und elektrischen Strömungen wirkt beim Volkscharakter des amerikanischen Volkes der Volksgeist her-

152

auf. Und dem strömt wieder vom Haupte her etwas entgegen, was den Einfluß der unterirdischen magnetischen und elektrischen Strömungen neutralisiert: dem strahlt entgegen, was nun wirklich menschlicher Wille ist. Das ist das Eigentümliche des amerikanischen Volkscharak­ters. Während wir beim britischen Volkscharakter sagen müssen, er hängt im wesentlichen ab von dem erdigen Element, insofern es der Mensch in seinen Organismus aufnimmt, und das dann in Wechsel­beziehung kommt mit dem Stoffwechsel des Hauptes, so wirkt der Wille, insofern er sich beim Volke ausprägt, beim Amerikaner zu­sammen mit etwas, was vom Unterirdischen heraufkommt, und dies prägt den amerikanischen Volkscharakter. Mit dem hängt auch das zusammen, was ich sogar im öffentlichen Vortrage vorgebracht habe. Der Mensch kann nur mit seiner ganzen freien Persönlichkeit in Zusammenhang stehen mit dem Element über der Erde und noch bis zur Erde hin. Wenn er von unterirdischem Volksseelenhaftem beeinflußt ist, dann bildet er seine Volksseele nicht in Freiheit aus, sondern er ist dann sozusagen von der Volksseele besessen. Und ich habe im öffent­lichen Vortrage gezeigt, wie der Amerikaner sogar dasselbe sagen kann, was der Mitteleuropäer Herman Grimm auch sagt, und es ist doch nicht dasselbe. Während man bei Herman Grimm merkt, wie alles menschlich erobert ist, ist es bei Woodrow Wilson so, daß er davon menschlich besessen ist.

Daraus können Sie eines sehen, es ist wichtig, weil unsere heutige Zeit es auch nötig hat, so etwas ins Auge zu fassen. Wenn heute zwei, drei Menschen dasselbe sagen, so betrachtet man es rein inhaltlich, man betrachtet es abstrakt. Aber es können zwei Menschen ganz das­selbe inhaltlich sagen, der Satz kann bei dem einen genau so lauten wie beim andern. Der eine kann in seiner Seele erkämpfte, errungene Sachen haben, und der andere kann sie haben, indem er sie durch Besessenheit angenommen hat. Der Inhalt macht oft gar nicht das Wesentliche aus, sondern der Grad, in welchem das, was der Be­treffende sagt, Eigenerarbeitetes der Seele ist, oder ob er es vielleicht durch Besessenheit bekommen hat. Das ist wichtig. Heute hat man nur einen Sinn für das Abstrakte. Man kann bei Herman Grimm sehen, daß er nur das gesagt hat, was er zehnmal in der Seele hin- und

153

hergekehrt hat, und man kann Sätze aus Wilsons Sachen nehmen und «Herman Grimm» darüber schreiben und umgekehrt, aber darauf kommt es nicht an. Herman Grimm hat etwas Erarbeitetes, Woodrow Wilson hat etwas Besessenes, von unterirdischen Wesenheiten in ihn Hereinkommendes. Diese Dinge lassen sich erkennen, man braucht gar nicht mit Emotionen und Leidenschaften an sie heranzugehen, sondern sie lassen sich durchaus objektiv erkennen.

Wir fragen weiter, indem wir zunächst einmal, sagen wir, Deutsch­land einkreisen und nach dem Osten blicken. Wenn wir das östliche Wesen betrachten, das erst nach und nach sich aus dem Chaos er­hebend, in seiner ureigenen Gestalt aufleuchten wird, so tritt einem dort etwas Eigentümliches entgegen. Wie der Volksgeist beim Italie­nertum durch die Luft wirkt, wie er beim französischen Volke durch das Wasser, beim Engländer durch das Erdige und beim Amerikaner durch ein unterirdisches Element wirkt, so wirkt der Volksgeist beim russischen, slawischen Element durch das Licht. In der Tat wirkt im vibrierenden Licht der Volksgeist, auf den es im Osten ankommt. Und wenn sich einmal aus den embryonischen Hüllen losgelöst haben wird, was im Osten nach der Zukunft wachsen wird, dann wird sich zeigen, daß auch die Wirkungsweise des Volksgeistes im europäischen Osten etwas ganz anderes ist als die Wirkungsweise des Volksgeistes im Westen. Denn, wenn ich auch sagen muß: Es wirkt der Volksgeist durch das Licht -, so ist das Kuriose doch das, daß er nicht durch das hinvibrierende Licht unmittelbar wirkt, sondern er wirkt, indem das Licht sich zuerst in den Boden senkt und vom Boden zurückgeworfen wird. Und dieses vom Boden zurück aufsteigende Licht ist es, dessen sich der Volksgeist beim Russen bedient, um auf ihn zu wirken. Aber das wirkt nicht auf den Organismus, sondern das wirkt gerade auf das Haupt, auf die Denkungsgesinnung, auf die Art der Ausbildung der Vorstellungen, der Empfindungen und so weiter. Hier ist also die Wirkungsweise des Volksgeistes gerade entgegengesetzt derjenigen im Westen, wo er aus dem übrigen Organismus wirkt und ihm vom Haupte etwas entgegenschlägt. Im Osten wirkt er durch das Licht. Das aus dem Boden zurückströmende Licht ist das Mittel für den Volksgeist, und das wirkt vorzugsweise auf das Haupt. Und was da

154

nun zurückwirkt, das kommt jetzt vom übrigen Organismus, beson­ders vom Herzensorganismus her. Was da zurückkommt, schlägt jetzt umgekehrt nach dem Kopfe hin und ändert die von dort ausgehende Wirkung. Es ist heute noch im Chaos, noch in embryonischen Hüllen. Es ist der Atmungsrhythmus, der da zum Kopfe schlägt und das neutralisiert, was auf dem Umwege durch das Licht vom Volksgeist kommt. Was im nächsten Osten so herauskommt, das ist in einem höheren Maße noch vorhanden, wenn wir weiter nach Osten gehen. Das ist überhaupt das Eigentümliche des asiatischen Ostens, daß der Volksgeist zum Teil auch noch durch das Licht wirkt, das vom Boden aufgenommen und zurückgestrahlt wird und das auf das Haupt wirkt. Oder der Volksgeist wirkt auch durch das, was nicht mehr Licht ist, was aber überhaupt nicht sichtbarlich ist: die Sphärenharmonie, die ja auch alles durchvibriert und die für eine geistige Menschheit des asiatischen Ostens gleichkommt einer Volksgeist-Wirkung, indem der Volksgeist direkt durch die Sphärenharmonie wirkt, die aber von der Erde zurückgestrahlt wird und auf das Haupt wirkt. Und dem wirkt entgegen der Atmungsrhythmus. Und darin liegt das Geheimnis, das darin besteht, daß die Geistsucher des Orients immer in einer be­sonderen Ausbildung des Atmens gesucht haben mit dem Geist in Zusammenhang zu kommen. Wenn Sie Joga studieren, werden Sie sehen, es macht Ansprüche, die Atmung in einer besonderen Weise auszubilden. Das beruht darauf, daß der einzelne als Glied der ganzen Menschheit, nicht als einzelner, durch den Volksgeist die Geistigkeit zu finden sucht; er sucht sie auf die Weise, wie es wirklich innerhalb seines Volkscharakters gegründet ist. Je weiter wir also nach dem Osten kommen, desto mehr finden wir dies. Natürlich würde sich an mehr oder weniger vorkommenden Verfeinerungen dieser Volks­charakterauswirkungen, aber auch an Entartungen dieser Volkscharakterauswirkungen zeigen lassen, wie manchmal in Abirrung sich so etwas zeigt. Einzelne Völkerschaften und ganze Rassen teilen in ausgesprochenem Maße diese Abirrungen, indem zum Beispiel Dis­harmonien eintreten, wenn die Haupteswirkung mit der Wirkung des übrigen Organismus zusammenstimmt und so weiter. Aber auf ein­zelne Disharmonien gerade einzugehen, ist heute vielleicht nicht be­-

155

sonders anzuraten, da man ja heute aus diesen oder jenen Gründen von einem Volke aus andere Völker lieben muß. Es gebieten so die Verhältnisse; manches könnte da statt mit der Vernunft mit dem Gemüte aufgefaßt werden, und es würde dann vielleicht nicht ver­standen werden. Wenn einmal andere Zeiten gekommen sind, kann man vielleicht auch über die östlichen Völker und ähnliche Probleme sprechen.

Nun kann man die Frage aufwerfen: Wie steht es nun bei den mitteleuropäischen Völkern? Wir reden ja mehr von geographischen Verhältnissen, haben also Mitteleuropa nicht in einem sozialpoliti­schen Verhältnis im Auge. Ich habe auch nicht nach Rassenverhältnissen die Fragen beantwortet, sondern es sind, wie Sie sehen, spiri­tuell-geographische Verhältnisse. Wir können also von einem Mittel­europa sprechen, zu dem Frankreich und Italien nicht gehören.

Die Eigentümlichkeit des in Mitteleuropa wirkenden Volksseelen­tums ist es, daß wie ich für andere Gebiete auseinandergesetzt habe, daß durch Luft, Wasser, durch das Salzige und so weiter gewirkt wird in unmittelbarer Weise durch die Wärme gewirkt wird. Der Volksgeist wählt in Mitteleuropa den Umweg, das Medium der Wärme. Und zwar ist das nun nicht ganz unmittelbar fest bestimmt, es kann individualisiert werden. Es kann Menschen geben in Mitteleuropa, bei denen diese Wirkung des Volksgeistes verschieden sein kann, ein­mal aus dem übrigen Organismus und einmal auf das Haupt; auch je nachdem direkt die äußere Luft wärmt, oder indem durch die Speisen oder durch das Atmen gewärmt wird. Das alles ist Medium für den Volksgeist. Und was nun hier dieser Wirksamkeit entgegenwirkt, ist wieder die Wärme, so daß in Mitteleuropa die Wärme, insofern sie äußere Wirkungen hat, Medium für den Volksgeist ist. Und was ihr entgegenkommt, ist wieder die von innen kommende, selbsterzeugte Eigenwärme. Daher kann man sagen: Was im Organismus durch den Volksgeist als Wärme wirkt, dem kommt entgegen die Eigenwärme des Hauptes. Wirkt die Wärme des Volksgeistes durch das Haupt, so strömt ihr da die Wärme des übrigen Organismus entgegen. Wärme wirkt zu Wärme, und sie wirkt namentlich so, daß sie vorzugsweise von der größeren oder geringeren Lebendigkeit der Sinneswirksam­keit,

156

geradezu der Wahrnehmungsfähigkeit abhängt. Ein Mensch, der regeren Geistes ist, der mit Liebe die Dinge um sich herum ansieht, entwickelt größere Eigenwärme. Ein Mensch, der flüchtig, oberfläch­lich ist, der nicht viel empfindet, der über alles hinweggeht, entwickelt weniger Eigenwärme. Dieses Mitleben mit der Umgebung, indem der Mensch ein Herz oder ein offenes Auge für die Umgebung hat, das ist es, was der Wärme, die durch den Volksgeist wirkt, entgegenschlägt, so daß da Wärme an Wärme schlägt. Das ist das Eigentümliche der Wirkungsweise des Volksgeistes in Mitteleuropa, und darauf beruht vieles im Wesen des Volkscharakters, weil Wärme zu Wärme so innig verwandt ist. Die andern Wirkungsweisen sind alle nicht so verwandt: der Wille ist mit dem Elektrischen nicht in derselben Weise verwandt, das Salzige ist mit dem Verdauungselement des Kopfes nicht so ver­wandt und die andern angeführten Wirkungen ebenfalls nicht. Aber Wärme bewirkt den europäischen Charakter, der sich auch darin aus­spricht, mehr oder weniger in alles aufgehen zu können. Wir wollen nicht von Werturteilen reden, sondern nur charakterisieren, daher kann es jeder auffassen, wie er will: als Tugend oder als Untugend. Wärme an Wärme: biegsam macht das, plastisch, in alles sich hineinfindend, auch in fremde Volkscharaktere. Oh, wenn wir die Geschichte verfolgen, so zeigt sie, wie die einzelnen deutschen Stämme in fremde Völkerschaften hineingenommen sind, fremdes Element angenommen haben. Das wird Ihnen alles bekräftigen, was jetzt gesagt worden ist.

An dem heute Auseinandergesetzten wird auch im eminentesten Maße der große Gegensatz zwischen dem asiatischen Orient und dem amerikanischen Okzident ersichtlich. Man möchte sagen: Das Licht, und sogar noch was über dem Licht im Ätherischen liegt, ist es, des­sen sich die Volksseele im Osten bedient, um an den Menschen heranzukommen, wenn es auch rückstrahlend ist von der Erde. Das unter­irdische Element, was unter der Erde ist, ist es im Westen. Das kann uns tief hineinführen in das organisch-seelische Leben des ganzen Erdenorganismus in seinem Zusammensein mit der Menschheit. Es ist durchaus nicht die Absicht, dabei irgendeinen Teil der Erdenbevölkerung zu verletzen, oder einem andern Teil Schmeicheleien zu sagen. Aber wahr ist es doch: Auf der einen Seite das nach dem

157

Geistigen hingerichtete Fluten im Orient, nach unten zu Schwere entwickelnd, den Menschen an die Erde fesselnd, ist mehr das Wesen nach dem Westen hin. Ob das mit dem amerikanischen Volkscharakter mehr oder weniger übereinstimmt, überlasse ich jedem selbst zu be­urteilen. Eine aufsteigende Flut, möchte ich sagen, im Osten; ein Ab­ebben, ein In-die-Erde-Hineinwirken im Westen. So ist das Leben.

Natürlich nicht auf einmal, aber im Laufe des Lebens, im Verlaufe von Generationen wird der Mensch den Erdenverhältnissen ähnlich, paßt sich an. Wenn also auch ein Europäer nach dem Orient kommt, dort Kinder hat und die Kinder wieder Kinder haben, so fordern es die waltenden Umstände, daß diese Verhältnisse sich ausbilden. Das wirkt im Menschen. Es ist tatsächlich so: Wie in unserem physischen Organismus an der Schulter nie eine Nase, sondern immer ein Arm herauswachsen wird, so werden in Amerika nie gute Jogis entstehen. Es kann einmal verpflanzt werden, aber man kann auch in Glashäusern alle möglichen Pflanzen aufziehen, darauf jedoch kommt es nicht an, sondern was im naturgemäßen Zusammenhang von der Entwickelung selbst gemeint ist. Das alles ist ausgesprochen, ist bestimmt. Natur­wissenschaftliche Biologie ist durchaus nicht das, was erklärt, wie die Erdenverhältnisse sind. Dazu muß man zum Beispiel auf die ver­schiedenen Wirkungsweisen der Volksseelen eingehen, wie wir es heute besprochen haben, wie sich das Unoffenbarte im Offenbaren zum Ausdruck bringt.

Der Mensch ist also in die Wirkungsweisen eingebettet, die mit der Erde zusammenhängen. Wenn Sie das ins Auge fassen, wird Ihnen, ich möchte sagen, auf der einen Seite recht bedrückend vor der Seele stehen, wie sehr der Mensch doch eigentlich von Mächten abhängig ist, die in der geschilderten Weise mit dem Fleck Erde zusammen­hängen, auf den das Karma ihn in irgendeiner Inkarnation gestellt hat. Natürlich hängt es wieder mit seinem Karma zusammen, daß er dort hineingestellt ist. Aber dennoch, die charakterisierten Verhältnisse haben vielleicht etwas Bedrückendes, und das Bedrückende wird, wenn wir nicht alle Umstände überschauen, noch größer. Wenn wir namentlich in ältere Zeiten der Erdenentwickelung zurückgehen, wer­den wir finden: Je weiter wir zurückkommen, desto größer wird die

158

Abhängigkeit, von der ich gesprochen habe, und desto mehr differen­ziert sich aus solchen Impulsen die Menschheit über die Erdenober­fläche hin. Doch die Erdenentwickelung trägt schon die Möglichkeit in sich, daß die Menschen diese Abhängigkeit, wenn auch nicht in der äußeren Konfiguration, aber in ihrem Innenleben nach und nach wohl überwinden.

Was müßte denn geschehen - fragen wir das einmal -, was wäre denkbar, daß es geschehen würde, damit diese Abhängigkeit von dem Fleck Erde auf irgendeine Weise gemildert würde, damit der Mensch irgendwie aus dieser hier charakterisierten Notwendigkeit zu einer gewissen Freiheit heraufgehoben würde?

Dazu müßte einmal während der Menschheitsentwickelung auf der Erde etwas geschehen sein, was dieser Abhängigkeit des Menschen von dem Fleck Erde geradezu widersprechen würde. Wir haben jetzt alle Impulse besprochen, welche den Menschen von seinem Fleck Erde abhängig erscheinen lassen. Ich sagte: Es müßte auch etwas ge­schehen sein, was jener Abhängigkeit widerspricht, etwas, was diesen Verhältnissen ins Gesicht schlagen würde. - Es ist doch zu verstehen: Dies, was auf der Erde leben würde, was anders ist als alles, was durch diese Abhängigkeit wirkt, das würde auf diese Verhältnisse aus­gleichend, neutralisierend wirken. Was kann das sein?

Im Beginne unserer Zeitrechnung geschah das Mysterium von Gol­gatha. Wir haben von ihm im Laufe der Zeit viele Eigentümlichkeiten hervorgehoben. Aber man braucht sich nur eine ganz augenfällige, ganz allgemeine, allgemein bekannte Eigenschaft des Mysteriums von Golgatha einmal vor die Seele zu führen, und man wird sehen, daß selbst durch etwas so an der Oberfläche der Dinge Liegendes, dieses Mysterium von Golgatha sich als etwas Besonderes, Einziges in das Erdenleben hineinstellt. Der Christus Jesus lebte unter einem Volke, das einen ausgesprochenen Volkscharakter hat, das alles, was es tut, aus einem ausgesprochenen Volkscharakter heraus tut. Was aber mit dem Christus Jesus geschieht, was aus dem Volkscharakter heraus sich vollzieht: das Mysterium von Golgatha, der Tod auf Golgatha, das steht in vollständigem Widerspruch mit diesem Volkscharakter. Denn weder nimmt das Volk, aus dem heraus das Mysterium von Golgatha

159

sich abspielt, dieses in sein Bekenntnis auf, noch bekennt es sich zu dem Christus Jesus persönlich, individuell, sondern es tötet ihn, es ruft: Kreuzige ihn! Kreuzige ihn! - Es geschieht etwas, was nicht für ein Volk bestimmt sein kann; es geschieht etwas, was nur einen Sinn hat, wenn es in Widerspruch gedacht wird mit dem, was aus den Volkscharakteren heraus erfolgen kann, was das Volk von sich aus abweist, aus sich heraus annulliert, vernichtet. Das ist das Geheimnis des Mysteriums von Golgatha. Deshalb hat es nicht einen Volkscharakter, wächst nicht heraus aus dem Volkscharakter, sondern es widerspricht alledem, was wir vorhin als Abhängigkeit des Menschen vom Volkscharakter charakterisiert haben. Es ist ein Ereignis und eine Wesenheit auf Erden, die mit dem Volkscharakter nichts zu tun haben, weil nur das, was da vernichtet - der Tod -, mit diesem Volkscharakter etwas zu tun hat. Denn weder hat dieses Ereignis es zu tun mit dem jüdischen Volkscharakter, noch mit dem auf dem gleichen Gebiete wirkenden römischen Volkscharakter; denn die Juden rufen: Kreuzige ihn! und der Römer kann keine Schuld an ihm finden, das heißt, er weiß nichts mit dem anzufangen, was da vor sich geht. Es hebt sich das ganze heraus aus dem, was durch den Volkscharakter geschehen kann. Dadurch wird das Mysterium von Golgatha ein solches Er­eignis, das Sie, wenn Sie es genau studieren, mit keinem andern ver­gleichen können. Märtyrer hat es selbstverständlich auch anderswo gegeben; aber nicht aus diesen Gründen, die für das Mysterium von Golgatha gelten, sind Märtyrer erstanden. Je mehr Sie das Mysterium von Golgatha studieren, desto mehr werden Sie finden, daß es gerade deshalb eintrat, weil es nichts zu tun hat mit einem einzelnen Volks­charakter, sondern weil es in Verbindung steht mit der ganzen Menschheit. Daher kann man wirklich sagen: Wir haben auf der einen Seite jenes Prinzip in der Menschheitsentwickelung, das sich so über die Menschheit hinübererstreckt, daß es differenzierend wirkt. Dann wächst einmal aus einem Differenzierten etwas heraus, was nicht zu dem Differenzierten gehört, sondern gerade darin seine Eigentümlich­keit hat, daß es unabhängig vom Volkscharakter ist; das ist die andere Seite.

Das wird man in jeder Beziehung immer mehr und mehr als das

160

Wesentliche am Mysterium von Golgatha erkennen, daß es, wenn es verstanden werden will, ein individuelles Verständnis notwendig macht. Man wird, indem man es immer mehr und mehr verstehen wird, nach und nach sagen: Man kann die irdischen Verhältnisse, die menschlichen Verhältnisse so und so begreifen; das Mysterium von Golgatha aber steht für sich da, es muß als ein Einzelnes im Besonde­ren verstanden werden, es kann nichts anderes genommen werden, um es zu verstehen. Suchen Sie auf welchem Gebiete immer: Wir haben heute auf dem Gebiete des Volksseelentums verfolgt, was in der Menschheit wirkt. Wir können alle Dinge aus dem Volksseelen­tum heraus erklären, vom Anfang der Menschheit auf der Erde bis heute nur nicht das Mysterium von Golgatha und was mit ihm zusammenhängt. So würden wir alle möglichen Gebiete finden kön­nen, von denen wir sagen könnten: Auf der einen Seite steht alles andere, und auf der andern Seite steht das Mysterium von Golgatha und seine Wirkungen. Ich habe schon öfter betont: Gelehrte Theo­logen müssen heute schon zugeben, daß sich ein historischer Beweis für das Mysterium von Golgatha nicht finden läßt, um es in die Ge­schichte einzureihen. Man reiht nicht Ereignisse in die Geschichte ein, für die sich keine historischen Beweise finden lassen nur das Myste­rium von Golgatha und was damit zusammenhängt! Denn das soll als Singulares ein Übersinnliches sein; es soll keinen historischen Beweis dafür geben. Das Mysterium von Golgatha soll von keinem Menschen angenommen werden, der nur historisch materielle Beweise verlangt. Es hat nur auf den Menschen die richtige Wirkung, der sich dazu aufschwingt, etwas als historisch gelten zu lassen, für das es keine Beweise gibt. Die Entwickelung wird so fortgehen, daß die äußeren Beweise für das Mysterium von Golgatha fortgeschwemmt werden, verschwinden werden; die Kritik wird sie hinwegschwemmen. Aber das geistige Begreifen der Menschheitsentwickelung wird dieses My­sterium von Golgatha doch als den Drehpunkt aller irdischen Ereig­nisse hinstellen. Es muß geistig erfaßt, geistig in den Geschichts­prozeß der Menschheit eingereiht werden. Das ist gerade sein Ge­heimnis. Die Menschen werden es sich immer mehr und mehr erarbeiten, nicht mehr nach historischen Beweisen zu suchen, sondern

161

nach der Möglichkeit, zu verstehen, daß hier einmal ein übersinn­liches Verstehen, ein übersinnliches Begreifen eines auf der physi­schen Erde sinnlich sich abspielenden Ereignisses notwendig ist, da­mit der Mensch seinen Zusammenhang mit der irdischen geschicht­lichen Entwickelung der Menschheit im vollen Sinne des Wortes er­fassen kann. Darüber wollen wir das nächste Mal hier weiter­sprechen.

162

NEUNTER VORTRAG Berlin, 1. April 1918

Als ich vorgestern versuchte, auseinanderzusetzen die Beeinflussung des Menschen durch den Teil der Erde, auf dem er sich als physischer Mensch entwickelt, da hatte ich vorzugsweise im Auge, einmal be­sonders deutlich darauf hinzudeuten, wie die gesamte Erde ein Orga­nismus, ein beseelter, durchgeistigter Organismus ist. Denn wie ein Organismus seine einzelnen verschiedenen, differenzierten Glieder hat, von denen jedes eine besondere Aufgabe hat die Arme haben nicht die Aufgabe der Beine, das Herz nicht die Aufgabe des Gehirns und so weiter , so hat, wenn man die Erde als Ganzes, als beseelten, durchgeistigten Organismus betrachtet, jeder Teil der Erde seine be­sondere Aufgabe. Diese besondere Aufgabe der einzelnen mensch­lichen organischen Glieder ist ersichtlich an der Gestalt dieser einzel­nen Glieder. Die Arme sind anders geformt als die Beine, das Herz anders als das Gehirn. Bei der Erde ist das nicht so deutlich mit Bezug auf das Physische. Wer nur als äußerer materialistischer Geograph die einzelnen Kontinente oder sonst irgendwie Teile der Erde, nach diesen oder jenen Gesichtspunkten geordnet, betrachtet, dem fällt nicht von vorneherein auf, daß diese verschiedenen Glieder der Erde verschiedene Wirkungsweisen haben. Das fällt erst dem auf, der ge­wissermaßen das Seelische und das Geistige der Erde ins Auge fassen kann. Dies erkennen, heißt aber tatsächlich, sich im Konkreten zu der Anschauung aufschwingen, daß die Erde ein beseelter, durchgeistigter Organismus ist, und daß der Mensch, wie er als physischer Mensch auf der Erde lebt, ein Glied innerhalb dieses Organismus ist.

Da entstehen denn, wenn man dies berücksichtigt, mancherlei Fra­gen, und wer das Leben des Menschen so betrachtet, als ob es nur ein Mal zwischen Geburt und Tod verliefe, der wird mit diesen Fragen sehr wenig vernünftigerweise zurechtkommen. Denn der Mensch, wie er als physischer Mensch einmal ist, kann sich ja nur einem bestimmten Teile der Erde eingliedern. Er würde also dazu verurteilt sein, sich ganz spezialisieren, differenzieren zu lassen durch diesen besonderen

163

Teil der Erde, gewissermaßen nicht irgendwie ein Ganzes sein zu können, sondern nur ein Glied im Erdenorganismus. Aber auf der andern Seite ergibt sich gerade aus dieser Einsicht in das Beseelte, Durchgeistigte der Erde eine wichtige Erkenntnis, die Erkenntnis, daß das eigentliche, tiefere Wesen des Menschen, zu dem der Mensch im eigentlichen Sinne «Ich» sagt, nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar mit dieser Differenzierung des Menschen über die Erde hin zusammenhängen kann, daß des Menschen seelisch-geistiger Wesenskern in demjenigen gewissermaßen nur wohnt, was so durch die Besonderheit der Erde spezifiziert wird. Also gerade die Erkenntnis kann der Mensch aus so etwas sich allmählich erringen, daß in dem, was uns zunächst am Menschen entgegentritt, sein geistig-seelischer Kern nicht bestehen kann, daß gewissermaßen dasjenige, in dem der Mensch uns entgegentritt, nur das Wohnhaus, das durch die beson­deren Verhältnisse der Erde bestimmte Wohnhaus des Menschen sein kann. Ich erwähne das nicht, weil es dem schon mit der Geistes­wissenschaft Bekannten als eine besonders erhebliche Wahrheit er­scheinen könnte. Das kann es natürlich nicht sein. Aber es soll zeigen, wie wirkliches, eindringlicheres Nachdenken über die Verhältnisse der Erde den Menschen dazu führen kann, sich durch dieses Nachdenken rein vernunftgemäß an die Geisteswissenschaft heranzubilden. Denn das muß als eines der fatalsten Vorurteile hinweggeräumt wer­den, was sich darin ausdrückt, daß man sagt: Geisteswissenschaft könne doch nur für den begreiflich sein, der In die geistige Welt hineinsieht: - Dies ist das Vorurteil, welches immer wieder und wie­der, ich möchte sagen, zur Beruhigung aller der Bequemlinge sich geltend machen will, welche, weil sie sich darauf berufen, sie könnten nicht an das hellschauende Erkennen heran, Geisteswissenschaft zu­nächst wie eine Art Provisorium oder wie irgend etwas hinstellen möchten, was die Menschheit überhaupt nichts angehe. In Wahrheit kann umfassendes, eindringliches Denken wirklich das Geisteswissen­schaftliche begreifen. Nur muß das Denken eben eindringlich, um­fassend sein. Es muß dieses Denken bereit sein, die Erscheinungen des Lebens an das heranzutragen, was die Geisteswissenschaft konsta­tiert. Wer das, was ihm erreichbar ist an Wissen über die Charaktereigenschaften

164

der verschiedenen Völker auf der Erde, der verschiede­nen Erdenbewohner, wer es an das heranbringt, was ihm die Geistes­wissenschaft sagt, der wird schon erkennen: An den Charaktereigenschaften der Völker bewahrheitet sich das, was hier das letzte Mal aus­einandergesetzt worden ist. Man muß das, was einem das Leben bietet, wirklich an diese Erkenntnis herantragen. Man muß bereit sein, vorurteilsfrei an den Lebenserfahrungen die geisteswissenschaft­lichen Erkenntnisse zu prüfen, dann führt vernünftiges Durchschauen der Sache zur Anerkennung der Geisteswissenschaft.

Dies ist in der heutigen Zeit recht wichtig zu betonen. Denn man kann sagen: Traditionen, die im geisteswissenschaftlichen Sinne das eine oder das andere enthalten, gibt es in viel größerer Verbreitung, als man gewöhnlich denkt. Aber es gibt eine gewisse Meinung, welche bis zum Heranrücken der neueren geschichtlichen Zeit ihre gute Be­rechtigung hatte, die aber von manchen geisteswissenschaftlich Wis­senden auch in unsere Zeit herein fortgepflanzt wird, die Meinung, daß man gewisse tiefere Erkenntnisse über das Leben nicht öffentlich mitteilen sollte. Ich habe öfter die Gründe auseinandergesetzt, welche die Leute, die etwas von diesen Dingen wissen, für dieses Nichtmit­teilen haben, und ich habe auch darauf hingewiesen, warum diese Gründe für die heutige Zeit nicht mehr gelten. Aber in gewisser Be­ziehung bieten gerade diese Tatsachen eine Schwierigkeit. Denn man hat nicht nur das Sich-Stemmen des weitaus größten Teiles der Menschheit gegen die Geisteswissenschaft gegen sich, sondern man hat auch die Meinung derer, die etwas wissen, gegen sich: daß der­jenige unrecht habe, der aus dem Born der Geisteswissenschaft der Öffentlichkeit Dinge übergibt, wie man andere Wahrheiten der Öffent­lichkeit übergibt. Die da glauben, daß der Schleier des Geheimnisses über gewisse Dinge noch immer nicht gelüftet werden darf, sie werden dann geheilt werden, wenn sie das Wichtige anerkennen, das zum Beispiel allerdings in etwas wissenschaftlicher Form, aber deutlich genug, wie mir scheint in dem Vorworte und in der Einleitung zu meinem Buche «Vom Menschenrätsel» gesagt worden ist.

Es ist nämlich notwendig, einzusehen, daß dieser Begriff von Wahr­heit und von Richtigkeit, den die meisten Menschen heute noch

165

haben, eben überwunden wird. Die meisten Menschen haben heute den Begriff: Etwas ist richtig - etwas ist unrichtig. Aber immer wieder muß ich betonen und habe es auch in der Vorrede der «Menschen-rätsel» besonders betont: Was des Menschen einzelne Ansicht über eine Sache von einer bestimmten Seite ist, nimmt sich aus wie die Photographie eines Gegenstandes von einer bestimmten Seite her. Wenn man einen Baum erst von der einen Seite, nachher von einer andern Seite photographiert, so ist das zweite Bild doch ein Bild des­selben Baumes, es sieht nur anders aus. Nur heute, wo die Menschen so sehr abstrakt geworden sind, wo sie sich so sehr an das Theore­tische gewöhnt haben, trotzdem sie glauben, Wirklichkeitsmenschen zu sein, heute gilt eine Ansicht von einer Sache als allumfassend, als die Wirklichkeit begreifend. Man glaubt, in Gedanken oder in etwas anderem die Wirklichkeit aussprechen zu können. Man ist ins­besondere hochmütig um diesen Glauben, die Wirklichkeit durch Gedanken aussprechen zu können. Ich meine hochmütig etwa in der folgenden Art. Die Leute sagen: Wir haben heute die Koperika­nische Weltanschauung. Und in bezug auf die Menschheit vor Kopernikus - man spricht es nicht in dieser Schroffheit aus, aber man denkt doch -, das waren alles Kinder, wenn man nicht gar sagen möchte: Rindviecher, denn die haben noch nicht die Kopernikanische Welt­anschauung gehabt. Die ist richtig, denkt man, die andern Welt­anschauungen sind falsch. - Das ist etwas, was überwunden werden muß. Auch die Koperikanische Weltanschauung ist eben eine An­sicht, ist eine bestimmte Art, sich über die Dinge Gedanken, Vorstellungen, Bilder zu machen. Es gibt allerdings heute Menschen, welche die Geisteswissenschaft, sobald sie bemerken, daß sie nur eine Ansicht, eine reguläre Ansicht über eine Sache geben kann, bekämp­fen, indem sie eine andere Sache ihr gegenüberstellen. Das wird der­jenige aber auch gar nicht leugnen, der da weiß, daß es verschiedene Ansichten über eine Sache gibt. Nur wollen heute manche Menschen noch etwas ganz Besonderes, was sich etwa damit vergleichen läßt, daß man, wenn man zum Beispiel in einem Zimmer ist, sagen würde: Wenn man das Zimmer von einem Punkte aus beleuchtet hat und es dann von dieser Stelle aus durch die Beleuchtung übersieht, dann gibt

166

das doch immer nur eine perspektivische Ansicht; das ist nicht die Wirklichkeit, löschen wir vielmehr das Licht aus, machen wir das Zimmer ganz finster und tasten wir alles einzelne ab. Dann haben wir alle, die wir so die Dinge abtasten, dieselbe Ansicht. Wenn wir das Zimmer im Lichte anschauen, dann hat der eine, der dort steht, diese Ansicht, ein anderer, der woanders steht, hat jene Ansicht und so weiter. - So möchte heute ein gewisses Ideal der Naturwissenschaft das Licht auslöschen und alles nur abtasten. Demgegenüber muß die Geisteswissenschaft allerdings das Licht anzünden. Dann aber sind natürlich die Ansichten etwas von verschiedenen Punkten Auf­genommenes.

Nun wird ja gerade bei uns die Bemühung zugrunde gelegt, in der Welt herumzugehen, um an verschiedene Punkte zu kommen, von verschiedenen Punkten aus Ansichten aufzunehmen - das wird schon seit Jahren angestrebt -, von verschiedenen Punkten aus Ansichten aufzunehmen. Dazu könnte nun mancher sagen: Das eine wider­spricht dem andern. Aber das ist gerade das Wesentliche, daß in dem eben ausgesprochenen Sinne eines dem andern widerspricht, denn da­durch bekommt man gerade die allseitige Ansicht einer Sache. Und darauf kommt es gerade an. Nur ist dies durchaus nicht bequem. Denn die Menschen möchten am liebsten ein Büchelchen haben, möglichst dünn, worin eine ganze Weltanschauung notifiziert ist. Oder, wenn sie schon öfter über Weltanschauungen gesprochen haben wollen, dann möchten sie, daß immer dieselbe Sache abgebetet wird. Das kann ja natürlich nicht sein. Unsere gedruckten Zyklen mehren sich, werden immer mehr, um von verschiedenen Seiten die Dinge zu be­leuchten, um von verschiedenen Seiten Anschauungen, Ansichten zu gewinnen, die dann erst ein Gesamtbild der Wirklichkeit geben kön­nen. Man muß allerdings das eben Gesagte wird es Ihnen begreif­lich erscheinen lassen in einer gewissen Beziehung die Leute vor den Kopf stoßen, wenn man mit den geisteswissenschaftlichen Wahrheiten gegen die angekündigten und angedeuteten Vorurteile immer mehr verstoßen muß. Namentlich aber, wenn man also sündigt gegen die Forderung gewisser Geheimwissenschafter, wichtige Dinge nicht der Öffentlichkeit mitzuteilen, muß man über Sachen sprechen, welche die

167

Leute schockieren, vielleicht auch ärgern und aufreizen, weil diese Dinge unter vielem andern eben zum Beispiel Anstoß erregen bei allen, die da sagen: Etwas kann doch nur richtig oder unrichtig sein. - Die Anschauung muß vielmehr Platz greifen, daß in der Aufeinander­folge der Entwickelungszustände der Menschheit es niemals einen Zustand geben kann, in dem man sagen kann: Jetzt haben wir in bezug auf irgendein Gedankenmaterial die absolute Wahrheit -, oder: Wir wissen jetzt, was das absolut Unrichtige ist. - Das kann es gar nicht geben. Nicht darum kommen gewisse Anschauungen herauf, um den Menschen endlich das «Richtige» zu geben, so daß sie nun hochmütig auf die Vorfahren als auf Kinder oder noch etwas anderes hinschauen, sondern aus einem ganz andern Grunde.

Erinnern wir uns an etwas, was wir alle wissen. Mit dem 15. Jahr­hundert unserer Zeitrechnung ist die Menschheit in den fünften Kulturzeitraum der nachatlantischen Entwickelung eingetreten, was wir den Zeitraum der menschlichen Bewußtseinsseelenentwickelung nennen. Was mit diesem fünften Kulturzeitraum besonders herauf­gekommen ist, hat also mit dem 15. nachchristlichen Jahrhundert begonnen. Bis dahin war es die Verstandes- oder Gemütsseele, die sich im Laufe der Kulturentwickelung der Menschheit besonders ergeben hat. Damit dann aber die Bewußtseinsseele herauskommen kann, nahmen gewisse Gedanken, gewisse Vorstellungsarten ein ganz be­stimmtes Gepräge an. Nicht weil die Kopernikanische Weltanschauung das absolut Richtige ist - daß sie heraufkommen mußte, betone auch ich oft genug, und daß sie in gewisser Beziehung das für uns Zeit­gemäße ist, werde ich immer wieder und wieder betonen -, aber nicht weil sie das absolut Richtige ist, kam sie herauf, sondern weil sie der Entwickelung der Bewußtseinsseele dient, weil der Mensch am besten zur Entwickelung der Bewußtseinsseele kommt, wenn er die Koper­nikanische Weltanschauung allmählich sich in Fleisch und Blut über­gehen läßt, wenn er es dahin bringt, durch die Kopernikanische Welt­anschauung gewisse Konstellationen der Sterne so errechnen zu kön­nen, wie es die neuere Zeit errechnet.

Was ist denn eigentlich das Gute an der Koperikanischen Welt­anschauung? Nicht das ist es, daß sie uns endlich das «Richtige»

168

gesagt hat gegenüber dem «Falschen» früherer Jahrtausende, sondern daß sie eine geistige Mauer aufrichtete zwischen der Erde und dem Himmel, zwischen der physischen Welt und der geistigen Welt. Es kommt natürlich gleich etwas furchtbar Paradoxes heraus, etwas, womit man selbstverständlich bei denjenigen Menschen Anstoß er­regt, welche die früher charakterisierten Vorurteile haben. Aber wahr ist es: Darum handelt es sich, daß die Menschen anfingen, kopernika­nisch den Umkreis, den kosmischen Umkreis der Erde zu denken, weil sie, indem die koperikanischen Vorstellungen sie in den Um­kreis der Erde versetzten, eine geistige Mauer aufrichteten. Da kann man nicht durch. Dadurch ist man vom Geistigen abgeschlossen und kann mit seinen Vorstellungen im Umkreis der Erde bleiben und aus dem Umkreis der Erde gerade die Bewußtseinsseele entwickeln. Also, damit der Mensch möglichst egoistisch sich beschränkt auf das Irdische, wurde ihm die Koperikanische Weltanschauung zuteil, die eine geistige Mauer um die Erde herum aufrichtet. Je vollkommener die kopernikanische Weltanschauung sich ausbildet, desto sicherer ist es, daß der Mensch durch die äußere Anschauung von der geistigen Welt abgeschlossen wird, desto notwendiger wird es aber auch, daß er durch die innere Anschauung, durch die Belebung seines Inneren den Zusammenhang mit dem Geistigen wiederfindet. Es gehen merkwürdige Dinge parallel, ganz merkwürdige Dinge. Ich muß da schon ein wenig schwierig werden, wenn solche Dinge erörtert werden, aber, ich möchte sagen, da in der ganzen weiten Welt, um diese Dinge zu verstehen, nichts ist, als just die Anthroposophie, so müssen die Anthroposophen sich eben Mühe geben, diese Dinge zu verstehen.

Es gibt heute so etwas wie eine Erkenntnistheorie; namentlich die­jenige philosophische Wissenschaft, die auf Kant fußt, wird Er­kenntnistheorie genannt. Doch diese Erkenntnistheorie ist wirklich, man möchte schon sagen, ein Nagel zum Sarge der menschlichen Erkenntnis. Nehmen Sie nur einen Hauptgedanken, wie er heute ge­wöhnlich den Leuten über die landläufige Erkenntnistheorie durch den Kopf schießt. Da sagt man: Draußen ist das Ding. Aber was da draußen ist, das ist eigentlich nur Äthervibration, etwas, was nichts zu tun hat mit der Farbe, mit dem Ton, sondern das ist Bewegung

169

kleinster Teile im Raume. Draußen schwingt die Luft, tonlos. Diese Lufterschütterungen kommen an unser Ohr heran - Schopenhauer sagte etwas respektlos gegen die Erkenntnistheorie: trommeln an das Ohr heran - und werden nachher zu dem, was wir Ton nennen. Draußen ist alles stumm, dort sind bloß Erschütterungen in der Luft. Dann sind draußen Ätherwellen. Die kommen an das Auge heran. Aber jetzt ist ja die Sache nicht fertig: Es kommen die Wellen an das Auge heran, auf der Netzhaut wird das Bild erzeugt; von diesem Bilde aber weiß der Mensch nichts, wenn es nicht durch die Wissen­schaft erforscht wird. Dann pflanzen sich die Vorgänge auf den Seh­nerv fort. Diese können aber nur materieller Natur sein; sie gehen bis zur Gehirnrinde, und dort geht ein ganz geheimnisvoller Prozeß vor sich. Da kommt die Seele dazu, das, was draußen ist, was finster und stumm ist, leuchtend und farbig, warm und kalt und so weiter vor­zustellen, schafft da die Dinge erst in sich selber, «träumt» die ganze Welt.

Es liegt das sehr Merkwürdige vor: Das ist der Weg, auf dem die Erkenntnistheorie von der äußeren materiellen Welt zum mensch­lichen Geist vordringen will. Aber was ist eigentlich in dieser Er­kenntnistheorie? Es ist kurios, wenn man draußen bei den Dingen bleibt, die Töne und Farben haben - die Erkenntnistheorie nennt es naiven Realismus, den die ungebildeten Leute haben -, dann hat man wenigstens eine tönende und farbige Welt. Aber jetzt führt man diese Welt durch die Erkenntnistheorie zum Beispiel an das Auge heran. Jetzt hat man das Bild auf der Netzhaut, drinnen hat man dann nur die Fortpflanzung des Bildes in den Vorgängen auf den Sehnerv; im Großhirn ist nichts von der äußeren Welt, aber das Innere zaubert wieder aus den Schwingungen die ganze Welt heraus. Man hat dabei das Gefühl: Es ist schon der Münchhausen, der sich an seinem eigenen Haarschopf heraufzieht! Erst wird alles weggeschafft, dann hat man nichts mehr als Gehirnvibrationen, und nachher schafft wieder die Seele die Außenwelt, die man erst weggeschafft hat wie Münch­hausen: Man faßt sich beim eigenen Haarschopf und hebt sich in die Höhe. Aber das ist gründliche philosophische Wissenschaft, und wer das nicht hat, der steht nicht auf der Höhe der heutigen Erkenntnis!

170

Es ist eigentümlich: Man versucht, die ganze mannigfaltige Welt bis in den Menschen hinein zu verfolgen. Was hat man zuletzt? Die Vorgänge in der Großhirnrinde sind nämlich gar nicht so kompliziert wie die Vorgänge im Sehnerv, sondern sie sind die einfachsten. Wenn man untersucht, wie die Welt im Menschen ist, so kommt man zu etwas höchst Einfachem. Man sucht den Geist, aber man kommt doch nur zu einem Geist, der die Welt träumt. Da muß man einen Sprung machen, denn es ist bisher noch keinem gelungen, den Geist heraus­zudestillieren. Auf der Suche nach dem Geist kommt man zuerst zu den Gehirnvibrationen, dann muß man etwas machen, was nicht ist. Das ist der Weg, den die Wissenschaft genommen hat, um von der äußeren Sinneswelt hinein zum Geist zu kommen.

Auf der Erde haben wir eine Mannigfaltigkeit von Lebensverhältnissen, von Lebenseinflüssen, eine große Mannigfaltigkeit, vor der wir ehrfurchtsvoll erstaunen. Wenn wir die Verschiedenheit der Men­schen über die Erde hin betrachten - mögen uns die einzelnen menschlichen Charaktere sympathisch oder unsympathisch anmuten, darauf kommt es nicht an -, und wenn wir bedenken, was da an Differenziertheit der Menschen herauskommt, so ist es im Grunde genommen so mannigfaltig, wie die Sinneswelt draußen im Verhältnis zum Menschen ist. In jener Vorzeit, als die «Kinder-Rindviecher» gelebt haben, da haben die Menschen versucht, diese Mannigfaltig­keit der Erde zu begreifen, indem sie hinaufgestiegen sind zum Himmel, indem sie vom Sinnlichen zum Geistigen hinaufgestiegen sind. Das tun sie nicht mehr. Indem man aufsteigt von der mannigfaltigen Erde, immer weiter und weiter, geht es einem so, wie wenn man von der äußeren Sinneswelt durch das Auge und das Gehirn zum menschlichen Geist kommt: Man kommt zu dem, was der Koperikanismus aus dem großen geistigen Kosmos vorstellt. Geradeso wie die physio­logische Erkenntnistheorie zu der Methode gegriffen hat, in den Vibrationen des Gehirns das Brett aufzurichten, um von der Außen­welt nicht zur Menschenseele zu kommen, geradeso verschlägt der Koperikanismus geistig die Welt, eben gegen die geistige Welt hin.

Wenn man den Wert einer Weltanschauung erkennen will, muß man den Gesichtspunkt wissen, von dem aus diese Weltanschauung

171

da ist. Der Gesichtspunkt des Kopernikanismus ist nicht der, einmal das Richtige an die Stelle des Falschen gestellt zu haben, sondern der: die Welt mit Brettern zu verschlagen, damit der Mensch innerhalb dieser irdischen Bretterbude seine Bewußtseinsseele ausbilde. Das ist es, worauf es ankommt. Diese Dinge muß man mit kühlem Blut und Energie anschauen. Man muß zuerst bei sich das erschüttern können, worauf die Bequemlinge der heutigen Weltanschauungen so fest­zustehen glauben. Solange man es nicht wird erschüttern können, so­lange man nicht wird einsehen können, daß eigentlich durch den Koperikanismus die Welt mit Brettern verschlagen ist, so lange wird man nicht dazukommen, ein Verhältnis zur Geisteswissenschaft zu gewinnen. Denn diese Geisteswissenschaft hat mancherlei notwendig.

Man stelle sich nur einmal vor, was, von der Erde abgesehen, der Kosmos für die bloße Kopernikanische Weltanschauung ist: ein Rechenexempel! Für die Geisteswissenschaft kann er kein Rechenexempel sein, sondern muß er etwas sein, was sich eben dem geistigen Erkennen darbietet. Warum haben wir eine Geologie, die da glaubt, daß sich die Erde nur durch die rein mineralische Welt entwickelt habe? Weil die koperikanische Weltanschauung selbstverständlich die heutige materialistische Geologie herauf bringen mußte! Denn die hat nichts in sich, was zeigen könnte, wie vom Kosmos oder vom Geistigen herein die Erde als ein durchseeltes, durchgeistigtes Wesen aufzufassen wäre. Ein koperikanisch gedachtes Weltall könnte nur eine tote Erde sein! Eine belebte, durchseelte und durchgeistigte Erde muß von einem andern Kosmos aus vorgestellt werden, wirklich von einem andern Kosmos aus, als der kopernikanische ist. Da kann man natürlich nur immer einzelne Züge des Erdenwesens angeben, wie es sich ausnimmt, wenn es vom Kosmos aus angeschaut wird.

Ist das eine ganz irreale Vorstellung: vom Kosmos aus das Erden­wesen vorzustellen? Es ist keine irreale Vorstellung, es ist eine sehr reale Vorstellung, eine Vorstellung, die zum Beispiel einmal Herman Grimm vorgeschwebt hat; aber er hat sich gleich hinterher ent­schuldigt, als er diese Vorstellung hingeschrieben hat. In einem Auf­satz aus dem Jahre 1858 sagt er, man könnte sich vorstellen aber er bemerkt dazu sogleich: «Ich stelle hier keinen Glaubensartikel auf,

172

es ist nur eine Phantasie» -, daß die Seele des Menschen, wenn sie vom Leibe befreit ist, frei im Kosmos sich um die Erde herumbewegte und dann die Erde von außerhalb in dieser freien Bewegung betrachten würde; da erschiene das, was auf der Erde vorgeht, dem Menschen in einem ganz andern Lichte, meint Herman Grimm. Der Mensch würde alle Ereignisse von einem andern Gesichtspunkte aus kennenlernen. Er würde zum Beispiel in die menschlichen Herzen hineinschauen «wie in einen gläsernen Bienenkorb». Die im mensch­lichen Herzen entstehenden Gedanken würden wie einem gläsernen Bienenkorbe entspringen! - Das ist ein schönes Bild. - Und dann stelle man sich weiter vor: Dieser Mensch, der eine Zeitlang die Erde umschwebt hat, sie von außen angeschaut hat, käme nun dazu, sich wieder auf der Erde zu verkörpern. Er hätte Vater und Mutter, hätte Patriam und alles, was es auf der Erde gibt, und müßte nun alles vergessen, was er von einem andern Standpunkte aus erlebt hat. Und wenn er etwa Geschichtsschreiber im heutigen Sinne wäre - Herman Grimm schildert hier subjektiv -, so könnte er nicht anders, als jenes andere vergessen, da man mit dem andern Vorstellen nicht Geschichte schreiben kann.

Dies ist eine Vorstellung, die sehr stark an die Wahrheit heran­kommt. Denn es ist durchaus richtig, daß die Menschenseele zwischen Tod und neuer Geburt wie schwebend ist um die Erde herum, aber wie ich es oft geschildert habe - durch die karmischen Verbindungen bedingt, auf die Erde hinunterschaut. Dann aber hat die Seele durch­aus das Gefühl: Diese Erde ist ein beseelter und durchgeistigter Organismus, und das Vorurteil hört auf, als wenn sie nur etwas Unbeseel­tes, nur etwas Geologisches wäre. Und dann wird die Erde recht differenziert, dann wird sie für das Anschauen zwischen Tod und neuer Geburt so differenziert, daß in der Tat der Orient zum Beispiel anders ausschaut als der amerikanische Okzident. Mit den Toten läßt sich nicht so über die Erde reden, wie man mit Geologen über sie redet; denn die geologischen Vorstellungen verstehen die Toten nicht. Aber sie wissen: Wenn aus dem Weltenraume herab der Orient, von Asien bis herüber tief in Rußland hinein, angeschaut wird, so erscheint die Erde wie von einem bläulichen Schein belegt, bläulich,

173

bläulich-violettlich; so ist die Erde auf dieser Seite aus dem Welten-raume gesehen. Kommt man nach der westlichen Halbkugel, schaut man sie an, wo sie amerikanisch ist, so erscheint sie mehr oder weniger in brennendem Rot. Da haben Sie eine Polarität der Erde, aus dem Kosmos angeschaut. Das kann die Kopernikanische Weltanschauung von sich aus selbstverständlich nicht geben; aber es ist ein anderes Anschauen von einem andern Gesichtspunkte aus. Und demjenigen, der diesen Gesichtspunkt hat, wird jetzt begreiflich: Diese Erde, die­ser beseelte Erdenorganismus zeigt sich nach außen hin anders in seiner östlichen Hälfte als in seiner westlichen. In seiner östlichen hat er seine blaue Überdeckung, in seiner westlichen hat er etwas wie ein Auflodern seines Inneren nach außen hin, daher das rötlich Brennende nach außen hin. - Da haben Sie eines der Beispiele, wie sich der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt nach dem richten kann, was er dann erkennen lernt. Er lernt die Konfiguration der Erde erkennen, das verschiedene Aussehen der Erde nach dem Kosmos und nach dem Geistigen hinaus. Er lernt erkennen: Sie ist nach der einen Seite bläulich-violettlich, nach der andern brennend-rot. Und je nach sei­nem geistigen Bedürfnis, das er aus seinem Karma heraus entwickeln wird, ist das für ihn in bezug darauf bestimmend, wo er sich wieder verkörpern will. Natürlich muß man sich die Dinge viel komplizierter vorstellen, als ich es jetzt gesagt habe. Aber aus solchen Verhältnissen heraus entwickelt der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt die Kräfte, die ihn dann dahin bringen, in eine bestimmte vererbte Kindesleiblichkeit hinein sich zu verkörpern.

Das sind nur zwei Farbenbestimmungen, die ich angegeben habe. Es sind natürlich außer Farben noch andere Bestimmungen, viele andere. Ich will vorläufig nur erwähnen, zwischen dem Osten und dem Westen, in der Mitte, ist die Erde mehr grünlich, nach außen hin gesehen, für unsere Gegenden zum Beispiel grünlich. So daß in der Tat damit schon eine Dreigliedrigkeit gegeben ist, die wichtige Auf­schlüsse geben kann über die Art und Weise, wie der Mensch das, was er zwischen Tod und neuer Geburt schaut, für sich bestimmend machen kann, um da oder dort auf der Erde zu erscheinen.

Wenn man dies berücksichtigt, wird man allmählich die

174

Vorstellung bekommen, daß in dem Verhältnis zwischen dem hier im physischen Leibe verkörperten Menschen und zwischen dem ent­körperten Menschen gewisse Dinge mitspielen, die meistens gar nicht in Erwägung gezogen werden. Wenn wir in ein fremdes Land gehen und die Leute verstehen wollen, müssen wir uns ihre Sprache an­eignen. Auch wenn wir mit den Toten in Verständigung kommen wollen, müssen wir uns allmählich die Sprache der Toten aneignen. Die ist aber die Sprache der Geisteswissenschaft zugleich, denn diese Sprache sprechen alle sogenannten Lebenden und alle sogenannten Toten. Sie ist das, was von drüben herüber- und von hier hinüberreicht. Aber besonders wichtig ist es, nicht bloß abstrakte Vor­stellungen, sondern Bilder vom Weltenall sich anzueignen. Wir bekommen ein Bild von der Erde, wenn wir uns vorstellen: eine im Weltenraume schwebende Kugel, die von der einen Seite bläulich­-violettlich glimmt, nach der andern Seite rötlich-gelblich brennt, sprüht; und dazwischen ist ein grüner Gürtel. Bildliche Vorstellungen tragen den Menschen allmählich hinüber in die geistige Welt. Darauf kommt es an. Man ist natürlich genötigt, solche bildliche Vorstellun­gen hinzustellen, wenn man im Ernste von den geistigen Welten spricht, und es ist weiter nötig, daß nicht nur geglaubt werde, es handle sich bei solchen bildlichen Vorstellungen um irgendwelche Erdichtungen, sondern man ist darauf angewiesen, daß etwas daraus gemacht werde. - Fassen wir noch einmal ins Auge: die bläulich­violettlich glimmende Osterde, die rötlich-gelblich sprühende Westerde. Aber da kommen noch verschiedene Differenzierungen hinein. Wenn der Tote in unserem gegenwärtigen Zeitenzyklus gewisse Punkte betrachtet, dann bekommt er von der Stätte aus, die hier auf der Erde dadurch signiert ist, daß es Palästina, daß es Jerusalem ist, mitten aus dem Bläulich-Violettlichen heraus etwas von goldigem Gebilde, von goldigem Kristallgebilde zu schauen, das sich dann be­lebt: das ist Jerusalem, vom Geiste aus gesehen! Das ist das, was auch in der Apokalypse - indem ich von Imaginationen spreche - als «himmlisches Jerusalem» hineinspielt. Das sind keine ausgedachten Dinge, das sind Dinge, die geschaut werden können. Geistig betrachtet, war es mit dem Mysterium von Golgatha so, wie man es bei

175

der physischen Betrachtung erleben kann, wenn heute der Astronom sein Fernrohr in den Weltenraum hinausrichtet und dann schaut, was ihn in Verwunderung versetzt, wie zum Beispiel das Aufleuchten von Sternen. Geistig, vom Weltenall aus betrachtet, war das Ereignis von Golgatha das Aufleuchten eines Goldsternes in der blauen Erdenaura der Osthälfte der Erde. Da haben Sie die Imagination für das, was ich vorgestern am Schlusse entwickelt habe. Es handelt sich wirklich darum, daß man durch solche Imaginationen sich wiederum Vor­stellungen vom Weltenall verschafft, welche die Menschenseele in den Geist dieses Weltenalls fühiend hineinstellen.

Versuchen Sie mit einem Hingestorbenen zu denken die in Gold-glanz sich aufbauende Kristallgestalt des himmlischen Jerusalems innerhalb der blau-violetten Erdenaura, so wird das Sie nahebringen; denn das ist etwas, was zu den Imaginationen gehört, wohinein der Tote stirbt: Ex Deo nascimur In Christo morimur!

Es gibt ein Mittel, wie man sich von der geistigen Wirklichkeit abschließen kann, und es gibt eines, wie man sich ihr nähern kann. Abschließen kann man sich von der geistigen Wirklichkeit, indem man versucht, die Wirklichkeit zu errechnen. Zwar ist die Mathematik noch Geist, sogar reiner Geist; aber in ihrer Anwendung auf die physische Wirklichkeit ist sie das Mittel, um sich vom Geistigen ab­zuschließen. Soviel Sie errechnen, soviel schließen Sie sich vom Geiste ab. Kant hat einmal gesagt: Es ist so viel Wissenschaft in der Welt, als Mathematik in ihr ist. Aber man könnte von dem andern Stand­punkte aus, der ebenso berechtigt ist, auch sagen: Es ist so viel Finsternis in der Welt, als es den Menschen gelungen ist, von der Welt zu errechnen. Und man nähert sich dem geistigen Leben, wenn man von der äußeren Anschauung, besonders von den abstrakten Vor­stellungen, immer mehr und mehr zu den Imaginationen, zu den Bild­vorstellungen vordringt. Kopernikus hat die Menschen dazu ge­bracht, das Welteinll zu errechnen. Die entgegengesetzte Anschauung muß die Menschen dazu bringen, sich das Weltenall wieder zu verbild­lichen, ein Weltenall zu denken, mit dem sich die Menschenseele identifizieren kann, so daß die Erde erscheint wie der ins Weltenall hineinleuchtende Organismus: blau-violett, mit dem goldstrahienden

176

himmlischen Jerusalem auf der einen Seite, rötlich-gelb sprühend nach der andern Seite.

Woher stammt das Blauviolette auf der einen Seite der Erdenaura? Wenn man diese Seite der Erdenkugel sieht, so verschwindet das Physische der Erde, von außen gesehen; es wird mehr die Lichtaura durchsichtig, und das Dunkle der Erde verschwindet. Das macht das Blau, was da durchschaut. Sie können sich die Erscheinung aus der Goetheschen Farbenlehre erklären. Weil aber das Innere der Erde heraufsprüht aus der Westhälfte, so heraufsprüht, daß da wahr ist, was ich vorgestern geschildert habe: In Amerika ist der Mensch vom Unterirdischen bestimmt, von dem, was unter der Erde ist, deshalb strahlt und sprüht auch das Innere der Erde wie ein rot-gelber Schim­mer, wie ein rötlich-gelbes Sprühfeuer in das Weltenall hinaus. Dies soll nur ein in ganz schwachen Umrissen entworfenes Bild sein. Es soll Ihnen aber zeigen, wie es doch möglich ist, nicht bloß in all­gemeinen, abstrakten Gedanken heute schon über die Welt zu reden, in der wir zwischen Tod und neuer Geburt leben, sondern in sehr, sehr konkreten Vorstellungen. Schließlich ist das alles dazu geeignet, unsere Seele zu präparieren, um Verbindung zu bekommen mit der geistigen Welt, Verbindung zu bekommen mit den höheren Hier­archien, Verbindung zu bekommen mit jener Welt, in welcher der Mensch lebt zwischen Tod und neuer Geburt. Doch davon will ich noch morgen besonders sprechen. Heute möchte ich nur noch eines erwähnen.

Der jetzige Zeitraum der Menschheitsentwickelung, dieser fünfte nachatlantische, der zur Ausbildung der Bewußtseinsseele da ist, ent­hält gar mancherlei Geheimnisse. Eines derselben wird besonders gut gehütet von denjenigen, die da glauben, daß man der heutigen Menschheit solche Wahrheiten noch nicht mitteilen dürfe. Das ist wieder etwas schwierig. Aber da auf der ganzen weiten Welt niemand weiter da ist, um die Geneigtheit zu haben, solche Dinge aufzu­nehmen, so müssen Sie sich schon herbeilassen, solche Dinge an­zuerkennen. Im Laufe dieses, mit dem 15. Jahrhundert unserer Zeit­rechnung beginnenden Kulturzeitraumes begann eine merkwürdige Sehnsucht der Menschen sich geltend zu machen, die zunächst im

177

Unterbewußtsein lebt, aber immer mehr und mehr ins Bewußtsein heraufgeholt werden muß. Diese Sehnsucht rührt von etwas ganz Bestimmtem her.

Ich habe öfter gesagt: Der Mensch ist ein zwiespältiges Wesen. Er ist ein mehrspältiges Wesen, besonders aber ein zwiespältiges und besteht als solches aus dem Haupte und dem übrigen Organismus. Das Haupt, sagte ich, ist besonders das, worauf man die Darwinsche Theorie anwenden sollte, denn das Haupt ist das, was auf Tierformen zurückführt. Während der alten Mondenzeit hatte der Mensch Tierformen, aber nicht die der jetzigen Tierheit, sondern noch eine gei­stigere, ätherische Tierform. Die hat sich zum menschlichen Kopf verhärtet. Und jetzt, wo sich die Tiere auf der Erde so entwickeln, wie sie sind, da entwickelt sich der Mensch nicht unter denselben Be­dingungen, wie sie einmal für sein Haupt zutrafen, denn das hat er ererbt, sondern nach den Bedingungen seines übrigen Organismus. Aber der stammt nicht von den Tieren ab. Das Haupt stammt von den Tieren ab, aber auch nur von den ätherischen Tieren. Wir tragen daher in unserem Haupt eine Tierheit, aber eine ätherische Tierheit. Das kam ins Unbewußte der Menschen im fünften nachatlantischen Zeitraume hinein. Immer mehr und mehr spürten sie: ist etwas vom Tier im Menschen -, aber sie konnten es sich nicht mehr geistig vorstellen. Sie setzten sich in den Kopf, daß sich der Mensch «tie­risch» fühlen müsse, was dann gipfelte in der Darwinschen Abstam­mungstheorie des Menschen vom Tier. Aber dies kam nicht bloß in der Darwinschen Abstammungslehre zum Ausdruck. Das Tier nimmt die Dinge anders wahr als der Mensch; es steht mit den Dingen in einer innigeren Verbindung als der Mensch. Der Mensch ist gerade dadurch dieses vorzügliche Wesen auf der Erde, daß er sich von den Dingen abtrennt, um dann erst wieder von sich aus die Brücke zu den Dingen schlagen zu müssen. Das Tier erlebt die Außenwelt viel mehr in sich als der Mensch. Wenn es philosophisch veranlagt wäre, würde es nicht von Erkenntnisgrenzen sprechen, weil es für das Tier keine Erkenntnisgrenzen in dem Sinne gibt, wie der Mensch davon redet; die sind erst gerade durch die höhere Organisation des Menschen da. Das Tier fühlt gewissermaßen durch seine Gruppenseele das ganze

178

Weltenall in sich, es hat keine Erkenntnisgrenzen, kennt nichts da­von. - Das fing man an, immer mehr und mehr zu fühlen: Man trägt ein Tier in sich. Geistig, übersinnlich, ätherisch wollte man es nicht vorstellen; physisch dachte man den Menschen mit den Tieren ver­wandt. Nun wollte man auch eine Erkenntnis unterbewußt haben, wie das Tier. Man konnte aber nur beweisen, daß man diese nicht haben konnte. Das Tier lebt mit dem «Ding an sich». Dem Menschen wird das «Ding an sich» unbekannt, wenn er sagt: Ich möchte eigentlich ein Tier sein, ich möchte es so gut haben, wie das Tier, aber ich kann es nicht so gut haben. - Ein «Ding an sich» zu konstatieren, welches uns Erkenntnisgrenzen entgegensetzt, das geht hervor aus der Sehn­sucht des Menschen, sich tierisch zu fühlen und doch einzusehen, daß man nicht eine solche Erkenntnis haben kann wie das Tier. Das ist das Geheimnis des Kantianismus! Es hängt innig zusammen mit der Bewegung der modernen Menschheit zum Bewußtsein von der Tierheit, was auch von den Erkenntnisgrerizen gesagt werden kann. Die Alten haben gewußt, daß das Tier keine Erkenntnisgrenzen hat; daher empfanden sie es als ein Glück, die Sprache der Tiere zum Beispiel zu verstehen. Sie kennen alle die entsprechende Sage.

Das ist das eine, was die Alten gewußt haben: daß das Tier keine Erkenntnisgrenzen in dem Sinne habe, wie sie der Mensch in der modernen Zeit kennt. Aber noch etwas anderes wußten sie: daß die­jenigen Wesen, die in die Hierarchie der Angeloi gehören, freie Wesen sind, Wesen mit Freiheit des Willens sind. Und sie wußten, daß der Mensch auf dem Wege zum Engel ist. Wenn die Erde von der Jupiterzeit abgelöst sein wird, dann wird der Mensch auf der Stufe der Engel stehen. Er ist jetzt auf dem Wege zur Freiheit. Die Freiheit entwickelt sich in ihm. Aber was bleibt der Zeit übrig, die allmählich mit der Entwickelung der Bewußtseinsseele herauf kommt, wenn die Menschheit die Entwickelung zur Stufe der Angeloi ablehnt? Es bleibt übrig der Gedanke: Freiheit ist eine Illusion! Der Mensch unterliegt in bezug auf seine Tätigkeit der Naturnotwendigkeit. So viel Erkenntnisgrenzen aufgerichtet werden, so viel wird von der Ent­wickelung zur Freiheit abgelehnt. Die hängt innig zusammen mit dem, was dann, nur in gröberer Weise, in der Statuierung der Abstammung

179

des Menschen von den Tieren herausgekommen ist, während er in Wahrheit eine so komplizierte Abstammung hat, wie ich es aus­einandergesetzt habe.

Ich habe Ihnen heute einige schwierigere Vorstellungen zugemutet. Aber sie sind nötig gewesen, und wir werden dann morgen nament­lich über den Zusammenhang des gegenwärtigen irdischen Lebens im physischen Leibe mit dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt von einem gewissen Gesichtspunkte aus sprechen können. Die Vor­stellungen werden dann nicht so schwierig sein. Was Sie aber heute so gut waren anzuhören mit Bezug auf schwierigere Vorstellungen, das wird Ihnen morgen in bezug auf andere Vorstellungen helfen.

180

ZEHNTER VORTRAG Berlin, 2. April 1918

Mit den Vorstellungen, die ich gestern hier entwickelte, wollte ich namentlich darauf hinweisen, daß wir innerhalb der Menschheits­entwickelung nötig haben, gewisse neue, noch nicht, wenigstens für den gegenwärtigen Zeitenzyklus noch nicht vorhandene Vorstellungen der Geisteskultur uns einzuprägen. Das ist etwas, was mit zur Haupt­sache gehört, daß gewisse, jetzt nicht vorhandene Vorstellungen, oder wenigstens nicht gangbare Vorstellungen, wiederum in das mensch­liche Geistesleben hineinkommen. Wenn man das Geistesleben der neueren Zeit in seinen verschiedensten Verzweigungen verfolgt, so ist ja das Charakteristische das, daß trotz alles Hochmutes, trotz alles Dünkels, der in diesem Geistesleben zuweilen zutage tritt, dieses Geistesleben nicht mit neuen Vorstellungen aufgetreten ist. Wenn auch allerlei Weltanschauungen aufgetreten sind auf ethischem, auf künstlerischem, auch auf philosophischem oder anderem wissenschaft­lichem Gebiete: sie alle wirtschaften mit alten, seit langem geltenden Vorstellungen, die dann wie in einem Kaleidoskop durcheinandergeworfen werden. Aber neue Vorstellungen brauchen wir. Gerade solche neuen Vorstellungen, wie sie entstehen müssen, fehlen. Des­halb können zum Beispiel gewisse alte Wahrheiten heute nicht ver­standen werden, Wahrheiten, die bei den Alten aufgetreten sind und die geschichtlich überliefert sind, Vorstellungen, wie zum Beispiel solche bei Plato vorkommen oder bei Aristoteles, als dem Spätesten in dieser Hinsicht. In früheren Zeiten traten sie noch bedeutsamer auf, aber heute werden sie entweder gar nicht verstanden oder abgelehnt, aber abgelehnt auch nur aus dem Grunde, weil sie nicht verstanden werden. Ich will Ihnen zum Beispiel eine solche Vorstellung vor­führen.

Wenn heute der Mensch etwas sieht, so denkt er: Draußen ist der Gegenstand, der sendet ihm das Licht zu; das Licht kommt in das Auge, und da wird auf jene, man kann nicht sagen, geheimnisvolle, aber passive Weise das erzeugt, was die Seele als Empfindung der

181

Farbe zum Beispiel erlebt. Bei Plato findet sich noch eine andere Vorstellung. Da tritt etwas auf, was man nicht anders verstehen kann, wenn man es rein wörtlich nimmt, als ob das Auge zum Gegenstande hin etwas fortschickt, was den Gegenstand in einer geheimnisvollen Weise ergreift; wie wenn das Auge einen Fühler ausstreckte, der zum Gegenstand hingreift, das kommt bei Plato vor. Damit kann selbst­verständlich die neuere naturwissenschaftliche Anschauung nichts an­fangen, kann nichts davon verstehen. Das ist eine solche Vorstellung, die Sie verzeichnet finden können, wenn Sie sich die gebräuchlichen Lehrbücher oder auch die gelehrten Bücher der Geschichte der Philo­sophie nehmen. Aber Sie können mit solchen Büchern auch nicht viel anfangen, weil solche Vorstellungen auf etwas beruhen, was in alten Zeiten vorhanden war: ein gewisses atavistisches Hellsehen oder Hellfühlen, das verglommen ist, das aber in unserer Zeit wieder auf eine andere Weise gefunden werden muß. Es sind seit dem Altertum eben Vorstellungen verlorengegangen, die wieder erobert werden müssen.

Diese Vorstellungen sind namentlich dadurch verlorengegangen, daß über Europa, vor allem über Westeuropa dasjenige sich ergießen mußte, was man lateinische, römische Kultur nennen kann. Das Stu­dium dieser lateinischen, römischen Kultur in ihrer Ausbreitung über Europa würde manches sehr Lichtvolle ergeben, wenn man sie richtig betrachten würde. Man muß sich darüber klar sein, daß dem Blute nach von dem, was man die alten Römer nennt, heute nichts mehr in Italien vorhanden ist. Also die gegenwärtigen Italiener, sie mögen zwar für manches in unserer Gegenwart verantwortlich sein, aber für das, was ich jetzt zu sagen habe, sind sie allerdings nicht verantwort­lich. Was da vom Römertum ausgestrahlt ist, das ist auf eine kulturelle Weise bloß in Europa ausgestrahlt, aber es war für gewisse fundamen­tale, grundlegende Begriffe wirklich versengend, verbrennend, für Begriffe, die gleichsam wiederum aus ihrem Grabe erlöst werden müssen. Man braucht sich nur an eine solche Tatsache zu erinnern wie die, daß mit der Zerstörung jener Stadt, die in der letzten Zeit vor Christi Geburt vernichtet worden ist, Alesia, im heutigen De­partement Côte d’Or in Frankreich, ein Stück alter keltisch-gallischer

182

Kultur von den Römern ganz ausgerottet worden ist. An dieser Stelle des alten zerstörten Alesia hat Napoleon der Dritte ein Denkmal für Vercingetorix setzen lassen! Cäsar war ein Verichter dessen, was als ein Mittelpunkt alter keltisch-druidischer Kultur vorhanden war. Es war eine riesige Lehranstalt, wie es heute vielleicht genannt würde. Zehntausende von Europäern studierten dort in der Art, wie man damals die Wissenschaft studierte. Das alles wurde ausgerottet, und an seine Stelle setzte sich das, was als Römertum sich ausbreitete. - Das ist nur eine historische Bemerkung, die zeigen soll, daß auch in Europa ältere Vorstellungen vorhanden waren in alten Kulturstätten, die ausgerottet worden sind.

Ich will Sie heute vorzugsweise auf zwei Begriffe aufmerksam machen, die der Wissenschaft und dem allgemeinen Leben einverleibt werden müssen, damit ein besseres Verständnis der Welt möglich werde. Das eine ist dies, was eine Vorstellung gibt, wie eigentlich die Wahrnehmung der Welt durch die Sinne zustande kommt. Das ge­schieht nämlich auf folgende Weise.

Wenn wir einem farbigen Gegenstande gegenüberstehen, so wirkt dieser gewiß auf uns. Aber was da zwischen dem farbigen Gegenstande und dem menschlichen Organismus sich abspielt, ist ein Zer­störungsprozeß im menschlichen Organismus - ich habe dies öfter betont -, ist in gewisser Weise ein Tod im Kleinen, und das Nervensystem ist das Organ für fortdauernde Zerstörungsprozesse. Diese durch die Einwirkung der Außenwelt auf unseren eigenen Organis­mus fortwährend vorkommenden Zerstörungen werden aber wieder wettgemacht durch die Einwirkung des Blutes. Es findet im mensch­lichen Organismus fortwährend ein Wechselprozeß statt zwischen Blut und Nerv. Dieser Wechselprozeß besteht darin, daß das Blut einen belebenden Prozeß abgibt, der Nerv eine Art Todesprozeß, eine Art Zerstörendes. Wenn wir nun einem Gegenstande, zum Bei­spiel einem farbigen, gegenüberstehen, der von der Außenwelt auf uns wirkt, dann findet in unserem nervösen Apparate ein Zerstörungs­prozeß statt. Zerstört wird sowohl etwas im physischen Leibe als auch im Ätherleibe. Dadurch, daß ein in einer ganz bestimmten Bahn lau­fender Zerstörungsprozeß bewirkt wird, wird eine Art Kanal in unse­rem

183

Organismus ausgebohrt. Also wenn wir etwas sehen, wird vom Auge zur Gehirnrinde ein Kanal ausgebohrt. Da findet nicht etwas statt, was sich von der Gehirnrinde zum Auge auflösen soll, sondern im Gegenteil: Ein Loch wird gebohrt, und durch dieses Loch schlüpft der astralische Leib hindurch, um das Ding sehen zu können. Das hat Plato noch gesehen. Das konnte durch das atavistische Hellsehen noch wahrgenommen werden, und das muß man sich wieder er­ringen, indem man im neueren Hellsehen den menschlichen Organis­mus wirklich kennenlernt, indem man diesen Kanal kennenlernt, der entsteht, dieses Loch, das sich einen Tunnel bohrt vom Auge aus zur Gehirnrinde, durch welchen sich das Ich mit dem, was von außen wirkt, vereinigt. Lernen muß die Menschheit, nicht solche Vor­stellungen zu bilden, wie sie in der heutigen Erkenntnistheorie oder Physiologie üblich sind, sondern lernen muß die Menschheit, zu sagen: Vom Auge zur Gehirnrinde wird ein Kanal, ein Tunnel ge­bohrt, und durch diesen ein Tor eröffnet, durch das der astralische Leib und das Ich mit der Außenwelt in Verbindung treten. Das ist ein Begriff, den die Gegenwart gar nicht hat. Daher kennt sie auch nicht, was als physiologische Tatsachen daraus folgt. Heute lernen die Stu­denten an den Universitäten Physiologie, und lernen darin das ganz genau, was ich jetzt als gebräuchliche Vorstellungen auseinander­gesetzt habe; nur lernen sie nicht, wie sich die Dinge in Wirklichkeit verhalten, sondern sie lernen das andere, das keinen Sinn hat. Das ist eine solche Vorstellung.

Eine andere Vorstellung finden Sie heute sehr häufig, wenn Sie innerhalb jener Sphäre, die man als die der heutigen Gelehrsamkeit selbstverständlich mit vollem Recht bezeichnet, auf den folgenden Begriff stoßen. Da wird geschildert - und es kann heute nicht anders sein -: Der Mensch wird als unentwickeltes Wesen geboren; dann allmählich entwickeln sich seine Seele und sein Geist, indem so allmählich durch die kompliziertere und feiner werdende Organisation des Leibes Seele und Geist zum Vorschein kommen. Das können Sie bei den Psychologen, überhaupt bei den Gelehrten der Gegenwart finden, auch in populären Büchern, überall in die populären Bücher hineingetragen. Es erscheint dies auch den Menschen so. Aber was so

184

erscheint, ist die Maja. In vieler Beziehung ist das, worauf man zu­nächst kommt, das Gegenteil der Wahrheit. Und so ist jener Begriff das Gegenteil dessen, was wahr ist. Statt dessen müßte man nämlich sagen ich brauche nur an das erinnern, was in der «Erziehung des Kindes» dargestellt ist, wo dasselbe, was ich jetzt auseinandersetzen will, nur etwas anders ausgedrückt ist -: Indem das Kind ganz jung ist, sind Seele und Geist eben noch seelisch und geistig, und indem es heranwächst, verwandeln sich Seele und Geist allmählich ins Materielle, ins Leibliche. Seele und Geist wird nach und nach leiblich; der Mensch wird nach und nach völlig ein Abbild von Seele und Geist. Es ist sehr wichtig, daß man diesen Begriff hat. Denn wenn man ihn hat, wird man von dem, was da zweibeinig auf dem Erdboden herum­läuft, nicht mehr bloß reden, daß es der Mensch sei; sondern man wird sich bewußt werden, daß es das Abbild des Menschen ist, daß der Mensch, wenn er auf übersinnliche Art geboren ist, allmählich mit dem Leibe zusammenwächst und sich im Leibe sein vollständiges Abbild schafft. Geist und Seele verschwinden in den Leib hinein, wer­den immer mehr weniger und weniger in ihrer Eigenart auftretend. Also gerade die umgekehrte Vorstellung gegenüber der sonst ge­bräuchlichen muß man sich aneignen. Man muß wissen, warum man eigentlich zum Beispiel zwanzig Jahre alt geworden ist: weil der Geist untergegangen ist in den Leib, weil der Geist sich verwandelt hat in den Leib, weil das, was Leib ist, ein äußeres Abbild des Geistes ist. Dann wird man auch begreifen, daß allmählich, indem man alt wird, die Rückverwandelung geschieht. Der Körper verkalkt, versalzt; der Geist aber wird wieder geistig-seelischer. Nur hat dann der Mensch nicht die Möglichkeit, ihn festzuhalten, weil er hier der physischen Welt gegenübersteht und sich durch den Leib äußern will. Was da immer selbständiger und selbständiger wird, das tritt erst nach dem Tode vollständig in Erscheinung. Also nicht, daß das Geistig-See­lische gegen das Alter zu abstumpft, im Gegenteil: es wird immer freier und freier. Natürlich wird der materialistische Denker, wenn er vor diesen Gedanken gestellt wird, sehr häufig einwenden, daß zum Beispiel selbst Kant, der ein sehr gescheiter Mensch gewesen ist, im Alter schwach geworden ist; da könne sich also doch das Geistig-

185

Seelische nicht frei gemacht haben. - Das wendet aber der materia­listische Denker nur ein, weil er das Geistig-Seelische, wie es schon in die geistige Welt allmählich hineingewachsen war, nicht beachten kann. Es wird schon für sehr viele Menschen eine harte Nuß zu knacken sein, daß sie nun sagen sollen: Indem die Menschen älter werden, werden sie nicht schwach oder gar schwachsinnig, sondern sie werden geistig-seelischer. Nur ist dann der Leib abgenutzt, und man kann nicht das Geistig-Seelische, das man ausgebildet hat, durch den Leib zur Offenbarung bringen. Das verhält sich schließlich damit ebenso wie mit einem Klavierspieler, der könnte ein immer besserer Spieler werden; wenn aber das Klavier abgenutzt ist, kann man nichts davon merken. Wenn Sie nur aus seinem Klavierspiel seine Fähig­keiten als Klavierspieler kennenlernen wollen, das Klavier aber ver­stimmt ist und abgerissene Saiten hat, so werden Sie nicht viel aus dem Spiel entnehmen können. So ist Kant, als er ein alter Mann und schwachsinnig war, für die geistige Welt nicht schwachsinnig, sondern glorios geworden.

So muß man also gewisse Vorstellungen geradezu umkehren, wenn man auf die Wirklichkeit kommt. Man muß schon recht Ernst machen mit der Meinung, daß man es in der Welt hier mit der Maja, mit der großen Täuschung zu tun hat, denn manche Begriffe muß man ge­radezu umkehren. Wenn man Ernst macht damit, daß man in der äußeren physischen Wirklichkeit der großen Täuschung gegenüber­steht, so wird man doch auch damit Ernst machen können, daß der äußere physische Mensch, wenn er siebzig Jahre alt ist und schwach ausschaut, seinen Geist schon woanders hat als auf dem physischen Plan. Die Hindernisse für das Verstehen der Geisteswissenschaft liegen vielfach darin, daß man nicht vermag, richtige Begriffe sich über das zu bilden, was auf dem gewöhnlichen physischen Plan vor sich geht. Man macht sich verkehrte Vorstellungen über das, was auf dem physischen Plan vorgeht, und die Folge ist, daß diese verkehrten Vor­stellungen einen abtrennen von der richtigen Welt, daß sie einen nicht zur richtigen Welt kommen lassen. Wird man sich solche Vorstellun­gen bilden wie die zweite, die ich angeführt habe, dann wird man auch nicht mehr der Erkenntnis sehr fern stehen, die nun von der Geistes-


186

Wissenschaft aus ihren Forschungen heraus für den Menschen unmittelbar nach dem Tode geltend gemacht werden muß.

Indem der Mensch durch die Geburt ins physische Leben eintritt, kommt er allmählich und immer mehr und mehr in ein Verhältnis zu seinem physischen Leibe. Wir haben jetzt für dieses Verhältnis eine richtige Vorstellung kennengelernt. Man erwähnt, weil eben zuviel auseinanderzusetzen ist, nicht immer, daß etwas ähnliches auch zwischen dem Tode und einer neuen Geburt stattfindet. Man kann auch für die Zeit zwischen Tod und neuer Geburt die Sache ähnlich darstellen. Man kann sagen: Der Mensch tritt allmählich in ein Verhältnis zu etwas ähnlichem, wie hier zu seinem physischen Leib. Unsere physische Leiblichkeit ist nicht bloß eine physische Leiblichkeit, sondern sie umfaßt, wie wir wissen, den physischen Leib, den ätherischen oder Bildekräfteleib und den astralischen Leib oder das äußerlich Seelische, den Seelenleib. Wie wir uns diese drei Schalen oder Hülsen für das physische Leben anzueignen haben, so haben wir uns auch für die Zeit zwischen dem Tode und einer nächsten Geburt solche Hülsen anzulegen, und zwar auch drei Hülsen, die ich nennen will, damit sie nicht mit anderem verwechselt werden: Seelenmensch, Seelenleben oder Lebensseele und Seelenselbst. Wie wir uns hier für die physische Welt den physischen Leib aneignen, so eignen wir uns zwischen Tod und neuer Geburt den Seelenmenschen an; wie wir uns hier den Ätherleib oder Bildekräfteleib aneignen, so eignen wir uns dann das Seelenleben oder die Lebensseele an, und wie wir uns für die Welt hier den astralischen Leib, den Seelenleib, aneignen, so eignen wir uns nach dem Tode die Individualseele oder das Seelenselbst an. Ich wähle diese Ausdrücke aus dem Grunde, damit man es nicht mit dem verwechselt, was sich in einer andern Weise der Mensch für die Jupiter-, Venus- und Vulkanzeit aneignen wird, was ähnlich ist; aber weil es auf einer andern Daseinsstufe liegt, muß es doch unterschieden werden. Aber auf Ausdrücke kommt es dabei nicht an. Es ist nur notwendig, daß wir ein wenig studieren, wie diese erwähnten Hüllen angeeignet werden. Wenn der Mensch in jenes Leben eingetreten ist, das zwischen dem Tode und einer neuen Geburt abläuft, so ist das zunächst Charakte-

187

ristische, daß er umgeben gefunden wird von einer Summe von Bildern. Diese Bilder stammen alle aus den Erlebnissen zwischen der letzten Geburt und dem letzten Tode oder auch aus früheren Zeiten. Aber wir wollen zunächst bei dem stehenbleiben, was im letzten Erdenleben vorhanden war. Es treten also zunächst die Bilder auf, die aus dem letzten Leben stammen; die sind in der Umgebung des Menschen zu finden. Es ist das Wesentliche, daß diese in der Umgebung des Toten sind. Das Merkwürdige ist, daß der Tote zunächst eine gewisse Schwierigkeit hat, das Bewußtsein zu entwickeln, daß diese Bilder die seinigen sind. Von dieser gesamten Bilderwelt, die ihn da umgibt, ist das, was in dem Buche «Theosophie» beschrieben ist als die Erlebnisse in der Seelenwelt, jenes Zurückgehen in Bildern, nur ein Teil. Es sind außer diesen Bildern andere vorhanden, und das Leben des Toten besteht darin, allmählich diese Bilder als zu ihm gehörig zu erkennen. Darin besteht das Wirken des Bewußtseins: diese Bilder als in der richtigen Weise zu ihm gehörig voll zu erkennen.

Man versteht, um was es sich hierbei handelt, nur dann vollkommen, wenn man sich bewußt wird, daß das Leben, welches man hier zwischen Geburt und Tod führt, ein gar reichlicheres ist als das bewußte Leben. Stellen Sie sich nur einmal vor: Sie leben in gewissen Verhältnissen, in einer Gemeinschaft, mit diesen oder jenen Menschen. Von dem, was da zwischen Ihnen vorgeht, ist das, was sich bewußt ab- spielt, eigentlich nur ein Teil. Fortwährend gehen Dinge vor. Sie müssen bedenken, daß ja das hiesige Leben so abläuft, daß man nur einen kleinen Teil dessen beachtet, was man erlebt. Nehmen Sie ein gewöhnliches Ereignis: Sie haben sich heute abend hier versammelt, jeder ist zu jedem von denen, die beisammen sind, in irgendein Verhältnis getreten. Aber wenn Sie sich richtig überlegen, wieviel Sie sich darüber zum Bewußtsein gebracht haben, so ist das sehr wenig. Denn indem Sie erst drei Meter von einem andern Menschen entfernt sind und dann auf ihn zugehen, bedeutet dieses Sich-aus-drei-Metern- Nähern eine ganze Summe von Gesichtseindrücken; Sie sehen das Gesicht immer anders, indem Sie näher kommen und so weiter. Es ist mit dem gewöhnlichen physischen Verstände gar nicht aus-

188

zudenken, was man eigentlich immer erlebt während des physischen Lebens. Davon ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt das, was man be­wußt erlebt. Das weitaus Bedeutendste bleibt unterbewußt.

