GA 176

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Menschliche und menschheitliche
Entwicklungswahrheiten

Das Karma des Materialismus

Siebzehn Vorträge, gehalten in Berlin
vom 29. Mai bis 25. September 1917

GA 176

1982

Inhaltsverzeichnis


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MENSCHLICHE UND MENSCHHEITLICHE ENTWICKLUNGSWAHRHEITEN

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Während der Kriegsjahre wurde von Rudolf Steiner vor jedem von ihm innerhalb der Anthroposophischen Gesellschaft gehaltenen Vortrag in den vom Kriege betroffe­nen Ländern die folgenden Gedenkworte gesprochen.

Wir gedenken, meine lieben Freunde, der schützenden Geister derer, die draußen stehen auf den großen Feldern der Ereignisse der Gegen­wart:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und zu den schützenden Geistern derer uns wendend, die infolge dieser Leidensereignisse schon durch des Todes Pforte gegangen sind:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und der Geist, dem wir uns zu nahen suchen durch unsere Geistes­wissenschaft seit Jahren, der Geist, der zu der Erde Heil und zu der Menschheit Freiheit und Fortschritt durch das Mysterium von Gol­gatha gegangen ist, Er sei mit Euch und Euren schweren Pflichten!

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ERSTER VORTRAG Berlin, 29. Mai 1917

Zu Festesbetrachtungen im gewöhnlichen Sir'n ist die Zeit ungeeignet, und in dieser schweren Zeit wird es am besten sein, wenn wir versuchen im Umfange, im Umkreise der Geisteswissenschaft nach Dingen zu forschen, welche uns einigermaßen in der richtigen Art begreiflich ma­chen können, was die tieferen Grundlagen dieser unserer Zeit sind. Und so möchte ich denn heute von einem besonderen Forschungsresul­tat zu Ihnen sprechen, das nach dieser Richtung hin aufklärend sein kann, möchte versuchen, von einem besonderen Gesichtspunkte aus die Entwickelung der Menschheit in der nachatlantischen Zeit bis in unsere Gegenwart herein ins Auge zu fassen. Ich werde allerdings, nachdem diese Betrachtungen beendet sein werden, durch mancherlei Veranlassungen genötigt sein, heute abend auch einiges über die Gesell­schaft selbst vorzubringen.

Wir wissen ja aus verschiedenen Dingen, die im Laufe der Jahre vorgebracht worden sind, daß in einer gewissen Beziehung verglichen werden kann die Entwickelung der Menschheit im großen mit der Ent­wickelung des einzelnen menschlichen Individuums, einfach aus dem Grunde, weil in beiden Fällen diese Entwickelung, wenigstens dem ersten Anschein nach, ein Fortschreiten in der Zeit ist. Ich bin nun durch Jahre hindurch nachgegangen den inneren Entwickelungsbedin­gungen namentlich der nachatlantischen Menschheit. Und wie so man­ches mir gerade während der Forschungen dieses Winters sich ergeben hat, so auch etwas Bedeutungsvolles mit Bezug auf diese eben aufge­worfene Frage.

Äußerlich betrachtet könnte es so scheinen, wenn man ein Stück menschlicher Entwickelung in ihrem Fortgange betrachtet, daß man zu der Anschauung kommen müßte, dieses Stück Menschheitsentwicke­lung entspreche so der individuellen Entwickelung des einzelnen Men­schen, daß man vielleicht zu sagen hätte: Wie der einzelne Mensch sich zwischen diesen und jenen Jahren seines Lebens entwickelt, so ähnlich entwickelt sich die Menschheit. Nun habe ich gefunden, daß dies ganz

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und gar nicht so ist, und daß mit dem Anderssein in dieser Beziehung bedeutungsvolle Geheimnisse gerade auch des gegenwärtigen mensch­lichen Zeitalters zusammenhängen. Wenn wir zurückgehen, und wir dürfen dabei ja uns bekannte, uns geläufige Ideen anwenden, in die erste nachatlantische Kulturperiode, die wir gewöhnt sind die alt-indische, die urindische zu nennen, so können wir uns fragen: Mit wel­chem einzelnen individuellen menschlichen Lebensalter läßt sich das Gesamtalter der Menschheit in der damaligen urindischen Kultur-periode vergleichen? - Die geistige Forschung ergibt da etwas höchst Merkwürdiges. Ich habe ja oft gesagt: Man stellt sich zu leicht vor, daß in den Zeiten, in denen es da oder dort schon eine menschliche Kultur gegeben hat, die innere Grundverfassung der Menschenseele eigentlich im wesentlichen so war, wie sie jetzt ist. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Diese Anschauung entsteht nur aus dem Grunde, weil der heutige Mensch mit seinen Mitteln der materialistischen Wissenschaft durchaus nicht imstande ist, sich Vorstellungen zu bilden darüber, wie eigentlich die Seelen in verhältnismäßig kurzer Zeit im Laufe der Menschheitsentwickelung anders geworden sind, und wie namentlich das Seelenleben anders geworden ist.

Wenn wir heute die Menschheit um uns herum sehen, so bemerken wir, daß während einer gewissen Zeit der individuellen menschlichen Ent­wickelung der Mensch heranwächst erstens körperlich: seine körperlichen Organe in ihren feineren und gröberen Gliederungen gestalten sich aus, der Mensch wird nicht nur größer, die Organe vervollkommnen sich auch innerlich. Und wir sehen, daß bis zu einem gewissen Lebensalter die geistig-seelische Entwickelung an die körperlich-physische Entwicke­lung gebunden ist, ihr gewissermaßen parallel geht; und kein Erzieher kann ungestraft dies außer acht lassen. Aber wir wissen auch, wie von einem gewissen Lebensalter ab dieses innige Zusammenverwobensein der seelisch-geistigen Entwickelung mit der körperlichen Entwickelung aufhört. Wir gewahren, daß der Mensch sich von einem bestimmten Lebensalter ab für fertig hält. In unserer Zeit werden wir ja, wenn wir das Leben um uns herum genauer betrachten, gar sehr gewahr, wie sich, man kann sagen, schon in möglichst früher Zeit die Menschen als fertig betrachten, als so betrachten, daß sie eigentlich nichts mehr zu lernen

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haben. Wir wissen ja, daß es heute für viele eine Zumutung ist, wenn man etwa voraussetzt, sie könnten in einem bestimmten Lebensalter noch Goethes «Iphigenie» oder Schillers «Teil» lesen. Das hat man, als man junges Mädchen oder Schüler war, in der Schule gelesen. Das ge­hört für die Jugend. Von einem bestimmten Lebensalter an befaßt man sich mit solchen Dingen doch nicht mehr! Gewiß, es ist dies nicht eine allgemeine Gewohnheit, aber doch eine sehr, sehr weit verbreitete Ge­wohnheit. Und ähnliches können wir auf vielen Gebieten des Lebens gewahr werden. Aber dem liegt schon eine Wahrheit zugrunde. Dem liegt die Wahrheit zugrunde, daß der Mensch von einem bestimmten Zeitpunkte seiner individuellen Entwickelung an gewissermaßen phy­sisch ausgewachsen ist, daß dann sein Geistig-Seelisches aufhört in Ab­hängigkeit zu sein von dem Wachstum und von der Entwickelung der leiblichen Organe, die ja aufgehört hat, und daß sein Geistig-Seelisches sich frei und selbständig entwickelt; das werden wir gewahr. Wenn wir heute die Menschheit ansehen, so finden wir, daß dieser eben charak­terisierte Zeitpunkt in einem bestimmten Lebensalter eintritt; wir werden noch genauer darüber sprechen. Aber man würde sich sehr irren, wenn man glauben würde, daß die Sache so, wie sie heute ist, auch nur im entferntesten ähnlich war in der ersten, in der urindischen Kulturepoche. Auch damals wurden selbstverständlich die Menschen 6, 12, 20, 30, 40, 50 und so weiter Jahre alt, aber ihr ganzes Leben ver­hielt sich zu diesem Älterwerden anders als jetzt. In diesen alten Zeiten verspürte die Menschenseele bis in ein ungeheuer hohes Alter hinauf, bis in die Zeit vom 48. bis 56. Lebensjahr eine solche Abhängigkeit des Seelisch-Geistigen vom Physisch-Leiblichen, wie sie heute nur empfun­den wird im Kindes- und Jünglingsalter. Und bedenken Sie, was das bedeutet. Das bedeutet, daß dazumal der Mensch durchmachte ein Mit-leben des Seelischen mit dem Leiblichen in der aufsteigenden körper­lichen Entwickelung des Menschen bis zum 35. Jahr, dann wiederum mit der absteigenden körperlichen Entwickelung seelisch mitging, das Seelische in Abhängigkeit fühlte von dieser körperlichen Entwickelung. Indem anfangs das Körperliche ein Wachsen, ein Sichentfalten war, wurde es dann allmählich ein Einsinken. Aber mit dem Einsinken des Körperlichen, das heute der Mensch gar nicht spürt, weil sein Seelisch-Geistiges

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verhältnismäßig unabhängig vom Körperlichen verläuft, mit dem Einsinken des Körperlichen verspürten gerade diejenigen, die die­ses Alter erreichten, im ersten nachatlantischen Zeitraum, ein inner­liches Freiwerden des universell Geistigen. Indem das Körperliche zu­rückging, sie aber doch abhängig blieben vom Körperlichen, leuchtete ihnen das Geistige im Innern auf. Und das dauerte gleich nach der atlantischen Katastrophe bis zum 56. Lebensjahre. Da war, wenn wir so sagen dürfen, der Mensch erst ausgewachsen, das heißt, da erst ver­lor sich die Abhängigkeit des Geistig-Seelischen vom Körperlichen. Daß der Mensch auch geistig-seelisch mitmachte das Körperliche in der ab­steigenden Entwickelungszeit, das bedingte, daß gerade damals noch Nachklänge innerlich geistigen Schauens vorhanden waren. Und nun ist das Eigentümliche, daß diese Beschaffenheit des menschlichen Lebens natürlich auf die ganze Kultur ausstrahlte. Derjenige, der jung war in jenen alten Zeiten, der wußte durch die allgemeinen Begriffe, Denk- und Empfindungsgewohnheiten, die man sich aneignete, daß, wenn einer alt wurde, er in jenes ehrwürdige Alter kam, wo die göttlichen Geheim­nisse in seiner Seele aufgingen. Daher war in jener ersten Kulturepoche der nachatlantischen Zeit eine Altersverehrung, ein Kultus des Alters vorhanden, von dem wir uns heute gar keine Vorstellung mehr machen können, wenn wir sie nicht schauen in den Nachklängen, die uns geistig geblieben sind aus jenen alten Zeiten. Kaum zu erwähnen brauche ich nach all den Betrachtungen, die ich schon angestellt habe, daß jeder, der früher starb, bevor dieses patriarchalische Alter erreicht war, wußte, daß es andere Welten als die materiell-physische Welt gibt, und daß da die hohen geistig-seelischen Wesenheiten der höheren Welten mit jenen, die früher starben, andere Aufgaben zu verrichten hatten. So daß jeder selbstverständlich, auch wenn er früher sterben mußte als der Eintritt in dieses patriarchalisch hohe Alter erfolgte, doch in sich befriedigende Weltempfindungen haben konnte.

Das Merkwürdige ist, daß, wenn man diesen Dingen nachforscht, man nicht davon sprechen kann: die Menschheit wird älter, sondern man muß kurioserweise davon sprechen: die Menschheit wird jünger, schreitet zurück. Gleich nach der atlantischen Katastrophe war es so, daß die Entwickelung, wie ich sie geschildert habe, stattfand bis zum

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56. Lebensjahre, dann kam die Zeit, wo sie stattfand bis zum 55., dann bis zum 54. Lebensjahre und so weiter. Und als die erste nachatlanti­sche Kulturperiode abgelaufen war, dauerte diese Entwickelung nur bis zum 48. Lebensjahre. Dann war gewissermaßen der Mensch in der Lage, daß er sich sagen mußte: Jetzt bin ich mir selbst überlassen, jetzt gibt nicht mehr das Körperliche von sich aus etwas her für meine geistig-seelische Entwickelung! - was heute, wie wir sehen werden, schon viel früher eintritt.

Nun kommen wir in die zweite, die urpersische Kulturepoche. Sie entspricht dem individuellen menschlichen Lebensalter vom 48. bis zum 42. Lebensjahre. Das heißt: in dieser Epoche ist die Sache so, daß sich die Menschen abhängig fühlen in ihrer Entwickelung seelisch-geistig vom Körperlichen bis in die vierziger Jahre hinein, und daß sie erst, wenn sie über die vierziger Jahre hinauskommen, jene Unabhängigkeit empfinden, die heute früher eintritt. Daher aber machte die Seele auch nicht so lange und nicht in so hohem Grade gewissermaßen das Einsin­ken, das Sklerotisieren des Organismus mit, machte nicht so lange mit dieses Hergeben von Kräften des Organismus, die in die geistige Welt hinein den Menschen weisen konnten, die ihm Erleuchtungen geben konnten in die geistige Welt hinein.

Dann kam, nach der zweiten, der urpersischen Kulturepoche, die­jenige, die wir genannt haben die ägyptisch-chaldäische Epoche. Da stieg das Lebensalter der ganzen Menschheit herunter bis zum indivi­duellen Lebensalter zwischen dem 42. und 35. Lebensjahre. Das heißt:

von selbst kamen dem Menschen die Früchte der Entwickelung bis zu diesem Lebensalter zu. Dann mußte er, aufeinanderfolgend in den ver­schiedenen Unterepochen dieser ägyptisch-chaldäischen Zeit, die freie, selbständige, rein innerliche Entwickelung durchmachen im 42., 40., 38. Lebensjahre und so weiter.

Am bedeutungsvollsten erscheint uns diese Wahrheit für das vierte, für das griechisch-lateinische Zeitalter, denn in diesem griechisch-latei­nischen Zeitalter entwickelt sich die ganze Menschheit so, daß ihr Le­bensalter entsprach dem individuellen menschlichen Lebensalter zwi­schen dem 35. und 28. Lebensjahre. Damit aber stehen wir gerade in den Jahren der Lebensmitte. Denken Sie also, was eigentlich für diese

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griechisch-lateirische Periode statt hatte. Diejenigen, die als indivi­duelle Menschen sich entwickelten innerhalb dieser griechisch-lateini­schen Kulturperiode, die machten durch, rein durch die Entwickelungs-gesetze der Menschheit selber, die Abhängigkeit des Seelisch-Geistigen von dem fortschreitenden Wachstum. Und in der Zeit, als das Ein­sinken des Menschen begann, das Sklerotischwerden des Menschen -wenn ich so sagen darf, das ist natürlich ein radikaler Ausdruck -, da wurde die Seele frei vom Körperlichen. Die erste Hälfte des Lebens machte ein Angehöriger der griechisch-lateinischen Kultur im Sinne der allgemeinen Menschheitsentwickelung durch. So wunderbar fiel die individuelle Entwickelung mit der allgemeinen Menschheitsentwicke­lung in diesem Zeitalter zusammen, daß von dem Augenblick ab, wo der Mensch anfängt, seine körperliche Entwickelung in absteigender Linie zu haben, sich nichts mehr den Griechen vom Körper aus offenbarte. Da­her war der Grieche auch in seiner Kultur so voll von allem Wachsen­den, Gedeihenden, Aufsteigenden in der Entwickelung. Aber es entging ihm auch dasjenige, was sich von selbst durch die Entwickelung des Kör­perlichen nur offenbaren kann in der absteigenden menschlichen Ent­wickelung. Das heißt: es fiel weg für den Griechen, wenn er nicht in den Mysterien durch spirituellen Unterricht das hatte, es fiel weg durch die eigene menschliche Natur, das Hineinblicken in die geistige Welt.

In dem dritten Zeitraum war in absteigender Folge einfach durch die menschliche Natur ein Einblicken in die geistigen Welten möglich, es war möglich, daß der Mensch unmittelbar aus Anschauung etwas wis­sen konnte über die Unsterblichkeit der Seele. Im griechisch-lateinischen Zeitraum war es zwar noch möglich, daß der Mensch wissen konnte:

alles Wachsende, Aufsteigende, Werdende ist seeldurchdrungen. Aber das selbständige Leben der Seele, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes gegangen, oder bevor er durch die Geburt ins physische Leben eingetreten war, das war nicht mehr durch die selbstverständ­liche Entwickelung der Menschheit dem Griechen gegeben. Daher solch eine Anschauung, wie ich sie öfter schon hier auch erwähnt habe und wie sie ja bekannt ist, die sich ausdrückt in dem berühmten Spruche des griechischen Heroen: Lieber ein Bettler sein in der Oberwelt, als ein König im Reiche der Schatten. - Wie die Oberwelt mit dem, was

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der Mensch darin ist, seeldurchdrungen ist, das wußte der Grieche durch unmittelbare Anschauung. Durch diese Anschauung entzog sich ihm die übersinnliche Welt. Und merkwürdig ist es, wie der große griechische Weise Aristoteles gerade aus dieser Grundanschauung her­aus seine Ideen, von denen wir ja schon in den kürzlich hier gehaltenen Betrachtungen gesprochen haben, entwickelt. Franz Drentano, der kürz­lich verstorbene große Aristoteles-Forscher, hat richtig gedeutet, wenn er sagt: Es ist des Aristoteles Idee von der Unsterblichkeit, daß der Mensch, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, kein vollstän­diger Mensch mehr sei. - Denn als ßn.eche hatte Aristoteles zum voll­ständigen Menschen, aus den Voraussetzungen heraus, die ich Ihnen oben entwickelt habe, die Zugehörigkeit des Körperlichen zu dem See­lischen gerechnet. Nur wenn er ein Mysterien-Weiser war - was Ari­stoteles nicht war -, wußte er als Grieche von der wahren Unsterblich­keit der Seele. Wenn er kein Mysterien-Weiser war, wie Aristoteles, so mußte er sagen - was ja gewiß den höchsten Wahrheiten gegen­über falsch ist, was aber einem griechischen Denken entsprang, wenn sich dieses Denken auch in Aristoteles zur höchsten Blüte erhob -, so mußte er sich sagen: Wenn ich einem Menschen einen Arm abschlage, so ist er kein vollständiger Mensch mehr, wenn ich ihm zwei Arme abschlage, noch weniger, wenn ich ihm aber den ganzen Leib nehme, wie der Tod tut, so ist er erst recht kein vollständiger Mensch mehr. Daher die Seele, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen ist, für Aristoteles ein unvollständiger Mensch ist, ein Mensch, dem die Organe fehlen, um mit irgendeiner Umgebung in Zusammenhang zu kommen. Es ist die aristotelische Idee von der Unsterblichkeit, die Brentano richtig deutet.

Nun bedenken Sie: in dieser Zeit also machten die Menschen im allgemeinen das Lebensalter durch, das dem individuellen Lebensalter vom 35. bis zum 28. Lebensjahr entspricht. Nehmen wir das erste Drit­tel, also ungefähr das 33. Lebensjahr. Der vierte nachatlantische Zeit­raum beginnt ja im Jahre 747 vor dem Mysterium von Golgatha; er endet im Jahre 1413 nach dem Mysterium von Golgatha. Es ist der­jenige Zeitraum, in dem - was geschehen wäre, wenn die Menschheit in demselben Sinne sich weiterentwickelt hätte, wie sie sich bis dahin

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entwickelt hatte? Das hätte geschehen müssen, daß die Menschen im allgemeinen immer jünger und jünger geworden wären, und daß sie aufgehört hätten mit Bezug auf das Geistig-Seelische vom Körper­lichen abhängig zu sein, viel früher, als der Mensch in seinem Wachs­tum, seiner Entwickelung, bei der Lebensmitte ankommt. Es hätte sich nicht nur eine solche schattenhafte Unsterblichkeit ergeben müssen, wie es bei den Griechen war, sondern es hätte allmählich der Mensch, indem die Menschheit nurmehr hergab ein Lebensalter bis zum 34., 33., 32. Le­bensjahre und so weiter, so werden müssen, daß ihn gewissermaßen das Physisch-Leibliche überwältigt hätte, daß er durch seine eigene Ent­wickelung innerhalb der Menschheit nicht mehr hätte hinaufschauen können auf irgendeine übersinnliche Welt. Da ist es denn das unge­heuer Bedeutungsvolle, daß am Ende des ersten Drittels dieses Zeit­raumes, der 747 vor Christus beginnt, das Mysterium von Golgatha eintritt, gerade in diesem Zeitraum, und daß in diesem Zeitraum es also ist, in dem sich der Christus Jesus entwickelt genau bis zu dem­jenigen individuellen Lebensalter, dem 33. Lebensjahre, das dazumal das Lebensalter der Menschheit ist. Dann tritt der Tod auf Golgatha ein. Der Christus Jesus wächst dem Lebensalter der Menschheit ent­gegen, und er führt durch das Mysterium von Golgatha die Möglich­keit herbei, zum Wissen von der Unsterblichkeit auf eine Weise zu kommen, die nicht aus Irdischem genommen ist, die nur auf die Erde kommen konnte durch jene Befruchtung, welche für die Erde einge­treten ist, indem der Christus-Geist sich mit der Jesus-Persönlichkeit verbunden hat und diese 33 Jahre alt geworden ist, so alt, wie die Menschheit war, als dieser Menschheit drohte, jeden Zusammenhang mit der übersinnlichen Welt zu verlieren.

Ja, wenn man von ganz anderen Voraussetzungen aus unter diesem Gesichtspunkte die Entwickelung der Menschheit betrachtet, und sich dann ergibt, einfach ergibt im Laufe der geisteswissenschaftlichen For­schung dieser tiefe Zusammenhang des Alters und Todes des Christus Jesus mit der gesamten irdischen Menschheitsentwickelung, dann aller­dings ist dies eine tief, tief in die Seele eingreifende Erkenntnis. Und ich kann mir nur weniges denken, das so ungeheuer in die Seele ein­schlagen muß, wie die Erkenntnis von diesem Hineingestelltsein des

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Mysteriums von Golgatha in ein bedeutungsvolles Entwickelungsgesetz der menschlichen und der menschheitlichen Entwickelung. Wir sehen, wie auf diese Art die Geisteswissenschaft nach und nach ihre erklären­den und aufklärenden Strahlen auf das Mysterium von Golgatha wirft. Und wir können vielleicht ahnen, daß, wenn die Geisteswissenschaft sich immer weiter und weiter in sorgfältiger Forschung entwickeln wird, noch manches andere Licht fällt auf dieses Mysterium von Gol­gatha, das wir ganz gewiß heute auch mit der eindringlichen Geistes­wissenschaft nur zum kleinsten Teile irdisch verstehen, und das immer tiefer und tiefer verstanden werden wird, je weiter die Menschheit in dieser Entwickelung vorschreitet. Ich darf sagen, daß ich selber wenig Momente von solcher Ergriffenheit gehabt habe während des geistes-wissenschaftlichen Forschens, wie diesen, wo mir - lassen Sie mich das Wort gebrauchen - aus grauen Geistestiefen heraus dieser Zusammen­hang zwischen dem 33. Jahre der Menschheit im vierten nachatlanti­schen Zeitraum und dem 33. Lebensjahre des Christus Jesus, in dem der Tod auf Golgatha eintritt, als Ergebnis heraufgestiegen ist.

Und wenn wir nun weitergehen, so kommen wir in unseren fünften nachatlantischen Zeitraum, und wir kommen dazu, sagen zu müssen, daß in unserem fünften nachatlantischen Zeitraum das allgemeine Le­bensalter der Menschheit dem individuellen Lebensalter zwischen dem 28. und 21. Lebensjahre entspricht. Das heißt: als 1413 der fünfte Zeit­raum begonnen hatte, war die allgemeine Menschheitsentwickelung so, daß die Menschen sich abhängig wissen durften in ihrer geistig-seelischen Entwickelung bis zum 28. Lebensjahr. Dann mußte die Seele selbstän­dig werden. Sie sehen also, daß für dieses Zeitalter notwendig ist, daß mit vollem Bewußtsein angestrebt wird, innerlich, durch spirituelle gei­stige Entwickelung, der Seele das zu geben, was aus der Abhängigkeit vom Körperlich-Physischen nicht mehr hergegeben werden kann. Der Mensch muß in diesem Zeitalter in die Seele Dinge aufnehmen, die nur individuell an ihn herankommen können, die seine Seele unmittelbar in ihrer Unabhängigkeit und Freiheit ergreifen und sie als Seele hin-ausführen über das 28., 27., 26. Jahr und so weiter. Allerdings, vor­läufig geht noch die allgemeine Erziehung, so viel auch über diese Er­ziehung geredet wird - man könnte auch sagen «gefabelt» wird -, dahin,

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an den Menschen nicht mehr heranzubringen, als eben gerade dem entspricht, was die Menschheit von selbst hergibt. Jetzt steht eben in unserem Zeitalter die Menschheit im ganzen im 27. Lebensjahr. Sie wird 26, 25 und so weiter Jahre alt werden. Und bis der fünfte Zeitraum abgelaufen sein wird, wird sie bis zum 21. Jahr heruntergerückt sein. Daraus ersehen Sie die Notwendigkeit des Auftretens der Geisteswis­senschaft, welche an die Seele dasjenige heranbringen will, was nicht aus der körperlichen Entwickelung folgen kann, welche die Seele unter-stützen will in ihrer frei auf sich gestellten Entwickelung. Denn wir haben sonst die Erscheinung, daß die Menschen, deren Entwickelung nur abhängig bleibt von dem, was äußerlich aus der Sinnenwelt und aus der gewöhnlichen Geschichtswelt kommen kann, für unser Zeit­alter nicht älter als 27 Jahre würden - und wenn sie hundert Jahre alt werden in Wirklichkeit. Das heißt, dasjenige, was sie in ihrer inner­lichen Verfassung an Ideen, Empfindungen, an Idealen äußern könn­ten, das würde immer den Charakter tragen von dem, was dem mensch­lichen Lebensalter bis zum 27. Jahre entspricht.

Ich habe mich mit den mannigfaltigsten Persönlichkeiten unseres Zeitalters befaßt, solchen Persönlichkeiten, die eingreifen in die ver­schiedenen Kulturzweige unserer Zeit, in das öffentliche Leben. Gerade diesen Teil des Studiums habe ich mir wahrhaftig nicht leicht gemacht. Ich habe versucht zu finden, worin denn eigentlich die eine oder andere Erscheinung, die uns heute so fragwürdig im Leben entgegentritt, be-steht. Und es hat sich ergeben, daß vieles von dem, was uns jetzt ent­gegentritt, darauf beruht, daß Menschen in der Öffentlichkeit wirken, so wirken, wie ich es Ihnen in vorangegangenen Betrachtungen ge-schildert habe, deren Grundstimmung in ihren Ideen, in dem, was sie von sich geben können, und wenn sie noch so alt sind, nur bis zum 27. Jahre geht. Wahrhaftig, was ich jetzt sagen will, sage ich nicht aus irgendeiner Stimmung heraus, nicht aus irgendeiner Animosität heraus, denn die Studien, die dem zugrunde liegen, die gehen weit in die Zeit vor diesem Kriege zurück, wie ich sogar aus den Zyklen nachweisen kann. Es hat sich mir ergeben, daß eine charakteristische Persönlichkeit, von der gesagt werden muß, daß sie in ihrer Seelenkonfiguration, in bezug auf dasjenige, was sie der Seele nach ist, nicht älter als 27 Jahre

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geworden ist, aber natürlich Jahre zugelegt hat und nun im öffentlichen Leben geradezu als eine typische repräsentative Persönlichkeit wirkt -es sind auch viele andere, von denen wir nicht sprechen wollen, neh­men wir ein ferneres Beispiel -, eine charakteristische Persönlichkeit, von der gerade viel in dieser unserer Zeit ausgegangen ist, der Präsi­dent der Nordamerikanischen Union, Woodrow Wilson ist. Ich habe mir viele Mühe gegeben, die Seelenverfassung dieses Mannes zu stu­dieren. Er ist ein repräsentativer Mensch für diejenigen, die nichts zugelegt haben durch die Entwickelung der frei auf sich gestellten, unabhängigen Seele, repräsentativ für diejenigen Menschen, die nicht älter werden in unserem Zeitalter, als das Alter der allgemeinen Menschheit ist: 27 Jahre. Es ist im Grunde genommen unwahr, wenn sie 30, 40, 50 Jahre und so weiter zählen, denn sie sind in Wirklichkeit in bezug auf das Fortschreiten ihrer Seele nicht älter als 27 Jahre. Und ich glaube, es ist wahr, was ein Freund unserer Bewegung mir sagte, nachdem er in München gerade diesen Vortrag, den ich jetzt hier halte, angehört hatte: daß ihm, der viel, viel gedacht und gelitten hat über mancherlei Erscheinungen der Gegenwart, diese Aufklärung über die Eigentümlichkeit der Gegenwart geradezu ein Lichtstrahl war, um viele Erscheinungen zu begreifen. Die Abstraktheit der Ideale, eine Jugend-eigenschaft der Ideale, das abstrakte Herumreden in Freiheitsideen, in­dem man der eigenen geistigen Wollust dient und glaubt, eine Welt-mission zu haben - so recht charakteristisch für Woodrow Wilson! Es erklärt sich aus dieser Tatsache das Unpraktische der Ideen, das heißt, die Unmöglichkeit solche Ideen zu haben, die schöpferisch sind, so daß sie fortrinnen in der Wirklichkeit als schaffend und schöpferisch, son­dern die einzige Möglichkeit, solche Ideen zu fassen, die den Leuten gefallen, die einleuchten der allgemeinen Menschheit, die eben Ideen unter 27 Jahren haben will. Das ist wiederum ein Charakteristikon desjenigen, was Woodrow Wilson in die Welt gesetzt hat; denn seine Ideen sind so unpraktisch gewesen, daß er zum Beispiel durch die Welt laufen ließ die Idee des Friedens, und entsprungen ist aus dieser Idee des Friedens - der Krieg für sein eigenes Land; Dinge, welche tief zu­sammenhängen, aber ihre Begründung in solchen Tatsachen haben, wie ich sie Ihnen eben angedeutet habe.

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Ja, die tiefgehenden Entwickelungswahrheiten sind nicht angenehm zu hören. Daher kommt es wohl auch, daß diese tiefgehenden Ent­wickelungswahrheiten, die aus den Quellen der Geistesforschung geholt werden, in der Gegenwart so wenig geliebt werden. Zwar nicht im Oberbewußtsein, aber im Unterbewußtsein verspüren die Menschen, daß diese Ideen zuweilen nichts Angenehmes sind. Sie fürchten sich davor. Es ist eine unbewußte Furcht, eine unterbewußte Furcht, die aber so sicher wirkt, daß sie gerade die Idee nicht ins Oberbewußtsein heraufkommen läßt, dafür aber den Haß, die Antipathie gegenüber diesen Dingen, die sich dann geltend macht. Was heute der Geistes-wissenschaft die Antipathie zuträgt, das ist dieser unterbewußte Haß, aber vor allen Dingen diese unterbewußte Furcht vor Ideen, welche allerdings nicht so leicht im Leben, sagen wir, verdaut werden können, wie die sogenannte große Idee, die man heute liebt: Der beste Mann am rechten Platz und so weiter. - Das Leben in die Zukunft hinein braucht konkrete Ideen, konkrete Ideale, es braucht solche Ideen und solche Ideale, welche mit der Wirklichkeit einen Bund eingehen kön­nen - ich habe das von den verschiedensten Gesichtspunkten aus er­wähnt -, sie müssen aber geholt sein aus wirklicher Erkenntnis der Entwickelungs- und Daseinsbedingungen der Menschheit. Es kann nicht Heil in diese Menschheitsentwickelung hineinkommen, solange man sich nicht dazu bequemen wird, dasjenige, was man Idealismus nennt, auf solche konkrete Geistesforschung zu begründen. Aus der Willkür heraus lassen sich heute keine Ideale aufstellen, die wirklichkeits-befreundet sind, die in die Wirklichkeit hineinpassen.

Stellen Sie sich nur einmal vor, wie es im sechsten Zeitraum sein wird, in dem Zeitraum, der den unsrigen ablöst, und wie es sein würde, wenn dasjenige, was aus den Quellen der geistigen Welt geholt werden kann, sich nicht verbinden würde mit der unabhängigen, auf sich selbst in Freiheit gestellten Menschenseele. Dann wird die Menschheitsent­wickelung eingetreten sein in ein Lebensalter, das dem individuellen Lebensalter vom 21. bis zum 14. Jahre entspricht. Dann wird man 30, 40, 50 Jahre alt sein können, wenn dann nicht die individuelle Ent­wickelung angefacht worden ist, und eine Lebensreife haben können von 17, 16,15 Jahren. Es ist auch wiederum das Große an der menschheitlichen

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Entwickelung, daß, je weiter die Erde vorrückt, desto mehr der Fortschritt der Menschheit in des Menschen eigene Hand gegeben ist. Aber wenn das nicht berücksichtigt wird, daß des Menschen Fort­schritt in des Menschen eigene Hand gegeben wird, was folgt? Die epidemische Dementia praecox! Daraus aber ersehen Sie, daß es not­wendig ist, in die Untergründe des Erdendaseins hineinzuschauen, be­wußt zu werden über dasjenige, was der Menschheit droht. Es wird heute viel und nicht hoch genug einzuschätzender Mut in äußeren Taten erlebt; was aber der Menschheit im weiteren Fortgang der Ent­wickelung notwendig wird, das ist Mut der Seele, jener Mut, der sich entgegenzustellen vermag den Wahrheiten, die zuerst nicht angenehm, nicht bequem erscheinen, wenn man die Bequemlichkeit, die Annehm­lichkeit des Lebens allein liebt, und wenn man danach strebt, nur das­jenige aus der Erkenntnis zu vernehmen, das einen, wie man so sagt, «erhebt». Denn dann verlangt man angenehme Wahrheiten. Und das ist ja vielleicht sogar etwas, was sehr, sehr weit verbreitet ist in der Gegenwart. Sobald jemand spricht von nicht angenehmen, obzwar not­wendigen Wahrheiten, liebt man ihn nicht, denn man findet, er mal­trätiert einen, er erhebt einen nicht. Aber höher steht eben das Wahre der Erkenntnis als jene Worte, die wie Butter vom Munde rinnen, und die daher auch wie ein Labetrank mit nach Hause genommen wer­den können. Höher steht diejenige Befriedigung, die wir aus der Er­kenntnis schöpfen, die sich stützen will auf das Leben in der Wahrheit und in der Notwendigkeit und nicht auf das Leben in der leichten Be­quemlichkeit.

Das sind die Dinge, die ich zum Verständnis unserer Zeit heute sagen wollte.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 5. Juni 1917

Ich habe das letzte Mal hier begonnen Betrachtungen anzustellen über den Verlauf der Menschheitsentwickelung in der nachatlantischen Zeit, die uns gewissermaßen ein Schlüssel sein können zu dem Verständnisse der unmittelbaren Gegenwart, jener unmittelbaren Gegenwart, in der allerdings sehr viel Rätselhaftes sich befinden muß für denjenigen, der nicht den Versuch macht, mit Begriffen, mit Ideen, mit Vorstellungen diese Gegenwart zu verstehen, die nicht aus dem Vorstellungsquell und Vorstellungsbereiche unseres materialistisch denkenden Zeitalters ge­nommen sind. Die Gegenwart braucht neue Begriffe, das dürfte uns ja aus mancherlei Betrachtungen schon hervorgegangen sein. Die alten Begriffe reichen nicht aus, um das kompliziert gewordene Leben zu begreifen. Was ich einmal vor Jahren nacheinander in verschiedenen Vorträgen angeführt habe, das ist, wie ich glaube, mit Bezug auf die Gegenwart von einer großen Bedeutung. Ich sagte damals zu wieder­holten Malen an verschiedenen Orten: Wenn wir den Umfang der Begriffe, die wir haben, überschauen, der Begriffe, durch die wir die Wirklichkeit zu verstehen suchen, so sind im Grunde genommen die wertvollsten Begriffe, welche die Menschheit hat, um ein wenig hinter die Kulissen der äußeren Sinneswirklichkeit zu schauen, aus dem vier­ten nachatlantischen Zeitraum. Der fünfte nachatlantische Zeitraum, der 1413 begonnen hat, hat eigentlich im Grunde genommen neue Be­griffe nicht hervorgebracht. Er hat gewiß neue Tatsachen, neue Zusam­menfassungen von Tatsachen, in großartiger, in bewundernswürdiger Weise hervorgebracht; aber um diese Dinge zu verstehen, wurden eben die alten Begriffe verwendet. Man versuche an irgendeinem Beispiel sich das klarzumachen. Dasjenige, was Darwin und seine Nachfolger versucht haben über den Zusammenhang der Organismen zusammen­zustellen, das wurde durch den Entwickelungsbegriff aufgereiht; aber der Entwickelungsbegriff selber ist nicht neu. Der Entwickelungsbegriff selber stammt aus der vierten nachatlantischen Periode. Und so kann man, wenn man den Begriff ernst nimmt, das Wesen des Begriffes ernst

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nimmt, dies durch alle unsere Auffassungsweisen, unsere Anschauungs­weisen durchaus nachweisen.

Ein gewisser Schritt nach vorwärts ist im Grunde genommen nur gemacht worden, als Goethe die alten Begriffe flüssig machte, als er da­durch etwas ganz Neues brachte, das heute noch immer nicht gewür­digt ist, daß er auf den Begriff selber die Metamorphose, die Verwand­lungsfähigkeit anwendete, so daß für ihn der Begriff des Blattes in seiner Verwandlung zugleich der Begriff der Blüte, der Frucht und so weiter werden konnte. Dieses Beweglichmachen des Begriffes, Beweg­lichmachen der Vorstellung, so daß man dieselbe Vorstellung in der Seele abändert und mit ihr die mannigfaltigen Erscheinungen der Na­tur, die ja auch in sich beweglich sind, mit einem in sich beweglichen Begriff, einer in sich beweglichen Idee verfolgen kann, das ist in ge­wisser Beziehung etwas Neues, und das ist dasjenige, was ich vor vielen Jahren genannt habe die Zentralentdeckung Goethes. Es ist etwas wirk­lich Neues. Aber sie hat eine Fortsetzung erst gefunden in dem, was wir hier die Geisteswissenschaft nennen, und erst diese Geisteswissen­schaft kann der Menschheit wiederum neue Vorstellungen, neue Be­griffe bringen, durch die es möglich wird, in die Wirklichkeit ein- und in sie unterzutauchen.

Vor allen Dingen muß der Begriff des Geschichtlichen selbst erweitert werden, und wir haben ja in den letzten Betrachtungen immer schon, ich möchte sagen, die Sache so gemacht, daß wir mit einem eigentlich erweiterten geschichtlichen Begriff gearbeitet haben. Wir haben den ge­schichtlichen Begriff so erweitert, daß wir uns vor allen Dingen bekannt gemacht haben, wie das Seelenleben des Menschen in der Tat, wenn wir gar nicht weit zurückgehen in den Jahrhunderten, durch und durch verschieden war in seiner Gesamtverfassung, in seiner Gesamtstim­mung, von dem Seelenleben, wie es heute nach den Notwendigkeiten der menschlichen Entwickelung sein muß. Ich habe aufmerksam ge-macht das letzte Mal, daß die Menschen der ersten Kulturperiode, die Menschen der urindischen Kultur, bis zu einem Lebensalter entwicke­lungsfähig geblieben sind, das man begrenzen kann als vom 56. bis 48. Lebensjahr. Ich habe das dadurch zu veranschaulichen versucht, daß ich sagte: So wie heute nur das Kind und der junge Mensch in seinem

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seelisch-geistigen Leben einen Parallelismus zeigen mit dem physisch-leiblichen Leben, so war es in jener alten Kulturepoche der Menschheit bis in die fünfziger Jahre hinein. Heute merkt der Mensch nichts mehr aus seinem Körper heraus, wenn er das 30. Lebensjahr überschreitet. Er merkt nur aus seinem Körper Seelisches heraus, wenn er von der Kindheit auf in den Muskeln erstarkt, in den Nerven verschiedene Formationen durchmacht. Er merkt dann, wie mit dem Erstarken der Muskeln, mit der Veränderung der Formation der Nerven, mit der Umwandlung des Blutes im Organismus, wie da die seelisch-geisti­gen Erscheinungen mit diesen Veränderungen im physischen Orga­nismus parallel gehen. Dann aber hört diese Abhängigkeit des Gei­stig-Seelischen von dem physischen Organismus auf. Sie blieb aber vorhanden in jener alten Zeit, von der wir nun einige Worte zu sagen haben.

Gewiß nahm auch dazumal zunächst der Mensch wahr, von der Kindheit aufsteigend, in einem mehr oder weniger deutlichen Bewußt­sein - auch heute geschieht das in einem mehr oder weniger deutlichen Bewußtsein nur -, wie er erstarkte körperlich, und wie damit der Wille anders wird, wie das Fühlen anders wird, wie auch das Vorstellen anders wird. Er merkte also die Abhängigkeit in der Kindheit und im Jugendalter von dem Wachsen, dem Blühen, dem Gedeihen, von dem aufsteigenden Leben in seinem Organismus. Dann kam die Zeit der Lebensmitte, die in den dreißiger Jahren liegt; das 35. Jahr ist ja die Zeit der Lebensmitte. Heute weiß sich der Mensch nicht in derselben Weise abhängig von seiner Lebensmitte, wie er sich abhängig weiß vom 12. bis zum 16. Jahr von der Geschlechtsreife zum Beispiel. Dazumal aber wußte sich der Mensch davon abhängig, daß er gewissermaßen in sich verspürte: Vorher stieg das Leben hinauf, es nahm zu, es kam in einen Höhepunkt; von diesem Höhepunkt steigt es wieder hinab, man wächst nicht mehr weiter, man wird nicht mehr größer, man hat im wesentlichen auch seine Nervenformation abgeschlossen, man beginnt so zu bleiben wie man ist. Ja, hatte man feinere Empfindungen dafür, so konnte man auch spüren, wie eben das Leben verholzt, abwärts geht, wie gewissermaßen eine Verknöcherung beginnt, wie der Mensch anfängt - wenn wir den Ausdruck brauchen dürfen -, sich zu vermine­ralisieren.

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Dann kamen die vierziger Jahre mit dem Leben, das ent­schieden abzusteigen beginnt, wo man fühlt: Das Leben im Leibes-Organismus geht zurück. Dafür aber hatte man in jener Zeit dasjenige, was heute der Mensch nicht mehr haben kann; man hatte das seelische Erlebnis in seiner Abhängigkeit vom Zurückgehen des physischen Lei­beserlebnisses. Da machte der Mensch in jenen alten Zeiten gewisser­maßen drei Stadien durch; heute macht der Mensch höchstens ein Stadium durch. Wodurch drückte sich das denn aus, was er da durch-machte in drei Stadien? Nun, sehen wir einmal ganz deutlich hin auf die Abhängigkeit von dem Wachsen, Blühen und Gedeihen im auf­steigenden Leben, und setzen wir zunächst voraus, daß der Mensch wirklich in sich gesund fühlte - was heute auch schon die wenigsten Menschen tun -, wirklich fühlte dieses gesunde, aufsteigende, wach­sende und gedeihende Leben, fühlte, wie dieses aufsteigende, wach­sende und gedeihende Leben geistgetragen ist. Denn die bloß physi­schen Substanzen, die man etwa durch die Nahrung zu sich nimmt, die wachsen ja nicht. Dasjenige, was das Wachsen, was das Zunehmen, was die aufwärtsgehende Entwickelung bewirkt, das ist das Geistige der Kräfte, das da zugrunde liegt. Man konnte hinblicken auf seinen Men­schen-Ursprung, konnte sagen: Ich bin hervorgegangen aus den Ver­erbungssubstanzen, ich habe da meinen Ursprung als leiblicher Mensch genommen, das Geistige hat sich mit dem Leibe vereint und es trägt mich aufwärts. - In diesem gesunden Abhängigsein des Geistig-Seeli­schen von dem Leiblichen, in diesem Fühlen des Drinnensteckens des Geistig-Seelischen in dem Leiblichen empfand man in der damaligen Zeit das Wirken des Gottes, und zwar des Vater-Gottes in sich. Denn man sagte sich: Ich bin in die Welt hereinversetzt mit der Kraft des Aufsteigens, mit der Kraft des Gedeihens. - Und ist man nicht gedan­ken- und gefühllos gegenüber dem, was da in einem aufsteigt, dann empfindet man im Seelischen das Wachsen, das Gedeihen selber, als das Wirken des Vater-Gottes in einem. Man fühlt sich verbunden mit der Natur. So wie die Pflanzen und Tiere wachsen und gedeihen, so wächst und gedeiht man selber; man fühlt sich mit dem natürlichen Dasein verwandt und man fühlt in sich den Vater-Gott. Dasjenige, was ich auseinandergesetzt habe als heute in gewissen Begegnungen

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auftretend, das fühlte man in jenen alten Zeiten einfach im normalen Leben in der Weise, wie ich es jetzt dargestellt habe.

Und nun begann die Periode im individuellen Leben, wo die Lebens­mitte überschritten wurde, wo man von dem wachsenden, zunehmen­den, gedeihenden Leben durch die Kulmination, durch den Höhepunkt, überging zu dem Herabsteigenden. So wie nun das wachsende, gedei­hende Leben dem Geistig-Seelischen, das sich davon abhängig weiß, wenn alles gesund wirkt im Menschen, die Empfindung beibringt des Ex deo nascimur, aus dem Gotte bin ich geboren, aus dem Gotte habe ich meinen Ursprung genommen, der mich weiter wachsen und ge­deihen läßt, so bringt dieses Hinüberschreiten über die Kulmination, dieses Übersteigen des Höhepunktes das hervor, daß der Mensch, wenn er so empfindet, wie in jenen alten Zeiten empfunden wurde, im ge­wöhnlichen Wachleben das Gedeihen noch spürte, zum Teil auch noch, weil er sich an das frühere Abhängigsein des Geistig-Seelischen vom Physisch-Leiblichen erinnerte und weil er dasselbe Wachsen und Ge­deihen draußen in der Natur verfolgen konnte. Aber wenn er in dem dämmernden Zustande war in jenen alten Zeiten, wo noch Atavismus vorhanden war, dann wirkte das absteigende Leben - dieses abstei­gende Leben läßt man ja eigentlich zurück, mit dem Astralleib und Ich ist man heraus, aber sie haben Verbindung mit dem physischen Leibe; in Abhängigkeit ist man insbesondere von seinen abnehmenden Kräf­ten, wenn man schläft -, da nahmen denn die Leute im absteigenden Leben das Göttlich-Geistige im natürlichen Dasein wahr. Im absteigen­den Leben, das ihr namentlich im Traum, im Schlafe und im alten atavistischen Helisehen erscheint, wo das Physische zurückgeht, sich zu sklerotisieren beginnt, da beginnt die Seele sich einzuleben ins Geistige, das in der ganzen kosmischen Umgebung ist.

Denken Sie, was das für ein Erlebnis ist: Man fühlt den Übergang. Geist- oder gottbeseelte Natur wechselt ab mit Wahrnehmung des Geistes aus dem Kosmos, und man weiß: das eine ist aufschwebend, das andere ist herabsteigend. Die Vereinigung des kosmischen Geistes mit dem natürlichen Geiste, das wurde ein unmittelbares Erlebnis. Man wußte: In der irdischen Umgebung ist der kosmische Geist, hier auf der Erde ist der natürliche Geist, aber die beiden haben eine Verbindung,

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sie wogen ineinander; und indem der Mensch lebt, geht er von dem einen zu dem anderen über. Indem er vom wachsenden Leben ausgeht, den Kulminationspunkt überschreitet, wird er durch-wogt von dem kosmischen Geiste, der später als Christus gefunden worden ist.

Wurden dann die Menschen älter, über die vierziger Jahre hinaus -weil sie bis dahin sich abhängig wußten in ihrem seelisch-geistigen Leben von dem abnehmenden körperlichen Leben, besonders in den träumen­den, schlafdurchsetzten oder Dämmerzuständen -, dann wurden die Leute gewahr den Geist als solchen, der jetzt nicht an die Materie gebunden ist, sondern als Geist lebt. Sie nahmen wirklich den Geist von den vierziger Jahren an wahr, den Geist, der nun nicht an die Natur gebunden ist, den Heiligen Geist. So daß, wenn wir in jene alten Zeiten zurückgehen, wir bei diesen Menschen eine unmittelbare Wahrnehmung durch das Leben hindurch des Vater-Gottes finden, des Christus-Gottes, der noch nicht zum irdischen Dasein heruntergestiegen war, und des Heiligen Geistes. Auf diese unmittelbare Lebenserfahrung hin ist es gebaut, daß in alten religiösen Traditionen die göttliche Trinität auf­tritt, daß Sie überall, wo Sie suchen, diese göttliche Trinität, Brahma, Vishnu, Shiva, finden. Die alten Traditionen sind eben durchaus auf die wirkliche menschliche Erfahrung gebaut. Wollte man nur eingehen auf dasjenige, auf was ja eingegangen werden muß in der Geisteswis­senschaft, auf die Art, wie die eine Wahrheit die andere trägt, dann würde man schon dazu kommen, Geisteswissenschaft als etwas sich in sich selbst ganz Tragendes zu erkennen. Das sollte immer mehr und mehr durchschaut werden; sonst kommt es ja wirklich dahin, was vor kurzer Zeit ein Außenstehender zu einem Mitgliede gesagt hat: Ja, dasjenige, was da vorgetragen wird als Geisteswissenschaft, ist sehr schön, aber es hat keinen Boden, es steht ohne Boden da. - Der Aus­spruch ist geradeso gescheit, ich könnte auch sagen ist geradeso dumm, wie wenn jemand in dem Augenblick, als Kopernikus festsetzen mußte, daß die Erde um die Sonne herumgeht, also nicht auf einem Boden aufsitzt, gesagt hätte: Ja, es fehlt ja der Erde der Boden! Wie ist das mit den Planeten und Gestirnen, die müssen doch irgendwo aufsitzen! -Sie tragen sich eben dort physisch selber. Und Geisteswissenschaft ist

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ein Gefüge, von dem man eben nur wissen, einsehen, verstehen muß, daß die einzelnen Glieder sich selber tragen.

Dann kam die urpersische Epoche, wo die Menschen in der Art, wie ich es dargestellt habe, entwickelungsfähig blieben bis in die vierziger Jahre, vom 48. bis 42. Jahre. Sie werden jetzt erkennen, was da zu­rückging. Zurück ging insbesondere die Anschauung des Geistes als solchen, aber man konnte ihn noch erkennen. Diejenigen, die das Alter vom 48. bis 42. Jahr erreichten, die konnten den Geist in seiner Rein­heit, das heißt den Heiligen Geist, noch erkennen, sie konnten noch etwas wissen davon.

Dann kam aber die chaldäisch-ägyptische Epoche. Das Lebensalter der Menschheit ging zurück bis auf die Jahre vom 42. bis 35. Lebens­jahr. Das reine Anschauen des Geistes trübte sich, und nur diejenigen konnten eigentlich am Schlusse dieser ägyptisch-chaldäischen Epoche noch etwas von dem reinen Geiste wissen, die in die Mysterien ein­geweiht wurden; denn selbstverständlich, in den Mysterien konnte man das Geheimnis der Trinität überall anschaulich lehren. Aber für das normale Leben ging das Verständnis für den Geist zurück. Dagegen war in dieser dritten nachatlantischen Zeit, in der ägyptisch-chaldäi­schen Periode, wirklich noch in hohem Maße das Bewußtsein vorhan­den: Im Kosmisch-Himmlischen lebt ein Geist, der aufsteigt und ab-wogt. Das Bewußtsein von dem kosmischen Christus war durchaus noch allgemein. Der Zusammenhang des Menschen mit den Himmeln, könnte man sagen, war im Bewußtsein vorhanden.

Das wurde nun anders, als die vierte nachatlantische Zeit kam, als in der vierten Periode das allgemeine Menschheitsalter hinunterging bis zum 35. bis 28. Lebensjahr. In den ältesten Zeiten - 747 vor dem Mysterium von Golgatha begann ja dieses vierte Zeitalter, 1413 schließt es -, in den ältesten Zeiten, da war es noch so, daß, wenn ein Mensch das 35. Lebensjahr im allgemeinen menschlichen Lebensalter erreichte, die imaginative Erkenntnis des Christus-Geistes noch vorhanden war. Aber als das erste Drittel herum war, namentlich als das Griechentum das erste Drittel durchgemacht hatte, als der Beginn unserer Zeitrech­nung zu verzeichnen war, da war ungefähr das Alter der Menschheit 33 Jahre. Da machten die Menschen nicht mehr den Kulminationspunkt

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durch, da machten sie nur noch durch das Abhängigsein - aller­dings klarer als später im fünften Zeitraum -, das Abhängigsein von dem blühenden, aufsteigenden, gedeihenden Leben. Den Vater-Gott machten sie durchaus mit in ihrem Bewußtsein; der kosmische Christus verschwand allmählich aus dem Bewußtsein. Und da kam denn das­jenige, was als Ersatz dafür zu bezeichnen ist, da kam, als die Mensch­heit gerade dieses 33. Lebensjahr überschritt, der kosmische Christus in den Leib des Jesus von Nazareth auf die Erde nieder, um auf der Erde seine Kraft auszubreiten und von einer anderen Seite her das­jenige den Menschen zu geben, was sie früher durch die unmittelbare menschliche Erfahrung in der Abhängigkeit des Geistig-Seelischen von dem Leiblich-Physischen hatten. Das ist die große Bedeutung des Mysteriums von Golgatha. Das erklärt auch die Bedeutung jener Ver­heißung, die man die Verheißung des Heiligen Geistes nennt. Es mußte nun die Zeit beginnen, in der der Heilige Geist durch den von Christus angefachten Impuls von innen heraus, ohne die normale menschliche Erfahrung, erreicht werden muß. Sie sehen, wie der Zusammenhang mit den geistigen Welten, rein durch die physische Organisation des Menschen im Zusammenhang mit der seelischen Organisation, sich ändert, wie allmählich dasjenige, was im Bewußtsein des Menschen durch seine normale Entwickelung war, entschwand.

Dann kam der fünfte nachatlantische Zeitraum. Das allgemeine Menschheitsalter ging bis zum 28. Jahre zurück, und es wird während des fünften Zeitraumes bis zum 21. Jahre zurückgehen. Jetzt leben wir, wie ich das letzte Mal ausgeführt habe, im Allgemein-menschheitlichen Lebensalter von ungefähr 27 Jahren. Daher, das muß immer wieder betont werden, ist es jetzt notwendig, daß im Innern der Seele etwas angefacht wird an Kräften, die nicht mehr dadurch kommen, daß Kräfte des Leibes in die Seele einschießen können, sondern daß selb­ständig auf die Seele gebaute spirituelle Impulse in der Seele sich fest­legen können, die die Seele in dieser Selbständigkeit, nicht mehr ab­hängig vom Leibe, vorwärts bringen. Aber nur bis gegen das 30. Jahr hin, solange der Mensch noch irgend etwas von Wachsen und Auf­sprießen, wenn es auch nur das Wachsen der Muskeln noch ist, in sich hat, fühlt er bei gesundem Leben, bei gesundem Empfinden, bei gesundem

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Erleben, die Abhängigkeit vom Vater-Gott. Es muß also, wie Sie leicht einsehen können, mit dem Fortschreiten des fünften nach­atlantischen Zeitraumes das eintreten, daß auch das gesunde Emp­finden für das in dem eigenen Wachstum lebende Göttlich-Geistige allmählich zurückgeht. Das war noch rege, absolut rege im vierten nachatlantischen Zeitraum. Davon war auch in hohem Grade noch etwas vorhanden im fünfzehnten Jahrhundert. Heute fehlt der Mensch­heit schon ein Jahr bis zum Lebensalter, das vom 35. bis 28. Jahr dau­ert und die Lebensmitte darstellt. Und in diesem Fehlen eines Jahres liegt es, daß die Menschheit heute für den Materialismus und den Atheismus natürlich organisiert ist. Der Atheismus wird sich durch die Organisation der Menschen ausbreiten, und wenn das Gegengewicht, das spirituelle Gegengewicht, durch die Entwickelung eines rein seeli­schen Impulses, die unabhängig vom Leibe vor sich geht, nicht ge­schaffen wird, wird sich der Atheismus ausbreiten, weil sich der Mensch nicht mehr als Vollmensch gesund erleben kann; es wird ihm etwas entzogen von dem Miterleben des wachsenden, blühenden, gedeihenden Lebens. Deshalb konnte ich sagen: Atheist kann man eigentlich nur sein - vor einiger Zeit habe ich es hier gesagt -, wenn man nicht in voller Gesundheit den Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Leiblich-Physischen im ganzen aufsteigenden Leben empfindet. Atheis­mus ist eigentlich für die Geisteswissenschaft eine Krankheit, aber diese Krankheit ist in der Menschheit dem rein natürlichen Dasein nach im Zunehmen begriffen. Immer mehr und mehr wird fehlen von jener Unterstützung des Fassungsvermögens für die gesamte Wirklichkeit, die der Mensch durch seine Organisation hat.

Den Christus zu leugnen oder nicht zu erkennen, bezeichnete ich als ein Schicksalsunglück, weil der Christus gnadenvoll von außen an den Menschen herankommen muß. Und den Geist nicht zu erkennen, be-zeichnete ich als eine Seelenblindheit. Diese Unterscheidung muß man schon haben. Eine Krankheit - natürlich den Begriff der Krankheit im umfassendsten Sinn gemeint - ist der Atheismus. Ein Schicksalsunglück ist die Leugnung oder Verkennung des Christus. Eine Seelenblindheit ist die Leugnung oder Verkennung des Geistes. Sie sehen schon hier, man muß schon einen völlig neuen Begriff von der Entwickelung

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haben, wenn man die Entwickelung des Menschengeschlechtes richtig verstehen will. Denn der Begriff von Entwickelung, wie er im Dar­winismus herrscht, ist furchtbar abstrakt, und in dem Augenblick, wo die ganz grobe Wirklichkeit dem Darwinismus nicht mehr zur Ver­fügung steht, da weiß der Darwinismus eigentlich mit dem Entwicke­lungsbegriff nicht mehr viel anzufangen. Denn die Entwickelung hat einen aufsteigenden und absteigenden Ast, wie wir gesehen haben, während wir heute so leicht im Sinne des Materialismus denken: Nun, Entwickelung ist Ausgangspunkt von einer Form des Daseins, die nächste Form wird erreicht, die nächste und so weiter, und man glaubt, das schreitet so immer zum Vollkommeneren weiter.

Die Entwickelung der Menschen in der nachatlantischen Zeit ist so, daß allerdings die Unabhängigkeit des Seelisch-Geistigen von dem Körperlichen immer größer und größer wird; aber auf den früheren Entwickelungsstufen schießt aus dem Körperlichen herauf in das See­lisch-Geistige das Begreifen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Das Begreifen des Geistes nimmt zuerst ab, das Begreifen des Sohnes schwindet dann, und jetzt stehen wir auf dem Weg, wo das Begreifen des Vater-Gottes schwinden wird für das äußere nor­male Leben - das gefühlsmäßige Begreifen! Denn ich sagte ja: Es ist ein mehr oder weniger deutliches Bewußtsein vorhanden von die­sem Zusammenhang des Seelisch-Geistigen mit dem Körperlich-Physischen.

Aber das hängt noch mit etwas anderem zusammen. Denken Sie, daß die körperliche Organisation überhaupt immer weniger und weni­ger hergibt, daß der Mensch, wenn er dem Geiste nahekommen will, zu Wegen greifen muß, auf denen ihn die körperliche Organisation nicht unterstützt. Daher kommt es, daß für denjenigen, der die Dinge beobachten kann, ein deutliches Zurückgehen in dem Umfang der Vor­stellungen überhaupt stattfindet. Die Vorstellungen, die dem Menschen in alten Zeiten zur Verfügung standen, ich möchte sagen, die kochte sein Leib aus, indem er aus sich heraus das Geistige hergab, das ja in allem Materiellen steckt. Aber jetzt kocht der Leib immer weniger und weniger Vorstellungen und Begriffe aus, so daß - wenn man es radikal ausdrücken will - immer mehr und mehr die Zeit eintreten muß, wo

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der Mensch sein Hirn zermartern wird - oder, wenn er zu bequem ist, es auch nicht zermartern wird -, aber er findet nicht Begriffe, weil sie das Gehirn nicht von selbst hergibt. Er muß sich an die Geisteswissen­schaft wenden, welche ihm Begriffe gibt, die nur mit dem Ätherleib, nicht mehr mit dem physischen Leib verstanden werden können, be­wegliche Begriffe, nicht jene starren, toten Begriffe, die der physische Leib hergibt. So daß die natürliche Entwickelung des Menschen dahin geht, daß er immer ärmer wird an Begriffen, daß ihn diese natürliche Organisation hindert, in die Wirklichkeit unterzutauchen, wenn er nicht die Wege des geistigen Erkennens wählen will.

Das führt auch hinein in das Verständnis der Gegenwart, das führt zum Verständnis dessen, was wirklich gesagt werden muß, ohne daß irgendwie dabei Kritik ausgeübt werden soll, nur eine Kennzeichnung soll es sein, daß die Menschheit immer stumpfsinniger und stumpf­sinniger wird durch ihr natürliches Dasein, wenn sie nicht geistige Er­kenntniswege wählt. Solchen Dingen muß man sich mit vollem Ernste gegenüberstellen. Das vermineralisierte Gehirn - und es wird immer mehr und mehr vermineralisieren -, das wird stumpf und kann nicht mehr Begriffe bilden, die in die Wirklichkeit wirklich untertauchen können. Nur derjenige, der sich keine Mühe gibt, hineinzuschauen in das Getriebe der Gegenwart, und der nicht das Bedürfnis hat zu ver­stehen, was eigentlich in der Gegenwart ist, der kann an diesen Dingen vorbeigehen. Aber es ist wirklich dringend notwendig, daß man ver­sucht, dieses recht zu verstehen.

Und es ist merkwürdig, was einem da für Erscheinungen entgegen-treten. Man muß nur die Zeit nicht verschlafen! Die meisten Men­schen verschlafen jetzt die Zeit, indem sie das, was eigentlich die wirk­samen Impulse sind, nicht sehen, sondern nur die Äußerlichkeiten desjenigen, was vorgeht. Man muß nur achten auf dasjenige, was vor­geht, dann wird man schon darauf kommen, daß in der Gegenwart unendlich viel Rätselvolles ist. Um es zu verstehen, braucht man die Begriffe, die aus der Geisteswissenschaft kommen, sonst fühlt man sich eben hilflos; denn irgendwo müssen ja diese Begriffe herkommen. Nehmen Sie ein Beispiel. Es ist immerhin kein schlechtes Beispiel, das ich hier anführen will. Ein strebender Mensch sucht seit Jahrzehnten in

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Österreich etwas zu entfachen, was er eine kulturpolitische Bewegung nennt. Scheu heißt der Mann. Was versucht er? Er charakterisiert die hier öfter schon charakterisierten Verhältnisse. Er versucht, die in­tellektuellen Leute zusammenzufassen, um mit ihnen neue Formen des politischen Lebens zu finden, durch welche dem Geist eine größere Macht über die Geschicke der Völker gesichert werden könnte.

Ein sehr löbliches Beginnen, wenn man es erreichen könnte, daß dem Geiste eine größere Macht über die Geschicke der Völker ge­sichert werden könnte, indem man die Intellektuellen zusammenfassen würde. Warum hat der Mann in den neunziger Jahren bereits be­gonnen mit diesen Dingen? Er hat begonnen, weil er etwas wie einen dunklen Trieb hatte, daß es so, wie es ging, nicht weitergehen könne, daß da etwas zu fehlen, etwas zu mangeln beginne, das man herein­bringen müsse in die Menschheit. Er hat selbstverständlich bis jetzt nicht dasjenige finden können, was nötig ist, in die Menschheit her-einzubringen, denn Geisteswissenschaft ist ja selbstverständlich für solche Leute, auch wenn sie schon mehr oder weniger deutlich fühlen, was mangelt, eine Phantasterei, abergläubische Hinterwäldlerei. Dazu sind sie zu gescheit, darauf wollen sie sich nicht einlassen, nicht wahr. Nun, er fühlt eigentlich recht deutlich, was in der Gegenwart mangelt, und er drückt es so aus:

«Ich will meinen Grundgedanken hier wiederholen. In der Erkennt­nis, im Gedanklichen ist unsere Zeit unserer Zeit weit voraus.»

Ein merkwürdiger Satz. Was wollte denn der Mann? Daß die Ge­danken etwa stumpf geworden sind, das drückt er nicht aus, sondern er weiß nur: Die heutigen Intellektuellen - abstrakte Gedanken kön­nen sie wunderbar bilden! Alles geht bei ihnen wie am Schnürchen, sie sind überzeugt, weil sie alles so klar wissen können. Also:

«In der Erkenntnis, im Gedanklichen ist unsere Zeit unserer Zeit weit voraus.»

Das heißt: Die Leute können gut denken, aber die Gedanken sind von solcher Art, wie ich es dargestellt habe. «Unsere Zeit ist weit hinter unserer Zeit zurück.» Derselbe Gedanke, nur in anderer Form.

«Als Erkennende, als Wissende, sind wir überreif und bis ins Un­erlaubte verfeinert. »

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Das sind wir auch, wir Menschen der Gegenwart. Man braucht ja nur in der Literatur oder sonst im Leben Umschau zu halten. Denken Sie doch, was die Leute für feine Gedanken ausdenken! Nur sind diese Gedanken nicht geeignet, die Wirklichkeit zu ergreifen, unterzutau­chen in die Wirklichkeit. Also:

«Als Erkennende, als Wissende sind wir überreif und bis ins Un­erlaubte verfeinert und erleuchtet; im realen Leben herrscht noch das Mittelalter. Die Ursache liegt darin, daß der Hochofen, worin die Gedanken in Realität umgeschmolzen werden sollen, nicht funktio­niert. »

Er drückt die Sache gefühlsmäßig merkwürdig richtig aus. Der Hochofen funktioniert nicht, wodurch die Gedanken, die im Abstrak­ten, Nebulosen herumirren, nicht so innerlich durchkraftet werden können, daß sie wirklich mit der Wirklichkeit sich verbinden könnten. Das fühlte er. Und er hat eigentlich etwas getan, was von seinem Gesichtspunkte aus gar nicht schlecht ist. Er sagte sich ungefähr so: An abstrakten Gedanken sind die Menschen überreif; da haben eine Reihe von Leuten den abstrakten Gedanken des Sozialismus, der Sozial-demokratie, den drechseln sie aus. - Man kann ja wirklich sagen, es ist eigentlich mit wunderbarer Logizität durchgeführt gerade im Marxis­mus dieser abstrakte Gedanke des Sozialdemokratischen; da ist der abstrakte Gedanke des Sozialdemokratischen, da ist der abstrakte Ge-danke des Liberalismus durchgeführt. Man kann dann auch kombi­nierte Gedanken abstrakt durchführen: Nationalliberalismus, sogar Sozialliberalismus. Der abstrakte Gedanke des Konservativismus, er ist da. Nach diesen abstrakten Gedanken die abstrakt sind-denn der Hochofen fehlt, durch den siern die Wirklichkeit eingreifen konnen bildet man den Parlamentarismus das Reprasentativsystem bildet alle die Ideen des Liberalismus Sozialliberalismus der Sozialdemokratie des Konservativismus, des Nationalismus aus Robert Scheu versucht einfach mit den Mitteln, die ihm zur Verfugung stehen, an die Stelle dieser Abstraktionen die Wirklichkeit zu setzen, indem er an die Stelle des abstrakten Gedankens die Enquete setzt. Er sagt: Entscheiden sol­len über die Sachen diejenigen, die etwas von ihnen verstehen. Nicht wahr, ob einer liberal oder konservativ ist, das macht nicht viel aus,

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wenn es sich darum handelt, den Petroleumhandel zu organisieren, oder darum, Kunstanstalten einzurichten, denn da handelt es sich darum, daß er von Kunst etwas versteht. Und so hat denn in der Tat Robert Scheu Enqueten auf den verschiedensten Gebieten veranstaltet, um die Leute reden zu lassen, die etwas davon verstehen. Das war ein ganz niedlicher Anfang.

«Was ist dieser Hochofen?» sagt er. «Das Repräsentativsystem und das Parlament. Wo ist die Realität? In der Verwaltung. - Wer hält am Repräsentativsystem fest? Die Parteien. - Das sind abstrakte Ge­bilde mit prinzipiellen Programmen, die widerstreitende reale Inter­essen in sich zusammenfassen. Die Gegenstände des wirklichen Lebens werden von den Parteien nicht erfaßt, die nur aus deduktivem Denken an die Wirklichkeit herantreten. Sie interessieren sich für die wirk­lichen Gegenstände des Lebens nur insofern, als sie daraus einen Zu­wachs ihrer Macht erwarten.»

Hier fühlt einer sogar einmal, daß dieses Verfeinertsein im Ge­danken - wir können auch sagen Stumpfwerden im Gedanken, weil die Gedanken nicht mehr wirklichkeitsverwandt sind -, daß das für das Leben eine unmittelbare Bedeutung hat. Denn an diese Fragen knüpft der Mann die Frage der Weiterentwickelung des öffentlichen Lebens, ob Repräsentativsystem oder etwas anderes, wobei er natür­lich nicht an Reaktion von alten Formen denkt, sondern wirklich dar­über nachdenkt, wie man aus der Wirklichkeit heraus etwas finden könne, was die Struktur des sozialen Lebens in Ordnung bringen kann. Da hat er manches geschaffen im Laufe der Zeit. Aber jetzt ist es interessant, jetzt hält er wiederum einmal so eine Art Rückschau nach dem, was ihm gelungen ist. Er sagt sich: Was habe ich eigentlich versucht? - Versucht hat er an die Wirklichkeit heranzudringen, wie man heute mit stumpfen Begriffen sagt: Ich habe an die Stelle der Deduktion die Induktion gesetzt. - Nun, so drückt man es heute mit den stumpfen Begriffen aus. Man kann das überall lesen. Aber befrie­digt fühlt sich der Mann nicht, wirklich nicht. Und deshalb sagt er am Schlusse des Aufsatzes, wo er die ganze Geschichte erzählt:

«Ich aber bin zu der Erkenntnis gekommen, daß meine induktive Kulturpolitik doch einer Ergänzung durch ein deduktives Programm

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bedarf, daß man den Tunnel von zwei Seiten anbohren muß, um den Durchbruch zu erarbeiten. Die dazu nötige Denkarbeit müßte von allen guten Europäern gemeinsam geleistet werden. »

Sie sehen, der Mann geht selbst bis zu dem Bilde, daß man den Tunnel von zwei Seiten anbohren muß, nur kann er nicht an diejenige Quelle heran, wo heute wirklichkeitsverwandte Begriffe zu holen sind. Er bleibt also zunächst stehen, würde wahrscheinlich auch nicht glau­ben, daß sein sogenannter induktiver Weg durch alle möglichen En­queten denn doch eben nur die eine Anbohrung des Tunnels ist; die andere ist das Aufsuchen der geistigen Entitäten, wo die Geisteswissen­schaft eben die andere Seite der Wirklichkeit enthält.

Die unmittelbare Lebenspraxis fordert dasjenige, was Geisteswissen­schaft eigentlich meint. Und es ist nicht irgendein abstruser Gedanke, wenn davon gesprochen wird: Geisteswissenschaft ist dasjenige, was gebraucht wird von dem Leben! - sondern es ist durchaus aus dem Leben heraus, aber aus dem Leben, indem man es erfaßt in dem Mo­ment, wo es in der gegenwärtigen Entwickelungsepoche der Mensch­heit steht. Denken Sie nur, wie fruchtbar diese Geisteswissenschaft würde, wenn die Menschen jene Binde sich von den Augen nehmen könnten, die sie heute noch so dick vor den Augen haben. Denn das ist in der Tat dasjenige, was von der anderen Seite des Tunnels die An-bohrung braucht. Ohne das wird man trotzdem nur zu Absurditäten kommen. Daß dann im einzelnen allerlei niedliche Sachen passieren, das fällt einem natürlich gleich auf, wenn man in den beweglichen Begriffen der Geisteswissenschaft lebt. Enqueten stellt Robert Scheu an, also über die verschiedenen Lebenszweige läßt er die Leute reden, die etwas davon verstehen. Er führt unter den Dingen, die durch solche Enqueten geändert werden sollen, zum Beispiel auch das Meldewesen an. Denken Sie einmal, wenn jetzt über das Meldewesen durch eine Enquete entschieden werden sollte!

Sie haben hier so recht ein Beispiel, wie die Menschen anfangen zu fühlen, daß etwas fehlt, aber sich nicht entschließen können, zu dem zu gehen, was nun wirklich notwendig ist, um die Sache weiterzu­führen. Es ist sehr merkwürdig, was man gerade auf diesem Gebiet für Erfahrungen macht. Es war wirklich von vornherein mein Bestreben,

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Geisteswissenschaft nicht in jene abstruse Bahnen zu geleiten, wozu sie ein sektiererischer Sinn geleiten möchte, sondern sie je nach den Bedürfnissen der Menschen einzugeleiten in das Leben. Ich ver­suchte, jedem Menschen, wenn er einen Rat hören wollte, je nach seiner Individualität einen Rat zu geben. Nehmen wir ein Beispiel. Heute ist es ja ungeheuer schwer, ich möchte sagen, bis in die materialistische Lebenspraxis mit einem solchen Rat hineinzugehen. Denn die Fabrik-direktoren werden einem sonderbar kommen, wenn man sagt, daß durch Geisteswissenschaft ihr Betrieb besser betrieben werden könnte als durch ihre sogenannte Praxis. Aber man konnte hoffen, daß es doch an einem Punkte ginge.

Da trat vor Jahren ein Mann an mich heran und sagte, er möchte seine Wissenschaftlichkeit befruchten durch die Geisteswissenschaft. Wir sprachen nun über seine Wissenschaftlichkeit. Er war ein wunder-barer Gelehrter; babylonisch-ägyptische Altertumskunde, das wurde wirklich in hohem Grade von ihm beherrscht. Ich versuchte mit ihm zusammen, wie die Fäden gezogen werden können, wie das, was die Geisteswissenschaft gibt, befruchtend eingreifen kann, nun, wenigstens in diese Wissenschaft, so daß wenigstens ein Stück, möchte ich sagen, eben der Wissenschaft, wie sie heute getrieben wird, befruchtet werden kann. Das, was die Wissenschaft heute geben kann, das wußte er auf seinem Gebiet; Geisteswissenschaft fand er bei uns. Das Babylonische und Ägyptische war auf der einen Seite, die Geisteswissenschaft auf der anderen Seite; beides hatte er, aber den Willen, sie wirklich zu durchdringen gegenseitig, sie zu verbinden: er konnte ihn nicht auf­bringen! Wenn man aber diesen Willen nicht entwickelt, so wird man niemals verstehen, was eigentlich mit der Geisteswissenschaft gemeint ist. Man wird immer mehr und mehr dazu neigen, die Geisteswissen­schaft zu jener zweifelhaften Mystik zu machen, zu welcher sie die Leute, die zum Leben nicht zu brauchen sind, machen möchten, unter dem Eindruck: Das Leben ist nichts wert, man muß aufsteigen zu einem höheren Leben, man muß aus dieser Welt des sinnlichen Anschauens in die Träumerei aufsteigen, da ergibt sich das Höhere dann. Wozu denn hier ordentlich seine Kinder erziehen, lieber nachdenken, was man früher für Inkarnationen hatte! Das ist das, was einen in die höheren

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Regionen bringt und so weiter. - Darum handelt es sich nicht, sondern darum handelt es sich, auf dem Gebiete, auf dem man eben steht, Gei­steswissenschaft fruchtbar zu machen. Sie kann überall fruchtbar gemacht werden, das Leben fordert sie.

Das ist dasjenige, wofür man, ich möchte sagen, nicht bloß Worte haben möchte, um es heute begreiflich zu machen. Denn Worte sind wirklich schon recht abgebrauchte Verkehrsmünzen geworden. Wer fühlt denn heute eigentlich noch bei den Worten, was in ihnen liegt? Wer fühlt denn so recht sich hinein in die Worte? Fühlen mit den Worten, das ist etwas, was die Menschheit fast ganz verloren hat, wenigstens in dem Teil der Menschheit, dem wir angehören. Denken Sie, wenn heute einer sagt — lassen Sie mich das Beispiel gebrauchen —: Nun, du hast deine Aufgabe ziemlich gut gemacht; wer fühlt dann viel mehr bei diesen Worten als: Du hast deine Aufgabe fast gut gemacht. Das ist das, was man heute fühlt. «Ziemlich» ist «fast» gut. Wir sagen das eine statt des anderen. Legen Sie die Hand aufs Herz, ob Sie nicht bei dem Worte «ziemlich gut» das Gefühl haben: «fast gut», und das eine für das andere gebrauchen. Und doch: «ziemlich» ist ein Wort, das derselben Familie angehört, wie «geziemend sein, sich geziemen». Wenn ich etwas ziemlich gut mache, mache ich es so, daß ich es auf die geziemende Art gut bekomme, auf eine leichte Art; ich mache es nicht bloß gut, sondern so, daß mein Tun keine Schwierigkeiten hat, sondern geziemend ist; ich habe es in der Hand. Wer fühlt denn in dem Worte «ziemlich» noch das «geziemend» drinnen? Oder wer fühlt in dem Worte Zweifel, daß darinnen steckt das Zwei, daß man da einer Sache gegenübersteht, die sich zweiteilt? Wer fühlt überhaupt dieses zw, z—w? Sie haben aber überall, wo zw auftritt, dieselbe Empfindung wie bei Zweifel, wenn sich die Sache zweiteilt. Zwischen - da haben Sie dasselbe! Zweck, Zweifel, zwar — versuchen Sie, es zu fühlen! In allen Lautzusammenhängen kann Gefühl drinnen liegen. Aber die Worte sind heute eben recht wertlose Scheidemünzen. Deshalb möchte man schon etwas anderes als die Sprache haben, um eindringlich zu machen, was heute nötig ist, und was Geisteswissenschaft geben könnte. Diese Sprache, wie sie heute getrieben wird, sie ist so, daß sie noch mehr als es ohnedies schon der Fall ist durch die natürliche Entwicke-

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lung, das Denken abstumpft, und in einem Wust von Schreibereien und Druckereien stumpfes Denken zutage tritt.

Man könnte Blut schwitzen, wie es mir heute morgen fast passiert ist, wo ich ein Buch in die Hand nahm, das geben soll die große Be­deutung des Unterschiedes der Ideen von 1789 und 1914, von Dr.Jo-hann Plenge, ordentlicher Professor der Staatswissenschaften an der Universität Münster in Westfalen. Der Mann macht den Anspruch, den großen Gegensatz herauszuschälen aus der neueren Entwickelung, der besteht zwischen den Ideen von 1789 und 1914. Die Idee von 1914 hat er, wie er behauptet, ja eigentlich erfunden. Er hält sich für einen riesig großen Mann. Darauf wollen wir aber jetzt nicht eingehen. Seite 61 des Buches lese ich den Satz - ich will jetzt pedantisch sein, aber diese Pedanterie bedeutet etwas Feineres, und diejenigen, die das fühlen können, die werden es schon fühlen - also Seite 61 gab mir der Satz eine Ohrfeige - verzeihen Sie den Ausdruck: «Wo man also das eine kennt, muß man das andere suchen. Denken wir uns in die Seele eines Geschichtsschreibers der Zukunft, der dereinst von der Weltkatastrophe von 1914 hört.» - Was soll man sich mit diesem Satz aufbinden lassen? Einen Geschichtsschreiber der Zukunft stellt sich der Mann vor, der plötzlich hört von der Weltkatastrophe von 1914. Also er hat während seiner ganzen Jugend nichts gehört, sondern erst als Geschichtsschrei­ber der Zukunft hört er plötzlich davon! Man muß wirklich nicht mehr im lebendigen Vorstellen drinnenleben, um solch ein Zeug hin-stellen zu können. Dann sucht er von der Bedeutung der Ideen zu sprechen, sucht zu sprechen davon, daß es Ideen in der Geschichte gibt, daß Ideen aufsteigen, Ideen zurückgehen können, und er sucht so hin­ter den Charakter und die Natur der Ideen zu kommen. Und während er das tut, während er das versucht, da leistet er sich denn an einer Stelle das Folgende: Er versucht zu zeigen, wie bei primitiven Völker-stämmen Ideen so unbewußt aufdämmern, dann bewußter werden. Er sagt: «Ein werdendes Kulturvolk lebt nach dem Vorbild eines vor­gestellten veredelten Menschentums. Das schönste Muster einer solchen Ideenbildung ist die Stellung Homers in der Antike.»

Also denken Sie: Die Stellung Homers in der Antike ist das Beispiel einer Ideenbildung! Was ungefähr so viel heißt als: Wenn einer Hofrat

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ist, so ist das das Beispiel einer Ideenbildung. Es ist unmöglich, sich bei so etwas was zu denken, wenn man mit seinen Gedanken lebendige Vorstellungen verknüpfen will. Wenn man allerdings das gewohnt ist von Jugend auf, so bekommt man wirklich Ohrfeigen bei solchen Sät­zen, die nur ein Wortgedrechsel sind. Sie erinnern mich sehr lebhaft an jenen Professor, der ein Kolleg begonnen hat, indem er 25 Fragen auf­warf, einen Professor, der sehr, sehr berühmt geworden ist, einen Literaturprofessor. Ich will nicht sagen, wer es ist, sonst könnten Sie mir nicht einmal glauben. Er stellte 25 Fragen, dann sagte er: Meine Herren! Ich habe Sie in einen Wald von Fragezeichen geführt! - Ich mußte mir vorstellen einen Wald von Fragezeichen hintereinander. Denken Sie nur, was das für ein Denken ist, so seine Gedanken nicht verwirklichen, nicht leben in seinen Gedanken, so mit seinen Gedanken Worte drechseln.

Das lebt sich dann allerdings in merkwürdiger Weise in der Ge­sinnung eines solchen Menschen aus. Da kommt man auf höchst Merk­würdiges; der Mann sagt: Der ganz richtige Historiker, der sucht eigentlich wie der Astronom die Dinge vorauszuberechnen. Und nun bemüht sich der gute Mann, zu zeigen, wie sich die Wirtschaftsverhält­nisse entwickelt haben gegen diese jetzige Kriegskatastrophe zu. Da sagt er: Der wirkliche Historiker kann wie der Astronom solch eine Katastrophe vorausberechnen. - Nun, er hält sich auf der einen Seite für einen wirklich so großen Historiker, der das können müßte, aber er hat es nun nicht gekonnt, trotzdem er viele Bücher geschrieben hat über das wirtschaftliche Leben. Das stört ihn. Deshalb erzählt er, wie er es eigentlich gemacht hat. Wie hat er es gemacht? Er sagt: Nun ja, ich habe gezeigt auf der einen Seite, daß die wirtschaftliche Entwicke­lung so ist, daß man eigentlich mit allen Mächten und Kräften dem Frieden zustreben müßte; und dann habe ich wieder gezeigt, daß sie aber auch so ist, daß nur der Krieg kommen konnte. - Nun, das ist ja eine unzweifelhaft richtige Prophetie, nicht wahr; das ist, wie wenn ich zwei Röcke habe und sage: Wenn ich nicht den einen anziehe morgen, dann werde ich den andern anziehen. Aber glauben Sie nicht, daß solch eine innere Frivolität in Begriffen nicht Folgen hätte, denn da, wo er nun davon spricht, wie er so geschwankt hat, ob er nun den

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blauen Rock oder - nein, den Frieden oder den Krieg prophezeien soll, da sagt er - ja, er zitiert sich selber, es ist mit den Zitaten überhaupt eine merkwürdige Sache in diesem Buch -, er sagt: Nun denken Sie sich diese Gesinnung! Er hielt es eben für notwendig, nicht mit mehr Ernst zu reden, sondern daß die Phantasie mit dem Kriege spielt, in den Jahren, die zu dieser Katastrophe hingeführt haben.

Ich sagte, mit dem Zitieren ist es in diesem Buche eine eigentümliche Sache. Das ganze Buch ist nämlich eine Anlehnung an einen Artikel, der in der Tageszeitung erschienen ist. Dieser Artikel ist ein unschul­diges Ding; da hat sich einfach ein unbekannter Journalist aufgelehnt gegen die Idee von 1914, die Plenge ja «erfunden» hat. Das ist merk­würdig in seiner Buchmacherei. Denn da liest man den Artikel auf der ersten Seite, soweit Plenge ihn bringen will, um daran anzuknüpfen. Dann redet er über den Artikel; dann kommt man auf Seite 21, da zitiert er ihn noch einmal, so daß der Artikel von der Tageszeitung schon zweimal dasteht. Dann redet er weiter. Dann zitiert er einzelne Stücke aus dem Artikel; da liest man ihn also ein drittes Mal. Und am Schlusse, weil er ihn erst dreimal zitiert hat, bringt er ihn noch einmal, so daß man in diesem Buche einen Artikel der Tageszeitung viermal zitiert hat.

Ich muß schon an solchen konkreten Beispielen die Dinge, wie sie liegen, klarmachen, um zeigen zu können, was notwendig ist, und um auch zeigen zu können, wie Geisteswissenschaft wirklich das Instru­ment ist, das in der Gegenwart einzugreifen hat. Diese Dinge, die scheinbar Kleinigkeiten sind, hängen mit den großen Gesichtspunkten, von denen wir ausgegangen sind, durchaus zusammen. Das bitte ich Sie, aus diesen Betrachtungen festzuhalten.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 19. Juni 1917

Es wird heute meine Aufgabe sein, einiges zur Ergänzung desjenigen wiederum vorzubringen, was in Hauptgedanken entwickelt worden ist als eine Art Grundlage für ein zu suchendes Verständnis der Rätsel unserer Zeit. Es ist ja gewiß redites, vollberechtigtes Bedürfnis der Gegenwartsmenschen, diese Zeit nicht zu verschlafen, die zahlreichen Umwandlungsimpulse, die in dieser Zeit in verhältnismäßig kurzen Epochen auf uns wirken, wirklich zu beachten, und dann sich bekannt zu machen mit demjenigen, was notwendig ist für ein gedeihliches Weiterentwickeln der in unserer Zeit vorhandenen geistigen und da­mit auch der anderen Kulturimpulse.

Nun habe ich von verschiedenen Gesichtspunkten aus versucht, Ihre Aufmerksamkeit hinzulenken auf jenen großen Zeitraum, dessen Ver­ständnis doch ganz allein die Gegenwart wirklich auch begreiflich machen kann, auf den großen nachatlantischen Zeitraum. Einzelheiten habe ich Ihnen daraus geschildert und große Gesichtspunkte, welche dadurch, daß man die Entwickelung der Menschheit in der ganzen nachatlantischen Zeit einmal auf sich wirken läßt, auch zu einem gewissen Verständnis der Gegenwart bringen können. Nun möchte ich heute noch einmal, wiederum von anderen Gesichtspunkten aus, ich möchte sagen, den­selben Zeitraum besprechen, möchte einige andere charakteristische Eigentümlichkeiten dieses Zeitraumes vor Ihre Seele hinstellen. Aller­dings, verständlich kann dasjenige nur sein, was ich heute sagen werde, wenn man den Blick auf jene Verjüngung des Menschengeschlechtes wirft, jenes Immer-jünger-und-jünger-Werden von einem Lebensalter unmittelbar nach der atlantischen Katastrophe, das wir als 56. Lebens­jahr der Menschheit bezeichnet haben, zu dem Lebensalter des heutigen Menschen, das ihn nur bis zum 27. Lebensjahr naturgemäß entwicke­lungsfähig läßt, wenn er nicht auf sich selbst gebaute, freie Impulse der Seele, die aus dem Geiste selbst herauskommen müssen, zu bauen geneigt ist. Das wollen wir uns also vor die Seele stellen, was über den heutigen siebenundzwanzigjährigen Menschen in das Gebiet unserer Aufmerksamkeit

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gekommen ist. Blicken wir nun noch einmal zurück auf die Zeit unmittelbar nach der großen atlantischen Katastrophe. Ich habe ja schon darauf hingewiesen, wie ganz anders das soziale Leben ist, wie ganz anders die sozialen Empfindungen der Menschen in dieser Zeit waren. Ich möchte heute auf die besondere Seelenverfassung der ersten nach-atlantischen Menschen, vor allem derjenigen, die den Süden Asiens be­wohnten, hinweisen, noch einmal hinweisen auf dasjenige, was Sie genugsam kennen als urindische Kultur, wie es in meinen Schriften verzeichnet ist. Vor allen Dingen war in jener Zeit unter den verschie­denen sozialen Vorstellungen, die die Menschen hatten, etwas ganz und gar nicht vorhanden, was heute sich der Mensch aus unserem sozialen Leben kaum wegdenken kann. Sie wissen, in welchem Zusam­menhang und mit welcher ungeheuren Bedeutung man heute von Ge­setz und Recht und ähnlichen Dingen spricht. Von diesen Dingen hat man in der ersten nachatlantischen Zeit überhaupt nicht gesprochen. Man hat sie gar nicht gekannt. Mit dem Begriff Recht, mit dem Worte Recht, mit dem Worte Gesetz und ähnlichen Worten, die uns heute unabtrennbar sind von der sozialen Denkweise, hätte man gar keinen Begriff verbinden können. Dagegen hörte man, wenn man Entschei­dungen haben wollte für dasjenige, was zu tun oder zu lassen ist, was an Einrichtungen zu treffen ist im öffentlichen oder auch privaten Leben, auf diejenigen Menschen, die das damalige Patriarchenalter erreicht hatten - die fünfziger Jahre erreicht hatten. Man machte die selbstverständliche Voraussetzung, weil die Menschen in Entwicke­lungsfähigkeit waren bis in die fünfziger Jahre hinein, weil sie gewis­sermaßen wie die Kinder entwickelungsfähig blieben bis in die fünf­ziger Jahre hinein, und da sie entwickelungsfähig blieben, eben eine gewisse Lebensreife erlangten in dieser Zeit, auf ganz naturgemäße Weise, so hatte man die Vorstellung, daß man nur sich sagen zu lassen brauche von denjenigen, die die fünfziger Jahre erreicht hatten, was zu tun und zu lassen ist. Man war vollständig einig darüber, daß das die Weisen waren, daß die wissen, wie die Welt einzurichten ist, wie die Angelegenheiten der Menschen zu besorgen sind. Es hätte damals nie­mandem in den Kopf kommen können, zu zweifeln daran, daß die normal bis in die fünfziger Jahre hinein sich entwickelnden Menschen

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nicht das Richtige in bezug auf Lebensweisheit hätten finden können. Denn dadurch, daß die Menschen bis in dieses Alter hinein entwicke­lungsfähig geblieben sind, dadurch offenbarte sich in ihrem Innern auf so naturgemäße Weise, wie jetzt bei Kindern etwas in der Seele sich offenbart, wenn sie geschlechtsreif werden, so bei denen in den fünf­ziger Jahren etwas, wobei sie eben diese Fähigkeit, die ich angedeutet habe, erlangten. Man frug also die Alten, die Weisen, und sie waren die selbstverständlichen Gesetzgeber.

Wodurch hatten sie denn eigentlich diese bedeutsame Weisheit? Sie hatten diese bedeutsame Weisheit, weil sie sich einig wußten mit dem Geiste, oder vielmehr den Geistern, die in dem Lichte lebten. Heute empfinden wir die Wärme unserer Umgebung, heute empfinden wir die Luft, indem wir sie ein- und ausatmen, wir empfinden die Gewalt des Wassers, wie es aufsteigt und als Regen herunterfällt, wir emp­finden das alles aber nur physikalisch, mit den Sinnen. So war es nicht für die ersten nachatlantischen Menschen, wenn sie die fünfziger Jahre erlebt hatten, sondern sie empfanden in der Wärme, in der Luft und ihren Strömungen, in dem Kreislauf des Wassers überall mit das Gei­stige. Dadurch aber, daß sie das Geistige in den Elementen empfanden, daß sie gewissermaßen nicht bloß Wind empfanden, sondern die Gei­ster des Windes, nicht bloß Wärme fühlten, sonde?n den Geist der Wärme, nicht bloß Wasser sahen, sondern auch die Geister des Was­sers, dadurch lauschten sie innerlich in gewissen Lebensaltern, aller­dings nur in gewissen Wachzuständen, den Offenbarungen dieser Ele­mentengeister; und was ihnen diese Elementengeister mitteilten, das war dasjenige, was sie ihrer Weisheit, die sie den anderen mitteilten, zugrunde legten. Diese Leute waren, wenn sie normal entwickelt waren, nicht bloß dasjenige, was wir heute ein Genie nennen, sondern etwas weit über das, was wir heute Genies nennen, Hinausgehendes. Es war eben möglich in der damaligen Zeit, daß die menschliche Natur selbst dasjenige hergab, daß sich die Weisheit in ihr offenbarte, wie sich heute nach und nach die Seelenstadien unter der körperlichen Entwickelung des Kindes bis in ein gewisses Lebensalter hinein offenbaren. Und daß die Weisheit sich offenbarte, das hing damit zusammen, daß die Men­schen nicht nur entwickelungsfähig blieben, solange der Leib im Wachsen,

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Blühen und Aufsteigen war, sondern auch wenn der Leib zusam­mensank, wenn der Leib wiederum sich sklerotisierte, mineralisierte. Dieses Abnehmen der Leiblichkeit, dieses Verkalken der Leiblichkeit, das führte dazu, daß sich das Seelisch-Geistige entwickelte. Das war allerdings mit etwas anderem noch verknüpft, was Sie leicht verstehen werden, wenn Sie sich das lebhaft vorstellen, was jetzt auseinander­gesetzt worden ist. Solche Menschen nahmen lebendig wahr die gei­stigen Wesenheiten der Elemente. Kam dann die Nacht herein, so waren die damaligen Sinne normalerweise nicht geeignet, bloß die Sterne zu sehen, sondern sie sahen Imaginationen, wirklich das Gei­stige, das lebte auch im Sternenhimmel. Deshalb habe ich oftmals dar­auf aufmerksam gemacht: Die alten Sternkarten, auf denen so merk-würdige Figuren darauf sind, das ist nicht, der Phantastik der neueren Naturwissenschaft entsprechend, durch Phantasie gemacht, sondern durch unmittelbare Schauungen. Diese Dinge hat man wirklich gesehen.

So also schufen und rieten diese Alten, diese alten Weisen aus ihrem unmittelbaren Schauen heraus und richteten das soziale Leben in die­sem Sinne ein. Damals aber waren sie auch in innigem Kontakt, in ganz innigem Kontakt mit dem Stück Erde, das sie bewohnten, denn sie sahen ja das Geistige dieses Stückes Erde, das sie bewohnten: das Geistige des Wassers, das entquoll dieser Erde, die sie bewohnten, sie sahen das Geistige der Luft, die darüber wehte, das Geistige der son­stigen klimatischen Verhältnisse, sahen die Verhältnisse, die in der Wärme lebten und so weiter. Diese Verhältnisse waren überall an­dere, in Griechenland andere als in Indien, andere als in Persien und so weiter. Daher sahen wirklich die Weisen in der damaligen Zeit so, wie es gemäß ihrem Stück Erde war. Und es entwickelte sich in Indien eine solche Kultur, wie sie aus der Erde herauskommen mußte, ebenso entwickelte sich in Griechenland eine solche Kultur, wie sie herauskom­men mußte aus der Erde, im Einverständnis mit den Elementen der Erde. Die Erde wurde empfunden als etwas Konkretes. Nicht wahr, heute empfinden wir es höchstens nur noch am Menschen so: wir wür­den es heute grotesk am Menschen empfinden, wenn uns jemand weis­machen wollte, daß an der Stelle der Nase das Ohr sein könnte und an der Stelle des Ohres die Nase; nicht wahr, der ganze Organismus

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ist so gebaut, daß die Nase an einer bestimmten Stelle sitzt, und das Ohr an einer bestimmten Stelle sitzt. Aber davon hat man heute keinen rechten Begriff mehr, daß die Erde ein ganzer Organismus ist, und daß, wenn eine bestimmte Kultur, wenn sie wirklich unter dem Einfluß der Erdenelementargeister geschieht, sich entwickelt, sie auch eine bestimmte Physiognomie tragen muß. Man hätte nicht dasjenige, was im alten Griechenland gewachsen ist, hinübertragen können nach dem alten Indien und umgekehrt. Auf der Erde entwickelte sich also eine solche Kultur, welche die geistige Physiognomie der Erde wieder­gab. Das ist das Bedeutsame für diese alte Zeit. Heute weiß der Mensch nichts davon, weil er in den Zeiten, wo er es wissen könnte, nicht ent­wickelungsfähig bleibt. So denken die Leute wenig darüber nach, wo­her es kommt, daß im östlichen Amerika, wenn die Weißen einwan­dern, diese Weißen dort ein völlig anderes Aussehen bekommen als in Kalifornien, im westlichen Amerika. Im östlichen Amerika werden bei den eingewanderten Weißen die Augen, der Blick, ganz anders, die Hände werden größer als in Europa, die Hautfarbe wird sogar etwas anders. Im östlichen Amerika ist das der Fall, nicht im westlichen Amerika. Diese Zusammenhänge mit der Stelle im Erdenorganismus, auf der sich eine Kultur entwickelt, die werden gar nicht mehr berück­sichtigt. Das hängt heute damit zusammen, daß der Mensch nicht mehr weiß, welche geistigen Entitäten, welche geistigen Wesenheiten in den Elementen der Erde leben. Heute ist der Mensch abstrakt geworden, heute denkt er über die konkreten Dinge überhaupt nicht mehr nach.

Was ich Ihnen so geschildert habe für den ältesten Zeitraum, das wurde selbstverständlich anders im nächsten Zeitraum, als die Mensch­heit das Lebensalter vom 48. bis 42. Jahr durchmachte. Dieser zweite nachatlantische Zeitraum, in ihm blieben die Menschen nur entwicke­lungsfähig bis in die vierziger Jahre hinein. Also da erreichten sie nicht jene Weisheit, die sie in der ersten Periode erreichten, sondern sie blie­ben eben nur in ihrem Seelisch-Geistigen abhängig von dem Leiblichen bis in die vierziger Jahre hinein. Daher wurde diese Fähigkeit, den Zu­sammenhang mit den Elementen noch zu empfinden, geringer. Die Menschen konnten nicht mehr den Zusammenhang mit den Elementen empfinden. Aber diese Fähigkeit war nur etwas geringer geworden;

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sie war noch da. Die Menschen empfanden es damals so, daß sie wußten: Wenn sie mit ihrer Seele im Schlafe außerhalb des Leibes sind, dann sind sie in der geistigen Welt drinnen. Das wußten sie, wenn sie die Reife der vierziger Jahre erreicht hatten. Und sie wußten auch: Wenn sie wiederum untertauchen in ihren Leib beim Aufwachen, dann verdunkelt sich für sie die geistige Welt. Daher bildete sich der eigentliche Ursprung der späteren Ormuzd- und Ahrimanlehre, der Lehre von Licht und Finsternis. Es ist richtig aus der Erfahrung stam­mend. Der Mensch wußte: Du bist mit deiner Seele im Schlafe in der geistigen Liditwelt drinnen; wenn du in den Leib hinuntersteigst, steigst du in die geistige Finsternis herunter. Es war nicht mehr die enge Abhängigkeit von dem Stück Land da, auf dem man lebte, aber es war ein Mitleben mit Tag und Nacht. Die Sternbilder sah man auch noch nicht anders als Imaginationen, bildlich. Aber gerade, daß man sie bildlich sah, wenn man außerhalb des Leibes war: diese Fähigkeit war atavistisch geblieben seit der atlantischen Zeit. Daher wußten die Menschen: Du hast eine lebendige Seele, die ist im Schlafe in einer gei­stigen Welt drinnen, in einer Welt, die durch Imagination erfaßbar ist.

Noch mehr zurückgegangen war dann die Fähigkeit, sich in solcher Weise konkret in das ganze Weltenall hineinzustellen, in der dritten, der ägyptisch-chaldäischen Kulturepoche. Da war sie noch mehr zu­rückgegangen. Da empfanden die Menschen nicht mehr so stark. In Persien blieb die Tradition, nicht mehr die unmittelbare Erfahrung. Zarathustra hat das dann als Sternenschulung seinen Schülern gebracht. Aber da, wo sich die eigentliche Menschheitskultur normal entwickelte, in der ägyptisch-chaldäischen Kulturperiode, da ist die Fähigkeit der Menschen mit Bezug auf das sinnliche Wahrnehmen erhöht; das alte geistige Wahrnehmen ging zurück. Daher kommt es, daß die Menschen in dieser dritten Periode vorzugsweise den Sternendienst hatten. In der alten Zeit in Persien hatte man nicht einen Sternendienst, sondern man hatte die geistige Welt der Imagination und der Sphärenmusik. Jetzt fing man schon an, die Dinge zu deuten, die Bilder gewisser­maßen nur mehr undeutlich zu sehen und die Sterne nur durchzusehen. Daher entwickelte sich da in dieser dritten Periode der eigentliche Sternendienst.

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Und dann kommt die vierte Periode, in der das Bewußtsein der gei­stigen Welt ringsumher geschwunden war, in der sich schon die Men­schen jener Anschauungsform näherten, die wir auch jetzt haben, in der man auch nur mehr aus der Weltumgebung die sinnliche Wirklich­keit der Sterne sah. Ich habe Ihnen geschildert, wie das im Griechen­tum war. Da wußte man, in jeder einzelnen Leibesäußerung lebt die Seele; aber die Heimat der Seele im Kosmos, die empfand man in der Weise nicht mehr mit. Daher sehen Sie bei dem großen Weisen, den ich Ihnen ja als für andere Dinge charakteristisch schon öfter an­geführt habe, gerade weil er nicht ein Initiierter war, Aristoteles, daß er nicht mehr Anschauungen über die Sterne hat, sondern eine Philo­sophie über die Sternenwelt begründet. Er deutet; er deutet das, was das Auge sieht, er deutet es deshalb, weil er noch weiß: in dem Leben zwischen Geburt und Tod, da ist die Seele im Leibe. Philosophisch weiß Aristoteles auch: Die Seele hat ihre Heimat da, wo der oberste Gott - für Aristoteles - die äußerste Sphäre lenkt, und die Unter-götter dann die anderen Sphären lenken. Aristoteles hat auch noch eine Philosophie über die Elemente der Erde, des Wassers, der Luft, des Feuers oder der Wärme, aber er hat eben nur noch eine Philosophie, nicht eine Erfahrung. In älteren Zeiten war die Erfahrung, die un­mittelbare Anschauung da. So war es nicht in der vierten nachatlan­tischen Kulturperiode. Die Menschheit war herausgetrieben, richtig herausgetrieben aus der geistigen Welt. Daher mußte jener Einschlag kommen, der eben durch das Mysterium von Golgatha kam.

Ich habe Sie auf die ganze tiefe Bedeutung dieses Mysteriums von Golgatha an jener Stelle dieser Betrachtungen hingewiesen, wo ich Ihnen gezeigt habe: da war die Menschheit bis zum 33. Lebensjahr entwickelungsfähig geblieben, und der Christus in dem Jesus erlebte gerade das 33. Jahr. Ein wunderbares Zusammentreffen! Also unmittel­bar nach der atlantischen Katastrophe blieb der Mensch entwicke­lungsfähig bis zum 56., 55., 54. Jahre und so weiter, im Anfang der zweiten Periode bis zum 48., 47. Jahre und so weiter, am Ende bis zum 42. Jahr, am Anfang der dritten Periode bis zum 42., dann herunter-gehend bis zum Ende der ägyptisch-chaldäischen Epoche, bis zum 36. Jahr. Dann fing die griechisch-lateinische Zeit an, 747 vor dem

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Mysterium von Golgatha. Da blieb die Menschheit nur entwickelungs-fähig bis zum 35. Jahr, dann bis zum 34. Jahr. Und als sie bis zum 33. Jahr nur entwickelungsfähig war, da erlebten die Menschen - weil das 33. Lebensjahr unter dem 35. Lebensjahr steht; bis zum 35. Jahr geht die Entwickelung hinauf, dann hinunter - da erlebten die Men­schen gar nicht mehr das Hinuntersinken mit der Seele, daher kam der Geist von außen, der Christus-Geist. Denken Sie, wie man da hinein-sieht in die Notwendigkeit des Eintretens des Christus-Geistes in die Menschheitsentwickelung!

Werfen wir jetzt einen Blick zurück auf die alten Patriarchen, die übergenial waren. Man frug sie, wenn es sich darum handelte, Erden-einrichtungen zu treffen, weil sie durch eigene seelische Entwickelung das Göttlich-Geistige verwirklichen konnten. Immer weniger und we­niger konnte man die Menschen fragen. Und als die Menschheit bis zum 33. Jahr gekommen war, da mußte aus ganz anderen Welten der Christus in den Jesus von Nazareth kommen. Da mußte von ganz anderer Seite her den Menschen der Impuls kommen, der ihnen durch eigenes Wachstum ihrer eigenen Entwickelung verlorengegangen war. Tief hinein sehen wir da in den notwendigen Zusammenhang der Menschheitsentwickelung mit dem Mysterium von Golgatha. Immer wieder und wiederum kann man nur sagen: Wenn in dieser Weise Geisteswissenschaft wirken kann, so wird sie zeigen, wie der Christus aus einer inneren Notwendigkeit heraus in die Menschheitsentwicke­lung eingetreten ist. Und daß die Menschheit heute eine solche An­schauung, eine solche Erneuerung des Verständnisses für den Christus-Impuls braucht: Sie sehen es überall auf Schritt und Tritt.

Im letzten Heft «Die Tat» - darinnen manches Interessante ist, und deshalb empfehle ich Ihnen das zu lesen - finden Sie einen interessanten Aufsatz unseres verehrten Freundes Dr. Rittelmeyer und eine der letz­ten Arbeiten unseres verstorbenen lieben Freundes Deinhard. Aber es ist auch in diesem Heft ein Aufsatz von Arthur Drews, der sehr be­deutsam ist aus dem Grunde, weil Arthur Drews sich wieder einmal damit auseinandersetzt, welche Stellung der Christus Jesus in der mo­dernen Menschheitsentwickelung haben kann. Sie wissen, wir haben öfter von Drews gesprochen. Er ist derjenige, der damals in Berlin

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aufgetreten ist, als man von sogenannter monistischer Seite sich nach­zuweisen bemühte, daß Jesus von Nazareth keine historische Persön­lichkeit sein kann und so weiter. Die beiden Bücher von der Christus-Mythe sind ja geschrieben, um den Nachweis zu führen, daß es sich nicht geschichtlich beweisen läßt, daß ein Jesus von Nazareth gelebt hat.

Dieses Mal setzt er, Drews, sich von einem merkwürdigen Stand­punkte aus mit dem Christus Jesus-Problem auseinander. Es ist im dritten Heft 1916/17, im Juni-Heft von «Die Tat» des Diederidischen Verlags, in dem Artikel «Die Stellung Jesu Christi in der deutschen Frömmigkeit». Nun konstruiert er einen merkwürdigen Begriff von deutscher Frömmigkeit. Ebenso geistreich, als wenn man einen Begriff konstruieren würde von der deutschen Sonne oder dem deutschen Mond. Denn diese Dinge sind ja nun wirklich so, daß, wenn man nach nationalen Differenzierungen von diesen Dingen spricht, man schon das Wort deutsche Frömmigkeit vergleichen kann mit dem unsinnigen Wort deutsche Sonne oder deutscher Mond. Aber diese Dinge finden ja heute ein großes Publikum. Und es ist interessant, wie nun Drews, der ja sonst nicht so sehr sich auf Eckart, Tauler, Jakob Böhme berufen würde, sich hier auf Fichte beruft, auf den er sich auch in philosophi­schen Dingen sonst nicht berufen würde, wie er anknüpft und etwas krebsen geht, mit dem Begriff deutsche Frömmigkeit und zu zeigen versucht, daß man aber eigentlich heute doch nur, insbesondere wenn man ein Deutscher ist, zu einem richtigen Jesus Christus-Begriff kommen könne, wenn man nicht auf dem Wege geschichtlicherBetrach­tung, geschichtlicher Theologie zu diesem Christus-Begriff kommt, son­dern durch dasjenige, was er deutsche Metaphysik nennt - Metaphy­sik! Da kann man, sagt Drews, überhaupt mit einem historischen Christus Jesus nicht rechnen; denn der kann von keiner Metaphysik aufgefunden werden.

Das hängt tief zusammen mit etwas, was ich Ihnen sagte in diesen Betrachtungen; ich habe Sie darauf aufmerksam gemacht, daß man in einer gewissen Beziehung überhaupt nur eine Gottes-Idee, den Vater-Gott finden könne, daß eigentlich bei Harnack der Christus gar nicht vorhanden, sondern nur hineingezerrt ist, daß eigentlich nur der Vater-Gott vorhanden ist. Denn man kann nicht durch bloße sogenannte

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innere Mystik etwas anderes finden als nur den einheitlichen Gott. Den Christus kann man nicht finden aus dem, was Tauler und Eckart haben; etwas anderes ist es bei Jakob Böhme, aber den Unterschied versteht der Drews nicht, da kann man, weil der Christus-Begriff da ist, ihn hereinnehmen. Ebensowenig kann man durch die Theologie des Adolf Harnack den Christus finden. Arthur Drews ist nur vom gegen­wärtigen Standpunkte aus, ein Stück ehrlicher. Er sucht den Christus und findet ihn nicht, weil man ihn nicht finden kann vom Standpunkte seiner Metaphysik, die sich nicht auf die geschichtlichen Tatsachen be­zieht - die, denken Sie, uns so weit führen, daß wir sogar das Alter des Christus Jesus im Mysterium von Golgatha begreifen -, weil Drews stehen bleiben will bei einer abstrakten Metaphysik, die man höchstens heute noch gelten läßt und bei der man den Christus nicht findet. Man kann ihn auch nicht finden, sondern ihn nur herbeizitieren in einer abstrakten Metaphysik. Eine Metaphysik wird einen Gott finden, wird theistisch sein, wenn sie nicht krank ist, aber sie kann nicht den Chri­stus finden. Das hängt mit dem zusammen, was ich Ihnen sagte: Atheist sein, den Gott nicht finden, ist eigentlich eine Krankheit, den Christus nicht finden, ist ein Unglück, den Geist nicht finden, ist eine Blindheit. Damit hängt das zusammen. So koinmt Drews dazu, sich zu sagen: Ja, das, was wir da finden, haben wir kein Recht, den Christus zu nennen, daher muß der Christus verschwinden. Jetzt konstruiert Drews - und er glaubt da so recht auf dem Boden der Gegenwart zu stehen, und steht auch darauf, insofern diese Gegenwart die Geisteswissenschaft ablehnt - und glaubt sagen zu können: Gerade diejenige Religion, die wir anstreben müssen, die auf Metaphysik begründet ist, kann, wenn sie ehrlich ist, den Christus-Begriff gar nicht haben. - Nun hören wir die Worte an, mit denen Drews den merkwürdigen Aufsatz schließt:

«Jede derartige geschichtliche Tradition» - er meint also eine ge­schichtliche Tradition, die den Christus geschichtlich überliefert nimmt -«aber ist ein Hindernis der Religion, und nicht eher wird das große Werk der Reformation, das Luther nur erst begonnen hat, zu Ende geführt sein, als bis das religiöse Bewußtsein auch mit den letzten Re­sten eines irgendwie gearteten Geschichtsglaubens aufgeräumt hat.»

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Geisteswissenschaft wird diesen geschichtlichen Glauben, wie ich schon öfter gesagt habe, aus dem Grunde herstellen, weil sie wirklich in kon­kreter Art zu den geistigen Entwickelungsimpulsen führt, die, ebenso wie die abstrakte Metaphysik den Gott, den konkreten Christus findet. Aber die Metaphysik, die die Gegenwart liebt, wenn sie überhaupt noch Metaphysik will, die kann nur zum einheitlichen Gott kommen. Da hat man kein Recht, zu unterscheiden zwischen dem Vater-Gott und dem Christus.

«Die Religion wird entweder eine Religion ohne Christus oder sie wird überhaupt nicht sein.»

Das ist tatsächlich dasjenige, was ich Ihnen öfter angedeutet habe. Es wird schon ausgesprochen, daß das Bewußtsein der Gegenwart den Christus wird wegmachen müssen, wenn es sich nicht geneigt erklärt, durch ein Ergreifen der geistigen Welt in konkreter Art, wie es die Geisteswissenschaft tut, diesen Christus wieder zu beleben. Er sagt weiter:

«Wo Gott und Mensch wesentlich eins sind» - denken Sie: uns wirft man vor, Gott und Mensch eins zu machen, aber die tun es gerade! -, «wo jeder Mensch seiner Anlage nach ein , d.h. Gottmensch ist, da ist für einen Jesus Christus keine Stelle. Man mag die von ihm berichteten Tatsachen zur Verdeutlichung und Veranschaulichung be­stimmter religiöser Vorgänge heranziehen, so wie die Mystiker dies getan haben; man mag sich auch der ihm zugeschriebenen Worte be­dienen, um die eigene Meinung zu beleuchten und zu beleben, aber dies nicht in einem anderen Sinne, als wie man sich der Worte und Taten jedes anderen hervorragenden Individuums bedient.»

Es ist allerdings merkwürdig, daß man da wiederum die Lüge pro­tegiert findet; auf der einen Seite wird bewiesen: «der Christus hat nicht gelebt», auf der anderen Seite: «man kann sich seiner bedienen zur Veranschaulichung». Dann sagt er weiter:

«Für einen historischen Erlösungsmittler hingegen, gar für einen Menschen Jesus, wie er in den Köpfen unserer liberalen Theologen spukt, hat die Religion der Gottmenschheit kei­nerlei Verwendung. Sie muß ihn ablehnen, weil sie für ihren Grund­gedanken der Gottmenschheit keines symbolischen Repräsentanten bedarf,

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ein solcher vielmehr ihre Anschauungen nur verwirren könnte. Sie muß ihn vor allem aber auch deshalb für überflüssig, ja schädlich erklären, weil er ein fremdartiges Element, die bei aller Erhabenheit doch einseitige und für uns in den Hauptpunkten unannehmbare evan­gelische Ethik, in die deutsche Religionsanschauung hineinbringt, die mit schuld ist an der Abwendung der heutigen vom Christentum, und deren Widerspruch gegen die von unserem eigenen Wesen uns aufer­legten Pflichten wir gerade gegenwärtig wieder so tief empfinden.»

