GA 161

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung

Dreizehn Vorträge, gehalten in Dornach
zwischen dem 9. Januar und 2. Mai 1915

GA 161

1980

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Dornach, 9. Januar 1915

Eine Anschauung darüber, welch kompliziertes Wesen eigentlich der Mensch ist, haben wir uns bereits angeeignet. Man beachtet das nicht immer, weil man ja aus einer gewissen Erkenntnisbequemlichkeit heraus nach Einfachheit, nach einer Vereinfachung des Erkennens, nach einem gewissen Schematismus strebt. Allein ein genaueres Eingehen auf die Dinge, die wir durch Jahre hindurch betrachtet haben, kann uns zeigen, welch kompliziertes Wesen die Totalität der Menschennatur ist.

Nehmen wir nun einmal die Tatsache, daß des Menschen physischer Leib in bezug auf seine erste Anlage entstanden ist in ururferner Vergan­genheit, während der alten Saturnzeit. Das, was dazumal entstanden ist als erste Anlage des physischen Menschenleibes, das tragen wir ja heute noch in uns, aber so, daß wir es aus dem Verwandlungsprodukt heraus, das wir nach und nach geworden sind, erkennen müssen. Nachdem wir als physischer Menschenleib durch die Sonnen-, Monden- und Erden-entwickelung hindurchgegangen sind, ist es so, daß wir nicht mehr mit der gewöhnlichen Anschauung das erkennen können, was während der alten Saturnzeit entstanden ist. Denn dieser menschliche Leib ist eben umgewandelt worden während der Sonnen-, Monden- und Erdenzeit. Er hat während der Sonnenzeit eine Umwandlung dadurch erfahren, daß der Ätherleib ihn durchdrungen hat; während der Mondenzeit hat er eine Umwandlung erfahren dadurch, daß der astralische Leib ihn durch­drungen hat, und während der Erdenzeit dadurch, daß das Ich ihn durchdrungen hat.

Wenn wir also zunächst nur den physischen Menschenleib betrachten, noch nicht den Ätherleib als solchen, nicht den astralischen Leib und auch nicht das Ich, sondern nur den physischen Leib, so müssen wir sagen, daß dieser physische Leib sich in der Hauptsache viermal verwan­delt hat.

Einstmals war er da als physischer Leib, und da waren die höheren Glieder der Menschennatur noch nicht darinnen. Dann hat er sich umgewandelt unter dem Einfluß des Ätherleibes, dann unter dem Einfluß

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des Astralleibes und endlich unter dem Einfluß des Ich. Das alles ist aber der physische Leib, ist Umwandlungsprodukt des physischen Leibes.

Notieren wir uns das einmal: Da haben wir zunächst die erste Anlage des physischen Leibes während der alten Saturnzeit. Dann haben wir unter dem Eiriflusse der Sonnenzeit dasjenige, was der ätherische Leib aus dem physischen Leibe macht, also die ursprüngliche Anlage, und das, was die Sonnenentwickelung daraus macht. Dann haben wir unter dem Einflusse der Mondenzeit dasjenige, was der astralische Leib aus ihm macht, und während der Erdenzeit das, was das Ich aus ihm macht. Das sind vier Verwandlungsformen des physischen Leibes (siehe Schema Seite 13). Jetzt haben wir ins Auge gefaßt, was durch den ätherischen und den astralischen Leib und durch das Ich in diesem physischen Leibe bewirkt wird. Aber wir haben nicht die höheren Glieder der Menschen-natur für sich ins Auge gefaßt, nicht, was für Veränderungen im Laufe der Zeit mit dem ätherischen Leibe, mit dem astralischen Leibe, mit dem Ich vor sich gegangen sind. Während der Sonnenzeit kommt der Äther-leib hinzu; der macht nun während der Sonnenzeit seine eigene Entwik­kelung durch und erleidet dann Veränderungen während der Monden-zeit durch den Einfluß des astralischen Leibes und während der Erden-zeit durch den Einfluß des Ich, so daß dieser ätherische Leib wiederum eine Dreigliedrigkeit hat. Endlich kommt während der Mondenzeit hinzu der astralische Leib; der entwickelt sich für sich in seiner Astralität während der Mondenzeit und während der Erdenzeit durch das Ich. Aber nun kommt nur während der Erdenzeit das Ich selber hinzu als ein einzelnes.

Wir können nun das ganze auch von einem anderen Gesichtspunkte aus betrachten. Wenn wir das Ich ins Auge fassen, so haben wir eigentlich ein vierfaches Ich in uns. Wir haben in uns dasjenige, was das Ich aus dem physischen Leibe macht. Wir haben dann dasjenige, was das Ich aus dem Ätherleibe macht, dann das, was es aus dem Astralleibe macht und dann das Ich selbst in dem Ich.