Wenn Sie zum Beispiel einen Brief lesen, so werden Sie sich in der Regel des Inhaltes bewußt. In Ihrer Unterseele aber geht viel mehr vor; dort geht nicht nur das vor, daß Sie sich, ohne daß Sie es sich zum Bewußtsein bringen, doch immer etwas leise ärgern oder freuen über die schöne oder häßliche Handschrift, sondern es geht wirklich mit der Handschrift, mit jedem Zuge der Handschrift von dem Schrei­ber etwas in Sie über, was Sie mit Ihrem Oberbewußtsein nicht be­achten, was aber lebt wie ein das ganze Leben fortwährend durch­ziehender Traum. Deshalb können wir ja die Träume so schwer wirk­lich verstehen, weil in ihnen vieles von dem auftritt, was im Tagesbewußtsein gar nicht berücksichtigt wird. Nehmen Sie einmal an, hier sitze eine Dame und dort sitze eine andere. Wenn die eine nicht gerade aufmerksam gemacht wird, daß dort eine Dame sitzt und diese sich nicht genauer ansieht, so kann es vorkommen, daß die eine Dame die andere gar nicht beachtet, gar nicht sich irgendwie klarmacht, welche Geste die andere macht und was sie sonst tut. Aber in der Unterseele haftet es, und in die Träume kann gerade das eingehen, womit man sich viel weniger im Tagesbewußtsein beschäftigt hat. Das kommt gerade dann vor, wenn man im Tagesbewußtsein seine Individualität einer besonderen Sache zuwendet, wenn Sie zum Bei­spiel gedankenvoll auf der Straße gehen und ein Freund geht an Ihnen vorüber. Sie beachten ihn vielleicht gar nicht, aber Sie träumen von ihm, trotzdem Sie gar nicht wissen, daß er an Ihnen vorbeigegangen ist. Es geht eben sehr, sehr viel im Leben vor sich, und furchtbar wenig geht ins Tagesbewußtsein ein. Aber alles, was so furchtbar vieles im Leben des Menschen vorgeht, namentlich was sich auf See­lisches bezieht, was im Unterbewußten bleibt, das alles wird Bild um den Menschen herum. Indem Sie heute hierher gekommen sind und wieder weggehen werden, bleibt das Bild des ganzen Raumes mit Ihnen verbunden, allerdings mehr insofern, als das alles einen mehr seelischen Eindruck gemacht hat, und seelisch hat das keine festen Grenzen.

189

So verbindet sich unzähliges Bildhaftes mit dem menschlichen Leben. Das alles ist eingerollt - ich kann keinen andern Ausdruck dafür finden - in das Leben des Menschen. Sie tragen Millionen von Bildern eingerollt durch Ihr Leben. Und was nach dem Tode zunächst stattfindet, ist Entrollung der Bilder, so könnte man es nennen, Ent­rollung der Bilder, von Post-mortem-Imaginationen. Um den Men­schen herum bildet sich allmählich eine imaginative Welt; und darin besteht sein Bewußtsein, daß er sich in dieser imaginativen Welt erkennt.

Von etwas andern Gesichtspunkten aus ist das geschildert in den Wiener Vorträgen über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt; aber man muß die Sachen von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrachten. - Entrollung der Bilder: Man kann hier zum Ver­gleich heranziehen, wie wir sind, wenn wir kleine Kinder sind, eben geboren worden sind und einen noch etwas unkonfigurierten Leib haben. Manche Menschen - die nicht gerade Mütter der betreffenden Kinder sind sagen: Jedes kleine Kind sieht wie ein Frosch aus; es ist noch nicht ganz menschlich, aber es konfiguriert sich allmählich. - Gerade so, wie das Kind sich konfiguriert, wie das heranwächst, von dem wir sagen können: In uns haben wir es, wenn wir materiell leben -, so findet ein Wachsen des Lebens statt, das man nennen kann Entrollen der Bilder des Lebens. Denn in diesem Entrollen der Bilder gestaltet sich der Seelenmensch, das eine Glied des Menschen. Sie müssen sich durchaus vorstellen, daß das, was nach dem Tode ist, ausgebreitet ist, und daß in den Imaginationen zunächst der Seelenmensch heranwächst, der Bildermensch, die imaginative Geist-Leib­lichkeit, die sich da aufbaut.

Und hierbei ist es, wo man dem Toten auch wieder von der physi­schen Erde aus ungeheuer helfen kann, wenn man solche Vorstellun­gen, die zugleich Vorstellungen der Geisteswissenschaft sind, mit ihm durchnimmt, oder solche, wie wir sie gestern entwickelt haben von der blau-rötlichen Erde mit dem goldigen Jerusalem. Das sind Vorstellungen, nach denen der Tote lechzt, denn er lechzt nach richtenden und ordnenden Imaginationen. Damit hilft man ihm. Namentlich hilft man ihm, wenn man mit ihm durchnimmt, was man mit ihm zu­sammen erlebt hat; denn daran können sich die Bilder anschließen,

190

wenn sie sich entrollen wollen. Wenn man sich im Leben eigentlich nicht beachtete Dinge vorstellt und diese mit dem Toten durchnimmt, dann hat er davon besonders viel. Ich will zum Beispiel sagen, wenn Sie im Gedächtnis bewahren, wie er, während er noch lebte, durch die Tür gegangen ist, wenn er aus seinem Geschäft kam und zu Hause anlangte, wie Sie sich mit ihm begrüßt haben, also worin sich das See­lische in der bildhaften Weise ausdrückt. Es kann ja unendlich viel Liebevolles in diesen Dingen liegen, es kann natürlich auch anders sein. Dann werden Sie sich auch mit dem Toten in Gedanken zu­sammen treffen. - Ich habe in der verschiedensten Weise gezeigt, wie man diese Bilderwelt, in die der Tote sich entwickeln muß, worin sich sein Bewußtsein ausbreiten muß, mit seinen eigenen Vorstellungen mischen kann. Vorstellungen, die der Tote angestrebt hat, die er nicht voll erreichen konnte und die ihm etwas erklären, sie werden seine Bilderwelt. Da arbeitet man mit an der Formung seines Seelen-menschen.

Es sind natürlich bei dem Toten in der Zeit, die auf den Tod folgt, die andern Glieder schon ausgebildet: das Seelenleben oder die Lebensseele und auch das Seelenselbst. Aber gerade diese Glieder bilden sich immer mehr und immer bestimmter so aus, daß sie der Tote zuerst, unmittelbar nach dem Tode, wie etwas Zukünftiges empfindet, was er erst nach und nach heranentwickelt. Der Tote hat in dieser Be­ziehung die Empfindung, den Seelenmenschen muß er herausarbeiten, daran muß er arbeiten; aber die Lebensseele muß er entwickeln lassen, sie muß sich nach und nach entwickeln. Sie ist natürlich schon da, wie beim Kinde der Verstand da ist, aber sie muß sich entwickeln, wie beim Kinde der Verstand. Dadurch tritt bei dem Toten gleich nach dem Tode eine inspirierende Kraft auf. Aber diese entwickelt sich, wird immer stärker und stärker. Und gerade wenn man dem Toten hilft, hilft man ihm auch in der Entwickelung dieser inspirierenden Kraft. Denn aus den Bildern muß allmählich etwas heraussprechen zu dem Toten. Sie müssen mehr werden als bloß die Erinnerung an das Leben, sie müssen ihm Neues sagen, was ihm das Leben noch nicht sagen konnte. Denn, was sie ihm jetzt sagen, muß Keim werden für das, was er als nächstes Erdenleben ausgestaltet.

191

So tritt das Seelenleben, die Lebensseele in Entwickelung, und die Bilder werden immer sprechender und sprechender. Das ist so, daß der Tote zunächst wenn ich mich so ausdrücken darf den Blick vorzugsweise auf die Erde richtet. Wie wir unsere Gedanken nach der Geisteswelt hinauf richten, so richtet der Tote seine Seele immer herunter auf die Erde. Er sieht sie zum Beispiel - was ich gestern be­schrieben habe - als die auf der Osthälfte blaue, auf der Westhälfte rötliche Erde; da kommen diese Bilder, da sind sie einverwoben. Er sieht zunächst immer in dem allgemeinen Erdenbilde sein Leben darinnen; sein Leben sieht er bei uns. Deshalb können wir ihm auch helfen, mit diesen Bildern zurechtzukommen. Er verläßt zwar die Erde, aber er verläßt sie nicht mit seinem Seelenauge. Und allmählich wird die Erde tönend, indem die Inspiration sich immer mehr und mehr entwickelt. Was Bilder sind, sagt ihm allmählich immer mehr und mehr.

Man wird oftmals gefragt, ob diese Hilfe an die Toten nur ge­leistet werden kann bald nach dem Tode oder auch noch nach Jahren oder Jahrzehnten. Aber das hört nicht auf. Niemand kann so lange auf der Erde leben, daß es unnötig würde, einem vor uns Verstorbe­nen zu helfen. Wenn einer auch schon dreißig, vierzig Jahre tot ist: immer bleibt die Verbindung, wenn sie karmisch war, vorhanden. Natürlich muß man sich darüber klar sein, daß die Seele, wenn sie unentwickelt ist die Seele desjenigen, der hier ist, anfangs ein klareres Bewußtsein dieses Zusammenhanges haben kann. Anfangs kann dieses Bewußtsein des Zusammenhanges mit dem Toten sehr stark gefühlt und empfunden werden, weil die Bilder noch passiv sind und im wesentlichen das enthalten, was sie auch auf der Erde ent­halten haben. Dann aber fangen sie an zu tönen, dann tönt die Sphä­renmusik aus ihnen heraus. Das ist schon fremd. Und man kann Auf­schluß darüber nur aus der Geisteswissenschaft heraus bekommen, indem man weiß, was in zukünftigen Erdepochen sich vollzieht. Aber es ist ja nicht gar so häufig, daß über Jahrzehnte hinaus ein ebenso lebhaftes Bedürfnis vorhanden ist, dem Toten nahezutreten, wie un­mittelbar nach seinem Weggange. Da schwindet bei den Lebenden diese Erfahrung wird nun einmal gemacht allmählich die Hin-

192

neigung zu den Toten, da erstirbt das lebendige Gefühl für sie. Des­halb ist dieses auch schon mit ein Grund, warum nach späterer Zeit der Zusammenhang mit den Toten weniger lebendig gefühlt wird.

Dies macht uns darauf aufmerksam, daß die erste Zeit des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt vorzugsweise der Ausbildung des Seelenmenschen gewidmet ist, desjenigen, was als eine imaginative Welt um den Menschen herumschwebt. Die spätere Zeit - aber es ist natürlich von Anfang an da - ist der inspirierenden Kraft der Seele, der Lebensseele gewidmet. Und vor sich, gleichsam als ein Ideal, hat der Tote das, was man nennen kann das Seelenselbst. Es ist auch von Anfang an da, denn das Seelenselbst gibt ihm das Individualbewußt­sein. Wie die Vernunft beim Kinde erst ausgebildet werden muß, trotzdem sie von Anfang an da ist, so bildet der Mensch zwischen Tod und neuer Geburt das Seelenselbst erst aus. Und dieser Aus­bildung des Seelenselbstes im höchsten Maße ist dann schon jene Zeit gewidmet, in welcher es wieder langsam dem Erdenleben zugeht. Wenn der Mensch in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt geistig blühend vor Jugend wird -muß man sagen -, dann steht sein Seelenselbst in der höchsten Entwickelung. Hier auf der Erde sagt man: Man wird alt -; in der geistigen Welt zwischen Tod und neuer Geburt muß man sagen: Man wird jung. Hier sagt man: Man ergraut vor Alter ; dort muß man sagen: Man wird blühend vor Jugend. Diese Dinge waren vor noch gar nicht langer Zeit durchaus bekannt. Ich erinnere nur an Goethes «Faust», wo es heißt: «im Nebelalter jung geworden»; das bedeutet: in der nördlichen Welt geboren. Man sagte früher nicht: Jemand wurde geboren sondern: Er ist jung geworden, womit man hindeutete auf sein Leben vor der Geburt. Und Goethe hat noch diesen Ausdruck gebraucht: «im Nebelalter jung ge­worden».

Die letzte Zeit zwischen Tod und neuer Geburt ist also die, in welcher die Seele vorzugsweise den intuitiven Teil ausbildet. In der ersten Zeit nach dem Tode ist ihm lebendig der imaginative Teil der Seele, das ist der Seelenmensch. Dann entwickelt sich nach und nach zur vollen Höhe der inspirierte Teil der Seele, die Lebensseele. Und nachdem entwickelt sich das, was der Seele die volle Individualität

193

gibt, das Seelenselbst, das Intuitive, die Fähigkeit, in anderes aufzugehen, in anderes sich hineinzufinden. In was findet sich da die Seele hinein? Von was wird sie vorzugsweise intuiert?

Die Seele fängt schon zwischen Tod und neuer Geburt in einem bestimmten Punkte des Lebens an, sich verwandt zu fühlen mit der Generationenfolge, die dann zu Vater und Mutter führt. Zu den Ahnen, wie die zueinandergeführt werden in den Ehen, wie sie Kinder haben und so weiter, fühlt sich die Seele nach und nach verwandt. Während man unmittelbar nach dem Tode die Bilder fühlt, das Ent­rollen der Bilder, und indem man hinuntersieht auf die Erde, werden diese Bilder zusammengefaßt in die mehr großen imaginativen Zu­sammenhänge. Und indem man sich wieder dem Erdenleben zu­wendet, wird man immer intuitiver und intuitiver. Und mehr im großen tritt das Bild, das ich gestern entwickelt habe, vor der Seele auf: die Kugel der Erde über Asien, Indien, Ostafrika hinüber bläulich glimmend; auf der andern Seite man umkreist ja die Erde -, wo Amerika ist, rötlich glitzernd; dazwischen die grünen und die andern Töne. Und die Erde auch tönt in den mannigfaltigsten Tönen: Melodien, Harmonien, Chören der Sphärenmusik. Und dahinein be­wegt sich allmählich, was man als Bilder gehabt hat: die Bilder, die man zuerst gehabt hat, was man von der Generationenfolge hatte. Man lernt allmählich das sechsunddreißigste, fünfunddreißigste Vor­fahrenpaar erkennen, dann das vierunddreißigste, dann das dreiund­dreißigste, zweiunddreißigste Paar, bis hinunter zu Vater und Mutter. Das lernt man erkennen, einverwoben in die Imaginationen. Und dahinein prägt sich die Intuition, bis man zu Vater und Mutter kommt. Dieses Einprägen ist wirklich ein Aufgehen in dem, was durch die Generationen lebt. Die zweite Hälfte des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt ist so, daß der Mensch in dieser Zeit sich intensiv daran gewöhnt, in dem andern zu leben, was da unten ist, schon voraus in diesem andern zu leben, in dem, was dann die nächste und fernere Umgebung wird, nicht in sich, sondern in dem andern zu leben. Man fängt das Leben zwischen Tod und neuer Geburt an, indem man in dem andern lebt; man hört dieses Leben so auf, daß man vorzugs­weise in dem andern leben kann. Dann wird man geboren, und man

194

behält zunächst noch etwas zurück von diesem andern Leben. Aus diesem Grunde muß man sagen: In den ersten sieben Jahren ist der Mensch ein Nachahmer; er ahmt alles nach, was er wahrnimmt. Lesen Sie, was darüber in der Schrift «Die Erziehung des Kindes vom Ge­sichtspunkte der Geisteswissenschaft» dargestellt ist. Es ist ein letzter Abklatsch dieses In-dem-andern-Leben, das setzt sich noch fort in das physische Leben hinein. Das ist die vorzüglichste Eigenschaft, ins Geistige umgesetzt, zwischen Tod und neuer Geburt, und es ist die erste Eigenschaft, die beim Kinde auftritt: nachahmen alles dessen, was da ist. Man wird dieses Nachahmen des Kindes nicht verstehen, wenn man nicht weiß, daß es aus dem großartigen intuitiven Leben des Geistig-Seelischen in der letzten Zeit zwischen Tod und neuer Geburt herkommt.

Hier ist nun wieder eine Vorstellung, welche die Geistesentwicke­lung der Zukunft ergreifen muß. In der alten Zeit war - vorzugsweise dadurch, daß die Menschen durch atavistisches Hellsehen den Geist kannten - durch unmittelbare Anschauung der Glaube rege an das, was heute den Menschen zweifelhaft geworden ist, wenn sie materia­listisch denken: die Unsterblichkeit. Das wußten sie früher. Aber in der Zukunft wird der Unsterblichkeitsgedanke von der Gegenseite angeregt werden. Man wird verstehen, daß dieses Leben hier die Fortsetzung eines geistigen Lebens ist. Wie man früher naturgemäß zuerst auf die Fortsetzung des Lebens nach dem Tode gesehen hat, so wird man in der Zukunft vorzugsweise immer mehr und mehr lernen, alles Leben hier als eine Fortsetzung des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt anzusehen. Dagegen haben allerdings die Kirchen Barrieren aufgerichtet. Denn nichts galt für die Kirche so sehr als Ketzerei als der Gedanke der Präexistenz der Seele, und bekanntlich ist der alte Kirchenvater Origenes vor allem deshalb ein so schlecht angesehener Kirchenvater, weil er noch die Präexistenz der Seele kannte. Es handelt sich nicht nur darum, daß man, wie ich schon sagte, im 9. Jahrhundert auf dem Kirchenkonzil zu Konstantinopel den Geist abgeschafft hat, indem man das Dogma aufstellte, daß der Mensch nicht aus Leib, Seele und Geist bestehe, sondern nur aus Leib und Seele, und zugab, daß die Seele etwas Geistartiges in sich habe.

195

Es ist verboten zu denken, sagte das Konzil, daß der Mensch aus Leib, Seele und Geist besteht; er hat eine seelenartige und eine geistartige Seele, aber er besteht nur aus Leib und Seele. Das ist heute selbst­verständlich noch immer Gebot. Aber es ist noch etwas anderes damit verbunden, es ist zugleich «vorurteilsfreie Wissenschaft»! Und das ist das Interessantere. Sie finden bei den Philosophen überall den Men­schen gegliedert in Leib und Seele; die Dreigliederung in Leib, Seele und Geist wird noch sehr wenig durchgeführt. Lesen Sie einmal nach bei dem berühmten Wundt; dann werden Sie sehen, das ist «vorurteils­lose Wissenschaft», den Menschen zu gliedern in Leib und Seele. Es ist nicht vorurteilslose Wissenschaft! - es ist der letzte Rest jenes Dogmas vom achten ökumenischen Konzil. Nur haben die Philo­sophen das vergessen und betrachten es als vorurteilslose Wissen­schaft. - Das ist die eine Barriere: die Abschaffung des Geistes. Die andere Barriere, welche die Kirche aufgerichtet hat, ist das Verbieten des Präexistenzglaubens. Selbst vorurteilslose Leute können sich mit dem Präexistenzglauben nicht zusammenfinden. Ich erinnere nur an den berühmten philosophischen Theologen oder theologischen Philo­sophen - wie man sagen will - Frohschammer in München. Seine Bücher stehen auf dem Index. Aber das hat ihn nicht davor geschützt, dennoch sich gegen den Gedanken einer Präexistenz der Seele zu wenden, weil er sagt: Wenn wirklich die Seele vorher existieren würde, wenn sie nicht miterzeugt würde, so würden ja die Eltern nur ein Tierchen erzeugen, das dann die Seele bekäme. Das ist ihm eine unheimliche Vorstellung. Ich habe dies als Anmerkung in meinen «Seelenrätseln» angeführt. Aber so ist es ja nicht. Wenn man weiß, daß die Tatsache die ist, daß der Mensch durch mehr als dreißig Generationen mit dem durch die Generationen rinnenden Blute ver­bunden ist, dann kann man nicht sagen, daß die Eltern nur ein Tier­chen erzeugen; sondern es gehört der ganze Geistesprozeß dazu, der durch mehr als dreißig Generationen geht. Dessen muß man sich nur bewußt werden.

Das also ist es, daß man in Zukunft sein Augenmerk nicht bloß auf die Frage lenken wird: Dauert dieses Leben bis hinter den Tod? Sondern man wird sich sagen können, gerade wenn man das physische

196

Erdenleben richtig studiert: Dieses physische Erdenleben ist die Fortsetzung eines geistigen Lebens! - Darauf wird in Zukunft ein starkes Augenmerk gerichtet werden. Man wird erkennen, daß sich das geistige Leben im sterblichen fortsetzt, das Sterbliche im Unsterb­lichen, und indem man das Sterbliche im Unsterblichen erkennen wird, wird man damit eine sichere Grundlage haben für die Erkenntnis des Unsterblichen. Wird man nur dieses Erdenleben ordent­lich verstehen, dann wird man nicht mehr es nur aus sich selbst heraus verstehen wollen. Dazu gehört natürlich, daß solche andern Vorstellungen erworben werden, wie ich es jetzt auseinandergesetzt habe.

Oh, es ist notwendig, daß mancher Begriff korrigiert wird. Man erwirbt sich überhaupt manche Begriffe, die im Leben gültig sind, sehr schwer, und die populäre Sprache ist in dieser Beziehung ein großes Hindernis. Man muß ja mit der populären Sprache zunächst rechnen, weil man sonst gar nicht verstanden wird. Aber es ist schon ein großes Hindernis, wenn man denkt, daß man die Ähnlichkeit direkt von den Eltern ererbt. Es ist ein Unsinn. Ich habe auch im öffentlichen Vortrage gesagt, daß unser Wissenschaftsbetrieb sehr darunter leidet, daß das, was gang und gäbe ist in bezug auf die Wissenschaft des Unorganischen, nicht auch auf das Organische an­gewendet wird. Niemand wird bei einem Magneten die magnetische Kraft aus dem hufeisenförmigen Stück Eisen herleiten wollen, sondern man wird den Magnetismus im Magneten oder in der Magnetnadel aus dem Kosmischen erklären. Wenn aber das Ei im Huhn entsteht oder der Embryo im Menschen, dann soll das nicht aus dem Kosmos erklärt werden. Aber da wirkt überall der Kosmos. Und so sonderbar es ist: Geradeso wie beim Sinneseindruck ein Kanal gebohrt wird ins Auge, um dem Ich das Tor zu eröffnen, um hinauszukommen, so beruht auch die Fortpflanzung darauf, daß eigentlich Platz gemacht wird. Was dabei geschieht, das ist, daß der Organismus des Mutterwesens so präpariert wird, daß Platz geschaffen wird. Und was dann entsteht, das entsteht aus dem Kosmos herein, aus dem ganzen Makrokosmos. Es ist ein komplizierter Prozeß, aber es wird im Mutterwesen nur der Platz bereitet, die Organisation des Mutterwesens wird soweit

197

unterbrochen, daß eine Höhlung entsteht, wo das Makrokosmische herein kann. Das ist das Wesentliche, und das wird selbst die Embryo­logie in kurzer Zeit begreifen. Sie wird begreifen, daß das Wichtigste am Embryo das ist, wo nichts ist, wo die Materie der Mutter zurück­geschoben wird, weil das Makrokosmische herein will. Aber bei die­sem Makrokosmischen, das sich so lange vorbereitet, daß der Mensch im längsten Falle durch zweiunddreißig bis fünfunddreißig Genera­tionen bei den Vorfahren schon intuitiv dabei ist, da ist er mit den Kräften, die aus dem Kosmos hereinwirken, schon verbunden; er schaut sie schon. Von seinem Sternengebiete aus, dem der Mensch zugeordnet ist, schaut er den Strahl hereinfallen auf die Erde, schaut, wohin er dann inkarniert wird. Dann nähert er sich allmählich der Erde.

Das sind Dinge, die, wie ich glaube, auch unser Gemüt erfüllen können mit einem bedeutungsvollen Gemütseindruck. Man kann Geisteswissenschaft nicht so aufnehmen wie etwa die Mathematik, sondern man wird sie aufnehmen wie etwas, was sich auch tief mit unserem Gemüt verbindet, was uns in Wirklichkeit zu einem andern Menschen macht, was das menschliche Leben tief bereichert und die Grundlage schafft zu einem wirklichen Weltenbewußtsein. Diese be­lebende, diese im besten Sinne des Wortes erfrischende Wirkung des geisteswissenschaftlichen Erkennens ist etwas Wesentliches und Wich­tiges. Wir dürfen dabei allerdings nicht verkennen, daß wir uns in der gegenwärtigen Zeitepoche in bezug auf die Dinge, die hier gemeint sind, gewissermaßen in einer Übergangszeit befinden. Das muß unsere Zeit als ihr Karma auf sich nehmen. Heute sagt man noch leicht: Um Gottes willen, soll ich so komplizierte Vorstellungen aufnehmen, um das zu erfassen, was mir deine Lehre von der Menschenbestimmung gibt? Das machen andere einem leichter! - Gewiß, Dr. Johannes Müller zum Beispiel macht es den Leuten leichter. Aber es handelt sich darum, daß wir in einer Übergangszeit leben, und daß heute diese Vorstellungen den Menschen noch ungewohnt sind. Aber sie werden ihnen gewohnt werden müssen. Es wird die Zeit kommen müssen, wo man diese Dinge in geeigneter Art schon an die Kinder heran­bringen wird. Man wird das können, und man wird dabei eine

198

Entdeckung machen, nämlich diese: daß die Kinder einen überraschend gut verstehen werden. Sie werden viel besser als andere verstehen, was aus den Bildern der Geisteswissenschaft kommt. Denn sie bringen aus dem Imitationsvermögen aus der geistigen Welt manches mit, was wir ihnen erst austreiben, was wir nicht berücksichtigen, sondern manch­mal in einer ganz brutalen Weise nicht gelten lassen. Sonst würde man sich gestehen, daß manches Kind etwas ungemein Gescheites sagt, oft etwas viel Gescheiteres, als die Alten sagen. Manchmal ist viel interessanter, weil mit dem Wesen der Welt zusammenhängender, was ein Kind sagt, als was ein Professor sagt. Diese Dinge sollte man ja auch wirklich mit einem gewissen Ethos aufnehmen können, dann wird es nicht mehr schwer werden, wenn man die Dinge in der ent­sprechenden Weise schon an das Kindergemüt heranbringen wird. Der Übergang dazu ist natürlich unbequem, deshalb lehnen ihn die Leute so gerne ab. Aber gerade aus manchen Fragen des kindlichen Gemütes, wenn man auf die Richtung, auf den Timbre solcher Fragen achten kann, wird man erkennen, daß beim Kinde Reminiszenzen aus einem früheren Leben vorhanden sind.

Man muß nur das, was als Geisteswissenschaft gemeint ist, gründlich ernst nehmen und muß die Ansicht haben, daß sie sich in das soziale Leben, zu dem auch Erziehung und Unterricht gehören, hineinfinden muß. In dieser Hinsicht könnte noch viel mehr heute getan werden, als man gewöhnlich für möglich hält. Denn das ist ja durchaus richtig, was ich neulich einmal bemerkte: Wenn die, welche Lehrer oder Erzieher werden wollen, heute geprüft werden, dann sieht man vor allem darauf, was sie sich an Wissen angeeignet haben, was eigentlich höchst unnötig ist, daß sie es sich aneignen mußten. Denn sie können das, was sie zum Unterrichten nötig haben, wenn sie sich vorbereiten, immer in einem entsprechenden Kompendium nachlesen. Was man zum Examen gelernt hat, das ist nachher ja doch bald wieder vergessen. Das sieht man am besten, wenn man sich er­innert, wie unser Hochschulleben sich abspielt. - Ich mußte einmal ein Examen machen. Da wurde zu dem entsprechenden Termin der betreffende Professor krank. Ich kam zum Assistenten, und der sagte mir: Ja, der Professor ist krank, und es wird wohl noch acht Tage

199

dauern; ich kann es Ihnen nachfühlen, wenn Sie in diesem hoch­schwangeren Zustande herumgehen müssen und in acht Tagen alles vergessen haben; aber es geht schon nicht anders! Man rechnet also gleichsam damit, daß man das, was man im Examen loslassen soll, recht bald vergessen hat. Es ist ja nur eine Komödie im Leben. Worauf es aber ankommen wird, das wird sein müssen, daß man darauf sieht, was das für ein Mensch ist, den man auf die Jugend losläßt. Es handelt sich darum, in jedem den Menschen sich anzuschauen, nicht bloß, was er in den Mechanismus seines Vorstellungslebens hineingequetscht hat. Auf den wirklichen Menschen kommt es an, daß dieser in der Lage ist, jene geheimnisvolle Beziehung zur Jugend herzustellen, die notwendig ist. Dann wird es gar nicht so schwierig sein, das auch wirklich an die Jugend heranzubringen, was die Geisteswissenschaft für die Jugend entwickeln kann.

Ich wollte Sie heute vorzugsweise auf solche Tatsachen des mensch­lichen Gesamtlebens aufmerksam machen, die Ihnen das Bewußtsein davon nahebringen können, daß man nicht bloß die alten Begriffe beibehalten soll, sondern daß man neue Begriffe braucht, daß unser Begriffsvermögen durch vieles bereichert werden muß. Sie werden es bemerken, wie einem eigentlich entgegengekommen wird, wenn em­mal auch so etwas wie Geisteswissenschaft verbreitet wird. Die Men­schen haben ja schon lange danach verlangt. Viele Begriffe überhaupt aufzunehmen, wollen sich die meisten ersparen. Deshalb gehen sie so gerne zu Lichtbildervorträgen oder sonstigen illustrativen Vorträgen, wo sie gucken können, wo sie nicht viele Begriffe aufzunehmen brauchen. Es wird ja in der Regel von den Menschen, wenn ihnen etwas Neues dargeboten wird, gefragt: Was will denn der eigentlich? Aber was wollen die Menschen, wenn so gefragt wird: Was will denn der eigentlich? Sie wollen, daß ihnen die Sache übersetzt werde in das, was sie bereits wissen. Darum handelt es sich aber auf dem geistes­wissenschaftlichen Felde nicht; da soll man neue Begriffe aufnehmen, die noch nicht da sind, die zum Teil einmal in alter Zeit, in anderer Form, vorhanden waren, aber heute noch nicht da sind. Da muß man sich entschließen, in neue Begriffe einzudringen. Das wird den Men­schen oft so schwer. Denn wenn sie neue Begriffe wirklich hin-

200

nehmen würden, dann würden sie nicht fragen: Was will denn der eigentlich -, sondern würden es aufnehmen. In Zukunft wird eine viel nützlichere Frage die sein: Was soll ich denn eigentlich meinen? und nicht: Was will der eigentlich? Dann würde man schon sehen, wie das, was man als Meinung entwickelt, auch Lebenskräfte in einem loslöst, so daß man in die Wirklichkeit hineinkommt. Man würde sehen, daß das Schauen zwar etwas Subtiles, aber gar nicht so Fernliegendes ist. Dazu aber werden Vorurteile überwunden werden müssen.

Es gibt zum Beispiel ein populäres Büchelchen «Einführung in die Philosophie». Darin stehen Begriffe, wie ich sie gestern und heute getadelt habe. Aber besonders merkwürdig wird der Verfasser, wo er über den Supranaturalismus spricht. Er hält den Supranaturalismus, das Übersinnliche, deshalb für ganz besonders schädlich, weil er meint, das Natürliche sei etwas, wo jeder Mensch selbst zu einem Urteil kommen und prüfen könne; beim Übersinnlichen, beim Supra­naturalismus läge aber die Gefahr nahe, daß nicht jeder selbst urteilen könne, sondern auf Autorität von andern eine Sache annehme. Damit ist natürlich auch der andere Satz verknüpft: daß die Priesterschaft aller Zeiten das ausgenutzt habe, da durch den Supranatura­lismus die Menschen verdorben worden seien, weil sie dadurch ab­hängig wurden vom Autoritätsglauben. Wenn man aber die tatsäch­lichen Verhältnisse betrachtet, kann man sagen: Wenn heute die offiziellen Philosophen auf das Übersinnliche zu sprechen kommen, werden sie geradezu kindisch. Denn es ist eine kindische Anschauung, und es scheint, als wenn der Mann gar keine Ahnung davon hätte, wie grandios grassierend der Autoritätsglaube gerade in unserer Gegen­wart ist, wenn die Leute sich auch davon freihalten wollen. Wie viele Menschen wissen denn zum Beispiel, worauf die kopernikanische Lehre fußt? Sie lernen sie in der Weise kennen, daß man eigentlich irgendeinem Geiste das vormacht, daß ihm ein Stuhl ins Weltenall hinausgestellt wird und ihm gezeigt wird: Da bewegt sich die Sonne, und die Planeten bewegen sich um sie herum. Das ist aber alles Unsinn. Würde den Menschen gezeigt werden, was ihnen alles wirk­lich erschlossen werden kann, dann würden sie eine ganz andere

201

Vorstellung bekommen und würden sehen, wie unsicher alle die Hypo­thesen sind. Aber denken Sie, wie unendlich groß das ist, was die Menschen heute auf Autorität hin glauben. Wie froh sind sie heute auf einem andern Gebiete - um daran als an eine Nebenerscheinung zu erinnern -, wenn ihnen durch eine Bolschewikiregierung Geheimakten enthüllt werden, von denen das Schicksal unzähliger Menschen abhängt! Da gibt es dann eine solche Prüfung der Sache in bezug auf das Natürliche, da kann jeder prüfen; aber in bezug auf das Über­sinnliche, so meint man, würden die Menschen ihre Unabhängigkeit verlieren. Das heißt denn aber doch, die Sachen auf den Kopf stellen. Und eine Aufgabe der Geisteswissenschaft wird in vieler Beziehung darin bestehen, daß die Sachen wieder auf die Beine gestellt werden. Daß die Sachen auf den Kopf gestellt werden, ist ganz natürlich: Es mußte sich die Bewußtseinsseele entwickeln. Nun müssen sie aber auch wieder ordentlich auf die Beine gestellt werden.

Daran wollen wir das nächste Mal anknüpfen, und wir werden sehen, daß dieses Bild vom Auf-die-Beine-Stellen gar nicht so un­wirklich ist, sogar eine tiefere Bedeutung hat.

202

ELFTER VORTRAG Berlin, 9. April 1918

Im Verlaufe der letzten Betrachtungen habe ich hier öfter darauf auf­merksam gemacht, daß, allerdings aus andern Quellen heraus, okkulte Wahrheiten einzelnen Menschen immer bekannt waren, durch alle Zeiten der Menschheitsentwickelung bekannt waren, daß aber aller­dings diese einzelnen Menschen sehr sorgfältig darüber gewacht haben, daß gerade diejenigen, welche in solche okkulten Mysterien eingeweiht worden sind, nichts nach außen an Nichteingeweihte mit­geteilt haben. Nun wissen wir, daß solche Dinge sich auch noch dann fortpflanzen, wenn sie in der Fortentwickelung des allgemeinen Men­schenlebens ihre Bedeutung, ja ihre Berechtigung verloren haben. So werden denn gewisse Wahrheiten heute noch immer von solchen, die sie kennen, streng bewacht. Aber wir wissen, daß auf gewisse Dinge heute einfach hingewiesen werden muß, daß sie nicht mehr im Verborgenen bleiben dürfen, sondern daß sie, wie andere wissen­schaftliche Wahrheiten, auch als geisteswissenschaftliche Wahrheiten der allgemeinen Menschheit zugänglich gemacht werden müssen.

Nun kann das ja nur mit Bezug auf gewisse elementare Dinge ge­schehen, allein mit Bezug auf diese muß es geschehen. In den Dingen, die wir seit langem besprochen haben, liegt allerdings manches von dem, was zu solchen Wahrheiten, zu solchen Erkenntnissen gerechnet wird, die von manchen Seiten sorgfältig bewacht werden. Allein, dennoch muß fortgefahren werden im Geiste dieser Betrachtungen, an manches anzuknüpfen, was ein solches Bewachtes ist. Und die­jenigen, welche heute solche Wahrheiten, einfach verkündet, empfangen, sollten es den Wahrheiten selbst ansehen, daß sie mit einem gewissen großen Ernst, mit einer gewissen Ehrfurcht betrachtet wer­den. Denn zu jenen Dingen, mit Bezug auf welche die Eingeweihten vor dem Mitteilen zurückschrecken, gehört nebst anderem die Scheu vor der Ehrfurchtslosigkeit der heutigen Menschen gegenüber der Wahrheit. Allerdings kann ja gegenüber dem, was der heutige materia­listische Sinn als Wahrheit gelten läßt, viel Ehrfurcht nicht aufkom­men

203

und die Dinge werden auch nicht sehr profaniert, [dadurch] daß wir ihnen nicht mit Ehrfurcht entgegenkommen, wenigstens nicht scheinbar. Allein, gewisse Dinge müssen zart und ehrfurchtsvoll behandelt wer­den, wenn sie in der richtigen Weise in das Geistesleben der Mensch­heit sich einverleiben sollen.

Dazu gehören vor allem die Erkenntnisse über den Menschen selbst, Erkenntnisse, die zunächst, wenn sie an unsere Seele heran­treten, einfach erscheinen, die aber von außerordentlich bedeutsamer Tragfähigkeit und Tragweite sind. Gerade die Betrachtungen, die uns in der letzten Zeit beschäftigt haben, die alle mehr oder weniger darin gipfeln, das Geheimnis uns nahezubringen, das dem Zusammenhange zwischen dem Leben im physischen Leibe und dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt entspricht, diese Wahrheiten führen die Betrachtung sehr, sehr weit an den Menschen heran, knüpfen an manches von dieser Art an, was in intimer Weise mit dem Menschen erkenntnismäßig verknüpft ist. Da wollen wir zunächst unseren geistigen Blick auf Dinge lenken, von denen wir von andern Gesichtspunkten aus schon gesprochen haben, wollen heute nur in einer gewissen Rich­tung solche Dinge wieder betrachten, um den eben charakterisierten Gesichtspunkt in diesen Vorträgen hier festhalten zu können.

Die neuere Naturwissenschaft hat, wie wir wissen, den Menschen an das Tier sehr nahe herangebracht. Allein, wir haben schon betont: Was den Menschen eigentlich im wahren Sinne des Wortes von dem Tier unterscheidet, das berücksichtigt diese moderne Naturwissen­schaft gar nicht. Sie macht zum Beispiel darauf aufmerksam, wie die Formen der Knochen beim Menschen und bei den höheren Tieren sind und findet eine große Ähnlichkeit darin; sie findet in der Gestal­tung, in der Morphologie überhaupt eine große Ähnlichkeit. Darin hat sie zwar recht, aber das Hauptsächlichste ist damit gar nicht be­rührt. Dieses Hauptsächlichste - ich habe schon einmal in diesem Winter, in einem öffentlichen Vortrage sogar, darauf hingewiesen - stellt sich zunächst einmal von einer Seite so dar, daß man sagen kann: Wer mit der nötigen Ehrfurcht und Tiefe an die Betrachtung des Menschenlebens so herangeht, daß er sich beeindrucken läßt von dem großen, bedeutsamen Gegensatz zwischen einem hier auf der Erde

204

physisch lebenden Menschen und einem menschlichen Leichnam, der hat einfach in diesem Eindruck dieser beiden Gegensätze ein Myste­rium vor seine Seele hingestellt: den lebendigen Menschen und einen Leichnam. Was dem Menschen zunächst dabei auffallen muß, ist, daß nun der Leichnam von den Kräften der äußeren Erdennatur in An­spruch genommen wird, denen er nicht unterworfen war in der Zeit seit der Empfängnis oder Geburt bis zum Tode, sondern denen er dadurch entzogen war, daß das Seelisch-Lebendige mit diesem Stoffzusammenhange, der uns im Leichnam gegenübersteht, verbunden war. Verfolgen wir in Gedanken, was aus einem Leichnam wird, gleichgültig, ob der betreffende Leichnam rasch durch Verbrennung oder langsamer durch Verwesung aufgelöst wird, die beiden Prozesse sind ja genau dasselbe, unterscheiden sich nur der Kürze oder Länge der Zeit nach. Was stofflich im Menschen verbunden war, das wird in kürzerer oder längerer Zeit im Gesamtstoffprozeß unserer Erde auf­gelöst, geht über in den Gesamtstoffprozeß der Erde. Der Mensch kann in der Tat mit seinen gewöhnlichen Sinnen, auch mit seinen gewöhnlichen Gedanken verfolgen, was alles aus den Teilen eines Leichnams wird.

Der geisteswissenschaftliche Betrachter kann in dieser Beziehung weitergehen. Er kann finden, daß das, was im Leichnam unmittelbar nach dem Tode zusammen ist, allmählich in ein ungeheuer großes Stoffgebiet übergeht; natürlich verteilt sich dies über Jahrhunderte, aber es geht in ein ungeheuer großes Stoffgebiet über, löst sich sozu­sagen auf in der Gesamtheit desjenigen, was überhaupt unsere sicht­bare, äußerlich wahrnehmbare Welt ist.

Nun ist es interessant zu verfolgen, welcher Zusammenhang be­steht zwischen dem, was hier im physischen Leben unser Ich-Bewußt­sein ist, und diesem sich auf lösenden Leichnam. Kurioserweise hängen diese zwei Dinge in einer gewissen Beziehung zusammen: der sich auflösende Leichnam und das Ich-Bewußtsein. Ich sage, das Ich­-Bewußtsein, natürlich nicht das reale, das wirkliche Ich; denn dieses Ich geht selbstverständlich durch die Todespforte, lebt das Leben weiter zwischen Tod und neuer Geburt. Aber was hier im physischen Leben dem Menschen als Bild des Ich vorschwebt - er hat ja kein

205

Bewußtsein von dem Ich, hat nur ein Bild des Ich im Bewußtsein -, das ist an den Leichnam gebunden, und zwar an denjenigen Stoffzusammenhang gebunden, der sich eben nach dem Tode im Univer­sum auflöst. Diese Auflösung des Leichnams im Universum ist nichts anderes als das äußere Bild für das gesamte Ich-Bewußtsein; denn in Wahrheit gehört unser Ich-Bewußtsein diesem Universum an, in das sich unser Leichnam auflöst. Und daß wir in der Zeit zwischen Geburt und Tod in der sonderbaren Anschauung - für den Okkultisten sonderbaren Anschauung, für den gewöhnlichen Men­schen selbstverständlichen Anschauung - verharren: Da innerhalb der Grenzen unserer Haut sind wir -, daran ist nur Schuld, daß die Stoffmassen unseres Leibes zwischen Geburt und Tod zusammen­gehalten werden. Von diesem Zusammenhalt kommt es her, daß wir auch diesem Rauminhalt, den wir mit unserem Fleisch und Blut aus­füllen, es stets zuschreiben, daß wir da sind. Denn eigentlich ist es absurd, wir sind gar nicht da. Wir sind in Wahrheit überall dort und versuchen sogar vom Einschlafen bis zum Aufwachen überall dort zu sein, wo nach dem Tode die Stoffteilchen unseres Leibes sein werden. Es wird uns nur zwischen Geburt und Tod das Majabewußtsein bei­gebracht, daß wir in diesem Rauminhalt seien, der durch unsere Haut begrenzt ist. Das ist aber ein Majabewußtsein, das uns beigebracht wird. Und der Tod ist unter vielem andern, was er ist, die Wider­legung dieses Majabewußtseins für die physisch-materielle Welt. Er führt die Teile unseres Leichnams dahin, wo in Wahrheit unser Ich­-Bewußtsein immer weilt. Das ist schon etwas sehr Weittragendes.

Sie können nun aber fragen: Was trägt uns denn da eigentlich, wenn wir gestorben sind, dieses unser Ich-Bewußtsein und sein äußeres Bild, die Stoffteilchen unseres Leibes, in die weite Welt hin­aus? Was sind das für Kräfte?

Drei Kräfte sind es, die wir etwa in folgender Weise uns ver­anschaulichen können.

Die eine Kraft kommt während der Zeit unseres Lebens dadurch zur Erscheinung, daß wir in der allerersten Zeit unseres Lebens auf allen vieren kriechen und dann uns vertikal aufrichten. Wir orien­tieren uns ja erst nach und nach in der Vertikallinie. Indem wir uns

206

vom kriechenden Kinde zum aufrechtgehenden Menschen umgestal­ten, folgen wir einer gewissen Kraftlinie, in die wir uns hineinstellen, mit der wir uns identifizieren. Diese Kraftlinie ist, geisteswissenschaftlich angesehen, sehr genau anschaubar im Menschen. Von unten läuft eine Linie, die vom Mittelpunkt der Erde ins Universum hinausgeht. Man hat das in alten Zeiten einfach so bezeichnet, daß man sagte: Vom Mittelpunkt der Erde ins Universum geht eine Linie, die für jeden Menschen, sogar für jeden Zeitpunkt, eine andere ist, aber immer von der Mitte der Erde hinaus nach dem Universum. Das ist die eine im Menschen wichtige Kraftlinie. Wie sie in unserem physi­schen Leben wirkt, so wirkt sie eben nur so lange, als dieses physische Leben dauert; denn da hält die physische Schwerkraft unseres Leibes dieser Kraft das Gleichgewicht. In dem Augenblicke, wo diese phy­sische Schwerkraft nicht mehr so wirkt, wie sie im lebendigen Leibe wirkt, mit dem Zeitpunkt, wo der lebendige Leib Leichnam wird, da entfaltet sich diese Kraftlinie vom Mittelpunkt der Erde zum Univer­sum hinaus als diejenige, welche zunächst unsere Stoffteilchen schiebt, trägt. Natürlich werden sie ja immer durch ihre eigene Schwere dann weiter getrieben, aber wenn wir durch lange Zeit sie verfolgen würden, was mit unseren Stoffteilen geschieht, so würden wir finden, daß sie sich zerstreuen in der Richtung dieser Kraft, wenn dies auch Jahr­hunderte in Anspruch nimmt. - Die zweite Kraft, die dabei in Betracht kommt, ist eine solche, welche hauptsächlich in der menschlichen Sprache zum Ausdruck kommt. Wir reden, wir können wenigstens reden. Es ist immer ein gewisser Antrieb in der artikulierten Sprache. Eine gewisse Schwungkraft liegt in der ausgeatmeten Luft, wenn wir sprechen. Diese Kraft sieht der geisteswissenschaftliche Forscher wie um jene erste Linie herum geschlungen. Sie hat im wesentlichen eine Spiralform, um diese Vertikale herum sich schlingend. Diese Kraft verändert etwas die reine Abstoßungskraft, bringt sie in Schwung. Aber sie ist nicht allein tätig, sondern es kommt ein Drittes dazu, das von folgendem herrührt. Während das Sprechen nach außen eine gewisse Schwungkraft entwickelt, wirkt das Denken, durch das sich der Mensch vom Tier unterscheidet, entgegengesetzt dieser in der Sprache zum Ausdruck kommenden Kraft. Damit haben wir die dritte

207

Kraft. Wenn wir sie zeichnen wollten, so könnte dies in der folgenden Weise geschehen (siehe Zeichnung). Durch diese drei Kräfte, die Auf­richtekraft, die im Sprechen wirkende Kraft und die im Denken wirkende Kraft, werden die Teile des menschlichen Leichnams nach und nach langsam in das Universum hinausdirigiert. Entgegen wirkt ihnen natürlich die Schwere und anderes, chemische Kräfte zum Bei­spiel, die ihnen entgegengesetzt sind. Aber diese drei Kräfte über­winden dies Entgegenwirkende.

Zeichnung aus GA 181, S. 207
Zeichnung aus GA 181, S. 207

Diese drei Kräfte, die während des physischen Lebens, wenn wir als Menschen auf unseren zwei Beinen stehen, zusammengehalten werden, diese Kräfte werden frei und zerstreuen das, was hier in der Form zusammengehalten ist. Namentlich auch das, was wir Äther- oder Bildekräfteleib nennen, folgt diesen drei Kräften. Schon voraus­gehend, unmittelbar nach dem Tode, nach wenigen Tagen geschieht das, was wir öfter als Auflösung des Äther- oder Bildekräfteleibes

208

geschildert haben, auch in der Richtung dieser Kräfte. Die andere, die Zerstreuung des physischen Leibes, ist für den Toten weniger wichtig; sie bewirkt nur, weil sie ihm den Moment des Todes fixiert, daß sie ihm die Erinnerung an sein irdisches Ich fortbehält. Aber wichtiger ist, daß diese Kräfte ihm das fortwährend Gesetzmäßige dieser Auflösung des Äther- oder Bildekräfteleibes zeigen. Aber wenn nichts anderes da wäre als diese drei Kräfte, so könnte der Tote nicht wissen, daß es seine Form ist, daß das eigentlich von ihm kommt. Er würde es wahrnehmen, aber wie etwas Fremdes. Daher handelt es sich darum, daß er nicht nur das Sich-Auflösende wahrnimmt, son­dern daß er wissen könne, daß das von ihm herrührt, daß es der Rest ist von dem, was er auf der Erde in seiner Form zusammengehalten hat. Und dies führt uns zu etwas anderem.

Da muß ich auf etwas hinweisen, was in unserer trockenen, nüch­ternen, papierenen Zeit schon wirklich gar nicht mit der nötigen Ehr­furcht behandelt wird, trotzdem es immer und überall vor uns steht. Es ist etwas, was innerhalb der physischen Welt eigentlich als das Allermysteriöseste wirkt, was für jeden da ist innerhalb der physischen Welt, was nur in seinem mysteriösen Charakter nicht empfunden wird: Es ist das menschliche Inkarnat, dasjenige, was in der menschlichen Fleischesfarbe nach außen sich am Menschen offenbart. Sie brauchen sich nur erinnern, welche Fülle des Individuellen darin sich aus­spricht, daß uns der Mensch mit seinem Inkarnat entgegenkommt, wie im Grunde genommen diese Fleischesfarbe doch bei jedem Men­schen eine andere ist, in so vielen Schattierungen uns entgegentritt, als es Menschen gibt. Wer sich mit der Enträtselung des Inkarnats be­schäftigt, wie es auch schon versucht worden ist, der wird schon ein Gefühl für das bekommen, was in der Fleischesfarbe, in der Tingie­rung der menschlichen Haut zum Ausdruck kommt. Es ist etwas ungemein Geheimnisvolles, was in dem Inkarnat sich ausspricht. Für den, der geistesforscherisch an die Betrachtung herangeht, gewinnt die Frage: Wie steht es eigentlich mit dem Inkarnat? - eine sehr große Bedeutung. Denn diese eigentümliche Tingierung im Inkarnat hängt ab von zwei gegeneinander wirkenden Kräften, man könnte sagen: von in der Form einander entgegenwirkenden Druckkräften, die im

209

Menschen wirksam sind. Und zwar wirkt in einer gewissen Weise der Äther- oder Bildekräfteleib drückend nach außen, der astralische Leib in entgegengesetzter Art drückend nach innen, und dies an allen Stellen. Will der astralische Leib sich zusammenziehen, von außen nach innen drücken, so will der Äther- oder Bildekräfteleib von innen nach außen drücken, sich ausdehnen. Und was dadurch entsteht, daß sich an des Menschen Oberfläche diese beiden Druckkräfte von außen und innen begegnen, das ist mitwirkend in dem, was sich im mensch­lichen Inkarnat offenbart. Was der ätherische Leib und der astralische Leib sich gegenseitig zu sagen haben, das drückt sich auf geheimnis­volle Weise im Inkarnat aus.

Wenn man auf den Menschen hinschaut, wie er hier auf dem physi­schen Plan ist, so sieht man sein Inkarnat auch. Aber dieses Inkarnat würde anders erscheinen, wenn man es anschauen könnte von innen nach außen. Von innen nach außen gesehen, wären Sie als durch­schnittliche Mitteleuropäer mit Ihrem Inkarnat nicht fleischfarbig, rosig, sondern Sie wären grün-bläulich. Diese Farbe des Grün-Bläu­lichen zeigt sich auch in der Nachwirkung nach dem Tode. Wenn des Menschen Bildekräfte - oder ätherischer Leib sich ausdehnt im Sinne der drei vorhin charakterisierten Kräfte, und der Tote auf dieses Gebilde hinschaut, so sieht er sein Inkarnat gewissermaßen in der Nachwirkung von der andern Seite. Es schimmert nach dem Tode grünlich-bläulich ihm nach.

Aber es enthält noch etwas wesentlich anderes, als was uns ent­gegentritt, wenn wir es im physischen Leben von außen anschauen. Streng genommen ist dieses Inkarnat in seiner Mysteriösität nicht nur individuell verschieden für die verschiedensten Menschen, sondern es ändert sich auch bei einem und demselben Menschen im Laufe des Lebens, wenn auch in kleinen Nuancen. Nicht, daß wir in gewissen krankhaften Zuständen manchmal blühend, manchmal käsig aussehen, denn das ist natürlich eine Abnormität, aber von diesen großen Ver­änderungen abgesehen, ändert sich das Inkarnat fortwährend. Wenn es aber von der andern Seite gesehen wird, wie es der Tote sieht, dann zeigt es noch etwas anderes. Dann zeigt es, wie auf einem Teppich aufgemalt, unsere gesamte Erinnerungswelt. Wenn wir also bildlich

210

sprechen wollen, müssen wir uns diesen Inkarnatteppich wie ein Kleid vorstellen, wie ein ganz feines Kleid, und dieses jetzt gewendet, wie man ein Kleid wendet, nach der andern Seite dreht, oder wie man einen Handschuh umdreht. Dann würden wir auf der andern Seite sehen, was sonst nach innen gewendet ist, und dessen wir uns, weil es nach innen gewendet ist, nur dadurch bewußt werden können, daß es, wenn es ins Bewußtsein hineingekommen ist, als Erinnerung auf­tritt, nicht als Inhalt der Gedanken, aber die Gedanken aurisch ver­schieden charakterisiert, schwingende Gedanken. Was wir in unser Unterbewußtsein hinunterschicken, lernen wir nur in seinem Außenleben kennen. Wie es durch unser Inkarnat durchglitzert, das lernen wir nicht kennen, das lernt aber der Tote dadurch kennen, daß das Inkarnat nachwirkt. Wenn der Tote auf die Auflösung des Bilde­kräfteleibes zurückschaut, dann hat er ihn als Erinnerung hinter sich, und er weiß dann: Das ist er, das bin ich!

Die geisteswissenschaftliche Forschung zeigt, daß das, was natur­wissenschaftlich weniger in Betracht kommt: die große Differenzie­rung zwischen dem Menschen und dem Tier, die aufrechte Haltung, die Sprachfähigkeit, artikulierte Sprache, die Denkfähigkeit, daß das die Kräfte sind, welche den Menschen nach dem Tode ins Universum tragen, und daß das Inkarnat im Menschen der diesseitige physische Ausdruck ist für das, was als Erinnerungsrest nach dem Tode nachwirkt. So teilen wir uns selbst nach dem Tode dem Universum mit und tragen in dem, was wir hier in unserem physischen Leibe an uns haben und an uns zeigen, die äußeren Zeichen unserer kosmischen Wesenheit an uns. Deshalb das Gefühl, das wir namentlich mit so etwas Mysteriösem verbinden wie mit dem Inkarnat, dieses Gefühl, denn es ist das Gefühl von der universellen Bedeutung dessen, was uns im Menschen entgegentritt: Noch mehr als durch irgend etwas anderes ist der Mensch durch so etwas wie durch sein Inkarnat ein Mikrokosmos gegenüber dem Makrokosmos. Und die Grundtingie­rung hat eine große Bedeutung, denn sie ist gewissermaßen die Farbe des Teppichs, auf welchem dem Toten seine Erinnerung erscheint: für die weiße Menschheit grünlich, grünlich-bläulich, für die Japaner violett-rötlich, für die Schwarzen nach dem Tode gerade fleischfarbig.

211

Das sind Dinge, die mit dem Leben zwischen Tod und neuer Ge­burt innig zusammenhängen, bedeutungsvoll zusammenhängen; be­reiten sie doch die neue Inkarnation vor. In diesen Dingen liegt un­geheuer viel. Es liegt in ihnen das Bestimmende, das einen Menschen in einer neuen Inkarnation einer bestimmten Rasse und so weiter zuführt. Die Betrachtung des geistigen Lebens bedeutet nicht nur die Befriedigung einer Neugier oder neugierigen Wißbegierde. Sondern das Leben, wie es auch hier in der physischen Welt ist, mit denjenigen Dingen, die eigentlich auf unser Gemüt gerade geheimnis­volle Eindrücke machen, es wird erst erklärt, wenn wir dieses phy­sische Leben im Zusammenhange mit dem geistigen richtig betrachten können.

Nun können Sie sich aber denken ? die Dinge, die ich auseinandersetze, sind ja mehr oder weniger elementarer und können weiter aus­gestaltet werden ?, daß mit einer solchen Ausgestaltung ein intimes Hineinschauen in die menschliche Natur und Entwickelung über­haupt verknüpft ist. Vor diesem Hineinschauen in die menschliche Natur und Entwickelung scheuen namentlich die gegenwärtigen Menschen zurück. Sie wollen sie nicht haben. Und anderseits möchten gerade solche Menschen, auf die ich heute und öfter schon aufmerk­sam gemacht habe, welche Wache halten über gewisse okkulte Wahr­heiten, in einem ausschließlichen Besitz solcher Dinge einen Machtfaktor haben. Das ist von außerordentlicher Bedeutung. Denn es gibt schon Menschen, wenn man es auch heute so schwer glaubt, die sich in gewisser Weise an der Realisierung des Weltenplanes beteiligen, indem sie an ihren okkulten Stätten herauszubekommen versuchen: Wie realisiert sich die Entwickelung der Welt? Was tut man am besten, um in den nächsten dreißig, vierzig, fünfzig, hundert Jahren von sich aus machtvoll auf die Menschheit zu wirken? Nationen, die unter sich solche Menschen haben, die den Gang der Menschheits­entwickelung erforschen und dann das politische Leben in diesem Sinne einrichten, haben dies natürlich voraus vor andern, die nicht auf dergleichen Dinge eingehen. Diese Dinge spielen im Menschheits­leben eine große Rolle. Wir leben heute in der Zeit, wo es notwendig wäre, daß die Menschen darauf achten würden, daß es solche Dinge

212

gibt. Ich will heute nur auf eines nach dieser Richtung hin aufmerksam machen.

So ungeheuer katastrophal unsere gegenwärtigen Ereignisse sind, so sehr sie schon, rein äußerlich, oberflächlich betrachtet, alles über­bieten, was an Ähnlichem seit dem geschichtlichen Leben sich in der Menschheit ausgebreitet hat, sie sind trotzdem Teilereignisse eines großen, umfassenden Geschehens, eines Geschehens, das nur der­jenige richtig ins Auge fassen kann, der es mit der nötigen Ehrfurcht und mit dem nötigen Ernst betrachtet. So etwas wird ins Auge gefaßt werden müssen. Vor allen Dingen weiß man an gewissen Orten unserer Erdenmenschheit über die Menschheitsentwickelung schon mancherlei. Aber man bewahrt gerade jenen Teil des Wissens sorg­fältig, der Macht in die Hände der Wissenden liefern soll. Nun weiß ich ja nicht, inwiefern Sie dieses bezweifeln wollen, aber die Dinge, die ich meine, sind eben so gesagt, daß ich es jedem frei stelle, davon in seinen eigenen Glauben aufzunehmen, so viel er von ihnen für glaubwürdig hält. - Es streben heute die Menschen der englisch sprechenden Erdenbevölkerung aus gewissen Impulsen heraus, die wir vielleicht auch noch einmal genauer charakterisieren wollen, nach einer irdisch-universellen Weltherrschaft. Das ist kein Ergebnis irgend­eines mitteleuropäisch-chauvinistischen Empfindens, sondern es ist ein Ergebnis der ganz objektiven okkulten Forschung, und es würde von den wissenden Mitgliedern der anglo-amerikanischen Bevölke­rung jedenfalls am allerwenigsten negiert werden - geleugnet viel­leicht, aber nicht negiert -, bloß daß die Wissenden es auf keinen Fall unter die Leute kommen lassen wollen. Diese Wissenden wissen näm­lich auch das Folgende noch, das ich Ihnen anschaulich machen will, indem ich ein klein wenig weiter aushole.

Im Verlaufe der Menschheitsentwickelung, so wie vom dritten, vierten in unseren fünften nachatlantischen Entwickelungszeitraum die Entwickelungszusammenhänge in den Materialismus hinein sich gestaltet haben, sind manche Dinge, die früher Wahrheiten ausdrück­ten, entwertet, richtig entwertet worden. Wenn Sie nach alten Über­lieferungen suchen, finden Sie überall gerade die tiefsten Wahrheiten in die Bildform gekleidet. Mythos, Bilder, Bildformen lassen sich ja

213

heute die Menschen nur noch als Dichtung gefallen. Bei Strindberg zum Beispiel lassen sie es sich gefallen, weil er ja scheinbar Dichtung geben will. Aber die Menschen sind bescheiden, wenn sie sagen: Das brauche man nicht zu glauben, und man soll ja nichts darin sehen, was wirkliche Wahrheit in den Sachen ausdrückt. - Das mythische, bildliche Ausdrücken ist entwertet worden. Die Menschen empfinden bei der Imagination nicht, daß hinter ihr etwas steckt. Dieser Prozeß wird sich im Laufe des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes, insbesondere bei der englisch sprechenden Bevölkerung, auf die Sprache selbst ausdehnen. Nicht nur, daß die Bilder als Ausdrucks­mittel entwertet wurden, sondern das Wort als solches wird entwertet. Wie man heute vom materialistischen Bewußtsein aus das Bild be­kämpft, so wird man in Zukunft das Wort bekämpfen. Man wird sagen, das Wort sei nicht geeignet, durch sich selbst überhaupt etwas Wahres auszudrücken. Fritz Mauthner hat es schon mit seiner «Kritik der Sprache» versucht, der Sprache überhaupt alles aufzuhalsen, was an Aberglauben in der Menschheit existieren soll. Aber er hat es viel­leicht nicht mit einem ungeeigneten Werkzeug zu tun. Sein kritischer Teil ist nämlich ein geeignetes Werkzeug; aber er hat es mit einem ungeeigneten Material zu tun: mit der deutschen Sprache. Damit täuscht er sich. Die englisch sprechenden Okkultisten aber haben das geeignete Material: die englische Sprache. Die hat in ihrem Entwicke­lungsimpuls, den sinnvollen Inhalt zu entwerten, immer mehr und mehr die bloße Wortranke zu haben. Bedenken Sie, wieviel sie heute schon an bloßen Wortschweifen hat, was darin bloß überhudelt wird. Und wer gar englische Philosophie studiert, merkt es ihr an, daß die Sprache nichts mehr hergibt von inhaltsvollem Wortreichtum. Man studiere zum Beispiel John Stuart Mill, Herbert Spencer und andere: Die Sprache gibt nichts her, um in den Geist hineinzukommen. Man kann daran sehen, wie die Sprache eine große Rolle spielt, wenn das Sprachproblem von englisch sprechenden Okkultisten aufgefaßt wird; denn das liegt in den Zeitimpulsen. Daher handelt es sich darum, aus okkulten Untergründen heraus Mittel und Wege zu ersinnen, um ohne die Hilfe der Sprache Weltherrschaft auszuüben. Und das ist der große Gegensatz von Orient und Okzident: der Orient mit seiner ungemein

214

lebendigen Intensität der Sprache, der Okzident mit dem Abwerfen des inneren Sinnvollen der Sprache. Wiederum ist der Mitteleuropäer zwischen die beiden Extreme hineingestellt. Was sich da abspielt und was ein bedeutsames Symbolum hat in etwas, was heute so laut wie möglich geschrieen wird, aber so verlogen wie möglich ist, um das Wahre zu verdecken - das ist wieder nicht aus irgendeiner chauvi­nistischen Empfindung heraus gesagt, sondern aus der nüchternsten geisteswissenschaftlichen Entdeckung -, was so laut geschrieen wird und die verschiedenen Völker zur Geltung bringen, das ist nur gesagt, um das andere zu verhüllen: Der Wille, zur Herrschaft zu kommen auf einem Gebiete, wo die Sprache durch ihren eigenen Entwicke­lungsgang ihre Herrschaft verliert. Das ist etwas, wovon auch die großen, einschneidenden, katastrophalen Ereignisse der Gegenwart Spezialdinge sind; das ist etwas, was einen großen, umfassenden Kampf inauguriert, der sich in den verschiedensten Formen in der nächsten Zeit über die Erdenmenschheit hin zum Ausdruck bringen muß. Es ist nicht etwas, worüber man so denken kann, daß es damit sein wird wie mit allen Kriegen bisher: daß früher auch Kriege ge­wesen sind, daß dann Frieden geschlossen sind und daß es weiterhin sein wird, wie es früher auch war. Sondern das ist etwas, was man als etwas Perpetuierliches ins Auge zu fassen hat; denn nur dann bekommt man über die einschneidenden Ereignisse der Gegenwart durchgrei­fende Gedanken, wenn man solche Dinge berücksichtigt. Man muß sich heute entschließen, über gewisse Verhältnisse nicht mehr oberflächlich zu denken, sondern in die Tiefen hineinzugehen, sonst kommt bei allem, was man zu unternehmen versucht, nichts Beson­deres heraus. Aber es wird der Gegenwart recht schwer, sich an das zu gewöhnen, was auf diesem Gebiete aus der geisteswissenschaftlichen Betrachtung heraus fließen muß. An einer Kleinigkeit trat mir das in diesen Tagen grotesk entgegen, und weil es einen außerordentlich liebenswürdigen Ursprung hatte, war es so grotesk. Ich war in diesen Tagen beschäftigt mit der Ausgestaltung der Neuauflage der «Philo­sophie der Freiheit», die in der nächsten Zeit erscheinen soll. Nun ist es ja lange her, daß ich als junger Mann die «Philosophie der Freiheit» geschrieben habe; ich war damals etwa zweiunddreißig, dreiund­dreißig

215

Jahr alt, es ist also wirklich schon recht lange her. Und das bringt so manche Dinge an die seelische Oberfläche. Nun hatte ich damals mit Bezug auf dieses Werk eine große Befriedigung, wie ich auch in der Zeitschrift «Das Reich» ausgeführt habe. Ich korrespon­dierte damals viel mit Eduard von Hartmann, dem Verfasser der «Philosophie des Unbewußten», und er hatte, als er meine «Philo­sophie der Freiheit» empfangen hatte, in sein Exemplar seine Be­merkungen hineingeschrieben und es mir dann zur Verfügung ge­stellt. Ich habe mir damals diese Bemerkungen abgeschrieben und habe sie heute noch. Sie sehen, eine recht liebenswürdige, alle meine Dankbarkeit herausfordernde Veranlassung liegt vor in bezug auf das, was ich jetzt zu erzählen habe.

Ich hatte in der «Philosophie der Freiheit» zunächst die geistige Wesenhaftigkeit in der Form des sich selbst erfassenden Denkens hingestellt, weil man nur dadurch wirklich zur Erfassung eines Gei­stigen kommt, daß man das, was dem Menschen zunächst als Geistiges entgegentritt - das sich selbst erfassende, auf sich selbst beruhende Denken - wirklich erfährt, wirklich erlebt. Aber, indem dies sich mir damals ergeben hat, hatte ich nötig, über manche Dinge in andern Sätzen zu sprechen, als diejenigen sprachen, die von andern Gesichts­punkten ausgingen. So hatte ich zum Beispiel auf einer Seite den Satz: Die Vorstellung ist ein individualisierter Begriff, der Begriff ist auf intuitive Weise im Geiste erlebt; die Vorstellung ist individualisierter Begriff und wird von dem Ich auf das Objekt nach außen bezogen. - Unter den Dingen, die Eduard von Hartmann damals angestrichen hat, ist auch hier sein Strich, und er hat dazu bemerkt: «Das ist ein ungewöhnlicher Wortgebrauch.» Man sieht, es ist eine sehr liebens­würdige Veranlassung, aber etwas, was sehr charakteristisch ist. Denn wenn man Großes mit Kleinem vergleichen darf könnte man fol­gendes heranziehen. Als Kopernikus den Gedanken ausgesprochen hatte: Nicht die Sonne dreht sich um die Erde, sondern die Erde um die Sonne -, wenn ihm da jemand an den Rand geschrieben hätte: Das ist ein ungewöhnlicher Wortgebrauch -, was wäre das für eine Sonderbarkeit gewesen! Natürlich muß ein ungewöhnlicher Wort­gebrauch bei etwas herauskommen, was neu auftritt. Aber Sie sehen,

216

wie von dorther, wo man glauben sollte, daß unbedingtes Verständnis vorhanden sein könnte, einem entgegentönt: Das ist ein ungewöhn­licher Wortgebrauch! - Wenn die Menschen niemals sich entschlossen hätten, ungewöhnlichen Wortgebrauch zu haben, so gäbe es ja gar keinen Fortschritt, nicht nur auf geistigem Gebiete. Das ist ein Bei­spiel, wo es einem recht anschaulich entgegentritt. Sie werden auf Schritt und Tritt finden, wie vor allem schon dem Wortgebrauche gegenüber, den die Geisteswissenschaft zur Anwendung bringt, Ab­lehnung vorhanden ist. Was heute allerdings, schon wie ein recht ausgetragenes Kleid, die alten Weltanschauungen darstellt, das könn­ten nicht einmal die alten Weltanschauungen verwenden; denn das ist so ausgetragen, daß es selbst die «Reichsbekleidungsstelle» nicht mehr annehmen würde, wenn es ihr wirklich in der Form eines Klei­des, wie es ihr entspricht, angeboten würde. Aber wenn es als Weltanschauung auftritt, die im Inneren der Seele lebt, dann merken es die Menschen nicht. Dafür muß man eine Empfindung bekommen. Das gehört zu dem, was die Menschen der Gegenwart brauchen, um die Zeit zu verstehen. Und die Zeit muß verstanden werden!

Das ist es, was uns immer wieder ans Herz gelegt werden muß. Sonst werden die einzelnen Wissenden und ihr Wissen im Dienste der Menschheit Bewachenden sehr leicht die Oberhand bekommen. Dar­auf kommt es an, daß man dafür sorgt, daß ein bestimmtes Wissen nicht in den Dienst eines Teiles der Menschheit gestellt wird, sondern in den Dienst der Gesamtheit der Menschheit. Sobald man auch das beste Wissen nicht mit dieser Gesinnung durchtränkt, wird das beste Wissen zum Unheil für die Menschheit werden.

217

ZWÖLFTER VORTRAG Berlin, 16. April 1918

Ich habe gestern in dem öffentlichen Vortrag «Menschenwelt und Tierwelt» unter mancherlei anderem auf eine Vorstellung hingewiesen, die man bekommen kann über das menschliche Seelenleben, auf eine Vorstellung, die selbstverständlich keine irgendwie hypothetische ist, sondern eine solche, die unmittelbar der Wirklichkeit des Seelenlebens selbst entspricht. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, was in der tierischen Welt Anfang und Ende des Lebens bildet, was gewisser­maßen zwei Augenblicke nur umfaßt: das Hereintreten ins physische Leben und das Herausgehen aus demselben, Empfängnis und Tod; sie stehen so zum tierischen Leben, daß man sagen könnte: Das tierische Leben stellt sich als eine Leiter dar, am Anfang die Empfängnis, am Ende der Tod. Ich habe darauf aufmerksam gemacht, daß diese beiden Erlebnisse durch das ganze Seelenleben des Menschen wirklich durchgehen, daß das Seelenleben des Menschen in jedem Augenblicke in ein Ganzes das zusammenfaßt, was im Tierischen erlebt wird, wenn die niemals eigentlich ganz auf den physischen Plan kommende Gattungsseele durch die Empfängnis ein Wechselver­hältnis herstellt zu dem physischen Wesen. Und etwas wie ein Anflug eines Ich-Bewußtseins tritt in dem einzigen Augenblick des Sterbens beim Tier auf. Ich habe gestern darauf aufmerksam gemacht, daß der, welcher tierisches Sterben zu beobachten in der Lage ist, schon eine Vorstellung davon bekommen kann, wie im Grunde genommen das, was beim Menschen durch das ganze Leben läuft, das Ich-Bewußtsein, für das Tier nur in diesem Moment des Herausgehens aus dem Leben vorhanden ist. Aber das Wichtige ist eben dies: daß die zwei Augen­blicke, die wirklich nur zwei Augenblicke im tierischen Leben sind, in eins zusammengefaßt sind wie in einer Synthese und durch das menschliche Leben so durchgehen, daß das menschliche Haupt, die eigentümliche Art der Organisation, wie ich es auseinandersetzte, eben ein fortwährendes Empfangenwerden und Sterben entwickeln kann, leise anklingend daran aber so ist das menschliche Seelen-

218

leben, und dadurch entsteht der berechtigte Gedanke der mensch­lichen Unsterblichkeit -, daß dieses menschliche Seelenleben fort­während verläuft aus dem Ineinander-Verwobensein von Konzep­tion oder Empfängnis und Tod.

Ich fügte dann noch hinzu: Jedesmal wenn wir einen Gedanken haben, wird der Gedanke herausgeboren aus dem Willen, und jedes­mal wenn wir wollen, erstirbt der Gedanke in den Willen hinein. Schopenhauer, sagte ich, habe sehr einseitig die Sache dargestellt, indem er nur den Willen als etwas Reales hingestellt hat. Er hat nicht eingesehen, daß «Wille» nur die eine Seite der Sache ist, gewissermaßen nur der sterbende Gedanke, während der «Gedanke» der geboren-werdende Wille ist. Wer so schildert wie Schopenhauer, der gleicht einem Menschen, der vom menschlichen Leben nur die Zeit etwa vom fünfunddreißigsten Jahre an bis zum Ende schildert. Aber jeder Mensch, der fünfunddreißig Jahre alt war, muß vorher noch etwas anders alt gewesen sein. Es gibt auch noch etwas für die Zeit von der Geburt bis zum fünfunddreißigsten Jahr. Schopenhauer schildert nur den Willen; und den Gedanken, beziehungsweise die Vorstellung betrachtet er wie einen Schein. Aber das ist nur die andere Form der Sache; der Gedanke vom Willen, der geboren werden will, während der Gedanke der sterbende Wille ist. Und indem wir in unserem Seelenleben fortwährend ineinander verwoben haben Gedanken und Willen, haben wir ebenso Geburt, die auf die Empfängnis zurückführt denn die Wahrnehmung ist Empfängnis -, und Sterben.

Diese Vorstellung ist eine solche, zu der man, auch wenn man sie anatomisch, physiologisch begründen will, nichts anderes braucht als die gegenwärtige Wissenschaft und den Willen, den guten Willen, seelische Erscheinungen wirklich zu beobachten. Wer die Erfahrungen, die man mit dem menschlichen Gehirn macht, nicht so darlegt, wie das gegenwärtig von seiten der offiziellen Wissenschaft geschieht, sondern wer vorurteilslos das, was Physiologie und Biologie des menschlichen Gehirns ergeben, wirklich prüft, der findet, daß das, was ich eben gesagt habe, gut wissenschaftlich fundiert ist. Und wenn sich die Menschen all die Firlefanzereien, die heute an den Universi­täten getrieben werden, um in den psychologisch-physiologischen

219

Laboratorien allerlei Zeug zu untersuchen, weil die Anatomen keine Gedanken haben, sondern sich statt dessen an die Apparate setzen, um das Seelenleben der Studierenden erst zu malträtieren und dann zu erforschen, wenn sich die Menschen dies nicht gefallen ließen, dann würde man auch wirklich zum Beobachten des Seelenlebens kommen können und würde dann auch einen Begriff bekommen von dem fortwährenden Geborenwerden und Sterben im menschlichen Seelenleben selbst, von jener Metamorphose, die nur eine Steigerung der Goetheschen Metamorphose ist. Aber die gegenwärtige Wissenschaft hat es heute, nach hundert Jahren, noch nicht einmal dahin gebracht, die Goethesche Metamorphose zu verstehen, geschweige einen solchen Gedanken, der einmal der Menschheit übergeben worden ist, wirklich weiterzubringen.

Solche Gedanken, wie ich sie gestern versuchte zu skizzieren, sind nichts anderes als die weitergebildete Goethesche Metamorphosenlehre. Das alles sind Dinge, die festgestellt werden können, ohne daß irgendein hellsichtiges Bewußtsein dafür eintritt. Dazu gehört nur wirkliche Wissenschaft und Seelenbeobachtung. Würde man dagegen, statt zu all den vielfachen Torheiten, zu denen offizielle Wissenschaft die Leute führt, eine Anzahl von Studenten und Studentinnen dazu bringen, eine solche Sache zu begreifen, dann würde der Weg nicht mehr weit sein, um Geisteswissenschaft wirklich der Kultur der Menschheit einzuprägen. Denn gerade solche Gedanken, die wissen­schaftlich heute festgestellt werden können, zu deren Fruchtbar­machung für das Seelenleben nichts anderes gehört als der gute Wille, wirklich zu beobachten, und Gedanken zu haben, solche Begriffe, solche Vorstellungen könnten die Brücke bilden von der äußeren sinnlichen Wissenschaft zu der Geisteswissenschaft, die nicht aus dem Grunde sich nicht verbreitet, weil sie nicht verständlich wäre für jene Menschen, die kein Hellsehen haben, sondern weil durch die Bruta­lität der gegenwärtigen wissenschaftlichen Gesinnung sich so etwas, das neu ins Dasein tritt, überhaupt nicht verbreiten kann. Es schadet nichts - das ist meine Überzeugung -, wenn manchmal diese Dinge auch wirklich bei ihrem wahren Namen genannt und so charakterisiert werden, wie sie eigentlich sind. Man kann schon sagen: Wichtiger

220

noch, als daß ein solcher Gedanke sich als Gedanke verbreitet, ist die Wirkung eines Gedankens auf das menschliche Seelenleben. Es kommt nämlich viel weniger darauf an, was wir für Gedanken haben, als welche Kräfte wir anwenden müssen, um den einen oder andern Gedanken zu fassen. Die menschliche Seelenverfassung muß eine ganz andere sein, ob man irgendeinen völlig toten Gedanken der heutigen sogenannten Wissenschaft, oder ob man einen lebendigen Gedanken der Geisteswissenschaft faßt. Das eine Mal, beim lebendigen Gedanken der Geisteswissenschaft, wird der ganze Mensch innerlich in Anspruch genommen, wird innerlich belebt und hineingestellt in den Kosmos; bei dem dagegen, was vieifach die heutige Wissenschaft produziert, besonders wenn sie über ihr engstes Gebiet hinausgeht, wird der Mensch seelisch hinausgeschoben aus dem kosmischen Zusammen­hang.

Das muß man einsehen. Das ist aber auch das, was wirklich durch die Geisteswissenschaft der Menschheit zugeführt werden muß. Denn gerade da, wo die Dinge für das unmittelbare Leben anfangen wichtig zu werden, zum Beispiel in der Erziehung, im Unterricht und in allem, was damit zusammenhängt, ist es von grenzenloser Bedeutung, daß lebendige, ins Leben unmittelbar eingreifende Begriffe die menschlichen Seelen umfassen können. Dann wird sich für die Seele selbst, welche die Dinge so anzuschauen vermag, ergeben, was die Aufgaben, was das Wesentliche ist im Eingreifen der Geisteswissen­schaft für die ganze Geisteskultur unserer Zeit. Das müßte in seiner ganzen Bedeutung eigentlich einmal eingesehen werden. Dann würde man erst sehen, wie notwendig wir es haben, auf das fast ganz ver­renkte Denken, welches der gegenwärtigen Lebenspraxis zuweilen zugrunde liegt, mit unbefangenen Augen hinzuschauen. Die Sym­ptome dieses verrenkten Denkens werden gar nicht so leicht gefaßt.

Ich habe gestern auf eines aufmerksam gemacht. Es ist ja auch bei uns, in unserer Praxis, schon notwendig, daß gar nichts von dem entfaltet werde, was man nennen könnte: Lässigkeit des Denkens, Trägheit des Denkens. Denn denken Sie einmal, wenn Lässigkeit des Denkens bei uns entwickelt würde! Ich habe in den letzten Zeiten

221

überall, wo ich nur vortragen konnte, nach allen Richtungen hin das Lob des Buches von Oskar Hertwig gesungen: «Das Werden der Organismen.» Ich habe es das beste Buch der letzten Zeiten in bezug auf wissenschaftliche Leistungen genannt. Ich bin nicht zurückhaltend gewesen, weil es einmal von einem Menschen, der auf der Höhe der wissenschaftlichen Methoden seiner Zeit steht, unternommen worden ist, den Darwinismus aufzudröseln, in seine Grenzen zurückzuweisen. Bis auf die letzten Seiten konnte man mit ihm gehen. Jetzt ist das letzte Buch von Oskar Hertwig erschienen: «Zur Abwehr des ethi­schen, des sozialen, des politischen Darwinismus.» Und wie ich schon angedeutet habe, möchte man gegen die Impotenz, gegen das Bor­nierte, Beschränkte, Triviale, Unsinnige dieses Buches wirklich Worte finden, die möglichst scharf sind. Da verläßt einmal der naturwissen­schaftliche Forscher das engste Gebiet und redet ganz gehöriges Blech, aber ausgewalztes Blech! Und ich habe ein Beispiel angeführt, habe erwähnt, daß der gute Mann über die naturwissenschaftlichen Methoden das Folgende sagt: Endiich mußte alle Naturwissenschaft nach dem Muster der Astronomie gebaut werden. Natürlich ist auch das nicht original; Du Bois-Reymond hatte es schon im Jahre 1872 gesagt, als er über den Bau der Atomenwelt sprach. Aber bedenken Sie, man sollte die Tatsachen um uns herum beobachten; dann aber wird als Muster die astronomische Theorie aufgestellt, welcher der Mensch so fern wie möglich steht! Logisch ist das nicht mehr wert, als wenn man einer Familie, die irgendwo draußen auf dem Lande in Armut schwimmt, das innere Leben dieser Familie dadurch begreiflich machen will, daß man ihr sagt: Du darfst nicht begreifen, wie sich in deiner Familie Vater und Mutter, Sohn und Tochter verhalten, sondern wie es in einem Grafenhause ist; daraus kannst du entnehmen, wie sich die Familiengesetze gestalten sollen! - Über solche Sachen wird aber heute hinweggelesen, das wird gar nicht beachtet. Bei uns aber ist es nötig, daß derlei Dinge beachtet werden. Bei uns darf es nicht nur keinen Autoritätsglauben, sondern auch kein Faulbett geben. Wir sind uns klar, daß, wenn einmal ein Urteil über einen Menschen gefällt ist, man sich nicht darnach auf alles verlassen kann, was sonst von demselben Menschen kommen könnte. Hier handelt es sich um

222

anderes, und das soll wirklich auch bis in die Einzelheiten des Ge­barens praktisch durchgeführt werden. Deshalb darf sich niemand wundern, wenn die eine Tätigkeit Oskar Hertwigs das eine Mal bis in den Himmel hinaufgehoben wird, und das nächste Mal etwa bis in die Hölle versenkt wird; denn das muß geschehen; aber man muß sich üben, das Leben vorurteilslos anzuschauen. Denn wer sich darin nicht übt, der bemerkt auf der einen Seite gar nicht, wie die unmittel­baren Tatsachen des Lebens sind, und auf der andern Seite nicht, wo er den Eingang zur geistigen Welt nur finden kann. Ich möchte ein kleines Beispiel dafür anführen. Ich weiß nicht, wie viele Leute die Sache bemerkt haben, aber so bemerkt haben, daß man wirklich die Nutzanwendung daraus im Leben zieht.

Da ist vor einiger Zeit im «Berliner Tageblatt» ein Artikel von Fritz Mauthner erschienen, worin sich dieser in den unglaublichsten trivialen, aber wirklich schon furchtbar trivialen Widerlegungen eines Mannes erging, der ein Buch geschrieben hat, in dem er neben ande­rem auch über Goethes Horoskop gesprochen hat. Ungemein selbst­gefällig schrieb der Kritiker der Sprache, Fritz Mauthner, lange Spal­ten, versuchte zu zeigen, was dieser Mann an der Gegenwart für ein Unrecht dadurch begeht, daß er in einem Buche, das noch dazu in einer so populären Sammlung wie «Aus Natur und Geisteswelt» erschien, über das Goethesche Horoskop schreibt und dergleichen. Man bekam gegenüber diesem Artikel Fritz Mauthners das Gefühl: Es ist nun doch wirklich der Trivialität ein wenig zu viel. Aber davon abgesehen, der Verfasser dieses Buches in der Sammlung «Aus Natur und Geisteswelt» ist eigentlich ein ziemlicher Durchschnittsgelehrter der heutigen Zeit, und man konnte nicht recht begreifen, daß etwas vorliegen sollte, worüber man sich besonders aufregen müßte. Denn eigentlich wußte man gar nicht, warum Fritz Mauthner sich irgendwie aufregte. Man konnte es um so weniger begreifen, als der Verfasser dieses Büchelchens sich über alle die Leute lustig macht, die jene dort behandelten Dinge ernst nehmen, und Fritz Mauthner wendet sich gegen diesen Mann eigentlich nur aus dem Grunde, weil er über das Horoskop spricht. Nun hat derselbe Mann, der dieses Büchelchen verfaßt hat, sich im «Berliner Tageblatt» gerechtfertigt und klar-

223

gelegt, daß ihm gar nicht eingefallen sei, für die Astrologie einzuspringen. Also der Mann hatte eigentlich alles erfüllt, was auch Fritz Mauthner nach seiner Funktion verlangen konnte. Die beiden sind ganz und gar einig, aber Fritz Mauthner ist dennoch über den Mann hergefallen, indem er es als etwas sozial höchst Gefährliches betrachtete, daß ein derartiges Buch in einer solchen Sammlung er­schien. Und das «Berliner Tageblatt» macht dazu die Bemerkung, daß es eigentlich nicht finden könne, daß Fritz Mauthner die Sache nicht richtig verstanden habe; es sei im Gegenteil ganz einverstanden mit dem, was Mauthner geschrieben hat.

Das ist nur ein besonders eklatantes Beispiel für jenen Grad geisti­gen Schwachsinns, der auf dem Grunde eigentlich aller dieser Dinge schon ruht. Wenn man auf der andern Seite ins Auge faßt, wie sehr das Leben eigentlich verquickt ist mit dem, was in solcher Journa­listen-, in solcher inferioren Geistestätigkeit zum Ausdruck kommt, dann kommt man schon auf die Gedanken, welche die gegenwärtige geistige Kultur charakterisieren. Und diese Gedanken muß man eigent­lich haben. Das gehört notwendigerweise dazu, wenn man Verständnis gewinnen will für die Aufgaben, welche die geisteswissenschaftliche Richtung eigentlich haben kann. Was man vor allem wissen muß, das ist, daß solche Dinge, wie Verlogenheit, Lüge, reale Mächte sind, und man kann sich nichts ärger Verlogenes vorstellen, als wenn so etwas geschieht: Der eine schreibt ein Buch über Astrologie, der andere fällt über ihn her, weil er nicht will, daß überhaupt jemand darüber schreibt, und der erste rechtfertigt sich nun, indem er sagt: Du, ich mache damit aber nur einen Spaß. - Hätte er vorher gesagt: Ich mache damit nur einen Spaß, daß ich hier auch noch das Horoskop Goethes erzähle -, dann würde Mauthner befriedigt gewesen sein.

Die Dinge sind durchaus ernst und hängen mit den ernstesten Strömungen der Gegenwart zusammen, vor allem mit dem, was man auch durchschauen muß: daß es die Geisteswissenschaft notwendig in unserer Gegenwart schwierig haben muß, um durchzudringen, um irgendwie etwas von dem zu erreichen, was ihr zu erreichen eigentlich obliegt. Sie fordert wirklich ein starkes und mutiges Denken, und neben all ihrem Inhalt ist dies notwendig, daß man sich eben etwas

224

vertraut macht mit dem Gedanken, daß die Geisteswissenschaft ein starkes und mutiges Denken fordert. Diesem starken und mutigen Denken ist vielfach der Boden abgegraben worden. Wie ihm der Boden abgegraben worden ist, das allerdings führt wieder dazu, etwas einzusehen: daß bei diesem Abgraben des Bodens nicht allein bloß irdische, menschliche Wesenheiten tätig waren, sondern daß seit Jahr­hunderten die großen ahrimanischen Mächte der Menschheit dabei am Werke sind. Zu all den Dingen, die von den ahrimanischen Wesenheiten unternommen worden sind, um die Menschheit in ein solches Wirrsal hineinzubringen, aus dem heraus das Licht wieder gefunden werden muß, zählt vor allem auch das, daß man die Menschen dazu gebracht hat, nicht mehr einzusehen, daß alles Materielle im Geistigen wurzelt, und daß alles Geistige sich materiell offenbaren will. Man hat die Welt zerrissen, das Zusammengehörige auseinander­gebracht. Vor allen Dingen, wenn man das äußere Historische der fortlaufenden christlichen Strömung nicht des Christentums ins Auge faßt, da findet man ahrimanische Mächte, die durch die Mensch­heit wirken, in dieser christlichen Entwickelung gar sehr am Werke. Eines schon unter vielem andern sollte man beachten: das Auseinanderreißen desjenigen, was Sonne und Sonnenkraft einerseits, und was Christus und Christus-Kraft andererseits ist. Wenn nicht der Zusammenhang zwischen Sonne und Sonnenkraft und Christus und Christus-Kraft wieder erkannt wird, dann wird die Welt nicht immer leicht an das Geistige angeknüpft werden können. Darin liegt aber gerade eine der Hauptaufgaben geistiger Wissenschaft, daß man in einer andern Weise in der Weise, wie es dem Durchgeistigtsein der Menschheit mit dem Christus-Mysterium entspricht wiederum das große Sonnengeheimnis auffinden kann, das durch die Zeiten vor dem Mysterium von Golgatha noch nicht das Christus-Geheimnis sein konnte, das nachdem aber zugleich das Christus-Geheimnis geworden ist. Julian der Abtrünnige, der Apostat, kannte das Sonnenmysterium nur noch in der alten Form, er verstand noch nicht, daß es das Christus-Mysterium war. Das ist sein tragisches Geschick, das tragische Geschick, daß er von dem welthistorischen Wahn befallen war, der Menschheit das Geheimnis von der geistigen Kraft der Sonne

225

mitzuteilen. Das führte dann auch dazu, daß er auf seinem persischen Zuge ermordet worden ist.