Allerdings ein Satz aus dem ich nichts Rechtes machen kann. Wie zurechtkommen mit diesem Denken der Gegenwart? Das ist für den, der an wirklichkeitsgemäßes Denken sich hält, eine unerfindliche Sache. Nun geht es weiter:

«Was groß und bedeutend ist an den Evangelien, das bleibt der Menschheit unverloren, auch wenn es niemals einen Jesus gegeben haben sollte und seine Worte einen ganz anderen Ursprung haben sollten, als wie man dies bisher gemeint hat: unser Seelenheil können wir davon jedenfalls nicht abhängig sein lassen. Die Anerkennung Jesu als Heilsprinzip zieht nicht nur die ganze dualistische Metaphysik des palästinensischen Judentums nach sich, die mit dem modernen Geiste nun einmal unvereinbar ist, sie bindet auch zugleich die Religion an die Geschichtswissenschaft, liefert sie den schwankenden Meinungen des Tages aus und macht zweifelhaft historische Geschehnisse zum Beweisgrunde ewiger religiöser Innentatsachen! Die Religion der Gottmenschheit ist als solche eine Religion der eigensten tiefsten Innerlichkeit, eine Religion der Freiheit. So aber wird sie nicht eher ins Leben treten, als bis wir uns nicht bloß von jedem äußerlichen bisherigen Kirchentum und seinem Vermittleranspruch, sondern auch von Jesus Christus befreit haben. Denn, wie sagt doch Fichte? Die Meta­physik aber weiß nichts von einem Jesus Christus.»

Es wäre gut, wenn sich die Menschen bewußt würden, daß dasjenige, was moderne Bildung ohne Geisteswissenschaft ist, mit voller Berech­tigung zu dieser Konsequenz führt, denn das andere ist eine Halbheit und deshalb unwahrhaftig; man würde dann darauf kommen, daß Geisteswissenschaft wirklich nicht etwas ist, was wie willkürlich in die

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Gegenwart hineingetrieben wird, sondern was tatsächlich mit den tief­sten Anforderungen, den wahren Anforderungen der Gegenwart mit Bezug auf die Menschenseele, zusammenhängt.

Wir sind eben seit 1413 nach dem Mysterium von Golgatha in diesem fünften nachatlantischen Zeitraum drinnen, der noch fremder gewor­den ist durch die eigene menschliche Entwickelung der geistigen Welt. Wir können nicht anders, als von der Seele selbst aus, durch ureigene seelische Impulse, die nicht mehr das Körperliche hergibt, unseren An­schluß an das Geistige finden. Und weil die Menschen heute noch nicht so weit vom Christentum durchdrungen sind, daß sie die Notwendig­keit des seelischen Anschlusses an die Geisteswelt verspüren würden, deshalb verfallen sie in der Weise in die Abstraktion, wie ich es Ihnen geschildert habe. Deshalb sind alle Begriffe heute abstrakt geworden. Es ist wirklich etwas was zusammengehört, die Undiristlichkeit der Gegenwart und die Abstraktheit der Begriffe, die Unwirklichkeit der Begriffe. Unsere Begriffe werden unwirklich bleiben, wenn wir sie nicht wiederum zu verbinden wissen mit dem im Geiste lebendigen Christus, der sie uns ebenso lebendig machen kann, wie die alten indischen Patriarchen durch ihre Persönlichkeit das lebendig gemacht haben, was Recht und Gesetz war. Unsere Rechte und Gesetze sind heute selber abstrakt. Wenn man eine Brücke falsch baut, dann sieht man bald daran, wenn sie einstürzt, daß sie nach falschen Begriffen aufgebaut ist. Im sozialen Leben kann man quacksalbern, da weist sich dann das Quacksalbern erst an den Unglücken nach, die die Menschen in solchen Zeiten erleben müssen, wie in der unsrigen, und da hat man den Zusam­menhang nicht so schnell. Wenn eine Brücke einstürzt, dann gibt man dem Ingenieur die Schuld, der die Brücke gebaut hat; wenn Unglück über die Menschheit kommt durch Begriffe, die nicht in die Wirklich­keit eingreifen, dann gibt man allem möglichen Schuld, nur nicht dem Umstande, daß wir eben jetzt durch eine Krisis durchgehen, in der die Menschen die wahren Empfindungen für einen Begriff eben nicht mehr haben, der mit der Wirklichkeit verwandt ist, und einem Begriff, der wirklichkeitsfremd ist.

Ich möchte noch einmal jenes Beispiel brauchen aus der äußeren physischen Welt, damit Sie noch einmal vor Ihre Seele diesen Unterschied

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zwischen wirklichkeitsverwandten und wirklichkeitsfremden Be­griffen führen. Wenn Sie einen Kristall nehmen: der kann, wenn Sie ihn als Kristall denken, auch als Kristall bestehen; denn so entsteht er, so ist er wirklich. Bauen Sie sich also den Begriff eines sechsseitigen Prismas, geschlossen oben und unten von sechsseitigen Pyramiden auf, so haben Sie einen wirklichkeitsgemäßen Begriff von Quarz. Bauen Sie sich den Begriff einer Blume ohne Wurzel auf, so haben Sie einen un­wirklichen Begriff; denn eine Blume ohne Wurzel kann in der Wirk­lichkeit nicht leben. Für denjenigen, der nicht nach Wirklichkeit strebt, für den ist eine Blume, wenn sie am Stiele abgerissen ist, gerade so etwas Wirkliches, wie ein Quarzkristall. Aber das ist nicht wahr. Die Vorstellung einer Blume ohne Wurzel kann derjenige, der real denkt, überhaupt im Gedanken nicht vollziehen. Das müssen die Menschen erst wieder lernen, wirklichkeitsgemäße Begriffe zu bilden. Ein Baum, der ausgegraben ist, ist schon nicht mehr eine Wirklichkeit, wenn wir sie als Begriff bilden. Und wenn wir diese Empfindung haben, er sei eine Wirklichkeit, so ist es nicht richtig, denn er kann nicht leben, ohne in der Erde mit der Wurzel zu stecken; er dorrt ab, er kann nicht mehr im Leben sein. Da haben Sie den Unterschied!

Aber solches Denken kann nicht wirklichkeitsgemäße Begriffe bilden, sonst würde nicht jemand wie der Professor Dewar sagen, daß man ausdenken könne einen realen Endzustand der Erde, wo man mit Ei­weiß, das in bläulichem Lichte erstrahlt, die Wände bestreicht und so weiter; das alles kann nicht real sein. Das muß eine Denkgewohnheit werden, sonst kann man in die geistige Welt nur hineinphantasieren. Nur derjenige, der einen Begriff, dessen was lebendig und tot ist, bilden kann, der kann einen Begriff für die geistige Welt haben. Wer aber einen Baum ohne Wurzel oder eine geologische Schichte als real an­sieht - die ja auch nicht bestehen kann, ohne daß eine andere darunter, eine andere darüber liegt -, wer so denkt, wie die Geologen, die Phy­siker, namentlich die Biologen denken, wer einen Zahn für sich denkt, während doch ein Zahn nicht für sich bestehen kann, der denkt nicht real. Daher ist es heute so, daß unter den nicht der Geisteswissenschaft Ergebenen, für reale Begriffe nur noch bei der Künstlerschaft, aus­genommen die reinen Naturalisten, ein Verständnis dafür vorhanden

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ist, daß etwas von gewissen Gesichtspunkten aus real oder unreal ist, wenn etwas anderes nicht dabei ist und dergleichen.

Das ist aus der äußeren, physischen Welt entlehnt. Aber unter solchen unwirklichen Begriffen leidet heute alles, was Nationalökonomie ist, was Staatswissenschaft ist namentlich. Daher dieses Unmögliche der Staatswissenschaft, das ich Ihnen nachgewiesen habe an dem Buche von Kjelle'n: «Der Staat als Lebensform.» Wenn jemand ein solches Buch schreiben würde auf naturwissenschaftlichem Gebiete - Sie wissen, ich habe großen Respekt vor Kjellén -, wie dieses Buch «Der Staat als Lebensform», das heute so viel gelesen wird und in solchem Ansehen steht, der würde einfach ausgelacht. Man kann nicht über ein Kroko­dil so schreiben, wie über den Staat, weil kein einziger Begriff real gedacht ist, mit denen er sein Buch füllt.

Das ist aber das, was sich die Menschheit aneignen muß; dann wird sie namentlich unterscheiden lernen dasjenige, was fähig ist, in die so­ziale Ordnung hineinzugehen, und dasjenige, was unfähig ist, in die soziale Ordnung einzugehen. Denken Sie, wie notwendig wir es heute haben, über diejenigen Menschen, die auf russischem Boden leben, reale Vorstellungen zu gewinnen. Es ist merkwürdig, wie wenig sich die Menschen Mühe geben, über so etwas reale Vorstellungen zu bekom­men. Dasjenige, was heute die Menschen hier, oder sonst in West- oder Mitteleuropa über die Natur der russischen Bevölkerung denken, ist ganz ferne jeder Realität. Ich habe einen Aufsatz vor ein paar Tagen gelesen, da wird auseinandergesetzt: Die Russen sind zum Teil noch in der mittelalterlichen Mystik drinnen, sie haben jene Intellektualität nicht durchgemacht, welche im Westen und in Mitteleuropa seit dem Mittelalter gang und gäbe ist. Und es wird bemerklich gemacht, daß die Russen nun werden anfangen müssen, diese Intellektualität ebenso zu erreichen, die die andere europäische Bevölkerung nun glücklich er­reicht hat, weil der Betreffende keine Ahnung hat, daß der ganze russische Charakter ein durchaus anderer ist.

Reale Dinge zu studieren fällt den Menschen heute gar nicht ein. Wo reale Dinge auftreten, da empfinden die Menschen heute gar nichts mehr Rechtes. Einer unserer Freunde hat versucht, dasjenige zusam­menzubinden, was ich in meinen Büchern über Goethe geschrieben

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habe, mit dem, was ich einmal hier vorgetragen habe über den mensch­lichen und kosmischen Gedanken. Er hat ein russisches Buch daraus ge­macht, ein merkwürdiges russisches Buch. Das Buch ist schon erschie­nen. Ich bin überzeugt davon, es wird in Rußland von einer gewissen Schichte der Bevölkerung außerordentlich viel gelesen werden. Würde es ins Deutsche übersetzt werden oder in andere europäische Sprachen, so würden es die Leute sterbenslangweilig finden, weil sie keinen Sinn haben für die fein ausziselierten Begriffe, für die wunderbare Filigran­arbeit der Begriffe, möchte ich sagen, die da gerade in diesem Buche auffällt. Es ist dieses ganz merkwürdig, daß im russischen Charakter, wie er sich entwickeln wird, etwas ganz anderes auftreten wird als im übrigen Europa, daß da nicht wie im übrigen Europa Mystik und Intellektualität getrennt leben werden, sondern eine mystische Natur sich ausleben wird, die selbst intellektualistisch wirkt, und eine In­tellektualität, die nicht ohne mystische Grundlage bleibt, daß da etwas ganz Neues heraufkommt: eine Intellektualität, die zugleich Mystik ist, eine Mystik, die zugleich Intellektualität ist, aber schon so gewach­sen, wenn ich mich so ausdrücken darf. Dafür ist nicht das geringste Verständnis vorhanden, und doch ist das dasjenige, was in diesem östlichen Chaos jetzt aber noch ganz verborgen lebt, denn es wird erst in dieser Eigenart, die ich nur in ein paar Strichen angedeutet habe, sich ausleben. Aber um diese Dinge zu verstehen, muß man eben das Gefühl haben für die Realität der Vorstellungen; für die Wirklichkeit der Ideen. Das ist aber heute so notwendig wie nur irgend etwas, daß man sich diese Empfindung, dieses Gefühl für die Wirklichkeit der Ideen aneignet, sonst wird man immer wieder und wiederum abstrakte politische Programmpunkte, schöne politische Reden halten für etwas, was wirklich schöpferisch sein könnte, während es nicht wirklich schöp­ferisch sein kann. Man wird keine Empfindung gewinnen können für diejenigen Punkte in der Geschichte, die sehr lehrreich sein konnten, in denen, wenn man sie wirklich verfolgt, ein Etwas auftritt, was auch für die Gegenwart außerordentlich lehrreich sein könnte.

Ein Beispiel dafür will ich Ihnen anführen, das sehr charakteristisch ist. Für denjenigen, der an den Rätseln der Gegenwart, ich möchte sagen, sich abplagt, taucht immer wieder und wiederum die Mitte

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des achtzehnten Jahrhunderts, namentlich die sechziger Jahre des acht­zehnten Jahrhunderts auf; denn da sind auch merkwürdige europäische Entwickelungsimpulse, die, wenn man versucht, sie zu verstehen, für die Gegenwart sehr lehrreich sind. Sie wissen, in der damaligen Zeit war die europäische Konstellation so - es war ja die Zeit während des Siebenjährigen Krieges -, daß England und Frankreich tief zerfallen waren, namentlich wegen der nordamerikanischen Verhältnisse, daß England mit Preußen im Bündnisse war, Frankreich auf der anderen Seite mit Österreich im Bündnisse war, und daß, solange die russische Zarin Elisabeth herrschte, in Rußland eine absolut feindliche Stim­mung gegen Preußen war, so daß man schon sprechen kann von einem Bündnis zwischen Rußland, Frankreich und Österreich gegen Preußen und England. Das hatte Verhältnisse heraufgeführt, die gewiß, man kann sagen, gegen die heutigen etwas sind wie eine Sache en miniature, die aber für die damalige Zeit etwas sehr ähnliches darboten an euro­päischem Chaos. Und insbesondere der Anfang der sechziger Jahre -wenn Sie eingehen auf die Verhältnisse - ist unserem Jahr 1917 ja gar nicht so unähnlich. Nun ist das Merkwürdige, daß ich da das Folgende erwähnen möchte: Am 5. Januar, glaube ich, war es, da war die Zarin Elisabeth gestorben; wie die Historiker sagen: Sie hatte ihr nur selten nüchternes Leben beendet, denn sie war den größten Teil ihres Lebens betrunken, so erzählt die Geschichte. Die Zarin Elisabeth war gestor­ben. Und ihr Schwestersohn stand damals vor den dazu Befugten, um die Zarenkrone sich aufs Haupt setzen zu lassen. Eine merkwür­dige Persönlichkeit, die da stand am 5. Januar 1762 zur feierlichen Übernahme der Zarenwürde in der hohen Auszeichnung des Preo­brashenskischen Regimentes, mit der grünen Jacke, dem roten Kragen und roten Aufschlägen, der strohgelben Weste, strohgelben Hosen, mit Gamaschen, die über die Knie hinaufgingen, weil er schon als Großfürst sich daran gewöhnt hatte, niemals die Knie zu beugen, wenn er ging, sondern mit steifen Knien zu gehen schien ihm würde-voller, mit langem Zopf, zwei gepuderten Rollen, einem Hut mit umgebogener Krempe und einem richtigen Knotenstock, den er als sein Symbol trug. Sie wissen, daß Katharina seine Gemahlin war. Er übernahm die Zarenkrone. Und er wird von der Geschichte geschildert

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so mehr als ein unreif gebliebener junger Mann. Es ist außerordentlich schwierig zu prüfen, was das eigentlich für eine Persönlichkeit war. Höchst wahrscheinlich war er wirklich eine ganz unreife, fast schwach­sinnige Persönlichkeit. Der trat also die Zarenwürde an in einem be­deutungsvollsten Momente der europäischen Entwickelung. Neben ihm lebte jene Frau, die schon als siebenjähriges Mädchen in ihr Tagebuch geschrieben hatte, daß sie nichts sehnlicher wünschte, als die unab­hängige Herrscherin der Russen zu werden, deren Traum es war, Selbstherrscherin zu sein, deren Stolz es gewesen zu sein scheint, daß sie niemals nötig hatte, unter ihrer unmittelbaren Nachkommenschaft ein echtes Kind ihres Zarenmannes zu haben. Nun, die Situation war dazumal so, daß lange Krieg war, und die Völker sich alle nach Frie­den sehnten oder wenigstens so fühlten, als ob der Friede zum Segen gereichen würde, aber man ihn nicht haben könnte.

Da erschien schon im Februar, nachdem der, wie es heißt, schwach­sinnige Peter III. den Zarenthron bestiegen hatte, ein russisches Mani­fest an die anderen Mächte Europas. Das ist merkwürdig. Deshalb will ich es Ihnen in der Übersetzung wörtlich vorlesen. Dieses Mani­fest ging nämlich an die Gesandten Österreichs, Frankreichs, Schwe­dens und Sachsens; Kursachsen war damals mit Polen vereinigt:

«Seine Kaiserliche Majestät, welche bei der glücklichen Besteigung des Throns Ihrer Vorfahren es als Ihre erste Schuldigkeit betrachten, das Wohl Ihrer Untertanen zu erweitern und zu vermehren, sehen mit dem äußersten Leidwesen, daß das gegenwärtige, seit sechs Jahren dauernde Kriegsfeuer, welches allen darinnen begriffenen Mächten schon lange beschwerlich fällt, statt seinem Ende sich zu nähern, zum großen Unglück aller Nationen je länger je weiter um sich greift, und daß das menschliche Geschlecht durch diese Plage desto mehr leiden muß, da das Schicksal der Waffen, das bis zur Stunde so vieler Un­gewißheit unterworfen gewesen, solches nicht weniger für die Zukunft ist. Da Seine Kaiserliche Majestät bei solchen Umständen aus Gefühl der Menschlichkeit mit der unnützen Vergießung unschuldigen Blutes Mitleid tragen und Dero Seits einem solchen Übel Einhalt tun wollen, so finden Sie nötig, den Alliierten von Rußland zu deklarieren, daß, indem Sie das erste Gesetz, das Gott den Souverainen vorschreibt,

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nämlich die Erhaltung der ihnen anvertrauten Völker, allen Betrach­tungen vorziehen, Sie wünschen, Dero Reichen den Frieden zu ver­schaffen, der denselben so nötig und so kostbar ist, und zu gleicher Zeit so viel als möglich dazu beizutragen, daß solcher in dem ganzen Europa hergestellt werde. In dieser Absicht sind Seine Majestät bereit, die in diesem Kriege durch die Russischen Waffen gemachten Eroberungen auf­zuopfern, in der Hoffnung, daß sämtliche alliierte Höfe Ihrerseits die Rückkehr der Ruhe und des Friedens den Vorteilen vorziehen werden, die Sie von dem Kriege erwarten könnten und die nicht anders als durch weiteres Vergießen von Menschenblut zu erhalten sind. Um deswillen raten Seine Kaiserliche Majestät Ihnen in der besten Gesinnung, Ihrer­seits zur Vollendung eines so großen und heilsamen Werkes alle Ihre Kräfte aufzuwenden. St. Petersburg, den 23. Februar 1762.»

Ich möchte fragen: Wird man heute ein richtiges Gefühl dafür haben, daß dieses Manifest so konkret wie möglich ist, daß es unmittelbar wirklichkeitsgeboren ist? Das muß man empfinden! Ein unmittelbar aus der Wirklichkeit heraus empfundenes Manifest. Wenn man die Noten liest, die auf dieses Manifest geliefert wurden, dann liest man Deklarationen, welche ungefähr den Stil haben, den die letzten En­tente-Noten, insbesondere die Note jenes Woodrow Wilson hatten, die auch wieder die neueste Note Woodrow Wilsons hat, die ich Ihnen ja auf ihre Art charakterisiert habe. Alles abstrakt, abstrakt, abstrakt! Alles nichts von Wirklichkeit! Doch da, wo man am 23. Februar 1762 neuen Stils dies geschrieben hat, was ich eben vorgelesen habe, da wal­tete irgend etwas ganz Merkwürdiges, trotzdem der Zar so dastand, wie ich es eben geschildert habe, etwas ganz Merkwürdiges; da muß irgendeine Macht dahinter gewesen sein, die so etwas machen konnte, die Sinn für die Wirklichkeit hatte. Denn nachdem die anderen ab­strakten Deklarationen entgegengekommen waren, die alle solche Dinge enthielten - man nennt sie heute «annexionslosen Frieden», «Volker-freiheit» und wie die Abstraktionen alle heißen -, nachdem alle diese Deklarationen wiederum Rußland erreicht hatten, da ging wiederum von Peter, dem Schwachsinnigen, eine Antwort aus, die der russische Gesandte, Fürst Gallitzin, am Wiener Hofe am 9. April überreichte. Hören Sie diese Deklaration an! In der heißt es:

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«Die schon von Kaiser Peters I. Zeiten her zwischen den kaiserlich russischen und königlich preußischen Höfen gepflogene Freundschaft hat in den letzten Jahren durch bloß zufällige Vorfälle und Verände­rungen im System Europas eine Erschütterung erlitten. Da nun aber der dadurch ausgebrochene Krieg weder ewig dauern kann, noch die durch einen solchen erlangten Vorteile die Freundschaft einer Macht hintan­zusetzen vermöchten, die so viele Jahre hindurch ein nützlicher Bundes-genosse gewesen und noch künftig sein kann, so haben Seine Russisch-Kaiserliche Majestät sich vorgesetzt, mit dem Könige von Preußen nicht allein einen dauerhaften Frieden, sondern auch nach Erforderung Ihres Interesses annoch einen weitern Allianz-Traktat zu schließen.»

Und nun, bitte, hören Sie das ungeheuer Geniale, das jetzt kommt:

«Die Ursachen, die Seine Russisch-Kaiserliche Majestät haben, solches zu beschleunigen, bedürfen keiner weitläufigen Erklärung, indem leicht zu erweisen ist, daß man einen so allgemeinen Frieden, wie der west­fälische gewesen, von den unendlichen Veränderungen der Waffen und den so unterschiedenen Absichten nicht zu erwarten hat und derselbe nicht dauerhaft sein kann. Bei dem Westfälischen Frieden haben einem jeden die schon erworbenen Besitzungen versichert werden müssen; jetzt aber kommt es auf Prätentionen an, die erst aus dem Kriege ent­standen und nicht wohl zu vereinbaren sind, da man, zumal zu An­fang des Krieges, darauf bedacht gewesen, mehr Mächte in denselben hineinzuziehen, als daß man überlegte, wo die vielen so eilfertig er­richteten Traktaten und Verbindungen hinausgehen würden. »

Man kann sich ein genialeres Regierungsdokument nicht denken. Denken Sie, wenn es jetzt jemand einsehen könnte, daß es auf Präten­tionen ankommt, die erst in diesem Kriege entstanden sind!

«Der Russisch-Kaiserliche Hof hat allein jederzeit auf der Notwen­digkeit bestanden, die voneinander so unterschiedenen Interessen und Forderungen erst zu vereinbaren, ehe ein Generalkongreß angestellt würde. Der Wienerische Hof schien solches zu begreifen, weshalb er, doch ohne jemals auf die Kaiserlich-Russischen Gesinnungen direkt zu antworten, sich nur kurz auf die zu seinem Vorteil genommene Abrede berief, und indem er die andern Forderungen mit Stillschweigen über-ging, alles vom möglichen Glücke der Waffen erwartete...

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Der seither zwischen England und Spanien hinzugekommene Krieg vermehrt das allgemeine Elend und beut kein Mittel, den Krieg in Deutschland zu hemmen, wenn auch England zur See alles anwendet. Schweden, das ohne Nutzen und Hoffnung, ja mit Verlust seines eige­nen Ruhmes, erschöpft, scheint weder den Krieg fortzusetzen noch endigen zu dürfen. Da nun alle an dem gegenwärtigen Kriege teil­habenden Höfe nur abzuwarten schienen, wer den ersten und entschei­dendsten Schritt zur Herstellung des Friedens tun würde, und Seine Russisch-Kaiserliche Majestät jetzo dazu aus warmem Erbarmen und in Erwägung der Gefälligkeiten, die Ihr von des Königs von Preußen Majestät bezeigt wurden, allein imstande wäre, so kommt Ihr auch zu, gedachten Schritt um so eher zu tun, als Sie solche Gesinnungen gleich beim Antritt Ihrer Regierung unterm 23. Februar allen Höfen eröffnet haben.»

Der Friede kam zustande, und zwar infolge desjenigen, was durch dieses konkrete, reale Dokument eingeleitet worden ist. Aber man muß sich eine Empfindung erwerben für dasjenige, was uns die Ge­schichte überliefert, eine Empfindung für Ideen und Vorstellungen er­werben, die unmöglich in die Realität eingreifen können, und solche Ideen und Vorstellungen, die tief aus der Wirklichkeit heraus entlehnt sind, daher auch die Wirklichkeit tragen k~nnen. Man soll daher nicht glauben, daß Worte immer nur Worte sind; Worte können auch Taten sein, aber sie müssen wirklichkeitsgetragen sein. Man muß sich eben überzeugen, daß wir in der Gegenwart durch eine Krisis hindurch-gehen, daß wir in einer neuen Weise den Anschluß an die Wirklichkeit finden müssen. Daher erscheinen einem heute die Menschen so wirk­lichkeitsfremd. Wir sehen es ja auf Schritt und Tritt. Lassen Sie mich ein kleines Beispiel anführen: Heute wird dadurch so viel Unwahr­haftiges gehört und in die Tat umgesetzt, weil die Menschen wirklich­keitsfremd geworden sind und daher auch nicht den Sinn haben für die richtige Anführung und Auffassung der Tatsachen. Es ist sehr wich­tig, auch die heutige Unwahrhaftigkeit in Zusammenhang mit der Krisis zu bringen, durch die wir durchgehen. Nehmen Sie ein nahe­liegendes kleines Beispiel. Da erscheint eine kleine Zeitschrift, sie nennt sich: «Der unsichtbare Tempel», also selbstverständlich eine Zeitschrift,

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in welcher die abstrakten Mystlinge - ich will sagen Mystiker - etwas Tiefes zu finden gedenken. Der unsichtbare Tempel - tief, tief! «Mo­natsschrift zur Sammlung der Geister.» Nun, ich will auf die Sache nicht weiter eingehen; aber da wird in einem Heft auch über Monisten und Theosophen gesprochen. Verschiedenes recht Törichtes wird gesagt. Dann aber kommt ein merkwürdiger Satz, den ich Ihnen vorlesen will, denn diese Zeitschrift ist ja das äußere Organ einer Gesellschaft, die heute unter Horneffers Führung den Anspruch macht, die Welt zu erneuern:

«So verschieden die Richtung der Monisten von der der Theosophen ist, und so eifrig sie sich gegenseitig bekämpfen und verachten, so sind sie sich doch in dem einen Punkte merkwürdig ähnlich, daß sie das Wort Wissenschaft gleichsam für sich mit Beschlag belegen. Was sie selber treiben, ist wahre, reine Wissenschaft; was andere Leute treiben, ist Schein- und Afterwissenschaft. So bei Haeckel und so bei Rudolf Steiner zu lesen.»

Nun bitte ich Sie, nehmen Sie alles dasjenige, was ich jemals geschrie­ben und gesagt habe, und versuchen Sie das zu finden, wovon hier behauptet wird, daß es bei mir zu lesen ist. Aber wie viele Leute sind heute bereit, in diesen Fällen das Kind beim rechten Namen zu nennen:

es ist verlogen, eine ganz gewöhnliche Lüge! Das muß man aber auch einsehen. Man muß das Kind beim rechten Namen nennen. Nicht wahr, daß schließlich Horneffer, dem ich einstmals, als er Nietzsche-Heraus­geber war, nachweisen mußte, daß er nicht eine Spur von Nietzsche­Verständnis hat, und das törichteste Zeug zusammengeschrieben und auch herausgegeben hat als Nietzsche-Herausgeber, daß der schließlich solche Dinge schreibt, kann man verstehen, aber solche Dinge werden im Ernste genommen. Daher ist es möglich, daß heute das schlimmste, dümmste Gauklertum mit dem ernsten Bestreben der Geisteswissen­schaft verwechselt und zusammengeworfen wird, und daß vor allen Dingen die Lügen nicht Lügen genannt werden, was das Richtige wäre.

Nun, das muß eben gelernt werden, daß ein neuer Anschluß an die Wirklichkeit gefunden werden muß. Denn was ist das letzte, was geblieben ist aus jener alten Zeit der ersten nachatlantischen Kultur-periode, wo die Patriarchen in den fünfziger Jahren das Geistige durch

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naturgemäße Entwickelung in sich aufgenommen haben? Was ist ge­blieben durch die Griechenzeit hindurch bis in unsere Zeit herein? Geblieben ist von alledem dasjenige, was wir die Genies nennen. Da ist noch gewissermaßen eine Abhängigkeit von der Natur, wenn die genialen Fähigkeiten auftreten. Diejenigen Genies, die die fünfte Kul­turperiode hat, werden die letzten Genies unserer Erdenentwickelung sein. Genies wird es in Zukunft nicht mehr geben. Das ist wichtig zu wissen. Jene Genialität, die eine Naturgabe ist, die hört auf - man muß sich schon ungeschminkt der Wirklichkeit gegenüberstellen -, da­für muß die erarbeitete Genialität eintreten, jene Genialität, welche mit einer lebendigen Verbindung des Menschen mit der sich offenbaren-den Geistigkeit von außen zusammenhängen muß. Es ist ungeheuer interessant, wenn man die Tatsachen in diesem Zusammenhang einmal sich vor die Seele stellt.

In unserer Zeit treten Menschen auf, die sehr häufig auf dem einen oder anderen Gebiet das sehen, worauf es ankommt, wie das bei Robert Scheu der Fall ist, auf den ich hier vor vierzehn Tagen aufmerksam gemacht habe. Aber es fehlt ihnen die Möglichkeit, das in einem großen Zusammenhang drinnen zu sehen, wirklich in einen Zusammenhang mit der ganzen Weltenentwickelung hineinzustellen.

Nun ist ja wirklich ein sehr interessanter Mensch jener Psychologe gewesen, der jetzt im März 1917 gestorben ist; ich habe schon auf den Namen hingewiesen, Franz Brentano. Nicht nur daß er der bedeu­tendste Aristoteles-Kenner der Gegenwart war, sondern er war über­haupt für die Denkweise der Gegenwart ganz charakteristisch. Ich habe Sie aufmerksam gemacht: er hat eine Seelenkunde zu schreiben begon­nen. Im Jahre 1874 erschien der erste Band, der zweite sollte im Herbst erscheinen, und es sollten noch mehrere Bände nachfolgen. Nichts er­schien mehr, nicht im Herbst der zweite Band, nicht die folgenden Bände. Ich habe die Überzeugung - und nicht aus etwas anderem heraus, als aus einer gründlichen Kenntnis Franz Brentanos, denn ich kenne so-wohl Franz Brentanos persönliche Art vorzutragen, von Wien her; ich kann mich kaum entschlagen, doch zu sagen, daß es kaum irgend­eine gedruckte Zeile von Brentano gibt, die ich nicht gelesen habe, ich kenne seine ganze Entwickelung, ich kann mir daher schon eine Überzeugung

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bilden; sie besteht darin, daß Brentano als ehrlicher Mann einfach die folgenden Bände nicht erscheinen lassen konnte. Denn er läßt schon im ersten Bande merken, daß er auf eine Anschauung über die Unsterblichkeit der Seele hinarbeitet. Das drückt er klar aus. Aber er konnte nicht ohne Geisteswissenschaft, die er nicht haben wollte -die Geisteswissenschaft schloß er aus, die wollte er nicht haben -, ohne Geisteswissenschaft konnte er nicht über den ersten Band hinauskom­men, viel weniger bis zum fünften Band, wo er die Unsterblichkeit der Seele beweisen wollte. Er schloß die Geisteswissenschaft aus. Er ist ja gerade der Erfinder dessen, was so viele Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt hat: «Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est.» «Die wahre Geisteswissenschaft hat keine andere Forschungsart als die Naturwissenschaft.» Diesen Satz hat er aufgestellt als eine Dozententhese bei seinem Antritte im Jahre 1866, wo er aus dem Dominikanerorden ausgetreten ist und in Würzburg Professor wurde. Philosophie war dazumal schon ganz verachtet. Als er das erste Mal in den Hörsaal kam, wo ein Anhänger Baaders bis dahin gelehrt hatte, da war angeschrieben im Hörsaal: Schwefelfabrik.

Nun war er ein geistreicher Mann, er kam so weit als man kommen konnte mit der These, die ich eben angeführt habe, aber er konnte nicht hineinkommen in die Geisteswissenschaft. Daher blieb es beim ersten Band. Was er später geschrieben hat, sind einzelne Fragmente. Aber eine Abhandlung von ihm ist außerordentlich interessant. Diese Abhandlung ist die Wiedergabe eines Vortrages, den er gehalten hat. Und Franz Brentano war ein feiner Beobachter; er war kein Mensch, der aufsteigen konnte von der Beobachtung der äußeren Welt zum Geistigen, aber er war ein feiner Beobachter. Und diese Abhandlung, die ich jetzt meine, ist eigentlich die Bekämpfung der Idee vom Genie. Sie heißt: «Das Genie». Aber es wird darin eigentlich bekämpft die Möglichkeit, daß aus irgendwelchen unterbewußten Grundlagen heraus das kommt, was Genie ist. Es wird dargestellt, daß dasjenige, was sich als Genie auslebt, sich im wesentlichen auf eine schnellere, überschau­endere Behandlung der Welt stützt, als sie vom gewöhnlichen Menschen angestrebt und erreicht wird. Sehr interessant ist diese Abhandlung; denn obwohl Brentano keine Geisteswissenschaft erringen konnte: er

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war ein feiner Beobachter und konnte eigentlich in dem Beobachten des wirklichen Lebens der Gegenwart den Genie-Begriff nicht mehr finden. Er war ehrlich genug, den Genie-Gedanken zu bekämpfen.

Solche Dinge erscheinen einem geradezu als Rätsel, wenn man nicht auf die tieferen Grundlagen der Menschheitsentwickelung eingeht, wenn man nicht weiß, daß dasjenige, was das Genie in der Zukunft er­setzen wird, darinnen bestehen wird, daß gewisse Menschen sich dazu finden werden, die in einer anderen Weise als es in alten Zeiten der Fall war, Umgang haben werden mit der geistigen Welt. Und weil sie das haben werden, werden sie aus der geistigen Welt die Impulse be­kommen> die sich dann in dem äußern, was in der Zukunft äquivalent ist mit demjenigen, was in der Vergangenheit von Genies geschaffen worden ist. So weit geht der Entwickelungsgedanke: Es ist alles, alles anders gewesen in alten Zeiten, es wird alles anders sein in Zukurifts­zeiten. - Ich weiß sehr wohl, wie einen heute noch die Leute auslachen, wenn man solche Dinge sagt, aber die Dinge sind eben der konkreten Betrachtung der Wirklichkeit entnommen, während man sich heute in Begriffe verliebt. Es hat sich zum Beispiel einer den Begriff gebildet: Für gewisse Krankheiten ist Bewegung gut. Dagegen ist nichts einzu­wenden. Dann kommt aber einer zu ihm, der ihm über Krankheit klagt, und er findet, daß das die Zustände sind, für die Bewegung gut ist. Er rät dem Kranken, sich viel Bewegung zu machen, der sagt ihm aber: Sie verzeihen, Sie vergessen wohl, daß ich Briefträger bin! - Die Be­griffe sind eben nicht real, wenn man nicht weiß, daß sie nur Instru­mente für die Wirklichkeit sind, wenn man nicht weiß, daß man nie dogmatisieren darf. - Ich sagte ja, ebenso gilt auch der Begriff nicht: Der Tüchtigste an der richtigen Stelle, wenn man nachher überzeugt ist, daß der Neffe oder der Schwiegersohn der tüchtigste Mann ist. Auf die Wirklichkeit kommt es an, nicht auf Begriffe, in die man sich ver­liebt. Diese Empfindung muß man erhalten, sonst wird man nichts lernen aus der Geschichte, auch nichts aus der Wirklichkeit der Gegen-wart, und sonst wird man auch nicht zu einer Möglichkeit kommen, den Christus Jesus wieder zu finden.

An diese Betrachtung wollen wir heute in acht Tagen anknüpfen.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 26. Juni 1917

Ich werde heute episodisch unserer fortlaufenden Betrachtung einiges einzufügen haben, hervorgerufen zum Teil durch Zeiterscheinungen und auch durch das Verhältnis unserer anthroposophischen Bewegung zu den Gedanken und Beurteilungsweisen der Zeit.

Zunächst möchte ich über eine Zeitbestrebung sprechen, die von einem gewissen Gesichtspunkte aus für uns ganz interessant sein kann. Ich habe Ihnen öfter gesagt im Verlaufe unserer anthroposophischen Betrachtungen den Namen des Naturforschers - und speziell ist er Kriminalanthropologe - Moritz Benedikt; allein er dehnte das Gebiet seiner naturwissenschaftlichen Betrachtungen auf die verschiedensten Erscheinungen aus. In der letzten Zeit hat er sich namentlich beschäf­tigt, intensiv und eingehend beschäftigt mit wissenschaftlichen Ver­suchen über die sogenannte Rutengängerei. Die Rutengängerei hat ja auch durch die Verhältnisse dieses Krieges eine gewisse Bedeutung gewonnen. Sie wissen, die Rutengängerei beruht im wesentlichen dar­auf, daß mit einer bestimmt geformten, gabelförmigen Rute aus einem bestimmten Baummaterial, Haselnußstaude zum Beispiel, die in einer bestimmten Weise entweder mit Untergriff oder Obergriff gehalten wird, mit ihren beiden Gabelungen durch das Ausschlagen der Rute gefunden werden kann dasjenige, was sich im Boden befindet, teilweise an Metallschätzen, teilweise aber auch, was sich im Boden befindet namentlich an Quellen, an Wasser und dergleichen. - Nun, Moritz Benedikt, der durchaus kein Phantast ist, weit entfernt ist, Phantast zu sein, der im Gegenteil zu denjenigen gehört, die alles das, was wir Anthroposophie nennen, scharf abweisen würde, er ist ganz und gar in der letzten Zeit mit seinen Forschungen, zum Teil mitveranlaßt durch die kriegerischen Operationen in bestimmten Gegenden, auf diese Ruten­gängerei ausgegangen. Dabei hat er versucht, der Sache gewissermaßen eine rationelle Grundlage zu geben. Er hat mit Personen, die er «dunkel-angepaßte» nennt, experimentiert. Ich werde gleich nachher sagen, war­um er festzustellen versucht, daß eigentlich jeder Mensch ein asymmetrisches,

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ein zweigliedriges Wesen ist, daß also der Mensch links von sei­ner Symmetrielinie ein anderes Wesen ist als rechts von seiner Symme­trielinie. Diese Verschiedenheit von links und rechts ist eben nicht nur eine Verschiedenheit, sondern sie ist sogar eine Polarität. In gewisser Beziehung sind Kräfte vorhanden in der linken und rechten Körper-hälfte, welche so entgegengesetzt wirken, wie positiver und negativer Magnetismus und positive und negative Elektrizität, ähnlich wie posi­tive und negative sich zueinander verhaltende Kräfteimpulse.

Nun fand Moritz Benedikt, daß, wenn der Mensch eine Rute in die Hand nimmt, die beiden Gabeln in die Hand nimmt, dann das Kräfte-massiv der linken Seite und das Kräftemassiv der rechten Seite sich vereinigen, wie er sagt: einen gemeinsamen Emanationsstrom bilden, also ineinander übergehen. Wenn nun, sagen wir, ein Mensch, der im besonderen stark durchsetzt ist von solchen Kräften, die dabei eben in Betracht kommen, über eine Bodenfläche geht, unter der im Innern ein Wasser ist, so verändern sich seine Kräfte links und rechts. Das heißt, das Wasser, das seinerseits eine Ausströmung nach oben hat, strömt in die Kräfte des Menschen ein, und dadurch verändert sich sein Kräfte-massiv. Interessant ist, daß Moritz Benedikt, der selber Arzt ist, ge­funden hat, daß besonders empfängliche Personen einfach, wenn sie über eine Stelle gehen, unter der eine Quelle ist, oder namentlich eine Stelle, unter der eine bestimmte Metallader oder dergleichen ist, bis zum Krankwerden beeinflußt werden können. So daß einfach manche Zustände, von denen Benedikt, der selber Arzt ist, findet, daß die Ärzte nicht viel mehr wissen als den Namen davon, daß gewisse Zu­stände, wie Melancholie, Hypochondrie, Hysterie, die zusammenge­worfen werden, bei gewissen Persönlichkeiten dadurch hervorgerufen werden können, daß eine solche Person über eine Fläche geht, unter der eine entsprechende Quelle ist, aber sie beachtet das nicht, sie weiß das vielleicht nicht. Wenn sie sich aber der Rute bedient, so wird sie nicht krank. Dadurch, daß die Rute die beiden Kraftströme mitein­ander vereinigt und ausschlägt, wird die Kraft, die sonst zur Erkran­kung irgendeines Körperteiles hätte führen können, abgeleitet. So daß man es also im wesentlichen zu tun hat mit einer Ableitung von Strö­mungen im Organismus durch die in den Händen befindliche Rute.

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Die Rute ist also ein Zweig, der einen Stock hat und dann sich gabelt, wie sich Aste gabeln; das wird so geschnitten, und an den beiden Gabel­stangen hält man ihn.

Nun, auf welche Weise stellt denn der Professor Benedikt das alles fest? Das ist jetzt die Frage. Er stellt es fest mit Hilfe gewisser Per­sonen, die er «dunkel-angepaßt» nennt. Was macht er da? Er hat sich namentlich zweier solcher «dunkel-angepaßter» Personen bedient, die imstande sind, wenn sie in der Dunkelkammer, also im verfinsterten Zimmer sitzen, diejenigen Personen, bei denen die Rute ausschlägt, zu beobachten. «Dunkel-angepaßt» nennt er seine Mitgehilfen, seine Ex­perimentatoren; er nennt sie deshalb so, weil sie, wenn sie im Finstern Menschen beobachten, Farben sehen und dergleichen. Und dieses Im­Finstern-Farben-Sehen führt dazu, unterscheiden zu können, daß die Farben, die am Menschen zu sehen sind, links verschieden sind von den Farben, welche rechts zu sehen sind. Da sich nun klärlich ergibt, daß diese Farben, die da in der Dunkelkammer, wo man den gewöhnlichen physischen Anblick nicht hat - so weit wird die Kammer verdunkelt -, die äußere Erscheinung für das ist, was Benedikt Emanation nennt, was wir die tiefste physische Aura nennen würden, so kann Professor Benedikt mit Hilfe solcher Personen, die er «dunkel-angepaßte» nennt, einfach prüfen, wie der Mensch asymmetrisch ist, links andere Farben zeigt als rechts, wie sich das ganze Farbenbild verändert, wenn der Mensch nun die Rute in die Hand nimmt und im Laboratorium aus­gesetzt wird. Man braucht nicht irgendeine Quelle zu haben, sondern man kann ein kleines Wasserbassin oder ein Stück Metall haben; das geht geradesogut. Man kann in der Dunkelkammer nachweisen, worauf die Wirkung der Rute beruht. Es ist interessant, einige Stellen der neuesten Publikation von Professor Benedikt sich einmal anzusehen. Er sagt:

«Es gibt, wenn auch eine relativ geringe Anzahl von Menschen, die sind. Ein relativ größerer Teil dieser Minorität sieht in der Dunkelheit sehr viele Objekte leuchtend, ohne Farben, und nur relativ sehr wenige sehen die Objekte auch gefärbt, Reichenbach hat schon den Ausspruch getan, daß jeder Mensch eine große Hülle leuch­tender Substanz (Emanationen) mit sich herumschleppt.

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Die farblosen und farbigen Leuchterscheinungen sind seitdem auch von mir vielfach durch kritische Beobachtung erprobt. Eine größere Zahl Gelehrter und Arzte wurden in meiner Dunkelkammer von meinen zwei klassischen , Herrn Ingenieur Josef P6ra und der Beamtin Fräulein Hedwig Kaindl, untersucht, und es konnte den von denselben Untersuchten kein gerechter Zweifel an der Richtigkeit der Beobachtung und Schilderung zurückbleiben. Die Herren haben sich überzeugt, daß die genannten Dunkel-angepaßten die unerwartet Anwesenden sahen, alle Teile des Körpers bezeichneten und ihre Emanationsfarbe bestimmten.

Farbenwahrnehmende Dunkel-angepaßte sehen nur an der Vorder­seite die Stirne und den Scheitel blau, die übrige Hälfte ebenfalls blau und die linke rot oder mancher, wie zum Beispiel Herr Ingenieur P6ra, orangegelb. Rückwärts findet dieselbe Teilung und dieselbe Färbung statt.»

«Ich will hier anführen, daß eine geschlossene elektrische Batterie in der Dunkelkammer an der Anode rot, an der Kathode blau leuchtet -also analog der linken und rechten Körperhälfte. Die zwei polaren Körperhälften werden durch die Rute zu einem Emanationsstrom ge­schlossen. Der Körperrutenstrom tritt in Beziehung zu den emanieren-den Substanzen, und der Ausschlag der Rute ist der Ausdruck dieser Beziehung.»

Es ist sehr interessant. Wir haben es hier, das möchte ich ausdrück­lich betonen, damit das nicht mißverstanden wird, was ich sage, nicht mit demjenigen zu tun, was in meiner «Theosophie» als Aura beschrie­ben wird. Bei dieser Aura haben wir es zu tun mit den Offenbarungs­weisen des höheren Seelischen und Geistigen, während es der Pro­fessor Benedikt in seiner Dunkelkammer zu tun hat mit durchaus unterschwelligen, also unter der Schwelle des Bewußtseins befindlichen, aber für das gewöhnliche sinnliche Anschauen nicht wahrnehmbaren Emanationen, Ausstrahlungen. Interessant muß uns nur sein, daß es dem Naturforscher heute erlaubt ist, durchaus in ganz exakter Weise von einer unterschwelligen Aura zu sprechen und Untersuchungen zu machen und so weiter. Es ist interessant, daß Benedikt selber angeben muß, daß die Rutenfähigkeit übrigens keine hochstehende menschliche

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Qualität ist; sie ist mit sonst niederer Organisation möglich, während sie bei intellektuell Fortgeschrittenen versagt. Das weist eben darauf hin auf der einen Seite, daß die Rutenfähigkeit, das heißt die beson­ders starke Ausschlagfähigkeit der Rute, bei bestimmten Personen mit unterseelischen Impulsen zu tun hat. Aber immerhin, die unterseelischen Impulse sind auch durchaus solche, die nicht mit den gewöhnlichen Sinnen oder wenigstens auf gewöhnliche sinnliche Weise wahrnehmbar sind. Denn Professor Benedikt braucht immerhin, ich möchte sagen, als Versuchsinstrumente « dunkel-angepaßte» Personen.

Natürlich findet die Sache heute noch einige Gegnerschaft; das macht aber nichts, denn alle diese Dinge finden Gegnerschaften, und Profes­sor Benedikt sagt selber, gleich auf Seite zwölf seines Büchelchens:

«Der schlichte Mann erkennt instinktmäßig die Souveränität der Tatsachen an; der akademisch Verbildete die Souveränität der Mei­nungen. Der Bauer kennt die Tatsache von Kindheit an durch Tradi­tion, und sie wird für ihn zum unumstößlichen Ereignisse, sobald er den ersten Rutenausschlag gesehen und gefühlt hat. Der legt Scheuklappen gegen die Wahrheit an, wenn er Tatsachen nicht in die Kammer seiner Weisheit einreihen kann.»

Es kommt ja in der Regel darauf an, bei welcher Grenze der Be­treffende seine Scheuklappen anlegt. Nicht wahr, Professor Benedikt legt sie da ab, wo es sich darum handelt, diejenige Aura zu studieren, welche die Rutenfähigkeit nach sich zieht; allein er legt die Scheu­klappen sogleich wieder an, wenn es sich um höhere anthroposophische Gebiete handelt. Aber das tut nichts. Wir brauchen nicht Gleiches mit Gleichem zu bezahlen, sondern wir müssen von einer solchen Sache immerhin Kenntnis nehmen.

Interessant ist zum Beispiel auch dieses, was Professor Benedikt mit Hilfe dieser seiner Experimente herausgebracht hat:

«Wir wollen hier gleich die große Bedeutung dieser Versuche für die Farbenlehre hervorheben. Die Newton'sche Lehre, daß die Farben-Effekte ausschließlich von dem reflektierten, respektive durchgehenden prismatischen Farbenlicht herrühren, die auch von den zünftigen Phy­sikern allgemein ohne Reserve akzeptiert ist, wurde von Goethe be­stritten. Dieser behauptet, daß von natürlich gefärbten Objekten und

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mit natürlichen Farben behandelten Stoffen ein Teil des Farbenein­druckes sozusagen autonom von diesen gefärbten Objekten herrühre. Die Beweise Goethes hatten keinen äußeren Erfolg und waren halb und halb indirekte.

Ungemein drastisch gibt hier die Emanationsiehre mit Hilfe des Pendels eine die Ansicht Goethes bestätigende Aufklärung, wobei be­tont werden muß, daß das reflektierte Licht die gleichgefärbte Emana­tion mit sich fortreißt.»

Sie sehen daraus, daß auf halbem Wege auch Benedikt, da er nun einmal auf diesen Grenzgebieten Versuche macht, sogar zur Goethe­schen Farbenlehre kommen muß. Wenn man sich selbst, wie ich, seit mehr als drei Jahrzehnten mit der Verteidigung der Goetheschen Far­benlehre befaßt, so kann man ermessen, ob ein Zusammenhang besteht zwischen der Emanationslehre und der Goetheschen Farbenlehre, und ob auf der anderen Seite ein Zusammenhang besteht zwischen all der stumpfsinnigen, materialistischen Theoretisierung, die die heutige Phy­sik beherrscht, und wiederum der Ablehnung der Goetheschen Farben­lehre. Interessant ist: Sogleich, wenn einer nur ein wenig die Farben-lehre durchdringt, kommt er ein Stückchen weiter, aber der Weg geht immer in der Richtung, in welcher die anthroposophische Betrachtungs­weise gehen muß.

In unserer Zeit ist es sehr wichtig, daß sich ein Mann, der sich nun experimentell mit diesen Dingen befaßt, gestehen muß: Der schlichte Mann erkennt instinktmäßig die Souveränität der Tatsachen an. Der Gelehrte oder akademisch Verbildete, wie Benedikt sagt, erkennt nur die Souveränität der Meinungen an. Das ist sehr wichtig. Denn keine Zeit ist noch so sehr unter dem Einfluß der Meinungen gestanden als diese unsere Zeit, obwohl unsere Zeit immer wieder betont: Auf den gesunden Menschenverstand kommt es an! - Insbesondere in der Poli­tik wird das immer betont. Aber dieser gesunde Menschenverstand, der muß heute erst unter Mühe erworben werden, der ist heute näm­lich nicht da - das ist das große Geheimnis -, der muß erst wiederum erworben werden dadurch, daß man dasjenige, was frühere Zeiten atavistisch noch hatten, den Zusammenhang mit der geistigen Welt, was heute nicht atavistisch da ist, nun erst auf den Wegen, welche die

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Anthroposophie angibt, gewinnt. Das ist sehr wichtig. Man könnte sagen: So sitzt nun Benedikt, der ja ein bißchen eitel ist - nicht wahr, ich habe das ja schon früher erwähnt, daß daher seine Bücher nicht angenehm zu lesen sind, aber das gilt nicht für dieses Buch -, er sitzt in seiner Dunkelkammer und macht Pendelversuche. Er hat sich sogar so photographieren lassen; das Bild ist am Anfang des Buches. Er beschreibt eigentlich die physischen Auren, um dahinterzukommen, was da eigentlich für Wechselkräfte spielen zwischen dem Menschen und der übrigen Welt. Natürlich hat das eine außerordentlich große Bedeutung. Es hat deshalb eine große Bedeutung, weil dadurch schon durch physische Forschung der Raumbegriff, ich möchte sagen, auf eine neue Basis gestellt wird. Wasser, wo ist es? Nun, da drinnen in der Erde, nicht wahr. Nun geht der Rutengänger darüber, die Rute schlägt aus. Eine Emanation geht nach oben, die sich mit der mensch­lichen Emanation vereinigt. Ausströmungen kommen ineinander. Das Wasser ist also nicht nur da unten, sondern es hat etwas in sich, was bis nach oben geht. Erinnern Sie sich, welchen großen Wert ich einmal darauf gelegt habe, als ich den berühmten - oder nicht berühmten -, den bedeutenden Schellingschen Ausspruch zitierte: «Ein Ding wirkt nicht nur da, wo es ist, sondern es ist, wo es wirkt.» Auf die Auffas­sung solcher Dinge kommt es an. Sie können das in meinem Buche über die «Rätsel der Philosophie» nachlesen, welche Bedeutung einer solchen Anschauung, einem solchen Begriff, einer solchen Vorstellung zukommt, wenn man auf Wirklichkeit sehen will, und nicht auf vor­gefaßte und an Worten klebende Meinungen.

So, möchte ich sagen, kann man bis in die Einzelheiten hinein zei­gen, wie gewissermaßen das Anthroposophische am Steuer sitzt und richtig die gegenwärtige Zeit-Denkweise lenkt. Man kann es im ein­zelnen tatsächlich nachweisen, nur daß natürlich die einzelnen Men­schen nicht nachkommen. Aber wo sie versuchen, einmal nur eine Ein­zelheit vorurteilslos anzugreifen, da geht es in dieser Richtung. Der Krieg hat diese Untersuchungen über Rutengängerei besonders da­durch an die Oberfläche gebracht, weil man in gewissen Territorien zu wissen brauchte, was da unten eigentlich ist, namentlich wenn es sich um Wasser handelte, das man dann da verwenden muß für diejenigen,

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die in den Gegenden sich aufzuhalten haben, wenn man Quellen aus­zunützen hat. Sie sehen daraus, daß tatsächlich im Menschen, schon rein wenn man auf die allerniedrigsten Dinge sieht, viel mehr vor­handen ist, als die heutige Philosophie oder Biologie sich irgendwie träumen läßt.

Es ist nun sehr merkwürdig, und es ist schon notwendig - diejenigen, die sich länger für unsere Sache interessieren, begreifen, daß es not­wendig ist -, daß, trotzdem im einzelnen nachgewiesen werden kann, wie Anthroposophie in der richtigen Weise steuert, diese Anthropo­sophie in einer Weise behandelt wird, wie ich es ja schon in den letzten hier angestellten Betrachtungen angeführt habe. Aber ich muß heute über eine literarische Erscheinung sprechen, die zu den charakteristisch­sten, ich möchte sagen, der Gegenwart in bezug auf die anthroposophi­sche Geistesströmung gehört, charakteristisch aus den Gründen, die Sie aus den Besprechungen selber ersehen werden.

Ein Buch, «Vom Jenseits der Seele», ein dickes Buch, ist erschienen von dem Berliner Universitätsprofessor Max Dessoir. In diesem Buche findet sich ein ausführliches Kapitel über Anthroposophie. Dieses aus­führliche Kapitel über Anthroposophie, das ist nun im höchsten Grade charakteristisch. Man könnte den Gedanken haben, den ich gehabt habe, als ich das Buch zuerst in die Hand genommen, es ist ja eben erschienen, ich dachte mir: Es ist einmal interessant zu hören, wie die offizielle Philosophie, die sich zur Universitätsphilosophie rechnende Philosophie - und die ja auch als solche gerechnet wird, weil der Be­treffende ja hier Professor an der Universität ist -, sich über Anthropo­sophie ausspricht. Und ich dachte, das würde interessant sein. Gewiß, Gegnerschaften müssen sich ja heute ergeben aus den verschiedensten Gründen heraus, die ich schon angeführt habe. Daß die heutige Philo­sophie noch gegnerisch zur Anthroposophie ist, das ist nicht weiter verwunderlich, und es schadet auch nichts, wenn die Gegnerschaft nicht verleumderisch, nicht gehässig ist. Gerade durch die dialektische Wech­selrede könnte ja etwas außerordentlich Günstiges bewirkt werden. Aber, sehen Sie, als ich das ziemlich dicke Buch nun studierte, konnte ich mir sagen: die Sache ist gar nicht interessant. Das Buch ist ganz und gar nicht interessant, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil dieses

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gar nicht ganz kurze Kapitel über Anthroposophie in dem dicken Buche und verschiedenes andere, das Dessoir noch vorbringt, in der charakteristischesten Weise zeigt, daß er auch nicht das allergeringste Verständnis für die anthroposophische Geistesrichtung hat, indem er gewissermaßen keinen einzigen Satz zustande bringt - er versucht dar­zustellen, was Anthroposophie will -, der nun wirklich richtig wäre. Das ist sehr merkwürdig. Aber die Unrichtigkeiten sind außerordent­lich charakteristisch.

Wenn man so oberflächlich die Sache liest, so sagt man sich: Wie kommt denn ein Mensch, der doch eigentlich Anspruch macht auf Ge­scheitheit, dazu, solche Karikaturen von einer Sache zu entwerfen, nachdem er sich damit beschäftigt - denn wenn man ein anständiger Mensch ist, darf man ja nicht über eine Sache schreiben, wenn man sich nicht damit beschäftigt hat, nicht wahr? Nun, liest man aber das, was er darstellt, so hat man den Eindruck: ja, der Mann versteht gar nichts von der Sache, er stellt alles in der unglaublichsten Weise verkehrt dar! So verkehrt, daß diese Verkehrtheit eigentlich für denjenigen, der solche Sachen ernst nimmt, zum Problem werden kann. Man fragt sich: Wie kommt ein Mensch, der ja schon dadurch, daß er Universi­tätsprofessor ist, im allgemeinen Anspruch darauf hat, für einen ge­scheiten Menschen gehalten zu werden - wenigstens relativ -, wie kommt er dazu, in solcher Weise überall danebenzuhauen? Das wird wirklich zunächst zum Problem.

Nun, wenn man einige philologische Erfahrung hat - und ich habe ja nicht umsonst sechseinhalb Jahre im Weimarer Goethe-Schiller­Archiv mit Philologen zusammen gearbeitet -, so gelingt es einem manchmal ganz exakt, genau solche Probleme zu lösen. Und ich will gleich ausgehen, damit wir nicht von einem Unbestimmten sprechen, von der Lösung eines ganz besonders knüppeldicken Mißverständ­nisses. Sie wissen ja alle, daß jemand, der meine Bücher gelesen hat, wenn er überhaupt im Verlauf dieser Bücher darauf gekommen ist, in der «Geheimwissenschaft» steht ja das, die Geschichte der nachatlanti­schen Zeit ins Auge zu fassen, daß er dann keinen Augenblick daran zweifeln kann: ich teile die nachatlantische Zeit in sieben aufeinander­folgende Zeiträume ein und rechne die Zeit, in der wir jetzt leben, als

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fünften nachatlantischen Zeitraum, als die fünfte Periode im nachatlan-tischen Zeitraum. Wie oft sage ich: Wir stehen in der fünften Periode des nachatlantischen Zeitraumes. Die erste ist die urindische, die zweite die urpersische und so weiter. Sie kennen ja das. Max Dessoir, der schreibt - nachdem er darauf gekommen ist, daß es etwas gibt wie eine solche Zeiteinteilung:

«Alt-Indien ist nicht das jetzige Indien, wie denn überhaupt alle geographischen, astronomischen, historischen Bezeichnungen sinnbild­lich zu verstehen sind. Auf die indische Kultur folgte die urpersische, geführt von Zarathustra, der aber viel früher lebte als die in der Ge­schichte diesen Namen tragende Persönlichkeit. Andere Zeitabschnitte schlossen sich an. Wir stehen in der sechsten Periode.»

Hier haben Sie solch einen knüppeldicken Unsinn, wo irgend jemand referiert über dasjenige, was ich gesagt habe. Das wird für einen zum Problem, nicht wahr, denn, sehen Sie, ein Professor ist genau. Ein Pro­fessor ist genau, aber er schreibt Unsinn in diesem Falle. Das wird zum Problem. Schlagen Sie auf Seite 294 in meiner «Geheimwissen­schaft» nach. Da finden Sie die Lösung dieses Problems. Da wird näm­lich gesagt, daß sich allmählich im vierten das fünfte Kulturzeitalter vorbereitete, und daß besonders wichtig sind das vierte, fünfte und sechste Jahrhundert dieses vierten Zeitraumes zur Vorbereitung des fünften. Da heißt es:

«Im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert nach Christus be­reitete sich in Europa ein Kulturzeitalter vor, das mit dem fünfzehnten Jahrhundert begann und in welchem die Gegenwart noch lebt. Es sollte das vierte, das griechisch-lateinische allmählich ablösen. Es ist das fünfte nachatlantische Kulturzeitalter. »

Das hat der Mann gelesen. Aber er liest so genau, daß er bei der fünf­ten Zeile schon vergessen hat, um was es sich handelt - oder er hat es sich nicht genau in seinen Zettelkatalog eingeschrieben -, und wie er wieder nachgeschaut hat, hat er auf die erste Zeile gesehen, «im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert», da ist die fünfte nachatlantische Periode angebrochen; und weil er da hinaufschaute, er ist als Professor genau, er schaut noch einmal nach, aber er sieht auf die erste Zeile statt auf die sechste, er sieht: im vierten, fünften und sechsten Jahrhundert,

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und schreibt hin: Wir sind in der sechsten Periode, während in den Zeilen danach steht: «Es ist das fünfte nachatlantische Kultur-zeitalter.»

Das ist die Methode des Mannes, der sich nun vermißt, über eine solche Erscheinung, wie die anthroposophische Bewegung ist, zu schrei­ben. Man kann sagen: Es ist eine unglaubliche Oberflächlichkeit, die nur damit gedeckt ist, daß es ja gilt: Professoren sind genau. Also wenn jemand das liest, ohne sich in meinen Büchern umzusehen, so gilt das als bedenklich. Es ist nicht besonders wichtig, ob es die fünfte oder sechste Periode ist, aber das Problem löst sich da, das uns sagt: Dieser Mann ist ein gewissenloser Oberflächling! Das ist mit philologischer Genauigkeit an dieser Stelle gelöst.

Nun sehen wir uns weiter um, um zunächst den Maßstab zu ge­winnen, mit dem man diese Ausführungen zu messen hat. Da schreibt Dessoir auf Seite 255 folgenden Satz:

«Die Schulung zur höheren Bewußtseinsverfassung beginnt - wenig­stens für den Menschen der Gegenwart - damit, daß man mit aller Kraft sich in eine Vorstellung als in einen rein seelischen Tatbestand versenkt. Am besten eignet sich eine sinnbildliche Vorstellung, etwa die eines schwarzen Kreuzes (Symbol für vernichtete niedere Triebe und Leidenschaften), dessen Schneidestelle von sieben roten Rosen umgeben ist (Symbol für geläuterte Triebe und Leidenschaften).»

Nun frage ich mich, wenn ich das lese bei Max Dessoir: Ist denn diese Anthroposophie ganz verrückt? Was soll denn als Symbol für geläuterte Triebe und Leidenschaften noch bleiben, wenn das schwarze Kreuz das Symbol für «vernichtete» Triebe und Leidenschaften ist? Wenn die Triebe und Leidenschaften, die niedrig sind, zunächst alle vernichtet werden, was soll denn in der Verwandlung noch auftreten? Also da steht ein Unsinn! Aber es ist ein Zitat, sehen Sie. Nun schlagen wir auf Seite 311 lieber nach! Da heißt es:

«Nachdem man sich in solchen Gedanken und Gefühlen ergangen hat, verwandle man sich dieselben in folgende sinnbildliche Vorstel­lung. Man stelle sich ein schwarzes Kreuz vor. Dieses sei Sinnbild für das vernichtete Niedere der Triebe und Leidenschaften. . .»

Das verwandelt der Professor Max Dessoir kühn in ein «Symbol

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für vernichtete niedere Triebe und Leidenschaften», während hier steht: «das vernichtete Niedere der Triebe und Leidenschaften». So genau liest der Mensch, und so genau zitiert der Mensch; während es in der Geistes­wissenschaft gerade darauf ankommt, daß man sich gewissenhaft die Mühe gibt, genau zu stilisieren - Max Seiling nennt das schlechte deutsche Sprache. Während es in der Geisteswissenschaft darauf an­kommt, genau zu zitieren, findet der exakte Herr Professor es notwen­dig, die Sache in der schlampigsten Weise, ich finde kein anderes Wort, zu veroberflächlichen.

Nun frage ich mich: Solch ein Mann stellt also Anthroposophie dar; er stellt sie so dar, daß alles, alles als Karikatur erscheint. Man kommt darauf: er ist nicht imstande, das wiederzugeben. Aber da fehlt es nun nicht an Verstand, sondern es fehlt überhaupt an der ganz gewöhn­lichen wissenschaftlichen Gewissenhaftigkeit. Gewissenlosigkeit waltet! Nehmen wir eine andere Stelle, wo er davon spricht, wie der Mensch zur Hellsichtigkeit kommen kann:

«Durch solche Innenarbeit erreicht die Seele das, was von aller Philosophie erstrebt wird. Freilich muß das leibfreie Bewußtsein vor der Verwechselung mit traumhaftem Hellsehen und hypnotischen Vor­gängen behütet werden. Wenn unsere Seelenkräfte gesteigert sind, kann das Ich sich oberhalb des Bewußtseins erleben, gleichsam in einer Verdichtung und Verselbständigung des Geistigen, ja, es kann schon bei der Wahrnehmung von Farben und Tönen die Vermittelung des Leibes aus dem Erlebnis ausschließen.»

Das steht nirgends, daß der Mensch schon bei der gewöhnlichen Far­ben- und Tonwahrnehmung den Leib ausschließen kann. Aber Pro­fessor Max Dessoir schreibt es hin. Von einem solchen Menschen kann man nun nicht hoffen, daß er irgend etwas verstehen kann, denn er hat ja das gar nicht einmal, was er verstehen will; er hat ja etwas ganz an­deres! Suchen Sie zum Beispiel bei mir den Ausdruck Zellenkörper! In dem Zusammenhange der «Geheimwissenschaft» und so weiter hat der Ausdruck Zellenkörper keine Bedeutung. Ja, aber was tut Professor Dessoir? Er sagt:

«Wenn die Versenkung den Geist vom Zellenleib befreit, so löst sie ihn doch nicht von jeder Art Körperlichkeit.»

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Denn: ... . Die Leistungen des Astralleibes sind mannigfach. Er ent­hält die Vorbilder, nach denen der Ätherleib dem Zellenkörper seine Gestalt gibt.»

Nichts steht bei mir von Zellenkörper, sondern vom physischen Leib. Sobald man Zellenkörper sagt, hat das alles keinen Sinn, was bei mir vom physischen Leib gesagt wird. Also Sie sehen, er versteht gar nichts. Ein niedliches Beispiel ist noch das Folgende:

«Es braucht wohl nicht erst nachgewiesen zu werden, daß die Er­holung nach dem Schlafe sich anders, und zwar einfacher und zutref­fender als mit Hilfe des Astralleibes erklären läßt. Ebensowenig wer­den wir mit Steiner das eines Beines durch Abtrennung des Ätherleibes vom physischen Leibe wollen.»

Erklären setzt er in Anführungszeichen. Nehmen Sie sich die Stelle auf Seite 96:

«Wenn der Mensch zum Beispiel eines seiner Glieder belastet, so kann ein Teil des Ätherleibes aus dem physischen sich abtrennen. Von einem Gliede, bei dem dies der Fall ist, sagt man, es sei eingeschlafen. Und das eigentümliche Gefühl, das man dann empfindet, rührt von dem Abtrennen des Ätherleibes her.»

Weiter heißt es: «Natürlich kann eine materialistische Vorstellungs­art auch hier wieder das Unsichtbare in dem Sichtbaren leugnen und sagen: Das alles rühre nur von der durch den Druck bewirkten physi­schen Störung her.»

Also das wird nicht abgestritten, daß der Druck eine physische Stö­rung bewirkt hat; das wird durchaus zugegeben, und daraus das Ein-schlafen erklärt. Aber etwas anderes als das Einschlafen ist das, was ich hier sage: Das eigentümliche Gefühl, das man dann empfindet, rührt von dem Abtrennen des Ätherleibes her.

Also das Gefühl, das man beim Einschlafen eines Gliedes hat, rührt vom Abtrennen des Ätherleibes her.

«Ebensowenig werden wir mit Steiner das eines Beines durch Abtrennung des Ätherleibes vom physischen Leibe wollen. »

Das Abtrennen habe ich nicht erklären wollen, sondern das eigen­tümliche Gefühl, das auftritt. Man fragt sich: können solche Menschen

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überhaupt noch lesen? Sind sie imstande, ein ernsthaft geistiges Buch zu lesen, das auf alle seine Objekte acht gibt? Aber mit solchen Leuten werden die Lehrkanzeln der Universitäten besetzt! - das ist ein Nach­satz, der doch eine gewisse Bedeutung hat -, mit Leuten, die imstande sind, in dieser Weise mit Zeiterscheinungen umzugehen. Ich habe eigentlich gedacht, Ihnen heute eine Auseinandersetzung geben zu kön­nen über die Art, wie man ernsthafte Einwände zurückweist, und ich bin gezwungen, Ihnen zu zeigen, daß man es mit einem Oberflächling zu tun hat, der in dieser Weise alles fälscht. Ich hätte mich gefreut auf eine andersartige Widerlegung!

Natürlich ganz besonders findet sich Dessoir nun, wie soll man sagen, zum selbstbefriedigten Fingerablecken bereit da, wo über die Saturnverhältnisse gesprochen wird. Da findet er natürlich ganz be­sonders anstößig dasjenige, was er in der folgenden Weise darstellt:

«Im Umkreis des Saturn bewegten sich Geister verschiedener Art, so die der Form (Exusiai), der Persönlichkeit (Archai), des Feuers (Arch­angeloi), der Liebe (Seraphim). Später entwickelten sich durch die Angeloi Nahrungs- und Ausscheidungsprozesse auf dem Saturn, durch die Cherubim dumpfe, traumhafte Bewußtseinszustände; von diesen Zuständen erfährt der Hellsichtige noch heute durch eine dem Riechen ähnliche übersinnliche Wahrnehmung, denn die Zustände sind eigent­lich immer da.»

Also der Hellsichtige erfährt durch eine dem Riechen ähnliche über­sinnliche Wahrnehmung! Das ist natürlich so, daß man sich selbst-gefällig die Finger ablecken kann, nicht wahr - der Hellriechende riecht die Saturnzustände! Dessoir kann sich sogar nicht enthalten, da zu sagen:

«Mich wundert, daß hiermit der und der nicht in Verbindung gebracht wird.»

Man würde nun diskutieren mit einem solchen Manne, wenn er einen in die Lage versetzte. Aber schlagen Sie wiederum auf, Seite 168, wo­her er diese Stelle hat:

«Nach innen (im Saturn) gibt sich dieser dumpfe Menschenwille dem hellseherischen Wahrnehmungsvermögen durch Wirkungen kund, wel­che sich mit den vergleichen lassen.»

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Das ist da gesagt. Also durch Wirkungen> welche sich mit dem Ge­ruch vergleichen lassen. Herr Dessoir findet sich genötigt zu sagen:

«Von diesen Zuständen erfährt der Hellsichtige noch heute durch eine dem Riechen ähnliche übersinnliche Wahrnehmung.»

Das heißt, er übersetzt das, was klar dargestellt ist, in ein Blech und kritisiert dann sein eigenes Blech. Ebensowenig wie bei mir jemals gesagt ist> daß durch die Angeloi Nahrungs- und Ausscheidungspro­zesse auf dem Saturn entstehen; sondern gesagt ist an jener Stelle: In der Zeit, in welcher die Angeloi erscheinen, geschehen auf dem Saturn Nahrungs- und Ausscheidungsprozesse. Da ist Gleichzeitigkeit an­gegeben. Angeloi treten auf> und die Nahrungs- und Ausscheidungs-prozesse entstehen. Das durch die Angeloi macht Dessoir selber dazu.

Sie sehen, was soll man überhaupt anfangen mit einem Menschen> der in dieser Weise sich über eine solche Erscheinung hermacht.

«Der Christus oder Sonnenmensch erzog sieben große Lehrer.»

Ich habe bis jetzt nicht einmal einen Anhaltspunkt gefunden, um diese Bezeichnung zu rechtfertigen: der Christus oder Sonnenmensch> denn auf Seite 242 ist ausdrücklich gesagt, daß die Sonnenmenschen den Christus als das höhere Ich empfinden - was natürlich etwas ganz anderes ist, als wenn man sagt: der Christus oder Sonnenmensch.

Nun, sehen Sie, diese Dinge werden aber auch zuweilen zur Raffi­niertheit. Da geht dann die Oberflächlichkeit hart an die Grenze dessen, was dem Leser einen Eindruck machen muß> der, wenn er be­absichtigt war, ein verleumderischer genannt werden müßte. So er­innert Dessoir an die Stelle, wo ich davon spreche, daß im kindlichen Lebensalter Kräfte an der Zubereitung des Gehirns arbeiten; Sie brau­chen sich nur zu erinnern an meine Schrift «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», die der Professor Dessoir sich ange­schaut hat. Ich habe dargestellt: Wenn man sich später erinnert, wie man das alles hätte durch eigene Klugheit machen können, was am Gehirn später als Wunderbares erscheint, so kommt man darauf, wie aus dem Unbewußten heraus die Weisheit gleich in den ersten drei Kindheitsjahren an dem Menschen arbeitet. So zitiert Herr Dessoir -pardon, Professor an der Berliner Universität Max Dessoir:

«Besonders ein Mensch> der selber Weisheit lehrt - das bekennt

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Herr Rudolf Steiner -> wird sich sagen: Als ich Kind war, habe ich an mir durch Kräfte gearbeitet, die aus der geistigen Welt hereinwirkten, und das, was ich jetzt als mein Bestes geben kann, muß auch aus höhe­ren Welten hereinwirken; ich darf es nicht als meinem gewöhnlichen Bewußtsein angehörig betrachten.»

Also Max Dessoir macht seine Leser glauben, daß ich behauptet hätte von mir selber das alles> was hier gesagt ist. Schlagen wir auf «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit», wo er das her hat. Seite 30, da steht:

«Der so gewonnene Begriff der Menschenführerschaft kann nun in mancher Hinsicht erweitert werden. Man nehme an, ein Mensch habe Schüler gefunden, einige Leute, die sich zu ihm bekennen. Ein solcher wird durch echte Selbsterkenntnis leicht gewahr werden, daß ihm gerade die Tatsache, daß er Bekenner gefunden hat, das Gefühl gibt: was er zu sagen habe, rühre nicht von ihm her. Es sei vielmehr so, daß sich geistige Kräfte aus höheren Welten den Bekennern mitteilen wol­len, und diese finden in dem Lehrer das geeignete Werkzeug, um sich zu offenbaren.

Einem solchen Menschen wird der Gedanke nahetreten», und jetzt kommt die Stelle, die Dessoir zitiert:

«Als ich Kind war, habe ich an mir durch Kräfte gearbeitet> die aus der geistigen Welt hereinwirkten> und das, was ich jetzt als mein Bestes geben kann, muß auch aus höheren Welten hereinwirken: ich darf es nicht als meinem gewöhnlichen Bewußtsein angehörig be­trachten. »

Bis hierher zitiert Dessoir. Und nun heißt es bei mir weiter:

«Ja> ein solcher Mensch darf sagen: etwas Dämonisches, etwas wie ein Dämon - aber das Wort im Sinne einer guten geistigen Macht genommen - wirkt aus einer geistigen Welt durch mich auf die Bekenner. - So etwas empfand Sokrates.»

Also die ganze Stelle bezieht sich auf Sokrates. Max Dessoir hat die Geschmacklosigkeit - möchte ich bloß sagen, um kein stärkeres Wort hier zu gebrauchen -, diese Stelle in dieser Weise zu verdrehen und dann noch dazu zu sagen:

«Die Tatsache also, daß der einzelne ein Träger überindividueller

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Wahrheiten ist, vergrößert sich hier zu der Vorstellung, daß eine ding­lich gedachte Geisteswelt gleichsam durch Röhren oder Drähte mit dem Individuum verbunden sei; Hegels objektiver Geist verwandelt sich in eine Gruppe von Dämonen und alle Schattengestalten eines un­geläuterten religiösen Denkens treten wieder auf.»

Nun soll man das Kapitel, das ich in meinen «Rätseln der Philo-sophie» über Hegel geschrieben habe, lesen, und dann sich klarmachen: daß ich hier davon spreche, von Dämonen, das bezieht sich auf So­krates, der selber das Wort «Dämonion» gebraucht hat. Von Hegel sagte ich selber in den «Rätseln der Philosophie» ausdrücklich in sehr deutlicher Weise, daß man das nicht brauchen kann. Aber ich werde Ihnen nachher zeigen, warum in diesem besonderen Fall der Professor Dessoir, sagen wir, so geschmackvoll sein kann. Solche Oberflächlich­keit, die steigert sich tatsächlich zu dem, was eine richtige Verleum­dung ist, wenn auch nur eine oberflächlichkeitsgeborene. Aber es mischen sich ja da andere Gefühle hinein.

Geht man auf das Begriffliche ein, da muß ich sagen: man staunt überhaupt darüber, wie es in dem Hirnkasten eines solchen Gegen­wartsprofessors aussieht. Ich stelle dar, daß man als eine erste Stufe der übersinnlichen Erkenntnis die imaginative Erkenntnis hat, die bildhaft wirkt. Also, wie man die sinnliche Erkenntnis durch Begriffe gewinnt, die schattenhaft, abstrakt wirken, so gewinnt man die Tatsachen der höheren Welt durch imaginative Erkenntnis. Daraus macht nun Pro­fessor Dessoir etwas - ja, man weiß nicht recht was, denn weil er also liest, daß durch Sinnbilder erkannt wird, so sagt er: Die Tatsachen sind Sinnbilder. Deshalb hat er vorher gesagt:

«Alt-Indien ist nicht das jetzige Indien, wie denn überhaupt alle geographischen, astronomischen, historischen Bezeichnungen sinnbild­lich zu verstehen sind.»

Nun soll man überhaupt denken, daß ein vernünftiger Mensch aus der Darstellung der «Geheimwissenschaft» den Eindruck bekommen kann - wenn auch der heutige Begriff Indiens sich nicht deckt mit dem des alten Indiens -, ich meinte, das alte Indien sei bloß symbolisch zu verstehen. Weil er gelesen hat, daß die erste Stufe der Erkenntnis, die imaginative Erkenntnis, eine sinnbildliche ist, glaubt er, das alte Indien,

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also der Gegenstand, sei ein bloßes Sinnbild. Daß er das nun glaubt, das bringt ihn wiederum dazu, auf Seite 261 das Folgende zu schreiben:

«Dieser Mensch hat sich herausgebildet in einer urfernen Vergangen­heit, die Steiner das lemurische Zeitalter der Erde nennt - warum wohl? -, und in einem Lande, das damals zwischen Australien und Indien lag (was also eine richtige Ortsbestimmung und kein Symbol ist).»

Also sehen Sie, Dessoir bildet sich ein, ich meinte, das lemurische Land wäre ein Symbol, und nun tadelt er, daß ich die Sache so dar­stelle, daß es kein Symbol ist; er findet das scharf tadelnswert. Also hier wird die Oberflächlichkeit schon dumm. Da findet er sich beson­ders geistreich, wenn er zum Schlusse sagt:

«An diesen Erwägungen befremden Widersprüche und eine gewisse logische Genügsamkeit. Es ist widerspruchsvoll, daß aus und nur gemeinten Sachverhalten die Tatbestände der Wirklichkeit sich entwickelt haben sollen. »

Weil die Erkenntnis durch Bilder wirkt, so sollen die Tatbestände auch bildlich sein; und das findet er einen Widerspruch. Also denken Sie, wenn einer sagt, ein Bild, das ein Maler malt, das ist eben ein Bild, aber er verwechselt nun selber das Bild mit der Wirklichkeit, und findet das widerspruchsvoll, daß dieses Bild eine Wirklichkeit dar­stellen soll - oder so irgend etwas. Also, Sie kommen dazu, diese Oberflächlichkeit an einer solchen Stelle geradezu dumm zu finden.

Nun, sehen Sie, so wird Anthroposophie heute der Welt dargestellt. Denken Sie sich, dieses dicke Buch, das also von einem Universitäts­professor geschrieben ist, wird selbstverständlich überall besprochen; die Leute lesen dieses Kapitel selbstverständlich mit besonderer In-brunst. Kümmern sich nicht darum, daß der Mann eine Karikatur der Anthroposophie dargestellt hat, sondern werden finden, daß sie viel­leicht der Sache Recht zu geben haben, die der Mann in der Ankün­digung jetzt durch alle Zeitschriften schickt - solche Buchhändler-annoncen, die rühren ja gewöhnlich von Leuten her, die dem Autor nicht so ganz ferne stehen. - Da in der Buchhändlerannonce heißt es:

... . Dann geht das Buch über zu dem kabbalistischen Denkver­fahren, das sich nicht nur in der eigentlichen Kabbala, sondern auch

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in der Freud'schen Psycho-Analyse und in den unfruchtbaren Spitzfin­digkeiten gewisser Faust-Erklärer sowie in der Shakespeare-Bacon-Lehre bekundet: alle diese Nebenformen der Wissenschaft werden zer­gliedert und in ihrer Hohlheit aufgedeckt. Ebenso gründlich, aber auch ebenso unerbittlich werden die Irrlehren eines Guido von List und eines Rudolf Steiner kritisiert; es wird Licht hineingetragen in die dunklen, anspruchsvollen Theorien der Gesundbeter und der Theosophen.»

Also, nun sehen Sie, das ist heute Gelehrtenusus; das ist heute die Manier, wie man von offizieller Seite die Dinge behandelt, die sich in den Dienst der Wahrheit stellen wollen. Aber die Oberflächlichkeit des Herrn Max Dessoir, die geht manchmal wirklich in hohe Regionen. Er macht zum Beispiel auf Seite 254 die Anmerkung:

«Vgl. Rudolf Steiner, die , fünfte Auflage, Leipzig 1913. Daneben habe ich noch eine lange Reihe an­derer Schriften benutzt.»

Ich habe nachgewiesen - meine philologische Beschäftigung gestattet mir so etwas nämlich -, daß Max Dessoir nichts kennt als die «Ge­heimwissenschaft», die «Geistige Führung des Menschen und der Menschheit» und «Blut ist ein ganz besonderer Saft». Das ist alles, was er kennt. Das kann ich aus seinem Aufsatz nachweisen. «Die Rätsel der Philosophie» hat er zum Beispiel nicht gelesen - um nur dieses Buch zu nennen. Das nennt er allerdings eine lange Reihe anderer Schriften. Die «Geheimwissenschaft» und die lange Reihe, das ist die­ses: «Die geistige Führung» und «Blut ist ein ganz besonderer Saft». Dann fährt er fort:

«In Steiners Erstling, der (Berlin 1894), finden sich nur Ansätze zur eigentlichen Lehre.»

Erstling! Mein erstes Buch ist 1883 erschienen. Dieser Erstling ist also elf Jahre nach meinem wirklichen Erstling erschienen. Das erlebt man heute! So erlebt man die Dinge!

Nun, ich werde selbstverständlich eine Broschüre schreiben über dieses Kapitel im Zusammenhang mit diesem ganzen Buch. Denn das ist notwendig. Hier handelt es sich wirklich darum, einmal eine so­genannte Kulturerscheinung festzunageln und nicht bloß Satz für Satz zu widerlegen, sondern vor allen Dingen die ganze brüchige Oberflächlichkeit

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zu zeigen, wirklich mit gelehrtem Apparat dem Mann zu zei­gen, daß er nicht einmal die allereinfachsten Regeln des wirklichen Anstands einzuhalten vermag. Es darf nicht auf diese Sache geantwor­tet werden, indem man einfach Satz für Satz nimmt, sondern indem man zeigt, was der Mann erst aus der Sache macht. Die ganze Sache ist nämlich, ich möchte sagen, nach dem Muster geschrieben, wie die ersten Zeilen. Ich weiß selbstverständlich, daß das die Menschen nicht anstößig finden werden; er beginnt:

«Ein immerhin merkwürdiger Mensch, der Dr. Rudolf Steiner. Er stammt aus Ungarn, geboren am 27. Februar 1861, und ist über Wien nach Weimar gekommen.»

Nun, ich habe im ganzen in Ungarn die ersten eineinhalb Jahre meines Lebens verbracht. Ich stamme nicht aus Ungarn, sondern ich stamme wirklich aus Niederösterreich, und zwar in ältester Abstam­mung aus Niederösterreich, aus einer urdeutschen Familie. Ich bin nur in Ungarn geboren, weil mein Vater Beamter war an der öster­reichischen Südbahn, die von Wiener-Neustadt nach Groß-Kanizsa ging, die damals noch zu Cisleithanien gerechnet wurde, und er dort stationiert war an einer Station der ungarischen Linie, Kraljevec, wo ich zufällig geboren worden bin, und bis zu eineinhalb Jahren lebte. Aber im «Kürschner» steht selbstverständlich: «geboren in Ungarn». Das ist die Quelle des Herrn Max Dessoir. Ich weiß, daß natürlich diejenigen Menschen, die immer denjenigen Recht geben, die Gewis­senlosigkeiten begehen, sagen werden: Nun, woher soll denn der Mann das andere wissen, wenn es im Kürschner steht. Kürschner gibt näm­lich den Geburtsort an; aber man weiß eben sonst, daß der Mensch auch woanders herstammen kann, als wo er zufällig geboren ist - was in der Gegenwart ja sehr häufig der Fall ist, nicht wahr, wo die Men­schen durcheinandergewürfelt werden -, nur ein deutscher Philosophie-professor richtet sich nicht nach den allergewöhnlichsten Erwägungen. Die anderen Dinge sind der Sache würdig.

Aber die Dinge werden manchmal höchst niedlich. Sehen Sie, er kennt auch noch, wie ich schon sagte: «Blut ist ein ganz besonderer Saft.» Da werden Sie finden, daß ich einmal wirklich mit großer Vor­sicht dargestellt habe, wie es in früheren Zeiten war, wie das Blut

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gewissermaßen eine tiefere Gedächtniswirkung hatte und dergleichen. Ich habe allerdings nicht versäumt, ausdrücklich zu sagen, daß es schwierig ist, diese Dinge darzustellen, und daß man deshalb vielfach vergleichsweise reden muß. Selbstverständlich läßt Max Dessoir diese Einleitung weg und zitiert dasjenige, was, wenn Sie es nachlesen in «Blut ist ein ganz besonderer Saft», sehen werden, mit welcher Vor­sicht und mit welchen Übergängen das alles dargestellt ist. Max Dessoir zitiert aber, weil er dadurch besonders auf die Leser wirken zu können glaubt, so:

«Der Astralleib soll teils im sympathischen Nervensystem, teils im Rückenmark und Gehirn.»

Nun zitiert er die Sache bei mir:

«Das Blut nimmt die durch das Gehirn verinnerlichten Bilder der Außenwelt auf.»

«Eine solch ungeheuerliche Mißachtung aller Tatsachen verbindet sich mit der ebenso unbeweisbaren wie unverständlichen Behauptung, der vorgeschichtliche Mensch habe in den auch die Erlebnisse seiner Vorfahren erinnert.»

Man darf einfach nicht etwas, was mit aller Vorsicht dargestellt ist, in einen Satz so zusammenziehen, daß es keinen Sinn hat, und man bindet dadurch dem Leser Bären auf. Aber die Bären sind in diesem Falle ganz besonders schlimme, weil sie wie verleumderisch die Sache darstellen. Aber was zitiert denn da der gute Dessoir? Nichts anderes, als daß der Mensch das, was er von seinen Vorfahren überliefert be­kommen hat, in den früheren, anderen Verhältnissen des Blutes wie ein Gedächtnis erlebte. Das findet Max Dessoir besonders schlimm. Nun möchte ich aber eine eigene Meinung des Dessoir aufschlagen; das ist nämlich höchst interessant. Da erklärt er, wie es kommt, daß heute noch uralte Anschauungen leben, solche Anschauungen, wie sie die abergläubischen Leute auf dem Lande und wie sie die Gesundbeter haben, oder wie sie Guido von List hat und die Anthroposophen. Wo­her das kommt, sucht er zu erklären. Da sagt er:

«Schon aus solchen Beispielen kann geschlossen werden, daß in der Geheim forschung uralte Vorstellungs formen weiterleben. Eine bün­dige Widerlegung des Okkultismus ist mit dieser Resttheorie freilich

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noch nicht gegeben, da ja die Wahrheit in der Jugend der Völker erfaßt und unserem Kulturkreis verloren gegangen sein könnte. Aber die Tat­sachen, die zur Stütze herangezogen werden, versagen, und die Er­innerung an jene urmenschlichen Völkergedanken soll erklären, wes­halb wir Menschen der Gegenwart trotzdem so schwer davon los­kommen. Das Blut vieler Jahrtausende rinnt in unseren Adern. Sein Pulsschlag ist nicht immer regelmäßig, sondern wird manchmal arrhyth­misch, wie er einst gewesen war.»

So Max Dessoir. Also, wenn in der Anthroposophie in einer sehr erklärlichen Weise vorkommt, daß gesagt wird: «Das Blut der Vor­fahren erinnt in uns und stellt eine Art Gedächtnis dar» - da wird es lächerlich gemacht; wo er es selber braucht, da führt er es selber an. Das ist Max Dessoir, Universitätsprofessor der Philosophie in Berlin.

Nun, ein besonders kurioses Buch, das ich immer weit von mir ge­wiesen habe, von dem jeder wissen kann, der meine Goethe-Schriften kennt, daß ich es weit von mir gewiesen habe, ist das Buch von F.A.

Louvier: «Sphinx locuta est», wo auf kabbalistische Weise Goethes «Faust» erklärt wird. Es ist ein schreckliches Buch. Aber Dessoir nimmt vorerst die Kabbalistik. Was er über Kabbalistik sagt, das würde zu weit führen, denn davon versteht er wirklich nichts; aber er führt dann die moderne Kabbalistik an und darunter auch den Louvier:

«Sphinx locuta est», wo so schöne Dinge drinnenstehen. Nicht wahr, da kann er sich nun wieder einmal die Finger ablecken:

«Aus vielen Stellen soll hervorgehen, daß die Geisteskräfte als alle­gorische handelnde Personen auftreten. Der Erdgeist - in Wahrheit freilich eine der dunkelsten Gestalten des Werks - ist der Geist des Faustplans (denn steht für oder ) und als solcher die Abstraktion; Gretchen ist die Naivität; der schwarze Pudel ist der - negative Beweis und so weiter. Betrachten wir daraufhin die Szene (Sphinx locuta est S.122 ff.). Wenn Faust den spekulierenden Verstand symbolisiert, so ist seine Wohnstätte der Kopf. Demnach bedeutet die Stadt das Gehirn, das hohle, finstere Tor den Mund, und die Spaziergänger aller Art sind die hörbaren Äuße­rungen des Geistes, die von da hinausziehen ins Freie. Die Sprache selbst erscheint hier nicht, weil sie im zweiten Teil als

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ausführlich geschildert wird. Wohl aber treten die Gedichte und zwar als die Soldaten auf: Burgen (Sitz der Gedanken) und Mädchen (Ge­fühle) müssen sich dem Gedicht ergeben; die Trompeten (die Klänge) der Gedichte werben wie für die Freude so zum Verderben . . . Das Bürgermädchen (Agathe) stellt das Volkslied vor, und der Geliebte, der sich mit dem Volksliede verbinden soll, d.h. einer der Soldaten, ist ein Gedicht; denn Text und Lied bilden eben ein Paar . . . Neben dem Volkslied (Agathe) erscheint ferner ein , d.h. das Stu­dentenlied, der Krauskopf genannt, und bei diesem ein zweiter Schü­ler - der Refrain des Liedes . . . Außer den besprochenen Figuren er­scheinen noch die folgenden hörbaren Äußerungen, die aus dem Tor (dem Munde) hervorgehen. Es sind: die Bitte, die Wortverdrehung, das Schwatzen, die Einwilligung, der Zank, der Befehl, die Frage, die Kannegießerei, das Ja, das Versprechen und die Abbitte.»

So kann er sich gut lustig machen über den Louvier, der ja die ganze kantische Philosophie im «Faust» dargestellt findet. Dann geht er über zu dem honorificabili von Edwin Bormann und den Shakespeare­Bacon-Menschen; stellt dar, wie das alles unsinnig ist, was die Shake­speare-Bacon-Menschen in kabbalistischer Weise gemacht haben; geht dann über zu Stefan George, wo er die geschmackvolle Art hat, drei Gedichte zu zitieren, um Stefan George zu charakterisieren. Auf das alles wollen wir nicht eingehen, das würde eine Stunde in Anspruch nehmen, um Ihnen die ganze Vertracktheit des Max Dessoir darzu­legen; aber auf das eine wollen wir doch eingehen, wo er drei Gedichte nebeneinanderstellt. Das eine Gedicht, das zweite, das er bringt, das will ich zuerst vorlesen. Man braucht nicht mit solchen Dichtungen ein­verstanden zu sein, aber ich will Ihnen die Praktik des Max Dessoir darlegen. Also bitte, nehmen Sie es nicht so, als ob ich mit diesem Ge­dicht, das von Werfel ist, einverstanden wäre, aber darauf kommt es nicht an:

Entrückter, leichter Himmel über dem Ort!

Du weißt von der Seebäder goldenen Fetzen.

Du weißt von Prinzen

Und herbstlichem Halali.

Ihr Knabenbäume

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Zuckt von den Schultern

Das letzte Netz,

Das braune.

Den Schatten werfet auf mich,

Hier sitze ich

Und lese den übermütigen

Namen im Stein.

Nun bist du bei meiner Großmutter, Kind,

O unterirdisches Fest,

Das niemand denken will!

Wie gesagt, man kann gegen dieses Gedicht manches haben, aber Dessoir hat die geschmackvolle Art und stellt es mit dem folgenden Gedicht zusammen. Das ist also das erste, das ich jetzt anführen will:

Der blasse Adeiknabe spricht:

Du Dunkelheit, aus der ich stamme -

Ich glaube an alles noch nie Gesagte,

Ich bin auf der Welt zu allein und doch nicht allein

Du siehst, ich will viel! [genug.

Wir bauen an dir mit zitternden Händen.

Das ist also das eine Gedicht; dann kommt das Werfelsche Gedicht, und dann kommt das dritte; das will ich auch jetzt lesen:

Vielleicht, daß ich durch schwere Berge gehe -

Du Berg, der blieb, da die Gebirge kamen,

Mach mich zum Wächter deiner Weiten,

Denn, Herr, die großen Städte sind:

Da leben Menschen, weiß erblühte, blasse,

0 Herr, gib jedem seinen eignen Tod!

Herr, wir sind ärmer denn die armen Tiere,

Mach' Einen herrlich, Herr, mach' Einen groß -

Das letzte Zeichen laß an uns geschehen.

Das mittlere Gedicht, das ich zuerst gelesen habe, ist wirklich von Werfel; aber um dieses zu charakterisieren, begeht Dessoir das Geschmackvolle,

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daß er einen Band Rilkescher Gedichte nimmt, und nun nicht diese Rilke-Gedichte abschreibt, sondern immer die Versanfänge, wie sie in dem Inhaltsverzeichnis angegeben sind. Also er macht Ge­dichte, indem er die Versanfänge zusammenstellt; und die vergleicht er dann mit dem Werfelschen Gedicht. Das ist die geschmackvolle Art, wie er moderne Lyrik zu charakterisieren versucht. Er will sagen: Das Werfeische Gedicht kommt auch heraus, wenn man die Versanfänge im Rilkeschen «Stundenbuch» hintereinander aufschreibt, da macht er ein Gedicht daraus. So macht er es.

Dann bringt er die Rassenmystik von Guido von List. Ich habe zu Guido von List keine andere Beziehung, als daß ich einstmals von ihm, den ich gekannt habe, als er noch ein vernünftiger Mensch war und seinen Roman «Carnuntum» geschrieben hatte, in dem Anfang der achtziger Jahre, eine Abhandlung bekommen habe, in der Zeit, als ich noch «Luzifer-Gnosis» herausgab; da habe ich sie zurückgeschickt als dilettantisch und unbrauchbar. Das ist die einzige Beziehung, die ich zu Guido von List gehabt habe.

Dann bespricht Dessoir die Christian Science. Sie wissen, wieviel Beziehung ich zur Christian Science habe. Die einzige Beziehung, die ich zur Christian Science habe, die kann ich Ihnen ungefähr vorlesen. Wenn ich gefragt worden bin nach öffentlichen Vorträgen über diese Christian Science, habe ich immer als erstes gesagt, daß es wirklich Materie gibt. Aber ich habe gesagt, daß sich diese christliche Wissen­schaft nicht christlich nennen darf, und zwar aus folgenden Gründen:

«Hier wird deutlich, daß die ganze Lehre mit dem Geist des Chri­stentums unvereinbar ist. Eine Lehre, die das Leiden aus der Welt weg­vernünfteln will, darf sich nicht auf das Evangelium berufen. Denn das Christentum hat mit furchtbarem Ernst die Wahrheit verkündet, daß Sünde und Schmerz notwendig zur Natur des Menschen gehören; sie sind keine Wahngebilde des unvollkommenen menschlichen Den­kens, sondern Tatsachen, denen das Erbarmen Gottes und der Opfer-tod Jesu gilt. Die darf sich nicht christlich nennen.»

Das habe ich immer gesagt, nur hier sagt es Dessoir; ich habe Ihnen jetzt eine Stelle von Dessoir vorgelesen; aber Sie wissen, daß ich gerade

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die Christian Science so charakterisiert habe, wenn nach öffent­lichen Vorträgen darüber gefragt wurde.

Dann charakterisiert er die theosophische Bewegung als Neu­Buddhismus. Aber nach der Art, wie der Professor Dessoir in diesem Buche immer erzählt, daß er allen möglichen Spiritistensitzungen bei­gewohnt hat, könnte ich ja auch ein Buch schreiben über Spiritismus und ein Kapitel Max Dessoir widmen, unmittelbar an Max Dessoir anreihen. Denn mit derselben Gerechtigkeit könnte das geschehen, wie er hier die Anthroposophie an die Theosophie anreiht, insbesondere wenn er den geschmackvollen Satz anführt:

«Diese, der angehörenden Geheimfor­scher bekämpfen aufs heftigste die , worunter sie die um ihren Meister Rudolf Steiner gescharten Anthro­posophen verstehen. Wir wollen uns aber dadurch nicht abhalten las­sen, auch diese Richtung zu betrachten.»

Auch durch die ganze Art und Weise, wie das zwischen lauter Dinge hineingestellt wird, in die es nicht hineingehört, auch darin zeigt sich die Gewissenlosigkeit; das muß ausdrücklich gesagt werden.

Aber man kann aufschlagen wo man will, überall findet man das gleiche. Sehen Sie, Seite 240:

«Es liegt eine Gefahr darin, daß solche Genossenschaften Einfluß üben können und zumal in unserer ausgerutschten Zeit. Immerhin ge­währt es einen Trost, daß sie sich gegenseitig mißachten und bekämp­fen: die Rassenmystiker, die Gesundbeter, die Theosophen.»

Nun, meine lieben Freunde, frage ich Sie einmal, ob ich irgend je­manden bekämpft habe, bei dem es nicht notwendig war, deswegen, weil er mich bekämpfte? Das ist die Unehrlichkeit, mit der immer vor­gegangen wird. Sehen Sie nach, ob irgendwie jemand von mir be­kämpft worden ist von all den Leuten, die hier angeführt werden. Rassenmystik habe ich nicht bekämpft, weil ich sie für etwas trottelig halte und es nicht der Mühe wert finde, sie zu bekämpfen. Über die Gesundbeter habe ich nur die zwei Sätze gesagt, die ich Ihnen eben angeführt habe.

Ja, mit Dessoir hat es ja eine besondere Bewandtnis. Er erzählt nun alle die Dinge, die er bei verschiedenen spiritistischen Sitzungen erfahren

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hat. Nun, auf das kann ich heute nicht eingehen, denn bei der ganzen Sache kommt nichts heraus als höchstens das, daß Dessoir in die Lage gekommen ist, ein Buch darüber zu schreiben, denn es ist ja nichts anderes, als ein Gehen auf allerlei Sensationen und dergleichen. Aber ich frage mich: Wie kommt denn nun ein Mensch dazu, solch ein Buch zu schreiben, das eigentlich verrückt ist? Denn wirklich, geht man die anderen Kapitel durch, dann kommt man zu einem höchst traurigen Ergebnis. Der Mann schreibt über lauter Dinge, ohne fach­männisch überhaupt irgend etwas zu kennen, was der Fachmann überall kennen muß in seinem Fach. Ich möchte wissen, ob ein Philo­soph wie Max Dessoir solch einen Satz heute hinschreiben darf:

«Einem geistig und musikalisch durchgebildeten Menschen gelingt es, während einer Opernvorstellung in jedem Augenblick den Text, die Musik, die ihrerseits wieder äußerst zusammengesetzt ist, und die mimische Leistung gleichzeitig aufzufassen, obwohl diese drei Bestand­teile sehr unabhängig voneinander sein können.»

Ja, wer bloß Aristoteles studiert hat, das Zusammenwirken der Sinneswirkungen in dem einheitlichen Menschen, der kann solches Satz­gestrüppe sich nicht leisten! Also man kommt heute darauf, sich zu sagen, daß solch ein Mensch Universitätsprofessor ist für ein Fach und nicht die einfachsten Dinge seines Faches gelesen, studiert haben kann. Es ist wirklich unerhört.

Ich werde ganz objektiv die Sache widerlegen - selbstverständlich, hier mußten wir uns untereinander einmal über die Sache ausspre­chen -, aber ich werde objektiv, ohne die scharfen Worte zu brauchen, die ich heute hier gebraucht habe, auf die Tatsache hinweisen, um zu sehen, ob es heute noch Menschen gibt, die, nachdem man ihre Nase auf die Tatsachen hinstößt, wenigstens entrüstet sein können über eine solche Kulturerscheinung. Das möchte ich gerade einmal ausprüfen. Man fragt sich: wie ist es möglich? Allerdings, da kommt man auf Seite 34 auf eine solche merkwürdige Sache. Da redet er über eine solche Sache wie das Bewußtsein, wie es einen «Rand des Bewußt­seins», na, und eine «Oberfläche» des Bewußtseins gibt; solch ein Mensch will ja ein Bild haben, nicht wahr, er sagt:

«Um wiederum ein leicht verständliches Bild zu gebrauchen: aus

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dem Mittelpunkt des Kreises» - er meint den Kreis des Bewußtseins -«gleitet ein Komplex an die Peripherie, versinkt dort aber nicht ins Nebelhafte, sondern bewahrt teilweise seine Bestimmtheit und seinen Zusammenhang. Ein Beispiel: Beim Vortragen sehr geläufiger Ge­dankengänge geraten mir gelegentlich Begriffe und Worte in jene Re­gion, und die Aufmerksamkeit beschäftigt sich mit anderen Dingen. Trotzdem spreche ich weiter, gewissermaßen ohne Anteil des Bewußt­seins. Dabei ist es vorgekommen, daß ich von einer plötzlich eingetre­tenen Stille im Saal überrascht wurde, und mir erst klar gemacht wer­den mußte, daß sie die Folge meines eigenen Verstummens war! Gewohnte Vorstellungsverknüpfungen und Urteile können also auch vollzogen werden, zumal solche, die sich im Unanschau­lichen bewegen; die mit ihnen verbundenen Sprachbewegungen laufen gleichfalls ohne Schwierigkeit in den eingeübten Bahnen.»

Na, ich möchte wissen, ich glaube nicht, daß es mir jemals vorgekom­men ist, selbst in diesem Kreise hier, daß ich so fortgeredet habe und nicht dabei war, bei der Sache. Es ist eigentlich ein sonderbares Selbst-zeugnis, und man frägt sich dann, auf wen sich diese Stelle bezieht. Ich will das aber nun auch nicht unterstellen, aber es ist nicht ausdrücklich gesagt, daß es sich auf jemand anders bezöge; es scheint sich also auf ihn selbst zu beziehen, daß er zuweilen Vorträge hält, ohne bei der Sache dabei zu sein. Dann könnte man ja auch denken, daß er auch seitenweise weiterschriebe, ohne bei der Sache dabei zu sein. Dann könnte man sich freilich manches erklären. Nun aber ist das ganze Buch so, daß er es eigentlich bei heruntergedämmertem Bewußtsein geschrieben haben muß; - und das ist wieder zuviel auf einmal, daß man annehmen könnte, daß dieser Professor Max Dessoir in einer Art von Trance das Buch geschrieben und daß die Trance in einer bis zur Perfidie gehenden Oberflächlichkeit gewirkt hätte.

Aber solche sonderbaren Erfahrungen macht man schon. Und wenn man heute darauf angewiesen ist, mit einer geistigen Bewegung sich in die Gegenwart hineinzustellen, dann gibt es wahrhaftig Dinge, die nicht so ganz leicht sind, auch nicht leicht zu nehmen sind. Daher ist es schon notwendig, daß ich Sie heute einmal mit diesen beiden Dingen ein wenig beschäftigt habe. Auf der einen Seite wollte ich Ihnen kurz

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schildern, wie ein Mensch, der versucht, nur ein paar Schritte zu machen auf dem angedeuteten Wege, sich ganz im Sinne der Anthroposophie bewegt, und wie, wenn diese Anthroposophie selber auftritt, sie von denjenigen, die heute angestellt sind, offiziell, amtlich, philosophische Wissenschaft zu tradieren und deshalb ernst genommen werden, wie sie von solchen Leuten behandelt wird. Nun, sie wird sich als Sache schon durchringen; aber es mußte einmal doch uns ganz klar werden, daß wir es bei einem Manne wie Max Dessoir mit einer oberflächlichen und im Grunde genommen lächerlichen Persönlichkeit zu tun haben.

Ich hoffe, daß wir das nächste Mal wiederum tiefer in unsere Be­trachtungen hineingehen können, zu denen das ja nur eine Episode werden sollte.

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FÜNFTER VORTRAG Berlin, 3. Juli 1917

Sie haben gesehen in den verschiedenen Betrachtungen, die wir nun schon seit Wochen anstellen, daß diesen Betrachtungen die Bemühung zugrunde liegt, Bausteine herbeizutragen zum Verständnisse unserer, ich möchte sagen, schwer verständlichen Zeit, in der wir drinnen stehen, und die Verständnis heischt von uns, weil ja, wie wir wieder­holt betonen konnten, dasjenige, was in unserer Zeit liegt, sich nur dann in einer günstigen Weise weiterentwickeln ka nn für die Mensch-heit, wenn ein neues Verständnis der Dinge wenigstens eine größere Anzahl von Menschen durchdringt. Nun möchte ich die Betrachtungen möglichst konkret gestalten, so wie das Wort «konkret», der Begriff «konkret» sich uns durch die schon Wochen hindurch laufenden Aus­einandersetzungen ergeben hat. Es ist ja wirklich in der Menschheitsentwickelung so, daß die großen Impulse, welche der Zeitentwicke­lung zugrunde liegen, durch die eine oder andere Persönlichkeit hindurchwirken. So zeigt sich denn auch an der einen oder anderen Persönlichkeit, wie kräftig gewisse Impulse in einem gewissen Zeitalter sind. Oder vielleicht anders ausgedrückt: wieviel Glück zur Wirksam­keit der eine oder andere Impuls haben kann.

Ich habe Sie auf einen Mann hingewiesen, der in der letzten Zeit gestorben ist, und an den ich hier und in anderen Betrachtungen ver­schiedenes anzuknüpfen versucht habe zur Charakteristik unserer Zeit. Auch heute will ich wiederum an diesen Mann anknüpfen; ich meine an Franz Brentano, den kürzlich in Zürich verstorbenen Philo­sophen, der aber wirklich nicht im engeren Sinn ein Schulphilosoph war, sondern der demjenigen, der ihm nähertritt, auch nur geistig nähertritt, so recht als der Repräsentant ringender Menschheit der Ge­genwart, man könnte sagen, mit den Welträtseln ringender Menschen der Gegenwart erscheinen muß. Man kann auch nicht einmal sagen, daß Brentano einseitig Philosoph war, sondern als Philosoph wirklich umfassendes Menschenwesentliches zum Ausdruck brachte. Nun, es sind kaum irgendwelche den Menschen berührende Rätselfragen, tiefere

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Rätselfragen, an deren Lösung Franz Brentano sich nicht versucht haben würde. Man könnte sagen: Der ganze Umfang menschlicher Weltanschauung war es, der ihn interessiert hat. Weniges ist veröffent­licht, weil er mit Bezug auf all das, was er hat drucken lassen, eigent­lich recht zurückhaltend war. Es soll ein großer Nachlaß da sein, der wird ja zeigen, was Franz Brentano von seinem Streben und Ringen niedergeschrieben hat. Allein für denjenigen, der gewissermaßen Be­gabung hatte, nicht nur das in Franz Brentanos Seele zu sehen, was er in seinen Worten ausdrückte, sondern was da rang und strebte, für den wird durch die Veröffentlichung des Nachlasses vielleicht nicht einmal so besonders viel Neues zutage treten.

Nun möchte ich versuchen, ich möchte sagen, in unserer problemati­schen Zeit das Problematische gerade einer großen Persönlichkeit, wie Franz Brentano eine war, einmal vor Ihre Seele hinzustellen. Franz Brentano war ja allerdings nicht ein Philosoph nach dem Zuschnitt der gegenwärtigen Philosophen, sondern er war, was die gegenwärtigen Philosophen eben gar nicht sind, erstens ein wirklicher Denker, und ein Denker, der sich mit seinem Denken nicht stellen wollte, ich möchte sagen, ins Blaue hinein, sondern der sich mit seinem Denken stellen wollte auf den guten Boden der Gedankenentwickelung der Mensch­heit. Daher war eine der ersten Publikationen des Franz Brentano das Buch über die Psychologie, die Seelenlehre des Aristoteles, namentlich über den Begriff des sogenannten «noùs poëtikós» bei Aristoteles. Die­ses Buch, das jetzt lange schon vergriffen ist, ist, ich möchte sagen, eine Prachtleistung des Denkens der weiteren Gegenwart. Es zeigt vor allen Dingen, daß Brentano ein Mensch war, der eben wirklich noch denken konnte, wenn man unter Denken versteht die Ausgestaltung wirklicher Begriffe, das Bilden von wirklichen Begriffen. Insbeson­dere der zweite Teil dieses Buches über die Seelenkunde des Aristoteles zeigt uns Franz Brentano in einem Denkprozeß drinnen von einer Feinheit, von einer Ausgestaltetheit, die man jetzt überhaupt nicht mehr, und in der Zeit, in der das Buch geschrieben worden ist, sehr selten, findet. Denn das Bedeutsame ist, daß Franz Brentanos Begriffe noch stark genug waren, das Seelische, ich möchte sagen, wirklich ein­zufangen, das Seelische wirklich zu bezeichnen. Heute haben die Menschen,

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wenn sie von dem Seelischen reden, zum großen Teil nur noch Worthülsen, nicht wirkliche Ideen, nicht wirkliche Begriffe. Wort­hülsen, die man eben halten kann aus dem Grunde, weil sie sich in dem geschichtlichen Sprechprozeß ergeben haben, bei denen man auch glaubt, daß man bei den Worten auch etwas denkt; aber man denkt in Wirk­lichkeit nichts bei den Worten.

Es ist sehr merkwürdig, daß die Menschen, die heute noch vorgeben Aristoteles zu lesen, sich auch nur getrauen, so ganz an der Geistes-wissenschaft vorbeizugehen. Denn bei Aristoteles zeigt sich überall ein richtiges Auffiackern jenes alten Wissens, das wir oftmals als ein Er­gebnis des alten atavistischen Hellsehens bezeichnet haben. Wenn wir heute von dem Ätherleib des Menschen, von dem Empfindungsleib, von der Empfindungsseele, von der Verstandes- oder Gemütsseele, von der Bewußtseinsseele sprechen, so sind diese Ausdrücke geprägt für Wirklichkeiten des seelisch-geistigen Lebens, die den Menschen erst wie­derum zum Bewußtsein kommen sollen.

Bei Aristoteles finden sich durchaus Ausdrücke, aus denen er nicht mehr das Rechte machen kann, die aber daran erinnern, daß er sie aus jener Zeit her hat, in der man noch diese einzelnen Glieder der Seele kannte. Es ist bei Aristoteles nur abstrakt geworden. Und Franz Bren­tano mühte sich ab, Klarheit zu gewinnen über diese Begriffe gerade bei demjenigen Denker der alten Zeit, bei Aristoteles, bei dem, ich möchte sagen, diese Begriffe gerade aus der Entwickelungsgeschichte der Menschheit verschwinden. Aristoteles unterscheidet die vegetatiye Seele. Damit trifft er ungefähr dasjenige, was wir als den Atherleib beim Menschen bezeichnen. Er unterscheidet dann die sensitive Seele, das aesthetikon, was wir als Empfindungsleib bezeichnen. Dann hat er den entsprechenden Begriff für das, was wir als Empfindungsseele be­zeichnen, orektikon. Dann hat er einen entsprechenden Begriff für das­jenige, was wir als Verstandes- oder Gemütsseele bezeichnen: kinetikon, und auch für dasjenige, was wir als die Bewußtseinsseele bezeichnen: dianoetikon. Diese Begriffe sind bei Aristoteles vorhanden, es fehlt ihm nur der genaue Ausblick auf die Wirklichkeiten. Das bewirkt etwas Unklares, etwas, ich möchte sagen, Abstraktes zugleich bei Ari­stoteles. Das alles haftet auch dem genannten Buche des Franz Brentano

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an, aber es ist eben doch ein Buch, in dem noch wirkliches Denken herrscht, solches Denken, daß derjenige, der sich einmal solchem Den­ken hingegeben hat, wie Brentano, nicht mehr zu der törichten An­schauung kommen konnte, daß das Seelisch-Geistige etwa nur eine Funktion, ein Entwickelungsprodukt des Physisch-Leiblichen sei. Es war, ich möchte sagen, zu viel in den Begriffen, die Franz Brentano an der Hand des Aristoteles geprägt hat, um in die Unart des neueren Materialismus zu verfallen.