Nun wollen wir aber einmal eine andere Frage stellen. Wenn wir den Menschen sehen, wie er auf dem physischen Plan ist - wir wissen, wenn wir die Abteilungen des Schemas abzählen, daß der Mensch eine Zehnheit

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ist -, also wenn er so auf dem physischen Plane vor uns steht, was ist dann eigentlich von seiner ganzen Zehnheit vor uns?

# Bild s. 13

Nun, im Grunde genommen ist zunächst von alledem nur sehr wenig auf dem physischen Plane vor uns; das meiste von dem, was ich hier aufgeschrieben habe von dieser Zehnheit, bleibt verborgen. Dasjenige, was vor uns steht, ist zunächst dieses Ich hier (siehe Schema: Ich 1). Was ist dieses Ich? Dieses Ich ist das, was der physische Leib ist, das, was das Ich aus dem physischen Leibe gemacht hat. Bitte, achten Sie jetzt wohl auf das, was ich sagen werde, denn man bekommt überhaupt nur dann davon einen richtigen Begriff.

Wenn Sie einem Menschen gegenübertreten und ihn anschauen, die Form seines Kopfes, die Physiognomie der Nase, des Mundes, wenn Sie sehen, wie er ist, was er so ist - auch wenn Sie ihn als Anatom oder Physiologe zerlegen -: dann haben Sie das, was das Ich aus seinem physischen Leibe gemacht hat.

Das, was das Mondendasein, das Sonnendasein, das Saturndasein aus dem physischen Leibe gemacht hat, das entgeht Ihrem Blick, das bleibt eigentlich im Verborgenen; nur das, was das Ich aus dem physischen Leibe macht, das haben Sie vor den physischen Augen. Also nur dann, wenn man darauf achtet, kann man sich einen klaren Begriff von der Sache machen.

Ich will versuchen, Ihnen noch zu Hilfe zu kommen durch eine andere Betrachtung, um die Sache zu erklären. Wenn Sie ein Tier vor sich haben, zum Beispiel einen Hund, einen Wolf, eine Katze, dann haben Sie eine Gestalt, die durch einen astralischen Leib gemacht ist. Wenn Sie den Menschen betrachten, haben Sie eine Gestalt, bis in die Blutzirkulation hinein, die durch das Ich gemacht ist. Wenn Sie dagegen ein Tier betrachten, haben Sie eine Gestalt, die durch den astralischen Leib gemacht ist.

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Verborgen bleibt die Konfiguration des physischen Leibes, welche durch den ätherischen, den astralischen und den physischen Leib sel­ber gemacht ist. Was wir äußerlich erleben, ist eigentlich eine Verkörpe­rung des Ich. Fassen wir das wohl ins Auge. Das ist eine Verkörpe­rung des Ich, und wir sollten, wenn wir genau sprechen über den Men­schen, so sprechen, daß wir sagen: ein auf der Erde verkörpertes Ich ist der Mensch in seiner ganzen Gestalt bis in die Blutzirkulation hinein.

Also was das Ich aus dem physischen Leibe macht, das nehmen wir wahr. Was nehmen wir aber noch nicht wahr? Was wir noch nicht wahrnehmen, ist eben dieses Ich. Wenn Sie das hier Ich 1 nennen und dies hier Ich 4 (siehe das Schema Seite 19), so ist Ich 1 von außen wahrnehmbar, Ich 4 ist das, was Sie nicht von außen wahrnehmen, sondern was Sie nur als Selbsterlebnis haben. Wenn Sie sich erleben in Ihrem Selbstbewußtsein, wenn Sie erleben, was Sie wahrnehmen, was Sie fühlen, was Sie denken, kurz, wenn Sie sich erleben als Ich, dann nehmen Sie dieses Ich als solches wahr: das ist das Ich, von dem die Philosophen sprechen. Ich 4 also nehmen Sie wahr als Innenerlebnis.

Nun könnten Sie es nicht als Innenerlebnis wahrnehmen, wenn wirk­lich nur das Ich da wäre. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß wir nicht nur während der Nacht, sondern auch während des Tages schlafen. Wir sind uns nicht voll bewußt des ganzen inneren Erlebens, und insofern wir bei Tage schlafen, leben bei Tage auch in uns die Wesenheiten der höheren Hierarchien.

In diesem Ich leben, von der geistigen Welt aus ihre Impulse hereiner­streckend, die Angeloi, die Archangeloi und die Archai. In dem, was am allermeisten schläft, in dem entschiedenen Wollen, lebt zunächst die Kraft der Archai. Es leben schon auch die Angeloi und die Archangeloi im Wollen, aber die tiefsten Impulse des Wollens kommen immer von den Archai. Nur weiß der Mensch ja von seinem Wollen, wie ich Ihnen schon auseinandergesetzt habe, sehr wenig. Im Gefühle des Menschen lebt die Kraft der Archangeloi und in seinem Denken die Kraft der Angeloi. Man kann sagen: als unbewußtes Selbsterlebnis sind in uns die Willen gebenden Archai, die Gefühle gebenden Archangeloi und die Denken gebenden Angeloi. Und das alles strebt und webt in das Ich

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hinein und wird zuletzt zu dem, was der Mensch eben sein inneres Seelenleben nennt.