Wir haben aber im 19. Jahrhundert noch eine geistige Unter­nehmung zu verzeichnen, die von ahrimanischen Mächten aufgerichtet worden ist, um das, was ich jetzt sage: das Sonnenmysterium in Ver­bindung mit andern Mysterien -, die Menschheit nicht wissen zu lassen. Auch diesen Dingen muß man gehörig ins Auge schauen. Ich erwähne jetzt etwas, was man, wenn ich es nicht vor vorbereiteten Menschen, sondern in irgendeinem wissenschaftlichen Verein oder dergleichen erwähnen würde, selbstverständlich für Wahnsinn halten würde. Aber darauf kommt es nicht an. Es handelt sich darum, die Wahrheit zu sagen; denn die Entscheidung darüber, ob man selbst oder die andern wahnsinnig sind, ist ja eine Frage, die dabei nicht zum Austrag ge­bracht werden muß. - Im 19. Jahrhundert ist im wesentlichen erst eine Vorstellung entstanden, welche heute die ganze Wissenschaft beherrscht, und die, wenn sie im stärkern Grade noch als gegenwärtig schon herrschen wird, niemals gesunde Vorstellungen über das geistige Leben wird Platz greifen lassen. Zu den Vorstellungen, die heute über die Grundprinzipien von Physik und Chemie verbreitet sind, gehört die Grundvorstellung von der Erhaltung der Kraft, von der Erhaltung der Energie, wie sie heute vertreten wird. Sie können heute überall nachforschen und werden hören, daß gesagt wird, Kräfte verwandeln sich nur. Die vorgebrachten Beispiele sind natür­lich im einzelnen überall berechtigt. Wenn ich mit der Hand über den Tisch streiche, wende ich Druck auf, aber die aufgewendete Kraft ist dadurch nicht verbraucht, der Druck verwandelt sich in Wärme. So verwandeln sich alle Kräfte. Eine Umwandelung der Kraft, der Energie findet statt. «Erhaltung des Stoffes und der Kraft» ist ja ein Schlagwort, das im eminentesten Sinne alles, was heute wissenschaft­lich denkt, ergriffen hat. Daß nichts entsteht und vergeht in bezug auf das Stoffliche und in bezug auf die Energien, die Kräfte, das gilt als ein Axiom. Führt man es in seinen Grenzen an, so kann man gar nichts dagegen haben. Aber man führt es ja in den Wissenschaften nicht innerhalb der Grenzen an, sondern so, daß man es zu einem Dogma, zu einem wissenschaftlichen Dogma macht.

226

Es hat sich ja gerade im 19. Jahrhundert eine merkwürdige ahrimanische Praxis der Vergröberung der Vorstellungen herausgebildet. Da ist eine wunderbar glänzend schöne Abhandlung von Julius Robert Mayer über die Erhaltung der Energie erschienen. Diese Abhandlung, die im Jahre 1842 erschienen ist, wurde damals von den meisten tonangebenden Geistern Deutschlands zurückgewiesen; sie galt als dilet­tantisch. Julius Robert Mayer ist später sogar ins Irrenhaus gesperrt worden. Heute weiß man, daß er eine grundlegende wissenschaftliche Entdeckung gemacht hat. Aber das hat nicht gewirkt. Denn man kann leicht nachweisen, daß die, welche ihn bei diesem wissenschaft­lichen Gesetz erwähnen, ihn selbst nicht gelesen haben. Es gibt eine Geschichte der Philosophie von Ueberweg, worin Mayer auch erwähnt wird; in ein paar Zeilen wird darin von ihm gesprochen. Wer sich aber diese paar Zeilen durchliest, der weiß sofort: Dieser klassische Geschichtsschreiber der Philosophie, den alle Studenten durchochsen müssen, hat nichts von ihm gelesen; sonst könnte er nicht einen sol­chen Stiefel geschrieben haben wie das, was die Studenten zu ochsen haben. Aber es ist ja die Sache auch nicht in der feingeistigen Art, wie sie bei Mayer behandelt wird, in die Menschenseelen übergegangen, sondern in einer viel gröberen Weise. Und das kommt vor allem daher, weil nicht die Gedanken von Julius Robert Mayer, sondern die des englischen Bierbrauers Joule und des Physikers Helmholtz unter völligem Verlassen der Gedanken Julius Robert Mayers in die Wissen­schaft übergegangen sind. Aber man findet es heute nicht nötig, diese Dinge ins Auge zu fassen. Diese Verhältnisse müßte man an unseren höheren Unterrichtsanstalten auch kennenlernen. Man müßte doch auch erfahren, weshalb der Darwinismus eine so rasche Ausbreitung gefunden hat. Denn glauben Sie mir, wenn Darwins Buch «Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl» einfach so erschienen wäre, als ein Buch ins Publikum geworfen, es hätte nicht so alle populären Kreise ergriffen, und wären diese Ansichten auf den Wolken herangetragen worden. Nein, was dem Darwinismus eigent­lich zugrunde liegt, dem war schon vorgearbeitet. Es ist nämlich 1844, also lange Zeit vor Darwin, ein zusammengestoppeltes Buch herausgekommen, das in der trivialsten Weise alle die Dinge nennt,

227

welche Lamarck und andere gesagt haben. Es war ein rein buch­händlerisch spekulatives Unternehmen, das Robert Chambers in Edin­burgh hat erscheinen lassen, weil man wußte, man kann auf die Instinkte des 19. Jahrhunderts rechnen und dringt mit so etwas durch. Und in diese so geschwängerte Atmosphäre hat Darwin seine Sachen hineingeworfen. Er hat nur die Dinge von Lamarck mit der Selektions­theorie durchsetzt; denn den englischen Praktikern waren diese Sachen schon längst bekannt. Denn vorher war ein Buch erschienen: «Schiffbaukonstruktion und Baumkultur» von Patrick Matthew, darin ist die Selektionstheorie offen ausgesprochen. - Die Wege, auf denen diese Dinge in die Kultur des 19. Jahrhunderts hineingegangen sind, müßten einmal aufgedeckt werden. Geschichte, so wie sie dargestellt wird, ist ein Mythos, eine große Verlogenheit auf den meisten Ge­bieten. Es handelt sich darum, daß man wirklich ins Auge faßt, was tatsächlich geschehen ist. Denn es ist etwas anderes, ob der junge Mensch weiß, daß man es mit einer wissenschaftlichen Tatsache zu tun hat, oder ob es sich um die Gedanken des englischen Bierbrauers Joule handelt. Es ist etwas anderes für ihn, zu wissen, ob etwas durch alle wissenschaftlichen Betrachtungen des 19. Jahrhunderts festgestellt wurde, oder ob man es mit einem Unternehmen des Edinburgher Ver­lagsbuchhändlers Robert Chambers zu tun hat. Das führt in der rich­tigen Weise in die Wahrheit hinein. Auf Wahrheit vor allem muß sich die Menschheit einstellen.

Diese Vorstellung von der absoluten, nicht relativen, Unvergäng­lichkeit des Stoffes und der Kraft verhindert - man könnte es heute physiologisch feststellen, und nur das Dogma von der Erhaltung der Energie hindert die Menschen daran -, daß der Ort erkannt werde, wo wirklich Stoff ins Nichts verschwindet und neuer Stoff beginnt. Und dieser einzige Ort in der Welt - es sind viele Orte - ist der mensch­liche Organismus. Durch den menschlichen Organismus geht der Stoff nicht bloß durch, sondern während des Prozesses, der sich see­lisch erlebt in der Synthesis von Konzipiertwerden und Sterben, spielt sich körperlich das ab, daß gewisser Stoff, der von uns aufgenommen wird, tatsächlich verschwindet, daß Kräfte vergehen und neu erzeugt werden. Diejenigen Dinge, die dabei in Betracht kommen, sind eigent­lich

228

älter beobachtet, als man meint. Aber auf diese Beobachtungen wird kein Wert gelegt. Man studiere nur einmal sorgfältig die Blut­zirkulation im Inneren des Auges: Mit den Instrumenten, die heute schon vollkommen genug sind, um auch äußerlich so etwas sehen zu können, wird man an der Blutzirkulation rein äußerlich, physikalisch, nachweisen können, was ich eben ausgesprochen habe. Denn man wird zeigen können, daß Blut nach einem Organ peripherisch hingeht, in das Organ hinein verschwindet und aus ihm wiederum erzeugt wird, um zurückzufließen, so daß man es nicht mit einem Blutkreislauf zu tun hat, sondern mit einem Entstehen und Vergehen. Diese Dinge gibt es, doch die dogmatischen Vorstellungen der heutigen Wissenschaft hindern das, worauf es in bezug auf sie ankommt. Deshalb werden die Menschen heute auch gehindert, gewisse Pro­zesse und Vorgänge, die einfach real sind, in ihrer Realität zu be­trachten.

Was ist es für die heutige Wissenschaft, wenn Menschen sterben, rein als physische Wesen sterben? Man nimmt davon in der Wissen­schaft keine Notiz. Sonst beschäftigt man sich ja genügend mit den Toten, weil man an die Lebenden nicht herankommen kann, aber man nimmt in der Wissenschaft nicht von der Tatsache des Sterbens Notiz. Daß man sich sonst mit den Toten beschäftigt, dafür wurde mir erst gestern ein Beispiel erzählt. Im Jahre 1889 wurde Hamerling in Graz provisorisch beigesetzt. Später sollte er in eine andere Gruft überführt werden. Während der Überführung der Herr, der die Sache aufdeckte, hat es mir erst gestern erzählt von der provisorischen Gruft in die spätere, verschwand der Schädel. Der Schädel war nicht da. Der betreffende Herr ist der Sache nachgegangen, und da hat sich denn herausgestellt, daß im Universitätsmuseum ein Gipsabguß von dem Schädel genommen worden war. Der Schädel hat, eingepackt in Zei­tungspapier, an einer Stelle dort gestanden, und nur dadurch ist er wieder in sein Grab zum übrigen Organismus gekommen, daß da­mals die Sache aufgedeckt worden ist. Man beschäftigt sich also schon mit den Toten, aber nicht mit der Tatsache des Todes. Denn diese Tatsache des Todes führt ebenfalls dazu, Wichtigstes einzusehen. Der Menschenstaub nämlich - ich habe schon in einer der letzten

229

Betrachtungen darauf hingewiesen - macht ganz besondere Wege durch. Ich habe darauf hingewiesen, daß er eigentlich den Weg nach oben anzutreten versucht. Es würde tatsächlich der Staub, der vom Men­schen kommt, anders als anderer Staub, in den ganzen Kosmos hinein zerstäuben, ganz gleichgültig, ob der Leichnam verbrannt wird oder verwest, wenn er nicht ergriffen würde von der Sonnenkraft, von der Kraft, die in der Sonne ist. In der Tat, diejenige Kraft, die uns an der Oberfläche des glitzernden Steines erglänzt, oder wenn wir die Pflanzenfarben sehen, das ist nur eine Kraft der Sonne, das ist diejenige Kraft, die Julian, der Apostat, die sichtbare Sonne genannt hat. Dann haben wir die unsichtbare Sonne, welche der sichtbaren zugrunde liegt, wie die Seele dem äußeren physischen Menschenorganismus. Diese Kraft, die natürlich nicht mit den physischen Ätherstrahlen herunterkommt, sondern die darin erst wieder lebt, diese Kraft belebt in einer ganz besonderen Weise den Menschenstaub, so wie sie sonst nichts, nicht den mineralischen, nicht den pflanzlichen und nicht den tierischen Staub belebt. Eine fortwährende Wechselwirkung findet statt Post mortem zwischen dem, was rein äußerlich, leiblich, vom Menschen übrigbleibt, und den Kräften, die von der Sonne herunter-strahlen. Beides begegnet sich. Die Kräfte, die da herunterströmen, um den Menschenstaub zu bewegen, sind allerdings diejenigen Kräfte, die der Tote selber jetzt als geistig-seelische Individualität nach dem Tode entdeckt. Während wir, indem wir in den physischen Leib hinein inkariert sind, die physische Sonne sehen, entdeckt der Tote, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, die Sonne zuerst als das Weltenwesen, welches da unten auf der Erde Menschenstaub be­lebt. Das ist eine Entdeckung, die der Tote unter den allgemeinen Entdeckungen, die er nach dem Tode macht, auch macht. Er lernt kennen das Ineinander-Verwobenwerden von Sonnenkraft, von see­lischer Sonnenkraft mit Menschenstaub. Und indem er dieses Gewebe kennenlernt zwischen Menschenstaub und Sonnenkraft, lernt er erstens überhaupt das Geheimnis der Wiederverkörperung kennen, von der andern Seite gesehen, vorbereitend die nächste Inkarnation, aus dem Kosmos heraus webend die nächste Inkarnation. Und außer­dem lernt er von der andern Seite gewisse Tatsachen erkennen, auf

230

denen das Geheimnis der Wiederverkörperung beruht, wovon wir in der nächsten Zeit auch sprechen werden.

Dies führt uns nun wieder dahin, einen Begriff zu erhalten, wie ganz anders die Vorstellungen des inneren Lebens der Menschenseele sind, wenn die Seele durch die Pforte des Todes gegangen ist, gegenüber den Erlebnissen, welche die Seele hier hat. Diese Erlebnisse nach dem Tode sind schon in der ganzen Konfiguration der Seele anders. So wie wir hier zwischen Schlafen und Wachen abwechseln, so wechselt der Tote auch zwischen Bewußtseinszuständen ab. Ich habe hier in diesen Vorträgen schon darauf aufmerksam gemacht, will es aber von einem andern Gesichtspunkte aus noch einmal kurz charakterisieren.

Wir leben hier, neben anderem, in Gedanken, innerlich seelisch. Der Tote tritt in eine Realität ein. Was für uns bloß Gedanken sind, ist diese Realität. Während wir im physischen Leben die äußerliche mine­ralische, pflanzliche, tierische Welt wahrnehmen und dazu unsere eigene physische Welt haben, ist das, wovon wir nur den Schatten erleben im Gedanken, für den Toten gleich da, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist. Und diese Welt, in die er da eintritt, verhält sich zur physischen wirklich so, wie hier die Gegenstände zu den Schatten. Wir haben im Gedanken nur die Schatten dessen, was der Tote erlebt. Aber der Tote erlebt das anders, als wir Gedanken erleben. Er erfährt über die Gedanken etwas anderes, als der Mensch hier, wenigstens in unserem heutigen Zeitalter. Für gewöhnlich träumt der Mensch in bezug auf die Gedanken. Der Tote aber erfährt: Indem er denkt, also in Gedanken als in Realitäten lebt, wird er, wächst er, gedeiht er; in demselben Maße, als er die Gedanken verläßt, nicht in ihnen lebt, entwird er, wird magerer, spärlicher. Entstehen und Ver­gehen selber hängt post mortem zusammen mit In-Gedanken-Leben und Außer-den-Gedanken-Leben. Wenn es hier so wäre, daß die Menschen magerer würden, die nicht denken wollen, so könnte sich eine merkwürdige Welt zeigen. Aber wir erleben eben nur die un­wirksamen Schatten der Gedanken, die keine realen Wirkungen haben. Der Tote erlebt die Gedanken als Wirklichkeiten; sie nähren ihn, oder zehren ihn ab in seinem seelisch-geistigen Dasein. Und diese Zeit, in der die Gedanken ihn nähren oder abzehren, ist zugleich die Zeit, in

231

welcher er sein übersinnliches Wahrnehmungsleben entwickelt. Er sieht, wie die Gedanken in ihn einströmen, und wie sie wieder weg­gehen. Es ist nicht ein solches Wahrnehmen, wie sonst in unserem gewöhnlichen Bewußtsein, wo wir nur die fertigen Wahrnehmungen haben, sondern es ist ein durchgehender Strom des Gedankenlebens, der sich immer mit dem eigenen Wesen verbindet. Wenn der physische Mensch auf der Erde noch so viele Dinge sieht, so ist er doch hinter­her, wenn er alles gesehen hat, genau ebenso beschaffen, nur daß er nachher meistens etwas davon weiß, was er vorher gewesen ist, aber es hat an seiner Organisation wenigstens nicht erheblich viel geändert. Beim Toten ist das anders; er sieht sich selber in fortwährender Ver­änderung mit dem, was er wahrnimmt. Das ist der eine Zustand: dieses Wahrnehmen des Hereinfließens und des Fortfließens eines lebendigen Gedankenstromes. Der andere Zustand ist, daß dies auf­hört, und daß ein ruhiges Sich-zum-Bewußtsein-Bringen dessen be­steht, was so durch ihn durchgeflossen ist: eine intensivere Erinne­rung, eine Erinnerung, die nicht unsere abstrakte Erinnerung ist, sondern die wieder mit dem ganzen Werden zusammenhängt. Diese beiden Zustände wechseln ab. Deshalb sind die Toten auch eigentlich nur empfänglich für solche Gedanken, die aus der geisteswissenschaft­lichen oder aus der spirituellen Gesinnung heraus zu ihnen hingetragen werden. Das Gedankenwesen, das die heutigen Menschen gewöhnlich haben, dringt eigentlich kaum zu den Toten, und das Gedankenwesen, das zu den Toten dringt, lieben die heutigen Men­schen nicht sehr. Die heutigen Menschen lieben solche Gedanken, die sie irgendwie aus der Außenwelt hernehmen können. Gedanken aber, die man nur dadurch hat, daß man sie innerlich erarbeiten muß, die also innerlich seelisch schon eine Spur von dem haben, was die Ge­danken nach dem Tode haben, diese Beweglichkeit, dieses Leben liebt man nicht. Das ist dem heutigen Menschen viel zu schwer. Deshalb können die Menschen auch, wenn sie hübsch im Laboratorium sitzen, das Mikroskop haben und unter dem Mikroskop die Zellen, können mit dem Messer den entsprechenden Schnitt machen, den Schnitt beobachten oder in irgendeiner Weise andere Beobachtungen ver­arbeiten. Dann können sie so ausgezeichnete Bücher schreiben wie

232

Oskar Hertwig: «Das Werden der Organismen.» In dem Augenblick aber, wo sie anfangen zu denken, können sie so unsinnige Bücher schreiben, wie der jetzige Oskar Hertwig. Der Unterschied ist nur der, daß für ein Buch wie sein zweites, nicht Gedankenleichname notwendig gewesen wären. Für die naturwissenschaftlichen Bücher sind nur Gedankenleichname notwendig; für Bücher von der Art des zweiten wären lebendige Gedanken notwendig gewesen. Die hat er nicht! Das ist aber nötig, solche Gedanken wirklich zu lieben, in ihnen leben zu können. Denn in dem Augenblick, wo man als hier Zurückgebliebener wirklich eine Brücke schlagen will zu dem, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, und mit dem man karmisch verbunden war, in diesem Augenblick braucht man wenigstens eine Gesinnung, die zum Leben in Gedanken hinneigt. Hat man diese Ge­sinnung, so sind die Gedanken der Zurückgebliebenen für den Toten wirklich eine ganz besondere Zugabe zum Leben und ändern viel, unendlich viel an dem Dasein derjenigen Menschen, die zwischen Tod und neuer Geburt stehen. Aber, wenn allerdings in den Menschenseelen ein unbestimmtes Gefühl von allem leben würde, wovon die Toten die Meinung haben, es sollte auf der Erde anders sein, als es ist, dann würden die Lebenden an diesem Gedanken wenig Beseligung haben. Ein solches unbestimmtes Gefühl ist vorhanden. Die Menschen fürchten, es könnte die Meinung der Toten über manches herauskommen, was die Menschen im physischen Leben denken und emp­finden, tun und meinen. Nur wird diese Furcht nicht bewußt, aber sie hält die Menschen im Materialismus befangen. Denn das Unbewußte, wenn es auch nicht bewußt wird, ist doch wirksam. Man muß mit dem Denkermut nicht nur das durchseelen, was bewußtes Vorstellungsleben ist, sondern auch die tiefsten Tiefen des menschlichen Wesens. Das muß immer wieder und wieder gesagt werden, wenn Geistes­wissenschaft in vollem Ernst aufgefaßt werden soll. Denn nicht dar­auf kommt es an, daß man den einen oder andern Satz auffaßt, das eine oder andere interessant oder für sich wichtig findet, sondern darauf, daß alle die Einzelheiten, so wie ein Organismus sich aus vielen Einzelheiten zusammenfügt, für den Menschen sich zusammenbilden zu einer Gesamtverfassung der Seele, die man für unsere Zeit

233

doch nur immer so charakterisieren kann, wie ich es von den verschiedensten Gesichtspunkten aus versucht habe. Es ist durchaus notwendig, daß sich einige Menschen in unserer Gegenwart finden, welche die Geisteswissenschaft von diesem Gesichtspunkte aus ernst zu nehmen wissen: daß sie unserer Zeit ein bewegliches, lebendiges Gedankenleben gibt, daß nicht einer über den andern herfällt, obwohl sie ganz einverstanden sind, also auch gar kein Grund vorhanden ist, daß man in sich die Tendenz aufgenommen hat zu bellen, wenn je­mand etwas vom Horoskop sagt. Man schaut dann die Sache gar nicht ordentlich an.

Eine Zeit, in der solche Seelenverfassung herrscht, erzeugt noch vieles andere auf ihrem Grund. Leider kann man nur leise darauf hin­deuten, aber es müßte auch die Möglichkeit geschaffen werden, das, was auf dem Grunde der Zeit ruht und was genug in so katastrophaler Weise zum Ausdruck kommt, wirklich ins Auge zu fassen. Einige Menschen beginnen ja heute, ernsthaftige Gedanken zu haben. Aber man sieht, wie schwer es für die Menschen ist, über die unwahrhaftige Stellung zur Welt und zur Menschheit, von der heute die Seelen be­fangen sind, hinauszukommen. An wie vielen Punkten tritt denn diese Frage zutage, die ich heute leise berührt habe, und die ich in der nächsten Zeit weiter ausführen werde, die Frage: Welche Stellung hat denn überhaupt das Christentum im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende gehabt, daß es nun Jahrhunderte, Jahrtausende bald gewirkt hat und dennoch die heutigen Zustände hat möglich werden lassen? Die Frage wurde an verschiedenen Punkten gestellt. Aber man sieht, die Materialien zu ihrer Beantwortung sind noch nicht unter dem, was heute die Menschheit wissenschaftliche oder religiöse oder sonstwie geartete Betrachtungen nennt. Diese Materialien wird erst die Geisteswissenschaft herbeibringen können. Denn eine ernste Frage ist es doch: Wie soll sich der Mensch in der Gegenwart zum Christentum stellen, da dieses Christentum doch eine lange Zeit in den Jahrhunderten gewirkt hat, aber diese Zustände heute dennoch hat zulassen können? Am kuriosesten sind jedenfalls diejenigen Men­schen, die da verlangen, daß zu irgendwelchen, vor diesen Zuständen bestandenen Formen des Christentums wieder zurückgegangen wer-

234

den soll, die also gar keine Empfindung dafür haben, daß, wenn man zu demselben zurückgeht, aus demselben wieder dasselbe heraus­kommen muß. Diese Menschen werden gewiß nicht leicht einsehen, daß ein durchgreifendes und intensives Neues in unser Geistesleben eintreten muß. Davon das nächste Mal weiter.

235

DREIZEHNTER VORTRAG Berlin, 14. Mai 1918

Geisteswissenschaft sollte vor allen Dingen von denjenigen, die sie schon länger kennen, in dem Sinne aufgefaßt werden, daß auch das vor die Seele trete, wie die Geisteswissenschaft im intensivsten Sinne für das menschliche Leben tatkräftig sein kann. Das wurde zwar öfter betont, aber man kann gerade diese Seite der Wesenheit der Geisteswissenschaft und ihre Bedeutung für unsere Zeit nicht oft genug hervorheben. Geisteswissenschaft ist ja gewissermaßen eine Wissen­schaft, und als solche ist sie, man kann sagen, in der Gegenwart noch fragmentarisch, nur zum Teil begründet. Was sie einmal werden kann, kann ja in der Gegenwart nur in den allerersten Anfängen eigentlich da sein.

Was ich damit meine, ist die Geisteswissenschaft ihrem Inhalte nach. Man kann durch sie etwas erfahren über das Wesen des Men­schen, über die übersinnliche Persönlichkeit des Menschen, insofern diese ihr Leben hat auch jenseits der Tore des physischen Lebens, welche da sind: Geburt oder Empfängnis und Tod. Man kann auch durch diese Geisteswissenschaft etwas erfahren über die Entwickelung der Erde und der Welt, über die Zusammenhänge dieser Entwicke­lung von Erde und Welt wiederum mit dem Menschen und so weiter. Man kann also durch die Geisteswissenschaft in einer umfassenderen und allseitigeren Weise, als dies durch die äußere sinnliche Wissen­schaft möglich ist, wenn man so sagen darf die menschliche Wiß­begierde befriedigen. Man kann sich Fragen beantworten, welche dem Menschen auf der Seele liegen und so weiter.

Aber außer dieser inhaltlichen Bedeutung der Geisteswissenschaft gibt es eine wesentlich andere. Die ist dann zu beobachten, wenn man ins Auge faßt, was aus uns selber, aus unserem Seelenleben, unserer Seelenstimmung und Seelenverfassung werden kann, wenn wir uns mit den Gedanken, den Ideen beschäftigen, die uns aus der Geisteswissenschaft kommen. Es könnte ja sogar sein - bei welcher Wissenschaft war das im Laufe der Menschheit nicht der Fall! -, daß manches

236

von dem, was heute mit voller Gewissenhaftigkeit aus den Quellen des geistigen Lebens heraus als Geisteswissenschaft verkündet werden kann und muß, später durch den weiteren Fortschritt der Geistes­wissenschaft selbst korrigiert werden müßte, daß manches in anderer Form auftreten würde. Dann würde vielleicht in der einen oder andern Partie dieser Geisteswissenschaft ein anderer Inhalt sein. Was sie aber für die Stimmung, für die Verfassung unserer Seele durch ihre Ideen, durch ihre Gedanken werden kann, das wird dadurch nicht beeinträchtigt, und das hängt doch ganz wesentlich zusammen mit ge­wissen Grundeigenschaften gerade unserer gegenwartigen Zeit. Ge­wisse Grundeigenschaften unserer Zeit, namentlich mit Bezug auf die Seelenverfassung der Menschen, wollen wir heute einmal ins Auge fassen. Wir wollen uns dabei an die vier wichtigsten Seelenbetäti­gungen halten, die wir aus unseren Betrachtungen gut kennen: an das Wahrnehmen des Menschen mit Bezug auf äußere sinnliche Vorgänge, an das Vorstellen, durch das wir diese äußeren Sinneseindrücke dann verarbeiten, an das Fühlen und an das Wollen. In Wahrnehmen, Vorstellen, Fühlen und Wollen verläuft ja unser Seelenleben vom Aufwachen bis zum Einschlafen.

Zunächst das Wahrnehmen. Wir können gerade mit dem durch die Geisteswissenschaft geschärften Seelenauge betrachten, was notwendigerweise - was ich sage, ist keine Kritik, sondern nur eine Charakteristik - im Laufe der letzten drei bis vier Jahrhunderte als Grundkultureigenschaft der Menschenseele in Ländern, die für uns in Be­tracht kommen, sich ausgebildet hat. Wir fragen uns, was das ist. Man braucht nur ein oberflächlicher Betrachter des Lebens zu sein und wird finden, daß die Menschen in bezug auf ihr Wahrnehmungs­vermögen, also mit Bezug auf das unmittelbare Verhältnis der Seele zur Außenwelt durch die Sinne, auf den Standpunkt gekommen sind, daß sie immer lebhaftere, heftigere, immer faszinierendere Eindrücke brauchen, um in bezug auf das Wahrnehmungsvermögen der Sinne befriedigt zu werden. Es mögen nur einmal diejenigen unter Ihnen, die etwas älter geworden sind, in ihre Jugend zurückdenken. Ver­gleichen Sie manche ebenserscheinungen in Ihrer Jugend - nur wenn man weiter zurückgeht, ist das viel auffälliger -, die Sie um sich

237

herum wahrnehmen konnten, mit einer ähnlichen Lebenserscheinung jetzt, und fragen Sie sich, in wie hohem Grade das überhandgenom­men hat, was man den Trieb, den Hang zum Sensationellen nennt. Was ist eigentlich dieses Sensationelle? Es beruht darauf, daß der Mensch heute stark wirkende und übertrieben abwechselnde, rein sinnhche Eindrücke braucht, damit er gepackt werde, hingenommen werde von der Außenwelt. Er will hingenommen werden von der Außenwelt, er will gefaßt, fasziniert werden. Das Sensationelle hat in ungemeinem Umfang überhand genommen. Aber damit ist etwas Bedeutsames verbunden. Durch das Überhandnehmen des Sensationellen wird auch die Kraft und Energie des menschlichen Ich modifiziert. Dies zu ver­stehen, was da in Betracht kommt, dazu kann im Grunde genommen nur die Geisteswissenschaft führen; denn sie zeigt, was eigentlich Wahrnehmen der Außenwelt ist.

Wenn man die philosophische Literatur durchgeht, wird man über nichts mehr geredet finden als über das Wesen der äußeren Wahr­nehmung oder Empfindung, wie man es auch nennt. Man hat alle möglichen Theorien aufgestellt, was eigentlich Empfindung, Wahr­nehmung innerhalb des menschlichen leiblich-seelischen Lebens ist. Damit brauche ich Sie nicht zu behelligen. Aber auf das Geisteswissenschaftliche in dieser Beziehung soll hingewiesen werden.

Ich habe schon sogar auch hier in Berlin in einem öffentlichen Vortrage angedeutet, daß die naturwissenschaftliche Entwickelung im 19. Jahrhundert und bis in unsere Zeiten herein ja Großes ge­leistet hat, Großes in bezug auf das Verstehen gewisser sinnlicher Zusammenhänge der äußeren Tatsachenwelt. Aber sie stellt sich namentlich die Entwickelung des Menschen viel zu geradlinig, viel zu einfach vor. Sie stellt sich einfach vor: Es gab einmal nur niedere Tiere, dann gab es höhere Tiere, dann wieder höhere, und aus diesen entwickelte sich zuletzt gewissermaßen als höchstes Tier der Mensch heraus. So einfach ist jedoch die Entwickelung des Menschen nicht. Dieser Mensch, - wir haben schon öfter darauf hingewiesen -, der uns in seiner äußeren Leibesgestalt als ein Abbild göttlicher Wesenhaftigkeit des Kosmos erscheinen muß, dieser Mensch kann in der verschieden­sten Weise geschildert, gedacht werden. Er kann auch so geschildert,

238

gedacht werden, jetzt mit Bezug auf gewisse naturwissenschaftliche Anschauungen, daß wir ihn in drei Teile gliedern: in den Kopf- oder in den Sinnesmenschen - es ist nicht genau, aber da die hauptsächlich­sten Sinne im Kopfe liegen, kann man sagen: Kopfmensch -, dann in den Rumpfmenschen und drittens in den Extremitätenmenschen. Von diesen drei Gliedern der menschlichen Natur ist eigentlich nur der Rumpfmensch, der Herzens- und Lungenmensch, so ausgebildet, wie ihn die Naturwissenschaft heute denkt. Der Kopfmensch ist eigent­lich nicht in einer fortschreitenden Entwickelung begriffen, sondern er ist rückgebildet. Das Haupt des Menschen hält die fortschreitende Entwickelung auf einer gewissen Stufe auf und bildet sie wieder zurück. Man hat mir wiederholt gesagt, daß eine solche Vorstellung schwierig ist und gefragt, wie man sie sich erleichtern kann. Ich habe an verschiedenen Orten darauf hingewiesen, wie auch die äußeren richtig verstandenen naturwissenschaftlichen Tatsachen - man muß dann nur wirklich Naturwissenschafter sein, nicht bloß nach dem Muster gewisser Gelehrter der Gegenwart - das belegen, was ich sage. Betrachten Sie das menschliche Auge und vergleichen Sie es mit dem Auge von Tieren auf einer gewissen Entwickelungsstufe. Sie können nicht sagen, die menschlichen Augen sind ihrer äußeren Gestalt nach komplizierter als die Augen der Tiere auf einer gewissen Entwicke­lungsstufe. Denn das ist nicht wahr. Es gibt Tiere, die haben im Inneren ihres Auges da, wo wir äußerlich sinnlich gar nichts haben, den Fächerfortsatz zum Beispiel und den Schwertfortsatz. Das sind gewisse Organe im Inneren des Auges, die Fortsetzungen sind der Blutgefäße ins Innere des Auges hinein. Durch diese Fortsätze der Blutgefäße ist ein intimes Zusammenleben im ganzen Gefühlsleben des Tieres mit seinem Wahrnehmungsleben im Auge gegeben. Das Tier fühlt im Auge viel intensiver, als der Mensch im Auge fühlt. Beim Menschen sind Schwertfortsatz und Fächer fort. Das mensch­liche Auge ist vereinfacht. Es ist nicht bloß vorwärtsgebildet, es ist auch rückgebildet. Und so könnte man bis in die kleinsten Glieder der menschlichen Kopforganisation nachweisen, daß der Mensch eigentlich rückgebildet ist in bezug auf sein Haupt, namentlich in Hinsicht auf seine übrige menschliche Natur, die vorwärtsgebildet ist.

239

Jemand, der auch meinte, daß diese Rückbildung des Hauptes eine schwierige Vorstellung sei, fragte mich, ob es denn nicht Anhalts­punkte gäbe, um das besser einzusehen. Ich sagte, man brauche nur an das Folgende zu denken: Im Entwickelungsprozeß der Tierreihe, die mit dem Menschen abschließt, bringt es der Mensch dahin, daß er zu einer gewissen Zeit seiner Behaarung, während der Embryonalzeit, wieder zurückgeht. Der Mensch ist unbehaart, aber das Haupt gehört zu den behaarten Teilen, im allgemeinen. Daß der Mensch in bezug auf seine Hauptesbildung wieder zur Tierreihe zurückkehrt, zeigt ebenfalls die Rückbildung des Hauptes. Das ist eine oberflächliche, äußere Kennzeichnung. Viel deutlicher sprechen die inneren Zeichen. Die ganze Tragweite dieser Tatsachen bitte ich ins Auge zu fassen.

Dadurch, daß das Haupt rückgebildet ist, daß die Entwickelung nicht geradlinig fortschreitet, sondern sich zurücknimmt im Haupt, sich zurückstaut, dadurch ist Platz geschaffen für die seelisch-geistige Entwickelung des Menschen. Diejenigen Naturforscher, welche die Ansicht vertreten, des Menschen seelisch-geistiges Leben sei nur ein Ergebnis seiner physischen Organisation, die verstehen ihre eigene Naturwissenschaft nämlich nicht richtig. Sie verstehen nicht, daß es für den Menschen notwendig ist, damit er sein Geistig-Seeisches zum Dasein bringen kann, daß die physische Organisation nicht sproßt und sprießt, sondern daß sie sich zurückzieht. Sie flaut ab, staut sich ab, macht Platz der geistig-seelischen Entwickelung. Wo der Mensch am meisten Geistig-Seelisches entwickelt, da zieht sich die physische Entwickelung zurück.

Innerlich nimmt man das wahr, wenn man eine geistig-seelische Entwickelung durchgemacht hat, daß man, einfach durch innere Be­obachtung, eine Antwort bekommt auf die Frage: Was ist eigentlich das gewöhnliche Vorstellen und Wahrnehmen? Was ist das gewöhn­liche Wachleben, in das sich Vorstellen und Wahrnehmen hinein­mischen?

In bezug auf das Haupt des Menschen ist Wahrnehmen und Vor­stellen, überhaupt das wache Leben, ein Hungern. So eigentümlich ist der Mensch organisiert, daß in seinem inneren Gleichgewicht vom Aufwachen bis zum Einschlafen das Haupt, das heißt seine innere

240

Organisation, fortwährend gegenüber dem übrigen Leibe hungert. Gewisse Asketen, die eine Steigerung des geistig-seelischen Lebens suchen, haben sich das zunutze gemacht: sie lassen den ganzen Körper hungern, weil der Hungerprozeß, ausgedehnt auf den ganzen Körper, gewisse innere Erleuchtungen schaffen soll. Das ist falsch. Das Normale ist, daß unser Haupt im Wachprozeß schwächer genährt wird durch die inneren Vorgänge als der übrige Organismus, und nur da­durch können wir wach sein und vorstellen, daß das Haupt schwächer genährt wird als der übrige Organismus.

Nun entsteht die Frage: Wenn wir so im Kopfe hungern, während wir uns diesem Rückbildungsprozeß des Hauptes hingeben - im Schlafe wird ja versucht, die Stauung aufzuheben -, was nehmen wir überhaupt dann wahr? - Da lernen wir durch die Geisteswissenschaft zwischen zwei Dingen unterscheiden, die in der Praxis immer ver­knüpft sind, die aber zwei ganz verschiedene Dinge sind: erstens das bloße Wachleben und sodann die äußeren Wahrnehmungen und die gewöhnlichen Erinnerungsvorstellungen. Was geht nun vor, wenn wir im wachenden Bewußtsein im Kopfe hungern?

Zunächst nehmen wir auf der einen Seite wahr unser Ich aus der vorigen Inkarnation. Was wir aus der geistigen Welt mitgebracht haben, womit wir durch Geburt oder Empfängnis ins Dasein getreten sind, das nehmen wir wahr, wenn wir bloß wachen. Das erfüllt dasjenige, wo unser Organismus Platz macht. Und wenn wir äußere sinnliche Gegenstände wahrnehmen, treten diese äußeren Gegen­stände an die Stelle des Ich, das was wir sonst wahrnehmen, wenn wir keine äußeren Eindrücke haben, sondern bloß wachen. Im gewöhn­lichen Leben sind diese zwei Dinge durcheinandergemischt, wir neh­men fortwährend äußere Gegenstände wahr und sind sehr selten in einer solchen Seelenverfassung, daß wir bloß wachen. Aber in unsere Seelenverfassung, die auf äußere Dinge gerichtet ist, mischt sich immer die Hinneigung, unser voriges Ich wahrzunehmen, und es durch etwas zu verdrängen, durch äußere Farben oder Töne, dann wieder das vorige Ich wahrzunehmen, und dann wieder das andere. Sobald wir äußerlich wahrnehmen, sobald ein äußerer Gegenstand auf uns wirkt, verdrängt er unsere Tendenz, unsere Kraft, das Ich aus

241

unserer vorigen Inkarnation wahrzunehmen. Es bleibt unbewußt, wir wissen von ihm nicht. Aber in dieser Sinneswahrnehmung ist eigent­lich ein Kampf des gegenwärtigen Gegenstandes, der vor uns steht, und des Ich aus unserer vorigen Inkarnation.

Nun können Sie sich denken, was es zu bedeuten hat, wenn man das Streben nach dem Sensationellen entwickelt, wenn man an die Außen­welt hingegeben sein will. Das macht einen niemals stärker im Leben, immer nur schwächer; denn da tut man das, was unser Ich aus der vorigen Inkarnation, das in gewissem Sinne doch unsere Stärke aus­macht, abschwächt. Daher können Sie ganz deutlich wahrnehmen, daß mit der Hinneigung des Menschen zum Sensationellen eine gesellschaftliche wisse Schwäche der menschlichen Natur auftritt, daß das Ich schwä­cher wird.

Und wenn wir nun nicht wahrnehmen, sondern denken, vorstellen, was geht dann vor? Unsere Gedanken schweigen entweder - aber seltener beim gegenwärtigen Menschen - oder aber sie knüpfen an irgendwelche äußeren Wahrnehmungen an. Wenn sie schweigen im Wachleben, dann wirkt in uns - in dem, was da wirken kann, wo Platz geschaffen ist durch unseren Organismus - alles das, was wir durchgemacht haben zwischen der vorigen Inkarnation und der gegenwärtigen. Also an der Stelle, wo Wahrnehmungen auftreten, wirkt die vorige Inkarnation, und an der Stelle, wo Vorstellungen auftreten, da wirkt das Leben, das wir zwischen dem Tode und der jetzigen Geburt durchgemacht haben. Entwickeln wir aus uns selbst machtvolle Ge­danken, so bedeutet das: Wir versuchen aus dem, was wir mitgebracht haben aus der letzten Geburt, worauf wir uns selbst stellen müssen, machtvolle Gedanken zu entwickeln. Entwickeln wir nur Gedanken, zu denen wir uns von außen anregen lassen, die sich nur dadurch in unsere Seele wälzen wollen, daß wir sie von außen aufnehmen, so schwächen wir immer das, was wir aus der Zeit zwischen Tod und Geburt mitgebracht haben, das heißt aber das, was unser Ich aus­macht. Sensationssucht schwächt unser gegenwärtiges Leben. Die Sucht, recht viele Klubabende mit Dämmerschoppen anzuregen, um möglichst wenig aus uns selbst zu holen, oder die Aufregungen, die das Skatklopfen verursacht, kurz, alles dieses Anregungsuchen von

242

außen ist nicht ein Stärken, sondern ein Schwächen unseres Ich, und es beruht im Grunde genommen auch darauf, daß man sich nicht stark genug fühlt, um sich aus dem seelischen Leben heraus mit etwas zu beschäftigen. Durch Geisteswissenschaft können wir uns klar­machen, worauf es in der gegenwärtigen Zeit beruht, daß die Menschen sensationssüchtig und anregungsbedürftig sind.

Was von dieser Seite her in unsere gegenwärtige Kultur eintritt, kann man mit einem allgemeinen Namen bezeichnen. Stoßen Sie sich nicht an diesem Namen, er bezeichnet einen Grundzug vieler Strö­mungen im gegenwärtigen Leben: Beschränktheit, Boriertheit. Und niemand wird leugnen auch dann nicht, wenn man die gegenwärtige Wissenschaft oder sonstige Betriebe ins Auge faßt , daß ein Haupt-kennzeichen des gegenwärtigen Menschen die Beschränktheit ist, jene Beschränktheit, die den gegenwärtigen Menschen nicht dazu kommen läßt, das reiche Material in der eigenen Seele zu suchen, das aus dem vorigen Leben und aus der Zeit vor der Geburt kommt. Er glaubt ja nicht, und vor allem müßte man zuerst daran glauben, daß man sich darüber durch die Geisteswissenschaft anregen lassen kann.

Betrachten wir von diesem Gesichtspunkte aus einmal, was die geisteswissenschaftlichen Gedanken und Ideen für die Seelenstimmung und Seelenverfassung sein können. Anregungen von außen, Sensa­tionelles sind sie ja gewiß nicht, und das streben sie auch bestimmt nicht an. Sie nehmen nicht durch äußere Sensationen die Sinne ge­fangen. Das vermissen viele. Die Menschen müssen bei den geistes­wissenschaftlichen Dingen selbst nachdenken, und wenn sie nichts aus dem eigenen Fonds ihrer Seele herausbringen, schlafen sie bei der Geisteswissenschaft auch wohl ein. Gerade Beweglichmachung, Auf­rütteln des seelischen Lebens, so daß man die Möglichkeit gewinnt, - aus seinem eigenen Inneren Gedanken zu entwickeln, das ist es, was uns die Geisteswissenschaft gibt. Sie wirkt dem Sensationellen ent­gegen. Das tut sie besonders dadurch, weil sie uns die Möglichkeit gibt, über wenige Sinneseindrücke viel zu denken. Wir brauchen nicht von Sensation zu Sensation zu eilen. Viel können wir bei den allermöglichsten Sinneseindrücken denken. Alles Einfache, was uns persönlich entgegentritt, wird uns zum Rätsel. Jede Einzelheit läßt

243

uns viel denken. Und die Gedanken, die viele so kompliziert finden, die Gedanken über Saturn, Sonne, Mond, über die verschiedenen Erdenperioden und so weiter, sie machen den Geist beweglich, lassen Beschränktheit gewissermaßen nicht aufkommen. So arbeitet unsere Geisteswissenschaft gegen eine gewisse Kultureigenschaft, sie ist eine Kämpferin gegen Beschränktheit und Boriertheit auf dem Gebiete des Wahrnehmens und des Vorstellens. Das ist noch etwas anderes als der Inhalt, den man von dieser Geisteswissenschaft haben kann; das ist etwas, was sie aus unserer Seele machen kann, und darauf sollte man auch achten.

Nun, in bezug auf das Gefühlsleben: Was ist das Hervorstechende bei einem Menschen, der überhaupt an die Geisteswissenschaft heran­kommt? Und was ist das Hervorstechende bei den meisten Menschen, die nichts von ihr wissen wollen und sie von vornherein ablehnen? Interesselosigkeit gegenüber den großen Angelegenheiten der Welt ist es bei den letzteren. Seine Interessen über das Allernächstliegende erweitern, das muß man ja zunächst, wenn man sich für Geistes­wissenschaft interessieren soll. Denn was kümmert es die meisten Menschen in unserer Zeit, was die Erde war, bevor sie Erde geworden ist? Was kümmert es die meisten Menschen der Gegenwart, was unsere Kultur war, bevor sie in unsere Zeit eingetreten ist? Dazu muß man weitergehende Interessen entwickeln. Es handelt sich darum, daß man seine Interessen über das Nächstliegende erweitere. Unsere Zeit tendiert ja gerade darauf hin, unser Interessengebiet möglichst einzuschränken.

Wohin tendiert unsere Zeit eigentlich? Gestatten Sie, den folgenden Ausdruck zu gebrauchen, er ist ja nicht anerkennend, aber ich will keine Kritik, sondern eine Charakteristik geben: Unsere Zeit strebt mit allen Mitteln zur Engherzigkeit, zur Philistrosität, und wenn diese die Mehrzahl der Menschen ergreifen wird, so wird die Folge sein, daß die Philistrosität allmählich auch in die öffentlichsten Gebiete eingeführt wird. Ein merkwürdiges Beispiel haben wir in dieser Be­ziehung, das für den, der die Dinge durchschaut, geradezu herz-, alpdrückend wirken kann in bezug auf die Dinge der Gegenwart.

Wir haben im Osten ein Volkstum, das mit Bezug auf die Grundkräfte

244

seiner Seele heute allerdings noch in der Kindheit ist, das aber solche Grundkräfte hat, die sich in der Zukunft, im sechsten nach-atlantischen Kulturzeitraum, zu besonderer Höhe entwickeln sollen, Grundkräfte des Volkes, die spirituell wirken, spirituellen Charakter haben und die man als solche erkennen und pflegen sollte. Was aber hat sich merkwürdigerweise heute als öffentliches Leben über einen großen Teil dieser Volkskraft ausgebreitet? Leninismus! Man kann nichts Groteskeres denken als das Zusammenkoppeln dieses - ich meine jetzt nicht den Mann, sondern die Sache - Kulturaffen des Westens und dieser Kulturprophetie des Ostens. Es kann nicht zwei Dinge geben, die mehr auseinanderliegen und die hier zusammen-gekoppelt sind. Es ist der groteskeste Ausdruck des materialistischen Strebens; denn aus der Volkskraft des Ostens will sich etwas durchaus Antiphiliströses herausbilden, der Leninismus aber ist die absoluteste Grundkraft der Philistrosität, die Ablehnung aller ins Weite gehenden Kulturinteressen und die Erörterung der Kulturinteressen im allerengsten Philisterium. Das muß man sich klarmachen. Und es ist nichts besser dazu geeignet, diese Dinge zu durchschauen, als allein die Erkenntnisse der Geisteswissenschaft. Geisteswissenschaft arbeitet auch der Philistrosität entgegen, indem sie an die weiten, großzügigen Interessen des Menschen appelliert. Denn ohne Interesse für das, was den Menschen an den Kosmos bindet, was über das Engste hinaus­geht und ins Große hineinpulsiert, ohne solches Interesse kann man ja nicht Geisteswissenschafter werden. So ist Geisteswissenschaft auf dem Gebiete des Gefühlslebens auch die Kämpferin gegen Phili­strosität und Engherzigkeit, die unweigerlich aus dem Materialismus hervorgehen müssen, wie sie auf dem Gebiete des Wahrnehmungs­und Vorstellungslebens die Kämpferin ist gegen Boriertheit und Beschränktheit.

Nun, das Gebiet des Willenslebens. Auch da kann der, welcher nur ein wenig Lebensbeobachter ist, bemerkenswerte Beobachtungen in unserem Leben machen. In bezug auf die Willensäußerungen bringt uns nicht der Materialismus selbst, wohl aber was er im Gefolge hat, zur Ausbildung von etwas Merkwürdigem im menschlichen Gesamtleben. Der Wille muß sich ja immer mit Hilfe der Leiblichkeit äußern,

245

wenn er in bezug auf die Außenwelt wirken soll. Mit Bezug auf den Willen bringt die heutige materialistische Zeit den Menschen in die Ungeschicklichkeit hinein. Dadurch, daß der Mensch in der aller-frühesten Jugend nur dazukommt, seine Leibeskräfte in ganz be­stimmte Bahnen hinzulenken, nur nach einigen Richtungen hin­zuarbeiten und hinzuhantieren, wird er in weitesten Kreisen un­geschickt. Es gibt heute schon Männer, die, wenn sie in eine solche Lage kommen, sich nicht einmal selbst einen Hosenknopf annähen können, geschweige etwas anderes, so sonderbar es klingt. Wer Gei­steswissenschaft nicht als Theorie oder Lehre betrachtet, sondern das, was in ihr mit Wärme wirkt, in seine ganze Persönlichkeit aufnimmt, bei dem geht es über in die Muskeln, in die Blutpulsation, und es macht ihn geschickt. Und würden wir gar geisteswissenschaftliche Art des Vorstellens schon in unsere Kinder hineinbringen können, wir würden den Erfolg sehen, würden sehen, daß die Kinder anstellig werden, daß sie dieses oder jenes leichter können; die Finger würden beweglicher. Die Möglichkeit, die Vorstellungen beweglicher zu machen, bewirkt auch, daß der Wille in seinen Ausdrucksmitteln be­weglicher wird. So ist auf dem Gebiete des Willenslebens die Geistes­wissenschaft eine Kämpferin gegen das, was der Menschheit droht: die Ungeschicklichkeit. Diese Ungeschicklichkeit ist, mehr als man eigentlich glaubt, ein Charakteristikon unserer Zeit. Sehen Sie sich einmal an, wie wenig heute die Menschen imstande sind, außerhalb der engsten Hantierungen ihres Berufes überhaupt noch etwas zu tun. Sie können es gar nicht mehr; und in ihren Berufen wirken sie auch mehr oder weniger deshalb, weil ihre Seelenbahnen eingefahren sind. Stellen Sie einen Menschen, der so recht in seinen Beruf einmechanisiert ist, vor etwas anderes hin, dann werden Sie sehen, wie stark ein­seitig unsere heutige Kultur ist. Das kann aber nicht durch äußere Mittel behoben werden; denn die Volkswirtschaft tendiert dahin, alles zu spezialisieren. Dagegen ankämpfen zu wollen, wäre ein Un­sinn. Aber die Seelen so zu durchkraften, daß der Mensch vom Zen­trum seines Wesens heraus die Impulse der Geschicklichkeit bekommt, das kann gemacht werden. Dazu aber ist notwendig, daß man sich ganz durchdringt, recht durchdringt mit dem Wissen von der

246

übersinnlichen Welt, hauptsächlich von der übersinnlichen Natur des Menschen. Man kann Wahrnehmen und Vorstellen nicht verstehen, auch naturwissenschaftlich nicht, wenn man nicht weiß, was ich vor­hin gesagt habe: daß die menschliche Organisation Platz macht in dem Zurückstauen der Organisation des Hauptes, damit das vorige Leben und auch das Leben zwischen Tod und neuer Geburt hereinflutet. Aber auch das Leben nach dem Tode flutet in unsere Organisation herein.

Die naturwissenschaftlichen Anschauungen über die menschliche Organisation sind, wie ich schon sagte, gar zu einseitig. Nur der Rumpfmensch könnte so einseitig betrachtet werden, wie es die Natur­wissenschaft macht, der Extremitätenmensch schon nicht mehr. Wenn man die Extremitäten betrachtet, Arme, Hände, Füße, Beine die Organisation setzt sich nach innen hin fort -, so ist diese Extremitätenorganisation umgekehrt als die Kopforganisation: es ist eine Überentwickelung vorhanden. Es schießt die Entwickelung über das Normalmaß hinaus. Wird man einmal die Entwickelung genau stu­dieren in bezug auf diese Verhältnisse, so wird man sehen, daß sie über dasjenige hinausschießt, was der Mensch zwischen Geburt und Tod braucht. Nehmen wir nur das Äußere: die Armorganisation in Verbindung mit den Brüsten, mit den sekundären Organen, die der Fortpflanzung dienen, die Beine in Verbindung mit den primären Sexualorganen, die Extremitäten physisch in Verbindung mit dem­jenigen, wodurch der Mensch schon physisch über sich hinausschaut. In ihrem Zentrum dient die Extremitätenorganisation nicht bloß dem, was über das menschliche individuelle Leben ausgegossen ist, sondern dem, wo er über sich hinausschaut, also dem Geistig-Seelischen. Was den Extremitäten geistig-seelisch zugrunde liegt, geht hinaus über das, was dem menschlichen Leben zwischen Geburt und Tod dient. Es liegt darin schon das, was über den Tod hinaus wirkt. So wie der Mensch physisch aus seiner eigenen Organisation in die des Kindes hinüberspielt durch das Zentrum seiner Extremitätenorganisation, so ist in ihm geistig als Imagination das vorhanden, was er dadurch, daß er Arm- und Beinmensch ist, durch die Pforte des Todes trägt. Mit der imaginativen Wahrnehmung nimmt man das ganz deutlich wahr:

247

Der Mensch trägt seine nach dem Tode eintretende Zukunft ganz deutlich, auch anatomisch, geistig-seelisch in seiner Extremitäten-Organisation. Man wird, wenn man nur ordentlich die Naturwissen­schaft studieren wird, nach und nach aufhören zu sagen: Geisteswissenschaft ist etwas, was man nicht erreichen kann. Wenn man nur wirklich nicht so geradlinig, wie sie nicht ist, sondern so, wie sie tatsächlich ist, die menschliche Organisation betrachten wird, dann wird sich einem durch die Naturwissenschaft selbst die Notwendigkeit er­geben, zur Geisteswissenschaft hinzukommen. Etwas allerdings wird die Menschheit überwinden müssen: den Glauben an das Gleich-geartete aller äußeren Sinneseindrücke. Das Gleichgeartetsein aller äußeren Sinneseindrücke glaubt heute nicht nur der Laie, sondern auch der Naturforscher, der den Menschen in der Klinik vor sich hat und ihn anatomisch untersucht. Ihm ist das Herz eine gleichgeartete Organisation wie der Kopf. Aber wahr ist das nicht. Der Kopf steht gegenüber dem Herzen auf einer zurückgearteten Stufe in all seiner Organisation. Man kann nur nicht beobachten; daran liegt es. Wenn man richtig beobachten lernen wird, dann wird man aus der Natur­wissenschaft selbst die grundlegende Überzeugung des Geistigen im Menschen gewinnen, dessen, was durch Geburten und Tode geht. Kommt man aber dazu, dann wird man diesem Geistig-Seelischen auch in der ganzen Kulturbewegung Rechnung tragen, und dann wird man die Wichtigkeit des Kampfes gegen Boriertheit, Philistrosität und Ungeschicklichkeit einsehen. Und manches andere wird man noch einsehen. Man wird vor allen Dingen im praktischen Leben lernen, mit dem Geiste zu rechnen. Dem Physiker gestattet man heute ungehindert, daß er von positiver und negativer Elektrizität, von positivem und negativem Magnetismus spricht. Dem Geisteswissen­schafter nimmt man es auf seinem Gebiete übel, wenn er von zwei Kraftströmungen in der menschlichen Seele, dem Luziferischen und dem Ahrimanischen spricht. Aber diese zwei Kraftströmungen sind für die Menschenseele genauso eine Polarität wie positiver und nega­tiver Magnetismus beziehungsweise positive und negative Elektrizität im Physischen. Und will man die Menschheit in ihrer Entwickelung verstehen, so muß man sich darauf einlassen, das Wirksame in bezug

248

auf das Luziferische und Ahrimanische im Leben zu beobachten. Ein Beispiel: Unsere soziale Struktur war durch lange Zeit hindurch in einseitiger Weise von luziferischem Wesen beeinflußt. Nicht daß man das Luziferische einfach aus dem Leben tilgen könnte. Wer immer nur sagt: Ich will mich vor dem Luziferischen hüten -, der verfällt ihm erst recht. Es kann sich nur darum handeln, daß man ihm im Leben die richtige Stelle einräumt und weiß: Da ist Luziferisches, und da ist Ahrimanisches - dann wird man sie in ihren Wirkungen nicht über­treiben und nicht in ein falsches Licht bringen. Durch Jahrhunderte ist unsere soziale Struktur in Europa und auch in andern Gebieten der Welt beherrscht gewesen von starken einseitig luziferischen Impulsen. Diese starken luziferischen Impulse ergreifen die Triebe, die Instinkte des Menschen, das von innen heraus Wirksame der Instinkte und Triebe. Das ist alles keine Kritik, nur eine Charakteristik dieser Zeiten. Wie wirkte dieses Luziferische? Bisher wurde viel Rücksicht darauf genommen, die gesellschaftliche Kultur, den Platz eines Menschen, auf den er im Leben gestellt wurde, dadurch zu bestimmen, daß man auf seine Eitelkeit, auf seinen Ehrgeiz großen Wert legte. Das sind luziferische Impulse. Eitelkeit und Ehrgeiz des Menschen wurden angestachelt. Ich erinnere nur, wie in der Schule auf Eitelkeit und Ehr­geiz bis in unsere Tage gerechnet wurde. Und Eitelkeit und Ehrgeiz waren es in vieler Beziehung, was den Menschen dazu brachte, sich dieses oder jenes anzueignen, um einen wichtigen Platz im Leben zu bekommen.

Jetzt sind wir an einem wichtigen Punkt im Leben. Es kann ja kaum einem richtigen Beobachter entgehen, daß diese luziferischen Impulse im Abnehmen sind. Wenn man sich trivial ausdrücken will:

Sie ziehen nicht mehr. Aber anderes soll jetzt heraufgeholt werden, im wesentlichen Ahrimanisches. Und ein ahrimanischer Zug schleicht sich ins Getriebe der Gegenwart ein. Unsere liebe Bevölkerung, diese autoritätsfreie Bevölkerung, die ja niemals an Autoritäten glauben will, daher auf alle Autorität selbstverständlich hereinfällt, sie wird wieder ahnungslos über sich ergehen lassen, was nun als einseitig ahrimanische Macht mit Bezug auf die Gestaltung der gesellschaft­lichen Struktur Platz greifen soll. Etwas ganz Merkwürdiges macht

249

sich geltend: die sogenannten Begabtenprüfungen. Die experimen­telle Psychologie, die an den Universitäten zweifellos eine gewisse eingeschränkte Berechtigung hat, kann in bezug auf die Art, wie der Menschenleib wirkt, wie er manches zum Ausdruck bringt, mancher­lei erfahren. Aber sie möchte eine gewisse Beschäftigung haben; sie ist nämlich leichter als jede andere Seelenprüfung. Man hat nun einen gewissen Apparat, der auf elektrischem Wege Aufzeichnungen macht. Man setzt Studenten an gewisse Stellen und notiert, wie lange es dauert, bis ein Eindruck aufgenommen, zum Bewußtsein gebracht wird. Kurz, man arbeitet dabei äußerlich, klinisch-kabinettmäßig. Das ist leichter, als innerlich zu forschen. Für gewisse Dinge soll gewiß der Wert dieser experimentellen Psychologie nicht bezweifelt werden, aber sie möchte ein weiteres Feld haben. Nun will sie die Begabten-prüfungen in die Hand nehmen. Dazu werden aus einer Reihe von Schulklassen eine Anzahl Kinder genommen, und die prüft man in bezug auf ihre Begabung hin, auf Gedächtnis, Aufmerksamkeit und so weiter, aber die Art, wie dabei mit der Methode der experimentellen Psychologie geprüft wird, ist sehr merkwürdig. Das Gedächtnis wird zum Beispiel auf folgende Weise geprüft. Man schreibt zwei Reihen Wörter auf die Tafel, die unter sich keinen Zusammenhang haben; zum Beispiel «Kopf» und «Kristall», dann zwei andere nicht zu­sammengehörige Wörter und so weiter. Und nachdem man das Ganze wieder weggelöscht hat, schreibt man immer nur das erste Wort auf; das Kind hat dann rasch aus dem Gedächtnis das zweite hinzuzufügen. Die, welche sich besser gemerkt haben, welches unzusammenhängende Wort bei einem andern gestanden hat, haben dann ein besseres Ge­dächtnis, und die andern, die entweder gar nichts finden oder längere Zeit brauchen, haben ein schlechteres. So prüft man däs Gedächtnis. - Oder man will die Intelligenz prüfen. Dafür will ich Ihnen ein Muster­beispiel vorlesen:

«Wenn man z.B. die Begriffe:‹Spiegel -, Mörder -, Rettung› gibt, so lassen sich zwischen dem Spiegel und der Rettung eine ganze Reihe verschiedenartiger Zusammenhänge herstellen, zu deren Auffinden keinerlei spezielle Kenntnisse, sondern nur scharfes Kombinieren ge­hört. Die nächstliegende Verbindung» diese wird also der weniger

250

Intelligente machen «ist selbstverständlich die, daß der Bedrohte im Spiegel den heranschleichenden Mörder erblickt. Doch sind auch noch ganz andere Motive möglich: Ein heranschieichender Mörder kann beispielsweise an einen Spiegel stoßen und dieser durch sein Klirren den bedrohten Schläfer wecken, so daß jener sich retten kann. Oder der zielende Mörder wird durch einen reflektierenden Spiegel geblendet.» Denken Sie, wie intelligent ein Knabe oder ein Mäd­chen sein muß, wenn sie darauf kommen sollen!

«Aber auch gefühlsmäßige Motive können verwandt werden. So kann beispielsweise der Mörder vor seinem eigenen, im Halbdunkel im Spiegel nur undeutlich sichtbaren Bilde derart erschrecken, daß er von der Ausübung der Tat absteht, sei es, daß ihn Schauder oder Gewissensbisse bei seinem eigenen Anblick im Spiegel packen, sei es, daß er im Dämmerlichte sein eigenes Spiegelbild für das eines andern hält.» Da ist man also ganz besonders intelligent, wenn man daran denkt, daß sich der Mörder in dem Spiegel sehen könnte, und das eigene Antlitz für das eines anderen hält. «Auch an die Entdeckung des heranschleichenden Mörders im klaren Wasserspiegel des ruhig daliegenden Waldsees durch den Bedrohten kann man denken usw.»

Je nachdem man nun das eine Nächstliegende oder das andere einschaltet, ist man mehr oder weniger intelligent, und wer sich auf diese Weise als intelligenter herausstellt, soll durch Stipendien unterstützt werden, oder indem man ihn sonstwie hochbringt; und dem, der auf nichts anderes kommt, als daß man einen Mörder auch im Spiegel sehen könnte, dem gibt man keine Stipendien. Auf solche Weise soll also heute die Intelligenz geprüft werden, und man ist in dieser Be­ziehung voll Enthusiasmus für die Begabtenprüfungen. Dadurch soll die soziale Ordnung, wenn auch nicht eingerichtet, so doch beeinflußt werden. Das liebe Publikum aber wird solche Dinge als Ausfluß echter, wahrer Wissenschaft der Gegenwart mit vollem Herzen hin­nehmen, denn diese Sachen bilden heute den Gegenstand einer großen Agitation. Auf diese Weise versucht man es, die Mittel und Wege zu finden, um methodisch «den rechten Mann auf den rechten Platz zu stellen», und man schreibt Aufsätze, die folgendermaßen beginnen:

«Wie kaum eine andere Wissenschaft ist die angewandte Psychologie

251

während des Krieges aufgeblüht. Das ist nicht Zufalls-Erscheinung:

Hat doch der Krieg mit seinem Menschenverbrauch und seinen diffe­renzierten Anforderungen erst die Wichtigkeit dargetan, mit Men­schenkräften nicht verschwenderisch und planlos umzugehen, sondern sie möglichst zweckmäßig auszunutzen. Bisher befaßt sich nur die Pädagogik praktisch mit der exakten Psychologie; jetzt kommen drei neue Fragen hinzu: für welchen Beruf eignet sich ein Mensch am besten? (Berufs-Eignungsproblem); wie ist für die viele vernichtete Intelligenz Ersatz zu finden? (Begabtenauswahl); welche Heilungs­möglichkeit gibt es für Kopfverletzte und sonstige Nervenbeschä­digte? (Psychische Übungs-Therapie).»

In diesem Stile geht es weiter. Mit einem bedeutsamen Satz wird eine Zeitverirrung zusammengekoppelt, und die Sache wird um so weniger bemerkt werden, als es selbstverständlich Berufe gibt, wo nach dieser Methode vorgegangen werden muß. Es ist ganz selbst­verständlich, daß man nach einer ähnlichen Methode mit einem ge­wissen Recht zum Beispiel Flieger prüfen wird. Aber es darf nicht generalisiert werden. Denn es würde dadurch in der allereinseitigsten Ausbildung ein Ahrimanisches in unsere soziale Struktur hinein­gebracht werden. Es würde damit aus den menschlichen Aspirationen, aus dem menschlichen Streben alles ausgeschaltet werden, was aus dem Seelischen, aus dem elementarischen, impulsiven Seelischen her­auskommt. Man kann sich sogar die Sache grob denken: Glauben Sie, wenn solche Begabtenprüfungen wirklich ausschlaggebend sein könn­ten, daß dann noch ein Wort Bedeutung haben könnte wie das: «Lust und Liebe sind die Fittiche zu großen Taten»? Und wenn die Leute einmal über die eigenen großen Menschen nachdenken wür­den Sie können ganz sicher sein: Wenn ein solcher Prüfer den Helmholt~ zu prüfen gehabt hätte, er hätte ihn ganz sicher als einen unbegabten Buben hingestellt. Lesen Sie die Biographie von Helm­holtz!

Das ist ein ahrimanischer Zug. Die Sachen treten noch dazu mas­kiert auf. Man merkt nicht, wenn man nicht die Dinge durch die Geisteswissenschaft zu beobachten vermag, wo die Schädlichkeiten liegen. Es genügt nicht, daß man sich in unserer Zeit in allerlei

252

wollüstige Gefühle hineinschwelgen will, sondern es ist notwendig, daß man aufwacht in bezug auf die Beurteilung des Lebens. Und es wäre schon viel, wenn es mit Bezug auf diesen Begabtenprüfung­Unfug wenigstens einige Menschen geben würde, die sich ein objek­tives Urteil demgegenüber aneigneten. Denn er wird blühen und gedeihen dessen können Sie ganz sicher sein! Er wird das sein, wozu es die «vorurteilslose Seelenprüfung endlich gebracht hat», und er wird glorifiziert werden als einer der schönsten Ausflüsse jener philo­sophischen Richtung, die endlich die alten idealistischen Vorurteile und Methoden abgestreift hat und auf das «Wirkliche» losgeht. Die Geisteswissenschaft muß in diesem Sinne praktisch wirken.

Nun hängt mit diesen Dingen manches zusammen, vor allem das, daß Weite des Interesses und Wahrhaftigkeit endlich Grundeigen­schaften der menschlichen Seele werden müssen. Ich möchte Ihnen für die Art, wie in unserer Zeit Wahrhaftigkeit wirkt und wie ein gewisses Interesse nicht vorhanden ist, zwei niedliche Beispiele an­führen. Wenn ich persönliche Beispiele wähle, so nehme ich als das Nächstliegende an, daß Sie es mir hier nicht übelnehmen werden, weil Sie ja wissen, daß ich es nicht aus einer persönlichen Albernheit heraus tue. Ich habe neulich in München einen Vortrag gehalten über die Erfahrungen, die der Seher mit der Kunst macht. Ich habe nie vorausgesetzt, daß irgendein Zeitungsreporter imstande wäre, die Sache der Geisteswissenschaft zu verstehen oder etwas Löbliches dar­über zu schreiben. Im Gegenteil, wo ein Zeitungsreporter anfangen würde, über Geisteswissenschaft in einer löblichen Weise zu schreiben, da würde ich glauben, daß etwas daran nicht in Ordnung sei. Aber Exempel kann man doch daran studieren. In dem erwähnten Vortrage sprach ich auch über die musikalische Kunst und davon, daß das musikalische Erleben in einer bedeutsamen Weise den ganzen Men­schen in Anspruch nimmt, daß, wo eigentlich musikalisches Erleben ist, überall ein Rhythmus im Inneren des Menschen sich abspielt. Ich sprach dann auf der einen Seite mit Bezug auf das Geistig-Seelische, aber auch auf der andern Seite mit Bezug auf das Physiologische, indem ich ein Auf- und Abwogen des Gehirnwassers durch den Arachnoidealraum auseinandersetzte und des weiteren darstellte, wie

253

die Rückenmarkröhre verschieden dehnbar, mehr und weniger dehn­bar ist, und wie dadurch in der Tat eine wunderbare innere Rhythmik bewirkt wird. Es geht durch das musikalische Erleben etwas großartig Rhythmisches im Leben vor. Ich erwähnte diese rhythmischen Be­wegungen des Gehirnwassers, die mit dem Ein- und Ausatmen ver­knüpft sind. Und da ich in diesem Vortrage auch von symbolischen Vorstellungen sprach, so schrieb der Zeitungsreporter, ich gebrauchte selbst symbolische Vorstellungen, die unstatthaft wären: die Vor­stellung des Gehirnwassers! Man braucht sich dazu nur vorzustellen: Ohne das Gehirnwasser würde das Gehirn, da es nach dem archime­dischen Prinzip leichter wird durch das Gehirnwasser, auf die unter ihm liegenden Blutgefäße drücken und sie zerdrücken. Also das Ge­hirnwasser ist etwas recht Reales. Aber so steht es mit den Interessen, welche die Menschen haben, und aus solchem Unsinn heraus wird geschrieben.

Dann ein Beispiel, eigentlich nur ein Beispielchen von Wahrhaftig­keit und Unwahrhaftigkeit. Ich habe schon öfter erwähnt, daß der merkwürdige Gelehrte Max Dessoir in seinem Buche «Vom Jenseits der Seele» auch über «Anthroposophie» ein Kapitel geschrieben hat. Ich versuchte schon, ihm die verschiedensten Entstellungen und so weiter nachzuweisen. Auch im Äußerlichen ist seine Erzählungs­methode etwas im Grunde genommen Urkomisches durch seine absoluteste Oberflächlichkeit. So hat er zum Beispiel meine «Philo­sophie der Freiheit» angeführt und von ihr gesagt, das sei mein literarischer Erstling. Ich konnte nicht anders, obwohl es eine ent­stellte Sache ist, als erwidern, daß ich ja zehn Jahre vorher schon geschrieben habe und Bücher habe erscheinen lassen. Aber dieses «Jenseits der Seele» von Max Dessoir hat Aufsehen erregt; es wurde überall von den Journalisten die das Gehirnwasser für eine symbo­lische Vorstellung halten besprochen. Es hat gewirkt, und jetzt ist eine zweite Auflage dieses Buches erschienen. In der Vorrede dazu sucht sich Max Dessoir nun zu rechtfertigen, und das wieder ganz nach demselben Schnitt. Er kann nicht aus noch ein und meint, der Zusammenhang ergebe doch ganz klar, daß ich nicht erkenne, was er will; er habe doch gemeint, daß die «Philosophie der Freiheit» mein

254

erstes « theosophisches» Buch sei. Also abgesehen davon, daß jeder lachen muß, wenn er meint, daß mit seiner Äußerung nicht mein überhaupt erstes literarisches Werk gemeint sei, wird nun wieder jeder lachen müssen, wenn man die «Philosophie der Freiheit» als mein erstes «theosophisches» Buch bezeichnen wird. Denn es besteht ja eine weitgehende Diskussion, daß ich mit meinen theosophischen Werken die philosophische Schriftstellerei verlassen habe. So steht es mit der Wahrhaftigkeit, und es ist schon notwendig, die Leute daran zu fassen. Ohne Wahrhaftigkeit kommen wir aber nicht weiter, und man darf solche Dinge nicht einfach so hingehen lassen. Für jemanden, der die einschlägigen Dinge kennt, ist das ganze Buch Max Dessoirs so abgefaßt, wie das Kapitel über Anthroposophie. Und dennoch, was könnte geschehen? Eine Zeitschrift, die sich sonst als etwas ungemein Ernstes gibt ich erwähne es, weil in dieser Zeit­schrift nun nicht auf die Anthroposophie losgeschlagen wird , die «Kantstudien», die sich so furchtbar viel auf ihre rein gelehrte wissen­schaftliche Richtung einbilden, sie besprechen dieses Produkt Dessoirs als ein ernsthaftes wissenschaftliches Buch nach verschiedenen Seiten hin. Es ist eine der traurigsten Erfahrungen, die man machen muß, daß ein Buch, welches von der größten Oberflächlichkeit zeugt, heute für eine philosophische Zeitschrift als ein « ernsthaftes wissenschaft­liches Buch» gilt, wie es da besprochen wird. Nun frage ich: Was soll denn heute das Publikum, das nicht autoritätsgläubige Publikum, machen? Es nimmt aus den Bibliotheken selbstverständlich diese Werke, wie die «Kantstudien» und so weiter aber dem liegen solche Dinge zugrunde!

Da ist es nur möglich, vom Geist wenn der Wille vorhanden ist auf das Grundlegende in der menschlichen Natur einmal zurück­zugehen. Und dieses Grundiegende wird heute nur von den geistes­wissenschaftlichen Bestrebungen berührt. Da kann man nicht anders, als auf Wahrhaftigkeit, Weite des Interesses, auf Unphilistrosität und Beweglichkeit dem Leben gegenüber hinzuarbeiten.

Davon wollte ich Ihnen wieder einmal sprechen, damit uns ja das Bewußtsein nicht schwindet: In der Geisteswissenschaft kommt es nicht bloß auf den Inhalt an, sondern auf das, was die besondere Art

255

der geisteswissenschaftlichen Vorstellungen, Ideen und Gedanken in unserer Seele bewirkt, daß unsere Seele aus der Boriertheit, aus der Philistrosität und Ungeschicklichkeit herausgehoben wird. Das ist etwas, was der, der die besonderen Impulse beachtet, die in der Geisteswissenschaft liegen, immer mehr und mehr sehen muß. Den praktischen Wert der Geisteswissenschaft müssen wir ins Auge fassen. Von solchen Dingen wollen wir das nächste Mal weitersprechen.

256

VIERZEHNTER VORTRAG Berlin, 21.Mai 1918

Zu der Zeit des Jahres, in der wir leben, haben wir in früheren Jahren Betrachtungen angestellt, die an das Pfingstfest anknüpften. Nun habe ich schon öfter gesagt, daß wir gegenwärtig in einer Zeit leben, in welcher die Ereignisse, die in den Gang der Menschheit eingreifen, so bedeutsame und von dem gewöhnlichen Lebensgang der menschlichen Geschichte abweichende sind, daß kaum die Möglichkeit vorliegt, zu solchen gewöhnlichen Festesbetrachtungen zu kommen, welche sogar in der Gegenwart nur allzuhäufig, wenn auch nicht zu dem Ziele, so doch aus dem Sinne heraus angestellt werden, dasjenige zu vergessen, was an so Katastrophalem für die Menschheit sich jetzt um uns herum ereignet. Aber es wird vielleicht doch hingewiesen werden dürfen auf den Sinn gerade der Pfingstverkündigung.

Wir wissen aus früheren Pfingstbetrachtungen, daß das Allerwichtigste in dem Pfingstereignis dies ist, daß ein gemeinsames Leben derjenigen, die an dem großen Osterereignis der Menschheit teilgenommen haben, sich individualisierte. Die feurigen Zungen gingen auf das Haupt eines jeden hernieder, und ein jeder lernte in derjenigen Sprache, die keiner andern Sprache gleich ist und deshalb allen verständlich ist, dasjenige auffassen, was als Mysterium von Golgatha durch die Menschheitsentwickelung hindurchgeströmt ist. Die feurigen Zungen gingen auf das Haupt eines jeden hernieder. Es war schon früher so, daß die Seelen der einzelnen Jünger sich fühlten wie, man könnte sagen, in einer Gesamtaura des Mysteriums von Golgatha. Dann ging ihnen durch das Pfingstereignis dasjenige, was sie nur durch ihr Gemeinschaftsleben erkennend wußten, in die Ein­zelseele so über, daß jeder einzelne von sich aus die Erleuchtung hatte. Das ist das Wichtigste, natürlich in abstrakter Form ausgesprochen. Man muß diese Individualisierung der Osterbotschaft durch die Pfingstverkündigung in der Seele erfühlen, wenn man sie im richtigen Sinne verstehen will. Dann aber hat man gerade die Möglichkeit, das, was durch die Geisteswissenschaft gewollt wird, so recht im Sinne

257

dieser Pfingstverkündigung aufzufassen. Denn als ein Hervor­stechendstes wird ja in dieser Geisteswissenschaft gewollt, daß eine jede Menschenseele in sich selbst den Geisteskern ihres Wesens finde, der sie erleuchten kann über die anzustrebenden Weltenziele. Dadurch soll sich das Zukunftsleben der Menschheit entwickeln, daß die Men­schen weniger darauf angewiesen sind, immer auf das hinzulenken, was ihnen an gemeinschaftlicher Struktur, an sozialer Struktur ge­geben ist. Sondern darauf wollen wir hoffen, daß die Menschen reif und fähig werden, jeder aus sich heraus ein solches Leben zu führen, daß der andere neben ihm ein gleiches Leben führen könne. Dann wird eine innere Toleranz die Seelen ergreifen, und in der sozialen Struktur wird die Freiheit verwirklicht werden können. Auf keine andere Weise ist die Freiheit in der Welt zu verwirklichen, als auf diese, das heißt auf keine andere, als indem die Pfingstbotschaft über­geht in die einzelnen Menschenseelen.

Wie man mitarbeiten muß in der Seele, wie man mitergreifen muß das durch Geisteswissenschaft Gebotene, das ist nach dem Vorbilde dieser Pfingstbotschaft. Daher möchte man sagen: Eine perennierende, eine immerwährende, dauernde Pfingstverkündigung ist die Geisteswissenschaft selbst von einem gewissen Gesichtspunkte.

Was uns die Gegenwart vor allen Dingen lehren kann, wenn wir diese Lehre aus unserem eigenen Boden ziehen wollen, das ist, daß wir uns mit Geduld ausstatten müssen. Es sitzen Freunde hier, die ziemlich vom Anfange der Bestrebung an innerlich mitgearbeitet haben an dem, was wir unsere geisteswissenschaftliche Bewegung nennen. Es sind jetzt reichlich fünfzehn bis sechzehn, auch wohl siebzehn Jahre her, und es sollte eigentlich vor unserer Seele unablässig der Gedanke stehen: wie wenig, wie unendlich wenig in diesen fünf­zehn bis siebzehn Jahren eigentlich erreicht worden ist. Und daraus sollte sich der andere Gedanke ergeben: wie sehr wir uns mit Geduld wappnen müssen, wenn wir daran denken, daß das, was uns Geisteswissenschaft sein kann, was sie durch uns werden kann, wirklich zu einer Art Neubelebung des menschlichen Daseins führen kann.

Was Geisteswissenschaft werden kann - wir sollten es doch immer vergleichen mit dem, was wir so herzlich weniges in den anderthalb

258

Jahrzehnten erreicht haben. Gewiß, viele haben das aufgenommen, was durch die Geisteswissenschaft der Menschheit dargeboten wird. Aber das ist ja nur das Allergeringste, wie aus zahlreichen Betrach­tungen, die wir angestellt haben, hervorgeht. Die Geisteswissenschaft hat schon noch die andere Aufgabe: wirklich hineinzufließen in die soziale Struktur, in das ganze Leben der Menschheit der Gegenwart. Aber wenn wir diesen Gedanken fassen wollen, müssen wir ihn doch mit einem andern noch verbinden, mit einem andern, der uns heute und zu jeder Stunde aus allen Weltereignissen heraustönt, der einen gewissen Konflikt darstellt, in den die Menschenseele hineingetrieben wird und der gerade in unserer gegenwärtigen Zeit, man möchte sagen, zu einem gewissen Höhepunkt getrieben ist.

Erinnern wir uns an die Hauptpunkte unserer geisteswissenschaft­lichen Forschung, so werden Sie überall finden, daß diese geisteswissenschaftliche Forschung gerade darauf beruht, daß übersinnliche, geistige Wirklichkeit in des Menschen Seele hereinfließt. Sie läßt uns erkennen, diese Geisteswissenschaft, daß im Laufe der Menschheits­entwickelung fortwährend geistiges Leben in die Menschen einströmt, daß jedoch das, was auf Erden geschieht, insofern nur ein Fortschritt ist, als die Menschen das, was aus der geistigen Welt in sie einströmt, zum äußeren Dasein zu erwecken verstehen. Aber ein solcher Gedanke müßte eigentlich unser ganzes Fühlen und Emp­finden durchdringen können. Wir müssen ihn vor allen Dingen in Zusammenhang bringen können mit dem, was uns zum Beispiel als Geschichtswissenschaft bekannt ist, und wir müßten ihn dann von diesem Gesichtspunkte aus auf die Gegenwart anwenden können. Wir müßten uns zum Beispiel fragen können, aber mit Ernst fragen kön­nen diese Dinge sind natürlich Hypothesen, aber sie führen auf Wirklichkeiten in einem realen Gedankenleben : Was wäre geworden, wenn etwa Kolumbus oder irgend jemand anderer, der wesentlich mit der Entwickelung der neueren Menschheit verbunden ist, zum Beispiel Gutenberg, der Erfinder der Buchdruckerkunst, oder sagen wir selbst Luther, im 9. oder im 8. Jahrhundert, kurz, zu einer andern histo­rischen Zeit geboren worden wären? Was wäre dann mit denjenigen Persönlichkeiten geworden, die diese Namen tragen? - Ganz gewiß

259

wären sie, wenn sie in andere Zeiten geboren worden wären, das­enige nicht geworden, als was sie uns heute in der Geschichte er­scheinen. Natürlich kann das nicht sein, die Weltenentwickelung hat ihr Karma; aber die hypothetische Betrachtung einer solchen Sache führt auf Wirklichkeiten. Sie wären wahrscheinlich Persönlichkeiten geworden, von denen die äußere Geschichte nicht spricht. Aber dennoch können Sie sich auf der andern Seite vorstellen, daß in sol­chem Falle im Herannahen der neuem Zeit zum Beispiel nicht die Buchdruckerkunst erfunden worden wäre, und daß im Heraufkom­men dieser neuem Zeit die Reformation gekommen wäre, können Sie sich auch nicht vorstellen. Daraus aber ersehen Sie, daß die Haupt­sache das ist, daß wir auf das Sachliche hinblicken, auf das, was aus der geistigen Welt heraus der Menschheit sich mitteilt, und daß wir lernen, in einem viel größeren Maße noch als es die Gegenwart über­haupt noch imstande ist, den Menschen als ein Instrument anzusehen, damit das Sachliche aus der geistigen Welt in das Erdenleben hereintritt.

Ich sagte, gerade in der Gegenwart ist der Mensch mit Bezug auf diese Dinge in einen scharfen Konflikt hineingestellt. Die Gegenwart erkennt nicht an, daß so etwas stattfindet wie ein Hinunterrinnen eines geistigen Entwickelungsstromes in die Erdenereignisse; sie erkennt nicht an, daß der Mensch ein bloßes Instrument ist, und sie will eine Gesellschaftsordnung aufbauen, welche dies nicht anerkennt. Sie will eine Gesellschaftsordnung aufbauen, die eigentlich nur mit dem ganz persönlichen Menschen, der hier auf der Erde steht, rechnet, und die­sen ganz persönlichen Menschen ins Auge fassen. Die äußerste Kari­katur, die nur den allerindividuellsten Menschen ins Auge faßt, ist der neulich schon erwähnte Leninismus oder Trotakismus. Diese Gesell­schaftsanschauung kennt nur den Menschen, der hier auf der Erde steht. Ich meine damit nicht allein das wäre das wenigste das Theoretische, sondern ich meine die Lebenskonsequenzen. Solch ein Lenin oder Trotzki suchen - sogar auf einem Gebiete, wo es am wenigsten hinpaßt - die Gesellschaftsstruktur so einzurichten, als ob eben nichts anderes in Betracht käme, als der einzelne fleisch-

260

liche Mensch. Das aber ist ein Ideal, das sich auf dem Gebiete des sogenannten Sozialismus seit Jahrzehnten herangebildet hat, und Leninismus und Trotzkismus sind ja nur die letzten fratzenhaften Wehen einer solchen Anschauung, die sich eben seit langem herangebildet hat.

Sie sehen, worauf es ankommt: den Weg wieder zurückzufinden zu dem Sinn des Pfingstereignisses. Gewiß, bei den einzelnen Jüngern, auf deren Köpfe sich die Flammen gesenkt hatten, sollte individuelles geistiges Leben erleuchtend auferstehen. Aber es sollte geistiges Leben sein, für das sich verteilt auf die einzelnen Glieder der größt denkbare Hinweis auf das Sachliche, demgegenüber der Mensch nur ein Instrument ist.

Der Sinn dieser Pfingstverkündigung ist aber zugleich noch etwas anderes, und das ist das Wichtigste: die Bekräftigung dessen, daß der Mensch seinen Wert nicht verliert, wenn man das andere gelten läßt: daß der Geist fortwährend in die Menschheit hineinfließt, um also Instrument zu bilden für den in die Menschheit hinunterströmenden Geist. Dann behält also der Mensch trotzdem seinen persönlichen Wert. Das ist etwas, was man heute nicht nur theoretisch einsehen kann, sondern demgegenüber es notwendig ist, die Lebenskonse­quenzen zu ziehen und es überzuführen in die Art, wie man denkt über Staatenbildung, über Moral und gesellschaftliches Leben. Darauf kommt es an, daß ein Gedanke weckend ist, und ein Aufwecken war es ja, als sich die Flammen auf das Haupt eines jeden einzelnen der Jünger heruntersenkten. Und ein Verschlafen der Zeitereignisse, das heute nur zu furchtbar verbreitet ist, ist ein Sich-Versündigen gegen die Zeitereignisse. Man kann aber in dem Entwickelungszyklus, in dem wir jetzt angekommen sind, ganz unmöglich zu einem Auf­wachen gegenüber den Ereignissen kommen, wenn man nicht mit einer gewissen inneren Beweglichkeit des Seelenlebens die Ereignisse betrachtet, wenn man nicht vermag, Wesentliches, Richtiges zu unterscheiden von Unwesentlichem und Unrichtigem. Was uns heute über­flutet, besonders an Zeitungslektüre, das kann nicht so aufgenommen werden, daß alles gleich ist; sondern in tausend Buch- oder Zeitungs­spalten können zwei Zeilen sein, die von ungeheurer, wesentlicher Bedeutung sind, die hindeuten urphänomenal bezeichnend wenn ich

261

den Goetheschen Ausdruck gebrauchen will auf das, was eigentlich vorgeht. Und das andere kann alles verschwendete Druckerschwärze sein. Worauf es ankommt, das ist, daß man eine innere Empfindung in sich auferwecken muß gegenüber dem Wichtigen und Wesentlichen und gegenüber dem Unwichtigen und Unwesentlichen. Diese Empfindung ergibt sich in der Seele, wenn man unbewußt das ge­winnt, was einem in der Gegenwart entgegentritt an großen Welten-perspektiven, welche die Geisteswissenschaft eröffnen kann. Er soll nur dies in sein Empfinden einfügen, soll nur versuchen, allmählich so zu fühlen, wie er fühlen wird, wenn die Geisteswissenschaft in ihm lebendig wird. Es ist dann allerdings notwendig, daß man sich das innere Vertrauen zu dem, was man gewissermaßen innerlich erfühlt, in einem viel größeren Maße verschafft, als es heute die Menschen gewohnt sind. Wer nämlich erwartet, daß sich das, was er heute be­kommt, gleich morgen an weithin leuchtenden Ereignissen zeigt, der wird in der Regel nicht zurechtkommen mit einer wahren Beobachtung. Es kann etwas richtig sein, aber es können sich die Ereignisse kaschieren, daß dies vielleicht erst in einer fernen Zukunft zum Aus­druck kommt. Aber dafür ist es notwendig, daß wir uns in einer richtigen Weise in die Welt hineinstellen, dafür ist es wichtig, daß wir richtige Vorstellungen haben über das, was geschieht.