Nun wurde es das hauptsächlichste Bestreben Franz Brentanos, über die menschliche Seele überhaupt Klarheit zu gewinnen. Psychologe, Seelenforscher, wurde Franz Brentano hauptsächlich; aber von der Seelenkunde aus beschäftigte er sich mit den umfassendstenWeltanschau­ungen. Nun habe ich Sie ja darauf aufmerksam gemacht, daß von der ganzen Seelenkunde, von der ganzen «Psychologie» des Franz Bren­tano, die auf vier oder fünf Bände berechnet war, nur der erste Band erschienen ist. Und wer Franz Brentano genau kennt, der kann durch­aus verstehen, warum die folgenden Bände nicht erschienen sind. Brentano wollte eben nicht, konnte sich seiner ganzen Veranlagung nach nicht zur Geisteswissenschaft wenden. Hätte er aber diejenigen Fragen, die sich ihm nach dem ersten Bande der «Seelenkunde» auf­geworfen haben, beantworten wollen, so hätte er Geisteswissenschaft gebraucht. Die konnte er nicht finden. Als ehrlicher Mann unterließ er daher die Abfassung der folgenden Bände; es blieb beim ersten Bande. Das ganze Unternehmen blieb eben Fragment.

Nun möchte ich auf zwei Punkte aufmerksam machen, die Rätsel darstellen, nach denen Brentano rang, die aber zugleich Rätsel dar­stellen, nach denen im Grunde genommen jeder denkende Mensch heute bewußt ringen muß, nach denen die ganze Menschheit - in­sofern sie nicht ein tierisch stumpfes Dasein lebt - ringt, aber un­bewußt; unbewußt, indem sie sich entweder abmüht, nach der einen oder anderen Richtung die Lösungen dieser Rätsel scheinbar zu fin­den, oder aber indem sie mehr oder weniger seelisch krankt an dem Unvermögen, irgend etwas nach den Richtungen hin, die durch diese Rätsel vorgezeichnet sind, zu erreichen. Franz Brentano dachte nach, forschte nach über die menschliche Seele. Nun, wenn man so, wie

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die Wissenschaft es tut, über die menschliche Seele nachforscht und dadurch von der menschlichen Seele aus den Weg zum Geiste fin­det, dann kann man bei dem Selbstverständlichsten bleiben und die Betätigungen der menschlichen Seele dreigliedrig auffassen als Den­ken oder Vorstellen, Fühlen und Wollen; denn das sind in der Tat die drei Glieder des menschlichen Seelenlebens: Denken, Fühlen und Wollen. Aber man kann erst dann zu irgendeiner Befriedigung kom­men in bezug auf Denken, Fühlen und Wollen in der menschlichen Seele, wenn man durch Geisteswissenschaft den Weg in die geistige Wirklichkeit hineinfindet, mit der die Menschenseele zusammenhängt. Wenn man diesen Weg nicht findet - und Franz Brentano konnte ihn ja nicht finden -, dann fühlt man sich ja gewissermaßen in der Seele mit dem Denken, Fühlen und Wollen ganz vereinsamt. Das Denken kann im besten Falle Abbilder einer äußeren, rein räumlichen, stoff­lichen Wirklichkeit geben, das Fühlen kann im besten Falle Mißfallen oder Gefallen an demjenigen geben, was sich in der räumlichen physi­schen Wirklichkeit abspielt, und das Wollen kann eine Befriedigung des physischen Menschen sein, seiner Lust, seiner Unlust. Aber man steht durch Denken, Fühlen und Wollen in keinem Zusammenhang mit einer Realität, mit einer Wirklichkeit, in der sich der Mensch ge­wissermaßen geborgen fühlen kann. Daher sagte sich Franz Brentano:

Für die Betrachtung des menschlichen Seelenlebens gibt mir eigentlich die Gliederung der Seele in Denken, Fühlen und Wollen, Vorstellen, Fühlen und Wollen, nichts. Ich bleibe ja innerhalb der Seele mit dem Denken, Fühlen und Wollen. - Daher gliedert er das Seelenleben an­ders. Und es ist charakteristisch, wie er es gliedert. Er unterscheidet auch eine Dreiteilung des Seelenlebens, aber nicht die nach Vorstellen, Fühlen und Wollen, sondern er unterscheidet Vorstellen, Urteilen und die innere Welt der Gemütsbewegungen. So daß also nach Brentano das Seelenleben zerfällt in Vorstellen, Urteilen und in die Welt der Ge­mütsbewegungen. Das Vorstellen führt uns zunächst über die Seele nicht hinaus. Wenn wir irgend etwas vorstellen, so ist das Vorgestellte in unserer Seele. Wir glauben auch, es beziehe sich auf etwas, aber es ist gewissermaßen nicht ausgemacht, ob sich das Vorgestellte auf etwas bezieht. Insofern wir im Vorstellen bleiben, ist das Phantasiegebilde

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ganz ebenso eine Vorstellung wie dasjenige, was sich auf die Wirk­lichkeit bezieht. Auch wenn ich Vorstellungen nilteinander verknüpfe, so ist damit nicht ausgemacht, daß ich in der Welt der Wirklichkeit bin. Der Baum ist eine Vorstellung, grün ist eine Vorstellung. «Der Baum ist grün» verknüpft zwei Vorstellungen. Aber damit ist nicht ausgemacht, wenn ich vorstelle «der Baum ist grün>, daß ich in einer Wirklichkeit stehe, denn dieser grüne Baum könnte auch meine Phan­tasievorstellung sein. In der Wirklichkeit stehe ich erst, sagte sich Bren­tano, wenn ich urteile; und eigentlich urteile ich schon, nur maskiert, wenn ich in solcher Weise Vorstellungen verknüpfe, wie: der Baum ist grün. Denn ich meine damit nicht, daß ich bloß die Vorstellungen Baum und grün miteinander verknüpfe, sondern ich meine eigentlich:

es gibt einen grünen Baum. Da gehe ich aber über zur Existenz, da bleibe ich nicht innerhalb meiner Vorstellung stehen. Es ist ein Unter­schied zwischen dem Bewußtsein: der Baum ist grün, und dem Be­wußtsein: es ist ein grüner Baum. Das erste ist ein bloßes Vorstellen, das zweite ist etwas, dem in der Seele Anerkennen oder Verwerfen zugrunde liegt, so daß man im bloßen Vorstellen eben mit der Seele selbst beschäftigt ist. Im Urteilen hat man es zu tun mit einer Seelen-tätigkeit, die aber sich in Beziehung setzt zu der Umwelt, indem sie anerkennt oder verwirft. «Ein grüner Baum ist» ist nicht bloß die An­erkennung, daß ich ihn vorstelle, sondern daß er, abgesehen von mei­ner Vorstellung, da ist. «Ein Kentaur ist nicht» ist die Verwerfung der Vorstellung: halb Mensch, halb Tier; das ist Urteilen. Das ist die zweite Seelentätigkeit.

Das dritte, was Brentano unterscheidet in der Seele ist die Gemüts­bewegung. So wie das Urteilen beruht auf Anerkennen und Verwer­fen, so beruht die Gemütsbewegung überall auf einem Lieben oder Hassen, auf Gefallen oder Mißfallen. Irgend etwas ist mir sympathisch, oder irgend etwas ist mir antipathisch. Und das Wollen unterscheidet Brentano nun nicht von der bloßen Gemütsbewegung. Das ist sehr charakteristisch, das weist in tiefe Geheimnisse der Brentano-Seele hin­ein. Es würde zu weit führen, wollte ich das ausführen, aber ich wilJ nur sagen, daß Brentano nicht unterscheidet zwischen dem bloßen Füh­len im Gefallen oder Mißfallen und dem Wollen, sondern daß das

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für ihn ineinander übergeht. Wenn ich etwas will, so untersucht dabei Brentano auch nur, daß ich es liebe; wenn ich es nicht will, untersucht er, daß ich es hasse. Das ist also das Dritte, das er in der Seele unter­scheidet. Lieben und Hassen, Anerkennen und Verwerfen, und das Vorstellen im allgemeinen.

Bei dieser Gelegenheit gingen nun Brentano wirklich auf die zwei zunächst größten Rätsel des menschlichen Seelenlebens, das Rätsel nach der Wahrheit und das Rätsel nach dem Guten. Was ist wahr? Was ist gut? Denn ringt man nach der Berechtigung des Urteils, so muß man fragen: Woher kommt es, daß wir das eine anerkennen, das an­dere verwerfen? Was wir anerkennen, zählen wir zur Wahrheit, was wir verwerfen, zählen wir zur Unwahrheit. Da stecken wir drinnen in dem Problem, in dem Rätsel: Was ist überhaupt Wahrheit? - Wenn wir nach den Gemütsbewegungen hinsehen, stecken wir drinnen in dem Rätsel des Guten und Bösen, oder Guten und Schlechten. Denn es ist ganz klar, daß in der Art von Anerkennung, die im Lieben liegt -wobei Lieben von Brentano gemeint ist als die Anerkennung, die wir einer Handlung, die wir gut nennen, zuteil werden lassen; Haß ist die Verwerfung einer Handlung, die wir böse nennen -, also in diesem Lieben und Hassen, diesen Gemütsbewegungen, liegt die Ethik, die Moral, liegt auch alles Recht. Die Frage nach dem Guten und Schlech­ten, die ging Brentano durch die Seele, als er vor diese seine Seele hin-stellte das Wesen der menschlichen Gemütsbewegungen, des Liebens und des Hassens.

Nun ist es im höchsten Grade wirklich interessant, einen Menschen wie diesen Brentano zu verfolgen, wie er durch Jahrzehnte ringt, Ant­wort zu bekommen auf solch eine Frage: Woher die Berechtigung des Wahren und Falschen, des Anerkennens und Verwerfens im Urteil? -Sie können die publizierten Schriften des Franz Brentano durchgehen -und die nicht publizierten, später herauskommenden werden sicherlich nichts anderes bringen -, Sie können überall finden, daß das einzige, was Brentano aufbringt zur Beantwortung der Frage: Was ist wahr? Was berechtigt also zur Anerkennung im Urteil? - das ist, was er die Evidenz des Urteils nennt, die Augenscheinlichkeit; natürlich, gemeint ist die innere Augenscheinlichkeit. Wenn ich gewissermaßen einen inneren

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seelischen Tatbestand, als der sich ja doch alles ausdrückt, was ich erfahren kann, mir so vor das Seelenauge führen kann, daß ich ihn voll durchschauen und ihm zustimmen oder ihn bei vollem Durch­schauen verwerfen kann, mit anderen Worten, wenn ich innerlich sehend und nicht innerlich blind urteile, dann gibt mir das Wahrheit. Zu etwas anderem kommt Franz Brentano nicht. Und es ist gerade das Bedeutungsvolle, daß ein Mensch eben, der denken kann, was die anderen jetzt nicht können, durch Jahrzehnte danach ringt, eine Ant­wort auf die Frage zu finden: Was berechtigt mich, etwas als wahr oder als falsch anzuerkennen oder zu verwerfen? Die Evidenz, die innere Augenscheinlichkeit. - Dazu kommt er.

Nun hat er durch viele Jahre in Wien vorgetragen das, was man in Österreich universitätsgemäß nannte: Die praktische Philosophie. Un­ter der praktischen Philosophie verstand man eigentlich eine Art Moral-lehre, eine Art Ethik. Und so wie sie von Brentano obligatorisch vor­getragen werden mußte, so wurde sie für angehende Juristen als ein Pflichtkolleg, eine Pflichtvorlesung, die die angehenden Juristen zu hören hatten, vorgetragen. Franz Brentano hat in diesem Kolleg über praktische Philosophie gewöhnlich nicht so sehr über «praktische Philo-sophie» gesprochen, sondern, ich möchte sagen, über die Frage: Wie kommt man überhaupt dazu, irgend etwas als Gutes anzuerkennen oder irgend etwas als Schlechtes hinzustellen? - Nun hatte Franz Bren­tano mit seinen eigenartigen Ansichten nach dieser Richtung keinen ganz leichten Stand, denn Sie wissen ja, auch über das Gute ist inner­halb der Philosophie immer gedacht worden. Und es ist auch gesucht worden, die Frage zu beantworten: Welches Recht hat man, das eine als gut, das andere als schlecht anzusehen? - beziehungsweise die Frage zu beantworten: Woraus fließt das Gute, aus welcher Quelle fließt das Gute, und aus welcher Quelle fließt das Schlechte oder Böse? - Man darf sagen, auf alle mögliche Art und Weise wurde diese Frage an-gefaßt. Und in der Zeit, in welcher Brentano versuchte - wenn ich mich schulmäßig, pedantisch ausdrücken wollte, würde ich sagen, das Kri­terium des Guten zu suchen -, in der Zeit war rings um ihn eine eigen­tümliche Morallehre vorhanden: die Herbartische.

Herbart, der einer der Nachfolger Kants war, hat ja gerade in bezug

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auf Ethik die Anschauung vertreten - die auch andere vertreten haben, nur er ganz hervorragend -, daß alles Ethische eigentlich darauf be­ruht, daß uns gewisse Verhältnisse im menschlichen Leben gefallen, andere mißfallen. Und diejenigen Verhältnisse im menschlichen Leben, die gefallen, sind die guten, die mißfallen, sind die schlechten. So daß der Mensch gewissermaßen ein naturgemäßes, ihm unmittelbar zu­kommendes Vermögen hätte, dem Guten Gefallen, dem Schlechten Mißfallen zuzuwenden. Herbart sagt zum Beispiel: Innere Freiheit ist etwas, was uns unter allen Umständen gefällt, wenn sie an einem Menschen erscheint. Was ist innere Freiheit? Nun, ein Mensch ist inner­lich frei, wenn er so handelt, wie er sich über sein Handeln Vorstel­lungen machen kann, wenn sein Handeln und sein Vorstellen in Har­monie stehen. Wenn also, grob gesprochen, der A von dem B denkt:

Du bist eigentlich ein schlechter Kerl -, aber ihm schmeichlerische Worte sagt, so ist das nicht der Ausfluß der inneren Freiheit, und keine Harmonie zwischen Handeln und Vorstellen. Auf diesem Einklang zwischen Vorstellen und Handeln beruht die Idee, die ethische Idee der inneren Freiheit. - Eine andere ethische Idee ist die Vollkommen­heit, darin bestehend, daß, wenn wir irgend etwas tun, das wir besser tun könnten, es uns mißfällt. Wenn wir aber etwas tun, das wir so tun, daß es, mit jedem unserem möglichen anderen Tun verglichen, das bessere ist, das vollkommenere ist, so gefällt es uns. Solcher Ideen, solcher ethischen Ideen unterscheidet Herbart fünf. Das Wesentliche ist für uns das, daß Herbart auf das unmittelbar in der Seele auf­tretende Gefallen und Mißfallen die Ethik stützt.

Eine andere Begründung der Ethik ist die Kantische durch den so-genannten kategorischen Imperativ. Er soll darin bestehen, daß wir eine Handlung für gut finden, wenn wir uns sagen können, daß diese Handlung eine solche der allgemeinen menschlichen Gesetzgebung werden könnte. Dieser kategorische Imperativ führt auf Schritt und Tritt zu Unmöglichkeiten, eigentlich zu Leerheiten, und es ist sehr leicht einzusehen, daß selbst das Beispiel, das Kant selbst gebraucht, nicht eigentlich einen ethischen Inhalt abgibt. Zum Beispiel sagt Kant:

Vertraut dir jemand irgend etwas an, was du aufbewahren sollst, und du eignest es dir an, so kann das nicht allgemeine Gesetzgebung werden.

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Denn wenn jeder sich das aneignen wollte, was ihm zur Auf­bewahrung gegeben wird, so würde das Zusammenleben der Menschen unmöglich sein. - Nun, Sie sehen leicht ein, daß darauf nicht das Gute beruhen kann, im Behalten oder Zurückgeben irgendeines anvertrau­ten Gutes, das einem nicht gehört, sondern daß da andere Quellen, andere Gründe maßgebend sein müssen.

Alledem was da eigentlich als ethische Ansichten in der neueren Zeit lebte, widersprach Franz Brentano. Er suchte nach einer tieferen Quelle, denn er sagte: Gefallen und Mißfallen, das begründet eigentlich nur ein ästhetisches Urteil. Bei dem Schönen können wir uns mit Recht sagen:

Dasjenige ist schön, was uns gefällt, dasjenige ist häßlich, was uns mißfällt. Aber wir müssen sehr wohl verspüren, daß zum Ethischen, zum Moralischen noch ein anderer Impuls notwendig ist als derjenige, der bloß beim Schönen in uns maßgebend ist. - So sagte sich Brentano, und so wollte er denn jedes Jahr für Juristen seine Ethik begründen. Und dann hat er auch öffentlich in seinem sehr schönen Vortrage diese Begründung der Ethik ausgesprochen. «Von der natürlichen Sanktion für recht und sittlich» heißt dieser Vortrag. Es ist schon die Veranlas­sung sehr interessant, auf welche hin Franz Brentano diesen Vortrag gehalten hat. Der berühmte Rechtslehrer Ihering hat die Flüssigkeit der Rechtsbegriffe in einem Verein vertreten, die Flüssigkeit der Rechts-begriffe, das heißt die Anschauung, daß das Recht nicht eigentlich etwas ist, von dem man im absoluten Sinne sprechen kann, sondern etwas, das sich im Verlaufe der Entwickelungsgeschichte der Menschheit fort-während ändert. Man hätte eigentlich keine Möglichkeit, anders als im geschichtlichen Sinne von den Dingen zu sprechen. Geht man zurück in die Zeit, in der die Menschenfresserei üblich war, so hat man kein Recht zu sagen, für diese Zeit wären unsere Rechts- oder Sittlichkeits­begriffe maßgebend, daß man nicht die Menschen auffrißt. Das wäre dazumal falsch gewesen. Dazumal war eben richtig die Menschen­fresserei, das hat sich nur geändert im Laufe der Zeit. Wir müßten also sympathisieren für diejenige Zeit nicht mit denen, die nicht Menschen­fresserei trieben, sondern wir müßten geradezu mit den Menschen­fressern sympathisieren. Nun, das ist der radikalste Fall. Aber Sie sehen schon, worauf es Ihering ankommt. Es kommt nach Ihering

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darauf an, daß die Rechts- und Sittlichkeitsbegriffe im Laufe der Menschheitsentwickelung sich ändern, daß sie also flüssig seien. Das leuchtete Brentano durchaus nicht ein. Er wollte einen gewissen abso­luten Quell des Sittlichen finden. Für die Wahrheit hat er die Evidenz hingestellt; dasjenige, was in unmittelbar klarer Anschaulichkeit see-lisch einleuchtet, ist wahr. Also das richtige Urteil ist wahr. Was ist gut? Darauf fand Brentano, wiederum wirklich in jahrzehntelangem Ringen, eine ebenso, ich möchte sagen, abstrakte Antwort. Er sagte:

Erfließend ist das Gute und das Schlechte aus den Gemütsbewegungen heraus. Die Gemütsbewegungen leben in Lieben und Hassen. Das Gute ist dasjenige, welches richtig geliebt wird; das Liebenswerte ist das Gute. Also dasjenige, was vom Menschen in der richtigen Weise geliebt wird, ist das Gute. Und nun bemüht er sich zu zeigen, wie in gewissen einzelnen Fällen der Mensch richtig lieben kann. So, wie er bezüglich der Wahrheit richtig urteilen soll, so soll er bezüglich des Guten richtig lieben.

Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern ich will haupt­sächlich betonen, daß nun Franz Brentano wirklich in jahrzehnte-langem Ringen das Gute auf die einfache Formel gebracht hat: es ist das Liebenswerte, es ist dasjenige, was in richtiger Liebe getan wird. Eine Abstraktion! Denn bei Brentano ist das Große wirklich nicht das­jenige, zu dem er gekommen ist. Denn Sie werden sagen: es sind eigent­lich magere Ergebnisse: «Das Wahre ist das, was aus der Evidenz des Urteils folgt», «Das Gute ist dasjenige, was richtig geliebt wird.» Es sind magere Dinge, werden Sie sagen. Aber das Charakteristische ist die Energie, der Ernst des Strebens; denn Sie werden wirklich nicht, bei keinem anderen Philosophen der Gegenwart, solch einen aristote­lischen Scharfsinn in den Auseinandersetzungen finden und zu gleicher Zeit ein solches Mitschwingen des ganzen seelischen Lebens bei allem, was er sagte. Diese mageren Resultate werden doch eigentlich erst dadurch wertvoll, daß man sie bei einem Menschen, der eben so ringt, verfolgt. Aber gerade durch diese Art des Seelenlebens war Franz Brentano ein Repräsentant geistigen Strebens. Man könnte viele Men­schen der Gegenwart - Philosophen - anführen, welche schon den Ver­such gemacht haben, die Fragen: Was ist das Wahre?, was ist das Gute?

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zu beantworten. Gerade bei den Geschätztesten würde man finden, daß die Antworten viel leerer sind als die von Brentano, trotzdem Ihnen, die Sie sich jahrelang mit der Geisteswissenschaft befassen, Brentanos Antworten so mager erscheinen müssen. Brentano hat ja auch, ich möchte sagen, das Schicksal der ringenden Menschen der Gegenwart gehabt, denn er ist wenig in seinem Ringen verstanden worden.

Wenn man nun bei Franz Brentano dieses Ringen nach den Ant­worten auf die Fragen: Was ist wahr? Was ist gut? - sich ansieht, so findet man bei ihm auch eben am klarsten, am anschaulichsten, wo es fehlen muß bei einem Menschen der Gegenwart, der nicht in die Gei­steswissenschaft herein will, weil eben Franz Brentano es am weitesten gebracht hat unter all denen, die nicht in die Geisteswissenschaft haben herein wollen. Er hat es am weitesten gebracht, daher ist er gerade charakteristisch. Im weiten Umfange des philosophischen Strebens der Gegenwart werden Sie eben nirgends die Möglichkeit finden, Antwort zu geben auf die Fragen: Was ist wahr? Was ist gut? - Konfusionen werden Sie ja viele finden. Interessante Konfusionen sind zum Beispiel solche wie die Windelbandschen. Windelband, der lange in Heidelberg als Professor gelehrt hat, auch in Freiburg, Windelband konnte nichts herausfinden in der Seele, was dazu führt, etwas als wahr anzuer­kennen oder als falsch zu verwerfen. Daher gründete er das Wahre auch auf die Zustimmung, also gewissermaßen auf das Lieben. Ein Urteil, das wir in einem gewissen Sinne lieben können, ist wahr, und ein Urteil, das wir hassen müssen, wäre also dann unwahr. Versteck­tes Lieben und Hassen steckt auch in Wahr und Unwahr darin. Bei den Herb artianern sehen Sie, daß das ethisch Gute und ethisch Schlechte auch nach Gefallen und Mißfallen beurteilt wird, was Franz Bren­tano nur für das Schöne oder Häßliche gelten lassen will.

Also Konfusionen gibt es viele. Eine Möglichkeit, über diese Grund-verhältnisse der Seele irgendwie zur Klarheit zu kommen, gibt es nicht. Es ist zum Verzweifeln. Wenn man sich einläßt auf die gegenwärtigen Philosophen, kann man schon manchmal verzweifeln. Die Fragen wer­fen sie natürlich auf, sie glauben auch manchmal Antworten zu geben, aber gerade wenn sie Antworten geben wollen, dann ist es am schlimmsten,

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denn dann merkt man überall, daß das nur Scheinantworten sind, gleichviel ob sie zustimmend oder verwerfend sind.

Nun ist es interessant, daß Franz Brentano überall, ich möchte sagen, just an dem Punkte steht, wo er, wenn er ein Stückchen weiter ginge, in das Rechte hineinkäme. Es kann nämlich niemand die Fragen: Was ist wahr? Was ist falsch? - beantworten, niemand, der bloß die heutigen Ansichten vom Menschenwesen hat. Es gibt keine Möglichkeit, auf der einen Seite die heutigen Ansichten vom Menschenwesen zu haben, und auf der anderen Seite die Frage zu beantworten: Was bedeutet die Wahrheit im menschlichen Leben? - Es gibt auch keine Möglichkeit, die Frage zu beantworten: Was ist gut? -, wenn man vom Menschen-wesen die Ansicht hat, die heute üblich ist. Das gibt es nicht. Wir wer­den gleich sehen, warum. Vorerst möchte ich aber Ihre Aufmerksam­keit auf dasjenige hinlenken, was, ich möchte sagen, die Leute nach beiden Richtungen hin beirrt: Das ist das Schöne.

Bei den Herbartianern ist ja das Gute nur eine Unterabteilung des Schönen, des Schönen nämlich, das als Eigenschaft der menschlichen Handlungen auftritt. Wenn man die Frage aufwirft: Was ist eigent­lich das Schöne? -, dann wird es ja vor allen Dingen auffallen, daß dieses Schöne wirklich einen recht starken subjektiven Charakter hat. Über nichts wird unter Menschen mehr gestritten als über das Schöne. Was der eine schön findet, findet der andere nicht mehr schön und so weiter. Man kann sagen: Das Kurioseste im Menschenleben vollzieht sich eigentlich in diesen Streitigkeiten um das Schone oder Häßliche, das künstlerisch Berechtigte oder Nichtberechtigte. Denn schließlich fußt das ganze Urteil über das Schöne und Häßliche, über das künst­lerisch Berechtigte oder Nichtberechtigte, lediglich auf der mensch­lichen Eigenheit selber. Man wird gar nicht irgendeine allgemeine Ge­setzgebung des Schönen jemals auffinden können. Man wird sie auch nicht auffinden sollen, denn es könnte nichts Unsinnigeres geben, als eine allgemeine Gesetzgebung über das Schöne oder Häßliche. Es könnte nichts Unsinnigeres geben. Man kann ein Kunstwerk nicht mögen, man kann aber dahin kommen, einzugehen auf dasjenige, was der Künstler wollte, das man vorher nicht eingesehen hat, und man kann es dann sehr schön finden und kann einsehen, daß man es nur

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deshalb nicht schön gefunden hat, weil man es nicht verstanden hat. Es ist wirklich etwas berechtigt Subjektives, dieses ästhetische Urteil, das ästhetische Anerkennen oder Verwerfen.

Es würde sehr lange dauern, wenn ich Ihnen im einzelnen die Be­rechtigung dieser Behauptung erhärten wollte, die ich eben ausgespro­chen habe, aber Sie wissen ja, eine gewisse Berechtigung hat schon der Satz: Über den Geschmack läßt sich nicht streiten. Man hat eben für irgendeine Sache Geschmack oder hat ihn nicht, hat ihn schon oder hat ihn noch nicht. Woher kommt dieses? Sehen Sie, das kommt davon her, daß bei aller Wahrnehmung desjenigen, auf das wir die Idee des Schö­nen anwenden, eigentlich ein doppeltes Wahrnehmen vorhanden ist. Das ist der wichtige Tatbestand, der sich der geisteswissenschaftlichen Forschung ergibt. Wenn Sie überhaupt veranlaßt werden, etwas unter die Idee des Schönen zu subsummieren, dann ist eigentlich Ihre Wahr­nehmung eine Doppelwahrnehmung dem betreffenden Gegenstand gegenüber. Sie nehmen einen Gegenstand, den Sie so betrachten, wahr, erstens indem er eine gewisse Wirkung auf Sie ausübt, auf physischen und Ätherleib Dies ist die eine Strömung, möchte ich sagen, die von dem schönen Objekt zu Ihnen kommt, die Strömung, die auf den physischen und auf den Ätherleib geht, gleichgültig, ob Sie eine Male­rei, eine Skulptur oder irgend etwas vor sich haben, die Wirkung geschieht auf physischen und Ätherleib Und im physischen und Äther­leib erleben Sie mit dasjenige, was da draußen ist. Außerdem erleben Sie im Ich und im Astralleibe dasjenige mit, was draußen ist. Aber Sie erleben es nicht so mit, daß Sie das letztere in einem Akt mit dem ersteren erleben, sondern Sie erleben tatsächlich eine Zweiheit. Sie erleben auf der einen Seite den Eindruck auf Ihren physischen und Ätherleib, und auf der anderen Seite erleben Sie den Eindruck auf Ihr Ich und Ihren Astralleib. Sie erleben tatsächlich eine Doppelwahrneh­mung. Und je nachdem Sie in der Lage sind, das eine mit dem anderen in Harmonie oder Disharmonie zu bringen, finden Sie das betreffende Objekt schön oder häßlich. Erleben Sie für Ihren physischen Leib und Ihren Ätherleib auf der einen Seite etwas, für Ihr Ich und den Astral-leib auf der anderen Seite etwas, und Sie können die beiden Dinge nicht miteinander vereinigen, die beiden Dinge klingen nicht zusammen,

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dann können Sie das betreffende Kunstwerk nicht verstehen, dann wirkt es nicht schön. Das Schöne ist unter allen Umständen darin gelegen, daß auf der einen Seite Ihr Ich und Astralleib, auf der anderen Seite Ihr physischer und Ätherleib zusammenschwingen, miteinander in Einklang kommen. Es muß ein innerer Prozeß, ein innerer Vorgang stattfinden, damit Sie etwas als schön erleben können. Anders können Sie das Schöne nicht erleben. - Denken Sie, wieviel Möglichkeiten es da gibt im Erleben des Schönen, wie vielerlei Zusammenstimmungen und Nichtzusammenstimmungen da möglich sind. So ist einmal das Schöne etwas Subjektives, etwas im Innern zu Erlebendes.

Was ist dagegen das Wahre? Im Wahren stehen Sie auch einem Ob­jekte, einem Gegenstand gegenüber; aber wie da gewirkt wird, geht zunächst auf Ihren physischen und Ätherleib Und dann müssen Sie Ihrerseits die Wirkung auf den physischen und Ätherleib wahrnehmen. Merken Sie den Unterschied, bitte! Wenn Sie dem schönen Objekt ge­genüberstehen, haben Sie die Doppeiwahrnehmung; das Schöne wirkt auf Ihren physischen und Ätherleib und auf Ich und Astralleib, und innerlich müssen Sie die Harmonie herstellen. Alles dasjenige, was überhaupt je Gegenstand des Wahren bilden kann, muß auf physischen und Ätherleib wirken, und Sie müssen dann innerlich diese Wirkung, die auf Sie ausgeübt wird, wahrnehmen. Beim Schönen nehmen Sie die Wirkung auf physischen und Ätherleib nicht wahr, die bleibt unbe­wußt. Ebenso bringen Sie auf der anderen Seite die Wirkung auf Ich und Astralleib nicht herunter ins Bewußtsein, sondern das schwingt im Unterbewußten hin und her bei dem, was Gegenstand des Wahren ist. Notwendig ist, daß Sie sich jetzt dem physischen und Ätherleib hingeben und im Ich und Astralleib die Abspiegeiung desjenigen, was da drinnen vorgeht, finden. Also Sie haben beim Wahren im Ich und Astralleib dasjenige, was Sie im physischen und Ätherleib haben. Beim Schönen haben Sie etwas anderes im Ich und Astralleib. So ist also die Frage nach dem Wahren hingelenkt auf die menschliche Wesenheit, insofern sich als die untersten Glieder dieser Wesenheit physischer Leib und Ätherleib zeigen. Im physischen Leibe erleben wir nur die äußere Scheinwelt mit; im Ätherleib erleben wir einzig und allein dasjenige mit, was den Einklang mit dem gesamten Kosmos ergibt. Die Wahrheit

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liegt daher verankert im Ätherleib, und wer keinen Ätherleib an­erkennt, kann nie die Frage beantworten: Wo sitzt die Wahrheit? - Er kann die Frage beantworten: Wo sitzt der Sinnenschein? -, aber nicht die Frage nach der Wahrheit. Denn der Sinnenschein, der im physi­schen Leibe sitzt, wird erst zur Wahrheit verarbeitet im Ätherleibe. So daß die Frage nach der Wahrheit nur derjenige beantworten kann, der diese ganze Einwirkung des äußeren Objektes auf physischen Leib und Ätherleib anerkennt.

Würde sich also Franz Brentano auf die Frage: Was ist Wahrheit? -Antwort haben geben wollen, so würde er die ganze Beziehung, in der der Mensch steht zur Weit durch seinen Ätherleib, haben untersuchen müssen. Das kann er nicht, weil er den Ätherleib nicht anerkennt. Da­her bleibt ihm nichts anderes übrig, als gewissermaßen ein mageres Urteil hinzustellen, ein mageres Wort: Die Evidenz. Denn die Ausein­andersetzung der Wahrheit ist einerlei mit der Erklärung der Be­ziehungen des menschlichen Ätherleibes zum Kosmos. Wir stehen mit dem Kosmos in Zusammenhang, indem wir die Wahrheit ausdrücken, dadurch, daß wir mit dem Kosmos durch den Ätherleib in Zusammen­hang stehen. Gerade aus diesem Grunde muß uns nach dem Tode das Erleben des Ätherleibes für mehrere Tage verbleiben. Denn würde es das nicht, ginge uns die Wahrheit für die Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt verloren. Wir leben auf Erden, um unsere Vereinigung mit der Wahrheit zu pflegen, und nehmen gewissermaßen das Erlebnis der Wahrheit mit, indem wir mehrere Tage nach unserem Tode in dem großen Tableau des Ätherleibes leben. - Untersuchungen also über den menschlichen Ätherleib würden dasjenige bilden, was die Frage zu beantworten hat: Was ist Wahrheit?

Die andere Frage, die Franz Brentano beantworten wollte, das war die Frage: Was ist das Gute? - Gerade so, wie der Mensch das äußere Objekt, das Gegenstand der Wahrheit wird, wirken lassen muß auf sei-nen physischen und Ätherleib, so muß dasjenige, was Impuls des Guten beziehungsweise auch Impuls des Bösen werden soll, auf das Ich und den Astralleib wirken. Da können sie noch nicht vorgestellt werden; sie müssen jetzt vorgestellt werden, indem sie sich spiegeln im Äther-leibe und physischen Leibe. Vorstellungen von Gut und Böse haben

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wir nur, indem sich dasjenige, was im Ich und Astraileibe vorgeht, im physischen und im Ätherleib spiegelt, indem wir Bilder gewinnen von dem, was im Astralleib und Ich bildlos ist. Aber die unmittelbare Wir­kung, die sich äußert im Guten und Bösen, geschieht im Ich und Astral­leib. Daher weiß derjenige, der ein Ich und einen Astraileib nicht an­erkennt, überhaupt nicht, wo der Impuls des Guten oder Bösen im Menschen wirkt. Er kann also nur das Wort hinsetzen: Das Gute ist dasjenige, das in der richtigen Weise geliebt wird. Liebe ist aber etwas, was im Astralleibe sich vollzieht. Das Konkrete, das Reale hat man nur, wenn man dasjenige untersucht, was im menschlichen Astralleib und im Ich sich vollzieht. Nun, das Ich des Menschen ist in der gegen­wärtigen Entwickelung so, daß es nur zeigt, wie dasjenige, was im Astralleibe lebt, in Trieben, in Affekten zum Ausdruck kommt. Das Ich des Menschen ist, wie Sie wissen, nicht sehr weit in seiner Entwicke­lung; der Astraileib ist weiter. Aber der Astraileib kommt dem Men­schen nicht so zum Bewußtsein wie das, was in seinem Ich vorgeht. Daher kommen die sittlichen Impulse auch dem Menschen so wenig zum Bewußtsein, beziehungsweise es hilft das Bewußtsein nicht viel, wenn nicht die astralischen Impulse da sind; so daß für den gegen­wärtigen Menschen die sittlichen Urimpuise eigentlich im Astraileibe sitzen, so wie die Wahrheitskräfte im Ätherleibe sitzen. Durch den Astraileib hängt der Mensch zusammen mit der geistigen Welt; und in der geistigen Welt sind die Impulse des Guten. In der geistigen Welt spielt sich auch dasjenige ab, was des Menschen Gutes und Böses ist. Was wir von diesen wissen, ist nur die Spiegelung im Ätherleibe und physischen Leibe.

Sie sehen also, richtige Begriffe vom Wahren, Guten und Schönen werden erst möglich sein, wenn man die wirklichen Wesensglieder des Menschen ins Auge fassen wird. Denn man kann nicht einen Begriff über die Wahrheit gewinnen, wenn man nicht die Wesenheit des Ä therleibes ins Auge faßt. Und man kann nicht einen Begriff über das Schöne gewinnen, wenn man nicht weiß, wie innerlich namentlich Ätherleib und Astralleib zusammenvibrieren - mehr untergeordnet Ich und physischer Leib -,in dem Erleben des Schönen. Man kann nicht einen wirklichen Begriff des Guten gewinnen, wenn man nicht

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weiß, daß dieses Gute im Grunde genommen wirksame Kräfte im Astralleibe darstellt.

So könnte man sagen: Franz Brentano ist bis zum Tore gegangen, und seine Antworten sind eigentlich nur zu verstehen, wenn man sie auf Höheres, als er gefunden hat, bezieht. Sie sind daher bei ihm mager geblieben. Da, wo er davon gesprochen hat, daß in innerer An­schaulichkeit vor dem Seelenauge das Wahre aufleuchten muß, da hätte er eigentlich sagen müssen: Das Wahre nimmt man eigentlich erst dann wahr, wenn es einem gelingt, die Urteile so zu erfassen, daß man sie losbekommt vom physischen Leibe, daß man den Ätherleib losbekommt vom physischen Leibe. Nun, erinnern Sie sich, wie ich immer den Standpunkt vertreten habe, den jeder Geisteswissenschafter vertreten muß: Das erste Hellsehen ist schon das wirklich reine Denken. Der­jenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist schon hellsehend. Nur ist das gewöhnliche menschliche Denken eben kein reines Denken, son­dern ein von sinnlichen Vorstellungen, von Phantasmen erfülltes Den­ken. Aber derjenige, der einen reinen Gedanken faßt, ist eigentlich schon helisehend, denn der reine Gedanke kann nur im Ätherleibe gefaßt werden. Ebensowenig kann man jemals das Gute erfassen, ohne sich klar darüber zu sein, daß das Gute in demjenigen lebt, was mensch­licher Astralleib beziehungsweise was vom Ich durchsetzt ist.

Franz Brentano hat nun in geistreicher Weise, gerade als er über den Urquell des Guten sprechen wollte, auf mancherlei Bedeutungsvolles hingewiesen, so zum Beispiel darauf, daß Aristoteles schon gesagt habe:

Über das Gute kann man eigentlich nur demjenigen vortragen, der das Gute schon in seiner Gewohnheit hat. Aber denken Sie, wenn dieser Satz richtig wäre, so wäre es ja eigentlich furchtbar; denn derjenige, der das Gute schon in seiner Gewohnheit hat, der braucht einen ja eigentlich nicht dazu, ihm erst über das Gute vorzutragen, denn er tut es ja aus Gewohnheit; warum sollte man dann den erst über das Gute unterrichten? Aber wenn dieses Aristoteles-Wort richtig wäre, würde man auf der anderen Seite sagen müssen: Bei dem, der das Gute nicht in seiner Gewohnheit hat, hilft es nicht, daß über das Gute vorgetragen wird. Also das ganze Reden über das Gute wäre eigentlich unsinnig, wenn das Aristoteles-Wort richtig wäre. Wozu sollen wir denn überhaupt

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eine Ethik begründen? Aber das ist auch eine von den Fragen, die keine befriedigende Beantwortung finden, wenn sie nicht inner­halb der Geisteswissenschaft gestellt und beantwortet werden.

Wir handeln ja ganz gewiß, indem wir als Menschen in der Welt handeln, nicht unter reinen Begriffen, unter reinen Ideen, obwohl, wie Sie in der «Philosophie der Freiheit» nachlesen können, nur das Han­deln unter reinen Begriffen und Ideen ein freies Handeln ist. Aber wir handeln nicht aus reinen Begriffen und Ideen, sondern wir handeln aus Trieben, Leidenschaften, Affekten heraus ebensosehr, wie aus rei­nen Ideen und Idealen, das letztere vielleicht sogar sehr selten. Eine Einsicht in diese Sache bekommt man, wenn man nun zu Hilfe nimmt dasjenige, was Sie ausgeführt finden in dem kleinen Bücheichen «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft», was ich dann in anderen Vorträgen weiter ausgeführt habe.

In der ersten Epoche des Lebens bis zum Zahnwechsel, bis zum siebenten Jahr, und in der zweiten Epoche bis zur Geschlechtsreife, da handeln wir wohl eigentlich vorzugsweise nur unter dem Einfluß von Trieben, von Affekten und dergleichen. Denn eigentlich werden wir erst mit der Geschlechtsreife fähig, Begriffe über Gut und Böse auf­zunehmen. Man kann nun schon sagen, in dem Sinne hat Aristoteles recht, daß man ihm zugeben muß: Die Triebe zum Guten oder Schlech­ten, die wir schon in den ersten zwei Lebensperioden, also bis zum 14. Lebensjahr, in uns haben, die beherrschen uns eigentlich so ziemlich durch das ganze Leben hindurch, wir können sie modifizieren, unter­drücken, aber sie sind schon da, sie sind im ganzen Leben da. Es frägt sich nun bloß: Was hilft es, daß wir, wenn wir geschlechtsreif gewor­den sind, nun anfangen, sittliche Grundsätze zu begreifen, unsere Instinkte gleichsam zu rationalisieren, was hilft es? - Das hilft in zwei­facher Beziehung; und hier betreten wir einen Boden, von dem Sie, wenn Sie in der richtigen Weise empfinden, gar bald einsehen werden, wie richtig und bedeutungsvoll sein Begreifen in der Gegenwart ist. Denken Sie das Folgende, ein Mensch sei durch erbliche Anlagen das, was man nennen könnte gut veranlagt, so daß man sieht, bis er ein geschlechtsreifer Mensch geworden ist, hat er aus dem Unbestimmten heraus eigentlich lauter gute Anlagen entwickelt. Er wird eigentlich

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ein ganz guter Mensch. Ich will jetzt nicht untersuchen, warum er ein guter Mensch geworden ist, sondern ich will nur auf die äußere Er­scheinung hinlenken. Er ist geboren von zwei guten Eltern, hat gute Großeltern gehabt und so weiter; das hat sich alles so gemacht, daß er lauter gute Anlagen entwickelt, so daß er instinktiv das Gute tut. Aber nehmen wir an: Nach der Geschlechtsreife zeigt sich, daß er nun keine Lust hat, seine Instinkte für das Gute zu rationalisieren, sich Begriffe über diese Instinkte zu machen. Nehmen wir an, es ergebe sich diese Erscheinung durch irgendeine Veranlassung, die ich nicht weiter erörtern will. Also bis zum 14. Jahre hat er gute Instinkte entwickelt, aber nun zeigt er keine Lust, diese Instinkte in Begriffen auszudrücken. Er hat zwar Lust, das Gute zu tun, es liegt nicht in seiner Gewohnheit, stark das Schlechte zu tun, er tut schon das Gute, aber wenn man ihn aufmerksam machen will: Das ist gut, das ist böse, so sagt er: Ich kümmere mich nicht darum, ob das gut oder bose ist. - Das läßt er bleiben. Er hat keine Lust, seine Instinkte zu rationalisieren, sie ins Intellektuelle zu übersetzen. Nun denken Sie sich, er ist geschlechts-reif, er bekommt Kinder - gleichgültig, ob er Mann oder Frau ist -, er bekommt Kinder. Die Kinder werden nun nicht die Instinkte haben, die er hat, wenn er diese Instinkte nicht in Begriffe umgewandelt hat, sondern die Kinder werden schon Unsicherheiten in den Instinkten auf­weisen. Das ist das Bedeutsame. Also für sich konnte der betreffende Mensch mit seinen Instinkten auskommen, aber wirksame Instinkte wird er auf seine Kinder nicht übertragen können, wenn er sich nicht bewußt beschäftigt mit dem, was Gut und Böse ist. Und schon gar in das nächste Erdenleben wird er nicht hineintragen können irgend­welche Instinkte für Gut und Böse, wenn er sich im vorhergehenden Erdenleben nicht darauf eingelassen hat, sich Vorstellungen über das Gut und Böse zu machen. Es ist hier wirklich gerade so: Eine Pflanze kann ein hübsches Kraut werden. Wenn sie abgehalten wird vom Blühen, so wird keine weitere Pflanze aus ihr entstehen können. Als einzelne Pflanze, wie sie ist, kann sie ja irgendwie dienen; aber sie muß zum Blühen und Fruchttragen kommen, wenn eine neue Pflanze aus ihr entstehen soll. So kann der Mensch mit Trieben und Instinkten für sich selber ausreichen; aber er versündigt sich an der physischen

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und geistigen Nachwelt, wenn er bei dem bloßen Instinkte bleibt. Sehen Sie, hier wird die Sache sehr bedeutsam. Und diese Einsicht, die ergibt sich nun erst wiederum auf dem Boden der Geisteswissenschaft.

So könnte es ja vorkommen, daß eine soziale Gemeinschaft sagen würde: Das Gute, das beruht doch nur auf Instinkten! - Nun schön, das kann man sogar beweisen. Aber wer dieses sagt und deshalb alles begriffliche Erkennen des Ethischen abschaffen wollte, der gliche einem Menschen, der sagt: Ja, es interessiert mich, dieses Jahr meinen Acker zu bestellen, aber warum soll ich mir erst Samen für das nächste Jahr aufbewahren! - Er wird alles verzehren lassen, was dieses Jahr ge­wachsen ist. Beim Acker tun es die Menschen nicht, weil sie da durch­schauen, wie das Gegenwärtige mit dem Zukünftigen zusammenhängt. Im geistigen Leben, in der Entwickelung der Menschheit selber, tun es die Menschen leider. Und sehen Sie, hier liegen solche Dinge, weiche immer wieder und wiederum zu den herbsten Mißverständnissen füh­ren werden, indem die Menschen nie die verschiedenen Gesichtspunkte auffassen wollen, sondern, wenn sie etwas einseitig eingesehen haben, bleiben sie bei dieser Einseitigkeit. Man kann natürlich beweisen: In den Instinkten muß der Impuls des Guten liegen. - Gewiß, aber diese Instinkte wirken nur, wenn sie Impulse des Guten sein sollen, im Ich und Astralleibe. Wenn sie aber da als Instinkte wirken sollen, müs­sen sie herüberwirken aus dem vorhergehenden Leben. Daher kann man, ohne die Geisteswissenschaft zugrunde zu legen, auch keine Be­griffe bekommen über das menschliche Zusammenleben, nicht in der Gegenwart und nicht in der geschichtlichen Entwickelung.

Wenn wir von diesen elementaren Dingen, die ich jetzt ausgeführt habe, zu etwas noch Höherem übergehen, so kann es das Folgende sein:

In der Gegenwart leben zum größten Teil Menschen, die seit dem Be­ginn der christlichen Zeitrechnung, sagen wir, durchschnittlich in ihrer zweiten Inkarnation leben. Im ersten Leben genügte es für sie, den Christus-Impuls so aufzunehmen, wie er aus ihrer Umgebung, aus ihrer Gegenwartsumgebung heraus ihnen zukommen konnte. Jetzt, da sie wiederkommen, genügt das nicht, daher verlieren die Menschen nach und nach den Christus-Impuls. Und wenn die Menschen, die jetzt gegenwärtig leben, wiederkommen würden ohne die Erneuerung des

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Christus-Impulses, dann würden sie ihn ganz verloren haben. Daher ist es wiederum so notwendig, daß dieser Christus-Impuls sich so in die menschliche Seele setzt, wie ihn die Geisteswissenschaft gibt, die nicht angewiesen ist auf irgendeinen historischen Beweis, sondern die aus solchen Grundlagen heraus, wie sie hier wiederholt besprochen worden sind, den Christus-Impuls aufzeigt. So verbindet er sich mit der menschlichen Seele, daß er wirklich auch hinübergetragen werden kann in die Zeitalter, wo die Menschen neu kommen werden. Aber gerade deshalb sind wir in der Gegenwart in einer Art von Krisis auch in bezug auf den Christus-Impuls. So können wir ihn nicht aufnehmen, wie wir ihn in unserer ersten Inkarnation aufgenommen haben, denn wir sind zu weit von dem Historischen entfernt. Die Tradition ist vor­bei. Diejenigen Menschen sind ehrlich, die sagen: Es gibt keinen Beweis aus der Geschichte für den historischen Christus. - Die Geisteswissen­schaft zeigt, wie der Christus-Impuls in der Menschheitsentwickelung da ist. Geisteswissenschaft kann die Realität des Christus-Impulses wiederum bringen. Aber so muß er auftreten innerhalb der Mensch-heitsentwickelung, wie er aus der Geisteswissenschaft heraus auftreten kann. Das zeigt einfach der äußere Verlauf des heutigen Daseins.

Denn, nicht wahr, vieles, vieles was die Menschen in Jahrhunderten erlebt und durchlebt haben, hat in den letzten drei Jahren Schiffbruch gelitten. Und wir leiden alle schwer, gerade wenn wir recht dabei sind bei dem, was in den letzten drei Jahren durchlebt werden mußte. Aber was hat denn eigentlich am meisten Schiffbruch gelitten? Was am mei­sten Schiffbruch gelitten hat: die Frage darf man doch auch aufwerfen. Das Christentum hat am meisten Schiffbruch gelitten! So sonderbar wie es vielleicht manchem klingt: das Christentum hat am meisten Schiffbruch gelitten. Wo Sie hinsehen, sehen Sie, wie das Christentum im Grunde genommen heute, man darf sagen, verleugnet wird. Man­ches ist direkt eine Verspottung des Christentums, wenn man auch nicht mutig genug ist, sich das zu gestehen. Ist es denn eine christliche Idee, von der sich heute zahlreiche Menschen, die weitaus größte Majorität der Erdenmenschheit, das Wertvollste verspricht, wenn man sagt: Jedes Volk soll sich selbst verwalten? Ich will gar nichts über die Berechti­gung oder Unberechtigung sagen, sondern nur über die Christlichkeit

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oder Unchristlichkeit. Ist es denn eine christliche Idee? Nein, es ist ganz und gar keine christliche Idee. Denn eine christliche Idee ist es, daß sich die Völker verständigen durch die Menschen. Gerade was über die an-geb liche Freiheit der einzelnen Völker - die ohnedies nicht zu verwirk­lichen ist - gesagt wird, ist das Unchristlichste, was man sich heute vor­stellen kann. Denn das Christentum bedeutet das Verständnis für alle Menschen über die ganze Erde hin. Es bedeutet sogar das Verständnis aller Menschen über die Gebiete, die nicht auf der Erde wären, wenn sie zu finden wären. Und nicht einmal dazu ist es seit dem Mysterium von Golgatha gekommen, daß nur im alleroberflächlichsten Sinne die Menschen, die sich Christen nennen, über die Erde hin sich verständigen! Das ist ein furchtbarer Schiffbruch, gerade mit Bezug auf christliches Fühlen und Empfinden, das dann zu so Groteskem führen kann, wie ich es vor kurzem erwähnt habe, wo jemand von deutscher Religion oder deutscher Frömmigkeit redet, was geradesoviel Sinn hat, als wenn einer von einer deutschen Sonne oder einem deutschen Mond redete.

Aber sehen Sie, diese Dinge hängen zusammen mit weitgehenden sozialen Anschauungen oder Mißanschauungen. Ich habe Ihnen davon gesprochen, daß es eigentlich eine Staatsanschauung heute gar nicht gibt, daß die Besten, die von Staatsanschauung heute reden, so reden, als ob der Staat ein Organismus und die Menschen die Zeilen wären. Derjenige, dem ein solcher Vergleich kommt, der zeigt schon, daß er ganz weit, weit weg ist von wirklichen Begriffen auf diesem Gebiet. Das ist es, was wir vor allen Dingen brauchen: wirklich in die Wirk­lichkeit eindringende Begriffe. Ich habe es oft gesagt, was uns fehlt, das ist dasjenige, was unser Chaos bewirkt hat, daß wir in Abstraktionen, in wirklichkeitsfremden Begriffen leben. Wie sollten wir nicht in wirk­lichkeitsfremden Begriffen leben, wenn wir dem einen Gliede der Wirk­lichkeit in der Gegenwart so fremd gegenüberstehen, daß wir es über­haupt nicht anerkennen, nämlich dem Geiste, dem geistigen Teil der Wirklichkeit. Von Wirklichkeit wird man erst dann einen Begriff haben können, wenn man den Geist in seinem Leben und Weben anerkennt.

Es hat etwas Tragisches, solch ein Geist sein zu müssen, wie es Franz Brentano bis zu seinem Tode war, etwas Tragisches, weil sozusagen in Franz Brentanos Seele ein Gefühl vorhanden war nach den Richtungen,

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die die menschliche Seele der Gegenwart nehmen soll. Hätte man ihm Geisteswissenschaft gebracht, so würde er über sie ungefähr so gesprochen haben, wie er über Piotin gesprochen hat. Er würde so gesprochen haben, daß er die Geisteswissenschaft als eine Torheit an­gesehen hätte, als etwas ganz Unwissenschaftliches. So ist es natürlich bei vielen, deren Geistesflug gehemmt ist, dadurch, daß sie noch in den physischen Leibern des neunzehnten, anfangs des zwanzigsten Jahr­hunderts leben. Aber deshalb stehen wir eben in einer Zeitkrisis, die wir überwinden müssen. Es hat natürlich seinen guten Sinn, denn da­durch erstarken wir, daß wir etwas zu überwinden haben.

Und namentlich wird dasjenige, was notwendig ist, ich möchte sagen, zu einer Revision all unserer Rechtsbegriffe, unserer Sittlichkeitsbe­griffe, unserer Sozialbegriffe, unserer politischen Begriffe erst unter die Menschheit kommen können, wenn die wirklichkeitserfüllten Begriffe der Geisteswissenschaft verstanden werden. Denn gerade ein solcher Geist wie Franz Brentano zeigt uns: Jurisprudenz hängt in der Luft. Denn man kann die Frage nicht beantworten: Was ist das Recht, was ist das Sittliche? -, wenn man nicht auf dasjenige eingehen kann, was im menschlichen Astralleibe, das heißt, im übersinnlichen Teil des Men­schen lebt. Ebenso ist es mit den religiösen, ebenso mit den politischen Begriffen. Ja, wenn man auf dem Gebiete der äußeren Natur, auf dem Gebiete der materiellen Wirklichkeit unwirkliche Begriffe hat, so zeigt sich das schnell. Denken Sie, wie eine Brücke sich ausnehmen würde, welche Ingenieure bauten, die unwirkliche Begriffe über Brückenbau haben: die Brücken würden eben einstürzen. Das würde man sich nicht lange gefallen lassen. Aber auf sittlichem, auf sozialem, auf politischem Gebiete, da kann man unwirkliche Begriffe haben, das zeigt sich nicht schnell. Denn wenn es sich zeigt, da kommen die Menschen nicht dar­auf, wo der Zusammenhang liegt. Wir leben jetzt hinter den Wirkun­gen der unwirklichen Begriffe; aber wie weit sind die Menschen im Durchschauen dieses Zusammenhanges? Wahrhaftig nicht weit! Das ist es, was dem Gemüte, das die gegenwärtige schwere Zeit miterlebt, so nahegehen muß! Man findet ja fast jeden Augenblick für verloren, den man heute nicht den schweren Zeitverhältnissen widmet. Aber je mehr man diesen Zeitverhältnissen an Kraft widmet, an Zeit selbst,

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desto mehr wird man finden, wie wenig eigentlich die Menschen der Gegenwart noch geneigt sind, auf dasjenige einzugehen, auf das es an­kommt. Heilung aber wird es nur erst geben, wenn man auf das ein­geht, auf das es ankommt: wenn man eingeht auf die Erkenntnis des Zusammenhanges zwischen den wirklichkeitsfremden Vorstellungen, die die Menschheit so lange entwickelt hat, und den Ereignissen der Gegenwart. Weil die Begriffe des geistigen Lebens, das sich im Sozialen auslebt, so unwirklich gewesen sind durch Jahrhunderte, wie lauter Begriffe von Ingenieuren, die sich auf Brücken, die einstürzen mußten, beziehen, deshalb leben wir in der heutigen chaotischen Zeit. Möchte man doch fühlen, wie notwendig es ist, wirklichkeitsverwandte, wirk­lichkeitsdurchtränkte Begriffe auf allen Gebieten zu finden, welche irgend etwas zu tun haben mit dem sozialen, mit dem politischen, mit dem Leben in der Kultur überhaupt! Wird man mit der Jurisprudenz, mit der Sozialwissenschaft, mit der Politik aufbauen wollen, wird man die Menschenseele durchtränken wollen mit den religiösen Vorstel­lungen, die gang und gäbe waren bis zum Jahre 1914, dann wird man nichts Besonderes aufbauen. Dann wird man sehr bald wiederum sehen, wie wenig man damit aufbauen kann. Umlernen, wahrhaftig umlernen, das ist dasjenige, was die Menschen müssen. Aber umlernen, das wollen die Menschen so wenig, darauf wollen sie sich so wenig einlassen.

Betrachten Sie das, was ich gerade mit Bezug auf Franz Brentano gesagt habe, als den Ausfluß, möchte ich sagen, einer wirklichen Ver­ehrung dieser repräsentativen Persönlichkeit. Gerade an einer solchen Persönlichkeit sieht man ja, wie gestrebt werden muß, wenn angestrebt werden soll ein Impuls, der tragend ist in die Zukunft der Menschheit hinein. Denn Franz Brentano ist eine außerordentlich interessante Per­sönlichkeit, aber keine Persönlichkeit, welche Begriffe, Vorstellungen, Empfindungen, Impulse gibt, die in die Zukunft hineintragen könnten. Sehr interessant ist es, daß Franz Brentano versichert haben soll einige Wochen vor seinem Tode: Es werde ihm gelingen, das Dasein Gottes zu beweisen. - Das betrachtete er ja gewissermaßen als das Ziel seines wissenschaftlichen Lebens, das Dasein Gottes zu beweisen. Nun, es wird ihm wohl nicht gelungen. sein, denn er hätte sonst vor seinem Tode ein

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Bekenner der Geisteswissenschaft werden müssen. Beweisbar war das Dasein Gottes noch bis zur Zeit des Eintretens des Mysteriums von Golgatha, bis zu dem von oben heruntergehenden 33. Lebensjahre der Menschheit. Seit jener Zeit, seitdem die Menschheit 32, 31, 30, jetzt bis zum 27. Jahre zurückgegangen ist, ist das Dasein Gottes durch Denken nicht mehr beweisbar, sondern kann nur durch Eindringen in die Gei­steswissenschaft gefunden werden. Es ist wirklich nicht irgendwie zu vergleichen mit sonst einem Programm einer Bewegung, wenn von der Geisteswissenschaft als einer Notwendigkeit gesprochen wird, ich habe das oftmals betont, sondern die Tatsachen der Menschheitsentwickelung selber zwingen uns diese Geisteswissenschaft auf. Sie ist selber eine Notwendigkeit.

Das ist es vor allen Dingen, was ich heute wiederum von einem ge­wissen Gesichtspunkte aus vor Ihre Seelen hinstellen wollte. Ich habe Ihnen heute ausnahmsweise einen Aufbau gegeben, der sich auf mannigfaltige philosophische Begriffe gestützt hat. Aber ich glaube, daß Sie nicht gut tun werden, wenn Sie sich nur ungern auf solche Dinge einlassen. Denn dasjenige, was der gegenwärtigen Menschheit am allerdringendsten notwendig ist, ist das Sichbekennen zu scharfen Begriffen. Wollen Sie nur eine Geisteswissenschaft oder Anthropo­sophie oder Theosophie, wie Sie sie nennen wollen, nach dem Muster treiben, wie so viele sie gegenwärtig treiben, die da lebt in möglichst unklaren, verworrenen Begriffen, dann werden Sie ja egoistischen Be­dürfnissen gut dienen können: Sie werden manchem Streben nach einer inneren Seelenwollust entgegenkommen. Allein das ist nicht das­jenige, wonach man in den heutigen schweren Zeiten streben soll. Das­jenige, wonach man in der heutigen Zeit streben soll, besonders wenn man Bekenner der Geisteswissenschaft ist, das ist: mitzuarbeiten, vor allen Dingen geistig mitzuarbeiten an demjenigen, was der Menschheit vor allen Dingen vonnöten ist. Wenden Sie womöglich Ihre Gedanken, soviel Sie können, gerade dem Kapitel zu: Was ist der Menschheit notwendig, welche Vorstellungen müssen in der Menschheit walten, damit wir weiterkommen, damit wir aus dem Chaos herauskom­men? Sagen Sie sich nicht: Andere werden das schon tun, die mehr berufen sind dazu! Vor allen Dingen sind dazu diejenigen berufen,

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die auf dem Boden der Geisteswissenschaft stehen. Die Bedingungen des kulturellen menschlichen Zusammenlebens, das ist es, was uns vor allen Dingen beschäftigen muß.

Davon wollen wir dann das nächste Mal weiterreden.

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SECHSTER VORTRAG Berlin, 10. Juli 1917

Sie müssen es schon hinnehmen, daß ich in diesen Stunden etwas, ich möchte sagen, elementarere Begriffe und Ideen auseinandersetze, weil sie uns dienen sollen beim Aulbau einiger weiterer Ausblicke, die ich noch in dieser Betrachtung und das nächste Mal geben will.

Ich begann schon das letzte Mal damit, solche, ich möchte sagen, mehr prinzipielle Auseinandersetzungen zu geben, die, um eine Per­spektive zu gewinnen, notwendig sind, die eben dasjenige, was mit dieser Perspektive erscheinen soll, vorbereiten und zu dem führen sol­len, was wir dann das nächste Mal besprechen wollen.

Es ist ja naheliegend für den Menschen, der sich gewissermaßen in seinem eigenen Lebenslauf bewußt auffindet, der gewissermaßen bewußt zu seinem Ich erwacht, daß er sich über dieses Ich und seine Stellung zur Welt klarwerden will. Nun müssen wir ja bemerken, daß eigentlich das Streben gerade nach dieser eben bezeichneten Klarheit als eine Sehnsucht in unserer Zeit außerordentlich stark vorhanden ist, daß diese Sehnsucht, über sich selbst sich aufzuklären, gewissermaßen so recht schon erwacht ist, daß diese Sehnsucht eben in der Gegenwart eine weit, weit verbreitete ist. Indem die Menschen der Gegenwart diese Sehnsucht erleben, machen sie aber zugleich Bekanntschaft mit all den außerordentlichen Klippen und Klüften, in die man hineinkommt, wenn man sich selber suchen will. Man kann ja sagen, daß die Menschen, indem sie Selbsterkenntnis anstreben, mit Recht den Glau­ben haben, sie gingen richtig, wenn sie als den Inhalt dieser Selbst­erkenntnis ein mehr oder weniger einfaches Wesen in sich vermuten. Allein gerade dieser Glaube, daß das menschliche Selbst, das mensch­liche Ich, ein recht einfaches Wesen ist, der ist es, der in der Gegen­wart vielen Menschen schwere, schwere Enttäuschungen bringt. Unter diesem Glauben beginnen die Menschen, ich will sagen, sich mit solchen Führungen, wie sie gegeben sind in Waldo Trines oder in anderen Aus­einandersetzungen und Betrachtungen, zu befassen. Es sind ja viele Menschen der Gegenwart, die auf solchen Wegen suchen. Sie glauben

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gewissermaßen sich dadurch besser zu erkennen, daß sie in sich ein­dringen, und sie glauben, dadurch mehr Klarheit und mehr Sicherheit für das Leben zu gewinnen. Wenn man sich nicht damit bekannt macht, daß man zunächst schon die starke Enttäuschung erleben kann, daß die Selbsterkenntnis fürs erste einen von sich selber weiter wegbringt, als man früher gewesen ist, bevor man diese Selbsterkenntnis angestrebt hat, wenn man diese Enttäuschung schon schwer ertragen kann, wenn man es nicht ertragen kann, dann werden die Klippen und Klüfte um so größer.

Es ist nun gut, sich klarzumachen, gewissermaßen prinzipiell klar-zumachen, worauf denn eigentlich diese Schwierigkeit der Selbster­kenntnis beruht. Man kann im Grunde gar nicht auf einem einfachen, unkomplizierten Wege, so ohne weiteres Selbsterkenntnis anstreben. Denn das Selbst, das Ich, man kann es finden, oder wenigstens man kann es suchen, denkend, fühlend, wollend. Man findet gewissermaßen immer etwas, was man als Ich ansprechen kann. Ob man versucht, sich in seine Gedanken, seine Vorstellungen einzuleben, ob man versucht, sich in seine Gefühle einzuleben, ob man versucht, sich in seine Willens­impulse einzuleben: man bekommt immer die Empfindung, es müsse sich da ein Weg ergeben, durch den man an das eigene Selbst näher herankommt.

Nun liegt die Sache so, daß der Mensch zunächst ja gehen kann den Weg des Vorstellungslebens; er kann versuchen, sich das Ich vorzu­stellen. Und gerade philosophisch geartete Menschen haben in der letz­ten Zeit darin einen sicheren Weg zu finden geglaubt, indem sie sich einfach sagen: Ja, das, was wir als unser eigentliches Ich bezeichnen, bleibt ja unser ganzes Leben hindurch, von unserer Geburt bis zu unse­rem Tode, ein und dasselbe Wesen. Ich bin immer dasselbe gewesen, wenn ich mich zurückerinnere an mich selbst. - So sagen die Menschen. Ich habe schon öfter erwähnt, daß dies für jeden normalen Menschen jeden Tag widerlegt wird, denn er kann gar nicht wissen, bloß durch die äußere Betrachtung, wie es sich verhält mit diesem Ich, dieser rch-Vorstellung, in der Zeit vom Einschlafen bis zum Aufwachen. Er kann eigentlich von diesem Ich in den Vorstellungen nur für alle die Wachzustände, die er durchgemacht hat, reden und muß immer die

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Kette für alle die Schlafzustände unterbrochen denken. Das werden Sie leicht einsehen können, denn es ergibt sich das aus einer einfachen Überlegung. Derjenige, der also glaubt, das Ich, das lebe in dem Vor­stellungsleben so, daß man es in den Vorstellungen finden könne, der sollte sich vor allen Dingen ganz klarmachen: Ja, meine Vorstellungen gehen mir eigentlich mit jedem Einschlafen verloren; da geht mir auch das Vorstellungs-Ich, für das Bewußtsein wenigstens, verloren. Etwas, was jeder Tag in die Nacht des Nichtwahrnehmbaren hinuntertauchen kann, das kann man eigentlich nicht so bezeichnen, wie wenn es ein sicheres Sein, ein sicheres Dasein wäre. So daß der Mensch, wenn er auf dem Wege des Vorstellens sein Ich sucht, sich philosophisch recht klar sein kann: so und so ist der Ich-Gedanke. Aber dieser Ich-Gedanke wird ihn nicht glücklich machen. Dieser Ich-Gedanke kann ihm auch keine besondere Sicherheit geben, auch wenn er nicht darauf kommt durch die einfache Überlegung, daß dieser Ich-Gedanke jeden Tag abreißt. Das ganze innere Wesen des Menschen, das wahrer ist als unser Vorstellen, das bringt es schon zum Ausdruck, daß man zunächst bei der bloßen Ich-Vorstellung unbefriedigt ist, wenn man das Ich sucht. Es ist einem zu wenig, ich möchte sagen, etwas zu Dünnes, was man da findet, wenn man das Ich bloß im Vorstellungsleben sucht. Woher kommt das?

Sehen Sie, diejenigen Ideen und Erkenntnisse, welche scharf die Tat­sachen des geistigen Lebens beleuchten, sind eigentlich nicht so leicht zu finden; aus dem ganz einfachen Grunde nicht leicht zu finden, weil wirklich uns unsere Sprache da große Schwierigkeiten macht. Man kann eigentlich immer die Erfahrung machen, daß man sich in das Gewebe der Sprachvorstellungen wie verfängt, wenn man an der Hand der Sprachvorstellungen über allerlei nachgrübelt und nachsinnt. Das ist das Fatale des bloßen gedanklichen Philosophierens, daß man so schwer von den Sprachvorstellungen loskommt. Aber eine hinter all diesem Spintisieren in den Sprachvorstellungen liegende Empfindung läßt einen doch unbefriedigt sein bei dem, was einem die Sprachvorstel-lungen geben. Namentlich bleibt man unbefriedigt, wenn man gerade das Ich im Vorstellungsleben sucht. Man kann schon diese Erfahrung machen. Versuchen Sie es nur einmal, sich so recht mit Philosophen,

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die viel über das Ich reden, zu befassen, so werden Sie verspüren, daß diese Gedanken recht dünn sind, und daß Sie die Empfindung immer im Hintergrund haben werden: Ja, kann man sich denn eigentlich doch darauf verlassen? Hat man ein sicheres Sein? - Es gibt Menschen, die glauben, so wie man das Ich denkt, so verbürgt dieser Gedanke auch, daß dieses Ich durch die Pforte des Todes geht und in die geistige Welt hineingeht. Aber die Empfindung sagt einem: Wenn das Ich jede Nacht eigentlich auslöscht, könnte es nicht auch so sein, daß es mit dem Tode auslöschte? Und diese Empfindung gibt dann erst recht eine gewisse Unsicherheit; sie ist eine Klippe. Woher rührt denn gerade diese Klippe? Wenn man das Ich wirklich kennenlernt, durch Geistesfor­schung wirklich kennenlernt, jenes Ich, das nicht auslöscht mit dem Einschlafen, wenn auch das Bewußtsein davon auslöscht, dann lernt man es allmählich vergleichen mit dem Ich, das in den Vorstellungen erhascht werden kann, und dann lernt man die wirkliche Natur dieses Ich kennen. Da kann man dann für eine Weile - wohlgemerkt: für eine Weile - solch einem Philosophen wie dem Ernst Mach nicht ganz unrecht geben, wenn er sagt: Das Ich ist unrettbar; es ist eigentlich ein Nichtwirkliches. Wir haben durch unser Leben hindurch Erlebnisse, die reihen sich an einem Faden auf wie Perlen. Und weil wir finden, daß sie zusammengehören, so abstrahieren wir von ihnen die Ich-Vorstel­lung, aber es ist nichts Wirkliches. - Das ist, wozu solche Philosophen kommen. Sie halten das Ich für einen bloßen Gedanken, und bei einem Gedanken kann sich der Mensch als einem Wirklichen, als einem wirk­lich Seienden nicht beruhigen. Nun haben wir aber im Vorstellen kein anderes Ich als das Ich, das jedesmal beim Einschlafen auslöscht. Wir haben im Vorstellen kein anderes; aber es ist wirklich so dünn, es ist eben bloß vorstellungsgemäß, so daß wir uns eben geisteswissenschaft­lich fragen müssen: Wie ist es denn eigentlich mit dieser Ich-Vorstel­lung? Wie verhält es sich mit dieser Ich-Vorstellung?

Und da bekommt man geisteswissenschaftlich als Ergebnis dieses:

daß das vorgestellte Ich überhaupt gar nicht dieses Ich ist, das wir jetzt haben. - Das ist ein sehr wichtiges, bedeutsames Resultat: Das vor­gestellte Ich, das ist gar nicht dasjenige, das wir jetzt haben, sondern dieses vorgestellte Ich, das entbehrt in der Gegenwart des inneren

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wirksamen Seins. Wollen wir uns den Gedanken aus dem bloßen Vor­stellungs-Ich heraus bilden: Du bist in der Gegenwart, so können wir, wenn wir real, wirklichkeitsgemäß denken, uns diesen Gedanken gar nicht bilden. Denn niemals kann uns das bloß vorgestellte Ich garan­tieren, daß wir in der Gegenwart sind. Wir sind immer der Gefahr ausgesetzt, daß uns irgendwie ein Zusammenwirken unserer Vorstel­lungen das Ich selber, die Ich-Vorstellung, bloß vorgaukelt. Und das ist das Unsichere, das wir fühlen, daß wir eigentlich einem bloßen Bilde, daß wir keiner Wirklichkeit gegenüberstehen. Woher kommt das? Das kommt davon her, daß dieses Ich, das wir vorstellen, so sein muß, wie es in der Vorstellung ist, weil in diesem Ich, in diesem vor­gestellten Ich, schon die Kräfte für die nächstfolgende Inkarnation liegen. Also denken Sie, wenn wir das Ich bloß vorstellen, so haben wir uns nicht als Kraft in der Gegenwart, sondern wir haben uns da schon als Kraft für die nächste Inkarnation. Es ist gerade so, wie wenn die Pflanze, die den Keim in sich fühlt, sich vorstellen müßte: Dieser Keim, der bist eigentlich nicht du, sondern das ist die Pflanze, die erst im nächsten Frühling wachsen will. - So lebt in dem, was wir uns vom Ich vorstellen, die Kraft, die in der nächsten Inkarnation sich erst ent­falten wird. Und sie muß sich so ausleben, diese Kraft; denn würden wir mehr haben in der gegenwärtigen Inkarnation, so würde das, was wir haben, nicht keimhaft, sondern es würde eine gegenwärtige Wirk­lichkeit sein; wir trügen keine Keimanlagen in uns für die nächste Inkarnation. Es muß also das vorgestellte Ich so abgeschwächt sein, daß es für die Gegenwart nicht wirksam ist, sondern die Keimkräfte für die nächste Inkarnation enthält.

Also denken Sie, was das eigentlich für ein wichtiges Ergebnis ist. Wenn man es so abstrakt ausspricht, so hat man gar nicht gleich die Empfindung, daß das ein Ergebnis von ungeheurer Tragweite ist; denn man hat eigentlich das Schattenhafte der nächsten Inkarnation vor sich. Und wenn man nichts tut, um dieses Schattenhafte der näch­sten Inkarnation irgendwie reicher zu machen, als es im gewöhnlichen Leben ist, so bleibt es immer unbefriedigend; denn es bleibt sozusagen bei der Punktvorstellung: Ich, Ich, Ich, Ich. Man kommt nicht über diesen bloßen Ich-Punkt hinaus. Aber reicher machen dieses Ich, als

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eine bloße Punktvorstellung ist - das ist eben die Frage, wie man das kann.

Nun, sehen Sie, das kann man nicht, wenn man bloß in sich hinein-brütet. Denn wenn man immer so in sich hineinbrütet, dann findet man, was man jetzt in dieser Inkarnation ist. Aber dieser Ich-Punkt ist das einzige, was man als Keimanlage für die nächste Inkarnation hat, so daß man noch so stark, meinetwillen noch so tief mystisch in sich hineinbrüten, noch so schöne Lehren sich selbst geben mag, man kommt nie an sein Ich heran, denn dieses Ich, dieses vorgestellte Ich, das gehört im Grunde genommen gar nicht uns, insofern wir Wesen in dieser Inkarnation sind, sondern es gehört jetzt noch - innerhalb die ser jetzigen Inkarnation - der Welt an. Die Welt wird aus dem, was in uns als Bild-Ich, als Gedankenbild-Ich erscheint, für die nächste Inkarnation das machen, was dann in unserer Seele mehr wirksam sein wird. Daher kann dieses Ich auch nur an dem äußeren Leben bereichert werden. Ich habe manchem unserer Freunde, die mich gebeten haben, in irgendein Stammbuch das oder jenes zu schreiben, immer wieder versucht, wenn ich gerade das für das Geeignete fand, die Worte auf­zuschreiben: «Suchst du dich selbst, so suche draußen in der Welt; suchst du die Welt, so suche in dir selbst.» Suchst du dich selbst, suchst du mehr in deinen Vorstellungen lebend Reicheres zu haben, als du haben kannst im gewöhnlichen Leben, so mußt du diesen Reichtum durch Erweiterung deiner Beobachtungen über die Welt machen. Aber das kann nicht die äußere Sinnesbeobachtung sein; denn die hängt ja auch nur mit unserer gegenwärtigen Inkarnation zusammen, weil sie eigentlich nur unserem Leibe anhängt, der mit dem Tode verloren geht. Wir müssen schon eine andere Betrachtung anstellen. Wir müs­sen gewissermaßen eingehen können auf den feineren Sinn des Lebens. Nur dadurch werden wir wirklich das Ich als Vorstellung bereichern, daß wir uns darauf einlassen, nicht bloß so, ich möchte sagen, abstrakt, so gradlinig zu denken, wie man gerade in der Gegenwart gerne denken möchte, sondern man muß sich bemühen, wenn man dieses Ich bereichern will, ich möchte sagen, geheimnisvollere Zusammen­hänge des Lebens, als sie sich so ohne weiteres darbieten, aufzusuchen. Mißverstehen Sie nur ja diese Bemerkung nicht! Solche geheimnisvollen

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Zusammenhänge im Leben aufzusuchen, das betrachten die Menschen der Gegenwart womöglich als eine sehr unnütze Sache, weil sie gar nicht anstreben, das Ich zu bereichern. Die Menschen in der Gegenwart streben an, sich solche Vorstellungen zu bilden, durch die man entweder etwas Äußeres erkennt, oder die einem im Handeln nützen. Aber das ist alles für die gegenwärtige Inkarnation. Das Auf­suchen dieser geheimnisvollen Zusammenhänge, die das Ich bereichern sollen, das müssen wir schon eine Art Selbstzweck der Seele, müssen es eine intime Handlung der Seele sein lassen, eine solche intime Handlung, durch die wir auch auf, ich möchte sagen, nichts anderes Anspruch ma­chen, als unsere Seele beziehungsweise das Gedanken-Ich zu bereichern. Es ist für das, was die Gegenwart von uns fordert, wichtig, daß wir geradezu unsere Zuflucht zu dem Weitauseinanderliegenden im Leben nehmen, das aber doch eigentlich zusammengehört, daß wir über Zu­sammenhänge sinnen, die nicht an der Oberfläche des Daseins liegen, die, ich möchte sagen, unter der Oberfläche des Daseins liegen, und die da­her für den, der nur an der Oberfläche des Daseins sich betätigen will, denken will, im Grunde genommen auch frappierend sind. Nun, je weiter man es bringt im, ich möchte sagen, Sichenträtseln ferner liegen­der und doch zu unserer Seele mächtig sprechender Lebenszusammen­hänge, die außer uns liegen, desto mehr wird man finden, daß dieses Vorstellungs-Ich reicher und reicher wird. Man kann nicht gleich ab­strakt einen Zusammenhang angeben, so wie man einen Zusammen-hang zwischen dem Stein, der warm wird, und dem Sonnenstrahl, der ihn erwärmt, angibt. Aber man erfährt das im Leben; man erfährt, daß, je mehr man verborgene Lebenszusammenhänge aufsucht, desto stärker fühlt man sich gerade im Vorstellungs-Ich, desto mehr wächst man im Vorstellungs-Ich mit dem inneren Leben, das dann dieses Vor­stellungs-Ich hinüberträgt in die nächste Inkarnation, zusammen.

Was meine ich für Zusammenhänge? Ich meine ganz reale Zusam­menhänge, nur solche Zusammenhänge, die man gewöhnlich nicht sucht. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen. Ein Geistlicher ging einmal des Weges und fand eine Zigeunerin mit einem recht schmutzigen Kinde. Zigeu­ner - der Weltkrieg hat sie ja auch hinweggefegt -, aber jeder, der sie kennt, der weiß: es waren Leute, welche auf Vieles wenig gaben, und

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unter diesem Vielen ist vor allen Dingen die Reinlichkeit. Die Kinder der Zigeuner waren mit ganzen Schichten von Schmutz bedeckt. Aber auch vieles andere wird diesen Kindern nicht zuteil außer der Reinlich­keit. Nun, dieser Geistliche war ein guter Mann und er dachte eine gute Tat zu tun, indem er ein so verlorenes Kind gewissermaßen rettete. Er sprach die Zigeunerin an und sagte ihr, er wolle eine kleinere Summe Geldes aussetzen, wenn dieses Zigeunerkind dafür ordentlich erzogen, zu einem ordentlichen Menschen gemacht würde. Es war ein recht guter Vorsatz dieses Geistlichen. Die Zigeunerin, die ja als ein gewöhnliches Almosen selbstverständlich die Gabe gerne hingenommen hätte, antwortete aber darauf etwas sehr Bedeutsames. Und ich möchte Ihnen diese Worte, die die Zigeunerin antwortete, wörtlich sagen. Sie sagte, nein, das wolle sie nicht tun, ihr Kind erziehen oder erziehen lassen, denn ihre Art zu leben mache die Menschen glücklicher als Wissenschaft, Ansehen, gegenseitige Hochschätzung und alle Genüsse, welche die sogenannte Kultur verschafft. So sagte die Zigeunerin. - Diese Sache hat ein Mann, der sie selbst erlebt hat, dem Fercher von Stein-wand mitgeteilt. Und in dem schönen, bedeutungsvollen Aufsatz, den Fercher von Steinwand - Sie kennen ihn aus meinem Buche «Vom Menschenrätsel» - über die Zigeuner geschrieben hat, da finden Sie diese Bemerkung darin. Die Bemerkung glaubt jeder, der das Zigeuner­leben genau kennt. Ich selber habe die Zigeuner genügend kennenge lernt und weiß, daß solches unter den Zigeunern durchaus nicht nur möglich, sondern auch in zahllosen Fällen wirklich ist; sie sind der Ansicht, die diese Zigeunerin ausgesprochen hat, daß alle Kultur, alle Erziehung, alle unter den anderen Menschen vorhandene gegenseitige Hochschätzung der Menschen, und alles, was man überhaupt lernen kann, weniger glücklich mache als das ursprüngliche, elementare Leben, das der Zigeuner eben in seinem Zigeunerdasein führt, wo er ein Na­turkind ist. Diese Antwort der Zigeunerin spricht ungeheuer viel aus. Man kann sie zunächst schon als Tatsache hinnehmen; das werden die meisten Menschen tun. Aber man kann nun auch gerade in diesem Aus­spruch der Zigeunerin einen solchen Lebenszusammenhang herausfin­den, wie die sind, auf welche ich eben hingedeutet habe. Es kann einem nämlich etwas einfallen - und dem Fercher von Steinwand ist es eben

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eingefallen -, das in sehr merkwürdigem Verhältnis zu diesem Aus-spruch der Zigeunerin steht. Denken Sie sich einmal, es wäre ein an­derer Mensch, der bekommt von einer gelehrten Körperschaft die Frage vorgelegt, ob die menschliche Kultur die Menschen glücklicher oder unglücklicher mache in ihrer Entwickelung, und dieser Mann hat, wenn auch in einer langen Abhandlung, eine Antwort gegeben, die aber genau dasselbe ist wie die Antwort dieser Zigeunerin an den Geist­lichen. Und dieser Mann ist Rousseau, und die Abhandlung, in der Rousseau diese Zigeunerantwort gegeben hat, die ist ja von der Pari­ser Akademie der Wissenschaften preisgekrönt worden. Denken Sie, welch merkwürdiger Lebenszusammenhang: dasjenige, was seelisch ganz gleich vorhanden ist in dieser Zigeunerin, das führt Rousseau aus in einer Abhandlung, und er ist gerade durch diese Ansicht, der unge­heuer wirkungsvolle Rousseau geworden. Da haben Sie einen merk­würdigen Lebenszusammenhang. Sie finden bei Rousseau eine Gesin­nung, eine Anschauung, die ganz gleich ist mit der Anschauung der Zigeunerin; nur just, daß diese Anschauung der Zigeunerin nicht von der Pariser Akademie der Wissenschaften preisgekrönt werden würde. Aber in beiden Fällen haben Sie genau dieselbe Anschauung. Die Zigeu­nerin hätte auch nicht gerade eine wissenschaftliche Abhandlung ge­schrieben; aber es ist genau dasselbe.

Sie sehen, es ist etwas, wie es sich sehr häufig im Leben findet, wie man es nur nicht beachtet. Wenn man den Dingen, die man immer nur von einem Gesichtspunkte aus anschaut, nachgehen würde, und sie un­ter einem anderen Gesichtspunkte aufsuchte, so w ürde man ganz merk­würdige Berührungspunkte finden, wie hier den Berührungspunkt zwi­schen Rousseau und der Zigeunerin. Das Leben ist eben ungemein vieldeutig, und nur wenn man sich auf solche Vieldeutigkeit des Lebens einläßt, dann ist man imstande, das Ich in dem Sinne, wie ich es ausein­andergesetzt habe, zu bereichern, es immer stärker und stärker zu ma­chen. Denn durch solche Zusammenhänge, die man draußen in der Welt aufsucht, aber im gewöhnlichen Leben nicht findet, wächst gewisser­maßen dieses Ich auch als Vorstellung. Das ist sehr wichtig, daß man das beachte. Man wird dann finden, daß man gerade dadurch, daß man solche unter der Oberfläche des Daseins liegenden Zusammenhänge

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sucht, nicht in sich hineinbrütet, sondern gewissermaßen in die Welt hineinbrütet, nach solchen Zusammenhängen brütet. Man wird dann finden, daß das Vorstellen, das mit dem Ich verknüpft ist, immer reger und reger, immer beweglicher und beweglicher wird, und daß einem viele, viele andere Dinge einfallen, als einem sonst einfallen. Und das ist nun eigentlich erst so recht wichtig. Denn dasjenige, woran wir so leicht kranken, woraus wir so viele Unbefriedigtheit im Leben ziehen, das besteht gerade darin, daß uns bei den Dingen dieser Welt so wenig einfällt, daß wir mit unseren Gedanken gewissermaßen einen engen, engen Kreis ziehen. Kommen wir in die Lage, dasjenige, was uns im Leben erscheint, mit vielem, vielem zu verbinden, weite Fäden zwi­schen den Ereignissen und Erfahrungen und Erlebnissen zu suchen, dann wird unser Ich stärker, dann fühlt es sich auch zuletzt dem Leben mehr gewachsen, auch als Gedanken-Ich. Daher ist alle Erziehung des Menschen schädlich, die die Menschen nur auf einseitige Gedanken über ein und dasselbe Ding hinweist. Ich will Ihnen ein Beispiel sagen, das, ich möchte sagen, in derselben Region gewachsen ist, wie das eben angegebene.

Viele Menschen huldigen einem sogenannten Pantheismus. Dieser Pantheismus besteht - Sie wissen, ich habe öfters diesen Pantheismus zurückgewiesen - im wesentlichen darin, daß die Menschen sagen:

Wir suchen überall den Geist. - Geist, Geist, Geist ist alles, und damit befriedigen sie sich. Pantheismus - manche nennen ihn heute auch Panpsychismus, weil sie den Theismus nicht haben wollen -, ich er­läutere das gewöhnlich dadurch, daß ich sage: Der Mensch, der das für die Sinneswelt machen würde, der würde nicht besonders weit kom­men. Denn wenn er auf eine Wiese geht und sagt: Blume, Blume, Blume, so ist das eben eine Abstraktion für alles. Er will nicht sagen:

Lilie, Tulpe und so weiter. Aber das wäre ganz dasselbe, wenn er da nur immer sagen würde: Blume, Blume, Blume, Blume, als wenn man sagen würde: Geist, Geist, Geist, Geist. Aber das finden die Menschen durchaus nötig, immer nur Geist, Geist, Geist zu sagen; und sie weisen es doch ab, wenn man von wirklichen Geistern, von Angeloi, Archan­geloi, Archai redet, so wie von einzelnen geistigen Wesenheiten, die ihr bestimmtes, ihr konkretes geistiges Dasein haben, wie man von einzelnen

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Wesenheiten der Sinneswelt redet. Aber es liegt gewissermaßen etwas im menschlichen Geiste, das dahin zielt, so pantheistisch zu denken, sich alles, alles zu vereinfachen, überall den abstraktesten Gedanken zu suchen. Da ist es interessant, daß wir nun auch ein Zigeunerbeispiel anführen können, welches uns so recht zeigt, wie zigeunerhaft es eigentlich ist, überall diese abstrakten Gedanken zu suchen.

Da fand derselbe Herr, der das andere erlebt hat, einen Zigeuner, welcher ein krepiertes Tier, das er auf der Straße oder auf dem Felde gefunden hatte, mit vollem Appetit verzehrte. Das tun nämlich die Zigeuner; sie verzehren krepierte Tiere, machen sich nichts daraus, können sie auch gut vertragen. Da wollte ihm der Betreffende klar­machen: Ja, ein krepiertes Tier ißt man doch nicht, man ißt doch nur geschlachtete Tiere. - Jetzt erwies sich der Zigeuner als ein Abstrakt­ling, indem er sagte: Ja, aber das Tier, das ich jetzt esse, das ist von Gott geschlachtet! - Sie sehen, er bekommt einen Gottes-Begriff, den er auf alles anwendet, ganz nach dem Muster der Pantheisten. Selbst­verständlich kann man denken wie die Pantheisten; dann denkt man ganz richtig, wenn man denkt: ein krepiertes Tier hat Gott geschlach­tet. Wie soll man nicht essen, meinte er, was Gott geschlachtet hat.

Weite Zusammenhänge kann man zur Bereicherung des Ich ent­decken, und die beleben dann das Ich weiter, insofern es ein Gedanken-Ich ist. Gewiß, es werden sich jetzt manche finden, die werden sagen:

Also was wird da verlangt? Kombinationsfähigkeit! Aber das ist sehr abstrakt. Das was ich meine, ist viel lebendiger als die Kombinations-fähigkeit. Gewöhnliche Kombinationsfähigkeit verhält sich wirklich zu dem, was ich meine, wie eine Maschine zu einem Organismus, zu einem lebendigen Wesen.

So werden wir dann mehr die Kraft, die jetzt schon in uns lebt von unserer nächsten Inkarnation, gewahr, wenn wir uns so bemühen, von­einander liegende Dinge zu denken, in Beziehung zu setzen, um unser Ich zu bereichern. Wir geben uns eben sehr der Täuschung hin, daß wir unser Ich bereichern, wenn wir, nun, sagen wir, in uns hineinbrü­ten. Aber da bereichern wir unser Ich gar nicht, wenn wir also nur in uns hineinbrüten, sondern wir bereichern unser Ich, wenn wir uns in

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die Welt, die unter der Oberfläche des gewöhnlichen Daseins liegt, wie angedeutet, hineinfinden, und wenn wir wirklich dieses Sinnen über das Leben im Gegensatz zu dem bloßen Sinnen, das in einem Hineinbrüten in sich selbst besteht, pflegen. Liebevoll das Leben ergreifen und nicht philiströs Zusammenhänge ablehnen, die keine andere Bedeutung ha­ben, als daß sie eben weit Auseinanderliegendes zusammenfassen, nur um das Ich zu bereichern, das bringt uns Stärke. Versuchen Sie es ein­mal im allergewöhnlichsten Leben - Sie werden sehen, Gelegenheit dazu gibt Ihnen jede Stunde-, versuchen Sie es im gewöhnlichen Leben, die Dinge, die Sie erleben, in solche geheimnisvolle Anknüpfungen ausklingen zu lassen. Nur muß man selbstverständlich nicht zum Phan­tasten werden. Zum Phantasten wird man dann, wenn man in solchen geheimnisvollen Zusammenhängen mehr sucht, als sie sind, wenn man durch sie etwas erkennen will. Aber nicht darauf kommt es an, durch sie etwas zu erkennen, sondern sie in sich wirken zu lassen. So daß man wirklich angeben kann, wie man sich in die Kraft einleben kann, die jetzt gedankenmäßig in einem ist, während ihre Wirklichkeit erst unserer nächsten Inkarnation entspricht.

So gibt es aber auch eine Möglichkeit, nicht nur das Ich, das die unse­rem Leben zugrunde liegende Kraft in der nächsten Inkarnation sein wird, nicht nur dieses Ich als Vorstellungs-Ich zu erfassen, sondern es gibt auch eine Möglichkeit, zu erfassen, wie dieses Ich zwischen dem Tod und einer neuen Geburt lebt. Da müssen wir allerdings dann mehr auf das sehen, wie wir uns selbst in das Leben hineinstellen, oder wie sich der Mensch überhaupt in das Leben hineinstellt. Aber die groben Einstellungen auf das Leben, die führen wiederum nicht in jene feine Art des inneren Erlebens, die man braucht, wenn man eine Wahr­nehmung haben soll von der Art, wie man ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, wie man ist nach dem Tode. Heute suchen ja die Menschen nur auf groben Wegen; aber auf groben Wegen kann man die Dinge nicht finden, die als Dinge in der Geisteswelt, als Wesen in der Geisteswelt gesucht werden. Da muß man sich auf feinere Zusam­menhänge einlassen. Sie können sich eigentlich nicht wundern, daß man sich da auf feinere Zusammenhänge einlassen muß, denn schließlich ist das Leben in der geistigen Welt eben doch ein anderes als dasjenige,

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in dem wir hier in der sinnlichen Welt sind. Deshalb brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn das, was wir denken, fühlen und wollen, nicht unmittelbar anwendbar ist auf die geistige Welt, wenn es da einer Ver­feinerung unseres ganzen Lebens bedarf.

Nun, für die Pflege des Reichtums des Vorstellungslebens, da ist dieses Zusammensuchen, wie ich es jetzt charakterisiert habe, dasjenige, was uns stärkt; für die Pflege des Ich, wie es lebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, überhaupt für die Pflege dieses Drinnen­stehens in der Welt, in der wir sind zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, da ist notwendig, daß man dieses Suchen von Zusammenhän­gen an den Menschen selbst anknüpft. Da muß man sagen: Es bietet das Leben Geheimnisvolles genug, wenn man dieses Geheimnisvolle nur nicht so nehmen will, daß man etwas Handgreifliches dadurch erhält, sondern, ich möchte sagen, wenn man es unphiliströs, in einer ge­wissen Zartheit nimmt; dann kommt man schon auf das Rechte. Gewiß, man wird heute, wenn man solche Dinge hinstellt, ich möchte sagen, beim materialistischen Wort genommen. Dadurch kommt man in eine gewisse Verlegenheit, wenn man so beim materialistischen Wort ge­nommen wird. Ich will durch ein Beispiel klarmachen, was ich meine.

Besonders charakteristisch kann sich dasjenige, was ich jetzt sagen will, an Menschen ergeben, welche in ihrer ganzen Charakteranlage dasjenige haben, was ich nennen möchte eine Art traumhaftes Seelen-leben, nicht, daß sie vollständige Träumer sind, aber sie haben eine Art traumhaftes Seelenleben. Daher wird man das, was ich meine, ganz besonders stark ausgebildet finden bei Menschen, die mehr gegen den Osten hin leben. Je weiter man nach Westen geht, desto weniger leben sich durch die Menschen diejenigen Zusammenhänge aus, welche auf dieses geheimnisvolle geistige Reich, das ich meine, deuten. Deshalb wird auch der Westen Europas zum Beispiel, der mehr angewiesen ist auf grobe Zusammenhänge, die Seeleneigentümlichkeit des russischen Volkes so außerordentlich schwer verstehen, trotzdem in der Gegen­wart auch dieses Verständnis ganz besonders notwendig wäre. Ich möchte sagen, das russische Volk ist heute noch um eine Nuance weniger wach als die westeuropäischen und sogar die mitteleuropäischen Völ­ker. Daher knüpfen sich diejenigen Dinge, von denen wir jetzt sprechen,

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leichter an das Seelenleben eines russischen, als an das Seelenleben eines westeuropäischen Menschen. Sie knüpfen sich schon auch an das Seelen-leben eines westeuropäischen Menschen, aber sie sind eben nicht so auf­fällig, sie fallen einem nicht so auf, möchte ich sagen. Da hat ein deut­scher Schriftsteller, Eduard Bernstein, eine ganz interessante Darstel­lung gegeben, die ich als Beispiel geben möchte. Er würde mir gewiß ganz übelnehmen, wenn ich das, was er erzählt, was er erlebt, für mystisch nähme. Aber deshalb ist das, was ich anführen will, doch ein gutes Beispiel für einen Lebenszusammenhang, der für den materia­listisch denkenden Menschen nichts weiter ist als ein gewöhnlicher Zu­fall. Da erzählt der Betreffende, daß er in London viel verkehrt hat in dem Hause von Engels, des Freundes von Marx. Das Haus von Engels war ein sehr gastfreundliches, wo viele Menschen viel verkehrt haben, wo sich eine internationale Gesellschaft zusammenfand. Und da lernte Eduard Bernstein unter den Menschen, die dort verkehrten, auch den Sergius Kratschinsky kennen, der als Schriftsteller den Namen Stepniak geführt hat. Er ist ja unter diesem Namen sehr bekannt. Nun, er be­schreibt ihn außerordentlich interessant, diesen Stepniak, und zunächst das äußere Leben dieses Stepniak:

«Ein kräftig gebauter Mann mit einem machtvollen Kopf entsprach er in seinem Wesen ganz dem Bild, das man sich bei uns vom Slawen macht. Er, der in Rußland Mann der Aktion und an der Befreiung Peter Krapotkins aus dem Gefängnis, sowie an dem geglückten Atten­tat auf den Petersburger Polizeidiktator Mesenzow, hervorragend be­teiligt gewesen, war stark träumerisch veranlagt und sehr gefühlsweich. Er war die Seele der in England gegründeten Vereinigung Free Russia, die sich die Sammlung von Unterstützungsgeldern für russische Frei­heitskämpfer zur Aufgabe gesetzt hatte. Für sie hat Stepniak wieder­holt Vortragsreisen in England sowie auch eine Rundreise in Amerika gemacht, bei der ihm insbesondere der amerikanische Humorist Mark Twain sehr freundschaftlich entgegenkam. In bestimmten literarischen Kreisen Englands nahm Stepniak, der sich auch als Romanschriftsteller mit Erfolg betätigt hatte, eine geachtete Stellung ein.»

«An der Engelsschen Tafel wie überhaupt in Gesellschaft war er ge wöhnlich ein stiller Gast, der fast nur sprach, wenn man sich unmittelbar

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an ihn wandte. Aber man merkte ihm doch an, daß er gern zu Engels kam und auf die Freundschaft mit ihm großen Wert legte. Auch zwischen ihm und mir» - also das meinte Eduard Bernstein von sich und Stepniak - «entwickelte sich ein recht freundschaftliches Verhält­nis.»

Nun gab es einmal in der Gesellschaft, wo Bernstein und auch Step­niak waren, einen Streit, wie es solch einen Streit bei Menschen, die sich mit gewissen Emotionen für das große Leben interessieren, leicht geben kann. Man stritt sich über eine Frage, die das Verhältnis der Russen zu den Polen betraf. Man könnte vielleicht darauf wetten in einem solchen Falle, daß der normale Mitteleuropäer sich selbstverständlich zu den Polen hält. Und da gab es denn einen ganz derben Streit. Bern­stein und andere waren auf der Seite der Polen, Stepniak nahm die Russen gegen die Polen in Schutz. Es gab einen derben Streit, der dazu führte, daß Stepniak nicht mehr in der Gesellschaft erschien. Durch Jahre hindurch hörte Bernstein nichts von Stepniak Er, Stepniak, war ganz ausemandergekommen mit den Leuten, mit denen er sonst in der Gesellschaft zusammengewesen war. Eines Tages bekam nach langer Zeit der Bernstein einen Brief, worinnen ihm ein ganz anderer, der nicht zu der Gesellschaft gehörte, schrieb, ob er nicht an einem Abend der nächsten Tage zu ihm kommen möchte; aber er wisse, daß er mit Stepniak nicht gut stünde, daß sie vor längerer Zeit einmal eine Diffe­renz gehabt hätten, und er möge nur kommen, wenn er sich nicht scheute, den Stepniak da zu treffen. Bernstein fand das nicht nur nicht hindernd, sondern er fand es sogar sehr schön, daß er Stepniak treffen könne, und so fanden sie sich dort zusammen. Nun, man könnte ja na­türlich zunächst nichts Besonderes darin finden, daß zwei Leute, die sich ganz gern gesehen haben, längere Zeit auseinandergekommen sind, sich nach Jahren wiederfinden, man könnte nichts weiter als einen bloßen Zu­fall darin finden. Selbstverständlich, das materialistische Denken wird darin einen bloßen Zufall suchen. Nun, so wie der Bernstein die Sache schildert, muß man sagen, daß wirklich das Wiedertreffen an diesem Abend schon zeigt, daß insbesondere dem Stepniak die Sache außer­ordentlich wichtig war. Die Schilderung der Stimmung ergibt das, daß es Stepniak doch wichtig war, daß er an jenem Abend mit dem Bernstein

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noch zusammentraf. Sie waren sehr heiter, sehr froh. Und am übernächsten Tage, nachdem Stepniak am vorigen Abend gesagt hatte, nun sei er sehr froh, daß sie sich wiederum gefunden haben, er hoffe vieles mit ihm zusammen zu haben - am übernächsten Tage las der Bernstein in der Zeitung, daß Stepniak tot war. Er ging in einem Buche oder in der Zeitung lesend auf der Straße, ging über eine Eisenbahn, der Zug überfuhr ihn. Es war alles so klar, daß es sich um keinen Selbstmord handeln konnte, und daß man nur an ein Unglück denken konnte. Wiederum ein Zufall. Aber diese Dinge hören auf, sehen Sie, ein bloßer Zufall zu sein. Ich wähle eben ein eklatantes Beispiel, wie man sie im Leben suchen soll, für die nicht ganz offenbaren, die etwas verborgenen Zusammenhänge, in die die Menschen mit ihrem Seelen-leben verstrickt sind. Diese Dinge hören auf, ein bloßer Zufall zu sein, wenn man in Erwägung zieht, daß eigentlich unser feineres Seelen-leben, das vorzugsweise in Vorstellungen, in etwas gefühlsgefärbten Vorstellungen verläuft, dann, wenn es etwas träumerisch ist, in ganz eminentestem Maße nach der Zukunft hinweist, prophetisch ist. Es ist eigentlich jeder Traum prophetisch. Wenn Sie träumen, träumen Sie eigentlich immer Zukunft, nur können Sie sich über die Zukunft nicht Vorstellungen bilden, und daher tauchen Sie das, was Sie eigentlich über die Zukunft träumen, in die Vorstellungen der Vergangenheit. Die ziehen Sie wie ein Kleid über dasjenige darüber, was eigentlich in Ihrer Seele erlebt wird. Weil das Zukünftige mit dem Vergangenen im Zusammenhang steht, weil da Karma wirkt, ist ein tieferer Zu­sammenhang zwischen dem, was man für die Zukunft träumt, und dem Kleide, das man anzieht, wenn man sich des Traumes bewußt wird. Das, was man weiß, man kleidet es in Bilder der Vergangenheit, in Bilder, die einem schon bekannt sind. Man träumt ja immer vom Ein­schlafen bis zum Aufwachen, nur weiß man es nicht; man weiß nur das wenigste. Ist man nun im Leben träumerisch, dann wirkt dieses Träumerische, und wirkt in das Karma hinein. Daher wird derjenige, welcher solch einen geheimnisvollen Zusammenhang, wie ich ihn vor­geführt habe, richtig versteht, ich möchte sagen, Karma mit Händen ergreifen können. Gewiß, wäre der Stepniak nicht dieser gefühlsweiche und zugleich träumerische Mensch gewesen, so würde der Zusammenhang

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zwischen seinem bewußten Leben und der geheimnisvollen Karmaströmung nicht so stark gewirkt haben, daß noch am aller­letzten Abend, sozusagen in den letzten Stunden, diese Wirkung, das Zusammentreffen, das ich Ihnen geschildert habe, herbeigeführt hat. Aber je mehr das abstrakte, das alltägliche Vorstellen heruntergeträumt wird, desto mehr Anziehungskräfte besitzt der Mensch dafür, karmi­sche Zusammenhänge herbeizuführen. Ich hoffe, daß Sie diesen feinen Zusammenhang richtig verstehen. Man kann auch im Leben für Dinge, die einem begegnen, unaufmerksam sein. Wäre man aufmerksam ge­wesen, so hätte man vielleicht unter dem betreffenden Eindruck diese oder jene Handlung vollzogen. Hier liegt das vor, daß der Betreffende, der mehr träumerisch war, nicht im vollen Bewußtsein, aber in diesem träumerischen Bewußtsein, dazu gebracht wird, die Gelegenheit herbei-zuziehen, die ihn, bevor er durch die Pforte des Todes geht, noch ein­mal mit dem anderen zusammenbringt.

Solche feineren Zusammenhänge im Leben, die man auch nicht als etwas anderes nehmen muß, als das, was sie sein sollen: Bereicherung unseres Innenlebens, die sollten an dem, der sein Innenleben bereichern will, als eine Perspektive auf das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, nicht vorübergehen. Man sollte wirklich auch diese, das Menschenleben selbst in weitere Netze aufnehmenden, unter der Ober­fläche des Lebens liegenden Fäden, aufsuchen. Gewiß, es darf einen niemand sozusagen an der materialistischen Hand nehmen und sagen:

Also behauptest du, daß der Stepniak diese Zusammenkunft mit Bern­stein am Abend durch anziehende Kräfte seiner Seele herbeigezogen hat. Ja, wenn man so materialistisch an der Hand genommen wird, als ob man etwas hätte sagen wollen von einem materialistisch-natur-wissenschaftlichen Beweis, dann ist das nichts. Denn so grob liegen die Dinge nicht. Die Dinge liegen eben viel feiner. Es muß jemand gar nicht auf den Gedanken kommen, einen gewissermaßen materialistisch auf diese Dinge festnageln zu wollen, sondern er muß zufrieden sein, daß man oder daß einer sich ergeht in der Schilderung solcher Zusam­menhänge; er muß gar nicht das Bedürfnis haben, sie so grob anzu­fassen, wie die Dinge des gewöhnlichen materiellen Lebens. Wenn man sich einläßt, das Leben auf solche feineren Zusammenhänge hin so zu

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betrachten, dann wird wiederum die Seele bereichert. Im Grunde sind alle Zusammenhänge, die die Geisteswissenschaft gibt, solche feinere Zusammenhänge. Daher wird das Leben auch bereichert durch diese Zusammenhänge; wenn dieses Leben nicht gerade in dem Körper des Max Dessoir ist.

Also Zusammenhänge, die mehr vom Menschen absehen, wie ich sie vorhin charakterisiert habe, die bereichern das Ich, das wir jetzt in uns tragen, aber eigentlich nur als eine Keimanlage für die nächste Inkar­nation, so daß wir in bezug auf dieses Schatten-Ich größere Stärke haben. Zusammenhänge von der Art, daß wir vom Menschen nicht absehen, sondern Menschen hineinstellen, die bereichern das Leben in der Weise, daß sie die Seele reicher machen in dem Erfühlen, Erwahr-nehmen jener Region, die wir durchgehen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Es ist höchst merkwürdig, daß man eigentlich manches bei Menschen, die darauf veranlagt sind, solche Zusammen­hänge zu suchen, gar nicht richtig versteht, wenn man die Dinge, ich möchte sagen, materialistisch anfassen will. Goethes Stil zum Beispiel, der an sehr vielen außerordentlich wichtigen Stellen seiner Werke so zu nehmen ist, daß Goethe an diesen Stellen eigentlich niemals mate­rialistisch festgenagelt sein will, der kann nur richtig verstanden wer­den, wenn man ihn so nimmt, daß Goethe sich niemals anders aus­sprechen will, als über etwas, was gewissermaßen unter der Oberfläche des Lebens liegt; an bestimmten Stellen seiner Werke natürlich.

Sie sehen, man irrt, wenn man auf grobe Weise glaubt - und zum Beispiel Waldo Trines Weise ist grob -, durch Hineinarbeiten in sich jene Bereicherung des Ich zu finden, welche eine stark machende Selbst­erkenntnis ist. Man muß versuchen gerade loszukommen von sich, um sich stärker zu machen. Daher sind diejenigen im Grunde schlechte Führer zur Selbsterkenntnis, die einen auf sich verweisen, die einen nicht wegweisen von sich selber, die einen nicht mit der Welt und ihren nicht auf der flachen Hand liegenden Zusammenhänge zusam­menbringen.

Wie man sich solchen Irrtümern und Klippen und Klüften hingeben kann mit Bezug auf das vorstellende Ich, so kann man sich, ich möchte sagen, auch hingeben mit Bezug auf das wollende Ich. Das Wollen,

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das beachten wir eigentlich im gewöhnlichen Leben ebensowenig rich­tig - das wollende Ich, meine ich -, wie das denkende Ich. Sie können das schon daraus entnehmen, daß Leute, wie der von mir vor einiger Zeit angeführte Theodor Ziehen, auf das Wollen überhaupt nicht kom­men. Sie finden im gegenwärtigen Menschen wiederum das Wollen nicht und sie haben, wie ich in öffentlichen Vorträgen jetzt an vielen Orten ausgeführt habe, damit nicht unrecht. Franz Brentano schaltet sogar das Wollen ganz aus von den Seelenkräften, unterscheidet nur Vorstellen, Urteilen und die Gefühlsphänomene des Liebens und des Hassens, so daß er das Wollen gar nicht in der Seele eigentlich an­schaut. Er schaltet es auch als Psychologe aus. Und daran ist das richtig, daß, wenn man wiederum den Menschen, wie er in der gegenwartigen Inkarnation ist, auf sein Wollen hin prüft, man das Wollen gar nicht findet. Man findet von dem Wollen im gegenwärtigen Menschen bloß, daß es einen befriedigt oder unbefriedigt läßt, daß es einem Freude macht, Trauer macht und dergleichen. Man findet sozusagen wirklich von dem Wollen nur den Gefühls-, den Gemütseindruck, aber das Wollen selber, es bleibt im Geheimnisvollen. Sie wissen nicht einmal, warum Sie eine Hand erheben; Sie wissen, warum, welches Gefühl Sie dazu verleitet hat, welche Vorstellung, aber wie Sie es machen, was eigentlich als Wille wirkt: Sie können es nicht im gegenwärtigen Men­schen finden. Warum? Weil es nicht im gegenwärtigen Menschen drin­nen ist. Das wollende Ich ist gar nicht im gegenwärtigen Menschen drinnen, sondern es ist das Ergebnis der vorigen Inkarnation. Was in der vorigen Inkarnation war, das lebt sich jetzt aus als Wille, der aus dem Ich herausfließt. Sage ich «Ich bin», so lebe ich in diesem Gedanken «Ich bin» in dem Keim der nächsten Inkarnation. Sage ich:

«Ich will», dann lebe ich in dem, was herauswirkt aus der vorhergehen­den Inkarnation in die gegenwärtige hinein.

Das ist außerordentlich interessant, weil es begreiflich erscheinen läßt, daß hier leicht Lebensenttäuschungen liegen können. Das Befrie­digtsein oder Nicht-Befriedigtsein, das hängt ab von der Gegenwart, das liegt an dem gegenwärtigen Menschen, aber der Wille führt hinein aus dem Menschen der vorigen Inkarnation. Jedesmal, wenn ich irgend etwas vollführe, was mit den Worten ausgedrückt wird: ich will das

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oder jenes -, fährt der Wille aus der vorigen Inkarnation in meinen gegenwärtigen Gemütszustand hinein. Denken Sie, was das für ein geheimnisvoller Zusammenhang ist. Aber der Mensch im gewöhn­lichen Leben wirft das alles durcheinander. Er glaubt: dieses Ich, das ist so irgendein geheimnisvolles Substantielles in seinem Innern, und einmal sagt es: «Ich denke», einmal «Ich war», einmal «Ich bin», ein­mal «Ich will». So ist es aber nicht; sondern wenn ich sage: «Ich bin», so entwickele ich eine Kraft, die jetzt in mir so ist wie die Keimkraft in der heurigen, in der diesjährigen Pflanze, die sich aber erst im näch­sten Jahr entfaltet. Sowie ich sage «Ich bin», bin ich in einer Kraft, die Mensch wird in einer nächsten Inkarnation. Wenn ich sage: «Ich will», wirke ich aus einer Kraft heraus, die in mir war in einem vor­hergehenden Erdenleben.

Wenn man dies gehörig begriffen hat, dann weiß man, daß man eigentlich nur in seinem Fühlen - wie der Philosoph sagt -, im modus praesens lebt, in der Gegenwartsform lebt. Real in der Gegenwarts­form ist eigentlich nur das Gefühlserlebnis; und wir sind wirklich zeitlich gewissermaßen eine dreifach ineinandergeschachtelte Wesen­heit. Wir sind so zusammengeschachtelt, daß in uns lebt das, was her­überwirkt aus der vorigen Inkarnation, dasjenige, was jetzt erfühlt wird, und dasjenige, was herüberwirkt in die nächste Inkarnation. Wie die Pflanze herauswächst aus dem, was Same des vorigen Jahres war, der vertrocknet, so ist das Vertrocknende der vorigen Inkarnation, das allmählich in die übrige Welt Übergehende, das Wollen, das aus dem Ich quillt. Der Keim für die nächste Inkarnation ist dasjenige, was wir als Ich denken. Aus diesem Grunde, weil das so ist, schrieb ich in dem Aufsatze, der von mir im April-Heft 1916, dem ersten Heft vom «Reich», der Bernusschen Zeitschrift enthalten ist: «Der Weg in die geistige Welt wird also zurückgelegt durch die Bloßlegung dessen, was im Denken und Wollen enthalten ist», weil das Denken und Wollen, so wie es in uns lebt, in der Tat nicht in uns als bloß gegenwärtig lebt, sondern durch den geistigen Zusammenhang hinüberweist aus frühe-rem Erdenleben in späteres Erdenleben. Man kann dann wirklich sagen:

Es kann nicht in einer ähnlichen Art das Gefühlserleben durch einen inneren Seelenanstoß entwickelt werden, weil das Gefühlserleben als

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geistiges Gefühlserleben auch wirklich erfahren wird. Daher ist das­jenige, was dem Gefühl entspricht, drüben in der geistigen Welt etwas, was selbst an einen herankommen muß. Man kann meditierend, sich konzentrierend, Wollen und Denken ausleben, aber man kann nicht das Gefühlsleben kultivieren. Das muß man führen lassen, und das ergibt sich dann.