Aber bekannt ist eigentlich nur das Ich 1. Geradeso wie hinter dem, was wir als Verkörperung des Ich anschauen, das liegt, was der astrali­sche Leib, der ätherische Leib und der physische Leib selbst aus dem physischen Leib gemacht haben, so liegt hinter dem, was wir innerlich erleben, dasjenige, was die Angeloi, die Archangeloi und die Archai bewirken. So daß wir sagen können: Im Grunde genommen kennt der Mensch sehr wenig von dem, was er eigentlich ist.

Wenn der Mensch einem anderen Menschen begegnet, so nimmt er dessen Ich 1 wahr; wenn er in sich selber hineinblickt, so nimmt er sein Ich 4 wahr. Also acht von den zehn Gliedern bleiben zunächst im Verborgenen liegen. Wenn aber auch diese Glieder für sich selbst im Verborgenen bleiben, so kann man doch sagen, daß ihre Wirkungen in gewissen Einzelerscheinungen des menschlichen Erlebens zutage treten. Verborgen bleibt einmal, was das Ich aus dem ätherischen Leibe macht. Wie das Ich hier, welches ich das Ich 2 nennen möchte, im ätherischen Leibe sich benimmt, das bleibt zunächst - aber eigentlich nur scheinbar -verborgen. Wir werden gleich sehen, daß es auch etwas herauskommt.

Wie das Ich 1 aussieht, das gibt sich uns, wenn wir einem Menschen gegenübertreten, in seiner Gestalt, in seiner Form zu erkennen. So wie das Ich 1 in der physischen Gestalt, in der physischen Form sich kundgibt für das äußere Wahrnehmen, kann natürlich das Ich 2, also das, was das Ich aus dem ätherischen Leibe macht, nur dem Hellseher erscheinen. Der ätherische Leib ist nicht ein Formenleib, sondern ein Bewegungsleib. Ahnen können Sie, auch ohne Hellsehen, wie das Ich 2 den ätherischen Leib in ganz bestimmte rhythmische Bewegungen ver­setzt, so wie dem physischen Leibe das Ich 1 seine Form gibt. Aber diese rhythmischen Bewegungen, diese inneren Bewegungen des ätherischen Leibes kommen, indem sie sich durchdrücken in den physischen Leib hinein, im physischen Leibe zum Vorschein, oder besser gesagt, sie kommen in der physischen Welt zum Vorschein.

Wir versuchen das, was da das Ich im ätherischen Leibe darinnen an Bewegungen erzeugen kann, ich möchte sagen, herauszuholen durch die eurythmischen Bewegungen, soweit das in der Gegenwart schon geschehen

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kann. Wenn Sie sich ein Gedicht oder ein Musikstück eurythmisiert vQrstellen und Sie könnten abstrahieren, absehen von dem physischen Leibe und nur hinsehen auf das, was der Ätherleib tut, dann würden Sie das Ich im ätherischen Leibe darinnen in Bewegung haben.

Wir versuchen abzutrotzen dem Ahriman diese Eurythmie; denn dadurch, daß Ahriman in die Welt gekommen ist, ist der menschliche Ätherleib so verhärtet worden, daß er die Eurythmie nicht als natürliche Gabe entwickeln konnte. Die Menschen würden eurythmisieren, wenn Ahriman den menschlichen ätherischen Leib nicht so verhärtet hätte, daß das Eurythmische nicht zum Ausdruck kommen kann; denn dieses Eurythmische muß sich durchpressen durch nur ein einziges Glied des menschlichen physischen Leibes und wird durch die anderen Glieder des physischen Leibes in Bann gehalten.

Der Ätherleib, der beim Musikalischen, beim Singen und auch beim Sprechen eigentlich veranlaßt ist, in eurythmischen Bewegungen zu leben, der wird durch die Schwere des physischen Leibes, also durch Ahriman, abgehalten, diese Bewegungen wirklich auszuführen und kann sie nur durch ein einziges Glied zum Ausdruck bringen: er kann sie nur in Lunge und Kehlkopf hineinlegen, indem er die Luft durch sie hindurchpreßt. Dadurch kommt die Sprache und der Gesang zustande. Wir können also sagen, daß das Ich 2, indem es den ätherischen Leib durchorganisieren, durcheurythmisieren will, sich, statt den ganzen Menschen zu ergreifen, mit einem Teile des Menschen begnügen muß im Gesang und in der Sprache.

Wenn der Mensch singt oder spricht, dann kommt im Tone und in der Vokalisierung eigentlich immer ein Spektrum des ganzen Menschen zum Vorschein. Das, was man hört, ist der Ton, ist der Vokal. Dasjenige, was aber alles zum Vorschein kommt für das hellseherische Bewußtsein, das ist im Grunde genommen ein ganzer Mensch, der ganze Mensch in einer gewissen Bewegungsform.