So gehen eigentlich in der gegenwärtigen Strömung der Entwicke­lung außerordentlich wichtige Dinge vor sich, die schon an den äußer­lichen Ereignissen zu beobachten sind, wenn man diese äußerlichen Ereignisse so ins Auge fassen wird, wie ich es eben angedeutet habe: daß man das Wesentliche von dem Unwesentlichen unterscheidet, daß man den Mut dazu hat, das Wesentliche von dem Unwesentlichen zu unterscheiden.

Was heute geschieht - ich will nur eines herausheben -, das ist, daß sich in einer merkwürdigen Art vorbereitet die Bedeutungslosigkeit des äußeren britischen Reiches, die Lähmung desjenigen, was bisher die Welt eigentlich historisch als Britentum gekannt hat, indem das, was spezifisch britisch war, übergeht auf den Pan-Anglo-Amerikanis­mus. Das entwickelt sich in der unmittelbarsten Gegenwart. Es ent­wickelt sich etwas, was dahin tendiert, daß das Britentum verschwin­-

262

det in den Pan-Anglo-Amerikanismus. Daß eine solche Sache durchaus in jenen Entwickelungen liegt, die wir auch schon in der verschieden­sten Weise angedeutet haben, widerspricht ihnen nicht. Aber auf der andern Seite ist es von einer ungeheuren Wichtigkeit, einen solchen tragenden Gedanken wirklich ins Auge zu fassen, denn es hängt etwas davon ab, ob man in sein Vorstellungsleben hinein richtige oder falsche Kräfte nimmt. Die Zeit kann uns in dieser Beziehung viel lehren, darauf muß man immer wieder und wieder hinweisen. Gewiß, die Menschen an den Fronten sind andere geworden. Das weiß jeder, der mit den Tatsachen bekannt ist. In welcher Weise sie sich umgewandelt haben, das zu erörtern, ist hier nicht der Ort. Aber unter denen, die innerhalb der Fronten gelebt haben, sind diejenigen doch noch außerordentlich zahlreich, die so denken wie im Juli 1914, die seitdem nichts gelernt haben, die genau dieselben Begriffe anwenden, die man im Juli 1914 angewendet hat. Wenn man mit den Menschen spricht, ist es so, daß sie einem dasselbe sagen, was sie auch im Juli 1914 hätten sagen können. Aber eigentlich kann der kein wacher Mensch heute sein, für den nicht jeder Begriff eine andere Prägung, eine andere Wertigkeit bekommen hat. Und aus diesem Grunde wird die Frage gestellt werden müssen, aber diese Frage sollte sich jeder als eine ganz ernste und, ich möchte sagen, christliche Gewissensfrage stellen -: Wo sind die Menschen heute zu finden, die vor dem Juli 1914 die Möglichkeit sich so recht vor Augen gefährt haben, daß das kom­men könnte, was nun bis zum heutigen Tage gekommen ist? Ich könnte - und Sie wissen, ich sage es nicht aus Albernheit - die Frage auch anders formulieren. In dem Vortragszyklus, den ich vor dem Kriege in Wien gehalten habe, findet sich neben anderem ein Aus­druck, der da lautet: Das gesellschaftliche menschliche Leben trägt jetzt etwas in sich, was man mit einem Karzinom vergleichen kann, was eine Krebskrankheit ist im Leben der Menschheit. Das mußte man damals ins Auge fassen. Aber viele Menschen sind es, die das bis heute noch nicht ins Auge gefaßt haben. Ich frage: In welchem tiefen Sinne ist es verstanden worden, daß damals von dem Karzinom in der menschlichen Entwickelung gesprochen worden ist?

Ich will damit nur hinweisen auf den Ernst, mit dem Geisteswissen­schaft

263

aufgenommen werden sollte, wenn sie auf die Ereignisse der Gegenwart angewendet werden soll. Es ist ja ein großer Teil der Schuld, warum Geisteswissenschaft so zurückgewiesen wird, darin zu suchen, daß den Menschen dieser Ernst, mit dem die Geisteswissen­schaft gemeint ist, furchtbar unbequem ist. Die Theorien der Geistes­wissenschaft gefallen ja manchen, aber der Ernst, der in ihr liegt gegenüber den Forderungen des Lebens, ist vielen, denen die Theo­rien gefallen, höchst, höchst unbequem. Das alles führt uns unmittel­bar dahin, vielleicht etwas genauer zu verstehen, was ich jetzt in diese Betrachtungen auch einschalten muß, was wichtig ist ins Auge zu fassen, wenn man Geisteswissenschaft in den Fundamenten ver­stehen will.

Wenn heute der Mensch etwas in der Welt verstehen will, hat er eigentlich immer das Gefühl: Die Mittel zu diesem Verständnis müs­sen irgendwie in dem Gegenwärtigen gesucht werden. Aber das Geistige kann nicht allein in dem Gegenwärtigen gesucht werden. Wenn man sich zum Beispiel nur geistig mit dem Menschen bekannt­machen will, so kann das Wesen des Menschen auch zwischen Geburt und Tod niemals nur durch die Erkenntnis des gegenwärtigen Men­schen erreicht werden. Warum? Nehmen Sie an, Sie seien fünfzig Jahre alt geworden - es kann selbstverständlich auch ein anderes Jahr sein - und Sie entwickeln in Ihrer Seele irgendein Leben, das zusammenhängt mit den Kräften der Empfindungsseele. Da werden Sie unwillkürlich aus dem Vorstellen der Gegenwart heraus die An­schauung haben: Das ist meine Empfindungsseele, die ich dadrinnen habe; die äußert sich, wenn sich das Empfindungsleben der Seele äußert. Das ist aber ganz und gar nicht wahr. Sondein Ihre Emp­findungsseele kam zur Entwickelung in der Zeit von Ihrem einund­zwanzigsten bis achtundzwanzigsten Lebensjahr, und was damals in der Seele war und mit dem achtundzwanzigsten Jahre für die Gegenwart aufhörte, in der Seele zu sein, das wirkt nach; das gebrauchen Sie heute, wenn Sie die Kräfte der Empfindungsseele ins Auge fassen. Nicht die jetzigen Kräfte der Empfindungsseele, sondern die Kräfte von damals gebrauchen Sie. Das Vergangene wirkt. Es ist nicht wahr, daß alles in der Gegenwart sich erschöpft, was wirkt; sondern das

264

Vergangene wirkt nach. Die geistige Welt muß aufgefaßt werden wie eine Musik, aber noch wie eine reale Musik. Sie könnten unmöglich eine Melodie auffassen, wenn Sie beim dritten Tone den ersten ver­loren hätten; im dritten Ton wirkt der erste weiter fort, er wirkt darinnen. Im geistigen Wirken ist es so, daß etwas nicht nur nachwirkt durch das Behalten im Gedächtnis, sondern daß es in der Rea­lität nachwirkt. Die Wirkungen vergangener Kräfte des geistigen Lebens in den einzelnen Seelenteilen sind wie die Teile des Geistig-Seelischen fortwährend da, aber in noch anderem Sinne. Unser ein­undzwanzigstes, zweiundzwanzigstes Jahr wirkt in uns noch später, es ist da; und es ist da, insofern es in der Vergangenheit da war, nicht insofern es in der Gegenwart da ist. Neue Vorstellungen sich zu bilden und was ich Ihnen eben jetzt entwickelt habe, ist eine neue Vorstellung, sie findet sich nirgends unter den Vorstellungen der Gegen­wart -, neue Vorstellungen sich zu bilden, ist den Menschen un­bequem. Sie wollen sich zum Beispiel nicht sagen: Wenn ich ein Greis bin und graue Haare und eine Glatze bekommen habe, so rede und denke ich dennoch immer mit den Kräften meiner Jugend, meiner Kindheit. Und einfach wahr ist es: Was die Schule in Ihnen ver­anlaßt hat, wie Sie Ihre Zeit vom achtzehnten bis achtundzwanzigsten Jahr zubringen, das wirkt durch das ganze Leben hindurch. Sie kön­nen es später nicht durch andere Kräfte ersetzen, sondern nur, indem Sie diejenigen Quellen anwenden könnten, welche die Geisteswissen­schaft eröffnet. Das ist das einzige Mittel, wodurch manches im Leben ersetzt werden kann. Sie werden es nicht unbegreiflich finden, daß eigentlich jetzt viele Menschen im Grunde genommen unfruchtbar bleiben. Das hängt mit dem Erziehungssystem zusammen. Wir können ja nicht irgend etwas entwickeln, was nicht während unserer Kindheit in uns gelegt ist, wenn es eben nicht durch die gewöhnlichen Kräfte, durch die wir uns an den Menschen selbst wenden, in uns hinein­gelegt ist.

Um solche Vorstellungen richtig zu fassen, dazu gehört gar vieles. Dazu gehört vor allen Dingen - ich muß das von den verschiedensten Gesichtspunkten aus immer wieder und wieder betonen -, daß die Menschen wiederum lernen, in einem viel höheren Sinne, als sie es

265

heute wollen, an das Leben zu glauben, an die Geistigkeit des Lebens zu glauben. Es wird heute dem Menschen verhältnismäßig einleuch­ten, vielleicht an seine geistige Herkunft zu glauben. Er wird ver­hältnismäßig leicht dazu zu bringen sein, daran zu glauben, daß sich mit dem, was sich in der Vererbung durch die Generationen als Mate­rielles entwickelt hat, ein Geistiges verbunden hat, das aus einer geisti­gen Welt herkommt. Aber das genügt nicht. Was notwendig ist, das ist, daß wir nicht nur an die geistige Herkunft eines Stückes von unse­rem Leben glauben, sondern an die geistige Herkunft unseres ganzen Lebens. Wie das?

Heute glauben wir ja aus den Entwickelungstendenzen der Mensch­heit, die ich öfter angeführt habe, daß wir mit dem zwanzigsten Lebensjahre im allgemeinen unser Leben bis zur Vollendung ge­trieben haben. Wir glauben, daß wir in den Zwanzigerjahren reif sind, in eine Stadtverordnetenversammlung, in die Parlamente und der­gleichen gewählt zu werden, weil wir da eben über alles entscheiden können. Jene Zeiten glauben ja die Menschen längst überwunden zu haben, die aber, wie wir wissen, vorhanden waren, wo man auf ein höheres Alter gewartet hat, in der Voraussetzung, daß jedes neue Jahr des Lebens auch neue Offenbarungen bringt. Für das Kind erwarten wir heute, wenn die Geschlechtsreife eintritt, daß auch die Seelen-fähigkeit sich umändert. Wenn auch nicht in so radikaler Weise, so tun wir das doch für die andern Jahre der Kindheit. Wir schauen der Entwickelung zu und sind überzeugt: Bis in die Zwanzigerjahre ent­wickelt sich das Menschenleben. Aber dann hören wir auf, weiter an ein Entwickeln zu glauben. Wir denken, wir seien fertig; wir erwarten von den späteren Jahren des Lebens nicht, daß in jedem neuen Jahre uns neue Offenbarungen kommen. Wir können es auch nicht, wenn wir bei den gewöhnlichen Anschauungen bleiben. Aber wir wissen, daß die Menschheit im Laufe der Entwickelung immer jünger wird, und heute wird sie nicht älter als siebenundzwanzig Jahre. Dann gibt die leiblich-körperhafte Entwickelung nichts mehr her. So muß das, was zur Weiterentwickelung beitragen soll, aus dem Geiste geholt werden. Aber wenn es aus dem Geiste geholt wird, verbindet es sich mit unserer Seele. Fragen Sie nur einmal, wie wenige Menschen dies

266

heute zugeben werden: Wenn Sie heute ein zweiundzwanzig jähriger junger Dachs sind, und wenn Sie dann fünfundvierzig Jahre sein werden, so kann sich einfach dadurch, daß man im höheren Alter eben anderes durchmacht als in der Jugend, einem mit fünfundvierzig Jahren durch innere Offenbarung etwas ergeben, was sich früher nicht hätte ergeben können. Wer glaubt denn an die Produktivität, an die Fruchtbarkeit des Alters? Und weil man daran nicht glaubt, des­halb ist sie auch nicht da; denn man ist nicht darauf aufmerksam, wie jedes neue Jahr auch neue Offenbarungen bringt. Aber bedenken Sie, wieviel sich im Menschenleben dadurch ändern würde, wenn dieser Glaube wirklich allgemein würde, wenn alle Menschen glauben würden: Ich muß warten auf das Älterwerden, dann werde ich durch mich selbst Dinge erfahren, die ich früher nicht habe erfahren können. Erwartungsvolles Leben, hoffnungsvolles Leben wo ist es denn heute? Aber solch ein Gedanke, solch eine Empfindung, übergegangen gedacht in das menschliche Gemeinschaftsleben: Denken Sie einmal, was für eine ungeheure Bedeutung dieses hätte! Welche ungeheure Bedeutung es hätte, wenn zu all den verschiedenen «Gleichheits­demolierungen» möchte ich es nennen -, die in der heutigen Zeit spielen, im Zusammenleben der Menschen das Bewußtsein hinzukäme: Einfach dadurch, daß man vierzig Jahre alt geworden ist, kann man etwas erfahren haben, was man mit siebenundzwanzig Jahren noch nicht erfahren kann. Denken Sie, wie dann ein Siebenundzwanzigjähriger zu einem Vierzigjährigen stehen könnte, wenn das eine naturgemäße Empfindung wäre! Natürlich kann es heute nicht sein, weil heute oft die Siebzigjährigen nicht älter sind als siebenund­zwanzig, und oft gerade die Repräsentativsten nicht älter sind und es nicht bemerken. Also man kann es heute nicht als eine reale Forde­rung verlangen.

Das ist es aber, was das Leben bringen muß, und was die Zukunft fordert: daß die Menschen anfangen, das Geistige wieder als eine Realität anzusehen. Was ist heute dem Menschen als Geist einzig und allein bekannt? Im großen und ganzen nichts anderes als eine Summe von abstrakten Begriffen. Zu einer Summe von abstrakten Begriffen kommt der Mensch, von solchen abstrakten Begriffen, die eben gerade

267

dadurch charakteristisch sind, daß sie bis zum siebenundzwanzigsten Jahre ganz gut aufgenommen werden können. Aber mit dem, daß wir hier auf der Erde leben zwischen Geburt und Tod, zuerst sprießendes, sprossendes Leben haben, dann mit dem achtundzwanzigsten Jahre stehenbleiben in dieser Entwickelung, und dann vom fünfund­dreißigsten Jahre ab unser absteigendes Leben beginnen: mit dem ist ja eine reale, konkrete Geistigkeit verbunden, die sich ebenso ver­ändert, wie sich der äußere Mensch verändert; und diese konkrete geistige Realität macht so ziemlich einen entgegengesetzten Gang durch als der äußere Mensch. Der äußere Mensch wird alt, wird runzelig, aber sein Ätherleib, sein Bildekräfteleib wird immer jünger; nur kümmert sich der Mensch heute nicht um diesen im Alter jünger-werdenden Bildekräfteleib. Die Menschen gehen herum, haben Glatzen und graue Haare, und sie wissen nicht, daß sie einen Bilde­kräfteleib haben, der sprießendes, sprossendes Leben gerade dann hat, wenn sie anfangen, graue Haare zu bekommen, der ihnen gerade dann Dinge geben kann, die ihnen früher nicht gegeben werden konnten. Das ist allerdings durch den Zeitcharakter bedingt. Aber die Zeit braucht in dieser Beziehung Umkehr. Die Zeit braucht Wandelung der Begriffe. Eines, was in dieser Wandelung der Gedanken besonders gegeben sein muß, ist das, daß die Gedanken wieder ein bißchen kräftig und gesund werden, daß sie nicht haften an dem, was sich nur von außen darbietet; sonst kommen wir auf allen Gebieten auf die furchtbarsten Einseitigkeiten hinaus. Mit dem Gedanken die Wirk­lichkeit durchdringen auf irgendeinem Gebiete, das ist es, worauf es ankommt. Wir können auch das geschichtliche Leben der Menschen nicht verstehen, wenn wir nicht imstande sind, demjenigen, was äußer­lich an Weisheit läuft, die innere Weisheit entgegenzubringen. Wir haben ja durch verschiedene Gründe, die mit dem Riß, mit dem Sprung, der in der Menschheitsentwickelung ist, zusammenhängen, aufgehört, manches Große zu verstehen, was noch in atavistischer Weise gefunden worden ist. Auf manchen Gebieten glauben die Men­schen heute, originell zu sein.

Ich habe vor längerer Zeit einmal in Dornach in einem Vortrage die Frage aufgeworfen, was ein Publikum sagen würde, wenn ein

268

Theaterregisseur es bei einer «Faust»-Aufführung unternehmen würde, nachdem Faust dem Erdgeist gegenüber zusammengestürzt ist, den Wagner ein klein wenig verändert, aber sonst in der äußeren Erscheinung genau ebenso wie Faust auftreten zu lassen. Und dennoch, so etwas müßte man einmal machen. Ich will Ihnen den Grund sagen, weshalb man es machen müßte.

Was liest man heute in den «Faust »-Erklärungen, was haben die Leute im Bewußtsein, wenn sie auch von dieser Sache, die ich da meine zwischen Wagner und Faust, sprechen? Sie brauchen sich nur an die wahnwitzigen Deklamationen mancher « Fäuste» zu erinnern und an die abgeschmackten Töne, die von den «Wagners» kommen, dann werden Sie eine Vorstellung bekommen von dem, was hier vor­liegt, wenn man noch dazu immer nur denkt an den großen, in die Wolkenhöhen hinaufragenden Faust und an den pedantischen Wagner, der auf der Bühne auch noch immer so dargestellt wird, daß er ein bißchen humpelt und so weiter. Aber was liegt denn eigentlich vor? Faust verzweifelt an den verschiedenen Wissenschaften. Das betrach­tet man ja zumeist schon als etwas Allertiefstes, obwohl es eigentlich im Grunde genommen für viele Menschen, die gar nicht sehr tief sind, heute schon eine Trivialität ist. Aber was betrachtet man nicht alles als Tiefstes? Wie oft hört man gegenüber mancherlei andern Forde­rungen an ein Begreifen der Geisteswelt die aufstellen, man solle sich doch an die tiefsten Faust-Gedanken halten, zum Beispiel von dem Allerhalter, der mich und dich und sich selbst faßt und erhält, in dem Gespräch Fausts mit Gretchen. Man bedenkt nicht, daß doch Faust diese Worte dem sechzehnjährigen Gretchen sagt und sie auf deren Verstand und Empfindungsweise münzt. Die ganze Menschheit läßt sich gerne katechisieren, indem sie sich auf den Standpunkt des sech­zehnjährigen Gretchens herunterschraubt. Auch Philosophieprofes­soren habe ich schon kennengelernt, die diese Gretchen-Katechismen als die höchste Weisheit hinstellen. Aber auch das ist es nicht am Anfange der Dichtung, daß Faust an allen Wissenschaften ver­zweifelt. Sondern der springende Punkt liegt darin, daß Faust sich abwendet von dem, was sich ihm offenbart von dem Zeichen des Makrokosmos, der ganzen Welt. Er will zunächst nichts wissen von

269

den Beziehungen des Menschen zu dem ganzen umfassenden großen All. Er wendet sich zum Erdgeist, zu dem, was ihm offenbaren will, was der Mensch nur aus den Kräften der Erde hat. Was sich ihm aus dem Makrokosmos offenbart, das ist ihm ein Schauspiel, «aber ach, ein Schauspiel nur!» Da wendet er sich ab. Aber der Erdgeist weist ihn von sich. Faust glaubte durch den Erdgeist irgend etwas ergreifen zu können, was mit seinem tiefsten Wesen zusammenhängt. Der Erd­geist bringt ihn zum Niederstürzen. Und dann die Worte: « Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!»

Nun frage man: Wer ist es, den der Faust begreift? Er selbst sagt: «Nicht dir! Wem denn?» und herein tritt Wagner. Alles, was du bisher entwickelt hast, ist bloßes Gefühlsstreben; was du schon in dir trägst, schaue es an in Wagner! Das ist die andere Natur des Faust. Das ist die dramatische, wirkliche Antwort! Im Drama wird die Ent­wickelung durch die Tatsachen gegeben. Faust soll es begreiflich gemacht werden, daß er im Grunde genommen in allem Konkreten, das er bis dahin entwickelt hat, noch nicht mehr ist als sein Famulus, und gerade durch diese Etappe der Selbsterkenntnis soll er ein Stück weitergeführt werden. Man könnte gerade die Realität darstellen, wenn man die zwei ganz gleich auf die Bühne nebeneinandertreten ließe. Aber dazu müßte man den Mut haben, solche Worte wie die: «Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!» «Nicht dir! Wem denn?» viel ernster zu nehmen als bisher. Dann müßte man sich mit seinen Gedanken ganz hineinfinden in die Situation. Und so ist sie im Drama dargestellt.

Und wiederum betrachten wir etwas anderes. Faust hat sich von dem Zeichen des Makrokosmos abgewendet. Er will nicht die Kräfte erleben, die den Menschen an den Makrokosmos, an das ganze All binden. So lebte es im Grunde genommen in Goethes Seele selbst, als er die ersten Teile seines «Faust» geschrieben hatte. Und als Faust das nachgeholt hat, was er in seiner Jugend versäumt hat, wenigstens in der Rückschau durch den Osterspaziergang und durch die Osternacht überhaupt, da kommt er über die Etappe der Selbsterkenntnis, die ihm in Wagner entgegengetreten ist, hinaus und kommt dazu, das, was er hatte vorübergehen lassen, was ihm die Osterbotschaft sein

270

kann, nachzuholen. Lesen Sie die Sätze; Wagner will es nicht. Die einzelnen Worte sind außerordentlich prägnant, zum Beispiel:

Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet,
Der immerfort an schalem Zeuge klebt,
Mit gierger Hand nach Schätzen gräbt,
Und froh ist, wenn er Regenwürmer findet!

Es kann gar nicht anders sein, als daß diesem Kopf «alle Hoffnung schwindet». Das ist das Motiv der Selbstbeobachtung. Faust zieht nur alle Konsequenzen, aber er holt nach, was er in seiner Jugend ver­säumt hat. Er holt es nach und kann es nachholen. Dadurch wird er eine Stufe höher geführt. Dadurch rechtfertigt es sich, daß jetzt noch einmal die Frage aufgestellt wird: «Wem denn?» Dem, der ihm im «Pudel» entgegenkommt: Mephistopheles. Aber was ist dies? Dies ist diejenige Gegenkraft der menschlich strebenden Kräfte, die sich dem Menschen so entgegenwirft, wie Faust sich dem Erdgeist ent­gegenwirft, da er mit dem Makrokosmos nichts zu tun haben will. Das sind die luziferischen Kräfte, die aus des Menschen Innerem herauskommen. Daher ist Mephistopheles zunächst mit luziferischen Zügen ausgestaltet, und das ist im wesentlichen der Mephistopheles des ersten Teiles der Faust-Dichtung: ein luziferisches Wesen.

Aber schon am Ende der neunziger Jahre war Goethe daran, über das, was aus seiner Jugend stammte, hinauszuwachsen. Denn lesen Sie den «Prolog im Himmel»: Was darin entwickelt wird, ist nicht mehr an die Offenbarungen des Erdgeistes gebunden; da beschäftigt sich Goethe schon mit dem Impuls, der aus dem Makrokosmos hereinkommt. Goethe ist über seinen eigenen Anfang hinausgewach­sen. Und jetzt tritt etwas in seine Seele, was ungeheuer bedeutungsvoll und wichtig ist, und was uns, wenn man es erkennt, tief hinein­schauen läßt in die Goethe-Seele.

Goethe hatte die Tradition der Faust-Sage, die Tradition der nordi­schen, deutschen Mythe. Da war der Mephistopheles da. Aber in dem Augenblick, da er, gedrängt durch Schiller, den «Faust» weiterführt, da wird Mephistopheles Goethe bringt es sich nicht recht zum Be­wußtsein eine Figur, die ihn innerlich wurmt, mit der er nicht recht

271

zu Rande kommt. - Jakob Minor, der auch ein «Faust»-Erklärer ist und manches Geistreiche gesagt hat, hatte eine merkwürdige Erklärung dafür gefunden, daß Goethe gar nicht vorwärtskam, als er den «Faust» wieder aufnahm. Er meint nämlich, daß Goethe, als er gegen die fünfziger Jahre stand, alt geworden wäre. Ich möchte nur wissen, wie es sein sollte, daß man überhaupt einen «Faust» schreiben könnte, wenn die Dichterkraft mit den Fünfzigern versiegen würde und man doch die Kräfte der Jahre nach fünfzig auch in die Dichtung hinein­bringen müßte, wenn nicht dem Menschen Jugendkraft erblühen könnte aus einem Leben, wie es Goethe zu führen verstand. Aber Mephistopheles wurmte in seiner Seele, instinktiv wurmte er ihn. Und der ließ ihn nicht weiterkommen, weil der Konflikt Faust Mephistopheles nicht recht ging. Goethe hatte einmal den Faust an die größten Menschheitsfragen herangeführt, und das ging jetzt nicht mit dem Mephistopheles. Dieser hatte einen luziferischen Charakter angenommen. Da hat man es nur mit den Kräften zu tun, die aus dem Gefühls- und Empfindungsleben herauskommen. In dem Augenblick aber, wo Goethe den «Prolog im Himmel» entwickelt, da steht Faust dem Makrokosmos gegenüber. Da geht es nicht mehr, daß man Faust bloß mit denjenigen Mächten kämpfen läßt, die im Inneren des Men­schen leben; da geht es nicht mehr, dem Mephistopheles bloß den luziferischen Charakter zu lassen. Das spürte Goethe. Und wirklich nicht, um pedantisch zu werden, sondern um auf Wichtiges hinzu­weisen, möchte ich auf einige Kleinigkeiten aufmerksam machen. Denken Sie, daß der Herr im «Prolog im Himmel» sagt:

Von allen Geistern, die verneinen,
Ist mir der Schalk am wenigsten zur Last.


Dann muß es noch andere Geister geben, die verneinen. Aber im «Faust» ist nur der eine: Mephistopheles. Und denken Sie, daß Mephi­stopheles im «Prolog» sagt:

Am meisten lieb ich mir die vollen frischen Wangen,
Für einen Leichnam bin ich nicht zu Haus.

Und erinnern Sie sich an den Schluß, wo er sich um den Leichnam wahrhaftig ernst genug bemüht. Was liegt da vor? Das, daß Goethe

272

spürte: was er von der Mythe, von der Faust-Sage empfangen hatte als die einheitliche Mephistophelesfigur, das spaltet sich, wenn man hinausgeht in den Makrokosmos, in zwei. In Goethe lebte es, zwie­spältig zu empfinden: luziferisch und ahrimanisch. Er ist dann darin nicht weitergekommen, weil es Geisteswissenschaft zu seiner Zeit noch nicht gab. Aber das brachte ihn zum Stocken. Als er jedoch später makrokosmisches Geschehen und Menschheitsgeschehen zu verbinden hatte in der «Klassischen Walpurgisnacht», und am Schlusse, wo sich makrokosmisches Allgeschehen und Menschheits­erleben in eins verweben, da mußte sein Mephistopheles einen ahrimanischen Charakter annehmen. Das ist ihm bis zu einem hohen Grade gelungen. Aber alles eigentlich, was Goethe selbst über sein persönliches Verhältnis zu seinem «Faust» gesagt hat, steht unter dem Eindruck: Es geht nicht weiter. Wenn man von dem mittelalterlichen, pedantischen, aber trotzdem volkstümlichen Drama den Faust auf die große Weltenbühne hinausstellt, so hat man nötig, den Mephisto­pheles zu spalten in ein luziferisches und ein ahrimanisches Wesen. Deshalb wollte es bei Goethe nicht weitergehen. Es ist ihm dann gelungen selbstverständlich will ich Goethe nicht korrigieren , indem er sich immer mehr dem zweiten Teile der Dichtung näherte, seinem Mephistopheles ahrimanische Züge zu geben. Ein luziferisches Wesen liebt die «vollen frischen Wangen»; ein ahrimanisches hat es mit dem «Leichnam» zu tun, weil es mit dem, was wir in unserem Wahrnehmungsvermögen erleben, auch unser Bewußtsein zwischen Geburt und Tod durchdringt. Gerade wenn man eine Persönlichkeit ansieht wie die Goethesche, so erkennt man, wie eine solche Persön­lichkeit die Jugendkräfte beibehält, aber mit diesen Jugendkräften immer neue und neue Lebenserfahrungen macht. Nicht weil er alt geworden war, ist das eingetreten, was in einer so merkwürdigen Weise für das Ende der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts aus Goethes Lebensgeschichte hervorgeht, sondern weil er eine Krisis durchmachte, die gewisse Kräfte seiner Jugend zu neuer Auf­erstehung brachte, sie auferstehen ließ, sie ihn recht als Pfingstwunder erleben ließ. Was ich jetzt über «Faust» gesagt habe, ist weiter aus­geführt in der Schrift, die jetzt wieder erscheinen soll: «Goethes

273

‹Faust› als Bild seiner esoterischen Weltanschauung». Diese soll den ersten Teil eines demnächst erscheinenden Büchelchens bilden: «Goethes Geistesart»; der zweite sollen Goethes Gedanken über sei­nen «Faust» sein, und der dritte Teil einige Gedankenausführungen über das «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie».

Ich habe dies eben angeführt aus dem Grunde, weil ich darauf auf­merksam machen will, daß es wirklich nötig ist, dasjenige aber auch das Vergangene , was die Geistessubstanz der Menschheit enthält, mit eindringlichen Gedanken einmal zu erfassen, daß wir ernst neh­men, was da ist. Denn wir haben seit vier bis fünf Jahrzehnten voll­ständig verlernt, gerade das Größte in der Menschheitsvergangenheit mit vollem Ernste aufzunehmen. Furchtbar viel ist in den letzten vierzig bis fünfzig Jahren versäumt worden, und notwendig ist es, daß das, was geistig da war, in einer allerdings erneuerten Gestalt auftrete; denn es war in manchen Teilen atavistisch, und da konnte es in vieler Beziehung eine gewisse Kruste nicht durchbrechen.

Goethe konnte nicht zur Spaltung der Mephistophelesfigur in eine luziferische und eine ahrimanische kommen, dazu war die Zeit noch nicht reif. Aber es lebte diese Zwiespältigkeit in Goethes Natur. Kurz, lernen müssen wir, an das ganze Menschenleben zu glauben, nicht bloß an die Kindheit. Lernen müssen wir, ein erwartungsvolles Leben führen zu können. Denken Sie sich, wenn man darauf neugierig wäre: Was wird mit mir sein, wenn ich nun einmal fünfzig Jahre alt sein werde? Wie viele Menschen hegen heute solche Gedanken? Wie viele führen ein Leben, daß sie daran glauben, daß immer neuer Inhalt in die Menschenseele hineinströmt? Welche Veränderungen würden auch im sozialen Leben der Menschheit vor sich gehen, wenndieser Glaube an das ganze Leben die Menschen ergriffe! Und welcher einfache Gedanke könnte es sein, der zu diesem Glauben an das ganze Men­schenleben hinführt? Der Gedanke, der in der Frage besteht: Hätte es denn einen Sinn, daß wir im Durchschnitt siebzig Jahre alt werden, wenn wir mit achtundzwanzig Jahren mit unserer Entwickelung fertig wären? Warum sollten wir dann älter werden? Aber dazu sind aller­dings einige naturwissenschaftliche Hilfen nötig, damit das, was als

274

Geisteswissenschaft auftritt, mit dem verbunden werden kann, was man heute wissenschaftlich ernst nimmt.

Geisteswissenschaft, sagte ich - und damit knüpfe ich an den An­fang der heutigen Betrachtung wieder an -, hat eigentlich innerhalb unserer Bewegung herzlich wenig erreicht. Und doch ist sie nicht aussichtslos. Das merkt man bei vielen Gelegenheiten. Man merkt es am besten dann, wenn der Fall eintritt - und der ist in den letzten Jahren nicht selten eingetreten -, daß jüngere Menschen, die gerade in den Universitätsstudien stehen, herankommen, um irgend etwas zu finden, was ihre besonderen Studien an die Geisteswissenschaft anknüpfen kann. Die jungen Leute, die heute Lebensanfänger sind, fühlen aus ihren Wissenschaften heraus, daß jede Wissenschaft über­geleitet werden kann in Geisteswissenschaft. Das werden vielleicht die fruchtbarsten Keime, die sich da ergeben könnten; denn man müßte die Dinge ernst nehmen. Aber die Schwierigkeiten ergeben sich sogleich, wenn nun diese jungen Leute mit dem, was sie von der Geisteswissenschaft in ihre Studien hineintragen wollen und was durchaus sachlich hineingetragen werden könnte, zum Beispiel eine Doktordissertation schreiben wollen. Die bringen sie nicht durch; sie können nicht realisieren, was sie wollen. Geisteswissenschaft ist im Grunde genommen sachlich etwas sehr Aussichtsvolles, aber man hält die Leute ab, zwingt sie weg davon. Auch das muß man im vollsten Sinne des Wortes einsehen. Ich weiß einen Fall - es ist schon lange her, so daß ich es erzählen kann; die allerletzten Fälle der Gegenwart würden sich dazu nicht schicken -, wo hier in Berlin eine Doktordissertation eingereicht worden ist, in der keine andere Sünde zu finden war, als daß mein Buch «Das Christentum als mystische Tat­sache» erwähnt war. Es war eine philosophische, nicht eine theolo­gische Dissertation. Der Betreffende sagte: Was soll ich nun tun? Paulsen nimmt es nicht, er erklärte: Das können Sie nicht machen, daß Sie hier Steiner anführen. Ich konnte dem Betreffenden nur antworten: Gehen Sie nach Münster, machen Sie Ihr Rigorosum bei Gideon Spicker; da geht es vielleicht. - Es ging auch. Man muß die Dinge in ihrer Wirklichkeit betrachten, muß ins einzelne hinein­schauen. Die Gesichtspunkte, die heute entwickelt werden, wenn

275

einer seinen Lebensweg auf einem akademischen Untergrund auf­zubauen sucht, sind ja zuweilen höchst merkwürdige. So erzählte mir einmal ein angehender Privatdozent - der allerdings auf eine Weise über diese Klippe hinweggekommen ist, die Sie gleich hören wer­den -, daß er es durch das geworden ist, was er mir selbst in folgender Weise erzählte: Er hatte eine ästhetische Abhandlung geschrieben über die Werke eines Dichters - ich will ihn nicht nennen, sonst könnte man die Sache durch irgendwelche Hilfsmittel erraten -; dann hatte er eine Abhandlung über Schopenhauer geschrieben und außerdem eine Dok­tordissertation selbstverständlich. Nun wollte er Privatdozent werden. Er ging an der entsprechenden Universität zu dem betreffenden Pro­fessor, der ihn gut leiden mochte und ihn für einen sehr befähigten Menschen hielt, und er glaubte, daß dieser Professor es auf eine leichte Weise bewirken könnte, daß er Privatdozent würde. Da sagte dieser Professor: Wissen Sie, das geht nicht; Sie haben jetzt eine Abhand­lung geschrieben über einen Dichter, über eine ästhetische Frage. Aber dieser Dichter hat im 19. Jahrhundert gelebt. Das ist zu neu. Dann haben Sie über Schopenhauer geschrieben. Das kann von uns nicht als wissenschaftlich angesehen werden. Der Betreffende sagte darauf: Was soll ich denn aber tun? - Und der Professor antwortete ihm: Nehmen Sie sich einmal irgendein älteres Bücherverzeichnis aus einem älteren Jahrhundert, und schlagen Sie sich einen möglichst un­bekannten Ästhetiker auf, den kein Mensch kennt, und schreiben Sie - das wird Ihnen sehr leicht werden, denn es gibt darüber keine Literatur, Sie brauchen nicht viel zu studieren -, schreiben Sie, was leicht zu schreiben ist, weil Sie ihn aus einem Bücherverzeichnis einfach auffinden. Nun, dieser angehende Privatdozent nahm ein altes Bücherverzeichnis, schlug einen alten italienischen Ästhetiker auf, über den noch nichts geschrieben war, und verfaßte eine Abhandlung, die er als höchst ungenügend hielt, und die auch der als höchst ungenügend hielt, der sie zu beurteilen hatte. Aber sie war die genügende Unterlage, um Privatdozent zu werden!

Ich will dies nicht erwähnen, um die eine oder andere Persönlichkeit anzuschwärzen. Es handelt sich auch nicht um Persönlichkeiten, denn ich erzähle ein Beispiel, das mit Persönlichkeiten nichts zu tun hat.

276

Denn der Mann, der die betreffende Dissertation zu beurteilen hatte, lachte über das, was er dem andern aus den Vorurteilen der Zeit heraus aufzuerlegen hatte. Und der andere, der Privatdozent werden wollte, lachte auch. Zwei außerordentlich nette Menschen, ein älterer und ein jüngerer. An den Menschen braucht es nicht zu liegen. Es liegt an der geistigen Substanz, in der unser Zeitalter steckt, und der gegenüber man nur aufkommen kann mit starken und kräftigen Ge­danken. Und starke und kräftige Gedanken sind heute nur möglich, wenn die Menschheit aus dem Geiste heraus befruchtet wird, wenn wirklich nur auf dem gebaut wird, was Geisteswissenschaft geben kann. Also, ob man den Blick auf Goethe, ob man ihn auf die un­mittelbare Gegenwart richtet, das ist es, was uns immer wieder aus den unmittelbaren Zeitverhältnissen entgegentönt: Erneuerung unserer Vorstellungswelt, Erneuerung unserer Empfindungswelt, Erneuerung unserer Gedanken, die sich in starker Weise der Gegenwart entgegen­stellen. Davon hängt es ab, daß sich am einzelnen das Pfingstwunder erfüllt in der Seele, und daß sich dieses Pfingstwunder an der ganzen Menschheit, in unserer katastrophalen Gegenwart, als Lebenserneue­rung erzeigt, indem die Menschen, erleuchtet durch den Geist, sich als individuelle Wesen so gegenüberstehen, daß durch das Zusammenwollen, durch das Zusammensinnen und Zusammenwachsen sich eine geistige Struktur der Menschheit bilden kann. Aus dem Menschen, aus dem Individuellen muß kommen, was für die Zukunft notwendig ist. Nicht dürfen wir warten auf eine allgemeine Botschaft, der die Menschheit zu folgen hätte. Solche Botschaft wird es nicht geben. Aber die Möglichkeit wird es geben, daß in jeder einzelnen Menschen­seele das aufleuchtet, was aus der geistigen Welt kommen kann. Dann aber wird durch das Zusammenleben der Menschen das entstehen, was entstehen soll und was entstehen muß.

277

BEWUSSTSEINS-NOTWENDIGKEITEN FÜR GEGENWART UND ZUKUNFT

278


279

FÜNFZEHNTER VORTRAG Berlin, 25. Juni 1918

Ich möchte heute zusammenfassend auf Verschiedenes zurückkom­men und es erweitern, was hier im Laufe der Zeit besprochen worden ist, weil ich dadurch eine Grundlage schaffen möchte zu einigen weite­ren ganz prinzipiellen Ausführungen, die wir in der nächsten Zeit hier absolvieren wollen.

Im geisteswissenschaftlichen Forschen tritt zu den zwei Bewußt­seinsformen, die jeder Mensch kennt das Traumbewußtsein und das gewöhnliche Tagesbewußtsein, in dem wir vom Aufwachen bis zum Einschlafen leben -, eine dritte hinzu, diejenige, die wir das schauende Bewußtsein nennen. Das Traumbewußtsein kennen wir allerdings im gewöhnlichen Leben nur wie eine Art Unterbrechung des fortwäh­renden Bewußtseins. Allein, das ist nur aus dem Grunde, weil der Mensch sich nur zum geringen Teil seiner Träume erinnert. Er träumt eigentlich fortwährend vom Einschlafen bis zum Aufwachen, und was wir gewöhnlich als den Inhalt unseres Traumbewußtseins bezeichnen, das sind ja nur diejenigen Teile unserer gesamten Traumerlebnisse, an die sich der Mensch im wachen Tagesleben erinnert. Vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus müssen wir also sagen: Wir kennen drei Stufen oder auch drei Arten unseres Be­wußtseins: das Traumbewußtsein, das gewöhnliche tagwachende Bewußtsein und das schauende Bewußtsein, dem die übersinnliche Welt offen ist.

Nun wird es Ihnen ein leichtes sein, mit einer Eigenschaft eines jeden folgenden Bewußtseins mit Bezug auf das vorhergehende - wenn wir von oben, vom schauenden Bewußtsein anfangen - sich vertraut zu machen. Denken Sie nur an das Traumbewußtsein: Es gibt uns Bilder. Wir wissen, daß die Traumerlebnisse Bilder sind. Sie können, wenn Sie besonnen sind, diese Traumerlebnisse nicht ohne weiteres einreihen in den Ursachenzusammenhang des Tageslebens. Würden Sie das wollen, würden Sie Traumleben und Tagesleben ver­mischen, Sie würden zu Phantasten werden. Also mit Bildern haben

280

wir es in den Traumerlebnissen zu tun, im Gegensatz zur Wirklichkeit. Wirklichkeiten nennen wir dabei die Tageserlebnisse.

Wenn wir aber nun das Verhältnis aufsuchen zwischen den gewöhn­lichen Tageserlebnissen und dem Inhalt des schauenden Bewußtseins, dann haben wir ein ganz Ähnliches. Denn für das, was das schauende Bewußtsein als geistige, übersinnliche Wirklichkeit erlebt, ist das, was wir im gewöhnlichen Tagesleben vom Aufwachen bis zum Einschla­fen erleben, Bild. Also insofern der Mensch im schauenden Bewußt­sein, das heißt in einem erweckten Zustande sich befindet, kann er durchaus sagen, er muß es nur mit Besonnenheit tun: Ich erlebe in diesem schauenden Bewußtsein eine wahre Wirklichkeit, und dieser Wirklichkeit gegenüber ist das, was man sonst Wirklichkeit nennt, nur eine Summe von Bildern.

So abstrakt die Sache ausgesprochen, hat sie nicht viel Wert. Gewiß, viele Menschen sind schon recht zufrieden, wenn sie solche Sachen abstrakt aussprechen. Sie glauben, mit einem solchen abstrakten Aussprechen Weltenrätsel zu lösen. Das tut man aber nicht. Einen Wert hat eine solche Sache nur, wenn man auf das ganz Konkrete, auf das Unmittelbare der Lebenspraxis eingeht. Das kann man aber immer nur auf bestimmten Gebieten.

Nun habe ich Sie schon im Laufe der Zeit auf ein Gebiet aufmerk­sam gemacht, das wir immer wieder und wieder betrachten müssen, wenn wir im Geisteswissenschaftlichen weiterkommen wollen. Es ist dies Gebiet - das uns nächstliegende, unserer Erkenntnis oftmals so fernliegende - der Mensch selber. Man glaubt gewöhnlich, den physi­schen Menschen kenne man; man kenne nur nicht den übersinnlichen Menschen. Aber auch das ist nur bis zu einem gewissen Grade der Fall. Was man im gewöhnlichen Leben Anatomie, Physiologie nennt, das webt ja in unzähligen Illusionen. Wir wollen heute zunächst ein­mal ausgehen, aber nur scheinbar, von der äußeren Gestalt des Men­schen: von dem physischen Menschen. Wir wollen uns dabei auf jene Dreigliederung des physischen Menschen beziehen, die ich schon öfter angeführt habe.

Betrachtet man den Menschen in seinem Verhältnis zur übersinn­lichen Welt, also so, wie er Bild ist, nicht wie er eine Wirklichkeit ist

281

im Sinne der landläufigen Anatomie und Physiologie, so zerfällt er in drei streng voneinander verschiedene Teile auch mit Bezug auf seine äußere physische Gestalt: in den Hauptesmenschen, den Menschen, der vorzugsweise im Haupt konzentriert ist, in den Rumpfesmenschen und in den Extremitäten- oder Gliedmaßenmenschen, nur müssen wir uns dabei vorstellen, daß dieser dritte Mensch nicht nur aus Armen und Beinen besteht, sondern daß diese Gliedmaßen ihre «Einläufer» im Gegensatz zu den «Ausläufern» fortsetzen, und daß dies der ganze Mensch ist. Diese drei wollen wir einmal ins Auge fassen.

Man könnte eigentlich gar nicht, ohne gegen die Wirklichkeit des Übersinnlichen zu sündigen, von drei Menschen wirklich sprechen; denn mit Bezug auf das Übersinnliche des Menschen haben diese drei eben angeführten Glieder eine ganz erhebliche Kluft zwischen einander. Die verschiedenen Kräfte, oder, sagen wir, Kraftströmungen, welche an der Bildung dieser Gestaltenglieder teilnehmen, gehen nach ganz verschiedenen Seiten hin. Wenn man mit übersinnlicher Er­kenntnis die menschliche Gestalt untersucht, so ist das Haupt wirklich so gebildet, daß man seine Bildungskräfte eigentlich vor der Geburt oder Empfängnis suchen muß. Man muß rückwärts in die geistige Welt gehen, nicht in die physische Vererbungsströmung. So wie des Menschen Haupt gebildet ist - man muß dann allerdings auf die feinere Bildung eingehen -, so hat an dieser Bildung vorzugsweise alles das Anteil, was in der geistigen Welt an Kräften des Menschen Seele durchsetzt, bevor sie durch die Geburt oder Empfängnis sich mit der physischen Vererbungsströmung vereinigt hat. Und einen hauptsäch­lichen Anteil gerade an der Bildung des Hauptes hat nicht einmal so sehr das, was der Mensch in seinem vorherigen Erdenleben durchlebt hat, nicht seiner Gestalt nach, sondern seinem Aufführen, seinen Taten, auch zum Teil seinen Gefühlen nach. Wenn übersinnliche Er­kenntnis so weit gekommen ist, daß sie in sich den Sinn für eine solche Gestalt erweckt hat, so schaut sie von der Gestaltung des Haup­tes hinüber in das, was man die vorherige Inkarnation nennt. Man be­rührt da außerordentlich bedeutsame Geheimnisse der menschlichen Entwickelung. Und mehr, als gewöhnlich von Eingeweihten niederer Sorte vorausgesetzt wird, hängt die menschliche Hauptesgestalt mit

282

dem Karma zusammen, wie es sich aus der vorherigen Inkarnation herüberentwickelt.

Fassen wir jetzt, indem wir den Rumpfesmenschen auslassen, den Extremitätenmenschen ins Auge, aber mit seinen Fortsetzungen nach innen. In diesem Extremitätenmenschen haben wir etwas, was uns keineswegs in einer so ausgesprochenen, so individuellen Gestaltung entgegentritt wie im menschlichen Haupte. Jeder Mensch hat sein individuell ausgebildetes Haupt, weil das Haupt zurückweist auf frühere Erdenleben. Mit Bezug auf die Extremitätenorganisation, mit der die Sexualorganisation wesentlich zusammenhängt, weist der Mensch hin auf seine folgenden Erdenleben. Da ist noch alles undifferenziert. Das seelische Korrelat für diesen Organismus weist auf die folgenden Erdenleben hin. Ganz besonders wichtig ist auch, daß man die Rumpforganisation ins Auge faßt. Sie ist ein Zusammenwirken aus Kräften, welche im menschlichen Geistesleben spielen vor der Geburt oder Empfängnis und nach dem Tode, aber zwischen dem Tode und der nächsten Geburt. Was also die Seele zwischen dem letzten Tode und dieser Empfängnis oder dieser Geburt umgeben hat, das wirkt zusammen mit dem, was sie umgeben wird zwischen diesem Tode und der nächsten Geburt oder Empfängnis. Das webt sich in­einander. Und dieses Ineinanderweben der Kräfte wirkt im mensch­lichen Rumpfesorganismus, und zwar so, daß es hauptsächlich anschau­lich wird in demjenigen, was ja auch das Hervorragendste in der Betätigung der Rumpfesorganisation ist: im Atmungsprozeß, so daß das Ausatmen vorzugsweise ein Bild - jetzt komme ich auch hier zu dem Ausdrucke «Bild» dessen ist, was sich mit der Seele abgespielt hat seit dem letzten Tode bis zu dieser Empfängnis; und die Einatmung ist ein Bild desjenigen, was sich an Kräften um und in der Seele abspielen wird zwischen dem Tode, der uns nach dieser Verkörperung treffen wird, und der nächsten Empfängnis oder Geburt.

Hier haben Sie ein Konkretes auf diesem Gebiete. Was die gewöhn­liche Anatomie und Physiologie an der menschlichen Gestalt be­trachtet, das betrachtet sie so, daß sie die Dinge nebeneinander hin­stellt: Hier sind Kopf und Rumpf und Gliedmaßen in gleicher Weise eine Summe von Nerven und Blutgefäßen. Die übersinnliche Erkenntnis

283

muß die Dinge auseinanderhalten; ihr sind die verschiedenen Gestaltenglieder verschiedenwertig. So sieht die gewöhnliche Ana­tomie und Physiologie unmittelbare Wirklichkeiten. Unsere Geisteswissenschaft sieht in der Hauptesgestalt das Bild von den Taten und Fühlungen der vorigen Inkarnation; sie sieht in der Ausatmung, wie sie sich bei jedem Menschen doch individuell gestaltet - denn jeder hat in dem Grade, wie sein Haupt differenziert ist, auch den Atmungs­prozeß differenziert -, ein Bild der Kräfte, welche die Seele zwischen dem letzten Tode und der nächsten Geburt umspielten, und der Ein­atmungsprozeß ist ja ein Bild dessen, was die Seele umspielen wird an Kräften zwischen dem jetzigen Tode und der nächsten Geburt. Und in dem Extremitätenprozeß haben wir schon ein Bild vom nächsten Erdenleben. So wird in der Tat, wie im Traume das Tagesleben von Bildern durchwoben wird, das großartig ausgedehnte übersinnliche Leben, das sich dem schauenden Bewußtsein öffnet, von Bildern durchwoben. Aber diese Bilder sind unsere gegebene, im Tagwachen gegebene Wirklichkeit. Wir kommen also dazu, daß wir jede folgende Erscheinungswelt, angefangen vom schauenden Bewußtsein, auf­finden als Bilder der nächsten Erscheinungen. Unsere prosaische Wirk­lichkeit ist Bild der übersinnlichen Wirklichkeit, und unsere Traumeswirklichkeit ist Bild der gewöhnlichen, im Alltagsleben erfaßten Wirklichkeit.

Was ich hier sage, wird eigentlich erst so recht dem schauenden Bewußtsein klar, aus dem einfachen Grunde, weil in der äußeren Gestalt allein man nicht recht aufsuchen kann, was ich jetzt angeführt habe. Nehmen Sie einmal an, es hätte jemand einen niederen Grad von Hell­sichtigkeit, gerade von dem Hellsehen, in dem mehr geahnt wird, als in voller Besonnenheit erfaßt, so könnte er noch aus der Erfassung des Hauptes, des Rumpfes und der Gliedmaßen erahnend auf das kommen, was ich jetzt gesagt habe. Auch einem niederen Grade des Hellsehens wäre das nicht besonders schwierig. Aber man würde keine Sicherheit haben; man würde sich kaum davon überzeugt halten, wenn man es nicht kritisch prüfen könnte durch jenes Helisehen, das nun auch die entsprechenden Bewußtseinszustände erfaßt für das, was ich jetzt als Glieder der menschlichen Gestalt angeführt habe. Denn

284

dieses Haupt ist nicht nur in seiner äußeren Gestalt so, daß es auf vorige Leben hinweist, sondern es ist schon so, daß es auch in bezug auf sein Seelisches erstens sich gut abdifferenziert von den andern Teilen des Menschenwesens, aber auch in sich selbst sich merkwürdig differenziert. Die Sache verbirgt sich nur dem gewöhnlichen Bewußtsein. Denn dieses träumt entweder, oder es hat während des Inhalts der alltäglichen Wirklichkeit aber es merkt dies nicht für den Kopf des Menschen etwas anderes, wenn ich mich des Ausdruckes bedienen darf: unterlegt. Ich meine folgendes damit: Wir gehen im wachenden Bewußtsein durch unsere Alltagserfahrungen; wir erfüllen uns durch das Bewußtsein, das uns unser Kopf vermittelt, mit den äußeren Wahrnehmungen, mit den Bildern, die uns von den Sinnen kommen, und mit dem, was wir uns als Vorstellungen über diese Sinnesbilder machen. Das alles ist für das gewöhnliche wache Bewußtsein so leb­haft, so intensiv, daß ein feineres Bewußtsein, das fortwährend dar­unter rieselt - ich sagte deshalb, daß es unterlegt ist -, ein hintergründliches Bewußtsein, das nicht so sehr tönt wie das Tagesbewußt­sein, übersehen wird.

Unser Kopf träumt nämlich fortwährend, wenn wir wachen. Das ist das Bedeutsame, daß unser Haupt hinter dem Tagesbewußtsein ein fortwährendes Fortträumen hat. Sie können auf dieses Fortträumen schon kommen; man braucht dazu nicht sehr weitgehende Übungen zu machen. Man braucht dazu eigentlich nur zu versuchen, in jenen Zustand des seelischen Lebens einzutreten, in welchem man leeres Bewußtsein hat, wo das Bewußtsein zwar wach ist, aber keine Wahrnehmungen und auch keine Gedanken hat. Im gewöhnlichen Leben gehen ja die Dinge so, daß man entweder irgendwie auf die äußere Wahrnehmungswelt gerichtet ist, oder Erinnerungsbilder von diesen Wahrnehmungen hat, oder aufsteigende Gedanken, die auch mit die­sen Erinnerungen zusammenhängen. Man gibt sich öfter, als man glaubt, dem bloßen wachenden Bewußtsein hin, aber man bemerkt es nicht. Es ist dumpf. Wenn Sie aber versuchen, in Ihrer Seelenverfas­sung das zu haben, was ich nennen möchte: «nichts weiter als wa­chen», nichts, was herstammt weder von äußeren Wahrnehmungen noch Erinnerungen daran, noch Erinnerungsgedanken, wenn Sie bloß

285

versuchen zu wachen, so werden Ihnen alsbald nicht so ganz ordentlich in Vorstellungen gekleidete Wahrnehmungen aufsteigen. So etwas dumpf Gefühlsmäßiges haben diese Vorstellungen, die da auftauchen. Sie können sagen: Sie nehmen sich aus wie Bilder, aber sie nehmen sich so aus, daß sie nicht die Vollgewichtigkeit von Bildern haben. Man trifft oft Menschen, welche diesen Zustand haben. Die sagen: Es gibt in mir eine Seelenverfassung, da nehme ich etwas wahr, was ich aber nicht beschreiben kann; es ist wahrgenommen, aber es ist nicht in der Weise ein Wahrnehmen, wie man die äußere Welt wahrnimmt. - Es ist nicht unzutreffend, wenn die Menschen so sprechen, und es gibt viel mehr Menschen, als man glaubt, die, sobald man mit ihnen ver­traut wird, über solche Dinge Mitteilungen machen können.

Was da aufsteigt, ist das Weben dieses unterlegten Bewußtseins, von dem ich gesprochen habe. Und dieses unterlegte Bewußtsein ist eine Art Träumen. Aber was wird geträumt? Es wird geträumt, tatsächlich geträumt, von der vorigen Inkarnation, von dem vorigen Erdenleben. Nur ist die Deutung dann schwierig. Aber was so im Bewußtsein, im Hauptesbewußtsein sitzt, ist Traum des vorigen Erdenlebens. Auf diese subjektive Art, die ich geschildert habe, kann man schon den Traum des vorigen Erdenlebens finden, wenn auch die Deutung schwierig ist. Davon wollen wir noch später reden.

So ist das, was ich als menschliches Haupt schilderte, auch seelisch etwas Kompliziertes, indem eigentlich zwei Bewußtseine ineinanderlaufen: das gewöhnliche tagwachende Bewußtsein und das unterlegte Traumbewußtsein, das eine Art Spiegelung aus der vorigen Inkarna­tion ist.

Eine andere interessante Seelencharakteristik können wir geben, wenn wir einen andern Pol des Menschen ins Auge fassen: den Extremitäten-, den Gliedmaßenmenschen. Auch dieser Gliedmaßen­mensch ist seelisch - das heißt in seinem seelischen Korrelat, was ihm seelisch entspricht - eigentlich wiederum kompliziert. Ich habe öfter darauf aufmerksam gemacht, daß wir mit Bezug auf diesen Gliedmaßenmenschen schlafen, während wir mit Bezug auf unser Haupt wachen. Und unser Wille wirkt wirklich wie schlafend. Wir haben ja nur die Vorstellung dessen, was unser Wille ausführt. Niemand hat,

286

wenn er die Vorstellung ausführt: Ich bewege die Hand -, ein Bewußtsein davon, wie dies mit all dem organischen Apparat zusammenhängt. Das ist so unterbewußt, wie die Vorgänge des Schlafes. Schlaf durch­zieht fortwährend das Tagesbewußtsein dieses Gliedmaßen-, dieses Extremitätenmenschen, und zwar indem das Wollen des Menschen in einen Schlafzustand eingetaucht ist.

Nun aber ist das Merkwürdige: Wenn nachts, im Schlafe, der Mensch aus seinem physischen Leibe heraus ist, das heißt, wenn das Ich und der astralische Leib den physischen Leib und den ätherischen Leib verlassen haben, wenn also Bewußtsein und Selbstbewußtsein nicht oder nur dumpf funktionieren, dann wacht in einer gewissen Weise gerade dieser Extremitätenmensch. Nur hat der Mensch, wie er jetzt in seiner Entwickelung ist, keine Möglichkeit, mit dem ge­wöhnlichen Bewußtsein dahinterzukommen. Weil er schlafend sein Bewußtsein nur dumpf betätigen kann, so kann er nicht mit dem Bewußtsein verfolgen, was der bei Tag schlafende Gliedmaßenmensch in der Nacht, wenn das Selbstbewußtsein nicht im physischen Leibe drinnen ist, eigentlich vollführt. Es ist auch eine Art Träumen. Es träumt dieser Gliedmaßenmensch eigentlich in der Nacht. So wie der Kopf bei Tage unter dem hellen Tagesbewußtsein träumt, so träumt der Gliedmaßenmensch schlafend unter dem dumpfen Schlaf bewußt­sein, man könnte sagen, parallel neben dem dumpfen Schlafbewußt­sein. Und was träumt er? Er träumt von der nächsten Erdeninkarna­tion. Wir tragen als Mensch in der Tat in bezug auf unsere äußere physische Gestalt nicht nur Vergangenheit und Zukunft in uns, son­dern wir tragen in uns, in unserem Seelenleben, in Form von gewöhn­lich nicht wahrnehmbaren Träumen, in Form von allerlei unterlegtem Bewußtsein, vorige Erdenleben und künftige Erdenleben.

Und der Rumpfesmensch. Die Vorgänge des Aus- und Einatmens werden ja vom gewöhnlichen Bewußtsein nicht mit Deutlichkeit ver­folgt, aber die organischen Funktionen sind doch enger daran ge­knüpft. Gerade diese Aus- und Einatmungsprozesse werden ja von den Orientalen - was uns nicht mehr angemessen ist, wir müssen auf andere Weise in das schauende Bewußtsein eintreten - gerade so ver­folgt, daß sie ins Bewußtsein heraufgehoben werden. Der Orientale,

287

als Geistsucher, versucht das Kopf bewußtsein dumpf zu machen, zu unterdrücken, und dagegen das Rumpfbewußtsein anzuregen, zu erhellen. Er versucht wirklich den Atmungsprozeß so auszuführen, daß im Atmen Bewußtsein auftaucht. Das ist ein anderes Bewußtsein. Indem er die eingeatmete Luft verfolgt, wie sie sich im Organismus ausbreitet, und indem er verfolgt die ausgeatmete Luft, wie sie herausströmt und den Leib verläßt, hebt er ins Bewußtsein herauf, was sonst recht unbewußt bleibt. Dadurch kommt bei ihm das zustande, daß er ein sehr deutliches Bewußtsein von dem hat, wovon der Atmungs­prozeß Bild ist: von dem Leben in der geistigen Welt zwischen dem Tode und der Geburt. Das deutliche Wissen, von dem sich der Okzi­dentale eigentlich gar keinen Begriff macht, das heute im Orient noch immer sehr viel mehr ausgebreitet ist, als man denkt - deshalb ver­stehen sich auch der Orientale und der Okzidentale oft so schwer -, das deutliche Bewußtsein davon, daß vor der Geburt ein geistig­seelisches Leben liegt, nach dem Tode ein geistig-seelisches Leben folgt, das ist dort keine Theorie, sondern das ist dort so Gewißheit, wie es für Sie eine Gewißheit ist, wenn Sie irgendwo einen Weg ge­gangen sind, stehenbleiben, zurückschauen und das, was Sie als Weg durchgemacht haben, anschauen und dann rückwärtsblicken. Wie das für Sie eine Gewißheit ist, die neben Ihnen ist, daß der Weg vorher und der Weg nachher dieses und jenes enthält, so ist es für den Orien­talen keine Theorie, nicht etwas, worauf er durch Vorstellungsverbin­dung kommt, sondern was er anschaut, aber anschaut durch seinen ins Bewußtsein heraufgehobenen Atmungsprozeß: was vor der Geburt oder Empfängnis und was nach dem Tode liegt.

Dieser Teil des Menschen, der Rumpfesmensch können wir sagen, träumt fortwährend. Der wacht nicht ganz auf, wenn wir wachen, der schläft auch nicht ganz ein, wenn wir schlafen. Ein Unterschied zwischen diesen beiden Zeiten ist ja doch. Das Bewußtsein, das Traumesbewußtsein dieses Rumpfesmenschen bei Tage ist dumpfer als sein Traumesbewußtsein im schlafenden Zustande, dies ist etwas heller; der Unterschied ist zwar nicht so sehr groß, aber es ist doch eine Abschattierung da.

So sehen wir, daß wir nicht nur der äußeren Gestalt nach einen drei

288

gliedrigen Menschen, sondern auch komplizierteBewußtseinszustände in uns tragen. Darin besteht aber unser Seelenleben. Diese Bewußt­seinszustände wirken ineinander, spiegeln sich ineinander. Durch das tagwachende Bewußtsein unseres Hauptes kommt vorzugsweise das zu­stande, was wir unser Vorstellungs- und Denkleben nennen; durch das fortwährende Traumesbewußtsein unseres Rumpfesmenschen kommt das zustande, was wir unser Gefühlsleben nennen, und durch das bei Tag schlafende, bei der Nacht wachende Traumesbewußtsein des Gliedmaßenmenschen kommt das zustande, was wir unser Wollen nennen. Nun bleibt noch eines übrig. Wir haben, wenn wir bloß die Außen­seite des Menschen ins Auge fassen, es nicht nur mit dem sichtbaren physischen Organismus des Menschen zu tun, sondern wir tragen auch einen feinen, ätherischen, übersinnlichen Organismus in uns, den ich, damit keine Mißverständnisse entstehen, in den neueren Ausführungen in der Zeitschrift «Das Reich» den Bildekräfteleib genannt habe. Dieser übersinnliche Organismus ist im Verhältnis zum äußeren physischen Organismus weniger differenziert, er ist eigentlich mehr eine Einheit; und nur durch eine grobe Beobachtung schreiben wir der äußeren Gestalt des Menschen eine Einheit zu. Die eigentliche Einheit des Menschen ruht in seinem ätherischen Leibe. Dieser äthe­rische Leib ist nun geradeso zu gliedern wie der physische Leib, aber eben nicht so, daß die Glieder nebeneinanderliegen; sondern beim ätherischen Leibe muß man so die Gliederung vornehmen, wie ich es zuletzt getan habe mit Bezug auf die Bewußtseinszustände. Dieser ätherische Leib ist auch in immer abwechselndem Bewußtsein, und zwar so, daß er im Tagesleben vom Aufwachen bis zum Einschlafen ein anderes Bewußtsein hat als vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Da tragen wir wieder mit diesem übersinnlichen Leibe etwas sehr Bedeutungsvolles in uns. Wenn manche theosophische Theoretiker glauben, schon etwas besonderes damit getan zu haben, daß sie den Menschen gliedern in physischen Leib, ätherischen Leib, astralischen Leib und so weiter, so ist das eigentlich eine Art von Selbsttäuschung. Es ist eine Art von Systematik, und Systematiken sind nie eigentlich etwas wert. Einsichten bekommt man erst, wenn man näher unter­sucht, was eigentlich in diesem ätherischen Leibe vorgeht. Denn wenn

289

man nur sagt: In uns lebt der ätherische Leib -, so hat der Mensch zunächst nur ein Wort, täuscht sich hinweg, glaubt eine Sache zu haben, indem er sich einen möglichst dünnen Nebel und so weiter vorstellt. Das ist aber Selbsttäuschung. Worauf es ankommt, das ist, daß wir in diesem Ätherleibe etwas sehr Wesentliches haben, nur kann es der Mensch im gewöhnlichen Leben nicht wahrnehmen. Aber was in diesem Ätherleibe im Tagesleben vom Aufwachen bis zum Ein­schlafen immer webt und lebt, das ist das Karma von früheren Erdenleben, das schaut er an. In der Tat, in unserem Unterbewußtsein webt dieser Ätherleib, und sein Weben ist Anschauung unseres Karma aus früheren Verkörperungen. Daß der Hellseher etwas vom Karma weiß, beruht darauf, daß er den Ätherleib so gebrauchen lernt wie sonst den physischen Leib. Lernt man ihn gebrauchen, so kann man gar nicht da herumkommen, im Karma eine Wirklichkeit zu sehen. Denn vom Aufwachen bis zum Einschlafen ist der Ätherleib konkret, als Wirklichkeit gefaßt, dies, daß er das Karma anschaut, und zwar vom Aufwachen bis zum Einschlafen das Karma aus früheren Erdenleben, und vom Einschlafen bis zum Aufwachen das werdende Karma. Es ist dies wieder vom hellsichtigen Gesichtspunkte aus geschildert.

Also wir träumen in unserer Brust nicht nur von dem, was wir zwischen dem letzten Tode und dieser Geburt durchgemacht haben, wir schauen nicht nur in dieser Weise die Vergangenheit an, wir schauen auch auf das, was sie uns als Karma auferlegt, das unter unse­rem gewöhnlichen Bewußtsein durch die Funktion des Unterleibes von dem Ätherleibe wie vor einem geistigen Auge als vergangenes Karma geschaut wird. Und wir schauen nicht nur durch unser Extremitätenbewußtsein durch das Einatmen das, was verknüpft ist mit einer folgenden Inkarnation, sondern unser Ätherleib wird das Geistesauge, durch das wir auf eine für das gewöhnliche Leben unbewußte Art das werdende Karma anschauen. Es ist für den Menschen der Gegenwart nicht leicht, die Übungen seiner Seele so weit zu treiben, obwohl es durchaus für jeden Menschen nötig ist, daß er alles das wirklich anschaut, was ich jetzt geschildert habe. Es bietet gewisse Schwierigkeiten, über die Näheres in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» gesagt ist. Viel leichter ging das

290

in der Zeit, die abgelaufenem Lebensalter der Erdenmenschheit ent­spricht. Denn auch das geschichtliche Leben ist differenzierter, als man denkt, und ein besonders wichtiger Punkt im geschichtlichen Leben der Menschheit, der auch in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» und in andern Schriften charakterisiert ist, ist der, als der vierte nachatlantische Kulturzeitraum den dritten ablöste, als das be­gann, was wir die griechisch-lateinische Kultur nennen. Dieser Zeit­raum ist der, in welchem es für die Kulturmenschheit so schwierig geworden ist, in diese Welten einzudringen, die ich jetzt geschildert habe. Vorher war es verhältnismäßig leichter, und die Orientalen haben sich etwas von dieser leichteren Natur zurückbehalten. Der Okzidentale hat es nicht, darum kann er auch nicht die Übungen machen, welche von den Orientalen geschildert werden, sondern nur diejenigen machen, die zum Beispiel in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben sind. Das Zeitalter, das mit dem 7., 8. Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha ein­getreten ist, ist schon dasjenige, in dem der Mensch mehr in die physische Welt herausgeworfen wurde. Es wird ein anderes Zeitalter wieder kommen - ungefähr das 3. Jahrtausend wird der deutliche Beginn dieses Zeitalters sein -, und das muß vorbereitet sein. Da wird etwas Unbestimmtes aus der Menschennatur in jeder Seele auftreten; man wird es nicht deuten können, wenn man es nicht mit der Geheimwissenschaft kann, wenn man ihm nicht mit Geisteswissenschaft ent­gegenkommt. Es ist wirklich nicht bloß ein subjektives Ideal oder eine subjektive Tendenz, was die Geisteswissenschaft für das nächste Jahrtausend vorbereiten und begründen muß, sondern es entspricht einer Notwendigkeit in der Menschheitsentwickelung. Die Mitte des 3. Jahrtausends wird ein bedeutungsvoller Einschnitt in der Kulturentwickelung sein, weil dann der Zeitpunkt kommt, wo die Men­schennatur so weit sein wird, daß sie ungesund reagieren wird, wenn die Menschen bis dahin nicht die Anschauung von den wiederholten Erdenleben und vom Karma in sich aufnehmen, die in der Zeit seit dem 7., 8. vorchristlichen Jahrhundert verlorengegangen ist. Vorher hat die Menschennatur gesund reagiert, da ging das Wissen selbst aus ihr hervor. Nachher wird sie krankhaft erscheinen, wenn die Men­schen

291

ihr nicht die Lehre entgegenbrächten. Wir verstehen unser Zeit­alter nur, wenn wir dies ins Auge fassen, daß wir zwischen zwei Polen eingeschlossen sind. Der eine liegt zurück hinter dem 7., 8. Jahr­hundert vor dem Mysterium von Golgatha. Das war die Zeit, wo die Menschennatur selbst das Wissen von den übersinnlichen Erlebnissen der Menschenseele hergab. Der andere Pol wird das 3. Jahrtausend sein, wo die Menschenseele aus sich heraus auf eben die Art, wie es in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» beschrieben ist, das übersinnliche Wissen sich auf geistige Art erwerben muß, damit der Körper, in den dann die Gesundheit hinein-strahlen muß, nicht mit der Krankheit reagiert. Man versteht unser Zeitalter in seinen äußeren und inneren Erscheinungen nur, wenn man dies ins Auge fassen kann. Das entwickelt sich natürlich langsam und allmählich. Und für denjenigen Menschen, der nicht dumpf, wie schla­fend die wichtigsten Dinge seines Zeitalters verträumen will, sondern der selbstbewußt, wachend leben will, für ihn geziemt es sich, in unserer Zeit schon darauf aufzumerken, was ins Leben herein will. In voller Art wird dies erst in der Mitte des 3. Jahrtausends hereinkom­men. Aber nach und nach will es herein, und die Menschheit muß jetzt alles bewußt machen, muß bewußt vorbereiten, was da herein will. Man muß das Leben beobachten lernen; dann zeigt sich auch in den äußeren Erscheinungen - zunächst in den Erscheinungen des Menschenlebens eine oberflächliche Anschauung, daß es wahr ist, was ich jetzt gesagt habe. In der groben Gehirnentwickelung, die heute zumeist das Normale der Menschheit ist, geht ja nicht leicht dasjenige auf, was sinngemäß erworben werden muß, so wie wir es in der Geisteswissenschaft schildern. Aber ich möchte sagen: Auf tragische Weise sieht man gewissermaßen, was unbekannte Mächte von denen ich im nächsten Vortrage sprechen werde von der Menschheit eigentlich wollen. Es gibt in der Gegenwart gewisse krankhafte Naturen, deshalb sagte ich, auf tragische Weise; sie sind krankhaft für die Gegenwart; trotzdem kündigt sich an ihnen mancherlei an, was den Menschen in gesunden Tagen der Zukunft treffen wird.

Ich habe öfter den Namen eines sehr merkwürdigen Menschen der Gegenwart ausgesprochen, der wirklich in seinem Leben zwischen

292

Gesundheit und Krankheit hin und her pendelte: Otto Weininger, der das merkwürdige Buch «Geschlecht und Charakter» geschrieben hat. Es ist ja der ganze Weininger ein höchst merkwürdiger Mensch. Stellen Sie sich einen Menschen vor, der aus dem ersten Kapitel dieses genannten Buches im Anfang der Zwanzigerjahre seine Dissertation macht, dieses Buches, über das einzelne ebenso in Begeisterung ge­kommen sind, wie andere sich an ihm geärgert haben beides nicht begründet, sondern etwas anderes, Objektives wäre vonnöten ge­wesen. Dann immer mehr und mehr ein ganz merkwürdiges Sich­-Hineinleben in die in «Geschlecht und Charakter» angeschlagenen Probleme. Er macht dann eine Reise nach Italien, notiert seine Erleb­nisse auf, und sieht ganz andere Dinge, als andere Menschen in Italien sehen. Ich muß bei vielem in diesem Italienischen Tagebuche Wei­ningers ganz Merkwürdiges sehen. Sie wissen, ich schildere manches, was man nur in Imaginationen schildern kann: aus der atlantischen Zeit, aus der lemurischen Zeit, und wie es ausgesehen hat in Zeiten, die heute nicht mehr mit dem äußeren, auch nicht mit dem historischen Bewußtsein zu verfolgen sind. Dabei muß man gewisse Vorstellungen und Begriffe gebrauchen, um das, was man so in Begriffen schildert, vor das menschliche Bewußtsein hinzustellen. Wenn ich nun die Noti­zen Weiningers lese, kommt mir manches vor wie eine gelungene, künstlerische Karikatur der Wahrheit. Es ist überhaupt dieses Wei­ninger-Leben ein merkwürdiges. Dreiundzwanzig Jahre war er alt, da trifft ihn ein Gedanke, der ihn furchtbar hypnotisiert: daß er sich selbst morden müsse, weil er sonst einen andern morden müsse, der Gedanke, daß ein Mörder, ein Verbrecher in seiner Seele ruht. Eine Erscheinung, die man okkult sehr gut erklären kann. Dabei mischt sich in diesem Leben ein Großes, Exaktes gleich mit Koketterie. Er verläßt sein Elternhaus, nimmt sich ein Zimmer im Beethoven-Haus in Wien, be­wohnt es eine Nacht, und am Morgen erschießt er sich.

Diese Seele hat das Eigentümliche, daß sie nie ganz mit dem Leibe verbunden war. Für den äußeren Psychiater war Weininger Hysteriker; für den, der die Sachen durchschaut, war es so, daß ein unregelmäßiger Zusammenhang zwischen seinem Geistig-Seelischen und sei­nem Physisch-Leiblichen vorhanden war. Was sonst normal ist, daß

293

das Geistig-Seelische mit dem Einschlafen aus dem Physisch-Leiblichen herausgeht und mit dem Aufwachen wieder mit ihm zusammenkommt, das war bei Weininger anders. Ich könnte Ihnen die Stellen anführen, aus denen hervorgeht, wie zuzeiten das Geistig-Seelische aus dem Physisch-Leiblichen ein bißchen heraus ist, dann wieder rasch untertaucht, und im Untertauchen leuchtet ihm ein Gedanke auf, den er dann aufschreibt, oft in einer trockenen Weise; aber im Untertauchen wird er eben imaginativ und sehr merkwürdig. So er­scheint dem, der die Sache durchschaut, was unregelmäßiger Zusammenhang ist des Geistig-Seelischen mit dem Physisch-Leiblichen, und in diesen unregelmäßigen Zusammenhang tritt auf merkwürdige Weise, aber in ganz besonderer Art, ein Wissen ein, das die Menschheit in der Zukunft wird haben müssen. Denken Sie sich: In einem Menschen, der ja für einen ganz grobklotzigen Psychiater Hysteriker ist, tritt ein Wissen auf, das die Menschheit in der Zukunft wird haben müssen, aber nun auch karikiert. Sie können sich nach dem, was ich heute gesagt habe, leicht vorstellen, daß durch irgendwelche Ab­normitäten etwas wie Vorzügler einer Zukunft - wie es Nach­zügler der Vergangenheit gibt - unter uns erscheinen, einer Zukunft, wo die Menschen werden wissen müssen von wiederholten Erdenleben, von Karma und vom Träumen des Karma. Und weil solche Menschen als Vorzügler solcher künftigen Zeiten auftreten, deshalb heilt das Wissen den Organismus nicht, sondern macht ihn krankhaft. Dann wird in einer etwas karikierten Weise mit Hilfe des krankhaften Organismus das herauskommen, was einstmals ein Wissen der Mensch­heit werden wird. Nehmen Sie zum Beispiel eine Stelle wie die fol­gende aus dem Buche «Über die letzten Dinge» von Weiinger, herausgegeben von seinem Freund Rappaport: «Aus unserem Zu­stand vor der Geburt ist vielleicht darum keine Erinnerung möglich, weil wir so tief gesunken sind durch die Geburt: wir haben das Bewußtsein verloren, und gänzlich triebartig geboren zu werden ver­langt, ohne vernünftigen Entschluß und ohne Wissen, und darum wissen wir gar nichts von dieser Vergangenheit.»

Das eine ist da klar, wenn auch das Wissen, das da aufgeleuchtet ist, karikiert ist, daß jemand dieses Wissen wieder hinschreibt, wo es ihm

294

eine absolute Gewißheit wurde: Da bin ich durch meine Geburt durchgegangen aus einem Zustande eines geistigen Lebens, den ich vorher verbracht habe. - Wenn das jemand hingeschrieben hätte, im 10. oder 12. Jahrhundert vor Christi Geburt oder noch im Zeitalter des Origenes, so brauchte man sich nicht zu verwundern; aber in unserer Zeit schreibt einer das in seiner von Gefühlen durchtränkten Art nieder; da ist es etwas, was unmittelbar im Bewußtsein aufleuchtet, nicht etwas Theoretisiertes.

Ich könnte viele solcher Erscheinungen anführen. Was zeigen diese Erscheinungen? Nichts anderes, als daß sich dieses übersinnliche Wis­sen, das jetzt in die Menschennatur herein will, ankündigt; und weil es auf dem Wege anthroposophisch orientierter Geisteswissenschaft noch nicht gesucht wird, kommt es in Kataklysmen herein, kommt so herein, daß es die menschliche Natur erschüttert, sie krankhaft macht in dem Grade, wie es die Person Weiningers krank machte. Ich sage krank, wobei ich nichts Philiströses verstehe, sondern eben nur das äußerlich Tatsächliche, daß es in der Tat etwas Krankhaftes hat, wenn sich ein Mensch mit dreiundzwanzig Jahren erschießt, weil er in sich einen verborgenen Mörder findet und sich durch den Selbstmord retten will vor dem Mord.

Man könnte es an hundert, an tausend Beispielen zeigen: Dieses Wissen will herein! Und es wäre gut, wenn möglichst viele Menschen darauf kommen würden, daß es so ist. In den Unterbewußtseinen der Menschen ist ungeheuer weit verbreitet die Sehnsucht nach solchem Wissen vorhanden. Äußere Mächte, die ich öfter schon charakterisiert habe, halten das Wissen zurück. Wir müssen gar sehr berücksichtigen, was aus der Bemerkung hervorgeht, die ich am Schlusse meines Aufsatzes über Christian Rosenkreutz in der Zeitschrift «Das Reich» ge­macht habe. Wir sollten berücksichtigen, was sich im 17. Jahrhundert, eigentlich schon seit dem 15. Jahrhundert, ankündigte, wenn es auch immer lauter und lauter wird. Jetzt aber muß man auf dem Wege des gewöhnlichen wissenschaftlichen Formulierens zu den Zeitgenossen darüber sprechen. Damals jedoch kam es auf die Weise, die ich im letzten «Reich» charakterisiert habe, wo ich zeigte, daß dieser Johann Valentin Andreae die «Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz »

295

niedergeschrieben hat. Nun hat das den Philologen viel Kopfzerbrechen gemacht: dieser Johann Valentin Andreae schreibt die «Chymische Hochzeit» nieder, in der eigentlich ein tiefes, okkultes Wissen verborgen ist, und nachher benimmt er sich eigentlich sehr merkwürdig. Er kommt nicht nur darauf, an gewissen Worten zu deuteln, die er gesprochen hat in bezug auf Schriften, die in der Zeit von ihm geschrieben wurden, als er die «Chymische Hochzeit» nieder­geschrieben hatte, sondern er zeigt sich, trotzdem er dieses Große niedergeschrieben hat, als ein Mensch, von dem man genau angeben kann: Er versteht nichts von dem, was er geschrieben hat. Der pieti­stische Pastor, der nachher allerlei anderes geschrieben hat, versteht nichts von der «Chymischen Hochzeit» und auch nichts von den andern Schriften, die er gleichzeitig verfaßt hat. Er war erst siebzehn Jahre alt, als er die «Chymische Hochzeit» schrieb. Nun ist er nicht anders geworden, er ist immer gleich geblieben, nur eine ganz andere Macht hat in ihn hineingesprochen. Die Philologen zerbrechen sich die Köpfe und vergleichen allerlei Briefstellen. Seine Hand hat es niedergeschrieben, sein Körper ist dabeigesessen, aber durch seinen Menschen hat eben eine geistige Macht, die damals nicht auf der Erde inkariert war, dies der Menschheit verkündigen wollen, in der Art, wie es damals verkündigt worden ist.

Dann kam der Dreißigjährige Krieg, der vieles von dem begraben hat, was damals in die Menschheit hereinkommen sollte. Man hätte in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges verstehen sollen, was man nicht verstanden hat, was man gerade begraben hat. Hingeschrieben war die «Chymische Hochzeit» schon von dem, der sich äußerlich Johann Valentin Andreae geschrieben hat, 1603 war sie nachweisbar schon niedergeschrieben; man ist darauf nicht eingegangen, denn 1618 be­gann der Dreißigjährige Krieg. Bevor Kriege beginnen, geschehen manchmal solche Dinge. Dann ist es das Richtige, in den Zeichen der Zeit zu lesen, daß man weiß: Es muß das, was als Keim gelegt, auch Blüten und Früchte tragen!

Das gehört zu dem, was ich jetzt andeutete, was aus den Zeichen der Zeit unseres so katastrophalen Zeitalters gelesen werden muß. Davon nächste Woche weiter.

296

SECHZEHNTER VORTRAG Berlin, 3. Juli 1918

Ehe ich nun in der nächsten Woche fortfahre, die Konsequenzen aus den Betrachtungen, die wir hier vor acht Tagen angestellt haben, zu ziehen, werde ich heute einiges nur scheinbar außer Verbindung, in Wirklichkeit sehr damit Verbundenes vorbringen, das anknüpfen soll an den Charakter unseres Dornacher Baues.

Dieser Dornacher Bau soll sich durch seine ganze Eigenart hinein­stellen in die Geistesentwickelung der Menschheit, wie wir sie, be­ginnend in der Gegenwart, erkannt haben, und wie wir annehmen müssen, daß sie sich in die Zukunft der Menschheitsentwickelung weiter ergebe. Wir haben ja die charakteristische Eigenschaft dieser Gegenwarts-Zukunftsentwickelung, die bisher erst im Keime vor­handen ist, von den verschiedensten Gesichtspunkten aus zu beleuch­ten versucht. Wir wollen heute ein wenig betrachten, wie das, was anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft eigentlich will, durch den Bau in Dornach, der ihr gewidmet sein soll, zum Ausdruck kommt.

Man kann die Entwickelung der Gegenwart gewissermaßen von außen anschauen, so wie es diejenigen Menschen gewohnt sind, die ihr ganzes Erkennen, ihre ganze Weltanschauung auf eine solche rein äußerliche Betrachtung eingestellt haben. Man kann aber gerade in der Gegenwart viel Veranlassung haben, auch von einem inneren geistigen Gesichtspunkte aus das zu betrachten, was eigentlich ge­schieht. Denn von dem, was heute geschieht, was sich durch längere Zeit vorbereitet hat, was in ganz anderer Art, als es heute geschieht, eine Fortsetzung in die Zukunft erfahren soll, von dem gibt es in der Tat erst ein richtiges Bild, wenn man es geistig betrachtet. Ich will ausgehen von etwas scheinbar recht Materiellem, woran ich aber an­schaulich machen will, wie das, was in der Gegenwart an Impulsen wirkt, die immer um uns herum sind, auch geistig angeschaut werden kann.

Unter denjenigen Menschen, die sich in den letzten Jahrzehnten manchmal - nicht sehr häufig ein zusammenfassendes Bild vom

297

Geschehen gemacht haben, sind auch Techniker. Und vor jetzt schon mehreren Jahrzehnten, im Jahre 1884, hat eben von seinem materiali­stischen Gesichtspunkte aus einmal Reuleaux, der Techniker, in einer Betrachtung einige Gedanken hingeworfen über charakteristische Eigenschaften im Kulturbilde der Gegenwart. Er teilte damals die Menschheit der Gegenwart in zwei Gruppen. Die eine Gruppe nannte er die Menschen, die in einer naturistischen Lebenshaltung drinnen sind; in eine andere Gruppe faßte er diejenigen Menschen, von denen er sagte, daß sie in einer manganistischen Lebenshaltung sind -, und «manganistisch» leitete er ab von Magie, von dem, was versucht, mit den Kräften des Weltenalls in die Lebenshaltung der Menschen ein­zugreifen. Ich will nun ganz kurz im Ausgangspunkte der heutigen Betrachtung auf diese Gruppierung der Menschheit auch eingehen.

In früheren Zeiten waren gewissermaßen alle Menschen naturi­stische Menschen, und der größte Teil der Menschen ist es auch heute noch. Der kleinere Teil, vorzugsweise die Menschen der europäischen Kultur, der mittel- und westeuropäischen Kultur, und die Menschen der amerikanischen Kultur sind manganistische Menschen. Sie müssen nur festhalten, daß dies, was naturistische Kultur genannt wird, in die Gegenwart immer noch hereinragt. Es ist bedeutungsvoll, daß die sogenannte manganistische Kultur sich erst nach und nach, eigentlich erst innerhalb des letzten Jahrhunderts, so recht entwickelt hat. Ich möchte sagen, das paradoxeste Resultat dieser neueren Kultur ist das, daß sie eigentlich künstlich viel mehr Menschenwesenheit in die Erde hineinbefördert hat, als der Zahl nach Menschen auf der Erde herumgehen. Das ist dadurch bewirkt, daß im Laufe der letzten Jahrzehnte beidem kleineren Teil der Menschheit das Mechanische, die Maschine, zu ganz ungeheurer Entfaltung gekommen ist. Sie werden es ja selbst­verständlich finden, wenn ich sage, daß ein großer Teil der heutigen Arbeit, die geleistet wird, mit von der Maschine geleistet wird; aber Sie werden vielleicht doch ein wenig erstaunt sein, wenn man berechnet - und man kann es ganz gut berechnen -, wie groß denn diese von der Maschine geleistete, Menschenarbeit vertretende Arbeit eigentlich ist. Man kann es berechnen, wenn man den Blick daraufhin­wendet, wieviel Millionen Tonnen Kohle jährlich verbraucht werden,

298

die dann in Maschinenkraft ihre Offenbarung finden. Und wenn man das, was da durch diese auf der Erde beförderte Kohle an Menschenkraft ersetzt wird, durch die betreffende Zahl von Menschen, die not­wendig wäre, um diese Arbeit zu leisten, ausdrückt, so würde man finden: Nicht weniger als fünfhundertvierzig Millionen Menschen wären dazu notwendig, und diese fünfhundertvierzig Millionen müß­ten eine zwölfstündige tägliche Arbeitszeit haben, um das zu ver­richten, was durch die Maschine geleistet wird. Man könnte also sagen: In Wahrheit ist es gar nicht richtig, daß über unsere Erde nur fünfzehnhundert Millionen Menschen vorhanden sind, sondern es sind fünfhundertvierzig Millionen mehr auf der Erde vorhanden. Die sind rein dadurch mehr vorhanden, als wirklich im Fleisch herumgehen, daß von dem kleineren Teil der Menschen diese nicht natu­ristische, sondern manganistische Arbeit geleistet wird, die eben durch die Maschine, durch den Mechanismus geleistet wird. In der Tat hat sich im letzten Jahrhundert die Menschenzahl auf der Erde nicht bloß so vermehrt, wie es die Statistik zum Ausdruck bringt, sondern so, daß noch fünf hundertvierzig Millionen Menschenkräfte dazuzurech­nen sind. Und zwar kann ich sagen: Wir europäischen und amerika­nischen Menschen - für Osteuropa kommt es noch wenig in Betracht - sind umgeben von einer Arbeit, die fortwährend in unser Tagesleben hereinreicht, mehr als man denkt, und Menschenkraft einfach ersetzt.