Viele fragen immer wieder und wiederum: Ja, wie komme ich in ein näheres Verhältnis zu jener Wesenheit, die wir als den Christus ansprechen? - Man kann nicht eine einfache Formel geben: Mache es so oder so! - sondern gewisse wichtigere Dinge der ganzen Geistes­wissenschaft sind heute so, daß sie einen in die Region des Christus führen, so wie er vorhanden ist. Nehmen Sie nur die Tatsache, die wir ja gut kennen: Als physischer Mensch ist der Christus doch nur zur Zeit des Mysteriums von Golgatha auf der Erde herumgewandelt. Also so ihn erleben, daß man ihn wie einen physischen Menschen in physi­schen Ereignissen erlebt, konnte man nur damals. Will man ihm heute nahekommen, dann muß man ihn suchen, wie er in der Erdensphäre lebt. Aber er lebt nicht in den groben Zusammenhängen, sondern er lebt in feineren Zusammenhängen. So daß gerade das, was ich Ihnen heute erzählt habe: Das Suchen nach feineren, entlegenen Zusammen­hängen, das Sich-Schulen an feineren, entlegenen Zusammenhängen, die Menschen in jene Region des Bewußtseins hereinbringen kann, wo sie den Christus wirklich erleben. Freilich kann man da wiederum, ich möchte sagen, unsanft von einer materialistischen Hand angefaßt wer­den. Es kann einer sagen: Nun ja, dann erzählst du uns, daß man den Christus eben nicht im gewöhnlichen Vorstellen erfassen kann, wie man es auf Naturdinge anwendet! - Menschen, die überhaupt einen solchen Gedanken anwenden, die also eigentlich aus der Empfindung heraus sprechen: es ist nur das berechtigt, was nach dem Muster der Naturdinge vorgestellt wird - das machen ja alle Materialisten -, die können überhaupt nicht so geführt werden, daß sie das Geistige wahr­nehmen.

Es ist vielleicht gewagt, aber denken Sie sich einmal, es wäre ein Wesen so geartet, daß man es nur wahrnehmen könnte, wenn man es träumt. Den Augen, den Ohren zeigt es sich nicht, sogar dem gewöhnlichen

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Alltagsdenken zeigt es sich nicht; aber es zeigt sich dem Traum. Ja, da müßte halt der Mensch, der etwas von diesem Wesen erleben will, sich darauf einlassen, die Kunst des Träumens zu entwickeln, sonst kann das Wesen nicht für ihn da sein. Nun, wenn einer sagt:

Träume, die geben mir nichts Wirkliches! -, dann ist an ihm die Schuld, daß er diesem Wesen nicht nahekommen kann. In dieser Beziehung denken die Menschen eben verkehrt, indem sie eigentlich von sich aus Forderungen aufstellen; und wenn irgend etwas diese Forderungen nicht erfüllt, dann gilt es ihnen nicht. Ja, aber wenn das Ding von der Art ist, daß es für diese Forderung nicht da ist, dann muß es eben den Menschen, die solche Forderungen aufstellen, entgehen. So muß man sich schon auch klar darüber sein, daß man eben eine besondere Art des Denkens oder des Innenlebens überhaupt ausbilden muß, für die sich dasjenige, was nicht in der äußeren Natur liegt, zeigen kann. Wir müssen zu diesen Wesen hingehen: nicht sie kommen zu uns. Das ist das Wichtige!

Immer wieder und wiederum möchte ich sagen: Man möchte so gerne mehr als Worte finden, daß die Menschen der Gegenwart wirklich aus ihrem groben materialistischen Empfinden heraus den Weg fänden zu solchen subtilen Dingen. Denn selbst die Besten in unserer Zeit finden den Weg nicht leicht zu solchen Dingen, wie ich sie jetzt auseinander­gesetzt habe. Sie halten das für Phantasie und lachen einen aus, wenn man etwa gar sagen würde: Nun, schön, laß es Phantasie sein, aber die Wesen sind eben so, daß du die Kraft der Phantasie haben mußt, sonst erscheinen sie dir nicht. - Sie lassen sich eben nur herbei, als reale Wesen zu erscheinen, wenn man auch die Kraft der Phantasie hat. Ich sagte, man möchte etwas mehr als Worte haben, um plausibel zu ma­chen, wie notwendig es gerade in der Gegenwart ist, sich auf solche subtilen Vorstellungen einzulassen. Die Vorstellungen sind subtil, aber die Seele wird durch diese subtilen Vorstellungen stark, so stark, daß sie Verständnis für die Wirklichkeit findet, daß sie wirklich tiefer hinein­schauen kann in die wirklichen Zusammenhänge, als das Vorstellen hineinschauen kann, das sich nur schulen will an den materialistischen, naturwissenschaftlichen Vorstellungen der Gegenwart. Selbst bei aus­gezeichneten Geistern findet man heute, daß das Denken, ich möchte

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sagen, wirklich verlernt hat, sich in der notwendigen Subtilität zu er­gehen. Ich habe Ihnen das letzte Mal wirklich, ich glaube, mit ganz eindringlichen Worten begreiflich gemacht, daß ich Franz Brentano außerordentlich schätze, gerade deshalb, weil er durch sein Aristoteles-Studium das Denken bei sich zu einer gewissen Subtilität ausgebildet hat. Aber ich sagte: er ist nicht zur Geisteswissenschaft gekommen. Daran war manches schuld, vor allen Dingen aber auch, daß er doch nun jene Subtilität des Denkens nicht gehabt hat, welche man haben muß als erstes, um in die wirkliche geistige Welt hineinzudringen; wenigstens anstreben muß man es. Lesen Sie die letzten Kapitel meiner «Theosophie» oder im zweiten Teil der «Geheimwissenschaft». Da kann man, ich möchte sagen, manchmal die Leute abfassen dabei, wie sie mit dem gegenwärtigen Denken stolpern. Man kann sie abfassen. So kann man auch Brentano abfassen. Ich muß sagen, ich würde es rätselhaft finden, daß ein so feinsinniger Mensch wie der Brentano gewisse Wege nicht gefunden hat, wenn es mir nicht gelänge, solch einen Menschen dann abzufassen an dem Punkte, woran es liegt. Und, man kann ihn an vielen Stellen abfassen, aber ich will eine solche Sache anführen.

Er sagt: Das seelische Leben, das muß in bezug auf die Materie, in der dieses seelische Leben ist, individualisiert sein, denn man kann gewisse niedere Tiere zerschneiden, und jeder Teil zeigt wiederum das­selbe Leben wie das Ganze, das man in Teile zerschnitten hat. Sie wissen, gewisse niedere Tiere kann man zerschneiden, sie machen sich nichts daraus, es leben dann eben zwei weiter. Nun sagt er: Ja, da können wir uns keine andere Vorstellung bilden, als daß nunmehr in jedem der Teile ein selbständiges Seelisches lebt. Habe ich also einen niederen Wurm in zwei Stücke zerschnitten und jeder lebt wiederum, so ist in jedem Teilstück eine Seele. Er schließt daraus, daß das See­lische als ganz Einheitliches in dieser Weise mit dem Körperlichen ver­bunden ist. Und er gebraucht nun einen Vergleich, denken Sie, er sagt:

So ist es doch auch bei dem Dreieck. Wenn wir einen Strich machen, so zerfällt es in zwei Dreiecke, da haben wir es geteilt, jedes ist ein Dreieck. Ich will jetzt nur dieses sagen: Er vergleicht also den Gedan­ken, den er beim Zweiteilen eines Wurmes hat mit dem Gedanken, den

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er beim Zweiteilen eines Dreiecks hat und macht sich das eine durch das andere klar. Zweiteilen eines Dreiecks ist ein einfacherer Gedanke als das Zweiteilen eines Wurmes; also man kann sich das eine durch das andere verdeutlichen. Aber gilt das? Brentano kommt es außer­ordentlich wichtig vor. Aber gilt das? Es gilt nicht! Denn, nehmen Sie an, Sie haben hier ein Dreieck. Gewiß, wenn Sie hier eine Linie ziehen,

Zeichnung aus GA 176, S. 149
Zeichnung aus GA 176, S. 149

teilen Sie es in zwei Dreiecke. Jeder Teil ist wiederum ein Dreieck, wie beim Wurm, wenn er in zwei Teile zerschnitten wird. Aber teilen Sie das dann so ab, dann entstehen nicht zwei Dreiecke, sondern eines ist ein Viereck. Das heißt, Sie bekommen nur unter gewissen Vorausset­zungen zwei Dreiecke; eines ist hier ein Viereck.

Zeichnung aus GA 176, S. 149
Zeichnung aus GA 176, S. 149

Der Vergleich gilt also nicht. Ein sehr scharfsinniger Mensch macht einen Vergleich. Aber der Vergleich gilt nicht. Sein Denken ist also nicht beweglich genug, nicht lebendig genug, um einen gültigen Vergleich zu finden. Er stolpert. Aber das hat Folgen. Denn würde er sich nicht durch einen solchen Vergleich täuschen lassen, daß man einen Wurm ebenso in zwei Teile teilt wie ein Dreieck, so würde er auf das Richtige

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kommen. Und er kommt nicht auf das Richtige. Wenn ich nämlich einen Wurm in zwei Teile teile, hat das nichts mit zwei Seelen zu tun, sondern die Gruppenseele wirkt in die zwei Teile hinein ebenso, wie wenn ich mein Bild im Spiegel ansehe, und den Spiegel in der Mitte in zwei Teile breche, so habe ich zwei Bilder, und ich habe mich doch nicht geteilt. Ich habe wohl zwei Bilder erhalten, aber ich habe mich nicht geteilt, sondern den Spiegel, dadurch sind es zwei Bilder geworden. Ebensowenig kann ich die Seele des Wurmes teilen; sie ist eine geblie­ben, wie ich einer geblieben bin, wenn ich in zwei Spiegeln mich spiegele, so ist die eine Seele in den zwei Wurmstücken vorhanden. Er konnte nicht zu dieser Vorstellung kommen, die der Realität entspricht, weil er sich in einem nicht genug beweglichen Denken durch einen falschen Vergleich hat täuschen lassen. Hätte er nämlich den Vergleich richtig gemacht, da, wo wirklich zwei Dreiecke sind, dann würde er sich gesagt haben: Ja, aber das bloße Teilen macht es nicht, daß da zwei Dreiecke sind, sondern es muß etwas dazu kommen. Wenn ich geteilt habe, muß wiederum die Idee des Dreieckes auf die beiden Teile anwendbar sein. Bloßes Teilen von außen gibt nicht zwei Dreiecke. Hier muß ich zwei Ideen anwenden: die Idee des Dreieckes und die Idee des Viereckes. Wäre er darauf gekommen, daß er ein und dieselbe Idee bei diesem Teilen anwenden muß, und daß nur diese ein und dieselbe Idee ihm die Garantie gibt, er habe in zwei Dreiecke geteilt, dann wäre der Vergleich richtig. Aber darauf war er nicht gekommen, daß die eine Wurmseele in beiden Teilen drinnen ist, aber von außen hineinschaut, wie derjenige, der vor dem Spiegel steht und in die beiden Teile des Spiegels hineinschaut.

Wir stehen wirklich in einem solchen Zeitpunkt, wo alles nach Sub­tilisierung des Denkens schreit. Wir kommen wirklich nicht weiter, wenn solche Subtilisierung des Denkens nicht eintritt, wenn das Den­ken nicht beweglicher wird, wenn es immer kleben will an dem grob Äußerlichen. Und wenn auch heute der Widerstand gegen diese Subti­lisierung des Denkens am stärksten ist, so muß um so mehr stark ge­arbeitet werden in der Sache der Geisteswissenschaft, denn die kommt ohnedies nicht zustande, wenn man nicht zu subtileren Vorstellungen seine Zuflucht nimmt; die ist aber auch geeignet, das Ich des Menschen

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durch das, was sie ist, stärker zu machen. Alles übrige kann ja den Menschen auf den Weg führen, nach dem die heutige Sehnsucht liin­strebt; aber wirkliche Kraft geben kann nur die Geisteswissenschaft, gerade durch das, was man ihr besonders vorwirft: daß sie ja lauter Vorstellungen erweckt, die eigentlich nicht so recht anwendbar sind, sich im Leben nicht äußerlich darstellen lassen. Aber gerade durch das, daß sie sich nicht äußerlich darstellen lassen im Leben, machen sie uns innerlich stark und kräftig, das heißt, wirklichkeitsbefreundet.

Davon wollen wir dann das nächste Mal in einer weiteren Perspek­tive auf wichtige Verhältnisse des Lebens weiter reden.

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SIEBENTER VORTRAG Berlin, 17. Juli 1917

Wir wollen jetzt nach und nach Vorstellungen bewerten, die wir in unseren letzten Betrachtungen gewonnen haben. Im ganzen werde ich Ihnen zu sprechen haben in dieser und den folgenden Betrachtungen von dem Wesen des Wahren, von dem Wesen des Guten, auf das ich schon in den verflossenen Ausführungen hingedeutet habe. Aber heute werden wir gewissermaßen episodisch etwas aus diesen Zusammen­hängen heraus, die wir durchgeführt haben, zu betrachten haben, das der Zeitgeschichte sehr bemerkenswert sein muß. Zunächst haben Sie aus den letzten Vorträgen, die ich hier gehalten habe, gesehen, daß man sich sehr wohl ganz bestimmte Begriffe und Vorstellungen machen kann über den Zusammenhang unseres gegenwärtigen Erdenlebens mit dem früheren Erdenleben und mit demjenigen Erdenleben, das auf das unsrige, auf das jetzige folgen wird. Ich habe Ihnen ja dargestellt, daß in unserem Wollen, sofern wir das Ich selber in unserem Wollen wahr­nehmen, wie herüberwirkt unser letztes Erdenleben. Und insofern wir uns den Gedanken des Ich bilden, ist dieser Gedanke mit allem, was er enthalten kann, so fein gewoben, daß er hinüberwirkt, wie wir wissen, in das nächste Erdenleben - wie ich Ihnen gesagt habe -, wie der Keim, der jetzt in einer Pflanze ist in diesem Jahr, hinüberwirkt für das Leben der Pflanze im nächsten Jahr. Also gewissermaßen den Keim zum nächsten Erdenleben haben wir in allem zu suchen, das wir an Gedanken weben, so aber, daß das Gewebe im Mittelpunkt die Ich-Vorstellung, den Ich-Gedanken hat. Daraus ersehen Sie, daß wir, in­dem wir in unser Erdenleben eintreten, gewissermaßen mit all den Vor­bedingungen hereinkommen, die uns vom vorigen Erdenleben kom­men; aber auch selbstverständlich mit alledem, was aus uns gemacht wird in der Zeit, in der das vorige Erdenleben gewissermaßen ver­arbeitet wird zwischen dem Tode und der neuen Geburt, also derjeni­gen Geburt, durch die wir in das jetzige Erdenleben eingetreten sind. Das ist die eine Gruppe, möchte ich sagen, der Vorstellungen, die wir gewonnen haben.

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Jetzt nehmen Sie mit einem großen Sprung eine andere Gruppe, eine Gruppe von Vorstellungen, die wir gewonnen haben über den Verlauf des Menschenlebens auf der Erde, eine Betrachtung, die ge­gipfelt hat in dem, wir dürfen uns sagen, wunderbaren Geheimnis von dem Gesamtlebensalter der Menschheit in der Gegenwart. Wir haben ja ausgeführt, daß die Menschen, als die atlantische Katastrophe vorüber war, in das erste nachatlantische Zeitalter, in die altindische Zeit eintraten, daß da die Menschen als ganzes Geschlecht ein Alter von der Mitte der fünfziger Jahre, 56 Jahre hatten und so weiter. Und wir haben auch des genaueren ausgeführt, was das zu bedeuten hat. Das hat zu bedeuten, daß in der damaligen Zeit die Menschen ent­wickelungsfähig blieben, so wie wir jetzt nur in der Kindheit ent­wickelungsfähig sind, bis in das 56. Jahr hinein. welches sie also durch­machten, wie wir den Parallelismus durchmachen zwischen der seelisch-geistigen und der physisch-leiblichen Entwickelung in der Kindheit, wo mit dem Sichentwickeln, Sichentfalten unseres Leibes, mit unserem Wachsen, mit unserer ganzen Entwickelung die seelisch-geistige Ent­wickelung zusammenhängt. So also wie wir da einen Parallelismus zwischen der seelisch-geistigen und der physisch-leiblichen Entwicke­lung durchmachen, dann aber aufhören, wenn wir ein gewisses Alter erreicht haben - wir haben ja angeführt welches -, diesen Zusammen­hang zwischen dem Seelisch-Geistigen und dem Physisch-Leiblichen als etwas Wirkliches in uns zu tragen. Das Seelisch-Geistige wird dann unabhängiger, und wir können uns durch das, was von selbst kommt, nicht weiter entwickeln. Wir können so vor allen Dingen nicht die Mitte des Menschenlebens, das 35. Lebensjahr in Abhängigkeit vom Leibe durchmachen; der Leib gibt dann nichts mehr her. Wir erleben also gar nicht in uns selber den Rubikon, der da überschritten wird, und vor allen Dingen dasjenige nicht, was in dieser ersten nachatlanti­schen Periode erlebt worden ist: wir erleben nicht den ganzen Abstieg, das Zusammensinken, das Sklerotisieren, das Verkalken des Leibes und damit das Freiwerden des Geistes, ohne daß man etwas dazu tut, wie durch Naturentwickelung. Das leben wir nicht mit. Aber dazumal lebte man es mit. Wir wissen dann, daß dieses Lebensalter der Gesamt-menschheit hinunterstieg; die Menschen wurden 55, 54, 53, 50 und so

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weiter Jahre alt, bis sie am Ende der ersten Epoche nur entwickelungs­fähig blieben bis zum 49. Lebensjahr. Dann, in der urpersischen Zeit, machte das Menschengeschlecht die Lebensjahre vom 49. bis 42. Jahr durch, in der dritten, der ägyptisch-chaldäischen Periode, vom 42. bis zum 35. Jahre, in der griechisch-lateinischen vom 35. bis 28. Jahre. So daß also die Griechen und die Römer entwickelungsfähig blieben bis in die Zeit, die eben begrenzt wird vom 28. bis 35. Lebensjahr. Und wir haben uns da vor die Seele geführt das große, ich möchte sagen, das ganz unglaublich große Geheimnis, daß, als die Menschheit herunter-gegangen ist auf 33 Jahre, ihr entgegenlebte der Christus Jesus, daß gerade in das von oben heruntergehende 33. Lebensjahr das Myste­rium von Golgatha hereinfällt: der dreiunddreißigjährige Christus Jesus. Das ist etwas so Wunderbares, daß man eigentlich gar nicht Worte findet, um das auszudrücken, was die Seele da empfinden kann, wenn sie diese geheimnisvolle Wahrheit voll in sich auszuleben vermag.

Dann geht das Lebensalter der Menschheit herunter; wir leben, wie Sie wissen, seit dem fünfzehnten Jahrhundert im fünften Zeitalter. Es hat begonnen damit, daß die Menschheit 28 Jahre alt wurde, daß sie jetzt als solche 27 Jahre alt ist, das heißt, daß wir bis zu unserem 27. Jahr noch in irgendeiner Weise abhängig sind mit dem Seelisch-Geistigen vom Physisch-Leiblichen, daß wir aber dann durch die Tatsachen, die uns umgeben, selbst nicht gewissermaßen durch Natur-entwickelung weiterkommen, sondern, wenn wir dann weiterkom­men sollen, dann müssen wir einen inneren Seelenimpuls zu diesem Weiterkommen haben, und der kann heute, wie ich es des weiteren ausgeführt habe, nur aus der geistigen Erkenntnis kommen, aus dem Erfühlen und Erleben desjenigen, was man über die geistigen Vor­gänge wissen kann, und was in sachgemäßer Weise nur durch den Christus-Impuls kommt. So daß es einfach richtig ist, daß heute ein Mensch - und wenn er hundert Jahre alt werden würde -, wenn er sich nur dem überläßt, was Natur und Sozialität hergeben, was die Welt von selbst aus einem macht, unter diesen Einflüssen nicht älter wird als 27 Jahre. Und wenn er hundert Jahre alt wird, er bleibt eben dann stehen und ist angewiesen auf dasjenige in seiner weiteren Entwickelung, was er in die Seele hineinimpulsiert, ohne daß es von selbst, durch das Mitmachen

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der Leibesentwickelung kommen kann. So werden also die heutigen Menschen gewissermaßen von selbst 27 Jahre alt; und das ist das Charakteristische für die heutige Kulturentwickelung. Man ver­steht diese heutige Kulturentwickelung nur, namentlich in ihrem Zu­sammenhang mit früheren Kulturstufen, wenn man diese Tatsache, die die Geisteswissenschaft zu konstatieren vermag, sich wirklich vor die Seele schreibt.

Es hängt dieses zusammen mit gewissen Dingen der ersten Gruppe von geisteswissenschaftlichen Wahrheiten, die wir heute wiederholent­lich vor unsere Seele geführt haben. Wir machen eine gewisse Ent­wickelung durch in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Ge­burt. In dieser Entwickelung wirken, wie Sie aus meinen Betrach­tungen das letzte Mal ersehen haben, namentlich die Willensimpulse der vorhergehenden Inkarnation. Was wir da durchmachen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, was wir also gewissermaßen mit­gebracht haben in dieses Leben hinein, das leben wir jetzt in diesem Leben aus. Nun ist das Eigentümliche vorliegend, daß für einen Men­schen der Gegenwart die Wechselwirkung zwischen dem astralischen Leibe und dem Ich, also dem eigentlich Seelischen und Geistigen, und dem Ätherleibe eben stockt mit dem 27. Jahr. Wir werden in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt so zubereitet, daß wir unseren neuen Ätherleib konstituieren, organisieren können, daß in diesen Ätherleib und über diesen Ätherleib auch in den physischen Leib hineinwirken können das Ich und der astralische Leib. Für einen Menschen im Anfang der griechisch-lateinischen Zeit, also etwa für die Zeit des Jahres 747 vor dem Mysterium von Golgatha, da war es so, daß dieses Stoppen, diese Zeit, wo der Astralleib nicht mehr belebend auf den Ätherleib wirken kann, das 35. Lebensjahr war. Um die Zeit des Mysteriums von Golgatha war es das 33. Lebensjahr. Jetzt ist es das 27. Lebensjahr. So daß also ein Mensch, der sich ganz demjenigen überläßt, was heute die Natur selbst hergibt und von außen, von der Sozialität in uns einströmt, bis zum 27. Jahr infolge der Entwickelung, die er durchgemacht hat vor seiner Geburt, beziehungsweise vor seiner Empfängnis, den Ätherleib so beweglich hält, daß der Astralleib, der mit diesem Ätherleib in Wechselwirkung ist, immer diesen Ätherleib

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zu neuen Begriffen, zu neuen Vorstellungen, zu neuen Empfindungen beleben kann. Wir können von selbst durch dasjenige, was uns zu­kommt bis zum 27. Jahr, unsere Vorstellungen über die Welt, unsere Ideale bereichern. Alles das hört mit dem 27. Lebensjahr auf, von selbst zu kommen. Das muß dann, wenn es überhaupt fortdauern soll, durch die inneren Impulse angeregt werden.

Mit dieser für den Gegenwartsmenschen verhältnismäßig frühen Ein­stellung der Wechselwirkung zwischen Astralleib und Ätherleib und dadurch auch mit dem physischen Leibe, mit diesem verhältnismäßig frühen Stoppen, hängen viele Zustände, die die Seele des gegenwärti­gen Menschen durchmacht, zusammen, viele Unbefriedigtheiten. In früher Jugend haben wir, in den untersten Regionen namentlich, eine rege Wechselwirkung zwischen unserem Seelischen, also dem astrali­schen Leibe und unserem Ätherleibe. Dann stoppt das, und wir können eigentlich, wenn wir nicht so, wie ich das letzte Mal es beschrieben habe, unsere Vorstellungen, unsere Begriffe beleben, nur schattenhafte Begriffe in uns aufnehmen. Denn, würden diese Begriffe voll lebendig sein, dann würden sie uns fortwährend lähmen. Sie würden dann so sein, wie wenn der Keim fortwährend eine Pflanze sein wollte und sich zur ganzen Pflanze auswachsen wollte. Unsere Vorstellungen und Begriffe können das nicht. Sie müssen Keime bleiben für das nächste Erdenleben, für die nächste Inkarnation. Wir wollen da, wenn wir dies nicht in unsere Erziehung, in unsere Selbstzucht aufnehmen, eigentlich immer mehr haben, als uns das Leben geben kann. Und an diesem «mehr haben wollen, als das Leben geben kann» kranken heute verhältnismäßig viele Menschen. Das Leben kann uns, wenn wir un­seren Vorstellungen und unseren Empfindungen nicht durch innere Impulse solche Anregungen geben, wie ich es das letzte Mal beschrieben habe, nur solche Begriffe geben, die erst in der nächsten Inkarnation zur Reife kommen, die also schattenhaft in der gegenwärtigen Inkar­nation sind. Das verspüren wir. Würden wir das recht durchschauen, daß wir den Keim für die nächste Inkarnation ausbilden, würden wir also unser Leben in einen größeren Zusammenhang hineinstellen, dann würden wir zu einer viel größeren Lebensbefriedigtheit kommen. Das ist aber notwendig, und das hängt zusammen mit etwas, was seit

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Pascal,und erneuert durch Lessing, immer wiederum betont worden ist. Wir suchen Wahrheit und wir fühlen: in der Wahrheit sind wir in ge­wissem Sinne befriedigt. Aber Lessing hat den Satz, den vor ihm schon Pascal in einer viel ausführlicheren Weise ausgesprochen hat, in schöner paradigmatischer Weise ausgesprochen, indem er sagte: Wenn Gott in der einen Hand die volle Wahrheit hätte, in der anderen Hand das Streben nach Wahrheit, so würde er das Streben nach Wahrheit wäh­len. - Hinter dem steckt sehr viel. Hinter dem steckt nämlich das, daß wir eigentlich inkarniert in einem Menschenleibe immer ein Gefühl haben müssen, daß wir niemals die volle Wahrheit haben. Denn wir können im Menschenleibe nur das von der Wahrheit haben - denn die Wahrheit lebt ja in Begriffen, in Vorstellungen, die vom Ich durch­zogen sind -, was Keim für die folgende Inkarnation ist. Es muß also das, was als Wahrheit in uns lebt, so leben, daß es in Beweglichkeit ist, im Streben sich befindet. Bevor wir in diese Inkarnation eingetreten sind, haben wir uns unseren Ätherleib so zubereitet, daß er die Wahr­heit enthielt. Aber unsere Inkarnation besteht gerade darin, daß sie die volle Wahrheit ablähmt bis zur Kopie, bis zu einem Bilde der Wahrheit, und dieses Bild ist Keim für die nächste Inkarnation.

Wenn wir uns so hineinstellen als einzelner Mensch in die ganze Menschheit, dann kann erst Befriedigung in unsere Seele einziehen. In der Praxis kommt sie nicht, ohne daß wir solche lebendigen Begriffe entwickeln, wie ich das letzte Mal vorgeführt habe, ohne daß wir ge­wissermaßen Begriffe, die nicht an der Oberfläche des Lebens liegen, in uns eigentlich aufnehmen, die uns weit auseinanderliegende Zusam­menhänge des Lebens offenbaren. Zur Befriedigung wird in der Gegen­wart kein Mensch kommen, der nicht ein lebendiges Interesse an seiner Umwelt hat, aber ein solches Interesse, das nach dem Geiste und den geistigen Zusammenhängen der Umwelt sucht. Wer nur in sich hinein­brüten will, findet in sich nichts anderes als das, was uns heute bis zum 27. Jahr beschert werden kann gemäß unserer Entwickelung zwischen dem vorigen Tode und dieser Geburt. Dadurch ist dieses Zeitalter auch dasjenige, das der Freiheit entgegenstreben muß, weil der Mensch aus sich selbst heraus dasjenige finden muß, was seine Seele mit der Um­welt zusammenwachsen läßt, was ihn Interesse finden läßt für diese

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Umwelt, aber Interesse, das nicht bloß durch die Sinne kommt, son­dern auf die Weise aus weiten Zusammenhängen kommt, wie ich es das letzte Mal dargestellt habe.

In diesen Dingen liegt viel - und wir werden das nächste Mal noch von diesem Vielen reden -, viel von dem, was uns aufklären kann in unserer Stellung zu der Wahrheit in der Gegenwart, und auch von dem, was uns aufklären kann über unsere Stellung zu dem Guten, dem Sittlich-Guten, dem Ethischen in der Gegenwart. Heute soll uns mehr etwas interessieren, das uns über mancherlei aufklären kann, das gerade aus diesen Wahrheiten heraus für ein Verständnis unserer un­mittelbaren Gegenwart folgen kann.

Der Geisteswissenschafter muß es ja eigentlich mit seinen Wahrheiten ganz anders machen als der Naturwissenschafter. Durch die Betrachtun­gen von Jahren her haben Sie gesehen, daß der Geisteswissenschafter durch Imagination, Inspiration, Intuition zu seinen Wahrheiten kommt, das heißt, daß er sich durch diejenigen Erkenntnisse betätigt, die über die unmittelbare Sinneswelt hinausführen - sich führen läßt in das Gebiet der geistigen Welt, welches über dasjenige hinausgeht, was wir mit den Sinnen wahrnehmen, wovon aber dieses Sinnlich-Wahrnehm-bare als von seinem geistigen Untergrunde überall beherrscht, regiert wird. Also die Geisteswissenschaft muß ihre Wahrheiten holen aus den geistigen Regionen, die dem menschlichen Erkenntnisvermögen zu­gänglich sind. Solche Wahrheiten wie diese von der Verjüngung des Menschengeschlechtes, von dem Zurückgehen der Lebensalter, wie ich sie Ihnen entwickelt habe, vom 56. bis zum 27. Jahr, das wir als Men­schen der Gegenwart erreichen können, wenn wir uns nicht selbst wei­terbringen, solche Wahrheiten, die man nicht auf dem Wege der ge­wöhnlichen Ethnographie, der gewöhnlichen Anthropologie findet, die muß man aus der geistigen Welt herausholen. Eine bloß geschichtliche Betrachtung der Hergänge seit der atlantischen Katastrophe nach der Methode, wie die Naturwissenschaft vorgeht, würde natürlich diese Zusammenhänge nicht ergeben können. Also aus dem Geiste muß man diese Dinge herholen. Daher - das werden Sie begreiflich finden -wird auch gerade bezüglich der Außenwelt, also der Natur- und Ge­schichtswelt, der Welt der natürlichen Vorgänge und der Welt der sozialen

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Vorgänge, der Geisteswissenschafter mit seinen Wahrheiten sich etwas anders verhalten müssen als der Naturwissenschafter. Wie geht denn der Naturwissenschafter eigentlich vor? Nun, er hat die Natur-tatsachen, die Naturerscheinungen vor sich, danach bildet er sich seine Begriffe und Vorstellungen. Der Begriff, die Vorstellung ist das zweite. Das Gesetz ist das, wozu er kommt. Er geht also von der Tatsache zu dem Gesetz. Das Sinneswahrnehmen steht in der Mitte. Die Tatsachen nehmen wir wahr. Dann bilden wir uns die Vorstellung, das Natur-gesetz und so weiter.

Der Geistesforscher wird es ja in einer ähnlichen Weise mit Bezug auf die geistige Welt machen müssen; da ist die Forschung eigentlich nicht verschieden, aber in bezug auf das äußere Sinnliche werden sich doch Unterschiede ergeben. Man weiß ja zunächst die Tatsachen, in­dem man sie in der geistigen Welt ergreift. Will man also die Bedeu­tung dieser geistigen Tatsachen in der äußeren Sinneswelt suchen, so muß man die äußeren Lebenstatsachen hinterher suchen. Man hat zuerst das Geistige gegeben, dann sucht man dazu jene Sinnestatsache oder Lebens-tatsache, welche durch dasjenige erklärt wird, was man im Geiste ergriffen hat. Aus dem Geiste heraus erklärt man das, was aus dem Leben geistig erklärt werden sollte. Das ist für manchen ungeheuer schwierig zu verstehen, daß man mit Bezug auf das Geistige zuerst das Gesetz haben muß, und dann weist einen das Gesetz auf die Tatsache. Die Tatsache liefert gewissermaßen eine Bestätigung des Gesetzes. Ältere Geistesforscher haben das immer dadurch ausgesprochen, daß sie gesagt haben - wenn ich diesen schulmäßigen Ausdruck, der ja nichts zur Sache tut, Ihnen vorführen soll - Die äußere Naturbetrachtung geht induktiv vor, von der Tatsache zum Begriff, die Geisteswissenschaft muß deduktiv vorgehen, vom Begriff zur Tatsache. Nehmen wir von diesem Gesichtspunkte aus ein Beispiel, das uns ja heute in der Gegen­wart ganz besonders naheliegen muß.

Wir haben aus der geistigen Erkenntnis heraus gefunden, daß die Menschheit in der Gegenwart im allgemeinen durch das, was Natur und Sozialität durch sich selber hergeben, 27 Jahre alt wird. Der typi­sche Mensch der Gegenwart also, der sich fern hält von geisteserkenne rischen Impulsen, der typische Mensch der Gegenwart entwickelt sich

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bis zum 27. Lebensjahr. Ist er ein großer, ein bedeutender Mensch, ein Mensch, in dem viel von Leben sprudelt und wirkt, so wird er sich stark bis zum 27. Jahr entwickeln, das heißt, er wird alles dasjenige, was man heute als Mensch einfach dadurch entwickeln kann, daß man physisch 27 Jahre alt wird, alles dasjenige wird er, mit Bezug auf Denkkraft, mit Bezug auf Impulsivität des Wirkens in der Zeit, wer­den. Solchen Willen wird er entwickeln, wie man ihn dadurch ent­wickelt, daß die Muskeln bis zum 27. Jahr heranwachsen, die Nerven sich ausbilden und so weiter. Und dann, wenn er außerdem empfäng­lich ist für das, was die Sozialität, das Menschenleben hergibt, dann wird er sich bis zum 27. Jahr so entwickeln eine Summe von Ideen, von Idealen, was für soziale Reformen man alles machen wolle. Die leben bis zum 27. Jahre, damit wird er bis zum 27. Jahr, wenn ich so sagen darf, vollgepfropft sein; dann stoppt es, dann bleibt ihm das, dann wird er das von da ab ins Leben überführen wollen. Und er mag nun 100 Jahre alt werden - und ist er ein großer Mann, dann wird er tief Einschneidendes, Bedeutungsvolles ausführen -, aber er wird 27 Jahre alte Ideen, Impulse ins Leben einführen. Er wird also gerade so recht ein Repräsentant der Gegenwart sein, er wird ein Mensch sein, von dem man sagen kann: Das ist einer, den die Gegenwart hervor­bringen mußte wie ihr eigenes Produkt, der aber ablehnt, mit der Fort­entwickelung der Menschheit zu gehen, wenn er keine inneren Geist­Impulse aufnimmt, die inneren Geist-Impulse, die einen wiederum hin­ausführen über das 27. Jahr, wo man, wie mit den Jahren, so auch mit der Seele weiterlebt. Es müssen geistige Impulse aufgenommen werden. Die wird ein solcher Mensch nicht aufnehmen können, und sie also auch nicht in die Gegenwart hineintragen können. Er wird nichts von dem in die Gegenwart hineintragen können, was den Keim enthält für eine zu­künftige Entwickelung der Menschheit. Er wird just dasjenige hinein-tragen, was unmittelbar charakteristisch ist für die Gegenwart. Und wenn er ein recht großer Mann ist - man kann auch ein großer Mann sein, selbstverständlich, indem man siebenundzwanzigjährig bleibt -, dann wird er das in die Gegenwart hineintragen, was dieser Gegenwart auf einem bestimmten Gebiet voll entspricht, was gerade zu ihr paßt, was aber keine Keime für die Zukunft enthält. Das wird er hineintragen.

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Wie könnten wir uns denn einen solchen Menschen vorstellen in der Gegenwart, solch einen typischen Menschen? Wie könnten wir uns ihn vorstellen? Sehen Sie, jetzt machen wir den Weg von der geistigen Erfassung einer Vorstellung herunter in die Wirklichkeit; jetzt steigen wir herunter. Wir suchen gleichsam auf, wo das in der Wirklichkeit da ist. Jetzt wollen wir einmal suchen, wo der Mensch stehen könnte, wo er sein könnte, wo er uns gewissermaßen sinnlich im sozialen Leben entgegentreten könnte. Das könnte in der Gegenwart, nach den Ver­hältnissen der Gegenwart sein. Wie müßte denn ein solcher Mensch sich in die Gegenwart hineinstellen? So müßte er sich in die Gegenwart hineinstellen, daß erstens selbstverständlich das 27. Jahr ein springen­der Punkt in seinem Leben ist, ein besonders hervorragender Punkt, aber ein solcher Punkt, daß er gewissermaßen vom 27. Jahre ab hinein­gestellt ist ins Leben so, daß er just das Siebenundzwanzigjährige ins Leben überführen kann, nichts mehr und nichts weniger, daß alles so veranlagt ist in seiner sozialen Lebensstellung, daß er das ausführen kann, daß aber nicht die Mängel des Nicht-weiter-Kommens allzu stark gleich hervortreten. Er müßte also gewissermaßen Gelegenheit haben, auf fruchtbare Art stehen bleiben zu können beim 27. Jahr. Denn würde er 27 Jahre alt sein mit seinen Ideen und Impulsen und nachher nichts Besonderes bedeuten in der sozialen Welt - nun, so würde er 28, 29 Jahre alt werden, und er hätte gleichsam etwas Totes in sich. Würde er dann mit 30, 31 Jahren zu besonderen sozialen Verhältnissen kom­men, so würde er dann das, was inzwischen tot geworden, was ver­sumpft ist, hineintragen ins 28., 30., 31. Jahr, er würde nicht voll das 27. Jahr hineintragen, er würde nicht voll ein Repräsentant unserer Zeit sein. Ja, innerhalb unserer gegenwärtigen Verhältnisse könnten wir uns also denken, daß da, wo jetzt vielgerühmte normale Verhält­nisse für das Leben der Gegenwart existieren, also in demokratisch re­gierten Staaten, solch ein Mann mit 27 Jahren ins Parlament gewählt wird, denn da hat er vollständig die Gelegenheit, nunmehr in ein sozia­les Verhältnis hineinzukommen, welches gewissermaßen einen Abschluß bedeutet. Denn, tritt er als bedeutender Mann mit 27 Jahren ins Parla­ment ein, und betätigt er sich, so engagiert er sich gewissermaßen für das Leben: so nimmt man ihn; er kann nicht in verschiedener Weise umsatteln,

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er hat sich festgelegt. Er wird also wirklich vom 27. Jahr ab das ins Leben tragen, was er bis dahin in sich entwickelt hat. Wird er dann später - wovon die Vor- und Nachteile die Mitteleuropäer jetzt kennen­lernen wollen - aus dem Parlament zur Ministerschaft berufen, so wird das kein so wichtiger Abschnitt sein, als der, wo er ins Parlament ge­kommen ist, sondern er wird als Minister das realisieren, was er ins Par­lament getragen hat, wenn er gerade mit 27 Jahren hereingekommen ist. So daß Sie also sagen können: Der typischste Mensch der Gegenwart mit Bezug auf sozialpolitisches Leben wäre ein Mensch, der mit 27 Jah­ren in ein Parlament gewählt worden ist, und zwar in ein demokrati­sches Parlament, welches einem solchen Menschen auch die Gelegenheit gibt, seine siebenundzwanzigjährigen Impulse in der Sozialität auszu­leben.

Aber noch andere Anforderungen werden wir vielleicht stellen müs­sen an einen solchen Repräsentanten. In unserer Zeit herrschen über die freie Entwickelung des Menschen - diejenige Entwickelung, wo das zur Entfaltung kommt, was die Natur selbst hergibt - beeinträch­tigende Formen. Wenn einer regelrecht Gymnasiast wird, dann geht es schon schief mit dem, was die Natur von selbst hergeben soll. Wenn er noch gar irgendeine Fakultät in der heutigen normalen Weise durch-lebt, dann geht es noch schiefer, dann wird er in eine einseitige Rich­tung hineingedrängt. Wir wollen aber einen Repräsentanten ansehen, einen Menschen, der das hineinbringt in die Siebenundzwanzigjährig­keit, was von selber kommt, der eine möglichst ungehinderte, nicht durch die Norm der Gegenwart behinderte Jugendentwickelung bis zum 27. Jahr durchmachte. So daß der Geisteswissenschafter, wenn er einen Menschen, der so recht die Gegenwart mit all ihrer Siebenund­zwanzigjährigkeit und mit dem Willen, es ganz abzulehnen, heranzu­kommen an etwas, was Entwickelung für die Zukunft in sich aufnimmt, suchen wollte, er sich einen Menschen suchen würde, der alle diese Eigenschaften hat und diese Lebensverhältnisse durchmacht, die ich aus der Geisteswissenschaft heraus selber - nennen Sie es meinetwillen:

konstruiert habe -, der Geisteswissenschafter wird sagen deduziert habe. Und wenn ein solcher in der Gegenwart da sein würde, so würde uns das Dasein eines solchen Menschen ungeheuer viel erklären, denn

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wir würden begreifen, daß dieser Mensch da ist, um die Siebenund­zwanzigjährigkeit der Menschheit einmal so recht vorzuleben, zur vollen Tatsache zu machen, daß die Menschen an irgendeiner Stelle gewissermaßen stoppen sollen bei 27 Jahren, in grober Weise ablähmen sollen die Keime für die Zukunft.

Nun, gibt es einen solchen Menschen, der just die Eigenschaft und Lebensjährigkeit an sich trägt, die ihn zum typischen Repräsentanten der Gegenwart machen? Ja, einen solchen Menschen gibt es, und das ist Lloyd George. Für ihn stimmt alles, was ich Ihnen aus der geistes-wissenschaftlichen Betrachtung hier deduziert habe. Betrachten Sie von diesem Gesichtspunkte aus jetzt, nachdem Sie gewissermaßen den Weg nicht durch äußere Betrachtung, sondern von oben, vom Geiste her­unter gemacht haben, betrachten Sie jetzt das Leben dieses Lloyd George: 1863 geboren, früh verwaist - Sie kennen ja ungefähr dieses Leben -, zu seinem Oheim gekommen, der Schuster und Prediger war in Wales, keltischen Geblütes, also mit lebhafter innerer Regsamkeit gerade in den Jugendjahren. Seinen Oheim, den Schuster, der Prediger war, fortwährend vor sich, selber nach dem Ideal des Predigers hin­strebend, aber nicht Prediger werden könnend, also nicht einmal durch diese Schablone und Normen eingeengt, weil diese Sekte, zu der der Oheim gehörte, keinen honorierten Pfarrer halten darf, da muß jeder ein Handwerk ausüben und das Predigen frei betreiben. Der Junge wird ein glühender Verehrer der Unabhängigkeit. Er hat nicht so viel, daß ihm immer Schuhe gekauft werden könnten, er läuft barfuß herum, macht alle Stadien des armen Kerls durch und wächst so heran, indem er nicht regelrecht zur Schule geht, nicht eine regelrechte Bildung auf­nimmt, sondern das, was das Leben von selber gibt, an sich herankom­men läßt, auch nicht im regelrechten Sinne nunmehr eine Advokaten-laufbahn durchmacht, sondern als Sechzehnjähriger einfach in eine Advokaten-Amtsstube eintritt, sich da durch sein gesundes Urteil her­vortut und mit 27 Jahren Sollizitator wird. Also nicht auf dem Wege der akademischen Bildung, sondern aus der Lebenspraxis, aus dem, was das Leben dem Menschen der Gegenwart selber hergibt; so wächst er heran, vom Leben geschult. Vom Leben auch mit allen Impulsen gegen jegliches Privilegium, das Geburt oder Stellung verleiht, ausgestattet.

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Mit einer gewissen Wut den Hut ziehend vor dem vorgesetzten Gutsbesitzer der Gegend, dem er jeden Tag ein paarmal begegnen muß.

Und was geschieht? Im Jahre 1890-1863 ist Lloyd George geboren, 1890 ist er 27 Jahre alt - wird er dadurch, daß ein Mitglied des Parla­mentes stirbt, als Gegenkandidat gegen den Mann, auf den er eine Wut hat, weil er ihn täglich grüßen mußte, aufgestellt, weil er sich ausgezeichnet hat durch eine Reihe eindringlicher Reden, die wie Feuer den Menschen in die Seele zogen, welche dahin wirkten, daß Wales sich freimachen muß aus der englischen Umklammerung, daß die Na­tionalität der Kelten ein neues Aufleben erfahren muß, daß die Kirche vor allen Dingen niemals mit dem Staate in einem organisatorischen Konnex stehen darf, sondern frei gegenüber dem Staate stehen muß. Weil er sich so ausgezeichnet hatte, erringt er sich mit einer geringen Majorität den Parlamentssitz 1890, mit 27 Jahren! Das Leben hat ihn gelehrt aus unmittelbarer Anschauung, was für seine Gegenwart not­wendig war. Das trägt er ins Parlament hinein. Zwei Monate schaut sich der Siebenundzwanzigjährige alles an, redet kein Wort. Aber mit seinen Augen, die stets eine etwas konvergierende Achsenstellung neh­men und dann funkeln können, mit der Hand hinter dem Ohr, um möglichst genau zuzuhören, hört er zwei Monate alles das an, was die Situation bietet. Und von da ab beginnt er ein gefürchteter Redner des Parlaments zu sein. Leute, die vorher eigentlich mit einer gewissen Gleichgültigkeit, mit englischer Gelassenheit auf ihren Opponenten geschaut haben, wie Churchill oder Chamberlain, wurden wütend, wenn ihnen Lloyd George als Opponent entgegentrat, denn er war als Ungelehrter, als Unakademiker, von einer eindringlichen Dialektik und von einer sarkastischen Art, jeden zurückzuweisen, auch wenn der Betreffende noch so hoch in seinem Ansehen stand. Gladstone stand er am nächsten, dennoch hatte selbst Gladstone von Lloyd George man­cherlei auszuhalten durch seinen Sarkasmus, durch das Treffende, das Zielsichere der Dialektik, mit der Lloyd George bei jeder Gelegenheit aufzutreten verstand. Hier zeigt sich das Merkwürdige eines durch das Leben belehrten Menschen: die Vielseitigkeit. Menschen, die nicht durch das Leben belehrt worden sind, werden einseitig, wissen nur über das oder jenes Bescheid. Lloyd George wußte über alles Bescheid und sprach

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so, daß selbst die angesehensten Leute, die er angriff, in Wut kamen, aufgeregt wurden, während sie früher in englischer Gelassenheit da­saßen.

Es ist also gerade interessant, den großen Mann als Repräsentanten der Gegenwart zu sehen, den zu studieren, der mit dem siebenund-zwanzigjährigen Charakter das Keltentum verbindet, also diesen sie benundzwanzigjährigen Charakter mit der ganzen Kraft des Kelten­tums auslebt. Am angesehensten sind die Reden geworden, in denen er in beißender Art den Burenkrieg zurückwies, die ganze Schändlichkeit, wie er es immer nannte, die ganze Niederträchtigkeit des südafrikani­schen Krieges, die er in immer neuen und neuen Worten dem Parlament vor die Seele rückte. Und unerschrocken, keltisch unerschrocken, trat er auf, so daß er einmal nach einer Rede mit einem Knüppel so auf den Kopf geschlagen wurde, daß er zu Boden sank. Ein andermal mußte ihm ein Polizeimann seine Uniform geben, daß er durch eine Hinter-türe gebracht werden konnte, weil man sagte, der Lloyd George würde über einen Gegenstand reden, und man sich davor fürchtete. Ein Mensch, wie er tatsächlich innerhalb der englischen Verhältnisse, wie sie damals in den neunziger Jahren waren, vorher nicht da war! Ein scharfer Kritiker bis ins zwanzigste Jahrhundert herein. Selbstver­ständlich unter reaktionären Regierungen nur ein Kritiker. Aber als im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts das erste liberale Ministerium Campbell-Bannerman kam, da sagte man sich: Ja, es wäre schon alles schön, liberal zu regieren, aber was machen mit Lloyd George? Was macht man in einem solchen Falle - Mitteleuropa will sich ja jetzt von solchen Dingen eine genauere Kenntnis erwerben, wie Sie vielleicht ge­hört haben -, was macht man in einem solchen Falle in demokratischen Ländern? Man holt den Betreffenden auch ins Ministerium hinein, in­dem man ihm ein Portefeuille gibt, von dem man glaubt, er verstehe nichts davon. Das machte das Ministerium Campbeli-Bannerman mit Lloyd George. Man gab Lloyd George, just ihm, der niemals Gelegen­heit hatte, mit Handel sich zu beschäftigen, das Handelsportefeuille. Nun hatte Lloyd George das Handelsportefeuille von 1905 an inne. Lloyd George war ein selbstgemachter Mann, ein Mann, den das Leben gemacht hat, nicht ein Akademiker. Was war die Folge davon? Er

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wurde einer der ausgezeichnetsten Handelsminister, die England ge­habt hat.

Nach verhältnismäßig kurzen Studien, zu denen auch Reisen nach Hamburg, Antwerpen, Spanien gehörten, um da die Handelsverhält-nisse zu studieren, ging er daran, ein Patentgesetz zu machen, das ein Segen für das Land ist. Ebenso gelang ihm ein Gesetz zur Regulierung des Hafens von London, ein Gesetz, an dem sich viele Handelsminister vor ihm schon verblutet hatten. Das brachte er so zustande, daß man damit zufrieden war. Ihm gelang auch, die Beilegung einer damals sehr akut gewordenen Eisenbahnkrisis zu bewirken. Kurz, er hat sich als Handelsminister ganz außerordentlich bewährt. Und es kam die Ablösung des liberalen Ministeriums Campbell-Bannerman durch Asquith-Grey. Lloyd George mußte man selbstverständlich im Mini­sterium haben! Aber man hatte sich ja jetzt schon überzeugt: Lloyd George ist ein Mensch, der alles kann. So richtig der Repräsentant der Zeit, also gibt man ihm auch den wichtigsten Posten: man macht ihn zum Schatzkanzler. Also Lloyd George war nun Schatzkanzler.

Nun denken Sie sich: mit aller Siebenundzwanzigjährigkeit, die er behielt, mit allen Emotionen des Keltentums, mit allen Emotionen, die er aufgenommen hat, indem er immer als barfüßiger Junge den Guts-herrn grüßen mußte - der allerdings nachher mit geringer Majorität durchgefallen ist -, mit allen Emotionen gegen alles, was Privilegium und dergleichen heißt - denn er alterte nicht, er blieb das, was er bis zum 27. Jahr gewesen war -, mit all dem wurde jetzt Lloyd George Schatzkanzler. Bis dahin hatte man in England geradezu ein Zauber-mittel für alles finanzielle Wesen: das war dasjenige, was man die Tarifgesetzgebung nannte. Steuergesetzgebung war eigentlich Tarif-gesetzgebung, und diese bestand darin, daß alles dasjenige, was privi­legiert war, möglichst wenig besteuert wurde, und daß durch die ganze Tarifgesetzgebung der Pauperismus im eminentesten Maße gefördert wurde. Man kann sagen, wenn man irgendwo eine Schule suchen will für jene Methode, zu schimpfen, die jetzt gewisse englische Zeitungen gegen die Deutschen betreiben, wenn man irgendwo eine Schule suchen will, die durchgemacht wurde, so war es dazumal, als Lloyd George zuerst mit seinem ganz neuen Budget-Entwurf, den er machte, hervortrat.

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Dazumal machten die englischen Journalisten eine Schule durch, indem sie Lloyd George und sein unmögliches Budget beschimpften. Alles mögliche wurde ihm vorgeworfen, was nur eben jetzt auf dem Gebiete eine Steigerung hat, das ich Ihnen eben angedeutet habe. Und die heftigste Opposition fand der Mann im Parlamente selbst, wo er immer so saß, daß sich seine Lippen allmählich zu einem gewissen Sarkasmus zu ziehen verstanden, dauernd, aber immer weiter mit der Hand hinter dem Ohr und mit den etwas zusammengehenden, aber strahlenden Augen, mit absoluter Ruhe und Sicherheit. Denn dieser Mann hatte als Mensch sich in die Gegenwart hineingestellt. Es hat vor ihm auch Finanzminister gegeben, Budgetfabrikanten, die haben Bud­gets fabriziert, die diesen oder jenen Namen tragen, aber das Budget des Lloyd George war so individuell, daß man es in England einfach Lloyd-George-Budget hieß. So sehr war dieser Mann herausgewachsen aus der Gegenwart und so sehr stellte er sich repräsentativ hinein. Und nichts gab es für ihn an Schule als nur das Leben. Alles das, was man sammeln kann aus den Steuer-Erfahrungen von Amerika, von Frank­reich, von Deutschland, das hat er zusammengesammelt und versucht, es zu verwerten. Also auch selbst in seinem Studium, in seinem am Leben sich vollziehenden Studium, nicht hinter Büchern, sondern hin­ter dem, was die Sozietät in der Gegenwart selber hergibt, bleibend. Sehr interessant, wirklich, ganz merkwürdig! Aber nun denken Sie, so fühlt sich der Mann in seiner Gegenwart drinnen, daß er eines Jahres, als er den Budget-Abschluß vorzulegen hatte, ein gewisses Defi­zit hatte. Niemals hatte man früher sich zu einem Defizit anders ver­halten, als indem man die Deckung aufgenommen hat, also einen Posten für die Deckung aufgenommen hat. Lloyd George hat gesagt: Ja, es ist ein Defizit da, aber wir lassen es, wir setzen nichts dafür ein, denn durch dasjenige, was ich getan habe, werden die verschiedenen Zweige, denen das zugute gekommen ist, so prosperieren, daß wir einfach durch diese Prosperierung der verschiedenen Lebenszweige das Defizit zur rechten Zeit gedeckt haben werden. Also dieser Mann wußte auch mit dem Leben zu leben. Er glaubte auch an das Leben, weil er sich mit dem Leben verankert fühlte. Und was die Hauptsache ist: Mancher glaubt an das Leben, aber er hört auf zu glauben, wenn die Sache

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beginnt schief zu gehen. Und die Sache, die ich eben angeführt habe, die ging schief. Das Defizit wurde stehen gelassen, ein Deckungsposten nicht aufgenommen, es ging schief. Es prosperierte eben nicht so, wie er rein aus Vertrauen gesagt hatte. Aber er blieb ruhig, er war fest ver­ankert in dem Leben der Gegenwart. Und was geschah? Drei seiner größten, seiner geldschwersten Feinde starben. Sie waren seine mäch­tigsten Gegner, weil er das Steuergesetz so ausgebildet hatte, daß man ihn einen Dieb an der englischen Lordschaft nannte; das war so einer der Ausdrücke, die man ihm an den Kopf geworfen hat. Na, also drei seiner mächtigsten Feinde starben. Aber er hatte vorher schon die Erb­schaftssteuer so hoch geschraubt, daß - nennen Sie es jetzt einen Zu-fall - von der Hinterlassenschaft seiner mächtigsten Feinde so viel abgeführt werden mußte, daß das Defizit gedeckt war.

Es war merkwürdig, wie sich gewissermaßen nach und nach das Blatt wendete, wie man nach und nach anfing, den Lloyd George zu loben. Allerdings, der Mensch lebt ja wirklich durch die Art, wie sich sein Ver­hältnis zur Natur in ihm selbst und zur Umgebung gestaltet, und man kann sich nichts denken, was besser zusammenpaßt, als der siebenund­zwanzigjährig Bleibende und die siebenundzwanzigjährige Menschheit. Wenn man so zusammenstimmt, wenn man 28, 29 Jahre und so weiter geworden ist, und also sein Budget 1909 vorgelegt hat - da war er ja natürlich eigentlich schon älter; er war aber nach den Theorien, die ich aufgestellt habe, weiter 27 Jahre alt -, wenn man so zusammenstimmt mit dem, was in der Menschheit einen umgibt, und die Kraft hat, dieses Zusammenstimmen zu durchleben, dann bekommt man eben auch die Kraft, die sich ausleben kann. Und so kam es immer wieder und wieder­um vor, daß - weil ja selbstverständlich Lloyd George, der auf allen Gebieten, auf die er Einfluß hatte, Neuerungen einführte, die sich alle in der Richtung bewegten, den Pauperismus zu bekämpfen, gewisse Dinge zu bekämpfen, die wirklich soziale Schäden schlimmster Art in Eng­land waren -, daß er da angefeindet wurde. Zuweilen mußte er zehn Stunden lang Reden anhören und immer wieder und wiederum ein­greifen; die stärksten Männer des Parlaments verloren, wenn sie ein Monokel hatten, ihr Monokel aus den Augen, so schimpften sie. Lloyd George blieb ruhig, antwortete zehn Stunden lang, wenn es sein mußte,

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mit seiner dialektischen Schlagfertigkeit, mit seinem Sarkasmus überall treffend. Und so hatte er denn auf diese Weise Gesetze durchgebracht, die tief, tief einschneidend sind ins soziale Leben: ein Altersversor­gungsgesetz und ähnliche Gesetze, Gesetze, die in hygienischer Weise wirkten, die gegen die Trunksucht in nützlicher Weise wirkten. Also der Mann stellte sich als Repräsentant der Gegenwart allen Nicht-Reprä­sentativen, ich möchte sagen, allein mit seinen Schultern entgegen.

Nun müssen wir, wenn wir die Sache vollständig verstehen wollen, dazu eine andere Grundwahrheit nehmen. Wir müssen uns ja klar­werden darüber, daß wir als besonders in der Entwickelung liegend haben in der ersten, der urindischen Zeit für die Menschheit den Äther-leib, dann in der urpersischen den Empfindungsleib, in der ägyptisch­chaldäischen die Empfindungsseele, in der griechisch-lateinischen Zeit die Verstandes- oder Gemütsseele; wir haben die Bewußtseinsseele. Aber alle anderen Völker sind ja in der gegenwärtigen Zeitepoche nicht in der Lage der Engländer, die wiederum unter den Völkern der Erde gerade für die Bewußtseinsseele beschaffen sind. Wir wissen: die Empfindungsseele wird ausgebildet durch die italienisch-spanischen Völker, die Verstandes- oder Gemütsseele durch die französischen Völ­ker, die Bewußtseinsseele bei den Engländern, das Ich bei uns in Mittel­europa, und vorbereitet wird das Geistselbst bei den Russen. Also die Engländer sind gewissermaßen die Repräsentanten der materialisti­schen Gegenwart, die mit der Ausbildung der Bewußtseinsseele zusam­menhängt. Lloyd George hängt wiederum in innigster Weise zusam­men, ich möchte sagen, er ist prädestiniert nach jeder Richtung hin, repräsentativ für die Gegenwart zu sein. Siebenundzwanzigjährig, innerhalb des englischen Volkes siebenundzwanzigjährig, das will Un­geheures sagen! Daher ist dasjenige, was er sprach, allerdings wie her-ausgesprochen nicht nur aus der allgemeinen Menschheitsentwickelung der Gegenwart - wenn man sie so auffaßt, daß man sie nicht weiter führen will, sondern gerade dasjenige, was sie in der Gegenwart hat, in stierhafter Stärke aufdrängen will -, sondern auch noch von einem repräsentativen Engländer gesprochen. Also die englische Volksseele, ausgesprochen durch einen repräsentativen Menschen der Gegenwart!

So wirkte er seit dem Jahre 1890, seit seinem 27. Lebensjahr. Überall

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in dem, was sich sozial in England ausgelebt hat, sind die Spuren von Lloyd George zu finden. Daher braucht man sich nicht zu verwun­dern, wenn man gerade in den Jahren, die schon nahe an den Krieg herangingen, von ihm hörte, daß sich die Engländer nicht betäuben lassen sollen von denjenigen, die als Kriegsfurien fortwährend den Engländern vorreden, die Deutschen wollten Invasionen in England; sie sollen solche Dinge nicht glauben, sie sollten nicht von jedem Penny, der dem Staate zufließt, einen halben Penny zu Rüstungen abgeben. Das war ganz aus der Gesinnung des Engländers und des repräsen­tativen Menschen heraus gesprochen. Das ist auch ganz aus dem sieben­undzwanzigjährigen Ideal heraus gesprochen. Denn die anderen Dinge waren alle Reminiszenzen anderer Ideale, von anderen menschlichen Lebensaltern. Der Mann sprach seine unmittelbare Gegenwart aus, die unmittelbare unkriegerische Gegenwart, zu der gerade das eng­lische Volk gekommen ist. Drei Stufen, sagte er, gibt es zum Ruin, vor diesen drei Stufen muß man sich hüten. Das prägte er immer wieder und wiederum den Leuten ein. Die erste Stufe zum Ruin ist der Schutz­zoll, die zweite die Rüstungen, die dritte der Krieg! Das war Lloyd Georges Leitspruch: zum Ruin wird man geführt erstens durch den Schutzzoll, zweitens durch die Rüstungen, drittens durch den Krieg.

Nun denken Sie sich: dieser Mann, der außerdem für das richtig abstrakte siebenundzwanzigjährige Ideal des Weltenschiedsgerichtes schwärmte, dieser Mann hat sozusagen in der liberalen Zeit Englands das Gepräge gegeben für all dasjenige, was eben das liberale England durch den Liberalismus sich hat geben können gerade durch einen reprä­sentativen Menschen. Nun ja, zu alledem, was ich Ihnen jetzt ausein­andergesetzt habe in bezug auf Lloyd George, gehört das, daß er der repräsentative Mensch der Siebenundzwanzigjährigkeit ist. Daher wird er all dasjenige gerade in der richtigen Weise in sich haben, mit alledem, was ich Ihnen bisher erzählt habe, für das, was eben repräsentativ für das Engländertum ist, für das auch, was gut ist für das Engländertum, und wodurch das Engländertum der Welt nützen kann. Aber er ist nicht imstande, mit seinen Lebensjahren vorwärtszugehen. Es ist im Sinne dessen, was ich ausgeführt habe, daß er bei der Siebenundzwanzig­jährigkeit stehen bleibt. Kommt also etwas, was aus anderen menschlichen

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Lebensaltern heraus wirkt, dann ist er sofort aufgeworfen, denn da hat er keinen Zusammenhang. Wie sollte er, der dasjenige ablehnt, was das Leben nicht von selber gibt, einen Zusammenhang mit dem­jenigen haben, was von anderen Ecken der Menschheitsentwickelung heraus kommt. Und damit hängt es zusammen, was für den, der heute hinter die Kulissen der Weltgeschichte schaut, eine absolute Wahrheit ist, wenn diese Wahrheit auch so wenig erkannt wird: dasjenige, was an der Oberfläche des englischen Volkes, des Volkstums lebt, was das Engländertum als solches wollte, dafür ist Lloyd George der Reprä­sentant. Und das wollte vor allen Dingen dasjenige, was im Sinne der Worte liegt: Zum Ruin führen erstens der Schutzzoll, zweitens die Rüstungen, drittens der Krieg; das heißt, das wollte keinen Krieg. Denn, trotzdem der Krieg im wesentlichen von England nicht verhin­dert wurde, also herbeigeführt worden ist, so ist es doch dieWahrheit, daß er von Mächten herbeigeführt worden ist, die wir geradezu als okkulte Mächte ansehen müssen, die wir geradezu ansehen als diejenigen, welche die herrschenden Männer an Drähte nahmen. Ich möchte sagen, wir können die Momente nachweisen, wo diese okkulten Mächte einge­griffen haben, wo diese okkulten Mächte die herrschenden, die schein­bar herrschenden Männer an ihre Drähte genommen haben. Diejenigen, die von England aus den Krieg gemacht haben, stehen hinter denen, die als Staatsmänner mit Namen genannt werden. Und sie wirken aus Impulsen heraus, die wahrhaftig nicht siebenundzwanzigjährig sind, sondern die aus alten Traditionen der Menschheit heraus sind, die aus der gründlichsten Kenntnis der Völkerkräfte Europas heraus entsprun­gen sind, aus der Erkenntnis alles dessen, wo die verschiedenen Völker die verschiedenen Menschen, die verschiedenen Staatsleitungen stark und schwach sein können, aus genauer, intimer Erkenntnis heraus, aber aus einer Erkenntnis heraus, die durch Jahrhunderte aus ganz geheimen Kanälen geflossen ist, und auch im geheimen lebt, denn diejenigen, die sie inne hatten, die nahmen eben die anderen an die Schnüre. So ein Grey, so ein Asquith waren in Wahrheit nur Marionetten, die selber bis Anfang August 1914 geglaubt haben, daß kein Krieg für England kommen würde, daß sie alles tun wollten, damit kein Krieg kommen könne, und die sich plötzlich gezogen, gestoßen von okkulten Mächten

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sahen. Diesen Mächten gegenüber, die noch in ganz anderen Persön­lichkeiten ihren Ursprung haben als in denen, deren Namen genannt werden, diesen Mächten gegenüber, die aus ganz anderen menschlichen Lebensaltern heraus wirkten, weil sie aus alten Traditionen heraus wirkten, und diese alten Traditionen in den Dienst des englischen Egoismus nahmen, diesen Impulsen gegenüber bedeutet auch der 27 Jahre alt bleibende Lloyd George nur eine Marionette. Und das­jenige, was unter dem Einfluß dieser Mächte wirkt, das wird eine Welle sein, die auch für England über Lloyd George hinweggeht, der ein großer Mann ist, der aber eben ein Repräsentant, durchaus ein Repräsentant der Gegenwart ist. Während hinter den Impulsen, die von England aus diesem Kriege zugrunde liegen, eine genaue Kenntnis der europäischen Völker- und Staatsimpulse liegt, so daß derjenige, der wußte, was in England vorgeht, auch wußte, daß alles das, was jetzt als Schlagwort herrscht, schon geherrscht hat als Idee, die sich ver­wirklichen mußte, in den achtziger, neunziger Jahren.

Derjenige, der wußte, was diejenigen reden, welche wirklich von der Politik der Zukunft in England redeten, welche aus der okkulten Er­kenntnis des europäischen Völker-Werdens redeten, der wußte, daß diese so redeten: Das russische Reich wird in seinen Herrschaftsverhält-nissen zugrunde gehen, damit das russische Volk wird leben können. Ende der achtziger Jahre war die Formel für dasjenige da, was sich im März 1917 als russische Revolution vollzog, und die Fäden waren auch da, von denen das gelenkt und geleitet ist. Aber das wußte nur jener kleine Kreis, der durch seine geheimen Verrichtungen älter wurde, als eben auch Lloyd George wurde. Alle die Vorgänge auf dem Balkan waren in Formeln geprägt von denjenigen Menschen, die wir «die dunklen Hintermänner» nennen können. Es ist eben das Schicksal, daß solche Dinge erlebt werden müssen. Denn, als etwas ganz anderes auch von England aus eingriff, als das eigentlich englische Wesen, welches schon durch Lloyd George repräsentiert wurde, da wurde Lloyd George, der, solange er er selbst war, aus den tiefsten Impulsen heraus den Ruin der Menschheit sah in Schutzzoll, Rüstungen und Krieg, als er die Marionette wurde derjenigen, die hinten ziehen - Munitions­minister! Er behielt nur seine Tüchtigkeit. Er wurde ein tüchtiger Munitionsminister.

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Der Mann, der gegen die Rüstungen aus innerster Über­zeugung gesprochen hat, brachte es zustande, daß England so gerüstet wird, wie die anderen gerüstet sind.

Da sehen wir, das Zusammentreffen des siebenundzwanzigjährig bleibenden Repräsentanten der Gegenwart mit den dunklen Mächten, die dahinter stehen können, die selbst Überzeugungen, wenn sie noch so tief wurzeln, umkrempeln, weil dasjenige, was nur hier innerhalb des sinnlichen Lebens lebt, immer dirigiert wird von dem Geistigen, also auch dirigiert werden kann von einem Geiste, der im Sinne des Egois­mus irgendeiner Gruppe wirkt. Es gab vielleicht wenige Fälle in der Welt, in denen Überzeugungen so in ihr Gegenteil umgekrempelt wur­den, wie die Überzeugung des Lloyd George durch die jetzt hinter ihm stehenden Mächte umgekehrt worden ist. Warum? Weil diese Überzeu­gungen absolut in dem wurzeln, was für den Zeitpunkt der Gegenwart zupräpariert ist in der Siebenundzwanzigjährigkeit. Solange die Sieben­undzwanzigjährigkeit der einzelnen Menschenindividualität in der siebenundzwanzigjährigen Menschheit drinnen wirkte, harmonisierten sie vollständig, in dem Augenblick, wo das andere kam, das auf uralten Studien, auf uralter Weisheit beruhte, da wurde es gerade aus dem Grunde aus den Angeln gehoben, weil es eben nur in der Gegenwart wurzelte.

Ein interessanter Zusammenhang, ein ungeheuer interessanter Zu­sammenhang! Ein Zusammenhang, der uns, ich denke schon, einiges erklärt über die Vorgänge der Gegenwart, der uns darüber hinweg-führt, aus Sympathie und Antipathie heraus zu urteilen, sondern der es uns möglich macht, auf Grundlage von Tatsachen und vom Ent­wickelungsgang der Menschheit aus ein Urteil zu gewinnen über das­jenige, was vorgeht. Wenn man nämlich weiß, wie die Dinge, die vor­gehen, in der ganzen Menschheitsentwickelung verankert sind, dann erst versteht man den Ernst gewisser Ereignisse. Aber man versteht auch, wie notwendig es wird, in dasjenige hineinzuschauen, was hinter den Kulissen der äußeren Weltgeschichte vorgeht. Ja, bis zu dem 28. Menschheitsjahr, bis in das fünfzehnte Jahrhundert, durfte sich die Menschheit so entwickeln, daß die Menschen sich nicht einließen auf die leitenden, führenden Geistesimpulse, von denen die Geschichte abhängt.

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Heute ist es notwendig, daß die Menschen dasjenige kennen­lernen, was wirkt, dasjenige, was wahrhaftig als Impulse unter der Oberfläche wirkt. Und dies haben wir insbesondere in Mitteleuropa notwendig. Denn man muß den Feind in all seinen Kräften erst kennen-lernen, wenn man sich gegen ihn in der richtigen Weise schützen will. Erkenntnis desjenigen, was vorgeht, haben wir notwendig. Es gibt aber keine andere Möglichkeit, wirklich in die Untergründe der gegen­wärtigen Menschheitsentwickelung hineinzuschauen als durch die Ge­setze, welche Geisteswissenschaft für diese Menschheitsentwickelung uns erklärt. Bis in die einzelnen menschlichen Individuen herein ver­stehen wir unsere Zeit nur, wenn wir sie aus dem Geiste heraus ver­stehen können.

Wie kommt es, daß eine sonst so rätselvolle Persönlichkeit, wie dieser Lloyd George ist, an diesem Platze gerade steht? Diese Frage muß beantwortet werden, denn man muß wissen, mit was man es zu tun hat. Man lernt aber heute den einzelnen Menschen, auch wenn er für die Menschheit repräsentativ ist, nur durch die Geisteswissenschaft kennen. Interessant wird an diesem Lloyd George alles sein, wie schon alles interessant war. Interessant war jeder Schritt, den er seit dem Jahre 1890 unternommen hat. Interessant war die Art und Weise, wie er beim Kriegsausbruch im Hintergrunde gestanden hat, wie er an die Oberfläche gespielt worden ist, wie er jetzt zu einer Art von Achse geworden ist, um die sich so viel in der Welt dreht, sogar der andere Siebenundzwanzigjährige, der Wilson, sich dreht. Und interessant ist es, wie die Innerlichkeit dieses Lloyd George gegenüber geistigen, wenn auch fragwürdigen geistigen Kräften und Mächten versagen mußte. Und interessant wird es sein, wie Lloyd George einmal gestürzt wer­den wird, was seine Zukunft sein wird. Darauf wollen wir warten.

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ACHTER VORTRAG Berlin, 24. Juli 1917

Neben dem Inhalte desjenigen, was ich durch diese Betrachtungen anschaulich machen möchte, liegt mir auch noch daran, ersichtlich zu machen gerade durch diese Betrachtungen, daß im geisteswissenschaft­lichen Sinne Wahrheit etwas Lebendiges ist. Und es scheint insbeson­dere für die Gegenwart notwendig zu sein, sich eine Empfindung dafür anzueignen, was das eigentlich heißt: Wahrheit ist etwas Lebendiges. Denn sehen Sie, ein Lebendiges ist ein anderes zu einer Zeit und ein anderes zu einer anderen Zeit. Ja, ein Lebendiges ist zu einer gewissen Zeit vielleicht in einer bestimmten Form gar nicht vorhanden, zu einer anderen Zeit hat es eine bestimmte Form. Ein Lebendiges als Mensch, wenn es Kind ist, ist noch kein Greis. Ein Lebendiges ist in einem fort­währenden Wandel. Und derjenige Mensch, der vielleicht in den letz­ten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts seine Tätigkeit ent­falten wird, ist so, daß wir eben jetzt von ihm noch nicht als von einem Seienden für den physischen Plan sprechen können. Das alles sind triviale Selbstverständlichkeiten. Aber sie hören auf, triviale Selbstverständlichkeiten zu sein, wenn man die Empfindung von der Wahrheit als von etwas Lebendigem wirklich in sich hegen lernt

Ich habe Ihnen das letzte Mal hier von dem Wesen eines gewissen Staatsmannes der Gegenwart, von Lloyd George gesprochen. Wenn jemand dieselben Dinge, mit Ausnahme des Biographischen, mit Aus­nahme des rein Äußerlichen, Tatsächlichen, das dazumal noch nicht hätte erzählt werden können, weil es zum geringsten Teil erst gesche­hen war, in England 1890 hätte erzählen wollen -, also damals, als Lloyd George 27 Jahre alt war -, wenn er damals von der ganzen Be deutung dieser Siebenundzwanzigjährigkeit hätte sprechen wollen, wie wir hier vor acht Tagen, so wäre das im geisteswissenschaftlichen Sinne ein Unding gewesen. Man hätte es nicht können und nicht sollen.

Wahrheit ist für die Menschen zumeist etwas, wovon sie glauben, daß es zu allen Zeiten in der gleichen Weise ausgesprochen werden kann. Das ist aber nicht der Fall, sobald es sich um gewisse höhere

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Wahrheiten handelt. Die ganze Anschauung von dem Lebensalter des Menschen in Beziehung zu dem Lebensalter der Menschheit ist gewisser­maßen erst jetzt in dieser Zeit reif, gesagt zu werden. Denn Wahrheit in diesem Sinne soll zu gleicher Zeit etwas Wirksames sein. Sie brauchen ja nur die Äußerlichkeit in Betracht zu ziehen, die darin besteht, daß, wenn jemand 1890 von Lloyd George als dem Siebenundzwanzig­jährigen mit dem ganzen Lebensprogramm gesprochen hätte - wie man es in gewissen Grenzen schon hätte tun können, wenn man es eben hätte sollen -, so würde man etwas hingestellt haben ungefähr so, wie wenn man eine gewisse Pflanze in die Erde zur Winterszeit setzen wollte, während sie nur zu einer andern Jahreszeit in die Erde gesetzt werden soll. Bei solchen Wahrheiten handelt es sich nicht darum, daß sie nur in abstrakter Form an unsere Seele herankommen, sondern darum, daß sie in der Zeit an unsere Seele herankommen, in der sie wirksam sein können. Das ist etwas, was nicht nur für geschichtliche Wahrheiten gilt, für Wahrheiten, die sich auf die große Weltenent­wickelung beziehen, sondern das ist etwas, was sich auch durchaus an­wenden läßt auf die Wahrheit in ihrer Wirksamkeit zu der individuellen Menschenseele. Ich habe schon das letzte Mal einige dahingehende Andeutungen gemacht.

Ich muß dies immer wieder und wiederum erwähnen aus dem Grunde, weil wir wirklich in der Gegenwart in einem Übergangszustand des Wahrheitsbegriffes stehen. Ein gewisser Zustand in der Auffassung der Wahrheit soll überhaupt durch die Geisteswissenschaft herbeigeführt werden. Gewissermaßen das Verhältnis der Menschheit zur Wahrheit muß sich in einer gewissen Beziehung ändern, muß eine gewisse Ent­wickelung durchmachen.

Ich habe das letzte Mal darauf hingedeutet, wie die individuelle Menschenseele leicht zu der Empfindung kommen kann, insbesondere in unserer Gegenwart, sie sei unbefriedigt. Und wir wollen uns zu­nachst nur zu schaffen machen mit dem Unbefriedigtsein der Men­schenseele durch gewisse Vorstellungen. Wir wissen ja, die Menschen-seele braucht gewisse Vorstellungen über die Welt, über ihr eigenes Wesen, über solche Grundfragen wie die Unsterblichkeitsfrage, über die Frage der Weltentwickelung. Die Menschenseele braucht Vorstel­lungen,

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mit denen sie gewissermaßen leben kann. Kann sie nicht solche Vorstellungen entwickeln, kann sie darüber nur unbefriedigende Vorstellungen entwickeln, dann bleibt sie selber in einem Zustand der Unbefriedigtheit, gewissermaßen in einem kranken Zustand. Denn in einem solchen kranken Zustand sind viele Seelen der Gegenwart, mehr als sie es zugeben wollen. Und viel mehr solche Seelen wird die nächste Zukunft zählen, als man sich heute einen Begriff davon macht, wenn sich nicht die Menschen hinwenden wollen zu einer sol­chen Erfüllung des Seelischen, wie sie durch eine geistige Wissenschaft kommen kann.

Die Natur in ihrem Wirken und Wesen ist in vieler Beziehung ein Abbild der höchsten, geheimnisvollsten Vorgänge, man muß nur den Begriff des Abbildes in der richtigen Weise nehmen, muß ihn nicht zu einem materialistischen Begriff auswachsen lassen. Das kann sich uns in dem Folgenden zeigen. Die Menschen streben sehr leicht danach, eine gewisse Summe von Vorstellungen zu bekommen, von denen sie sagen können: Sie befriedigen meine Seele, sie geben meiner Seele etwas, womit sie leben kann. - Am liebsten möchten die Menschen fertige Vorstellungen. Wenn man irgend jemand raten soll, der unbefriedi­gende Vorstellungen in seiner Seele trägt, und damit eine unbefriedigte Seele in sich, so hat er oftmals die Empfindung, man solle ihm dieses oder jenes, ein Buch oder dergleichen, das in verhältnismäßig kurzer Zeit durchzumachen ist, raten, damit er dann etwas hat, was seine Seele befriedigt, mit dem er befriedigt durch das weitere Leben ziehen kann. Für denjenigen, der das Wesen der lebendigen Wahrheit in sich selber nur ein wenig erkennt, ist eine solche Zumutung gerade so, wie wenn jemand käme mit dem Verlangen, man solle ihm als lebendigem Menschen eine Speise reichen, die er essen kann und die dann seinen Organismus für den Rest der übrigen Lebenszeit unterhält. Man soll ihm etwas raten, das er essen kann, damit er fortan nicht mehr zu essen brauche. Das ist selbstverständlich ein Unding. Hier haben Sie ein Naturabbild desjenigen, was man eigentlich nur geistig geben kann. Geisteswissenschaft kann nicht dem Menschen etwas reichen, was er nur einmal so hinnehmen und wovon er dann sein ganzes Leben lang genug haben soll. Ich habe oftmals gesagt: Es gibt keine Weltanschauung

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in der Westentasche, es gibt keinen kurzen Abriß einer Weltanschauung, sondern Geisteswissenschaft setzt an die Stelle fer­tiger Begriffe, fertiger Vorstellungen etwas, was in immer neuen und neuen Verarbeitungen von der Seele durchgemacht werden muß, womit die Seele immer von neuem und neuem zusammen sem muß. Äußere Wahrheiten, wie sie uns die Naturwissenschaft gibt, wenn wir ein gutes Gedächtnis haben: die bekommen wir und wir haben sie dann. So kann es nicht bei geisteswissenschaftlichen Wahrheiten sein. Denn naturwis­senschaftliche Wahrheiten werden in Begriffen gegeben, die gewisser­maßen tot sind. Die Naturgesetze als Begriffe sind tot. Geisteswissen­schaftliche Wahrheiten müssen in lebendigen Begriffen gegeben werden. Wenn wir die geisteswissenschaftlichen Wahrheiten aber zu toten Be­griffen verurteilen, das heißt, wenn wir sie so hinnehmen wollen, wie wir die natürlichen Wahrheiten hinnehmen, dann sind sie für die Seele keine Speise, dann sind sie für die Seele Steine, die nicht verarbeitet werden können.

Es ist merkwürdig, wie nach dem, was Geisteswissenschaft eigentlich in unserer Zeit sein und werden soll, doch die geistige Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts in gewissem Sinne hingearbeitet hat. Aber die letzten Jahrzehnte haben vieles von dem, was so erarbeitet worden ist, verschüttet und vergessen gemacht. Ich möchte heute ein­leitungsweise auf eines hinweisen: Viel mißverstanden worden ist in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts dasjenige, was man zum Beispiel genannt hat den «Eduard von Hartmann'schen Pessimis­mus». Und dennoch war der Eduard von Hartmann'sche Pessimismus eigentlich nicht so gemeint, wie man ihn gewöhnlich aufgefaßt hat, denn man ist ausgegangen bei dieser Auffassung von der Begriffs-schablone: Pessimismus, das ist die Anschauung, daß die Dinge der Welt nicht restlos gut seien, daß sie unbefriedigend seien, also daß die Welt eigentlich schlecht sei. Und so beurteilte man nach diesem Begriff, den man sich vom Pessimismus gemacht hatte, dann auch die Hart­mann'sche Philosophie mit ihrem Pessimismusbegriff. Man konnte ihr von dem Gesichtspunkte aus nie gerecht werden. Es ist heute eigentlich noch schwierig, klarzumachen, um was es sich handelt, denn es wird sich gerade auf diesem Gebiete, ich möchte sagen, um etwas recht Radikales

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handeln, aber etwas Radikales, das in den Tiefen der mensch­lichen Seelen vor sich gehen muß.

Jeder Schulbub und jedes Schulmädchen lernt heute in der Physik den Begriff der Undurchdringlichkeit der Körper. Es müssen die Kin­der das so lernen, daß, wenn der Lehrer fragt: Was ist Undurchdring­lichkeit? sie dann sagen: Undurchdringlichkeit besteht darin, daß an dem Orte, wo ein Körper ist, nicht zu gleicher Zeit ein anderer sein kann. - Die physikalische Undurchdringlichkeit! Man kann sich heute gar nicht denken, daß man vielleicht über solche Dinge wird umdenken lernen müssen. Ich will in bezug auf diese Sache nur kurz anführen, um was es sich handelt. Man wird in künftigen Zeiten nicht mehr sagen:

Undurchdringlichkeit besteht darin, daß an dem Orte, wo ein Körper ist, nicht zu gleicher Zeit ein anderer sein kann, - sondern man wird sagen: Körper, welche diejenige Eigenschaft haben, daß an dem Orte, wo einer ist, nicht ein anderer zu gleicher Zeit sein kann, sind physische Körper, physische Wesen, Wesen, die also solche Eigenschaften haben, daß sie, wenn sie einen gewissen Raum einnehmen, von diesem Raum ein anderes Wesen gleicher Art ausschließen, sind physische Körper. -Das Urwesen der Definition wird sich schon ändern. Man wird in der künftigen Zeit nicht mehr von dem dogmatischen Begriff ausgehen, sondern man wird ausgehen müssen von dem unmittelbaren Leben. Heute redet man ja sehr viel davon, daß man den alten Dogmenglau­ben überwunden habe und dergleichen. Die Zukunft wird zeigen, daß mit Bezug auf die feinere Begriffsbildung keine Zeit so in Dogmatik drinnen steckte, wie unsere Zeit. Wir sind ganz vollgepfropft von Dogmatik, insbesondere unsere Wissenschaften und noch mehr unser öffentliches Denken; nichts mehr als zum Beispiel unser politisches Denken.

Fassen wir den Pessimismusbegriff so lebendig auf - und jetzt nur in bezug auf den Hartmann'schen Pessimismusbegriff -, so stellt sich etwa folgendes heraus. Eduard von Hartmann sagt: Es gibt viele Menschen, die streben nach Glück; sie streben nach unmittelbarer Be­friedigung in ihrer Seele und nennen das Glück. Das aber kann nie-maIs im höchsten Sinne ein menschenwürdiges Dasein begründen, denn es würde das bloße Streben nach Befriedigtsein des eigenen Wesens

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einen zu nichts anderem führen als zu einem Abschließen des eigenen Wesens gegenüber der Außenwelt. Es würde das zu einem mehr oder weniger groben oder feinen Egoismus führen. Es kann nicht dies die Aufgabe des Menschen sein, bloß nach der Befriedigung seines Wesens zu streben, sondern es muß die Aufgabe des Menschen sein, sein leben­diges Wesen hineinzustellen in den ganzen Weltenprozeß, sich hin­zugeben an den Weltenprozeß, mitzuarbeiten, mitzuwirken an dem Weltenprozeß. Davon würde er abgehalten, wenn er in irgendeinem Momente seines Lebens von dem äußeren Dasein oder der inneren Harmonie im vollsten Sinne befriedigt sein könnte. Nur dann streben wir, selber mit dem Bildeprozeß der Welt weiter zu arbeiten, wenn wir mit keinem Zustand zufrieden sind. Das aber ist Pessimismus in der Empfindung. Hätten wir diesen Pessimismus nicht, meint Eduard von Hartmann, mit keinem gegenwärtigen Zustand befriedigt zu sein, so würde uns der Impuls fehlen, an der Evolution mitzuarbeiten. So daß also Eduard von Hartmann in seiner Zeit sich noch recht philo­sophisch ausdrücken und sagen mußte, er vertrete den empirischen Evolutionismus, um damit den theologischen Evolutionismus zu be­gründen. Aber man sieht, hier wird gewissermaßen der Pessimismus etwas anderes, als wenn man vom dogmatischen Begriff des Pessimis­mus ausgeht und daraus schließt. Mit diesem Begriff des Pessimismus, den ich jetzt nicht weiter ausführen will, ist aber Eduard von Hart­mann doch schon in gewissem Sinne auf der Bahn, welche von der Geisteswissenschaft eingeschlagen werden muß.

Denn diese Geisteswissenschaft, die zeigt uns noch viel mehr! Diese Geisteswissenschaft zeigt uns, was eine uns völlig befriedigende Vor­stellung für unser Seelenleben eigentlich wäre. Eine uns völlig befrie­digende Vorstellung ist für unser Seelenleben genau dasselbe, wie ein äußeres Nahrungsmittel - man kann es nicht einmal Nahrungsmittel nennen - das wir aufessen würden, und bei dem wir keine Möglichkeit hätten, es zu verdauen, sondern das wir unverdaut in uns tragen wür­den. Wirklich ist es so, daß derjenige, der ein Buch von Trine oder von Johannes Müller nimmt, und damit befriedigt sein will, genau dasselbe Bestreben hat wie jemand, der ein Nahrungsmittel nehmen wollte, das er nun in seinem Körper mittragen könnte. Ja, wenn er es aber nicht

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mitträgt, so wird es verdaut, dadurch aber verschwindet es, löst es sich in seine Wesenheit auf. Das aber ist bei keiner uns voll befriedigenden Vorstellung der Fall. Eine uns voll befriedigende Vorstellung, die bleibt uns immer, wenn ich so sagen darf, in dem Magen der Seele liegen. Und je mehr wir von einer Vorstellung im Augenblick zu haben glauben, je mehr wir glauben, von einer Vorstellung gleichsam die Befriedigung so zu unserer seelischen Wollust einsaugen zu können, desto mehr werden wir sehen, daß, wenn wir nur mit dieser Vorstel­lung eine Weile leben wollen, sie uns nicht mehr befriedigen kann, son­dern daß sie sich in uns so entwickelt, daß sie uns langweilt, daß sie uns ihrer überdrüssig macht, und dergleichen.

Damit hängt zusammen das, was man gerade der Geisteswissen­schaft, wie wir sie hier vertreten, vielfach zum Vorwurf macht. Diese Geisteswissenschaft, wie wir sie hier vertreten, sucht auch bei den Vor­stellungen, die sie über die Welt entwickelt, immer neue und neue Gesichtspunkte. Wir könnten sozusagen immer reden und reden, wir würden immer neue und neue Gesichtspunkte finden. Das nennen gewisse Leute dann Widersprüche. In Wahrheit handelt es sich um Umbildungen, die auf die Lebendigkeit dieser geisteswissenschaftlichen Wahrheiten hindeuten. In dieser Weise starre Begriffe, wie man sie heute gewöhnt ist, kann diese Geisteswissenschaft gar nicht geben. Sie kann einzelne geisteswissenschaftliche Tatsachen in einer eindeu­tigen Weise hinstellen, aber dasjenige, was uns befriedigen soll als Weltanschauungsinhalt, das gibt sie in lebendigen Begriffen, die immer von neuem von uns aufgenommen werden können. Derjenige, der diese Begriffe aufnimmt, der wird finden, wenn er sie einmal durch seine Seele ziehen läßt, so sagen sie ihm dies; dann läßt er sie ein andermal durch seine Seele ziehen, dieselben Begriffe sagen ihm etwas ganz an­deres. Und wiederum sagen sie ihm etwas ganz anderes, wenn er sie im Zustand der Freude, des Glückes durch seine Seele ziehen läßt, und wenn er sie im Zustand der Traurigkeit, im Zustand des Leides durch seine Seele ziehen läßt. Aber wenn er sie richtig in ihrer Leben­digkeit erfaßt hat, so sagen sie ihm immer etwas. Weil diese geistes-wissenschaftlichen Begriffe nicht bloß ein Abbild geben sollen, sondern weil sie eine lebendige Verbindung herstellen sollen zwischen der Menschenseele

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und der ganzen unendlichen Welt, und weil die Welt unend­lich ist, so sind sie nie ganz auszuschöpfen, so sind sie unendlich. Sie sollen immer, in jedem einzelnen Falle eine Verbindung zwischen der Seele und der Welt herstellen. Aber wir müssen uns auch gewisser­maßen die freie Empfänglichkeit für alles das bewahren, was aus der Welt an uns herantreten kann, und wir müssen uns vor allen Dingen im Denken daran gewöhnen, daß wir gewisse prinzipielle, grund­legende Begriffe, die der Menschheit heute selbstverständlich erschei­nen, für die Zukunft gar nicht mehr gebrauchen können. Nehmen Sie sich unzählige Philosophien: Sie finden in diesen unzähligen Philo­sophien fast immer wieder eine Frage hervortreten, die Frage nach dem Sein. Das Sein, das einheitliche Sein, das ist etwas, was immer wieder und wiederum hervortritt. Und schon aus dieser Frage, wie man sie stellt, entspringen unzählige Unmöglichkeiten für die leben­dige Menschenseele. Ich möchte gerade durch diese Vorträge in Ihnen eine Empfindung hervorrufen, daß alles dasjenige, was wir als das Sein bezeichnen, oder was wir als das Sein den Dingen, den Wesen beilegen, in einem lebendigen Verhältnis zum Werden steht, und zwar in einem eigentümlichen Verhältnis zum Werden. In Wahrheit ist weder der alte Satz des Parmenides von dem starren Sein, noch der Satz des Heraklit von dem Werden, wahr. Es ist in der Welt Sein und Werden, aber nur: Das Werden ist lebendig, das Sein ist immer tot; und jedes Sein ist ein Leichnam des Werdens. Finden Sie irgendwo ein Sein, zum Beispiel in der sich um uns ausbreitenden Natur, so ant­wortet Ihnen die Geisteswissenschaft darauf: Dieses Sein - lesen Sie das in der «Geheimwissenschaft» - ist dadurch entstanden, daß einmal ein Werden war, und dieses Werden hat seinen Leichnam zurück­gelassen, dasjenige, was uns gegenwärtig als Sein umgibt. Das Sein ist das Tote, das Werden ist das Lebendige!

Das Merkwürdige ist nun, daß dies Bedeutsame Anwendung findet im Leben der Seele. Wenn wir durch eine bestimmt abgeschlossene Vorstellung oder Vorstellungsreihe Befriedigung in der Seele haben wollen, so wollen wir durch ein Sein Befriedigung haben. Das können wir nicht! Wir können nur durch ein Werden Befriedigung haben, wir können nur durch dasjenige Befriedigung haben, was auf unsere Seele

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so wirkt, daß, indem wir es in unsere Seele aufnehmen, es wiederum unbewußt wird, aber indem es sich mit unserer Seele vereinigt, ganz neu uns anregt, diese Fragen an das immer dauernde Werden zu stellen. Das ist gewiß etwas, was an Geisteswissenschaft viele auch wiederum unbefriedigt sein läßt, weil sie gerne etwas Fertiges haben wollen. Während Geisteswissenschaft nur eine Anleitung zum «Essen des Gei­stigen» geben kann - Sie werden mich verstehn -, möchte man fertige Nahrung haben. Das ist schon etwas, womit unsere Zeit rechnen muß, weil sie voll steckt von der entgegengesetzten Empfindung.

Wovon steckt unsere Zeit voll? Von der ganz entgegengesetzten Empfindung steckt unsere Zeit voll, von der Empfindung, man müsse nur so schnell als möglich irgendeine fertige Weltanschauung in sich aufnehmen. Vieles von dem, was, ich möchte sagen, an Krankhaftig­keit in unserer Seele lebt, wird seine Heilung nur dadurch erfahren können, daß man Interesse gewinnt für das lebendige Leben mit der Wahrheit, nicht die Gier entwickelt nach fertigen Wahrheiten. Klar umrissene Wahrheiten aber, dasjenige, was man in fertigen Begriffen ausspricht, bezieht sich immer auf ein Vergangenes. In irgendeiner Weise ist dasjenige, was in fertige Begriffe geprägt wird, immer auf ein Vergangenes bezüglich. Dasjenige Wahre, was die Vergangenheit gewissermaßen abgesetzt hat, können wir in uns aufnehmen, es lebt dann in uns; und indem es in uns lebt, leben wir mit der Wahrheit.

Nun ist aber unsere Zeit in dieser Beziehung mitten in einem Um­bildungsprozeß darinnen, und dieser Umbildungsprozeß zeigt sich uns in einem merkwürdig polarischen Gegensatz, dem Gegensatz zwischen Westen und Osten in Europa; und wir in Mitteleuropa sind mitten in diesen polarischen Gegensatz hineingestellt. Dasjenige, was der eine Pol ist, das Westliche, das ist gewissermaßen schon bis zur Hyper­trophie, bis zur Überreife gelangt; dasjenige, was der Osten bedeutet, das zeigt sich noch nicht einmal in seinem ersten Anfang, kaum em­bryonal. Seien wir uns nur klar darüber: Was uns in diesem merk­würdigen, heute uns so chaotisch anmutenden Osten ansieht, das versteht man schlecht in Mitteleuropa, und am schlechtesten in West­europa. Wie vielerlei Auseinandersetzungen findet man jetzt über das Wesen des russischen Volkes, über dasjenige, was sich im Osten Europas,

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bleiben wir dabei stehen, geltend macht. Ich habe zum Beispiel neulich gelesen, wie ein Herr sehr geistvoll, wie er selbst selbstverständ­lich glaubt, auseinandersetzt, daß das russische Volk gewissermaßen jetzt diejenigen Zustände durchmacht, die Mittel- und Westeuropa im Mittelalter durchgemacht habe. Da war im Mittelalter in den mittel­und westeuropäischen Völkern mehr Glaube, mehr wie ein gewisses mystisches Hindämmern herrschend; dasselbe ist im Osten jetzt. Also der Osten macht das Mittelalter durch. Aber bei uns ist seither die Inteliektualität, die Verstandeskultur mit ihrem naturwissenschaft­lichen Anhängsel gekommen, das müssen die Menschen im Osten nun erst nachholen.

Nichts von dem ist eine Wirklichkeit! Die Wahrheit ist vielmehr diese, daß der russische Mensch allerdings mystisch veranlagt ist, daß aber diese Mystik zu gleicher Zeit intellektuell wirkt - intellektua­listische Mystik - und der Intellekt mystisch wirkt - Mystischer In­tellektualismus, der überhaupt in Mitteleuropa gar nicht vorhanden war. Es ist etwas ganz anderes, etwas Neues, das herankommt, so wie das Kind heranwächst und etwas anderes wird als der Greis, der neben ihm steht, der vielleicht sein Großvater ist. Aber es geht nicht für den heutigen Menschen, an diesen Dingen schlafend und träumend vorbeizugehen. Und gerade wir in Mitteleuropa haben die dringende Notwendigkeit, nach Verständnis dieser Dinge zu suchen. Und wenn wir nicht versuchen, nach einem Verständnis dieses polarischen Gegen­satzes zu suchen, so kommen wir wirklich nicht über das Chaos der Gegenwart hinaus.

Es ist allerdings sehr schwierig, sich diesen Gegensatz zwischen Osten und Westen ganz klarzumachen, denn das, was im Westen ist, ist ge­wissermaßen schon über die Reife hinaus; das, was im Osten ist, ist, wie ich gesagt habe, kaum embryonal; und dennoch müssen wir uns ein Verständnis davon verschaffen. Wir haben im Westen und auch in Mitteleuropa einen ganz bestimmten, nennen wir es Aberglauben, den man im Osten nicht hat, und wo man den hat, ist er nur angelernt vom Westen. Wir haben einen ganz bestimmten Aberglauben im We­sten und in Mitteleuropa. Nun, am groteskesten ausgedrückt, möchte ich sagen, es ist der Aberglaube für das Buch, für dasjenige, was im

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Buche steht. Das ist nur etwas grotesk ausgedrückt, aber es umfaßt einen ganzen Komplex von Kulturtatsachen. Wir im Westen hängen an dem, was ins Buch gebracht werden kann, was gewissermaßen niedergeschrie­ben, fixiert werden kann, was, mit anderen Worten, als menschlich vom Menschen losgelöst und objektiviert werden kann, und das schätzen wir vor allen Dingen. Wir schätzen es nicht nur darin, daß unsere Bibliotheken sich wirklich schon zu Riesenungetümern auswachsen, und diese Bibliotheken für uns, insbesondere wenn wir wissenschaftlich ar­beiten wollen, etwas Ungeheures bedeuten, sondern wir schätzen es auch in anderer Beziehung: Wir schätzen es zum Beispiel darin, daß wir eine gewisse Summe von Begriffen haben, die die Menschen ge­dacht und die sich vom Menschen losgelöst haben. Eine Summe von Begriffen nennen wir Liberalismus, und wenn sich eine Anzahl von Menschen, eine Menschengruppe dazu bekennt, so nennen wir diese Menschengruppe eine liberale Partei. Eine solche liberale Partei ist in Wirklichkeit nichts anderes als dasjenige, was sich dann darstellt, wenn sich über eine Anzahl von Menschen wie ein Spinngewebe ausdehnt etwas wie eine liberale Theorie; das heißt etwas, was im Buche stehen kann. Und so ist es mit anderem auch. Und wir erlangen es sogar immer mehr und mehr unter dem Aberglauben dieser Theorie, daß alles festgesetzt wird in dieser Weise, damit man weiß, womit man es zu tun hat.

Wir haben im Westen aufdämmern sehen in ganz schneller Folge eine ganze Anzahl von nicht nur gewöhnlichen Theorien, wie: Liberalismus, Konservatismus und so weiter, sondern wir haben auch umfassende universelle Theorien in Büchern geschrieben gefunden: Bruttonische, Bellamysche Weltgestaltungen; eine große Summe von Utopien, und je weiter nach Westen, desto mehr. Mitteleuropa hat verhältnis-mäßig wenig, sogar, wenn man der Sache nachgeht, keine einzige Utopie hervorgebracht; die Utopien sind alle Ergebnisse der anglika­nischen und romanischen Rasse. Sie sind nur, weil die Dinge auch ver­setzt erscheinen, auch in Mitteleuropa zuweilen erschienen. Dieses Los-lösen desjenigen, was eigentlich im Menschen lebt, es zu etwas Äußerem machen, das man fixieren kann, und das Leben mit dem Fixierten, das ist dasjenige, was zum Aberglauben des Westens gehört, und was Mitteleuropa

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bis zu einem gewissen Grade von diesem Westen angenommen hat. In gewissen, namentlich so mystischen und allerlei anderen Bewe gungen, hat das sogar einen recht schlimmen Charakter angenommen, indem man großen Wert darauf gelegt hat, nur ja nicht irgendwie gegenwärtig Lebendiges zu haben, sondern irgend etwas Altes, was aus alten Büchern oder aus alten Überlieferungen geschöpft werden kann, kurz, was sonst losgelöst ist vom Menschen, obwohl es im Menschen einmal gelebt haben muß. Manche Menschen interessiert es gar nicht, wenn man diesen oder jenen Begriff über geistige Welten in unmittel­barer Gestalt an sie heranbringt. Wenn man ihnen aber erzählt: das haben die alten Rosenkreuzer gedacht, das ist rosenkreuzerische Weis­heit - oder wenn man eine gewisse Sekte, will sagen, Gesellschaft grün­den will, von «alten Tempeln, mystischen Tempeln», «mystischen orientalischen Tempeln» und so weiter und hinweist, wie alt die Dinge sind, das heißt, wann sie abgelagert sind, fixiert worden sind, dann fühlen sich manche außerordentlich befriedigt.

Dies ist, ich möchte sagen, das allgemeine, aber es hat wirklich hypertrophiert im Westen und wird sich immer mehr und mehr zum Extrem ausgestalten. Denn dieses hängt zusammen, innig zusammen mit einer gewissen Despotie des vom Menschen losgelösten Geistigen über den Menschen selbst. Zuletzt erscheint die Herrschaft des hinaus­geworfenen Geistigen über das unmittelbar Elementarisch-Menschliche. Der Mensch soll dann ausgeschaltet werden, und dasjenige, was er hin­ausgeworfen hat, das soll in irgendeiner Form herrschend werden. Aber dasjenige, was in die Welt hinausgeworfen wird, das strebt nach Materialisierung, nicht nur nach Auffassung im materialistischen Sinn, sondern nach Materialisierung. Und in dieser Beziehung ist die west­liche Welt ja schon sehr, sehr weit gegangen. Man sucht in solchen Dingen nur gewöhnlich die inneren Gesetze nicht, aber diese inneren Gesetze sind vorhanden und es wird sich in der nächsten Zukunft der Menschen sehr rächen, daß sie nicht die inneren Gesetze suchen.

Da gibt es einen Menschen in der Gegenwart, der, nachdem er früher einen bürgerlichen Namen getragen hat, jetzt den Namen Lord North­cliffe trägt; der große Zeitungsmagnat Englands und jetzt nach und nach auch Amerikas. Der Mann fing vor einiger Zeit an, sich die Idee

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vorzulegen: Wie kann man das soziale Leben, das Zusammenleben der Menschen unabhängig machen von dem Menschen selbst? Wie kann man gewissermaßen die Herrschaft des vom Menschen Losgelösten über die Menschen begründen? - Er hat angefangen gewissermaßen zuerst mit Theorien, indem er sagte: Jede Provinz hat ihre Zeitung; da schreiben immer einzelne Menschen in diese Zeitungen hinein, da­durch ist die Zeitung einer jeden Provinz anders als die einer anderen Provinz. Wie großartig wäre es doch, wenn man es nach und nach dahin brächte, daß man eine einheitliche Schablone ausgösse über die verschiedenen Provinzpressen, so daß man in einer Zentrale sammelt alle guten chemischen Artikel, die von berühmten Chemikern geschrie­ben sind, alle guten physikalischen Artikel, die von guten Physikern geschrieben sind, alle guten biologischen Artikel, die von berühmten Biologen geschrieben sind und so weiter. Und die werden dann ver­teilt an die einzelnen Zeitungen und die bringen dann alle das gleiche. Und auch wenn sie verschieden sein sollen, so ordnet man schon von der Zentrale die Verschiedenheit an. Natürlich kann man nicht überall, schon weil die Sprache verschieden wäre, dasselbe anbringen, aber man kann alles zentralisieren.

Und siehe da: jener Mann hat einen weiten Weg nach dieser Rich­tung gemacht, und heute ist er gewissermaßen der unsichtbare Herr­scher eines großen Teiles der britischen, der französischen, der ameri­kanischen Presse überhaupt, indem nichts in einer gewissen Presse Englands, Frankreichs, Amerikas erscheint, was nicht aus dieser Zentrale stammt. Und sehr schwer hat es die andere Presse, die noch von ihm unabhängig ist, neben dem, was durch seine Kanäle fließt, zu bestehen. Aber sein Ideal ist, alles wegzuräumen, was nicht aus einer einzigen solchen Quelle fließt. Denken Sie, welche Möglichkeit, bei dem Glau­ben, der heute herrscht an dasjenige, was zwar sich vom Menschen abgesondert hat, was aber dann an die Menschen auf diese Weise her­antritt ! Denken Sie, welche Möglichkeiten eine ungeheure Tyrannis von dieser Seite her über den einzelnen individuellen Menschen aus­zuüben!

Den individuellen Menschen in seiner vollen Gültigkeit wieder ein­zusetzen, den individuellen Menschen wieder ganz auf sich selbst zu

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stellen, das ist in der Tat die Anlage der Menschen des Ostens; das Buch zu überwinden, das Fixierte zu überwinden und den Menschen an die Stelle zu setzen. Der Idealzustand, nach dem der Osten strebt, ist der, daß man weniger lesen, weniger das Fixierte auf sich wirken lassen wird, dafür aber alles dasjenige, was mit dem unmittelbaren individuellen Menschen zusammenhängt. Der einzelne Mensch wird wieder den anderen anhören; der einzelne Mensch wird wissen, daß es ein Unterschied ist, ob das Wort vom Menschen selbst kommt, oder ob es sich abgesondert hat und den Umweg durch die Druckerschwärze und dergleichen gemacht hat. Gewiß, auf manchem Gebiet sind in dieser Beziehung erst Anfänge gemacht, aber sehr, sehr bedeutsame, schreckliche Anfänge, ich meine: im Westen sind in diesen Dingen mit der Absonderung Anfänge gemacht, aber schreckliche Anfänge.

Daß es das Absondern vom Menschen gibt, das hat uns auf vielen Ge­bieten, insbesondere der Kunst, zu Reproduktionsverfahren gebracht, die nun wirklich geeignet sind, den Sinn für Künstlertum auszutreiben. Vielfach hat man dadurch die Möglichkeit verloren, im Kunstwerk das Individuelle noch zu sehen, insbesondere im Kunstwerk des alltäg­lichen Gebrauches, und schwer versteht man das Sich-Stemmen gegen den Unfug der Zeit. Vielleicht werden Sie gesehen haben, daß einzelne unserer Damen wiederum Ringe tragen oder anderes Ähnliches, aber jede ein anderes, weil ein Wert darauf gelegt wird, daß etwas Indivi­duelles drinnen ist, etwas, was eine unmittelbar individuelle oder ideelle Beziehung darstellt zwischen dem einzelnen Objekt und dem, der es gemacht hat. Man hat nicht mehr viel Verständnis für solche Dinge in der Zeit, wo alles in Vervielfältigung hergestellt wird, das heißt, objektiviert, losgelöst wird vom Menschen. In unseren Dingen sind eben sehr häufig Intentionen, die wirklich mit der Zeitentwickelung zu­sammenhängen und die man vielleicht nur für Liebhabereien hält, die aber aus solchen Zusammenhängen heraus gewollt sind. Aber dasjenige, was sich im Osten vorbereitet, das Bauen auf das Individuelle, das Erhöhen des unmittelbaren Wertes des Menschen, das ist eben erst in dem embryonalsten Anfange. Was bereitet sich denn da vor? ImWesten hat sich herausgebildet nun, sagen wir: der Marxismus. Was ist der Marxismus? - Ich könnte ebensogut etwas anderes nennen - was ist der

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Marxismus? Eine Theorie, die eine solche Gestaltung der Wirklichkeit in Begriffe darstellt, daß unter dieser Gestaltung der Wirklichkeit alle Menschen richtig zusammenleben können in sozialer Beziehung.

Im Osten bereitet sich eine geistige Art vor, die überhaupt so etwas als einen völligen Unsinn ansieht, daß man überhaupt etwas ausspin­nen kann, was eine allgemein gültige Theorie über menschliches Zu-sammenleben ist; das wird der Weltanschauung, die sich im Osten her­ausbildet, als ein völliger Unsinn erscheinen. Denn man wird sagen:

Man kann doch nicht die Art fixieren, wie die Menschen zusammen­leben sollen; das muß doch jeder einzelne selbst sagen, das muß jeder einzelne Mensch zeigen, das muß im menschlichen Zusammenleben selber sich entwickeln. Ein gewisser, wenn ich nun wiederum ein Wort brauchen darf, das einen Schablonenbegriff darstellt - ich tue es un­gern, aber man muß ja gewisse Begriffe anwenden -, ein gewisser Indi­vidualismus, aber ein wirklich schöpferischer Individualismus bereitet sich im Osten vor.

Diese Dinge muß man fassen können, muß man verstehen können, denn diese Dinge stellen die Kräfte dar, unter denen sich gegenwärtig die Welt gestaltet. Wir stehen mitten darinnen in dieser Weltgestaltung. Man kann nicht zu einer fruchtbaren Idee vonWeltgestaltung kommen, wenn man diese Dinge nicht berücksichtigt. Man durchschaut dann nicht, wie einem andere zuvorkommen. Denn jener Lord Northcliffe hat nicht nur britische, amerikanische und französische Zeitungen ge­kauft, sondern er hat zum Beispiel auch russische Zeitungen gekauft. Die «Nowoje Wremja» ist völlig in seinem Besitz, und damit spannt er seine Netze nach dem Osten hinüber, spannt, wohl unter der Anlei­tung solcher Menschen, die in gewissem Sinne die Dinge schon kennen, dasjenige, was Zukunft ist, in das Netz seines Vergangenen hinein. Und das steckt als etwas viel Tieferes, als man heute ahnt, in dem Ost-westlichen Bündnis, in das wir hineingekeilt sind. An diesen Dingen ist gründlich und viel - auch noch auf anderen Gebieten - gearbeitet worden, mehr als sich die Menschen heute vorstellen, und viel syste­matischer als man sich oftmals heute denkt. Denn es ist eine furcht­bare Idee, dem absterbenden Westen das Keimhafte des Ostens ein­zuimpfen. Aber wer beurteilt denn heute in der richtigen Weise -

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bemerken tun es manche-, daß plötzlich um die Wende des neunzehnten, zwanzigsten Jahrhunderts in der englischen Presse eine ganze Reihe von Pseudonymen auftaucht: Ignotus, Argus, Spektator und so weiter; wer beurteilt es von einem gewissen höheren Gesichtspunkte aus, daß auf der einen Seite die «Nowoje Wremja» gekauft wird, aber der Ver­treter der «Nowoje Wremja» unter einem solchen Namen in London schreibt, so daß ein völliger Austausch desjenigen stattfindet, was im Westen an Hypertrophie herrscht, und dem Embryonalen, Keimhaften des Ostens. Das steckt hinter den Kulissen unseres gegenwärtigen Le­bens, und das hängt zusammen mit den Gesetzen des Menschheitswer­dens; das hängt zusammen mit den Gesetzen der Erdenentwickelung.

Wer glaubt, daß ich phantasiere, indem ich geradezu die Behauptung aufstelle: Im Beginne des zwanzigsten Jahrhunderts wurde der euro­päisch-östliche Geist mit dem europäisch-westlichen Geist zusammen-gekoppelt, und es wurde systematisch an dem Aufkommen einer öffent­lichen Meinung gearbeitet - zunächst in den Redaktionen, von da aus in den Parlamenten, von da aus in unterirdischen Kanälen, aber zu­nächst auf ganz anderen Gebieten -, wer glaubt, daß ich phantasiere, der lese jene Briefe, die veröffentlicht worden sind von Frau Novikoff, der Gattin des russischen Gesandten in Wien, im Anfang des zwanzig­sten Jahrhunderts, die die Frau Novikoff geschrieben hat an Mrs. Camp­bell-Bannerman, mit der sie in England bekannt geworden ist, und versuche sich dasjenige so recht vor die Seele zu führen, was er aus diesen Briefen lernen kann. Man wird sehen, daß ich nicht phantasiere, aber man wird dann für vieles die Erklärung finden, das heute wie unerklärlich, insbesondere vor den Seelen Mitteleuropas steht.

Wir brauchen andere Begriffe als diejenigen, die uns von altersher übertragen sind, wenn wir die bedeutsamen Umschwünge in unserer Zeit wirklich fassen wollen. Und was das Wichtigste ist: wir sind dazu veranlagt, uns zu erziehen, uns solche Begriffe zu bilden. Die Tatsachen, die heute geschehen, sollen wir doch nicht verschlafen. Hunderte und hunderte solcher Tatsachen könnten wir anführen, wie zum Beispiel diese: Im Sommer 1911 war eine große Versammlung in Oxford. An­wesend waren in ihren Amtskleidern in prunkvollem Aufzuge alle die Würdenträger und Professoren der Universität Oxford. Denn Haldane,

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der Lord Haldane hielt eine Rede. Und was war der Inhalt dieser Rede? Also der Kriegsminister des Ministeriums in England hielt eine Rede, und der Inhalt dieser Rede war ein streng wissenschaftlicher und er befaßte sich damit, daß er auseinandersetzte, welche ungeheue­ren Fortschritte die Entwickelung der Menschheit durch das Wesen des deutschen Geistes gemacht hatte; indem Lord Haldane den Leuten aus­einandersetzte, daß da in erster Linie ein Beispiel ist, woran man sehen kann, daß die menschliche Kultur nicht durch brutale Gewalt, sondern durch die sittlichen Kräfte, die in der Kultur wirken, weitergetragen wird. Die ganze Rede war ein Panegyrikus auf die Zuverlässigkeit und das innere Gediegene des deutschen Geisteslebens. Als der Krieg ausgebrochen war, gehörte Lord Haldane zu denjenigen, welche völlig einstimmten in die Anschauungen, daß das deutsche Wesen sich eigent­lich durch seinen Militarismus auslebe, und daß der deutsche Militaris­mus die Hölle für die Welt ist. Er betonte das stark. Derselbe Lord Haldane, welcher als junger Mann in Göttingen erschienen ist, ver­ehrend zu Füßen des Philosophen Lotze gesessen hat, der die schönen Bücher über «Erziehung und Staat», und das schöne Buch «Ein Pfad zur Wirklichkeit» geschrieben hat; derselbe Lord Haldane, der das schöne Wort gesprochen hat über den Unterschied zwischen Hegel und Goethe: daß Goethe höher stünde, weil Hegel sage, so ungefähr, daß die Natur die höchsten Geheimnisse aussprechen würde, wenn man sie nur hören könnte, während Goethe das höhere Wort als Grundlage seiner ganzen Weltanschauung hat, daß, wenn die Natur wirklich alles, was der Mensch braucht, auszusagen hätte, so würde sie reden können. Es ist dies ein tiefes Wort, ein ungeheuer tiefes Wort, denn damit ist nichts Geringeres gesagt als: Goethe bekennt sich zum wirklichen Spiri­tualismus. Würde die Natur alles enthalten, was in der Welt ist, so würde sie es uns sagen; sagt sie es uns nicht, so ist es ein Beweis dafür, daß es noch anderes, nämlich Geistiges außer dem Naturdasein gibt. Das alles hat Haldane aus seinem Zusammenhang mit dem deutschen Geistesleben gesprochen. Dennoch - wir können hundert und hunderte von Beispielen angeben - sehen wir ihn plötzlich umschlagen.