A, E, I, 0, U, das ist immer ein ganzer Mensch, nämlich ein Spektrum, ein ätherisches Gespenst des ganzen Menschen. Nur wird in einseitiger Weise der ätherische Leib bewegt, so daß wenn Sie einen Menschen sprechen hören: A, E, I, 0, U -, das so verläuft, daß Sie hintereinander fünf Menschen spektrisch sehen, nur immer in verschiedener

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Bewegungsform und so, daß nicht immer der ganze Mensch voll und gleichmäßig zu sehen ist, sondern manchmal mehr der Kopf, manchmal mehr die Hände, manchmal mehr die Beine. Die anderen Teile treten dann, ich möchte sagen, in Dunkelheit, in Düsterheit zurück.

Nun steht aber in Verbindung mit jenem selben Ich 2, von dem ich Ihnen eben gesagt habe, daß es in seinen Wirkungen in die Sprache, in den Gesang hinein ertönt, wiederum eine Wesenheit aus der Reihe der Angeloi. Aber dieser Angelos ist gerade derjenige, von dem ich öfter in diesen Vorträgen gesprochen habe. Das ist das, was natürlich ganz und gar nicht zum Bewußtsein kommen kann, denn es kommt ja nicht einmal das zum Bewußtsein, was ich Ihnen soeben erzählt habe von der Ich-Tätigkeit im ätherischen Leibe, wenn die Menschen singen oder spre­chen. In alles das ergießt sich ein Wesen aus der Hierarchie der Angeloi. Das ist eben ein Diener des Volksgeistes, und auf diesem Wege kommt also aus dem Volksgeiste die Sprachfärbung, die besondere Sprache in den Menschen hinein. Dadurch, daß der Volksgeist der Hierarchie der Archangeloi angehört, hängt dies wieder mit den höheren Gebieten zusammen. Das ist ein komplizierter Weg, durch den das Volksmäßige, das Nationale, in den Menschen hineinkommt. Aber so gliedert es sich hinein, auf diesem Wege und an dieser Stelle. Denn hinter diesem Angelos steht der Volksgeist, der eine Wesenheit aus der Reihe der Archangeloi ist.

Wir wollen nun dieses nächste Ich, das wiederum verborgen bleibt, Ich 3 nennen. Dieses Ich 3 erlebt der Mensch auch nicht unmittelbar. Denn dasjenige, was man unmittelbar erlebt, ist Ich 4. Was man von außen sieht, ist Ich 1. Und wenn wir von außen wahrnehmen die Wirkung von Ich 2, so ist es dann, wenn der Mensch singt oder spricht. Ich 3 lebt in sehr unterbewußten Regionen; es lebt in alle dem, dessen der Mensch fähig ist im Umfange seines Phantasieschaffens. Alles was der Mensch an Phantasiebildern in sich hervorbringen kann, an Bildern, die nicht Abbilder der physischen Außenwelt sind, das stammt von Ich 3, so daß wir sagen können: es lebt als schöpferische Phantasie im weitesten Umfange.

Hier müßte auch dasjenige beschrieben werden, was Sie in meiner

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«Philosophie der Freiheit» unter dem Titel «Moralische Phantasie» finden. Da kommt sie zum Vorschein als Moralprinzipien schaffende Phantasie. Alles Schöpferische, im Guten und im Bösen, gehört an diese Stelle der menschlichen Wesenheit. Ich sagte: «Im Guten und im Bösen», denn Sie könnten ja der Meinung sein, es gebe viele Menschen, die einen auffallenden Mangel an Phantasie zeigen. Da kann man nur sagen: Oh, hätten sie mehr wirkliche Phantasie, diese Menschen! Denn ein wenig Pflege der wirklichen Phantasie ist ein gutes Heilmittel gegenüber gewissen Schäden des Lebens.

Ich möchte Sie nur auf eines aufmerksam machen. Es gibt Menschen, die scheinen gar keine Phantasie zu haben auf den Gebieten, auf denen man oftmals Phantasie sucht. Ja, wenn sie manchmal Gelegenheit neh­men, sich über die Phantasie zu äußern, zeigen sie sogar einen ausgespro­chenen Haß gegen alle Phantasieschöpfungen. Wenn man ihnen aber zu Leibe oder, ich möchte sagen, zur Seele rückt, zeigen sie, daß sie im Grunde sehr viel Phantasie haben: kaum hören sie nämlich da oder dort ein Wort über ihren Nebenmenschen, das ihm abträglich ist, so erfinden sie ganze Geschichten und erzählen die tollsten Dinge über ihren Nebenmenschen. Alles, was man so lügt, ist ja Geschöpf der Phantasie, ist ein Umwandlungsprodukt der Phantasie ins Böse. Und wenn Sie diese Erweiterung der Phantasie ins Böse nehmen, so werden Sie gewahr werden, daß die Phantasie doch ziemlich verbreitet ist in der Welt der Menschen. Wenn Sie alle die Schöpfungen der Phantasie ins Auge fassen, welche die Menschen zuwege bringen, indem sie über ihre Mitmenschen dieses oder jenes sagen, oder auch sonst dieses oder jenes zum besten geben, so werden Sie ein ziemliches Quantum von Phantasie finden auch bei denjenigen Menschen, die im gewöhnlichen, im edleren Sinne phan­tasiearm sind. Die menschlichen Fähigkeiten verschlagen sich eben manchmal, und Lügenhaftigkeit und Verleumdungssucht sind eben ver­schlagene Phantasie.