Nun sind die Menschen des Westens außerordentlich stolz auf diese Leistung, und es wird hervorgehoben, wenn man rein das, was durch Maschinen geleistet wird, vergleicht mit den Leistungen der weit zahlreicheren Menschen, die sich noch nicht eigentlich in ausreichen­dem Maße der Technik der Maschinenkraft bedient, die noch mehr auf naturistischem Standpunkte leben, so bekommt man eine ganz bedeutende Mehrleistung der europäischen und amerikanischen Menschheit gegenüber der ganzen übrigen Menschheit. Wir können also sagen: Wenn die Arbeit, welche durch Maschinen verrichtet wird, durch Menschen geleistet werden sollte, dann müßten fünfhundertvierzig Millionen Menschen täglich zwölf Stunden arbeiten. Das bedeutet sehr viel. Das bedeutet aber auch, wie Sie wissen, das stolze

299

Resultat der neueren Weltkultur. Dieses stolze Resultat der neueren Weltkultur hat Verschiedentliches im Gefolge.

Wenn Sie Einblick gewinnen wollen in das, was da zugrunde liegt, so brauchen Sie nur einmal einen Fall ins Auge zu fassen, wo die natu­ristische Kultur noch sehr, sehr in unsere manganistische hereinragt. Das ist zum Beispiel beim Zündhölzchen der Fall. Die Jüngeren von uns zwar nicht, wohl aber die Älteren werden sich noch der Zeiten erinnern, wo die Zündhölzchen noch wenig verbreitet waren, und wo man mit Stahl und Stein den Zündfaden, den Zunder entzündet hat, um Feuer zu bekommen. Das aber führt zurück auf eine viel ältere Art, Feuer zu erzeugen: auf den Feuerbohrer, wo unmittelbar mit Anwendung großer Menschenkraft die Menge von Feuer, die heute durch Zündhölzchen erzeugt wird, durch Drehen eines Bohrers in Holz erzeugt werden mußte. Wenn Sie diese letztere naturistische Form mit der heutigen vergleichen, so werden Sie sich noch etwas anderes zur Anschauung bringen können. Sie werden sich sagen kön­nen: Die ganze manganistische Kultur hat noch etwas besonders Eigentümliches; sie macht nämlich in hohem Grade die wirkenden Gesetze, welche früher dem Menschen nahe waren, für den Menschen unsichtbar. Sie schiebt die wirkenden Gesetze zurück. Nehmen Sie gerade diese ursprüngliche Art des Feuererzeugens: Wie hing diese Arbeit, die der Mensch aufbrachte, innig zusammen mit seiner Person und seiner persönlichen Leistung! Was unmittelbar als Feuer entstand, wie eng war es verknüpft mit der persönlichen Leistung. Das ist zu­rückgeschoben. Indem heute der physikalische, mechanische oder chemische Prozeß an diese Stelle gesetzt ist, haben wir es zu tun mit einer Entfernung des eigentlichen Naturgeschehens - in dem ja auch das geistige Geschehen wirkt von dem, was der Mensch unmittelbar tut. Sie werden heute sehr häufig den Ausspruch hören, der Mensch habe durch diese neuere Technik die Naturkräfte in seinen Dienst gezwungen. Dieser Ausspruch hat gewiß von der einen Seite seine große Berechtigung, aber er ist höchst einseitig und unvollkommen. Denn in alledem, was Maschinenkraft leistet - die ich auch in weiterem Sinne in ihrer Umwandelung in chemische Energie in Anwendung bringen will -, ist nicht nur Naturkraft in den Dienst der Menschheit

300

hereingerückt, sondern es wird das Naturgeschehen in seinen tieferen Zusammenhängen mit den eigentlichen Weltimpulsen hinausgescho­ben. Im Mechanismus wird dem Menschen allmählich der Anblick des Naturgeschehens selber entzogen. Es wird also durch die Technik nicht nur Naturgeschehen in den Dienst der Menschheit hineingezwungen, sondern es wird etwas von den Menschen abgeschoben. Es wird durch die Technik ein Totes ausgebreitet über die lebendige Natur; es wird das Lebendige, was früher unmittelbar aus der Natur in die menschliche Arbeit hereinspielte, von dem Menschen ab­geschoben. Wenn Sie bedenken, daß der Mensch eigentlich aus der Natur das Tote herauszieht, um es in die manganistische Kultur hineinzubringen, dann wird es nicht mehr sehr auffallen, wenn ich nun die Geisteswissenschaft an das anknüpfe, was der bloße Techniker sagt.

Der Techniker Reuleaux hebt hervor, daß der neuere Fortschritt der Menschheit - von seinem Gesichtspunkte aus mit Recht - darauf beruht, daß die Naturkräfte in den Dienst der Menschheitskultur hineingerückt worden sind. Wir müssen aber vor allem zunächst den Blick darauf wenden, daß wir Mechanismen vor uns haben, welche Menschenkraft eigentlich ersetzen. Das ist nicht nur ein Vorgang, der sich in dem erschöpft, was man mit den Sinnen sieht, sondern dieser Vorgang, diese Erzeugung von fünf hundertvierzig Millionen ideellen Menschen auf der Erde hat eine sehr bedeutsame geistige Seite. In alledem, was da entstanden ist, ist Menschenkraft kristallisiert; in all das ist gewissermaßen menschlicher Verstand eingeflossen und wirkt darin, aber nur menschlicher Verstand. Wir sind umgeben von einem solchen, vom Menschen losgelösten Verstand. In dem Augenblick, wo wir so etwas vom Menschen loslösen, was von Natur aus mit dem Menschen verbunden ist, nehmen diejenigen Kräfte, die wir in unserer Geisteswissenschaft als ahrimanische beschrieben haben, von alledem unmittelbar Besitz. Diese fünf hundertvierzig Millionen ideellen Wesen auf der Erde sind zu gleicher Zeit eben so viele Behältnisse für ahrima­nische Kräfte, für Kräfte des Ahriman. Das darf nicht übersehen wer­den. Damit finden Sie aber den rein äußeren Fortschritt unserer Kultur gebunden an die ahrimanischen Kräfte, an die gleichen Kräfte, welche,

301

sagen wir, in der Mephistophelesnatur denn das ist ja der Ahriman­natur ähnlich - eigentlich drinnen sind. Aber nun entsteht im Weltenall niemals ein Einseitiges, ohne daß das entsprechende andere dazu entsteht, niemals nur ein Pol, ohne daß der andere Pol mitentsteht. Zu diesem Ahrimanischen, das auf der Erde in den materiellen Formen der Industrie und so weiter, der Maschinen entsteht, entsteht ebenso­viel - nun aber auf geistigem Gebiete - Luziferisches. Niemals entsteht bloß das Ahrimanische; sondern in demselben Maße, als dieses sicht­bar auf der Erde entsteht, wie ich es eben dargestellt habe, entsteht, durchwebend diese ganze Kultur, die sich so vom Ahrimanischen durchdringt, ein Luziferisches. In demselben Maße, als die Menschen auf der Erde entstehen und die ahrimanische Kultur auf der Erde sich kristallisiert, wirken herein in den menschlichen Willen die geistigen Korrelate, wirken herein in das menschliche Wollen, in die mensch­lichen Impulse, in die menschlichen Leidenschaften und Stimmungen. Hier auf der Erde die ahrimanische Maschine in der geistigen Strö­mung, in die wir hineingestellt sind, für jede Maschine ein luzife­risches Geistwesen! Indem wir unsere Maschinen erzeugen, rücken wir hinunter in das tote Reich, das deshalb erst äußerlich recht sichtbar ist, in die ahrimanische Kultur. Wie ein Spiegelbild, entsteht unsicht­bar zu dieser ganzen ahrimanischen Kultur eine luziferische Kultur. Das heißt, in demselben Maße, als die Maschinen entstehen, wird die Menschheit auf der Erde in ihrer Moralität, in ihrem Ethos, in ihren sozialen Impulsen von luziferischen Stimmungen durchzogen. Das eine kann nicht ohne das andere entstehen. So stellt sich die Welt zusammen.

Daraus kann man sehen, daß es sich niemals darum handeln kann, zu sagen: Ich fliehe Ahriman -; aber ebensowenig können Sie sagen: Ich fliehe Luzifer. Sie können nur davon sprechen, daß ein solcher Zustand, wo polarisch Ahrimanisches und Luziferisches entsteht, mit der gegenwärtig sich weiterentwickelnden Menschheitskultur notwendigerweise verbunden ist. Das ist, geistig angesehen, das, was in unserer Kultur wirkt, und die Dinge müssen eben, von unserer Gegenwart angefangen, immer mehr und mehr geistig angesehen werden.

302

Nun ist es sehr merkwürdig, daß Reuleaux, der Techniker, als er damals von dem manganistischen Fortschritt der Menschheit schwärmte - von seinem Standpunkte aus vollständig gerechtfertigt, denn ich betone es immer wieder: Geisteswissenschaft hat keine Ver­anlassung, reaktionär zu sein -, als er dies hervorgehoben hat, da verwies er zu gleicher Zeit auf verschiedenes andere. Vor allem verwies er darauf, daß der heutige Mensch, der so in eine neue Welt hinein­gestellt ist, besonders der Mensch der europäischen und amerikani­schen Kultur, notwendigerweise stärkere Kräfte braucht, um das geistige Leben zu pflegen, als der alte Mensch, der noch die naturi­stische Kultur hatte und mit seiner eigenen Arbeitsleistung den Intimi­täten der Natur nahestand. Er sprach natürlich nicht von Luziferi­schem und Ahrimanischem, er schilderte nur, was ich im Eingange meiner heutigen Betrachtung dargestellt habe; Sie werden schon unterscheiden können, was ich hinzugefügt habe und was der Tech­niker, der in der heutigen materialistischen Welt lebt, zu sagen hat. Reuleaux wies zum Beispiel daraufhin, wie die Kunst, wenn sie weiter gedeihen soll, stärkere Impulse für die ästhetischen Gesetze notwendig hat, als früher in der mehr instinktiven Entwickelung notwendig waren. Aber ein merkwürdiger Glaube lag dem Techniker zugrunde. Das war der naive Glaube, der sich in den Worten aussprach: es sei notwendig, daß sich in der Kunst die Seele intensiver in die ästheti­schen Gesetze hineinlebe, gegenüber dem Ansturm der kunstzer­störenden Maschine - das gab er ruhig zu -, als es früher der Fall war. Aber die Naivität bestand darin, daß der Techniker keine Ahnung davon hatte, daß dann intensivere, impulsivere künstlerische Kräfte da sein müssen, welche die Menschenseele durchdringen, als es die alten waren. Das Verkennen bestand darin, daß man wohl einsah: Die Technik stürmt an gegen alles, was die Menschheit früher aus dem Geistigen heraus geschaffen hat, aber doch soll bloß durch ein inten­sives Einleben in die alten Geisteskräfte der Ausgleich wieder ge­schaffen werden. Das kann er nicht, kann es wirklich nicht. Sondern notwendig ist es, daß mit dem Heraustreten der Menschheitskultur auf den physischen Plan andere, stärkere, geistigere Kräfte auch wieder in unser geistiges Leben eingreifen; sonst müßte die Menschheit ganz

303

notwendig, wenn sie sich auch dagegen theoretisch sträuben mag, dem Materialismus verfallen.

Sie sehen daraus vielleicht, daß man in der Tat, von den Impulsen unserer Zeitkultur selbst ausgehend, durch eine Betrachtung der inneren Natur unserer gegenwärtigen Entwickelung dazu kommen kann: Die Kunst muß einen neuen Impuls erhalten, in die Kunst muß ein neuer Impuls hineinfließen. Und wenn wir der Überzeugung sind, daß unsere anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft für die alte Geisteskultur der Menschheit ein neuer Impuls sein will, so ist diese Voraussetzung notwendigerweise damit verknüpft, daß auch die Kunst als solche einen neuen Impuls erhält.

Das ist für den Anfang, selbstverständlich in aller Unvollkommen­heit, durch den Dornacher Bau versucht worden. Daß er unvoll­kommen ist, wird von vornherein zugegeben. Er ist eben ein erster Versuch. Aber es ist der Glaube vielleicht berechtigt, daß er der erste Versuch auf einem Wege ist, der dann weiterführen muß. Die andern, die uns folgen, die dann arbeiten werden, wenn wir selbst lange nicht mehr in physischen Leibern sein werden, die werden es vielleicht besser machen. Der Impuls zu dem Dornacher Bau mußte aber in der Gegenwart gegeben werden. Denn richtig wird man den Bau nur dann verstehen, wenn man nicht einen absoluten Maßstab anlegt, sondern wenn man sich ein wenig mit der Geschichte dieses Baues bekanntmacht. Und davon möchte ich ausgehen, weil dahingehende Mißverständnisse uns immer wieder entgegengebracht werden.

Sie wissen, daß vom Jahr 1909 ab in München unsere Arbeit mit der Vorführung gewisser Mysterienspiele verknüpft ist, die künstle­risch-dramatisch zur Anschauung bringen sollten, was als Kräfte in unserer Weltanschauung wirkt. Dadurch gruppieren sich um die künstlerischen Darstellungen in München Vortragszyklen herum, die immer sehr stark besucht wurden, und dadurch entstand dann bei unseren Münchner Freunden die Idee, ein eigenes Haus für unsere Geistesbestrebungen in München zu schaffen. Nicht von mir, sondern von Münchner Freunden ist das ausgegangen. Das bitte ich Sie fest­zuhalten. Der Bau ist wirklich ausgegangen von der Betrachtung des Raummangels bei einer gewissen Anzahl unserer Freunde, und es ist

304

ganz selbstverständlich, daß man daran denken mußte, wenn über­haupt der Gedanke vorhanden war, einen solchen Bau aufzuführen, diesen Bau auch gemäß unserer Weltanschauung zu gestalten. In München sollte er dann so gehalten sein, daß er eigentlich nur den Gedanken einer Innenarchitektur notwendig gemacht hätte. Denn der Bau sollte umgeben sein von einer Anzahl von Häusern, die bewohnt worden wären von Freunden, welche die Möglichkeit gehabt hätten, sich dort anzusiedeln. Diese Häuser hätten den Bau umrahmt, der möglichst unansehnlich hätte aussehen können, weil man ihn unter den Häusern nicht gesehen hätte. So war der ganze Bau als Innenarchitektur gedacht. Innenarchitektur in solchem Falle hat nur einen Sinn, wenn sie eine Umrahmung, eine Einfassung dessen ist, was drinnen geschieht. Aber sie muß es künstlerisch sein. Sie muß wirk­lich das - nicht jetzt abbilden, sondern künstlerisch zum Ausdruck bringen, was dadrinnen geschieht. Deshalb habe ich vielleicht trivial, aber doch nicht unzutreffend, den Architekturgedanken unseres Baues immer mit dem Gedanken eines «Gugelhupfs», eines Topfkuchens, verglichen. Den Kuchentopf macht man, daß der Kuchen darin ge­backen werden kann, und die Form, der Gugelhupftopf, ist dann richtig, wenn sie den Kuchen in richtiger Weise umfaßt und werden läßt. Dieser «Gugelhupftopf» ist hier die Umrahmung des ganzen Betriebes unserer Geisteswissenschaft, unserer geisteswissenschaft­lichen Kunst und alles dessen, was drinnen gesprochen und gehört und empfunden wird. Dies alles ist der Kuchen, und alles andere ist der Topf, und das mußte in der Innenarchitektur zum Ausdruck kom­men. So mußte zunächst die Innenarchitektur gedacht sein. Nun, die Sache war gedacht. Aber wir haben, nachdem wir uns verschiedene Mühe gegeben haben, die Sache so herzustellen auf dem Platz, der auch in München schon erworben war, den Widerstand nicht der Polizei oder politischen Behörden, sondern der Münchner Künstlerschaft zunächst gefunden - und zwar in einer solchen Weise, daß man erfahren konnte: den Leuten ist es nicht recht, was wir da nach Mün­chen hineinsetzen wollen; aber was sie selbst wollten, sagten sie nicht. Daher hätte man immer neue Veränderungen vornehmen können, und es hätte so jahrzehntelang fortgehen können. Da sahen wir uns

305

denn veranlaßt, eines Tages von der Idee, die Sache in München zu realisieren, abzusehen und einen Baugmund in Solothurn, den uns einer unserer Freunde zur Verfügung stellte, zu benutzen. Dadurch kam die Sache so zustande, daß im Kanton Solothurn, also in Dornach bei Basel auf einem Hügel der Bau in Angriff genommen wurde. Damit fielen die umlagernden Häuser fort, der Bau mußte von allen Seiten sichtbar sein. Und dann entstand der Trieb, man hatte den Eifer bekommen, die Sache rasch zu machen. Und ohne nun den fertigen Gedanken, der für die Innenarchitektur berechnet war, vollständig umzudenken, war es mir dann nur möglich, daß ich die Außenarchitektur zu verbinden versuchte mit der schon entworfenen Innenarchitektur. Dadurch sind mancherlei Mängel in den Bau hineingekommen, die ich besser kenne als sonst irgend jemand. Aber das ist nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist, daß einmal in der Weise, wie ich es angedeutet habe, mit einer solchen Sache ein Anfang ge­macht worden ist.

Nun möchte ich wenigstens einige Gedanken andeuten, die klar­legen sollen, worin das Eigentümliche dieses Baues besteht, damit Sie den Zusammenhang dieses Baues mit unserer gesamten geisteswissen­schaftlichen oder geistigen Strömung überhaupt einsehen.

Das erste, was demjenigen auffallen wird, der diesen Bau einmal vorurteilslos betrachten wird, wird sein, daß die abschließenden Wan­dungen des Baues überhaupt in ganz anderem Sinne gedacht sind, als sonst bei Bauten. Die Wand, die einen Bau abschließt, ist im Grunde genommen bei allem, was bisher gebaut worden ist, künstlerisch, also für die künstlerische Anschauung, als eine Abschließung des Raumes gedacht. Wände, Grenzwände sind immer als Abschluß des Raumes gedacht, und alle architektonische, bildnerische Arbeit an den Wänden ist im Zusammenhang mit diesem Gedanken, daß die Wand, die Außenwand, abschließt. Mit diesem Gedanken, daß die Außenwand abschließt, ist, selbstverständlich nicht physisch, aber künstlerisch, bei dem Dornacher Bau gebrochen. Was bei ihm als Außenwand auftritt, ist nicht so gedacht, daß sie den Raum abschließt, sondern so, daß sie den Raum gegenüber dem ganzen Weltenall, dem Makrokosmos, öffnet. Wer also in diesem Raume drinnen ist, soll durch das, was mit

306

den Wänden gebildet ist, das Gefühl haben, daß der Raum mit dem, was er ist, sich durch die Wände hindurch in den Makrokosmos, in das Weltenall erweitert. Alles soll Verbindungen mit dem Weltenall darstellen. So ist die reine Wand in ihrer Formengebung gedacht; so sind die Säulen gedacht, die in einigen Abständen die Wände be­gleiten; so ist die ganze Bildhauerarbeit, die Säulen mit Sockel, Archi­traven, Kapitälen und so weiter gedacht. Also eine seelisch durch­sichtige Wand - im Gegensatz zu der seelisch den Raum abschließen­den Wand ist gedacht. Man soll sich frei fühlen im Unendlichen des Weltenalls. Man muß natürlich, wenn man irgend etwas tut, wie es in diesem Raume geschehen soll, sich physisch abschließen; aber man kann dann die Formen des physischen Abschlusses so halten, daß sie sich selber aufhebend durch die künstlerische Bearbeitung vernichten.

Im Zusammenhange damit steht eigentlich alles übrige. Die Sym­metrieverhältnisse, die wir sonst bei Bauten finden, mußten unter dem Einfluß dieses Baugedankens eigentlich aufgelöst werden. Der Dor­nacher Bau hat eigentlich nur eine einzige Symmetrieachse, und die geht genau von Westen nach Osten. Und alles ist auf diese einzige Symmetrieachse hingeordnet. Die Säulen, welche in einem gewissen Abstande die Wand begleiten, sind daher nicht mit einander gleichen Kapitälen versehen, sondern es sind immer nur die Kapitäle und sonstigen Formgebungen von zwei Säulen links und rechts mitein­ander gleich. Geht man also durch das Haupttor in den Bau hinein, so kommt man zunächst zu den zwei ersten gleichen Säulen. Da ist Kapitäl, Sockel und Architravbildung gleich. Schreitet man zu dem zweiten Säulenpaar, so ist Säulenpaar, Kapitäl, Architravgedanke anders. Und so entlang des ganzen Baues. Dadurch war die Möglich­keit gegeben, in die Motive der Kapitäle, der Sockel Evolution hinein­zubringen. Das Kapitäl der nächsten Säule entwickelt sich immer aus dem Kapitäl der vorhergehenden, ganz wie sich eine organisch voll­kommenere Form aus einer organisch unvollkommeneren entwickelt. Was sonst in Symmetriegleichheit vorhanden ist, ist aufgelöst zu einer fortgehenden Entwickelung.

Der ganze Bau besteht aus zwei Hauptstücken - das andere sind Nebenbauten -, zwei Hauptstücken, die im wesentlichen Kreisgrund­-

307

riß haben und oben durch Kuppeln abgeschlossen sind. Aber die Kuppeln sind so, daß sie ineinandergreifen, also in einem Kreisabschnitt ineinandergreifen, so daß nicht vollständige Kreise die Grundflächen bilden, sondern unvollständige. Ein Stück Kreis bleibt von einem kleineren Raum nach vorn weg, und an dieses, was da wegbleibt, schließt der andere Kreis des großen Raumes, der größere Kreis an.

Das Ganze ist so aufgerichtet, daß man zwei Zylinder hat, der eine von größerem, der andere von kleinerem Durchschnitt. Im größeren Zylinder ist der Zuschauerraum; der andere, kleinere Zylinder ist für die Darstellung der Mysterien und des Sonstigen gedacht. Wo die beiden Kreise zusammenffießen, wird die Rednertribüne und auch der Vorhang sein. Dadurch aber sind die beiden Kuppeln ineinandergehend. Das ist vorher noch nicht dagewesen. Es war auch technisch eine interessante Leistung: zwei Kuppeln ineinandergehen zu lassen, sich schneiden zu lassen. Das Ganze ruht als ein Holzbau auf einem Betonunterbau. Der Betonunterbau faßt eigentlich nur die Garde­robenräume, und man geht dann über Betontreppen etwas in die Höhe. Auf dem Betonunterbau erhebt sich nun der eigentliche Holzbau.

Längs der Wand des großen Zylinders, der sich unter der größeren Kuppel befindet, gehen auf jeder Seite sieben Säulen, in dem kleineren Raum auf jeder Seite sechs Säulen; so daß in dem kleineren Raum, der also eine Art Bühnenraum ist, zwölf Säulen im Kreise sind, und in dem großen Raum vierzehn Säulen im Kreise. Und im Kreise fort­schreitend entwickeln sich die bildhauerischen Motive dieser Säulen. In ihrer Motiventwickelung sind diese Säulen so, daß sie mich selbst überrascht haben, als ich daran arbeitete. Als ich das Modell der Sache machte, als ich die Säulen mit den Kapitälen formte, war ich über eines sehr überrascht. Die Sache ist nicht im allergeringsten durchsetzt von etwas Symbolischem. Die Leute, die den Bau be­schrieben und gesagt haben, da seien allerlei Symbole angebracht und die Anthroposophen arbeiteten mit Symbolen, haben Unrecht. Ein Symbol, wie die Leute es meinen, gibt es im ganzen Bau nicht. Son­dern das Ganze ist aus der Gesamtform heraus gedacht, rein künstle­risch

308

gedacht. Also es bedeutet - wenn ich den Ausdruck «bedeuten» im schlimmen Sinne gebrauchen will - nichts etwas, was es nicht ist, künstlerisch; so daß also diese fortlaufende Entwickelung der Kapitäl­motive, der Architravmotive, rein aus der Anschauung heraus geschaffen ist, eine Form aus der andern. Und da ergab sich, indem ich so eine Form aus der andern entwickelte, wie selbstverständlich ein Abbild der Evolution, der wahren Evolution - nicht der darwinistisch gedachten - auch in der Natur. Das ist nicht gesucht. Aber es ergab sich auf selbstverständliche Art so, daß ich darin erkennen konnte ich war selbst davon überrascht, daß es so wurde -, wie gewisse Organe zum Beispiel beim Menschen einfacher sind als bei einer ge­wissen Ordnung der niederen Tierreihe. Ich habe öfter auf die Tat­sache hingewiesen, daß die Entwickelung nicht darin besteht, daß die Dinge komplizierter werden; das menschliche Auge zum Beispiel ist dadurch vollkommener, daß es einfacher ist als das Auge bei den Tieren, daß es wiederum zur Einfachheit hinarbeitet. Auch bei diesen Motiven passierte es mir, daß von dem vierten Motiv an eine Ver­einfachung notwendig war. Das Vollkommenere stellt sich gerade als Einfacheres heraus.

Aber das war noch nicht das einzige, was mich überraschte. Sondern etwas, was mich überraschte, war, daß, wenn ich die erste Säule mit der siebenten, die zweite mit der sechsten und die dritte mit der fünften verglich, sich merkwürdige Kongruenzen herausstellten. Wenn man bildhauerisch arbeitet, hat man natürlich erhabene und hohle Flächen. Die wurden rein aus der Empfindung, aus der An­schauung heraus gearbeitet. Nahm ich aber das Kapitäl und den Sockel der siebenten Säule, so konnte ich, indem ich das Ganze in Gedanken auseinanderlegte, die Erhabenheiten der siebenten Säule mit den Vertiefungen der ersten, und die Vertiefungen der siebenten mit den Erhabenheiten der ersten zur Deckung bringen. Die Erhaben­heiten der ersten Säule passen genau in die Vertiefungen der siebenten Säule hinein. Ich spreche natürlich konvex und konkav gedacht. Eine innere Symmetrie, die keine äußere ist, ergab sich als etwas ganz Selbstverständliches. Dadurch ist eigentlich in der Umwandlung und in der bildhauerischen Durcharbeitung der Umwandung etwas ent­

309

standen wie eine Art In-Bewegung-Bringen der Architektur und ein Zur-Ruhe-Bringen der Skulptur. Es ist alles zugleich Holzskulptur und zugleich Architektur.

Das Ganze ruht auf einem Betonunterbau, der nun im Inneren Motive hat, die auch die Menschen, die da hineinkommen werden, zu­nächst überraschen werden. Man kommt ja - das ist ganz selbst­verständlich - mit vorgefaßten Motiven hinein und beurteilt es nach dem, was man schon gesehen hat. Da fällt manches auf. Manche, die gar nicht gewußt haben, was sie daraus machen sollen, haben gesagt: In Dornach hat man einen futuristischen Bau aufgeführt. Die Formen des Betonbaues sind sowohl dem neuen Material, Beton, wie auch dem, was für dieses neue Material sich ergibt in bezug auf die künstle­rische Form, gedacht. Aber innerhalb der Betonumrahmung ist dann auch versucht, säulenartige Stützen zu schaffen. Da ergab sich von selbst, daß sie so aussehen wie Elementarwesen, die gnomenhaft rissig aus der Erde herauswachsen und zugleich in der Gestaltung tragen; so daß man sieht: Es trägt; es trägt aber einen Teil, der schwerer ist und schiebt ihn und rückt ihn zurück anders, als einen Teil, der leichter ist. Das ist der Holzunterbau.

Nun ergab sich, was sich in München nicht ergeben hätte, wenn die Sache nur Innenarchitektur gewesen wäre, für den Dornacher Bau die Notwendigkeit, Fenster einzusetzen. Wenn Sie die Fenster verstehen wollen, bitte ich, zuerst den Versuch zu machen, den ganzen Ge­danken des Holzbaues ins Auge zu fassen. Wie er dasteht, ist es eigentlich noch keine Kunst oder wenigstens noch kein Kunstwerk. Kunstwerk ist es in bezug auf Säulen, Wände und bildhauerische Gestaltung. Das Ganze, das gar keinen dekorativen Charakter haben soll, also auch nicht im dekorativen Sinne beschaffen sein sollte, dieses Ganze ist eigentlich so, daß der Mensch, der es ansieht, gewisse Emp­findungen und Gedanken mit jeder Linienführung, mit jeder Flächen­gestaltung haben muß. Man muß ja die Linienführung und Flächen­gestaltung mit den Augen verfolgen. Mit dem empfindenden Auge verfolgt man es. Was man da in der Seele erlebt, den Blick an den Kunstwerken entlang laufen lassend, das ergibt eigentlich erst das Kunstwerk in bezug auf die Holzskulptur. Es entsteht eigentlich erst

310

im menschlichen Gemüt. Der Betonunterbau und der Holzteil sind die Vorbereitung des Kunstwerkes. Das Kunstwerk muß der Mensch eigentlich selbst erst im Genusse der Formen aufbauen. Das ist daher sozusagen der geistigste Teil des Baues. Was ins Holz hineingearbeitet ist, das ist der geistigste Teil des Baues. Was als Kunstwerk entsteht, ist eigentlich erst dann da, wenn die empfangende Seele des Zuhörenden oder des Sprechenden im Inneren ist. - Es ergab sich also die Not­wendigkeit, Fenster einzusetzen, immer ein Fenster in einen Teil, der zwischen zwei Säulen ist. Für diese Fenster ergab sich durch die Fort­führung des betreffenden Baugedankens dann die Notwendigkeit, eine eigene Glastechnik zu suchen. Es wurden einfarbige Glasscheiben genommen und in diese die entsprechenden Motive hineinradiert, so daß wir hier Glasfenster in Glasradierung haben. Mit demselben Instrument, das im kleinen der Zahnarzt gebraucht, wenn er einen Zahn ausbohrt, mit demselben Material ist in der dicken Glastafel ausradiert, was auszuradieren war, um eine verschiedene Dicke des Glases zu bewirken. Die verschiedene Dicke des Glases gab die Motive. Die einzelne Glastafel ist einfarbig; die Farben sind so, daß sie in ihrer Aufeinanderfolge eine Harmonie ergeben. Der Bau wird in der Symmetrieachse immer je ein gleichfarbiges Fenster haben, vom Eingange vorrückend, so daß man eine Farbenharmonie haben wird in Evolution. Aber hier ist das Kunstwerk das Fenster als Kunst­werk auch noch nicht fertig. Es ist erst fertig, wenn die Sonne durchscheint; so daß also hier in dem System der Glasfenster etwas geschaffen ist, wo die lebendige Natur, die draußen ist, zusammen­wirken muß mit der Glasradierung, damit das Kunstwerk da ist. Auf Glastafeln werden Sie radiert finden vieles von dem Inhalt unserer Geisteswissenschaft, immer imaginativ geschaut: der träumende Mensch, der wachende Mensch in seiner Wesenheit, verschiedene Geheimnisse der Schöpfung und so weiter. Das alles nicht in Sym­bolen, sondern in Anschauung; alles künstlerisch gemeint, aber fertig erst, wenn die Sonne durchscheint. Also auch hier, wo durch ein anderes Mittel versucht werden mußte, den Raum durch seine eigene Abschließung zu überwinden, ist dasselbe versucht. Beim Holz und in seiner Architektur und Skulptur ist es versucht, in den Formen, die

311

rein seelisch, in der Anschauung, den Raum überwinden und über den Raum hinausführen. Sinnlich konkreter beginnt es schon bei den Fenstern. Da ist die Verbindung mit dem durchscheinenden Sonnen­licht, das aus dem Weltenall hereinstrahlt und unsere sichtbare Welt durchstrahlt, etwas, was dazugehört. Diese zwei Teile würden also vorzugsweise einem seelischen Element entsprechen. Da ist von außen bewirkt durch das Zusammenkommen von Licht und Glasradierung, was eigentlich als Kunstwerk entsteht, als seelisches Element; wäh­rend es bei der Holzskulptur Geistiges ist, was in der menschlichen Seele selbst erlebt wird als Kunstwerk.

Der dritte Teil sind die Malereien, mit denen die Kuppel ausgemalt ist. Auch diese Malereien sind in ihren Motiven unserer geisteswissen­schaftlichen Weltanschauung entnommen. Man wird dort malerisch zum Ausdruck gebracht finden, was Inhalt unserer Weltanschauung ist, wenigstens über einen gewissen großen makrokosmischen Zeit­raum hin. Hier haben Sie, wenn ich so sagen mag, den physischen Teil der Sache; denn in der Malerei kann man aus gewissen inneren Gründen - das auszuführen würde heute zu weit gehen - nur unmittelbar darstellen, was man eben darstellen will. Die Farbe muß selbst ausdrücken, was sie ausdrücken soll; ebenso die Linienführung. Da ist also durch den Inhalt ganz allein der Versuch gemacht, ins Makrokosmische hinauszukommen, die Kuppelwandgrenzen zu über­winden. Also durch den Inhalt gelangt man da hinaus. Es ist alles hineingemalt, was eigentlich dem Makrokosmos angehört. Dadurch ist physisch unmittelbar vor dem Auge, was gemeint ist. Wir haben versucht, die Leuchtkraft, die zum Malen dieser Motive notwendig war, dadurch hervorzubringen, daß wir Farben aus reinen Pflanzenstoffen herzustellen versuchten, die ihre bestimmte Leuchtkraft haben. Es ist dabei natürlich nicht alles so gelungen, wie es hätte gelingen können, wenn nicht der Krieg dazwischengekommen wäre. Es ist aber auch das nur ein Anfang. Natürlich mußte die ganze Art der Malerei entsprechend unserer Auffassung sein. Wir haben es ja, indem wir den geistigen Inhalt der Welt gemalt haben, nicht mit Gestalten zu tun, die man sich von einer Lichtquelle aus beleuchtet denkt, son­dern mit selbstleuchtenden Gestalten. Also es ist eine ganz andere Art

312

in der malerischen Auffassung, die da hineingebracht werden mußte. Wenn man zum Beispiel die Aura eines Menschen malt, so malt man sie ja nicht so, wie man eine physische Gestalt malt. Eine physische Gestalt malt man so, daß man Licht und Schatten so verteilt, wie die Lichtquelle das Objekt beleuchtet. Bei der Aura dagegen hat man es mit einem selbstleuchtenden Objekt zu tun. Dadurch ist der Charakter der Malerei ein ganz anderer.

So ist mit groben Strichen ungefähr gesagt, soweit man es ohne Abbildung darstellen kann, was der Bau will. Der ganze Bau ist, wie ich sagte, angeordnet von Westen nach Osten, so daß also zwischen den Säulen die Symmetrieachse durchgeht, von Westen nach Osten, und sie schneidet den kleinen Zylinder, also den Bühnenraum, an seiner Grenze im Osten. Dort also nach dem Osten hin, zwischen der sechsten Säule rechts und der sechsten Säule links, steht eine bild­hauerisch gearbeitete Gruppe. Die soll nun ihrerseits künstlerisch wieder darstellen, ich möchte sagen, das Intimste unserer geistes­wissenschaftlichen Weltanschauung. Sie soll darstellen, was notwendi­gerweise der menschlichen Geistanschauung der Gegenwart und in die Zukunft hinein sich einfügen muß. Die Menschheit muß begreifen lernen, daß alles, was für die Weltgestaltung und für das menschliche Leben wichtig ist, in diese drei Strömungen hineinläuft: gewisser­maßen die normale geistige Strömung, in die der Mensch hinein­gewoben ist, dann die luziferische Strömung und die ahrimanische. In alles, sowohl in die Grundiagen des physischen wie in die Offen­barungen des geistigen Geschehens, ist göttliche Entwickelung, luzi­ferische Entwickelung und ahrimanische Entwickelung hineinver­woben. Dies soll aber nun wieder nicht symbolisch, sondern künstle­risch erfaßt, in unserer bildnerischen Gruppe zum Ausdruck kommen. Eine Holzgruppe. Es hat sich mir der Gedanke ergeben, den ich als Gedanken glaube erfaßt zu haben, dessen Begründung aber mir selbst in seinen okkulten Untergründen noch nicht klargeworden ist; es wird wohl die okkulte Forschung der Zukunft dies noch ergeben. Es scheint aber unbedingt richtig zu sein, daß sich alle antiken Motive besser in Stein oder in Metall zur Darstellung bringen lassen, und alle christlichen Motive und unseres ist im eminenten Sinne ein christliches

313

Motiv - besser in Holz. Ich kann nicht anders als sagen: Ich habe es immer als notwendig empfunden, daß die Gruppe in der Peterskirche in Rom, die Pieta von Michelangelo, in Holz umzudenken wäre; denn da, glaube ich, würde sie erst das darstellen, was sie dar­stellen soll; ebenso wie ich andere christliche Gruppen, die ich in Stein fand, in Holz umdenken mußte. Es liegt dem ganz gewiß etwas zugrunde; auf die Gründe selbst bin ich noch nicht gekommen. So mußte unsere Gruppe in Holz gedacht und ausgeführt werden.

Die Hauptfigur ist eine Art Menschheitsrepräsentant, eine Wesen­heit, die den Menschen darstellen soll in seiner göttlichen Offen­barung. Ich bin es zufrieden, wenn jemand, der diese Gestalt anschaut, die Empfindung hat: es ist eine Darstellung des Christus Jesus. Aber selbst dies schien mir unkünstlerisch, wenn ich den Impuls zugrunde gelegt hätte: Ich will einen Christus Jesus machen. Ich wollte dar­stellen, was dasteht. Was dann der Betreffende erlebt, ob es ein Christus Jesus ist, das muß erst die Folge sein. Ich wäre recht froh, wenn jeder das erlebte. Das ist aber nicht der künstlerische Gedanke, einen Christus Jesus darzustellen. Der künstlerische Gedanke ruht rein in der künstlerischen Form, in der Gestaltengebung; das andere ist ein novellistischer oder programmatischer Gedanke, einen Christus Jesus darzustellen. Das Künstlerische lebt in der Form, wenigstens wenn es ein Bildnerisches ist. - Eine Hauptgestalt -, die ganze Gruppe ist achteinhalb Meter hoch, steht etwas erhöht, hinter ihr Felsen, unter ihr Felsen. Unten aus dem Felsen, der sich etwas aushöhlt, wächst heraus eine Ahrimangestalt. Die ist in einer Felsenhöhle drinnen, halb liegend, mit dem Kopf nach oben. Auf diesem etwas ausgehöhlten Felsen steht die Hauptfigur. Über der Ahrimanfigur und vom Be­schauer links ist wiederum aus dem Felsen herauswachsend ein zweiter Ahriman, so daß die Ahrimanfigur sich wiederholt. Über der Ahriman­figur, wiederum links vom Beschauer, ist eine Luzifergestalt. Zwi­schen dem Luzifer und dem Ahriman darunter ist eine Art künstle­rischer Zusammenhang geschaffen. Ganz wenig darüber, über der Hauptfigur, rechts vom Beschauer, ist auch eine Luzifergestalt. Luzi­fer ist also auch zweimal vorhanden. Dieser andere Luzifer ist in sich gebrochen, stürzt ab durch das In-sich-Gebrochensein. Die rechte

314

Hand der Mittelfigur weist nach unten, die linke nach oben. Diese nach oben weisende linke Hand weist auf die Bruchstelle des Luzifer hin; da gerade bricht er sich entzwei und stürzt ab. Die rechte Hand und der rechte Arm der Mittelfigur weist nach dem unteren Ahriman hin und bringt ihn zur Verzweiflung. Das Ganze ist so gedacht - ich hoffe, daß man es wird empfinden können -, daß diese Mittelfigur nicht irgendwie aggressiv ist; sondern in der Geste, die ich andeutete, ist nur Liebe darinnen. Aber weder Luzifer noch Ahriman vertragen diese Liebe. Der Christus kämpft nicht gegen Ahriman, sondern er strahlt Liebe aus; aber Luzifer und Ahriman können die Liebe nicht in ihre Nähe gelangen lassen. Durch die Nähe der Liebe fühlt der eine, Ahriman, die Verzweiflung, das In-sich-Verzehrtwerden, und Luzifer stürzt ab. In ihnen, in Luzifer und Ahriman, liegt es also, was in ihren Gesten zum Ausdruck kommt.

Die Gestalten waren natürlich aus dem Grunde nicht leicht zu schaffen, weil man Geistiges bei der Hauptfigur teilweise Geistiges, - bei Luzifer und Ahriman aber rein Geistiges zu schaffen hat, und bildhauerisch ist es am schwierigsten, das Geistige zu bilden. Es wurde aber doch versucht, das zu erreichen, was notwendig war, besonders für unsere Ziele: die Form, trotzdem sie künstlerische Form bleiben mußte, ganz in Geste, ganz in Miene aufzulösen. Der Mensch ist ja eigentlich nur in der Lage, Geste und Miene in sehr eingeschränktem Sinne zu gebrauchen. Luzifer und Ahriman sind ganz Geste und ganz Miene. Geistgestalten haben nicht abgeschlossene Form, keine fertige Geistgestalt gibt es. Wenn Sie den Geist gestalten wollen, sind Sie in derselben Lage, wie wenn Sie den Blitz gestalten wollten. Die Gestalt, die ein Geist in einem Augenblick hat, ist eine andere als im nächsten Augenblick. Das muß man berücksichtigen. Würde man aber für den einen Augenblick eine Geistgestalt festhalten wollen, so wie man eine ruhende Gestalt nachbildet, dann würde man nichts herausbekommen, dann hätte man nur eine erstarrte Gestalt. So muß man in solchem Falle ganz und gar die Geste nachbilden. Es ist also bei Luzifer und Ahriman ganz und gar die Geste nachgebildet, und zum Teil mußte das auch für die mittlere Gestalt versucht werden, die ja natürlich eine physische Gestalt ist: der Christus Jesus.

315

Nun möchte ich Ihnen ein paar Bilder vorführen, die Ihnen im Kleinen, so gut es geht, einen Begriff von dieser Hauptgruppe geben können. Das erste ist der Kopf des Ahriman, und zwar in der Gestalt, wie er mir zuerst gekommen ist: ein Mensch man denke dabei an die Dreiteilung des Menschen in Kopf-, Rumpf- und Extremitätenmen­schen -, der ganz Kopf ist, der daher auch das Werkzeug ist für die vollendetste Klugheit, Verständigkeit und Schlauheit. Das soll in der Ahrimanfigur zum Ausdruck kommen. Der Kopf des Ahriman ist, wie Sie ihn hier sehen, richtig Geist, wenn ich den paradoxen Aus­druck gebrauchen darf; aber Sie wissen, wie ein Paradoxes oft heraus­kommt, wenn man geistig charakterisiert. Er ist tatsächlich nach dem Modell, geistgetreu, künstlerisch naturgetreu. Ahriman mußte schon «sitzen», damit das zustande gebracht werden konnte.

Das nächste soll sein Luzifer, wie er vom Beschauer aus an der linken Seite sich findet. Um Luzifer zu verstehen, müssen Sie sich in einer sehr merkwürdigen Weise das denken, was als Geistgestalt des Luzifer erscheint. Man denke sich das am meisten Ahrimanische am Menschen von der Menschengestalt weg, also den Kopf weg, dafür aber denken Sie sich die Ohren und die Ohrmuscheln, das Außenohr, wesentlich vergrößert, natürlich vergeistigt und zu Flügeln gebildet und zu einem Organ geformt, das Organ aber um ihren Leib herum-geschlungen, die Kehlkopfflügel ebenfalls erweitert; so daß Kopf Flügel, Ohren ein Organ zusammen bilden. Und die Flügel, das Hauptorgan, ist das, das sich für die Gestalt des Luzifer ergibt. Luzifer ist erweiterter Kehlkopf, Kehlkopf, der zur ganzen Gestalt wird, aus dem sich dann herausentwickelt durch eine Art Flügel eine Ver­bindung zum Ohre hin, so daß man sich vorzustellen hat: Luzifer ist eine solche Gestalt, welche die Sphärenmusik aufnimmt, sie herein­nimmt in diesen Ohr-Flügelorganismus; und ohne daß die Individua­lität mitspricht, spricht sich das Weltenall, die Sphärenmusik selber, wiederum durch dasselbe Organ aus, das nach vorn zum Kehlkopf umgeformt, also eine andere Metamorphose der Menschengestalt ist: Kehlkopf-Ohr-Flügelorgan. Daher ist der Kopf nur angedeutet. Bei Ahriman werden Sie finden, wenn Sie einmal die Figur im Dornacher Bau sehen werden: Es ist das herausgestellt, was man sich als Gestalt

316

denken kann. Was aber bei Luzifer als Kopf herauskommt - obwohl Sie sich nicht gut vorstellen können, daß es bei Ihnen selbst so wäre wie bei Luzifer -, das ist etwas, was doch im höchsten Grade schön ist. Das Ahrimanische ist also das Verständige, Kluge, aber Häßliche in der Welt; das Luziferische ist das Schöne in der Welt. Alles in der Welt enthält die beiden: das Ahrimanische und das Luziferische. Die Jugend und die Kindheit ist mehr luziferisch, das Alter mehr ahrima­nisch; die Vergangenheit ist mehr ahrimanisch, die Zukunft mehr luziferisch in ihren Impulsen; die Frauen mehr luziferisch, die Männer mehr ahrimanisch; alles enthält diese beiden Strömungen.

Das Wesen über dem Luzifer entstand als ein solches, das als Elementarwesen aus dem Felsen herauswächst. Wir hatten die be­sprochene Gruppe fertig, und als sie von ihrem Gerüst befreit war, stellt sich etwas ganz Merkwürdiges dar: daß nämlich, wie Fräulein Waller empfand, der Schwerpunkt der Gruppe - für die Anschauung natürlich nur - zu weit rechts läge und etwas dazu geschaffen werden müßte, um den Ausgleich zu bringen. So wurde es uns vom Karma zugetragen. Nun handelte es sich darum, nicht bloß einen Batzen Felsen anzubringen, sondern den bildhauerischen Gedanken weiterzuverfolgen. So entstand dann dieses Wesen, das gewissermaßen als Elementarwesen aus dem Felsen herauswächst. Gerade an diesem Wesen werden Sie eines bemerken, wenn es auch nur in Andeutungen zum Ausdruck kommt: Sie werden sehen, wie eine Asymmetrie, so­bald Geistgestalten in Betracht kommen, sogleich wirken muß. Das kommt im Physischen nur sehr eingeschränkt zum Ausdruck: unser linkes Auge ist anders als unser rechtes und so weiter; mit Ohr und Nase ist es ebenso. Sobald man aber ins Geistige hineinkommt, wirkt schon der Ätherleib ganz entschieden asymmetrisch. Die linke Seite des Ätherleibes ist ganz anders als die rechte; das kommt sofort heraus, wenn man Geistgestalten bilden will. Sie können um dieses Wesen herumgehen, und Sie werden von jedem Punkt aus unten einen andern Anblick haben. Sie werden aber sehen, daß die Asym­metrie als etwas Notwendiges wirkt, weil sie der Ausdruck ist der Geste, mit der dieses Wesen mit einem gewissen Humor über den Felsen herüberschaut und auf die Gruppe unten schaut. Dieses

317

Hinunterschauen mit Humor über den Felsen hat seinen guten Grund. Es ist durchaus nicht richtig, sich in die höheren Welten nur mit einer bloßen Sentimentalität erheben zu wollen. Will man sich richtig in die höheren Welten hinaufarbeiten, so muß man es nicht bloß mit Sentimentalität tun. Diese Sentimentalität hat immer einen Beigeschmack von Egoismus. Sie werden sehen, daß ich oftmals, wenn die höchsten geistigsten Zusammenhänge erörtert werden sollen, in die Betrachtung etwas hineinmische, was nicht herausbringen soll aus der Stimmung, sondern nur die egoistische Sentimentalität der Stim­mung vertreiben soll. Erst dann werden sich die Menschen wahrhaftig zum Geistigen erheben, wenn sie es nicht erfassen wollen mit egoisti­scher Sentimentalität, sondern sich in Reinheit der Seele, die niemals ohne Humor sein kann, in dieses geistige Gebiet hineinbegeben können.

Dann der Kopf der Mittelfigur im Profil, wie er sich mit Not­wendigkeit ergeben hat. Da mußte der Kopf auch etwas asymmetrisch gemacht werden, weil an dieser Figur gezeigt werden sollte, daß nicht nur die Bewegungen der rechten Hand, der linken Hand, des rechten Armes und so weiter das Innere der Seele wiedergeben, sondern weil dies bei einer solchen, ganz in der Seele lebenden Wesenheit, wie es der Christus Jesus ist, zum Beispiel auch die Stirnbildung in Anspruch nimmt und die ganze übrige Gestalt, viel mehr, als es beim Menschen in der Geste der Fall sein kann. Wir haben ausprobiert, trotzdem es nicht der Wirklichkeit entspricht, daß man, wenn man das Bild ver­kehrt in den Apparat steckt, schon einen ganz andern Anblick hat bloß dadurch, daß es umgekehrt ist. Der Eindruck ist ein anderer. Wie das asymmetrisch gedacht ist, künstlerisch, das werden Sie aber erst an dem fertigen Kopf der Mittelfigur sehen. Man darf wohl sagen: Bei der Ausarbeitung einer solchen Sache kommen alle künstlerischen Fragen auch wirklich in Betracht; die kleinste künstlerische Frage steht da immer im Zusammenhang mit irgendeinem weithingehenden Ganzen. Hier zum Beispiel kam besonders in Betracht die Behandlung der Fläche. Das Leben muß ja da besonders durch die Fläche erzeugt werden. Die Fläche einfach gebogen, und die Biegung wieder ge­bogen: diese besondere Behandiung der Fläche, die doppelte Biegung

318

der Fläche, wie das aus der Fläche selbst Leben herausholt, das sieht man erst, wenn man diese Dinge durcharbeitet. Und so werden Sie sehen, daß das, was wir wollten, nicht allein im Dargestellten liegt, sondern auch in einer gewissen künstlerischen Behandlung der Sache. Man mußte nicht etwa in novellistischer Weise, durch Nachbildung bloß, das Ahrimanische, das Luziferische und wieder das Menschliche erreichen, sondern man mußte es in die Fingerspitzen bekommen, in die Flächenformung hineinbekommen, mußte es ganz und gar in die künstlerische Formung hineinbekommen. Und jene Erweiterung, die der Mensch erhält, indem er seine Anschauung ins Geistige hinein ausdehnt, sie dehnte sich auf der andern Seite auch wieder ins Künst­lerische hinein aus.

Diese Gruppe steht also unten im Osten im Bühnenraum. Darüber wölbt sich die kleinere Kuppel, und die wieder ist ausgemalt, wie ich es angedeutet habe. Über dieser Gruppe ist es dann wieder versucht, dasselbe Motiv malerisch zu geben. Da ist der Christus, darüber Luzi­fer und Ahriman, und es ist versucht, durch die Farben aussprechen zu lassen, was dargestellt werden sollte durch die Kunst. Gerade durch die Verschiedenartigkeit der Behandiung wird man sehen, wie rein aus den Kunstmitteln heraus die Dinge geholt werden mußten.

Das sind Sachen, die nur dadurch so wurden, daß eine Anzahl unserer Freunde in der allergrößten Hingebung an diesem Bau ge­arbeitet haben. Über diesen Bau ist ja das Kurioseste gesprochen worden, aber man wird vielleicht einmal gerade auf die hingebungs­volle Art hinweisen, wie die in unserer Gesellschaft lebenden Freunde, und besonders die Künstler, sich so selbstlos dem Bau gewidmet haben. Hier bei dieser Gruppe kamen ganz besondere künstlerische Fragen in Betracht. Da hat zum Beispiel Fräulein Marjon sich ganz wunderbar hineingefunden in dieses Umlegen eines Weltanschauungs­gedankens in einen Kunstgedanken. Der Bau ist natürlich nicht fertig. Er wäre aber höchst wahrscheinlich doch fertig - bis auf diese Gruppe, die nicht fertig sein konnte -, wenn nicht diese katastrophalen Weltereignisse auch die Fertigstellung des Baues verhindert hätten.

Ich wollte nur mit diesen abgerissenen aphoristischen Sätzen das mit dem Bau Beabsichtigte Ihnen einmal nahebringen. Ich hoffe, daß

319

Sie wenigstens eine ganz kleine Vorstellung von dem bekommen haben, was - wie wir erwarten dürfen - auch einmal in Dornach im fertigen Zustande gesehen werden kann. Worauf es ankommt, das ist: künstlerisch unsere Weltanschauung in das Geistesleben der Gegen­wart und Zukunft hineinzustellen. Man wird sehen, daß unsere Welt­anschauung mehr als Theorie ist: daß sie eine Summe von wirklicher, lebendiger Kraft ist. Hätten wir etwas Symbolisches aufgeführt, so könnte man sagen: Das ist eine Theorie. - Da aber unsere Welt­anschauung imstande ist, Kunst zu gebären, ist sie etwas anderes, etwas Lebendiges. Sie wird auch anderes noch gebären, sie wird auch andere Zweige des Lebens befruchten müssen. Sehnsucht ist viel vor­handen nach dem, was geistiges Leben ist, wie es unserer Gegenwart angepaßt ist. In bezug auf das geistige Leben tritt aber auch viel Visionäres, viel irrtümliches und unfügliches Zeug auf diesem Ge­biete zutage. Aber das hoffe ich, daß man unterscheiden lernt, was herausgeboren ist aus den wirklichen Anforderungen des gegenwärti­gen Geisteszyklus der Menschheit, von dem, was nur aus Konfusion und so weiter heraus entsteht. Überall sehen wir, wie die Pilze auf­sprießend, was im geistigen Leben geschaffen werden soll. Aber man muß doch unterscheiden lernen zwischen dem, was wahrhaftig aus den wirklichen Kräften der Geistentwickelung der Menschheit ge­boren werden soll, und zwischen dem, was irre redet aus dem Geisti­gen heraus. Irres Gerede können Sie heute vielfach vernehmen. Daß darauf hingehört wird, ist ganz natürlich, denn es zeigt, daß die Men­schen hinstreben nach dem Geist. Sie brauchen nur die Augen auf-zumachen, dann sehen Sie es überall, wo die Menschen nach dem Geistigen hin wollen. Jetzt ist ein metaphysischer Roman erschienen von einem Herrn Korf, ein schreckliches Zeug; es ist eigentlich mehr eine unfügliche Propaganda für den «Stern des Ostens». Aber ich hoffe, daß man diese Dinge, die eigentlich in einer andern Art eine Verirrung des metaphysischen Strebens der Menschheit zum Aus­druck bringen, unterscheiden lernt von dem, was aus den Wurzel­bestrebungen des menschlichen Daseins heraus gerade für unsere Zeit geschaffen werden sollte.

320

SIEBZEHNTER VORTRAG Berlin, 9. Juli 1918

Das Leben, das Gesamtleben der Menschenseele ist, wie gerade auch wiederum aus den Betrachtungen hervorgeht, die wir jetzt pflegen, ein kompliziertes. Viele Fäden knüpfen die Menschenseele an viele Gebiete, an viele Kräfte, Mittelpunkte des Weltenalls. Wir erinnern uns an das, was hier vor vierzehn Tagen vorgebracht worden ist, um eine Anknüpfung zu gewinnen zu Wahrheiten, die wir heute be­ginnen wollen, vor unsere Seele treten zu lassen, und die uns vielleicht das Weltgeschehen von einem gewissen Gesichtspunkte aus in einer uns bedeutungsvollen Weise vor die Seele treten lassen können. Ich will nur mit ein paar Worten an das erinnern, was hier vor vierzehn Tagen ausgeführt wurde.

Ich sagte: Man lernt den Menschen eigentlich erst dadurch in Wirk­lichkeit kennen, daß man nicht nur sein gewöhnliches Bewußtsein verfolgt, das in ihm waltet vom Aufwachen bis zum Einschiafen, son­dern daß man sich voll bewußt wird, daß innerhalb dieses Bewußt­seins andere, dumpfe, dämmerhafte Bewußtseinszustände vorhanden sind, daß man aber hinter diese nur kommt, wenn man jene Dreigliederung des Menschen ins Auge faßt, welche ihn als Hauptesmenschen, als Rumpfesmenschen und als Extremitätenmenschen erscheinen läßt. Des Menschen ganzes Wesen bedient sich ja gewiß des Hauptes, um das uns bekannte Bewußtsein zu haben. Aber wir haben außerdem anführen können, daß der Mensch durch dieses mensch­liche Haupt ein traumhaftes Bewußtsein hat, das nur von dem gewöhn­lichen Bewußtsein übertönt wird, und daß er durch dieses traumhafte Bewußtsein in seine früheren Erdenleben zurückblickt. Ebenso haben wir anführen können, daß der Extremitätenmensch, aber in Ver­bindung mit dem ganzen Menschen, fortwährend ein traumhaftes Bewußtsein entwickelt von dem nächsten Erdenleben. Was wir also innerhalb unserer Geisteswissenschaft als eine Theorie über die wie­derholten Erdenleben anführen, das ist schon eine Realität in der Menschenseele. Es ist eine Bewußtseinsrealität, aber eine dumpfe,

321

dämmerhafte Bewußtseinsrealität. Außerdem haben wir noch an­geführt, daß der Mensch auch durch seinen Ausatmungsprozeß, wel­cher der Rumpforganisation angehört, ein solches traumhaftes Be­wußtsein entwickelt für das Leben vom letzten Tode bis zur Geburt; und durch den Einatmungsprozeß, der ebenfalls der Rumpforganisa­tion angehört, hat der Mensch ein dumpfes Bewußtsein von dem Leben vom nächsten Tode bis zur neuen Geburt. Kurz, im Menschen weben die verschiedenen Bewußtseine durcheinander. Dies alles wird Sie darauf aufmerksam machen, daß wir es in dem ganzen Menschen mit einer feingewobenen Organisation zu tun haben, und daß das, was man sich gewöhnlich vom Menschen sagt, was die Leute sich vom Menschen zur Klarheit bringen, eigentlich von der Gesamt­wesenheit des Menschen nur ein ganz geringer Teil, nur das Aller­gröbste dieser Gesamtwesenheit ist.

Nun ist aber der Mensch gerade dadurch ein so kompliziertes Wesen, daß er mit den verschiedenen Gliedern seines ganzen Wesens eingebettet ist in Welten, die ja dem gewöhnlichen Bewußtsein zu­nächst unbekannt sind, die dem gewöhnlichen Bewußtsein gegenüber übersinnliche sind. Was im Menschen so eingebettet ist in eine geistige Welt, was sich auch für ein gar nicht sehr verfeinertes Seelenleben eingebettet erweist, auch im gewöhnlichen Menschendasein, das durch die verschiedenen Erdenleben hindurch zu betrachten ist, das ist nun aber gar nicht so einfach. Und doch kommt man erst auf die Gesamtbedeutung des menschlichen Lebens, wenn man dieses ganze komplizierte Menschenwesen in seinem Durchgang durch verschiedene Erdenleben ins Auge faßt. Dieses feine Gewebe ist eigentlich - namentlich für das heutige menschliche Anschauen - recht sehr ver­deckt, maskiert. Von dieser Maskierung werden wir noch zu sprechen haben. Eigentlich kennt man meistens nur die Maskierung des Men­schen; denn das, was aus der geistigen Welt herunterkommt, was gewissermaßen im physischen Menschen sein Haus aufschlägt und durch den Tod wieder in die geistige Welt hinaufsteigt, das kündet sich gar nicht in einer sehr groben Weise im Menschenleben an, son­dern es geschieht vieles im Menschenleben, das so grob ist, daß eigentlich die Vorgänge, die dazu führen, daß der Mensch von Erden-

322

leben zu Erdenleben geht, sich verbergen, sich maskieren. Wie kom­pliziert dieses Menschenleben ist, darauf kommt man, wenn man es über längere Zeiträume hindurch verfolgt. Und da bitte ich Sie, bei solchem Verfolgen durch längere Zeiträume davon ganz abzusehen, daß das, was ich hier zu schildern habe, wenn ich das wahre menschliche Seelenleben durch längere Zeiträume schildere, ja recht sehr abweicht von dem, was die äußere Geschichte erzählt. Warum das ist, haben wir schon öfter angedeutet. Wir wollen es grade bei dieser Ge­legenheit später genauer besprechen.

Ein wichtiger Zeitraum - ich habe darauf schon vor einiger Zeit hingedeutet - in der Entwickelung der Gesamtmenschheit, nament­lich unserer Kulturmenschheit des Abendlandes, ist der des 7. bis 8. Jahrhunderts vor dem Mysterium von Golgatha. Da ging mit den Menschenseelen, namentlich der abendländischen Kulturmenschheit, ein bedeutsamer Umschwung vor sich. Wir wissen, daß sich damals der dritte nachatlantische Kulturzeitraum in den vierten hineinver­wandelte. Die Menschenseelen hatten früher, vor dem 7., 8. Jahr­hundert, vorzugsweise den Charakter der Empflndungsseele. Sie be­kamen damals den Charakter der Verstandesseele. Dann wieder war ein wichtiger Zeitumschwung im 15. christlichen Jahrhundert, also noch gar nicht so weit hinter uns; da bekam die menschliche Seele den Charakter der Bewußtseinsseele. Nun ändert der Charakter des Seelenhaften, den man bekommt, auch den Charakter des traumhaften Rück­blickes in eine frühere Inkarnation. Fassen Sie nur einen Menschen zum Beispiel im Beginne des griechisch-lateinischen Kulturzeitraumes ins Auge, also im 3., 4. vorchristlichen Jahrhundert. Er lebte, wenn er eine normale Entwickelungsstufe erlangt hatte im Abendlande oder in einem angrenzenden Gebiete, mit dem Charakter der Verstandes- oder Gemütsseele. Aber das, was in ihm von früheren Erdenleben träumte, richtete sich ja auf diese früheren Erdenleben zurück, wo die Seele den Charakter der Empflndungsseele hatte. Allerdings ver­schwand im Laufe des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes all­mählich die Fähigkeit, die wiederholten Erdenleben unmittelbar wahr­zunehmen. Aber zahlreiche Menschen hatten sie; und die, die sie hatten, blickten so zurück, daß sie wenn ich mich so ausdrücken

323

darf sich erblickten als Besitzer der Empflndungsseele. Verhältnis­mäßig groß war der Unterschied zwischen dem, wie die Menschen sich jetzt, also im damaligen Jetzt, vorkamen, und dem, was ihnen vor die Seele trat, wenn der Traum ihnen gegenständlich wurde: So warst du im früheren Erdenleben. - Dadurch unterschieden sich viele Menschen in ihrer damaligen gegenwärtigen Inkarnation sehr stark von dem, was sie als ihre frühere Inkarnation erblickten. Weil sie sich in der damaligen gegenwärtigen Inkarnation fühlten als Verstandes- oder Gemütsseele, hatten sie das Gefühl: Du warst Empfindungsseele in der früheren Inkarnation. - Was heißt das, das Gefühl haben, man ist Empfindungsseele in der früheren Inkarnation? Das haben die gegenwärtigen Menschen fast gar nicht mehr, können es nicht mehr haben, das rechte Gefühl: man ist Empflndungsseele, an das sich die Menschen in den ersten Jahrhunderten der vierten nachatlantischen Zeit noch recht lebhaft erinnerten. Die ägyptischen, chaldäischen Menschen in der dritten nachatlantischen Kulturperiode fühlten sich als Empfindungsseele. Sich als Empflndungsseele fühlen, bedeutet: Man weiß fast gar nichts davon, daß man ein denkender Mensch ist; man gibt gar nichts darauf, Gedanken zu haben, sondern man ist in dem fortwährenden lebendigen Gefühl, mit der Außenwelt, aber mit der geistdurchtränkten Außenwelt in einem Zusammenhang zu stehen. - Es ist außerordentlich schwierig, dieses Bewußtsein zu schildern, man sei eine Empfindungsseele, weil dieses Bewußtsein sinnenhaft ein so lebendiges ist, daß man eigentlich fortwährend fühlt: Man ist an den Stellen des Raumes, wo man durchgegangen ist, wie ein Schatten zurückgeblieben. Wenn man zum Beispiel auf einem Stuhl gesessen hat, im heutigen Sinne gesprochen, und man ist eine Weile gegangen, hat man das Gefühl: Da sitzest du noch lange. Das Gefühl der Verbindung mit den äußeren Dingen war ganz lebendig. Vor allem hatte man eine vollständig klare, konkrete Anschauung von seinem Raumesbild fortwährend vor sich; auch ein Gefühl von seinem Raumesbild hatte man fortwährend vor sich. Weil dieses Raumes­gefühl ein so starkes war, deshalb war auch die Lehre von der Wieder­verkörperung, welche damals in bewußter Weise vorgetragen wurde, eine so intensive; denn die Menschen hatten, indem sie zurückschau­ten,

324

indem ihnen dieses Träumen von den früheren Erdenleben be­wußt wurde, ein lebendiges Bild von ihrem Raumesmenschen. Sie sahen sich förmlich, wie sie da waren in verschiedenen Situationen.

Dieses lebendige Schauen seiner selbst ist im Laufe der vierten nachatlantischen Kulturperiode verlorengegangen. Dadurch ist der Mensch auch nicht mehr fähig gewesen, eine starke Kraft aufzubrin­gen, um nun überhaupt das zu erfassen, was als traumhafte Erinne­rung an früheres Erdenleben in ihm vorhanden ist, namentlich des­halb, weil später die Menschen, die wiedergeboren wurden, in diesem Traum, durch den sie sich an frühere Erdenleben erinnerten, sich ja nicht an eine so lebendig anschauende Empfindungsseele erinnerten, sondern an eine Verstandes- oder Gemütsseele, die ohnedies nicht sehr gegenständlich ist, die etwas Verschwommenes, etwas Inner­liches ist. Das kann der Mensch nicht so erfassen. Daher hörte das Bewußtsein von früheren Erdenleben allmählich ganz und gar auf. Aber im Laufe des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes wird dieses Bewußtsein der wiederholten Erdenleben in einer ganz bestimmten Weise wieder auftreten. Und niemand versteht eigentlich die Entwickelung der Menschheit, der solche Wahrheiten nicht durch­schaut, wie wir sie jetzt vor unsere Seele treten lassen.

Was in der Menschheit auftritt, das tritt auf den verschiedensten Gebieten unserer Erde in verschiedener Weise auf. Ich habe öfter dar­auf hingedeutet, daß in der Zukunft wieder ein Zeitpunkt zu erwarten ist, und ganz besonders bedeutsam wird er sich im 3. Jahrtausend zeigen, wo niemand wird ohne einen gewissen Rückblick an frühere Erdenleben sein können, und namentlich nicht ohne ein deutliches Bewußtsein, daß er künftige Erdenleben haben kann. Aber gerade dieses Bewußtsein wird in verschiedener Weise auf verschiedenen Gebieten der Erde auftreten, und das zu verstehen, ist außerordent­lich wichtig.

Wir wollen einmal die großen Gebiete, auf denen das verschieden auftreten wird, ins Auge fassen: Die Gebiete des Ostens, im Osten von Europa schon deutlich beginnend und dann nach Asien sich forterstreckend, also das Gebiet des Orients; und dann wollen wir das Gebiet des europäischen Westens und das Amerikas besonders dabei

325

ins Auge fassen. Auf beiden Gebieten bereitet sich in verschiedener Weise diese künftige Fähigkeit vor, wiederholte Erdenleben ins Auge zu fassen. Im Westen weiß man in eingeweihten Kreisen dies schon ganz genau, und das Bedeutsame des Westens besteht gerade darin, daß man mit okkulten Fähigkeiten rechnet und diese auch im äußeren Leben zu betätigen gedenkt. Wer dies nicht in Betracht zieht, versteht die Entwickelung des Westens und den ganzen Einfluß des Westens auf die Geschichte der Menschheit sehr schlecht. Gerade die wichtig­sten Dinge, die im Westen geschehen, die namentlich von der anglo­-amerikanischen Menschenrasse ausgehen, geschehen unter dem Ein­fluß von geheimeren, intimeren Kenntnissen des Menschheits­geschehens als solchen. Wenn man schildert, um was es sich bei diesen Dingen handelt, kommt man natürlich bald eigentlich in die Gefahr, paradox sprechen zu müssen, weil man Dinge schildern muß, von denen sich der gescheite Mensch - er ist ja immer gescheit und klug! - sagt: Ja, warum wissen das die Eingeweihten nicht? - Aber Sie brauchten nur zu bedenken, daß ich Ihnen von Luzifer und Ahriman allerlei erzählen muß, was die tun, fühlen, namentlich was sie getan haben, und da kommt dann der Mensch und meint, er sei gescheiter gewesen als Luzifer und Ahriman und hätte nicht das gemacht wie das Zurückbleiben und so weiter. Dergleichen muß man nur richtig ins Auge fassen. Man kann gewisse Dinge tun, gerade weil man in einer gewissen Weise gescheiter ist als der Mensch.

Im Westen namentlich macht sich aus gewissen geheimnisvollen Untergründen heraus die Tendenz geltend, die wiederholten Erdenleben zu bekämpfen. Ein Kampf gegen die wiederholten Erdenleben der Zukunft macht sich in gewissen sehr eingeweihten Kreisen der anglo-amerikanischen Rasse geltend. Das ist das Paradoxe, das man dabei zu sagen hat. Man will es in einer gewissen Weise von gewissen geistigen Zentren aus im Westen dahin bringen, daß solche wieder­holten Erdenleben, also solches regelmäßiges Leben zwischen Ge­burt und Tod, dann wieder zwischen dem Tode bis zur nächsten Geburt und dann wieder zwischen Geburt und Tod allmählich auf­hören. Man will letzten Endes eine ganz andere Einrichtung des Menschenlebens bewirken, und es gibt Mittel, durch welche eine

326

solche andere Einrichtung bewirkt werden kann. Was man will, ist nämlich das Folgende: Man will die Menschenseele durch eine ge­wisse Schulung, durch eine gewisse Verleihung von diesen oder jenen Kräften in einen solchen Zustand versetzen, daß sie sich nach dem Tode immer verwandter und verwandter fühlt mit den irdischen Verhältnissen, mit den irdischen Kräften, daß sie einen gewissen starken Hang zu den irdischen Kräften - natürlich zu den geistig-irdischen Kräften - bekommt, und daß sie dann nach dem Tode von den irdi­schen Regionen möglichst wenig weggeht, sehr nahe den irdischen Regionen bleibt, dadurch nach dem Tode einen gewissen Einfluß auf die irdischen Regionen behält und dadurch aber, daß sie den irdischen Regionen nahe bleibt, daß sie gewissermaßen als gestorbene Seele mit den irdischen Regionen fortlebt, auch der Notwendigkeit enthoben ist, wiederum wirklich in einen physischen Körper hineinzukommen. Nach einem merkwürdigen Ideal strebt die anglo-amerikanische Rasse: nicht mehr in irdische Körper zurückzukehren, aber mit den Seelen einen immer größeren und größeren Einfluß auf die Erde zu haben, mit den Seelen immer irdischer zu werden. - Auf diese Weise also strebt sie nach einem Ideal, daß sie das Leben hier auf der Erde und das Leben post mortem, das Leben nach dem Tode, ähnlich macht. Dies wird erreicht jetzt nur bei denjenigen, die nach dieser Richtung geschult werden, aber es wird immer mehr und mehr allgemein üblich werden, solche Schulung anzugeben, es wird dadurch erreicht, daß man ein viel größeres, stärkeres Erdegefühl im Menschen erweckt, als das sogenannte normale ist. Würde nun während der lemurischen und der atlantischen Zeit nicht ein gewisser luziferischer und ahrimani­scher Einfluß auf den Menschen sich geltend gemacht haben, so würde des Menschen Seele heute sich weniger verwandt fühlen mit dem physischen Leibe, als sie sich schon mit ihm verwandt fühlt. Das würde so zum Ausdruck kommen, daß es zahlreiche Menschen gäbe - die meisten Menschen würden so sein -, die ihren Leib schon wie zur Erde dazugehörig betrachteten, die empfinden würden: Du lebst in deinem Leibe drinnen, ähnlich so, wie man heute empfindet: Du gehst auf dem festen Erdboden herum. Wir rechnen heute vermöge des luziferischen Einflusses unseren Körper ganz nahe zu uns, die

327

Erde nicht. Von der Erde sagen wir, sie sei außer uns. Aber unseren Körper rechnen wir nahe zu uns. Von einem gewissen höheren spirituellen Gesichtspunkte aus sind wir gerade so außerhalb unseres Leibes, auch im Wachen, wie wir außerhalb der Erde sind. Wir treten gewissermaßen nur mit unserer Seele auf unserem Gehirn auf; da­durch ist es die Widerlage unseres Denkens. Das weiß man heute nicht wegen des luziferischen und ahrimanischen Einflusses. Wäre dieser nicht gewesen, dann würden wir uns als Seelen viel fremder unserem Leibe fühlen; wir würden ihn wie einen Hügel auf der Erde betrach­ten, allerdings als einen beweglichen, auf den wir uns stützen, so wie wir uns sonst auf Sandhügel stützen.

Dies machen gewisse Kreise des Anglo-Amerikanismus zu einer praktischen Weisheit. Sie bilden gerade diejenigen Empfindungs­fähigkeiten des menschlichen Leibes besonders aus, welche das, was ich jetzt ausgesprochen habe, dieses Gebundensein des Menschen an den Leib, noch verstärken, indem dazu Kräfte kommen sollen, die nun nicht bloß im Leibe sind, sondern den Leib mit der Erde ver­binden. Durch besondere Übungen sollen die Menschen dieser anglo­-amerikanischen Rasse allmählich ein starkes Gefühl davon bekommen, daß ihr Leib zur Erde dazugehört. Sie sollen nicht nur fühlen: Ich bin mein Arm, ich bin mein Bein -, sondern sie sollen auch fühlen: Ich bin auch die Schwerkraft, die durch meine Beine geht; ich bin auch das Gewicht, das meine Hand, meinen Arm belastet. - Es soll ein starkes physisches Verwandtschaftsgefühl zwischen dem mensch­lichen Leib und den irdischen Elementen anerzogen werden. Dieses starke Verwandtschaftsgefühl zum physischen Leibe und den irdi­schen Verhältnissen ist heute in der Tierreihe besonders stark bei ge­wissen Gattungen der Affen vorhanden. Die haben es, das ist eigent­lich ihr Seelenleben. Da kann es auch physiologisch-zoologisch stu­diert werden. Was da vorhanden ist, das kann man nach und nach in ein System der Menschheitserziehung bringen; man muß nur immer mehr und mehr die grobe Verwandtschaft des Menschen mit der Natur in ein System der Körpererziehung bringen. Man kann da­durch und ich will damit weder schimpfen noch etwas besonders Kritisches zum Ausdruck bringen, sondern nur Tatsachen hinstellen -,

328

man kann dadurch eine Art praktischen Darwinismus treiben, daß man den Menschen verwandter macht mit dem, was ihn mit der Erde verbindet. Man kann den Menschen in einer gewissen Beziehung «veraffen». Das ist die praktische Gegenseite. Sie wird scheinbar instinktiv, aber doch wohlgeleitet in der besonderen Form des Sportwesens und ähnlicher Dinge, im hohen Grade kultiviert. Diese Kulti­vierung aber bindet gerade die Seele dadurch, daß sie eingegossen wird in die physischen Verwandtschaftsgefühle mit dem Irdischen, an die Erde, und dadurch wird das bewirkt, was ich vorhin als ein spirituelles Ideal hingestellt habe. Dadurch werden gewissermaßen diese fortwährenden Wechselzustände zwischen geistigem Leben und physi­schem Leben überwunden, und nach und nach wird das Ideal ver­wirklicht werden: in den zukünftigen Perioden der Erdenentwicke­lung als eine Art Gespenster zu leben, die Erde als eine Art Gespenster zu bewohnen. In dieser Beziehung ist es außerordentlich interessant, daß dieses Ideal vorzugsweise nur in der männlichen Bevölkerung kultiviert werden kann, und daher wird trotz aller äußerer politischer Bestrebungen - die ja scheinbar das Gegenteil wollen, aber in Wirk­lichkeit will man ja in tieferer Beziehung oftmals mit dem, was man äußerlich politisch will, innerlich etwas ganz anderes -, es wird in der anglo-amenikanischen Kultur ein immer größerer Gegensatz eintreten zwischen dem Mannestum und dem Frauentum. Was anglo-amerika­nisches Geistesleben ist, das wird im wesentlichen durch das Frauen­tum auf die Nachwelt kommen; während das, was in männlichen Körpern leben wird, solchen Idealen zustreben wird, wie ich es ge­schildert habe. Das wird auch der Zukunft der anglo-amerikanischen Rasse die Konfiguration geben. Sie wird eine solche Konfiguration bekommen, die dem entspricht, was ich geschildert habe.

Wenn wir nun nach dem Osten schauen, so haben wir da ein völlig anderes Bild. Und nach dem Osten zu schauen, geziemt den heutigen Menschen Mitteleuropas sehr wohl; denn das, was sich im Osten Europas entwickeln wird, ist heute vollständig maskiert, vollständig unterdrückt eigentlich. Was sich augenblicklich im Osten Europas festgesetzt hat, ist natürlich das Gegenteil von dem, was sich aus dem Osten Europas herausentwickeln muß. Denn was sich zum Beispiel

329

im sogenannten Großrußland festgesetzt hat, ist der Kampf gegen jegliches Geistesleben, ist der Kampf gegen alle geistigen Grundlagen der Menschheit, während gewisse geistige Grundlagen der Mensch­heit gerade im Osten zur Entwickelung kommen sollen. Und unsere Zeit ist ja wenig geneigt, die Augen wirklich aufzumachen und den Verstand wachen zu lassen in bezug auf das, was geschieht. Man läßt alles schlafend an sich vorübergehen, obwohl es durchaus notwendig wäre gerade in unserer Zeit, sich Urteilsfähigkeit anzueignen über das, was in unserer Zeitgenossenschaft geschieht. Menschen wie Lenin und Trotzki müßten schon von unseren Zeitgenossen beurteilt werden können, müßten so beurteilt werden können, daß man in ihnen größte, intensivste Feinde der wahren geistigen Entwickelung der Menschheit sehen könnte, wie sie selbst nicht zur Zeit des immer als so abscheulich geschilderten römischen Cäsarentums da waren und auch nicht zur Zeit der vielberüchtigten Renaissancehelden. Die Borgias zum Bei­spiel sind vor dem historischen Geschehen in bezug auf die Bekämpfung des Geistigen wahre Waisenknaben gegenüber dem, was in sol­chen Menschen wie Lenin und Trotzki steckt. Das sind Dinge, die durchaus dem heutigen Menschen entgehen, aber es ist schon not­wendig, daß man manchmal auf solche Sachen aufmerksam macht. Denn auf eines müßte man ja eigentlich die Seelen heute hinlenken. Diese vier Jahre sollten die Menschen gelehrt haben, daß die alte Geschichtslegende, die sich in so vielen Redensarten ausgeprägt hat, nicht weiter bestehen sollte. Es sollte sich einmal das Urteil festsetzen, daß gegenüber den Ereignissen der Gegenwart jene Prägung, die das römische Cäsarentum oder die Renaissancegeschichte bekommen haben, fortan «Pensionsmädelgeschichten» genannt werden sollte; und wer bei den Pensionsmädelgeschichten stehenbleiben will, der braucht sich nicht korrigieren zu lassen von dem, was man heute wachend zur Beurteilung der neuen Vergangenheit lernen kann. Will man also auf das sehen, was sich im Osten vorbereitet, dann muß man natürlich darauf achten, daß sich das recht sehr dem schlafenden Menschengeschlecht eigentlich verbirgt, sich viel mehr verbirgt, als es sich vor einiger Zeit verborgen hat, da man den Osten mehr nach seinen geistigen Schöpfern beurteilt hat, in denen man immerhin

330

manches sehr Richtiges von dem findet, was man nennen kann: An­sätze zu einem wirklichen Verständnis des europäischen Ostens. Die­ser europäische Osten wird allmählich - allerdings in einer noch nicht sehr nahen Zukunft - Menschen erzeugen, die auch einen Überblick über die wiederholten Erdenleben ausbilden werden, aber in einer andern Weise, als ich es beim Westen geschildert habe. Im Westen ist es eine Art Kampf gegen die wiederholten Erdenleben, was sich geltend machen wird; im Osten wird es sein ein Akzeptieren, ein Aufnehmen der Wahrheit von den wiederholten Erdenleben. Es wird in diesem Osten eine Sehnsucht sein, die Menschenseelen so zu erziehen, daß sie auf das aufmerksam werden, was in ihnen lebt nicht nur zwischen Geburt und Tod, sondern was da lebt von Erdenleben zu Erdenleben. Man wird in der Erziehung auf gewisse Dinge hin­weisen, die gerade diese östlichen Menschen hervorragend stark er­leben werden. Man wird schon die Kinder darauf hinweisen, daß im Menschen etwas steckt, was gefühlt, empfunden werden kann, und was sich nicht in dem Leben des Leibes erschöpft. Man wird dem jungen Menschen von seiten des älteren erzieherisch folgendes klar­machen. Man wird ihm sagen: Fühle dich einmal, was fühlst du in deiner Seele? - Indem man ihm diese Frage in der verschiedensten Weise da formulieren wird, wird er darauf kommen: Ich fühle, als ob etwas da wäre; es ist etwas hineingekommen in meinen Leib, es ist schon früher auf der Erde dagewesen, ist durch den Tod durchgegan­gen und wird später wieder kommen; aber es ist mir ein ganz dump­fes Gefühl. - Versuche weiter dahinterzukommen: Wie stellt sich die­ses dumpfe Gefühl zu deinem andern Seelenleben? - so wird man die­sem jungen Menschen weiter erzieherisch beizukommen versuchen. Und unter den verschiedenen Formulierungen der Frage man wird dann die rechte schon finden wird er dahinterkommen und sagen: Was ich da fühle, was immer wieder leben wird, das ist etwas, was mein Denken zerstört; das will mich nicht denken lassen, das will mir die Gedanken töten. - Und das wird ein sehr wichtiges Gefühl sein, das aufgehen wird und heranerzogen wird, aber als etwas Natürliches heranerzogen wird bei den Menschen des Ostens. Ein Gefühl werden sie bekommen, daß in ihnen etwas steckt, was von Leben zu Leben

331

geht, was aber so, wie sie als Erdenmenschen sind, ihnen das Denken benimmt, es betäubt, es ihnen leer macht, abtötet: Ich kann nicht recht denken, es verdumpft sich mein Denken, wenn ich gerade das Tiefere in meinem Menschen fühle; dieses Tiefere in meinem Men­schen begräbt mir mein Denken; ich fühle etwas in mir, was mein Ewiges ist, aber ich fühle es fast wie einen innerlichen Mörder meiner Gedanken.

Das wird so ein Gefühl sein. Unter den mancherlei psychisch außer­ordentlich interessanten Dingen, welche die Welt aus dem Osten noch erfahren wird, wird auch dieses sein. Und mir kommt vor: Die, welche den Osten nur hinsichtlich seiner Kunst und Literatur betrachtet haben, die werden finden, daß sich solche Dinge eigentlich schon an­gekündigt haben. In Dostojewikis Schriften ist man nicht ferne solcher Ankündigung, wo die Menschen nach ihrem Besten, ihrem Vorzüg­lichsten streben; aber wenn sie dahinterkommen, fühlen sie etwas wie einen innerlichen Mörder, einen innerlichen Totengräber ihre Ge­danken. Das ist deshalb, weil sich dort in einer ganz besonderen Form die Bewußtseinsseele ausleben muß, und sie ist von allen Gliedern des menschlichen Seelenlebens, wie ich sonst schon ausgeführt habe, am meisten an die Erde gebunden. Und indem es der Zukunft zugeht und die Seele die Fähigkeit fühlt, die wiederholten Erdenleben zu empfinden, wird sie nicht so fühlen, wie man in der vorchristlichen Zeit, etwa im alten Griechenland gefühlt hat, wo man die Empfindungsseele in aller Lebendigkeit gesehen hat; nein, man fühlt dann auch allmählich die Verstandes- oder Gemütsseele als etwas weiter Zurückliegendes und als das unmittelbar Abtötende der Gedanken.

Und dann wird die Erziehung weitergehen. Diese Seelen werden sich vorkommen wie ein innerliches Grab ihrer eigenen Wesen, aber ein Grab, wodurch Platz gemacht wird für die Offenbarung der geisti­gen Welt, und das wird das nächste Gefühl sein, welches ich jetzt folgendermaßen charakterisieren will. Die Seelen werden sich sagen: Wahr ist es, wenn ich mein Ewiges, das von Leben zu Leben geht, so recht empfinde, so ist es, wie wenn es meine Denkanstrengung tötet; mein Denken wird beiseite geschafft, aber Götterdenken strömt ein und breitet sich über dem Grabe meiner eigenen Gedanken aus.

332

- Das Geistselbst kommt; die Bewußtseinsseele tritt in das Grab, und das Geistselbst tritt auf diese Weise auf. - Ich schildere jetzt nicht mehr bloß schematisch: Da ist einmal die Bewußtseinsseele, dann kommt das Geistselbst, sondern ich möchte Sie hineinführen in die mensch­liche Seele, wie es sein wird, wenn das Ich den Übergang von der Bewußtseinsseele zum Geistselbst allmählich empfinden wird. Ich möchte zeigen, wie es im Osten aufgeht und wie dort empfunden wer­den wird: Das Ewige ist auf der Erde einmal so geworden - was hier ja seit der griechisch-lateinischen Zeit im Abstieg ist -, daß das ge­wöhnliche Denken, das nur aus dem Menschen hervorquillt, gestört wird durch das Ewige im Menschen; man wird leer, aber man wird nicht umsonst leer: in die Leere hinein kommt allmählich die neue geistige Offenbarung, und zuerst in der Form, daß sie sich in der Menschenseele ausbreitet als das Geistselbst.

Solche Dinge vollziehen sich nicht ohne bedeutsame innere Seelen­dramatik, Seelentragik. Unzählige Menschen werden gerade im Osten tiefe innere Seelentragik, tiefes inneres Seelenleiden dadurch erfahren, daß sie spüren werden: Mein innerer Mensch tötet mir meine Gedan­ken. Und eine gewisse Müdigkeit, eine gewisse Dumpfheit wird die Menschen überkommen, weil gerade das, was sie als das Ideal emp­finden, den Menschen zu suchen, ihnen nicht irgendeine Befreiung bringt auf den ersten Schritt hin, sondern eher etwas wie eine Er­dumpfung, eine Abtötung, eine innerliche Ermüdung.

Daß auf diese Verhältnisse objektiv gesehen werden könne, so ge­sehen werden könne, daß man sie versteht, daß man Orientierung in ihnen hat, dazu eigentlich ist die mitteleuropäische Menschheit da. Die erfüllt nur dann ihre Aufgabe, wenn sie wirklich auf solche Ver­hältnisse hinsieht. Zu diesem Ziele aber muß sich die mitteleuro­päische Menschheit wieder an das erinnern, was ich in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» eine vergessene Strömung des Gedankenlebens, des Geisteslebens genannt habe. Es ist schon sehr, sehr wich­tig, daß das, was heute zum großen Teile vergessen ist, was als geistige Verständniskraft in bezug auf die ganze Welt einmal da war, gerade in Mitteleuropa wieder begriffen werde. Wer weiß heute, welches grandiose Verständnis für alle Menschheitskultur solche Persönlichkeiten

333

aufgebracht haben, wie zum Beispiel Friedrich Schlegel eine ist? Wer weiß heute, welche tief bedeutsamen Einblicke in die Mensch­heitsentwickelung Geister aufgebracht haben wie Schelling, Hegel, Fichte? Man redet besonders heute viel von Fichte. Es ist unnötig zu erwähnen, daß die, welche am meisten von solchen Geistern reden, am wenigsten von ihnen verstehen. Und gar jene Belebung des Ver­ständnisses, welche möglich wäre, wenn man im echten, wahren Sinne des Wortes von Goethes Geistesart durchdrungen wird! Dazu ist aber vieles notwendig. Es ist noch nicht einmal heute schon so Bedeut­sames zu erwähnen, daß schon heute zu Goethes Geistesart zurück­gekehrt werden müßte, sondern wichtig ist es, zu erwähnen, daß man uns in der Welt falsch beurteilt, weil wir den Schein erwecken, daß wir von Goethes Geistesart nichts mehr haben. Die Verwandtschaft zum Beispiel unseres Dornacher Baues mit Goethes Geistesart - ich glaube nicht, daß viele Leute von dieser Sache etwas verstehen. Und dennoch wäre es nicht unwichtig.