Diese Erscheinungen sind keine solchen, über die man hinweg kom­men wird mit der trivialen Auskunft: Wenn wir mal Frieden machen,

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wird das wieder gut sein, da gleicht sich das alles aus! - So glauben sehr viele Menschen. Es wird nicht so sein! Wir brauchen etwas wesent­lich anderes. Wir brauchen es uns aber nicht zu erwerben, denn wir haben es im Grunde; wir können es doch, wenn wir nur wollen. Denn wir haben in Mitteleuropa dasjenige Wesen in uns, das es uns möglich macht, wirklich nach Westen und nach Osten hin zu verstehen, wenn wir wollen. Wir können verstehen, wenn wir wollen. Aber, wir müssen uns etwas Gewisses abgewöhnen, und das Abgewöhnen, das gibt uns das wirkliche Verstehen der Geisteswissenschaft. Aber man muß dann mit seinem Gemüte, mit seiner ganzen Seele, nicht mit dem theoreti­schen Geiste in der Geisteswissenschaft stecken.

Verzeihen Sie, wenn ich da etwas Persönliches spreche, aber das liegt uns ja allen jetzt nahe, weil wir uns gegenseitig gut kennen, ich habe über Nietzsche geschrieben, und man sieht aus dem Buche, daß ich Nietzsche sehr verehre, daß ich ihn voll würdige. Nun, ich habe erst neulich an verschiedenen Orten davon gesprochen, wie sehr ich den Schwaben-Ästhetiker, den V-Vischer schätze und verehre, und wie er zu den Ersten gehörte, an die ich mich gewendet habe, als ich vor mehr als dreißig Jahren die ersten Keime legte zu dem, was ich jetzt Geistes­wissenschaft nenne, wie er dazumal der Erste war, der mir entgegen­kam, indem er mir sagte: Ihre Auffassung des Zeitbegriffs ist wirklich etwas, was fruchtbar ist für die Begründung der Geisteswissenschaft. -Also, ich verehre Nietzsche, ich versuchte ihn darzustellen in meinem Buche «Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit»; ich ver­ehre den V-Vischer. Aber, nehmen wir jetzt die beiden. Eine inter­essante Stelle, die wir bei Nietzsche finden über den V-Vischer. Sie wissen, Nietzsche hat ja das dann vielfach gebrauchte Wort «Bildungs-philister» geprägt, indem er es auf David Friedrich Strauß angewen­det hat, den Verfasser des «Leben Jesu» und «Der alte und der neue Glaube». V-Vischer war ein starker Verehrer von David Friedrich Strauß. Das ist das, was ich nur dazu sage, damit der Sinn hingelenkt wird. Aber über den V-Vischer machte Nietzsche die folgende schöne

Bemerkung:

«. . . Jüngst machte ein Idioten-Urteil in historicis, ein Satz des zum Glück verblichenen ästhetischen Schwaben Vischer, die Runde durch

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die deutschen Zeitungen als eine , zu der jeder Deutsche Ja sagen müsse: - Bei solchen Sätzen geht es mit meiner Ge­duld zu Ende, und ich spüre Lust, ich fühle es selbst als Pflicht, den Deutschen einmal zu sagen, was sie alles schon auf dem Gewissen haben. Alle großen Kulturverbrechen von vier Jahrhunderten haben sie auf dem Gewissen! . . . »

Man kann es also erleben, daß man den einen verehrt, den andern verehrt, daß man in gleicher Verehrung zu der beiden Vorstellungs­system steht, daß aber der eine den anderen einen Idioten nennt. Das ändert aber mein Urteil über keinen von beiden, weil, wenn ich das­jenige anerkenne, was der eine spricht und der andere spricht, ich mich nicht veranlaßt fühle, auf den einen oder anderen zu schwören, mich nicht veranlaßt fühle, dasselbe Urteil, das der eine über den anderen hat, auch zu dem meinigen zu machen, sondern es als seines zu ver­stehen. So, wie ich ganz gut weiß, daß ich, wenn ich hier diese Bücher-lage ansehe, sie mir anders erscheint, als sie dem Herrn erscheint, der sie von dort ansieht.

Wir sind dazu veranlagt; wir sehen nur, daß bis jetzt vielfach Gei­ster, die diese Veranlagung in sich recht zum Ausdruck gebracht haben, gewissermaßen seelisch gescheitert sind an dieser Anlage. Aber diese Anlage muß mit voller geistiger Gesundheit von uns aufgenommen und entwickelt werden.

Interessant ist, weil ja Hölderlin in einer gewissen Weise mit seinem «Hyperion in Griechenland» sich identifiziert hat, was da Hölderlin seinen Hyperion über die Deutschen sagen läßt. Und derjenige, der Hölderlin kennt, der weiß, daß das nicht nur Hyperions, sondern daß es, nur ganz stark, Hölderlins Ansicht ist. Er charakterisiert die Deut­schen folgendermaßen:

«Barbaren von alters her, durch Fleiß und Wissenschaft und selbst durch Religion barbarischer geworden, tiefunfähig jedes göttlichen Ge­fühls, verdorben bis ins Mark zum Glück der heiligen Grazien, in jedem Grad der Übertreibung und der Ärmlichkeit beleidigend für jede gutge artete Seele, dumpf und harmonielos, wie die Scherben eines weggeworfenen

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Gefäßes - das, mein Bellarmin, waren meine Tröster. - Es ist ein hartes Wort, und dennoch sag ich's, weil es Wahrheit ist ich kann kein Volk mir denken, das zerrissener ware, wie die Deutschen. Hand­werker, siehst du, aber keine Menschen; Denker, aber keine Menschen; Priester, aber keine Menschen; Herren und Knechte, junge und gesetzte Leute, aber keine Menschen und so weiter.»

Es könnten ja die Entente-Schriftsteller solche Dinge abschreiben, nicht wahr. Aber um etwas anderes handelt es sich: Derselbe Hölderlin, dessen Überzeugung dieses durchaus war, derselbe Hölderlin nannte Deutschland «das Herz Europas». Das heißt: es war ihm möglich, das eine Urteil und das andere Urteil zu haben. Und wir müssen diese Mög­lichkeit immer wieder und wiederum als mit unserer innersten Anlage zusammenhängend erkennen. Jenes abstrakte Haften an Widersprü­chen müssen wir als das Haften an Einseitigkeit erkennen. Denn das­jenige, was sich im Osten entwickeln will, das wird überhaupt derlei Dinge, unter denen Westeuropa groß geworden ist, gar nicht mehr verstehen können. Daß man nicht ein Urteil und das entgegengesetzte auch haben kann, das wird man im Osten zukünftig nicht mehr ver­stehen können, weil sich im Osten die Vielseitigkeit herausentwickeln wird und man begreifen wird, daß man ein jegliches Ding nur dadurch erkennt, daß man ringsherum geht und es in vielen Gestaltungen zu schildern vermag.

Das hängt aber mit dem zusammen, womit ich heute begonnen habe:

mit dem notwendigen Verständnis, daß wir ein neues Verhältnis zur Wahrheit gewinnen müssen. Wir werden es nicht anders gewinnen, als wenn wir verstehen werden, daß das Leben in den Vorstellungen, in den Begriffen schon ein Leben im Geiste ist. Dieses nichtnaturwissen-schaftliche - denn naturwissenschaftlich ist es nicht -, aber dieses mate­rialistische oder monistische Vorurteil müssen wir uns abgewöhnen, welches da besagt: wenn ich denke, brauche ich mein Gehirn, also geht aus meinem Gehirn das Denken hervor! - es ist das gerade so gescheit, als wenn jemand sagt: Hier ist eine Straße, da sind Fußspuren, - wo­her können diese Fußspuren nur kommen? Nun ja, da müssen selbst-verständlich unten in der Erde Kräfte sein, welche diese Fußspuren gemacht haben. Jetzt studiere ich die Fußspuren und mache eine Theorie

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darüber, welche Kräfte da unten sind, welche herunter- und herauf-stoßen, so daß die Erde, wenn sie weich ist, sich so bewegt, damit diese Fußspuren herauskommen. - Diese Leute wären geradeso gescheit wie derjenige, welcher in der Struktur und in den Bewegungen des Gehirns die Kräfte sucht, die das Denken bilden. Gerade so wie die Fußspuren etwas sind, was in der Erde gefunden wird, aber herrührt von dem Menschen, der darüber gegangen ist, so ist dasjenige, was Struktur des Gehirns ist, selbstverständlich so da, wie es die Biologie und Physio­logie schildert, aber das Denken hat das eingegraben, und das Denken ist schon ein Geistiges.

Ja, aber das Gehirn muß doch da sein? - Selbstverständlich, der Erdboden muß auch da sein, wenn ich darüber gehen will! Das Gehirn muß als eine Widerlage da sein, solange ich zwischen Geburt und Tod lebe; es muß sich dasjenige, was in mir lebt, geistig lebt, nach den Bedingungen des Daseins zwischen Geburt und Tod an etwas zurück-spiegeln. Dieser Spiegelungsapparat ist das Gehirn, nur daß die Spie­gelung eine lebendige ist, so wie wenn in einem Spiegel nicht bloß eine glatte Fläche das Licht spiegelt, sondern wie wenn sich alles eingraben würde, und man an der Struktur noch sehen könnte, was sich gespie gelt hat; so spiegelt es sich vom Gehirn aus. Man wird begreifen müs­sen, daß das Denken als solches schon etwas Spirituelles ist, daß wir bereits in der geistigen Welt drinnen stehen, wenn wir denken. Das volle Bewußtsein davon wird aber erst kommen, wenn das Denken sich befreit, wenn das Denken gewissermaßen in sich selbst sich wird erfangen können, so daß es so wird verlaufen können, wie ich das das vorige und vorvorige Mal geschildert habe, wo der Mensch sich feinere Zusammenhänge sucht, wo er versucht, dasjenige, was nicht nur an der Oberfläche, sondern unter der Oberfläche in feineren Zusammenhängen vorhanden ist, in sein feineres Denken hineinzunehmen.

Denn mit dem so von der Materie sich befreienden Denken wird man erst gewahr werden, was eigentlich das Denken als Geistiges ist. Dann wird man aber erst zu einem solchen Denken kommen, welches auch in der Welt schöpferisch sein kann. Denn sehen Sie, die Natur kann man allenfalls mit einem Denken erfassen, welches das aufnimmt, was die Naturerscheinungen selber sagen; wenn man aber Ideen finden

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soll, die sich in das soziale Leben einleben, die gewissermaßen die Menschheit regieren sollen, dann müssen diese Ideen wirklich im freien Denken selber entstehen. Daher ist unsere Zeit politisch so unendlich unfruchtbar, so steril, weil unserer Zeit das freie, das von der Materie losgetrennte Denken fehlt, das allein fähig ist, dem sozialen Leben etwas zu sein. Es fehlt uns eben zu stark die Möglichkeit, uns zu er­heben von der Abhängigkeit dessen, was uns von außen erscheint, und uns zu erheben zu dem lebendigen Eigenweben des Denkens. Und das ist im Grunde genommen das nächste, wenn wir es so nennen wollen, mystische Bedürfnis, nicht das dunkle mystische Zeugs, was heute so vielfach immer wieder und wiederum getrieben wird, das Sich-selbst-Erleben im göttlichen inneren Sein und dergleichen, wie die Dinge so schön klingen; denn den Gott in seinem Innern erlebt jedes Wesen. Wenn man nur sagt: Mystik, Theosophie, das ist inneres Erleben seines Zusammenhanges mit der Einheit der Welt, mit dem Gotte in sich: der Maikäfer erlebt ihn auch, aber in seiner Art. Es handelt sich darum, daß wir zunächst beginnen müssen mit dem Erleben eben dieses leben­digen Webens des Denkens, das sich in konkreten Begriffen auslebt. Dann werden diese Begriffe auch konkret werden, werden sich einleben können in die soziale Struktur des Daseins.

Es ist sehr wichtig, sagte ich im Beginne der heutigen Betrachtung, daß wir nicht nur das Verhältnis des Menschen zu einer neuen Wahrheit als geisteswissenschaftlich ansehen, sondern daß wir zu der Empfin­dung durchdringen, daß dieses Verhältnis des Menschen zur Wahrheit selbst ein anderes werden muß, nämlich ein lebendiges, ein leben­diges Verbundensein mit der Wirklichkeit. Das ist für die Auffassung der großen Welterscheinungen, für die Auffassung des geschichtlichen Werdens, für die Auffassung der sozialen Gegenwart und Zukunft und auch für das Leben der einzelnen Menschenseele von ungeheurem Wert. Man wird nur beginnen müssen, die großen Linien und Strö­mungen fortzusetzen, welche begonnen haben, aber eben nicht fortge­setzt worden sind. Es hat seine guten Gründe - und wir werden auch von diesen noch sprechen -, daß in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vieles vergessen worden ist, verschüttet worden ist. Wenn ich eine Neuauflage meines Buches «Vom Menschenrätsel» werde erscheinen

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lassen, so werde ich wiederum auf so manche Erscheinung hin­zuzeigen haben, die noch zu diesen vergessenen Klängen des Geistes­lebens gehört. Man entdeckt da ganz außerordentlich vieles, wovon man sagen kann, daß unsere Geisteswissenschaft unmittelbar an das­jenige anknüpft, das schon da war in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und ganz vergessen worden ist. Hätte es fortbestanden -was natürlich nur eine Hypothese ist, denn die Dinge hätten sich nicht anders entwickeln können, als sie sich entwickelt haben -, aber hätte es fortbestanden, dann würde der Mensch heute ganz anders den merk­würdigen, den schmerzvollen Ereignissen gegenüberstehen, denen er gegenübersteht, nicht so hilflos. Denn hilflos steht er ihnen in gewisser Beziehung eigentlich doch gegenüber.

Es ist merkwürdig - ich habe es wiederholt gesagt -, wie man vom Westen aus, namentlich von britischer Seite aus, mit den in Europa vorhandenen Kräften, aber in britisch-egoistischer Weise gerechnet hat, und wie dadurch sich die Gewitterwolken zusammengezogen haben, in deren Wirkungen wir jetzt leben. Ich habe auch hier in verflossenen Zeiten schon manches von den Ereignissen dargelegt, die unsere so traurige Gegenwart heraufgebracht haben. Aber aus mancherlei von dem, was ich auch wieder in der letzten Zeit gesagt habe, werden Sie ersehen, daß es wirklich nicht genügt, bloß diejenigen Ereignisse und Ereigniszusammenhänge anzusehen, die heute so vielfach geschildert werden, sondern tiefer zu schürfen, wirklich einzugehen auf manches so ungeheuer Bedeutsame, das sich zugetragen hat unter der Oberfläche des äußeren Geschehens, und das sich jetzt entlädt in den schwerwie­genden, so furchtbar über die Menschen hinflutenden Gegenwarts­geschehnissen. Manche Dinge sind so, daß sie heute wirklich noch nicht beim rechten Namen genannt werden können, weil sie die Menschen noch nicht würden hinnehmen wollen, aber es muß, wenn Licht in die Menschheitsentwickelung hineinkommen soll, möglich werden, auch an solche tieferen Geheimnisse, die mit dem Werden der Gegenwart zu­sammenhängen, heranzukommen, daran zu rühren. Das wird aber nur möglich sein, wenn man es aufrichtig und immer aufrichtiger meinen wird mit demjenigen, was hier eigentlich als Geisteswissenschaft gemeint ist.

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Dann wird man allerdings diese Geisteswissenschaft nicht mehr ver­wechseln dürfen mit all dem törichten Zeug, das heute vielfach als mystische Strömungen, als mystische Gründungen und dergleichen sich geltend macht. Und ich muß schon immer wieder und wiederum be­tonen: Die Ereignisse gestalten sich so, daß ich in der Zukunft immer gründlicher und gründlicher das Tischtuch werde zerschneiden müssen zwischen dem, was in dieser Geisteswissenschaft, in dieser anthroposo­phisch orientierten Geisteswissenschaft gewollt und getan wird und zwischen all dem, was sich so gerne verwandt fühlen möchte mit diesem. Das, was in dieser Geisteswissenschaft gemeint ist, das will durchaus an die besten Impulse, die im Abendland gegeben worden sind, anknüp­fen, aber es will eine Weiterentwickelung sein!

Ich bitte Sie, um das zum Schlusse zu sagen, nehmen Sie das Mor­genland. Gewiß, es hat in einer ungeheuer hohen Ausbildung in alten Zeiten die Anschauung von den wiederholten Erdenleben gehabt. Es wurde diese Anschauung von den wiederholten Erdenleben, aus einer gewissen Entwickelung des menschlichen Innern herausgeholt, gewiß. Und es kann keine tiefere Auseinandersetzung über den Zusammen­hang der einzelnen Menschenseele mit dem Weltenall, von einem ge wissen Gesichtspunkte aus, geben, als zum Beispiel die Bhagavad Gita. Aber wir haben eben andere Aufgaben. Und nehmen Sie die Aufgabe, die inauguriert worden ist durch Lessing in seiner «Erziehung des Men­schengeschlechts», in welcher im Abendlande wiederum die Idee von den wiederholten Erdenleben auftritt. Wie springt sie da aus Lessings Denken hervor! Gewiß, auch er erinnert daran, daß es eine Lehre ge­wesen ist, die primitive Völkerschaften gehabt haben, aber er betrachtet die aufeinanderfolgenden Epochen der Menschheitsentwickelung, er betrachtet, wie sich eine spätere Epoche der Menschheitsentwickelung aus der früheren heraus entwickelt hat, und er versucht zu erkennen, wie das immer abgerissen würde, wenn nicht die Menschenseele selber es wäre, die von der Epoche A in die Epoche B, in die Epoche C das­jenige hinübertragen würde, was sie sich an Kräften errungen hat. Den­ken Sie, wenn wir als Menschenseele im grauesten Altertum der Erde gelebt haben und dann immer wieder und wiederum, dann sind wir es selber, die hinübertragen aus früheren Zeiten in die gegenwärtigen

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Zeiten dasjenige, was als Fäden, die durch die ganze geschichtliche Ent­wickelung getragen werden können, sich spinnt. Dann sind es die Men­schen selber, die diese Epoche schaffen. Aus dieser historischen An­schauung, daß die Geschichte einen Sinn gewinnt, wenn die Menschen immer wiederkommen - denn es sind die Menschen, welche die Im­pulse aus der einen Epoche in die andere hinübertragen -, aus dieser großen historischen Betrachtung, nicht aus der einzelnen Menschen­seele, wie im Orient, sondern aus geschichtlichem Überblick über die Menschheitsentwickelung springt bei Lessing der Gedanke über die wiederholten Erdenleben heraus.

Ein historisches Denken, Historie, Geschichte im höchsten Sinne, das ist die Aufgabe des Abendlandes. Dann müssen wir sie aber in jedem Augenblicke verstehen können. Geschichte - und Geschichte tritt uns ja auch entgegen, wenn die einzelnen Tatsachen uns zum Beispiel in dem Verstehen der verschiedensten Lebensalter vor Augen treten -, Geschichte ist es doch, wenn hier das Kind steht, hier der Mann, der Greis. Das, was geschichtlich ist, kann auch nebeneinander dastehen, aber begriffen kann es doch nur werden im Sinne der Geschichte, in­dem man weiß, wie der Greis Kind war, und wie der Greis Mann war, und wie das, was nacheinander lebt, auch nebeneinander steht. Ost-, West- und Mitteleuropa sind zwar nebeneinander, verstanden werden können sie aber nur dann, wenn wir sie im geschichtlichen Sinne auch als ein Nacheinander fassen können, aber dann im richtigen Sinne.

Das sind Aufgaben, die an jeden von uns gestellt werden, und wir werden im lebendigen Zusammenhang mit dem, was um uns ist, die Befriedigung unserer Seele gewinnen, wenn wir unseren Horizont über solche Dinge erweitern.


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DAS KARMA DES MATERIALISMUS

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ERSTER VORTRAG Berlin, 31. Juli 1917

Ich möchte immer wiederum versuchen, durch aphoristische Ergän­zungen desjenigen, was den letzten Betrachtungen zugrunde lag, solche Dinge aufzusuchen, die zur Befestigung der bezüglichen Überzeugungen dienen können.

In der Tat wird nur derjenige in richtigem Sinn unsere Zeit ihrer geistigen Wesenheit nach ins Auge fassen können, der die äußeren Er­eignisse gewissermaßen als einen symbolischen Ausdruck - wenn der symbolische Ausdruck auch schwierig sein mag - von viel tieferen, gei­stigen Impulsen anzusehen vermag, die jetzt durch die Welt gehen; von Impulsen, über die uns eigentlich ja nur Geisteswissenschaft unterrich­ten kann.

Ich möchte heute ausgehen von einer interessanten Persönlichkeit des neunzehnten Jahrhunderts, von einer Persönlichkeit, welche als Denker zu betrachten außerordentlich anziehend ist, weil auch diese Persönlichkeit, wie so vieles andere, in einer eigentümlichen Art das­jenige spiegelt, was in unserer Zeit lebt beziehungsweise gerade auch dasjenige, was in unserer Zeit in gewissem Sinne erstorben ist. Ich will ausgehen von dem interessanten Denker African Spir, der 1890 ge­storben ist. Nicht viele Menschen kennen den interessanten Denker African Spir, der in der Mitte der sechziger Jahre in Leipzig begonnen hat, daran zu denken, eine Art Weltanschauung seinen Mitmenschen zu geben, der damals mit freimaurerischen Kreisen in Berührung ge-kommen ist, ohne daß diese Berührung ihm, außer Außerlichkeiten, etwas Besonderes gegeben hätte. Denn African Spir ist ein eigentüm­licher Denker, und wenn wir ihn nur ein wenig betrachten werden, zunächst so, wie man ihn betrachten kann, wenn man sich etwas in seine Schriften hineinliest, von denen die bedeutendste 1873 erschienen ist und den Titel trägt: «Denken und Wirklichkeit», so könnte man ihn als einen Denker betrachten, der nicht viel von äußeren Anregun­gen des neunzehnten Jahrhunderts ausgegangen ist, sondern der eine eigentümliche innere Wesenheit in seinem Denken, seiner Weltanschauung

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zum Ausdruck bringt. Man muß ihn zunächst eben so betrachten, wie er sich ergibt, wenn man seine Schriften liest. African Spir kommt gewissermaßen, man möchte sagen, wie intuitiv zu einer, vielleicht sehr wenig genügenden, aber doch beträchtlichen Erkenntnis vom Denken. Die Natur des Denkens, die beschäftigt ihn. Was tut der Mensch, wenn er denkt? Wie steht der Mensch zur äußeren Wirklichkeit der Sinne und zu der inneren Wirklichkeit des seelischen Erlebens, wenn er denkt?

Das Denken kann man ja nur dann in Wirklichkeit begreifen, wenn man es im Menschen als dasjenige ansieht, das überhaupt nicht der äußeren sinnlichen Welt angehört, sondern das seinem wahren Dasein -lassen Sie mich das Wort gebrauchen -, seiner wahren Wesenschaft nach, der spirituellen, der geistigen Welt angehört. Wir erleben schon die geistige Welt, wenn wir wirklich denken, nicht bloß nachdenken über die sinnliche Welt, sondern wenn wir wirklich denken. Es ist das Den­ken, das nicht ein bloßes Nachdenken der sinnlichen Welt ist, etwas, das dem Menschen schon die Frage vorlegen kann, weil, wenn sich der Mensch wirklich als Denkender weiß, er sich zu gleicher Zeit wissen muß in einer Welt, die jenseits von Geburt und Tod liegt. Es gibt nichts Gewisseres als dieses, daß, indem der Mensch denkt, er sich als Geist-wesen betätigt, obwohl von dieser Gewißheit gewiß wenig Menschen eine hinreichende Ahnung haben. Darauf kam African Spir. Und er sagte sich: Wenn ich Gedanken bilde, wenn ich namentlich die höchsten Gedanken bilde, deren meine Seele fähig ist, dann fühle ich mich wie in einer festen, keinem Raum und keiner Zeit unterworfenen Welt. Ich fühle mich wie in einer ewigen Welt. - Das brachte sich African Spir zum Bewußtsein. Von diesem Punkte ausgehend sagte er: Schauen wir aber jetzt die Wirklichkeit an, die wir erleben, wenn wir die Natur auf uns wirken lassen und über die Natur nachdenken, oder schauen wir die Wirklichkeit an, in der sich die Menschen bewegen im Laufe der Geschichte oder innerhalb des sozialen Lebens, diese Welt stimmt nir­gends überein mit unseren Gedanken. - So sagte sich Spir: Die Gedan­ken führen mich dahin zu erkennen, daß sie selbst als Gedanken in der Ewigkeit leben. In der äußeren Welt ist alles vergänglich. Das Irdische kommt, es geht dahin. Das stimmt mit keinem Gedanken überein. Mein

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Denken sagt mir - so gestand sich African Spir -, daß es unbedingt im Ewigen wurzelt, daher absolute Wirklichkeit ist. - Das war für ihn feststehend. Da aber die äußere Wirklichkeit, die wir erleben, nicht mit dieser Wirklichkeit des Denkens übereinstimmt, so ist diese äußere Wirklichkeit Schein, Täuschung. Und von diesem Gesichtspunkte aus kam in einer anderen Art als etwa das alte Indertum, auch als gewisse Mystiker, African Spir dazu, sich zu sagen: Alles dasjenige, was wir in Raum und Zeit erleben, ist Scheinwelt, ist eigentlich im Grunde genommen Täuschung. Und er sagte sich noch, um dies zu erhärten von einer anderen Seite her, etwa das Folgende: Die Menschen, überhaupt die lebendigen Wesen unterliegen dem Schmerz. Aber der Schmerz, der auftritt, er zeigt sich selbst nicht als das, was er eigentlich ist, denn er hat eine Kraft in sich zu seiner Überwindung, er will überwunden sein. Der Schmerz mag nicht da sein. Daher kann er keine Wahrheit sein. Daher muß er der Täuschewelt angehören, und dasjenige, was in ihm strebt, im Schmerze strebt nach der Schmerzlosigkeit, das muß die wahre Welt sein. Aber nirgends in der äußeren Täuschewelt ist eine völlig schmerzlose Welt. Daher ist wiederum in der äußeren Täusche-welt die wahre Welt gar nicht enthalten. Eingetaucht in den Schein, eingetaucht in den Schmerz ist die wahre, ist die seelische Welt. Daher erscheint es African Spir so, daß der Mensch nur dadurch zu einer innerlichen Befriedigung kommen kann, wenn er durch sein eigenes Entschließen, durch seine innere Tatkraft sich bewußt wird, daß er in sich eine ewige Welt trägt, die sich ihm im Denken ankündigt; sich ihm ankündigt in dem stetigen Streben nach der Überwindung des Schmer­zes, ankündigt in dem Streben nach der Seligkeit. Nicht weil ihm, in­dem er sie anschaut, die äußere Welt als Scheinwelt erscheint, sagt Spir, sie sei eine Scheinwelt, sondern weil er die wahre Welt in seinem Den­ken unmittelbar zu ergreifen vermeint, und die äußere Welt mit diesem Denken nicht übereinstimmt, sagt er, sie sei Schein.

Was liegt dem eigentlich zugrunde? Man kann Umschau halten, wenn man für feine Nuancen der Weltanschauungen einen Sinn hat, so findet man diese Nuance unter den verschiedensten Denkern des neunzehnten Jahrhunderts sonst nicht in dem Milieu, in dem Spir drinnen lebte. Was kann einer solchen Erscheinung zugrunde liegen?

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Betrachten wir einmal die ganze Erscheinung geisteswissenschaftlich, so müssen wir uns sagen: Indem wir die äußere sinnliche Welt um uns herum haben, auch die Welt der Geschichte, in der der Mensch lebt, auch die Welt des Sozialen, sind wir auf dem physischen Plan. Im Den­ken, das heißt, wenn wir wirklich im Denken leben, sind wir nicht mehr auf dem physischen Plan. Nur wenn wir über das äußerlich Sinn­liche denken, wenden wir uns dem physischen Plane zu und verleugnen unsere eigene Natur. Wenn wir uns aber bewußt werden, was da eigentlich im Denken lebt, so müssen wir erfühlen, daß wir mit dem Denken in der geistigen Welt drinnen leben. Also indem er ergreift, ich möchte sagen, das Abstrakteste, das dem Menschen gegeben ist, das bloße Denken, fühlte Spir die entschiedene Grenzscheide zwischen der physischen und der geistigen Welt. Und im Grunde genommen kon­statiert er nichts anderes als: Der Mensch gehört zwei Welten an, der physischen und der geistigen Welt, und beide stimmen nicht mitein­ander überein. Wie aus einem Elementaren in der Natur heraus, kommt Spir darauf: Es gibt eine geistige Welt. Er spricht das nicht so aus, aber indem er erklärt, daß alles dasjenige, was im Natur-, Geschichts- und sozialen Leben um uns herum ist, nur Schein ist, und nicht überein­stimmt mit einer Welt, die gegeben ist im Denken - wenn auch nur im abstrakten Denken uns gegeben ist, wenn auch nicht dem Schauen -, stellt er fest, daß diese zwei Welten durch eine scharfe Grenze vonein­ander geschieden sind.

Wenn man dann näher eingeht auf die Art, wie Spir diese seine Weltanschauung darlegt, so findet man allerdings, daß sie dem Men­schen des neunzehnten Jahrhunderts schwierig werden mußte. Man verstand ihn natürlich deshalb nicht. Er hatte ja, ich möchte sagen, wie in einem Punkt, nämlich in das Denken konzentriert, die ganze gei­stige Welt nur vorgetragen, von dem übrigen der geistigen Welt nichts gewußt, nur scharf betont, daß nach der Art, wie er das Denken er­lebte, diese geistige Welt da ist, und daß die andere Welt nicht mit ihr übereinstimmt. Das hatte zur Folge, daß er sagte: Wir können schon die Wahrheit finden, aber niemals in der äußeren Welt. Die äußere Welt ist überhaupt unwahr; die äußere Welt ist unvollkommen. - Und in scharfer Weise betonte er das. Er fühlte sich unverstanden, trotzdem

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er nach seinem eigenen Ausspruch glaubte, daß diese seine Erkenntnis die bedeutendste Tat der Geschichte sei, denn sie zeige ein für allemal, daß in der äußeren Welt keine Wahrheit sein kann. Er fand kein Ver­ständnis. Er griff sogar zu einem Auskunftsmittel: Er schrieb einen Preis aus, man solle ihn widerlegen. Um den Preis hat sich niemand beworben. Man hat nicht versucht, ihn zu widerlegen. Er hat alle Qualen, die der Denker durchleben kann durch das sogenannte Tot-schweigen, durchlebt. Er wurde, nachdem er lange in Tübingen, dann in Stuttgart gelebt hatte und wegen seiner Lungenkrankheit nach Lau­sanne verzogen ist, im Jahre 1890 in Genf begraben. Auf seinem Grabe liegt als Grabstein das Evangelium, ein in Stein nachgebildetes Buch, mit den Anfangsworten des Johannes-Evangeliums, das heißt: «Und das Licht schien in die Finsternis, aber die Finsternis hat es nicht be­griffen.» Und dazu die Worte «fiat lux», die seine letzten Worte waren, die er gesprochen hat, bevor er dahingeschieden ist.

Man könnte sagen: Die ganze Philosophie des African Spir ist etwas wie eine Ahnung. Und gerade wenn man sich einem solchen Denker naht, dann fühlt man, wie viele Menschen eigentlich im Laufe des neun­zehnten Jahrhunderts geahnt haben, daß so etwas wie die Geistes­wissenschaft kommen müsse, aber durch die mannigfaltigen Verhält­nisse des neunzehnten Jahrhunderts verhindert worden sind, selber an diese Geisteswissenschaft heranzukommen. Gerade African Spir ist ein solcher. Sehen Sie, liest man nur die Schriften dieses Denkers und be­kümmert man sich nicht um sein Leben, dann steht man eigentlich ein wenig vor einem Rätsel, vor dem Rätsel, das sich auftut, wenn man sich frägt: Ja, wie kommt denn jemand so merkwürdig unbewußt dazu, mit solcher Entschiedenheit die geistige Welt zu betonen aus dem blo­ßen Denken heraus? Wie kommt denn jemand dazu, sich selber so geistig zu wissen, und sich so in der Wahrheit stehend zu wissen, daß er die äußere Welt einfach als die Unwahrheit definiert? Die Erklärung liegt in seinem Leben, sie liegt einfach darin, daß er 1837 in Rußland geboren ist und eigentlich African Alexandrowitsch heißt, daß er Russe ist, aber ein Russe, der nach Mitteleuropa hereinverpflanzt ist. Ein Russe, der mittel- und westeuropäische Weltanschauungen auf sich hat wirken lassen, und der in seiner Persönlichkeit einen wunderbaren

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Zusammenklang der russischen Persönlichkeitsnatur mit den west- und mitteleuropäischen Weltanschauungen darstellt. Er lernte eigentlich erst deutsch, als er Mitte der sechziger Jahre nach Leipzig kam, aber er hat dann seine Schriften in deutscher Sprache geschrieben. Und wenn wir daran denken, daß sich das Tableau der Menschheitsentwickelung so darstellt, daß in Westeuropa stufenweise lebt durch die einzelnen Men­schen: die Empfindungsseele bei den südromanischen Völkern, die Ver­standes- oder Gemütsseele bei den westromanischen Völkern, die Be­wußtseinsseele bei den anglo-amerikanischen Völkern, das Ich bei den mitteleuropäischen Völkern, und das Warten auf das Geistselbst, das Geistselbst, möchte ich sagen, im Embryonalzustande, im Keim bei den russischen Völkern, den Osteuropäern, so kann man sagen: African Spir ist herausgeboren aus diesem Wesen, das in sich die Erwartung hat für die Entfaltung des Geistselbst. Das lebte schon in ihm, aber er brachte das alles, was da in ihm lebte, so zum Ausdruck, daß er es in die Formen der westeuropäischen Weltanschauung kleidete.

Wenn einmal der osteuropäische Mensch von Europa seine Natur entwickelt haben wird, so wird es für ihn schlechterdings ein Unsinn sein, die äußere physische Welt der Tatsachen die Wahrheit zu nennen, denn er wird sich nicht bloß im Denken darinnen stehend finden, son­dern im Geiste mit dem Geistselbst. Er wird sich als ein Bürger der gei­stigen Welt wissen, und es wird ihm als Unsinn erscheinen, zu sagen, der Mensch sei dasjenige, was einstmals die westlichen Völker als den Menschen angenommen haben. Das, was die westlichen Völker als den Menschen angenommen haben, was sie im Zusammenhang mit der Evolution aus dem Tierreiche gebracht haben, das wird er als Schale ansehen. So wie der osteuropäische Mensch von seinem Geistselbst aus mit der geistigen Welt, mit den Hierarchien, den Weg hinauf zu den Hierarchien macht, so macht der Westeuropäer den Weg zu dem Natur-reiche hinunter. Das lebt schon als Instinkt, dieses Drinnenstehen in der geistigen Welt, in African Spir. Aber dieses instinktive Leben in der geistigen Welt, wie es in Osteuropa jetzt vorhanden ist, hat noch keine Möglichkeit, seine Weltanschauung auszudrücken; es wird erst seine Weltanschauung ausdrücken können, wenn es übernimmt diejeni­gen Vorstellungen, die in der Geisteswissenschaft in Mitteleuropa entwickelt

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werden können. Dann kann es sich mit seinen inneren Erleb­nissen in diese Dinge kleiden.

African Spir konnte sie noch nicht in die geisteswissenschaftlichen Vorstellungen kleiden, er kleidete sie deshalb in die Vorstellungen Spencers, Lockes, Kants, Hegels, Taines, das heißt, er kleidete sie in jene abstrakte Begriffswelt, die in Wirklichkeit doch nur ein Nach­denken der natürlichen Welt, jedoch kein Leben im Denken selber ist. Ich möchte sagen, daß dasjenige, was embryonal in African Spir lebte, wie erstorben ist in der westeuropäischen Kultur, aber so erstorben, daß man in den Sterbeformen noch erkennt, was eigentlich eingeflossen ist in diese Formen, was in diese Formen hinein erstorben ist. Deshalb ist er eine so interessante Übergangsfigur. Deshalb zeigt er so recht, wie es eine tiefe innere Wahrheit ist, was in der Geisteswissenschaft immer wieder und wiederum betont werden muß, daß eigentlich die euro­päische Bevölkerung wie ein auseinandergelegter Seelenmensch ist. Die westlichen Völker auseinandergelegt in Empfindungsseele, Verstandes-oder Gemütsseele und Bewußtseinsseele, die mitteleuropäischen Völker Ich-Seele, die osteuropaischen Völker Vorbereitung für das Geistselbst. Man kann sagen, daß einern heute vorschweben kann eine künftige Behandlung der Geschichtswelt. Die Geschichtswelt wird so ungenügend wie möglich in der Gegenwart eigentlich zur Darstellung gebracht. Man stellt immer die Tatsachen der Geschichte dar, aber diese Tatsachen als solche genommen sind nicht das Wesentliche. Wer bloß an die Tat­sachen der Geschichte geht, gleicht einem Menschen, der den «Faust» vornimmt und die Buchstaben beschreibt, die Seite für Seite dastehen, aber es kommt jemandem, der wirklich den «Faust» kennenlernen will, nicht auf den Buchstaben an, sondern auf das, was er durch die Buch­staben kennen lernt. So wird einmal eine Geschichtsbetrachtung Platz greifen, der es geradesowenig auf die Tatsachen ankommt, wie es beim Lesen eines Buches auf die Beschreibung der Buchstaben ankommt, eine Betrachtung, welche lesen wird in den Tatsachen dasjenige, was hinter den Tatsachen der Geschichte steht, wie der «Faust» hinter den Buch­staben, die auf dem Papier vorhanden sind. Wenn das auch radikal gesagt ist, so deutet es doch auf das Richtige hin. Wenn man aber die Geschichte so betrachten wird, wird man sie als Symptomengeschichte

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auffassen, dann wird man so etwas wie African Spir als Symptom ansehen, wie Ost- und mitteleuropäisches Wesen gerade in den Ele­menten der Seele ineinanderwachsen.

Aber wie weit entfernt ist die Gegenwart von einer so gearteten Be­trachtung des Lebens und der Geschichte! Man merkt aber erst recht, was dahinter steht, wenn man in einer tieferen Beziehung solche Dinge im Zusammenhang mit der Gegenwart in Betracht zieht. Keine Zeit hat so wie die unserige Raubbau getrieben mit den geistigen Erzeug­nissen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und einem guten Teil der geistigen Erzeugnisse in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Man kann noch in einem viel höheren Sinne von einem vergessenen Tone im Geistesleben sprechen, als ich es in meinem Buche «Vom Menschenrätsel» getan habe. Die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts wird in der künftigen Zeit einmal völlig umgeschrieben werden müssen. Das hat schon Herman Grimm geahnt, als er sagte:

Es wird eine Zeit kommen, in welcher die Geschichte der letzten Jahr­zehnte völlig wird umgeschrieben werden, so daß diejenigen Großen, welche heute als solche erscheinen, sehr starke Kleinheiten werden und ganz andere Große auftauchen werden, die heute wie Vergessene da sind. - Wer darauf ausgeht, die wirkliche Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts zu studieren, der merkt erst, was für eine Fable convenue die landläufige Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts ist. Und ins­besondere merkt man das, wenn man die wirkliche Wesenskraft des neunzehnten Jahrhunderts ins Auge fassen kann. Ich sagte: Raubbau getrieben hat unsere Zeit mit den geistigen Erzeugnissen des neunzehn­ten Jahrhunderts, denn es hat viele, viele Geister gegeben, welche ver­einsamt geblieben sind in dieser Zeit, um die man sich nicht gekümmert hat, und African Spir ist gleich eine charakteristische Erscheinung innerhalb dieses neunzehnten Jahrhunderts. Ich will nicht sprechen vom großen Publikum, aber gerade diejenigen haben sich um African Spir nicht gekümmert, deren berufliche Aufgabe es gewesen wäre, sich um ihn zu kümmern. Solche Menschen sterben dann dahin, das heißt, sie gehen mit ihrer Seele in die geistige Welt hinein. Aber die Dinge dieser Welt, sie haben Wirkungen, von denen man, wenn man nur das gewöhnliche Dasein betrachtet, in der Regel wenig ahnt.

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Glauben Sie denn, daß es wirklich so ist, daß ein Denker, der dahin-gestorben ist wie African Spir, das heißt, dessen Seele durch die Pforte des Todes in die geistige Welt eingezogen ist, einfach nun verschwun­den ist für diese Welt hier? Vergessen Sie nicht, daß die geistige Welt nicht in einem Wolkenkuckucksheim ist, daß, ebenso wie unser Leib durchzogen ist von dem Seelisch-Geistigen, die ganze Welt, in der wir leben, vom Seelisch-Geistigen durchzogen ist. Dieses Seelisch-Geistige ist da, das lebt um uns herum wie die Luft. Und verschwunden ist nicht dasjenige, was ein Denker in einem angestrengten Denker-Leben hier im physischen Leibe produziert hat, wenn er durch die Pforte des Todes in die geistige Welt eingegangen ist. Verschwunden ist das nicht. Denn ein sehr Eigentümliches liegt vor: Ein Denker, der viel Beifall findet, ist in einer anderen Lage, als ein einsam bleibender Denker wie African Spir. Ein Denker, der Mode geworden ist, ist gewissermaßen mit seinen Gedanken fertig dann, wenn er durch des Todes Pforte gegangen ist. Ein Denker wie Spir ist nicht mit seinen Gedanken fertig, sondern etwas anderes tritt ein: er hütet seine Gedanken. Und damit sage ich Ihnen etwas sehr Bedeutungsvolles. Diese Gedanken sind da in der physischen Welt, geistig, und er hütet sie. Und dadurch, daß ein solcher Denker seine Gedanken hütet, gewissermaßen bei ihnen bleibt eine gewisse Zeit hindurch, die nach Jahrzehnten sich berechnet, dadurch entziehen sich die Gedanken den Menschen, die dann in dieser Zeit, während er seine Gedanken behütet, im physischen Leibe leben.

Also stirbt ein Denker wie African Spir, so sind seine Gedanken bei ihm, und es ist nicht möglich für einen anderen, aus sich selbst her­aus, so ohne weiteres zu diesen Gedanken zu kommen, welche der be­treffende Denker gehegt hat. Daher entsteht für solche Gedanken ein unbewußtes Sehnen, das aber nicht befriedigt werden kann, ein Zu­stand, der sich so beschreiben läßt: Da sind Menschen, ihre Vorfahren haben einen solchen Denker einsam sterben lassen, um den sie sich nicht gekümmert haben. Der hat Gedanken gehabt, die sich hätten weiter­entwickeln sollen, aber er hütet sie, läßt sie nicht unter die Menschen kommen, die Menschen spüren sie als unbestimmte Sehnsucht, sie kön­nen nicht zu ihnen kommen; dadurch entsteht viel Unbefriedigendes

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in solchen Menschen. In manchem Zeitalter, und insbesondere in unse­rem Zeitalter leben Menschen, zahlreiche Menschen, in unbefriedigter Sehnsucht nach Gedanken, zu denen sie nicht kommen können, weil diese Gedanken von unberücksichtigt gebliebenen Denkern behütet werden. Nun leben wir gerade in einem Zeitalter, wo das in einem hohen Grade der Fall ist, und wo es daher begreiflich ist, daß viel Unbefriedigtes da sein muß, einfach aus dem Grunde, weil im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts solcher Raubbau getrieben wor­den ist, eine ganze Anzahl hochsinniger Denker gelebt haben, um die sich die Welt nicht gekümmert hat.

Was ist da zu tun? Das ist ja natürlich die Frage, die eigentlich die bedeutungsvolle ist. Ja, sehen Sie, was da zu tun ist, das ist das, daß man eben von solch vergessenen Tönen im Geistesleben spricht. Und wenn ich einen solchen Denker wie African Spir mit ein paar Zügen hier vor Ihre Seelen hinstelle, so geschieht es nicht aus einem bloß theoretischen Grunde, um Ihnen etwas Interessantes zu erzählen, son­dern um darauf aufmerksam zu machen: Unter uns ist eine geistige Welt von wirklichen Gedanken, die auch schon ein Denker gehegt hat; aber der Denker hütet die Gedanken. Wir müssen nur entwickeln ein gewisses pietätvolles Gefühl, ein gewisses Hinschauen zu dem Denker selbst, damit er sie uns herausgibt in einem gewissen Sinne, und wir durch sie befruchtet werden können. Deshalb ist es, daß ich gerne im Laufe der Betrachtungen auf solche vergessene Denker aufmerksam mache, weil dadurch eine Verbindung zu ihnen geschaffen wird, die eine Realität darstellt. Indem ich ein wenig das Bild des African Spir in Ihre Seelen hinein zeichne, wird etwas hergestellt, was in gewissem Sinne da sein soll zur Korrektur. Und das gehört unter die Aufgaben der Geisteswissenschaft.

Die geistige Welt ist nicht etwas bloß Abstraktes, wie es der ver­schwommene Pantheismus meint, sondern sie ist etwas ebenso Kon­kretes wie die äußeren physisch-sinnlichen Tatsachen. Nicht dadurch redet man von der geistigen Welt, daß man Geist, Geist, Geist sagt, sondern dadurch, daß man auf die konkret vorhandenen Tatsachen der geistigen Welt hinweist. Unter diesen Tatsachen ist vor allem für unsere Zeit die, daß wir in uns lebendig machen können den

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Zusammenhang mit vergessenen Geistern, deren Gedankenfrüchte auf diese Weise in unsere Seelen kommen können. Auf der anderen Seite werden diese Geister auch erlöst davon, weiter ihre Gedanken zu behüten.

So ist es ein reales Tun, was wir vollbringen, wenn wir in dieser Weise und mit dieser Gesinnung von denjenigen Geistern sprechen, mit denen gerade die letzte Zeit einen solchen Raubbau getrieben hat. Und es wird gerade dadurch unserer Zeit etwas gegeben, wenigstens könnte unserer Zeit etwas gegeben werden, was ihr so not tut. Denn all das Denken, das nur ein Nachdenken ist, all das Denken, das in der landläufigen Weise über die Natur, die Geschichte, das soziale Leben denkt, all das Denken ist unfruchtbar, all dieses Denken hat eigentlich keine Aufgaben mehr, wenn es die äußere Welt erfaßt hat; es ist un­fruchtbar. Daher gibt es heute so viele unfruchtbar denkende Leute, weil sie nur über äußere Wirklichkeiten oder über Geschichtswirklich­keiten denken wollen. Fruchtbar ist nur dasjenige Denken, welches als Inhalt die geistige Welt in sich aufnimmt. Der Gedanke ist wie eine Leiche, solange er nur im Nachdenken über die Natur oder Geschichte entstand, er wird erst lebendig und schöpferisch, wenn er erfüllt ist von dem, was durch die Hierarchien von der geistigen Welt in ihn hinunterströmt.

Das aber, sehen Sie, dieses Sichverbinden im Denken mit der gei­stigen Welt, das liegt unserer Zeit nicht, das flieht sie geradezu. Unsere Zeit tut sich ungeheuer viel zugute auf die Pflege «wahrer Wissen-schaft», die nun endlich gekommen ist, nachdem die Menschheit so lange auf einer Kindheitsstufe gestanden hat. Mit dieser wahren Wissen­schaft, insbesondere da, wo aus der Naturwissenschaft heraus sich die Wissenschaft zu einer Weltanschauung gestalten soll, ist es zu sonder­baren Dingen gekommen. Mit dem Denken als solchem konnte diese Wissenschaft wirklich nichts Richtiges anfangen, denn sie zergliedert den Menschen, kommt bis zu wunderbaren Anschauungen über den Bau des Gehirns und dergleichen, über die menschlichen Funktionen und so weiter, aber das Denken ist in alle dem nicht drinnen. Daher ist das Denken als solches für diese Wissenschaft nach und nach etwas geworden - oh, man könnte schon sagen: das sie schon selbst wie eine

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Art Gespenst, vor dem sie sich fürchtet, empfindet. Insbesondere ver­haßt sind daher der neueren Wissenschaft solche Denker, die viel ge­dacht haben, die im Inhalte ihrer Weltanschauung Gedanken haben, wie Hegel, Schelling, Jakob Böhme und andere Mystiker. Ja, die Leute haben gedacht - so sagt sich der moderne Naturforscher -, aber da ist man im Unsicheren. Er fühlt sich so nicht geheuer, wenn er aus der Welt heraus soll, die African Spir eine Scheinwelt, eine Welt der Täu­schung nennt. Beim Denken ist es ihm nicht geheuer. Aber nun kann er nicht Wissenschaft begründen, wenn er nicht doch denkt. Das ist eine Zwickmühle. Das hat dazu geführt, daß einer der Herren, der sich ganz besonders als Vertreter moderner Wissenschaftlichkeit fühlte, bei einer Naturforscherversammlung folgenden Ausspruch tat, einen Ausspruch, der geradezu über der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, wenn man dessen Geschichte schreibt, hingeschrieben werden sollte wie eine Art Devise, wie etwas, das viel charakterisiert. Da sagt der Be­treffende: Wir Mediziner wollen zugestehen, daß auch die exakte strenge Wissenschaft, wie der gebildete Mensch überhaupt, das Denken nicht völlig entbehren kann. - So im neunzehnten Jahrhundert bei einer ernsten Naturforscherversammlung! Mit Bedauern wird der Satz hingestellt, daß man doch das Denken nicht ganz entbehren kann, nicht als Mediziner, überhaupt nicht als gebildeter Mensch. Also dieses Den­ken ist eigentlich etwas recht Fatales. Es versetzt einen sogleich, wenn man sich nur ihm nähert, in die Unsicherheit, aber man kann es nicht ganz entbehren!

Solche Menschen fühlen gegenüber dem Hereinragen der geistigen Welt überhaupt etwas ganz Besonderes. Sie fürchten ja das Denken auch nur aus dem Grunde, weil sie spüren, daß da die geistige Welt im Denken hereinragt. Aber das wollen sie nicht, denn die geistige Welt, die gibt es ja gar nicht! Sie erinnern sich wohl, wie ich Ihnen ausein­andergesetzt habe, welche Umwandelung mit dem Wesen des Genies im Laufe der Entwickelung vor sich gehen wird. Jedenfalls wird Sie aber diese Betrachtung dazumal darauf aufmerksam gemacht haben, daß man das Genie nur dann in seiner wahren Wesenhaftigkeit betrach­tet, wenn man annimmt, daß durch das Genie mehr der Geist wirkt als durch das Nichtgenie. Wenn das Genie gerade mechanische Erfindungen

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macht, dann lassen es sich die Leute der Gegenwart gefallen, aber sonst haben sie auch die Sehnsucht, ihre Abneigung gegen den Geist gewissermaßen auf das Genie zu übertragen. Und in einer nicht uninteressanten Abhandlung eines Naturforschers über einen genialen Menschen finden Sie einen sehr merkwürdigen Satz. Nachdem der Naturforscher auseinandergesetzt hat, daß eigentlich ein genialer Mensch halb krank, halb verrückt ist, versteigt er sich zu dem Aus­spruch: Danken wir alle Gott, daß wir keine Genies sind!

Ja, diese Dinge muß man nehmen als Symptom für unsere Zeit. Man muß sie als Symptom nehmen, denn sie drücken doch den Charakter unserer Zeit sehr gut aus. Man hat so die Gewohnheit, über diese Dinge nur die Nase zu rümpfen oder sonst über sie hinwegzusehen, höchstens über sie zu lachen, weil man ihre ganze Tiefe nicht durchschaut; nicht durchschaut, daß das Elend unserer Zeit mit diesen Dingen zusammen­hängt, und nicht durchschauen will, wie wenig in unserer Zeit die Men­schen die Neigung haben, durch eine Verbindung mit der geistigen Welt die Ordnung in dieser Welt zu fördern. Sie lassen gewissermaßen die Verbindung mit der geistigen Welt ersterben, dadurch aber ver­lieren sie auch die Verbindung mit der Außenwelt, denn sie können dann auch nur die Schale der äußeren Welt betrachten. Daher kommt es auch, daß in unserer Zeit - und ich mache damit auf eine bedeut­same Erscheinung aufmerksam - etwas so Schlimmes zutage tritt da, wo sich die menschlichen Gedanken, wenn sie da sind, verbinden sollen mit der äußeren Wirklichkeit. Das hat zur Folge, daß die äußere Wirk­lichkeit ihren Gang geht, auch insofern die Menschen die äußere Wirk­lichkeit machen, und die Gedanken der Menschen ganz schön sein können - mancher Menschen natürlich -, aber die Außenwelt, insofern Menschen darin handeln, ist so geartet, daß sie Gedanken gar nicht an­nehmen will, nicht zugänglich ist für Gedanken. So sehen wir, daß es allmählich dazu gekommen ist, daß einzelne Menschen schöne Ge­danken haben können, aber daß diese schönen Gedanken ein eigenes Leben für sich führen, und die äußere Wirklichkeit auch ein eigenes Leben für sich führt. Eine furchtbare Diskrepanz besteht zwischen dem, was in den Köpfen mancher Menschen heute vorgeht, und in dem, was in der um sie herum liegenden Wirklichkeit vorgeht, eine

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Disharmonie, die so groß ist, wie sie in keiner verflossenen Zeit war.

Man glaubt immer, man übertreibe, wenn man solche Dinge vor-bringt. Man übertreibt nicht, sondern man muß solche Dinge sagen, weil diese einfach wahr sind, und als einfache Wahrheit erkannt wer­den müssen. Überall, wo man anfaßt, merkt man dieses. Man kann nur nicht die Empfindung stark genug machen, um wirklich zu fühlen, was damit eigentlich gesagt ist.

Nehmen Sie folgenden Fall, man könnte diesen Fall ins Tausend­fache vermehren: Zwei Menschen reden 1909 in Rußland über die Beziehungen zwischen Rußland und Mitteleuropa, 1909, unmittelbar nach der österreichischen Annexion in Bosnien und der Herzegowina. Das Gespräch fand statt in derselben Zeit, in welcher die Wogen in Rußland ungeheuer hoch gingen, die eigentlich dahin zielten, schon damals, jenen furchtbaren Zustand herbeizuführen, der dann 1914 ge­kommen ist. Denn es hing ja an einem Faden, so wäre der Krieg, der 1914 ausgebrochen ist, schon 1909 ausgebrochen. An gewissen Kreisen Rußlands hing es wirklich nicht, daß er nicht damals ausgebrochen ist. Diesen Dingen muß man nur trocken ins Antlitz schauen. Zwei Men­schen, ein Kroate und ein Russe, redeten also in dieser Zeit über das Verhältnis von Rußland namentlich zu Österreich. Das Gespräch führte dahin, daß der Russe, nachdem die beiden alle Möglichkeiten bespro­chen hatten, auf eine vernünftige Weise das Verhältnis zwischen Mittel-und Osteuropa zu ordnen, seine Anschauung in die Worte zusammen­gefaßt hat: Ein Krieg zwischen Rußland und Österreich-Deutschland wäre nicht nur das Unmenschlichste, sondern auch das Unsinnigste. Diese Worte: Ein Krieg zwischen Rußland und Österreich-Deutschland wäre nicht nur das Unmenschlichste, sondern auch das Unsinnigste -waren die Zusammenfassung von vernünftigen Gedanken über die soziale Struktur von Mittel- und Osteuropa. Also nicht etwa bloß aus der Emotion, dem Gefühl, sondern aus der, ich möchte sagen, weis­heitsvollen Vernunft heraus gesprochene Worte. Man braucht nur den Namen des Russen zu nennen, der diese Worte 1909 gesprochen hat, um erhärtet zu finden, was vorhin auseinandergesetzt wurde; denn dieser Russe, der den Krieg in der Weise ablehnte - der 1909 nicht

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anders geworden wäre, als er 1914 geworden ist -, der Russe ist Lwow, derjenige, der dann der erste Ministerpräsident des ersten revolutio­nären russischen Ministeriums wurde, also derjenige, um den herum alle diese Dinge vorgegangen sind, die das Elend Europas in der Ge­genwart ausmachen.

Denken Sie sich, vor welchem Ereignis wir da stehen! Wir sehen die äußeren Ereignisses sich abspielen, und wir sehen Menschen mitten drinnen handelnd stehen, die ganz anders denken! Menschen stehen in diesen Ereignissen drinnen, die ganz vernünftig denken, aber die Er­eignisse wachsen ihnen über den Kopf. Warum wachsen ihnen diese Ereignisse über den Kopf? Weil versäumt worden ist, die Gedanken mit dem geistigen Element zu verbinden. Diejenigen Gedanken, die nicht mit dem geistigen Element verbunden sind, die sind nicht wirk­sam in der Welt. Nur diejenigen Gedanken sind wirksam in der Welt, die mit dem Geistigen in der Welt verbunden sind. Ist es denn nicht heute geradezu ein Dogma - wenn es auch nicht in der Form aus­gesprochen wird -, daß derjenige, der sich im äußeren sozial-politi­schen Leben betätigt, ja nicht zu den Denkern gehören darf! Es ist ein Fehler, wenn er Gedanken entwickeln kann. Denn ein Mensch, der Gedanken entwickelt, den hält man für einen unpraktischen Menschen, der nichts von der Wirklichkeit versteht. Während nur die wirklichen Gedanken in die Wirklichkeit eingreifen können, und niemals diejeni­gen Gedanken, die von denen kommen, die man heute als der Wirk­lichkeit gewachsen hält. Oder sollte es denn wirklich vernünftig sein, daß für einen großen Politiker ein Mensch ausersehen wird, der sich besonders gut aufs Angeln versteht, mehr als einer, der denken kann? «Flyfishing» heißt das Buch, das über das Angeln Sir Edward Grey geschrieben hat, «Flyfishing», das Angeln mit der Fliege, und das war im Grunde genommen dasjenige, was seine ganze Seele ausfüllte. Ich habe schon einmal erwähnt: Ein Ministerkollege von ihm hat einmal nicht mit Unrecht gesagt: Der Grey ist so furchtbar konzentriert, weil er nienials einen eigenen Gedanken hat, der ihn von der Konzentration abhalten kann, sondern immer dasjenige aufnimmt, was ihm die an­deren eingeben. - Dieser Ministerkollege hat wohl das Richtige getrof­fen. Also diejenigen Menschen, die sich gut verstehen auf das Flyfishing,

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die sollen sich nach den Auffassungen unserer Zeit auf die Poli­tik verstehen; aber ein Fehler soll es sein, wenn jemand Gedanken hat. Aber gerade diese Anschauung ist diejenige, die in unseren Tagen Schiffbruch gelitten, die sich als die unmögliche erwiesen hat. Denn sie hat zu alle dem geführt, was ich wiederholt und auch heute wiederum auseinandergesetzt habe.

Seien wir uns nur klar darüber: Dasjenige, was heute als fähig an­gesehen wird, Staatswissenschaft, Staatskünstlerisches aufzubauen, ist unfähig, solche aufzubauen. Warum denn? Wenn wir nachdenken über die Welt, und nur nachdenken will ja unsere Zeit, das will sie bloß haben, was ich vor vielen Jahren - Sie können darüber nachlesen in meinem Buche «Goethes Weltanschauung» - Tatsachenfanatismus genannt habe; vor einer noch größeren Anzahl von Jahren habe ich es in meiner Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Nationalliteratur «Dogmatismus der Erfahrung» genannt. Diejenigen, die solches Denken entwickeln, das bloßes Nachdenken der natürlichen Geschehnisse oder der geschichtlichen Ereignisse oder des äußeren sozialen Lebens ist, die entwickeln Gedanken, welche lediglich ahrimanische sind. Deshalb brauchen sie nicht unrichtig zu sein, aber sie sind ahrimanisch. Ahrimanisches muß in der Welt sein. Der gesamte Inhalt der Naturwissenschaft ist ahrimanisch. Er wird erst seiner ahri­manischen Natur entkleidet, wenn er belebt wird, wenn das Denken sich loslöst von dem bloßen Nachdenken, wenn es schöpferisches Den­ken wird, wenn es durchdrungen, durchflossen wird von dem, was in den geistigen Welten lebt. Will man soziale Gesetze formen, Rechts-gesetze formen, und man stützt sich auf bloßes Nachdenken, so stützt man sich ja bloß auf Ahrimanisches. Ahrimanisches führt aber immer, da wo es nicht sein soll, zur Ertötung desjenigen, in dem es lebt; zum Ersterben, zum Auflösen. Das Heil unserer Zeit kann nur dadurch entstehen, daß gerade mit Bezug auf alles, was das soziale Leben be­fruchten soll, das Rechtsleben, das Staatsleben, daß mit Bezug auf das alles solche Gedanken eingreifen, die in lebendigem Zusammenhang mit der geistigen Welt stehen. Das aber wollen heute noch wenig Men­schen glauben. Denn was müßten sie dann glauben, diese Menschen? Man merkt, wenn man den Menschen heute vom Geiste spricht, daß

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sie sich wehren. Was sie dann im Bewußtsein haben, das will nicht viel besagen, was aber im Unterbewußten, im Unbewußten lebt, das will recht viel besagen. Was im Unterbewußten lebt, das ist nämlich ein unbewußtes schlechtes Gewissen, ein richtiges schlechtes Gewissen. Die Menschen wollen sich nicht gestehen, daß sie Totes denken, Ahrimani­sches denken. Und daher lassen sie es nicht bis zu dem Gedanken kom­men. Denn in dem Augenblick, wo man sich zum lebendigen Ergreifen der geistigen Welt aufschwingt mit dem Denken, in diesem Augenblick muß man eben gewahr werden, daß man Ahrimanisches denkt. Davor fürchtet man sich aber. Furcht ist es, was die Menschen heute davon abhält, sich vom bloßen Nachdenken zum produktiven Denken zu erheben, was allein da sein kann, wenn es inspiriert ist - mag es auch unbewußt inspiriert sein - von den geistigen Welten aus.

Daher sehen wir, daß in unserer Zeit hinter allem übrigen Elend noch ein ganz anderes lebt. Nichts Geringeres lebt in unserer Zeit, und wird immer mehr leben wollen, von gewissen Kreisen ausgehend, als der Kampf gegen den Geist selbst. Dieser Kampf gegen den Geist, der wird in unserer Zeit im eminentesten Sinne gefördert durch dasjenige, was man den Zeitgeist nennen könnte. Ich muß sagen, es ist recht schwierig, über solche Dinge zu reden, wie diejenigen sind, auf die wir da kommen; aber auf der anderen Seite ist es auch nicht genügend, auf die Dinge bloß hinzudeuten und sie nicht bei ihrem wahren Namen zu nennen. Denn in der Welt kann man eigentlich nicht sagen: Irgend etwas ist absolut gut oder absolut schlecht oder böse, sondern es kommt überall auf den Gesichtspunkt an. Überall kommt es darauf an, die Dinge so zu erkennen, daß man sich sagen kann: An ihrem richtigen Ort und in ihrem richtigen Zusammenhang sind sie gut. Werden sie aus dem richtigen Zusammenhang herausgeschoben, dann sind sie eben nicht mehr gut. Und weil man heute die Dinge so sehr leicht verdogma­tisiert und verabsolutiert, so wird man bei einer solchen Auseinander­setzung, wie ich sie jetzt meine, sehr leicht mißverstanden; man wird sehr leicht so verstanden, als ob man eine Art Kritiker der Zeit sein wollte, ein Mensch, der die Zeit selbst kritisiert. Das will ich ganz und gar nicht sein, sondern ich will nur auf die Tatsachen hinweisen.

Eine Neigung vom Geiste weg nach dem Ahrimanischen - also

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eigentlich auch nach einem Geiste, aber nach einem Geiste, der erstor­ben ist, wo die Materie dem Menschen sich nur offenbart -, ein solches Streben lebt in unserer Zeit. Das Leben aber ist ungeheuer differenziert und wird immer differenzierter und differenzierter. Und wir könnten in der Gegenwart vieles anführen, das in der Differenzierung der ein­zelnen sozialen Verhältnisse uns aufmerksam machen würde, was für Impulse in der Gegenwart eigentlich leben, in was wir mitten darinnen stehen. Ich will zunächst zwei Impulse unserer Zeit erwähnen.

Der eine Impuls ist der, welcher lebt in solchen Menschen, die haupt­sächlich zusammenhängen mit dem Grund und Boden. Wir brauchen ja nur nach dem Osten zu gehen, so finden wir, wie die Menschen da immer mehr und mehr mit dem Grund und Boden zusammenhängen. Gehen wir mehr nach dem Westen, so finden wir mehr jene Verhält­nisse entwickelt - der Mitteleuropäer hat ja gerade in dieser Richtung in den letzten Jahrzehnten eine rasend schnelle Entwickelung durch­gemacht vom Hängen am Boden zum Emanzipieren vom Boden -, wir kommen immer mehr und mehr in die Verhältnisse des Emanzi­pierens vom Boden hinein. Die Landmenschen leben mit dem Boden zusammen, die Städter emanzipieren sich vom Boden, die Landmen­schen werden Agrarier, die Stadtmenschen werden Industrielle. Agra­rier, Industrielle, haben eine ganz andere Bedeutung bekommen in unserem Jahrzehnt als in früheren Zeiten. Ja, es ist schon schwer, wenn man solche Dinge auseinandersetzt, weil man sie verabsolutiert. Das ist aber nicht gemeint, sondern gemeint ist eine Charakteristik der Dinge. Beide Strömungen sind in der Menschheitsentwickelung, und wir alle stehen da mitten drinnen. Denn ob wir dieses oder jenes trei­ben: nach der einen oder anderen Seite hängen wir mit einer von diesen Menschheitsströmungen zusammen. Beide Strömungen in der Mensch­heitsentwickelung, gewiß, an sich sind sie gute, aber unter dem Einfluß der Impulse, wie wir sie in der Gegenwart haben, arten sie aus. Der Agrarier artet dazu aus, nicht bis zum Geiste herauf zu wollen, unter dem Geiste drunten zu bleiben, mit dem zu verwachsen, was noch nicht Geist ist, den Geist nicht zur Entfaltung kommen zu lassen. Der Indu­striemensch artet nach der anderen Seite aus; er verliert den Zusam­menhang mit der Naturhandhabe des Geistes. Er lebt sich hinein in

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die bloße Abstraktion, in den bloßen abstrakten Begriff, in den ver­dünnten Begriff. Der Agrarier ist in unserer Zeit in Gefahr zu erstik­ken, weil die Welt, in die er sich einlebt, zu wenig Geist hat. Der Industrielle ist in der anderen Gefahr: er lebt gewissermaßen wie, wenn ich den physischen Vergleich gebrauchen darf, jemand, der in zu ver­dünnter Luft lebt. So lebt er in verdünntem Geiste, in abstrahiertem Geiste, in Begriffen, die gar nicht mehr zusammenhängen mit irgend­einer Wirklichkeit.

Das sind die Schattenseiten gerade in unserer Zeit auf der einen Seite des agrarischen Wesens, auf der anderen Seite des Industriewesens. Da­her sehen wir, daß der Agrarier heute sehr leicht zum Hasser des Geistes wird. Weil man ja nicht stehenbleiben kann, ohne die Entwickelung mitzumachen, flieht man den Geist, bleibt man in der Natur drinnen, geht man unter die Natur hinunter. Man kommt dann mit denjenigen Dämonen in Beziehung, welche einen wirklich zum Hasser des Geistes machen, und kommt mit den richtigen ahrimanischen Dämonen in Be­ziehung und entwickelt dann Weltanschauungsbegriffe, die ganz von ahrimanischer Dämonologie durchzogen sind.

Entwickelt man sich als ein Mensch, der ganz aufgeht im industriellen Leben, in der Abstraktheit der Begriffe, die dann folgt, so kommt man zu einer Art - aber jetzt nicht in Nietzscheschem Sinne - von Über­menschentum, das heißt, man kommt in die luziferische Welt hinein. Ahriman übergibt einen den luziferischen Gewalten, und man durch­tränkt seine Kraft und seine Begriffe mit luziferischen Emotionen. Die Agrarier bekommen sehr leicht etwas Brutales; die industriellen Be­griffe bekommen sehr leicht etwas abstrakt Draufgängerisches. Das sind ganz reale, konkrete Erscheinungen unserer Zeit.

Alle diese Dinge sind ernst, und sie zeigen uns, daß man eigentlich die Gegenwart nur verstehen kann, wenn man aus der Geisteswissen­schaft kommende Begriffe zu Hilfe nimmt. Die Menschen müssen mit­einander leben, aber sie können nur miteinander leben, wenn sie ihre Einseitigkeiten aneinander abschleifen, wenn sie einen Zusammenhang finden. Gewiß, es muß ebenso Agrarier wie Industrielle geben, aber weil in der Zeit, in der die Evangelien geschrieben sind, dies voraus­gesehen worden ist, daß sich die Menschen differenzieren werden, ist

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mit Bezug auf die Agrarier mehr das Lukas-Evangelium, mit Bezug auf die Industriellen mehr das Matthäus-Evangelium geschrieben wor­den. Aber wir sollen nicht bloß das Lukas- und nicht bloß das Matthäus-Evangelium, sondern wir sollen sie alle auf uns wirken lassen. Gescheite Leute - wobei ich «gescheit» in Gänsefüßchen setze -, «gescheite Leute» finden Widersprüche zwischen den Evangelien, weil sie nicht darauf achten, unter welchen Gesichtspunkten die Evangelien geschrieben sind, daß zum Beispiel der Schreiber des Lukas-Evangeliums geschrieben hat, indem er in seiner Seele fühlte dasjenige, was gerade im agrarischen Leben sich auslebte, daß der Schreiber des Matthäus-Evangeliums ge­schrieben hat, indem er in seiner Seele fühlte dasjenige, was gerade in den dem industriellen Leben angehörigen Seelen sich auslebt. Daß sich die Dinge in der Wirklichkeit widersprechen, aber in ihren Wider-sprüchen sich ergänzen, und daß wir nach Ergänzung suchen müssen, das ist dasjenige, worauf es ankommt. Aber dieses Suchen nach gegen­seitiger Ergänzung ist nicht möglich, wenn man in der Einseitigkeit drinnen bleibt. Der Mensch wird sehr bald ähnlich demjenigen, was ihn umgibt, in dem er drinnen lebt, wenn er sich nicht zu verbinden sucht mit dem, was in keinem Einzelnen lebt, und das ist das gemein­schaftliche Geistige, das alle durchdringt, das aber nur wirklich in der Geisteswissenschaft heute gefunden werden kann. Nicht nur, daß es wahr ist, was Hartmann einmal als ein sehr nettes Aperçu gesagt hat:

«Wenn man in eine Alpengegend kommt und schaut den Ochsen an und daneben den Bauer, - ein so großer Unterschied ist nicht in der Physiognomie» - das ist radikal ausgedrückt und ist sehr verletzend, aber man weiß, was damit gesagt werden sollte. Auf der anderen Seite tritt dadurch, daß in unserer Zeit die Menschen den Geist so sehr flie­hen, eine innige Verwandtschaft ein zwischen der Seelenkonfiguration der einzelnen Menschen und demjenigen, in dem jene Menschen drin­nen leben. Derjenige, der das Leben betrachten kann, der weiß ganz genau, wie die Begriffe eines Agrariers aus seinem Umgang mit der Bodenfläche und der Bodenarbeit gewonnen sind, und die Begriffe des Industriellen aus dem Umgang mit der industriellen Arbeit entstanden sind. Wie der Agrarier oder Industrielle über Politik oder Religion denkt: die Begriffe sind agrarische oder industrielle. Die Begriffe der

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Menschen, die also heute so furchtbar abhängig sind von der äußeren physischen Umgebung, müssen aufgelöst werden in dem, was die Gei­steswissenschaft unter die Menschheit ausströmen kann.

So etwas fühlte ein solcher Denker wie African Spir ganz besonders. Denn, wenn er sagt: Alles Ä ußere ist ein Schein, ist eine Täuschung, - so hängt das damit zusammen, daß er fühlte aus der Selbstwahrnehmung seines Innern, wie die Menschen selber in ihrem inneren seelischen Er­leben zum Schein werden, wie sie gar nicht mehr Wahrheit sind, weil sie zusammenwachsen mit dem, was äußerer Schein ist. Wie sollte aus dem Schein, in dem die Seele lebt, etwas werden, was sich zum Heile der Menschheit entwickeln kann? Wie sollten die Menschen anders als äußerlich aufeinanderplatzen in so furchtbarer Weise, wie es gegen­wärtig der Fall ist, wenn sie sich ganz verstricken in die Dinge, die aufeinanderplatzen?

Wir müssen schon, wenn wir nicht bloß dem Namen nach oder aus ein paar unbestimmten Gefühlen heraus, sondern im tiefsten Sinne des Wortes Geisteswissenschafter sein wollen, wir müssen schon gerade das Leben mit den Mitteln betrachten, die uns die Geisteswissenschaft heute gibt. Nirgends sieht man heute das Leben nach seiner wahren Gestalt betrachten, weil man überall den Geist flieht, und aus dem Ungeistigen heraus das Leben zur Entwickelung bringen will. Was nützt es, wenn man so im allgemeinen als eine abstrakte Wahrheit das in sich trägt, was Geisteswissenschaft sagt, und man dann, wenn man das äußere Leben betrachtet, ein ganz anderer Mensch ist und nicht anwendet dasjenige, was uns die Geisteswissenschaft gibt? Nicht bloß darauf kommt es an, daß man weiß: der Mensch besteht aus physischem Leib, Ätherleib, Astralleib und Ich und es gibt Ahriman und Luzifer, son­dern darauf kommt es an, daß wir in echt wissenschaftlichem Sinne verwenden können diese Begriffe ahrimanisch, luziferisch, wie der Phy­siker verwenden kann die Begriffe positive und negative Elektrizität, wenn er diese Erscheinungen prüft.

Wir schauen das Leben an, und für uns bleiben die Begriffe Agrarier und Industrieller nicht bloß abstrakte Begriffe, sondern sie beleben sich vom Innern des Denkens aus, indem wir sie mit den Begriffen luziferisch und ahrimanisch durchdringen, wie wir es eben getan haben.

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Gewiß, man tritt mit solchen Charakteristiken auf dünnes Eis, und die Menschen hören die Dinge heute nicht gern, aber die Menschen müssen sich gewöhnen, die Wahrheit zu hören. Ehe sie sich nicht gewöhnen, die Wahrheit zu hören, eher kommt kein Heil in unsere verworrene Zeit. Innig zusammen hängt schon das Begreifen des menschlichen Lebens mit dem, was Heil und Heilung den Übeln unserer Zeit brin­gen soll.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 7. August 1917

Ich sagte, daß ich aphoristische Ergänzungen zu mancherlei bringen wollte, das in der letzten Zeit betrachtet worden ist. Diese Betrachtun­gen gingen ja vorzugsweise darauf hinaus, zu zeigen, was gegenüber den geistigen Zeitströmungen, gegenüber dem Grundcharakter der gei­stigen Zeitströmungen vonnöten ist. Sie gingen darauf hin, zu zeigen, wie aus der Geisteswissenschaft, wie wir sie hier meinen, dasjenige kommen könne, was einfließen muß in das Denken, Fühlen und Wollen der Zeit. Denn daß solches einfließen muß, das könnte ja heute schon manchen auch aus einer oberflächlichen, aus einer äußeren Betrachtung der Zeitereignisse klar sein.

Beginnen möchte ich damit, zu zeigen, wie einem, ich möchte sagen, heute auf Schritt und Tritt entgegenkommt dasjenige, was durch Gei­steswissenschaft allein geheilt werden kann. Ich könnte ja, um dies zu zeigen, zu zeigen in Verbindung mit mancherlei in der letzten Zeit Gesagtem, selbstverständlich auch irgend etwas anderes herausgreifen; ich will einen Aufsatz, der in den letzten Tagen hier in einer Berliner Zeitung erschienen ist, herausgreifen, und der überschrieben ist «Staats-Physiologie». Es ist ja notwendig, wenn man eine Betrachtung der Zeit anstellt, auf solche Symptome wohl zu achten, denn in ihnen spricht sich ja aus die Art und Weise, wie die Zeitgenossen denken, fühlen, was sie wollen und dergleichen. Wenn man sich nicht in einer einseiti­gen Weise bloß in eine Polemik oder dergleichen über einen solchen Aufsatz ergeht, sondern wenn man ihn betrachtet wie herausfließend aus der ganzen Natur und dem ganzen Wesen unseres Fühlens und Denkens, so kann man an einer solchen Erscheinung gar mancherlei zeigen. Der Aufsatz hat zum Verfasser Max Verworn, den ich hier oftmals genannt habe, Max Verworn, der in seinem Fache als höchste Autorität geltende Max Verworn. Und Verworn, der berühmte Pro­fessor der Physiologie, setzt sich zur Aufgabe, zu zeigen, wie die Poli­tik beeinflußt werden müsse durch dasjenige Denken, an das er ge­wöhnt ist. Man kann sich das schon denken, es ist fast selbstverständlich,

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denn wie sollte nicht jeder glauben, daß sein Denken das beste sei, und daher gerade sein Denken als dasjenige anempfehlen, nach dem sich die wichtigsten Angelegenheiten der Zeit zu richten haben. Nun, wenn man diesen Aufsatz «Staats-Physiologie» durchliest, be­kommt man ein eigentümliches Gefühl. Zunächst erinnert einen dieser Aufsatz wiederum einmal daran, wie unrecht diejenigen haben, die da glauben, daß der krasseste Materialismus aus der Wissenschaft heute schon vertilgt sei. Manche sagen das, manche, die gerade vollständig in den Klauen dieses Materialismus sind, und nur weil sie sich ein paar Begriffe hingezimmert haben, die sie als Philosophie anschauen, glauben sie, den Materialismus überwunden zu haben. Wie wenig sie den Mate­rialismus überwunden haben, das zeigen einige Sätze dieses Aufsatzes einer der naturwissenschaftlichen Autoritäten der Gegenwart. Wir brau­chen nur solche Sätze vor unsere Seele zu führen: «Die Tierwelt stellt den allgemeineren Begriff vor, der auch den speziellen Fall des Men­schen mit einschließt, sowie die Tierwelt selbst wieder einen speziellen Fall des noch umfassenderen Begriffs der Organismenwelt bildet.» Das heißt: Will man etwas wissen über den Menschen, so wendet man sich an die Tierwelt; will man etwas wissen über die Tiere, so wendet man sich an den allgemeinen Begriff des Organismus. Jedenfalls findet diese bedeutende Autorität, daß man vor allen Dingen die Verhältnisse im politischen Leben studieren müsse nach dem Muster, wie man studiert, das heißt, wie er, der Professor Max Verworn, die Verhältnisse inner­halb der Tierwelt studiert. Denn er entdeckt das Bedeutsame:

«Diese Tatsache kann heute» - nämlich daß der Mensch dieser spe­zielle Fall der Tierwelt ist - «niemand mehr verkennen, der nicht an der gesamten Entwickelung der Biologie ahnungslos vorbeigegangen ist. Der Mensch steht der übrigen Tierwelt nur insofern gegenüber, als er sich von ihr durch gewisse besondere Merkmale unterscheidet, zum Beispiel auch durch seine Kulturproduktion, aber deshalb ist und bleibt er doch ein tierischer Organismus, der in seinem gesamten Verhalten den allgemeinen Gesetzen unterworfen ist, die jeden tierischen Orga­nismus beherrschen. » - Man kann schon sagen: dies ist, mehr oder weniger ausgesprochen, trotz aller Gegendeklamationen dennoch die Grundüberzeugung der heutigen offiziellen Wissenschaft. Und wenn

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sie auch theoretisch mit dieser oder jener Bemerkung oftmals darüber hinausgeht, so muß man sich dennoch klar sein darüber, daß die ganze Art und Weise des Denkens, die ganze Art und Weise Wissenschaft zu treiben, heute in dem Lichte einer solchen Betrachtungsweise steht. Und die Konsequenz ist, daß Verworn dazu kommt, zu sagen, «man könne sich davon überzeugt halten, daß unsere ganze Kulturentwickelung nichts anderes ist als ein spezieller Fall der organischen Entwickelung überhaupt.» - Also alles das, was unsere Kulturentwickelung ein­schließt, ist ein spezieller Fall der organischen Entwickelung überhaupt. Das heißt: studieren wir, wie das Tier frißt, wie es verdaut, wie es sich nach und nach entwickelt, wie die einzelnen Zellen im tierischen Organismus miteinander arbeiten und übertragen wir dann diesen Begriff auf das Leben der Familie, der Korporationen, sonstiger kleinerer Organismen im großen Organismus Staat, so haben wir eine richtige Grundlage für eine theoretische Politik, im Sinne Ver­worns. «Wir werden nur gesund denken auf diesem Gebiet», meint er, «wenn wir versuchen, den

» - wie er ihn nennt -«uns zu denken als einen großen Organismus.» - Denn er findet, daß, wenn man die Zellen und Zellenverbände, die sich vorfinden in einem tierischen Organismus, betrachtet - und seiner Ansicht nach ist der menschliche Organismus nichts anderes als der tierische Orga­nismus -, daß sie dann in einem solchen Zusammenhang stehen, gegenseitig voneinander abhängig sind und so weiter, wie die einzelnen Körperschaften innerhalb eines politischen Staates. Nun, meint Ver­worn, unterliege die tierische Organisation zunächst der Entwickelung. Die Entwickelung stellt er sich allerdings in einer eigentümlichen Weise vor. Er sagt: «Eine allgemeine Eigentümlichkeit alles Lebendigen ist die Tatsache der Entwickelung.» Worin besteht bei ihm aber die Ent­wickelung? Die Entwickelung besteht bei ihm darin, daß sich dasjenige, was er Organismus nennt, an die Lebensverhältnisse anpaßt. Entwicke­lung ist also dasjenige, was entsteht, indem das organische, das Lebe­wesen, sich an die Lebensverhältnisse anpaßt. Ja, nun stolpert er ja gleich in den ersten Spalten, denn da sagt er: «Eine der niederen Orga­nismen, zum Beispiel die Amöbe ist ja zweifellos auch schon ihren Lebensbedingungen angepaßt, sonst würde sie ja nicht lebensfähig sein,

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sondern zugrunde gehen.» - Nun entsteht der Haken: Der niederste Organismus ist schon den Lebensverhältnissen angepaßt; warum ent­wickelt er sich denn weiter, wenn er doch angepaßt ist, wenn Entwicke­lung die Anpassung an die Lebensverhältnisse ist? Sehen Sie, in der Verwertung der Begriffe und Vorstellungen kennt dasjenige, was heute Wissenschaft ist, nicht einmal die allerersten Anfangsimpulse, die in uns sein mussen, denn es würde sofort der ganze Begriff der Entwicke­lung zerfallen, wenn man solch einen Satz ernst nehmen würde, wie Verworn ihn hier selber ausspricht. Aber das hindert nicht, nachdem er diesen ausgesprochen hat, einen anderen darauf zu bauen: «Ein Ver­gleich der verschiedenen Organisationsstufen, die wir in der Organis­menwelt finden, zeigt uns nun, daß die zunehmende Vervollkomm­nung besteht in der immer reicheren und besseren Ausgestaltung der physiologischen Mittel zur Erhaltung des Lebens bei den verschieden­artigsten Änderungen der Lebensbedingungen. » Aha! während die Amöbe, der niederste Organismus, schon angepaßt ist an die Lebens­bedingungen und daher nicht nötig hat, sich zu entwickeln, konstruiert Verworn den Begriff dahin, daß er sagt: Es soll aber immer besser angepaßt werden. Woher kommt denn ein solcher Impuls des Besser­Anpassens? Es ist kein Grund vorhanden in der Amöbe, denn «wenn sie nicht angepaßt wäre, müßte sie zugrunde gehen», sagt er selbst. Das heißt: Die Leute sind in jedem Augenblick bereit, solches Zeug auszu­sprechen und das gesamte Publikum ist darauf dressiert - weil man ja gar nicht autoritätsgläubig ist -, solche Gedanken-Bocksprünge in aller Geduld hinzunehmen und sie für den Ausfluß großer Wissenschaft zu halten und darauf allerlei anderes Zeug zu bauen. Mit solchen Be­griffen wird nun gearbeitet auf dem Gebiete der Physiologie. Im einzel­nen schadet es nicht viel, denn das, was die Physiologie zu verarbeiten hat, hat man unter dem Mikroskop. Wenn man die Tatsachen erzählt, kann man noch so falsche Begriffe aufbauen, man kann die schön­sten Entdeckungen machen, weil das, was man unter dem Mikroskop hat, die Entdeckungen zeigt; man kann ein großer Physiologe sein und kann ein Dummkopf in bezug auf die Verarbeitung von irgendwelchen Begriffen sein. Aber der Schaden wird ungeheuer, wenn man dann die Prätention hat, zu glauben, daß man solche Begriffe, deren Torheit

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nicht zutage tritt, wenn man die Objekte vor sich hat, in das sozial­politische Leben einführen könne, wo die Begriffe selbst das Richtung­gebende sein müssen, wo sie, wenn sie sich verwirklichen, zur verwirk­lichten Torheit werden. Das ist eines, was in Betracht gezogen werden muß, wo die große Lebenstragik beginnt.

Derjenige, der ein wenig etwas weiß von der geistigen Entwickelung der Gegenwart, der muß freilich erstaunt sein über die Ignoranz, über die Unwissenheit, die gerade bei bedeutenden Forschern heute herrscht. Gedankenlosigkeit auf der einen Seite, Unwissenheit auf der anderen Seite. Denn von einer berühmten Autorität tritt einem solch eine For­derung entgegen, wie ich es charakterisiert habe. Man fragt sich ver­geblich: Weiß ein solcher Herr nicht, daß der Versuch vor nicht so langer Zeit, aus ebenso unklaren Begriffen heraus allerdings, gemacht worden ist? Man nehme sich die drei Bände Schäfiles, des einstigen österreichischen Ministers: «Bau und Leben des sozialen Körpers.» Da wurde versucht, den Staat nach dem Muster des Zellenorganismus zu denken. Die Sache ist also schon gemacht und hat Fiasko erlebt. Es ist derselbe Schäffle, der dann ein Buch geschrieben hat, welches betitelt ist «Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie», worauf Hermann Bahr als ganz junger Mann eine Gegenschrift geschrieben hat: «Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle.»

Das ist die Unwissenheit, daß man heute immer wieder und wieder­um an derselben Stelle anfängt, ohne zu ahnen, daß derlei Dinge längst Fiasko gemacht haben. Würde man nicht einen allgemeinen Einfall ein­fach so hinwerfen, so würde man, bevor man einen solchen Gedanken hat, so etwas vornehmen wie Schäffles Werk «Bau und Leben des sozia­len Körpers». Man kann fragen: Wie kommt denn Verworn überhaupt dazu, diesen Gedanken zu fassen? Das ist nun ganz besonders inter­essant. Denn, sehen Sie, einmal, vor nicht zu langer Zeit, vor ein paar Jahrzehnten, hat Virchow über den Aufbau des menschlichen Organis­mus, überhaupt des tierischen Organismus sprechen wollen. Im tieri­schen Organismus sind verschiedene Zellensysteme, die zusammenge­hören, zusammenarbeiten.Was hat er getan, um einen Begriff zu haben, eine Vorstellung, die zusammenfaßt diese einzelnen Zellensysteme? Nun, Virchow hat, um einen Begriff, ein Wort dafür zu bekommen, den

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tierischen Organismus einen «Zellenstaat» genannt. Das heißt, er hat den Begriff des Staates genommen, wie er um uns herum liegt, und hat den tierischen Organismus mit dem Staate verglichen. Was tut Verworn? Weil Virchow den Begriff des Staates genommen hat, um den tierischen Organismus zu charakterisieren, macht Verworn sich wiederum daran -nachdem nun der Begriff des Staates hineingenommen ist -, diesen Staat wiederum herauszuklauben, und vom tierischen Organismus aus nun die ganze Geschichte auf den Staat anzuwenden. Ist das nicht wie eine Geschichte des berühmten Münchhausen, der sich am eigenen Schopf in die Höhe zieht?

Das ist die Gedankenlosigkeit, nur ein Beispiel der Gedankenlosig­keit, die Sie heute auf Schritt und Tritt finden. Der eine macht sich an den Staat und trägt ihn in den Organismus hinein, der andere trägt wiederum den Organismus in den Staat hinein. Für diejenigen Men­schen, die immer nur das eine mitmachen, und keinen Begriff haben davon, wann einmal irgend etwas hineingetragen ist, was der andere wieder herausholt, für diese Menschen wird die Sache allerdings un­durchsichtig. Aber so ist die Sache. Die Menschen suchen heute unter dem Einfluß all der populären Anleitungen, die aus dieser «großen Wissenschaft» kommen, festen, sicheren Lebenshalt, und können ihn nicht finden. Die Seelen verlieren sich. Warum verlieren sich diese Seelen? Weil ihnen die Wissenschaft solche Münchhausenschen Helden darbietet, die allerdings nicht gut stehen können. Solche Begriffe wer­den als Einfälle einfach hingeworfen. Würde man im einzelnen auf die Dinge eingehen, würde man auch nur sich die Mühe nehmen, wie­derum zurückzugehen zu seinen eigenen Begriffen, um diese dann an-zuschauen, dann würde man finden, was man zuweilen für Tollheiten sagt. Also zum Beispiel: «Es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis einer Zellenorganisation von der anderen. Die besteht nicht in einer Geltend­machung der Macht der einen Zellenart zur Unterdrückung der anderen, sondern in einer Förderung ihrer spezifischen Eigenart im Interesse der sozialen Gesamtheit und damit wieder jedes einzelnen Individuums.» Er meint jetzt den Organismus. Bei den Zellenverbänden soll es so sein, daß die beiden in Abhängigkeit sind, daß das eine das andere aber ganz besonders fördert. Und wie sich die Zellensysteme im Organismus

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gegenseitig fördern, das soll man nun als Musterbild hinstellen für einen Gedanken, der eine Staatsstruktur geben soll. Man soll zum Bei­spiel den Gedanken fassen, daß die Gehirnzellen, also ein Zellenver-band, die Blutzellen, um tätig sein zu können, brauchen, aber sie ganz in ihren Dienst stellen. Was würde herauskommen, wenn man in einem Staatsorganismus etwas Ähnliches schaffen würde, wie den Gebrauch der Blutzellen durch die Gehirnzellen und dergleichen? Also die Sache ist so gedankenlos, daß man nur irgendwo mit einer Einzelheit anzu­fangen braucht, und man sieht sofort: man hat es zu tun mit einem ganz tollen Einfall, mit einem wahnsinnigen beziehungsweise schwach-sinnigen Einfall; doch Schwachsinn ist ja nur ein spezieller Fall des Wahnsinns. Das Beste aber ist wohl dieses, daß Herr Verworn findet, daß, so wie sich die einzelnen Zellverbände zueinander verhalten, die einzelnen Staatsteile sich verhalten sollen, denn dann käme das richtige heraus von dem, was er den Begriff der Freiheit nennt.

«Das ist ein ungemein wichtiges Prinzip und ein genaues Studium der speziellen Wege, welche die Entwickelung des tierischen Zellen-staates in dieser Richtung eingeschlagen hat, vermag uns eine Richtung zu geben für entsprechende Organisationsfragen im sozialen Organis­mus des politischen Staates. Vor allem wird hier der Begriff der auf seine natürliche und einzig richtige Fassung ge­bracht und von dem törichten Beiwerke befreit, das so üppig an ihm emporgerankt ist.» Also der Begriff der Freiheit soll dadurch gefunden werden, daß man zum Beispiel studiert, wie die Gehirnzellen die Blut­zellen brauchen - die Blutzellen haben nämlich ihre Freiheit gegenüber den Gehirnzellen! Er möchte nun die Sache durchführen. Das Nerven­system sieht er an als das, was im Organismus ist für den Verwaltungs­apparat im Staate. Der oberflächlichste Vergleich, der sich nur über­haupt bieten kann. Die Nerven gehen nach den Sinnesorganen hin. Wenn man nun wirklich vergleichen würde: Wo sind nun die Augen, wo sind die Ohren des Staates?

Treibt man Geisteswissenschaft, dann kommt man zu überragenden, zu übergeordneten Begriffen; die sind dann anwendbar auf dasjenige, was in geistigen Zusammenhängen ist, und auch auf dasjenige, was in einem solchen Zusammenhang ist, wie der tierisch-menschliche Organismus.

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Aber wenn man seine Begriffe - und noch dazu in einer solchen Weise, wie es hier geschehen ist - in einseitiger Weise nur vom mensch­lichen Organismus nimmt, dann kann man überhaupt nimmermehr zu irgend etwas kommen.

Aber das schönste ist, daß die Gedankenlosigkeit geradezu himmel­schreiend wird. Das sieht man zum Beispiel an einem solchen Satz:

«Dieser Zustand wird aber in der organischen Entwickelung des tie­rischen Zellenstaates erst vollkommener erreicht auf einer weiteren Etappe durch das Prinzip der Zentralisation. Das ist nur möglich, wenn die Arbeit der einzelnen Zellen und Zellengruppen je nach dem momen­tanen Bedürfnis regulatorisch geleitet wird von einer zentralen Stelle aus, die imstande ist, die Bedürfnisse auf Grund ihrer Informationen zu beurteilen. » Das heißt ungefähr, das Gehirn informiert sich bei den anderen Zellengruppen. Und Verworn führt die kindischesten Begriffe ein. So wie wenn das Gehirn Boten ausschickte zum Magen und der­gleichen. Also hier wird die Gedankenlosigkeit eine himmelschreiende Tatsache.

Was ist nach Verworn Kultur? Die Ohren kann man sich verstopfen, um nicht zu hören, die Augen kann man sich verbinden; man denke sich einmal hypothetisch, es könne sich jemand den Verstand verstop­fen, dann könnte man ungefähr eine solche Definition von Kultur geben: «Die Mittel, die sich der Mensch für diese vollbewußte Stellung­nahme zu den Vorgängen in seiner Umgebung selbst geschaffen hat, und die er als Mittel seiner Anpassung an alle Vorkommnisse in seinem Leben benutzt, bilden in ihrer Gesamtheit seine Kultur: denn die Kul­tur ist nichts anderes, als die Gesamtheit der vom Menschen selbst geschaffenen Werte zur Erhaltung und Förderung seines Lebens.» Also die Kultur ist die Gesamtheit der von Menschen geschaffenen Werte zur Erhaltung und Förderung des Lebens. Man muß den Verstand verstopft haben, denn zweifellos hängt es auch mit der Kultur zusam­men, daß man heute so vorzügliche Mordinstrumente hat. Man schaue sich den ganzen Prozeß an, in den die Kultur da hineingelaufen ist, und definiere einmal, daß das alles geschaffen ist von Menschen zur Erhaltung und Förderung des Lebens. Würde jemand diesen Teil der Kultur etwa so schildern, daß er geschaffen ist zur Bedrängung und

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Vernichtung des Lebens, dann würde er von einem Teil der Kultur wenigstens das Richtige aussagen. Man muß also den Verstand verloren haben, um solche Worte zusammenzustellen. Aber das ist doch auf Schritt und Tritt so zu finden in dem, was heute sich Wissenschaft nennt. Und dann kommt solche Wissenschaft und findet: «Die Produktion von Kulturwerten ist aber durchaus nicht bloß eine physiologische Funktion des einzelnen Individuums, sondern sie ist zum großen Teil eine spezi­fische Funktion des politischen Staates, nämlich insofern, als viele Kul­turwerte überhaupt nicht von einem einzelnen Individuum, sondern als soziale Leistung durch das Zusammenwirken zahlreicher Einzelindivi­duen hervorgebracht werden können. Der politische Staat ist also als Ganzes ebenso ein Kulturorganismus wie der einzelne Mensch.

Nach alle dem liegen die engen Beziehungen der Politik zur Physio­logie auf der Hand, und es wird Zeit, daß man daraus die praktischen Folgerungen zieht, indem man in der Politik den physiologischen Grundlagen des menschlichen Staates Rechnung trägt und sich für alle organisatorischen Probleme des Staatslebens Rat holt beim lebendigen Organismus.» Besser gesagt, meint natürlich Verworn, bei Verworn, nach dem was er ja weiß über den menschlichen Organismus.

Ja, man muß manchmal solche Symptome herausholen, denn sie sind ja dasjenige, dem die heutige Menschenseele ausgesetzt ist. Diese unglückselige Menschenseele der Gegenwart, die gerne etwas wissen möchte über die Art und Weise, wie sie selber hineingestellt ist in diesen großen Weltorganismus, und der man dann von der Art und Weise, wie sie in den großen Weltorganismus hineingestellt ist, derlei Dinge erzählt. Es ist deshalb außerordentlich schwierig, sich heute überhaupt mit einer großen Anzahl von Menschen, die gerade tonangebend sind auf dem wissenschaftlichen Gebiet, auch nur irgendwie zu verständigen, denn kann man sich überhaupt nur dem Wahn hingeben, daß so jemand wie Verworn auch nur die allergeringsten elementaren Sachen aus der Geisteswissenschaft irgendwie verstehen kann? Daran ist ja gar nicht zu denken. Nur daran ist zu denken, daß Geisteswissenschaft durch ihre eigene Kraft immer mehr und mehr Menschenseelen tragen muß, damit dann überwunden werden solche wissenschaftlichen Torheiten mit ihren ungeheuerlichen Prätentionen. Widerlegen oder sich verständigen

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ist da aussichtslos. Hier kann es sich nur um Überwindung han­deln, indem eine genügend große Anzahl von Menschen verstehen lernt, wohin die Menschheit geführt wird, wenn noch weiterhin dasjenige, was sich heute Wissenschaft nennt, tonangebend bleiben darf und sich gar hineinnisten darf in diejenigen Lebensimpulse, in denen die Begriffe selber Gestalt gewinnen, Tatsachen werden. Es ist eine sehr ernste Sache, die durchaus ernst ins Auge gefaßt werden muß. Die Gedanken­losigkeit zum Beispiel, sie liegt schon in den allerersten Anfängen. Wo man hinsieht, überall tritt einem die Sache entgegen. Und das möchte man so gerne erreichen, daß eine genügend große Anzahl von Menschen da wäre, welche das, was einem sozusagen jeden Tag dreimal ins Haus geschickt werden kann, betrachtet mit dem Geiste, der jetzt ein wenig charakterisiert worden ist.

Gerade auf die richtige Bewertung dieser Dinge kommt ungeheuer viel an. Man liest eine berühmte Rede von Virchow. Wie geht man heute vor? Virchow ist ein berühmter Mann, ein ungeheuer bedeuten­der Mann gewesen. Man stellt sich von vornherein - autoritätsgläubig ist man heute ja nicht - auf den Standpunkt: Ja, was ein so berühmter Mann sagt, ist selbstverständlich ein Dogma; das muß absolut stimmen. Aber sagen wir, es stimmt einmal. Dann kann man auch noch eine Tor­heit begehen, wenn man dieses Stimmen wiederum nicht in der rich­tigen Weise zu seiner Vorstellungskonsequenz weiterleitet. Da gab es einmal auf einer Münchener Naturforscherversammlung von Haeckel und von Virchow eine Rede über die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehren. Virchow sprach sich darüber aus, daß man nicht aus der Entwickelungslehre weitere Schlüsse ziehen solle. Er hatte manches Berechtigte gegen Haeckel gesagt, sich vor allen Dingen gewendet da­gegen, daß man den Darwinismus sogleich in die Schule hineintragen soll, wo er doch nur dazu dienen könne, Mucken in die Gemüter der Menschen zu setzen. In dieser Rede kann man den folgenden Satz lesen:

«Das, was mich ziert, ist die Kenntnis meiner Unwissenheit. Das ist das Wichtigste, daß ich genau weiß, was ich von Chemie nicht verstehe. Wüßte ich das nicht, dann würde ich allerdings immer hin und her schaukeln.» Nun, das ist schön, wenn der Virchow gesteht, daß er weiß,

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daß er von Chemie nichts versteht. Aber diejenigen, die Virchowianer sind, werden es zwar ablehnen, in chemische Dinge sich einzulassen, weil sie sagen, daß sie nichts davon verstehen, aber sie werden jeden für einen Narren oder Phantasten halten, der zur Geisteswissenschaft sich bekennt. Würden sie dasjenige, was Virchow selber in bezug auf die Chemie gesagt hat, auf die Geisteswissenschaft ausdehnen, so wür­den sie sagen: Es ist das Wichtigste, daß ich genau weiß, was ich von der Geisteswissenschaft nicht verstehe. Aber da handeln sie nicht so. Da ist vor allen Dingen eine gleiche Gesinnung nicht vorhanden. Also auch bei den Dingen, die gesagt werden, handelt es sich darum, daß man die richtigen Konsequenzen zu ziehen vermag.

Das neunzehnte Jahrhundert war in vieler Beziehung dennoch groß, aber man muß dasjenige, was in ihm groß war, in der richtigen Weise verstehen. Und man muß vieles von dem, was jetzt allgemeines Mensch­heitsschicksal ist, in Zusammenhang bringen mit der Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts. Haltlose Seelen, Seelen, die sich nicht zu­rechtfinden in der Welt, sie sind jetzt sehr zahlreich. Es sind zumeist Seelen, welche aus einem instinktiven Bedürfnis heraus nach etwas anderem dürsten als ihnen nach den traditionellen Überlieferungen gebracht wird; Seelen, die sich in vielem umgeschaut haben, die aber irgend etwas, von dem sie verspüren würden, daß es ihnen sicheren Halt gibt, nicht finden können. Was braucht der Mensch, um - ich will nicht sagen, um in einem Augenblick einen sicheren Halt zu bekommen, das haben wir ja genügend zurückgewiesen in den letzten Betrachtun­gen hier, das ist nicht möglich, so wie man sich nicht durch eine Mahl­zeit für das ganze Leben ernähren kann -, was braucht der Mensch, um auf einem sicheren Wege zu gehen? - das ist vielleicht besser gesagt. Nun, was er vor allen Dingen braucht, das ist das Bewußtsein des Drinnenstehens im Weltenall. Alle Schwachheiten der Seele, alle Un­befriedigtheiten der Seele, sie kommen aus dem seelischen Sich-allein-Fühlen, aus dem Sich-nicht-drinnenstehend-Fühlen in der Welt. Es ist gewissermaßen die große Frage des Lebens: Wie stehe ich in der Welt darinnen? - Es ist zunächst recht abstrakt ausgesprochen, aber in diesem abstrakten Satze liegt ungeheuer Bedeutungsvolles, liegt ungeheuer viel, es liegt das tiefste menschliche Schicksal darin.

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Wenn heute aber der Mensch bei den naturwissenschaftlichen Vor­stellungen anfragt, um eine Befriedigung zu erlangen für die Frage:

Wie stehe ich im Weltenall darinnen? - da gibt ihm im besten Falle diese naturwissenschaftliche Weltanschauung die Möglichkeit, eine Ant­wort zu bekommen auf die Frage, wie der physische Leib in der ganzen Entwickelung, im ganzen Weltenall drinnen steht. Das kann man ja bis zu einem gewissen Grade heute wissen, wie der physische Leib im Weltenall drinnen steht. Aber nichts, auch nicht das allergeringste sagt diese naturwissenschaftliche Weltanschauung über das Darinnenstehen der Seele oder gar des Geistes im Weltenall. Vergleichen Sie die geistes-wissenschaftliche Entwickelungslehre mit der naturwissenschaftlichen Entwickelungslehre von heute. Die naturwissenschaftliche Entwicke­lungslehre führt auf tierische Gebiete - wie man sich die Vorstellung macht, mag Nebensache sein -, Geisteswissenschaft stellt den mensch­lichen Leib in das ganze Weltenall hinein. Geisteswissenschaft führt uns zurück durch die verschiedenen Phasen der irdischen Entwickelung, der Mondenentwickelung, der Sonnenentwickelung bis zur Saturnentwicke­lung, und sie zeigt uns, daß dasjenige, was in uns als Menschen seelisch-geistig lebt, zur Zeit der Saturnentwickelung schon veranlagt war. Vom ganzen Physischen war dazumal überhaupt nichts vorhanden alsWärme­zustände. In Zusammenhang werden wir gebracht mit Wärmezuständen der Ururzeit, die durchwogt und durchwellt war von den einzelnen Wesenheiten der Hierarchien, die heute noch um uns leben. In ein Wel­tenall werden wir hineingestellt, worinnen Geist und Seele stehen. Das ist der große Unterschied. Geisteswissenschaft stellt unsere Seele und un­seren Geist in ein großes All hinein, das sie im einzelnen zu beschreiben vermag. Sie allein kann daher der Seele dasjenige geben, ohne das sich die Seele selbst vernichtet denken muß. Und die Unbefriedigtheiten, die Haltlosigkeiten der heutigen Seelen, sie sind nur der Reflex des heutigen Denkens. Das Denken erklärt nur den menschlichen Leib als im Weltenall drinnenstehend. Es übersieht die Seele. Das ist der eine Aspekt. Der andere ist der, daß sich die Seele nun auch nicht erfühlt, daß sie nichts an sich hat, an das sie sich selber halten kann. Das ver­hindert aber, daß die Seelen in sich Gemütsstärke finden; das kann nicht kommen, ohne daß wir zu Vorstellungen gelangen über das Weltenall,

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die den Menschen enthalten in seinem Seelisch-Geistigen, so wie die naturwissenschaftlichen Vorstellungen den physischen Menschen ent­halten als einen Teil des physischen Weltenalls in seiner physischen Entwickelung.

Dazu ist es notwendig, daß der Mut, der sich heute in äußeren Dingen in so glorioser Weise zeigt, nun wirklich auch auftritt in bezug auf das menschliche Innere. Denn vor dem Verfolgen des inneren Lebens er­weist sich die heutige Seele des Menschen ganz und gar nicht mutig. Es ist überall ein Zurückweichen vor dem geistigen Inhalte der Welt. Und das führt dann zu so unzähligen Beispielen von Seelenhaltlosigkeiten, die uns heute überall begegnen. Es ist freilich vieles notwendig, wenn die vertrackten Vorstellungen der Gegenwart einmal gesunden Vor­stellungen weichen sollen. Es sind ja heute noch immer auf der einen Seite, sagen wir, die atomistischen Vorstellungen vorhanden, wenn man auch von der alten Klotzatomistik übergegangen ist zu der heu­tigen Ionen- und Elektronenatomistik. Aus Atomen besteht das­jenige, was wir um uns haben. Das meint die heutige Weltanschauung. Und viele stellen sich ja vor, alles müßten sie zurückführen auf klein­ste atomistische Gebilde. Ja, so stellen sich die Menschen dasjenige vor, was sie den Stoff nennen, Stoff: aus kleinsten Teilen, aus Atomen bestehend. Manche, sogar die größere Zahl, fügt dann zu dem Stoff noch die Kraft hinzu, daß Stoffteile sich anziehen und abstoßen; aber dann glauben sie sich genug getan zu haben. Und wir haben ja im neunzehnten Jahrhundert gesehen, die ganze bedeutungsvolle Periode durch die Entwickelung der Menschheit ziehen, die ihren klassischen Ausdruck gefunden hat in all den Werken, welche das Weltenall er­klärt haben aus dem Aufbau von Kraft und Stoff.

Nun wollen wir einmal an diesem Beispiel uns klarmachen, wie man wird umlernen müssen, um zu ermessen, was eigentlich heute alles vonnöten ist. Halten wir daran fest: Die Stoffler - so nennen wir sie einfach - stellen sich vor, die Welt bestände aus Atomen. Was zeigt uns Geisteswissenschaft? Gewiß, die Naturerscheinungen führen uns auf solche Atome zurück, aber was sind sie, diese Atome ? Sobald die erste Stufe der schauenden Erkenntnis eintritt, die allererste Stufe, die ima­ginative Stufe, da entpuppen sich die Atome als dasjenige, was sie

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sind. Ich habe ja vor vielen Jahren schon in öffentlichen Vorträgen darauf hingewiesen, als was sie sich entpuppen, in verschiedenen Zu­sammenhängen. Sie entpuppen sich nämlich in einer ganz eigentüm­lichen Weise, diese Atome. Nach den Stoffiem ist der Raum leer, und da drinnen, da wackeln die Atome herum. Also sie sind das Aller-festeste. Aber so ist es nicht, das Ganze beruht auf Täuschung. Die Atome sind nämlich Blasen vor der imaginativen Erkenntnis, und da, wo der leere Raum ist, da ist die Wirklichkeit; und die Atome be­stehen gerade darin, daß sie zu Blasen aufgetrieben sind. Blasen sind das. Da ist gerade nichts, gegenüber ihrer Umgebung. Wissen Sie, wie tn einer Selterswasserflasche die Perlen: es ist nichts im Wasser, wo die Perlen sind, aber man sieht dort die Perlen. So sind die Atome Blasen. Da ist der Raum hohl, da ist nichts drinnen. Ja, aber man kann doch darauf stoßen! Das Daraufstoßen, das besteht aber gerade darin, daß man an die Hohlheit stößt, und daß einem die Hohlheit, indem man darauf stößt, eine Wirkung verursacht. Ja, aber das Nichts soll eine Wirkung verursachen? Nehmen Sie einmal den fast luftleeren Raum in dem Luftpumpen-Rezipienten, da können Sie sehen, wie die Luft hineinfließt in das Nichts. Wenn Sie es falsch interpretieren wollen, können Sie das, was in der Glocke der Luftpumpe nicht darinnen ist, eine Substanz nennen und sagen, es schieße die Luft herein.

Gerade dieselbe Täuschung besteht in bezug auf die Atome. Es ist gerade das Gegenteil wahr.Sie sind leer - und doch wiederum nicht leer. Es ist doch etwas darinnen, in diesen Blasen. Was ist in diesen Blasen darinnen? Nun, auch darüber habe ich schon Betrachtungen angestellt, was in diesen Blasen darinnen ist, das ist nämlich die Sub­stanz des Ahriman, da steckt er drinnen, da ist er eigentlich in seinen einzelnen Teilen drinnen, Ahriman. Das ganze Atomsystem ist ahri­manische Substantialität, Ahriman. Daher auch die Wandbildung. Denken Sie, zu welcher merkwürdigen Metamorphose der Stoffleridee wir da kommen. Wir müssen an diejenigen Stellen des Raumes, wohin die Stoffler ihren Stoff setzen, den Ahriman setzen. Da ist überall Ahriman.

Kraft, das ist der andere Begriff, den die Kraftler, wie man sie auch genannt hat, zur Konstitution ihres Weltall-Bildes aufrufen. Wiederum

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zeigt die erste Stufe der schauenden Erkenntnis, daß man es bei dem, was als Kraft wirkt, gar nicht zu tun hat mit etwas, sondern da wo die Kraft nicht ist, außer der Kraft, da wirkt etwas. Es ist gerade so, wie wenn zwei Menschen gehen würden und einer beobachtet jetzt:

da gehen zwei Menschen dahin. Er guckt und guckt nun zwischendurch. Sie gehen ein bißchen voneinander entfernt, er guckt auf das und zeich­net nun auf, nicht den einen und den anderen Menschen, sondern die Grenzen des Raumes, der da zwischen beiden ist; er guckt auf das, was zwischen beiden ist. So gucken die Kraftler auf dasjenige, was zwischen der Realität ist. Wo sie sagen: Da ist Anziehungskraft, - da ist in Wirk­lichkeit nämlich gar nichts. Aber links und rechts davon, da ist das­jenige, was wirklich vorhanden ist. Ich müßte allerdings sehr vieles ausführen, wenn ich Ihnen das, was ich nur als Tatsachen hinstellte, in seinen Einzelheiten darlegen wollte. Aber es ist schon heute an der Zeit, daß auch von solchen Dingen gesprochen wird. Denn all der glänzende Unsinn, den man heute zum Beispiel als Relativitätstheorie verzapft, durch welchen Einstein ein großer Mann geworden ist, der wird nur zurückgewiesen werden können, wenn man über diese Dinge klare Begriffe haben wird, die den Wirklichkeiten entsprechen. Wissen Sie, die Relativitätstheorie ist ja so einleuchtend. Nicht wahr, man braucht sich nur vorzustellen, daß, nun ja, wenn in einer Ent­fernung eine Kanone losgeschossen ist, so hört man es erst nach einer bestimmten Zeit. Nun, nehmen wir aber an, wir bewegen uns zur Kanone hin, nicht wahr, so hört man sie früher, weil man ja näher kommt. Nun schließt der Relativitätstheoretiker: Wenn man nun eben­so schnell sich bewegt, wie der Schall geht, dann geht man mit dem Schall, dann hört man ihn nicht. Und geht man gar schneller als der Schall, dann hört man etwas, was später abgeschossen wird, früher als das, was früher abgeschossen worden ist. Das ist ja heute eine allgemein angenommene Vorstellung, nur just steht sie nicht im geringsten Ver­hältnis zur Wirklichkeit. Denn wenn man sich ebenso schnell bewegt wie der Schall, so kann man selber ein Schall sein, aber man kann kei­nen Schall hören. Diese ganzen ungesunden Vorstellungen leben aber heute als Relativitätstheorie und genießen das allergrößte Ansehen.