Im ganzen können wir sagen: Da unten in der Strömung der menschli­chen Wesenheit, da ruht Ich 3, denn in allem, was der Mensch schaffen kann aus sich selber, was aus den Tiefen seines Seelenlebens heraufspru­delt im Guten und im Bösen, ist dasjenige, was voni Ich 3 kommt. Aber auf dieses Ich 3 haben Einfluß Wesenheiten aus der Kategorie der

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Angeloi und Wesenheiten aus der Kategorie der Archangeloi, im Guten und im Bösen, mit luziferischer und ahrimanischer Natur.

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Sie bekommen ein Bild von der Menschennatur, wenn Sie dieses hier abgrenzen. (Siehe Schema: Ich 4, Ich 3, Ich 2, Ich 1.) Wenn Sie dieses abgrenzen, haben Sie auf der einen Seite die Offenbarung des menschli­chen Ich nach außen; wenn Sie hier abgrenzen, haben Sie die Offenba­rung des menschlichen Ich nach innen. Zwischen den beiden haben Sie dasjenige, was, ich möchte sagen, halb außen ist, die Äußerung des Inneren nach außen; das ist Ich 2. Ich 3 ist das, was nur halb innerlich ist, nämlich von unbekannten Tiefen in das Innere hereinkommend. Dasje­nige dagegen, was nach aufwärts von dieser schrägen Linie hier liegt, ist etwas von der gegen die physische Natur hin liegenden verborgenen Menschennatur. Was unterhalb dieser schrägen Linie liegt, das sind die nächsten geistigen Hierarchien, die mit dem Menschen in Zusammen­hang stehen.

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Im Grunde genommen, wenn man auf der Erde vom Menschen spricht, hat man kaum etwas anderes im Auge als das, was innerhalb dieser Linie liegt. Darüber aber ist alles das, was als Residuum, als Rest im Menschen vorhanden ist von der alten Saturn-, Sonnen- und Mon­denzeit.

Wenn Sie hier eine Linie ziehen (~), so bekommen Sie alles das, was aus der Mondenzeit im Menschen verborgen liegt. Wenn Sie hier (0) eine Linie ziehen, bekommen Sie alles das, was aus der Sonnenzeit im Menschen verborgen liegt. Wenn Sie hier (~) eine Linie ziehen, alles das, was aus der Saturnzeit im Menschen verborgen liegt.

Ziehen Sie hier eine Linie (~), so bekommen Sie das, was während der Jupiterzeit offenbar werden wird, wo der Mensch unter den Angeloi leben wird. Ziehen Sie hier eine Linie (9), so bekommen Sie das, was während der Venuszeit offenbar werden wird, und hier zum Schlusse bekommen Sie das, was während der Vulkanzeit offenbar werden wird.

Nach einer gewissen Seite hin gibt Ihnen dieses Schema ungefähr einen Begriff von der Kompliziertheit der Menschennatur. Es ist gut, die Dinge nicht nur so zu betrachten, wie sie sich im Verlaufe unserer Zyklen darbieten, sondern wir sollen auch die einzelnen Dinge miteinan­der in Beziehung bringen. Ich wollte Ihnen heute ein Beispiel geben, wie diese Dinge miteinander in Beziehung gebracht werden können.

Ein solches Schema kann man ja auf verschiedene Weise finden. Ich will Ihnen zuerst sagen, wie etwa der Hellseher auf ein solches Schema kommt. Der Hellseher wird sich sagen: Ich trete einem Menschen gegenüber; von diesem Menschen nehme ich zunächst mit der physi­schen Wahrnehmung seine äußere Gestalt wahr, alles was zum Äußeren gehört. Aber ich kann nun hellseherisch diese Gestalt vertiefen; da komme ich gewissermaßen auf den Grund der äußeren Gestalt. Sehe ich dann ab von der äußeren Gestalt, dann nehme ich ein ätherisches Wesen wahr, und in dieses ätherische Wesen spielen hinein die Sprache, der Gesang, wie überhaupt alle Tonäußerungen. Das vertieft mir das Äußere. Ebenso kann ich mein Inneres vertiefen. Ich kann zunächst mein Selbstbewußtsein so entwickeln, wie man es im gewöhnlichen physischen Leben entwickelt. Dann kann man es aber auch vertiefen. Man kann in die Welt, die sonst nur als Phantasiewirkung sich äußert.