Was ich Ihnen heute aus einer geisteswissenschaftlichen Betrach­tung wie eine Charakteristik des Westens und des Ostens zu geben versuchte, davon sprechen sowohl die Geister des Westens wie die des Ostens eigentlich doch. Man muß sie nur richtig verstehen. Man muß nur heute das, was selbst aus den politischen Reden des Westens zutage tritt, in der richtigen Weise deuten, und man muß gewisse Instinkte, welche auftreten, im richtigen Zusammenhang mit der menschlichen Seelenentwickelung wahrnehmen können. Der Instinkt für die Erdeneroberung, wie er im Anglo-Amerikanismus herrscht, hängt innig zusammen mit dem Ideal, in der Zukunft irdisches Ge­spenst werden zu wollen. Und das wieder, was sich im Osten ankün­digt, durchdringt ganz und gar den merkwürdigen Vortrag, den Rabindranath Tagore gehalten hat über den «Geist Japans», der jetzt ja auch hier in jeder Buchhandlung zu haben ist. Natürlich steht das nicht darin, was ich jetzt sage, aber es durchpulst alle Empfindungen desjenigen, was ein solcher Geist des Ostens, allerdings des entfern­teren Ostens - signifikanter ist das, was sich im entfernteren Osten an­kündigt -, über das ausspricht, was im europäischen Osten gerade zur Entwickelung kommt. Aber notwendig wäre es, daß man kennen-

334

lernen würde sowohl im Westen wie im Osten, über die ganze Erde hin, was in der mitteleuropäischen Geistessubstanz enthalten ist. Na­türlich sehen die Leute zuerst auf das, was sich äußerlich, physisch darlebt. Wie sollte gerade im Osten - und gerade dort, in Asien, sind jetzt bedeutungsvolle Schriften erschienen, ich erinnere nur noch ein­mal an Ku Hung Ming -, wie sollte ein solcher Mensch des Ostens noch auf etwas anderes hinschauen, wenn der Name Goethe in Be­tracht kommt, als auf die «Goethe-Gesellschaft», die ihren Mittel­punkt in der Stadt hat, aus der Goethes Geisteswirken einmal aus­gestrahlt ist?

Aber da findet man doch auf die merkwürdigste Art dieses Goethesche Geistesleben gepflegt, in einer Weise, wie sie eigent­lich noch niemals da war. Es wäre die Möglichkeit geboten gewesen, nun einmal wirklich fürstliche Munifizenz fruchtbar zu machen für ein weittragendes Geistesleben; denn was die Großherzogin Sophie für den Goetheanismus getan hat, ist unermeßlich großartig. Da war man schon von jener Seite her den Dingen gewachsen. Nur die andern waren durchaus nicht der Sache gewachsen. Eine Goethe-Gesellschaft wurde begründet. Nun, wenn man von außen auf diese Goethe-Ge­sellschaft schaut: Wer vertritt sie? Wer repräsentiert sie? Jemand, in dem der Geist Goethes lebt? Es ist ganz charakteristisch für unsere Zeit, daß sie ein ehemaliger Finanzminister vertritt! Alle die Empfin­dungen, alle die Seelenimpulse, die zu so etwas führen, müssen ins Auge gefaßt werden. Das einzig Hoffnungsreiche in dieser Sache ist der Vorname dieses Finanzministers: Kreuzwendedich, ein Vorname, der bei vielen Geschlechtern üblich ist. Aber solche Dinge werden gewöhnlich auch verschlafen, und diese Dinge dürfen nicht verschla­fen werden. Denn was sich entwickeln muß, ist gerade hier das Ver­ständnis für die Dinge, die in der Welt vorgehen.

Ich habe letzthin darauf aufmerksam gemacht, wie eigentlich zu den fünfzehnhundert Millionen Menschen, die auf der Erde leben, fünf­hundertvierzig Millionen anderer Menschen, Maschinenwesen, durch die Entwickelung der letzten Jahrhunderte dazukommen. Dadurch ist ein wesentlich Ahrimanisches in die Menschheitsentwickelung hineingekommen. Dieses Ahrimanische beruht auf etwas, was ganz not-

335

wendig geworden ist: auf der naturwissenschaftlichen Ergründung der menschlichen Umwelt. Das haben wir das letzte Mal betrachtet. Aber diese naturwissenschaftliche Ergründung hat im Laufe der letz­ten vier Jahrhunderte es notwendig gemacht, daß der Mensch wirk­lich darauf ausgegangen ist, die Natur in ihren Einzelheiten zu stu­dieren, Gesetze und Wesenheiten der Natur in ihren Einzeiheiten ken­nenzulernen. Der Mensch trägt ja sogar diese Art, naturwissenschaft­lich zu betrachten, in alles mögliche hinein, zum Beispiel auch in das Geschichtliche, wo es nicht hineingehört. Es wird sich niemand dar­auf einlassen, auf dem Gebiete der Naturwissenschaft nur immer: Natur! Natur! Natur! zu sagen, gewissermaßen eine Art Pan-Natura­lismus zu begründen, eine Allnatur. Mit der Allnatur würde man die moderne Kultur wenig gefördert haben, aber es gibt immerhin Men­schengesinnungen, welche bei diesem Pan-Naturalismus stehenbleiben wollen. Ich will Ihnen ein Beispiel dafür anführen.

Als ein Ninive-Forscher, Layard, bei dem Kadi von Mosul einmal angefragt hat über die Charaktere der einzelnen Menschen seiner Un­tertanenschaft, über die Vorgeschichte einzelner Staaten, da war das dem Kadi von Mosul schon viel zu viel konkretes naturwissenschaft­liches Denken. Er konnte nicht begreifen, daß man sich darauf einlassen soll, die Charaktere der einzelnen Untertanen zu studieren wie die Landschaft, oder gar die Geschichte der Staaten zu studieren. Das käme, meinte er, von dem europäischen Unfug her, die Natur so stu­dieren zu wollen. Und er sagte zu dem Forscher: Höre, mein Sohn, die einzige wirkliche Wahrheit, die es gibt, ist, an Gott zu glauben. Und diese Wahrheit, an Gott zu glauben, sollte einen abhalten, seine Taten erforschen zu wollen. Siehe hinauf: Da oben siehst du einen Stern, um den ein anderer Stern wandelt. Und einen Stern siehst du, der geschwänzt ist; viele Jahre hat er gebraucht, um hierher zu kom­men; viele Jahre wird er brauchen, um aus unserem Kreise zu treten. Wer wollte so töricht sein, erforschen zu wollen, welches die Bahnen dieses Sternes sind! Diejenige Hand, die ihn geschaffen hat, wird ihn auch lenken und leiten. Höre, mein Sohn, du sagst, daß das nicht Neugier sei, sondern daß du nur wißbegieriger seiest, als ich. Nun, wenn dir dein Wissen das gebracht hat, daß du ein besserer Mensch

336

bist, als du früher warest, so sei mir doppelt willkommen; aber ver­lange nur nicht, daß ich mich darum kümmere. Ich kümmere mich um kein Wissen als um dasjenige, das in dem Glauben an Gott be­steht. Ich verachte alles andere Wissen. Oder ich frage dich: Hat dich denn dieses Wissen, das überall herumstöbert, dazu geführt, daß du einen zweiten Magen bekommen hast? Oder haben dir deine Augen den Blick in ein Paradies eröffnet? - Das sagte der Kadi von Mosul, indem er das naturalistische Wissen damit treffen wollte.

Sie werden vielleicht ein innerliches Lächeln darüber haben, daß der Kadi von Mosul, ein typischer Vertreter dieser Anschauung, diese Gesinnung äußern konnte. Aber der Geisteswissenschaft gegenüber wird, allerdings übertragen auf ein anderes Gebiet, diese Gesinnung auch gar sehr geltend gemacht. Diese «Kadis von Mosul» sind sehr verbreitet. Sie sagen immer wieder und wieder: Ach, es ist durchaus nicht notwendig, daß sich der Mensch in der geistigen Welt um etwas anderes kümmere als um das, was ihm das Vertrauen zu Gott gibt. Wie der Kadi von Mosul die äußere Naturwissenschaft abwies, so weisen innerhalb unserer Gegenden sehr viele Leute - gerade offi­zielle Vertreter des Geisteslebens - die Geisteswissenschaft ab. Erst jetzt ist wieder ein Büchlein erschienen, worin man, obwohl es sonst sehr wohlwollend geschrieben ist, den schönen Satz lesen kann: Das sei das Schlimme an der Geisteswissenschaft, daß sie etwas wissen wolle über die geistige Welt, während die wahre Bedeutung des reli­giösen Lebens gerade darin beruht, daß man nichts wisse von der geistigen Welt, und doch eben das Vertrauen, das große Vertrauen habe, an das zu glauben, von dem man nichts wisse. - Das soll gerade das den Menschen so Auszeichnende sein, daß er sich gestehen kann: Ich weiß nichts, aber ich nehme dieses Göttliche an. - Man sieht heute noch nicht klar ein, was man aber sollte, daß dies mit Bezug auf die geistige Welt ganz genau dieselbe Anschauung ist, wie diejenige in bezug auf die physisch-sinnliche Welt und ihre Erkenntnis, welche den Kadi von Mosul auszeichnete, und über die Sie eben leise ge­lächelt haben. Aber das ist es ja gerade, worauf es ankommt, daß die Menschheit den Übergang zur Erkenntnis des Geistigen ebenso fin­det, wie sie den Übergang zur Erkenntnis des Natürlichen gefunden

337

hat. Das muß stark und klar gesehen werden. Denn davon hängt es ab, ob wir gegen die Zukunft zu überhaupt eine Weltanschauung haben werden, die imstande ist, die menschliche soziale Struktur zu begründen. Diese menschliche soziale Struktur wird ganz gewiß nicht mit dem begründet werden, was man heute Volkswirtschaftslehre oder ähnliches nennt. Alles was bisher als Volkswirtschaftslehre oder Volkswirtschaftsansicht besteht, ist entweder Erbgut aus alten Zeiten, das nicht mehr brauchbar ist, oder es ist strohernes, törichtes Gestrüpp, verdorrtes Zeug. Eine Vokswirtschaft wird es erst geben können, wenn Ideenkraft das Denken durchzieht, das von der geistigen Welt hergenommen ist. Was an offiziellen Schulen als Volkswirtschaftslehre oder als Menschenbeglückungslehre gelehrt wird, das landet schon in den Köpfen solcher Menschenfeinde wie Lenin und Trotzki; das sind die letzten Konsequenzen. Das aber, was die Menschen mit zu­kunftbewirkenden Kräften durchdringen soll, das muß aus der Er­kenntnis der geistigen Welt herkommen. Es mag heute Paradoxie not­wendig sein, wenn man von dem Westen und dem Osten so spricht, wie ich es getan habe. Aber diese Paradoxie enthält die geistigen Wirklichkeiten! Und ohne die Kenntnis dieser geistigen Wirklichkei­ten wird man keine gesunde Gestaltung der immer mehr und mehr in das Chaos hineingehenden irdischen Verhältnisse für die Zukunft finden können. Begriffe, die noch vor wenigen Jahren Bedeutung und Geltung hatten, haben heute keine Bedeutung und keine Geltung mehr. Auf allen Gebieten muß umgelernt werden. Die Religionen werden den Menschen nur dann noch etwas sein können, wenn sie sich mit wirklichem Wissen von den geistigen Welten durchdringen werden. Dazu werden sie lernen müssen - das bezieht sich nicht auf ihren Inhalt, sondern auf die Art und Weise, wie sie allmählich For­men angenommen haben -, sie werden lernen müssen, daß diese For­men nicht geeignet sind, zu dem menschlichen Inneren wirklich zu sprechen, sondern daß sie zu dem menschlichen Inneren nur dann sprechen werden, wenn man an die realen Kräfte appellieren wird, die aus der geistigen Welt kommen. «Die Kadis von Mosul», nun ja, eben die, welche nicht von Mosul sind, sondern von, ich will nicht sagen woher, die müssen auch aufhören auf dem Gebiete des öffent­lichen

338

Lebens. Ich sage das schlicht und anspruchslos heute, aber ich glaube, Sie werden fühlen, daß damit eigentlich recht viel, sehr viel gesagt worden ist.

Nun bleibt uns dann die Betrachtung einer bestimmten Frage: Wie kommt es denn aber, daß den Menschen gar so sehr verborgen bleibt, daß die Menschenseele solche Wandlungen durchmacht, wie sie, ich will sagen, vom 12. Jahrhundert bis heute, dann noch im weiteren Sinne vom 7., 8. vorchristlichen Jahrhundert bis heute durchgemacht hat? Das rührt davon her, daß in der menschlichen Natur noch etwas von einer andern Welt steckt, und dieses Stecken von einer andern Welt gehört wieder zu den tiefsten Mysterien der Menschheit. Man lernt den Menschen nur kennen, wenn man diese andere Welt, die fortwährend ein Interesse daran hat, nicht zur Darstellung zu kom­men, ein wenig kennenlernt. Davon wollen wir das nächste Mal sprechen.

339

ACHTZEHNTER VORTRAG Berlin, 16. Juli 1918

Die Betrachtungen, die ich über den Gang der Menschenseele durch ihre verschiedenen Erdenleben für unseren Menschheitszyklus begon­nen habe, möchte ich fortsetzen, so fortsetzen, daß die heranzuzie­henden Erlebnisse uns nützen können bei der Beurteilung der Ereig­nisse unserer unmittelbaren Gegenwart. Zu diesem Ziele möchte ich heute eine gleichsam mehr auf das Äußere, heute über acht Tage eine mehr auf das Innere gehende Beobachtung vor Ihnen entwickeln.

Wir haben ausgeführt, wie die Menschenseele bei ihrem Durchgang durch die aufeinanderfolgenden Erdenleben, wenn wir auf die uns zu­nächst interessierenden drei Zeiträume blicken: die ägyptisch-chal­däische Zeit, die griechisch-lateinische Zeit und unsere Zeit, während welcher ja die Menschenseele durch verschiedene Inkarnationen durchgegangen ist, wie diese Menschenseele - als Seele, als Selbst betrachtet - jedesmal eigentlich etwas Neues, etwas anderes erlebt als in einer vorhergehenden Inkarnation. Wir brauchen uns nur noch einmal vor die Seele zu rufen, wie es mit den Seelen sein wird, die jetzt, in unserer Zeit, durch die Erdeninkarnation durchgehen und die dann nach einer verhältnismäßig normalen Zeit wiederkommen, wie sie zwar nicht alle Leute absolvieren, aber doch sehr viele.

Wir haben schon öfter darauf aufmerksam gemacht und haben es das letzte Mal wiederholt, daß die Seelen, die durch die jetzige Erden­inkarnation durchgehen, im wesentlichen so wiederkommen werden, daß sie in irgendeiner Form - und die genauere Form habe ich das letzte Mal entwickelt - durch eigenes inneres Erleben ganz sicher wissen können: Es gibt wiederholte Erdenleben. Dieses Wichtige wird sich im nächsten Zeitalter vollziehen, daß die Seelen übergehen werden von der jetzigen Ungewißheit über die wiederholten Erdenleben zu einem Wissen von ihnen. Wie gesagt, das Genauere haben wir das letzte Mal ins Auge gefaßt. Aber noch etwas möchte ich be­tonen.

Ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß ein wichtiger Zeit

340

abschnitt der ist, welcher etwa mit dem 7. oder 8. Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha beginnt. In den ersten Jahrhunderten dieses Zeitraumes haben durch die alten Hellsehergewohnheiten ver­hältnismäßig viele Seelen noch in ihre früheren Erdenleben zurück­blicken können. Aber weil sie so zurückgeblickt haben, daß in dem damaligen Erdenleben die Empfindungsseele besonders ausgebildet war, haben die Seelen, indem sie zurückblickten, gesehen das Verhal­ten des Menschen in der äußeren Welt. Sie haben gewissermaßen ein anschauliches Bild davon bekommen, wie der Mensch in der äußeren Welt herumgegangen ist, was ihm in der äußeren Welt passiert ist. Dies allerdings werden die Seelen in der nächsten Zeit, von uns ab gerechnet, nicht haben können. Da wird der Rückblick mehr auf das Seelische gerichtet sein. Man wird weniger einen Einblick darin haben können, wie der Mensch im Raume herumgeht, was ihm im Raume geschieht und so weiter; man wird weniger einen bildhaft realen In­halt im sinnlichen Sinne haben, sondern man wird mehr ein Zurück­blicken auf ein Seelisches haben.

Ich erwähne das noch einmal aus dem Grunde, weil Sie daraus sehen können, daß die Seelen in den aufeinanderfolgenden Erdenleben sehr, sehr verschieden erleben. Und da muß jedem eine Frage sich vor die Seele drängen, die Frage: Wie kommt es, daß die äußere Welt eigent­lich die Meinung hat, wenn man so in frühere geschichtliche Zeit­räume zurückblickt, so hat sich in bezug auf den Menschen eigentlich nichts so besonders geändert. - Nehmen wir die landläufigen Ge­schichtsdarstellungen es sind ja auch einige von ihnen, nicht alle, gut gemeint -: Sie werden immer wieder und wieder finden, daß eigentlich zurückgegangen wird bis zu einem gewissen Zeitpunkt, bis zu dem die historischen Nachrichten und Dokumente gehen. Aber die Struktur der Menschenseele denkt man sich für alle diese Zeiten eigentlich gleich. Man denkt sich eine gewisse Entwickelung, aber die ist nicht so radikal gedacht, als sie gedacht werden muß im Sinne der Darstellung, die wir auf Grund der geisteswissenschaftlichen Ergeb­nisse machen können. Woher kommt das, daß man eigentlich kein rechtes Bewußtsein hat von der Umwandelung der Menschenseele? Diese Frage wird sich einem vor die Seele drängen.

341

Wenn man, aber jetzt mit geisteswissenschaftlichem Blick, die ge­schichtlichen Ereignisse betrachtet, so ist in der Tat, man möchte sagen, alles seit längerer Zeit so geschehen, daß im Grunde genom­men der Mensch von der Selbsterkenntnis seiner Seele eher abgehal­ten worden ist, als daß er zu ihr hingeführt worden wäre. Wie die Menschenseele von Inkarnation zu Inkarnation sich verändert, man kann es eigentlich nur wirklich durchschauen, wenn Selbsterkenntnis, wirkliche Selbsterkenntnis Platz greift. Aber diese Selbsterkenntnis ist eigentlich durch die Ereignisse, die wir eben jetzt zu würdigen haben, gar sehr zurückgedrängt worden. Wir könnten signifikante Beispiele dafür aufzeigen, wie Selbsterkenntnis gerade in der neueren Geschichte der Menschheit zurückgedrängt worden ist. Eine gewisse Brüder­schaft, die Sie alle kennen, die sich die Freimaurerbrüderschaft nennt, glaubt - und manche ihrer Mitbrüder wiederum gutmeinend - ganz gewiß, zur Selbsterkenntnis innerhalb ihrer Reihen die Menschen an­zuhalten. Diese Brüderschaft hat verschiedene Symbole, denen man es ansieht, sobald man nur mit geisteswissenschaftlicher Erkenntnis an sie herantritt, daß sie tiefsinnige, bedeutsame Symbole sind, die eigentlich alle schon geeignet wären, zur menschlichen Selbsterkenntnis zu führen. Aber sie tun es nicht. Es ist sehr merkwürdig: Wenn man die offiziellen Geschichten, die aus freimaurerischen Kreisen, aus dem Freimaurertum hervorgegangen sind, liest, so wird von den Auf­geklärteren gemeint, daß man etwa nur bis ins 18., 17. Jahrhundert zurückzugehen habe, um das neuere Freimaurertum kennenzulernen. Aber was in den Symbolen der Freimaurerei liegt, das ist vom 17. Jahr­hundert ab geradezu verhüllt worden, ist geradezu in etwas verwan­delt worden, das man anschaut, das man mitmacht und demgegenüber man immer weniger Bedürfnis hat, es zu verstehen. Würde man sich dieser freimaurerischen Symbolik nähern mit Begabung für das Ver­ständnis derselben, so würde dies schon einen Weg zur Selbsterkennt­nis des Menschen geben. Denn alle diese Symbole sind dazu veranlagt. Aber die wirkliche Entwickelung des Freimaurertums hat einen an­dern Weg genommen: die Selbsterkenntnis zu verdecken, sie dadurch unmöglich zu machen, daß man sich bloß äußerlich auf die Symbolik einläßt. Und so könnte man eigentlich, vom Standpunkte der Wahrheit

342

angesehen, sagen: Die Entwickelung des neueren Freimaurer­tums ist im Grunde genommen die Entwickelung einer Gemeinschaft zur Unverständlichmachung derjenigen Symbole, welche innerhalb dieser Gemeinschaft leben. - Es ist, wie wenn geradezu das Programm, unbewußt, herrschte, die Symbole unverständlich zu machen, weil gerade in dieser Zeit, über die man bei den aufgeklärten, nicht bei den mystischen Freimaurern - die neuere Freimaurerei sich erstrecken läßt, die Angst vor der Selbsterkenntnis die Menschen im höchsten Maße ergriffen hat. Man redet viel von Selbsterkenntnis; man redet viel davon, daß der Mensch sein göttliches Selbst, sein höheres Selbst und so weiter suchen müsse. Aber das alles ist ja Gerede. Das alles ist eigentlich auch mehr dazu da, um den wirklichen Weg zur Selbst­erkenntnis zu verrammeln, nicht ihn zu ebnen. Und wir müssen uns fragen: Woher kommt diese Abneigung, diese Angst vor einer ge­wissen Selbsterkenntnis? Und da möchte ich heute zunächst einmal die Sache etwas äußerlicher betrachten.

Wir sehen ja, daß es nicht bloß auf diesem einen Gebiete so ist, auf dem Gebiete der Freimaurerei, sondern wir sehen dieses auch in der ganzen Breite der neueren Kultur in einer ganz merkwürdigen Weise vorhanden. Wir sehen, wie diese neuere Kultur namentlich in der Ausbreitung des Christentums eigentlich den Weg des Verdeckens, des Vertuschens der Selbsterkenntnis geht. Und das ist ein außer­ordentlich interessanter, ein außerordentlich bedeutungsvoller Weg. Wenige Menschen nehmen sich heute die Mühe, einmal bessere Schil­derungen, die aus weiter auseinanderliegenden Jahrhunderten ge­nommen sind, wirklich zu vergleichen, und noch weniger Menschen denken darüber nach, wie eigentlich die Dinge sich verhalten, die da vor ihre Seele treten. Es ist ja ein noch nicht vielsagendes, aber immer­hin nicht uninteressantes seeisches Experiment, das Sie machen kön­nen, wenn Sie eine solche Schrift nehmen wie «Das Leben Michel­angelos» von Herman Grimm. Es ist eine Schrift eigentlich mehr über das Zeitalter des Michelangelo, eine Schrift, die über die Zeit handelt, aus der er herausgewachsen ist. Versuchen Sie aber auf Grundlage dieser Schrift sich vorzustellen, wie die Welt um Sie herum sein würde, wenn Sie spazieren gingen in der Welt, welche Herman Grimm als

343

diejenige Michelangelos schildert; und versuchen Sie, diese Welt zu vergleichen mit derjenigen, die Sie jetzt erleben: Der Unterschied ist ein ganz ungeheurer! Aber das will noch nicht viel besagen, denn die Jahrhunderte, auf die wir da den Blick richten, liegen nicht sehr weit auseinander. Etwas anderes aber kommt schon heraus, wenn man wirklich nun sinnig den Blick richtet auf das Zeitalter mit seinen Vor­bereitungen und seinen Nachwirkungen, wo sich der große Um­schwung in der neueren Zeit vollzogen hat. Wenn wir auf die drei großen Zeiträume zurückblicken, die sich uns aus der Geisteswissen­schaft heraus zunächst für unseren jetzigen Erdenzyklus darstellen, so schließt der dritte Zeitraum etwa mit dem 7. oder 8. vorchristlichen Jahrhundert, und der vierte Zeitabschnitt schließt mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Da, mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts, ist ein uns nicht sehr weit abliegender, wichtiger, bedeutungsvoller Umschwung im Seelenleben der Kulturmenschheit doch schon vorhanden. Man stellt ihn nur gewöhnlich geschichtlich kaum dar. Man fragt sich: Warum stellt man ihn nicht dar? Es ist eben im Grunde genommen auch darin die Angst vor einer Selbst­erkenntnis und auch vor einer Erkenntnis des menschlichen Seelenlebens vorhanden. Sie würden zum Beispiel Interessantes erleben, wenn Sie Beschreibungen lesen würden über eine solche Persönlich­keit wie die des heiligen Bernhard von Clairvaux. Bernhard, die viel­leicht bedeutsamste Persönlichkeit des 12. Jahrhunderts etwa, die be­deutsamste Persönlichkeit desjenigen Zeitalters, mit dem der vierte nachatlantische Kulturzeitraum seinem Ende zugeht, diese Persön­lichkeit weist eine Seelenstruktur auf, wie sie später, nach dem 15. Jahr­hundert, in Europa überhaupt nicht mehr möglich ist. Wie es in der Seele eines solchen Menschen ausgesehen hat, das ist sogar für die heutigen Menschen außerordentlich schwierig zu schildern, weil eigentlich alle Vorbedingungen dazu fehlen, um zu Vorstellungen zu kommen, wie es in einer solchen Seele ausgesehen hat. Aber ich rate Ihnen an, Lebensbeschreibungen des heiligen Bernhard zu lesen aus dem Grunde, weil Sie daraus ersehen können, was die andern Men­schen für Eindrücke am Seelenleben des heiligen Bernhard gehabt haben. Wenn man diese Lebensbeschreibungen liest, sagt man sich:

344

Was sind dagegen eigentlich die Wunderberichte der Evangelien? Die paar Kranken, nach den Evangelien gesprochen, die der Christus Jesus selbst - immer nach den Evangelien - gesprochen geheilt hat, das ist eine Kleinigkeit gegen die ungeheuer breite Schilderung der Wundertätigkeit des heiligen Bernhard, fast zwölf Jahrhunderte dar­nach! Die Zahl derjenigen Menschen, von denen gesagt wird, daß er sie als Blinde sehend, als Lahme gehend gemacht hat, sie läßt sich gar nicht vergleichen mit den Zahlen, die man herausbekommt, wenn man die ähnlichen Berichte der Evangelien nachrechnet. Die Beschreibung der Eindrücke der Predigten des heiligen Bernhard ist eine sol­che, daß man fühlt: Wenn er irgendwo gesprochen hat, dann war das, was er gesprochen hat, wie die Ausbreitung einer weithin intensiv wirkenden geistigen Aura. Eine Realität lebte in den Worten dieses Mannes, von der man sich jetzt keine Vorstellung mehr macht. Wollte man alles schildern, was für den Eindruck bezeichnend ist, den diese Persönlichkeit auch dazumal noch gemacht hat, so würde man natür­lich heute auf ungläubige Menschen stoßen müssen, weil gar keine Möglichkeit vorhanden ist, um aus dem, was heute geschieht, sich Vorstellungen über die Anschauung zu machen, die man damals von einer solchen Persönlichkeit gehabt hat, wie es der heilige Bernhard war. Nun, auf die innere Struktur seiner Seele einzugehen, das ist, wie gesagt, heute aus dem Grunde schwierig, weil auch in diesem Kreise - die Vorbedingungen dazu fehlen. Aber auf eines darf ich doch hinweisen.

In dieser Persönlichkeit lebte eine ungeheure Hingabe an die gei­stige Welt, ein absolutes Aufgehen in der geistigen Welt. Heute er­scheint es den Menschen ganz selbstverständlich, daß, wenn man sich irgend etwas vornimmt, es dann ausführen will - und es geht nicht, so wird einem zweifelhaft, ob das Vorgenommene richtig war. Eine solche Persönlichkeit, wie der heilige Bernhard, wird nie zweifelhaft; denn das, was er irgendwie sich vorgenommen oder andern geraten hat, das hat er immer zuvor mit seinem Gotte in den geistigen Welten beraten. Und selbst bei solchen Fehlschlägen wie die, welche er bei den Kreuzzügen erlebt hat, wo alles, was er geraten hat, fehlgeschlagen ist, wird er keinen Augenblick irre, daß doch seine Gedanken absolut

345

richtig waren, und daß die Diskrepanz zwischen dem, was in der Wirklichkeit der äußeren Sinneswelt geschehen ist, und dem, was er gedacht hat unter dem Einfluß der geistigen Welt, sich schon auf eine, irgendeine Weise rechtfertigen lassen wird, sich schon aufklären wird.

Aber indem man eine solche Persönlichkeit herausgreift, sagt man eigentlich über einen einzelnen - allerdings Hervorragenden dies, was da gesagt werden kann. Aber es ist das keineswegs etwas, was auf den einzelnen beschränkt ist, es ist die Signatur des ganzen Zeitalters. Es ist die Signatur des Zeitalters in Europa, wie es etwa im 3., 4. nachchristlichen Jahrhundert beginnt und bis zum 13., 14., 15. Jahrhundert andauert. Natürlich bereitet sich innerhalb dieses Zeitalters auch etwas anderes vor. Aber was sich als anderes vorbereitet, das kommt doch als die Zeit tief beeinflussend, der Zeit das Gepräge aufdrückend, erst nach dem 14., 15. Jahrhundert zum Ausdruck. Es ist die Zeit vom 3. bis 15. Jahrhundert diejenige der sich immer weiter und weiter konsolidierenden Glaubenskraft, die Zeit, in der unter dem Eindruck dieser Glaubenskraft eben die Ereignisse der Zeit unternommen wer­den. Bitte, auch gerade, indem ich dieses Kapitel bespreche, auf etwas Rücksicht zu nehmen, das ich eigentlich bei diesen Vorträgen immer fordere, aber das an solchen Stellen ganz besonders wichtig ist: Ich wähle die Worte so, daß sie nicht durch andere ersetzt werden können. In dem Augenblick, wo man die wohlgewählten Worte durch andere ersetzen wollte, schildert man nicht mehr geschichtlich richtig. Wer also das, was ich eben gesagt habe: Es war das Zeitalter der sich konsolidierenden Glaubenskraft -, ersetzen würde durch den Satz: Es war das Zeitalter der sich konsolidierenden Frömmigkeit -, der würde etwas ganz Falsches darstellen. Das meine ich durchaus nicht. Glau­benskraft war es, wie ich es bei Bernhard charakterisiert habe. Bern­hard ist gewiß auch ein frommer Mann. Aber fromm kann man auch sein als persönlicher Charakter. Was aber damals in den Ereignissen gewirkt und gelebt hat in den Jahrhunderten, von denen ich gespro­chen habe, das steht unter dem Einflusse der Glaubenskraft.

Glaubenskraft ist ja in jedem Zeitalter vorhanden. Aber nicht für das Historische ist in jedem Zeitalter die Glaubenskraft maßgebend. Es wird auch unser jetziges Zeitalter wiederum von einem solchen

346

abgelöst werden, in dem die Glaubenskraft wieder, vorübergehend, sporadisch, eine bedeutende Rolle spielen wird. In der Gegenwart aber ist das noch nicht der Fall. Es wird zum Beispiel der Aberglaube in die materialistische Medizin in der Zukunft groteske Formen an­nehmen. Die Glaubenskraft wird da schon eine große Rolle noch spie­len, aber gegenwärtig ist es noch nicht so weit. Gegenwärtig ist es mehr ein Dämmern, ein Schlafen der Menschheit, was für die histo­rischen Ereignisse eine ganz bedeutsame, eine große Rolle spielt. Nun kann man die Frage aufwerfen: Wie kommt es eigentlich, daß diese Glaubenskraft in Europa ein so bedeutsamer geschichtlicher Impuls wird, der Impuls, der eigentlich am bedeutsamsten dasjenige einleitet, was dann im 15. Jahrhundert heraufkommt als der fünfte nach-atlantische Kulturzeitraum, in dem wir jetzt leben?

Zunächst ist es etwas scheinbar recht Äußerliches, was die Grund­lage geliefert hat für das Heraufkommen der Glaubenskraft, das ist das, was im wesentlichen bedingt hat den Untergang des Römischen Reiches. Was vom 3.,4. nachchristlichen Jahrhundert bis zum 15. Jahr­hundert herrschende geschichtliche Impulse sind, setzt sich an die Stelle desjenigen, was die Impulse des Römischen Reiches waren. Es gibt natürlich eine ganze Anzahl von Impulsen, die den Untergang des Römischen Reiches herbeigeführt haben, aber ein ganz wesent­licher ist der, daß durch den Gang der römischen Geschichte allmäh­lich das Geld abgeflossen war nach dem Orient. Mit der Ausbreitung des Römischen Reiches mußten die Legionen immer mehr und mehr an den Rand des großen Reiches geschoben werden; man mußte den Sold den Leuten immer mehr und mehr in Geld auszahlen, nicht in Naturalien, wie es möglich war, solange das Römische Reich enger war. Dadurch aber hat sich mit dem sich ausbreitenden Reiche der Geldreichtum nach und nach wirklich nach dem Orient verschoben, und ein wesentliches Kennzeichen Europas in den Jahrhunderten, namentlich in der ersten Zeit dieser Jahrhunderte, vom 3., 4. an, ist seine Geldarmut, namentlich seine Armut an Metallgeld. Damit hän­gen manche andere Dinge zusammen, und es ist wichtig, daß man sich über diese Dinge nicht in mystische Schwärmereien ergeht, sondern daß man sich den gesunden Blick für die Wirklichkeit schon

347

bewahrt. Die «Goldmacherkunst», die Alchimie, ist zum Teil in Europa dadurch bedingt, daß das Gold nach dem Orient abgeflossen war, und man dachte, man könnte es machen, könnte es schaffen, man könnte sich wieder reich machen. Hinter der Alchimie, wie sie sich in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters herausbildet, steckt vielfach als Grund die Verarmung an Geld, die durch die Ausbreitung des Römi­schen Reiches gekommen ist. Damit hängt wieder zusammen, daß in diesen Jahrhunderten in das verarmte Römische Reich die Völker­schaften hereinrückten, die vom Norden kamen, die heidnische An­schauungen, heidnische Kultur, heidnische Empfindungen hatten, die wenig verstanden von jener sozialen Struktur, die im Römischen Reich allmählich immer mächtiger geworden war gerade unter dem Einfluß des Geldes. Die Römer haben das als recht unbehaglich empfunden, nachdem ihnen das Geld nach dem Orient abgeflossen war. Die nachrückenden germanischen Völker haben sich dabei recht wohl befunden.

In diese Stimmung des Römischen Reiches hinein fällt die Ausbrei­tung des Christentums. Man stellt es heute nicht mehr dar, aber es ist so, daß auf den Wellen des sich ausbreitenden Christentums in den ersten Zeiten durchaus eine tiefsinnige Geistesanschauung lebte. Es ist ja heute geradezu eine heillose Angst, besonders in theologischen Kreisen, vor der sogenannten Gnosis vorhanden. Vielfach, wenn man frägt, warum denn die Menschen unsere Geisteswissenschaft, nament­lich in theologischen Kreisen, nicht mögen, sie sogar fürchten, so bekommt man vielfach die Antwort, diese Geisteswissenschaft könnte zu einer Erneuerung der Gnosis führen. Und das ist schon ein Grund, die Sache abzulehnen. Gnosis ist ja nichts anderes - natürlich muß sie in unserem heutigen Zeitalter anders auftreten, als sie in den ersten Jahrhunderten des Christentums aufgetreten ist - als ein positives Wissen über die geistige Welt, die Fähigkeit des Menschen, Einblicke in die geistigen Welten zu gewinnen, so wie man durch die Sinne Ein­blicke gewinnt in die physischen Welten. Man kann heute Leuten be­gegnen, die sich lustig machen über die Streitigkeiten, die es einmal darüber gegeben hat, ob der Geist vom Vater oder vom Sohne aus­geht oder irgendwie anders zusammenhängt mit Vater und Sohn. Mit

348

solchen Begriffen verbinden die Leute heute gar keine Vorstellung mehr. Dazumal hatte man schon Vorstellungen damit verknüpft. Wer mit wirklicher Kenntnis die Geschichte der ersten christlichen Jahr­hunderte schreiben würde, der würde sehen, daß in dieser Dogmenentstehung schon Geist steckt, nur findet man ihn heute nicht mehr. Es war auf den Wellen des sich ausbreitenden Christentumes schon eine tief bedeutsame Geistesanschauung vorhanden, und man kann verfolgen, wie diese Geistesanschauung in dem sich ausbreitenden Christentum bis ins 9. Jahrhundert hineinragt. Studiert man in den Einzelheiten dieses sich ausbreitende Christentum, so findet man, daß die spätere Ansicht, wonach die religiöse Anschauung sich darauf be­schränken solle, von Glaubenskraft sich zu durchdringen und möglichst wenig auf Einzelheiten der geistigen Welt sich einzulassen, dadurch entstanden ist, daß man mit einem gewissen richtigen Blick die Völ­kerschaften angeschaut hat, aus denen sich das neue Europa herausbilden sollte. Es waren heidnische Völkerschaften, Völkerschaften aber auch, die im Denken, in der Verbindung in der Ausbildung von Begriffen, die in die geistige Welt hineinführen, es nicht sehr weit gebracht haben; es waren starke, kräftige, elementarisch gesunde Menschen, aber nicht gerade Menschen, deren geistige Veranlagung dahin ging, sich sehr konkrete Vorstellungen über irgend etwas Gei­stiges zu machen.

So hat man denn, um das Christentum zur Ausbreitung zu bringen, sich diesen Völkerschaften angepaßt. Man wandte sich mehr, weil diese Leute weniger denken konnten, an das Gemüt, wie man sagt, an die Glaubenskraft. So sieht man, wie im 10. Jahrhundert eigent­lich schon alles Geistesschauerische aus dem Christentum mehr oder weniger verschwunden ist, aber alles hat sich zusammengedrängt in die Glaubenskraft. Und das, was man anschaute in der Glaubenskraft, was man neben sich zu haben meinte in der Glaubenskraft, das war Seeleninhalt für die Menschen allmählich geworden. Die Seelen leb­ten schon anders, als sie jetzt leben. Man muß sich vorstellen, was eine solche Seele damals bei einer Legende erlebte. Ich will nur eine einfache Legende erzählen, die aber überall damals verbreitet wurde, die sinnig ist. Sie lautet so: Der heilige Bernhard ritt einmal auf einem

349

Esel. Er hatte einen Mönch bei sich. Dieser Mönch litt, wie man heute sagen würde, an Epilepsie. Er fiel immer um. Das sah gerade der hei­lige Bernhard, als dieser Mönch ihn begleitete und ihm den Esel führte. Da wandte er sich an seinen Gott, daß dieser Mönch fortan niemals den epileptischen Anfall erhalten solle, ohne daß er es vorher wisse. Und die Legende erzählt weiter, der Mönch lebte noch zwan­zig Jahre, und jedesmal, wenn er wieder einen Anfall bekam, wußte er es vorher; er konnte sich ins Bett legen und zerschlug sich nicht die Glieder, wenn er wieder umfallen wollte.

Es ist eine einfache, harmlose Sache, aber eine Sache, die tief wirkte, die damals überall erzählt wurde. Denn man fühlte seine Seele stark, wenn man die Tragkraft der Glaubenswirklichkeit empfinden konnte, und die Menschen lebten in der Aura dieser Empfindung.

Nun wäre es nicht möglich gewesen, daß die Glaubenskraft sich so konsolidieren konnte, wenn Europa nicht gewissermaßen durch die Jahrhunderte, die ich angeführt habe, sich isoliert hätte. Das Geld war nach dem Orient abgeflossen; damit hatte der Handel allmählich aufgehört. Europa war eine Zeitlang im wesentlichen beschränkt auf seinen Ackerbau. Aber das ist ein geradezu tief bedeutsames Symptom für die Entwickelung Europas in diesen Jahrhunderten, daß ein Drit­tel des europäischen Bodens an diejenigen übergeht, die die Träger dieser Glaubenskraft sind: In den klrchlichen Besitz geht ein Drittel des Bodens in dieser Zeit über. Es ist, wie wenn das, was gelebt hat, nur durch das römische Element unterbrochen, im ganzen vierten nachatlantischen Zeitraum sich in diese Glaubenskraft zusammen­gedrängt hätte. Aber eines ging verloren gerade unter dieser Erstar­kung der Glaubenskraft, verloren ging der Fortschritt im eigentlichen Christus-Bewußtsein. Man darf nicht vergessen, daß im höchsten Stile von Christus gewußt worden ist in der Zeit der ersten christlichen Jahrhunderte bei denen, welche die Christus-Gestalt, die Christus­-Wesenheit hineinstellen konnten in den ganzen Zusammenhang der Kräfte der geistigen Welt. Für diejenigen, die zuerst ergriffen waren von der Christus-Gestalt, war der Grund ihres Ergriffenseins ja der, daß sie hinaufschauten in die geistige Welt und gewissermaßen die Annäherung der Christus-Gestalt durch die geistigen Welten durch

350

Äonen hindurch zur Erde her erblickten, und diese ganzen Ereignisse von Golgatha anschließen konnten an alles Geschehen im Kosmos. Das war das Ergreifende des Ereignisses von Golgatha, daß die, die es zuerst auslegten, es sich so zurechtlegten, daß das, was auf der Erde geschah, das Herabfließen eines Ereignisses aus den Welten des gro­ßen kosmischen Geschehens war.

Daß man das heute anders darstellt, das weiß ich sehr wohl. Aber wenn man sagt, man müsse zurückgehen auf die schlichten, einfachen Vorstellungen, die man in den ersten Jahrhunderten von dem Christus Jesus hatte, so redet man eben nur von seinen eigenen Liebhabereien, weil man verdecken will die Größe der Christus-Idee und den tiefen Einblick, den die ersten Jahrhunderte in das Mysterium von Golgatha hatten. Deshalb brachte man die Lieblingsidee auf: Alles war schlicht, alles war so, daß der Christus Jesus womöglich nichts weiter war als, wie mancher heute sagt, «der schlichte Mann aus Nazareth». Man wundert sich bei solchen Dingen vielleicht weniger, wenn man diese Anschauung bei jüngeren Leuten findet. Ältere Leute müßten aller­dings wissen, daß wir selbst in unserer Zeit mit Bezug auf diese Dinge einen bedeutungsvollen Umschwung erlebt haben. Ich habe es oft gehört, daß gesagt wird: Solche Dinge, wie sie in der Geisteswissen­schaft dargestellt werden, kann man ja nicht verstehen; die sind sehr schwer verständlich. - Ja, wenn es keine Hindernisse, keine äußeren Hindernisse gäbe! Vor noch dreißig Jahren würden gerade die schlich­ten Leute auf dem Lande draußen diese Dinge voll verstanden haben. Im Laufe der letzten Jahrzehnte aber ist es anders geworden. Die älte­ren Leute könnten noch etwas davon wissen, wie Schriften, wie zum Beispiel die des Jakob Böhme oder des Eckartshausen, Schriften, die sehr, sehr versuchen, in die Konkretheit der geistigen Welt einzu­führen, gerade von einfachen Bauerngemütern vor Jahrzehnten noch aufgenommen worden sind. Oberflächlich ist unser Geistesleben ledig­lich durch das Bourgeoistum geworden. Das hat seine Lieblingsidee immer mehr und mehr zum Ausdruck gebracht, daß das Wahre, wie man sagt, «einfach» sein müsse, wobei man nichts anderes meint, als, es müsse auf bequeme Weise, ohne viel Nachdenken, von jedem er­faßt werden können. Heute sind allerdings nicht mehr viel Belege,

351

auch in den schlichten Gemütern nicht, dafür zu finden, daß in den ersten Jahrhunderten des Christentums schon geredet werden konnte, gerade diesen schlichten Gemütern gegenüber, von hohen geistigen Dingen, wenn man von dem Christus Jesus sprach. Das heißt aber: Was dann in den folgenden Jahrhunderten geschehen ist, das ist eigent­lich geschehen, um gewissermaßen zunächst auch die Christus-Er­kenntnis für die Menschheit wiederum etwas zu verdecken, die Chri­stus-Erkenntnis nicht sehr nahe an die Menschen herankommen zu lassen.

In diesen Dingen hat man nötig, die Wirklichkeit anzuschauen, nicht das, was man sich einbildet. Es gehört zu den tiefsten Anfor­derungen unseres Zeitalters, daß man wiederum lerne, die Wirklich­keiten anzuschauen. Ich muß dabei immer an ein Beispiel erinnern, weil es recht anschaulich ist. Ich habe einmal in Kolmar einen Vor­trag gehalten über Christentum und Weisheit. Bei diesem Vortrage waren auch zwei katholische Geistliche anwesend. Die hatten natür­lich nie von so etwas gehört, selbstverständlich; aber weil sie jeden­falls noch nichts darüber gehört hatten das wirkte ja dazu mit , kamen sie nach dem Vortrage an mich heran, denn das, was ich gesagt hatte, kam ihnen gar nicht so schlimm vor. Es wäre ihnen wahrschein­lich nur schlimm vorgekommen, wenn sie schon etwas von ihren ent­sprechenden Oberen gehört hätten, und dann hätten sie wahrschein­lich eben Unsinn gehört. Nur das eine wendeten sie ein. Sie sagten: Was Sie da sagen, ist ja alles schön; so über die geistige Welt zu reden, ist schön. Aber das versteht ja die Menschheit gar nicht. Wir reden so, wie es die Menschheit verstehen kann. - Ich sagte: Wissen Sie, Hochwürden, wie man zur Menschheit zu sprechen hat, das dür­fen nicht Sie und nicht ich nach unseren Lieblingsmaximen auslegen. Auf diese Lieblingsmaximen kommt es nicht an; denn selbstverständ­lich, wenn wir nach unseren Lieblingsmaximen urteilen wollten, so würde Ihnen die Art gefallen, wie Sie reden, und mir würde die Art gefallen, wie ich rede. Aber darauf kommt es nicht an. Sondern es kommt darauf an, wozu uns unser Zeitalter verpflichtet: ja nicht solche Fragen, wie Sie sie eben aufwerfen, nach unseren Lieblings­maximen zu beantworten, sondern sie uns von der Wirklichkeit

352

beantworten zu lassen. Und da gibt es eine naheliegende Antwort. Ich frage Sie: Gehen heute alle Leute zu Ihnen in die Kirche, da Sie glauben, Sie sprechen zu allen Leuten? Da könnten Sie wahrheits­getreu nur sagen: Es bleiben auch manche draußen. Darauf könnte ich sagen: Das ist die Antwort der Wirklichkeit! Für die, welche bei Ihnen draußen bleiben, spreche ich, und die haben auch ein Recht, den Weg zum Christus Jesus zu finden. Man frage nicht sich, sondern man frage die Realität, man frage das Zeitalter. Denn was man durch sich selbst als Antwort bekommen kann, das weiß man ja. Es scheint so sehr einfach zu sein; aber lernen, die Verpflich­tung zu fassen, die einem das Zeitalter gibt, das ist nicht so einfach. Und nur, wenn man mit sich recht sehr zu Rate geht, wird man er­kennen, was eigentlich hinter dem liegt, was ich jetzt eben gesagt habe.

Was der Menschheit heute nottut, das ist eben grade: objektiv werden, mit der Umgebung leben lernen. Wenn wir verstehen, den Impuls zu fassen, der hier gemeint ist, dann werden wir uns auch mit der Wahrheit abfinden können, wie allmählich unter dem Einfluß der Zeitereignisse in den Jahrhunderten, von denen ich gesprochen habe, die höhere Erkenntnis, das Hinaufblicken zu dem geistigen Zusam­menhang zwischen dem Mysterium von Golgatha und dem kosmi­schen Geschehen allmählich in Europa dahingeschwunden ist. Der Christus ist den europäischen Gemütern ferngerückt worden; er hat sich zusammengezogen auf dasjenige, was man fassen wollte, was man sich vorstellen wollte. Aber es kommt darauf an, daß man die Wirklichkeit faßt, nicht das, was man fassen will. Heute hört man sehr häufig, der Mensch soll seinen Gott suchen, im Inneren werde er diesen Gott finden; er soll sich in seinem Inneren mit seinem gött­lichen Selbst vereinigen, dann wird er den Gott finden. Insbesondere nehmen die Leute daran Anstoß, daß die Geisteswissenschaft betonen muß: Wenn wir aus der Welt, in der wir leben, hinauskommen in den Geist, dann finden wir Hierarchien, dann finden wir, wie wir hier eine reich gegliederte physische Welt finden, dort ebenso eine reich ge­gliederte, abgestufte geistige Welt. Aber dann ist es den Leuten ein­facher und bequemer zu sagen: Man wende sich direkt, unmittelbar an den einigen Christus; den findet jeder einzelne Mensch. Es kommt

353

nicht darauf an, daß man es sich einbildet, sondern es kommt darauf an, daß man erkennt, was man im Geistigen wirklich findet. Was fin­den diejenigen Menschen, die heute oftmals davon sprechen: Ich habe ein innerliches Verhältnis zu meinem Gott gefunden? Das nämlich, was da Gott genannt wird, ist oftmals nichts anderes als das aller­nächste geistige Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, der unmittel­bar schützende Engel, der als das höchste Wesen verehrt wird. Daß wir glauben, wir haben den Gott, darauf kommt es ja nicht an, sondern daß wir die Realität dieses inneren Erlebnisses verstehen, das der Mensch hat. Wenn mancher glaubt, er ist innerlich durchsetzt von einem Göttlichen, so ist er meistens nur durchsetzt von einem Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, oder aber er ist durchsetzt von seinem eigenen Ich, wie es war zwischen dem letzten Tode und dieser Ge­burt, wie es in der geistigen Welt gelebt hat, bevor es sich mit die­sem physischen Leib vereinigte. Ist es denn nicht interessant, daß es ein Wort gibt, dessen Ursprung man nicht kennt? Wenn Sie die Wör­terbücher aufschlagen, so finden Sie mancherlei recht Schönes über mancherlei Wörter. Doch ein Wort gibt es die gelehrtesten philo­logischen Wörterbuchschreiber können seinen Ursprung nicht finden, sie wissen nicht, was damit gemeint ist, auch philologisch nicht: das ist das Wort Gott! Lesen Sie nach im Deutschen Wörterbuch. Es ist das Wort, dessen Bedeutung man nicht kennt. Sehr bedeutsam, sehr bezeichnend! Denn das, wovon man in Wirklichkeit redet, wenn man heute vielfach von seinem Gott spricht, das ist der einzelne Engel oder gar das eigene Selbst in der Zeit zwischen dem letzten Tode und der jetzigen Geburt. Was man da wirklich erlebt - ich denke jetzt nur an wirklich aufrichtige, ehrliche Selbsterleber -, das ist Wirklichkeit. Darauf kommt es an und nicht darauf daß man sich selbst der Täu­schung hingibt: Die Leute beten einen einheitlichen Gott an. Sie haben nur ein Wort für das Erlebnis ihres Engels oder gar für das eigene Selbst, wenn es noch nicht verkörpert ist oder schon verkör­pert ist, gewissermaßen.

Daß man dies ahnt, daß man ahnt: Durch Geisteswissenschaft muß dahintergekommen werden, was sehr häufig mit dem sogenannten Gotteserlebnis der Menschen gemeint ist. Das bewirkt, daß man diese

354

Geisteswissenschaft so wenig gern sich ausbreiten sieht; denn sie ist geeignet, hinter diese ungeheuer bedeutungsvolle Tatsache zu kom­men, die ich eben hervorgehoben habe. Die ganze geschichtliche Ent­wickelung vom 3. bis zum 10., ja noch bis zum 15. Jahrhundert geht dahin, die Mysterien des Christus Jesus eigentlich mehr zu verdecken, mehr zu kaschieren, als sie offenbar werden zu lassen. Dies, was ich sage, ist nicht eine Kritik, sondern eine bloße Charakteristik. Denn wenn man nicht imstande ist, diese Charakteristik objektiv hinzuneh­men, so wird man nie verstehen, unter welchen Gewalten das Zeit­alter heraufkommt, das mit dem 15. Jahrhundert beginnt, das Zeit­alter der eigentlichen Bewußtseinsseele. Ich möchte sagen, dieses Zeit­alter donnert herein, und alles in der geistigen Welt tendiert so, daß diese Bewußtseinsseele mit ihren zwei Polen, mit ihrem materialisti­schen und ihrem spirituellen Pol, herauskommen muß. Aber von die­sem Gesichtspunkte aus muß man erst das geschichtliche Werden an­sehen. Bilder muß man sich vor die Seele hinstellen, wie etwa dieses: Aus solchen Stimmungen wie diese, die uns auf einer höchsten Stufe in dem heiligen Bernhard erscheint, geht die europäische Tendenz aus verstärkter, konsolidierter Glaubenskraft hervor, Jerusalem an die Stelle von Rom zu setzen, das Christentum mit dem Mittelpunkte in Jerusalem als antirömisches Christentum zu begründen. Denn das liegt eigentlich den Kreuzzügen zugrunde. Gottfried von Bonillon ist nicht ein Sendling der römischen Päpste, sondern er ist derjenige, der die Kreuzzüge aufgreift, um ein Bollwerk in Jerusalem gegen Rom zu errichten, um das Christentum unabhängig zu machen von Rom. Es war eine Idee, die im Grunde viele Jahrhunderte beherrschte. Heinrich II., der Heilige, hat sie dann in die Form geprägt einer Ecclesia catholica non romana.

Wir sehen, wie die europäische Glaubenskraft in diejenigen Gefilde hinein ihre Aura sendet, in welche die Römer ihr Gold gesandt haben! Mit dem Golde und seinen Folgen im Orient stoßen die Kreuzfahrer zusammen, mit dem römischen Golde auf der einen Seite, mit der orientalischen Gnosis auf der andern Seite. Diese Aura muß man in Betracht ziehen, unter der die Kreuzzüge entstanden sind. Sie ist ganz die Aura der europäischen Glaubenskraft. Das ist der eine Ton, der

355

eine Farbenton des Bildes. Doch stellen wir hinein in diesen Farbenton - man könnte es, wenn man es malen wollte, nur als einen Farbenton malen -, stellen wir hinein ein anderes Bild des aufgehenden Zeit­alters der Bewußtseinsseele. Wie müßte man es etwa hineinstellen?

So, daß man den im Jahre 1108 geborenen Dandolo von Venedig, den Dogen, hinstellt, jenen Dogen, der frühzeitig in Konstantinopel war, dort von den Türken geblendet worden ist, der aber die Inkar­nation des ahrimanischen Geistes war, und der, trotzdem er nicht sehen konnte, Herr von Venedig war, jenes Venedig, das den ahri­manischen Geist in den Geist hineingestellt hat, den ich jetzt eben gekennzeichnet habe. Das ist ein bedeutungsvoller Augenblick der Weltgeschichte, als dieser Doge Dandolo Konstantinopel eroberte, und als er den ursprünglichen Geist der Kreuzzüge überführte in den späteren Geist der Kreuzzüge. Wie war das?

So war es, daß zuerst die Kreuzfahrer nach dem Orient zogen, um dort zu finden, was an Heiligtümern, an Reliquien zurückgeblieben war, auf daß sich die Glaubenskraft daranknüpfen könnte. Das haben sie gesucht, das haben sie in ihrer Ehrerbietung nach Europa bringen wollen. Ein reales Band haben sie herstellen wollen zwischen ihrer Glaubenskraft und den tatsächlichen Ereignissen des Mysteriums von Golgatha. Als Venedig eingegriffen hat was wurden da die Reli­quien? Alles wurde gesammelt, aber alles wurde zur Grundlage von Kapitalbildung gemacht! Die Reliquien wurden unter dem Einflusse von Venedig nach und nach behandelt wie Börsenpapiere; sie stiegen und stiegen. Die kapitalistische Ära breitete sich aus: Dandolo, die Inkarnation des ahrimanischen Geistes!

Wir fragen uns: Wie ist es Venedig gelungen, das, was war, wie­derum rückgängig zu machen? Es hat den Handel wiederum vom Orient nach Europa geleitet; es hat gewissermaßen das, was früher nicht sein konnte das kommerzielle Leben wiederum entfacht. Eine Frage muß entstehen: Wie konnte Venedig so mächtig werden gerade auf dem Handelsgebiete, da doch Europa im Grunde genom­men verarmt war?

Der Handel war ein Tausch. Im Grunde genommen war nament­lich während der ersten Zeit jenes Zeitraumes, von dem ich heute

356

gesprochen habe, Europa vom Orient, dem es zuerst sein Metallgeld gegeben hatte, abgeschlossen. Das hatte man nicht, das tauschte man. Es müßte immer wieder und wieder betont werden, was eine histo­rische Tatsache ist, wie Venedig auf diesem Gebiete vorangegangen ist. Wir können einen großen Verkauf nachweisen, den Venedig nach Alexandrien und Damiette besorgt hat, um die orientalischen Waren dafür wieder einzutauschen. Was wurde denn von Venedig aus ver­kauft? Das eine kann leicht dokumentarisch nachgewiesen werden, vieles andere könnte damit verbunden werden; dann würde man, nach dieser Richtung forschend, schon weiter kommen. Das, was ver­kauft wurde, waren tausend Menschen! Mit Menschen hat man den neuen Handel nach dem Orient begonnen. Menschen wurden nach dem Orient verkauft. Und wer dem nachgeht, was aus diesen Men­schen im Orient geworden ist, der kommt zu einem merkwürdigen Resultat, auf das allerdings die äußere Geschichte noch wenig weist: daß von diesen verkauften Menschen die wichtigsten derjenigen Krie­ger abstammten, mit denen dann von Asien aus die großen Heereszüge nach Europa erfolgreich unternommen worden sind. Die Kerntruppen der asiatischen Völkerschaften, die später in Europa einfielen, bestanden aus den Nachkommen der von Venedig und andern ita­lienischen Städten nach dem Oriente verkauften Menschen.

Es ist schon notwendig, daß man etwas hinter die Kulissen der Weltgeschichte sieht, daß man sich nicht an jene Legende hält, die so oft als Weltgeschichte den Menschen vorgemacht wird. Diese Legende muß endlich dem Schicksal verfallen, daß man sagt: Sie ist eine Pen­sionsmädelgeschichte, selbst wenn sie Ranke geschrieben hat. Unsere Zeit ist viel zu ernst, als daß nicht betont werden muß, daß gelernt werden muß. Und das Wichtigste wird sein, was man aus diesen Din­gen gewinnt: daß man sich ein Urteil aneignen wird, um die Gegen­wart nicht mit schlafendem Bewußtsein, sondern mit wachendem Be­wußtsein zu verfolgen. Ein Ungeheures geschieht in der Gegenwart, aber die Menschen sehen es nicht und wollen es nicht sehen, wollen alle Dinge nur verstellt und verworren sehen. Schlägt man nur da oder dort einen Ton an, der aus den Tiefen des Menschenwerdens heraus ist, so wird man zurückgewiesen mit den Phrasen, die heute

357

an der Oberfläche der Journal- oder Zeitungslektüre gewonnen wer­den, und die so weit wie nur möglich von der Wahrheit, von der fruchtbaren Wahrheit entfernt sind.

Ich mußte Sie heute in äußerlicher Weise auf etwas aufmerksam machen, was mit jenem Zeitalter zusammenhängt, in dem sich im 15. Jahrhundert der Umschwung vollzogen hat von der Gemütsseele in die Bewußtseinsseele hinein. Denn man möchte es so gerne haben, daß solche Dinge sich in die Gemüter der Menschen hineinsenken. Man braucht es heute, braucht es auf allen Gebieten. Die Menschen reden heute viel von der Art, wie sich die soziale, die gesellschaftliche Struktur in der Zukunft entwickeln soll. Ich las heute morgens wie­derum einmal einen Satz von einem Menschen, der sich ungeheuer gescheit dünkt, der zum mindesten glaubt, die volkswirtschaftliche Wahrheit in ihren Fundamenten erfaßt zu haben. Und siehe da, das Tiefsinnige, was er inmitten seines Aufsatzes sagt, ist, daß man die Gesellschaft, das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen als Organismus erfassen soll. Es glauben die Menschen schon etwas Be­deutsames zu haben, wenn sie sagen, man solle das gesellschaftliche Zusammenleben nicht als einen Mechanismus, sondern als einen Or­ganismus erfassen. Das ist der schlimmste Wilsonianismus mitten unter uns! Ich habe schon öfter gesagt, daß gerade das Wesen des Wilsonianismus darin besteht, daß er keine andern Begriffe für das gesellschaftliche Zusammenleben aufbringen kann als den des Orga­nismus. Darauf kommt es aber an, daß man begreifen lernt, daß die Menschen zu höheren Begriffen noch kommen müssen, als der des Organismus ist, wenn sie die soziale Struktur begreifen wollen. Diese soziale Struktur kann niemals als Organismus begriffen werden; sie muß als Psychismus, als Pneumatismus begriffen werden, denn Geist wirkt in jedem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen. Arm ist unsere Zeit an Begriffen geworden. Wir können nicht eine Volks­wirtschaft begründen, ohne daß wir hineintauchen in die Geist-Er­kenntnis, denn nur da finden wir den Metaorganismus; da finden wir das, was über den bloßen Organismus hinausgeht.

So findet man überall, daß es heute den Menschen fehlt an gutem Willen, in den Geist unmittelbar einzudringen. Aber das muß

358

geschehen. Denn unabsehbar wären die Folgen, wenn es nicht geschähe. Sie wissen, ich habe darauf hingedeutet, wie im 17. Jahrhundert ich habe es schon im letzten Heft der Zeitschrift «Das Reich» erwähnt Johann Valentin Andreae die Geschichte der «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz» geschrieben hat. In dieser «Chymischen Hoch­zeit» ist wirklich vieles von den Impulsen enthalten, die mit dem Um­schwung im 15. Jahrhundert zusammenhängen. Es wird ja die Ge­schichte der «Chymischen Hochzeit» auch in das 15. Jahrhundert ver­legt. Es ist eine sehr interessante Sache, wenn man sieht: Johann Va­lentin Andreae hat diese Geschichte der «Chymischen Hochzeit des Christian Rosenkreutz» hingeschrieben als siebzehnjähriger Junge. Siebzehn Jahre war er, unreif, mit seiner Außenintelligenz; und spä­ter hat er sie bekämpft. Denn der pietistische Theologe Andreae, der später geschrieben hat, schreibt eigentlich alles mögliche andere, wo­mit man das, was in der «Chymischen Hochzeit» steht, bekämpfen kann. Es ist sehr interessant: Das Leben des Andreae zeigt, daß er keine Spur von Verständnis hat für das, was er in der «Chymischen Hochzeit» hingeschrieben hat. Die geistigen Welten wollten der Menschheit eben etwas offenbaren, was allerdings mit dem ganzen Empfinden der damaligen Zeit zusammenhängt. Ich war neulich in einem Schlosse Mitteleuropas, in dem eine Kapelle ist, worin zu fin­den sind symbolisiert die Gedanken gerade von dem Umschwunge dieses neuen Zeitalters. Im Treppenhause sind ziemlich primitive Malereien; aber durch das ganze Treppenhaus hindurch was ist ge­malt, wenn auch die Malereien primitiv sind? Die «Chymische Hoch­zeit des Christian Rosenkreutz»! Man geht durch diese «Chymische Hochzeit», indem man in eine Gralskapelle nachher kommt. - Dann trat der Dreißigjährige Krieg ein, nachdem die «Chymische Hoch­zeit» niedergeschrieben war, und mit den Wogen des Dreißigjährigen Krieges ging dann unter, was gemeint war.

Das muß eine Lehre sein, denn dasselbe darf nicht ein zweites Mal geschehen. Was von der Menschheit seit dem 15. Jahrhundert ge­fordert wird: geistige Entwickelung, das muß nach und nach eintreten. Davon wollen wir das nächste Mal von einem mehr innerlichen Standpunkte sprechen.

359

NEUNZEHNTER VORTRAG Berlin, 23. Juli 1918

Der Frage wollten wir uns nähern: warum der Mensch eigentlich nicht bemerkt, wie die verschiedenen Zeiträume, durch die er im Laufe seiner wiederholten Erdenleben, namentlich für unseren jetzigen Er­denzyklus geht, auch wirklich ihren Inhalten nach, ihren geistigen und sonstigen Kulturinhalten nach verschieden sind. Darüber möch­ten wir uns klarwerden, warum eigentlich so viele Menschen glauben, warum die Menschen sich weniger geändert haben seit Jahrtausenden, seit dem geschichtlichen Leben, während uns doch eigentlich die Gei­steswissenschaft zeigt, wie sehr die Seelen in ihrem Wesenhaften sich änderten durch den dritten, vierten und den fünften nachatlantischen Kulturzeitraum; im fünften leben wir ja selbst. Wir müssen aus der geisteswissenschaftlichen Erkenntnis heraus eine solche Änderung der Menschenseele konstatieren. Wenn wir jedoch die äußere Geschichte uns vor Augen führen, wie sie gewöhnlich vorgetragen und geschrie­ben wird, so wird uns diese wenig von einer solchen Veränderung berichten.

Um dieser Frage nahezukommen, habe ich gerade letzthin zu zeigen versucht, daß allerdings, wenn man ein wenig auf das Seelische im geschichtlichen Leben der Menschheit sieht, sich die Veränderungen schon zeigen. Ich versuchte begreiflich zu machen, wie anders die Menschenseelen zum Beispiel im 11., 12. Jahrhundert fühlten, und wie anders sie heute fühlen. Ich habe Ihnen das anschaulich gemacht, indem ich in eine solche Seele hineinzuleuchten versuchte; wie in die des Bernhard von Clairvaux im 12. Jahrhundert. Man könnte noch in mancherlei Seelen hineinleuchten. Aber wir wollen, bevor wir auf die­sem Wege weitergehen, einmal mehr auf das Zentrale unserer Frage Rücksicht nehmen. Wir wollen direkt die Frage aufwerfen: Was hin­dert den Menschen, seine Veränderung durch die verschiedenen Er­denleben hindurch in der richtigen Weise anzuschauen?

Daran hindert ihn hauptsächlich der Umstand, daß er, wie er im gegenwärtigen Erdenzyklus ist, recht wenig Anschauung hat von seinem

360

wahren Ich, von seiner wirklichen Menschenwesenheit. Der Mensch würde sich ganz anders seine eigene Natur und Wesenheit vorstellen, wenn nicht gewisse Hindernisse vorhanden wären. Von diesen Hindernissen wollen wir später sprechen. Jetzt wollen wir einmal darauf hinweisen - Sie mögen das zunächst hypothetisch neh­men -, wie sich der Mensch, wenn er auf sein wahres Wesen hin­schauen könnte, eigentlich in der Welt vorkommen würde.

Könnte der Mensch auf sein wahres Wesen hinschauen, so würde er vor allen Dingen fortwährend eine große Veränderung in seinem persönlichen Leben zwischen Geburt und Tod erblicken. Er würde, wie alt er auch ist, ob zwanzig, dreißig oder fünfzig Jahre, zurück­schauen auf seine früheren Jahre gegen die Geburt hin und würde sich in einer fortwährenden Metamorphose vorkommen. Er würde die Veränderungen, die er durchgemacht hat, genauer auffassen, und er würde sich hoffende Vorstellungen für die Zukunft machen, daß er dann wieder Veränderungen durchmachen wird. Ich habe von sol­chen hoffenden Vorstellungen für die Zukunft in früheren Vorträgen, die ich hier gehalten habe, gesprochen.

Wie der Mensch heute einmal ist, macht er sich nicht viel Vorstellun­gen darüber, wie er sich einmal im Laufe der Zeit verändert hat, weil die­ser Mensch sich viel zu wenig sich selbst seelisch vorstellt. So sonderbar das ist, aber es ist doch so, daß sich der Mensch eigentlich, indem er sich heute sich selbst vorstellt, immer in zwei Glieder spaltet. Er sieht auf der einen Seite sein Leibliches, welches er, ich möchte sagen, wie ein ziemlich Starres während seines ganzen Lebens zwischen Geburt und Tod ansieht. Er ist sich zwar dessen bewußt, daß er wächst, daß er klein war und dann größer wurde, aber das ist fast alles, was er über seine äußere physische Wesenheit in sein Bewußtsein aufnimmt. Neh­men Sie eine einfache Tatsache: Sie schneiden sich die Nägel. Warum? Weil sie wachsen. Es ist das ein Beispiel, an dem Sie merken, daß eigentlich ein fortwährendes Abstoßen der äußeren Leiblichkeit Ihres Organismus stattfindet. Sie drängen in der Tat die äußere Leiblich­keit Ihres Organismus nach außen, stoßen sie ab, so daß immer nach einer gewissen Zeit, die im äußersten Falle sechs bis sieben Jahre dauert, das nicht mehr stofflich, materiell in Ihnen ist, was vor sieben

361

oder acht Jahren in Ihnen war. Sie stoßen fortwährend Ihre materielie Gliedlichkeit ab. Aber der Mensch nimmt das nicht in sein Bewußt­sein auf, daß er eigentlich immer langsam nach außen abschmilzt und sich von innen wieder aufbaut. Denken Sie sich, wie anders wir uns wüßten, wenn wir uns dessen bewußt wären, daß wir äußerlich unse­ren physischen Leib gleichsam abstoßen, abschmelzen, und uns inner­lich immer neu aufbauen: wir würden die Metamorphose unseres eigenen Wesens dann beobachten!

Das aber wäre mit etwas anderem verbunden. Daß wir den Leib, den wir an uns tragen, höchstens sieben Jahre an uns haben, daß wir das Frühere abgeworfen haben wenn wir das wirklich in unser Be­wußtsein aufnähmen, würden wir uns viel geistiger vorkommen. Denn wir würden dann nicht die trügerische Vorstellung haben: Ich war erst ein kleiner Kerl und bin dann immer größer und anders ge­worden. Sondern man würde wissen: Was der kleine Kerl war an Stofflichkeit, das ist irgendwo; das aber, was geblieben ist, das ist durchaus nichts Stoffliches, das ist etwas sehr Überstoffliches. Wenn man diese Metamorphose in sein Bewußtsein aufnehmen würde, würde man auf etwas zurückblicken, was einem erhalten ist seit seiner Kindheit. Man würde sich als Geistiges an sich erinnern. Gerade wenn wir uns bewußt wären, was in uns vorgeht, würden wir viel geistigere Vorstellungen über uns in uns aufnehmen.

Aber noch etwas anderes wäre damit verbunden: daß wir uns viel weniger abstrakt vorkämen. Wir sprechen eigentlich zu uns, indem wir uns, ich möchte sagen, wie in einen geistigen Punkt verwandeln. Wir sprechen von unserem Ich und haben so die Vorstellung: Unser Ich war da in unserer Kindheit, dann war es weiter da und ist jetzt da, und so weiter. Aber wir stellen uns unter unserem Ich eigentlich nur eine Art geistigen Punkt vor. Wenn wir uns zu der andern Vorstellung aufschwingen könnten, daß wir immer nach außen abschmel­zen und uns innerlich wieder aufbauen, dann würden wir gar nicht anders können, als dieses unser Ich als das Tätige, als das Aktive auf­zufassen, als das, was bewirkt, daß wir fortwährend nach außen ab­schmelzen und uns innerlich wieder aufbauen. Wir würden uns als etwas sehr Reales, innerlich Tätiges anschauen. Kurz, wir würden,

362

indem wir auf unser Ich hinblickten, nicht auf unser abstraktes Ich hinschauen, wie wir es jetzt tun, sondern wir würden überschauen, wie dieses Ich innerlich tätig an unserem Leib arbeitet, wie es unseren Leib von Metamorphose zu Metamorphose führt. Wir würden man­che Vorstellung korrigieren, denn wir geben uns - zusammenhängend mit dem, was ich jetzt auseinandergesetzt habe - eigentlich über uns recht irrtümlichen Vorstellungen hin. In den Worten der Sprache schon liegen eigentlich recht irrtümliche Vorstellungen über uns selbst. Wir sagen: Wir wachsen -, indem wir uns dabei vorstellen, daß wir erst Kinder waren, daß wir größer geworden sind. Aber so einfach, daß wir erst klein sind und dann größer werden, liegt eigent­lich die Sache nicht. Sondern die Wahrheit ist diese, daß wir, indem wir ein kleines Kind sind, die physisch-leibliche Tätigkeit und die geistig-seelische Tätigkeit mehr als eine Einheit erleben, und dadurch halten sich Kopforganismus und Reproduktionsorganismus, Sexual­Organismus, in einer gewissen Nähe. Später differenzieren sich diese beiden Erlebnisse, die Kopferlebnisse und Leibeserlebnisse werden einander fremder. Der stoffliche Organismus, der wir als Kind waren, wird nicht größer; denn der wird abgeworfen, schmilzt ab. Aber wir differenzieren uns, die beiden Pole unseres Wesens entfernen sich voneinander. Dadurch wird später in einen gestalteten Leib, bei dem sich die beiden Pole auseinandergezogen haben, der Stoff hineingeordnet. Das kommt uns dann vor, als ob wir bloß wachsen würden. Wir wachsen aber nicht bloß, sondern wir differenzieren uns innerlich, und dadurch kommen wir im späteren Lebensalter mit andern äußeren Dingen in Zusammenhang als im früheren Lebensalter. Wir müssen später mit unserer Kopforganisation den unmittelbaren Erdenkräften ferner stehen als vorher. Unser Kopf hebt sich. Damit ist das ver­bunden, daß wir wachsen.

Alle diese Vorstellungen werden anders, wenn wir das aufnehmen, was eigentlich die Wahrheit ist. Aber wir nehmen das nicht auf was die Wahrheit ist. Wir verwischen sozusagen den fortwährend sich metamorphosierenden Leib, der sich fortwährend ändert, wir ver­wischen ihn und stellen ihn so vor, als wenn er aus sich herauswüchse, größer würde, und dadurch entgeht es uns, was für ein reiches Inne-

363

res, bewegtes Lebendiges unser Ich ist, das fortwährend zwischen Ge­burt und Tod an uns arbeitet. Dadurch würde unsere Vorstellung über uns selbst eine recht einheitliche, wenn wir uns so uns selbst vorstellen könnten. Aber der neuere Mensch und zwar schon lange - kann sich nicht sich selbst so vorstellen. Das hängt gewissermaßen mit dem Men­schenschicksal, mit der ganzen Entwickelung unseres Zeitalters zusammen. Der Mensch steht nicht so nahe vor seinem lebendigen, wirksamen Ich, das eigentlich den Organismus macht von Jahr zu Jahr, sondern er spaltet ihn: er schaut auf der einen Seite auf seinen Organismus hin, den er sich recht konsistent vorstellt, und auf der andern Seite auf sein Ich, das er abstrahiert, zum strohernen Begriff macht. Und dann sagt ein sol­cher Mensch: Wir sind auf der einen Seite ein Sinnesorganismus, ein körperlicher Organismus; dadurch kommen wir gar nicht an die Dinge heran, weil sie nur Eindrücke auf uns machen können; das Wesen der Dinge enthüllt sich uns gar nicht, das «Ding an sich» kommt gar nicht an uns heran, wir haben nur Erscheinungen. - Ge­wiß, wenn man auf den fleischlichen Leib als auf etwas Konsistentes sieht, so hat diese Schlußfolgerung eine gewisse Berechtigung. Dann sieht man auf dieses ganz stroherne Ich und sagt: Dadrinnen lebt etwas wie Pflichtgefühl. - Dann schaut man auf das, was man als kategorischen Imperativ zusammenfassen kann. Aber man spaltet da­durch das, was in der Einheit beschlossen ist. Man wird kantischer Philosoph, spaltet die einheitliche Menschennatur, indem man sie nach zwei Seiten hin orientiert. Es geht das sehr tief in das menschliche Denken, was ich jetzt ausgesprochen habe.

Der Mensch ist also in der Gegenwart wenig geeignet, sich als vollwesentliche Natur in der Welt aufzufassen. Er spaltet sich in der Weise, wie ich es angedeutet habe. Das aber bewirkt, daß wir eigentlich niemals unser Seelisches wirklich vor dem geistigen Auge haben; denn dieses Seelische wäre das am Körper fortwährend Arbeitende und ihn Metamorphosierende. Wir haben gar nicht unser Seelisches im Auge, wir haben unseren abstrakten Leib und unser abstraktes Ich gespaltet vor Augen und kümmern uns nicht um das, was der ganze einheit­liche Mensch ist. Dieses Gewahrwerden des ganzen einheitlichen Men­schen würde aber sogleich dahin führen, daß wir erkennen würden:

364

Was wir so als einheitlichen Menschen erkennen, das ist von Inkarna­tion zu Inkarnation so verschieden, wie es bei uns geschildert wird; das wahre, wirkliche menschliche Ich, das sich kaschiert, sich verbirgt vor dem menschlichen Seelenblick in der Gegenwart, das ist das, was verschieden ist von Leben zu Leben. - Natürlich, wenn Sie nicht das konkrete menschliche Ich, sondern das Abstraktum «Ich» ins Auge fassen, dann können Sie nicht darauf kommen, daß das Ich so verschieden ist von Leben zu Leben; denn wenn Sie abstrahieren, dann ist schließlich alles gleich, was nur irgendwie einander ähnlich ist. Ähnlich sind natürlich die Seelen in den aufeinanderfolgenden Erdenleben; aber sie sind auf der andern Seite wieder so verschieden, wie wir es immer geschildert haben, indem der Mensch von Leben zu Leben durch die menschliche Entwickelung sich hindurchlebt. Weil der Mensch in Wahrheit nicht die ganze Beweglichkeit seines Leibes und nicht die ganze reale Tätigkeit seines Ich überschaut, deshalb sieht er nicht sein wahres Wesen. Das ist etwas, was wie eine goldene Regel in der wirklichen Menschenerkenntnis und Menscheneinsicht festzuhalten ist. Und warum ist das so?

Warum es so ist, das können Sie sich beantworten aus Ihren Kennt­nissen über das Ahrimanische und Luziferische. Wir spalten unser Wesen, spalten es so, daß wir auf der einen Seite auf unseren Leib hin­sehen als auf etwas, was erst klein wäre und dann sich dehnt und wüchse, während er sich in Wahrheit fortwährend erneuert. Was sehen wir da, was erscheint uns da, wenn wir so auf unseren Leib hin­sehen? Das Ahrimanische erscheint uns, dasjenige, was an uns selbst als Ahrimanisches tätig ist. Doch dieses Ahrimanische ist nicht unser wahres Menschenwesen; das ist das Gattungsmäßige, was in der Tat gleich bleibt durch alle Zeitalter hindurch. Wir schauen also eigent­lich, indem wir auf unseren Leib blicken, auf unser Ahrimanisches, und die moderne wissenschaftliche Anthropologie schildert eigent­lich nur das Ahrimanische am Menschen. Das ist das eine, was wir schauen: das von uns selbst verdichtet vorgestellte Leibliche. Das andere, das wir sehen, ist das abstrakte Ich, das eigentlich recht fluk­tuierend ist, recht sehr nur in der Zeit lebend ist, wenn wir uns selber dann uns zwischen Geburt und Tod vorstellen. Da haben wir unsre individuelle

365

Erziehung darinnen, unser Nichtsnutzig- und Bravsein, da überschauen wir unser persönliches Leben zwischen Geburt und Tod. Aber wir schauen unser Ich nicht, wie es in Wahrheit ist, wie es an der Metamorphose unseres physischen Leibes arbeitet; sondern wir schauen es dünn, luziferisch verdünnt. Unsere physische Leiblichkeit schauen wir ahrimanisch vermaterialisiert, unser Geistig-Seelisches sehen wir luziferisch verdünnt.

Würde das nicht der Fall sein, würden wir uns nicht so spalten, daß der eine Pol unserer Wesenheit ahrimanisch, der andere luzife­risch ist, so würden wir eine viel nähere Beziehung auch zu den Toten haben - die fortwährend unter uns bleiben -, weil wir eine viel nähere Beziehung auch zur geistigen Welt hätten. Wir würden die gesamte Wirklichkeit auffassen, zu der diejenige Welt gehört, in welcher der Mensch auch ist, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, und bevor er durch die Pforte der Empfängnis wieder in diese Welt eintritt.

So also haben wir eigentlich nie unser wahres Wesen vor uns, son­dern auf der einen Seite das physisch-leibliche ahrimanische Trugbild und auf der andern Seite das geistig-seelische luziferische Trugbild, zwei Trugbilder von uns, zwischen denen aber, für uns unwahrnehm­bar, unser wahrer Mensch lebt, von dem wir aber doch, wenn wir vom Menschen reden, sprechen müssen; denn der ist unser wahrer Mensch, der von Leben zu Leben geht.

Das müssen wir ganz tief nehmen, was jetzt eben als Menschenerkenntnis angeführt worden ist. Dadurch ist erklärlich, warum man glaubt, daß der Mensch durch die verschiedenen Zeitalter hindurch sich gleich bleibe. Die falschen Gedanken über den Menschen schaut man an, man schaut auf der einen Seite das, was gattungsmäßig durch lange Zeiträume gleich bleibt, und auf der andern Seite dehnt man das, was das wirklich geistig-seelische Wesen ist, nicht über das Leben zwischen Geburt und Tod aus. Würde man erkennen, wie das Geistig­-Seelische den Leib von Jahr zu Jahr verändert, dann würde man auch den gewaltigen Übergang begreifen, der eintritt, indem das Geistig­-Seelische durch die Empfängnis in das Physisch-Leibliche hinein­schreitet, oder durch den Tod wieder heraustritt. Wir nehmen gar keine Rücksicht darauf, wie das Geistig-Seelische am Leibe arbeitet.

366

Wir können das, was wir eben ausgesprochen haben, auch noch anders ausdrücken. Unser fertiger Organismus, wie wir ihn ahrima­nisch vorstellen, ist eigentlich recht wenig das, was wir als Mensch sind. Wir wohnen nur in diesem Organismus. Was wir eigentlich für gewöhnlich an ihm anschauen, was richtig ahrimanisch verdichtet von uns angeschaut wird, das rührt eigentlich viel mehr aus unserer vori­gen Inkarnation her, als aus dieser. Aus den verschiedenen Betrach­tungen dieses Jahres und auch aus sonstigen werden Sie entnehmen können: Ihre Physiognomie, Ihre sonstige beständige Bildung ist eigentlich aus Ihrer vorigen Inkarnation, Ihrem vorigen Leben her­rührend. Man kann aus der Physiognomie eines Menschen eigentlich sehr gut ersehen, was ihn zurückversetzt ins frühere Leben. Was mit dem physisch-leiblichen Organismus zusammenhängt, das hängt eigentlich viel mehr mit dem vergangenen Leben zusammen als mit dem gegenwärtigen. Der heutige Mensch aber läßt sich einfach be­rücken, zu sagen: Wir haben ja kein vorhergehendes Leben, also kann auch ein voriges Leben nicht unsere gegenwärtige Gestalt, ob wir groß oder klein sind, uns geben. - Aber das reden wir uns ein. Wür­den wir uns richtig verstehen, dann würden wir gar nicht anders können, als auf unser voriges Leben zurücksehen. Würden wir uns jetzt das ansehen, wie ich es auseinandergesetzt habe, als an unserem Organismus formend, so würde sich das schon aufhellen. Es würde uns auffallen, was wir nicht formen können, sondern was schon ge­formt ist aus den früheren Leben her. Wer wirklich hinschauen kann auf den Menschen, der weiß, wie sein Geistig-Seelisches an seinem Organismus formt. Das tritt gewissermaßen aus diesem Menschen heraus, und hinter diesem bleibt das stehen, was ahrimanisch anzu­schauen ist als das Geformte aus der früheren Verkörperung.

Für den, der sich gewöhnt, den Menschen als ein recht lebendiges Wesen anzusehen, für den ist es, wenn er einem andern Menschen entgegentritt, immer so, wie wenn aus diesem Menschen einer her­auskommt. Der da herauskommt, ist der gegenwärtige Mensch; man sieht ihn nur gewöhnlich nicht. Der, der dagegen etwas zurückbleibt, das ist der, welcher aus der früheren Verkörperung geformt ist. Und in dem, der da heraustritt, tritt sehr bald etwas hinein. Der da heraus-

367

tritt, der ist zuerst, ich möchte sagen, recht sehr durchsichtig; dann wird er sehr bald undurchsichtig. Weil das Geistig-Seelische tätig, als Tätiges erscheint, verdichtet es das, was da herausgetreten ist. Und dann tritt etwas heraus, was einem wie ein Keim für das folgende Erdenleben erscheint.

Dreigliederig drückt sich der gegenwärtige Mensch aus für den, der die Verhältnisse durchschaut. Symbolisch haben mancherlei my­thische Darstellungen dieses festgehalten. Versuchen Sie sich an zahl­reiche Darstellungen zu erinnern, wo drei Generationen nur deshalb hintereinander dargestellt werden, weil dieses Heraustreten der menschlichen Dreiheit veranschaulicht werden soll. Erinnern Sie sich an manche Isis-Darstellungen, auch an manche Darstellungen der christlichen Zeit, wo hintereinander drei Gestalten dargestellt wer­den, die zusammen gehören. In Wahrheit ist dabei gemeint, was ich jetzt ausgeführt habe. Natürlich kann man es dann umdeuten, wenn man es materialistisch deuten will: Großmutter, Mutter und Kind , wenn man will. Aber man stellt eine solche Dreiheit deshalb dar, weil sie einer Realität des Anschauens entspricht. Sie stellen sich Bildliches aus der früheren Zeit überhaupt am richtigsten vor, wenn Sie nicht die phantastischen Vorstellungen der gegenwärtigen Wissenschaft ins Auge fassen, die immer nachdenkt, was jemand sich ausspintisiert hat über etwas bildlich Dargestelltes, sondern wenn Sie darauf Rücksicht nehmen, was die Menschen in einer gar nicht so fernen Vergangenheit geschaut haben, und wie sie das Geschaute dann künstlerisch dar­gestellt haben.

Wichtig, ganz besonders wichtig wird eine solche Betrachtung, wie wir sie jetzt eben angestellt haben, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß der Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, seine Beziehung von der wir immer sprechen zu dem wahren menschlichen Ich hat. Wenn Sie also sich das Paulinische Wort vor Augen halten: «Nicht ich, sondern der Christus in mir», so ist dieses «in mir» bezüglich auf das wahre, für die heutige Anschauung ver­deckte, kaschierte Ich. Der Mensch muß gewissermaßen auf dieses als ein Geistiges hinschauen, wenn er das rechte Verhältnis zum Chri­stus finden will. Man möchte einmal wissen, wie gewisse Worte der

368

Evangelien aufgefaßt werden können, wenn man das nicht berück­sichtigt. Denken Sie nur einmal an jenes Wort des Johannes-Evange­liums, das gleich im Anfange steht, wo Johannes davon spricht, wie der Christus zu dem Menschen kommt als an diejenige Stätte, wohin er gehört. Die Evangelienübersetzer übertragen es gewöhnlich so, daß sie sagen: «Er kam in sein Eigentum, und die Seinigen nahmen ihn nicht auf.» Aber dann heißt es weiter: «Wie viele ihn aber auf­nahmen, denen gab er Macht, Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben, welche nicht von dem Geblüt, noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind.» Und es wird wohl bemerkbar gemacht, daß er eigent­lich zu allen Menschen, die solchen Bewußtseins sind, kommen wollte. Aber die äußeren Menschen, also alle Menschen, die es gewöhnlich gibt, sind doch ganz gewiß «vom Geblüt und vom Willen eines Man­nes». Der Mensch aber, den ich als den wahren bezeichnet habe, der nicht vom Geblüt und Willen eines Mannes geboren ist, der kommt allerdings aus der geistigen Welt und umkleidet sich mit dem, was aus der physischen Vererbung kommt. Das Evangelium spricht von dem Menschen, von dem ich heute gesprochen habe, und deshalb ist es so schwer zu verstehen und wird so falsch ausgelegt, weil man es in Vorstellungen hineinzwängt, wie man sie sich heute machen will. Aber ohne die Vorstellungen, welche die Geisteswissenschaft vermitteln kann, sind die in den Evangelien niedergelegten Dinge nicht zu ver­stehen. Hat man diese Vorstellungen, dann geht einem in Beziehung auf die Evangelien plötzlich ein Licht auf.