Nun, wie gesagt, da wo die Kraftlinien sind, die man heute zeichnet

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in der Physik, da ist nichts; aber ringsherum ist - was denn? Das luzi­ferische Element, Luzifer. Wollen wir also irgend etwas vorstellen der Realität gemäß, an den Stellen, wo der Kraftstoffler seine Kraft hin-setzt, dann müssen wir uns dort das Luziferische vorstellen. Schön, nun haben wir dasjenige, was an die Stelle eines anderen treten muß. Wenn also im neunzehnten Jahrhundert ein Buch geschrieben worden ist: «Kraft und Stoff», wo Kraft und Stoff als die das Weltenall konsti­tuierenden Dinge dargestellt sind, so muß das zwanzigste Jahrhundert an die Stelle setzen: Luzifer und Ahriman. Denn Kraft und Stoff decken sich vollständig mit Luzifer und Ahriman. Und dasjenige, was als Kraft und Stoff erklärt werden kann, wird in Wirklichkeit als Luzifer und Ahriman erklärt. Sie werden sagen: Schrecklich! Es ist nichts Schreckliches; denn Ahriman und Luzifer, ich habe es oft betont, sind nur dann schrecklich, wenn man sie im einseitigen Pendelschlag be­trachtet. Im gegenseitigen Verhältnis werden sie gebraucht gerade zur weisen Weltenlenkung, indem sie das eine auf die eine Waagschale, das andere auf die andere Waagschale legt, nur muß ein Ausgleich zwischen beiden stattfinden. Auf diesen Ausgleich sind wir verwiesen, fort­während sind wir an diesen Ausgleich gewiesen. Wir tragen diesen Ausgleich in einer gewissen Weise in uns, und in einer merkwürdigen Weise tragen wir diesen Ausgleich in uns. Erinnern Sie sich der Betrach­tung, in der ich Ihnen gesagt habe, wie merkwürdig wir mit unserem Atmungsprozeß im ganzen Weltenall drinnen stehen. Wir machen in der Minute eine gewisse Zahl von Atemzügen. Rechnet man sich die Zahl von Atemzügen in einem Menschentage aus, so bekommt man, wie ich Ihnen sagte, dieselbe Zahl heraus, welche man als Zahl der Tage, die ein Mensch lebt, wenn er in die Siebzigerjahre hineinkommt, findet. Ein Wunderbares! Wir leben so viele Lebenstage, als wir Atemzüge in einem Tage haben. Das ist aber nur ein Teil einer gewaltigen Zusam­menstimmung von Harmonien im Weltenall. Einer unserer Atemzüge verhält sich zu unseren Lebenstagen, wie sich ein Lebenstag verhält zu unserem gesamten irdischen Leben; und unser gesamtes irdisches Leben wiederum verhält sich zu einem großen Sonnenjahr, zum sogenannten platonischen Jahr gerade so, wie unsere Lebenstage zum gesamten menschlichen Leben und wie ein Atemzug zu einem Tage. Unser Atem

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nämlich steht in einer wunderbaren inneren Beziehung zu dem gesam­ten Kosmos. Würden wir mit unserem Erkennen in ein solches Tempo hineinkommen können, das unser Atem entwickelt, dann würden wir in einer dem Menschen angemessenen Harmonie zum Weltenall stehen. Der Morgenländer versucht es durch seine Atmungsübungen auf man­cherlei Weise, die dem Abendländer aber nicht entspricht; der muß es auf geistige Weise suchen.

Aber im Grunde genommen sind alle die Übungen, die geschildert sind in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», das geistige Korrelat des Abendlandes für dasjenige, was das Morgen­land in der Sehnsucht hat: mit dem Erkenntnisprozeß in das Tempo des Atmungsprozesses hineinzukommen. Wären wir nämlich darinnen, würden wir mit unserem Erkennen in dem Tempo des Atmungsprozes­ses drinnen sein, dann würde uns das Weltenall viele seiner Geheim­nisse enthüllen können; es enthüllt sie uns auch, aber leider nicht unse­rer Erkenntnis - wenn man in diesem Falle leider sagen kann -, sondern dunklen Gefühlen, die noch dazu manchen Täuschungen unterworfen sind. Dagegen unsere Erkenntnis, die im Vorstellen verläuft, unser Denken, ist gegenüber dem Rhythmus, in den unser Atmen hinein­gestellt ist, zu klein; es schlägt gleichsam zu kleine Pendelschläge unser Denken. Wir können uns mit unserem Denken im gewöhnlichen äuße­ren normalen Leben nicht in den großen Weltenrhythmus hineinstellen; es ist zu klein, das Denken. Etwas anderes aber ist dagegen zu groß, das wir auch haben, und das ist unser Wollen. Das schlägt zu stark aus. Das macht zu starke Amplituden. So stehen wir zwischen Denken und Wollen. Das Denken ist zu klein in seinem Pendelausschlag, das Wol­len ist zu groß. Daher wird das Denken immer nur solche Vorstel­lungen entwickeln können, die an anderem korrigiert werden müssen. Durch die verschiedensten Standpunkte, die wir einnehmen, können wir uns allmählich einer Einsicht annähern. Das Wollen kann sich nur durch ein Zusammenschließen mit anderem - weil es zu stark aus-schlägt, können wir immer nur zu kleine Teile davon einfangen -, nur durch sein Zusammenschließen mit anderem kann das Wollen zu dem kommen, zu dem es prädestiniert, vorgebildet ist. Das heißt: ein Wol­len kann nur im Zusammenhang mit einem anderen Wollen zu etwas

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kommen; ein Wollen in einer Inkarnation mit einem Wollen in einer anderen Inkarnation zusammen und so weiter.

Ich stelle diese Dinge hier zunächst einmal, ich möchte sagen, die Sache fadenzeichnend hin; sie bedürfen alle selbstverständlich einer weiteren Ausführung, aber ich möchte dadurch einmal begreiflich machen, nach welchen Begriffen Geisteswissenschaft den Menschen hin­führen muß, um ihn so, wie er es jetzt und in der Zukunft braucht, in das Weltenall hineingestellt zu denken. Gewiß, alles das, was unsere ganz gewöhnliche Erkenntnis ist, das ist zu klein. Sie hat zu kleine Schwingungen gegenüber den größeren Schwingungen, die unser Atmen durchmacht. Aber dieses Denken, von dem wissen wir, es ist nicht ein Ziel, es ist nur ein Weg. Sie alle denken. Die Menschen denken, aber sie denken nicht alles, was in ihre Seelen geht. Ein Gedanke hat sein Ziel nicht erreicht, indem er gedacht wird, sondern erst wenn er sich mit uns verbunden hat. Bewußte Gedanken werden der Erinnerungsfähigkeit mitgeteilt, aber vieles nehmen wir auch auf, das gar nicht zum Bewußt­sein kommt, das aber doch in uns hineingeht. Denken Sie sich den gan­zen Komplex dessen, was Sie gedacht haben und nicht gedacht haben, und was in Ihnen ist. Wo ist es? Es ist in Ihnen. Sie können sich daran erinnern. Manchmal treten sie auf, die Erinnerungen, manchmal treten sie nicht auf, aber sie sind in Ihnen. Sie sind nämlich im Ätherleibe. Nach dem Tode sondern sie sich ab, gehen in die allgemeine Welt über. Da sind sie dann dasjenige, was wir anschauen in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, was macht, daß wir da überhaupt Wirklichkeit sehen; das sondert sich von uns ab. Was wir denken, das geht mit der Außenwelt zusammen. Wir brauchen dieses in der Außen­welt. So wie wir hier in der physischen Welt Licht brauchen, so brau­chen wir dort in der Außenwelt dasjenige, was sich von uns absondert. Wir haben es oftmals beschrieben, daß das in die Außenwelt übergeht; das macht, daß wir dann die Außenwelt haben.

Dasjenige, was wir wollen, das macht, daß wir dann eine Innenwelt haben. Nicht bloß das, was wir wünschen, sondern das, was wir wol­len, das heißt, was wirklich Tat wird, das macht, daß wir dann eine Innenwelt haben. In der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt wird dasjenige, was wir hier gewollt haben, was wir hier der

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Außenwelt mitgeteilt haben, was wir getan haben, das wird unsere Innenwelt. Was wir gedacht haben, was heruntergestiegen ist in uns, das beleuchtet unsere Außenwelt; das Äußere wird Innen, das Innere wird Außen. Halten Sie fest an diesem bedeutsamen Satz: das Außen wird Innen, das Innen wird Außen.

Es wird allerdings noch manches Wasser die Spree herunterrinnen -kann man sagen, um ein beliebtes Sprichwort zu gebrauchen -, bis in dem, was man offiziell wissenschaftliche Kreise nennt, die Einsicht er­wacht, daß Kraft und Stoff heißen müssen: Luzifer und Ahriman, bis die Einsicht erwacht, daß nach zwei Einseitigkeiten hin, nach der luzi­ferischen Einseitigkeit, indem wir denken, der Atmungsprozeß sich entwickelt, und nach der anderen Einseitigkeit hin, nach dem Willens-prozeß, nach der Ahrimanseite die Stoffwechselvorgänge. Wir pendeln hin und her zwischen Luzifer und Ahriman, und die Gleichgewichts­lage, das Mittlere, ist der Atmungsprozeß, durch den wir in der großen Harmonie drinnenstehen. Das ist wirkliche Wissenschaft, geschaute Wissenschaft!

Jetzt gehen Sie von dieser geschauten Wissenschaft zurück zu der ersten Seite des Alten Testaments und vergleichen Sie diese geschaute Wissenschaft mit dem Satz aus dem Alten Testament: «und er blies dem Menschen den lebendigen Odem ein, und er ward eine lebendige Seele». Nicht wird gesagt, er erteilte ihm das Wollen, er erteilte ihm das Den­ken, aber auf das Atmen wird hingewiesen; dann werden Sie etwas empfinden - wenn Sie solches empfinden! - von jener Uroffenbarung, von der heute eine einseitige Wissenschaft auch schon sprechen kann, von dem, was in alten Zeiten ein andersgeartetes Wissen war, als das­jenige ist, zu dem man heute gekommen ist. Aber Sie kommen zu der Empfindung eines wunderbaren Zusammenschlusses des heute Geschau­ten mit diesem größten und auch mit anderen Dokumenten der Mensch­heitsentwickelung, diesem größten Dokument, dem Alten Testament. Selbstverständlich wird nirgends behauptet, daß auf dieselbe Weise, wie die heutige schauende Wissenschaft, man in der Zeit zu den Dingen gekommen ist, in der das Alte Testament geoffenbart worden ist, aber um so grandioser ist die Konkordanz, ist die Übereinstimmung. Wie sich diese Übereinstimmung dann mit anderen Urkunden, namentlich

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mit dem Neuen Testament, mit der Erscheinung des Mysteriums von Golgatha von diesem Gesichtspunkte aus betrachten läßt, das werden wir wohl das nächste Mal uns vor die Seele führen können.

Ich möchte durch diese Betrachtungen eben in Ihnen Vorstellungen von dem hervorrufen, was nötig ist für unsere Zeit, aber auch davon, wie schwer es ist, sich mit denjenigen, die heute sich Wissenschafter nennen, überhaupt nur zu verständigen. Man findet sehr schwer die Möglichkeit, sich mit dem zu verständigen, der eingerostet ist in einer bestimmten Art von Begriffen, von denen er glaubt, daß sie unfehlbar sind. Ich habe einmal gesagt: das Infallibilitätsdogma des Papstes be­zweifelt man, die Infallibilität vieler, vieler, die nimmt unsere autori­tätslose, über jede Autorität hinaus sich wähnende Zeit, sehr gerne hin.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 14. August 1917

Ich habe das letzte Mal darauf hingewiesen, wie der Mensch so, wie er als Erdenmeusch lebt, im Grunde abgeirrt ist von seiner im normalen Verlauf der Entwickelung liegenden, ich möchte sagen, kosmischen Weltenlage. Daß dies so ist, das ist uns ja hinlänglich bekannt, und ausgedrückt wird es in den verschiedenen Religionen sinnbildlich, ima­ginativ, in dem Symbolum, das als Erbsünde oder dergleichen herrscht. Für uns, geisteswissenschaftlich betrachtet, hängt das damit zusammen, daß im Grunde genommen des Menschen Urwesen, wenn wir so sagen dürfen, als Erdenmenschen, die Atmungsverrichtungen sind. Deshalb habe ich das letzte Mal darauf hingewiesen, daß der Atmungsrhyth­mus eigentlich so angesehen werden kann, daß der Mensch während seiner Erdenlaufbahn dazu bestimmt war, das wichtigste Erlebnis - und damit auch zugleich das Erkenntniserlebnis - im Atmungsrhythmus zu haben. Ich habe früher darauf hingewiesen und das letzte Mal die Sache summarisch wiederholt, daß gerade der Atmungsrhythmus in einer wunderbaren Harmonie mit dem ganzen Kosmos steht. Wie in einem normalen Menschenleben unsere Lebenstage in ihrer Zahl den Atemzügen an einem Tage gleichen, darauf und auch auf andere Zah­lenverhältnisse habe ich hingewiesen, welche gewissermaßen das har­monische Zusammenstimmen unseres mikrokosmischen Atmungsprozesses mit den großen kosmischen Vorgängen zeigen können, in die unser Leben hineingestellt ist.

Außer den geisteswissenschaftlich erschaubaren Resultaten kann nun schon äußerlich darauf hingewiesen werden, wie eigentlich im mensch­lichen Atmungsrhythmus etwas ist, wodurch der Mensch noch mehr als durch alles andere ein Mikrokosmos, eine kleine Welt ist. Gerade im Atmen ahmt der Mensch die Vorgänge der großen Welt nach, auch das, was die große Welt mit uns vor hat. Und durchaus wahr ist es: Bei Vorgängen, die kleine Unterschiede haben, beachtet man die Verschie­denheiten nicht sehr genau, man individualisiert nicht; aber in Wahr­heit gibt es nicht zwei Menschen, bei denen der Atmungsprozeß völlig

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gleich verliefe. Alle Menschen sind in bezug auf ihren Atmungsprozeß verschieden, weil jeder Mensch eine anders abgestimmte Saite des Wel­tenalls ist. Aber was da im Atmungsrhythmus vorgeht, bleibt für den Menschen in seinem jetzigen Erdenzustande unbewußt; oder es wird wenigstens nur in abnormen Zuständen bewußt und nimmt dann die verschiedensten seelisch-krankhaften Erscheinungsformen an. Unser normales Bewußtsein verläuft ja, wie wir wissen, gleichsam oberhalb des Atmungsprozesses; es ist mehr herausgehoben aus dem Makrokos­mos. Würden wir statt unseres Gehirnprozesses den Atmungsvorgang zu unserem Erkenntnisprozesse haben, so würden wir in unserem Er­kenntnisprozesse ganz anders im Weltenall drinnenstehen. Daß unser Erkenntnisprozeß an das Gehirn gebunden ist, preßt uns gewisser­maßen aus dem Zusammenhange heraus, in dem wir sonst normaler­weise im Makrokosmos drinnenstehen würden. Wie das Atmungs-geheimnis für den Menschen ein solches ist, darauf haben die religiösen Urkunden, wie ich auch schon angedeutet habe, dadurch hingewiesen, daß sie, wie zum Beispiel die Urkunde des Alten Testaments, aus­sprechen: Diejenige geistig-göttliche Wesenheit, welche mit der Füh­rung, mit der Leitung des Menschen zu tun habe, habe dem Menschen den Atem eingeblasen, und er sei eine lebendige Seele geworden. Diese Aussage des Alten Testaments ist im Sinne des alten, atavistischen Hellsehens durchaus die Wiedergabe einer wahren Tatsache. Dadurch, daß nun nicht unser Atmungsprozeß die körperliche Grundlage unseres Erkennens darstellt, sondern unser Gehirnprozeß, dadurch war der Mensch mit Bezug auf seinen Intellekt in aller Zeit, die dem Mysterium von Golgatha vorangegangen ist, anders zur Welt gestellt, als er ge­stellt ist, nachdem das Mysterium von Golgatha geschehen ist. Ich möchte sagen: neben den anderen Pforten, welche sich uns zum Ver­ständnisse des Mysteriums von Golgatha schon aufgetan haben, soll heute eine andere noch betrachtet werden.

Wir können sagen: Eigentlich ist der Erkenntnisprozeß des Men­schen, die ganze Stellung des Menschen zur Welt nicht die, welche ihm vor dem luziferischen Einfluß zugedacht war. Denn zugedacht war ihm ein Erkenntnisprozeß, dem der Atmungsrhythmus zugrunde liegt. Da­durch entwickelte sich - nehmen wir die Sache jetzt rein körperlich,

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aber das Körperliche hat dabei eine tiefere Bedeutung - beim Menschen vor dem Mysterium von Golgatha gewissermaßen das Erkennen an­statt an Brust und Atmung gebunden, höher herauf in seinem Organis­mus, an den Kopf und an die Sinne gebunden.

So äußerlich betrachtet wird die äußere Naturwissenschaft den Un­terschied zwischen dem Menschen vor dem Mysterium von Golgatha und nach demselben nicht so ohne weiteres einsehen und anerkennen. Aber dieser Unterschied ist, wenn er auch mit feineren Mitteln nur erkannt werden kann, ein außerordentlich großer.

In der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha stand der Mensch -wie das aus den verschiedenen Betrachtungen unserer Anthroposophie begreiflich sein kann - selbstverständlich zu geistigen Wesenheiten des Weltenalls, zu den Wesen der höheren Hierarchien in Beziehung. Aber wie? Unter den Wesen der höheren Hierarchien unterscheiden wir zunächst, unmittelbar angrenzend an das Reich der Menschen, die Angeloi, die Archangeloi und so weiter. Die nächsten Wesen also, zu denen wir aufschauen, wenn wir in die geistige Welt aufblicken, sind die Angeloi. Wir stehen als Menschen in Beziehung zu den Angeloi, und die Angeloi wieder fühlen ihre Beziehung zu uns Menschen. Auch für sie ist es nicht gleichgültig, welche Beziehung sie zu dem Menschen haben. Und den Unterschied zwischen dem Menschen vor dem Myste­rium von Golgatha und nach demselben, können wir uns vor die Seele führen, wenn wir gerade die Beziehung des Menschen zu der Wesen­heit der Angeloi ins Auge fassen.

Da ist es sehr merkwürdig, daß vor dem Mysterium von Golgatha eine intime Beziehung bestand zwischen den Angeloi in ihrer ganzen Tätigkeit, in ihrem ganzen Wesen und dem menschlichen Intellekt. Man könnte förmlich sagen: der Hauptwohnsitz der Angeloi war für die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha der menschliche In­tellekt. Die Menschen wußten nichts davon, daß die Angeloi in ihrem Intellekt wohnten; aber die Folge davon, daß sie dort wohnten, war, daß diese Menschen, in abnehmender Stärke allerdings, aber dennoch eines hatten: atavistisches, imaginatives Hellsehen. Was ich eben sagte:

die Angeloi wohnten in dem Intellekt der Menschen vor dem Myste­rium von Golgatha, gilt für das Leben der Menschen zwischen Geburt

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und Tod. Anders war es in dem Leben der Menschen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Da wohnten die Angeloi, und auch der einzelne der Angeloi, der einzelne Engel, der einem Menschen zugeteilt war, in den Erinnerungen an die Sinnesempfindungen; sie wohnten in den Bildern von dem, was den Menschen auf der Erde sinnlich umgab. Daher war bei den Menschen vor dem Mysterium von Golgatha in der Zeit zwischen Tod und neuer Geburt ein lebendiges Wissen von den Vorgängen auf der Erde vorhanden. Gewissermaßen könnte man sagen: Die Angeloi trugen das, was auf der Erde geschah, zu den Men­schen hinauf. Ein recht anschauliches Wissen von dem Geschehen auf der Erde entwickelten die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Da sehen wir hinein in die Beziehung zwischen den Angeloi und dem Menschenwesen in der Zeit vor dem Mysterium von Golgatha. Nach dem Mysterium von Golgatha wurde das anders; anders, indem natür­lich dieses Anderswerden in Entwickelung begriffen ist. Wie ist es nun bei uns, den Menschen, nach dem Mysterium von Golgatha? Wie ist da die Beziehung des Menschen zu den Wesenheiten der Hierarchie der Angeloi?

Bei uns ist es jetzt so, daß - allerdings unbewußt - in unseren sinn­lichen Wahrnehmungen im Leben zwischen Geburt und Tod die An­geloi wohnen. Ja, wenn wir unsere Augen aufmachen und hinaus-schauen in die Welt, die uns umgibt und auf unsere Sinne wirkt, so wissen wir zwar nicht, daß, während der Sonnenstrahl in unser Auge dringt und die Dinge sichtbar werden, auf dem Sonnenstrahl der Ort zu finden ist, auf dem unser Engel wohnt. Aber es ist so: In den Schwin­gungen des Tones, in den Strahlungen des Lichtes und der Farben, in den anderen Sinneswahrnehmungen lebt die Wesenheit der Angeloi. Nur indem der Mensch die Sinneswahrnehmungen verwandeln muß in Vorstellungen, dringen die Angeloi nicht in das Vorstellungswesen mit ein, und der Mensch weiß nicht, wie er umgeben ist von der Wesenheit der Angeloi. Im allgemeinen sagt man in geisteswissenschaftlichen Vor-trägen oftmals, man solle sich die geistige Welt nicht in einem Wolken­kuckucksheim vorstellen, sondern man soll sich vorstellen, daß uns die geistige Welt überall umgibt. Sie umgibt uns tatsächlich überall. Man

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kann auch konkret hinweisen, wie sie uns umgibt. Hier haben wir den Fall für die Angeloi; doch in unseren Intellekt kommt in der Zeit des Lebens zwischen Geburt und Tod das Bewußtsein nicht von dem An­geloi. Dagegen entwickelt der jetzige Mensch ein starkes Bewußtsein von seinem Zusammenhange mit den Wesen der Angeloi in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt; denn da wohnen gewissermaßen die Angeloi in seinem Intellekt.

Was ich eben auseinandergesetzt habe, hat für das menschliche Leben eine bedeutsame Folge. Nehmen wir noch einmal den Menschen vor dem Mysterium von Golgatha; in seinem Intellekt wohnten die An­geloi, der seine besonders. Dadurch war sein Sinnesleben ganz beson­ders zugänglich den luziferischen Gewalten. Das ganze Bewußtseins-leben des Menschen überhaupt war in der alten Zeit den luziferischen Gewalten zugänglich. Das ist anders geworden seit dem Mysterium von Golgatha. In unseren Intellekt dringen nicht ein, wie ich geschil­dert habe, die auf den Schwingen des Lichtes und der Farben, auf den Flügeln der Tonschwingungen und so weiter schreitenden Wesenheiten aus der Hierarchie der Angeloi. Dadurch sind wir in der Zeit zwischen Geburt und Tod in unserem Intellekt durchsetzt von den Angriffen der ahrimanischen Mächte. Während sich der Mensch von diesem Gesichts­punkte aus vor dem Mysterium von Golgatha im wesentlichen den Attacken Luzifers ausgesetzt sah, ist der Intellekt ganz besonders seit dem Mysterium von Golgatha den Einflüssen der ahrimanischen Mächte ausgesetzt. Diese haben vor allem das Bestreben, in dem Menschen das Bewußtsein von seinem Zusammenhange mit der geistigen Welt zu er­drücken. Alle die Neigungen, welche der Mensch zum Materialismus entwickelt, in seinen Gedanken entwickelt, kommen in dieser direkten Beziehung auf den Intellekt von den Attacken der ahrimanischen Mächte her. Und wenn die in diesen Betrachtungen genugsam geschil­derten materialistischen Zeittendenzen heute die Oberhand haben, so dürfen wir nicht vergessen, daß diese materialistischen Zeittendenzen von den Verwirrungen herrühren, welche Ahriman in dem mensch­lichen Intellekt anzurichten sich bestrebt.

Die Dinge, von denen ich jetzt spreche, was sind sie? Wir haben vor­hin gesagt: der Atmungsprozeß ist unterbewußt. Aber das, was ich jetzt

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meine, dieser Zusammenhang des Menschen mit der Wesenheit der Angeloi, ist auch nicht im Bewußtsein; er liegt über das Bewußtsein hinaus. Was in unserem Atmen vorgeht, liegt unterhalb des Bewußt­seins; was durch dieses Zusammenwirken der Geistwelten, des nächst­stufigen Zusammenwirkens der Geistwelten in uns vorgeht in der Weise, wie ich das jetzt geschildert habe, ist überbewußt. In diesem überbewußten Prozesse wirkt und arbeitet geradeso die Kraft, welche durch das Mysterium von Golgatha in die Welt eingezogen ist, wie vor demselben die Jehova-Kraft in dem Menschen gewirkt hat. Wenn wir uns in den Geist - aber eben in den Geist - einer Schrift vertiefen, wie es zum Beispiel das Buch Hiob ist, und da gewahr werden, wie das Walten der Jehova-Kraft in den menschlichen Entwickelungen dar­gestellt werden soll - etwas was ja gerade im Buch Hiob ganz beson­ders stark zutage tritt -, so bekommen wir eine Vorstellung davon, wie diese Jehova-Kraft wirkte, die, wie gesagt, durch den Atmungs-prozeß dem Menschen das Leben gegeben hat. Sie wirkte im Ver­erbungsprozeß, wirkte darin so, wie es geschildert wird, bis ins dritte und vierte Glied hinunter. Wollen wir ein Analogon haben für die Zeit nach dem Mysterium von Golgatha, so müssen wir die Christus-Kraft nehmen. So, wie die Jehova-Kraft ihre Beziehung hat zu dem menschlichen Atmungsprozeß, so hat die Christus-Kraft, überhaupt das ganze Mysterium von Golgatha, eine Bezie­hung zu dem, was ich eben geschildert habe, als zu einem überbewuß­ten Vorgang.

Wollen wir gewissermaßen eine Definition über die Sache haben, die wir da mit Bezug auf das Atmen besprochen haben, so könnten wir sagen: Der Atmungsprozeß ist für den Erdenmenschen entkleidet worden der Bewußtheit; die Bewußtheit ist für den Erdenmenschen durch den luziferischen Einfluß ausgelöscht worden. Dafür soll ihm die Möglichkeit eines Hineinlebens in das Überbewußte gegeben werden, in jenes Überbewußte, das ich eben andeutete: des Zusammenseins durch Sinnlichkeit oder Intellekt mit den Wesenheiten der Angeloi. Gewissermaßen als Ausgleich für das, was dem Menschen genommen worden ist: der Erkenntnisprozeß des Atmens, soll ihm gegeben wer­den der Erkenntnisprozeß des Überbewußten durch den Impuls des

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Mysteriums von Golgatha. Kraftvolle religiöse Naturen des Orients haben in ihren Gegenden vor dem Mysterium von Golgatha in das Atmen das Bewußtsein hereinbekommen wollen. Dies kann heute nicht nachgemacht werden, denn es würde zum Unheil führen. Aber alles, was wir in orientalischen Schriften der älteren Zeiten finden, um Atem­übungen zu machen, läuft darauf hinaus, daß der Atmungsprozeß vom Bewußtsein durchstrahlt werde. Aber für gewisse höchste Dinge ist ja das Bewußtsein des Erdenmenschen doch zur Ohnmacht verurteilt, und wenn heute gewisse Gebräuche alter Zeiten nachgemacht werden, so tun dies die Menschen, weil sie nicht damit rechnen, daß durch Luzifer dem Menschen die völlige Durchleuchtung des Atmungsprozesses mit der Erkenntnis genommen ist. Dafür soll er aber seit dem Mysterium von Golgatha immer mehr und mehr den überbewußten Prozeß des Zusammenhanges mit der geistigen Welt bekommen. Würden wir atmend erkennen, würden wir im Atmen den Erkenntnisprozeß haben, so würde uns bei jedem Einatmen immer bewußt sein, nicht daß wir Luft einatmen, sondern daß wir die Jahve-Kraft in uns hereinnehmen; und bei jedem Ausatmen würden wir wissen, daß wir Jahve ausatmen. In ähnlicher Weise soll dem Menschen bewußt werden, daß die Wesen­heiten der Hierarchie der Angeloi gewissermaßen rhythmisch zu ihm auf- und absteigen, daß gewissermaßen die geistige Welt auf und ab flutet. Das kann nur sein, wenn der Impuls des Mysteriums von Golgatha sich immer mehr und mehr unter den Menschen auswirken kann.

Man muß oft merkwürdige Worte gebrauchen, wenn man so recht charakterisieren will, was den Dingen der Welt zugrunde liegt. Wenn man davor zurückschrecken wollte, an entsprechender Stelle das rechte Wort zu gebrauchen, so könnte man doch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Durch Luzifer ist das eingetreten, was ich eben als Abstumpfung für das Atmen geschildert habe. Gewiß, es ist bildlich gemeint; aber man kann die Objekte hereinstrahlen fühlen in die Vor­stellungen, wenn man das Bild richtig deutet. Es bedeutet: Jahve wollte bewußt in einem jeden Atemzug leben, der in des Menschen Leib ein­dringt, und er wollte sich für den Menschen bewußt zurückziehen bei jedem Ausatmen. Das ging. Luzifer aber wurde sein Gegner. Und das

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Bewußtsein, welches in der Jahve-Kraft liegt, wurde ausgeschlossen vor dem menschlichen Bewußtsein. Und hier kommt nun das schwere Wort, vor dem man nicht zurückschrecken darf es auszusprechen, wenn man im Sinne einer richtigen Erkenntnis charakterisieren will. Jahve mußte die Menschen vergessen, insofern sie auf der Erde leben; denn in das Bewußtsein, welches sie haben, konnte er nicht hineinschlagen. Es ist wirklich so etwas vorgegangen, daß allmählich die der Jahve­Kraft zugrunde liegende Wesenheit und, bis in die geistige Welt hin­auf, die geistigen Wesenheiten so die Menschen vergessen haben, wie wir etwas aus der Seele vergessen. Vergessen, aus dem Bewußtsein ver­loren haben sie die Menschen! Durch das Mysterium von Golgatha wurde das Bewußtsein wieder entzündet. Und hat man für die Men­schen von der Urzeit bis zum Mysterium von Golgatha das tragische Wort zu sprechen: Und die Götter vergaßen der Menschen, - so muß man für die Zeit seit dem Mysterium von Golgatha sagen: Und die Götter wollen sich nach und nach der Menschheit wieder erinnern. -Sie wollen nach und nach mit ihren Kräften gerade in das, wovon der Erdenmensch sonst nicht das Geistige erfassen würde, sie wollen in die Gehirnweisheit, in das menschliche Vorstellungsleben, das an das Ner­vensystem gebunden ist, auch für den Erdenmenschen hereindringen. Der Himmel will die Erde betrachten, und das Fenster, das er nötig hat, um von oben das Untere zu betrachten, wurde ausgebrochen in der Zeit, als die Christus-Wesenheit bei der Johannestaufe im Jordan in die Jesus-Persönlichkeit eintrat. Und die Worte: «Dieser ist mein vielgeliebter Sohn, ihn habe ich heute gezeugt», deuten darauf hin, daß das Obere das Untere wieder schauen will, daß das Obere in das Un­tere, jetzt nicht mit den Atemzügen, sondern mit den Gedanken und Vorstellungen - aus- und einströmen kann. Dazu ist im Grunde ge­nommen die Zeit, welche bisher seit dem Mysterium von Golgatha verflossen ist, eine Art von Vorbereitung gewesen, und wir stehen nunmehr an der Wende, wo etwas anderes kommen muß, als bisher in der Wirkungsweise des Mysteriums von Golgatha war. Das ist wich­tig, daß wir uns dieses gerade zum Bewußtsein bringen.

Vorbereitung war es, was bisher war. Denn bis dahin haben höch­stens einzelne Ausnahmenaturen sich durch Geisteswissenschaft dem

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Mysterium von Golgatha nähern können. Jetzt aber muß die Zeit ein­treten, in welcher für einen größeren Teil der Menschheit insbesondere auch das Mysterium von Golgatha durch die Geisteswissenschaft auf­gefaßt werden soll. Warum?

Mit diesem Mysterium von Golgatha und seinem Verständnisse ist manches Geheimnis verbunden. Wie oft kommen die Menschen und fragen: Wie finde ich meine Beziehung zu dem Christus? - Eine gewiß berechtigte Frage. Aber ebenso verständlich ist es demjenigen, der in diese Dinge eingeweiht ist, daß diese Frage nicht so ohne weiteres be­antwortet werden kann. Ich möchte dazu etwas als einen Vergleich sagen: Wir sehen die Dinge mit den Augen, aber wir sehen die Augen nicht. Damit die Augen sehen können, können sich die Augen selber nicht sehen; Spiegelbilder nur sehen sie, nicht die Augen selbst. Das, was sieht, wodurch man sieht, das kann nicht selbst gesehen werden. Der Mensch in der Zeit nach dem Mysterium von Golgatha aber muß die geistigen Welten sehen durch den Christus-Impuls, wie wir die äußeren Farben und so weiter durch das Auge sehen. Wie wir aber das Auge nicht selber sehen, so sehen wir auch den Christus-Impuls nicht, weil wir durch ihn die geistige Welt sehen.

Damit hängt es zusammen, daß das Mysterium von Golgatha in Geheimnis gehüllt ist, auch historisch in Geheimnis gehüllt. Es sollte dasjenige historische Ereignis für die Nachwelt des Mysteriums von Golgatha werden, das nicht mit historischen Mitteln gefunden werden kann. Das Christus-Leben so in der Geschichte zu suchen, wie man ein anderes historisches Ereignis sucht, das käme ganz dem Triebe gleich, das Auge zu veranlassen, daß es das Auge selbst sähe. Es liegt in der Wesenheit des Mysteriums von Golgatha, daß der Christus Jesus nicht, wie Sokrates, Plato oder eine andere historische Persönlichkeit durch Dokumente gefunden werden kann, wie sonst historische Dokumente sind. Es liegt in der Wesenheit des Mysteriums von Golgatha, daß die Aufzeichnungen über dasselbe nicht historische sind, sondern daß es Aufzeichnungen inspirierter Menschen sind, von denen man immer mit historischen Mitteln den Beweis erbringen kann, sie seien keine eigentlichen historischen Dokumente. Wir würden in der menschheit­lichen Entwickelung in dem Augenblicke geistig krank werden, wo

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das Mysterium von Golgatha in die Reihe der gewöhnlichen histori­schen Ereignisse eingereiht werden könnte. Wir würden es dann zwar auch noch nicht in der richtigen Weise sehen, aber wir würden es gleich­sam so historisch wahrnehmen, wie wir das Auge wahrnehmen, wenn wir es verletzt haben. Das gesunde Auge sieht die Dinge, sieht nicht sich selbst. Hat das Auge einen Splitter in sich, der da bleibend ist, so sieht es einen schwarzen Raum vor sich und fängt an, sich selbst wahr­zunehmen; aber das ist ein krankhaftes Wahrnehmen. So würde ein krankhaftes Wahrnehmen des Mysteriums von Golgatha eintreten, wenn der Mensch nicht in diesem Mysterium von Golgatha etwas hätte, was nicht wahrgenommen werden kann; wodurch man wahrnimmt, das hängt zusammen mit dem Geheimnis von Golgatha. Und das Merkwürdige ist das Folgende: Diese eigentümliche Lage wurde für den Menschen erst durch den Eintritt des Mysteriums von Golgatha ge­bracht. Im alten atavistischen Hellsehen haben die Menschen, solange der Christus oben in der geistigen Welt war, solange er nicht herunter-gestiegen war, gewußt: Er ist da, und Er wird kommen. Daher finden wir merkwürdigerweise ein Bewußtsein von dem kommenden Christus aus unmittelbarer, eigener Erfahrung, wie jede andere Erfahrung ist, in der Prophetie. So lange konnten die Menschen von dem Christus wissen, als er, paradox ausgedrückt, noch nicht gekommen war. In dem Augenblicke aber, als er gekommen war, konnten sie nicht mehr auf dieselbe Weise von ihm wissen. Wie man das Auge erlebt, indem man sieht, so mußte unmittelbar in der Zeit nach dem Mysterium von Gol­gatha das Christus-Ereignis erlebt werden, nicht historisch gewußt werden.

Es ist interessant, auch einmal die Evangelien daraufhin zu prüfen, wie sie die Dinge, die ich jetzt aus der Geisteswissenschaft heraus klar-lege, betrachten. Darüber ein anderes Mal.

So wurde es notwendig, daß die christliche Entwickelung, die das Christentum in sich schließen wollte, zunächst sich daraufhin organi­sierte, den Glauben zu setzen an die Stelle des Wissens, des erlebten Schauens, und zu verlangen, daß man nicht Wissen fordern solle über das Mysterium von Golgatha, sondern Glaubenserlebnisse haben solle. Aber nun denken wir: in unsere Vorstellungswelt herein - denn

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auch die Glaubensvorstellungen sind als Vorstellungen da - soll das Mysterium von Golgatha leuchten. Da kommt es zusammen mit allen Attacken Ahrimans. Unser Intellekt ist das Feld, auf welchem der Christus-Impuls mit den ahrimanischen Impulsen kämpfend zusam­mentrifft, und die Entwickelung, die rein äußere Entwickelung des Erdenmenschen wird so verlaufen, daß Ahriman nicht immer so ge­bunden sein wird. Die tausend Jahre werden ablaufen, und der Mensch muß anderes haben als die naive Kraft, mit der er bisher den Christus-Impuls aufrichtete in seinem Bewußtsein, sagen wir: in seinem Erdenbewußtsein. Der Mensch muß anderes haben. Was ist dieses andere?

Dieses andere ist die Geisteswissenschaft, durch die der Mensch sich spirituell aneignen soll, was wir den Christus-Impuls nennen, damit er in ihm die starke Kraft finde, in seinem Bewußtsein den Christus-Impuls zu schützen gegen die ahrimanischen Attacken. Denn was strebt Ahriman an? Er kann, nachdem nun der Christus-Impuls einmal in der Welt ist, ihn natürlich nicht wegschaffen. So stark ist er nicht. Denn der Christus ist in die Welt hereingetreten durch den Leib des Jesus von Nazareth. Wegschaffen kann er ihn nicht; was er aber kann, das ist, die menschlichen Vorstellungen in dem Intellekt so umzugestalten, daß sie nicht den Christus-Impuls erleben, sondern Masken für den Christus-Impuls, das heißt, daß sich die Menschen falsche Gestaltungen über den Christus aufstellen. Der Gefahr sind die Menschen ausgesetzt, daß sie zwar von dem Christus reden, aber jenes Bild sich von ihm entwerfen, welches Ahriman ihnen in ihrem Intellekt zubereitet. Wer heute die wahren Gestaltungen der menschlichen Geisteskultur-Ent­wickelung betrachten kann, der findet nicht immer wahre Gestalten da, wo die Gestalten des Christus in Bildern in die menschlichen Bewußt-seine aufgenommen werden, sondern er findet heute die von Ahriman verzerrten Bilder des Christus in den menschlichen Vorstellungen. Das ist nicht immer der Christus, was diese oder jene Christus-Anhänger den Christus nennen. Und damit Ahriman seine Ziele erreicht, ver­düstert, verwirrt er in vieler Beziehung den menschlichen Intellekt. Er verwirrt ihn auch an denjenigen Stellen, bei denen sich die Menschen oftmals Rat holen. Da kann man dann sehr merkwürdige Erfahrungen

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machen. Machen Sie die Erfahrungen, die zu machen sind, zum Beispiel wenn man einen katholischen Theologen nach seiner wahren Meinung über die Jungfrau Maria fragt. Gewiß, die meisten werden überhaupt nichts wissen, als was ihnen eingetrichtert ist; aber darauf kommt es nicht an. Einige aber gibt es, die über das Eingetrichterte sich theo-logische Kenntnisse erworben haben. Bei denen wird man überall einen merkwürdigen Zusammenklang finden zwischen dem Bilde des irdi­schen Weibes der Maria und dem kosmischen Bilde der himmlischen Kirche, denn für den wirklichen katholischen Theologen ist die Jung­frau Maria eins mit dem Weibe aus dem Symbol der Apokalypse, das den Mond unter den Füßen, die Sonne auf der Brust und über dem Haupt die sieben Sterne hat. Die kosmische Bedeutung ist nicht zu den­ken, ohne sich auszuleben in einer irdischen Realität. Ich könnte Ihnen aus der katholischen Literatur Schriften bringen, die beweisen, daß jetzt noch katholische Theologen schreiben: Die Jungfrau Maria ist gleich dem Sonnenweibe, das den Mond unter den Füßen und die Sterne über dem Haupte hat. - Also hier besteht durchaus noch der Zusammenhang des Irdischen mit dem Geistigen, mit dem Kosmisch­Geistigen. Aber immer mehr und mehr schwindet das Kosmische durch Ahrimans Gewalt. Und wie schwindet es aus den Christus-Vorstel­lungen! Wie wenig ist heute Neigung vorhanden, den Christus als den großen kosmischen Geist zu erkennen, der aus kosmischen Höhen her­untergestiegen ist in den irdischen Menschenleib des Jesus von Naza­reth, um darinnen zu wohnen! Der Anerkennung dessen sind heute viele Menschen abgeneigt, welche glauben, daß es gerade recht christ­lich ist, in den Christus-Begriff recht wenig Kosmisches hineinzubrin­gen. Das wäre für einen Theologen des vierzehnten Jahrhunderts noch ganz unmöglich gewesen. Daß die Geschichte dieses nicht darstellt, das beruht nur darauf, daß die Geschichte selbst in vieler Beziehung eine Fälschung ist.

Alles Interesse Ahrimans ist darauf gerichtet, die Menschen von dem Geistigen abzulenken und hinzulenken auf das Materielle, das zwar auch ein Geistiges ist, aber ein in der Erde verborgenes. Und gar mancherlei Finten und Listen gebraucht Ahriman, um die Menschen möglichst davon abzubringen, irgend etwas Kosmisches in die Christus-Persönlichkeit

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hineinzubringen. Man kann ja heute sogar schon - be­sonders in sozialdemokratischen Schriften ist das gar nicht selten - ein merkwürdiges ahrimanisches Christus-Bild finden, welches alles Über­irdisch-Geistigen entkleidet ist, das nur rein menschlich sein soll, gar nicht zu reden von den Malern, die alles Mögliche getan haben, um das Kosmische aus der Christus-Gestalt herauszuexpedieren. Ich habe vor vielen Jahren hier in Berlin einmal eine Ausstellung von Christus-Bildern gesehen, eines neben dem anderen. Ich habe den Katalog heute noch, worin ich mir meine Anmerkungen machte: ein ahrimanisches Christus-Bild neben dem anderen! Und wieviele Wanderapostel, welche heute in dieser oder jener Weise sektierend offiziell oder inoffiziell von dem Christus sprechen, wissen nicht, wie Ahriman ihnen im Nacken sitzt und sie verleitet, sein Bild von dem Christus-Impuls zu zeichnen, und nicht dasjenige, welches im Christus-Impuls selbst wirkt. Aber dieses Bild, das im Christus-Impuls selbst wirkt, kann im Sinne unserer Zeit durch nichts anderes dargestellt werden als durch die Mittel der Geisteswissenschaft. Indem die Geisteswissenschaft von denjenigen Schauungen handelt, welche man hat, wenn man außerhalb des Leibes ist, hat sie wieder die Möglichkeit, das Christus-Bild in seiner wahren Gestalt zu schauen. Solange man im Leibe ist, muß man sagen: Das Auge kann zwar die Farben sehen, aber nicht sich selbst. Wenn Sie sich in der Geistesschau aus dem Leib herausbegeben - wenn Sie sich selbst sehen, sehen Sie das Auge -, so sehen Sie den Christus-Impuls durch den Christus-Impuls. Denn die Geisteswissenschaft kann das ersetzen, was keine Historie geben kann: eine Schilderung des Christus-Begriffes kann sie geben. Wie die Geisteswissenschaft den Menschen dahin brin­gen kann, über das Auge zu schauen, so kann sie es dahin bringen, über den Christus-Impuls, durch den sonst die geistige Welt gesehen wird, zu sprechen. Dadurch wird es zwar erreicht, daß über den Christus-Impuls Vorstellungen gewonnen werden können, aber die Attacken Ahrimans werden deshalb nicht weggeschafft; ihnen muß man sich vielmehr tapfer und mutig gegenüberstellen. Und daß die Menschen den Christus-Begriff nicht durch Geisteswissenschaft ins Auge fassen wollen, das rührt davon her, daß sie eine unterbewußte Furcht davor haben, daß der Christus-Impuls, sobald er durch Geisteswissenschaft

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gesehen wird, an den Widerstand Ahrimans stößt. Wie kommt das jetzt, in unserer Zeit, zum Vorschein?

Es wird in vielen Formen noch zum Vorschein kommen. Für unsere Zeit kommt es dadurch zum Vorschein, daß wir auf der einen Seite die ahrimanische Naturwissenschaft und die ahrimanische Geschichte haben, die den Gang der Kulturentwickelung und die Geschichte in ihrer Art darstellen, und daß diese anderseits mit ihren Begriffen - das aber sind diejenigen Begriffe, in denen Ahriman wirken muß, weil in uns Ahriman eben wirkt - den Christus-Impuls ausschließen. Es kann eine Philosophie, wie ich das schon einmal erwähnte, zwar zu einem all­gemeinen Gottes-Begriff kommen, aber nie zu einem Christus-Begriff; den kann man aufnehmen, weil er einmal da ist, aber man kann nicht zu ihm kommen. Selbst bei einem Philosophen wie Lotze finden Sie ihn nicht. Und Harnack dürfte gar nicht von dem Christus sprechen, weil innerhalb seines Denkens der Christus-Begriff gar nicht auftritt; er spricht nur deshalb davon, weil er ihn in den Urkunden, in der Bibel und so weiter findet. Und in ähnlicher Weise dürften andere Theologen nicht von Christus sprechen. Daher ist auch das, was Har­nack als den Christus schildert, mit keinen anderen Eigenschaften aus­gestattet, als mit denen der allgemeinen Gottheit, oder, wenn er wieder nach der anderen Seite schwankt, finden wir bei ihm nur den bloßen Menschen Jesus.

Was man aufnehmen muß, wenn man durch Geisteswissenschaft den Christus erfassen will, ist das geisteswissenschaftliche Bild des Christus mit dem vollen Bewußtsein, daß die äußere Wissenschaft - weder die Naturwissenschaft noch die Geschichte - zum Christus-Begriff nicht kommen kann, sondern daß sie Widerstand leisten wird, den Wider­stand, den heute der antichristliche Mensch, der nur naturwissenschaft­lich oder historisch denken will, gegenüber dem Christus-Begriff hat, im Gegensatz zu dem Gläubigen. Und wir müssen uns klar sein: da muß ein innerer Widerstand vorhanden sein, weil da zwei Welten zusammenwirken. Wir müssen mutig in diesen Widerstreit hinein; denn es ist der Widerstreit, der in der richtigen Theologie genugsam geschildert wird als der Widerstreit zwischen Christus und Ahriman. Eine lebendige Weltanschauung muß den Widerspruch in sich aufnehmen;

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denn der Widerspruch lebt in dem Kampfe zum Beispiel zwischen dem Christus und dem Ahriman.

Ich habe oftmals schon gesagt: Luzifer wirkt als Genosse des Ahri­man. Sie wirken zusammen. Sie haben alles Interesse, den Menschen darüber zu täuschen, daß er den inneren Widerstreit haben soll, und sie haben darum alles Interesse, ihr Gegenreich wegzuschaffen. Daher erfinden sie im menschlichen Gemüt derartige Gedankenkombinatio­nen wie die: In Einklang, in Harmonie mit dem Unendlichen. Warum entstehen solche Vorstellungsgebilde? Sie entstehen, weil die Menschen in ihrer Seele zu feige sind, sich dem Widerstreit gegenüberzustellen, und sich von Luzifer-Ahriman eine Harmonie mit dem Unendlichen erfinden lassen wollen. Es ist Befriedigungsuchen in solch einer Welt­anschauung, wie sie in: «In Harmonie mit dem Unendlichen» zum Ausdruck kommt. Befriedigungsuchen in einer solchen Weltanschau­ung ist aber gleichbedeutend mit einem Sichlegen einer Binde vor die Augen. Heute scheut es der Mensch, nach der Mannigfaltigkeit des Kampfes auf geistigem Gebiete hinzuschauen. Weil stets Gegenkräfte auftreten müssen, wenn etwas an seiner richtigen Stelle außer acht gelassen wird, so treten natürlich auch hier Gegenkräfte auf. Weil sich der Mensch in den letzten Jahrhunderten so vorbereitet hat, daß er den inneren Kampf zwischen Mächten, die kämpfen müssen, sehr scheut, so tritt ihm dieser Kampf heute in einer furchtbaren Weise vor das äußere Auge. Eine solche Folge mußte mit derselben Notwendig­keit eintreten, wie auf die luziferische Verführung die Vertreibung aus dem Paradies eingetreten ist. Überall, auf allen Gebieten sehen wir, wie der heutige Mensch sehr geneigt ist, sich nur eine Scheinruhe zu verschaffen, denn sie hat nur eine Bedeutung zwischen Geburt und Tod. Darum halst er sich den einen Teil des Widerspruches ab. Natür­lich ist das dann immer derjenige Teil, der aus dem Christus-Impuls kommt. Der naturgemäße Widerspruch kann so gerade Gegnerschaft finden. Und wenn Sie die verschiedenen Blechdarstellungen der so­genannten Widersprüche in meinen Schriften von so vielen Seiten heute geschildert finden, so haben Sie jetzt auch die Möglichkeit, selbst dieses in einer tieferen Weise zu beleuchten und den ahrimanischen Impuls darin zu sehen.

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Die Menschen wollen nicht fertig werden durch ein reales Sichgegen­überstellen mit den Kräften, mit denen man fertig werden muß; sie wollen den Widerstreit aus der Welt schaffen. Dadurch entstehen alle möglichen Dinge. Will man einen solchen Widerstreit aus der Welt schaffen, so muß er auf eine andere Weise zum Vorschein kommen. Das, was angerichtet wird von denjenigen, die den Widerstreit aus der Welt schaffen wollen, ist nicht schön. Es ist fast so, wie es ist - auf geistes-wissenschaftlichem Gebiete tätig sein, gibt einem ja immer Gelegenheit, solche Erfahrungen zu machen -, wenn immer wieder und wieder Men­schen kommen, die aus tiefstem Bedürfnis heraus die Frage stellen:

Warum ist das Übel, ist der Schmerz in der Welt? - Solche Fragen sind leichter zu stellen, als man glaubt; denn die Menschen stellen oft diese Frage, um zu begreifen, wie es mit der guten Gottheit zusammenhängt, daß sie das Übel in der Welt zulasse. Was man zur Beantwortung sol­cher Fragen tun kann, das ist, die Menschen darauf aufmerksam zu machen, daß sie doch jedenfalls nicht leugnen werden, daß das Gute in der Welt, das Vortreffliche, das Weisheitsvolle ein Göttliches ist. Wollen sie überhaupt die Güte Gottes rechtfertigen, so stehen sie schon auf dem Boden, daß sie das Weisheitsvolle dem guten Gotte zuschrei­ben. Warum läßt er aber das Übel zu? Ich kann nur immer so sagen:

Fangen Sie bei einem atomistischen, bei einem kleinen Schmerz an; Sie ritzen sich und empfinden dadurch einen Schmerz. Jeder Schmerz be­ruht darauf, daß irgend etwas einer Zerstörung ausgesetzt ist. Es ist nur nicht immer durchsichtig, auf welche Weise der Schmerz entsteht, aber es ist so. Stellen wir uns aber nun vor, daß nicht mit dem Messer geritzt würde, sondern daß wir irgendwo eine besonders empfindliche Stelle hätten und sehr heiße Sonnenstrahlen darauf fielen. So könnte an etwas, wo noch nicht eine Blase ist, aber anfängt eine zu werden, eine Änderung des Gewebes entstehen, und es könnte dort ein kleiner Schmerz sich bemerkbar machen. Könnte stärker, durch eine größere Empfindlichkeit, die Sonnenwärme wirken, so könnte eine größere Verletzung geschehen. Und stellen Sie sich nun vor: an einer Stelle unseres Hauptes waren vor Äonen von Jahren zwei Stellen von beson­derer Empfindlichkeit für die Sonnenstrahlen vorhanden. Sehen konnte der Mensch damals noch nicht, aber an jenen zwei Stellen mußten die

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Sonnenstrahlen jedesmal, wenn die Sonne aufging, ihm wehe tun. Da konnte ihm das Gewebe verletzt werden, und ein Schmerz mußte ent­stehen. Durch lange Zeiträume mußte dieser Vorgang sich abspielen, und die Ausheilung bestand darin, daß an jenen Stellen aus der Aus-heilung die Augen entstanden. Auf dem Grunde der Verletzung ent­standen die Augen. Und so wahr wie es ist, daß uns die Augen die Schönheit der Farbenwelt vergegenwärtigen, so wahr ist es, daß die Augen nur auf Grundlage der Verletzungen von besonders lichtemp­findlichen Stellen durch die Sonnenwärme entstanden.

Es gibt nichts, was zum Glück, zur Freude, zur Seligkeit entstanden ist, ohne daß es hat entstehen können auf Grundlage des Schmerzes. Und den Schmerz, das Widerstreitende nicht haben wollen, heißt das Schöne, das Große, das Beseligende, das Gute nicht haben wollen. Da dringt man in ein Gebiet ein, wo man nicht mehr denken kann, wie man will, sondern wo man dem unterworfen ist, was in den Mysterien die eherne Notwendigkeit genannt worden ist. So wahr große Har­monie in der Welt ist, so wahr diese jetzige Harmonie auf Grundlage des Schmerzes entstehen mußte, so wahr ist es, daß man nicht aus einer schmerzlosen seelischen Wollust heraus, wie man sie in den Vor­stellungskomplexen von «In Harmonie mit dem Unendlichen» emp­finden will, den Christus-Impuls erreichen kann, sondern nur indem man sich mutig dem Widerstreit aussetzt, der sich auf dem Boden unseres Intellektes oder unseres Bewußtseins überhaupt zwischen dem Christus-Impuls und den ahrimanischen Impulsen abspielt, über den wir uns nicht leichtsinnig hinwegheben dürfen, indem wir sagen: wenn wir nicht Harmonie haben, sind wir unbefriedigt, müssen wir uns über diesen Widerstreit hinweg nach der Erreichung des Christus-Impulses hin entwickeln. Das tritt in den mannigfaltigen Gebieten ganz im Konkreten auf. Wenn der Mensch heute auf naturwissenschaftliche Weise die Welt begreifen will und dabei nicht den Christus-Impuls finden kann, und wenn er auf der anderen Seite auf geisteswissenschaft­liche Weise die Welt begreifen lernt und dabei den Christus-Impuls finden kann, so muß er sich klar sein: widerstreitend ist es, aber gerade in seinem Widerstreit zusammenstimmend. Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft sollen nicht eines sein, wie viele glauben, wo es nur

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auf Naturwissenschaft und nur auf Geisteswissenschaft ankommt. Sie sollen auch nicht so sein, daß man eines über das andere legen kann; sondern sie sollen, wenn man sie übereinanderlegen will, so sein, wie das linke und das rechte Ohr, die auch nicht vollständig zur Deckung gebracht werden können. Nicht darauf, ob zwei Dinge in Überein­stimmung miteinander gebracht werden können, kommt es an, sondern auf die Art des Zusammenstimmens.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 21. August 1917

Der Mann, der einer der treuesten Mitarbeiter unserer geistigen Be­wegung war, den Sie die Jahre des Krieges hindurch hier in unserem Kreise fast jede Woche haben sehen können, wir haben in diesen Tagen für diesen physischen Plan von ihm Abschied zu nehmen gehabt: von unserem lieben Freunde Herman Joachim. Indem wir, durchdrungen mit jener Gesinnung, die sich aus dem ergibt, was wir als geisteswissen­schaftliche Erkenntnisse suchen, an das Ereignis des Todes, das wir bei den uns nahestehenden Menschen erfahren, herantreten, finden wir selbst etwas von dem, was uns eigen werden soll mit Bezug auf unsere Stellung, auf unser Verhältnis zur geistigen Welt. Wir blicken ja auf der einen Seite in einem solchen Falle zurück zu dem, was uns der Dahingegangene geworden ist in der Zeit, die wir mit ihm verleben durften, da wir seine Mitstrebenden sein durften; aber wir blicken zu gleicher Zeit vorwärts in die Welt hinein, welche die Seele aufgenom­men hat, die mit uns vereint war und mit uns vereint bleiben soll, weil Bande sie mit uns zusammenschließen, welche geistiger Art sind und untrennbar sind durch das physische Ereignis des Todes.

Herman Joachim, der Name ist ja in diesem Falle etwas, was als ein weithin Leuchtendes der von uns für den physischen Plan verlore­nen Persönlichkeit voranging, ein Name, der tief verbunden ist mit der künstlerischen Entwickelung des neunzehnten Jahrhunderts, ein Name, der verbunden ist mit der schönsten Art der ästhetischen Prin­zipien in musikalischer Auffassung, und ich brauche hier nicht aus­einanderzusetzen, was für die geistige Entwickelung der jüngsten Zeit der Name Joachim bedeutet. Aber wenn der, der jetzt von dein physi­schen Plan in die geistige Welt hin von uns gegangen ist, mit all seinen unvergleichlichen, schönen, großen Eigenschaften und mit ganz unbe­kanntem Namen, in unsere Mitte getreten wäre: diejenigen, die das Glück gehabt haben, ihn kennenzulernen und die eigenen Bestrebun­gen mit den seinigen zu verbinden, sie hätten ihn denjenigen Persön­lichkeiten zugezählt, die zu den allerwertvollsten ihres Lebens hier auf

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der Erde gehören, nur durch dasjenige, was ausgeströmt ist aus der Kraft seines eigenen Wertes, aus dem Umfänglichen und Sonnenhaften der eigenen Seele. Aber gerade in demjenigen, was diese Seele anderen Seelen in rein Menschlichem war, wirkte wohl dasjenige in dieser Seele nach, was als reinstes künstlerisch geistiges Element vom Vater her so großartig wirkte. Man möchte sagen, in jeder Geistesäußerung, in jeder Gedankenoffenbarung Herman Joachims war auf der einen Seite dieses Künstlerische, das auf der anderen Seite erkraftet und getragen war von echter, von intensivster Geistigkeit des Wollens, des Fühlens, des Strebens nach spiritueller Erkenntnis. So wie des Vaters große Intentionen hier im Blute walten, so war etwas in der geistigen Atmosphäre dieses Mannes, das schön eingeleitet war dadurch, daß Herman Grimm - dieser ausgezeichnete, dieser einzigartige Repräsen­tant des Geisteslebens Mitteleuropas - segnend seine Hand über den Täufling Herman Joachim gehalten hat, da er der Taufpate Herman Joachims war. Und seit ich dieses wußte, war mir dies ein lieber Ge­danke, wie Sie begreifen werden nach manchem, was ich in diesem Kreise gerade über das gesagt habe, was an Geistigkeit von der Per­sönlichkeit Herman Grimms in der neueren Zeit ausgeht. Als ein lieber Freund Herman Grimms starb, schrieb Herman Grimm schöne Worte nieder; als der in seiner eigentümlichen persönlichen Individualität ganz einzige Walther Robert-Tornow starb, schrieb Herman Grimm nieder: «Aus der Gesellschaft der Lebenden scheidet er aus; in die Ge­sellschaft der Toten wird er aufgenommen. Es ist, als müsse man auch diese Toten davon unterrichten, wer in ihre Reihen eintritt. » Und dieses, daß man bei solchem Hinscheiden das Gefühl habe, man müsse auch die Toten davon unterrichten, wer in ihre Reihen eintritt, das meinte Herman Grimm nicht nur von dem, welchem er diese Worte nachsprach, sondern er meinte es überhaupt als ein in der Menschenseele vorhandenes Gefühl, wenn ein uns Nahestehender aus der physischen Welt hingeht in die geistige Welt. Wir blicken dann auf das zurück, was wir symptomatisch mit dem Dahingegangenen erleben durften, und betrachten dieses wohl gleichsam wie Fensteröffnungen, durch die wir hineinblicken können in ein unendliches Wesen; denn jede mensch­liche Seelenindividualität ist ja ein unendliches Wesen, und was wir

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mit ihr durchleben dürfen, das ist immer nur, wie wenn wir durch Fenster in eine unbegrenzte Gegend blickten. Aber es gibt eben Augen­blicke im menschlichen Leben, wenn an diesem menschlichen Leben mehrere teilnahmen, in denen man dann tiefere Blicke in eine mensch­liche Individualität tun darf. Dann ist es immer, als wenn gerade in solchen Augenblicken, wo wir Blicke in menschliche Seelen tun dürfen, sich mit ganz besonderer Gewalt alles erschließen würde, was Geheim­nis der geistigen Welt ist. In umfänglichen Vorstellungen, die sich mit dem Gefühl durchtränken, offenbart sich uns dann vieles von dem, was auch im gewöhnlichen Menschenleben an Großem, Gewaltigem, an geistig Strebendem lebt.

Eines solchen Augenblickes darf ich jetzt gedenken, weil ich ihn für mich symptomatisch empfinde, aber in objektiver Weise, mit Bezug auf das Wesen des Dahingegangenen. Als er in einem bedeutenden Augenblicke mit uns vor Jahren in Köln geisteswissenschaftlich vereint war, da konnte ich im Gespräche mit ihm nach noch nicht lange er­folgter persönlicher Bekanntschaft sehen, wie dieser Mann das Innerste seiner Seele verbunden hatte mit demjenigen, was als geistiges Wesen und Weben den Kosmos durchzieht, wie er, wenn ich so sagen darf, gefunden hatte den großen Anschluß menschlicher Seelenverantwort­lichkeit gegenüber den geistig-göttlichen Mächten, welche mit der Weisheit der Weltenlenkung verbunden sind, und denen sich der ein­zelne Mensch in besonders bedeutungsvollem Augenblicke gegenüber­gestellt findet, wenn er sich die Frage vorlegt: Wie gliederst du dich ein in das, was als geistige Weltenlenkung dir vor das Seelenauge sich stellt? Wie darfst du denken aus deinem Selbstbewußtsein heraus, in­dem du weißt: ein verantwortliches Glied in der Kette der Weltgeistig­keit bist du selbst? - Daß er in aller Tiefe, in aller, wenn ich das Wort gebrauchen darf, seelischen Gründlichkeit einen solchen Augenblick als die Repräsentanz der Beziehung des Menschen zur Geistigkeit der Welt empfinden, erleben und fühlend erkennen konnte, das offenbarte mir damals Herman Joachims Seele.

Er hat ja dann Schweres weiterhin durchgemacht. Schwer lastete auf ihm die Zeit, als jenes unnennbare Unheil, unter dem wir alle leiden, hereinbrach, nachdem er jahrelang in Frankreich, in Paris gelebt hat

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und dort die liebe Lebensgefährtin gefunden hat. Er mußte pflicht­gemäß - aber zu gleicher Zeit diese Pflichtgeinäßheit selbstverständlich als innerlich mit seinem Wesen verbunden auffassend - zurück in seinen alten Beruf als deutscher Offizier. Er hat diesen Beruf seither ausgefüllt an wichtiger, bedeutungsvoller Stelle, nicht nur mit treuem Pflichtgefühl, sondern mit hingebungsvollster Sachkenntnis, und so, daß er innerhalb dieses Berufes im höchsten, wahrsten Sinne human, in tiefster Bedeu­tung menschenfreundlich wirken konnte; wofür viele derjenigen, denen dieses menschenfreundliche Wirken zugute gekommen ist, die dank­barste Erinnerung bewahren werden. Ich selber gedenke oftmals der­jenigen Gespräche, die ich in diesen drei Jahren der Trauer und des Menschenleides mit Herman Joachim führen konnte, wo er sich mir enthüllte als ein Mann, der mit umfassendem Verständnisse die Zeit-ereignisse zu verfolgen in der Lage war, der weit davon entfernt war, irgend etwas in bezug auf dieses Verständnis sich von Haß- oder Liebe-gedanken trüben zu lassen nach der einen oder anderen Seite hin, wo diese Haß- oder Liebegedanken die objektive Beurteilung in bezug auf die Zeitereignisse beeinträchtigt haben würden, der aber auch, trotz­dem er durch diese verständnisvolle Auffassung unserer Zeit sich nicht alles in dieser Zeit auf uns lastende Schwere verhehlen konnte, aus den Tiefen des geistigen Wesens der Welt heraus, seine Hoffnungen und seine Zuversichten für den Ausgang stark und kräftig in seiner Brust trug.

Herman Joachim gehörte zu denjenigen, die auf der einen Seite in völliger sachlicher, verstandesmäßiger Art, wie es sein soll, Geistes­wissenschaft in sich aufnehmen, die aber auf der anderen Seite durch dieses Verstandesmäßige sich nichts nehmen lassen von der tiefen spiri­tuellen Vertiefung, von der tiefen spirituellen Erfassung, von dem unmittelbaren Hingegebensein an den Geist, so daß diese spirituelle Erfassung, dieses unmittelbare Hingegebensein an den Geist weit ent­fernt ist, solch eine Seele jemals zu dem zu verleiten, was uns am gefährlichsten werden kann: zur Phantastik, zur Schwärmerei. Solche Phantastik, solche Schwärmerei geht ja zuletzt doch nur aus einem gewissen wollüstigen Egoismus hervor. Mit egoistischer Mystik hatte diese Seele nichts zu tun. Dafür aber um so mehr mit den großen

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spirituellen Idealen, mit den großen eingreifenden Ideen der Geistes­wissenschaft.

Herman Joachim war in jedem Augenblick darauf bedacht, was man tun könne, um an seiner eigenen Stelle die geisteswissenschaftlichen Ideale unmittelbar in das Leben überzuführen. Er, der Mitglied des Freimaurertums war, der tiefe Blicke in das Wesen der Freimaurerei hinein getan hat, aber auch in das Wesen der freimaurerischen Verbin­dungen, er hatte sich die große Idee vorgesetzt, dasjenige wirklich zu erreichen, was erreicht werden kann durch eine geistige Durchdringung des freimaurerischen Formalismus mit dem spirituellen Wesen der Geisteswissenschaft. Alles was das Freimaurertum aus Jahrhunderten aufgespeichert hat an tiefgründigen, aber formelhaft gewordenen, man möchte sagen, kristallisierten Erkenntnissen, das hatte sich Herman Joachim durch seine hohe Stellung innerhalb der Freimaurerei bis zu einem ganz besonderen Grade enthüllt. Aber er fand gerade auf die­sem Platze, auf dem er stand, die Möglichkeit, das da Gefundene in den rechten Menschheitszusammenhang hineinzudenken und zu durch­dringen dasjenige, was doch nur aus der Kraft der Geisteswissenschaft kommen kann, mit dem von ihm neu zu belebenden Althergebrachten. Und wenn man weiß, wie Herman Joachim in den letzten Jahren in dieser schweren Zeit nach dieser Richtung hin gearbeitet hat, wenn man den Ernst seines Wirkens und die Würde seines Denkens nach dieser Richtung hin, wenn man die Kraft seines Wollens und das Umfäng­liche seiner Arbeit auf diesem Gebiete einigermaßen kennt, dann weiß man, was der physische Plan gerade mit ihm verloren hat. Ich konnte nicht anders, als bei diesen und anderen ähnlichen Anlässen immer wieder daran denken, wie ein Amerikaner, der zu den Geistreichen in der letzten Zeit gerechnet wurde, den Spruch aufgezeichnet hat: Kein Mensch ist unersetzlich; tritt einer ab, so tritt sogleich wieder ein an­derer auf seinen Posten. - Es ist selbstverständlich, daß solcher Ameri­kanismus nur aus der tiefsten Unkenntnis des wahren Lebens heraus sprechen kann. Denn die Wahrheit sagt gerade das Entgegengesetzte. Und die Wahrheit an der Wirklichkeit, wie ich es jetzt meine, gemessen, sagt uns vielmehr: Kein Mensch kann in Wirklichkeit in bezug auf alles dasjenige, was er dem Leben war, ersetzt werden. Und gerade wenn

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wir an hervorragenden Beispielen es sehen, wie in diesem Falle, dann werden wir tief durdidrungen von dieser Wahrheit; denn gerade in unserem Falle, im Falle Herman Joachim, werden wir so reffit an das mensdiliehe Lebenskarma gewiesen. Und dieses Verständnis des mensehlidien Lebenskarmas, die karmisehe Auffassung der großen Schicksalsfragen, es ist ja das einzige, was uns zurechtkommen läßt, wenn wir solchen Hinweggang in verhältnismäßig frühem mensch-lichern Lebensalter und aus solcher ernsten, notwendigen Lebensarbeit heraus, vor unserem Seelenauge sich vollziehen sehen.

Aber ein anderes mußte ich mir in diesen Tagen oftmals sagen beim Abschiednehmen von dem teuren Freunde, nachdem ich so Tag für Tag langsam die Seele aus den Regionen, wo sie so Wichtiges leisten sollte, hingehen gesehen habe in die anderen Regionen, wo wir sie suchen müssen durch die Kraft unseres Geistes, aus denen sie uns aber Helfer, Stärker und Kräftiger sein wird. Ich mußte denken: Alle die gewagten, alle die geistige Kräftigkeit vom Menschen verlangenden Ideen der karmischen Notwendigkeit, sie stellen sich uns vor die Seele hin, wenn wir solchen Tod erleben. Wir müssen oftmals dann Dinge sagen, die eben nur innerhalb unserer Geistesbewegung gesagt werden können, aber innerhalb unserer Geistesbewegung dann auch der Menschenseele die große Kraft geben, die über Tod und Leben hinüberreicht; beide übergreift.

Lebendig steht vor mir Herman Joachims Seele. Lebendig sah ich sie drinnenstehen in einer aus vollster Freiheit heraus übernommenen geistigen Aufgabe. Lebendig sehe ich sie drinnenstehen in dem Ergrei­fen dieser Aufgabe. Dann erscheint mir der Tod dieser Seele wie etwas, was sie freiwillig übernimmt, weil sie aus einer anderen Welt heraus noch stärker, noch kräftiger, noch der Notwendigkeit angemessener, die Aufgabe übernehmen kann. Und fast könnte es solchen Ereignissen gegenüber zur Pflicht werden, auch von der Notwendigkeit des ein­zelnen Todes in ganz bestimmten Augenblicken zu sprechen. Ich weiß, nicht für alle Menschen kann dies ein Trost, ein stärkender Gedanke sein, den ich damit ausspreche. Aber ich weiß auch, daß es Seelen gibt, heute schon, welche sich an diesen Gedanken aufrichten können, gegen­über so manchem, was in unserer Zeit zu unserem tiefen Schmerze, zu

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unserem tiefen Leid besteht; dadurch besteht, daß wir sehen, wie es innerhalb der physischen Welt, innerhalb der materialistischen Strö­mungen, in denen wir im physischen Leibe verkörpert leben, so schwierig wird, die großen, notwendigen Aufgaben zu lösen. Da darf es schon auch ein Gedanke werden, der uns nach und nach aus dem Schmerz, aus der Trauer heraus lieb werden darf: daß einer wohl den Tod für den physi­schen Plan gewählt hat, um um so stärker seiner Aufgabe gerecht wer­den zu können. Messen wir dann diesen Gedanken an dem Schmerze, den unsere liebe Freundin, die Gattin Herman Joachims, nunmehr zu empfinden und durchzumachen hat, messen wir den Gedanken an un­serem eigenen Schmerz um den lieben teuren Freund, und versuchen wir unseren Schmerz selber dadurch zu adeln, daß wir ihn hinstellen neben einen großen Gedanken, wie ich ihn eben ausgesprochen habe; welcher Gedanke zwar den Schmerz nicht zu mildern, nicht herabzulähmen braucht, welcher Gedanke aber in diesen Schmerz hineinstrahlen kann wie etwas, das aus der Sonne der menschlichen Erkenntnis heraus selber leuchtet und uns menschliche Notwendigkeiten und Schicksals-notwendigkeiten zu durchdringen lehrt. In solchem Zusammenhange wird ja wirklich solch ein Ereignis für uns zu gleicher Zeit etwas, was uns in das rechte Verhältnis zur geistigen Welt zu bringen vermag.

Stärken wir uns an solchen Gedanken für die Hinneigungen, die wir entwickeln wollen: die Hinneigungen unserer seelischen Kräfte zu dem gegenwärtigen und künftigen Aufenthalte der teuren Seele, dann wer-den wir die Seele nimmer verlieren können, dann werden wir mit ihr tatkräftig verbunden sein. Und wenn wir die ganze Gewalt dieses Gedankens fassen: ein Mensch, der seine Umgebung lieben konnte wie wenige, der seinen Tod wohl auf sich genommen hat aus einer eisernen Notwendigkeit heraus - dann wird dieser ein unserer Weltanschauung würdiger Gedanke sein. Ehren wir so unsern lieben Freund, bleiben wir so mit ihm vereint. Diejenige, die als seine Lebensgefährtin hier auf dem physischen Plan zurückgeblieben ist, soll durch uns erfahren, daß wir mit ihr im Gedanken an den Teuren verbunden sein werden, daß wir ihr Freunde, Nahestehende bleiben wollen.

Meine lieben Freunde, Herman Joachims Tod hat sich ja im Grunde genommen angeschlossen an viele Verluste, die wir innerhalb unserer

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Gesellschaft in dieser schweren Zeit hatten. Ober einen der schwersten Verluste habe ich nicht gesprochen bis jetzt, weil ich selber zu stark daran beteiligt bin und zuviel damit verloren habe, als daß dieses Ver­bundensein durch das persönliche Element mit dem Verluste mir ge­statten würde, manche Seite dieses Verlustes zu berühren.

Eine größere Anzahl von Ihnen werden hier, in Liebe denke ich, sich unseres treuen Mitgliedes, unseres lieben Mitgliedes erinnern, der Schwester von Frau Dr. Steiner, Olga von Sivers, die wir ja in den letzten Monaten auch vom physischen Plan verloren haben. Gewiß, sie war nach außen hin nicht eine Persönlichkeit, welche in unmittel­baren, in gröberen greifbaren Wirkungen sich offenbaren konnte, eine Persönlichkeit, die durch und durch Bescheidenheit war. Aber meine lie­ben Freunde, wenn ich von dem absehe, was für mich selber und für Frau Dr. Steiner ein schmerzlicher, ein unersetzlicher Verlust ist, wenn ich davon absehe dies zu schildern, so darf ich doch gerade in diesem Falle auf das eine hinweisen: Olga von Sivers gehörte zu denjenigen unserer geistig Mitstrebenden, die vom Anfange an mit wärmster Seele gerade dasjenige aufgenommen haben, was der innerste Nerv unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft ist. Diese anthropo­sophisch orientierte Geisteswissenschaft wurde von ihr aus tiefstem Verständnisse heraus und aus innerstem Verbundensein der Seele damit aufgenommen. Und Olga von Sivers war so geartet, daß sie, wenn sie derartiges aufnahm, es mit ihrem ganzen Wesen aufnahm. Und sie war ein ganzer Mensch. Das wußten diejenigen, die mit ihr verbunden waren. Sie war ebenso stark in ihrem Ablehnen alles desjenigen, was jetzt in mystisch-theosophischer Weise den Menschheitsfortschritt ver­unstaltet, was das spirituelle Leben auf allerlei Abwege bringt. Sie war stark in der Kraft des Unterscheidens zwischen demjenigen, was da als unserer Zeit gehörig sich in den Menschheitsfortschritt einleben will, für diesen wirken will, und zwischen demjenigen, was aus irgendwel­chen anderen Impulsen und Beweggründen heraus sich jetzt auch als Theosophisches und dergleichen, als allerlei mystisches Streben hinstellt. Mit Bezug auf ursprüngliches Ergreifen derjenigen Wahrheit, nach der gerade wir streben, kann gerade Olga von Sivers zu den allervorbild­lichsten unserer Mitstrebenden gezählt werden. Und auch sie war nie

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auch nur im geringsten durch ihr Wesen dazu veranlagt, die Aufgaben ihres Lebens, des äußeren Lebens, des unmittelbaren Tageslebens, die für sie oftmals schweren Pflichten dieses unmittelbaren Tageslebens, auch nur im geringsten zu vernachlässigen, oder durch das volle, un­geteilte Sicheinleben in unsere spirituelle Bewegung sich diesen Pflichten auch nur im geringsten zu entziehen. Und was sie, ich darf sagen, mit vollem Verständnisse von Anfang an als Inhalt unserer Bewegung in ihre ganze Seele aufgenommen hat, das übertrug sie auf andere. Da, wo es ihr gegönnt war unsere Lehre auf andere zu übertragen, da unterwarf sie sich dieser Aufgabe auch in wahrhaft mustergültiger Weise, unterwarf sich ihr so, daß sie die Kraft der Ideen durch das Liebevolle, ungeheuer Wohlwollende ihres Wesens zu durchdringen wußte, um durch diese zwei Seiten auf die Menschheit zu wirken: die Kraft der Ideen - und die besondere durch ihre Persönlichkeit bewirkte Art, die Ideen zu übertragen.

So hat sie es gehalten, auch als jene Grenzen sie von uns trennten, die sich heute so furchtbar in das hineinstellen, was oftmals menschlich so nahe zusammengehört. Diese Grenzen hinderten sie nicht, für unsere Sache auch auf dem Gebiete zu wirken, das jetzt als Mitteleuropas Feindesland gerechnet wird. Schwere Erlebnisse standen vor ihrer Seele, alle Schauer dieses furchtbaren Krieges, in dem sie eine wahrhaft huma­nitäre Tätigkeit bis in ihre letzten Krankenwochen hinein entwickelt hat, niemals an sich denkend, immer für diejenigen wirkend, die ihr aus dem furchtbaren Ereignis dieses Krieges heraus anvertraut waren, im edelsten Sinne Samariterdienst entwickelnd, durchdringend diesen Samariterdienst mit dem, was ihr ganzes Sinnen und Trachten aus unserer spirituellen Bewegung heraus durchsetzte. Obzwar mir nahe-stehend, darf ich gerade diese Seite ihres Wesens aus bewegter Seele heraus mitteilen, dieses hingebenden und opferfreudigen Mitgliedes, das Olga von Sivers wohl seit dem Bestehen dieser Bewegung war. Es war ein lieber, schöner Gedanke für Frau Dr. Steiner und für mich, wenn einmal andere Zeiten, als unsere traurigen der Gegenwart, kom­men werden, diese Persönlichkeit auch wiederum in unserer räumlichen Nähe haben zu können. Auch hier hat eine eherne Notwendigkeit anders entschieden.

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Auch in diesem Falle ist der Tod etwas, was sich in unser Leben, wenn wir dieses Leben spirituell zu verstehen suchen, hineinstellt, klä­rend, erleuchtend dieses Leben. Gewiß, es ist viel einzuwenden gegen manches, was in unserer Gesellschaft waltet, was gerade unsere Gesell­schaft zutage fördert. Aber, wir haben eben auch solches zu verzeich­nen, haben solches vor unserer Seele, solches zu erleben, was als ein Schönstes, ein Höchstes, ein Bedeutungsvollstes gerade aus der Kraft, die durch die anthroposophische Bewegung durchdringt, um uns herum steht. Heute darf ich Ihnen von solchen Beispielen sprechen. Und manche von Ihnen werden sich wohl auch an ein Mitglied erinnern, das zwar nicht unserem Zweige angehörte, dessen ich aber gerade heute vielleicht doch gedenken darf, weil es ja auch in diesem Zweige im Kreise der Schwestern oftmals erschienen ist, von vielen hier gekannt, unsere Johanna Arnold, die vor kurzem von dem physischen Plan in die geistige Welt hinübergegangen ist. Ihre Schwester, die ein ebenso treu ergebenes Mitglied unserer Bewegung war, ist ihr vor zwei Jahren vorangegangen.

In diesen Tagen mußte ich bei der Ausarbeitung der Broschüre gegen einen gehässigen Angreifer unserer Bewegung, Professor Max Dessoir, immer wieder über die Stelle gleiten, daß ich kein Verhältnis zur Wis-senschaft habe, und daß gar die Masse meiner Anhänger auf jede eigene Denktätigkeit vollständig verzichte. Nun, eine Persönlichkeit wie Johanna Arnold ist der lebendigste Beweis dafür, welche unge­heure Lüge in einem solchen Ausspruche eines professoralen Ignoran­ten liegt. Die Größe, die in der Art des Hinübergehens in die geistige Welt bei Johanna Arnold lag, aber auch die innere Größe ihres ganzen seelischen Ergebenseins der Geisteswissenschaft, sie sind wirklich leben­dige Beweise dafür, als was diese Geisteswissenschaft von wertvollsten Menschen genommen wird. Johanna Arnolds Leben war ein solches, das dem Menschen Prüfungen auferlegt, das aber auch den Menschen stärkt und stählt. Es war aber auch ein solches, welches eine große Seele offen­bart. Nicht nur, daß Johanna Arnold während der Zeit ihrer Zugehö­rigkeit zur anthroposophischen Bewegung ihrem Zweige und den Nach­barkreisen eine kräftige Stütze war, nicht nur, daß sie in der Rhein-gegend so schön wirkte, schön wirkte im Zusammenhange mit mancher

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anderen Persönlichkeit - aus deren Reihe ist eine ja auch vor kurzem in die geistige Region hinauf uns entrissen worden: Frau Maud Künstler> die Unvergessene, die so innig ganz mit unserer Bewegung Verbun­dene -, nicht nur daß Johanna Arnold in ihrer Art seit ihrem Zusam­menhange mit der anthroposophischen Bewegung wirkte, sondern sie offenbarte auch in diese Bewegung hinein selbst eine starke, kräftige Seele. Sieben Jahre war sie alt, da rettete sie der älteren Schwester, die dem Ertrinken nahe war, das Leben, mit edler Aufopferung und Mut, siebenjährig. Jahre verbrachte sie in England, und die Art, wie das Leben auf sie gewirkt hatte, zeigt, wie das Leben zwar zum großen Lehrmeister und auch zum Stärker und Kräftiger für die Seele wurde, aber auch zum Offenbarer alles dessen, was das Leben durchkraften kann, so daß sie offenbart, wonach sich die Seele als nach dein Göttlich-Geistigen eben sehnt. Johanna Arnold wurde durch ihre große kräftige Seele Wohltäterin in ihrer Umgebung für die Anthroposophen, denen sie Führer wurde; sie wurde uns ein lieber Freund, weil wir sehen konnten, welch starke Kraft durch sie innerhalb unserer Bewegung ver­ankert war. Den Sinn dieser Zeit zu verstehen, zu verstehen, was eigentlich jetzt mit der Menschheit geschieht: wie oft stellte mir in den letzten Jahren, seit diese furchtbare Zeit hereingebrochen ist, gerade Johanna Arnold diese bedeutungsvolle Frage. Unausgesetzt beschäf­tigte sie die Idee: Was will denn eigentlich diese Zeit furchtbarster Prüfung mit den Menschengeschlechtern, und was können wir, jeder einzelne, tun, um diese Zeit der Prüfung in der rechten Weise durch­zumachen? Kein Tagesereignis im Zusammenhange mit der großen Zeitbewegung ging gerade an Johanna Arnolds Seele unvermerkt vor­über. Aber sie konnte auch alles in die großen Zusammenhänge hinein­stellen, und sie wußte sich auch alles in Zusammenhang zu bringen mit dem geistigen Entwickelungsgange der Menschheit überhaupt. Fichte, Schelling, Hegel, Robert Hamerling waren ihr eindringliches Studium, dem sie sich hingab, um die Geheimnisse des Menschendaseins zu ent­rätseln. Oh, es lebt vieles doch innerhalb unserer Bewegung, dessen werden wir bei einer solchen Gelegenheit inne, vieles, was Menschen­leben, Menschenwirken, Menschenentwickelung vertieft. Und wenn irgend jemand ein lebendiger Beweis dafür ist, daß es eine frivole Lüge

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ist, daß innerhalb unserer Bewegung auf eigene Denkarbeit verzichtet wird: Johanna Arnold ist ein solcher lebendiger Beweis und steht gerade durch ihre Kraft, ihre Hingebung, durch ihre Treue zur geisteswissen­schaftlichen Bewegung und auch durch ihren Willen in ernster wissen­schaftlicher Arbeit, in ernster Denkarbeit in die Geheimnisse der Mensch­heit einzudringen, vorbildlich vor denjenigen, die sie kennengelernt haben. Dankbar bin ich persönlich allen denjenigen, die dies in schöner Weise bei dem Heimgange unserer Freundin zum Ausdruck gebracht haben. Und die Schwester, die heute hier mit uns vereint ist und die beide Schwestern in so kurzer Zeit hat hingehen sehen, sie darf das Bewußtsein mitnehmen, daß wir, mit ihr in Gedanken verbunden, treu verbleiben wollen derjenigen, die von ihrer Seite aus der physischen Welt in die geistige Welt hinübergegangen ist, der wir nicht nur Er­innerung, sondern ein lebendiges Zusammensein mit ihr bewahren wollen.

Meine lieben Freunde, auch solche Betrachtungen, die unmittelbar an das anknüpfen, was uns ja wohl schinerzlich berührt, sie gehören zu dem Ganzen - ich darf sagen, indem ich alles Pedantische von dem Wort abstreife - unseres lebendigen Studiums. Wir sehen gerade in der Gegenwart manches auch hinsterben, von dem wir nicht in gleicher Art wissen, daß es ein geistiges Aufleben finden kann, wie wir das von der Menschenseele sagen. Wir sehen so manche Hoffnung, so manche Erwartung hinsterben. Nun könnte man vielleicht wohl sagen: warum macht man sich, wenn man etwas klarer in den Gang der Menschheits­entwickelung hineinblickt, unberechtigte Hoffnungen, unberechtigte Er­wartungen? Aber Hoffnungen und Erwartungen sind Kräfte, sind wirksame Kräfte. Wir müssen sie uns machen. Nicht deshalb, weil wir etwa fürchten, sie könnten sich nicht erfüllen, dürfen wir sie unter­lassen; sondern wir müssen sie uns machen, weil sie, wenn wir sie hegen, ob sie sich nun erfüllen oder nicht, als Kräfte wirken, weil etwas aus ihnen wird. Aber wir müssen uns auch zurechtfinden, wenn zuweilen nichts aus ihnen wird. Man möchte so gerne auf manchen Menschen, wenn er nur von irgendeiner Seite her anfängt, für ein Verständnis der geistigen Welt Wärme zu fassen, Hoffnungen setzen. Man setzt sie

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auch. Doch in unserer materialistischen Zeit verfliegen so manche Hoff­nungen, und ich habe Ihnen in den letzten Betrachtungen geschildert, welches die tieferen Gründe sind, warum solche Hoffnungen verfliegen.

Da müssen wir uns doch immer wieder klar sein: so groß in der äußeren physischen Welt heute auf manchem Gebiete dasjenige ist, was man Menschenmut nennt, auf geistigem Gebiete finden wir Menschen­mut heute doch sehr selten. Daher sind schon solche Beispiele, wie wir sie heute anführen konnten, recht vorbildlich, müßten vorbildlich wer­den auch nach dem Außeren unserer Gesellschaft und unserer Geistes-bewegung hin. Es geht ja heute manchen Menschen, ich möchte sagen, ein Licht darüber auf: mit dem Materialismus geht es nicht mehr. Aber einzudringen in das, worin eingedrungen werden muß, wenn die Mensch­heit nicht anstatt zum Heil, zum Unheil in die Kulturentwickelung geführt werden soll, einzudringen in die konkrete, wirkliche Geistes­wissenschaft, dagegen wendet sich ja das, was ich oftmals genannt habe die innere seelische Bequemlichkeit der Menschen. Manchmal sind die Menschen ungemein nahe daran, durch die Pforte in die Geisteswissen­schaft hineinzugehen; aber es ist im Grunde genommen die Bequemlich­keit, welche sie hindert, ihre Seele so biegsam, so plastisch, so inhaltvoll zu machen, daß die auseinandergelegten Ideen der geistigen Welt, die wirklichen Inhalte der geistigen Welt, erfaßt werden können. Allge­meines Schwärmen in mystischer Welteneinheit, allgemeines Deklamie­ren: Wissenschaft allein macht es nicht, der Glaube muß kommen, -das ist ja etwas, was bei vielen heute anzutreffen ist. Aber der Mut, ins Konkrete der Betrachtung und Beschreibung desjenigen, was geistige Welt hinter unserer sinnlichen Welt ist, wirklich einzudringen, dieser Mut fehlt vielfach.

Ich habe Ihnen im verflossenen Winter von Hermann Bahr erzählt, wie nahe dieser Mensch nach seinen letzten Büchern «Expressionismus» und seinem Roman «Himmelfahrt» eigentlich am Eindringen in die geistige Welt war. Ich habe da auch über die Wege Hermann Bahrs gesprochen. Nicht zu leugnen ist, daß der Mann trotz seiner vielen Schwankungen, trotz seiner vielen Wandlungen im Leben, das Streben nach dem Geiste hin endlich gefunden hat. Aber sehr merkwürdig ist doch eine Schrift, die er als seine neueste mir eben zugeschickt hat, und

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die da heißt: «Vernunft und Wissenschaft> Sonderabdruck aus der «Kultur», Jahrbuch der österreichischen Leo-Gesellschaft, 1917, Ver­lagsanstalt Tyrolia, Innsbruck. Sie geht davon aus, wie die neuere Menschheit aus älterem Erkenntnisstreben heraus dazu gekommen ist, mehr auf die Vernunft allein zu bauen, durch die Vernunft das Göttlich-Geistige zu suchen, den Weltenzusammenhang durch sie zu suchen. Hermann Bahr geht auch von der Frage aus: Wozu ist diese Vernunft, ist dieses Vernunftstreben gekommen, das man im achtzehnten Jahr­hundert die Aufklärung nannte, und das ja das neunzehnte Jahrhun­dert vielfach durchsetzt hat. Gleich zu Anfang seiner Schrift sagt er:

«Vor dem Kriege wähnte das Abendland, seine Völker hätten Ge­meinsamkeiten. Es gab Kosmopolis, das Reich der guten Europäer, die glitzernde Welt der Millionäre, Dilettanten und Ästheten, der vater­landslosen Existenzen im Schlafwagen, an den blauen Küsten und in den großen Hotels, der entwurzelten Weltenbummler. Es gab die stolze Republik der Geister in Wissenschaft und Kunst. Es gab das Völker­recht. Es gab die Humanität. Es gab Internationalen der Arbeit, des Handels, des Geldes, des Gedankens, des Geschmackes, der Sitte, der Laune. Es gab Zwecke, gab Ziele, den sämtlichen Völkern des Abend-landes gemein. Sie glaubten zu diesen gemeinsamen Zwecken doch auch ein gemeinsames Mittel zu haben: die menschliche Vernunft. Durch sie, hofften sie, würde die Menschheit dereinst der ganzen Wahrheit, die dem Einzelnen vielleicht unerreichbar bleibt, mit vereinten Kräften allmählich fähig werden. Alle diese Gemeinsamkeiten hat uns der Krieg geraubt. Sie sind weg.»

So legt sich Hermann Bahr diese Frage einmal vor, und er bringt schon unsere jetzige Seele zusammen mit dem einseitigen Vernunft-streben der Menschen. Er erinnert an ein interessantes Goethe-Faktum, welches wirklich interessant ist. Goethe betrachtete nämlich in Böhmen einen eigentumlich gestalteten Berg, den Kammerbühl, und es ergab sich ihm durch die Betrachtung, dieser Berg müsse seinem Entstehen nach vulkanischer Natur sein. Goethe hatte für sich den festen Glauben, daß der Berg durch alte vulkanische Kräfte entstanden sein müsse. Aber es gab andere, die nicht dieser Ansicht waren, sondern die annahmen, der Berg wäre neptunischer Natur, wäre durch sedimentäre Kräfte,

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durch Wasserkräfte in die Höhe getrieben. Goethe glaubte das eine, daß der Berg vulkanischer Natur wäre; aber er konnte die, welche anderer Meinung waren, nicht von der Richtigkeit seiner Annahme überzeugen. Er fühlte, daß es ein gewisser innerer Impuls war, der ihm sagte: es repräsentiert sich mir der Berg vulkanisch; während die anderen sagten:

es repräsentiert sich uns der Berg seiner Natur nach sedimentär. Und Hermann Bahr sagt sich nun: also ersehen wir daraus, daß ganz andere Impulse den Menschen in seinem Urteil treiben, Impulse, die erst hinter der Vernunft stehen. Aber nicht alle sind Goethes, meint er; doch alle werden, wenn sie der Vernunft zu folgen glauben, von ihren Impulsen bestimmt. Eine alte Zeit, das Mittelalter, so führt er weiter aus, hat die Menschen bestimmt, zu glauben, aus dein Glauben heraus zu Gedan­ken über die Welt zu kommen. Aber jetzt ist der Glaube zur Phrase geworden; er bestimmt höchstens noch das der Wissenschaft abgelegene Leben. Darin wirken die Impulse der Menschen. Aber welche Impulse wirken unter den heutigen Menschen? Hermann Bahr zählt einige dieser Impulse auf, die den Menschen dahin bringen, daß sie ihn glau­ben machen, er folge nur seiner Vernunft; doch in Wahrheit folge er seinen Impulsen, seinen Emotionen und so weiter. Die Amerikaner zum Beispiel wollten einen bestimmten starken Impuls. Den nannten sie Pragmatismus. Sie wollten das, was nützlich ist: Der berühmte Pragmatismus von William James. Aber was ist nach Hermann Bahrs Ansicht aus diesem Grundtriebe nach der Nützlichkeit geworden? «Es gab aber im Abendlande nur noch zwei Triebe», meint er, und macht nun bemerklich, wie im Mittelalter die Wissenschaft die «Magd» der Theologie war. Man hat sich ja in gewissen Zeiten nicht genug tun können in Anführung dieses Ausspruches: Die Wissenschaft die Magd der Theologie. Doch Hermann Bahr meint, wenn man auf die Kultur der neueren Zeit hinsieht, so ist die wahre Vernunft zwar nicht die Magd der Theologie, wohl aber die Magd unserer Gewinnsucht gewor­den. Und noch tiefere Fragen stellt er sich. Der einzelne Mensch, sagt er, kann für sich allein nicht bestehen, er muß in einer Gemeinsamkeit drinnen sein. Als diese Gemeinsamkeit hat der einzelne Mensch den Staat, in den er sich hineinstellt. Aber Hermann Bahr muß die Frage aufwerfen: Sind das nicht wieder Affekte, welche die einzelnen Staaten

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beherrschen? - Und nun sucht er die einzelne menschliche Seele zur Anknüpfung zu bringen an irgend etwas Geistiges. Er versucht zu­nächst an Goethe und Kant anzuknüpfen, und dann an folgende Ge­danken. Er sagt sich: wir sehen in unserem heutigen niederen Leben innere Impulse wirken, die eigentlich die Vernunft dahin bringen, wo­hin sie wollen; aber das sagt uns nicht, etwas ist wahr oder unwahr, weil wir es durch die Vernunft widerlegt oder bewiesen haben, sondern weil wir so aus inneren Impulsen heraus wollen, so wie Goethe den Kammerbühl wollte als aus vulkanischer Natur heraus entstanden ansehen, während seine Gegner ihn aus sedimentärer Natur heraus ent­standen wissen wollten. Es muß andere Impulse geben, sagt sich Her­mann Bahr weiter, die nicht nur aus der niederen Menschennatur kom­men. Da findet er das Genie. Was ein Mensch aus Genie tut, ist auch ein Impuls, aber nicht ein niederer. Es ist etwas, was hereinwirkt in den Menschen, was etwas Kosmisches hat. So meint er. Aber nun wird er fast zum Worthaarspalter, indem er das Grimmsche Wörterbuch durch­stöbert, um hinter die Bedeutung des Wortes Genie zu kommen. Er macht sich zwar klar, was dieses Wort bei Goethe bedeutet, was es bei Schiller, bei den Romantikern und so weiter bedeutet, aber so ohne weiteres das Wort Genie anzuwenden, geht ja doch eigentlich nicht. Denn würde man das Wort Genie für den höchsten Impuls der Wissen­schaft halten, so würden sicher alle Professoren sagen, sie wären Genies -und man hätte ebensoviele Genies zu verehren! Das will Hermann Bahr natürlich nicht. Daher sucht er nach der anderen Seite hin einen Ausweg, und da findet er: Goethe hat doch nicht so ganz Unrecht gehabt, das Genie nur vereinzelten Menschen zuzusprechen. Und da es doch wieder nur vereinzelten Menschen zugesprochen werden kann, so kann es nicht zum Impuls des wissenschaftlichen Wirkens gemacht werden. Kurz, er kommt dahin, einen inneren Zusammenhang der Menschenseele mit der geistigen Welt zu ahnen. Und da findet er einen Zusammenhang. Sie können mich in Stücke hacken, aber ich kann Ihnen den logischen Zusammenhang nicht klarmachen zwischen dem Goetheschen Genie-Gedanken und dem Kirchengesang «Veni Creator Spiritus», zwischen demjenigen, was in die menschliche Seele herein-zieht, wenn dieser Kirchengesang angestimmt wird; ein Zusammenhang,

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der gewiß groß und gewaltig ist, auch real ist, aber wie er mit dem Goetheschen Genie-Gedanken zusammenhängt, das weiß ich nicht, kann es auch nicht herausbringen. Aber Hermann Bahr will ja das eine:

für sich selber sich klarmachen, daß die Vernunft, das bloße Vernunft-streben nicht zur Wahrheit führen kann. Hermann Bahr will zu dem nein sagen, wozu die Aufklärung ja gesagt hat. Die Aufklärung wollte in die Welt etwas hereinbringen, was über das aufklärt, was wir sehen und wahrnehmen. Da sollte die Vernunft erhöht werden. Aber weil jetzt, meint Hermann Bahr, die Vernunft zur Dienerin des äußeren Handwerks und der Technik geworden ist, will er sie absetzen und leiten lassen von Impulsen, die ihm vor Augen stehen. Und diese Im­pulse zeigen uns, wie ein Mensch, der bis an das Tor der Geistes­wissenschaft gekommen ist, nun doch stillhält und zu bequem ist, in diese Geisteswissenschaft konkret hineinzugehen. Er meint, die Ver­nunft allein erreicht nichts, der Glaube muß hinzukommen und muß alles führen. Von Gott selbst müssen die Impulse kommen, also nicht aus der niederen Menschennatur, und durch den Glauben müssen sie in die Seele einziehen und den Menschen lenken. Die Wissenschaft muß vom Glauben gelenkt werden, die Vernunft allein kann nichts erreichen in der Wissenschaft.

Hermann Bahr gibt sich viele Mühe, um für diese Idee Anknüp­fungspunkte zu finden. Er weist zum Beispiel in interessanter Weise hin auf Friedrich Heinrich Jacobi, der einmal in einem schönen Brief­wechsel den Gedanken ausgesprochen hat, daß es für die Wahrheit überall in der Menschennatur elastische Stellen gäbe. Eine sehr schöne Idee von Jacobi. Ich habe sie einmal anders ausgesprochen: Nehmen Sie die «Philosophie der Freiheit»; da haben Sie etwas, was als Ganzes ein Organismus ist, wo ein Gedanke aus dem anderen herauswächst; wenn man irgendwo an die elastischen Stellen kommt, geht das Denken von selbst weiter; da fühlt man das Walten des Geistes in der eigenen Seele. Darauf macht Jacobi aufmerksam, und darauf weist auch Her­mann Bahr hin, daß etwas in der Menschenseele lebt, in ihr wirkt, so wie etwas Geistiges. Das Merkwürdigste ist, daß Hermann Bahr gewissermaßen den höheren Menschen, welcher der göttliche Mensch ist, im Menschen finden will, indem er die Vernunft zum Glauben

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zurückführt, indem er nicht die Impulse gelten läßt, die in der heutigen Wissenschaft Geltung haben. Aber einen Impuls findet er nicht, der in der heutigen Menschheit lebt, leben kann wenigstens. Das ist der Christus-Impuls! Es ist merkwürdig: nur an einer Stelle seiner Schrift -denn die beiden anderen Stellen, wo er noch vorkommt, sind ganz bedeutungslos - weist er auf den Christus hin, und diese Stelle ist nicht von Hermann Bahr, sondern von Pascal. Das ist jene Äußerung Pas­cals, daß wir Menschen uns selbst nur erkennen durch Jesus Christus, daß wir das Leben, den Tod nur durch Jesus Christus erkennen, und daß wir durch uns allein nichts wissen, weder von unserem Leben noch von unserem Tode, weder von Gott noch von uns selbst. - Da haben Sie von Pascal einen Impuls, der von innen wirkt, der nicht vom Menschen selbst stammt: der Christus-Impuls, der aber erst seit dem Mysterium von Golgatha in der Welt ist. Man muß zugleich histori­schen Sinn haben, wenn man darauf hinweisen will. Hermann Bahr kommt also auch nicht weiter als Harnack und die anderen; er kommt bis zu einem allgemeinen Gotte, der durch die Natur spricht, aber nicht zu einer lebendigen Auffassung des Christus. Hier haben Sie wieder ein Beispiel dafür, daß die Menschen nach der Wahrheit streben wollen, aber sie finden gerade den Christus nicht, und sie bemerken es nicht einmal. Hermann Bahr bemüht sich zu zeigen, wie das Prinzip des Strebens durch die Weltentwickelung geht. Er sagt einige schöne Worte über das Griechentum, über das Römertum, sogar über Mohamed. Aus­gelassen ist nur das Mysterium von Golgatha! Indem er über das Chri­stentum redet, tut er es erst wieder, wo er von dem heiligen Augustinus spricht. Man findet, selbst wenn man noch so viel deklamiert über die Vernunft und dergleichen, nicht den Christus; man findet nur den allgemeinen Gott. Aber Christus ist der Gott, der aus kosmischen Höhen heruntergestiegen ist in das irdische Leben und so wahr in uns lebt, wie unser unmittelbar Höchstes in uns lebt. Durch das, was Pascal vorschwebt, erlangen wir Erkenntnis von der Welt, vom Leben wie vom Tode, von Gott wie von uns selbst, indem wir uns von dem Christus durchdringen lassen. Um aber das zu erkennen, ist Geistes­wissenschaft notwendig. Anderes nicht. Und den Weg dahin bildet schon Goethe. Aber was sagt Hermann Bahr, indem er alle möglichen

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Goethe-Aussprüche zu rechtfertigen sich bemüht, indem er sozusagen sein Inneres aufschließen will, das in der letzten Zeit zum Glauben hingeführt worden ist? Er sagt: «Ich muß wohl nicht erst versichern, daß ich mich zur Lehre des Vaticanum bekenne, nicht zu den Meinun­gen Goethes und Kants!» Die Einmündung bei demjenigen, das äußere Macht hat und in unserer Gegenwart bemerklich macht, daß es die Macht auch wieder entwickeln will. Die Menschen wollen nicht sehen, sie wollen nicht hören, und lassen an sich vorübergehen, was ihnen die Zeichen der Zeit deuten würden. Hermann Bahr weiß die Zeichen der Zeit in seiner Art allerdings besser zu deuten. Er weiß, daß in unserer Zeit manche Zeichen allerdings dafür sprechen, zu sagen: Ich muß wohl nicht erst versichern, daß ich mich zur Lehre des Vaticanum bekenne, nicht zu den Meinungen Goethes und Kants! Es ist so recht ein Beispiel dafür, wenn die Bequemlichkeit Halt macht. Ich liebe Hermann Bahr, ich sagte das schon einmal; ich will nichts gegen ihn sagen, sondern nur besprechen, was an ihm als einer sehr begabten, bedeutungsvollen Per­sönlichkeit charakteristisch in unserer Zeit wirkt.

Vernunft: es ist leicht sie anzuklagen! Man kann vieles gegen sie sagen, kann sagen, daß sie die Wahrheit nicht findet. Allein nur die Vernunft anklagen, heißt eben nicht tief genug in die Sache eindrin­gen. Würde man tiefer eindringen, so würde man wissen, daß nur der­jenige Vernunftgebrauch von der Wahrheit abführt, der von Ahriman durchdrungen ist, wie auch derjenige Glaubensgebrauch von der Wahr­heit abführen kann, der von Luzifer durchdrungen ist. Der Glaube kann von Luzifer, die Vernunft von Ahriman durchdrungen werden. Aber weder Glaube noch Vernunft sind an sich zur Unwahrheit oder zum Irrtum führend; denn sie sind, wenn wir im religiösen Sinne sprechen wollen, menschliche Gottesgaben. Wandeln sie auf richtigen Wegen, so führen sie zur Wahrheit, nicht zu Irrtum und Unwahrheit. Und die tiefere Auffassung wäre die, zu erkennen, wie sich Ahriman in die Vernunft einschleicht und das hervorbringt, was die Verirrung der Vernunft ist. Dazu müßte man aber wieder in die konkrete geistige Welt eindringen und dürfte nicht zu bequem sein, die einzelnen Vor­stellungen aufzunehmen, welche die geistige Welt wiedergeben. Will man in schauderhaften Abstraktionen sich verbreiten, so schimpft man

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auf die Vernunft und weiß nicht, daß die Vernunft in konkreter Ent­wickelung in der fünften nachatlantischen Kulturperiode das Ich in die Bewußtseinsseele hineinbringen muß. Man redet wie ein Blinder von den Farben. Aber wenn man heute vom Gesichtspunkte der Geistes-wissenschaft aus redet, dann muß man - ob Ihnen nun auch irgend­welche Ignoranten oder sonstige Leute allerlei Widersprüche vorwer­fen - zu dem stehen, wie ich es schon auseinandergesetzt habe, was sich ergibt, wenn der Geist selber im Geiste sucht. Man hat eine per­sönliche Verantwortlichkeit gegenüber dem Geiste. Und gerade das ist, wie ich heute an besonderen Beispielen hervorheben konnte, an dem Menschen als etwas Großes zu empfinden: Verantwortlichkeit im Geiste zu fühlen für alles, was man tut, aber auch was man fühlt und denkt. Knüpft man aber an etwas historisch Gewordenes an, ohne das persön­liche Suchen in dem der Menschheit Notwendigen, dann kann man viel-leicht auch so sagen: «Wen es interessiert, welchen Weg mich Gott geführt hat» - so sagt nämlich Hermann Bahr -, «der sei auf meine Schriften und hingewiesen, hüte sich aber, worum ich auch den Leser dieses Aufsatzes bitten muß, etwa meine persönlichen Erfahrungen zu verallgemeinern, die mir halfen, aber keineswegs ansprechen, deshalb auch anderen helfen zu können.» Wenn man sich also in alles das hineinbegibt, wofür das Vaticanum gilt, dann hat man nicht nötig für sein Persönliches einzustehen. Denn dann kann man wohl auch sagen: «Stößt also dem Leser hier irgendein Gedanke zu, der sich von diesen Grundgedanken entfernte, so will ich ihn ausdrücklich davor warnen, meiner Absicht zuzumessen, was nur durch die Nachlässigkeit oder Zweideutigkeit einer unglücklich gewähl­ten Wendung verschuldet wäre, ganz gegen meinen Willen und zu meinem Schmerze. »

Es ist doch gut, wenn jemand aufrichtig, ehrlich heute ein solches Bekenntnis, ich möchte sagen, von der Leber weg spricht. Er spricht da­durch ein Bekenntnis aus, das so weit als möglich von der anthrop-sophisch orientierten Geisteswissenschaft entfernt ist. Er spricht aber auch aus, was in einer gewissen Geistesströmung, die heute wieder mäch­tig werden will, Grundbedingung ist: Was ich als einzelner liebe, was ich als einzelner glaube, was ich behaupte, ich bemerke von vornherein,

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daß dies nichts die Welt angeht; für die Welt halte ich maßgebend, was das Vaticanum für die Welt zu glauben, zu bekennen befiehlt; da mische ich auch meine Stimme mit hinein, ich will sie aber nur soweit gelten lassen, als das Vaticanum sie gelten läßt!

Ich weiß nicht, in welchem Grade es noch zeitgemäß werden wird, ein solches Bekenntnis abzulegen. Aber daß Geisteswissenschaft auf dem Grunde ruhen muß: selber zu forschen und für das Geforschte mit voller Verantwortlichkeit einzutreten, das ist sicher. Sollte diese Geisteswissenschaft auch noch so viele Enttäuschungen, noch so viele zerschnittene Zuversichten haben, es muß doch darüber gesprochen werden, und auch wenn es Hoffnungen sind, die zu etwas Besserem sich hätten hinwenden können, wie es bei Hermann Bahr der Fall ist.

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FÜNFTER VORTRAG Berlin, 28. August 1917

Es kommt immer wieder vor - und mit Recht -, daß gefragt wird: Wie kommt man dem Christus-Impuls, dem Christus-Wesen überhaupt nahe? - oder daß die Frage in irgendeiner anderen Form gestellt wird. Man kann sich in versdiiedener Weise der großen Frage nähern, die darinnen liegt, daß eben der Mensch solches Bedürfnis empfindet, und wir haben ja im Laufe unserer anthroposophischen Betrachtungen wirklich diese Frage von den verschiedensten Seiten her ins Auge gefaßt. Uns ist ja bekannt, daß die eine oder die andere Begriffsreihe, die eine oder die andere Summe von Vorstellungen ebensowenig die geistige Wirklichkeit erschöpfen, wie das Bild eines Baumes, das photographisch von einer Seite her aufgenommen wird, die ganze Form dieses Baumes erschöpfen kann, und so können wir nur hoffen, durch die Betrachtungen von den verschiedensten Seiten her, an das heran­zukommen, was wir die Wirklichkeit auf dem Gebiete des geistigen Lebens nennen können.

Vor allen Dingen muß sich jeder darüber klar sein, daß das Auf­finden des Christus etwas Intimes ist, und wir wissen ja, wie es zu­sammenhängt mit der Natur des menschlichen Ich. Wir wissen, daß diese Natur des menschlichen Ich schon in der Sprache dadurch sich ausdrückt, daß wir jedes andere Wort so anwenden können, daß wir etwas anderes damit bezeichnen können, niemals aber das Wort Ich so aussprechen können, daß es sich auf irgend etwas bezieht, was außer uns ist. Die innige Verbindung des durch Christus Wesenhaften mit diesem Ich, gibt für uns Menschen diesem Christus-Wesenhaften einen so intimen Charakter als das Ich selbst für uns hat. Deshalb sind alle die Betrachtungen, alle die Gefühlsimpulse, alle die sonstigen inneren Kräfte, welche wir in uns rege machen, wenn es sich um das Christus-Problem handelt, eben Wege zu dem Christus. Und hoffen können wir, und hoffen müssen wir, daß wir den Christus finden durch solche Betrachtungen, solche Empfindungen, Willensimpulse und dergleichen. Insbesondere ist es aber für die Gegenwart von ganz besonderer

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Wichtigkeit, den historischen Entwickelungsgang der Mensch­heit ins Auge zu fassen, auch bezüglich der Christus-Idee. Wir stehen in einem bedeutungsvollen historischen Augenblick, in einem so be­deutungsvollen historischen Augenblick, daß die Bedeutung viel-leicht noch wenigen Menschen in ihrer vollen Tragweite aufgegangen ist. Schon darum geziemt es unserer Zeit, das historische Werden der Menschheit nicht außer acht zu lassen, wenn es sich um Wichtigstes handelt.

Nun wissen wir, daß das Werden der Menschenseele, der ganze In­halt der Menschenseele ein anderer war vor dem Mysterium von Gol­gatha, daß er ein anderer ist nach demselben, und wir haben auch in der verschiedenen Weise geschildert, wie dieses Anderssein sich verhält. In der Zeit, in der noch mehr Gefühl in der Menschheit für die Bedeu­tung geistigen Erkennens vorhanden war, man kann sagen vor fünfzig bis sechzig Jahren, da haben auch mehr Menschen noch an den höchsten Problemen gerührt, und man findet immer wieder und wieder, wie in der Zeit vor fünfzig bis sechzig Jahren die Hinneigungen der Menschen, große Probleme in ihrer eigentlichen Tiefe aufzufassen, verschwinden. Wenn wir zum Beispiel die Schriften eines Seelenforschers wie Fortlage, der bis in die sechziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts hinein gewirkt hat, in die Hand nehmen, so finden wir noch eine merkwürdige Charakteristik des menschlichen Bewußtseins bei Fortlage, dem Psycho­logen, der in Jena und an anderen Stätten wirkte. Eine Definition des Bewußtseins erfahren wir bei ihm, welche, ich möchte sagen, die heutigen Philosophen schon sehr tadelnswert finden.

Er sagt nämlich einmal, es war 1869, das menschliche Bewußtsein sei verwandt mit dem Tode, mit Sterben, und indem wir im Laufe des Lebens Bewußtsein entwickeln, entwickeln wir eigentlich in uns -langsam, nacheinander - die Kräfte, welche im Augenblicke des Todes auf einmal an uns herantreten. So ist für Fortlage der Augenblick des Sterbens ein unendlich vervielfältigter Bewußtseinsakt. Das Bewußt­sein ist für ihn, man könnte sagen, ein langsames Leben vom Sterben. Nicht das Leben ist ein Leben vom Sterben, aber das Bewußtsein im Menschen ist ein Leben vom Sterben, und der Tod ist ein in einem Moment zusammengedrängtes Bewußtsein.

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Es ist dies eine ungeheuer bedeutsame Bemerkung eines Psychologen. Es ist eine Bemerkung, wie gesagt, die der heutige Philosoph als un-wissenschaftlich schon tadelt. Das ist ja auch geschehen.