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sein Innenleben hineinergießen. Dann entsteht aber etwas Reales. Dann entsteht wirklich Imagination, dann hört die Phantasie auf, bloße Phan­tasie zu sein. Es gelangt der Mensch in ein Gefühl hinein, das ihm sagt:

die Phantasie ist nicht mehr bloß Phantasie, sondern taucht unter in ein Reales. Da kommt einem etwas entgegen und man weiß, das ist das Innere und dies ist das Äußere (siehe Zeichnung), und die kommen einander entgegen.

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Das ist die Form, wie das hellseherische Bewußtsein dies erlebt. Dann muß es sich wie daranstückeln das, was es in der Anschauung erleben kann, indem es sich versetzt in die Monden-, Sonnen- und Saturnzeit. Auf diese Weise kann man hellseherisch, schöpferisch die Notwendig­keit eines solchen Schemas in sich erleben. Derjenige, der die ersten Stufen der Initiation durchgemacht hat, kann das so erleben.

Aber selbst wenn man diese Stufe noch nicht erreicht hat, kann man sich bis zu einem gewissen Grade helfen, damit man nach und nach dazu kommt, das auch innerlich zu erleben, was von außen an einen heran­tritt. Wenn man alles das zusammennimmt, was bis jetzt vorgetragen worden ist über die Geisteswissenschaft, dann können Sie dieses Schema, so wie es hier aufgeschrieben ist, sich selbst zusammenstellen. Sie müssen sich nur die Mühe geben, nicht nur hintereinander fort zu lesen, sondern zu versuchen die Dinge zu verbinden, die vorgetragen worden sind. Man kann sich dieses Schema aus dem vorhandenen Zyklenmaterial bilden. Und das ist sehr nützlich, denn indem man so das Material verarbeitet, das in den Zyklen geboten ist, schreitet man weiter von einem äußerli­chen Aufnehmen zu einem innerlichen Verarbeiten. Dieses innerliche Verarbeiten hat einen hohen Wert für das wirkliche Vorwärtskommen.

Ich habe Ihnen heute ein Beispiel gegeben, wie man aus den Zyklen sich ein solches Schema aufbauen kann. Ich hoffe nun, daß viele von Ihnen sich solche Schemata nach und nach aufbauen werden. Dann wird

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erstens das wesenlose Spekulieren über den Inhalt der Zyklen geringer werden, und das ist sehr gut; und zweitens werden durch solche Zusammenstellungen wirklich innere Evolutionen durchgemacht. Es werden die einzelnen weiterkommen, wenn solche fruchtbaren Zusam­menstellungen gemacht werden. Man kann nicht nur ein paar solcher Zusammenstellungen aus den Zyklen machen. Aus dem, was jetzt als Zyklenmaterial vorliegt, kann man, wenn man sie fruchtbar macht, nicht nur Hunderte, sondern viele, viele Tausende, vielleicht noch mehr, von solchen Zusammenstellungen machen. Also Sie sehen, man hat genug zu tun, wenn man in entsprechender fruchtbarer Weise dasjenige anwendet, was in den Zyklen gegeben ist.

Geht man wiederum von einem solchen Schema zu einer Erweiterung des Schemas, dann kommt man erst recht weit. Wenn Sie dasjenige, was eigentlich auf dem physischen Erdenplane vorliegt, absondern, diese vierfache Gestaltung des Ich, so können Sie sagen: Unter dem Diagonal-streifen liegt alles das hier, und über ihm liegt alles das da. Bei diesen Punkten müssen wir nur die Anordnung umkehren. Was hier unten eingeschrieben worden ist, müssen Sie oben hinsetzen. Dann haben wir die sechs Punkte oben; wir müssen also da oben sechs Punkte machen und müßten das, was hier sechs Glieder sind, an diese sechs Punkte schreiben. Das, was hier oben ist, müßten wir unten hineinschreiben. Wir könnten wieder sechs Punkte machen und wir könnten die sechs Punkte da hinschreiben, wo die oberen Punkte sich befinden.

Das brauchen wir aber nicht zu tun, denn das hat schon der Kosmos für uns gemacht. Das, was auf der Erde ist, ist da; und obzwar das, was aus der Saturn-, aus der Sonnen- und der Mondenzeit in uns lebt,

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zunächst verborgen ist, und das, was als Jupiter-, Venus- und Vulkanzeit einst kommen wird, auch verborgen ist, so sind doch die Spuren dazu vorhanden im Weltall, im Zodiakus, im Tierkreis.