Mit Bezug auf alle diese Verhältnisse ist eigentlich etwas Großes in der Menschheitsentwickelung mit dem Mysterium von Golgatha vorgegangen. Sie wissen - aus Büchern wie aus Vorträgen -, daß bis dahin dieses ganze menschliche Ich in anderer Weise im Leibe gelebt hat als vorher. Der Zeitpunkt des Mysteriums von Golgatha war zu­gleich ein solcher, in welchem das ganze Bewußtsein des Menschen sich geändert hat. Das alles ist natürlich dadurch bewirkt, daß die Christus-Wesenheit sich mit der Erdenentwickelung vereinigt hat, wie ich es oft dargestellt habe. Aber die Zeit ist herangekommen, in welcher immer mehr begriffen werden muß, was es eigentlich mit diesem

369

Mysterium von Golgatha und seinem Verhältnis zum Menschen auf sich hat. Ein besonderes Kreuz für viele Erklärer des Evangeliums ist zum Beispiel ein Wort des Christentums, das in der einen oder andern Weise ausgesprochen oder übersetzt wird, das aber doch eigent­lich so lautet, daß «das Himmelreich herabgekommen» sei. Unter denjenigen Menschen, welche diesen Ausspruch gründlich mißver­standen haben, ist ja auch Helena Petrowna Blavatsky, die an dieses Wort, wenn ich sagen darf, eingehakt hat, indem sie meinte: es würde doch von den Christen behauptet, daß mit dem Mysterium von Golgatha eine Art Himmelreich auf die Erde herabgekommen sei, aber es sei gar nichts anders geworden; die Ähren seien nicht zwölfmal so groß geworden, die Kirschen seien nicht größer geworden - und so weiter. Sie will damit andeuten, wie auf der physischen Erde die Sachen nicht anders geworden sind. Dieses «Herabkommen des Himmelreichs», des geistigen Reiches, macht ja sehr vielen Erklärern der Evangelien deshalb große Schwierigkeiten, weil man es nicht gut versteht. Was gemeint ist, das ist, daß die Menschen bis dahin an dem Physisch-Irdischen das, was sie als Geistiges überhaupt erleben konnten, im atavistischen Hellsehen erlebten. Nachher mußten sie sich zu dem Geistigen erheben und in dem Geistigen, das wirklich gekommen ist, die Dinge erkennen. Man braucht nicht alle die Spintisierereien zu nehmen, die von den verschiedensten Seiten vorgebracht werden, son­dern man nehme die Wirklichkeit, wie sie gemeint ist. Diese Wirk­lichkeit liegt in Folgendem.

Es ist wirklich mit dem Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, die Sache für die Menschen so geworden, daß sie nicht mehr mit dem bloß physischen Dasein ihr geistiges Dasein empfangen können, sondern leben müssen in der geistigen Welt. Wer nur in der physischen Welt lebt, der lebt nicht mehr auf der Erde, der lebt unter der Erde; denn vom Mysterium von Golgatha ab ist die Möglichkeit gegeben, im Geiste zu leben. Das geistige Reich ist wirk­lich herbeigekommen. Der Ausdruck wird sofort verstanden, wenn man ihn so nimmt, wie ich ihn erklärt habe. Zu diesem aber steht der Christus in wirklicher Beziehung. Das sollte aber zunächst, vorläufig, verborgen bleiben. Es sollte sich der Menschheit erst nach und nach

370

mitteilen, indem die Menschen es sich erringen. Und erst indem man das einsieht, versteht man den wirklichen Verlauf der neueren Ge­schichte nach dem Mysterium von Golgatha. In den ersten Jahrhun­derten pflanzte sich das Christentum, wie es in die Welt gekommen war durch das Mysterium von Golgatha, in die Gnosis ein, die mehr oder weniger noch vorhanden war. Man hatte sehr geistige Vorstel­lungen, um sich klarzumachen, was der Christus Jesus eigentlich ist. Dann nahm die Kirche eine bestimmte Form an. Diese Form können Sie ja geschichtlich verfolgen, aber Sie müssen die Aufgabe dieser Kirchenform vom 3., 4., 5. Jahrhundert ab richtig ins Auge fassen.

Was ich jetzt sage, darf durchaus nicht mißverstanden werden. Gei­steswissenschaft, wie sie hier vertreten wird, steht wirklich auf dem Boden wahrhaftiger, aktiver Toleranz gegenüber allen bestehenden religiösen Offenbarungen. Geisteswissenschaft muß daher die relative Wahrheit der verschiedenen religiösen Bekenntnisse auch durch­schauen können. Nicht als ob die Geisteswissenschaft sich mehr oder weniger sympathisch diesem oder jenem Bekenntnisse zuneigt, son­dern sie will den Wahrheitsgehalt der verschiedenen Religionsbekennt­nisse zutage fördern; sie wird daher sorgfältig abwägen, wird nicht einseitig sein. Es darf also von der Geisteswissenschaft nicht ausgesagt werden, daß sie zu diesem oder jenem Bekenntnisse hinneige; sie will Wissenschaft vom Geistigen sein. Geisteswissenschaft kann zum Bei­spiel sehr gut würdigen, daß es schade ist, daß für viele Menschen ver­lorengegangen ist, was im katholischen Kultus liegt. Die Vorzüge des katholischen Kultus gegenüber den Kulturvorgängen weiß die Gei­steswissenschaft sehr wohl zu würdigen. Sie weiß auch, wie eine ge­wisse künstlerische Produktion sehr verwandt ist mit dem katholi­schen Kultus, der ja nur eine Fortsetzung verschiedener anderer Religionsbekenntnisse ist, viel mehr, als man gewöhnlich glaubt. In die­sem Kultus ist tiefes Mysteriumwesen drinnenliegend. Das aber, was ich zu sagen habe, bezieht sich auf wesentlich anderes, jedenfalls nicht auf den katholischen Kultus, der seine innere volle Berechtigung hat, der ein ungeheuer Anregendes für das Produktive des Menschen ist. Aber, was ich auseinandersetzen muß, ist dies: daß die kirchlichen Formen gewisse Aufgaben erhalten haben, Aufgaben, die sie damals

371

noch im höchsten Maße gehabt haben, auch heute übrigens noch haben, als so inbrünstige Naturen wie Bernhard von Clairvaux aus der Kirche herauswuchsen ihres Gottes wegen. Man muß immer unterscheiden: die Kirche - und solche Persönlichkeiten wie Bern­hard von Clairvaux und zahlreiche andere. Was aber hatte die Kirche für eine Aufgabe? Sie hat die Aufgabe, die Seelen möglichst fernzu­halten von der Christus-Erkenntnis, möglichst zu bewirken, daß die Seelen dem Christus nicht sehr nahetreten. Und die Geschichte des kirchlichen Lebens vom 3., 4. Jahrhunderte an und dann weiterhin ist im wesentlichen eigentlich die Geschichte des Entfernens des menschlichen Gemütes von dem Verständnis des Mysteriums von Golgatha. Es liegt eine gewisse Gegnerschaft gegen das Christus-Verständnis in der kirchlichen Entwickelung. Diese negative Aufgabe der Kirche hat schon auch ihre Berechtigung. Sie hat die Berechtigung dadurch, daß die Menschen immer wieder von neuem darnach streben mußten, durch die Kraft ihres eigenen Gemütes, durch die Kraft ihrer eigenen Seele zu dem Christus hinzukommen. Und im Grunde ge­nommen ist das Kommen der Menschen zu dem Christus durch alle diese Jahrhunderte ein fortwährendes Sich-Aufbäumen gegen das Kirchliche. Auch solche Leute wie Bernhard von Clairvaux bäumen sich eigentlich gegen das Kirchliche auf. Studieren Sie selbst Thomas von Aquino: er gilt denen, die kirchlich rechtgläubig waren, als ein Ketzer; er wurde verpönt, und die Kirche hat seine Lehre erst später aufgenommen. Der Weg zum Christus war eigentlich immer ein Weh­ren gegen die Kirche, und nur langsam und allmählich konnten sich die Menschen zu dem Christus hinarbeiten. Bedenken wir einmal, daß solche Menschen wie zum Beispiel Petrus Waldus, der Begründer der sogenannten «Waldenser-Sekte», im 12. Jahrhundert mit seinen Ge­nossen zusammen ist, und sie alle haben in der damaligen Zeit noch keine Kenntnis vom Evangelium. Die Ausbreitung des kirchlichen Lebens war ja ohne die Evangelien geschehen. Bedenken Sie das doch! Man suchte aus der Umgebung des Petrus Waldus einige zu­sammen, die etwas aus den Evangelien übersetzen konnten; man lernte so die Evangelien kennen, und als man sie kennengelernt hatte, floß einem ein heiliges, ein erhöhtes christliches Leben aus den Evan­-

372

gellen. Das hatte aber zur Folge, daß Petrus Waldus gegen den Willen seiner Genossen vom Papst als Ketzer erklärt wurde. Bis in diese Zeiten herein haben sich ja auch in Europa noch gewisse gnostische Kenntnisse ausgebreitet, wie zum Beispiel bei den Katharern, über­setzt: die Reinen. Aber diese gnostischen Kenntnisse waren darauf gerichtet, sich Vorstellungen, konkrete Vorstellungen über den Chri­stus und das Mysterium von Golgatha zu machen. Das durfte vom Standpunkte der offiziellen Kirche aus nicht sein. Deshalb wurden die Katharer zu Ketzern. Der Name «Ketzer» ist nur der umgeänderte Name «Katharer», es ist dasselbe Wort.

Es ist sehr notwendig, daß man dies, wovon ich jetzt spreche, in seiner vollen Schärfe einsieht, damit man den Weg des Christentums von dem Wege der Kirche unterscheide, und damit man durch unsere Zeit begreifen lernt, durch geisteswissenschaftliche Grundlage sich einen Weg zu dem wahren Christus, zu der wahren Christus-Vorstel­lung ebnen zu müssen. Unendlich vieles gerade aus der heutigen Zeit wird einem klar, wenn man weiß, daß ja nicht bloß alles, was sich auf den Christen-Namen taufte, dazu da war, das Verständnis des Myste­riums von Golgatha zu vermitteln, sondern daß vieles dazu da war, gerade dieses Verständnis zu verhindern, eine Barriere gegenüber die­sem Verständnis aufzurichten. Und gibt es denn heute eigentlich nicht auch noch diese Barriere? Gerade heute gibt es sie! Dafür möchte ich Ihnen einiges Charakteristisches vorbringen.

Einschließlich des Protestantismus waren ja die Bestrebungen, die vielerorts auftraten, immer deshalb in Opposition mit der Kirche, weil die Kirche vielfach die Aufgabe hatte, gerade eine Barriere gegen­über dem Christus-Verständnis zu errichten, und weil man sich hin­arbeiten mußte zum Christus-Verständnisse. Petrus Waldus mußte es tun, indem er die Evangelien gesucht hat. Bis dahin hatte man nur die Kirche, nicht die Evangelien. Aber auch heute haben noch manche Menschen sonderbare Ansichten über dieses Verhältnis der Kirche zu den Evangelien. Aus einer neueren Schrift, die für solche Dinge sehr charakteristisch ist, möchte ich Ihnen eine Stelle vorlesen, aus der Sie erkennen werden, daß diese Ansicht, die damals den Petrus Waldus in den Bann getan hat, weil er in den Evangelien den Weg

373

zum Christus suchte, auch noch in der unmittelbaren Gegenwart ihre Wurzeln hat. Also nehmen Sie eine solche Sache, wie sie auch heute gesprochen wird. In der Schrift, die ich meine, heißt es: «Die Evan­gelien und die Briefe der Apostel sind uns die an Wert unvergleich­lichen schriftlichen Urkunden der Offenbarung; aber sie sind uns weder die Grundlage, auf der sich erst unser Glaube aufzubauen hätte, noch die einzige Quelle, aus der wir den Inhalt dieses letztem selbst­tätig schöpften. Nach unserer Auffassung ist die Kirche älter wie die heiligen Schriften, aus ihrer Hand entnehmen wir diese letztem, sie verbürgt ihre Glaubwürdigkeit, und gegenüber den Gefahren der handschriftlichen Überlieferung, gegenüber den Umgestaltungen des Wortlautes bei dem Übergange in alle Sprachen der Erde ist uns die Kirche die allein zuverlässige Auslegerin des Sinnes und der Trag­weite aller einzelnen Aussprüche.»

Das heißt, nicht darauf kommt es an, was in den Evangelien wirk­lich steht, sondern was die Kirche sagt, was man in den Evangelien zu suchen habe. Ich muß dies sagen aus dem einfachen Grunde, weil auch in unseren Kreisen viel Naivität über die Sache herrscht. Immer wieder und wieder will sich ja auch in unseren Kreisen die Ansicht geltend machen, daß es uns der katholischen Kirche gegenüber mehr nützen könnte, wenn von uns gesagt werden könnte, wir vertreten eine Christus-freundliche Auffassung. Aber das wird uns der katho­lischen Kirche gegenüber gar nichts helfen, sondern uns nur anschwär­zen, weil in der katholischen Kirche nichts vertreten werden darf über den Christus oder in bezug auf irgend etwas, was über die bloße Naturwissenschaft hinausgeht, was nicht von der Kirche selber als Lehrgut anerkannt ist. Wer also unter uns eine Christus-Vorstellung vertritt und nun glaubt, sich dadurch vor der katholischen Kirche rechtfertigen zu können, der klagt sich ja gerade an, beziehungsweise man hält dafür, daß er sich anklagt, weil er kein Recht hat, aus andern Quellen etwas über den Christus zu sagen als nur aus dem Lehrgut der Kirche.

Derselbe Verfasser, der das gesagt hat, was ich eben vorgelesen habe, spricht sich darüber in einer sehr klaren Weise aus: «Für den Gläubigen verhält es sich damit freilich nicht anders, wie für den

374

Naturforscher mit den Tatsachen der Erfahrung» also er meint, der Gläubige müsse das, was ihm die Kirche über die geistige Welt vorschreibt, so nehmen, wie die Augen die Naturtatsachen nehmen «er muß sie nehmen, wie sie sind, er kann nichts davon abtun oder hinzutun, gerade die von jedem subjektiven Beiwerke möglichst ge­reinigte Aufnahme des wirklichen Sachverhaltes ist es, die vor allen Dingen von ihm verlangt wird... Auch die Offenbarungswahrheiten sind ein Gegebenes für den, der sie im Glauben ergreift. Sie sind zudem ein Abgeschlossenes und Vollendetes. Sie können seit Christus keine Bereicherung erfahren, und es kann ihr Bestand nicht verringert werden, ihrem Inhalte nach ist jede Veränderung ausgeschlossen.»

Dies sagt jemand, der vollständig drinnensteht in dem, was der richtige Katholik, der richtige Kirchenkatholik sagen muß. Dieser richtige Kirchenkatholik muß sich zum Beispiel abwenden, mit einem gewissen Widerwillen abwenden von so etwas, wie es durch Lessing eingeleitet worden ist, was ja darauf hinausgegangen ist, das Seelisch-Geistige wieder zu suchen. Bis zu den wiederholten Erdenleben kam es durch Lessing. Aus dem neueren Geistesleben heraus ist dies ge­flossen. Das aber, was auf dem Boden der katholischen Kirche steht, muß sich in den ärgsten Widerspruch gerade zu dem deutschen Gei­stesleben stellen, wie es durch Lessisng, Herder, Goethe, Schiller geflos­sen ist. Derselbe Mann, der das geschrieben hat, was ich Ihnen vor­gelesen habe, schreibt daher auch: «Das kirchliche Lehrgebäude, wie es heute vor den Theologen hintritt und von ihm zur Darstellung gebracht wird, war allerdings nicht von Anfang an fertig und abgeschlossen. Was Christus den Aposteln mitteilte, was diese der Welt verkündeten, war kein methodisch voranschreitendes, allseitig ent­wickeltes System; es war eine Fülle von Wahrheiten, die sich alle in der einen Tatsache, der Heilsgeschichte, der Menschwerdung des gött­lichen Logos, wie in einem Brennpunkte vereinigen. Aber die Unter­weisung der Gläubigen und die Abwehr gegen die Angriffe der Hei­den wie gegen die Mißdeutungen der Häretiker machten es nötig, diese Wahrheiten miteinander systematisch zu verbinden, ihren vollen Inhalt zu entwickeln, ihren genauen Sinn zu fixieren. Dies geschah durch die unausgesetzte Lehrverkündigung von seiten der dazu

375

berufenen Organe, es geschah nach katholischer Auffassung unter Lei­tung des Heiligen Geistes, aber zugleich unter Mitwirkung der frühe beginnenden kirchlichen Wissenschaft.

Die Offenbarung schuf keine neue Sprache, sondern sie bediente sich der im Umlauf befindlichen, indem sie den Sinn und die Bedeu­tung einzelner Worte umprägte und erhöhte. Auch die Theologie, welche es unternahm, den Inhalt der Offenbarung ordnungsmäßig lehrhaft auseinanderzusetzen und spekulativ zu durchdringen, hatte hierzu gewisse Werkzeuge und Hilfsmittel nötig, scharf umgrenzte Begriffe zur Gliederung des Stoffes, besondere Ausdrücke, um in ver­ständlicher Weise Beziehungen anzudeuten, welche über die Erfah­rungen des täglichen Lebens weit hinausgehen. Damit war der grie­chischen Philosophie ihre neue welthistorische Aufgabe zugefallen. Sie hatte die Gefäße bereiten helfen, in welche nun ein aus höherer Quelle stammender, unendlich reicherer Inhalt gegossen wurde. Zu­nächst war es der Platonismus, aus dem man schöpfte. Die Richtung seiner Spekulation auf das Übersinnliche forderte direkt dazu auf. Viel später, nachdem schon mehr als ein Jahrtausend durchmessen war und die wichtigsten Bestandteile der Offenbarung längst ihre dogmatische Formulierung gefunden hatten, vollzog sich die enge Verbindung der theologischen Wissenschaft mit der Aristotelischen Philosophie, welche bis zum heutigen Tage fortbesteht.» Weil also die Aristotelische Philosophie schon im Mittelalter mit der Kirche vereinigt worden ist, darf sie auch heute in der Kirche gelten! «Mit ihrer Hilfe hat der hl. Thomas von Aquin, der größte Systematiker, den die Geschichte kennt, das große Lehrgebäude aufgerichtet, wel­ches, nur in Einzelheiten hie und da modifiziert, für die folgenden Jahrhunderte die katholische Theologie nach Form, Ausdruck und Lehrweise bestimmt hat.»

Nun sieht der betreffende Herr, von dem diese Schrift herrührt, ja ein, daß das, was er kirchliches Lehrgut nennt, zustande gekommen ist aus einer gewissen Verbindung desjenigen, was christliche Weis­heitssubstanz ist, mit der griechisch-aristotelischen Philosophie. Er stellt sich sogar etwas vor wie eine Möglichkeit, daß in einer Zukunft, die er aber recht ferne sich denkt er sagt ausdrücklich «in einer

376

heute noch keineswegs nahen Zukunft» , man mit ganz andern Vor­stellungen dem Christentum sich nähern könnte. Er sagt: «Wie wäre es denn, wenn das Christentum sich nicht durch die griechische Philo­sophie ausgebreitet hätte, sondern, wie es ja auch möglich gewesen wäre, durch die indische Philosophie: Es würde alles eine andere Ge­stalt bekommen haben. Dennoch aber muß bei der Gestalt geblieben werden, die es bekommen hat; man darf es nicht mit einer andern An­schauung verändern, die aus der neueren Zeit kommt.» Allerdings verspürt er, daß es Punkte gibt, wo die Sache brenzlig wird: «Ich wende mich nur gegen eine Geistesverfassung, welche auf Gebieten, auf denen der wissenschaftlichen Forschung volle Freiheit zusteht, gegen alle noch so begründeten Einwürfe taub ist und an der Über­lieferung festhält.» Aber er hält recht streng an der Überlieferung fest!

«Und schließlich muß man dann doch nachgeben, wie man bei dem Koperikanischen Weltsystem nachgegeben hat.» Das war ja erst im Jahre 1827! Aber er wendet sich ab von dem Versuche, der ja auch in berechtigter Weise gemacht worden ist: das Christentum neu zu verstehen, indem man es zu verstehen sucht vom neuzeitlichen Be­wußtsein aus. Das behagt ihm ganz besonders wenig. Er sagt: «So könnte ich mir denken, daß eine heute noch keineswegs nahe Zukunft die Verbindung der Theologie mit der Aristotelischen Philosophie lockerte und die nicht mehr verständlichen und noch weniger befrie­digenden Begriffe durch andere ersetzte, welche ihrem vielfältig ver­besserten Wissen entsprächen.» Er «könnte es sich denken», daß das, was ohnedies niemand mehr versteht, durch etwas ersetzt werden könnte, was auch keiner versteht. «Der Warnung des Evangeliums wäre damit nicht zuwider gehandelt, denn es würde ja nicht neuer Wein in alte Schläuche gegossen, sondern gerade umgekehrt, neue Gefäße würden hergestellt werden, um den unerschöpflichen und sei­ner Wesensbeschaffenheit nach unveränderlichen Wein der Heilslehre darin aufzubewahren und den Gläubigen darzureichen.»

Aber es darf nicht geschehen. Denn: «Aber die Gefäße müßten freilich dazu geeignet sein. Die Versuche, welche im 17. Jahrhundert mit der Cartesianischen, im 19. Jahrhundert mit der Kantischen und Hegelschen Philosophie gemacht worden sind, mahnen zur Vorsicht.

377

Ein Begriffssystem, welches das Aristotelische ersetzen sollte, müßte ebenfalls wie dieses aus der Fülle des Wissens und des Zeitbewußtseins hervorgegangen [sein]» , dann würden diese Menschen kommen und sich dagegen wenden, weil sie jedenfalls nicht aus der «Fülle des Wissens und des Zeitbewußtseins» hervorgegangen sind «es [das Begriffssystem] müßte ebenso wie dieses zu dauernder Herrschaft über weite Kreise der denkenden Menschheit gelangt sein. Auch dann aber würde seine Verwendung in der kirchlichen Theologie sich schwerlich ohne allerhand Irrungen und Wirrungen vollziehen.» Man müßte «arbeiten», um die Verständigung zu bewirken. «War es doch im 13. Jahrhundert nicht anders, als durch Vermittlung der Araber die vollständige Aristotelische Philosophie zur Kenntnis des christlichen Abendlandes kam. Ihre Aufnahme stieß zum Teil auf heftigen Wider­stand. Auch einem Thomas von Aquin blieben die Anfeindungen nicht erspart. Er galt damals vielen als ein Neuerer, gegen den die Ver­fechter des bewährten Alten ihre Angriffe zu richten hätten. »

Es ist merkwürdig, wie die Menschen sind, wie sie das, was sie sich ganz gut denken können, absolut nicht aufkommen lassen, wenn es eben aus dem Prinzip ist, das alte Verständnis des Christentums gerade zurückzudrängen, wenn sie aus dieser Zeit selbst sind. Und man kann nicht sagen, daß eine solche Sache nicht schlau gemacht ist. Es ist sehr gelehrt, denn das Büchelchen schließt mit einem wirklich bedeutsamen Hinweis, mit dem Hinweis auf eine Ordensgemeinschaft, welche es von jeher mit der Klugheit gehalten hat, mit dem Hinweis auf eine Ordensgemeinschaft, welche anders sich eingerichtet hat als Bernhard von Clairvaux oder als Franz von Assisi, die auf eine gewisse mystische Hinneigung zur Frömmigkeit sich eingerichtet haben. Jene andere Ordensgemeinschaft hat weniger Wert gelegt auf mystische Fröm­migkeit oder dergleichen, wohl aber auf eine gewisse Klugheit und auf eine Verständigung den Dingen des Lebens gegenüber. Daher sagt auch das Büchelchen zum Schluß: «Ich schließe mit einem Aus­spruche des hl. Ignatius von Loyola, welcher Aufnahme in die Konsti­tutionen des Jesuitenordens gefunden hat, und auf den neuerdings von verschiedenen Seiten hingewiesen worden ist: ‹Die Beschäftigung mit der Wissenschaft, wenn sie mit dem reinen Streben

378

getrieben wird, ist gerade darum, weil sie den ganzen Men­schen erfaßt, nicht weniger, sondern noch mehr Gott wohlgefällig als Übungen der Buße.›»

In unserer Zeit ist es geschehen, daß man versucht hat, klares Ver­ständnis nach allen Seiten zu erwecken. Das will ich Ihnen an einem Beispiele beweisen. Ich habe Ihnen heute aus einer Schrift vorgelesen, aus der Sie sehen können, wie man sich auf einer gewissen Seite ver­hält im Sinne einer Strömung, die ich charakterisierte. Daß man sich so verhält, das sieht zum Beispiel ein Herr ein, der über den Mann, der dieses Schriftchen geschrieben hat, vor kurzem es ist wichtig, daß es vor kurzem gewesen ist einen Aufsatz geschrieben hat. Aus diesem Aufsatze also will ich Ihnen jetzt eine Stelle vorlesen: «In der 1893 gehaltenen Rede legt er das Bekenntnis ab: Damit ist aber die Philosophie mundtot gemacht. Ihre Freiheit mutet uns genau so an, wie die der Herde innerhalb der Umzäunung oder der Gefange­nen innerhalb der umschließenden Mauern. So wenig diese frei sind, weil sie die eigenen Füße zur Bewegung und ihre eigenen Hände zur Tätigkeit gebrauchen dürfen und sich auf dem umschlossenen Gebiete beliebig bewegen können, so wenig ist die Philosophie mit ihren eigenen Prinzipien unter der bestimmenden, begrenzenden Herrschaft

379

des Glaubens frei. Eine katholische Philosophie enthält unmittelbar einen Widerspruch in sich selbst, denn sie ist nicht voraussetzungslos frei, auf sich selbst gestellt.» Wenn unsere Geisteswissenschaft nicht auf sich selbst gestellt wäre, so wäre sie nicht das, was sie sein soll. «Sie [die katholische Philosophie] hat eine gebundene Marschroute. Eine Philosophie, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erhebt, darf nur das mit rücksichtsloser Konsequenz festhalten, was dem eigenen Forschen und Denken entstammt, an die strengen Regeln der For­schung und Beweisführung gebunden ist; sie darf nicht innerhalb einer bestimmten Religion, auf einem bestimmten kirchlich-dogmati­schen Standpunkte stehen. Andernfalls ist sie nicht Wissenschaft, son­dern unwissenschaftlicher Dogmatismus; sie wird nicht von Wissensprinzipien, sondern von dem Glauben und Glaubenssätzen bestimmt. Sie geht nicht unbehindert und unbeeinflußt ihren Weg, sie folgt nicht unbefangen ihren eigenen Gesetzen, sondern erkennt von vorn­herein eine zu Recht bestehende Wahrheit an und begibt sich ihr gegenüber ihrer Selbständigkeit.»

Das aber ist gerade die Aufgabe unserer heutigen Zeit, daß wir den Weg finden, wo sich jede Menschenseele auf sich selbst stellen kann. Im herbsten Widerspruch mit der eigentlichen Aufgabe unserer Zeit steht daher ein Mensch, welcher so etwas behauptet wie das, was ich Ihnen aus jener Schrift vorgelesen habe. Sie sehen, es gibt auch Menschen, die das einsehen: daß jedenfalls eine Weltanschauung, eine wissenschaftliche Weltanschauung nicht möglich ist, wenn man solche Ansichten hat. Aber es scheint doch recht schwer zu sein, in der Gegenwart sich die Unbefangenheit seiner Urteile zu bewahren, trotz­dem es so notwendig wäre. Denn davon, daß die Menschen dahin kommen werden, ihren seelischen Zusammenhang zu finden, wie sie mit der geistigen Welt zusammenhängen, davon wird der Weitergang der Kultur abhängen; und wer dies nicht einsieht, verhindert das Allerwichtigste, was die Gegenwart als Aufgabe hat. Diese Konse­quenz müßte man in jedem Falle ziehen. Heute ist das Merkwürdige, daß die Leute etwas einsehen können, aber dann sonderbarerweise andere Konsequenzen daraus ziehen. Denn der Verfasser jenes Auf­satzes schreibt dann über den Mann, von dem ich Ihnen das vor-

380

gelesen habe, was dann in dem Bekenntnis zum Jesuitentum gipfelt und der Mann, der diese Schrift geschrieben hat, war, als er sie verfaßt hat, Georg Freiherr von Hertling, heute bekanntlich Graf von Hertling, der Verfasser jenes Aufsatzes schließt aber, nachdem er vorher gesagt hat, «das alles schließt die Wissenschaft aus», seinen Artikel mit den Worten: «Graf Hertling ist eine entschieden ausgeprägte Individuali­tät. Individualität heißt wörtlich Unteilbarkeit, aber eben diese bedingt zugleich Einteilbarkeit, innere Abstufung, durchgängige Organisa­tion. Einzelseele, Stammesseele, Volksseele treffen sich und steigern sich gegenseitig in diesem Manne: Seelendreieinigkeit ist es, welche ihn so stark macht und ihm den Stempel des auserwählten Kanzlers des deutschen Reiches aufdrückt.»

Es ist notwendig in unserer heutigen Zeit, daß wir die Möglichkeit finden, den Nerv zu ergreifen, durch den das Fluidum der Geistes­wissenschaft fließen muß. Und dieser Nerv kann kein anderer sein als der, welcher dadurch dasjenige durch sich fließen läßt, wodurch die Menschenseele ihren eigenen Weg zu dem geistigen Leben findet. Das muß man gründlich verstehen, denn das hängt mit den tiefsten Bedürfnissen, mit den notwendigsten Impulsen unseres heutigen Zeit­alters zusammen. Denn unsere Zeit fordert von dem Menschen, daß dieser Mensch in die Lage kommen könne, wenn er etwas durchschaut, sich auch dazu zu bekennen, auch wirklich die Konsequenzen daraus zu ziehen. Unsere Geisteswissenschaft wird wahrhaftig nur bei solchen Menschen, die den Mut zur Wahrheit haben, sich halten können, sonst wird man immer mehr und mehr solche Dinge erleben können. Auch das muß ich sagen, weil sich ja bei uns naive Gemüter immer mehr und mehr finden, die ihre helle Freude haben, wenn es einmal vorkommt, daß da oder dort etwas Geisteswissenschaftliches oder geisteswissen.. schaftlich Scheinendes gelobt wird. Gerade in diesem Punkte muß man Unterscheidungsvermögen haben. Loben kann uns viel schädlicher sein und viel mehr unseren Bestrebungen widersprechen als irgendein Tadel, wenn er ehrlich gemeint ist.

Da hat Hermann Heisler, ein protestantischer Theologe, in Konstanz Vortrage gehalten, die er dann gesammelt hat unter dem Titel «Lebensfragen, 17 Predigten von Hermann Heisler». Hier ist mir

381

zufällig eine Kritik dieses Buches von Hermann Heisler zugekommen, die sehr charakteristisch ist, und unsere naiven Freunde werden viel­leicht diese Kritik zu dem zählen, worüber sie sich zu freuen hätten, weil eigentlich alles gelobt wird. Aber charakteristisch ist diese Kritik: «Diese Predigten verdienen besondere Beachtung, schon um des Pre­digers willen. Er war zehn Jahre evangelischer Pfarrer in Steiermark und Böhmen, hat dann, erschreckt von der Gefahr, in der Routine des Amtes zu erstarren, vorläufig auf sein Amt verzichtet, um sich jahrelang gründlichen naturwissenschaftlichen und philosophischen Studien hinzugeben, bis er schließlich, von innerem Ruf getrieben, mit neuer Freudigkeit und Liebe zum geistlichen Amt zurückkehrte. Da er nämlich dem Vaterlande nicht mit der Waffe dienen konnte, hat er seiner heimatlichen badischen Landeskirche seine geistlichen Dienste angeboten und ist mit einem Pfarramt in Konstanz betraut. Dort sind im Laufe des Jahres 1917 die vorliegenden 17 Predigten gehalten. Sie ragen auch inhaltlich hervor. Sie beruhen alle auf gründ­licher Geistesarbeit und muten ihren Hörern und Lesern ernste Mit­arbeit zu. Sie wollen nicht schöne Gefühle entflammen, sondern durch ernsthaftes Denken eine zum Wissen werdende Überzeugung bilden. So vermeiden sie den Predigtton und lesen sich fast wie wissenschaft­liche Abhandlungen gediegen volkstümlicher Art über religiöse Pro­bleme. Ich nenne als Beispiel die Predigt über den vieldeutigen Begriff Freiheit. Sie kommt zu dem wahren Ergebnis: Aber das Eigentümliche der Heislerschen Predigt liegt nicht allgemein in der starken Anspannung des Denkens, es liegt im bestimmten Inhalt seiner Gedanken: Heisler ist überzeugter begeister­ter Theosoph. Er selber würde wohl lieber sagen: Anhänger der Geisteswissenschaft. Sie darf aber nicht mit spiritistischem Glauben an Materialisation von Geistern verwechselt werden, sondern be­hauptet eine rein geistige, an kein materielles Mittel gebundene Wirkung

382

des Geistes. Unsere Gedanken sind Kräfte, die unsichtbar, aber machtvoll von uns ausstrahlen und der ganzen Natur fördernd oder schädigend den Stempel unseres Wesens einprägen. Dieser Glaube an die unzerstörbare Macht des Geistes soll sich tröstend auswirken in der Predigt: ‹Unsere Toten leben›; er gewinnt überraschende Form in der Predigt ‹Schicksal›. Auf Grund von Joh. 9 (der Blindgeborene) wird hier die alte indische und orphische Lehre von der Seelenwande­rung, der Wiederverkörperung der Seele in einem irdischen Leibe, gelehrt: mit ihr will der Prediger die Rätsel des scheinbar oft so un­gerechten Schicksals lösen, und ähnlich wie Lessing in seiner Er­ziehung des Menschengeschlechts, den Glauben an eine planvolle göttliche Erziehung wecken. Wenn ich noch sage, daß Heisler diese Lehre wie seine ganze Geisteswissenschaft als Rückkehr zum Neuen Testament empfindet, und daß er sie als Wissenschaft vorträgt, also die Kantische Grenze zwischen Wissen und Glauben bewußt überschreitet, so habe ich seine Gedanken wohl in den Hauptzügen skizziert.»

Man könnte nun sagen: Was will man denn mehr? Man kann ja eigentlich nichts Besseres schreiben! Aber der Mann, der dies schreibt, schließt seine Betrachtung: «Ich persönlich lehne diese Geisteswissen­schaft ab und bleibe bei Kant stehen. Aber die Predigten enthalten im übrigen so viel Gutes, und die Theosophie bewegt augenblicklich die Theologie in so bedeutsamer Weise (vgl. z. B. Rittelmeyers Aufsätze in der ‹Christlichen Welt›), daß ich glaube, vielen Theologen und Laien einen Dienst zu tun, wenn ich sie nachdrücklich auf diese Predigten von Heisler hinweise.»

Das ist die Art, wie vielfach in unserer Zeit gedacht wird, wie in unserer Zeit dem Denken die innere Kraft und der innere Mut fehlen. Der Mann hat «nur Gutes» zu sagen; man merkt, er sieht das Gute auch ein, denn er kann es ganz hübsch formulieren. Dann jedoch: «Ich persönlich lehne diese Geisteswissenschaft ab»! Da haben Sie die Früchte dessen, was ich vorhin charakterisierte, und viele Dinge in der Gegenwart hängen mit diesen Früchten zusammen.

Dies will ich heute über acht Tage noch weiter auseinandersetzen: jene Strömung, die ich heute charakterisierte, und die dann hinüber­führt bis in die Sozialdemokratie und den Bolschewismus.

383

ZWANZIGSTER VORTRAG Berlin, 30. Juli 1918

Ich werde heute einiges weiter skizzieren aus dem Zusammenhange heraus, den wir im Laufe der letzten Betrachtungen schon zu ver­stehen versucht haben. Die Gegenwart mit ihren verschiedensten Strömungen, geistigen, materiellen Strömungen zu verstehen, ist ja außerordentlich schwierig, und man sollte gar nicht glauben, daß man sie verstehen könnte, diese verworrene Gegenwart, ohne den Willen, dasjenige zu erkennen, was sich für diese Gegenwart im Grunde ge­nommen lange, lange im Schoße der Geschichte vorbereitet hat. Wir wollen heute in dem Sinne, wie wir das aus unserer Geisteswissen­schaft heraus versuchen können, zurückschauen auf den sogenannten vierten nachatlantischen Zeitraum.

Sie wissen, wir müssen diesen Zeitraum beginnen lassen ungefähr mit dem Jahre 747 vor dem Mysterium von Golgatha, und er schließt für uns mit dem Beginn des 15. Jahrhunderts, etwa mit dem Jahre 1413. Wir blicken also auf diesen Zeitraum - die Zahlen sind natürlich so aufzunehmen, wie überhaupt in bezug auf diese Dinge die Zahien -, weil wir in diesem Zeitraum gewisse zusammengehörige, miteinander verwandte Kräfte sehen, die sich von all den Kräften, die im vorher­gehenden und im nachfolgenden Zeitraum herrschen, ganz wesentlich unterscheiden. Dieser Zeitraum, den wir die Entwickelung der Verstandes- oder Gemütsseele in der Menschennatur nennen, kann uns wiederum in drei kleinere Epochen zerfallen: in einen Zeitraum, den wir etwa so begrenzen können, daß wir ihn beginnen lassen etwa 747 vor Christus das ist ja auch die wahre Begründungszahl von Rom und schließen etwa im Jahre 27 vor dem Mysterium von Golgatha. Der zweite kleinere Zeitraum würde sich dann erstrecken von diesem Jahre 27 bis etwa zum Ende des 7. Jahrhunderts, bis zum Jahre 693 nach Begründung des Christentums; und der letzte, der dritte kleinere Zeitraum in diesem größeren, umschließt die Zeit von 693 bis etwa 1413. Seit jenem Zeitpunkte, seit etwa 1413, stehen wir dann in der­jenigen Zeit drinnen, die unserer Seelenentwickelung die uns ja in

384

ihrer Eigenart bis zu einem gewissen Grade schon bekannten Seelen-kräfte gibt. So wie man den vierten nachatlantischen Zeitraum in bezug auf die Seelenentwickelung der Menschheit scharf abgrenzen kann von den drei vorhergehenden, dem urindischen, dem urpersi­schen und dem ägyptisch-chaldäischen, und wie man ihn wieder scharf abgrenzen kann von dem, was darauf schon gefolgt ist und noch kom­men muß, so kann man auch wieder innerhalb dieses Zeitraumes schon charakteristische Momente hervorheben für die Entwickelung der Kulturmenschheit, insofern sie im Prozeß der Fortentwickelung der Menschheit innerhalb dieser kleineren angegebenen Zeiträume in Betracht kommen.

Für den Zeitraum von 747 bis 27 vor dem Mysterium von Golgatha kommen ja selbstverständlich vorzugsweise jene Völker in Betracht, die um das Mittelmeer herum wohnen. Bei diesen Völkern sehen wir eine ganz bestimmte Seelenverfassung sich ausbilden. Die Geschichte sagt wenig über diese Seelenverfassung, weil die Geschichte in diesem Falle sich die Ideen, die Begriffe nicht verschaffen will, um auf das eigentlich Charakteristische dabei einzugehen. Will man diesen Zeit­raum, den ich eben begrenzt habe, charakterisieren, so kann man sagen: Die Menschenseelen entwickeln sich in dieser Zeit aus inneren Gründen der menschheitlichen Entwickelung heraus so, daß sie sich gewissermaßen als Seelen von dem Zusammenhange mit der all-geistigen Welt lösen. Wenn wir ins Ägyptertum, ins Chaldäertum zurückgehen - das ist ja der Zeitraum der Empflndungsseele -, so fin­den wir da für das menschliche Bewußtsein ein ausgesprochenes Ge­fühl der Zusammengehörigkeit dieser Menschenseele mit dem Kosmos vor. Die Empfindungsseele in der Menschennatur verspürte damals, daß der Mensch ein Glied des ganzen Kosmos ist. Man kommt nicht mit der Charakteristik dessen zurecht, was man als ägyptische, als chaldäische, babylonische Entwickelung kennt, wenn man nicht be­rücksichtigt, daß damals der Mensch gewissermaßen mit der Emp­findung, mit der sinnlichen Empfindung aus der Weltenbeobachtung etwas hereinnahm, was in ihm dieses Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem geistigen Kosmos ausdrückte. So wie unsere Finger an der Hand sich gleichsam als eins mit uns selber fühlen, so fühlte sich noch

385

der ägyptische, der chaldäische Mensch als ein Glied des geistigen Kosmos. Mit Bezug auf dieses kosmische Gefühl war im 8. Jahrhun­dert vor unserer Zeitrechnung eine Krisis, eine richtige Katastrophe über die Menschheit hereingekommen. Die Menschenseelen hatten ja ihr früheres Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Kosmos ihrem alten atavistischen, mehr traumhaften Hellsehen verdankt. Die Men­schen nahmen in jenen alten Zeiten nicht so wahr, wie wir heute wahrnehmen. Sie nahmen - die profane, aber in diesem Sinne nichts wissende Wissenschaft nennt es «Animismus» -, indem sie mit den Sinnen wahrnahmen, zugleich das Geistige, das Göttliche wahr. Da­durch fühlten sie sich im Zusammenhange mit dem Geiste des Kosmos.

Dieser Zusammenhang schwand. Auf der einen Seite hatte dieses Schwinden viele Dekadenzerscheinungen zur Folge, auf der andern Seite hatte es aber auch die ganze wunderbare griechische Kultur zur Folge. Denn diese griechische Kultur, die vorzugsweise auf das begründet war, was der Mensch als Mensch, als isoliert im Weltenall dastehender Mensch erlebt, diese griechische Kultur ist dem Um­stande zu verdanken, daß der Mensch sich nicht mehr als ein Glied des Kosmos fühlte, sondern als eine menschliche Totalität, als etwas in sich Abgeschlossenes als Mensch. Er hatte sich gewissermaßen herausgestellt im Kosmos, er hatte ein Totalleben in sich selbst be­gonnen. Wenn über das griechische Geistesleben dieselbe Seelen-verfassung ausgegossen wäre, die aus alten Zeiten, zum Beispiel im Indertum, zurückgeblieben war, und die noch eine gewisse Zusam­mengehörigkeit mit dem Kosmischen hatte, so könnten Sie sich nicht denken, daß unter diesem Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Kosmos die schöne griechische Kultur hätte entstehen können. Alles, was in der griechischen Kultur als Glanz und Glorie zum Vorschein gekommen ist, was auf andern Gebieten in weniger erfreulicher Art sich herausgebildet hat, das alles hat sich herausgebildet in der Zeit vom 8. bis 1. vorchristlichen Jahrhundert. Die Menschheit hat sich in das Seelische, in das rein Menschliche zurückgezogen. In dieses Zeitalter hinein fiel dann die Hinbewegung der Menschheit zu dem Mysterium von Golgatha. Vergessen wir nicht, daß das Mysterium

386

von Golgatha immer etwas haben muß, was gewissermaßen nicht ganz in das menschliche, auch nicht in das menschliche übersinnliche Verständnis aufgehen kann. Es wird immer ein ungelöster Rest blei­ben. Was sich mit dem Eintritt des Christus in die Erdenentwickelung vollzogen hat, das kann, wie ich bei verschiedenen früheren Betrach­tungen ausgeführt habe, nicht vollständig in menschliche Begriffe, auch nicht einmal in menschliche Gefühle und Empfindungen sich auflösen. Damit aber hängt es zusammen, daß dieses Mysterium von Golgatha sich gewissermaßen so entwickeln mußte, daß die Kulturmenschheit während dieses Ereignisses dazu vorbereitet war, dieses Mysterium von Golgatha nicht eigentlich so voll mitzuerleben, son­dern es neben dem eigenen menschlichen Erleben für sich verfließen zu lassen. Denken Sie doch einmal, daß dieses neben dem eigentlichen menschlichen Erleben für sich Verfließenlassen historisch als ziemlich deutlich zutage tritt. Wieviel hat denn eigentlich die Kulturmensch­heit um das Mittelmeer herum von dem berücksichtigt, was da in der entfernten Judenprovinz Palästina sich mit dem Christus Jesus ab­gespielt hat? Wie wenig ist das noch in das Bewußtsein der Kulturmenschheit eingeflossen, selbst für Tacitus, der ein Jahrhundert nach dem Mysterium von Golgatha geschrieben hat!

Auf der einen Seite haben wir die Strömung der Kulturmenschheit und auf der andern Seite jene Strömung, innerhalb welcher das Myste­rium von Golgatha spielt. Beide vollziehen sich gewissermaßen neben­einander. Das konnte nur dadurch geschehen, daß, während sich das göttliche Ereignis vollzog, der Mensch, der Kulturmensch sich von dem Göttlichen abgeschnürt hatte, ein Leben lebte, das mit dem Geistigen keinen unmittelbaren Zusammenhang hatte. So geschah auf dem Erdenrund selbst ein geistiges Ereignis, das eigentlich neben der menschlichen Kultur einhergeht. Ein solches Verhältnis des Nebeneinanderlebens von äußerer Kultur und einem Mysterienereignis ist in allen früheren Kulturperioden der Menschheit ganz undenkbar. Niemals spielte sich dergleichen früher ab, weil die Menschheitskultur sich früher im Zusammenhang wußte mit dem, was göttlich-geistig vorgeht. Das ist sehr charakteristisch, sehr bedeutsam, daß eigentlich die profane Kultur, welche mit dem Mysterium von Golgatha parallel

387

ablief, diesem Ereignisse fernstand, daß der Mensch sich abgeschnürt hatte.

Und im zweiten Zeitraume, der also etwa 27 vor dem Mysterium von Golgatha beginnt und 693 nach ihm abschließt, ist eigentlich die ganze mitteleuropäische Kultur darauf angelegt, die profane Kultur in Wahrheit doch nicht an das Verständnis des Mysteriums von Gol­gatha herankommen zu lassen. Es könnte sehr sonderbar aussehen, was ich sage, wenn man doch bedenkt, daß das Christentum sich in diese europäische Profankultur eingelebt hat, daß es sich über die mitteleuropäische Kultur ausgebreitet hat. Aber die Ausbreitung ist in dem Sinne erfolgt, wie ich es schon neulich charakterisiert habe. Das Mysterium von Golgatha war einsam für sich. Gewiß, in äußerlich dogmatischer Weise nahm man in die profane Kultur allerlei herüber, was sich so ausdrückt: Der Christus war da, hat Apostel gehabt, hat dieses oder jenes für die Menschheit eingeholt, hat über die Beziehung des Menschen zum Göttlichen dieses und jenes gesagt. Man nahm in Form von äußeren Sätzen dies in die Profankultur recht sehr auf, aber neben diesem Aufnehmen in äußerlicher Weise war das andere doch durchaus geltend: daß eigentlich diese ganze Menschheit, welche ge­rade in diesen Jahrhunderten das Christentum aufnahm, sich von dem innerlichen Verständnis des Mysteriums von Golgatha gerade fernhielt. Mit Hilfe der Gnosis, mit Hilfe mancher Vorbereitung durch das, was aus dem alten Heidentum an Weisheitsschätzen überliefert war, hätte man sich gerade dem nähern können: Was ist da eigentlich mit dem Mysterium von Golgatha geschehen? Man hat es nicht getan. Man hat eigentlich alles für Ketzerei erklärt, was zum Verständnis des Mysteriums von Golgatha hätte führen können, und man versuchte mehr oder weniger in triviale Formeln hineinzugießen, was sich nie­mals in triviale Formeln hineingießen läßt, was in bezug auf das Mysterium von Golgatha nur mit den höchsten Inhalten des Weis­heitsstrebens erfaßt werden kann.

So waren die Einrichtungen, die in den ersten Jahrhunderten der christlichen Entwickelung gepflogen wurden, eigentlich nicht dazu da, sich mit dem Mysterium von Golgatha zu verbinden, sondern in der Menschenseele etwas leben zu lassen, was dem wirklichen inneren

388

verständnisvollen Zusammengehörigkeitsgefühl mit dem Mysterium von Golgatha eigentlich recht ferne blieb. Die Kirche war eher eine Einrichtung zum Nichtverstehen des Mysteriums von Golgatha als zum Verstehen. Wer verfolgt, was die verschiedenen Konzilien, was überhaupt die kirchlichen Machinationen in diesen Zeiten zu bewirken sich bestrebt haben, der findet, daß all das, was so angestrebt worden ist, dahin ging, gewisse dogmatische Vorstellungen ins menschliche Leben hereinzunehmen, aber über diejenigen Dinge, die mit dem Mysterium von Golgatha zusammenhängen, doch so zu denken, daß diese sich eigentlich unabhängig vom menschlichen Seelenleben voll­ziehen. Es tendiert alles nach einem gewissen Punkte hin, nach jenem Punkt, den man etwa, wenn man etwas radikal charakterisiert, in der folgenden Weise schildern könnte. Man kann sagen: Die Menschen suchten sich hier auf der Erde mit gewissen Vorstellungen über das Mysterium von Golgatha und seine Wirkungen einzurichten. Aber das Wichtigste war ihnen nicht, was sie wissen konnten, was sie in ihre Seele aufnahmen, sondern das Wichtigste war ihnen, daß sie die Voraussetzung haben können: Was wir Menschen auch begreifen, das Mysterium von Golgatha hat sich für sich selbst vollzogen, und der Christus sorgt schon dafür, daß wir selig werden! Und die Tendenz ging dahin, die Realität der geistigen Ereignisse immer mehr und mehr in ein Jenseits des Seelischen abzuschieben, nicht die eigent­lichen wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf geistig-heiligen Ereignisse im Zusammenhange mit dem zu denken, was sich in der Menschenbrust abspielt, sondern beide möglichst zu trennen. In dieser Tendenz lag ein selbstverständlich nicht ausgesprochenes, aber un­bewußt wirkendes Ziel, ein Ziel, das dann beim achten Konzil in Konstantinopel im Jahre 869 erst recht herausgekommen ist. Das Ziel, es lag darinnen, den Menschengeist von seiner individuellen, seiner persönlichen Beschäftigung mit dem Geistigen, das man ja jetzt auf das Mysterium von Golgatha beschränken wollte, abzuhalten, also von der Hinneigung, von der individuellen und empflndungs­gemäßen Hinneigung zum Verständnisse des Mysteriums von Gol­gatha. Unverstanden sollte es bleiben. Dadurch konnte sich die Kirche nach und nach dazu entwickeln, Menschen unter sich zu haben, die

389

nur Profanverständnis haben, die immer mehr und mehr zu dem Glauben kommen: Über das Übersinnliche kann man überhaupt nicht nachdenken, denn das Übersinnliche entzieht sich den Kräften der eigenen Menschenseele. Das menschliche Nachdenken soll sich nur auf das beschränken, was hier in der physischen Welt lebt. Aus den Menschenseelen heraus sollten sich keine Kräfte entwickeln, die für sich selbst geeignet sein könnten, Verständnis zu suchen für das Mysterium von Golgatha. In gewissen Beschlüssen gerade des achten Konzils von Konstantinopel liegt klar ausgesprochen, daß die Men­schen Europas nicht nachdenken sollten - weil die menschlichen Seelenkräfte nicht heranreichen an das Gebiet -, nicht nachdenken sollten über das Gebiet, in welchem das Leben verflossen ist, dem das Mysterium von Golgatha angehört.

So vollzog sich gerade in diesem mittleren Zeitraum des vierten nachatlantischen Zeitabschnittes von etwa 27 vor dem Mysterium von Golgatha bis 693 nach demselben für die Menschheit das, daß man sagen kann: Diese Menschheit sollte zu dem Glauben bestimmt wer­den, daß alles menschliche Erkennen, alles menschliche Empfinden nur für das sinnenfällige Diesseits berechnet sei; das Nichtsinnen­fällige, das Übersinnliche oder, wie man es nennen will, Jenseitige sollte dem menschlichen Empfinden und Erkennen, dem unmittel­baren erkenntnismäßigen Empfinden entzogen werden. Die ganze Geschichte dieser Jahrhunderte versteht man eigentlich nur, wenn man dieses eben Charakterisierte eigentlich ins Auge faßt. Alle Maßnahmen der katholischen Kirche in jenen Jahrhunderten waren darauf an­gelegt, den Menschen zu dem Glauben zu bringen: Dein seelisches Erkennen ist nur für das Diesseits berechnet; was das Übersinnliche betrifft, so mußt du es auf eine Weise an dich herankommen lassen, die nichts mit deinem Verständnis, mit deinem Eigenerkennen zu tun hat. Das hat bewirkt, daß dann nach dem Ende dieses Zeitraumes, also im 8., 9. Jahrhundert, eine Art Verfinsterung der europäischen Menschheit eingetreten ist in bezug auf den Zusammenhang der Menschenseele mit dem Übersinnlichen. Und solche Erscheinungen, wie ich sie geschildert habe, unter denen eine solche wie später Bernhard von Clairvaux typisch ist, die erklären sich gerade daraus, daß sie

390

gewissermaßen jenseits bleiben von allem Physisch-Sinnlichen und dem­jenigen die Seele ganz hingeben, woran das natürliche menschliche Verständnis nicht heranreicht. Dieser Enthusiasmus für das, was doch jenseits alles menschlichen Verstehens liegt, muß hinzugedacht wer­den zu der ganzen Seelenverfassung eines Bernhard von Clairvaux, so wie man sie versteht. Man kann gerade in dieser Persönlichkeit manche Züge finden, die groß und gewaltig wirken, weil alles, was einen mehr oder weniger verzerrten Zug haben kann, auch einen schönen, einen großen, gloriosen Zug haben kann. Aber man wird bei Bernhard eben Züge finden, die in seinem Seelencharakter ganz deut­lich anzeigen, daß er herausgeboren ist aus jener Seelenstimmung, die sich in der geschilderten Weise in den angegebenen Jahrhunderten innerhalb der abendländischen Kultur entwickelt hat. Man könnte außer Bernhard von Clairvaux manche andere Gestalt nennen, er ist nur eine typische Figur, so zum Beispiel, wenn er seinen Anhängern - deren Kreis war ein großer - davon spricht, was alles mit dem von ihm beabsichtigten Kreuzzug der Menschheit beschert sein sollte. Dann kam das Mißlingen der ganzen Sache. Und wie spricht er, dieser gottinnige Mensch, gerade über dieses Mißlungene? Ungefähr so: Wenn alles, alles schlimm ausgeht, so möge das Urteil über den schlimmen Ausgang mich treffen, aber nicht das Göttliche, denn das muß immer recht haben. Selbst da, wo sich der Mensch im Zusammenhange wissen konnte mit dem, was er als göttlich-geistige Kraft hinter den Erscheinungen denkt das eine sondert er von den andern ab , da sagt er: Die Sünde möge mich treffen; das Richtige ist etwas, was für sich verläuft, was gewissermaßen jenseits des Stromes verfließt, in welchen die Menschenseele eingespannt ist.

So war mit dem Beginne dieses dritten Zeitabschnittes des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes etwas wie eine Verfinsterung über die Menschheit gekommen. Die drückt sich am besten darin aus, daß man hinblickt, wie die Menschheit in ihren Begriffen keinen Zusam­menhang mehr mit den realen geistigen Strömungen und Impulsen zu erkennen vermochte. Man lerne nur die Philosophie der Jahrhunderte zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert kennen, wie sie überall darauf hinzielt, nachzuweisen, daß man mit den menschlichen Ideen und

391

Begriffen auf keinen Fall das zu erfassen versuchen sollte, was in der geistigen Wirklichkeit vor sich geht, wie das man hatte es glücklich auf eine Formel gebracht der Offenbarung überlassen werden muß, wie das dem Lehramt der Kirche überlassen werden muß.

So hatte sich die Macht der Kirche herausgebildet. Diese Macht der Kirche ist nicht bloß aus theologischen Impulsen heraus entstanden, sondern sie hatte sich dadurch herausgebildet, daß die Menschen dar­auf verwiesen worden sind, ihre eigenen Erkenntniskräfte, ihre eige­nen Seelenkräfte nur auf das physisch-sinnliche Leben zu beziehen und nicht an eine Erkenntnis des Übersinnlichen zu denken. Daraus ent­wickelte sich der spätere, in den ersten Jahrhunderten durchaus noch nicht vorhandene - man datiert ihn nur zurück - Glaubensbegriff. Dieser Glaubensbegriff besagt: Über das Geistig-Göttliche könne man nur einen Glauben haben - kein Wissen. Diese Trennung zwischen Glaubenswahrheit und Wissenswahrheit bildete sich tatsächlich aus gewissen geschichtlichen Hintergründen heraus, die bedeutsam sind, und die man in solchen Dingen suchen muß, wie wir sie angeführt haben.

Nun leben wir seit dem 15. Jahrhundert, approximativ seit dem Jahre 1413, in einem Zeitraume - das wird erst das 3. Jahrtausend zeigen -, in dem wir es zu tun haben zum Teil mit der Erbschaft alles desjenigen, was unter solchen Einflüssen, die ich hier charakterisiert habe, geschehen ist. Mit Erbstücken aus der damaligen Zeit haben wir es auf der einen Seite zu tun, und auf der andern Seite haben wir es weiter mit etwas zu tun, was sich als ganz Neues in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum bildet. In jenem vierten Zeitraume, wenn wir ihn überblicken, haben wir es zu tun mit einer Art Abschnürung der Menschenseele vom Geistig-Göttlichen, mit einem Verwiesenwerden auf die bloß äußeren physisch-sinnlichen Vorgänge. Das war damals für diesen vierten Zeitraum auch neu. Ich habe ja vorhin an­gedeutet, daß es im ägyptisch-chaldäischen Zeitalter nicht vorhanden war. Mit einem solchen ähnlichen Neuen haben wir es auch in unserem Zeitraume zu tun, und die Aufgabe der Menschheit die Menschheit ist ja allmählich in ein Zeitalter eingetreten, in welchem die Bewußt­heit eine immer größere Rolle spielen muß , die Aufgabe der Menschheit

392

wäre, dies alles eben einzusehen, einzusehen, was auf der einen Seite Erbschaft ist aus der eben charakterisierten vergangenen Zeit, und was auf der andern Seite neu aus unserem Zeitalter entsteht. Wollen wir einmal zuerst auf die Erbschaft hinblicken.

Wir haben gesehen, daß diese Erbschaft darin besteht, daß der Mensch sich gewissermaßen gezwungen fühlt, sein Seelisches abseits von dem Übersinnlichen zu entwickeln. Und Erbschaft davon ist wieder etwas anderes, was Sie, wenn Sie die historischen Vorgänge immer genauer und genauer überblicken werden, auch gerade immer besser einsehen werden. Gerade durch genaues Überblicken wird die Sache nicht etwa irgendwie einem Zweifel unterworfen, sondern gerade in die Bewahrheitung hineingestellt. Sie werden nämlich sehen, wie das, was sich damals herausbildete, daß man die menschliche Seelenkraft im Sinnlichen erhalten, von dem Übersinnlichen ab­schließen will, dann im fünften nachatlantischen Kulturzeitraum - seit dem 15. Jahrhundert - sich dahin entwickelte, dieses Übersinnliche überhaupt abzulehnen. Damals wollte man gewissermaßen das Über­sinnliche vom Menschen fernhalten, und dadurch ist gerade das achte Konzil zu Konstantinopel vom Jahr 869 charakterisiert. Nun ent­wickelte sich aus diesem Fernhalten, das sich gerade die Kirche zur Aufgabe machte, die Ablehnung des Übersinnlichen. Es entwickelte sich der Glaube, daß das Übersinnliche überhaupt nur von Menschen ausgedacht sei, daß es keine Wirklichkeit habe. Will man historisch-psychologisch den Ursprung des neueren Materialismus wirklich ver­stehen, so muß man ihn bei der Kirche suchen. Natürlich ist die Kirche auch nur der äußere Ausdruck für tiefere, in der Menschheits­entwickelung wirkende Kräfte, aber man erwirbt sich eine Erkenntnis dieser Menschheitsentwickelung, wenn man genauer zusieht, wie das eine aus dem andern wirklich entsteht. Der Rechtgläubige im vierten nachatlantischen Zeitraum sagte: Das menschliche Erkenntnisver­mögen ist nur dazu bestimmt, die sinnlichen Zusammenhänge zu ver­stehen; das Übersinnliche muß der Offenbarung überlassen sein, da darf nicht hineingeredet werden; denn alles was hineingeredet wird, ist Ketzerei und kann nur zu einem Irrwahn führen. - Der moderne Marxist, der moderne Sozialdemokrat, welcher der rechte Sohn dieser

393

Anschauung ist, die nichts anderes ist als die Konsequenz des Katholi­zismus aus den früheren Jahrhunderten, der sagt: Alle Wissenschaft, die dieses Namens würdig ist, kann nur von sinnlich-physischen Er­eignissen handeln; Geisteswissenschaft gibt es nicht, weil es keinen Geist gibt; Geisteswissenschaft ist höchstens Gesellschaftswissen­schaft, Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben. - Natürlich hat sich in den verschiedensten Gebieten der Kulturländer diese eben charakterisierte Tendenz ausgelebt, aber das nur als Nuance.

So ist es nötig geworden, daß vom 9. Jahrhunderte ab in den mittle­ren und westlichen Ländern Europas darauf Rücksicht genommen wurde, daß sich das menschliche Seelenleben in einer gewissen Weise doch mitbetätigt, indem es glaubt an das Übersinnliche und nichts von ihm weiß als durch Offenbarung, aber an das Übersinnliche glaubt. Die Rassen- und Volkseigenschaften Mitteleuropas waren so, daß man auf sie Rücksicht nehmen mußte, daß man sie nicht einfach so lassen konnte. Den Leuten sagen: Eure menschlichen Kräfte müs­sen sich beschränken auf Essen und Trinken, und was sonst in der Welt geschieht, das andere lebt über euch -, ganz so konnte man es in Westeuropa nicht machen; man tat das aber in Osteuropa, und das ist der Sinn der Kirchenspaltung zwischen Ost- und Westeuropa. In Osteuropa wurde der Mensch wirklich auf die Sinneswelt be­schränkt, dort sollten sich seine Kräfte entwickeln. Und innerhalb der Mysterienhöhen, ganz unberührt vom Sinnlichen, sollte sich das ent­wickeln, was dann zur orthodoxen Religion führte. Da wurde wirklich streng getrennt das, was der Mensch über sein Menschentum herausbrachte, und das, was die wirkliche geistige Welt war, die einzig und allein schwebte und lebte in dem über den Menschen schwebenden Kultus.

Was mußte sich da entwickeln? Es mußte sich, wiederum in ver­schiedenen Nuancen, die Anschauung, die Empfindung entwickeln: Bedeutung, Wirklichkeit hat eigentlich nur das Sinnlich-Physische. Man könnte sagen: Kräfte, die nicht geübt werden, sondern die man so behandelt, daß sich der Mensch ihnen gegenüber in der Weise ver­hält, sie in sich abzusperren, solche Kräfte entwickeln sich auch nicht, die verkümmern. Hatte man also den Menschen durch Jahrhunderte

394

hindurch davon abgehalten, in seinem Geist das Übersinnliche zu er­fassen, so wurden seine Kräfte auch immer ungeübter, um dieses Übersinnliche zu erfassen, und es entschwand ihm vollständig. Und dieses vollständige Verschwinden finden wir in den modernen sozia­listischen Weltanschauungen, deren Unglück nicht in ihrem Sozialis­mus, sondern darin besteht, daß sie das Geistig-Übersinnliche voll­ständig ablehnen und sich daher beschränken müssen auf die bloße soziale Struktur des Animalischen im Menschen. Diese blol3e soziale Struktur des Animalischen im Menschen ist vorbereitet worden durch das Lahmlegen der übersinnlichen Kräfte des Menschen. Sie hat sich dadurch ergeben, daß die Menschen gezwungen sind, sich zu sagen:

Wir wollen gar nicht unsere Seele erkennend und erlebend mit dem verbinden, was den Strom seines Lebens für sich lebt, so daß unsere Seigkeit durch es bewirkt wird und worin das Mysterium von Gol­gatha eingespannt ist.

Womit hängt das zusammen? Es hängt damit zusammen, daß ge­rade in diesem vierten nachatlantischen Zeitraum ganz besonders stark die luziferischen Kräfte wirkten. Sie lösten den Menschen los von dem Kosmos; denn diese Kräfte sind immer darauf aus, den Men­schen egoistisch zu isolieren, ihn loszuschnüren vom ganzen geistigen Kosmos, auch in seinem Wissen vom Zusammenhang mit dem physi­schen Kosmos. Daher gab es keine Naturwissenschaften, als diese Los­lösung in der höchsten Blüte stand. Luziferisches ist das. Daher muß man sagen: Was damals wirkte in der Trennung sinnlichen Wissens und übersinnlicher Dogmatik, das ist luziferische Art. Dem Luzife­rischen steht entgegen das Ahrimanische. Das sind die zwei Gegner der menschlichen Seele. Dieses Verkümmernlassen der übersinnlichen Menschenkräfte - was dann zur rein animalischen Form des Sozialis­mus geführt hat, der jetzt verheerend und zerstörend über die Menschheit hereinbrechen muß ist auf luziferische Kräfte zurückzuführen. Das Neue, was sich in unserem Zeitalter entwickelt, ist anderer Natur; das ist mehr ahrimanischer Natur. Das Luziferische will den Menschen isolieren, abschnüren vom Geistig-Übersinnlichen, will ihn in sich selbst die Illusion einer Totalität erleben lassen. Das Ahrimanische dagegen jagt dem Menschen Furcht ein vor dem Geistigen, läßt ihn

395

nicht an das Geistige herankommen, gibt ihm die Illusion, daß das Geistige doch nicht vom Menschen erreicht werden kann. Muß die luziferische Abhaltung des Menschen vom Übersinnlichen mehr er­zieherischer, kulturerzieherischer Art sein, so ist die ahrimanische Abhaltung vom Übersinnlichen, die auf der Furcht vor dem Geistigen beruht, mehr eine natürliche, die in dem Zeitalter seit dem 15. Jahr­hundert besonders hervorbricht. Und wie die luziferische Abschnü­rung vom Geistigen in dem Leben unter der Decke des orthodoxen Christentums des Ostens besonders zum Ausdruck kommen konnte, so die ahrimanische Furcht, die Zurückhaltung vor dem Geistigen besonders in dem Element der westlichen Kultur und besonders auch in dem Element der amerikanischen Kultur.

Solche Wahrheiten mögen heute unbequem sein, aber sie sind eben Wahrheiten, und wir kommen heute nicht dadurch vorwärts, daß wir im Allgemeinen herumreden wenn auch noch so mystisch oder theosophisch von dem Zusammenhang des Menschen mit dem Gött­lichen, oder wie sonst die Frage heißen möge. Sondern nur dadurch kommen wir vorwärts, daß wir die Wirklichkeit erkennen, wie sie ist. Nur dadurch können wir wieder eine Ordnung in unserem Chaos finden, daß wir die verschiedenen nebeneinander lebenden Strömungen in ihrer Eigenart erkennen. Denn ihrerseits entwickeln sich die ver­schiedenen Strömungen aus ihren Voraussetzungen, lokal, und ver­breiten sich dann, und in dem modernen Kuddelmuddel, den man dann Kultur nennt, geht doch alles durcheinander. - Was ich jetzt nennen möchte «Amerikanismus», das Amerikanische als Kollektivbegriff nicht auf die einzelnen Amerikaner bezüglich -, das ist die Furcht vor dem Geistigen, ist die Sehnsucht, nur mit dem physisch-sinnlichen Plan zu leben, höchstens noch mit dem, was von unten herauf in diesen physisch-sinnlichen Plan an Grobgeistigem, Spiriti­stischem und dergleichen hereinkommt, was nicht ein wirklich Geisti­ges ist. Furcht vor dem Geistigen ist es, was den Amerikanismus cha­rakterisiert. Aber der Amerikanismus lebt nun nicht etwa bloß in Amerika - da lebt er ganz und gar im sozialen Pol willenhaft, nicht menschlich -, er lebt vor allem in aller Wissenschaft. Diese Wissen­schaft hat nämlich in diesem Zeitraume seit dem 15. Jahrhundert

396

immer mehr und mehr auch dasjenige herausgebildet, was man nennen könnte «Furcht vor dem Geistigen». Als objektive Wissenschaft wird ja nur dasjenige bezeichnet, was womöglichst nicht mit lebendigen, im Inneren der Seele erzeugten Begriffen sich befaßt. Was irgendwie eine Idee, ein Begriff ist, die im Inneren der Seele erzeugt werden, darf nicht in die Naturbeobachtung eingreifen. Es darf nur das Tote der Naturbeobachtung, nicht das durchgeistigte Lebendige in die Wissenschaft eingehen. Wenn man, ich will sagen, etwa in Hegelscher Weise, was eine richtige mitteleuropäische Weise ist - aber auch in Schellingscher Weise, in Goethescher Weise -, den Begriff in die Naturbetrachtung einführt, dann glaubt man sogleich, daß man da­durch ins Unsichere komme; denn man traut sich nicht zu, etwas objektiv Wirkliches im geistigen Erfassen, im geistigen Erleben zu erfahren. Man glaubt, da könne nur Willkür leben, da komme man gleich ins Nichtobjektive hinein, wenn man irgend etwas Subjektives in die Erfahrungen hineinträgt. Das ist ahrimanisch. Die Wissenschaft ist universalistisch-amerikanisch, insofern sie diesen Grundsatz hat, alles Subjektive aus der Naturbetrachtung herauszuwerfen. Das ist das, was sich elementar herausgebildet hat aus dieser früheren Abschnü­rung des Geistigen im vierten nachatlantischen Zeitraum.

So haben wir zu jenem Erbstück das Neue hinzugefügt, jenes Neue, das sich in die Zukunft hinein neben dem, was sich als fruchttragend entwickeln muß, aber bewußt entwickeln muß, immer mehr und mehr als ein Zerstörendes geltend macht. Dieses Neue ist im wesentlichen ahrimanischer Natur, ist Furcht vor dem Geistigen und wirkt zer­störend, wirkt auflösend auf alle Menschheitskultur, die doch eben im Geistigen fußen muß.

An der Wende des vierten zum fünften nachatlantischen Zeitraumes, besonders im fünften darinnen, kamen gerade diese Impulse, die ich jetzt charakterisiert habe, immer mehr und mehr heraus. Mit der Ent­deckung Amerikas und der Verpflanzung europäischen Wesens nach Amerika entwickelte sich drüben jene Furcht vor dem geistigen Leben. Aber auf der andern Seite entstand, ich möchte sagen, eine Spannung in den Menschenseelen; denn die Volkskräfte Europas waren nicht so, daß sie nicht aus sich heraus von dem Zusammenhange

397

mit dem Geistigen des Kosmos doch etwas verspürt hätten. Es entstand eine Spannung gewissermaßen an der Wende zwischen dem vierten und dem fünften nachatlantischen Kulturzeitraum, in den Jahrhunderten, in denen sich das herausbildete, was man als neuere Geschichte bezeichnet. Da entstand diese Spannung des unterdrückten Geistigen in der Menschenbrust. Dem mußte ein Damm entgegen­gesetzt werden, teilweise, indem man gut verstand, was als altes Erbgut vorhanden war, und teilweise, indem man das neuherankommende Ahrimanische sehr sachgemäß ins Auge faßte. Da entstand dann jene Geistesströmung, die doch einen viel größeren Einfluß hat, als die meisten Menschen denken - ich habe schon das letzte Mal von einem andern Gesichtspunkte aus darauf hingewiesen -, jene Geistesströmung, die sich bemüht, dieses Zurückgehaltenwerden der Men­schenseele von dem Übersinnlichen zu perpetuieren, fortzusetzen. Es entstand, mit andern Worten, der Jesuitismus. Sein inneres Prinzip besteht darin, alles das in der Menschheitsentwickelung zu tun, was den Menschen fernhalten kann von dem Zusammenhange mit dem Übersinnlichen, von dem wirklichen Zusammenhange mit dem Über­sinnlichen. Selbstverständlich wird man um so mehr dieses Getrenntsein dadurch erreichen, daß man dieses Übersinnliche gerade von jesuitischer Seite strikte dogmatisch als etwas hinstellt, woran das menschliche Erkennen nicht rühren kann. Aber das jesuitische Vor­gehen rechnet auf der andern Seite damit sehr gut, und es will keine innere Verwandtschaft als die zwischen der modernen Wissenschaft und dem Amerikanismus, zwischen moderner Wissenschaft und Jesui­tismus. Darin ist der Jesuitismus ja groß: die physische Wissenschaft tief bedeutsam zu treiben. Die Jesuiten sind große Geister auf dem Felde der physisch-sinnlichen Wissenschaft, denn der Jesuitismus rechnet mit diesem elementaren Hang der Menschennatur der eben überwunden werden muß durch die Hinlenkung der Menschennatur auf die geistige Welt -: Furcht zu haben vor dem Geistigen. Und er rechnet damit, daß man diese Furcht sozialisieren kann dadurch, daß man gewissermaßen dem Menschen sagt: Du kannst und sollst nicht an das Geistige heran; wir verwalten dir das Geistige, wir bringen es in der rechten Weise an dich heran.

398

Diese beiden Strömungen - Amerikanismus und Jesuitismus - arbeiten gewissermaßen ineinander; nur dürfen Sie es nicht leicht nehmen, sondern müssen bei alledem die tiefer wirksamen Impulse in der Menschheitsentwickelung suchen. Wer nach den Kräften suchen wird, welche die jetzige Katastrophe herbeigeführt haben, der wird ein merkwürdiges Zusammenarbeiten finden von Amerikanismus in dem hier gemeinten Sinne und Jesuitismus. Wenn man dies alles überblickt, dann findet man, wie auf der einen Seite Erbschaft aus früheren Zeiten in unserem Kulturleben wirkt, und wie auf der andern Seite Neues dazutritt. Indem man dies bezeichnet als das Luziferische auf der einen Seite, als das Ahrimanische auf der andern Seite, be­zeichnet man gerade das Gegnerische gegenüber dem, was als rich­tiges Geistesleben zur Rettung der Menschheit in die Entwickelung der Menschheit hineingegossen werden muß. Wer mit innigem Anteil nun an eine solche Gestalt herangeht, wie es Bernhard von Clairvaux ist, der gewissermaßen nach der einen Seite hintendiert, der rechnet damit: Das menschliche Erkennen ist doch nur auf das Physisch-Sinnliche gerichtet, also richten wir die Seele auf das Geistig-Göttliche in Inbrunst, in elementarem Erleben. Dadurch kommt etwas Enthusia­stisches in diese Natur hinein. - Man könnte sagen: Was da nach der einen Seite, nach dem Geistigen in den Menschenseelen lebt, das lebt nach der andern Seite auch in unserer Zeit, aber nach der dunkeln, nach der finstern Seite. Das 12. Jahrhundert hatte seinen Bernhard von Clairvaux, und unser Jahrhundert hat solche Gestalten wie Lenin und Trotzki Diese Dinge versteht man allerdings nur, wenn man sich über eines ganz klar ist, was allerdings dem Verständnis der Gegenwart recht fern liegt. Diese unsere Gegenwart ist theoriengläubig, denn sie glaubt an den Inhalt dessen, was Ideen und Programme sind. Ich habe das des öfteren besprochen. Aber nie kommt es auf den Inhalt von Theorien

399

und Programmen an, sondern auf die Wirksamkeit kommt es an. Der moderne Marxist würde vor diesem Weltkrieg, um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, natürlich gesprochen haben: So lehrt Marx, so lehrt Engels, so Lassalle; das ist noch alles, was man erstreben muß. - Denn er weiß, daß man dies erstreben muß zum Heile der Menschheit und so weiter. Man nahm eben den Inhalt von Programmen und Ideen. Darauf aber kommt es in Wirklichkeit nie an, denn Ideen führen sich nie im Leben ihrem Inhalte nach aus, sondern durch Kräfte, die abgesehen von ihrem Inhalte in ihnen sind. Und nur der kennt die Wirklichkeit, der weiß, daß die Ideen mit der Wirklichkeit oft so wenig zu tun haben, daß sie entstehen neben dem, was die Ideen an Inhalt haben. Man kann ein sehr schönes Programm entwerfen, kann es wissenschaftlich sehr gut fundieren, dann kann man glühen für sein Programm, wie es die Marxisten für das ihrige getan haben. Aber dar­auf kommt es nicht an; das ist für eine Zeit, die so ungeistig ist wie die unserige, das Spielen mit dem Feuer. Die Menschen glauben dann, für den Inhalt der Ideen zu wirken. Wer aber weiß, wie es im Leben zu­geht, der weiß auch, daß die Wirksamkeiten ganz andere sind. Ideen werden sogar Mißgeburten im Kulturleben, wenn sie nicht vom geisti­gen Verständnis aufgenommen werden. Aber die Ideen des Marxismus können nicht vom geistigen Verständnis aufgenommen werden, da sie den Geist austreiben wollen. Sie müssen, wenn sie noch so schön sind, Mißgeburten werden. Nur wenn man von der Idee absieht und am Morgen nicht fragt: Warum ist es hell geworden durch das, was auf der Erde geschehen ist? - sondern wenn man sich sagt: Es ist hell geworden, weil die Sonne scheint -, wenn man also aus der Erde hinausgeht, kann man sich erklären, warum es hell geworden ist. So muß man von dem, was in der unmittelbaren Gegenwart geschieht, zu demjenigen hingehen, was in einer fernen Vergangenheit vor sich gegangen ist, um sich das erklären zu können, was heute geschieht. Sie verstehen den Bolschewismus nicht, wenn Sie nicht wissen, wie er als eine Nachwirkung des achten ökumenischen Konzils vom Jahre 869 geworden ist. Sie verstehen ihn nicht, wenn Sie ihn nicht ver­stehen als ein Erzeugnis der Verkümmerung der geistigen Kräfte für die übersinnliche Welt. Das ist der innere Zusammenhang, den man

400

haben muß, wenn man das, was in der äußeren Welt geschieht, wirk­lich so verstehen will, daß man sich ihm gegenüberstellen kann. Für den, der die Zusammenhänge in der Geschichte durchschaut, ist es das Fürchterlichste, wenn er so etwas sieht wie Bewegungen, die sich anmaßen, die Welt reformieren zu wollen, und die nur mit den In­halten von Ideen rechnen, die nicht eingehen wollen auf die Wirksam­keit der Ideen, ganz abgesehen von dem schönen oder unschönen Inhalt der Ideen. - Ein Kind wird geboren. Es ist ein schönes Kind. Die Mutter kann entzückt sein von ihm. Mütter sind manchmal sogar entzückt, wenn die Kinder nicht schön sind. Es wird ein Taugenichts, wird ein Tunichtgut, wird vielleicht ein Verbrecher. Ist es deshalb vielleicht nicht doch wahr, daß das Kind schön war? Hat man nicht ein Recht, es schön zu nennen? Steht dieser Schönheit vielleicht ent­gegen, daß Dinge eintreten im Leben, die man sich nicht vorgestellt hat? So lebten in gewissen Kreisen von Menschen Inhalte von Ideen, durch die sie die Welt reformieren wollten, bewunderte sie. Diese Ideen wurden Mißgeburten! Denn Ideen sind an sich etwas Totes; sie müssen erst belebt werden, indem sie einfließen in das lebendige Geistesleben.

Wer moderne sozialistische Schriften liest, der wird, wenn er von gewissen Differenzen absieht, eine große Ähnlichkeit finden zwischen ihnen und - wenn es auch auf andere Weise ausgedrückt ist, und namentlich über andere Gebiete gesprochen wird zwischen den Schriften derjenigen, die aus dem Kirchenprinzip des Katholizismus heraus schreiben. Ich habe Ihnen zum Beispiel letzthin aus einer Broschüre vorgelesen. Nehmen Sie die Gedankenformen dieser Bro­schüre, die Art des Denkens; vergleichen Sie das, was da aus­gesprochen ist, mit wütenden, allmählich zum Bolschewismus hingehenden Kulturtendenzen oder Unkulturtendenzen; vergleichen Sie es mit dem, was Anfang ist, sagen wir einer Kautskyschen Schrift oder einer Leninschen Schrift: Sie werden dieselben Gedanken finden. Das eine ist ein Entwickelungsprodukt aus dem andern. Man fühlt sich nirgends «katholischer» angesprochen, als wenn man gewisse dogmatische sozialistische Schriften liest. Nur ist das, was beim Katho­izismus verboten ist, über gewisse Dinge zu philosophieren, zur

401

Leidenschaft, zum Prinzip geworden, zum Prinzip: alle Wissenschaft nur aus dem Bourgeoistum heraus zu erklären und alle geistige Ent­wickelung nur aus dem Klassenkampf. Dieses Prinzip ist Wirkung des katholischen Prinzipes. Der Bolschewismus wird in der Form, wie er aufgetreten ist, vielleicht nur ein kurzes Dasein haben; aber mit dem, was hinter ihm steckt, wird die ganze Menschheit sehr lange zu tun haben, und für den, der die Zusammenhänge kennt, ist es kein Wun­der, daß der Bolschewismus seine erste Morgenröte an der Stätte gezeigt hat, wo dieses menschliche Denken, wie es animalisch ver­läuft, unter der Decke des Kultusministers der orthodoxen Religion gelebt hat, so daß die eine Strömung ganz abgesondert war von der andern.

Alle diese Dinge muß man durchschauen, damit man ein Bewußt­sein bekommt von der Notwendigkeit, sich in der richtigen Art dem geistigen Leben zu nähern. Alles mystische Herumreden ist heute nicht am Platze. Heute ist am Platze, die geistige Erkenntnis dazu zu verwenden, um in die Wirklichkeit hineinzuschauen und diejenigen Zusammenhänge zu entdecken, die da bestehen; denn nur aus der Erkenntnis der Zusammenhänge kann ein richtiges Eingreifen ins Weltengeschehen hervorgehen, nicht aus den Erbstücken und nicht aus jenem Furchthaben und aus dem elementaren Neuen, das ich dar­gestellt habe, das nur weit in das Chaos führen muß. In dem animalisch gearteten Sozialismus hat man zu sehen die eine Ausgestaltung des­jenigen, was sich im vierten nachatlantischen Zeitraum gebildet hat. Darin ist etwas Luziferisches enthalten: die luziferische Erbsünde ist darinnen. Aber was sich jetzt entwickelt, das ist schon wie die Strafe für diese Erbsünde, das ist schon die Strafe in der Weise, daß jene Fähigkeiten, denen man gebot, sich nicht auf das Übersinnliche an­wenden zu lassen, wirklich unfähig geworden sind, auf das Übersinn­liche angewendet zu werden und einen Haß und Abscheu vor dem Übersinnlichen haben. Das ist nicht mehr bloß Haß und Erbsünde, das ist schon Strafe für das Sich-Abwenden vom Übersinnlichen. Das gilt für vieles, was jetzt geschieht.

In verschiedenen Nuancen, sagte ich, lebt sich das aus, was so als Impulse durch die Menschheitsentwickelung geht. Nur indem

402

man diese Nuancen versteht, kann man heute das verstehen, was geschieht.

Die Völker der italienischen, der spanischen Halbinsel sind ergriffen worden von dem sich ausbreitenden Christentum, ebenso die Völker des heutigen Frankreich und die Völker der heutigen britischen Inseln. Wir wissen schon einiges von dem, was sich dort ausgebreitet hat. Wir wissen, daß auf der spanischen, auf der italienischen Halbinsel vorzugsweise die Empfindungsseele sich erhalten habe, in franzö­sischen Gegenden die Verstandes- oder Gemütsseele, in den briti­schen Gegenden die Bewußtseinsseele, hier in Mitteleuropa das Ich, und in Osteuropa kommt in ähnlicher Weise eine Kultur des Geistselbst in Betracht, das aber erst in der Zukunft wirksam sein kann und jetzt erst ganz verborgene Keime hat. Würde man doch einmal diesen Westen Europas anschauen, um ihn zu verstehen, so wie ihn die Geisteswissenschaft enträtseln kann! Die Charaktere zum Beispiel des italienischen Gebietes - nicht als Charakter des einzelnen Menschen, der natürlich überall über das Volksmäßige hinauswächst -, diese Charaktere entwickeln sich anders als die der französischen oder der britischen Menschheit. Die britische Menschheit ist so geartet, daß das Volksmäßige seinen Zusammenhang mit der Bewußtseinsseele hat. Von gewissen Gesichtspunkten aus habe ich das längst charakterisiert. Durch das Leben in der Bewußtseinsseele aber wird der Mensch gerade herausgetrieben auf den physischen Plan, auf den britischen Inseln nicht so stark wie in Amerika, er wird aber doch auf den physischen Plan herausgetrieben. Die Folge ist, daß der Mensch, den die kirchliche Entwickelung erst von dem Übersinnlichen abschnürte, nun wieder zusammengeführt wird mit dem Kosmischen. Aber er wird nur mit dem äußerlich Kosmischen zusammengeführt, wenn es sich um die Bewußtseinsseele handelt. Die Folge davon ist, daß eigent­lich der britische Mensch, als Brite, mit dem Kosmos nur zusammenwächst durch ökonomische Prinzipien. Das britische Denken ist im wesentlichen das ökonomische, das Denken in ökonomischen Kate­gorien. Wer den inneren Zusammenhang der Bewußtseinsseele mit der physischen Welt erkennt, begreift dies als Notwendigkeit; er be­greift auch als eine Notwendigkeit, daß der französische Volkscharakter

403

- nicht der des einzelnen Franzosen -, der an die Verstandes- oder Gemütsseele herankommt, vorzugsweise das politische Denken, das politische Empfinden entwickelt, Italiener und Spanier in ähn­licher Weise das Animalische, weil dort die Empfindungsseele un­mittelbar von dem Volksmäßigen ergriffen wird. Ich kann dies nur skizzieren, aber es drückt das aus, was in den Volkscharakteren selber lebt.

Blicken wir auf das deutsche, auf dieses in so tragischer Entwicke­lung drinnen stehende deutsche Wesen, so ergreift dort das Volksmäßige das Ich. Die ganze deutsche Geschichte wird hell, wenn man diese Tatsache ins Auge faßt, die aus der übersinnlichen Welt sich enthüllt. Dieses Ich des Menschen ist ja das, was am wenigsten nach außen heute entwickelt ist, was am geistigsten geblieben ist. Daher hängt der Deutsche, indem er durch das Ich mit der geistigen Welt zusammenhängt, am geistigsten mit ihr zusammen. Er kann nicht durch seine Wesenheit ökonomisch und politisch und animalisch mit dem Kosmos zusammenhängen. Er kann nur so mit dem Kosmischen zusammenhängen, wie es sich im geistigen Leben, im Seelenleben einzelner Individualitäten - das Ich lebt ja immer in den Individuali­täten - offenbart und dann über das Volk sich ergießt. Da ist die deutsche Entwickelung doch am charakteristischsten zum Ausdruck kommend in dem, was als Substantialität im Goetheanismus, im Herderianismus, im Lessingianismus sich zeigt, etwas, was eine Stufe höher abgemacht wird, als das Physisch-Sinnliche. Daher auch eine gewisse Fremdheit gegenüber dem Physisch-Sinnlichen, ein Gefühl, daß man dieses Substantielle nicht recht dazugehörig hält, wenn es sich bloß um das Physisch-Sinnliche handelt, und daher die letzten Jahrzehnte so viel Amerikanismus und auf der andern Seite so viel von dem, was ich nicht näher bezeichnen will, über Deutschland ergossen haben und es seinem ursprünglichen volksmäßigen Wirken entfremdet haben.

Auf eine noch höhere Weise wird der Osten Europas in seinem Volkstum mit dem Geistigen zusammenhängen und eine noch höhere Kultur in geistiger Beziehung entwickeln ein Gegenschlag gegen­über dem, was sich eben jetzt aus den angegebenen Gründen aus-

404

bildet. Aber das ist Sache der Zukunft, ist heute noch nicht vorhanden, ist noch im Animalischen beschlossen, aus dem es sich erst herausentwickeln muß.

Durchaus wie in rechter Erbschaft aus dem Alten hängen die west­lichen Länder Europas mit dem vierten nachatlantischen Zeitraume zusammen. Etwas, was neuer ist, aber was entgegengesetzt ist dem Amerikanismus, liegt schon im deutschen Wesen: eine gewisse Be­ziehung zur geistigen Welt, die innerhalb des Geistigen selbst gesucht wird. Der deutsche Mensch hat, wenn er seiner ureigenen Natur folgt, nicht Furcht vor dem Geistigen, sondern jene Hinneigung zum Geisti­gen, die wir zum Beispiel im Goetheanismus typisch, wenn auch auf höherer Stufe, ausgeprägt finden.