Nun kann man sagen: so bedeutsam diese Bemerkung für die Ver­hältnisse des heutigen menschlichen Seelenlebens, des Bewußtseins-lebens ist, ganz richtig ist sie nicht für jede Zeit der menschlichen Seelenentwickelung. Das ist wieder außerordentlich wichtig. Tausende von Jahren vor dem Mysterium von Golgatha hätte man so bei einer tieferen Erkenntnis nicht sprechen können. Unser heutiges Bewußtsein, das im gewöhnlichen Leben jeder früher vorhandenen atavistischen Heilseherkraft bar ist, lebt wirklich noch vom langsamen Sterben. Nicht so aber war es bei dem gegen das Mysterium von Golgatha all­mählich hinschwindenden atavistischen Hellseherbewußtsein der alten Zeit. Obwohl natürlich Worte in solchem Falle immer sehr wenig das Richtige ausdrücken, so möchte man doch sagen: Dieses alte Bewußt­sein war ein Überschuß von geistigem Leben über das organische Men­schenleben, während wir uns jetzt in einem Überschusse des organischen Menschenlebens, das dem Sterben entgegengeht, über das geistige Leben befinden. Jetzt haben wir unser Bewußtsein dadurch, daß wir vom sterblichen Leibe überwältigt werden, wenn wir des Morgens beim Aufwachen in ihn zurückkommen; und dadurch, daß wir vom sterb­lichen Leibe überwältigt werden, kommen wir dazu, Bewußtsein zu entwickeln, in dem Sinne, wie das heutige Gegenstandsbewußtsein ist. Anders war das, wie gesagt, bei den alten Leuten vor dem Mysterium von Golgatha. Sie hatten einen Überschuß des geistigen Lebens. Der ging nicht ganz auf, wenn sie des Morgens in den physischen Leib zurückkehrten, und dieser Überschuß drückte sich in ihrem atavistischen Heilsehen aus. Aber gegen das Mysterium von Golgatha zu wurde dieser Überschuß immer weniger und weniger, und in der Zeit des Mysteriums von Golgatha war für die Mehrzahl der Menschen ein Gleichgewicht vorhanden zwischen dem seelischen inneren Leben und dem organischen Leben des Leibes. Und dann nahm das organische Leben des Leibes überhand. Man möchte sagen: die Menschen vor dem Mysterium von Golgatha wußten durch die Geburt, die Menschen nach dem Mysterium von Golgatha wissen durch den Tod. Dadurch sehen

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wir auch wiederum, welch ein bedeutsamer Einschnitt in die Menschen-entwickelung das Mysterium von Golgatha eigentlich ist.

Nun geschah das Abnehmen des alten Hellseherbewußtseins, des be­wußten Lebens vom Geborenwerden. Langsam und allmählich schwan-den dem Menschen die seelischen Inhalte von einer geistigen Welt hin. Und eine Zeit kam, die fast ein Jahrtausend vor dem Mysterium von Golgatha währte, in der eigentlich nur diejenigen noch etwas von der geistigen Welt erfahren konnten, von der früher alle erfahren hatten, die in die Mysterien eingeweiht waren. Daraus kann man verstehen, was in meiner Schrift «Das Christentum als mystische Tatsache» an­geführt wurde, daß Plato, der von diesem Geheimnis wußte, die Be­merkung macht: Nur diejenigen Menschen, welche in die Mysterien ein­geweiht sind, sind im eigentlichen Sinne Menschen; die anderen leben mit ihren Seelen im Schlamm. - Eine eigentlich höchst grausame Bemer­kung, die aber auf das zurückgeht, was ich jetzt ausgesprochen habe, und es entspricht nicht einer Willkür, sondern durchaus einer Notwen­digkeit der menschlichen Entwickelung.

Nun stellen wir uns einmal für einen Augenblick vor, was dann geworden wäre, wenn das Mysterium von Golgatha nicht gekommen wäre. Wäre es nicht gekommen, so wäre die Entwickelung zunächst in derselben Weise fortgegangen; das heißt, es wären in der Außenwelt immer mehr und mehr Menschen gewesen, denen aller unmittelbare Zusammenhang mit der geistigen Welt hingeschwunden wäre, und zu­letzt wäre es dahin gekommen, daß die Menschen überhaupt nicht mehr geisterfüllt, sondern nur Larven, nur eigentlich organische, ätherische und dergleichen Gliederungen wären. Wir wären längst in der Zeit, in welcher die Seelen der Menschen nicht fähig wären, in Leibern wirklich zu leben, wir wären längst in der Zeit, in welcher die Seelen nur in der geistigen Welt über ihren Leibern schwebten; wir wären längst in der Zeit, in der nur mehr möglich wäre, daß weiterentwickelte Seelen aus früheren Zeiten inspirierend von oben herunter in die Menschheit hineinwirkten. Nur dadurch könnte in dem Menschen noch ein Bewußt­sein von der geistigen Welt auftreten, daß einzelne in den Mysterien inspiriert wurden. Der Menschengeist würde selber gar nicht auf der Erde wohnen. Mysterienstätten wären diejenigen Stätten, in denen

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Inspirationen eintreten würden; nur würde Ahriman immer dagegen kämpfen, würde gegen die Inspirationen kämpfen, er würde immer die Menschenlarven abhalten, im Sinne der Inspirationen zu handeln beziehungsweise er würde die Absichten, welche ihnen inspiriert wür­den, ins Gegenteil verkehren.

Daher mußte es möglich gemacht werden, daß die menschliche Seele in dem menschlichen Leibe, der durch die Geburt entsteht und durch den Tod vergeht, wiederum, im allgemeinen, wohnen kann, weil dieser menschliche Leib in seinem Leben, das dem Tode entgegengeht, das schwächer gewordene Leben der Seele überwindet. Das wurde nur da­durch möglich, daß ein Wesen aus der geistigen Welt, eben das Christus­Wesen, sich mit den irdischen Kräften verband, die jetzt für das Men­schenbewußtsein die herrschenden wurden. Mit welchen Kräften also? Gerade mit den Kräften, von welchen man jetzt das Bewußtsein hat:

mit den Todeskräften! Denken Sie, wie umfassend dadurch der Rosen-kreuzer-Ausspruch wird: In Christo morimur, in Christus sterben wirr Er drückt ja gewissermaßen unser ganzes Wesen aus, er drückt das­jenige aus, was durch das Mysterium von Golgatha in die Entwicke­lung der Menschheit hineingekommen ist, was sich mit dem todbrin­genden Kräften verbunden hat, damit diese todbringenden Kräfte das neuere Bewußtsein bilden können.

Mit der Frage, wie es denn unter solchen Umständen komme, daß so viele Menschen auf der Erde den Christus noch nicht anerkennen, hängen so viele Geheimnisse zusammen und so tiefe Geheimnisse, daß darüber eben in der Gegenwart im allgemeinen noch nicht gesprochen werden kann. Aber richtig für die Menschheitsentwickelung ist dieses, was ich eben ausgesprochen habe.

Denken Sie damit nun im Zusammenhange, wie das Mysterium von Golgatha sich vollzogen hat. Denken Sie damit im Zusammen-hange, daß der Christus sich in dem Leibe des Jesus von Nazareth verkörpert hat, also in einem Leibe, der selbstverständlich dazumal denselben Bedingungen ausgesetzt war, denen die Leiber der Menschen überhaupt ausgesetzt waren. Nach den reinen Vererbungsmerkmalen war der Leib des Jesus von Nazareth denjenigen Bedingungen aus-gesetzt, die sich allmählich dahin entwickelten, daß das Bewußtsein nun

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von dem Sterben des Leibes kommen soll. Was mußte denn geschehen, damit durch einen gewaltigen Ruck in die Entwickelung hinein ein ent­sprechender Impuls kam, als eine Kraft, die die Menschheitsentwicke­lung durchdrang von einem Bewußtsein, daß dem Tode verdankt ist zu leben? Es mußte das kommen, daß die Christus-Wesenheit, die drei Jahre hindurch in dem Leibe des Jesus von Nazareth lebte, diesem Leib etwas sagte, was aber nur im Augenblicke des Todes gesagt wer­den kann, denn nur im Augenblicke des Todes kann das alles zusam­mengedrängt werden, was Geheimnis des menschlichen Bewußtseins ist. Mußte also nicht, damit der gesamte Bewußtseinsimpuls, der da kommen mußte und in die Menschheit hineingedrängt werden konnte, mußte nicht der Christus den Jesus zum Sterben bringen? Das mußte er! Und wann sind wir selbst in jenem Augenblick, in dem wir hoffen können auf ein zusammengedrängtes Verständnis des Christus? Wir sind es in dem Augenblicke des Sterbens! Denn da sind alle diejenigen Kräfte im Augenblicke vorhanden, von denen unser Bewußtsein das ganze Leben hindurch erhalten wird. Im Moment des Sterbens sind wir geeignet, dasjenige aufzunehmen, was im Grunde genommen das Geheimnis unseres Bewußtseins ist, und damit aufzunehmen den Chri­stus-Impuls. Wir bereiten uns also eigentlich, indem wir Verständnis, Gefühl und Empfindung suchen für den Christus-Impuls, zur Auf­nähme des Christus-Impulses vor. Verständnis desjenigen, was uns im Tode trifft, können wir aber nur haben, wenn das Organ unseres Ver­ständnisses befreit ist, das heißt, der Moment des Todes gibt uns zwar die Bedingungen, uns mit dem Christus zu vereinigen, aber erst wenn wir vom ätherischen Leibe befreit sind, ist auch unser Ich und unser astralischer Leib, welche die Verständnisorganisationen dazu sind, ge­eignet zu schauen, was sich da mit uns vereinigt hat.

Damit nun auch die Bedingungen geschaffen wurden, daß das so sein könne, mußte noch etwas anderes im Mysterium von Golgatha eintreten. Nachdem gewissermaßen der Christus dem Jesus im Sterben auf Golgatha das Geheimnis des kommenden menschlichen Bewußt­seins anvertraut hatte, mußte die gewaltige Tatsache eintreten, daß der Jesus, der den Christus enthielt, sich zu einem neuen Leben erhob aus jener Kraft heraus, die der Tod ist, das heißt, es mußte die Auferstehung

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eintreten, damit wir die Auferstehung dann verstehen kön­nen, wenn einige Tage nach dem Tode unser Atherleib im Sinne unserer anthroposophischen Wissenschaft sich von uns ablöst. In diesem inneren Vorgange des Sterbens, des Sichablösens des ätherischen Leibes einige Tage nach dem Tode, leben wir nach in einer gewissen Weise das Myste­rium von Golgatha. Denn das mußte ja sein, daß aus dem Tode Leben, nämlich Bewußtsein hervorkam. Aber dieses Bewußtsein mußte selbst leben, also aus dem Tode mußte Leben entstehen. Das war vor dem Mysterium von Golgatha nicht gewesen. Nur aus dem Leben war vor­her Leben entstanden. Man brauchte früher nicht zu verstehen, wie aus dem Tode Leben hervorgeht, sondern man brauchte nur zu ver­stehen, wie aus dem Leben Leben hervorgeht. Daher - das ist wieder­um einer von den vielen Gesichtspunkten, durch die wir uns diesen Geheimnissen nähern - nahm das Christentum seinen Ursprung von der Auferstehung und darum ist kein sich so nennendes Christentum ein wirkliches Christentum, das nicht den Auferstehungsgedanken in all seiner Lebendigkeit voll durchdringt: daß der Christus, der in die Todeskräfte einzieht, ein Lebendiger ist! Das muß verstanden werden. Alles übrige gibt kein wahres Verständnis des Christentums, und ein neueres Christentum, das ohne den Auferstehungsgedanken auskom­men will, ist kein Christentum. Auch die Begleiterscheinungen sind solche, welche sich in harmonischer Weise an das anschließen, was eben in bezug auf das Mysterium von Golgatha gesagt worden ist. Was die Menschheit brauchte, war Tod und Auferstehung.

Nun bleibt aber unter denjenigen Gedanken, die man an das Myste­rium von Golgatha anknüpfen kann, immer der Todesgedanke des Christus Jesus ein sehr, sehr fraglicher Gedanke, aus dem einfachen Grunde - ich habe ihn schon öfter hier angedeutet -, weil auf der einen Seite der Mensch eigentlich gezwungen ist, die Tatsache zu verurteilen, daß sich Menschen gefunden haben, die den Unschuldigen zu Tode brachten, und weil auf der anderen Seite wieder das vorliegt, daß, wenn dieser Tod nicht eingetreten wäre, die ganze Wohltat des Chri­stentums nicht da wäre. Also durch ein Verbrechen ist die Wohltat des Christentums gekommen. Dieser fragwürdige Gedanke drängt sich ja immer mehr und mehr den Menschen auf. Sagen müssen sich die

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Menschen: hätte es damals diejenigen nicht gegeben, die damals so ver­brecherisch waren, den Christus zu töten, dann gäbe es das Christen­tum nicht. Aber das Christentum will man doch haben.

Da liegt eben einer derjenigen Punkte vor, wo man an das appellie­ren muß, was ich in einer der letzten Betrachtungen die Notwendigkeit, die eherne Notwendigkeit genannt habe. Der Mensch denkt in seinem Erdenleben nach seinen Gedanken. Er richtet nach seinen Gedanken die soziale Struktur des Lebens ein. Was wir als Volks-, Staats- und so weiter -einrichtungen haben, ist ja der menschliche Gedanke. Wir leben so, wie es die Menschen gemacht haben, ganz selbstverständlich, und unbeschadet dessen, daß die menschlichen Gedanken, nach denen die soziale Struktur bewirkt wird, entweder von Gott oder von dem Teufel kommen können. Im allgemeinen aber blicken wir zurück in sehr weit hinter dem Mysterium von Golgatha zurückliegende Zeiten. Daher wird es ohne weiteres einleuchten, daß in jenen alten Zeiten die Menschen durch ihr atavistisches Hellsehen auch die Gedanken-eingebungen zur Herstellung der sozialen Struktur empfangen haben, daß aber gerade aus den heute auseinandergesetzten Gesichtspunkten die Menschen in der Hinentwickelung zu dem Mysterium von Gol­gatha immer mehr und mehr Larven geworden sind, und dadurch den ahrimanischen Einflüssen immer zugänglicher wurden. Daher hat not­wendigerweise in den Einrichtungen des Lebens immer mehr und mehr ahrimanisches da sein können. Es mußte zum Beispiel eine solche Auf­fassung des gesetzlichen Lebens kommen, wie wir sie jetzt haben, und es mußte sich gerade eine solche Auffassung des gesetzlichen Lebens, das ganz ahrimanisch durchsetzt war, an einem Erdenpunkte, ich möchte sagen, konzentrieren. Nicht überall, aber an einem Erden­punkte konzentrierte sich das ganze ahrimanische Durchdringen der sozialen Struktur. Die Folge davon war, daß für diese soziale Struktur der Gegensatz, der göttliche Gegensatz des Hereinkommens eines Gött­lichen nicht das Liebenswerteste, sondern das Hassenswerteste war, das, was ausgeschieden werden mußte. Das ist eine Begleiterscheinung, die notwendig damit verknüpft ist.

In zweifacher Weise sehen wir diese soziale Struktur herankommen. Auf der einen Seite sehen wir, wie aus dem jüdischen Gesetz heraus

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sich Formen gebildet haben, die nicht begreifen konnten, daß das Gött­liche so nahe an die Menschen herankäme, wie es in dem Christus Jesus herangekommen ist, so daß dieses Gesetz notwendigerweise das nahe herangekommene Göttliche ausscheiden mußte, so sehr war es ahrima­nisch durchsetzt worden. Die Römer hinwieder, die auch ihren Anteil an dem Tode des Christus Jesus hatten, waren in bezug auf alles Außere in sozialer Strukturbildung stark. Man kann sich nichts Stärkeres den­ken in bezug auf soziale Strukturbildung wie das, was das Imperium Romanum gerade in der Zeit des Mysteriums von Golgatha schon zu­standegebracht hatte. Aber wie ist Pilatus, der Vertreter der stärksten weltlichen Macht, im Augenblicke, da das Mysterium von Golgatha eintritt, gegenüber der geistigen Macht ein Schwächling! Denn als nichts anderes, denn als ein Schwächling erscheint hier Pilatus, der überhaupt keinen Standpunkt gewinnen kann gegenüber dem, was geschehen soll. So sehen wir, wie sich auch in den Begleiterscheinungen dieses Ereig­nisses das zeigt, was ich in einer der letzten Betrachtungen hier an­geführt habe: Als das Mysterium von Golgatha herankam, war die Menschheit am wenigsten geeignet, es zu verstehen. Sie hätte es ver­standen in alter Zeit. Als es herankam, war sie am wenigsten geeignet, es zu verstehen, und erst auf anderen Wegen muß das Verständnis für dieses Ereignis kommen. Es ist wichtig, daß man das völlig ins Auge faßt.

Nun denken Sie einmal, wenn man das Geheimnis über den Men­schentod und über das Aufwachen des Menschen aus seinem astralischen Leib und dem Ich heraus ins Auge zu fassen versucht und es in nahe Beziehung zu bringen versucht zu dem Mysterium von Golgatha, wie man da diesem Mysterium von Golgatha selbst, in seinem ganzen Gefühlsleben nahekommen muß. Durch Gedanken, durch Empfindun­gen kommt man diesem Mysterium nahe, nicht durch das allgemeine leere Wort: ich will den Christus in mir haben, - sonderndurchdiekon­krete Erfassung desjenigen, was die konkrete Christus-Erscheinung in der Erdenentwickelung zu unserem eigenen Leben ist. Nicht umsonst vergeht gerade zwischen dem Tode und der Auferstehung des Christus Jesus so viel Zeit, wie bei uns zwischen dem Verlassen des physischen Leibes und dem Verlassen des Ätherleibes. Da ist für den heutigen

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Menschen nach dem Mysterium von Golgatha ein inniges Band zwi­schen ihm und dem Christus-Leben auf der Erde. Der Christus ist auf die Erde gekommen - können wir jetzt mit einer noch größeren Gewiß­heit sagen - aus dem Grunde, damit der Mensch der Erde nicht verloren-gehe. Larven wären die Menschen geworden, deren Seelen von oben herunter die Menschen dirigiert hätten, wenn das Mysterium von Gol­gatha nicht gekommen wäre. Die Tode hätten allmählich die Menschen von der Erde weggebracht. Der Zusammenhang des Menschen mit der Erde wurde wiedergeschaffen durch das Mysterium von Golgatha. Die Möglichkeit des Bewußtseins, das aus dem Tode kommen muß, wurde geschaffen durch das Mysterium von Golgatha.

Diese Dinge kann man heute verstehen, sie ergeben sich heute schon aus der Betrachtung der geistigen Welt, und diese Dinge können heute etwas werden, was die Menschen in ihre Seelen aufnehmen, um ihr Gemüt zu vertiefen. Und man darf wirklich fragen: Wird denn nicht dieses Gemüt vertieft, wenn es sich in bezug auf wichtigste Lebens-ereignisse, die uns jede Stunde bevorstehen können, so innig verbunden weiß, nicht nur im allgemeinen mit etwas Christus-Genanntem, son­dern mit etwas, was konkret auf der Erde gelebt und durch das Myste­rium von Golgatha durchgegangen ist? Wird denn nicht ein Strom erzeugt von unserem eigentlichen Seelenleben zu den historischen Er­eignissen von Golgatha, wenn wir die Sache so betrachten?

Da ist es denn notwendig, die Krisis zu betrachten, in der wir in der Gegenwart stehen. Vor acht Tagen habe ich an einem besonderen Bei­spiele diese Krisis klarmachen wollen. Ich habe zeigen wollen, wie ein Mensch, der sich bestrebt, wieder in das Leben des Christentums hin-einzukommen, alles mögliche sucht - aber den Christus gerade nicht. Man kann eben heute einer durchaus anerkannten, vielleicht auch ein­flußreichen, und in der nächsten Zeit noch viel einflußreicher werden­den christlichen Gemeinschaft angehören, ohne den Christus zu suchen. Das ist das, was auf dem Boden der Geisteswissenschaft immer wieder und wieder betont werden muß. Und es muß weiter betont werden, daß es des heutigen Menschen Aufgabe ist, die inneren Kräfte der Seele nicht zu scheuen, um solche konkreten geisteswissenschaftlichen Gedanken zu finden. Es muß eine gewisse Kraft der Seele aufgewendet

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werden, um diese Gedanken innerlich lebendig zu machen. Aber ohne das Aufwenden dieser Kraft der Seele kommen wir nicht weiter, denn es liegt einfach in der Natur des gegenwärtigen Menschen, daß er eine solche Kraft anwende. Aber eine Kraft, die eigentlich angewendet wer­den soll und nicht angewendet wird, erzeugt etwas Krankhaftes. Nun wird man nicht nur aus einem Mangel krank, sondern man kann auch aus einem Überschuß krank werden. Zahlreiche Menschen, die heute schwach sind, sind in Wirklichkeit heute stark. Lassen Sie mich das Paradoxon aussprechen: Zahlreiche dieser Menschen sind heute inner­lich stark. Manche Menschen, die ganz schwach herumgehen, unbefrie­digt in ihrer Seele und nicht wissen, wie sie, sagen wir, «in Harmonie mit dem Unendlichen» kommen sollen, sind eigentlich unterbewußt stark; aber weil sie das, was unterbewußt stark in ihnen ist, nicht ins Bewußtsein heraufbringen können, weil sie nicht wissen, was da unten kraftet und strebt, so nimmt dieses Unterbewußte verkehrte Wege und führt sie zur Haltlosigkeit. Geisteswissenschaft will nichts anderes als das Zum-Bewußtsein-Bringen desjenigen, was in dem gegenwärtigen Menschen streben und kraften will, was ins Bewußtsein heraufkom­men will. Und ins Bewußtsein heraufkommen will vor allen Dingen ein richtiges Verständnis, ein genügendes Verständnis für das Myste­rium von Golgatha. Das tritt einem heute manchmal in merkwürdiger Art entgegen.

Ich habe schon hingewiesen auf der einen Seite auf die Notwendig­keit, solches Verständnis zu finden, wie ich es jetzt eben angedeutet habe, und auf der anderen Seite auf das Zurückbeben vor einem solchen Verständnis. Daß eine Sehnsucht vorhanden ist, das Geistige wieder zu finden, das heute nicht ohne das Verständnis für das Mysterium von Golgatha gefunden werden kann, das zeigt sich ja an sehr vielen Er­scheinungen, und das wird auch genügend betont von allen möglichen, namentlich Schriftstellern, die aber von einem wirklichen Verständnis so weit wie nur irgend möglich entfernt sind. Und wir müssen uns auch bekannt machen mit dem, was man, ich möchte sagen, auf diesem Gebiete täglich sehen kann, wovon man täglich vernehmen kann, da­mit wir das Leben in der Gegenwart verstehen lernen. Auf der einen Seite muß es die Aufgabe desjenigen sein, welcher Interesse für die

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Geisteswissenschaft entwickelt, den Inhalt dessen, was sich aus dem Geiste heute mitteilen will, selbst zu erkennen und auf der anderen Seite auch das Leben, das sich heute vor dem Herankommen von Gei­steswissenschaft scheut, kennenzulernen, es gerade da kennenzuler­nen, wo es in einer Pseudogestalt auftritt, wo es so auftritt, als ob ein Streben nach dem Geiste vorhanden wäre - es ist ja auch vorhanden, aber eben nur im Unterbewußtsein -, wo man aber doch die wirkliche Gestalt der Geisteswissenschaft nicht aufkommen lassen will. Deshalb halte ich nicht damit zurück, auf solche unmittelbaren Erscheinungen des heutigen Lebens hinzuweisen.

Da ist mir wieder gerade aus der heutigen Zeit heraus ein Aufsatz vor Augen gekommen, in welchem jemand erzählt, wie er auf ein solches heutiges Streben hingewiesen worden ist. Ein Schriftsteller - es sind ja zumeist Schriftsteller, die heute schreiben - wurde von einem Herrn, den er gut kennt, darauf hingewiesen, daß er einmal, wie man heute sagt, Johannes Müller unbedingt hören müsse. Was Johannes Müller ist, meinte der betreffende Herr, müsse man heute unbedingt erleben. Und er erzählt nun weiter: Als jener Herr den Namen Jo­hannes Müller ausgesprochen hatte, fügte er sogleich hinzu, daß Johan­nes Müller Leiter eines Seelensanatoriums sei und so etwas wie eine neue Religion, eine Ethik begründet habe, aber bei dem Worte Reli­gion war er auch schon augenblicklich wieder irgendwo anders, und mit einem Satze befanden sie sich auf dem Gebiete der ausführlichsten Christologie. Mit ungeheurer Schnelligkeit entwickelte der betreffende Herr seine Auffassung vom Leben Jesu, von da ging es zur liberalen Theologie, zur Marburger Schule, Heidelberger Schule und so weiter, dann zu den Alexandrinern, zu den Links-Hegelianern und so weiter. Man erlebt ja auf diesem Gebiete heute die Torheiten vieler Menschen, die gerade für das Interesse haben, was in der heutigen Zeit auftaucht, und was sie dann bei einer solchen Gelegenheit alles möglichst in einer Viertelstunde abraspeln. Und mit dem Ergebnis dieser Unterredung, die so schnell ablief, daß, so meint der betreffende Schriftsteller, seines Wissens nur noch Kainz so schnell sprechen konnte, und der auch nur, wenn er nach einer Gastspielvorstellung noch den letzten Eilzug nach Berlin erreichen wollte, mit diesem Ergebnis ging er nun zu einem

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Vortrage von Johannes Müller. Es war ein Vortrag über den Zweck des Lebens.

Nun findet er, daß Johannes Müller über den Zweck des Lebens so gesprochen hat, wie man das von richtigen Heiligen hört: man solle sich opfern, man solle nicht für sich leben, solle für die Allgemeinheit leben und so weiter. Aber, so erzählt er weiter, eines sei ein Malheur gewesen. Er hatte sich nämlich nach dem Bericht des Herrn, der so schnell sprach, ein gewisses Bild gemacht. Hätte das Bild zugetroffen, meint er, so hätte er geglaubt, was Johannes Müller sagte. Aber das Bild hatte gar nicht zugetroffen; er schildert dieses Bild, das er in Jo­hannes Müller fand, in der folgenden Weise, die ich Ihnen nicht vor­enthalten will, denn es ist wirklich etwas, was einen gründlich auf die Art und Weise aufmerksam machen kann, wie gegenwärtig heute ver­fahren wird. Er sagt:

«Auf das Podium trat jedoch ein mittelgroßer untersetzter Mann mit kurzem Hals, buschigem Schnurrbart, blühender Gesichtsfarbe, das Urbild eines kerngesunden deutschen Kleinstädters. Ich konnte während des ganzen Vortrages die Vorstellung nicht loswerden: die­ser Mann würde einen prachtvollen Chef für eine große altrenom­mierte Nürnberger Spielwarenfabrik abgeben. Auch die Art, wie Jo­hannes Müller mit dem Publikum verkehrt, stört dieses Bild durchaus nicht. Seine Redeweise ist klar, bestimmt, freundlich, ruhig und doch von starker innerer Anteilnahme getragen, er sagt alles in der ver­ständlichsten Form und außerdem zwei- bis dreimal, er ruht nicht eher, als bis das, was er sagen will, restlos und eindeutig herausgekommen ist, er schweift nicht ab, spricht stets , ist von dem ehrlich­sten und ernstesten Wunsche erfüllt, dem Guten zu dienen: kurz, aus solchen Persönlichkeiten müßte ein idealer deutscher Stadtrat zusam­mengesetzt sein. Und so verhält es sich auch mit den leitenden Haupt-ideen: was Johannes Müller vorbrachte, waren im Grunde genommen die Feiertagsgedanken des deutschen Bürgers.»

Wie hat sich nun der Betreffende aber vorgestellt, daß der sein sollte, der auf das Podium tritt und vom Sich-Opfern, vom Aufgehen in der Allgemeinheit spricht? Das sagt er auch:

«Wenn dieser Johannes Müller - dessen Bild sich mir nun einmal so

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fest in den Kopf gesetzt hat, daß ich überzeugt bin: er muß dennoch irgendwo wirklich existieren - sein müdes blasses Haupt in die schmale weiße Hand gestützt und, mit seinen traurigen braunen Augen irgend­wohin, ganz irgendwo andershin blickend, mit sanfter klarer Stimme gesagt hätte: Ja, meine verehrten Anwesenden, glauben Sie mir: der Sinn des Lebens ist das Opfer, dann hätte nicht bloß ich, dann hätte jedermann, zumindest in diesem Augenblick, sich dasselbe sagen müssen. »

Das heißt: dann hätte der Betreffende ihm geglaubt. Ganz inter­essant. Warum hätte der Betreffende ihm geglaubt? Aus einem sehr einfachen Grunde: Der Betreffende ist ja nicht so wie die anderen Zu­hörer, er ist im heutigen Sinne ein kritischer Kopf, der also immerhin mit einer gewissen Schlauheit, oder wie man für dasselbe Ding heute besser sagt, mit einer gewissen Schläue, manches durchschaut. Und so sagt er sich: wäre ein Mann mit blassem Gesicht und hinschmelzendem Blick aus verinnerlichten Augen gekommen, so hätte der vom Opfer sprechen können; man hätte ihm geglaubt, weil man ihm angesehen hätte, daß sich-Opfern für diesen Mann eigentlich gar kein Opfer ist, daß dies die Freude seines Lebens ist, daß es ihn freut, Opfer zu brin­gen. Bei Johannes Müller trat das aber selbstverständlich aus dem äußeren Aussehen nicht sogleich hervor. Denn eigentlich trat dem Be­treffenden nur vor Augen: Ja, so wie nun der sich ausdrückt, wie der sich offenbart, so ist es ihm ganz gewiß kein Opfer, so zu sprechen, sondern es freut ihn erst recht, so zu sprechen, er tut ganz das, was ihm gerade Spaß macht. - Das ist trivial ausgedrückt, etwas paradox natür­lich auch. Er aber benennt es anders. Er meint: Dieser Mann will eigent­lich immer das tun, was seinem Ich entspricht, was seinem Ich Freude macht, aber das sagt er nicht; denn sonst müßte er den Leuten sagen:

Der Sinn des Lebens ist immer das zu tun, wozu der Impuls vorhanden ist, wozu man getrieben ist, kurz, er müßte immer so ähnlich reden wie Nietzsche. Das tut er aber nicht; sondern er sagt immer das Gegenteil von dem, was ihm an der Stirn geschrieben ist.

Heute aber ist vielfach die Sehnsucht vorhanden, das Gegenteil von dem zu hören, was man eigentlich tut. Fassen wir diesen Satz einmal in seiner ganzen Tiefe ins Auge: Es ist, sagte ich, vielfach die Sehnsucht

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vorhanden, das Gegenteil von dem zu hören, was man eigentlich tut. Es ist ja ganz zweifellos, daß die, welche am wenigsten geneigt sind, irgendwie der Allgemeinheit sich anders hinzugeben, als es ihrem Ich entspricht, daß diese ganz besonders geneigt sind zu hören: Der Sinn des menschlichen Lebens ist, sich zu opfern, sich der Allgemeinheit hin­zugeben. Man will etwas anderes hören, als was Wirklichkeit ist.

Was liegt denn da eigentlich vor?

Es ist schon so: Wer das Leben heute studiert, wer einen Sinn für das hat, was um uns herum vorgeht, der wird finden, wenn er darauf achtet, was die Menschen am liebsten sehen, am liebsten hören, daß sie eigentlich das vernehmen wollen, was nicht so ist, wie die innersten Impulse ihres Lebens. Man täuscht sich natürlich über diese Tatsache. Aber diese Tatsache ist die hervorstechendste für den, der im Leben der Gegenwart beobachten kann. Man will die Sensation des Gegen­teils von dem, was eigentlich ist. Es ist allerdings heute nicht viel Ver­ständnis vorhanden, um solche Dinge zu bemerken. Das muß man durchaus ins Auge fassen. Es gibt ja auch heute viele Mittel, um über ein scharfes Ins-Auge-Fassen einer Sache sich hinwegzuhelfen. Es könnte zum Beispiel jemand Johannes Müller hören, wie er sagt: Der Sinn des Lebens besteht darin, sich der Allgemeinheit hinzuopfern, -und er könnte fortgehen, in eine Gesellschaft, die sehr groß sein könnte, und dort sagen: Ich habe eben einen ausgezeichneten Redner gehört, der hat mir einen Satz gesagt, der mir ungemein einleuchtend ist, und nach dem ich mich durchaus verhalten will, den ich für die Allgemein­heit anerkennen werde: Der Sinn des Lebens besteht darin, sich der Allgemeinheit hinzuopfern, wie ich diesen Satz auffasse. - Durch einen solchen Zusatz ist es ja heute leicht, über manche scharfe Auffassung, welche die Wirklichkeit notwendig machen würde, sich hinwegzuhel­fen, und die Menschheit ist heute sehr geneigt, auf derlei Dinge ein­zugehen. Aber dabei bleibt eben durchaus die Wahrheit bestehen, daß es heute für viele Menschen, für die Mehrzahl der Menschen, eine Sen­sation ist, etwas anderes zu hören als das, was Wirklichkeit ist. Woher kommt das?

Es kommt von der Sehnsucht, von der wirklich heute vorhandenen Sehnsucht vieler Menschen her, nicht befriedigt zu sein in der äußeren

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Wirklichkeit, sondern etwas haben zu wollen, was nicht in dieser Wirklichkeit aufgeht. Die Menschen wollen schon etwas, was sich in der äußeren Wirklichkeit nicht erschöpft, es ist ein durchaus wahrer Impuls, über die äußere Wirklichkeit hinaus zu wollen. Dieser Impuls lebt sich nur nicht in der gesunden Weise aus, das Hereinragen der geistigen Welt anzuerkennen denn die Leute wollen überall einen Ausweg. Dem Manne zum Beispiel, dessen Schreiberei ich Ihnen vorhin vorgeführt habe, paßt selbstverständlich - so kann man wohl voraus-setzen - Johannes Müller immer noch mehr als die Geisteswissenschaft, aus dem einfachen Grunde, weil Johannes Müller immer sagt: Der Sinn des Lebens ist, sich der Allgemeinheit hinzuopfern - und da kann er nun darüber einen Aufsatz schreiben, um dann mit dem Satze zu schließen: «Was aber der große allgemeine Zweck des Gesamtiebens ist, das werden wir niemals erfahren, und es ist schließlich auch gar nicht notwendig, daß wir es erfahren.» Es bleibt also immer. noch die Möglichkeit, «geistvoll» «weltmännisch» zu sein und ein Philister, ein richtiger, ganz gewöhnlich er Philister. Diese Möglichkeit bleibt da doch auf diese Weise vorhanden

Diese Möglichkeit bleibt aber nicht vorhanden, wenn man ein Ver­hältnis zu derjenigen Weltanschauung suchen soll, der gegenüber ein Satz wie der vom Aufgehen in der Allgemeinheit zur bloßen Phrase wird, wenn man in unserer Zeit das Hereinsprechen der geistigen Welt mit ihren Forderungen für die Gegenwart nicht verkennt. Die einzelne Seele wird finden, inwiefern sie selbst in ihrer Entwickelung vorwarts-kommen soll, inwiefern sie sich aber auch der Allgemeinheit aufopfern soll an der Stelle, wo sie steht, wenn sie auf das hinhorcht, was die geistige Welt gerade in diesem Zeitpunkte von ihr will. Dann ist es nicht nötig, allgemeine Phrasen zu drechseln, dann ist es aber wohl nötig, jene Kraft in der Seele zu entwickeln, welche die konkreten gei­stigen Erscheinungen herbeiführt. Ein Satz wie der: Der Sinn des Le bens besteht darin, sich der Allgemeinheit zu opfern, - gegen dessen Richtigkeit selbstverständlich nichts eingewendet wird, der aber aus dem angeführten Grunde nie besonders fruchtbar werden kann, ein solcher Satz bleibt eben eine Phrase wenn nicht das eintritt, daß wir die geistige Wirklichkeit heute in die physische Wirklichkeit hineinzutragen

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verstehen. Denn dazu hat sich das Mysterium von Golgatha vollzogen, daß aus dem Tode neues Leben sprießt, daß, mit anderen Worten, aus unserem jetzigen Bewußtsein heraus, welches todverwandt ist, der lebendige Geist geboren werde. Und in diesem lebendigen Geist-gebären aus dem todverwandten Bewußtsein stehen wir dem Myste­rium von Golgatha nahe. Aber da und dort treten eben doch schon allerlei Anzeichen auf, daß die Menschen die Notwendigkeit einzu­sehen beginnen, auf das Geisteswissenschaftliche hinzuhorchen. Wir leben in einer schweren Zeit, leben in einer Zeit der Fragen, in einer Zeit der Konflikte, und jeder fühlt, daß gesucht werden muß, aus die­sen Konflikten herauszukommen. Aber in den Tiefen der Zeit liegt es begründet, daß aus diesen Konflikten in Wahrheit nur herausgekom­men werden kann - alles übrige muß ein In-Schein-Herauskommen sein - durch die Erfassung des Geistes, weil jedes übrige nicht eine volle Wirklichkeit ist, wenn es den Geist nicht erfaßt.

Das Mysterium von Golgatha ist zuerst aus der unmittelbaren phy­sischen Erfahrung heraus ergriffen worden. Ich habe das öfter dar­gestellt, wie die ersten Zeiten des Christentums von dem Christus sprachen, weil noch Leute da waren, welche den Christus gesehen hatten; wie dann wiederum von dem Christus gesprochen worden ist, weil Leute da waren, die solche gekannt hatten, die den Christus ge­sehen hatten. Ich habe auf konkrete Erscheinungen hingewiesen, wie zum Beispiel in der Sprache der ersten Apostel etwas nachlebte von der Sprache des Christus. So können wir finden, daß die erste Christus-Erfahrung, welche die Menschheit gemacht hat, eine solche vom physi­schen Plane her war. Aber bis in unsere Tage herein ist das verglom­men, und die Wende des neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert war eine solche Zeit, in der eigentlich das Christus-Verständnis dahin-gegangen ist, so daß es ganz notwendig ist, daß heute derartige Er­scheinungen hervortreten können wie die, auf welche ich das letzte Mal am Schlusse der Betrachtungen hingewiesen habe, die das Christentum suchen, aber gar nicht den Impuls in sich haben, den Christus selbst zu suchen. Und was heute geschieht, es geschieht zu gleicher Zeit als Aus­druck einer Krisis im Christus-Verständnis. Es ist wichtig, einzusehen, daß wir in der Zeit einer Krisis des Christus-Verständnisses leben, und

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ein neues Christus-Verständnis, das notwendig ist, kann auf keinem anderen Wege kommen als auf dein der geisteswissenschaftlichen Ver­tiefung. Vielleicht stürmen gerade ahrimanische Kräfte gegen diese geisteswissenschaftliche Vertiefung mit solcher Kraft an, weil sie so notwendig ist für die Gegenwart Das aber kann nicht hindern, daß derjenige, der erkennt, was Aufgabe der Geisteswissenschaft ist, gerade diese Aufgabe in Zusammenhang denkt mit den großen weltgeschichtlichen Aufgaben der Gegenwart. Die Lösung der roßen Fragen der Gegenwart - es ist wirklich eine einseitige Propaganda-Idee für die Geisteswissenschaft, wenn das ausgesprochen wird - muß schon eine solche sein, bei der aus der Erkenntnis des Lebens der Gegenwart folgt: Lösung der wichtigsten Tatfragen der Gegenwart ist nur mog­lich, wenn in diese Lösung die Erkenntnis der Geisteswissenschaft ein­geflossen ist.

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SECHSTER VORTRAG Berlin, 4. September 1917

In einer Zeit wie der unsrigen darf man vor allen Dingen nicht ver­wechseln die Wirklichkeit des geistigen Lebens und das Verständnis, welches die Menschen diesem geistigen Leben entgegenbringen. Es ist ja zweifellos: Wir leben in einer Zeit, in welcher das menschliche Ver­ständnis und auch das menschliche Gebaren vom Materialismus er­griffen ist. Aber man darf nicht glauben, daß in dieser Zeit des Mate­rialismus die geistigen Einflüsse etwa nicht vorhanden seien, daß gewissermaßen der Geist nicht da sei in seiner Wirksamkeit; das wäre falsch. Man kann sogar, so sonderbar der Ausspruch klingt, in unserer Zeit reichlich geistige Wirkungen, rein geistige Wirkungen im Men­schenleben wahrnehmen. Sie treten überall auf, sie sind da. Und sie treten so auf, daß man nicht sagen kann, sie würden dort, wo sie auf­treten, nicht gesehen oder sie wären dort nicht wirksam. So ist es nicht. Vielmehr ist es so, daß der brutale Wille der materialistischen Welt­anschauungen gerade über dasjenige, was sich zeigt, was da ist, einfach zur Tagesordnung übergeht. Wenn man heute beobachtet, wie sich die Menschen zum Geiste verhalten, wie sie sich verhalten, wenn geistige Wirksamkeiten von irgend jemandem geltend gemacht werden, dann wird man immer an einen merkwürdigen Zwischenfall erinnert, der sich schon vor vielen Jahrzehnten in einer mitteleuropäischen Groß­stadt ereignet hat. Da war in einer wichtigen Sitzung einer wichtigen Körperschaft davon die Rede, wie auf gewisse Finanzgebarungen moralische Versumpftheit, niedrige moralische Anschauungen einen bösen Einfluß genommen haben. Da war selbstverständlich eine große Partei in dieser erlauchten, erleuchteten Körperschaft, welche Finanzfragen eben nur vom finanztechnischen Standpunkte aus betrachtet wissen wollte. Aber eine andere Minorität - es sind ja meistens Minoritäten - war auch vorhanden, welche die moralische Korruption her­vorhob. Und ein Minister erhob sich und schob einfach dieses ganze Einmischen ungehöriger Begriffe hinweg, indem er sagte: Aber meine Herren, die Moral steht doch nicht auf der Tagesordnung! - So etwa,

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möchte man sagen, verhält sich heute ein großer Teil der Menschen, wenn die Rede auf spirituelle Erscheinungen, auf spirituelle Einflüsse kommt: Aber meine Herren, der Geist steht doch nicht auf der Tages­ordnung! - Er steht nämlich nicht auf der Tagesordnung dort, wo ver­handelt wird. Aber vielleicht treffen gerade die Verhandlungen nicht immer die Wirklichkeit; vielleicht ist gerade der Geist da, er wird aber nur nicht auf die Tagesordnung dort gesetzt, wo man über die An­gelegenheiten der Menschheit redet.

Wer heute nämlich Gelegenheit hat zu prüfen, wer alles so denkt, der trifft alle Augenblicke irgendeine ganz bedeutsame Tatsache etwa dahingehend, daß er mit jemandem besprechen muß, wie dies oder jenes entstanden ist, wie der oder jener dies oder jenes gegründet hat, die eine oder die andere Sache ins Leben gerufen hat. Hat man Gelegen­heit, intimer über solche Dinge mit Menschen zu sprechen, die insbe­sondere da oder dort berufen werden, dann erfährt man meistens etwas anderes, als diejenigen heute erfahren, vor denen man sich schämt, vom Geist zu sprechen. Man erfährt sehr häufig, daß dieses oder jenes nur getan worden ist, das eine oder das andere nur gegründet worden ist, weil der Betreffende diese oder jene Vision hatte, weil ihm dieser oder jener spirituelle Impuls gegeben worden ist. Wie gesagt, wer Ge­legenheit hat wahrzunehmen, wie viele Menschen heute unter rein spirituellen Impulsen, sei es auf Visionen oder auch nur auf solche Träume hin, in denen sich ihnen spirituelle Impulse ankündigen kön­nen, dieses oder jenes tun, wer Gelegenheit hat in dieser Beziehung, ich möchte sagen, die Wirklichkeit zu beobachten, der weiß, daß heute unendlich viel mehr, als man glaubt, unter dem Einfluß von spirituellen Mächten, von spirituellen Impulsen geschieht, die aus der geistigen Welt hereinfließen in die physische Welt, und daß durchaus das theo­retische Ablehnen, das anschauungsgemäße Ablehnen des Spirituellen nichts bedeutet gegenüber der Wichtigkeit spiritueller Tatsachen, die in unsere Welt durchaus lebendig hereinragen, aber allerdings nicht unbeeinflußt von dem herrschenden Materialismus. Solches Herein-ragen spiritueller Impulse hat zu jeder Zeit in der Menschheitsent­wickelung stattgefunden, und man sollte nur nicht glauben, daß es heute nicht da wäre. Spirituelle Impulse haben immer in die Menschheit

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hereingewirkt. Aber in unserem materialistischen Zeitalter kom­men die Menschen in einer anderen Art solchen spirituellen Impulsen entgegen, als sie in Zeiten ihnen entgegenkommen, in welchen man mehr Bewußtsein von dem Dasein der spirituellen Welt hat. Nehmen wir gleich einen bedeutungsvollen konkreten Fall.

Es ist aus gewissen Gründen außerordentlich schwierig, der Welt gewisse Tatsachen über die geistigen Verhältnisse mitzuteilen. Die Men­schen sind nicht vorbereitet genug, sie haben in sich nicht die Begriffe, um in entsprechender Art solche Mitteilungen aus der geistigen Welt entgegenzunehmen, und leicht werden solche Mitteilungen in das Ge­genteil verkehrt. So kommt es, daß gerade in der Gegenwart der in die geistige Welt Eingeweihte über die wichtigsten Dinge in vieler Be­ziehung schweigen muß. Man kann nicht einmal sagen, was geschehen würde, wenn über die wichtigsten Dinge einer völlig unreifen Mensch­heit gegenüber dieses oder jenes gesagt würde. Aber ein Fall, der sehr häufig vorkommt, ist der folgende: Verhandelt werden muß immer nach gewissen Weitgesetzen über die spirituellen Dinge. Wenn nun mit den Lebenden schlecht zu verhandeln ist, wie in der Gegenwart, so ist sehr häufig die Verhandlung mit den Toten eine um so regere, eine um so intensivere. Und man kann sagen: vielleicht war in wenigen Zeiten das Zusammenwirken, das bewußte Zusammenwirken des phy­sischen Planes mit der geistigen Welt, in welche die Verstorbenen ver­setzt sind, ein so reges, wie es in der Gegenwart sein kann. Aber nehmen wir an, irgendwo findet eine Verhandlung statt, die nur sein kann zwischen einem Wissenden auf dem physischen Plan und einem Verstorbenen. Dann kann gerade dadurch etwas sehr Merkwürdiges geschehen. Es kann gewissermaßen eine transzendente Indiskretion geschehen. Es können zwei Fälle eintreten. Nicht nur hier auf dem physischen Plane gibt es Horcher, die durch Schlüssellöcher horchen, sondern auch unter den Wesen der geistigen Welt gibt es Horcher, die Geister niederer Art sind, die aber eigentlich immer darauf aus sind, allerlei reelle spirituelle Tatsachen dadurch zu erfahren, daß sie hor­chen, daß sie namentlich das auffangen, was zwischen Wesen des phy­sischen Planes und der geistigen Welt gesprochen wird. Da kann dann der eine Fall eintreten: Wenn ein Mensch besonders leidenschaftlich

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ist, von seinen Leidenschaften besonders ergriffen wird, so daß man von ihm sagt: er ist außer sich -, was ja durch Leidenschaft öfter vor-kommt, oder wenn er betrunken ist, richtig physisch betrunken ist, oder wenn er in einem Ohnmachts- oder dergleichen Zustande ist, dann können solche Geister die Gelegenheit benutzen und über ihn kommen; und was sie ihm dann einimpfen, das kann ihm in Form einer Vision gleichzeitig oder später auftreten, und er kann dadurch allerlei er-lauschen, was er nicht hören sollte

Wer Sinn und Beobachtungsgabe für so etwas hat, der weiß, daß heute in allen möglichen Büchern unserer Literatur Unzähliges ge­schrieben wird, Unzähliges vorhanden ist, insbesondere in mancher höchst zweifelhaften Literatur, was auf allerlei verkehrte Art durch Indiskretion aus dem geistigen Verkehr herstammend ist. Es kann nichts Wirksameres geben, als wenn irgendein Kobold den Schreiber eines Detektivromans, wenn er gerade betrunken ist, von sich besessen macht, :n seine Menschlichkeit hineingeht, ihm irgendeinen Satz eingibt, so daß er diesen Satz in seinem Detektivroman unterbringt. Dieser Ro­man gelangt dann durch allerlei Hinter- oder auch Vordertreppen zu den Menschen, und jener Satz kann dann ganz besonders in den Men­schenseelen wirken, kann insbesondere dadurch wirksam werden, weil er durch die Art, wie die Menschen solche Dinge aufnehmen, nicht das volle Bewußtsein ansprechend ist, sondern an sich schon etwas zum Unterbewußtsein Sprechendes ist.

Das andere, was geschehen kann, ist, daß in irgendwelchen spiritisti­schen Sitzungen durch dieses oder jenes Medium das eine oder das andere geschildert wird und dann mischt sich in das, was durch das Medium zutage tritt, di' K dg b g eines solchen Geistes hinein der da seine Indiskretion unterbringen will. Wiederum ein Weg, der viel-leicht gerade an dem Punkte, wo er eingeschlagen wird, ganz besonders wirksam ist. Es soll darnit nicht etwas gesagt werden gegen das Mediumwesen an sich, sondern nur gegen seine Ausartun. Im Verlaufe des Menschheitskarmas treten verschiedene Dinge auf, die durch mediale Kundgebungen dieses oder jenes zutage fördern; das soll heute nicht besprochen werden, dagegen soll die Möglichkeit hervorgehoben wer-den, wie in der Tat gerade in einer Zeit, wie es die heutige ist, geistige

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Kanäle von der anderen Welt herübergehen in die physische Welt. Diese Kanäle sind sehr, sehr zahlreich, und sie sind viel mehr wirklich als man denkt. Dies vorausgesetzt, werden Sie begreifen, wenn ich nun etwas sage, was ganz gewiß der Gegenwart gegenüber heute vielfach noch als ein Paradoxon aufgefaßt werden kann, was aber doch rief wahr ist.

Man wird in der Zukunft gewiß über die Ereignisse der Jahre 1914, 1915, 1916, 1917 schreiben. Man wird mancherlei schreiben in dem Sinne, wie Geschichtsschreiber eben schreiben. Man wird über die Ur­sachen dieses furchtbaren Weltkrieges schreiben, man wird nach allen Seiten die Dokumente durchstöbern, die sich in allen möglichen Archi­ven finden, und wird versuchen, aus diesen Dokumenten heraus eine plausible Geschichte, vielleicht des Jahres 1914, in bezug auf die euro­päischen Ereignisse zu schreiben. Das Wichtige, was wir bei einer solchen Sache einsehen müssen, ist dies, daß alle Dokumentenfor­schung, daß alle Berichterstattung, die nach dem Muster der histori­schen Forschung bis zur Gegenwart angeregt ist, nicht ausreichen wird, um die Ursachen dieses ungeheuren Weltereignisses klarzulegen. Denn unter den wichtigsten Ursachen werden solche sein, die ihrer Natur nach auf äußeren Dokumenten, die man mit Tinte oder Drucker­schwärze fabriziert, eben nicht aufgezeichnet worden sind, sondern die, weil sie eben wiederum heute nicht «an der Tagesordnung» sind, gewissermaßen abgeleugnet werden. In diesen Tagen lasen Sie gewiß die Berichte über jene russische Gerichtsverhandlung, bei welcher der russische Kriegsminister Suchomlinoff, der damalige Generalstabschef und andere Persönlichkeiten bedeutsame Aussagen gemacht haben. Über diese Aussagen sind viele Leute entrüstet; bei diesen Aussagen fällt vielen Leuten ein, daß man ja darob sich stark moralisch entrüsten kann, darüber zum Beispiel, daß Suchomlinoff den Zaren angelogen hat, oder daß der russische Generalstabschef, als er den Mobilisations­befehl noch in der Tasche hatte, dem deutschen Militärattaché das feste Versprechen abgab, daß dieser Befehl noch nicht erlassen sei, weil er ihn erst nach wenigen Minuten an die betreffenden Stellen weitergeben wollte. Gewiß, darüber kann man sich entrüsten, darüber kann allerlei Moralisches deklamiert werden. Aber gelogen wird nun einmal heute

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so viel, daß es den Weltenkenner eigentlich nicht wundern sollte, daß an einer wichtigen Stelle einmal recht saftig gelogen worden ist. Dies jedoch und was die Leute darüber reden, ist nicht die Hauptsache. Etwas anderes ist die Hauptsache. Wenn man nämlich diesen ganzen Prozeß durchliest, findet man sogar merkwürdige Worte, die hand­greiflich auf das hindeuten, worum es sich handelt. Suchomlinoff er­zählt geradezu, daß er, als diese Sachen sich abspielten, für eine Zeit­lang den Verstand verloren hat. Er sagte geradezu: «Ich hatte darüber den Verstand verloren.» - Das ganze Hin und Her hatte ihn um den Verstand gebracht. Und damals waren nicht wenige Leute in einer solchen Lage.

Stellen Sie sich einen solchen Suchomlinoff vor, der den Verstand verloren hat: da ist so richtig die Möglichkeit, daß ahrimanische gei­stige Wesenheiten von seiner Seele Besitz ergreifen und ihm alles mög­liche eingeben; das ist die Art, wie Ahriman in die Welt hereinwirkt, besonders wenn wir - außer wenn wir schlafen - keinen Wert darauf legen, voll in unserem Bewußtsein zu sein. Sind wir voll in unserem Bewußtsein, so können solche geistigen Wesen keinen richtigen Zugang zu unserer Seele haben. Ist aber die Geistigkeit, das Bewußtsein her­untergetrübt, so haben ahrimanische Wesen sofort den Zugang zu uns. Das sind die Tore, die Fenster, wo die ahrimanischen und luziferischen Wesenheiten in die Welt hereinkommen und ihre Pläne ausführen, indem sie die Menschen im Zustande des herabgedämmerten Bewußt­seins überfallen und von sich besessen machen. Denn nicht auf eine unerklärliche, schauderhafte Weise wirken Ahriman und Luzifer, son­dern dadurch, daß die Menschen mit ihrem Bewußtseinszustande ihnen entgegenkommen. Wer die Geschichte dieses Krieges in Zukunft wird schreiben wollen, der wird untersuchen müssen, wo überall solche herab-gedämpften Bewußtseinszustände vorhanden waren, wo überall Tore und Fenster geöffnet waren für das Hereindringen ahrimanischer und luziferischer Mächte. Das ist bei früheren ähnlichen Ereignissen nicht in demselben Grade der Fall gewesen. Bei früheren ähnlichen Ereig­nissen wird man mit dem ausreichen, was Professoren und Geschichts­schreiber finden, indem sie die Archive untersuchen und aus dem Ge­fundenen die Ursachen für die Ereignisse zusammenstellen. Diesmal

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wird ein Rest bleiben, wenn man noch so genau die äußeren Doku­mente zusammenstellen wird. Und dieser dableibende Rest ist das Hereinragen ganz besonderer geistiger Mächte durch die abgedämmer­ten Bewußtseinszustände in die Menschenwelt.

An anderer Stelle habe ich davon gesprochen, wie auf einem ge­wissen Gebiete der Erde seit Jahrzehnten die Verhältnisse so zubereitet wurden, daß im richtigen Momente die richtigen ahrimanischen Kräfte in die Menschheit hereinwirkten. Eine ungeheuere Flut von geistigen Impulsen ging im Juli und August 1914 durch Europa, ein Wirbel geistiger Wirkungen. Das ist es, was ganz besonders zu berücksichtigen ist, was verstanden werden soll, richtig verstanden werden soll. Man versteht eben die Wirklichkeit nicht, wenn man nicht in der Lage ist, an diese Wirklichkeit mit denjenigen Begriffen heranzutreten, die aus dem konkreten geistigen Leben genommen sind. Geisteswissenschaft ist zum Verständnis der Wirklichkeit der Gegenwart einmal notwen­dig. Und auch eine Wirksamkeit in der Gegenwart, sei es auf politi­schem, sei es auf anderen Gebieten, ist nicht möglich, ohne daß der Mensch über die Ereignisse ein waches Leben entwickelt mit den Vor­stellungen, mit den Begriffen, die er aus der Geisteswissenschaft ge­winnen kann. Nicht als ob man alles schablonenhaft nach der Geistes­wissenschaft beurteilen kann, aber sie ist etwas, was uns dazu anleitet, wach das Gegenwartsleben mitzuerleben, während gerade die materia­listische Seelenverfassung uns schlafen läßt über das Allerwichtigste, uns nicht so aufrüttelt, daß wir zu einem Urteil über unsere Zeitgenos­senschaft kommen.

Das ist es ja, was ich in die Untertöne, die ich in die geisteswissen­schaftlichen Vorträge und Betrachtungen lege, so gerne hineinbringen möchte, damit diese Geisteswissenschaft wirklich lebendiges, regsames Element werde, so daß die Seelen sich so zu dem Außenleben verhalten, wie es der Außenwelt entspricht, und ergriffen werden von dem Kon­kreten der Welt, nicht nur der Geisteswissenschaft. Man muß richtig aus Symptomen heraus urteilen können.

Ich habe Ihnen neulich erzählen können, mit welcher geradezu phä­nomenalen Oberflächlichkeit ein Berliner Universitätsprofessor sich über die Anthroposophie hergemacht hat. Ich habe Ihnen erzählt, was

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an Entstellung oder auch unbewußter Verleumdung sich Max Dessoir geleistet hat. Aber das steht doch im Zusammenhang mit dem ganzen Erscheinungskomplex, daß ein solches Individuum Max Dessoir in einer gelehrten Körperschaft drinnen steht, ja, daß noch etwas ganz anderes möglich war. Dieses Individuum Max Dessoir hat einmal eine Geschichte der Psychologie geschrieben, und wie er in der Vorrede zu diesem Buche gleich bemerkt, hat er besagte Geschichte der Psychologie auf Anregung der Berliner Akademie der Wissenschaften verfaßt, die einen Preis auf die Darstellung der Geschichte der Psychologie aus­geschrieben hatte. Diese Geschichte der Psychologie ist ein so lotteriges, ein innerlich so defektes Werk, daß das betreffende Individuum Max Dessoir es selbst später wieder zurückgezogen und einstampfen lassen hat. Es könnten also nicht so viele Exemplare davon vorhanden sein. Aber ich besitze ein Rezensionsexemplar dieses Buches und werde viel­leicht noch manches darüber erzählen können. Vorläufig mußte ich mich damit beschäftigen, in meiner demnächst erscheinenden Broschüre in dem Kapitel über die Angriffe gegen die Anthroposophie. Also Max Dessoir schreibt über die Geschichte der Psychologie, und er läßt dann dieses Werk wieder einstampfen. Aber die Tatsache liegt vor, daß die Berliner Akademie der Wissenschaften diese eingestampfte Geschichte der Psychologie preisgekrönt hat! Diese Dinge darf man nicht ver­schlafen, denn sie sind symptomatisch und sprechen für das, was in unserer gegenwärtigen Welt geschieht.

Was sind solche Individuen für Menschen? Es sind die, welche die junge Generation heranziehen, welche diejenigen heranziehen, die dann die leitenden Persönlichkeiten der Menschheit werden; es sind die, welche dasjenige Geschlecht heranziehen, das es bis zu dem gegenwär­tigen Zustande der Welt gebracht hat! Es ist schon notwendig, die Dinge in ihrem Zusammenhange zu sehen, es ist notwendig, schon zu sehen, wie die Symptome für das sprechen, was einzig und allein zum Verständnis desjenigen führen kann, in dem wir leben. Dies also ist es, was ich so gerne als einen Unterton in dieser Geisteswissenschaft haben möchte, daß es die Seelen ergreife und zu wachenden Beobachtern ihrer Umgebung mache, denn die Gelegenheit zum Schlafen ist heute eine gar große. Selbstverständlich werden die ahrimanischen und luziferischen

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Kräfte jede Gelegenheit benutzen, um die volle Bewußtheit ab­zulenken, die den Menschen für die Beobachtung der um ihn liegenden Wirklichkeit aus den geisteswissenschaftlichen Begriffen heute über­kommt. Aber das Bewußtsein herunterzudämmern, dafür ist in man­cherlei Beziehung Gelegenheit da.

Man kann auch, indem man studiert - und studiert nach einer be­stimmten Richtung -, immer klüger, immer gescheiter, immer gelehr­ter werden; gewiß, das kann man werden. Aber man kann dabei an der Helligkeit seines Bewußtseins Einbuße erleiden. Da kommt man auf dünnes Eis, auf recht dünnes Eis, wenn man die Wirklichkeit be­spricht.

Nun kann man zwar, ich möchte sagen, auf gewisse Punkte im Leben der Gegenwart nicht vom Eingeweihten-Standpunkte aus hindeuten, weil etwas Ungeheuerliches daraus erfolgen könnte; aber auf manche Sachen kann man, muß man und soll man hindeuten. Da ist zum Bei­spiel ein deutscher Universitätsprofessor. Ich will über den Mann gar nichts Schlimmes sagen, sondern alles mögliche Gute, aber ich will ihn sachlich charakterisieren. Dieser Mann ist ein großer Gelehrter, ein bedeutender Gelehrter auf dem Gebiete der Theologie. Er hat viel studiert. Doch das Theologiestudium hat ihn zwar gelehrt gemacht, aber nicht wachend, nicht dasjenige sehend, was in der Welt Wirklich­keit ist. Nun hat er als Theologieprofessor die Aufgabe, über Religion und Religionswissenschaft, über das, was in der Religion verehrt wird, über überirdische Mächte zu sprechen. Das ist den Theologieprofes­soren heute eine recht unbehagliche Sache. Daher reden sie gern mehr über religiöse Zustände, über die Art und Weise, wie die Seele emp­findet, wenn sie der geistigen Welt gegenübersteht. Nun liegt bei die­sem Professor etwas Besonderes vor. Er hat, wie alle Menschen in der Gegenwart, die seiner Art sind, eine gewisse Furcht vor der geistigen Welt, vor ihrem Enthüllen und ihrem Eingießen in wörtliche Defi­nitionen, in wirkliche Vorstellungen. Diese Angst habe ich Ihnen öfter charakterisiert: sie ist rein ahrimanischen Ursprunges. Der Betreffende fühlt: wenn er auf der einen Seite nach dem Durchdringen der mate­riellen Welt in die geistige Welt hineinkommt, so begegnet er Ahriman. Er muß Ahriman überwinden, muß ihn beiseiteschaffen. Nun sehen

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wir, ein solcher Theologe steht nun vor der großen, die Geistigkeit offen­barenden Natur; irgendwie darauf eingehen will er nicht. Was sich da durch die Natur offenbart an Wesenheiten der höheren Hierarchien, das ist ja heute nicht wissenschaftlich; doch den Seelenzustand beim religiösen Erleben will er untersuchen. Aber indem man den Seelen-zustand untersuchen will und eigentlich nicht auf die wirkliche geistige Welt eingeht, verfällt man eben sehr leicht jenem Seelenzustande, den man gerade den ahrimanischen Mächten gegenüber haben kann. Ein Teil des religiösen Gefühls ist daher für diesen Theologen die Furcht, die Scheu vor dem Unbekannten. Das Unbekannte möchte er auf kei­nen Fall zu einem Bekannten machen. Aber die Scheu, die Furcht vor dem Unbekannten, die nun gerade von ahrimanischen Wesen herkommt, registriert er als ein Glied im religiösen Fühlen.

Indem er auf die Hierarchien, die hinter der Sinneswelt leben, nicht eingehen will, sondern nur den Seelenzustand charakterisieren will, verdunkelt nun schon Ahriman sein Verständnis für die geistige Welt. Die soll das große Unbekannte sein, das Irrationale, und das eigentlich Religiöse liegt, wie er sagt, im Mysterium tremendum, im Mysterium des Fürchtens, im Mysterium der Scheu. Aber das ist nicht das einzige. Nach außen paßt Ahriman auf, wenn man die geistige Welt finden will, nach innen paßt Luzifer auf. Der moderne Theologe jedoch, den ich meine, sucht auch nach innen wieder nicht nach den Hierarchien. Da muß die Welt der Hierarchien wieder das große Unbekannte blei­ben, das er nur ja nicht zu etwas Bekanntem machen will. Aber die innere Seelenverfassung soll untersucht werden; das muß nun das Entgegengesetzte von dem sein, was das Mysterium der Furcht ist: das ist das Mysterium des Faszinierens. Da werden wir angezogen, faszi­niert. Nun hat er auf der einen Seite das Mysterium der Scheu, auf der anderen Seite das Mysterium des Faszinierens; daraus setzt er das religiöse Leben zusammen. Es finden sich nun selbstverständlich heute Kritiker, welche das als den besonderen Fortschritt der Menschheit auf diesem Gebiete empfehlen, daß nun die theologische Betrachtung end­lich davon abkomme, von geistigen Wesenheiten zu sprechen, daß sie nicht mehr von dem Rationalen, sondern von dem Irrationalen spreche, von dem Mysterium des Faszinierens und von dem Mysterium der

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Scheu, von dem zweifachen Sichhinwenden auf ein Unbekanntes. Es wird ja bestimmt das Buch des Breslauer Universitätsprofessors Otto:

«Über das Heilige» ein sehr berühmtes Buch in der Gegenwart werden, dieses Buch über das Heilige, welches das ganze religiöse Leben ent­rationalisieren will, aber nicht nur dies, sondern auch entkonkretisieren und alles bestimmte Fühlen ausmerzen will, auf der einen Seite aus der Scheu vor dem Unbekannten und auf der anderen Seite aus dem Er-fülitsein von dem Fasziniertsein durch das Unbekannte. Diese ganze Betrachtung des religiösen Lebens wird besonderes Aufsehen machen. Man wird sagen: Endlich sind wir über die alte Art hinaus, etwas über die geistige Welt aussagen zu wollen.

Wer etwas über Anthroposophie kennt, der muß verstehen, was in einem solchen Falle vorliegt, daß hier ein Dämmerzustand des Bewußt-seins bei dem betreffenden Gelehrten vorliegt. Solche Dämmerzustände kennt man. Philologen wie Naturforscher kommen sehr häufig in solche Zustände, wenn sie nur auf einem engbegrenzten Gebiet forschen, und dann haben Ahriman und Luzifer den Zugang zu ihnen. Warum sollte nicht Ahriman einen solchen Forscher davon abhalten, auf die geistige Welt hinzublicken und ihn einlullen in das Gefühl des Mysterium tremendum, des Mysteriums der Furcht? Warum sollte nicht Luzifer ihn einlullen in das Gefühl des Mysterium «fascinosum»? Einzig und allein das Aufgeklärtsein darüber, welche Rollen Ahriman und Luzifer spie­len, ist es, was zum Gedeihen führen kann, sonst plätschert man in dem Unbestimmten des Gefühles herum. Das Gefühl ist ganz gewiß ein mächtiges Lebenselement, und der Intellektualismus darf nicht das Gefühlsleben unterdrücken, aber etwas anderes ist es, wenn ein un­bestimmtes Plätschern im Gefühlsleben jedes konkrete Ausblicken auf die geistige Welt hinwegdämmern will. Da muß man immer wieder an einen Ausspruch Hegeis erinnern, wenn es auch ein theoretisch zyni­scher Ausspruch von ihm war, auf Schleiermachers berühmte Definition:

das Religiöse läge im absoluten Abhängigkeitsgefühl, im Abhängig­keitsgefühl schlechthin. - Eine solche Definition ist ja nicht falsch, aber darum handelt es sich nicht. Hegel, der die Menschenseele auf das Kon­krete in der Welt hinlenken wollte und nicht auf das Abhängigkeits-gefühl, meinte: Wenn das Abhängigkeitsgefühl das beste religiöse Gefühl

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ausmacht, dann ist der Hund der beste Christ. - So meint Hegel. Und wenn das Mysterium der Scheu wirklich Bedingung wäre für ein gewisses inneres Erleben, dann brauchte man nur tollwütig zu werden, brauchte nur wasserscheu zu werden, und würde das intensivste Ge­fühl für das Mysterium der Scheu entwickeln.

Wenn wir das, was ich durch solche Betrachtungen nicht so sehr an theoretischem Gehalt, sondern an Gesinnungssubstanz vorbringen möchte, berücksichtigen, dann und nur dann können sich die Elemente ergeben, um in unserer Zeit den Weltenzusammenhang sachgemäß zu beobachten. Und auf solches sachgemäßes Beobachten kommt es ja an. Man kann an jeder Stelle in der Welt wo man steht, sachgemäß beob­achten, oder man kann an jeder Stell$ an der man steht, unsachgemäß schlafen; denn das, was in der großen Welt flutet und pulst, drückt sich auch im kleinsten Kreise aus. Das kann man überall beobachten; da handelt es sich nur darum daß wir es wirklich beobachten.

So beginnt eine Zeit, in der es wirklich von besonderer Wichtigkeit ist, dasjenige, was ich namentlich in diesen letzten Betrachtungen an-deutete, recht genau ins Seelenauge zu fassen. Zu einem Bewußtsein einer allgemeinen Göttlichkeit oder Geistigkeit der Welt kommen heute zahlreiche Menschen; zu einem wirklichen Christus-Bewußtsein kommen selbst Menschen Kicht von der Art Hermann Bahrs, wie ich es Ihnen mitgeteilt habe, als ich über seinen Aufsatz «Vernunft und Wis­senschaft» sprach. Er sucht Anschluß beim allerpositivsten Christen­tum der Gegenwart: bei Rom. Aber so viel er auch redet: irgendein Bewußtsein, den Christus-Impuls zu suchen, kann man in dieser ganzen Schrift «Vernunft und Wissenschaft» bei Hermann Bahr nicht

Gerade dies aber ist die Notwendigkeit in unserer Zeit: immer klarer und klarer gerade über den Christus-Impuls zu werden. Im Laufe des verflossenen Jahrhunderts haben wir den großen Aufschwung der naturwissenschaftlichen Vorstellungsart erlebt mit alle dem, was sie im Gefolge hatte. Dieser erste große Aufschwung der naturwissenschaft-lichen Denkungsart hat auch zu einem theoretischen Materialismus geführt, der von einem religiö sen Atheismus begleitet war. Der Athe­ismus hat ja in gewissem Sinne bei den Materialisten des neunzehnten Jahrhunderts wahre Orgien gefeiert. Aber solche Dinge schkgen um,

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und dieselbe Denkungsweise, welche aus gewissen luziferisch-ahrimani­schen Impulsen heraus beim ersten Aufschwung der Naturwissenschaf­ten die Menschen atheistisch werden ließ, wird sie gottgläubig werden lassen, wenn der erste Taumel vorüber ist. Aus dem, was Darwin ge­lehrt hat, ist es ebensogut möglich, daß man gottgläubig werden kann, wie daß man Atheist werden kann. Es ist wirklich so, daß die Medaille auf die eine Seite und auf die andere Seite gelegt werden kann. Aber christlich kann man nicht aus dem Darwinismus werden, kann es auch nicht aus dem Aufschwung der modernen Naturwissenschaft werden, wenn man nur bei diesem Aufschwung stehenbleibt. Dazu gehört etwas ganz anderes: dazu gehört das Verständnis für eine gewisse Seelenver­fassung in den Fundamenten. Welche Fundamente meine ich?

Kant hat gesagt: Die Welt ist unsere Erscheinung, und wenn wir uns Vorstellungen von der Welt machen, so sind sie nach unserer Organi­sation gebildet. - Mit diesem Kantianismus ist, wie ich, nicht aus per­sönlicher Albernheit, sondern aus sachlichen Gründen hervorheben darf, am intensivsten erst im Fundament in meiner Schrift «Wahrheit und Wissenschaft» und in meiner «Philosophie der Freiheit» gebrochen. Diese beiden Schriften gehen davon aus, daß wir dann, wenn wir uns Begriffe über die Welt bilden und aus der Seele herausarbeiten, uns nicht von der Wirklichkeit entfernen, sondern daß wir in einen physi­schen Leib hineingeboren werden, damit wir durch Augen die Welt ansehen, damit wir durch Ohren die Dinge anhören und so weiter. Was uns die Sinne zeigen, ist nicht die ganze, das ist nur die halbe Wirklich­keit. Ich habe das noch einmal in meinem Buche «Die Rätsel der Philo­sophie» unterstrichen. Gerade dadurch, daß wir in einer bestimmten Weise organisiert sind, ist die Welt nur in einer gewissen Beziehung, wie die Orientalen sagen, Schein, Maja. Und dadurch, daß wir uns Vor­stellungen über die Welt bilden, kommt es, daß wir im Gedanken das hinzufügen, was wir unterdrückt haben, indem wir in den Leib hinein­gegangen sind. So ist das wahre Verhältnis zwischen Wahrheit und Wissenschaft. Wirkliche Wissenschaft ist Ergänzung des Scheines zur vollen Wirklichkeit. Und von dieser Idee ausgehend, daß die Welt in ihrer ersten Gestalt, wie sie den Sinnen vorliegt, durch uns - nicht durch sich - uns unwirklich erscheint, und daß wir diese Gestalt der

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Welt, die durch uns eine unwirkliche ist, im subjektiven Arbeiten zur Wirklichkeit machen, darf ich diesen Gedanken den paulinischen Ge­danken auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie nennen.

Denn es ist nichts anderes, als, auf das philosophische Erkenntnis-gebiet übertragen, der Gedanke der paulinischen Erkenntnistheorie, daß der Mensch so, wie er in die Welt getreten ist durch den ersten Adam, diese Welt in einer untergeordneten Art vor sich hat, und sie erst durch das, was er durch den Christus wird, in ihrer wahren Gestalt erlebt. Das Christentum kann warten in der Philosophie, in der Erkenntnis­theorie. Aber nicht darauf kommt es an, daß man die Erkenntnistheorie damit beginnt, daß man irgendwelche in der Theologie gebräuchliche Formeln an die Spitze setzt, sondern auf die Art des Denkens. Und ich darf sagen: In den Schriften «Wahrheit und Wissenschaft» und «Philo-sophie der Freiheit», trotzdem sie ganz aus der Philosophie heraus­gearbeitet sind, lebt paulinischer Geist. Von dieser Philosophie aus ist es möglich, die Brücke hinüber zu finden zu dem Christus-Geist, wie man von der Naturwissenschaft aus die Brücke zum Vater-Geist finden kann. Aber man kann nicht von der naturwissenschaftlichen Denkweise aus zum Christus-Geist kommen. So lange daher der Kantianismus, der durchaus als Philosophie ein vorchristlicher Standpunkt ist, irgend­wie herrscht, wird die Philosophie immer mehr das Christentum ver­nebeln. Da kann nur unrichtiges, verlogenes Christentum in die Philo­sophie hineinkommen, wenn der Kantianismus als erkenntnistheoreti­sche Grundlage herrscht.

Sie sehen also, die Dinge sind schon tiefer anzufassen, und es wäre notwendig, daß man dasjenige, was heute geistig zutage tritt, nicht bloß dem wörtlichen Inhalte nach, sondern der Art und Weise der Denkenden, der ganzen Richtung nach, ins Auge faßt. Dann würde man verstehen, worin für die Zukunft Fruchtbares ist, und worin das liegt, was überwunden werden muß. Und dann würde man die Fäden nach anderen Gebieten herüber finden, nach Gebieten, die man heute so braucht, wenn man aufwachen will, richtig aufwachen will. Die furchtbaren Zeitereignisse sollten wahrhaftig nur Symptome bleiben. Die große Umkehr sollte von innen kommen.

Wie stand man, lassen Sie mich das noch zum Schlusse sagen, allein

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da, als man vor 1914 in objektiver Weise die ganze verworrene Denk­weise Woodrow Wilsons charakterisierte. Ich habe auf das, was Sie über Wilson finden können, in meinem Helsingforser Zyklus auf­merksam gemacht. Das war in der Zeit, als die übrige Literatenwelt, weil damals gerade von Wilson nur Literatur und anderes übersetzt war, zu den Füßen von Woodrow Wilson gelegen hat, und wie wurde damals die «große, vornehme, unbefangene» Denkweise Wilsons hervorgehoben, vielfach von denen hervorgehoben, die jetzt ganz ge­wiß anders sprechen. Aber was war dazu notwendig? War Einsicht notwendig, oder etwas ganz anderes als Einsicht, um zu dieser Umkehr zu kommen? Dies aber ist notwendig, daß genauer auf das hingesehen wird, was Geisteswissenschaft bringen soll an Verbindung mit der gesamten Wirklichkeit, an Urteilen über die Wirklichkeit, gegenüber dem, was heute an Unwirklichkeit auf allen Gebieten und an wesen-losen Abstraktionen herrscht. Ich empfehle Ihnen, wenn Sie die Ideen der Zeit so genießen wollen wie jemand, der etwa, um eine Orange zu genießen, dieselbe zuerst zwischen zwei Eisenpfosten zerquetscht, um allen Saft herauszubringen, und nur was übrig bleibt verspeist, dann lesen Sie die ausgepreßten, die ausgequetschten Ideen der Zeit, welche Georg Simmel geschrieben hat über den Geistgehalt dieses Krieges. Da haben Sie ein Musterbeispiel von den in der Gegenwart «geistvollen» Dar­legungen, die nichts, aber auch gar nichts enthalten, sondern die nur ausgepreßte, ausgequetschte und inhaltleerste Begriffe sind. Wollen Sie sich ein solches Musterbeispiel einer solchen abstrakten, inhaltleeren Schrift der Gegenwart leisten, so finden Sie es in der Schrift «Der Geist-gehalt dieses Krieges» von Georg Simmel. Denn es ist von dem be­rühmten Philosophen, dem Erneuerer des modernen Denkens, der an der Berliner Universität den größten Zulauf hatte, der auch nie einen wirklichen Gedanken gehabt hat, aber der gerade in unserer Zeit be­rühmt geworden ist.

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SIEBENTER VORTRAG Berlin, 11. September 1917

Ich sagte schon, daß ich Ergänzungen zu den verschiedenen Betrach­tungen, die im Laufe dieses Winters hier angestellt worden sind, in diesen Sommerabenden hier vorbringen will. Einiges namentlich, das Ihnen von einer gewissen Seite her das schon Vorgebrachte in einer besonderen Weise ergänzen wird, glaube ich heute und dann wohl ein letztes Mal am nächsten Dienstag hier zu entwickeln.

Wenn man geisteswissenschaftlich die Entwickelung der Menschheit betrachtet, so bekommt man, wie Sie wissen, eine Anschauung über diese Entwickelung, die in vieler Beziehung recht sehr von dem ab­weicht, was die bloße Naturwissenschaft feststellen kann. Namentlich über die Entwickelung der Menschenseele selbst, oder besser gesagt, der Menschenseelen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende, bekommt man durch die Geisteswissenschaft eine andere Anschauung als durch die bloße naturwissenschaftliche Betrachtung. Nicht nur daß, wenn wir in ältere Zeiten zurückblicken, ein altes atavistisches Hellsehen vor­handen war, wie uns ja bekannt ist, welches in ganz anderer Weise ein Bewußtsein im Menschen erzeugte, als das heutige Bewußtsein ist, wie ich es Ihnen das letzte Mal ausführte, sondern es ist so, daß weit in spätere Zeiten herein, in spätere Jahrhunderte herein, Reste vom alten Hellsehen viel reicher vorhanden waren, als man sich auch nur vorstellt. Namentlich muß man nicht außer acht lassen, daß bis ins vierzehnte, fünfzehnte, sechzehnte und auch noch siebzehnte Jahrhundert - wenn auch abgeschwächt, herabgelähmt - über den größten Teil der Erde hin bei den Menschen zwar nicht ausgesprochenes atavistisches Hellsehen, aber deutlich in seinen Nachwirkungen sich zeigendes atavistisches Hellsehen vorhanden war. Und ich habe ja in früheren Betrachtungen aus­geführt, daß bis zum heutigen Tage bei vielen Menschen durchaus atavistisches Hellsehen vorhanden ist, daß man das nur nicht weiß, weil die Menschen heute sich genieren, vor den meisten ihrer Mit­menschen zu gestehen, wie in ihr Bewußtsein hereingetreten sind Offen­barungen von geistigen Welten in der Art, wie wir dies das letzte Mal

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kennengelernt haben. Es ist doch ein großer Unterschied zwischen dem, was die Menschenseelen bis ins sechzehnte, siebzehnte Jahrhundert herein erleben, und demjenigen, was die Seelen in späteren Zeiten bis in unsere Tage herein von der geistigen Welt unmittelbar erleben kön­nen. Im siebzehnten Jahrhundert gibt es viele Menschen, die nicht die Gegenstände des hellseherischen Schauens so unmittelbar würden be­schreiben können, daß sie sagen würden: Ich habe diese geistige Wesen­heit gesehen, habe jene geistige Wesenheit gesehen, - weil ihre Bewußt­seinskraft nicht stark genug war, wenn solche geistige Wesenheiten vor sie hintraten, um sie wirklich auch aufzufassen, in die Vorstellungskraft hereinzubringen. Die Bewußtseinskräfte waren herabgedämpft, aber trotzdem war es für jene Zeit noch so, daß sich die Wesenheiten der geistigen Welt viel mehr, als man dies heute ahnt, für die Menschen in ihr Wollen, Fühlen und Vorstellen hereinbegaben. In unserer Zeit ist es ja für den, der in das Schauen der geistigen Welt und in die Eigen­tümlichkeit dessen, was dort geschaut wird, eingeweiht ist, wirklich recht schwer, in ganz unbefangener Weise zu seinen Mitmenschen zu sprechen. Denn die Zeitgenossen würden, wie ich oft ausgeführt habe, einen viel zu starken Schock empfangen, wenn man gewisse, auch nur elementare Verhältnisse über die Erkenntnis des Menschen zur gei­stigen Welt darstellen würde. Denn mit so vielem, was die Menschen heute aus ihrem Materialismus heraus glauben, steht es so, daß der Eingeweihte aus seiner Erkenntnis der geistigen Welt heraus das Ge­genteil davon sagen muß. Das gibt natürlich alle möglichen Kollisionen mit dem, was die Zeitgenossen über irgend etwas aus ihrem materia­listischen Empfinden heraus als eine Wahrheit annehmen.

So war es noch nicht im vierzehnten, fünfzehnten, sechzehnten, nicht einmal im siebzehnten Jahrhundert. Es kommt davon her, daß vieles von dem, was heute als Literatur vorhanden ist, aus der Zeit des vier­zehnten bis siebzehnten Jahrhunderts, ganz falsch aufgefaßt wird, wirklich falsch aufgefaßt wird. Nicht nur, daß man glaubt, man wisse die Sachen anders und besser als jene Leute, sondern ihre ganze Art, sich zum Leben zu stellen, versteht man nicht mehr. Nun ist es eigen­tümlich, wie dies zutage tritt.

Es ist auf der einen Seite, man möchte schon sagen, ein merkwürdiges

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Schauspiel, wenn die modernen Philosophen in ihren Schriften und Vorträgen immer wieder und wieder über die Scholastiker des Mittel­alters sich ergehen und sich nicht genug tun können darüber, wie weit sie über all das vorurteilsvolle, aber auch pedantische kleinliche Be­griffszeug der Scholastiker hinaus sind. Die Wahrheit ist aber die, daß die modernen Philosophen der Scholastik gegenüber unendlich naiv sind, sie überhaupt ganz falsch verstehen. Denn bedenken Sie: In der Zeit der Scholastiker, während des Thomismus' und so weiter, war auch der, welcher als Philosoph wirkte, wenn er seine Begriffe in feiner Begriffskunst ausprägte, im Zusammenhange mit der geistigen Welt. Man kann zum Beispiel bei Thomas von Aquino im dreizehnten Jahr­hundert nicht sagen, was in seinen Büchern steht, sei auf eine solche Art gewonnen, wie heute Begriffe und Vorstellungen gewonnen wer­den. Das wäre falsch vorgestellt. Sondern was in seinen Büchern steht, müssen Sie sich so vorstellen, daß ihn fortwährend sein Geist aus der Hierarchie der Angeloi dazu inspiriert, und daß er dasjenige nieder-schreibt, was aus dem Bewußtsein eines höheren Geistes kommt. In der heutigen Zeit erscheint es für einen Philosophen geradezu als etwas Greuliches, wenn man ihm zumuten wollte, daß er sich nun hinsetzen sollte, warten, bis sein Engel ihn inspiriert, um dann dasjenige nieder-zuschreiben, was er dadurch der Menschheit sagen kann, daß gewisser­maßen sein Engel neben ihm sitzt, und er der Verkündiger und Bote desjenigen ist, was der Engel verkündet, was es als eine höhere Welt gibt, was er für die physische Welt offenbaren läßt durch den Mund eines physischen Menschen. Aber nur auf diese Weise kann man alles Entstehende, alles Werdende begreifen. Und ich sage jetzt etwas außer­ordentlich Bedeutsames und Wichtiges und wäre sehr glücklich, wenn Sie dieses Wichtige so recht ins Auge fassen würden: Nur auf die Weise, daß man zuhört, geistig, wie das einen inspiriert oder Imaginationen spendet, kann man über Werden, über Entstehen reden. Mit unserem jetzigen Bewußtsein seit dem sechzehnten, siebzehnten, besonders aber seit dem achtzehnten Jahrhundert, hängen wir überhaupt mit dem Werden nicht zusammen. Wir gehen direkt an die Dinge heran, aber was nehmen wir heute in unser Bewußtsein von den Dingen auf? Wir sehen zum Beispiel eine blühende Rose. Niemals aber, in keinem

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Augenblicke können wir das Werden wirklich sehen; sondern vom An­fange an, von der Keimbildung an, ist es immer das Absterbende, das Vergehende draußen, das wir wahrnehmen. Daß ich die rote Rose von mir aus wahrnehme, hängt damit zusammen, daß ich den vergehenden Teil auffasse. Werdendes kann man nur aufnehmen, wenn man zu-hören kann, oder Eindrücke empfangen kann von höheren Wesen. Einzig und allein höhere Wesen, die nicht in einem physischen Leibe in der jetzigen Zeit sich inkarnieren, können das, was an dieser Rose Werdendes ist, wahrnehmen. In dem niedersten Wahrnehmungsgebiete, dem subjektiven Lichte, das fast so dumpf wie das alte Hellsehen war, und, wenn es eintritt, heute noch ist, nehmen wir etwas von dem Wer­den der Rose wahr; aber nicht wenn wir sie mit dem physischen Auge ansehen, und das Angesehene mit unserem begrifflichen Wesen in unse­rem Bewußtsein erleben.

Daraus kann man sehen, daß ein wesentliches Kennzeichen unseres materialistischen Zeitalters dies ist: daß nur alles, was erstirbt, was vergeht, für das materialistische Zeitalter ins Bewußtsein herein zu bekommen ist. Das war eben noch nicht so zum Beispiel in der Scho­lastikerzeit, auch sogar noch nicht einmal so im siebzehnten Jahr-hundert.

Im siebzehnten Jahrhundert lebte in England ein wenig bekannter Philosoph, Henry More. Dieser Mann, der im Anfang des siebzehn­ten Jahrhunderts, im Jahre 1614, geboren ist, muß uns, wenn wir sein äußeres Leben betrachten, einfach wie der leibhaftige Beweis dafür erscheinen, daß die Menschen ihre Individualität nicht durch Vererbung ausbilden, sondern dadurch, daß sie die Eigenschaften, die nicht in ihren Eltern und Voreltern allein liegen, die Eigenschaften ihres vorigen Erdenlebens mitbringen. Die Eltern und Voreltern dieses Henry More waren orthodoxe Calvinisten, und als ganz kleiner Knabe bekämpfte More bereits die starre Prädestinationslehre, Vorbestimmungslehre Zwinglis, wies sie streng ab, ohne daß irgend jemand in seiner Um­gebung gewesen wäre, der das Gegenteil dieser starren Vorbestim­mungslehre Calvins und Zwinglis behauptet hätte. Aber Henry More hatte noch etwas anderes als Eigentümlichkeit: Wenn man seine Schrif­ten, die sehr interessant sind, studiert, so findet man das Merkwürdige,

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daß er von der inneren Gegenwart der geistigen Welt im menschlichen Bewußtsein ganz anders spricht, als man dies bei späteren Leuten fin­det. Er weiß, auch noch als Philosoph des siebzehnten Jahrhunderts, daß der Mensch dadurch allein, daß er ein fruchtbareres Bewußtsein als das gewöhnliche Bewußtsein für das Sterben der Welt hat, mit dem wirklichen Wesenhaften zusammenkommt, das sich über das Werden, über das Entstehen im inspirierten Bewußtsein ausspricht und dadurch in die Lage kommt, über Werden und Entstehen etwas zu wissen, wäh­rend man sonst nur etwas wüßte über alles, was innerhalb des Daseins immer mit dem Vergehenden zusammenhängt. Die Nuance des Ver­gehens nimmt man durch das heutige Bewußtsein überall wahr. Aber ganz ausgesprochen ist es schon bei Henry More nicht, daß er mit gei­stigen Wesenheiten verkehrt hat. Er konnte den Verkehr mit geistigen Wesenheiten nicht mehr ganz in seine Vorstellungsmasse hereinbekom­men. Die Vorstellungsmassen reißen ab. Wie ein Traum, den wir in der Nacht träumen, beim Aufwachen abreißt, so daß wir ihn nicht behalten, sondern ihn wieder vergessen, so konnte er die Vorstellung, daß ihm die geistigen Wesenheiten begegnet waren, nicht ins Bewußt­sein hereinbringen. Er hatte nur ein abgedämpftes Bewußtsein davon, daß die geistigen Wesenheiten in seinem Seelischen auflebten; aber die Wirkungen dieser Teilnahme der Seele an der geistigen Welt waren in ihm vorhanden. Sehr interessant ist bei Henry More ein Satz, der uns ja sehr geläufig ist, den wir öfters gehört haben, der Satz: Man muß, wenn man zu einer gewissen höheren Erkenntnis kommen will, lernen, sich selbst als ganzer Mensch so anzusehen, daß man ein Glied eines höheren Organismus ist; Wie der Daumen ein Glied an unserer Hand ist, und wie er sein Dasein verliert, wenn man ihn von der Hand ab­schneidet, so ist auch der Mensch nichts, wenn er herausgerissen ist aus einem gewissen organischen Zusammenhang mit dem Kosmos; nur daß es beim Daumen auffälliger ist als beim Menschen. Könnte aber der Daumen an unserem Körper spazieren gehen, so würde er sich wohl auch der Illusion hingeben, er wäre ein selbständiger Organis­mus. Die Erde als solche ist zwar für den Menschen da, aber gleich in der nächstangrenzenden höheren Welt ist der Mensch ein Glied des großen Erdenorganismus, kann sich nicht von ihm losreißen, so wenig

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wie der Daumen sich von der Hand losreißen kann. Und diesen Satz, den wir oft erwähnen, um im Menschen den törichten Egoismus zu be­kämpfen, der eine so große Rolle spielt, finden wir, wie in der Seele plötzlich auftretend, bei Henry More. Warum? Weil er mit der gei­stigen Welt so verkehrte, daß er sie zwar nicht sich vorstellungsgemäß zum Bewußtsein bringen kann, aber wie bei einem Traum, an den man sich noch erinnern kann, das Wissen hat von dem lebendigen Leben des Menschen mit dem Ganzen des Kosmos.

Wenn man herauszubekommen versucht, was Henry More getan hat, um das auszubilden, was in seiner Seele recht schön veranlagt war, dann findet man, daß er ganz besonders tiefe Eindrücke von einem gewissen Büchelchen bekommen hat, das auch auf einen anderen Mann einen großen Eindruck gemacht hat, der es deshalb dem deutschen Volke in einem größeren Kreise geschenkt hat: ich meine die «Theo­logia Teutsch» von einem Frankfurter. - Ich habe in meiner Schrift über die Mystik auch darüber gesprochen. - Luther hat sie wieder her­ausgegeben. Henry More war ein Student der Theologia Teutsch. Lesen Sie, was ich in meinem Buche über die Mystik darüber gesagt habe.

Die Frage wird jetzt vielleicht vor Ihre Seele hintreten: Was liegt da eigentlich vor, daß im dreizehnten, vierzehnten, fünfzehnten, sech­zehnten und noch im siebzehnten Jahrhundert Menschen auftreten, welche von einem unmittelbaren Verkehr mit der geistigen Welt wissen?

Was vorliegt, ist dies: die, welche in diesen Jahrhunderten am mei­sten von dem Zusammenhange des Menschen mit der geistigen Welt wissen, sie waren, wenn auch nicht in der letzten, so doch in der Regel in der vorletzten Inkarnation auf der Erde in der Zeit vorhanden, in welcher das Christentum in den Geheimschulen, in den Mysterien ge­rade vorbereitet worden ist; Daher werden wir sagen können: So ähn­liche Geister wie Henry More waren in einem Leben in den Jahr­hunderten vor dem Mysterium von Golgatha vorhanden, hatten dann ein Zwischenleben im siebenten, achten, neunten Jahrhundert; diese Zwischeninkarnation hat ihnen aber weniger gegeben, als ihnen das­jenige an Eindrücken gegeben hat, was bei ihren früheren Inkarnationen

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aus jenen Mysterien kommen konnte, welche vor dem Mysterium von Golgatha da waren, aber dieses durch ihre Lehren vorbereiteten. Das saß viel tiefer und intensiver in den Seelen. Daher manches so tiefe Wort, das gerade in dieser Zeit über das Christentum gesagt wird. Aus dem Verkehr mit der geistigen Welt schöpfen diese Menschen über eine Entstehung der Welt eine Erkenntnis, die vom siebzehnten Jahrhundert an nicht mehr geschöpft werden konnte. Von da an kann man ja immer mehr nur die äußere Historie heranziehen; die enthält aber nur das Vergehende. Da bedarf es dann wieder der Geisteswissenschaft, um die Erkenntnis des Entstehenden wiederzub ringen. Wie das Christentum in den großen tragischen Jahrhunderten, wie es damals mehr als ein hal­bes Jahrtausend vorbereitet wurde, das machte auf diese Geister einen ungeheueren, einen tiefen Eindruck, und sie behielten davon eigentlich nur einen Gemütsimpuls, den sie in Vorstellungen zu bringen ver­mochten. Den aber drückten sie aus.

Es ist sehr bedeutsam, gerade von diesem Gesichtspunkte aus einmal die Zeit vom vierzehnten bis siebzehnten Jahrhundert in der euro­päischen Geistesentwickelung an seiner Seele vorüberziehen zu lassen, einmal zu sehen, wie heute manchmal ganz fremde, weil sehr vergei­stigte, aus geistiger Erfahrung stammende Vorstellungen auch über das Christentum und über die Bibel in diesen Zeiten zu finden sind. Es ist schon für den heutigen Menschen außerordentlich interessant, den Blick auf das zu werfen, was in dieser Zeit das eigentlich Bedeutsame ist. Denn diese Zeit, von der ich da spreche, die Zeit vom vierzehnten bis zum siebzehnten Jahrhundert, ist wie die Zeit einer gewaltigen Rück­schau. In der Seele sind noch die Kräfte vorhanden, durch welche das in ihr heraufziehen kann, was in der geistigen Welt wogt und webt. Und recht versenken wir uns in die Geister der damaligen Zeit, wenn wir diesen rückschauenden Charakter des Bewußtseins nicht vergessen, indem wir diese Geister ins Auge fassen.

Daß man dies, was ich jetzt sage, ins Auge fasse, ist vor allen Dingen nötig, wenn man zum Beispiel Luther verstehen will. Es ist in der letzten Zeit ein immerhin ganz interessantes Buch von Ricarda Huch erschienen, «Luthers Glaube»; deshalb ein sehr interessantes Buch, weil es doch aus einer gewissen Vertiefung des gegenwärtigen Bewußtseins

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heraus immerhin geschrieben ist, und nur auf der anderen Seite in vieler Beziehung ein höchst unbehagliches, weil innerlich ungenügendes Buch ist. Mit Bezug darauf ist dann im Juli-Heft der Zeitschrift «Nord und Süd» ein Aufsatz erschienen, der da hieß: «Ricarda Huch und der Teufel» -, und in dem darauf aufmerksam gemacht wird, wie es die heutige Zeit nötig hat, auf das hinzublicken, was geistig lebt in dem Bewußtsein der Menschen in einer Art, wie es das unmittelbare Be­wußtsein der Gegenwart gar nicht mehr zu verstehen in der Lage ist; Deshalb ist es interessant, bei Ricarda Huch ganz besonders den Dä­monenglauben, den Teufelsglauben Martin Luthers ins Auge zu fassen. Sie möchte diesem Teufelsglauben Luthers gerecht werden, sie möchte nicht mit denjenigen Menschen gehen, die heute im landläufigen Sinne darüber reden, denn die Menschen sind heute sehr feig, und wenn sie Stellung zu nehmen haben zu einem Buche, das vom Teufelsglauben Luthers handeln will, so sagen sie wohl: Luther war gewiß ein großer Mann, aber daß er von dem Teufel gesprochen und an ihn geglaubt hat, das rührt eben von den Schwächen seiner Zeit her, da hat er den Aberglauben seiner Zeit geteilt. Solche Weisheit ist jedoch nicht viel mehr wert, als die Weisheit jenes biederen Gymnasialprofessors, der einmal mit seinen Knaben las, was Lessing in der «Hamhurgischen Dramaturgie» über das Drama geschrieben hat und seinen Schülern dänn auseinandersetzte, daß Lessing eigentlich nicht in der Lage gewesen wäre, die in der «Hamburgischen Dramaturgie» angeschlagenen Gedan­ken zu Ende zu denken. «Ja, wenn ich nur mehr Zeit hätte!» sagte der Professor. Und aus einer solchen Überlegung kommt auch das über­legene Wissen, daß Luther den Aberglauben seiner Zeit geteilt habe. Aber dennoch: niemand kann Luther recht verstehen, der nicht weiß, daß die Bewußtseinserfassung dessen, was man aus dem Geiste seiner Zeit heraus den Teufel nennt, wir nennen es heute Ahriman und Luzifer, für ihn wirkliche geistige Erlebnisse sind, nicht bloß an der einen Stelle auf der Wartburg, sondern überall, wo Luther von diesen Dingen spricht. Suchen Sie nur einmal diese Dinge im Zusammenhange aufzufassen, Sie können nicht anders, als zu der Überzeugung kommen:

So spricht nur ein Mensch von dem Teufel, der ihn gesehen hat, der ihn geschaut hat, und der da weiß: «Den Teufel spürt das Völkchen nie,

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und wenn er sie beim Kragen hätte.» Ricarda Huch polemisiert in außerordentlicher theoretischer Gutwilligkeit gegen diesen Dessoiris­mus, ich meine, gegen dieses Professorentum, das so gescheit ist, daß es weiß: den Teufel gibt es nicht, also ist der Luther doch ein aber­gläubischer Mensch ganz im Stile seiner Zeit gewesen; das müsse man dem großen Manne entschuldigen und verzeihen.

Ricarda Huch geht nicht mit denjenigen, die so von oben herab über die großen Geister der Vorzeit urteilen. Aber Ricarda Huch weiß offenbar aus eigener Anschauung nichts darüber, wie der Teufel aus­schaut. Sie glaubt an den Teufel, obwohl sie ihn nie geschaut hat. Wie glaubt sie an den Teufel? So glaubt sie an ihn, daß sie weiß, daß gewisse Dinge offenbar nicht aus naturwissenschaftlichen Tatsachen kommen, nicht aus menschlicher Physiologie, sondern vom Teufel kommen. Aber nun glaubt sie Luther doch etwas entschuldigen zu müssen. Sie sagt: Man solle sich nur nicht vorstellen, wenn man von Luther als einem abergläubischen Menschen spricht, daß Luther ge­glaubt habe, daß der Teufel so mit Hörnern und mit einem Schwanz auf der Straße herumgehe. Auch für sie ist die Zusammenfassung der Merkmale gewisser übler Triebe das, was sie den Teufel nennt, der als dummer Teufel, als stolzer Teufel und als lügnerischer Teufel auf­tritt. Sie redet von Abstraktionen, redet von Begriffen und glaubt, Luther hätte auch das getan, weil äußerlich das, was Ricarda Huch für ein bloßes Bild hält, von Luther auch gebraucht wird. Aber Luther muß dieses Bild gebrauchen, weil man sich nur dadurch über das aus­drücken kann, was man in der geistigen Welt erfährt. Luther hatte aber einen vollen Umgang mit dem Teufel. Er mußte ihn kennen­lernen durch die Seelenkämpfe, die man erleben muß, wenn man dem Teufel Aug' in Auge gegenübersteht. Und was er da erlebte, das faßte er in Bilder, wie man das, was man sonst erlebt, in Worte faßt. Wenn die Leute so dumm sind wie Professor Dessoir, und auch so korrupt, so könnten sie jemandem, der sich durch Worte ausspricht, vorwerfen, er glaube, in den Worten lägen die Dinge, die man aussprechen will. Genau dasselbe wirft mir Professor Dessoir vor, wo er sagt, ich leitete irgendwelche Entwickelungszustände der Menschheit aus Bildern und nicht aus Wirklichkeiten her. Man sollte nicht glauben, daß solch eine

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Sache überhaupt auftritt, aber sie tritt hier nicht bloß aus Uneinsicht auf, sondern auch aus Ignoranz. Besonders da, wo das zweite Kapitel meiner demnächst erscheinenden Schrift sich mit der unmöglichen, moralisch korrupten Gelehrsamkeit beschäftigt, die heute die Zeit mit sich bringt und die das furchtbare Elend der Zeit mitbewirkt, da wer­den Sie sehen, was für Leute heute in der offiziellen Wissenschaft her­umspazieren, was aber nicht hindert, daß die Königliche Akademie der Wissenschaften, wie ich Ihnen das schon erzählt habe, den Preis erteilt hat jenem Schmachtlappen einer Geschichte der Psychologie, den Herr Dessoir auf ihr Preisausschreiben hin eingeschickt hatte, und den er dann selbst zurückgezogen hat. Untersuchen Sie einmal, was die braven Kollegen Dessoirs über die Lotterigkeit und Oberflächlichkeit dieses wissenschaftlichen Schmachtlappens einer Psychologiegeschichte vorgebracht haben, dann werden Sie einen Begriff bekommen, was dann, selbst wenn wissenschaftlich-akademische Prämien vorliegen, durch die offizielle Wissenschaft spazierengehen kann.

Luther stand da in einem Zeitalter, in welchem er in seiner Seele den Zusammenhang mit der geistigen Welt hatte. Alles, was als ahri­manische Teufelei in der Welt erlebt werden kann, war für ihn eine Wirklichkeit. Das war es. Was er so erlebt hat, läßt sich nicht in gewöhnlichen Worten ausdrücken, denn die bezeichnen ja physische Dinge. Man muß es in Bildern ausdrücken, in Imaginationen. Aber die Imaginationen drücken wahrhaftig das aus, was man schaut und sieht. Das begreift Ricarda Huch nicht. Sie glaubt, wenn Luther vom Teufel spricht, so müsse man nicht gleich annehmen, daß, wenn man als schauender Mensch zahlreichen anderen Menschen entgegentritt, der bucklige Ahriman fest mit seinen Hörnern dem andern zwischen den Schultern sitze und mit seinem Kopfe hervorgucke. Diese Dinge hatte Luther aber gewußt, und die Bilder, die er gebraucht, sind nur Ausdrucksformen für bestimmte Erlebnisse. Er selbst ist nicht von der Art der Gutmütigen, wie Ricarda Huch, die da glauben, daß er nur Symbole gebraucht hat für das, was im Menschen aufsteigende, ab­steigende Kräfte, verkehrte Leidenschaften und so weiter seien.

Worin liegt die Kraft, die von Luthers Lehre, wie man sie oft nennt, ausgegangen ist? Aber Luthers Lehre ist keine bloße Lehre. Man wird

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ihr erst gerecht, wenn man sie als etwas anderes als eine Lehre ansieht, wenn man sich vergegenwärtigt: da steht Luther, und diese Seele schaut zurück in jene Zeiten, in welchen die Menschen den Umgang mit der spirituellen Welt gepflogen haben, und er selber pflegt den Umgang mit der spirituellen Welt gerade auf jenem Gebiete, welches ahri-manisch ist. Wenn man Ahriman sieht - lesen Sie nach, was in meinen Mysteriendramen darüber enthalten ist -, dann ist das gerade die Befreiung von ihm; wenn man ihn nicht sieht, ist das das Schlimme. Ihn zu sehen, so wie Luther ihn gesehen hat, das ist die Befreiung. Ungeheuer gewinnt die Kraft, die von Luther ausstrahlt, wenn man ganz im p6sitiven Erfahrungssinne der geistigen Welt die Dinge nimmt, die sonst eigentlich ganz unverständlich sind. Und auch da, wo er manches Wort sagt, das uns nicht gefallen kann, wird dies ganz natür­lich erscheinen, weil Luther über einen viel weiteren Horizont hin die Dinge zu sehen vermag, als normalerweise irgendein heutiger Mensch.

Es ist interessant, daß diese Erscheinung, Luther, nun auftritt als diejenige, welche am intensivsten dasjenige zusammenpreßt, was Er­gebnis von jenen früheren Mysterien ist; bedeutsam ist es. Und eines der größten Mysterienmitglieder in der vorchristlichen Zeit, unbescha­det einer späteren Inkarnation, war Luther schon in jenen vorbereiten­den Mysterien, und aus dem, was er in jenen Mysterien vor der Ent­stehung des Christentums aufgenommen hat, schöpfte er die Kraft, welche dann von ihm ausstrahlte.

Was hat er denn vor allen Dingen mit Bezug auf die Offenbarung, seines Schauens Ahrimans, der Welt zu sagen?

Vergegenwärtigen wir uns: das ahrimanische Zeitalter beginnt hinter­her. Die Naturwissenschaft hat heute Ahriman, und in ihren Er-kenntnissen lebt unbewußt Ahriman. Das ist das Charakteristische der heutigen materialistischen Weltordnung, daß in allen ihren Begriffen das Ahrimanische lebt. Und Luther ist dazu ausersehen, an einem wich­tigsten Wendepunkte vor der Welt diese Wahrheit hinzustellen. Aber wer in die geistige Welt hineinsieht, sieht anderes als die, welche dazu nicht imstande sind, und anders wirkt diese Welt, als wenn sie un­bewußt bleibt.

Wenn man auf diese Weise in Luther die große gewaltige Kraft sieht,

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die aus alten Entwickelungen herüberstrahlt und die nicht wirken kann in dem darauf folgenden Zeitalter, dann versteht man die Stellung, die Position Luthers. Er ist derjenige, der für die Menschheit eine solche Auffassung des Christentums retten sollte, welche nicht vom unbe­wußten Ahrimanischen angekränkelt ist. Daher tritt das bewußte Ahri­manische so stark bei ihm auf und daher auch die Weite des Horizontes.

Es hat einmal jemand ein Buch geschrieben, in welchem alle Wider­sprüche, die sich bei Luther in seinen verschiedenen Schriften finden, zusammengefaßt sind. Es gibt ein solches Buch, in dem man die Wider­sprüche in den Lutherschen Schriften finden kann. Luther hat das Buch selbst noch gelesen, und er hat darauf eine Antwort geschrieben, die in einem Briefe an Melanchthon enthalten ist; Er meint da: Solch ein Esel redet nur deshalb von Widersprüchen, weil er weder das eine noch das andere Teil vom Widerspruche versteht, und er versteht auch nicht, daß man einen, der dabei auch ein Fürst ist, verehren und zu gleicher Zeit vom Teufel sprechen kann und sich gegen ihn auflehnen - Die Stelle, wo Luther in seinem Briefe an Melanchthon darüber redet, ist sehr interessant; es spricht sich darin seine Stellung seiner Zeit gegen­über aus. Er gebraucht ja auch noch andere Ausdrücke, welche heute manchmal nicht wiederholt werden können, die aber vollständig ver­ständlich sind und nicht, wie die Literarhistoriker sagen, aus der Zeit heraus nur zu begreifen sind, sondern die vollständig verständlich sind aus dem Umgang mit der geistigen Welt, wie Luther ihn hatte Wer Luthers Ausdrücke zynisch oder frivol nennt, der tut dies nur aus seiner eigenen Frivolität oder seinem eigenen Zynismus heraus. Wor­auf es ankommt, das ist, daß man aus solchen Dingen einmal erkennt, daß sich zwar Einzelnes wiederholt, aber das Große wiederholt sich nicht. Der Unfug wiederholt sich, denn der ist der Zeit unterworfen. Das Große wiederholt sich nicht. Und auch zur Scholastik werden sich die Menschen erst wieder stellen können, wenn sie an der Scholastik wieder studieren werden, wie ein anderes, feineres, besonders feiner ausgegliedertes Denken möglich ist, als man es heute pflegt. Und beson­ders ein solcher Geist, wie er in Luther aufgetaucht ist, kann sich nicht wiederholen. Er muß als historische Erscheinung, unmittelbar wie er dasteht, genommen werden. Falsch ist es zu glauben, daß irgend

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jemand Luther nachleben kann. Sondern worauf es ankommt, ist, daß man sich in ihn vertieft, daß man versucht, an seiner historischen Per­sönlichkeit zu studieren, was sich da einmal abgespielt hat, wie nicht nur diese eine Individualität Luther, die in jenen vorbereitenden My­sterien vor dem Christentum zu finden ist, nachher in einer anderen Inkarnation gelebt hat und dann später als Luther erschienen ist, da ist, sondern daß sich in der Tat der ganze Entwickelungs- und Gesetzes-gang der Menschheit in dieser einen Erscheinung ausspricht.

Alles das aber hängt davon ab, daß Luther in seiner Zeit noch ein volles Erfahrungswissen hatte von jenen Regionen der Welt, wohin er den Teufel, wir würden sagen Ahriman, versetzt. Doch dieses Wissen ging hinunter in unterbewußte Regionen. Es hat ziemlich überhand genommen, auch Luther so anzusehen, wie die Professoren ihn ansehen. Denn manchmal sind die Theologen auch Professoren. Und diese Be­trachtung hat ziemlich überhand genommen, die nicht davon ausgeht, die unmittelbare Erfahrung Luthers in der geistigen Welt zu nehmen, sondern die davon ausgeht, wenn er vom Teufel spricht, zu meinen, es sei dies nur die Schwäche des großen Mannes gewesen. Es ist aber nur die Schwäche derer, die heute über Luther reden, wenn so von ihm gesprochen wird.

Dann kam - und das ist der Sinn der Entwickelung - die Zeit, welche dann auf Luther folgte, in welcher in materiellem Anschauen und Leben der Welt, am stärksten im neunzehnten Jahrhundert, unbewußt Ahriman lebte, ohne daß die Menschen es wußten Und erst vom Osten her wird wieder die Möglichkeit kommen, daß man wissen wird, in was der Mensch sich hineinlebt, wenn er den physischen Plan über­schreitet. Sehr merkwürdig, wenn man nach dem heutigen Osten sieht, auf diese höchst merkwürdigen Erscheinungen des russischen Lebens, der russischen Schändlichkeit, der russischen Größe, alle dem, was auf­geht im Osten. Wir haben ja viele Jahre hindurch das, was wird, was sich vorbereitet im Russentum, geschildert. Es ist merkwürdig, wenn man darauf hinblickt und sich sagt: Ja, diese Menschen sind heute noch Kinder. Das sind sie auch. Und die, welche nicht Kinder sind, sind besessen. - Was glauben Sie: Kerenskij ist besessen, obwohl er selbst­verständlich über solches Vorurteil hinausgekommen ist, daß der Bucklige

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in ihm sitzt! Nur hat der Bucklige gelernt, aus der westlidien Todeswissenschaft heraus ein Denken zu erzeugen, welches nicht das östliche Denken ist. Und nicht nur, daß das westliche Denken vom Russentum nichts versteht, sondern die, welche im Osten selbst das Russentum mit westlichem Denken beurteilen wollen, die führenden Leute im Osten verstehen selbst das Russentum nicht! Denn es liegt etwas, was noch kindlich ist, in ihm, etwas nach vorwärts. Und es muß für die Zukunft dahin kommen, wieder hineinzuschauen in die geistige Welt, wieder Beziehung zu dieser geistigen Welt zu bekommen:

das Gegenteil von dem großen, unser Zeitalter vorbereitenden Luther. Unser Zeitalter sieht zurück, es kündet davon, was an Kraft wirkt von dem, was zurückliegt.

Da sehen Sie geistig etwas sehr Merkwürdiges: Da sehen Sie einfach in den Gegensatz hinein zwischen Luther und etwa, wie kindlich die russische Revolutionsreife auftreten wird bei Solowjow. Da sehen wir zwei entgegengesetzte Pole, etwas, was sich verhält wie Nord und Süd, wie positive und negative Elektrizität, wenn man es mit etwas Ab­straktem vergleichen will, zwei Gedanken- und Vorstellungsrichtungen, die sich nicht verstehen können. Denn wie Solowjow redet, so ist er weit davon entfernt, Luther zu verstehen; und wenn man bei Luther stehenbleiben will, so ist es ganz unmöglich, Solowjow zu verstehen. Da aber müssen wir uns dazu verstehen, unsern Horizont zu erweitern, zu dem Positiven das Negative hinzunehmen zu können.

Ich möchte diese gewichtige Betrachtung auf Ihre Seelen legen und hoffen, daß wir das nächste Mal noch beisammen sein werden. Dann werde ich die einzelne Individualität Luther als geschlossene Individua­lität darzustellen versuchen, wie sie sich ergibt nicht nur aus der Zeit, sondern aus dem ganzen Entwickelungsgange der Menschheit, aber von einem Gesichtspunkte, der nur durch die Anthroposophie gefunden werden kann.

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ACHTER VORTRAG Berlin, 18. September 1917

In Fortsetzung der Betraditungen vom letzten Dienstag möchte idl heute einige Gesiditspunkte zur Beurteilung der gesdliditlidien Stellung Luthers vor Ihre Seele stellen. Ich bemerke von vornherein: Die Be-trachtungen, die wir heute anstellen, sollen Luther eben vom geistes-wissenschaftlichen Standpunkte aus betrachten und nicht vom religiösen.