Man kann also dieses Schema erweitern. Alles das, was auf der Erde nicht Mensch ist, finden wir auch, wenn wir hinauf- oder hinunterstei-gen. Es ist dies nur eine Andeutung, wie Sie verbinden können unsere elementarischen Lehren mit dem, was in den Zyklen enthalten ist über die geistigen Hierarchien und ihren Zusammenhang mit den Weltenkör­pern.

Aber auch mancherlei werden Sie finden in bezug auf, sagen wir, Pädagogik. Selbst Pädagogik wird sich ergeben, wenn wir so etwas, wie wir es jetzt auseinandergesetzt haben, in der richtigen Weise betrachten.

Bedenken Sie, daß wir darauf gekommen sind, daß in Ich 2 Sprache und Gesang vorhanden sind. So daß wir sagen können: die Sprache und der Gesang sind zusammengedrängt durch Ahriman aus der ganzen Menschennatur. Wenn das einmal richtig verstanden werden wird, wird sich etwas außerordentlich Wichtiges für das wirkliche Leben ergeben. Erstens wird sich ergeben für die Gesangspädagogik der Grundsatz, daß man ein Bewußtsein hervorrufen muß bei dem Singen-Lernenden von dem Anteil, den der Ätherleib dabei hat: gleichsam von dem fortwähren­den Überleiten der Töne auf den Ätherleib. Erst dann, wenn diese Anteilnahme des Ätherleibes beim Singen wirklich in Betracht gezogen werden wird, wird auch jener Umwandlungsimpuls eintreten, der mit Bezug auf die Gesangspädagogik notwendigerweise aus unseren Prinzi­pien heraus erfolgen muß. Praktisch gesprochen wird sich das darin zeigen, daß die Gesangslehrer und -lehrerinnen den Schüler immer mehr dahin bringen werden, weniger mit Bewußtsein zu verbinden das Gefühl in den physischen Organen, dafür aber mehr Bewußtsein zu entwickeln in dem, was gewissermaßen diesen physischen Organen anliegt. Der Singende muß ein Gefühl haben, nicht so sehr von der Bewegung der Organe, sondern von dem, was die Luft in ihm und um ihn in ihrer Bewegung tut. Eine Emanzipation des bewußten Erlebens des Tones in der Luft von dem Erleben des Tones im Organe ist dasjenige, was aus dem richtigen Erkennen der geisteswissenschaftlichen Grundsätze in der Gesangspädagogik folgen wird.

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Ebenso wird man mit Bezug auf die Sprachtechnik, namentlich was das Rezitieren betrifft, immer mehr darauf kommen, daß auch da es sich handelt um ein wirkliches Bewußtwerden von dem elementarischen Umwobensein, während man künstlerisch spricht.

Dadurch nun ist es möglich, daß der Ton zum wirklichen Kunstton wird, daß der Sprecher ein Gefühl erhält von dem Bewußtsein, daß man, indem man künstlerisch spricht, nicht bloß in seiner Haut eingeschlossen lebt; sondern ich möchte es so ausdrücken: derjenige, der künstlerisch spricht, wird den Ton fühlen in der Luft, den Laut fühlen in der Luft als lebendiges Wesen, und durch dieses Den-Laut-Fühlen als lebendiges Wesen wird er etwas wie einen Unterton haben, wie eine Unternuance im Sprechen. Den Laut fühlen im lebendigen Sprechen: das wird wie­derum eine Bereicherung der Rezitationspädagogik ergeben.

Gerade durch das Eingehen auf die Intimitäten der Geisteswissen­schaft wird sich für das Lehren und das Lernen im Leben Bedeutungs­volles ergeben. Vieles von dem, was anklingt, wenn man solche Dinge berührt wie diejenigen, die heute berührt worden sind, ist eigentlich der Menschheit heute noch recht wenig bewußt. Zum Beispiel wäre es gut, ein Bewußtsein davon zu entwickeln, wie eine gewisse neue Lautformu­lierung in einzelnen Gebieten meiner Mysteriendramen versucht worden ist. Am leichtesten ist das im siebenten Bilde des ersten Mysteriendramas zu verfolgen. Aber auch in den anderen Mysteriendramen sind solche Partien, wo das verfolgt werden kann.

Ein gewisses inneres Gestalten des Lautes - neben all dem, was sonst darinnen liegt - ist es, in dem sich ausdrückt ein neues Element im poetischen Schaffen, von dem heute kaum irgendwo eine Spur vorhan­den ist, das aber an die Stelle treten wird dessen, was Reim, Endreim oder Anfangsreim in früheren Zeiten war. Ein gewisses innerliches, ich möchte sagen, ein ätherisch-poetisches Erleben des Lautes gegenüber dem mehr äußerlich-physischen Erleben des Lautes, wie es im Endreim oder im Anfangsreim ist. Das Bedürfnis ist ja vorhanden, schon in unserem immer mehr prosaisch werdenden Rezitieren, die alten Formen abzustreifen. Nicht leicht läßt sich heute jemand darauf ein, den Anfangsreim, die Alliteration, wie Jordan es versucht hat, zu gebrau­chen; und nicht sehr läßt sich heute ein Rezitator darauf ein, den