Wenn man solche Dinge sagt, muß man sie freilich radikal aus­sprechen. Aber Sie wissen, nicht aus Chauvinismus, sondern aus der Erkenntnis heraus werden solche Sachen hier angeführt. Es ist wahr­haftig nicht gesagt, um irgend jemand heute zuliebe zu reden. Sie haben das letzte Mal gesehen, daß ich auch verstehe, nicht zuliebe zu reden. Aber das eine muß doch gesagt werden: Innerhalb dessen, was in Mitteleuropa vielfach vergessen ist, was aber doch deutsches Wesen ist, liegt eine Beziehung des Menschengeistes zur übersinnlichen Welt veranlagt, die ausgebildet werden muß, die das volle Gegenteil ist von allem übrigen, was sich auf der Erde heute zeigt. Oh, würden wir das anerkennen, würden nicht die letzten Jahrzehnte leider eher den Amerikanismus auf diesem Gebiete gebracht haben und das Russen­tum, so würde sich der Betrieb der Wissenschaft in Mitteleuropa in anderer Weise entwickelt haben. Sie wissen aus meinen andern Aus­führungen, eine wie geistige, wie spirituelle Wissenschaft aus dem Goetheanismus hätte werden können. Aber der Goetheanismus blieb auch eine jenseitige Strömung. Ist er eigentlich erfaßt worden? Bis jetzt nicht. Aber er ist das richtige deutsche Wesen in allem, was ihm zugrunde liegt. Dieses Wesen ist, wie Sie aus der heutigen Charakte­ristik sehen können, fremd den andern. Die andern sind sehr, sehr verquickt mit den Erbstücken und mit dem Neuen. Nur in diesem Mitteleuropa hat sich etwas entwickelt, was mehr oder weniger sich herausgeschält hat aus den Erbstücken und aus dem Neuen.

405

Wie der Goetheanismus unberührt bleibt von der materialistischen Wissenschaft - man lobt selbstverständlich Goethe, aber man macht, wie ich gesagt habe, den ehemaligen Finanzminister Kreuzwendedich mit Vornamen, zum Präsidenten der Goethe-Gesellschaft -, das kann man an mancherlei Dingen sehen. Man wird gerade das, was in diesem eigentlichen inneren Element des Deutschtums vorhanden ist, auf den andern Gebieten wie einen fortwährenden Vorwurf empfinden mus­sen; denn man rettet sich am besten gegen dasjenige, was man durch seine Natur nicht anerkennen kann, indem man es verlästert. Dem muß man rückhaltlos ins Auge schauen. Was als ein lebendiger Vor­wurf da ist, demgegenüber ist es am besten, man stellt es als Ver­brechertum hin. Dadurch rettet man sich subjektiv vor der Tatsache, daß es wie ein Vorwurf da ist. Man berührt damit eine wichtige psychologische Tatsache. Die Verlästerung wird immer weiter und weiter gehen, aber sie wird ihre Gründe darin haben, daß es unbehag­lich ist, daß diese sonderbare Stellung dieses Ich zum Geistigen vorhanden ist. Aber die Notwendigkeit ist da, auf diesen Gebieten klar zu sehen, das klare Sehen nicht zu fliehen, wie es gemacht wird. Wür­den wir nicht selbst so viel Philistertum, so viel Amerikanismus in uns haben, so würden wir es einsehen, daß dies zwei Gegenpole sind: deutscher Goetheanismus und Amerikanismus, und wir würden dann wissen, daß wir uns zu den Strömungen der Gegenwart nur dann in der richtigen Weise verhalten können, wenn wir eben in diese Strö­mungen ganz vorurteilsfrei hineinschauen. Wir sollten uns eigentlich gerade jeden Chauvinismus abgewöhnen, wir sollten völlig nur auf das Objektive sehen.

Aber gerade dann würden wir von jeder Verhimmelung des Amen­kanismus, dem wir uns ja auch hinlänglich hingegeben haben, zurück­kommen und würden gerade deshalb, weil die Furcht vor dem Geisti­gen das charakteristische Element im Amerikanismus ist, einsehen, daß in den gegenwärtigen katastrophalen Ereignissen das amerika­nische Element als das eigentlich radikale Böse immer mehr und mehr wirken wird. Kurzsichtige sind es, die anderes über die Dinge sagen, weil sie nicht aus den Zusammenhängen heraus urteilen. Alles, was aus der politischen Lage der Franzosen, alles, was aus der rein ökono­-

406

mischen Starrheit, die dem Britischen naturgemäß ist, alles, was aus dem animalischen Furor, diesem «heiligen Egoismus», des italieni­schen Volkes fließt, das ist im Hinblick auf die großen Angelegen­heiten, die sich abspielen, eine Kleinigkeit gegenüber dem eigentlich bösen Element, das aus dem Amerikanismus aufgeht. Denn es gibt drei Strömungen, die durch ihre innere Verwandtschaft das Zerstöre­rische für die Menschheitsentwickelung haben. Dadurch, daß sie in verschiedener Weise die Erbstücke und das Neue aufgenommen haben, wie ich es heute skizzenhaft zu charakterisieren versuchte, dadurch sind sie das Zerstörerische. Vorzugsweise in drei Strömungen liegt dieses Zerstörerische: Erstens in alledem, was man Amerikanismus nennt, denn das tendiert immer mehr und mehr dahin, die Furcht vor dem Geiste auszubilden, die Welt nur zu einer Gelegenheit zu machen, in ihr physisch leben zu können. Es ist doch etwas ganz anderes, wenn das Britentum die Welt zu einer Art Handelshaus machen will. Der Amerikanismus will sie eigentlich zu einer möglichst mit Komfort ausgestatteten physischen Wohnung machen, in der man bequem und reich leben kann. Und in der Welt bequem und reich leben zu können, das ist das politische Element des Amerikanismus. Wer das nicht durchschaut, sieht die Dinge nicht, sondern will sich selbst betäuben. Unter dem Einfluß dieser Strömung muß aber der Zusammenhang des Menschen mit der geistigen Welt ersterben. In diesen amerikani­schen Kräften liegt das, was wesentlich die Erde zum Ende führen muß, liegt das Zerstörerische, was zuletzt die Erde zum Tode bringen muß, weil der Geist davon abgehalten werden soll. Das zweite Zerstörerische ist nicht bloß der katholische, sondern aller Jesuitismus, denn der ist im wesentlichen mit dem Amerikanismus verwandt. Ist der Amerikanismus die Pflege der amerikanischen Strömung, welche die Furcht vor dem Geist ausbilden will, so sucht der Jesuitismus den Glauben zu erwecken: nicht tasten an den Geist, an den wir nicht heran können, und die geistigen Güter von denen verwalten lassen, die dazu durch das Lehramt der katholischen Kirche berufen sind. Und diese Strömung will die Kräfte in der Menschennatur verküm­mern lassen, die nach dem Übersinnlichen gehen. Und das Dritte ist das, was heute in einzelnen Symptomen im Osten so furchtbar herauf-

407

zieht, was aber doch seinen Grund hat in dem rein das Animalische sozialisierenden Sozialismus; es ist das - das Wort soll damit nicht gleich irgendwie dogmatisiert werden -, was man als Bolschewismus bezeichnet, den die Menschheit nicht leicht überwinden wird.

Das sind die drei zerstörerischen Elemente der modernen Menschheitsentwickelung. Ihnen Erkenntnis entgegenzubringen, damit man in der richtigen Weise sich den Ereignissen der Gegenwart gegenüber­stellt, das ist doch nur auf geisteswissenschaftlichem Boden möglich. Darüber möchte ich heute über acht Tage sprechen.

408

EINUNDZWANZIGSTER VORTRAG Berlin, 6. August 1918

Sie haben im Laufe der letzten Betrachtungen gesehen, daß die dabei zutage tretenden Bemühungen dahin gingen, Vorstellungen, die wir uns aus der Geisteswissenschaft heraus aneignen wollen, so zu prägen, daß sie uns dienlich sein können in der Auffassung, in dem Begreifen desjenigen, was gerade in der gegenwärtigen Zeitkultur täglich, stündlich uns umgibt. Wenn wir heute noch einiges zu diesen Be­trachtungen gewissermaßen wie einen letzten Anhang hinzufügen wollen, so soll es und kann es ja nur immer aphoristisch geschehen. Es sollen einige bedeutungsvolle Charakterismen unserer gegenwärti­gen Zeit herausgehoben und mit mancherlei von dem in Verbindung gebracht werden, was in den letzten Betrachtungen schon da und dort als Grundton angeschlagen worden ist.

Wenn man sich darauf einläßt, das ins Auge zu fassen, was in unserer Zeit besonders auffällig hervortritt, dann wird man finden, daß unter den mancherlei hemmenden und hindernden Dingen der Gegenwart vor allen Dingen das ist, daß die Denkweise, die Vorstellungsart, die sich in den letzten Jahrhunderten im Laufe der Entwickelung heraufgebracht hat, die Menschen dazu führt, wenig Voraussicht zu haben in bezug auf die Ereignisse, die jeweilig kommen. Es zeigt sich dies darin, daß das meiste, was gerade jetzt an die Menschen herantritt, überraschend, im ureigentlichsten Sinne überraschend den Menschen kommt, und sie haben gar nicht die Möglichkeit, durch irgend etwas einen gewissen Glauben an Voraussicht zu gewinnen. Sie denken, daß es so sein müsse, daß man sich gerade von den bedeutungsvollsten Ereignissen überraschen lasse. Wenn man von irgend etwas Kommen­dem spricht, dann sind die Leute verwundert, oder sie ironisieren wohl auch die scheinbare Sehnsucht nach irgendwelcher Prophetie. Würde man zum Beispiel - allerdings nach den Dingen, die aus solchen Voraussetzungen heraus sich ergeben, wie die neulich hier angeführ­ten -, würde man darnach auf das aufmerksam machen, was aus dem Fernen Osten jetzt über die Welt herüberweht, so würde man, trotz-

409

dem sich das schon allzudeutlich ankündigt, heute noch wenig Ver­ständnis und wenig Glauben finden. Es ist allzuwenig Bedürfnis vor­handen, klar in die Dinge hineinzuschauen. Damit hängt es auch zu­sammen, daß man sich so wenig einlassen will auf Wahrheiten, die in jenen Grenzen, in denen das allein möglich sein kann, auf das Ge­schehen der Zukunft hinweisen. Natürlich ist, wie Sie wissen, hier nicht von irgendwelcher Wahrsagerei die Rede, von irgendwelcher im schlechten Sinne zu haltender Prophetie; sondern immer ist hier die Rede von ernster wissenschaftlicher Denkweise und Gesinnung. Wenn wir die Gründe für den eben besprochenen Charakterzug in der Gegenwart uns ein wenig vor die Seele führen wollen, so haben wir diese Gründe vielleicht etwas weit herzuholen. Aber gewöhnlich ist sich der Mensch gar nicht bewußt, wie weit entfernt die Gründe für etwas von dem liegen, wovon es eben die Gründe sind. Er sucht sie gewöhnlich viel zu nahe.

Wenn ich Gründe für das eben Charakterisierte anführen will, so muß ich sie suchen in einem Hang, der in der gegenwärtigen Zeit in den Menschenseelen tief begründet ist: in einem Hang zu toten Be­griffen und Ideen, zu nicht lebensvollen Begriffen und Ideen. Daß man nicht über Zukünftiges, über Herankommendes in denselben Ideen denken kann, wie man über Vergangenes und Festgestelltes denkt, das sollte begreiflich erscheinen. Aber man hält heute nur auf das, was sich, wie man sagt, beweisen läßt, und man denkt bei diesem Sich-Beweisenlassen eben an die besondere Art des Beweisens, die man heute gerade liebt. Wer diese besondere Art des Beweisens wirk­lich kennt, der weiß, daß man damit nur das beweisen kann, was Wahr­heiten abgibt, die sich auf Ersterbendes im Weltenall beziehen. Daher wollen wir in der Gegenwart nur eine Wissenschaft oder nur eine Erkenntnis haben, die sich auf Ersterbendes, auf Untergehendes be­zieht. Gerade diejenigen Menschen, die sich für die Aufgeklärtesten halten, lieben nur eine Erkenntnis, die sich auf Untergehendes bezieht. Sie lieben auch nur ein Wollen dazu, welches sich auf Untergehendes bezieht. Wir möchten im weitesten Sinne des Wortes, möchte ich sagen, wenn wir uns dessen auch nicht bewußt sind, in der Gegen­wart nur Zugrundegehendes verwalten. Wir bringen nicht den Mut

410

auf; Werdendes zu denken, weil Werdendes sich nicht in so starren, engbegrenzten Begriffen, die sich beweisen lassen, umfassen läßt wie Zugrundegehendes. Und man schützt sich heute gegen alle die An­fechtungen, die durch das, was ich eben gekennzeichnet habe, eigent­lich kommen.

Redet man gegen diese Dinge - und man muß dagegen reden -, dann setzt man sich der Gefahr aus, den Vorwurf zu bekommen, ein furchtbarer Phantast, Dilettant und dergleichen mehr, vielleicht noch etwas viel Schlimmeres zu sein. Man sucht heute geradezu Begriffe, welche einen decken können gegen das Denkenmüssen dessen, was fruchtbar, keimhaft für die Zukunft ist. Ein Begriff muß nach dieser Hinsicht den Menschen, die sich für die Intelligentesten, für die Füh­rer halten, eingeimpft werden: der Begriff der «Erhaltung des Stoffes und der Kraft», so wie er heute gefaßt wird. Ganz selbstverständlich ist heute jeder vor einem gewissen Forum ein «Rindvieh», der nicht zugibt, daß dies eine fundamentale Wahrheit aller Wissenschaftlich­keit ist: die von der Unzerstörbarkeit der Kraft und des Stoffes. Und dennoch ist die Sache diese: Wenn wir in das Weltenall wirklich schauend uns vertiefen, dann ist das, was wir als den Stoff und als die Kraft ansprechen, ein Vergängliches, ein Verwehendes; und alle Wis­senschaft, alle Erkenntnis, die wir über den Stoff und über die Kraft gewinnen können, ist Wissenschaft von etwas Vergänglichem. Weil man nur Wissenschaft von etwas Vergänglichem will, weil man nur das Vergängliche verwalten will in der Wissenschaft, deshalb dekre­tiert man dogmatisch, um doch etwas Festes, Bleibendes zu haben, der Stoff, der sich aber doch nur auf etwas Vergängliches bezieht, sei ewig, oder die Kraft sei ewig. Dieses Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft spielt eine große Rolle auch für die, die sich nicht auseinandersetzend mit der entsprechenden Wissenschaft be­fassen, eine solche Rolle, daß sie in alles hineingeheimnißt ist. Unsere wissenschaftliche Erziehung ist so, daß das, was sich als Niederschlag des Gedankens von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft bildet, in die ganze populäre Literatur hineingeht und für die Leute etwas Selbstverständliches wird.

Nun kennen wir aus der «Geheimwissenschaft im Umriß» die

411

Entwickelung durch die Saturn-, Sonnen-, Monden- und Erdenzeit und so weiter. Nichts von dem, was heute Stoff und Kraft genannt wird, geht über das hinaus, was als Venusentwickelung bezeichnet wird. Also selbst für die dauerhaftesten Stoffe ist das, was bis zur Venusentwickelung geht, damit an sein Ende angekommen. Wir befinden uns über der Mitte unserer Weltenevolution, so wie wir sie anschauen können, und wir stehen in der fünften Periode der Erdenentwickelung über der Mitte derselben. Wir sind über die Mitte hinaus, leben bereits in der untergehenden Periode der Erdenentwickelung, das heißt in derjenigen Zeit, in der die Abwärtsentwickelung, das Vergehen des Stoffes und der Kraft Platz gegriffen hat. Und die richtige Anschauung, wenn wir Physik und Chemie studieren, wäre die, daß wir uns sagten: Mit den Erkenntnissen, welche wir in der Physik und Chemie ge­winnen, haben wir nur Erkenntnisse, die auf Vergängliches, auf im Weltenall mindestens mit der Venusentwickelung Verschwindendes sich beziehen. In dem ganzen Umkreis dessen, was heute als Wissen­schaft gesucht wird, gibt es nichts, das sich auf Dauerndes bezieht; denn mit Ideen und Begriffen, die man nach der beliebten Art heute beweisen kann, kann man nur das finden, was in dem eben gekenn­zeichneten Sinne ein Vergängliches ist. Man bewegt sich nur im Ver­gänglichen.

Sie sehen, eine wesentliche Korrektur der Begriffe ist auf diesem fundamentalsten Gebiete notwendig, und diejenigen Leute gerade, die sich heute für besonders wissenschaftlich gebildet halten, werden viel lernen müssen, so daß sie ihre gangbaren Begriffe durch die richtigen werden ersetzen können. Aber wozu sage ich das alles, da die Sache ja doch vielleicht in ihrer Allgemeinheit nicht besonders wichtig scheint?

Es ist doch wichtig, denn nach diesen Begriffen, die sich die Men­schen nach der eben charakterisierten Richtung heute aneignen, nach diesen Begriffen, die in allem Denken heute leben, formen sich auch die andern Begriffe, nach denen man will, nach denen man sein Wollen einrichtet. Die sozialen Begriffe, die politischen Begriffe formen sich nach der Denkweise, die man sich in dieser Weise gebildet hat. Sie formen sich nach dem eigentümlichen Gebrauch, den man von solchen Kräften macht, der darin besteht, daß man nur Vergängliches in den

412

Begriffen verwalten will, und das überträgt sich auch auf die Lebensbegriffe. In besonders auffälliger Weise zeigt sich das, wenn man auf die Programmpunkte solcher Menschen hinweist, die sich in ihrem Selbstvertrauen für die Allerfortschrittlichsten halten, zum Beispiel in den Programmpunkten mancher Sozialisten, gerade solcher Sozia­listen, die heute ungeheuer viel von sich reden machen und die ja alle mehr oder weniger ihren Ausgangspunkt von der Theorie des Karl Marx haben. Diese Marxsche Theorie ist ja gegenwärtig das Unglück Rußlands, weil - aus Gründen, die ich das letzte Mal auseinander­gesetzt habe - das, was nach den historischen Voraussetzungen in Rußland geschieht, eben dort aus dem Marxismus heraus geschehen kann. Diese Anschauung ist auch zugleich das Extrem zu dem Willen, nur das Vergehende zu verwalten. Wer sich mit den Ideen dieser Rich­tung bekanntmacht, der weiß, daß die, welche sich fanatisch zu den Ideen dieses Marxismus bekennen, zukunfttragende Ideen zu haben glauben. Sie haben hier gerade in diesen Ideen auf sozialem Gebiete solche, die sich nur auf das Vergehende beziehen können. Das tritt in einer naiven Weise gerade in dieser sogenannten sozialistischen Welt­anschauung hervor, denn sie lehnt es überall ab, fruchtbare Zukunfts­ideen aufzustellen. Sie predigt gerade den Segen der Ideenlosigkeit. Sie hat vielfach die Formel: Man muß wegschaffen, was gegenwärtig vorhanden ist; dann wird sich schon von selbst, ohne daß man darüber nachdenkt, irgend etwas aus dem Kladderadatsch heraus ergeben. Das ist radikal ausgesprochen. Aber wenn auch die, welche das radikal aussprechen - im Sinne der letzten Betrachtung, die wir vor acht Tagen gepflogen haben -, die gut erzogen sind im Sinne der Kirche durch die Jahrhunderte hindurch und auch nichts anderes tun, als die Vorgänge der letzten Jahrhunderte aus der Kirche heraus zu zeigen, so muß man doch das Folgende sagen: In Wahrheit will diese An­schauung es völlig ablehnen, keimhafte Ideen zu hegen; sie will nur Ideen haben, die sich auf Zugrundegehendes beziehen, sie kann nur Ideen hervorbringen, mit denen man Einrichtungen zugrunde richten kann. Man glaubt, Keimhaftes zu haben; aber darauf kommt es nicht an, sondern wie sich die Ideen in die Wirklichkeit hineinstellen. In Wahrheit sind diese Ideen solche, die gar nicht darauf eingehen, irgend

413

etwas Neues zu ergründen, sondern die sich nur damit befassen, Zer­störerisches in eine bestehende Institution hineinzubringen. Dieser Sozialismus kommt mir vor wie eine Dame - für die gegenwärtigen Menschen ist das allerdings schon vorüber -, welche die Krinoline nicht leiden kann. Den breiten Reifrock haßte sie. Das muß geändert werden, sagte sie. Und was tat sie? Sie wattierte ihn aus. So sah er nach außen ganz genau so aus wie früher, aber er war nach innen mit Watte ausgefüttert. So machen es diese Sozialisten: Sie denken nicht daran, das, was die Geschichte an Einrichtungen heraufgebracht hat, mit neuen Ideen zu befruchten, sondern es zu lassen, aber nur, um an die Stelle der bisherigen Verwalter sich selbst zu setzen. Sie behalten die Krinoline bei, wattieren sie aus. Auch da, bei einer extremen An­schauung, bloß die Sehnsucht, das Zugrundegehende, das Absterbende zu verwalten. Worauf beruht denn das?

Es beruht darauf; daß man mit den Begriffen der heute bloß auf das Sinnliche gehenden Wissenschaft, derjenigen Wissenschaft, die sich auf den Verstand stützt, der bloß mit der sinnlichen Wahrnehmung rechnet, daß man mit diesen Begriffen überhaupt nur das Vergehende treffen kann. Man kann in der Natur nur das treffen, was in der Natur zum Tode führt, nicht das, was weiterlebt. Das Lebendige kann man nicht erfassen. Man kann auch in der Kultur nur das erfassen, was abstirbt, kann nicht das Keimhafte, das Wachsende erfassen. Denn dieses Keimende, dieses Wachsende muß erfaßt werden mindestens mit Imaginationen, mindestens mit der ersten Stufe der höheren Er­kenntnis, wie sie zum Beispiel beschrieben ist in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Und um zu ge­wissen höheren Erkenntnissen des Werdenden kommen zu können, muß man Intuition und Inspiration anwenden können. Wenn die Menschen mit den bisherigen Begriffen an die Dinge herangehen, können sie reden, so viel sie wollen, sie reden nur von dem, was Ver­waltung des Zugrundegehenden ist, wenn sie sich nicht einlassen, auf das einzugehen, was in übersinnlicher Erkenntnis allein als das Wer­dende geschaut werden kann. Es stehen die Dinge heute tatsächlich auf des Messers Schneide. Man kann über gewisse Dinge nichts wissen und muß ins Kulturchaos hineinkommen, in dem wir ja genügend

414

drinnen leben, wenn man nicht auf das Schauen des Geistigen ein­gehen will.

Was wir brauchen, und was ja durch die Geisteswissenschaft an­gestrebt wird, ist in dem heute tauglichen Sinne eine Art Erneuerung des Mysterienwesens. Dazu ist freilich notwendig, daß der Sinn des alten Mysterienwesens verstanden werde, daß sodann der Sinn der­jenigen Zeit verstanden werde, welche gewissermaßen eine Zwischen­stufe war zwischen den alten Mysterien und denjenigen, die da kom­men müssen als das neue Mysterienwesen. Alles dieses muß verstanden werden. Das Überraschendste für die Schüler der alten Mysterien war ja das, daß ihnen anschaulich gezeigt wurde, wie das alte, atavistische, hellseherische verborgene Wissen dem Untergang geweiht war. Das konnte man nicht mit dem schauenden Wissen selber erfassen, dazu mußte man in die Mysterien eingeweiht sein. Es wurde den Leuten gezeigt, daß etwas anderes über die Menschheit kommen müsse als das alte hellseherische Hineinschauen in die geistige Welt. Daß dieses Alte in der Seelenverfassung des Menschen, dieses Erscheinen der Weltenweiten in der Imagination dem Tode geweiht sei, das wurde den Mysterienschülern enthüllt. Etwa in folgender Art wurde es ihnen klargemacht: Was auf der Erde mit den physischen Sinnen gesehen werden kann, das ist nicht das, was die eigentlichen Geheimnisse des Erdendaseins enthält. Diese eigentlichen Geheimnisse können nur enthüllt werden, wenn sich der Menschenseele in hellsichtiger Be­trachtung die Geheimnisse des Kosmos, die Geheimnisse des Außerirdischen erschließen, wenn dieser Seele das aufgeht, was im Kosmos draußen außerirdisch, außertellurisch geschieht. Denn das wurde ja im alten Hellsehen ergriffen, und nicht das, was auf der Erde geschah. Daß solch eine Erkenntnis, solch ein Hinaufgehen in den Kosmos nicht mehr möglich sein werde, wurde den Mysterienschülern ent­hüllt. Und denjenigen, die in das Christus-Mysterium eindringen soll­ten, wurde noch etwas anderes enthüllt.

Es kam ungefähr zu folgender Vorstellung. Wenn auch die alten atavistischen Hellseher nicht von dem Christus sprachen ihre Ein­gebungen kamen aus der Welt, in welcher der Christus immer war, denn der Christus ist ein kosmisches Wesen. In all dem Kosmischen,

415

in all dem Universellen der Welt, von dem aus das strömt, was dem Menschen im atavistischen Hellsehen aufgeht, lebt der Christus. Aber das wird von der Zeit an, in welcher das Mysterium von Golgatha geschehen sollte, den Menschen nicht mehr in der alten Weise zugäng­lich sein. - Was geschah? Nun, der Christus kam herunter aus dieser Welt, kam von dem Kosmos auf die Erde herunter. Weil der Kosmos so, wie es in alten Zeiten der Fall war, den Menschen nicht mehr zugänglich war, weil sie den Christus nach der alten Art nicht mehr hätten finden können, weil diese Art des Wissens, der Seelenverfas­sung, erstarb, in der früher die Welt geschaut wurde, in welcher der Christus war, deshalb mußte der Christus zu den Menschen herunterkommen. Und er kam herunter. Daher mußte alles, was jemals er­leuchtete Geister in den alten Zeiten in heidnischen Mysterienkulten, in der heidnischen Mysterienwissenschaft von der geistigen Welt er­kannt hatten, zusammengefaßt werden in dem Christus. Das mußte in dem Christus geschaut werden. Man mußte wissen, welches kos­mische Wesen in dem Christus aus dem Kosmos auf die Erde her­untergekommen war. Das ist das eine.

Das andere war das Folgende. Ich sagte: Von alledem, was draußen in der Welt von Natureinrichtungen, von sozialen und Kultureinrich­tungen gesehen werden kann, kann der Verstand und können die Sinne nur das Vergängliche schauen, können ein Wissen nur vom Vergänglichen der Natur gewinnen, das sich ja bis zum Venusdasein erstreckt. Aber im Kulturwissen steht man oftmals schon im Unter­gang drinnen, wenn man glaubt, Ideen zu haben, die ein Werden bedeuten. In dem, was durch die Sinne wahrgenommen und durch den Verstand begriffen werden kann, liegt kein Keim für die Zukunft. In alledem ist das dem Tode Geweihte. Es gäbe nur Todwissen, wenn es nur solches gäbe; denn die Wirklichkeit selbst, die uns umgibt, ist todgeweiht. Wo ist denn etwas Dauerndes? Wo ist denn das, welches als das Unvergängliche hinüberleben wird über dieses äußerlich Da­seiende und dem Tode Geweihte? Wo ist denn das, was wirklich erhalten wird, während die Atome und die Kräfte, von denen physi­kalischer Aberglaube meint, daß sie erhalten würden, nicht erhalten werden, sondern zugrunde gehen?

416

Das ist nur im Menschen selbst. Von allen Wesen, von den Tieren Pflanzen, Mineralien, von Luft, Wasser und allem, was zugrunde geht, gibt es nur eines, das sich über die Erdenevolution und über die Evolution, die aus dem Erdendasein folgen wird, hinaus erhält: nur das, was im Menschen selbst lebt. Nur der Mensch trägt auf der Erde etwas in sich, was dauernd ist. Man kann nicht sprechen von der Erhaltung der Atome, des Stoffes und der Kraft, man kann nur sprechen von der Erhaltung von etwas im Menschen. Aber das kann nur geschaut werden durch Imagination, Inspiration und Intuition. Alles übrige, was nicht in übersinnlicher Erkenntnis geschaut wird, ist kein Dauerndes. Übersinnliches - das Sinnliche ist alles vergäng­lich -, das, was überdauernd ist, kann daher auch nur im übersinn­lichen Erkennen begriffen werden. In dem Menschen, der auf der Erde herumgeht, liegt alles das, was von allem Erdendasein sich über die Erde hinaus retten wird. Wenn wir fragen: Wo ist der Keim für etwas, was über Erden-, Jupiter- und Venusentwickelung hinauswächst, was aus der gegenwärtigen Kultur in die Kultur der Zukunft hinüberwächst? so müssen wir sagen: In nichts außerhalb der Erde, nur in dem, was im Menschen ist. In dem Teil seines Wesens, der allein der übersinnlichen Erkenntnis zugänglich ist, ist der Mensch das, was den Keim für die Zukunft in sich trägt. Und nur der redet recht von der Zukunft, der allein den Willen hat, das Übersinnliche zu erfassen, sonst redet ein jeder, der von der Zukunft redet, irre. Daher mußte der Christus, der aus den Welten, die für die menschliche Er­kenntnis immer unzugänglicher wurden, auch für die menschliche Erkenntnis heruntersteigen, mußte sich mit dem Menschen vereinigen, mußte im Jesus seinen Wohnplatz aufschlagen und so zum Christus Jesus werden, weil nur in einem Menschenleibe das war, was zukunfts­trächtig für die Erdenentwickelung ist. Daher haben wir in dem Christus das Kosmische, aber jenes Kosmische, das in alter Erkenntnis allein unmittelbar ergriffen werden konnte; und in dem Jesus, zu dem der Christus gekommen ist, haben wir das, was fortan in dem Menschenwillen allein den Keim für die Zukunft trägt. Nicht begreift man den Christus, wenn man ihn nur als Christus oder nur als Jesus be­greifen will. Man begreift ihn nicht, wenn man bloß von dem Christus

417

redet; denn der Christus, von dem zum Beispiel die alten Doketen eine Art Gnostiker gesprochen haben, könnte nicht mehr erfaßt werden; der gehört dem alten atavistischen Hellsehen an. Nicht be­greift man den Jesus, wenn man nicht den Christus, der in den Jesus eingezogen ist, gelten lassen will. Man begreift nicht, daß allein durch den Menschenkeim auf Erden das Kosmische für die Zukunft gerettet werden muß, wenn man nicht den Christus in dem Jesus gelten lassen will.

Dies zu verstehen, inwiefern der Christus Jesus dieses Doppelwesen ist, ist eine große Aufgabe. Aber zu gleicher Zeit waren viele bemüht, Hemmnisse zu schaffen gerade für das Verständnis des Christus Jesus als eines Doppelwesens. So handelte es sich in der neueren Zeit darum, durch die verschiedensten Mittel vergessen zu machen, daß der Christus in dem Jesus gewohnt hat. Da ist auf der einen Seite jene extreme theologische Lehre, die nur immer von dem «schlichten Mann aus Nazareth» sprechen will, die also eigentlich nur von dem Menschen der sinnlichen Natur spricht und nicht von jenem Men­schen, welcher den Zukunftskeim in sich hat. Da ist ferner jene Gesell­schaft, die gegründet worden ist, um den Christus zu bekämpfen und zu diesem Zwecke ein falsches Jesusbild aufzustellen: die Gesellschaft des Jesuitismus, die im wesentlichen dazu da ist, das Christus-Bild aus dem Christus-Jesus-Bild auszutreiben und nur den Jesus gewisser­maßen als den Tyrannen der sich entwickelnden Menschheit gelten zu lassen. Das alles muß man im Zusammenhang sehen. Denn die verschiedenen Impulse, auf die damit hingedeutet wird, wirken im Leben der Gegenwart mehr, als man denkt; sie wirken ganz intensiv im Leben der Gegenwart. Und wer nicht seine Augen aufmacht und Verlangen hat, die konkreten Erscheinungen dessen, Was um ihn herum vorgeht, zu begreifen, der wird niemals anders als überrascht sein können von alledem, was kommt; er wird nicht viel über Dinge, wie sie hier angedeutet werden, zur Klarheit kommen. Unsere Gegenwart ist in vieler Beziehung allerdings viel zu bequem, um über diese Dinge zur Klarheit kommen zu wollen. Geisteswissenschaftliche Be­griffe sind viel zu schwierig. Die Leute verketzern sie daher als dilettan­tisch, unwissenschaftlich, phantastisch und dergleichen. Sie verurteilen

418

sich zugleich aus Gründen, die ich eben angeführt habe, [dazu,] mit nichts zu rechnen, was wirklich zukunftsträchtig sein könnte.

So sehen wir denn jene Öde heute um uns herum mitten in dem Chaos, in welches die alten Religionsbekenntnisse und Kulturströmungen hineingeführt haben. Mitten in diesem Chaos, das die Leute heute mit einer sonderbaren Naivität Krieg nennen, während es längst kein Krieg mehr ist, sondern etwas ganz anderes, mitten in diesem Chaos sehen wir die Gedanken- und Ideenöde, weil nicht öde Ideen und nicht öde Gedanken nur aus der Erfassung des Übersinnlichen, des Geistigen kommen können, und weil sich heute der Mensch entscheiden muß, entweder nur das Vergehende, das Er­sterbende zu verwalten und ein Schüler Lenins zu werden oder mit dem Übersinnlichen zu rechnen, welches das enthält, was da kommen muß. Nicht gerade diesen einzigen Lenin, welcher jetzt in Europas Osten seinen Unfug macht, meine ich; ich nehme ihn mehr als ein Symbolum, denn wir haben solcher Lenins viele, viele im ganzen Umkreis des heutigen Lebens um uns herum, auf dem einen oder andern Gebiete. Nur will man nicht an etwas anderes herangehen als an das, was das Ersterbende ist.

Erinnern Sie sich bitte an etwas, worauf ich auch hier einmal auf­merksam machte. Die Pflanze lebt, sagte ich; Sie können sie be­schreiben als etwas Lebendiges. Aber was beschreibt heute die ge­bräuchliche Wissenschaft an der Pflanze? Nicht das, was darinnen lebt, denn das ist übersinnlich; sondern sie beschreibt das, was das Lebendige ausfüllt, was darinnen das Tote, das Mineralische ist. In der heutigen Wissenschaft finden Sie nichts anderes beschrieben als das, was als Mineralisches die Lebewesen ausfüllt, und was in den Lebewesen den Tod bewirkt. Daher kann man sich auch heute nicht zu wirklich fruchtbaren Begriffen über die Natur aufschwingen. Solche Begriffe, wie man sie in der heutigen Botanik hat, sind keine lebensvollen Begriffe, sondern es wird etwas beschrieben, was mit Steinchen, mit Mineralien ausgefüllt ist. Da ist überall das zirkulierende Minera­lische drinnen. Das wird auch im Tier, wird auch im Menschen beschrie­ben. Sobald man über dieses zirkulierende Mineralische in Pflanze, Tier und Mensch hinauskommt, werden diese etwas ganz anderes.

419

Nehmen Sie zum Beispiel Herrn von Uexküll, der den Aufsatz ge­schrieben hat «Im Kampf um die Tierseele». Dieser Herr von Uexküll ist in bezug auf alle Seelenwissenschaft von masochistischer Grausam­keit besessen, in bezug auf alles besessen, was nur irgendwie an die Seelenwissenschaft erinnert. Ich sagte «masochistische Grausamkeit», weil in diesem Aufsatze zu lesen ist: Entschieden solle nicht werden, ob es eine Seele gibt oder nicht; es solle nur entschieden werden, daß die Wissenschaft nichts darüber ausmachen kann. Wer ordent­lich grausam ist, der tötet auch; wer masochistisch grausam ist wie dieser Herr von Uexküll, der probiert nur das Töten, stichelt herum. Das ist überhaupt der Typus der heutigen Wissenschaft; nur merkt man es nicht, weil man sich nicht gerne darauf einläßt. Man will nicht die Scheidewand durchbrechen, die einen trennt von dem, was in der Umgebung ist. Daher kann man sich durchaus nicht zu den Begriffen aufschwingen, die man wirklich braucht, damit der Mensch wieder einmal seine Umgebung verstehen lernt.

Wir wissen aus der Geisteswissenschaft, daß aus den geistigen Wel­ten das Wesentliche, das Zentrale des Menschen herunterkommt, sich mit dem verbindet, was als fleischliche, materielle Hülle den Menschen zwischen Geburt und Tod oder zwischen Empfängnis und Tod um­gibt. Heute untersucht man die Probleme der Empfängnis, der Geburt, der embryonalen Entwickelung, aber man kann sie ja nicht unter­suchen, weil man nur das in das Lebendige eingebettete Tote studiert. Damit wird man niemals zum Begreifen desjenigen kommen, was einem die Menschheit einzig und allein verständlich macht: Wenn der Mensch so aus der geistigen Welt herunterkommt, er wird empfangen, wird von Vater und Mutter empfangen, geht durch die ganze embryo­nale Entwickelung durch. Heute lebt die Wissenschaft in der An­maßung, Vater und Mutter gäben dem Kinde das Dasein. Und da Vater und Mutter Mittelpunkt der Familie sind und die Familie die Grundlage der sozialen Gemeinschaft, so betrachten auch die sozialen Gemeinschaften, welche die erweiterte Familie sind, den Menschen als ihr Eigentum. Da kommt man auf sehr bittere Begriffe in der Gegenwart. Aber so ist es nicht.

Was gibt denn der Empfängnisakt dem Menschen? Was hat der

420

Mensch vom Empfängnisakt? Was der Mensch empfängt - wie die Geisteswissenschaft zeigen kann -, ist die Möglichkeit, ein sterbliches Wesen zu sein; die Möglichkeit zu sterben erhält er durch den Emp­fängnisakt. Nehmen Sie das, was in meinen verschiedenen Büchern beschrieben ist: Sie werden erkennen, daß das, was ich jetzt sage, die notwendige Tatsachenfolge ist. Schon indem der Mensch empfangen wird, wird ihm das eingegliedert, was hier auf der Erde sein Sterben möglich macht. Das ganze Leben zwischen Geburt und Tod ist eine Entwickelung zum Tode hin, und eingeimpft wird der Tod in das Empfangene. Was der Mensch als Mensch, als Lebewesen ist, das wird nicht bei der Empfängnis irgendwie erzeugt, sondern einzig und allein wird diesem sonst Unsterblichen das eingeimpft, was die Mög­lichkeit zu sterben enthält. Eltern können dem Kinde nur den Tod geben - so würde es extrem ausgedrückt heißen -, nur die Möglich­keit, hier auf der Erde einen sterblichen Leib zu tragen. Was an diesem Leibe lebt, das muß durch das kommen, was aus der geistigen Welt herunterkommt. Daß dieser ganze Organismus, der ganze Mecha­nismus, mit dem der Mensch umkleidet wird und den er mit dem Keim des Todes durch das Empfangenwerden erhält, überhaupt lebensfähig ist, das geschieht durch das, was aus der geistigen Welt herunterkommt. Man muß lernen, den Menschen wieder in seiner konkretesten Erschei­nungsform an die geistige Weltenentwickelung anzuschließen. Dazu wird man lernen müssen, nicht in jener feigen Erkenntnisfurcht vor den höchsten Problemen zu stehen, in der heute die gegenwärtige Wissen­schaft vor ihnen steht, sondern diese höchsten Probleme wirklich anzu­fassen. Wenn man vor ihnen zurückschreckt, dann kann man auch nicht das, was in der unmittelbaren Umgebung lebt, verstehen.

In der unmittelbaren Umgebung - man kann schon so sagen leben heute die verschiedensten Völker. Denken Sie sich nur, welche unwahren Begriffe zum Beispiel Woodrow Wilson aus dem Völker-begriff, aus dem Volksbegriff gemacht hat. Davon haben wir öfters gesprochen. Man muß sich darüber klar sein, daß man diesen Volksbegriff nicht verstehen kann, wenn man nicht auf die ganze Erdenevolution eingehen kann. Woher kommt denn die Gliederung der Menschheit in Völker?

421

Wir wissen aus der Geisteswissenschaft: Die Evolution ist so vor sich gegangen, daß wir erst die Saturnverkörperung der Erde hatten, daran schloß sich die Sonnenverkörperung, es folgte die Monden­verkörperung und dann der jetzige Erdenzustand; dann wird eine Jupiterverkörperung kommen und so weiter. Das ist aber nicht so glatt vor sich gegangen, daß sich einfach ein alter Saturnkörper in einen Sonnen-, Monden- und Erdenkörper verwandelt hat, sondern es hat einmal eine Abtrennung der Sonne von der Erde, dann eine Abtrennung des Mondes von der Erde stattgefunden, so daß wir eine fortlaufende Entwickelung haben und etwas, was sich abgetrennt hat, wieder vereinigt hat, wieder getrennt hat. Gerade das, was ich vorhin die kosmische Entwickelung nannte, das Abtrennen, spielte in das alte Hellsehen hinein. Und es blieb in diesem Hellsehen ganz unbewußt, blieb «chthonisch», wie man es im alten Hellsehen nennt, in der fortgehenden Erdenentwickelung das, was der Menschenkeim der Zukunft ist. Denn was aus dem Universum kommt, war ja zum Ab­sterben bestimmt, es wurde nur dadurch erhalten, daß es von der luziferischen Kraft ergriffen wurde. So haben sich die verschiedenen Differenzierungen in Nationen, in Völker gebildet: vom Kosmos herein, aber imprägniert sind die kosmischen Kräfte mit luziferischen Kräften. Diesen verschieden differenzierten Völkern steht gegenüber, was ja auch noch in einer besseren Zeit, als die heutige ist, begriffen worden ist: das Allgemein-Menschliche. Dieses hat einen ganz andern Ursprung. Es ist das, wovon man reden kann in abstracto, wovon man aber in Wirklichkeit nur redet, wenn man das wirklich erfaßt, was als Zukunftskeim im Menschen ist. In diesem ist nichts von Nation, nichts von Volk; denn es ist das, was nicht vom Kosmos herabkam, sondern das, wozu der Christus hingegangen ist, und womit er sich verbunden hat. Der Christus hat sich nicht mit irgendeinem Nationa­len verbunden, wie noch die Jehovagottheit, sondern er hat sich mit dem Allgemein-Menschlichen verbunden. Er war in der Gemeinschaft derjenigen Götter, aus denen die Nationen geworden sind, aber er verließ dieses Gebiet, als es reif zum Untergange war, kam auf die Erde und nahm Platz im Allgemein-Menschlichen. Es ist in bezug auf den Christus Jesus die größte Gotteslästerung, ihn für etwas anderes

422

zu gebrauchen als für das Allgemein-Menschliche, wo man sagt:

«Nicht ich, sondern der Christus in mir.»

Dieses zu durchschauen, gehört gewissermaßen zu den wichtigsten Vorstellungen der Zukunft. Zu den wichtigsten Vorstellungen der Zukunft gehört es, das Verhältnis des Christus Jesus zur Menschheit zu durchschauen, zu durchschauen auch, was alles bloß Völkisches außerhalb des ganzen Gebietes des Christus Jesus ist, weil es alter Rest desjenigen ist, was eigentlich zur Zeit des Mysteriums von Gol­gatha zum Untergange reif war. Aber alle Dinge bleiben noch über den Zeitpunkt, wo sie zum Untergange reif sind, wie verdorrte Früchte in der Welt vorhanden. So konnte von dem, was eigentlich zum Untergange reif war, nichts anderes bleiben als jene Wissenschaft, die in ihrer Erkenntnis nur das Untergehende verwalten will, die sich, wie die gegenwärtige Natur- oder Sozialwissenschaft, nur mit Ideen beschäftigt, die das Untergehende verwalten können: entweder das in der Natur Untergehende, Sterbende, oder das in Kultur Vergehende, Sterbende, wie ich gezeigt habe.

Man kann in unserer Kulturgeschichte manchmal geradezu hart aneinanderstoßen sehen dieses Untergehende, das in toten, abstrakten Ideen leben will und sich von ihnen vormacht, daß sie irgend etwas Bedeutsames wären, und das den Menschenkeim, der allein zukunfts­trächtig ist, Ergreifenwollende. Ich habe öfter auf jenes bedeutsame Gespräch aufmerksam gemacht, welches Goethe mit Schiller geführt hat, als beide einmal in einer Versammlung der Naturforschenden Gesellschaft in Jena waren, da der Botaniker Batsch über die Pflanzen vorgetragen hat, wo dann Schiller beim Weggange zu Goethe sagte: Die botanische Anschauung ist doch etwas, was alles zerstückelt, das Verbindende austreibt. Goethe zeichnete darauf seine Pflanzenmeta­morphose mit einigen charakteristischen Strichen vor Schiller hin. Da sagte dieser: Das ist aber keine Erfahrung, das ist eine Idee. Schiller konnte sich nicht aufschwingen zu der Anschauung von dem zu­kunftsträchtigen Menschen, daß dieser dann auch wieder finden könne das Zukunftsträchtige draußen in der Welt, nämlich das Übersinn­liche. Daher erwiderte er Goethe: Das ist keine Erfahrung, keine Beobachtung, das ist eine Idee. Goethe sagte darauf: Dann sehe ich

423

meine Ideen mit Augen. - Für ihn war das, was er aufzeichnete, etwas, was er auch schaute, was ihm gerade so wirklich war, wie etwas mit den physischen Sinnen Angeschautes. Da stand derjenige, der, wie Schiller, nicht zu dem Übersinnlichen hinaufschauen konnte, sondern dem nur die tote abstrakte Idee vorschwebte, dem Goethe gegenüber, der aus dem in der Natur Erkannten das herausholen wollte, was das Zukunftsträchtige, das Unvergängliche im Menschen ist, demgegen­über alles Vergängliche nur ein Gleichnis ist, das er verbinden wollte mit dem Unvergänglichen, und der deshalb nicht verstanden wurde, weil er auf etwas Übersinnliches, Unvergängliches, wie auf etwas Sinnliches hinschaute. Deshalb muß das notwendige Erfordernis für unsere Zeit der weiter ausgebildete, in seinem Gebiete weitergebildete Goetheanismus sein. Und erst dann wird es hell werden, wenn man einsehen wird, daß so etwas wie die einzelnen Konfessionen, auch die mosaische, besonders die katholische, nur die Voraussetzungen sind des Alten, nicht mehr Seinsollenden, und so in die Entwickelung hereinragen wie etwas Abdorrendes, daher sich nur durch äußere Macht Festsetzendes, und wie neben diesem Alten, Hereinragenden sich dasjenige aufpflanzt, was von vornherein nur das Vergängliche mitnehmen will für die Zukunft. Was so sich ausspricht, daß es nur mitnehmen will das Vergängliche, das ist der Amerikanismus. Darauf beruht ja die Verwandtschaft zwischen Amerikanismus und Jesuitis­mus, von der ich das letzte Mal gesprochen habe.

Allen diesen Dingen steht gegenüber der Goetheanismus. Ich meine damit auch wieder nicht etwas dogmatisch Festzusetzendes, sondern Namen muß man gebrauchen für etwas, das weit über den Namen hinausgeht. Ich verstehe unter Goetheanismus nicht das, was Goethe bis zum Jahre 1832 gedacht hat, wohl aber etwas, was vielleicht erst im nächsten Jahrtausend im Sinne Goethes gedacht werden kann, was aus der Goetheschen Anschauung, aus dem Goetheschen Vorstellen und Empfinden werden kann. Darauf ist es zurückzuführen, daß ge­rade in dem, was mit dem Goetheanismus in irgendeinem Zusammen­hange steht, alles Abdorrende seinen eigentlichen Feind sieht. Auf diesem Gebiete erlebt man ja, ich möchte sagen, die stärksten Kultur­paradoxien. Es ist doch wahrlich eine Art Kulturparadoxon, daß das

424

geistreichste Buch über Goethe trotz allem, was dagegen spricht ein Jesuit geschrieben hat: Pater Baumgartner. Es ist ein Buch, welches Goethe in Grund und Boden bohrt. Es ist ja gerade das Charakteri­stische, daß alles, was irgendwie jesuitisch ist, gegnerisch in bezug auf Goethe ist. Aber dies ist ein geistvolles, tiefgründiges Buch, nicht in bloßen aperçus geschrieben, es ist doch Goethe getroffen. - Während in dem Buche des bedeutenden englischen Gentleman Lewes ein Spießbürger des 18. Jahrhunderts, der 1749 in Frankfurt am Main geboren ist, nach Leipzig als Student ging, dann nach Weimar be­rufen wurde und nach Italien reiste, sehr alt wurde und fälschlicher­weise «Johann Wolfgang Goethe» genannt wurde, beschrieben in dem Buche des bedeutenden englischen Gentleman Lewes und bewundert wird. Damit schreibt man ja kein Buch, daß man «Johann Wolfgang Goethe» darauf schreibt und im übrigen einen Spießbürger des 18. Jahr-hunderts beschreibt. Ein Kulturparadoxon liegt mit dem Jesuitenbuche über Goethe aus dem Grunde vor, weil man daraus wieder sieht, wie die Kräftegegensätze in der neueren Zeit gehen, wo wirk­lich die wahren Kräftegegensätze sind.

Im Kleineren zeigt sich das auch bei uns. Solange wir als eine «ver­borgene Sekte» gelten konnten, wurde Anthroposophie wenig an­gegriffen. Jetzt, wo sie sich etwas verbreitet, sieht man schon die wütendsten Angriffe, zum Beispiel gerade auf jesuitischer Seite, und die Hefte der Zeitschrift «Stimmen aus Maria Laach», jetzt «Stimmen der Zeit», begnügen sich gar nicht mehr mit einem Aufsatz, sie schrei­ben gleich ganze Hefte über das, was von mir «Anthroposophie» genannt wird. Daher muß ich immer wieder und wieder mahnen, daran zu denken, wenn von dieser Seite Angriffe kommen, nicht zu glauben, daß es vom Gesichtspunkte jener Leute zu unserem Besten wäre, wenn gesagt würde: Wir reden doch von dem Christus, wir fördern das Christus-Verständnis und so weiter. Das verbieten ja gerade diese Leute! Das ist gerade das, was man nicht tun darf. Man darf nicht irgend etwas über den Christus behaupten, wenn es nicht zum Lehrgut der Kirche gehört. Daher sei man in unseren Kreisen nicht mehr so naiv zu glauben, dadurch, daß man ein guter Christ sei, könne man den Katholizismus versöhnen. Gerade dadurch, daß man ein guter Christ ist, daß man alles tut, um das Christentum zu fördern,

425

macht man sich den Katholizismus zum allergrößten Feind, wie es überhaupt notwendig und immer notwendiger sein wird, darauf zu achten, daß die Naivität mit Bezug auf solche Dinge, die um uns herum leben, aus unserem Kreise verschwinde. In unseren Kreisen muß immer mehr und mehr Platz greifen, daß man sehen will, was eigentlich an Kräften, an untergehenden und an aufgehenden Kräften in unserer Umgebung lebt. Wir müssen hinauskommen über diese vielfach bei uns zu findende Sehnsucht, bloß nach ein bißchen imagi­nativer Welt hinzustreben. Ich habe das oft gesagt, daß wir hinaus müssen über dieses Streben nach ein bißchen imaginativer Welt. Wir müssen überall unsere Geisteswissenschaft angliedern können an die Kulturbegriffe der Gegenwart und müssen zu scharfen Beobachtern dessen werden, was in der Gegenwart lebt, denn nur vom Stand­punkte dieser Geisteswissenschaft aus läßt sich diese Gegenwart wirk­lich beobachten. Wie viele kommen zu mir und sagen: Ich habe dieses und jenes gesehen. Nun ja, das haben sie auch gesehen. Imaginationen liegen von der menschlichen Entwickelung nicht so weit ab. War das der Hüter der Schwelle? - fragt dann mancher. Aber so einfach Ja und Nein sind die Antworten auf solche Sachen nicht, denn die Antworten schließen die ganze menschliche Entwickelung ein. Aber die Ant­worten sind gegeben. Ich korrigiere jetzt meine «Geheimwissen­schaft», die in neuer Auflage erscheinen soll. Ich sehe, daß darinnen eigentlich alles steht, um sich solche Fragen zu beantworten. Alle Vorsichten, alle Beschränkungen, die man sich auferlegen soll, sind darin genau beschrieben. Gefühle, Empfindungen, die man entwickeln soll, sind dort beschrieben. Und deutlich ist darauf hingewiesen, nur muß man überall genau lesen. Hätte ich alles ganz ausführlich darstellen sollen, was in der Geheimwissenschaft enthalten ist, so hätte ich dreißig Bände schreiben müssen. Man muß etwas denken, wenn man dieses Buch liest, muß Konsequenzen ziehen; die kann man aber ziehen. Ich liebe es nicht, dicke Bücher zu schreiben, aber es geht klar hervor: Gewiß, wer nach der übersinnlichen Welt strebt, der strebt darnach, dem Hüter der Schwelle zu begegnen; aber diesem Hüter der Schwelle zu begegnen, ist nicht eine so einfache Sache, wie eine traum­hafte Imagination zu haben. Es ist ja die bequemste Art, durch eine

426

traumhafte Imagination in die übersinnliche Welt hineinzukommen. Die Begegnung mit dem Hüter der Schwelle ist eine Tragik, ein Lebenskampf in bezug auf alle Erkenntnisbegriffe, in bezug auf alle Erkenntnisgesetze und in bezug auf alle Zusammenhänge des Men­schen mit der geistigen Welt, mit Ahriman und Luzifer. Diese Lebens-katastrophe muß sich ergeben, wenn man dem Hüter der Schwelle begegnen will. Drängt es sich bloß in traumhafter Imagination vor einen Menschen hin, so bedeutet das, daß jemand bequem daran vor­beischlüpfen will, um als Ersatz dafür - jetzt liebt man ja Ersatz - den Traum vom Hüter der Schwelle zu haben.

Über diese Dinge muß man gesund denken. Dann wird sich heraus­stellen, daß in diesem gesunden Denken liegt die Grundlage für die Heilung von allem Aberglauben und von alledem, dessen die frivolen Gegner die Geisteswissenschaft bezichtigen. Außerdem liegt in der Art zu denken, in diesem Sich-Aufschwingen zum Erleben des Geisti­gen alles, was man braucht an Keimen, um aus der jetzigen Welten-katastrophe wirklich herauszukommen. Was da hinausführt, es muß erfaßt werden nicht auf der Erde, nicht im Sinnlichen allein, nicht in den Institutionen, die ja abwirtschaften und mit denen Raubbau ge­trieben wird in bezug auf das, was da ist. Es muß erfaßt werden, was nicht da ist! Mit glühendem Eifer müssen wir ergriffen werden für die Erfassung dessen, was noch nicht da ist. Aber was noch nicht da ist, kann nur nach dem Muster dessen erfaßt werden, was durch übersinn­liche Erkenntnis erfaßt wird. Mit dem Zurückschauen in die Ver­gangenheit ist es nicht getan. Die Kautskys schauen am liebsten zurück auf die Vergangenheit und gründen auf Anthropologie die Menschheit. Da, wo der Mensch noch fast nicht geschaffen war, wollen sie die Zustände studieren, um die sozialen Verhältnisse der Gegen­wart zu verstehen. Diese echten Söhne eines mißverstandenen Katholizismus, wie es zum Beispiel Kautsky ist, wollen es so haben. Aber man kann nicht in die Vergangenheit zurückschauen, denn da ist das, was bis in die jüngste Gegenwart reicht, durch atavistische Kräfte ge­schaffen worden, instinktiv. In der Zukunft wird nichts mehr instinktiv gemacht. Und wenn der Mensch nur das verwalten will, was aus seinen Instinktzeiten noch da ist, dann wird er niemals zu dem Zukunfts­

427

trächtigen, zu demjenigen kommen, was über diese Katastrophe hin­ausführt. Es hängt schon mit der richtigen Stellung zur geistigen Welt dasjenige zusammen, was einzig und allein tätiges, ernstes Verständnis der Gegenwart ist.

Ich müßte viel sprechen, wenn ich, in diesem Tone fortfahrend, aus unseren Voraussetzungen heraus über mancherlei, was gegen­wärtig naheliegt, zu Ihnen reden wollte. Allein, wenn Sie in den Wochen, in denen wir jetzt wieder nicht zusammen sein werden, sich so recht das vor die Seele führen, was in diesen Betrachtungen gesagt worden ist, und was gipfeln sollte in der Notwendigkeit der Er­kenntnis einer Christus Jesus-Doppelgestalt, dann werden Sie diesen Sommer meditierend weit kommen im Begreifen des kosmischen Christus und des irdischen Jesus: daß der kosmische Christus aus geistigen Welten herunterstieg, weil diese Welten fortan dem mensch­lichen Anschauen verschlossen sein sollten, und weil der Mensch be­greifen soll, was in ihm selbst als Zukunftskeim liegt. In diesem kos­mischen Christus und in dem irdischen, in dem humanistischen Jesus und in ihrer Zusammengliederung liegt vieles von der Lösung des Weltenrätsels, wenigstens des Menschheitsrätsels. Im Menschen liegt der Keim für die Zukunft. Aber dieser Keim muß befruchtet werden durch den Christus Jesus. Wird er nicht befruchtet, so gestaltet er sich ahrimanisch, und die Erde kommt an ein wirres Ziel. Kurz, mit dem Christus Jesus-Geheimnis zusammenhängend finden Sie die Lösungen für viele, viele Fragen der Gegenwart. Sie müssen aber nur darnach trachten, die Lösungen so zu suchen, daß Sie sich nicht leichthin mit dem befriedigen, was man so oftmals für Theosophie oder Mystik oder dergleichen hält, mit einem «Vereinigen mit dem Geistigen», mit einem «vollen Aufgehen im All», sondern daß Sie die wirklichen Ver­hältnisse, wie sie uns umgeben, wirklich anschauen und zu durch­dringen versuchen mit dem, was Ihnen aus der Geisteswissenschaft wird. Sie werden schon immer mehr und mehr dazu kommen, sich zu sagen nach Lösung vieler Fragen: Wahrhaftig, nicht Theoretisches, sondern sehr Praktisches sucht heute die Menschheit. Sie wird sich in einer Sackgasse befinden, wird sich gestehen, daß sie nicht mehr weiter kann, wenn sie nicht mit dem Geiste weiter will. Alles, was

428

nicht mit dem Geiste wandern will, wird sich als ein Verdorrendes erweisen.

Es ist eine wichtige Frage für die Zukunft der Menschheit, ob man mit dem Geiste wandern will. Ich möchte dies heute ganz besonders in Ihr Herz senken, was Gefühl werden kann aus den Betrachtungen, die wir eben angestellt haben. Und es ist ja auch wahrscheinlich, daß wir heute zum letzten Male hier versammelt waren in diesem Raume, den wir durch Jahre hindurch für diese unsere Betrachtungen lieb ge­wonnen haben. Wir haben diesen Raum als einen der ersten nach unse­rem eigenen Geschmack eingerichtet, und man kann ja alles nur nach Maßgabe des Vorhandenen tun. Wir haben ihn eingerichtet, weil immer in uns auch die Idee waltet, daß unser geisteswissenschaftliches Streben nicht etwas bloß Theoretisches sein soll, sondern sich aus­drücken soll in alledem, worin wir uns als Menschen begegnen. Er wird uns nun genommen. Wir müssen einen andern suchen. Wir wer­den diesen andern selbstverständlich in der gegenwärtigen Zeit nicht so einrichten können wie diesen; wir werden uns mit dem andern be­gnügen müssen. Uns ist dieser Raum lieb geworden, weil wir nicht der Ansicht sein können, daß man von dem, was wir den Zusammenhang mit dem Geistigen nennen, überall in derselben Weise reden könne wie hier, wo wir so mancherlei versucht haben, was ja in Dornach im größeren versucht worden ist. Wir haben früher mancherlei zu probieren gehabt. Vielleicht sind noch einige anwesend, die mit dabei waren, als wir von unseren Dingen sprechen mußten in einem Lokal: Ich stand da, vor mir waren die Zuhörer, hinter mir haben der Wirt oder die Wirtin die Bierkrüge gefüllt. Ein andermal waren wir in einem stallähnlichen Raum, es war eigentlich ein anderer uns bestimmt, aber man gab uns nur diesen. In andern Städten habe ich auch schon in Lokalen vorgetragen, wo kein ganzer Fußboden war, und das mußte auch hingenommen werden. Aber es ist nicht eigentlich das, was aus dem ganzen Wesen unserer Sache heraus gewollt werden kann, und es würde uns jemand doch mißverstehen, wenn er sagen würde, daß man vom Geistigen in jedem Milieu in gleicher Weise liebevoll reden könnte. Der Geist ist dazu da, daß er eindringt in die Materie und sie überall durchsetzt. Das ist ja auch der Sinn in bezug

429

auf das soziale und wissenschaftliche Leben, wie ich es heute an­gedeutet habe.

Aus alledem heraus - Sie werden natürlich alle erfahren, wann Sie zum letzten Male hier sind - wird es uns gewiß außerordentlich schwer werden, nach einigen Wochen von diesem Raume zu scheiden, der mit Hilfe unserer anthroposophischen Freunde in liebevoller Weise damals eingerichtet worden ist. Aber auch solches Scheiden muß den­noch in unserem Sinne in richtiger Art als Symbolum genommen werden. Die Menschen werden von vielem scheiden müssen im Laufe der nächsten Jahrzehnte. Auch davon werden sie überrascht werden; es glauben die Menschen das nicht. Aber eines sollte in demjenigen feststehen, der wirklich den innersten Impuls der Geisteswissenschaft begriffen hat: Was auch wanken mag, das eine kann nicht wanken, was wir im Geiste ergriffen haben, und wozu wir uns entschlossen haben, es im Geiste auszuführen. Was wir aus dem Geiste heraus tun werden, gleichgültig, wie es ausschauen wird aus den chaotischen Erscheinungen heraus, es wird sich als das Richtige erweisen.

So mag uns das Verlassen dieses Lokales ein Symbolum sein. Wir müssen in ein anderes hinein. Aber wir tragen das mit hinüber, wovon wir wissen, daß es nicht bloß unser tiefstes inneres Wesen ist, sondern das tiefste innere Wesen der Welt, worauf die Menschheit bauen muß, wenn sie richtig bauen will. Daß uns das, was wir uns durch Geistes­wissenschaft erarbeiten, niemand nehmen kann, daß das auch der Menschheit niemand nehmen kann, sondern daß es die menschlichen Verhältnisse zur Gesundung führen muß, davon ist der Geisteswissen­schafter überzeugt, das weiß er, daran hält er fest. Vielleicht wissen wir von vielem noch nicht zu sagen, wie wir es machen werden, aber wir werden es im Sinne der Geisteswissenschaft richtig machen. Davon können wir überzeugt sein, wenn wir uns durchdringen mit der Er­kenntnis, was der Geisteswissenschaft gerade der Goetheanismus be­deutet, und wenn wir andererseits das nehmen, was neulich hier an­geführt worden ist, daß die Welt gerade das, was mit der mitteleuro­päischen Kultur vom 18. und vom Anfange des 19. Jahrhunderts zu­sammenhängt, verketzert und verlästert, und daß wir, wenn wir das alles uns vor die Seele führen, trotzdem auf dem Boden stehen können:

430

Was auch geschehen mag, fruchtbar sein wird diese mitteleuropäische Kultur für die Menschenzukunft. Die Zukunft der Menschheit beruht schon darauf. Und förmlich, weil sie diese Menschheitszukunft nicht haben wollen, um sich vor ihr zu retten, deshalb verlästern sie die Gegner dieser mitteleuropäischen Kultur. Erfassen wir aber diese mitteleuropäische Kultur im Geiste, erkennen wir ihr Spirituelles, und wissen wir, daß wir darauf bauen können, dann können wir auch wissen: Und wenn alle Teufel ihr den Untergang geschworen hätten sie wird nicht untergehen! Aber nur das wird nicht untergehen, was mit dem rechten Geiste verbunden ist.

431

HINWEISE

Die in den Vorträgen genannten geschriebenen Werke von Rudolf Steiner sind alle inner­halb der Gesamtausgabe erschienen. Siehe die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite:

13 Vortrags,~yklus ... in Wien: «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod

und neuer Geburt.» Sechs Vorträge, gehalten in Wien vom 9. bis 14.April 1914;

4. erweiterte Auflage, Gesamtausgabe Dornach 1959, Bibl.-Nr. 153.

14 Ich habe dann vier Vorträge in Zürich gehalten: «Anthroposophie und akademische

Wissenschaften.» Vier Vorträge, gehalten am 5., 7., 12. und 14. November 1917.

Zürich 1950, in Bihl.-Nr. 73 vorgesehen.

17 in Zürich gesprochen über ... Geschichtswissenschaft: Gehalten am 7. November 1917.

Siebe Hinweis zu 5. 14.

16 Herman Grimm über den Geschichtsschreiber Gibbon: In «Fünfzehn Essays », Bd. 1,

Berlin 1884, 5. 80.

Leopold von Ranke, 17951886, Historiker.

Karl Lamprecht, 16561915, Historiker.

19 daß ein Schulmeister gegenwärtig an der Spitze der bedeutendsten Republik die Parole für

die Men.cchheit auegeben will: Hinweis auf Woodrow Wilson, 18561924, Präsident

der Vereinigten Staaten von 19131921, und seine «Vierzehn Punkte».

20 Karl Marx, 18181883. Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus.

22 Carl Gustav Jung, 18751961. «Die Psychologie der unbewußten Prozesse», Zürich

1917; vgl. auch 5. 106ff.

26 in dem schon vor dem Kriege gehaltenen 2.yklus in Helsingfors: Im 5. Vortrag des Zyklus

«Die geistigen Wesenheiten in den Himmelskörpern und Naturreichen». Zehn

Vorträge, gehalten vom 3. bis 14. April 1912; 3. erweiterte Auflage, Gesamt­-

ausgabe Dornach 1960, Bihi.-Nr. 136.

die beiden Bücher Wilsons: «Die neue Freiheit» (The New Freedom, 1913), übersetzt von H. Winand, München 1914; «Nur Literatur» (Mere Literature and other Essays, 1893), übersetzt von H. Winand, München 1919.

43 Basilius Valentinus: Alehimist, angeblich Benediktinermöneh aus dem 15. Jahr­-

hundert. Unter seinem Namen wurden seit ca. 1600 eine Reihe von Schriften ge­-

druckt. Eine Art Gesamtausgabe in 3 Bänden erschien in Hamburg 1717 und 1740.

schwedischer Gelehrter: Theodor Svedberg, Chemiker, in seinem Werk «Materie» 1912, deutsch 1914.

46 Dr. Friedrich Rittelme.yer, 18721938, evangelischer Theologe. Späterer Mit­-

begründer und Erzoberlenker der «Christengemeinsehaft»; Aufsatz «Von der

Theosopbie Rudolf Sreiners» in «Die Christliche Welt» 31.Jabrg. 1917, Nr. 3335.

47 Dr. Johannes Müller, 18641949, evangelischer Theologe und Schriftsteller in

«Die Christliche Weit», 32. Jahrg. 1918, Nr. 24.

432

Zu Seite:

47 das Dessoirsche Buch: Max Dessoir, 18271947. «Vom Jenseits der Seele. Die Ge­heimwissenschaften in kritischer Beleuchtung.» Stuttgart 1917.

52 Friedrich Theodor Vischer, 18071887.

53 Vortragszyklus « Inneres Wesen des Menschen und Lehen zwischen Tod und neuer Geburt»:

Siehe Hinweis zu 5. 13.

59 was in einer merkwürdigen Intuition Richard Wagner ... ausgesprochen hat: Die Zeit wird ~

Parsifal: Ich schreite kaum , doch wähn ich mich schon weit.

Gurnemanz: Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.

66 Wilhelm Wundt, 18321920, Philosoph und Psychologe. Vgl. auch 5. 195.

74 Die Welt der Wirklichkeit ist aus Träumen gewoben: Freie Wiedergabe der Worte des Prospero in Shakespeare «Der Sturm», 4.Akt, 1. Szene (We are such stuif as dreams arc made on).

75 Gotthi« Heinrich Schubert, 17801860, Arzt und Naturforscher. «Die Geschichte der Seele.» Stuttgart 1839.

81 «Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie.»: Elf Vorträge, gehalten in Kristianis (Oslo) vom 7. bis 17. Juni 1910. Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 121.

82 Rabindranath Tagore, 18611941, indischer Dichter und Philosoph. «Der Geist Japans» in «Preußische Jahrbücher» Bd. 171, Heft 1, Jan. 1918, 5. 21ff.; vgl. auch 5. 333.

83 Großher~

Prasident der Goethe-Gesellschaft: Im Jahre 1918 war Vorsitzender der « Goethe-Gesellschaft» in Weimar der preußische Staats- und Finanzminister a. D., Ober-präsident der Rheinprovinz, Georg Kreuzwendedich Freiherr von Rheinbaben; vgl. auch 5. 334.

85 Es gibt heute schon Bücher, die vom psychiatrischen Standpunkte aus geschrieben sind über das Leben Jesu: Zum Beispiel E. Rasmussen « Jesus, eine vergleichende psycho­pathologische Studie», Leipzig 1905.

91 ein paradoxes Beispiel: Siehe Hinweis zu 5. 22.

98 Sie wissen aus dem letzten öffentlichen Vertrage: « Die Natur und ihre Rätsel im Lichte

der Geistesforschung», Berlin, 7. März 1918, 4. Vortrag in «Das Ewige in der

Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit». Gesamtausgabe Dorm.ch 1962,

Bibl.-Nr. 67.

99 Lotosblumen: Siehe «Über einige Wirkungen der Einweihung» in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?». Gesamtausgabe Dornach 1961, 5. 115ff.

433

Zu Seite:

107 Vartragsrtyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben twischen Tod und neuer Geburt»:

Siehe Hinweis zu 5. 13.

116 Ich habe schon im öffentlichen Vortrage: «Das geschichtliche Leben der Menschheit und seine Rätsel», Berlin, 14. März 1918, 6. Vortrag in «Das Ewige in der Men­schenseele. Unsterblichkeit und Freiheit». Gesamtausgabe Dornach 1962.

133 Vortrage uber « Okkulte Physiologie»: Erschienen erstmals 1927, innerhalb der Gesamtausgabe Dornach 1957.

138 wie ich es selbst im öffentlichen Vortrage ge~e:gt habe: «Die Offenbarungen des Un­bewußten vom geisteswissenschaftlichen Standpunkt», Berlin, 21. März 1918,

7. Vortrag in « Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit».

Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 67.

146 den in Kristiania gehaltenen Zyklus uber die Völkerseelen: Siehe Hinweis zu 5. 81.

152 was ich sogar im öffentlichen Vortrage vorgebracht habe: Siehe Hinweis zu 5. 116.

171 In einem Aufsatz aus dem Jahre 1858 sagt er (Herman Grimm): In seinem Aufsatz «Friedrich der Große und Macaulay» (1858) in «Fünfzehn Essays, Erste Folge», 3. Auflage Berlin und Gütersloh, 5. 112f. Das Zitat lautet wörtlich:

«Es ist der Zustand denkbar, daß der Geist eines Menschen, losgelöst von den körperlichen Banden, etwa wie ein bloßer Spiegel des Geschehenden über der Erde schwebte. Ich steile hier keinen Glaubensartikel auf, es ist nur eine Phantasie. Nehmen wir an, für einige Menschen gestalte sich die Unsterb­lichkeit in dieser Weise, daß sie unbeengt von dem, was sie früher verblendete, über die Erde hinsebweben und ihnen alle Schicksale der Erde und der Men­schen von der Geburt des Planeten an sich offenbarten. Die Vergangenheit wäre ihnen ein Gewebe von harmonischer Schönheit Nun plötziich, träu­men wir weiter, wäre dieser Geist, der so frei die Dinge überschaute, ge­zwungen, sich wieder dem Körper eines sterblichen Menschen zu verbinden. Wenn diesem Menschen die höchsten Talente jeder Art verliehen wären, würde dennoch selbst nur die Erinnerung des vorherigen Zustandes möglich sein? Er würde in einem bestimmten Zeitalter geboren sein. Er würde Vater und Mutter haben, ein Vaterland, einen Stand, ein Herz das lieht und haßt, Eitel­keit, Schmerzen, Freude, Verdruß, Verzweiflung, Entzücken wann, auch nur in einem Augenblicke, wäre er der freien Klarheit fähig, die ehemals sein Element war? ... Während er sonst die Herzen der Menschen wie einen gläsernen Bienenkorb vor Augen hatte, wo er die Gedanken ein- und aus­fliegen und arbeiten sah, muß er sie nun als Geheimnisse erraten.»

175 Kant hat einmal gesagt: Wörtlich: « Ich behaupte, daß in jeder besonderen Natur-lehre nur so viel eigentliche Wissenschaft angetroffen werden könne, als darin Mathematik anzutreffen ist.» In der Vorrede zu «Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft», 1786.

181 Alesia: bei dem Dorf Alise Ste.-Reine im Döpartement Cöte-dOr. Wurde 52 v.Chr. durch Cäsar zerstört.

184 «Die Erziehung des Kindes vom Standpunkte der Geisteswissenschaft» (1907); viele Auflagen, zuletzt herausgekommen in «Luzifer-Gnosis 19031908. Grund­legende Aufsätze zur Anthroposophie und Berichte aus der Zeitschrift

434

Zu Seite:

und , Gesamtausgabe Dornach 1960, Bibl.-Nr. 34, und in der Taschenbuchausgabe zusammen mit «Die Methodik des Lehrens und die Lebens­bedingungen des Erziehens», Stuttgart 1961.

187 was in dem Buche «Theosophie» beschrieben ist als Erlebnisse in der Seelenwelt: Rudolf Steiner «Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschen-bestimmung», 28. Auflage. Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 9, 5. 105ff. (Die Seele in der Seelenwelt nach dem Tode).

189 in den Wiener Vorträgen uber das Leben zwischen Tod und neuer Geburt: Siehe Hinweis zu 5. 13.

192 im Nebelalter jung geworden: «Faust», II. Teil, 2. Akt (Homuneulus).

194 Ortgenes, um 185254.

195 Jakob Frobschammer, 18211893, «Über den Ursprung der menschlichen Seele»,

5. 98ff.

196 ich habe auch im öffentlichen Vortrag gesagt: Siehe Hinweis zu 5. 138.

200 ein populäres Büchelchen: Max Wentscher, «Einführung in die Philosophie» (Samm­lung Göschen 281), Berlin und Leipzig 1912, 5. 59.

203 Ich habe schon einmal in diesem Winter, in einem öffentlichen Vorfrage sogar, darauf hin­gewiesen: «Ziel und Wesen der Geistesforschung», Berlin, 24. Jan. 1918, 1. Vortrag in «Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit», Gesamt­ausgabe Dornach 1962, Bibl.-Nr. 67.

213 August Strindberg, 184919 12, schwedischer Dramatiker.

Fritz Mauthner, 18491923, «Kritik der Sprache», Berlin 1902.

John Stuart Mill. 18061873, englischer Philosoph und Politiker.

Herbert Spencer, 18201903, englischer Philosoph.

214 Neuauflage der «Philosophie der Freiheit»: Es handelt sich hier um die 2. Auflage, wesentlich erganzt und erweitert (2.6. und 7.9. Tausend), Berlin 1918.

215 wie ich auch in der Zeitschr:ft «Das Reich» ausgeführt habe: «Die Geisteswissenschaft als Anthroposophie und die zeitgenössische Erkenntnistheorie. Persönileh-Un­persönliches.» in «Das Reich», München, 2.Jahrg. 1917/18, Buch 2 (Juli 1917); wiederabgedruckt in «Philosophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 19041918», Gesamtausgabe Dornach 1965, Bibl.-Nr. 35, 5. 307ff.

Eduard von Hartmann, 18421906.

217 Ich habe gestern in dem öffentlichen Vortrag: «Menschenwelt und Tierwelt nach Ursprung und Entwickelung, dargestellt im Lichte der Geisteswissenschaft» (Der übersinnliche Mensch, Erster Vortrag), Berlin, 15.Aprii 1918; enthalten in dem Band « Das Ewige in der Menschenseele. Unsterblichkeit und Freiheit», Gesamtausgabe Dornach 1962, Bibi.-Nr. 67.

221 Oskar Hertwig, 18491922, Schüler von Ernst Haeckel, «Das Werden der Orga­nssmen. Eine Widerlegung von Darwins Zufallstheorie», Jena 1916, und «Zur Abwehr des ethischen, des sozialen, des politischen Darwinismus», Jena 1918.

435

Zu Seite:

221 Endlich mußte alle Naturwissenschaft: Wörtlich: «Nach ähnlicher Methode, durch weiche es in der Astronomie möglich wurde, die Vorgange am Himmeisgewölbe in feste Formen zu kleiden, die wir Naturgesetze nennen, sind in der Physik und Chemie die Gestaltungagesetze der leblosen Natur und endlich in der Biologie die Gestaltungagesetze und die Gesetze der mit ihnen verbundenen Wirkungsweisen der Lebewesen zu erforschen.» Oskar Hertwig in «Zur Abwehr...», 5. 23.

Emil Du Bois-Reymend, 18181896, «Über die Grenzen des Naturerkennens», Vortrag, gehalten bei der 45. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte zu Leipzig am 14. August 1872; Leipzig 1872.

222 ein Artikel von Fritz Mauthner: «Goethes Horoskop», 47. Jahrg. 1918, Nr. 161 vom

28. März, Abendausgabe.

der Verfasser dieses Buches: Franz Boll, «Stemglaube und Sterndeutung. Die Ge­schichte und das Wesen der Astrologie», Leipzig und Berlin 1918 (« Aus Natur und Geisteswelt», 638. Bändchen).

Nun hat derselbe Mann, der dieses Büchelchen verfaßt hat, sich im «Berliner Tageblatt» gerechtfertigt: Franz Boll, «Noch einmal Goethes Horoskop», «Berliner Tage-blatt», 47. Jahrg. 1918, Nr. 192 vom 16. April, Morgenausgabe.

224 Julian der Abtrünnige: Flavius Claudius Julianus, 332363, von den Christen «Apostata», der Abtrünnige, genannt, 361363 römischer Kaiser.

226 Julius Robert Mayer, 18141878, Arzt und Naturforscher. Die angeführte Abhand­lung trägt den Titel «Bemerkungen über die Kräfte in der unbelebten Natur», 1842 erschienen in «Liebigs Annalen» Bd. 42.

Friedrich Überweg, 1826187 1, Philosoph, «Grundriß der Geschichte der Philo­sophie», 18631866.

James Prescott Jaule, 18181889, englischer Physiker, Bierbrauer, führte als erster eine genaue experimentelle Bestimmung des mechanischen Wärmeäquivalents durch.

Hermann L. F. von Helmholtr, 18211894, Physiologe und Physiker. Hier ist be­sonders seine Abhandlung «Über die Erhaltung der Kraft» (1847) zu nennen.

Charles Robert Darwin, 18091882, «On the Origin of Species by means of natural Seleetion», 1859.

227 Jean Baptist de Lamarck, 17441829, französischer Naturforscher.

Robert Chambers, «Vestiges of the Natural History of Creation», Edinburgh 1844.

Patrick Matthew, «On Naval Timber and Arboriculture», London 1831; vgl. hierüber auch das Kapitel «Historische Skizze» in Charles Darwin «Über die Ent­stehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl».

228 Robert Hamerling, 18301889, österreichischer Dichter.

237 auch hier in Berlin in einem öffentlichen Vortrage: Siehe Hinweis zu 5. 217.

249 Dafür will ich Ihnen ein Musterbeispiel vorlesen: Die Zitate auf den Seiten 24925 1 stammen aus dem Aufsatz von Dr. Curt Piorkowski «Die Entwicklung der Psycho-Technik in Deutschland während des Krieges», der in der Wochensehrift «Deutsche Politik», 3. Jahrg., Heft 16 vom 19. April 1918 abgedruckt wurde.

436

Zu Seite:

251 Lust und Liebe sind die Fittiche ~,

252 Ich habe neulich in München einen Vortrag gehalten über die Erfahrungen, die der Seher mit der Kunst macht: Öffentlicher Vortrag vom 6.Mai 1918 mit dem Titel «Die Quellen der künstlerischen Phantasie und die Quellen der übersinnlichen Erkenntnis», enthalten in Rudolf Steiner «Kunst und Kunsterkenntnis», Gesamtausgabe Dornach 1961, Bibl.-Nr. 271, 5. 144ff.

253 Max Dessoir: Siehe Hinweis zu 5. 47.

254 die «Kantstudien» ... besprechen dieses Produkt Dessoirs: Besprechung des Dessoir­sehen Buches «Vom Jenseits der Seele» durch E. Utitz in der Zeitschrift «Kant­studien», Band XXII (1918), Heft 4, 5. 464ff.

259 Wladimir Il/itseh Lenin (Uljanow), 18701924.

Leo Trotr~ki (Leib Bronstein), 18831936, enger Mitarbeiter Lenins.

262 In dem Vortrags~yklus, den ich vor dem Kriege in Wien gehalten habe: Siehe Hinweis zu 5. 13.

267 Ich habe vor längerer Zeit einmal in Dornach in einem Vorfrage die Frage aufgeworfen:

Am 11. April 1913 in dem Vortrag «Das Eingehen des Faust in die geistige Welt», enthalten in « Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust», Band 1, Gesamtausgabe Dornach 1967, Bibi.-Nr. 272. In den Dornacher «Faust»-Auf­führungen wird es in dieser Weise dargestellt.

268 in dem Gespräch Fausts mit Gretchen: «Faust», 1. Teil, Marthens Garten.

269 « Du gleichst dem Geist...»: Worte des Erdgeistes in «Faust 1» (Nacht. Gotisches Zimmer.).

270 « Wie nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet...»: «Faust » in derselben Szene.

271 Jakob Minor, 185519 12, «Goethes Faust. Entstehungsgeschichte und Erklärung», Stuttgart 1901.

274 Gideon Spicker, 18401912, Philosoph.

288 den ich ... in den neueren Ausführungen in der Zeitschrift « Das Reich» den Bildekräfte­leib genannt habe: In dem Aufsatze « Die Erkenntnis vom Zustand zwischen dem Tode und einer neuen Geburt», erstmals erschienen in «Das Reich» (München), 1.Jahr, Buch 1 und 4 (April 1916 und Jan. 1917); wiederabgedruckt in «Philo­sophie und Anthroposophie. Gesammelte Aufsätze 19041918», Gesamtausgabe Dornach 1965, Bibl.-Nr. 35, 5. 269ff.

292 Otto Weiinger, 18801903, «Geschlecht und Charakter», Wien und Leipzig 1903; «Über die letzten Dinge», mit einem biographischen Vorwort von Dr. Moriz Rappaport, 4.Auflage, Wien und Leipzig 1918.

294 am Schlusse meines Auftat~es üher Christian Rosenkreutt: « Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz, III. Teil», «Das Reich» (München), 3. Jahr, Buch 1 (April 1918).

Johann Valentin Andreae, 15861654, «Die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz anno 1459», ins Neuhochdeutsche übertragen von Walter Weber, mit einem Aufsatz von Rudolf Steiner «Die Chymische Hochzeit des Christian

437

Zu Seite:

Rosenkreutz» (Wiederabdruck aus «Das Reich» 19171918), Stuttgart 1957; vgl. hierzu auch 5. 358.

296 unseres Dornacher Baues: Siehe hierzu auch Rudolf Steiner, « Der Baugedlanke des Goetheanum », Gesamtausgabe Stuttgart 1958, Bibl.-Nr. 290.

297 Franz Reuleaux, 18291905, «Cuitur und Technik», Vortrag, gehalten im nieder-österreichischen Gewerbeverein am 14. Nov. 1884; erschienen Wien 1884.

303 Vorführung gewisser Mysterienspiele: 1909 wurde das Schauspiel «Die Kinder des Lucifer» von Edouard Schur~ uraufgeführt, dem bereits 1907 die Uraufführung von Schuräs Werk « Das heilige Drama von Eleusis » vorausgegangen war. 1910 verfaßte Rudolf Steiner das erste Mysteriendrama «Die Pforte der Einweihung», das im gleichen Jahr aufgeführt wurde und dem in den folgenden Jahren drei weitere folgten. Vergleiche Rudolf Steiner / Edouard Schur~ «Lucifer. Die Kinder des Lucifer », Dornach 1955 und Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Gesamt­ausgabe Dornach 1962, Bibi.-Nr. 14.

312 eine bildhauerisch gearbeitete Gruppe: Diese Holzgruppe steht heute in einem be­sonderen Raum im Goetheanum in Dornach.

316 Fräulein Waller: Mieta Waller-Pyle, 18831954, von etwa 1907 an Freundin und enge Mitarbeiterin von Marie Steiner-von Sivers und Rudolf Steiner auf künstle­rischem Gebiete.

318 Fräulein Maryon: Louise Edith Maryon, 18721924, Bildhauerin, Mitarbeiterin Rudolf Steiners auf dem Gebiete der bildenden Künste.

319 ein metaphysischer Roman: konnte bisher nicht festgestellt werden.

331 Fjodor Michajlowitsch Dostojewski, 1821188 1, russischer Schriftsteller.

333 Rabindranath Tagore: Siehe Hinweis zu 5. 82.

334 Ku Hong Ming, Verfasser des von Rudolf Steiner verschiedentlich zitierten Werkes «Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg», Jena 1916.

Großher~ogin Sophie von Sachsen-Weimar, 18241897. Siebe Hinweis zu 5. 83. ein ehemaliger Finanzminister: Siehe Hinweis zu 5. 83.

335 Sir Austen Henry Layard, 18171894, englischer Staatsmann, Altertumsforscher und Schriftsteller.

342 Herman Grimm, 18281901, «Das Leben Michelangelos», 1860i863, 2 Bände.

343 Bernhard von Clairvaux, 10911153, der bedeutendste unter den Mystikern des Mittelalters, 1873 von Papst Alexander III. heilig gesprochen.

350 Jakob Böhme, 15751624.

Karl von Eckartshausen, 17521803, Mystiker.

351 Ich habe einmal in Kolmar einen Vortrag gehalten: «Die Weisheitslehren des Christen­tums im Lichte der Theosophie», gehalten am 21. Nov. 1905.

354 Gottfried von Bonillon, Herzog von Niederlothringen, Führer des ersten Kreuz-zuges, führte nach der Eroberung Jerusalems (1099) den Titel «Beschützer des heiligen Grabes», gestorben 1100.

438

Zu Seite:

355 Enrico Dandolo, 11081205, Doge von Venedig 1192.

358 Johann Valentin Andreae: Siehe Hinweis zu 5. 294.

in einem Schlosse Mitteleuropas: Karlstein bei Prag in Böhmen; Malereien wahr­scheinlich von Nikolaus Wurmser aus Straßburg; vgl. dazu J. Neuwirth «Mittel­alterliche Wandgemälde und Tafelbilder der Burg Karlstein in Böhmen», Prag

1896.

369 Helena Petrowna Blavatsky, 18311891, in «Esoterik» (Bd. III der «Geheimlehre»), Kap. 39: «Zyklen und Avatare».

371 Thomas von Aquin, 12251274, «Doctor Angelicus», überragender Philosoph und Scholastiker.

Petrus Waldus, begründete 1177 die Waldenser Bewegung.

373 In der Schrsft, die ich meine: Georg Freiherr von Hertling, «Das Prinzip des Katho­lizismus und die Wissenschaft», Freiburg 1899. Die zitierten Stellen (nach der Reihenfolge im Vortrag) sind zu finden auf 5. 15, 41, 42, 43, 83, 44 und 45 und am Schluß der Schrift.

377 Ausspruch des hl. Ignatius von Loyola: Hertling a. a. 0., 5. 102; zitiert nach Gothein, «Ignatius von Loyola», Halle 1895.

378 Ans diesem Aufsatr

380 Hermann Heisler, «Lebensfragen. 17 Predigten», Konstanz und Leipzig 1918.

380/81 Hier ist mir ~ufällig eine Kritik dieses Buches von Hermann Heisler ~ug~kommen:

D. Schuster im «Hannoverschen Kurier», 18. Juli 1918, Abendausgabe.

400 Ich habe Ihnen ... letithin aus einer Broschüre vorgelesen: Aus der Hertlingsehen Broschüre; siehe Hinweis zu 5. 373.

Karl Kautsky, 18541938, sozialistischer Schriftsteller.

419 Jakob von Uexküll, 18641944, «Im Kampf um die Tierseele», Wiesbaden 1902.

422 jenes bedeutsame Gespräch..., welches Goethe mit Schiller geführt hat: Siehe « Verfolg:

Glückliches Ereignis » in «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», heraus­gegeben von Dr. Rudolf Steiner, Bd. 1 (= Kürschners Deutsche National-Literatur Bd. 114), 5. 111ff.

424 Alexander Baumgartner S.J., 18411910, Literaturforscher, « Goethe. Sein Leben und seine Werke», 2 Bde., Freiburg i.Br. 1885/86.

George Henry Lewes, 18171878, englischer Schriftsteller, «The Life and Works of Goethe», übersetzt von Geiger, 15. Auflage 1886. 425 Ich korrgiere jetzt 428 daß wir heute versammelt waren in diesem Raume: In der Geis­bergstraße 2 in Berlin; später wurde der Zweigraum in der Potsdamer Straße eingerichtet.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.