Vor allen Dingen tritt bei der geisteswissenschaftlichen Betrachtung Luthers in ganz besonderem Maße - man könnte sagen, noch mehr als bei vielen anderen geschichtlichen Erscheinungen - die Bedeutung des Zeitalters für die Art, das Auftreten und die Wirksamkeit dieser Per­sönlichkeit uns entgegen. Machen wir uns einmal klar, in welche Zeit, unseren Anschauungen gemäß, das Auftreten Luthers fällt: das sech­zehnte Jahrhundert in weltgeschichtlicher Betrachtung geisteswissen­schaftlich angesehen, kurze Zeit nach dem Aufgange des fünften nach-atlantischen Kulturzeitraumes. Wir wissen, daß dieser fünfte nach­atlantische Kulturzeitraum etwa im fünfzehnten Jahrhundert begon­nen hat. Bis dahin haben wir ja dasjenige zu rechnen, was wir das griechisch-lateinische Zeitalter nennen, das seinen Anfang genommen hat etwa im achten Jahrhundert vor dem Mysterium von Golgatha. Also kurze Zeit nachdem im Denken und Fühlen der Kulturmenschheit dasjenige herabgeglommen ist, was doch in einer gewissen Weise mit dem griechisch-lateinischen Vorstellen und Fühlen zusammenhing, in dem Sinne, wie wir dies betrachten, trat Luther auf. Seine Persönlich­keit erscheint dem unbefangenen Betrachter zunächst wie eine zwie­spältige, aber so, daß sich die beiden Glieder des Zwiespaltes doch in einer höheren Einheit, wie wir sehen werden, begegnen. Wir müssen uns nur ganz klarmachen, daß in der Zeit zwischen dem vierzehnten und dem sechzehnten Jahrhundert viel mehr vorgegangen ist, als die heutige Geschichtsschreibung anzunehmen geneigt ist, vor allen Dingen in bezug auf die Umwandelung der menschlichen Seelen. Das berüch­sichtigt man nur in der heutigen Geschichtsschreibung viel zu wenig. Die Menschen des dreizehnten, des vierzehnten Jahrhunderts hatten

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noch durch das ganze Gefüge, durch die ganze Verfassung ihrer Seelen, durchaus eine unmittelbare Beziehung zur geistigen Welt. Man hat das nur heute vergessen, doch man kann nicht oft genug darauf aufmerk­sam machen. Der Mensch des dreizehnten, vierzehnten Jahrhunderts, natürlich im Durchschnitt betrachtet, sah noch, wenn er seinen Blick zu den Wesen der Natur, zu den Vorgängen des Wolkenhimmels und so weiter wendete, elementarische Geistigkeit. Viel mehr als man heute glaubt, hatte der Mensch dieses Zeitalters auch noch die Möglichkeit, zwischen sich, wenn er hier auf dem physischen Plan geblieben war, und den dahingegangenen Toten, mit denen er karmisch verbunden war, den Verkehr aufrechtzuerhalten. Ein unmittelbares Wissen, daß diese Welt, welche die Sinne wahrnehmen, nicht die einzige ist, war doch als ein Überbleibsel eines älteren Bewußtseins in dieser Zeit noch vorhanden. Viel schroffer als man heute glaubt, ist der Übergang zur späteren Zeit. Die heraufkommende Naturwissenschaft, die als solche ihre volle Berechtigung hat, hat gewissermaßen den Schleier über die geistige Welt, die hinter der sinnlichen steht, zugezogen. Ich kann mir wohl vorstellen, daß der heutige Geschichtsbetrachter, der gewohnt ist das als unmittelbare Wahrheit zu nehmen, was ihm eben anerzogen wird, an diese Schroffheit des Überganges gar nicht glauben wird, weil sie ihm unhistorisch, durch geschichtliche Denkmäler unbelegt vor­kommt. Aber die Geisteswissenschaft gibt das für dieses Zeitalter, das da heraufrückt, doch so, daß in ihm die menschliche Seele ganz nur in die sinnliche Welt hineingestellt ist vermöge der menschlichen Organi­sation, die in diesem Zeitalter aufgetreten ist.

Nun haben wir schon das letzte Mal gesehen, was in Luthers Seele verwoben war: es lebten in ihr die Nachwirkungen dessen - so stellte ich es dar -, was er in den Mysterien der vorchristlichen Zeit aufgenom­men hatte, in denen er in seiner vorchristlichen Inkarnation anwesend war, in jenen Mysterien aber, welche auf das Christentum hinarbeite-ten. Insofern war er im vollsten Sinne ein Kind seiner Zeit, das heißt, des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes, als in diesem Zeitraume bei den Menschen die Empfindung des ehemaligen Zusammenhanges mit der geistigen Welt herabgedämmert ist, auch wenn diese Empfin­dung einmal so lebendig war wie bei den ehemaligen Eingeweihten der

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Mysterien. Aber man soll nur nicht glauben, daß dieses, was da herab­gedämmert ist, was also nicht in dem Bereich des Wissens der Seele auf­tritt, nicht da ist, daß es nicht wirksam ist. Wirksam ist es schon dann, wenn der Betreffende durch sein inneres Karma gleichzeitig empfäng­lich ist, wenn er aufnahmefähig ist durch das, was doch aus den Tiefen der Seele heraufkraftet und nur nicht ins Bewußtsein treten kann. Ein solcher Empfänglicher war Luther.

Man kann sich überzeugen, daß die Wirkungen desjenigen, wovon ich eben die Ursachen angedeutet habe, bei ihm vorhanden waren. Sie waren vorhanden in den ungeheueren Seelenqualen, die er durchzu­machen hatte, Seelenqualen, die gewissermaßen, indem sie sich zum Ausdruck für die eigene Seele formten, in seinen Worten und Vorstel­lungen den Charakter seines Zeitalters annahmen, die aber doch im wesentlichen die Qualen waren über das, was dem Menschen nun im fünften nachatlantischen Zeitalter, im materialistischen Zeitalter, an Eindrücken aus der geistigen Welt entzogen sein soll. Alle die Ent­behrungen, welche die tieferen Wesensgründe der Seelen im materia­listischen Zeitalter durchmachen, lagerten sich in ganz besonderem Maße in Luthers Seele ab. Gewiß, man muß sich heute mit anderen Worten klarmachen, was er empfand, als er es selbst ausgesprochen hat. Es sind nicht seine Worte, die ich gebrauche, um das zu charakteri­sieren, was er empfand: Was soll es mit der Menschheit werden, wenn sie nun abgeschlossen sein wird von der Betrachtung der geistigen Welt, wenn sie die Eindrücke nach und nach vergessen wird, die sie einmal von der geistigen Welt gehabt hat? - Denken Sie sich dies als Empfin­dung so verdichtet wie möglich, dann haben Sie den Grundton der Seelenqualen, die in Luthers Seele lebten. Warum lebten sie gerade in ihm so besonders stark?

Um diese Frage zu beantworten, kommen wir eben auf das erwähnte Zwiespältige seiner Natur. Auf der einen Seite war Luther gewisser­maßen ein Sohn des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes. Er emp­fand mit den Menschen dieses Zeitraumes insofern, als er die Entbehrun­gen unendlich gesteigert empfand, welche diese Menschen des fünften Kulturzeitraumes schon erleben, nur nicht sich zum Bewußtsein brin­gen. Warum empfand er in solcher Intensität diese Entbehrungen?

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Er empfand sie aus dem Grunde, weil er nun auf der anderen Seite wieder innerlichst ganz ein Sohn des vierten nachatlantischen Kultur-Zeitraumes war. Das war das Zwiespältige in seiner Natur. Die Ein­drücke aus den Mysterien, von denen ich gesprochen habe, hatten doch so tief Wurzel gefaßt in seiner Seele, daß er innerlichst fühlte wie ein Mensch des vierten Kulturzeitalters - und doch wieder ganz an seine Zeit, an das fünfte Kulturzeitalter, hingegeben war. Weil er so innerlich in gewisser Beziehung mit dem vierten Kulturzeitalter fühlte wie ein alter Römer, wie ein alter Grieche - so könnte man sogar sagen, so unwahrscheinlich das heute klingt -, deshalb konnte er auch dem­jenigen kein Verständnis entgegenbringen, was nun so recht aus dem Herzen - so sonderbar das wieder klingt - der Menschen des fünften Kulturzeitraumes hervortrat, nämlich ein Verständnis für ein solches Weltbild, wie es das Kopernikanische ist, für die Auffassung der Welt rein nach den Berechnungen der Sinne. Für ein solches Weltsystem hätte das vierte Kulturzeitalter doch kein Verständnis gehabt. Das klingt für unsere Gegenwart sonderbar, weil unsere Zeit in vieler Beziehung wirklich meint, das Ende aller Weisheit wäre nun erreicht, und der Kopernikanismus sei das Letztgültige. Ich habe schon öfter darauf auf­merksam gemacht, daß dies eine große Torheit ist. Gerade so wie die Menschen der Gegenwart vom Standpunkte des Kopernikanismus aus auf das ptolemäische Weltsystem heute herabschauen, so wird das ko­pernikanische Weltsystem ebenfalls einmal durch ein anderes ersetzt werden, das sich wieder zu ihm so verhält wie das kopernikanische zu dem ptolemäischen. Aber nach der Seelenverfassung der Menschen des fünften Kulturzeitalters gibt es für sie ein Verständnis für eine solche rein sinnesgemäße, errechnete Systematik der Bewegungen der Himmelskörper.

Luther hatte dafür kein Verständnis. Der Kopernikanismus kam ihm wie eine Art Narrheit vor. Für das, was in den Vorstellungen lebte, die den Menschen des fünften Kulturzeitraumes naturwissen­schaftlich-materialistisch, rein räumlich beschäftigten, insofern diese Vorstellungen die Erscheinungen der Welt ausdrückten, dafür war Luther wenig interessiert. Aber für die Gefühlsweise, für die Stellung des Menschen in der Welt im fünften Kulturzeitalter, war er um so

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mehr interessiert. Aber die Stellung gegenüber der Welt, welche dem Menschen des fünften Kulturzeitraumes aufgedrängt war, fühlte er mit dem innersten Seelenimpulse eines Menschen des vierten Kultur-zeitalters, dem griechisch-lateinischen Zeitalter.

So blickt Luther, indem wir ihn betrachten, auf der einen Seite zu­rück auf die Art, wie sich im vierten Kulturzeitalter der Mensch zum Kosmos und zum geistigen Inhalt des Kosmos gestellt hat; auf der anderen Seite blickt er vorwärts zu all dem Empfinden, Fühlen und Vorstellen, dem der Mensch des fünften Kulturzeitalters ausgesetzt sein wird wegen seiner besonderen Stellung zum Kosmos, die ihn gewissermaßen von dem geistigen Inhalte des Kosmos trennt. Man möchte sagen: mit einer Seele aus dem vierten Kulturzeitalter fühlt Luther mit die Erlebnisse des Menschen im fünften Kulturzeitalter. Und diese besonderen Erlebnisse des Menschen im fünften Kulturzeit-alter lagerten sich nun auf Luthers eigene Seele ab.

Vergleichen wir nur einmal, und zwar um den Vergleich signifikanter zu machen, einen durchschnittlich gebildeten Menschen der heutigen Zeit, der im Sinne der naturwissenschaftlichen Weltanschauung denkt und fühlt, mit einem Menschen in ziemlich alten Zeiten des vierten Zeitraumes, der noch fühlt in Gemäßheit jener Stellung des Menschen zur Welt, da der Mensch von seiner Beziehung zum geistigen Inhalte dieser Welt wußte. Vor allen Dingen waren Begriffe, die wir heute durch die Worte Imagination und Inspiration ausdrücken, in diesen älteren Zeiten bei den Menschen noch ganz lebendig. Daß der Mensch nicht nur durch seine Augen die Farben wahrnimmt, durch seine Ohren die Töne hört, sondern durch besondere Erkraftung seiner Seele in Bildern die geistige Welt geoffenbart erhält, Einsprechungen von der geistigen Welt erhält, war in älteren Zeiten etwas ganz Geläufiges. Daß das Göttlich-Geistige in der Menschenseele auflebt, war in jenen Zeiten eben eine geläufige Vorstellung; der Mensch fühlte sich in Verbindung

mit seinem Gotte. .

Das sollte, damit die Menschheit eine Prufung durchmacht, im funf ten nachatlantischen Kulturzeitraume aufhören. In diesem fünften Zeit-raume fühlte der Mensch, durch besondere Methoden, durch eine besondere Wissenschaft ausgebildet, die Möglichkeit, genau auf die

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äußeren Naturerscheinungen hinzusehen und auf die Art, wie die äußeren Naturerscheinungen in seine eigene Wesenheit hereinspielen. Allein, verschlossen ist ihm der Aufblick zur geistigen Welt, der Weg von der Seele zu den Geisteswelten ist nicht da.

Stellen wir uns diese zwei Menschentypen so recht nebeneinander. Schon das letzte Mal haben wir gesehen: für Luther war die geistige Welt offen. Er hatte nicht bloß ein abstraktes Wissen, er hatte nicht nur ein abstraktes religiöses Gefühl von der geistigen Welt, er hatte, was charakterisiert ist, den lebendigen Umgang am meisten mit den bösen Geistern der Geistigkeit der Welt, was aber nicht zugleich eine böse Eigenschaft ist. Also er wußte aus unmittelbarer Erfahrung von dem Bestande der geistigen Welt; aber er wußte, daß diese Erfahrungen dem Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters hinschwinden, daß sie nicht mehr da sein würden. Und diese Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters, wie empfanden sie, wie entbehrten die Seelen die geistige Wahrnehmung? Das wurde für ihn das große Rätsel. Aber er schaute diese Menschen auch an aus einem Herzen heraus, das durchtränkt war mit den Kräften des vierten nachatlantischen Zeit­raumes. Diese Kräfte des vierten Zeitraumes gingen wieder mit aller Lebendigkeit hin nach der geistigen Welt. Sie ist da! So erschien es Luther auf der einen Seite. Sie ist da, man darf nicht unterlassen, im Menschen das Bewußtsein zu erwecken, daß diese geistige Welt vorhanden ist. Aber man darf sich auf der anderen Seite keiner Täuschung darüber hin­geben: in der Menschheit, die nun das nächste Zeitalter ausfüllen wird, wird ein unmittelbares Bewußtsein von der geistigen Welt nicht vor­handen sein können, diese Menschheit wird sich nur ihrer Sinne be­dienen können. Während die Entscheidungen früherer Zeiten ein Wissen von dem Göttlich-Geistigen in unmittelbarem Aufblick, in an Erfah­rung gewonnenem Aufblick zur geistigen Welt gegeben hatten, konnte Luther der nunmehr kommenden Menschheit nichts anderes sagen als:

Wenn ihr also werdet aufolicken wollen zur geistigen Welt, so werdet ihr nichts finden, denn diese Fähigkeit ist hingeschwunden; wollt ihr jedoch fest sein im Bewußtsein der geistigen Welt, dann müßt ihr vor allem die sicherste Urkunde nehmen, in der noch das unmittelbare Wissen von der geistigen Welt eingeschlossen ist, das in diesem Zeitalter

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nicht mehr gegeben werden kann. - Ein älteres Zeitalter konnte immer noch sagen: hier das Evangelium - hier aber die Möglichkeit, unmittelbar in die geistigen Welten aufzusehen. Die letzte Möglichkeit fiel für das fünfte nachatlantische Zeitalter fort. Also blieb nur das Evangelium.

Sie sehen, Luther sprach aus dem Geiste des fünften nachatlantischen Zeitalters heraus, aber er sprach so aus dem Geiste dieses Zeitalters heraus, wie es einem Menschen ums Herz war, der zugleich ein Sohn des vierten nachatlantischen Zeitraumes war, der durch das Mittel, das aus dem vierten Zeitraume geblieben ist, die Menschen hinweisen wollte nach dem, wozu sie in ihrer Entwickelung im fünften Zeitalter nicht mehr kommen konnten. Das ist etwas, was aus der Zeit heraus zu verstehen ist, daß Luther das Evangelium als alleinige Urkunde für die geistige Welt hinstellte am Ausgangspunkte eines Zeitalters, dem die unmittelbare Einsicht in die geistige Welt verschlossen war. Daher wollte er - wenn das auch alles in seinem Bewußtsein, wie ich es jetzt ausspreche, nicht so vorhanden war, aber darauf kommt es nicht an -, zur besonderen Stärkung der Menschheit, die da nun kom­men sollte, gerade das Evangelium betonen.

Nun sehen wir auf einem anderen Gebiete in das dreizehnte, vier­zehnte, fünfzehnte Jahrhundert zurück. Ich beschäftige mich jetzt gerade wieder - dadurch traten mir in diesen Tagen diese Dinge beson­ders vor die Seele - mit einer Charakteristik des Christian Rosenkreutz und der «Chymischen Hochzeit» von Johann Valentin Andreae. Wenn man, veranlaßt durch diese literarische Erscheinung, den Blick auf das dreizehnte, vierzehnte, fünfzehnte Jahrhundert hinlenkt, so sieht man, wenn man auf die Menschen des damaligen Zeitalters blickt, die sich mit Wissenschaft beschäftigen: Wissenschaft von der Natur war im besten Sinne des Wortes Alchemie. Was heute ein Naturforscher ist, war damals ein Alchemist. Man muß nur allen Aberglauben und Schwindel besonders von dem Worte Alchemie freihalten, um zu dem innerlichen, rein geistigen Sinn des Wesens der Alchemie zu kommen. Was wollten diese Forscher? Sie wollten nichts anderes, als daß, ihrer Überzeugung nach, hinter den Naturkräften nicht nur jene Kräfte leben, die man durch die äußere Beobachtung und durch das äußere Experiment

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findet, sondern daß in der Natur übersinnliche Kräfte walten, daß die Natur zwar «natürlich» ist, daß aber in ihr dennoch über­sinnliche Kräfte wirken. Diese Menschen waren sich darüber klar -worauf schon ein späteres Zeitalter wieder kommen wird, heute sind diese Dinge nur sehr verborgen -, daß die äußere Erscheinungsform zum Beispiel eines Metalles nicht ein so festes Gefüge ist, als daß sie nicht in ein anderes übergehen könnte. Nur sahen sie den Übergang als geistgetragen an, als Wirkung des Geistes in die Natur hinein. Sie waren imstande, jene alchemistischen Vorgänge zu veranlassen, die einen heutigen Naturforscher in großes Erstaunen versetzen würden, wenn man sie ihm wieder vor Augen führen könnte. Aber diese Vor­gänge waren veranlaßt durch das Handhaben geistiger Kräfte. Daß im materiellen Dasein wirklich geistige Kräfte walten, war auch etwas, was mit dem Wissen dieser früheren Zeit zusammenhing.

Das sollte nun ebenfalls dem fünften nachatlantischen Zeitalter ver­lorengehen und ist ihm auch verlorengegangen. Aber das hat sein Spiegelbild in der religiösen Weltauffassung. Weil das so ist, deshalb konnten das dreizehnte Jahrhundert und die früheren, auch noch das vierzehnte Jahrhundert, eine andere Sakramentenlehre haben als die folgenden Jahrhunderte. Für die folgenden verlor der Glaube allen Sinn, daß in der Materie, wenn sie sakramental behandelt wird, gei­stige Kräfte unmittelbar wirksam sind. Das stand ganz lebendig, wenn auch nicht im vollen Bewußtsein, vor Luthers Seele. Dadurch wurde die Sakramentenlehre etwas ganz anderes. Die katholische Sakramen­tenlehre ist ja heute noch etwas anderes, wie zum Beispiel beim Altar-sakrament, wo wirklich Brot und Wein in Fleisch und Blut durch einen geheimnisvollen Vorgang verwandelt werden. Wer jemals mit katholischen Theologen über eine solche Frage diskutiert hat, der hat oft, gegenüber dem modernen Einwand, diesen hören können: Wenn ihr das nicht versteht, so versteht ihr überhaupt nichts von der Sub­stanzenlehre des Aristoteles. - Dennoch aber muß man sagen: für das fünfte nachatlantische Zeitalter ist kein rechter Sinn mehr zu verbinden mit einer wirklichen Verwandelung, mit einer wirklichen Alchemie. Daher ist dieser Vorgang herausgehoben aus dem materiellen Dasein. Man empfängt heute Brot und Wein, aber sie verwandeln sich nicht; indem

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man sie empfängt, geht das Göttlich-Geistige der Christus-Wesen­heit in einen über. Diese Metamorphose des Sakramentbegriffes hängt wieder zusammen mit der Fortentwickelung der Menschheit aus dem vierten in den fünften nachatlantischen Zeitraum. Und Luther muß aus beiden heraus reden. Er will der menschlichen Seele noch dieselbe Stärkung geben, die sie erhalten hat unter dem Eindruck der ehe­maligen Geistlehre, aber er kann sie ihr nur dadurch geben, daß er diese Geistlehre vor der modernen Wissenschaft bewahrt, daß er gewisser­maßen die moderne Wissenschaft gar nicht an diese Geistlehre heran-läßt. Denn die moderne Wissenschaft würde nie und nimmermehr in dem Materiellen ein Geistiges erkennen. Daher hebt Luther von vorn­herein das Geistige weg von den materiellen Vorgängen, läßt den mate­riellen Vorgang, wenn auch noch nicht Symbol, so aber doch nur materiellen Vorgang sein. Diese Dinge werden heute kaum in richtiger Weise verstanden; es muß aber gerade durch die Geisteswissenschaft wieder von ihnen gesprochen werden.

Nun stellen wir uns vor, daß Luther den Blick hinrichtete - wenn auch nicht im vollen Bewußtsein - auf diese ganze mehr als zwei Jahr­tausende währende Zeit, die abgeflossen sein sollte im normalen Leben der Menschen, wenn auch die Menschen im abnormen Leben durch besondere Übungen von der geistigen Welt wieder etwas erfahren konnten. Für dieses Zeitalter hatte er zu sprechen. Die historische Per­sönlichkeit darf niemals in einem absoluten Sinne genommen werden, sondern sie muß in ihren Aussprüchen, in ihren Lehren genommen werden als ihrem Zeitalter Ausdruck gebend. Für die Menschen seines Zeitalters hatte er zu sprechen. Diese Menschen haben aber wirklich etwas verloren. Was haben sie verloren?

Sie haben die Möglichkeit verloren, aus der eigenen Kraft der menschlichen Erkenntnis, wie sie sich ganz besonders im fünften nach-atlantischen Kulturzeitraum ausprägt, die Seele so zu erkraften, daß sie in die geistige Welt hinaussieht, eigene geistige Erkenntnisse hat. Erkennen durch die unmittelbare Initiative ist nichts Normales für die Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters. Freiheit, freier Wille, unmittelbares Herauswirken aus der tiefsten Kraft der Seele von jenem Orte der Seele her, wo diese unmittelbar mit dem Göttlichen verbunden

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ist: die Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters können sich dieser Freiheit im unmittelbaren normalen Leben, eben im Leben der gewöhnlichen Außenwelt, nicht bewußt werden. Freiheit ist Theo­rie, Erkenntnis ist Theorie. Im weiteren Verfolg hat dieses fünfte nachatlantische Zeitalter in zahlreichen Fällen die Lehre von den Er­kenntnisgrenzen aufgestellt. Aber von den Grenzen der Erkenntnis im Sinne Kants oder Du Bois-Reymonds zu sprechen, wäre selbst für die Skeptiker der alten Zeit ein Unsinn gewesen. Absolute, ewige Bedeu­tung, sagte ich schon, soll man den Aussprüchen einer solchen histori­schen Persönlichkeit nicht beilegen. Aber diese Aussprüche sind Aus­druck für die Zeit. Im christlichen Sinne faßt Luther das auf, was ihm an dem Menschen als das vorzüglichste Charakteristikon der Mensch­heit des fünften nachatlantischen Zeitalters entgegentrat. Es war im christlichen, besser gesagt, im biblischen Sinne aufgefaßt die unmittel­bare Wirkung der Erbsünde. Diese unmittelbare Wirkung der Erb­sünde besteht darin, das ist das Charakteristische, daß die Menschen dieses Zeitalters durch ihre eigene Natur sich weder zur Erkenntnis des Göttlichen, noch auch zur Freiheit erheben können. Indem Luther also sagte, die Menschen seien durch die Erbsünde so verdorben, daß sie durch ihre eigene Natur sich über die Sünde nicht emporarbeiten können, sprach er eine Wahrheit für das fünfte nachatlantische Zeit­alter aus. Und keine Kraft des Menschen hängt so sehr mit der un­mittelbaren menschlichen Wesenheit zusammen, als diejenige Kraft, welche im menschlichen Willen sich äußert, in demjenigen sich äußert, was der Mensch tut. Was er tut, entspringt ganz aus dem Zentrum seines Wesens. Was er weiß, woran er glaubt, das hat er viel mehr mit der Umgebung, mit seinem Zeitalter und dergleichen, gemein. Im fünf­ten nachatlantischen, im materialistischen, naturwissenschaftlichen Zeitalter ist es dem Menschen nicht möglich, aus seiner eigenen Wesen­heit heraus Handlungen zu vollführen, die geistdurchdrungen sind. Das ist gerade das Wesentliche dieses Zeitalters - im sechsten nachatlan-tischen Zeitraum wird es wieder anders sein-, daß der Mensch in sei­ner ganzen Wesenheit herausgestellt ist aus dem Zusammenhange mit dem Geistigen. Auch dies durchdrang Luther. Aber der Mensch durfte nicht wesenhaftig herausgerissen sein. Mit dem, was er nun an sich ist,

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was er als der in der Sinneswelt stehende Mensch tut und will, kann er nicht mit dem Göttlichen zusammenhängen. Er kann mit dem Gött­lichen nur dann zusammenhängen, wenn er diesen Zusammenhang mit dem Göttlichen mit seinem äußeren Sinnensein in gar keinem Zusam­menhang denkt. Dies ist der Ursprung der Lehre von der Heiligung durch den bloßen Glauben. Für einen echten Menschen des vierten nachatlantischen Zeitalters hätte diese Heiligung durch den bloßen Glauben gar keinen Sinn gehabt. Man hätte einen alten Griechen oder einen alten Römer kommen lassen sollen und sagen, daß er seinen Wert vor den höchsten Mächten des Daseins nicht durch das erwirbt, was er tut, was er in der Welt veranlaßt, sondern allein durch die Art und Weise, wie seine Seele sich zur geistigen Welt bekennt; er hätte es für einen völligen Unsinn gehalten. Für einen Menschen des fünf­ten nachatlantischen Zeitalters ist es kein solcher Unsinn, denn er muß, wenn er sich auf das verläßt, was er durch die Welt ist, in der Tat nur ein Weltenmensch sein. Er muß immer mehr und mehr darauf kommen, daß er nur an der höchsten Spitze der Tierreihe steht. Daher muß er etwas, womit er gar nicht zusammenhängt, so wie er in der Welt drinnen steht, zum Bande machen mit der geistigen Welt: nämlich den bloßen Glauben. Es ist nicht möglich, daß dasjenige, was Luther seiner und der Folgezeit Luthers aufgeprägt hat, die alleinige Geistesströmung blieb.

So kann man zum Beispiel fragen: Wer ist heute Lutheraner? -Eigentlich sind alle Menschen Lutheraner! Alle Menschen, insofern sie durchdrungen sind von dem Wesen des fünften nachatlantischen Zeit­alters. Wer wirklich einen Sinn hat für den Unterschied, der gewissen feineren Begriffen in der Auffassung der Welt zugrunde liegen kann, der merkt, welche gewaltige Differenz besteht zwischen einem heu­tigen katholischen Theologen und einem solchen des dreizehnten oder des vierzehnten Jahrhunderts. Warum ist das? Weil der heutige katho­lische Theologe in Wahrheit auch Lutheraner ist. Er hat denselben Impuls in sich. Man hat nur heute oftmals nicht viel Gefühl für die innere Wahrheit einer Sache, man hat viel mehr Gefühl für die Scheinvignette, die man dem Menschen anheftet. Daß jemand durch Familien- oder an­dere Zusammenhänge als Katholik oder als Protestant in die Kirchen-register eingetragen ist, ist ja nur eine äußere Charakteristik; was den

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Menschen innerlich charakterisiert, ist doch etwas ganz anderes. In gewisser Beziehung sind die Menschen, die heute mit ihrem Zeitalter mitgehen, die im Sinne ihres Zeitalters sich anregen lassen, durchaus innerlich Lutheraner, weil Luther das Leben seines Zeitalters - von dem Gesichtspunkte aus, den ich berührt habe - ausgesprochen hat. Er konnte es deshalb besonders aussprechen, weil in ihm der genannte charakterisierte Zwiespalt lebte, weil er auf der einen Seite den Ein­druck hatte: Was ist diese Menschheit, die da kommt? - Und weil er auf der anderen Seite den Impuls hatte, mit allen in ihm lebenden Kräf­ten zu den Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters zu spre­chen, mit all den Kräften> die er erhalten wollte im Sinne des vierten nachatlantischen Zeitraumes.

Das aber war wieder die höhere Einheit, die Synthesis, daß er zu Menschen, welche den Verhältnissen des fünften nachatlantischen Zeit­raumes ausgesetzt sind, so sprach, daß er gleichsam aus deren Seelen heraus sprach. Er prägte die Worte, er faßte die Vorstellungen, die aus diesen Seelen der Menschen des fünften nachatlantischen Zeitraumes sich ergeben, aber er sprach so, daß alles zugleich durchdrungen sein sollte von der Absicht, dasjenige zu erhalten, was im vierten nach-atlantischen Zeitraume vorhanden war. Das ist die höhere Einheit. Als einzige Geistesströmung aber konnte das für diesen fünften Zeit­raum allerdings nicht bleiben, sonst würde sich der sechste Zeitraum nicht in diesem fünften vorbereiten.

So sehen wir denn, während in der angedeuteten Weise das Luther­tum ganz besonders die Impulse dieses fünften Zeitraumes triffi, daß auf der anderen Seite andere Strömungen sich geltend machen. Für uns ist die wichtigste die, welche in der deutschen Klassik herauf-kommt: von Lessing zu Herder - den man auch dazuzählen kann -, Schiller, Goethe und anderen. Wir haben dabei die merkwürdige Er­scheinung, daß wir in Kant einen ganz lutherischen Philosophen ha­ben; denn bis in die intimste Intimität seiner Begriffe hinein ist Kant lutherisch. Schiller möchte gerne Kantianer sein, kann es aber nicht; denn es gibt philosophisch nichts, was so aus dem bloßen Luthertum herausstrebt wie zum Beispiel Schillers «Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen» . Diese Briefe - sie sind heute nur viel zu wenig

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gewürdigt - bilden gewissermaßen einen Höhepunkt der anderen Strömung, wie wiederum ein Höhepunkt der anderen Strömung Goethes «Faust» ist, mit einem Protest, der sich darin ausspricht, nicht bloß die Bibel, sondern die Natur zu nehmen und so die Men­schenseele durch eigene Erkraftung den Weg in die geistige Welt neh­men zu lassen. Die Schlußszenen des «Faust» stehen daher im vollen Gegensatz zum Luthertum. Nur die künstliche Konstruktion würde Schillers ästhetische Briefe, Goethes «Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie», oder die Schlußszenen des «Faust» in eine ver­wandtschaftliche Beziehung zum Luthertum bringen. Das strebt wie­der durch innere Opposition gegen das Naturwissenschaftliche, die menschliche Seele so zu erkraften, daß diese durch ihre eigenen Kräfte den Zusammenhang mit der geistigen Welt finden kann. Daher setzt das sechzehnte Jahrhundert den gewaltigen Vorstellungen, die sich an Luther anknüpfen, die anderen Vorstellungen entgegen, die damals noch nicht aufkommen können, die dann gewissermaßen noch als den Gegensatz des Guten repräsentierend da sind, setzt die Vorstellungen vom «Faust» hin. Luther hat die Menschen des fünften nachatlantischen Zeitalters ins Auge gefaßt: diese Menschheit, die den Teufel nicht anerkennen will, den Luther so gut kannte, aber die ganz besessen ist von der ahrimanischen Dämonie also von dem, was Luther den Teufel nennt. Luther hat diese Menschheit vor sich, und es ist eigentlich nicht sonderbar, daß jemand der sich heute wiederum intimer mit Luther befaßt hat, gerade dara'uf einen so großen Wert legt, daß Luther in so unmittelbarer Weise die geistige Welt mit dem teuflischen Inhalt kannte.

Interessant ist es allerdings daß die Persönlichkeit, die nun, ich möchte sagen, geradezu danadi lechzt, die Menschen sollten nur den Teufel wieder kennenlernen der sie ja immer am Kragen hat, beson­ders wenn sie die Welt nur naturalistisch auffassen, aber den sie nicht kennen, interessant ist es, daß nach der Art des Paradieses-Gescheh­nisses diese Persönlichkeit welche diese neuere Sehnsucht nach dem Teufel hat, eine Frau ist: Ricarda Huch. Ihr Buch über Luther drückt geradezu die Sehnsucht aus: möchten doch die Menschen wieder eine Erfahrung von dem Teufel haben, denn dadurch würden sie zurückkommen

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zu dem Gottesbewußtsein. Und in diesem, was sie so durch­dringt, empfindet sie sogar diese Sehnsucht nach dem Teufel. Einmal drückt sie diese Sehnsucht nach dem Teufel sogar recht lebhaft aus in ihrem Buche <(Luthers Glaube», Insel-Verlag, 1916, Seite 44:

«Ein Werk wie Burckhardts Kultur der Renaissance und eine Er­scheinung wie Nietzsche sind der Schrei der Menschheit nach dem Teu­fel, der ebenso berechtigt ist wie der Schrei nach dem Kinde. Nur las­sen weder Kind noch Teufel sich willkürlich hervorbringen, und wenn ich daran denke, wie viele junge Leute sich bengalisch beleuchten, um den Anschein von Hölle zu erzielen, so überläuft mich ein Grauen vor möglichen Mißverständnissen. Es gebärdeten sich ja zu Nietzsches Zeit viele als blonde Bestien, die nicht Tierheit genug zu einem einfältigen Meerschweinchen in sich hatten. Aber Du, Geliebter», das ganze Buch ist in Form von Briefen an einen Freund abgefaßt, «wirst keinen Ver­ein für Sünder gründen, noch für Dich allein Mustersünden im Treib­haus züchten, insofern kann ich mich auf Dich verlassen. Luzifer ver­achtet ja den dummen und den bösen Teufel, seine Vorläufer; ich zürne ihm um so mehr, als er eben, unwillkommenes Licht bringend, am Himmel aufgeht und die Nacht, wo Du mir zuhörst, beendet. »

Es ist der Schrei nach dem Teufel von Ricarda Huch, den man in dem Unterbewußtsein der Menschheit vernimmt, und sie möchte, daß dieser Schrei wirke. Wer da weiß, daß an jedem Laboratoriumstisch, in jeder Maschine, kurz in den wichtigsten Kulturmilieus der neueren Zeit der wirkliche Teufel verborgen ist und mitwirkt - ich sage das unumwunden -, der kann schon Ricarda Huch verstehen; denn weit besser wäre es für die Menschen, wenn sie wüßten, daß der Teufel da ist, während er sie ja doch am Kragen hat, und das Völkchen es nur nicht merkt.

In Luthers Bewußtsein lebte der Teufel noch, und er lebte deshalb gerade so, weil Luther wie ein Mensch des vierten nachatlantischen Zeitalters die geistige Welt noch empfand. Und er lebte in seinen Worten noch deshalb, weil er ihn hinstellen wollte für die Menschen des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes, die wohl von ihm be­sessen sind, aber nichts von ihm wissen. Eine andere Empfindung mußte Luther gegenüber dem Teufel bei den Menschen erzeugen als

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Faust sie hatte, der sich ja dem Teufel verschrieb, der gerade seine Erkenntnisse und seine Macht durch den Teufel gewinnen wollte. Das lehnt zunächst das sechzehnte Jahrhundert ab; Faust muß den nega­tiven Mächten der Welt verfallen. Goethe, auch schon Lessing, sie pro­testieren ganz mächtig dagegen. Warum? Gewiß, Lessing wie auch Goethe haben den eigentlichen Nerv ihres Verhältnisses zum Faust nicht ausgesprochen. Darüber ist es ja schon möglich, heute offener zu sprechen, als zu Lessings und Goethes Zeit gesprochen werden konnte, obwohl gerade der Eingeweihte seinen Mitmenschen andere Dinge mit­teilen wollte; allein sie würden ihn zerreißen, wenn er sie ihnen mit­teilte.

Sehen wir einmal in die Seele Goethes hinein, wie sie sich zum Faust stellte. Goethe hatte ja auch seine Empfindung von den Menschen des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes. Er wußte von den intimen Beziehungen der Menschen dieses Zeitraumes zum Teufel; denn der Teufel, die ahrimanischen Mächte, sind immer da, wenn man nur das Bewußtsein auf die Materie beschränkt. Das bedeutet für sie das Tor, durch das sie Einlaß finden. Wird das Bewußtsein auf die Materie be­schränkt, wird es ganz ins Unternormale hinuntergedrängt, wird ein organisch-dämmerhaftes Bewußtsein erzeugt, oder ein aufgeregtes, wo der Mensch ganz der Materie hingegeben ist, oder ein närrisches Be­wußtsein, dann hat Ahriman erst recht den Zugang zu ihm. Goethe aber weiß, daß im allgemeinen die ahrimanischen Mächte da sind. Sei­ner ganzen Natur nach kann er aber die ahrimanischen Mächte nicht als das hinstellen, was man zu scheuen hätte oder was man abzuweisen hätte. Er kann ihnen gegenüber nicht bloß auf den im äußeren mate­riellen Dasein lebenden Glauben Rücksicht nehmen. Nein, er muß das, was er für seinen Faust erreichen will, aus dem lebendigen Umgang mit dem Teufel herausholen; das heißt, der Teufel muß seine Kraft hergeben, er muß besiegt werden. Das ist dem Kampf des Faust mit dem Teufel, mit den ahrimanischen bösen Geistern, mit Mephistopheles zugrunde liegend.

Wir haben dann Schiller, der Kantianer sein möchte, und es nicht kann, und der in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen» unterscheidet in dem Menschen zwischen dem bloßen Trieb,

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der, im Sinne des Luthertums, aus der sinnlichen Natur kommt, und dem sich durch die Sinnlichkeit offenbarenden Geist. Wenn man ehrlich Lutheraner sein soll, würde man sagen: Der Mensch ist diesem Trieb verfallen, er kann sich nicht aus eigener Kraft aus sich erheben. Aus diesem Triebe sich erheben kann er nur durch den Glauben, und dann kann er sich durch den außer ihm befindlichen Christus als gereinigt und erlöst betrachten. - Schiller sagt: Nein, das andere ist noch in dem Menschen, der Trieb der Freiheit, die Kraft der Geistigkeit, die im­stande sind, im Menschen den bloßen Trieb der Notdurft, den Trieb der Sinnlichkeit zu veredeln. - Und Schiller unterscheidet daher die durch den Geist veredelte Sinnlichkeit und den durch die Sinnlichkeit offenbar werdenden Geist, indem er den Menschen hinstellt, der zwar durch die Materie abgetrennt ist vom geistigen Dasein, der aber durch die Umwandelung, durch die innere Alchemie der Materie, das heißt des Sinnendaseins, zum Geiste hinstrebt.

Goethe stellt in äußerer dramatischer Form diese Überwindung der im äußeren Sinnessein wirkenden ahrimanischen Mächte dar. Oh, es tut einem in der Seele weh, wenn man das Große sieht, das in der abendländischen Kultur hervorgegangen ist aus Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung, was hätte hervorgehen können - wenn es auch bis jetzt nicht so hervorgegangen ist, wie es hätte können - aus den großen Impulsen, die in Goethes «Faust» liegen. Wenn man dieAn­regungen zur Spiritualität ins Auge faßt, welche darin liegen, wenn man sie voll kennt - und wenn man dann sehen muß, wie unsere Zeit­genossen die Schulung ihrer Spiritualität immer wieder und wieder in den abgeschmacktesten amerikanischen Harmonien mit dem Weltenall und ähnlichem solchem Zeug gesucht haben! Man bekommt solchen Weltschmerz! Ich muß immer wieder die wahre Geschichte erzählen, daß ein Wiener - Deinhardt hieß er - ein wunderschönes Büchelchen über Schillers ästhetische Briefe geschrieben hat, in welchem er die unendlich schönen Perspektiven auseinanderlegte, die daraus hätten berücksichtigt werden können. Ich glaube nicht, daß irgend jemand ihn heute kennt. Denn er hatte einmal das Unglück, auf der Straße hinzufallen und ein Bein zu brechen, und als der Arzt dann kam und ihn untersuchte, sagte er, daß er nicht wieder aufkommen könnte, weil

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er zu schlecht ernährt sei. So starb er. Aber in diesem Büchelchen von Deinhardt, dem Wiener, haben wir einen der tiefsten Impulse, die aus der abendländischen Kultur hervorgegangen sind. Man sollte sich nur anschauen, was in der abendländischen Kultur geblüht hat, und man würde nicht als alberne Phrase den Satz hinstellen: Den besten Mann an den besten Platz, - wenn man sich vermöge seiner eigenen Bildung zu der Ansicht erheben kann, daß der Neffe oder der Cousin der beste Mann am besten Platze ist. Immer wieder und wieder hört man heute die Phrase: Die Menschen gibt es nicht, um diesen oder jenen Platz auszufüllen. - Nein, die Menschen gibt es nicht, die zu suchen verstehen! Aber zu suchen ist nur möglich, wenn die Seele sich erkraftet und sich durchtränkt mit dem, was aus dem Großen unseres Geisteslebens fließt. Und dieses Große will nicht nur abstrakte Begriffe liefern, es liefert die Impulse, um die Seele zu spiritualisieren und sie in ihrer Entwickelung dahin zu führen, wo Goethe hineilt - wenn auch in bildhaft-dramati­scher Art - in den Schlußszenen seines «Faust». Nicht alte Dinge aufzu­bewahren, liegt im Sinne unserer Zeit, sondern die Synthesis zu suchen, die am schönsten zutage tritt in der Goethe-Schiller-Lessingschen Klassik.

Auf dies wollte ich auch noch hinweisen, wie Lessing, wie Goethe, wie Schiller in der neueren Kulturentwickelung, von diesem Gesichts­punkte aus gesehen, drinnen stehen, und gerade dadurch versteht man das, was Luther ihnen vorangehend war, um so besser. Eine Persön­lichkeit, wie die Luthers war, lernt man dann erst recht erkennen, wenn man einsieht, aus welchen Tiefen heraus sie sprach, und was in den Tiefen ihrer Seele lebte. Das wollte ich gerade in dieser Zeit hin-stellen. Ich glaube schon: wenn Sie diese Gedanken nun nehmen und an das herantreten, was Ihnen gerade in dieser unserer Zeit von Luther ausgehend so mächtig entgegentreten kann, Sie werden vieles bei Luther finden, durch sich selbst finden, was ich natürlich hier nicht im einzel­nen ausführen kann, was jeder auch bei Luther selber finden muß. Dann, meine ich, kann gerade für unsere so schwere Zeit die Versen­kung in Luther wieder den Ausgangspunkt einer Vertiefung durch Luther werden. Denn vielleicht ist keine Kraft so geeignet, auf das mächtige Kolorit des fünften nachatlantischen Kulturzeitraumes hinzuweisen,

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wie Luther, weil er eben ganz aus dem Geiste dieses fünften Zeitraumes heraus sprach, aber seine Worte fand aus dem Geiste des vierten nachatlantischen Kulturzeitraumes heraus.

Allen Dingen und allen Vorgängen gegenüber, die uns in der Ge­schichte entgegentreten, sollten wir die Notwendigkeit empfinden, gewissermaßen die Geschichte umzudenken. Wir sollten empfinden, wie unsere heutige schwierige Zeit, die der Menschheit solches Elend gebracht hat, schon karmisch zusammenhängt mit verkehrtem, ober­flächlichem Denken, und wie das, was wir heute so grauenhaft erleben, vielfach das Karma des Materialismus ist. Wir sollten den Willen in uns entwickeln, geschichtlich umzudenken. Ich habe es schon oft betont, was uns heute als Geschichte geboten wird, in den untersten Schulen wie auf den Mittelschulen und auf den Universitäten - vielleicht auf den letzteren am allermeisten -, das ist eine Legende, die deshalb so verderblich ist, weil sie keine sein will, weil sie äußere sinnliche Wahr­heit geben will. Würde man nur einmal die wahre Gestalt der Vor­gänge des neunzehnten Jahrhunderts - nur einmal des neunzehnten! -an die Stelle der legendarischen Geschichten setzen, es würde etwas ungemein Wohltätiges den Menschen angediehen werden. Gerade über die Auffassung der Geschichte sagt einmal Herman Grimm, er sehe eine Zeit voraus, in welcher alle die, welche als Größen des neunzehn­ten Jahrhunderts angesehen werden, nicht mehr als solche Größen an­gesehen werden, sondern ganz andere, die aus dem Dämmerdunkel der Zeit treten werden. - Gerade die Geschichte ist so hergerichtet, daß so, wie sie im Laufe der Zeit geworden ist, heute zu ihrer Beurteilung eine Umwandlung der Menschenseele nötig ist, eine Umwandlung bis in die tiefsten Wurzeln ihres Wesens herein. Von diesem Gesichtspunkte aus habe ich das immer wieder und wieder betont, aber man kann es nicht oft genug sagen, denn alles, was die Menschen heute an Vorstel­lungen haben, entsteht durch solche oberflächliche Ansicht, daß diese Vorstellungen gar nicht die Kraft haben, die entfaltet werden muß, wenn der Mensch aus seinem Vorstellen heraus in das eingreifen soll, was im sozialen Zusammenleben der Menschen auftritt. Die kurzsich­tigen, die stumpfen, die dämmerhaften Begriffe der Menschen führen heute Krieg. Und die Menschen, welche gegeneinander kämpfen, sind

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vielfach nur die Puppen für die dämmerhaften, kurzsichtigen, stumpfen Begriffe. Aber man muß sich ein Wahrnehmungsvermögen für das Kurzsichtige aneignen. Das ist nötig. Und wenn die Geisteswissenschaft es vermöchte - und man möchte es gerade wünschen -, daß sie die Menschen aufrüttelt, um hineinzuschauen in die tiefen Impulse, die unter der Oberfläche des gewöhnlichen Lebens liegen, die man aber heute nicht sehen will, dann würde das erreicht werden, was heute in zahlreichen Deklamationen von Völkerfreiheiten, von internationalen Schiedsgerichten wimmelt und Wort bleibt, weil es ganz gleich ist, was man begründet, solange die Dinge so aufgefaßt werden, wie sie die heutige Zeit eben auffaßt. Ganz gleichgültig ist es, was man begründet, ob auf Krieg oder Frieden oder sonst etwas hin. Notwendig ist es, daß unsere Vorstellungen herausgeführt werden aus der Oberflächlichkeit des heutigen Tageslebens in die Tiefen der Dinge hinein. Hören möchte man, wie in dieser Zeit der Luther-Episteln den Menschen dargestellt werden möchte, daß in Luther nicht nur der Mann gesprochen hat, son­dern auch der Charakter der Zeit, die mit dem achten Jahrhundert vor Christi anfing und mit dem fünfzehnten Jahrhundert aufhörte, und wie dies in ihm zusammentönte mit dem Charakter des anderen Zeitraumes, der im vierzehnten Jahrhundert beginnt und von da ab etwa 2100 Jahre dauert.

Dadurch ist eine Persönlichkeit eine historische, daß dasjenige, was wir aus der Hierarchie der geistigen Wesenheiten die Archai, die Zeit-geister nennen, aus dieser Persönlichkeit spricht, so daß diese Per­sönlichkeit hinwegführt zu der Sprache des Zeitgeistes. So etwas einzusehen, ist wahrhaftig nötig bei einer Darstellung, die an die Be­trachtung Luthers herankommen will.

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NEUNTER VORTRAG Berlin, 25. September 1917

Es ist ja jetzt die Zeit für die Menschheit eingetreten, in welcher die Rätsel des Menschenlebens bedeutungsvoll an die Seelen der Menschen herankommen. Man sieht ja auch, daß der oder jener diese Rätsel wohl bemerkt; allein wenig Geneigtheit ist vorhanden, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um hinter die Geheimnisse dieser Rätsel zu kom­men. Ich möchte heute zunächst auf eines dieser Rätsel - Rätsel des unmittelbaren Lebens - hinweisen, auf das mancher in der Gegenwart stößt. Es fragt sich heute der oder jener: Wie kommt es, daß eine solche Disharmonie besteht zwischen der intellektuellen und der moralischen Entwickelung der Menschen über die Erde hin? - Die intellektuelle Entwickelung, die sich in dem auslebt, was man - nun, sagen wir, mit mehr oder weniger Recht - in der neueren Zeit auch die wissenschaft­liche Entwickelung nennt, die ja der Weltanschauung der meisten Men­schen doch zugrunde liegt, diese intellektuelle Entwickelung, was hat sie nicht alles hervorgebracht! Sie hat hervorgebracht all die äußeren materiellen Kulturmittel, die ich ja nicht im einzelnen aufzuzählen brauche. Wenn wir da an all dasjenige denken, was diese intellektuelle Entwickelung bis jetzt an die Oberfläche gebracht hat, damit sich die Menschen gegenseitig vernichten können, was sie an die Oberfläche gebracht hat an allen möglichen großartig ausgedachten Mitteln zur Menschenvernichtung, so kann, wenn man absieht von allem moralisch dabei zugrunde liegenden, nicht anders gesagt werden, als daß diese intellektuelle Entwickelung bei einem Höhepunkt angelangt ist. Den­ken Sie sich, welche Wissenschaft dazu notwendig war, um all die Mordinstrumente zuwege zu bringen, unter denen die Menschheit ge­genwärtig leidet, mit denen sie sich zerfleischt. Man kann an manches Günstige, man kann an vieles Ungünstige der intellektuellen Entwicke­lung denken, man wird eben wirklich nicht anders sagen können, als:

diese intellektuelle Entwickelung ist in einer aufsteigenden Linie ohne­gleichen, insbesondere in den letzten Jahrhunderten, vorgeschritten. Daß damit in einer schreienden Disharmonie dasjenige steht, was man

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die moralische Entwickelung des Menschentums nennt, das haben einige bemerkt, und man trift: da und dort Aussagen von Menschen der Ge­genwart, die auf diese Disharmonie hinweisen. Schon vor Jahren hat Ernst Haeckel in seinem berüchtigten Buch über die Welträtsel darauf hingewiesen, wie die Menschheit intellekt,iell aufwärts geschritten ist, wie sie aber in bezug auf moralische Begriffe in vieler Beziehung über den urältesten Standpunkt nicht hinausgekommen ist, und jetzt machen eben manche wiederum auf diese Diskrepanz zwischen dem einen und dem anderen aufmerksam Diese Dinge drängen sich dem Menschen-gemüte auf, wenn dieses Menschengemüt die Gegenwart, wie ich öfter auseinandergesetzt habe, nicht verschläft. Aber daß auf solche schwer­wiegenden, auf solche in die Tiefe des Menschenwesens gehenden Fra­gen doch nur Geisteswissenschaft eine Antwort geben kann, darauf lassen sich die Menschen der Gegenwart aus der Ihnen ja öfter geschil­derten seelisch-geistigen Bequemlichkeit nicht ein. Und dennoch, eine Möglichkeit, sich in den so verworrenen Verhältnissen der Gegenwart zurechtzufinden, wird nur dann gegeben sein, wenn sich die Menschen auf solche Dinge einlassen werden, einlassen werden von den Gesichtspunkten, die nur durch eine geistige Erkenntnis erreicht werden konnen. Nicht wahr, wie schneidend wirkt es auf eine mit gesunder Empfin­dung ausgestattete Seele wenn sie sich gestehen muß, was jetzt über den ganzen Erdball hir' sich geltend macht an Unbehaglichkeit, an Nichtwillen den Dingen gegenüber, die sich abspielen oder die sich unter der Oberfläche der sich abspielenden Dinge befinden, mit klarem, wahrem Sinn ins Auge zu schauen. Man darf sagen: Welches Mißver­hältnis besteht zwischen der Art, wie man sich lange Zeit aufgehalten hat über so manche unmoralisch erscheinenden Maßnahmen alter Zei­ten; wie merkwürdig erscheint das, wenn man es gegenüberstellt dem, was jetzt von den Menschen geurteilt oder nicht geurteilt wird, trotz­dem das Maß desjenigen, was heute über die Erde hin spielt, furcht­barer ist als je etwas, was sich im Laufe der Menschheitsentwickelung zugetragen hat. Sehen wir uns einmal das Verhältnis intellektueller Menschheitsentwickelung und moralischer Menschheitsentwickelung von dem Gesichtspunkte, der durch die Geisteswissenschaft gewonnen werden kann, an.

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Da müssen wir zunächst die Frage aufwerfen: An was im Menschen hängt denn eigentlich die intellektuelle Entwickelung, was betätigt sich denn, wenn wir im wissenschaftlichen Sinne denken, wenn wir denken, um uns die Natur zu erklären, wenn wir nachdenken, um die Gesetze der Natur zu schildern und uns Vorstellungen über die Welt zu bilden im Sinne der Naturgesetze, was betätigt sich denn da eigent­lich in uns? Nun, da betätigen sich in uns die ältesten Teile der Menschennatur, auf die wir blicken können, wenn wir bei der uns bekannten Saturnentwickelung beginnen, und durch die Sonnen-entwickelung, die Mondenentwickelung bis zur Erdenentwickelung gehen, wenn wir auf dasjenige blicken, was da der Menschheit an- und eingebildet worden ist. Das bildet heute die Werkzeuge der intellek­tuellen Entwickelung. Wenn wir es dagegen mit der moralischen Ent­wickelung zu tun haben wollen, erkenntnismäßig, so können wir nicht auf diese alten Bestandteile des Menschen hinweisen, sondern in bezug auf die moralische Entwickelung haben wir es mit verhältnismäßig viel jüngeren Gliedern der Menschennatur zu tun, ja, im echtesten Sinne moralisch kann nur das Ich selbst betrachtet werden. Aber wie oft habe ich gesagt, das Ich ist das Baby unter den Menschengliedern; nicht einmal beim Astralleibe, der der Menschenwesenheit eingegliedert worden ist während der Mondenentwickelung, kann man schon von moralischen Impulsen reden. Man kann beim Astralleibe nur insofern von moralischen Impulsen reden, als das Ich während des Lebens im innigen Zusammenhang mit diesem Astralleibe ist und sich dadurch die Impulse der Moralität, die sich im Ich geltend machen, auf den Astral-leib übertragen. Aber bedenken Sie nur, daß das Ich und der Astral­leib eine verhältnismäßig große Selbständigkeit haben und sich jede Nacht beim Schlaf loslösen vom physischen Leib und Ätherleib, dann aber in vollständiger Unbewußtheit leben. Sie können in dieser Un­bewußtheit noch nicht moralische Impulse aufnehmen.

Nun bedenken Sie das Folgende, das wichtig ist, wenn es auch dem heutigen Menschen noch einigermaßen schwierig ist, es zu begreifen. Wir kommen bei jedem Aufwachen mit unserem Ich und unserem Astralleib in unsern physischen Leib und Atherleib hinein, die die ältesten Glieder der menschlichen Entwickelung sind, die durch ihre Saturn-, Sonnen- und Mondenentwickelung

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vorzugweise zum Werkzeuge der intellektuellen Entwickelung geworden sind und in dieser Beziehung bis zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit gediehen sind. Dieser Grad von Vollkommenheit ist ihnen allerdings eingeboren, und was ihnen ein­geboren ist, das stellt sich eben als intellektuelle Entwickelung dar. Wir würden in einer gewissen Beziehung Denkmaschinen, Wissenschafts-maschinen sein, wenn zu unserem physischen und Ätherleib nicht das Ich und der Astralleib käme. Aber so wie unser physischer Leib und unser Ätherleib sind, sind sie auch in gewisser Beziehung automatisch. Sie sind im Grunde genommen als solche nur dadurch auf der Erde noch entwickelungsfähig, daß sie vom Ich bewohnt werden. Aber dieses Ich würde wenig zur Vervollkommnung auch der intellektuellen Fähig­keiten des physischen und Ätherleibes tun können, wenn es nicht jede Nacht in den Schlaf überführt würde. Die besten Kräfte, auch für die intellektuelle Entwickelung, erhalten wir während des Schlafes. Das, was wir während des Schlafes empfangen, tragen wir dann hinein in physischen und Ätherleib, und weil diese gewissermaßen ausgebildete, vollkommene Werkzeuge sind, daher kommt es, daß, wenn beim Auf­wachen das Ich untertaucht in Ätherleib und physischen Leib, die ein-gefahrenen Geleise der Intellektualität durch dieses Ich aus der gei­stigen Welt heraus weiter gebildet werden können. Da kommt wäh­rend des Tages das nötige Bewußtsein dazu, das Bewußtsein, das ja durch physischen und Ätherleib erlangt wird. In bezug auf das eigent­liche Ich und den Astralleib haben wir aber in der gegenwärtigen Zeit noch nicht ein gleiches Bewußtsein. Ich bitte Sie, das ganz besonders zu berücksichtigen. Der Mensch glaubt sein Ich zu kennen, aber wie kennt er sein Ich? Wenn Sie eine rote Fläche haben und dahinein ein Loch machen, der Hintergrund aber finster ist, also gar nichts ist, so sehen Sie rot und Sie sehen das Loch als schwarzen Kreis; das Nichts nehmen Sie wahr, wo der schwarze Kreis ist, da ist nichts. So wie das umliegende Rot, so sehen Sie in Ihrem Seelenleben auch das Ich. In Wahrheit ist das, was der Mensch glaubt als Wahrnehmung seines Ich zu haben, nur ein Loch in seinem Seelenleben. Weil dort noch nichts ist, oder wenigstens nicht viel ist, so glaubt der Mensch, daß er da sein Ich wahrnimmt, während er ringsherum nur dasjenige wahrnimmt,

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was ihm sein Gehirn durch seinen physischen und Ätherleib zeigt. Mit der Ich-Wahrnehmung ist es nämlich in der gegenwärtigen Entwicke­lung des Menschen, während er im physischen Leib zwischen Geburt und Tod weilt, noch nicht sehr weit her. Während des Schlafes sind wir bewußtlos. Aber in bezug auf das Ich sind wir auch während des Tages, während des Wachens bewußtlos, und doch muß dem Ich das Moralische eingepflanzt werden. Sie sehen also, in bezug auf die Ein-pflanzung des Moralischen ist der Mensch im Verhältnis zu seiner Intellektualität noch recht babyhaft. Das ist der tiefere Grund, warum der Mensch während der Erdenentwickelung so außerordentlich schwie­rig im Moralischen vorwärtskommt, während die intellektuelle Ent­wickelung verhältnismäßig leicht vorangeht.

Nun ist neulich in einer Zeitschrift, die zwar «Die Glocke» heißt, aber manchmal auch nicht sehr gescheit tönt, die jetzt während des Krieges begründet worden ist, gerade über diese Diskrepanz zwischen der in-tellektuellen und der moralischen Entwickelung ein Aufsatz erschienen. Da wird nach der Gesinnung dieser tönenden Glocke alles, was an Diskrepanz herrscht zwischen der intellektuellen und der moralischen Entwickelung, darauf zurückgeführt, daß die intellektuelle Entwicke­lung bisher abgelaufen wäre im Zeichen des Kapitalismus, im Zeichen des Herrschertums einzelner, und daß die moralische Entwickelung erst kommen könne, wenn der Sozialismus eintrete. Nun, Idealisten grün­den Weltanschauungen, um sie gipfeln zu lassen in dem Dogma: Auf der Erde wird ein Paradies sein, wenn einmal der Idealismus überhand nimmt. Materialisten gründen Weltanschauungen, die in dem Dogma gipfeln: Auf der Erde wird ein Paradies sein, wenn einmal der Mate­rialismus allgemein herrschen wird. Im Zeitalter des Liberalismus hat man Weltanschauungen gegründet, die das Paradies in der allgemeinen Verwirklichung des Liberalismus versprochen haben; der Sozialismus sieht selbstverständlich das Paradies in der Verwirklichung des Sozia­lismus. Diese Dinge sind ja außerordentlich einfach, aber sie sind natür­lich ebensoviele banale Illusionen; sie zeigen, daß zwar die Menschen heute mit der Nase auf die Probleme gestoßen werden, daß sie aber nicht in der Lage sind, die Unbequemlichkeit auf sich zu nehmen, wirk­lich durch Denken, und um Denken handelt es sich zunächst, in das

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Gebiet des geistigen Erlebens einzudringen. Wer wirklich denken will, kann nämlich schon eindringen in das Gebiet des geistigen Erlebens.

Unsere Zeit, die so stolz ist auf ihr Denken, kennt gerade das Den­ken am allerwenigsten. Die Frage aber nach der Diskrepanz zwischen intellektueller und moralischer Entwickelung läßt sich nur nach den ganz großen Gesichtspunkten beantworten, die wir soeben berührt haben. Aber jene Glocke, die so tönt, als wenn man sie eben läuten ge­hört hätte, aber nicht zusammenschlagen, findet, daß das intellektuelle Leben schon vor sich gehen kann, wenn einzelne Menschen intellek­tu ell sind, daß aber das moralische Leben nur dann eine entsprechende Entwickelung erlangen kann, wenn eine sozialistische Einrichtung alle Menschen ergreift. Günstig wäre die individuell-kapitalistische Ent­wickelung dem wissenschaftlich Intellektuellen gewesen, günstig wird der moralischen Entwickelung die soziale Ordnung sein.

Um was es sich wirklich handelt, das ist, daß, wenn die moralische Ordnung wirklich in demselben Maße sich in der Welt entwickeln soll, wie sich das Intellektuelle entwickelt hat, ein Hinblicken der Men­schen auf die geistige Welt Platz greifen muß. Dann muß es möglich sein, daß die Menschen wirklich aufschauen zu dem, was an geistigen Impulsen und Kräften die Welt durchwallt und durchlebt. Das ist heute den Menschen noch etwas durchaus Unbequemes. Unbequem aus man­cherlei Gründen. Derjenige, der sich darauf einläßt, sein Denken in der Art auszubilden, wie ich es oftmals hier geschildert habe, so daß ihn dieses Denken befähigt, zu leben in der geistigen Welt, die geistige Welt als Wirklichkeit zu erfahren, der muß innerlich etwas ausbilden, was unter der materialistischen Entwickelung der neueren Zeit gar sehr abgenommen hat. Ja, ich möchte sagen, es bildet sich von selbst innerlich aus, dieses der neueren Zeit so sehr fehlende innere Verant­wortlichkeitsgefühl. Die Menschen, die nur aus ihrer naturwissenschaft­lichen Beobachtung sich eine Weltanschauung bilden wollen, die wer­den ja in ihrer Begriffsbildung durch die äußeren Tatsachen geführt, und sie lassen sich dann am Gängelbande der äußeren Tatsachen leicht führen. Da bekommen sie gewisse Begriffe, die bis zu einem gewissen Grade auch hinreichen, das oder jenes in der Natur zu verstehen, die aber durchaus nicht hinreichen, um in der moralischen und sozialen

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Menschenordnung Zusammenhänge zu schaffen, um die moralische und soziale Menschenordnung auch ihrer Wirklichkeit nach zu durchschauen. Um sie zu durchschauen, dazu gehört eben das Verbundensein mit der geistigen Wirklichkeit. Das aber erzeugt im Innern der Seele ein star­kes Verantwortlichkeitsgefühl gegenüber dem Gedanken, so daß man sich nicht gestattet, jede beliebige Gedankenverbindung zu bilden, son­dern nur diejenigen Gedankenverbindungen, die man gewissermaßen in seiner Seele sehen lassen kann vor den Wesenheiten der höheren Hierarchien. Mit Begriffen, wie sie die heutige Menschheit hat über den einzelnen Menschen und seine Beziehungen zum Volk, kann man sich vor den Wesen der geistigen Welten nicht sehen lassen. Mit all den Deklamationen über Völkerfreiheit kann man vor den geistigen Wei­ten keinen Staat machen, denn Freiheit, das erkennt man aus der Gei­steswissenschaft heraus, ist ein Begriff, nur anwendbar auf den einzelnen Menschen als Individuum, nicht aber auf die Volkheit mit ihrer Grup­penseele. Da gelten andere Begriffe als Freiheit. Dennoch deklamiert man heute über die Welt hin in den siebenundzwanzigjährigen Be-griffen Woodrow Wilsons von Freiheit der Völker und dergleichen, und man nimmt diese Dinge ernst. Man nimmt sie selbst ernst in dem­jenigen Kulturgebiete, in dem wir selber leben, in dem man nach alle­dem, was wir durchgemacht haben durch Jahrhunderte, geklärtere Begriffe haben könnte, die sich schon zu einigem Verständnis des Gei­steswissenschaftlichen auf diesem Gebiete aufschwingen könnten.

Verantwortung nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber Begriffen, die ja, wenn sie moralische Begriffe sind, in unser Jch und höchstens in unseren Astralleib hineinkommen, die also ganz in der geistigen Welt, wenn ich so sagen darf, schwimmen und leben. Diese Verantwortung kann man nicht haben, wenn man nur in äußeren materialistischen Vorstellungen lebt, und in materialisti­schen Vorstellungen lebt man ja, auch wenn man oftmals gar nicht meint, man lebe darinnen. Dadurch, daß man sagt, Gott habe uns für unsere Fehler diesen Krieg geschickt, dadurch, daß man solch eine Phrase vorbringt, ist man ja noch nicht ein Geist-Erkenner, dadurch ist man ja noch nicht über die materialistischen Begriffe hinaus. Über die materialistischen Begriffe ist man erst dann hinaus, wenn man sich

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Vorstellungen machen kann, wie es in der geistigen Welt aussieht, wie es in der geistigen Welt zugeht.

Wortzusammenstellungen, die nicht in den Realitäten wurzeln, trifft:

man ja heute in Hülle und Fülle an. Insbesondere dann trifft man sie in Hülle und Fülle an, wenn versucht wird, die oder jene politische Kundgebung zu beantworten. Dadurch, daß man bei solchen Gelegen­heiten vom neuen Geist spricht, dadurch verrät man noch nicht, daß man die Spur einer Ahnung vom Geiste überhaupt hat.

Der Geist muß in seiner Konkretheit, in seiner Wirklichkeit erfaßt werden, er darf kein Abstraktum bleiben, sonst kommen wir aus den verheerenden Verhältnissen in der Gegenwart nicht hinaus. Wie ge­sagt, die eine oder die andere Naturerscheinung läßt sich begreifen mit den Begriffen, die man sich erwirbt, wenn man sich am Gängelbande des äußeren Wahrnehmens fortführen läßt. Aber eingreifen in das Getriebe des Menschenlebens selbst, das kann man nur, wenn man Begriffe aus der geistigen Welt hat. Sie könnten fragen, wie kommt es denn, daß doch da oder dort noch eingegriffen wird in das Menschen­leben. Es sind das alte, uralte Begriffe, die die Menschen jetzt aus-walzen, aber diese uralten Begriffe taugen nichts mehr für die Zeit. Die Zeit verlangt neue Begriffe, neue Vorstellungen, neu natürlich nur in dem Sinne, daß sie der Menschheit neu sind. Diese neuen Vorstellungen sind aber eben zuweilen den Menschen recht unbequem. So sind ins-besondere unbequem die Gedanken, die sich ergeben, wenn man in wirklich geisteswissenschaftlichem Sinne die menschliche Moralität an-sieht. Nicht wahr, es ist so unendlich bequem, sich zu sagen, Wohl-wollen ist eine Tugend deshalb muß man sich das Wohlwollen er-werben; Recht ist etwas ,Moralisches, deshalb muß das Recht begründet werden. Dann kann man Gesetzgeber sein und Veranstaltungen treffen, durch die das Wohlwollen, das Recht geregelt wird. Man kann auch Parlamente wählen, wo die gescheiten Leute zusammenkommen, um allerlei Einrichtungen im Sinne einer wohlwollenden und rechtlichen Ordnung und dergleichen zu treffen. Aber herauskommen kann, wenn die Dinge so gehandhabt werden, wie sie bisher gehandhabt wurden, nur dasjenige, was wir jetzt über die Erde sich ausbreiten sehen. Wenn die Menschen doch den Mut hätten, den Zusammenhang zu erkennen

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zwischen dem Vorstellungswesen, das sich nach und nach herausgebil­det hat, und den furchtbaren Ereignissen der Gegenwart! Wohlwollen ist eine Tugend, und man kann sich sehr wollüstig dabei befinden, dem Wohlwollen nachzuleben, gewissermaßen in einen Katechismus zu schreiben: Du sollst wohlwollend sein, du sollst rechtlich sein und so weiter; - dann hat man es, aber man hat keine Erkenntnis!

Man hat ebensowenig eine Erkenntnis, wie man eine Erkenntnis vom Pendel hat, wenn man nur weiß: wenn es oben ist, so wird es durch die Schwerkraft heruntergeführt bis zum tiefsten Punkt, und nicht bedenkt, daß, wenn es unten angekommen ist, es gerade durch die Kraft, die sich im Herunterfallen angesammelt hat, geneigt ist, ebenso-weit nach der anderen Seite auszuschlagen. Im Physischen drängen sich diese Dinge von selbst auf, im Moralischen fällt es den Menschen gar nicht ein, in derselben Weise eindringlich zu denken, wie sie im Physi­schen am Gängelbande der Naturkräfte denken müssen. Wenn der Mensch Wohlwollen entwickelt, so ist das gewiß gut. Aber gerade so, wie sich im Pendel, wenn es herunterfällt, die Kraft zum Aufwärts­gehen entwickelt, so entwickelt sich unter der Kraft des Wohlwollens die Kraft von Vorurteilen, die Kraft von unangebrachter Vorliebe für das und alles mögliche. Keine Tugend kann sich entwickeln, ohne daß unter der Entwickelung der Tugend die Anlage zu den entgegengesetz­ten Lastern in der menschlichen Seele als Neigung entsteht. Sehen Sie, diese Wahrheiten sind unbequem, aber sie sind eben Wahrheiten. Der einzelne wird es weniger bemerken, aber in der sozialen Ordnung tritt als Tatsache hervor, was eben angedeutet worden ist. Wenn die Men­schen sich gar zu sehr darauf zugute tun, eine Zeitlang diese oder jene Tugend einseitig auszubilden, dann muß das nächste Zeitalter not­wendig die entsprechenden Laster zum Vorschein bringen, wenn der Zusammenhang nicht erkannt wird. Denn hier kommen wir, wenn wir die Sachen im rechten Lichte besehen wollen, zu einer tiefen Wahrheit des Christus Jesus, die sich aber die Menschen durchaus nicht gestehen wollen.

Es geht jetzt eine merkwürdige Strömung durch die Welt, die nach und nach epidemisch die Seelen ergreift. Man sollte eigentlich nicht glauben, daß die Menschen zu dieser Anschauung haben kommen können,

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aber sie ist einmal da. Die Menschen scheinen nämlich den Be­schluß gefaßt zu haben, diesen Krieg so lange fortzusetzen, bis ein ewiger Friede erkämpft ist, bis durch diesen Krieg die ganz sichere Garantie geboten wird, daß niemals mehr ein Krieg kommt. Es ist das nämlich das beste Mittel, diesen Krieg niemals zu Ende gehen zu lassen, dann wird man selbstverständlich durch ihn den ewigen Frieden erkämpfen. Man braucht bloß dieses Ideal des sogenannten Dauer-friedens anzustreben, so wie man es heute tut, dann wird man ganz gewiß diesen Krieg niemals zu Ende bringen können. Denn wir leben im physischen Menschenleib auf dem physischen Plan und der physische Plan kann nicht vollkommen sein, ist nicht vollkommen; und wenn Sie das Vollkommenste begründen würden auf dem physischen Plan, das zu irgendeiner Zeit begründet werden kann, so müßte es nach einigen Jahrhunderten etwas ganz Unvollkommenes sein, weil die Fortentwickelung sich nicht in aufsteigender Linie, sondern im Oszillie-ren bewegt. Wie das Pendel auf und ab geht, so bewegt sich die Ent­wickelung in auf- und absteigender Linie, und wenn ein Zeitalter etwas Vollkommenes entwickelt hat, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als auf Menschen zu warten, die ein Vollkommeneres in einem anderen Zeitalter wissen werden. Auf die Freiheit der Menschen kommt es an, nicht auf die Vollkommenheit der Einrichtungen auf dem physischen Plan, die eine Unmöglichkeit, ein Phantasiegebilde, eine Illusion ist. Der Liberalismus, der Sozialismus, der Konservativismus, sie alle wollen das Paradies auf Erden gründen, das heißt, in den Einrichtungen des physischen Planes ein Vollkommenes verwirklichen. Der Christus hat aber gesagt, das Reich des Gottes ist überall in euch. - Will man die physische Welt als ein vollkommenes Paradies gestalten, so will man etwas ganz Unmögliches, denn die besteht in fortwährendem Oszillie-ren. Nur dadurch, daß man diese physische Welt mit Geistigem durch­tränkt und der Mensch sich als Teilnehmer weiß des Reiches der Götter, des Reiches des Geistigen, nur dadurch wird man dem Christus-Prinzip gerecht. Wer da will die physische Welt, sei es im sozialistischen, sei es im anderen Sinne, zu einem Paradiese machen, versteht nichts von der Wirklichkeit. Sie sehen, was in die Menschenseelen sich hineinbegeben muß, wenn die unwirklichen Begriffe der Gegenwart wirklichen Begriffen

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Platz machen sollen. Man kann aber nicht zu wirklichen Be­griffen kommen, wenn man nicht den Blick aufwärts wendet zu den großen geistigen Zusammenhängen. Wie spotten die Menschen der Gegenwart über die großen Gesichtspunkte, die durch die Saturn-, Sonnen-, Monden-, Erden-, Jupiter- und so weiter -entwickelung geltend gemacht werden! Wozu braucht man das alles? Man braucht es, um auch nur im kleinsten Erkenntnis für das Leben gewinnen zu können, denn der Mensch ist wirklich ein Mikrokosmos. In ihm leben Saturn-, Sonnen-, Mondenentwickelung und so weiter, und wenn er nichts wissen will von diesen Vorstellungen, so wäre das gerade so, wie wenn Sie dem Kinde im ersten Lebensjahre die Hände für die Dauer seines Lebens anbinden wollten, so daß es sie nie gebrauchen kann. So ge­braucht der Mensch seine Fähigkeiten nicht, wenn er nicht den Blick aufwärts nach dem Geistigen wenden will. Daran hat es aber gefehlt, gar sehr gefehlt, und gerade gefehlt, wo es am wenigsten hätte fehlen sollen.

Ich möchte auf ein Beispiel hindeuten, das manche vielleicht sonder­bar finden werden, das Ihnen aber doch vielleicht genauer sagen kann, was ich mit all den Dingen meine, die ich heute nur antippend berühre. Ich habe mit verschiedenen Menschen in der letzten Zeit über Dinge gesprochen, die der heutigen Menschheit notwendig wären, wenn sie aus den Kalamitäten, aus den verschiedenen Sackgassen herauskommen will; Dinge, die einfach in einer gewissen Summe von praktischen Be-griffen bestehen, durch die man heute sein Denken auffrischen müßte, wenn man - es ist schwer, über die Einzelheiten heute zu reden -, ich will einmal sagen, Papstnoten beantworten will. Diese Begriffe aber, so sehr sie auf dem unmittelbarsten praktischen Standpunkt des Lebens stehen, können nur gewonnen, nur verstanden werden, wenn man Impulse durch die Geisteswissenschaft hat. Denn diese Begriffe beziehen sich auf die Art und Weise, wie man heute denken muß, wenn man aus dem Wirrwarr herauskommen soll, über das Zusammenleben der Völker und Staaten, über die Einrichtungen, die die Völker und Staaten treffen müssen, wenn sie nicht in illusionären, abstrakten Be­griffen von Völkerfreiheit und friedlichem Zusammenleben der kleinen Nationen und wie all das Zeug heißt, in Unwirklichkeiten deklamieren

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wollen. Man kann sehr intensiv praktische Begriffe ausbilden, die allein imstande sein würden, aus der Misere des heutigen Tages herauszu­kommen. Was aber erlebt man? Sie haben vielleicht in den Zeitungen gelesen, daß heute die Rektor-Inauguration an der Berliner Universi­tät war. Der neuantretende Rektor, Geheimrat Penck, hat aus geo­logischen Begriffen heraus über politische Grenzbegriffe gesprochen. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schwer es einem ums Herz wird, wenn man so etwas erlebt. Warum denn? Weil an den erleuchtetsten Stellen des gegenwärtigen geistigen Strebens die ungeklärtesten elementarsten Vorstellungen auftauchen, zu denen, wenn man sich auf Geisteswissen­schaft einlassen würde, die für das Leben brauchbaren höheren Begriffe sich ergeben würden. Denken Sie sich, man erlebt: Geisteswissenschaft könnte entwickelte Begriffe für die gegenwärtige umfassende Lebens-praxis geben - diese entwickelten Begriffe würden aber eben höhere Zusammenhänge darstellen - und die anerkannte offizielle Wissen­schaft bewegt sich da noch tastend im Abc der Sache und kann nicht aus diesem Abc heraus. Das ist es, was heute gerade bei solchen Gelegen­heiten schwer machen kann, sich auch nur zum Verständnis zu bringen, was eigentlich gemeint ist. Denn weit entfernt ist das, worauf heute die Menschen achten, was heute die Menschen als höchste Autorität ansehen müssen, von dem, was so bitter not täte, und was nur aus der Geisteswissenschaft gewonnen werden könnte. Da, wo offizielle Wissen­schaft sich auslebt, da erleben wir das ungeschickte Abc, aber das Lesen könnte da sein, wenn nicht Geisteswissenschaft von denjenigen, die sie nicht verstehen wollen, für eine phantastische Sache gehalten würde. Da muß man allerdings immer wieder und wiederum ohne alle Über-hebung, ohne alle Verletzung der gebührenden Menschendemut, auf die ersten Zeiten des Christentums hindeuten, wie unten in den Kata­komben unter der Erde in der ersten Römerzeit Christen ihren Gottes­dienst verrichtet haben und oben die alte Welt ihre soziale Ordnung entfaltet hat. Was war einige Jahrhunderte später diese alte Welt, die für dieses werdende Christentum nichts anderes gehabt hat, als was man im alten Rom aus der Geschichte kennenlernen kann! Diese alte Welt war weggelöscht in wenigen Jahrhunderten, und was unten in den Katakomben war, das verbreitete sich oben. Könnte nur eine

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genügend große Anzahl von Menschen verstehen, daß heute schon etwas ähnliches notwendig ist, wenn auch nicht für etwas so Welt-großes, wie das Christentum selber es ist. Das kann nicht bleiben, was heute als offizielle Wissenschaft, als offizielles Denken und Vorstellen waltet. Das verhält sich zu dem, was die Jahrhunderte brauchen, wie sich das alte Römertum zum Christentum verhielt, das sich unten in den Katakomben entwickelt hat. Aber man muß seine Gefühle und seine Empfindungen einstellen auf diesen weltgeschichtlichen Gegen­satz, man muß sie so einstellen, daß man durchschaut, den Willen hat zu durchschauen, was alles Ungenügendes ist in den heutigen Dekla­mationen über den neuen Geist, oder Garantien in allen möglichen unfaßbaren Begriffen von zwischenstaatlichen Organisationen, von Schiedsgerichten und dergleichen, wobei man nur niemals wissen kann, wer Schiedsrichter sein soll. Es ist heute die Zeit, wo in das unmittel­barste Alltagsieben die großen Begriffe hineingehören, wo es der Menschheit nicht gestattet ist, zu sagen: Ja, diese Begriffe sind gewiß sehr schön zum Begreifen der Welt, aber man kann sie doch nicht in alltägliche Manifestationen hineinbringen! -Entweder wird man sie hin­einbringen, oder diese alltäglichen Manifestationen werden Nullitäten sein und keine Bedeutung haben für das praktische Leben, das nicht dasjenige von nach Jahrzehnten, sondern von heute und morgen ist.

Überall, wo man heute verschiedene Meinungen hat, findet man ver­hältnismäßig Objektivität, bis zu einem gewissen Grade wenigstens. Suchen Sie aber unter den Bekämpfungen der Geisteswissenschaft, der Anthroposophie, etwas Objektives! Wenn solch ein Mensch, wie das Individuum Max Dessoir, der Professor an der Berliner Universitat ist, sich über Geisteswissenschaft hermacht, so tischt er seinen Lesern Ent­stellungen, Fälschungen auf, wie ich in meinem Buche, das jetzt auch gedruckt ist und demnächst erscheinen wird, nachgewiesen habe. Immer wird das, was ehrlicher objektiver Kampf sein soll, übergeführt auf das persönliche Gebiet, auf das Gebiet der persönlichen Verunglimp­fung, gerade wenn es sich um Geisteswissenschaft handelt. Warum? Nicht weil es die Menschen widerlegen können, sondern weil sie die Menschen nicht haben wollen, weil die Menschen es in der Gegenwart ablehnen, das eigentliche Menschenwesen in sich selber zu suchen. Denn

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das ist unbequem. Die Menschen wollen zum Beispiel die moralischen Begriffe haben, an denen sie sich delektieren können. Dazu taugen aber die Begriffe nicht, die zum beispiel besagen, daß die Tugenden sich nach einiger Zeit von selbst in die Anlagen zum entsprechenden Laster wandeln, wenn die Menschen nicht auf Wache stehen gegenüber ihrer eigenen Seele. Wie oft habe ich aufmerksam gemacht auf den Be­griff der Selbstlosigkeit. In einem öffentlichen Vortrage habe ich ein­mal hypothetisch als Beispiel gewählt, eine Gesellschaft habe sich gegründet zur Pflege der Selbstlosigkeit. Es habe sich in ihr die Ge­wohnheit herausgebildet, daß zu demjenigen, der die Gesellschaft leitet, Mitglieder kommen und sagen: Ich möchte das und das, aber nicht etwa für mich, sondern für einen andern - sie haben sich nämlich ver­sprochen, daß der andere auch nicht für sich, sondern für den ersteren das Entsprechende will. Jeder will nichts für sich. Aber darauf kommt es nicht an, ob man für sich oder einen anderen etwas will, sondern darauf, ob es eine an sich selbstlose Forderung ist. Das Wesentliche dabei ist, daß die Menschen, wenn sie sich bemühen, selbstlos zu wer­den, durch die innere Kraft der Selbstlosigkeit nach einiger Zeit recht egoistisch werden. Das Streben nach Selbstlosigkeit macht egoistisch. Man muß dann wachen, damit das Pendel wieder heruntergeht, man muß sich nicht delektieren an seiner eigenen Selbstlosigkeit.

Solche Dinge standen schon Luther nah. Daher finden wir viele Stellen in Luthers Schriften, worinnen er ziemlich wenig Respekt zeigt vor solchen Tugenden wie Selbstlosigkeit und dergleichen, weil er weiß, daß Selbstlosigkeit in der Regel Maske ist, hinter der das Pharisäertum sitzt. Manchmal wird Luther in solchen Sachen derb; wie er einmal Melanchthon geraten hat, er solle ja nicht versuchen, so furchtbar selbst­los zu sein, sondern wenn er aufgelegt sei zu etwas Schlechtem, solle er dieses Schlechte auch tun, denn es sei besser, wenn man zu etwas Schlechtem aufgelegt sei, dieses Schlechte zu tun, als unaufrichtig Pharisäer zu werden, und scheinbar das Gute zu tun, während man in seiner Seele das Böse tun möchte. Luther hatte eben durch jene geistige Erfahrungsmöglichkeit, von der ich Ihnen schon gesprochen habe, sehr viel Einsicht in diese Polarität des menschlichen Lebens. Im Jahre 1510 war er in Rom. Damals galt es dort als ein verdienstliches

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Werk, wenn man eine Treppe hoch hinaufrutschte; ich weiß nicht, wie man es mit dem richtigen katholischen Terminus technicus nennt. Jedesmal wenn man eine Stufe hinaufgeritscht war, so waren eine ge­wisse Anzahl Tage im Fegefeuer nachgesehen, wenn man die ganze Treppe auf den Knien ohne aufzustehen hinaufrutschte, so gab das viele Tage Nachsicht für das Fegefeuer. Luther hat das mitgemacht, denn er war dazumal durchaus auf dem Standpunkt, daß man durch solche Dinge sein Seelenheil fördern könnte. Aber während er die Treppe hinauf-rutschte, hatte er eine Imagination, die ihm sagte: Die Gerechtigkeit suche im Glauben! - Gerade durch solche Dinge wurde er zu dem Luther. Der polarische Gegensatz desjenigen, was er tat, tat sich in seiner Seele auf. Er hatte Erfahrungen über solche polarische Gegensätze.

Tiefer hineinsehen in das Menschenleben, das ist dasjenige, was unsere Zeit vor allen Dingen vonnöten hat. Zu diesem Hineinsehen gehört schon, daß man durchschaut, daß ein Wort noch kein Ding ist. Das Wort Geist sprechen heute viele Leute aus, aber man kann viel über Geist sprechen und vom Geiste keine Spur haben. Die Menschen brau­chen das gar nicht zu bemerken. Es gibt zum Beispiel einen Mann in der Gegenwart, der hat eine ganze Bibliothek geschrieben, und ich möchte nicht zählen, wie häufig das Wort Geist in dieser Bibliothek vorkommt. Die Leute glauben auch, daß der Mann wirklich vom Geiste spricht, er heißt nämlich Rudolf Eucken. Das ist es gerade, worauf es ankommt, die Wirklichkeit vom Schein auf diesem Gebiete zu unter­scheiden. Das ist freilich unbequem. Das erzeugt vor allen Dingen die Furcht vor dem geistigen Leben, das erzeugt sogar die Furcht vor dem Denken. Fluchtartig bewegen sich heute die Menschen von dem Denken weg und möchten mit allem möglichen Ungedachten das Heil auf seeli­schem, auf sozialem, auf politischem Gebiete finden. Die Zeit ist zu ernst, um über solche Dinge nicht ernst zu werden. Der Tag würde etwas Gutes bringen, wo Menschen in größerer Anzahl solches einsehen wür­den, wie es heute wieder angedeutet worden ist; leider nur angedeutet. Wollte man auf die Dinge eingehen, so müßte man ja in Formen spre­chen, in denen man heute nicht sprechen darf. Deshalb wäre es gut, wenn insbesondere auch Sie sich zuweilen nach diesen Vorträgen aufs Denken verlegen würden, denn das Denken ist ja vorläufig noch nicht

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zensiert. Ich habe schon das letzte Mal gesagt: zerreißen würden die Menschen der Gegenwart noch vielfach den, der mit einem Blick, der da kommt durch die Einweihung, sich über die unmittelbaren Ereig­nisse der Gegenwart offen aussprechen möchte. Nicht einmal gesagt dürfen gewisse Dinge werden, geschweige denn getan. So gehen denn mancherlei Gelegenheiten in der Gegenwart vorüber, die darauf hin­weisen könnten, wie sehr Vertiefung, Durchkraftung der menschlichen Seele notwendig ist. Man denke sich nur einmal, was aus der luthe­rischen Bewegung geworden wäre, wenn Luther nur die Kräfte von manchen führenden Menschen der Gegenwart besessen hätte, und nicht größere, stärkere, eindringlichere. Man kann die Frage aufwerfen:

Warum wollen denn die Menschen der Gegenwart so wenig hören von wirklicher geistiger Erkenntnis? Die richtigste Antwort ist doch die, die ich ja schon wiederholt und auch heute angedeutet habe: daß diese geistige Erkenntnis den Menschen unbequem ist. Die neuere natur­wissenschaftliche Weltanschauung gibt diese Begriffe in bequemerer Weise. Gewiß, sie ist bewunderungswürdig; aber man braucht sich nur der Welt gegenüberzustellen und sich am Gängelbande der äußeren Tatsachen führen zu lassen, man braucht sich nicht aufzuraffen, man braucht nicht die Tiefen der Seele heraufzuholen, um weiterzukommen. Diese Anforderung allerdings stellt Geisteswissenschaft an die Men­schen. Außerdem kann sie nicht umhin, den Menschen zu sagen, daß, wer solche Anstrengung nicht macht, gar nicht in Wirklichkeit Mensch ist. Das aber wiederum hört insbesondere derjenige, der heute vermöge der Verhältnisse als Autorität gilt, nicht gern. Daß zum Beispiel ein Professor, ein Geheimrat nicht ganz Mensch sein sollte, das zu ver­stehen ist natürlich den Menschen der Gegenwart außerordentlich schwierig. Aber sie werden es begreifen müssen, wenn wir aus der Misere der Gegenwart herauskommen wollen.

Im Jahre 1613 hat Johann Valentin Andreae die Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz geschrieben. Das Buch ist dann im Jahre 1616 erschienen. Ich werde in der nächsten Nummer der Zeitschrift «Das Reich» mit einem Aufsatze beginnen, der gerade über diese Chymische Hochzeit des Christian Rosenkreutz handelt. Jener Valentin Andreae hat in den Jahren 1614 bis 1617 auch noch andere Schriften verfaßt,

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die aus der damaligen Zeit heraus gedacht und empfunden waren. Eine Schrift trägt den Untertitel: «An die Fürsten und Oberhäupter aller Staaten.» Andreae wollte den Menschen zeigen, daß das, was sie von sich selber glauben, und was sie von anderen glauben, auch nur eine Maja ist, eine große Täuschung, er wollte den Menschen die Möglich­keit geben, sich selbst und andere kennenzulernen. Eine große geistige Bewegung hatte Johann Valentin Andreae im Sinne. Sie war heraus-gedacht, herausempfunden aus langer Vorbereitung. Zwei Dinge gab es in der damaligen Zeit: dasjenige, was Valentin Andreae wollte, und dasjenige, was zum Dreißigjährigen Krieg geführt hat, der 1618 be­gann und bis 1648 dauerte. Dasjenige aber, was zum Dreißigjährigen Krieg geführt hat, hat die Bewegung unmöglich gemacht, die Johann Valentin Andreae einleiten wollte. Es wäre viel zu sagen, wenn man das Scheitern des damaligen Versuches in seinen Ursachen charakteri­sieren wollte. Manche Versuche werden ja gemacht, scheitern, sollen aber später gelingen. Nun wohl, damals gab es eine Möglichkeit weiter­zukommen. Wieder ist heute die Notwendigkeit gegeben, in zwei Strö­mungen drinnen zu stehen, die aufeinander wirken müssen: auf der einen Seite das, was Anthroposophie aus den Impulsen der Mensch­heitsentwickelung heraus will, auf der anderen Seite dasjenige, was zu einem ähnlichen Ereignisse wie der Dreißigjährige Krieg geführt hat. Es wird an der Menschheit sein, daß dasjenige, was geschehen soll, nicht wiederum ungeschehen gemacht wird. Bequemlichkeit, Unwach­samkeit könnten sehr leicht den gegenwärtigen Versuch wiederum para­lysieren. Ob aber die Dinge wiederum so ausgehen würden, wie bei der Paralysierung des Versuchs von Valentin Andreae, ist eine andere Frage.

Jedenfalls darf heute niemand so fragen: Ja, wie kommt es denn, daß die geistigen Mächte sich nicht hineinmischen in die Verhältnisse des physischen Planes und Ordnung schaffen? - So darf man nicht fragen, denn was die Menschen tun, ist vielfach Auflehnung gegen diese geistigen Mächte, ist vielfach gegen die geistigen Mächte selbst gerichtet. Dieser Kampf gegen den Geist wird oftmals am meisten von denjenigen Menschen geführt, die immerfort reden von Geist, Geist und Geist. Ich habe neulich auf dem Umschlage einer Zeitschrift - ich

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weiß nicht genau, ob es eine Monatsschrift oder eine Halbmonats­schrift war - so etwas wie eine annoneenartige Sache gelesen, wo immerfort von Geist, Geist geredet wird, der Geist soll die gegen­wärtigen Ereignisse beherrschen. Man greift sich an den Kopf. Geist soll die Kanonen, die Gasmasken und so weiter fabrizieren; alles wird da Geist genannt. Es fragt sich nur, ob die Menschen einsehen, welcher Art dieser Geist ist. Sie wissen, wir unterscheiden den Geist der nor­malen Fortentwickelung und den luziferischen und ahrimanischen Geist. Ich habe Sie neulich aufmerksam gemacht, wie Ricarda Huch in ihrem Buche über Luther den Teufel geradezu herbeisehnte, sie meinte eigent­lich die Erkenntnis des Teufels. Gegenüber manchen Geist-Deklama­tionen kann man schon sagen: den Teufel merkt das Völkchen nie, und wenn es ihn auch schon auf dem Umschlag von Zeitschriften hätte.

Ich konnte heute auf manches nur hinweisen und mußte manches verhüllen, das aber in Ihrer Seele, wenn Sie über das heute Gesagte nachdenken, sich enthüllen wird. Jedenfalls das eine werden Sie be-merkt haben, daß ich in ernster Weise, in recht bitterernster Weise sprechen wollte, und in dieser Weise möchte ich diese Vorträge vor­läufig beschlossen haben.

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HINWEISE

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17 in dem berühmten Spruche des griechischen Heroen: Homer «Odyssee»,

11. Gesang Vers 489-491, Worte des Achilleus.

18 Franz Brentano, 1838-1917, Professor in Wien 1874-80, dann Privatgelehrter.

«Psychologie vom empirischen Standpunkte» Bd. I, 1874.

22 Woodrow Wilson, 1856-1924, Präsident der USA von 1913-1921, Professor

der Philosophie.

26 Goethe: Siehe «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften», herausgegeben von

Rudolf Steiner in «Kürschners Deutsche Nationalliteratur». Fotomechanischer

Nachdruck im Troxler-Verlag, Bern 1949.

36 Robert Scheu, 1873-1964, siehe «Kulturpolitik», Wien 1901.

42 Dr. Johann Plenge: 1874-1963. Siehe «1789 und 1914. Die symbolischen Jahre

in der Geschichte des politischen Geistes», Berlin 1916.

52 Friedrich Rittelmeyer, 1872-1938, Professor der Theologie, Pfarrer in Nürn­berg und Berlin. Trat 1922 aus dem Kirchendienst aus, um sich der freien Arbeit im Dienste der Bewegung für religiöse Erneuerung zu widmen. Ludwig Deinhard, 1847-1917, Verfasser des Buches «Das Mysterium des Men­schen im Lichte der psychischen Forschung». Eine Einführung in den Okkultis­mus. Berlin 1910.

Arthur Drews, 1865-1935. Siehe: «Ist Jesus eine historische Persönlichkeit?», Vortrag auf dem Berliner Religionsgespräch des Deutschen Monistenbundes am 31. Januar 1910, veröffentlicht unter dem Titel «Hat Jesus gelebt?», Reden über die Christusmythe von A. Drews und anderen, Berlin und Leipzig 1910. «Die Christusmythe», 2 Teile, Jena 1910 und 1911.

58 Professor Dewar, 1842-1923, Chemiker, Dozent an der Royal Institution in

London.

59 Rudolf Kjellén, 1864-1922. «Der Staat als Lebensform», Leipzig 1916.

60 Was ich einmal hier vorgetragen habe über den menschlichen und kosmischen

Gedanken: «Der menschliche und der kosmische Gedanke», vier Vorträge

Berlin 1914, Gesamtausgabe Dornach 1961.

62 Peter III., Kaiser von Rußland, 1728-1762. Siehe Georg Andreas Will

«Merkwürdige Lebensgeschichte Peter des Dritten, Kaisers und Selbsthalters

aller Reußen», Frankfurt und Leipzig 1762.

65 f. «Der unsichtbare Tempel>, Monatsschrift zur Sammlung der Geister. München

1916-20, 1.-5. Bd. Herausgegeben von den Brüdern Dr. Ernst und Dr. August

Horneffer.

Ernst Hornefler, 1871-1954, Nachfolger von Dr. Fritz Kosgel als Heraus-

geber im Nietzsche-Archiv. Professor in Gießen. Siehe «Nietzsches letztes

Schaffen», Jena 1907.

370

67 Robert Scheu: Siehe Hinweis zu S.36.

Franz Brentano: Siehe Hinweis zu S.18. «Psydiologie vom empirisdsen Stand­punkt>, 1874.

68 Franz Brentano «Das Genie», Vortrag gehalten im Saale des Ingenieur- und Architektenvereins in Wien. Leipzig 1892.

Franz Xaver Benedikt Baader, 1765-1841, Philosoph. 70 Moritz Benedikt, 1835-1920.

72 ff. Siehe Moritz Benedikt «Ruten- und Pendellehre», Wien und Leipzig 1917.

73 in meiner « Theosophie>: Rudolf Steiner «Theosophie. Einführung in übersinn­JieheWelterkenntnis und Mensehenbestimmung», Gesamtausgabe Dornaeh 1961.

76 den bedeutenden Schellingschen Ausspruch: Friedrieh Wilhelm Joseph von Sehelling, 1775-1854. Siehe «Von der Weltseele», 1798: «Es ist sehr wahr, daß ein Körper nur da wirkt, wo er ist, aber es ist ebenso wahr, daß er nur da ist, wo er wirkt.»

77 Max Dessoir, 1867-1947, Philosoph und Psychologe. «Vom Jenseits der Seele», Stuttgart 1917.

78 in der «Geheimwissenschaft>: Rudolf Steiner «Die Geheimwissenschaft im Umriß», Gesamtausgabe Dornach 1962.

85 , Gesamtausgabe Dornach 1963, S.30/31.

86 in den «Rätseln der Philosophie>: Rudolf Steiner «Die Rätsel der Philo­sophie», Gesamtausgabe, Stuttgart 1955.

«Geheimwissenschaft>: Siehe Hinweis zu S.78.

88 «Blut ist ein ganz besonderer Saft>: In «Die Erkenntnis des Übersinnlichen in unserer Zeit», zweiter Vortrag, S.35 ff. Gesamtausgabe Dornach 1959. Auch als Sonderdrudt erschienen Dornach 1959.

«Die Philosophie der Freiheit>, Gesamtausgabe Dornach 1962.

Mein erstes Buch: «Goethes Naturwissenschaftliche Schriften. Von Rudolf Steiner mit Einleitungen, Fußnoten und Erläuterungen im Text herausgege­ben» (1883). Siehe auch Hinweis zu S.26.

90 Das Blut nimmt...: «Blut ist ein ganz besonderer Saft», s. Hinweis zu S.88.

91 Ferdinand August Louvier, «Sphinx lncuta est. Goethes und die Resultate einer rationellen Methode der Forschung.» Zwei Bände, Berlin 1887.

92 Edwin Bormann, 1851-1912. «Der historische Beweis der Baeon-Shakespeare-Theorie» 1897.

Stefan George, 1868-1933. Franz Werfel, 1890-1945.

371

94 Rainer Maria Rilke, 1875-1926.

Guido von List, 1848-1919. «Garnuntum», historischer Roman aus dem

4. Jahrhundert n.Chr., 2 Bde. Berlin 1889.

«Luzifer-Gnosis>: Von Rudolf Steiner von 1903 bis 1908 herausgegebene

Zeitschrift. Die von ihm dort geschriebenen Aufsätze sind enthalten im Band

«Luzifer-Gnosis 1903-1908», Gesamtausgabe Dornach 1960, und im Band «Wie

erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», Gesamtausgabe Dornach 1961.

99 Franz Brentano: Siehe Hinweis zu S.18.

100 Siehe Franz Brentano «Die Psychologie des Aristoteles». Insbesondere seine

Lehre vom Nus poietikos. Nebst einer Beilage über das Wirken des Aristote­

lischen Gottes Mainz 1867, S. 172: «Der Nus poietikos ist das Licht, welches

die Phantasmen erleuchtet und das Geistige im Sinnlichen für unser Geistes-

auge sichtbar macht.»

106 f. Johann Friedrich Herbart, 1776-1841, Philosoph.

107 f. immanuel Kant, 1724-1804. «Kritik der reinen Vernunft> 1781; «Kritik der

praktischen Vernunft» 1788; «Kritik der Urteilskraft» 1790.

«Kritik der praktischen Vernunft» 1. Teil, § 7: Kategorischer Imperativ:

«Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip

einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.» (Vgl. auch «Grundlegung

der Metaphysik der Sitten» 2. Abschnitt.)

108 Franz Brentano: Vortrag, gehalten am 23. Januar 1889 in der Wiener Juristi­

schen Gesellschaft; erschienen unter dem Titel «Vom Ursprung sittlicher Er­

kenntnis», Leipzig 1889.

Rudolf von Ihering, 1818-1893. Er vertrat seine Anschauung in der Rede

«Über die Entstehung des Rechtsgefühls>, gehalten wenige Jahre vor dem Vor­

trag Brentanos (siehe vorigen Hinweis> in der Wiener Juristischen Gesellschaft.

110 Wilhelm Windelband, 1848-1915.

117 «Die Philosophie der Freiheit>: Siehe Hinweis zu S. 88.

«Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft>: Siehe

Rudolf Steiner «Luzifer-Gnosis 1903-1908», Gesamtausgabe Dornach 1960.

Einzelausgabe Dornach 1947, Stuttgart 1948, auch in Lehrens und die Lebensbedingungen des Erziehens>, TB Stuttgart 1961.

126 Ralph Waldo Trine, 1866-1958. «In Harmonie mit dem Unendlichen», 1897,

in vielen Sprachen in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet

129 Ernst Mach, 1838-1916. «Beiträge zur Analyse der Empfindungen>, Jena 1886.

133 Johann Fercher von Steinwand (eig. Johann Kleinfercher), 1828-1902. «Zigeu­

ner. Begegnisse und Betrachtungen, 1859». Vortrag vom 4. April 1859 im

Altertumsverein in Dresden, siehe Gesamtausgabe seiner Werke, Wien 1903,

3. Bd. S. 365 ff.

«Vom Menschenrätsel>, Gesamtausgabe Dornach 1957.

372

134 Jean Jacques Rousseau, 1712-1778. Die preisgekrönte Schrift der Akademie in Dijon hat den Titel: «Discours sur les arts et les sciences», 1750.

139 Eduard Bernstein, 1850-1932. «Erinnerungen eines Sozialisten»> Erster Teil:

Aus den Jahren meines Exils, Berlin 1918.

144 ibeodor Ziehen, 1863-1950, Philosoph und Psychologe.

Franz Brentano, siehe Hinweis zu S.18.

145 im April-He,> 1916, dem ersten Heft vom «Reich>, der Bernusschen Zeit-schrift: Gegründet von Alexander Freiherr von Bernus (Lindau 1880), Viertel­jahresschrift, herausgegeben in München und Heidelberg von Alexander Frei­herr von Bernus. 1. Jahrgang 1. Buch (April 1916) S. 106-123 und 1. Jahr­gang 3. Buch (Oktober 1916) S. 420-432.

148 «Theosophie>: Siehe Hinweis zu Seite 73.

«Geheimwissenschaft>: Siehe Hinweis zu Seite 78.

157 Blaise Pascal, 1623-1662. «Pensées», übertragen und herausgegeben von Ewald Wasmuth, Heidelberg 1954, Seite 240/41: «Nicht nur Gott kennen wir allein durch Jesus Christus, auch uns selbst kennen wir nur durch Jesus Christus, Leben und Tod kennen wir allein durch Jesus Christus. Ohne Jesus Christus wissen wir weder was unser Leben noch was unser Tod, noch was Gott ist, noch was wir selbst sind.»

Gotthold Ephraim Lessing, 1729-1781. Das Zitat lautet wörtlich: «Wenn Gott sn seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demuth in seine Linke, und sagte: Vater gieb! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!» Eine Duplik (1778). G. E. Lessings sämtliche Schriften, Leipzig 1897.

163 David Lloyd George, 1863-1945, englischer Staatsmann. Premierminister

1916-1922.

171 Sir Edward Grey, 1862-1933, englischer Staatsmann. 1905-1916 britischer Außenminister.

Herbert Henry Asquith, 1852-1928, englischer Staatsmann.

174 wie Lloyd George einmal gestürzt werden wird: Minister in verschiedenen englischen Kabinetten von 1909-1916. Dezember 1916-1922 Premierminister. Wurde im Jahre 1922 im Zusammenhang mit der irischen Frage gestürzt. Die von Lloyd George geführte liberale Partei verlor danach ihre Bedeutung und gelangte nie wieder zu Einfluß. Lloyd Georges Rolle als prominenter Politiker war 1922 zu Ende.

179 Eduard von Hartmann, 1842-1906. «Philosophie des Unbewußten». 12. Auf­lage, Leipzig 1923.

182 >Geheimwissenschaft>: Siehe Hinweis zu Seite 78.

373

186 Viscount Alfred Charles William Northeliffe (eig. Harmsworth), 1865-1922. englischer Zeitungsverleger.

190 Olga Novikoff: «The M. P. for Russia», Reminiscenses and correspondence of Mme. Olga Novikoff, edited by W. T. Stead. Vol. 11841-78, Vol. II 1878 bis 1908, London 1909, Andrew Melrose.

191 Viscount Richard Burdon Haldane, 1856-1928, englischer Staatsmann. «Erzie­hung und Staat» («Education and Empire», 1902). «Ein Pfad zur Wirklich­keit» («,Ihe Pathway to Reality», 1903-04).

Rudolf Hermann Lotze, 1817-1881,Arzt und Philosoph in Leipzig, Göttingen,

Berlin. Hauptwerk: «Metaphysik» Bd. i, 1841-79.

«Metaphysik» System der Philosophie. II. Teil, Leipzig 1879.

192 V-Vischer: Friedrich Theodor Vischer, 1807-1887.

«Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit>, Gesamtausg. Dornach 1963.

David Friedrich Strauß, 1808-1874.

machte Nietzsche die folgende schöne Bemerkung: Friedrich Nietziche, in «Ecce homo»: «Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem», Werke in drei Bänden, Band III, München 1955.

193 Johann Christian Friedrich Hölderlin, 1770-1843. «Hyperion oder der Eremit

in Griechenland», zwei Teile, Stuttgart 1797-99, in «Sämtliche Werke» Insel-

Verlag, Leipzig o. J., S. 580.

203 African Spir, 1837-1890.

210 Herman Grimm, 1828-1901, Kulturhistoriker.

216 Bosnien und die Herzegowina wurden von Österreich im Jahre 1878 besetzt. Sie blieben türkisches Gebiet und wurden erst im Jahr 1908 annektiert.

217 Georgij Jewgenjewitsch Lwow, 1861-1925, russischer Staatsmann. Trat am

15. März 1917 an die Spitze der ersten provisorischen Regierung.

Sir Edward Grey: Siehe Hinweis zu Seite 171.

218 «Goethes Wiltanschauung>, Gesamtausgabe Dornach 1963. Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften: siehe Hinweis zu Seite 26 und 88.

222 Eduard von Hartmann: siehe Hinweis zu Seite 179.

225 Max Verworn, 1863-1921.

229 Albert Schäffle, 1831-1903, Soziologe und Staatsmann, österreichischer Han­delsminister. «Bau und Leben des sozialen Körpers» 1875 78 Tübingen 4 Bde ; «Die Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie», 3. Aufl., Tübingen 1887.

Hermann Bahr, 1863-1934, «Die Einsichtslosigkeit des Herrn Schäffle», Zürich 1885.

Rudolf Virchow, 1821-1902, Begründer der Zellularpathologie.

374

234 auf einer Münchener Naturforscherversammlung von Haediel und von Virchow eine Rede über die Freiheit der Wissenschaft: «Die Freiheit der Wissenschaft im modernen Staat», Rede, gehalten in der dritten allgemeinen Sitzung der fünfzigsten Versammlung deutscher Naturforscher und Arzte zu München am 22. September 1877, Berlin 1877.

239 Albert Einstein, 1879-1955. «Über die spezielle und die allgemeine Relativi­tätstheorie«, viele Auflagen.

240 «Kraft und Stoff>, Frankfurt 1855, von Ludwig Büchner, 1824-1899, Arzt und Philosoph.

241 «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?>: siehe Hinweis zu S. 94.

243 aus dem Alten Testament: 1. Buch Moses II, 7.

244 Infallibihtätsdogma: Unfehlbarkeit des Papstes in Sachen des Glaubens und der Sitten, beschlossen auf dem vatikanischen Konzil 18. Juli 1870.

252 Und die Worte: Matthäus III, 17.

258 Lotze: siehe Hinweis zu Seite 191.

Adolf von Harnaok, 1851-1930, Professor der Theologie in Berlin. «Das Wesen des Christentums», Leipzig 1900.

264 Herman Grimm: siehe Hinweis zu Seite 210.

Walther Robert-Tornow, 1852-1895.

275 im verflossenen Winter: Vortrag vom 10. Dezember 1916, in der Gesamt­ausgabe in Bibliographie-Nr. 173.

Hermann Bahr: siehe Hinweis zu Seite 229. «Expressionismus», 2. Aufl., Mün­chen 1918; «Himmelfahrt», Berlin 1916.

277 William James, 1842-1910. «Der Pragmatismus», aus dem Englischen übet­setzt von Wilhelm Jerusalem, Leipzig 1908.

279 Friedrich Heinrich Jakobi, 1743-1819, Philosoph und Romanschriftsteller. «Philosophie der Freiheit»: siehe Hinweis zu Seite 88.

280 Blaise Pascal: siehe Hinweis zu Seite 157.

282 Hermann Bahr: siehe Hinweis zu Seite 275.

285 Arnold Rudolf Karl Fortlage, 1806-1881. Acht psychologische Vorträge, Jena 1869.

287 «Das Christentum als mystische Tatsache und die Mysterien des Altertums>, Gesamtausgabe Dornach 1959.

295 Johannes Müller, 1864-1949, Dr. phil. Dr. Theol. h. c., Schriftsteller, Heraus­geber der «Grünen Blätter». Gründer und Leiter eines bekannten Erholungs­heimes in Elmau, Oberbayern.

Joseph Kainz, 1858-1910, berühmter Schauspieler.

375

306 Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinoff, 1848-1926, russischer General. 1908 Chef des Generalstabs, reorganisierte als Kriegsminister das russische Heer.

309 Max Dessoir: siehe Hinweis zu Seite 77.

312 Rudolf Otto, 1869-1937. «Das Heilige», 1917, 31.-35. Aufl. München 1963.

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770-1831. Ausspruch Hegels: «Gründet sich

die Religion im Menschen nur auf ein Gefühl, so hat solches richtig keine

weitere Bestimmung als das Gefühl seiner Abhängigkeit zu sein; und so wäre

der Hund der beste Christ denn er trägt dieses am stärksten in sich und lebt

vornehmlich in diesem Gefühle Auch Erlösungsgefühle hat der Hund, wenn

seinem Hunger durch einen Knochen Befriedigung wird.» «Vermischte Schrif­

ten», 2. Bd. 1835.

313 Hermann Bahr: siehe Hinweis zu Seite 229. Aufsatz «Vernunft und Wissen-schaft», Wien/München 1917.

314 «Wahrheit und Wissenschaft», Gesamtausgabe Dornach 1958. «Philosophie der Freiheit», Gesamtausgabe Dornach 1962. «Die Rätsel der Philosophie», Ge­samtausgabe Stuttgart 1955.

316 Woodrow Wilson: siehe Hinweis zu Seite 22. Rudolf Steiner sprach über ihn schon am 1. Juni 1913 in «Die okkulten Grundlagen der Bhagavad Gita», Gesamtausgabe Dornach 1962.

Georg Simmel, 1858-1918, Philosoph. Es dürfte sich um das Buch handeln:

«Der Krieg und die geistigen Entscheidungen», München 1917.

319 Thomas von Aquino, 1225-1274, vgl. z.B. «Summa Theologiae».

320 Henry More, 1614-1687, englischer Philosoph. «Enchiridion metaphysicum, Enchiridion ethicum», 1668.

322 Martin Luther, 1483-1546, Inaugurator der deutschen Reformation.

«Theologia Teutsch» mystische Schrift, Ende des vierzehnten Jahrhunderts entstanden. Werk ein es unbekannten Priesters im Deutschherrenhaus in Sach­senhausen bei Frankfurt, zuerst gedruckt 1516 und 1518. Siehe auch Rudolf Steiner «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung», Gesamtausgabe Dornach 1960, Seite 66ff.

323 Ricarda Huch, 1864-1947: «Luthers Glaube», Briefe an einen Freund. Leipzig

1916.

324 «Den Teufel spürt das Völkchen nie...>: Goethe «Faust I», Auerbachs Keller.

326 meiner demnächst erscheinenden Schrift: siehe Rudolf Steiner «Von Seelen-rätseln», Gesamtausgabe Dornach 1960.

327 in meinen Mysteriendramen: Rudolf Steiner «Vier Mysteriendramen», Gesamt-ausgabe Dornach 1962.

376

329 Alezander Feodorowitsch Kerenskij, geb. 1881 in Wolsk, russischer Politiker und Staatsmann.

330 Wladimir Solowjow, 1853-1900, russischer Philosoph und Dichter.

331 Luther: siehe Hinweis zu Seite 322.

337 Johann Valentin Andreae, 1586-1654. «Die chymische Hochzeit des Christian Rosenkreuz Anno 1459»; ins Neul,ochdeutsche übertragen von Walter Weber, Dornach 1942; 2. verbesserte Aufl. Stuttgart 1957, S. 103, «An die Häupter, Stände und Gelehrten von Europa!».

340 Kant: siehe Hinweis zu Seite 107.

Emil Du Bois-Reymond, 1818-1896. «Über die Grenzen des Naturerkennens»,

14. August 1872, Reden, Leipzig 1886.

343 Ricarda Huch: siehe Hinweis zu Seite 323.

346 Heinrich Marianus Deinhardt, 1821-1879. «Beiträge zur Würdigung Schillers» (1860), neu herausgegeben und eingeleitet von G. Wachsmuth, Stuttgart 1922.

348 Herman Grimm: siehe Hinweis zu Seite 210.

351 Ernst Haeokel, 1834-1919. «Die Welträtsel», gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899, viele Auflagen.

354 Zeitschrift «Die Glocke», herausgegeben von Parvus, Verlag für Sozialwissen­schaften, Berlin, begründet 1914.

361 Geheimrat Albrecht Penck, 1858-1945, Geograph. «Über politische Grenzen», Rede zum Antritt des Rektorats an der Universität Berlin 1917.

362 in meinem Buche, das jetzt auch gedruckt ist:

363 Luther: siehe Hinweis zu Seite 322.

364 Rudolf Eucken, 1846-1926, Philosoph. 365 Johann Valentin Andreae: siehe Hinweis zu Seite 337.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.