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Endreim so zu betonen, wie er ursprünglich betont war. Man betont lieber sinngemäß. Aber das ist Prosa; das ist keine poetische Sprache, wenn man bloß sinngemäß rezitiert. Poetisches Rezitieren würde sein:

ein Rezitieren mit vorzüglicher Betonung desjenigen, was nicht das prosaische Element ist in der künstlerischen Gestaltungsart. Das wird aber erst wiederum möglich sein, wenn man, statt in das Äußerliche der Lautkonfiguration im Reim oder äußeren Rhythmus, sich in jenen inneren Rhythmus einlebt. So wird man sich hineinleben müssen in den Laut in der Weise, wie ich es auf einem anderen Gebiete besprochen habe: wie ich es besprochen habe in den Vorträgen der letzten Zeit, wo ich von dem Hineinleben in den einzelnen Ton beim musikalischen Komponieren in der Zukunft sprach.

Alle diese Beispiele zeigen, daß es mit dem Lernen der Theorien der Geisteswissenschaft durchaus nicht getan ist, sondern daß es ankommt auf ein innerliches Erleben desjenigen, was wir aufnehmen und auf ein Durchdringen der ganzen Seele mit dem, was die Geisteswissenschaft will, wie ich es bei einer anderen Gelegenheit schon gesagt habe.

Eben gerade damit sollte ein Anfang gemacht werden bei unserem Bau. Soweit etwas, was eine Anregung zu geben vermag, äußerlich hingestellt werden kann, sollte es in diesem Bau hingestellt werden, um durch das Anschauen von Formen und Farben eine Wirkung zu erfühlen in der ganzen Seele und nicht bloß im Auge. Völlig wird aber das, was angedeutet worden ist, nur erreicht werden, wenn wir uns veranlaßt fühlen, das ganze Leben in derselben Weise zu gestalten - da, wo es heute schon möglich ist -, wie es bei diesem Bau versucht wurde. Aber dann muß man eben auch versuchen, die Geisteswissenschaft wirklich lebendig zu machen, sie wirklich hineinzugießen in das, was wir unter­nehmen und tun wollen. Es ist notwendig sich bewußt zu werden, daß mit der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung etwas gegeben wer­den soll, was eine Art neuen Menschen in jenem alten Menschen erzeugt, der wie ein Erbstück früherer Erdenevolution auf uns gekommen ist. Wir nehmen zu gleicher Zeit mit der Geisteswissenschaft die Vorbedin­gungen in uns auf, die dazu dienen, dem zur Geburt zu verhelfen, was geboren werden soll für die Erdenzukunft.

Wenn man das will, dann muß man allerdings tief, tief mit seinem

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ganzen Wesen die Geisteswissenschaft verbinden. Wir haben da und dort schon schöne Beispiele von einem solchen Durchdringen erlebt. Von einem hervorragenden Beispiele haben wir des öfteren schon gesprochen. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einige Worte unseres Freundes Christian Morgenstern zum Schlusse erwähnen, welche solch ein Beispiel darstellen, wie unter uns Geisteswissenschaft als Seelenerleb­nis in Herz und Seele eindringen kann. Nicht dadurch, daß wir sie theoretisch aufnehmen, dringt ja die Geisteswissenschaft in uns wirklich so ein, wie sie es kann, sondern erst dann, wenn sie sich in jede Fiber unseres Wesens hineinlebt.

Und das ist ein Beispiel, ein Beispiel unter vielen, daß Geisteswissen­schaft so schön in einem Gedichte wie demjenigen Christian Morgen-sterns zum Ausdruck gekommen ist. Scheinbar könnte dieses Gedicht auch aus einer anderen Weltanschauung geschrieben worden sein, in Wirklichkeit atmet es aber ganz, in jeder Zeile nicht nur, sondern auch in der Vokalisierung - aber Vokalisierung hier seelisch genommen - den Geist unserer Geisteswissenschaft:

Ich bin aus Gott wie alles Sein geboren,

ich geh im Gott mit allem Mein zu sterben,

ich kehre heim, o Gott, als Dein zu leben.

Erst wurde ich aus Deinem Ich gegeben,

dann galt es dies Gegebne zu erwerben,

Dir als ein Du es Brust an Brust zu heben.

Da wollte Stolz es mittendrin verderben,

und es ward Dir, und Du warst ihm verloren...

Bis daß Du übermächtig mich beschworen!

Da ward ich Dir zum andernmal geboren:

denn ich verstand zum erstenmal zu sterben,

denn ich empfand zum erstenmal zu leben.

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ZWEITER VORTRAG Dornach, 10. Januar 1915

In Erinnerung an das, was wir gestern zu betrachten versuchten, denken wir daran, wie es zunächst mit dem, was wir die Saturnentwickelung des Menschen nennen, eigentlich beschaffen sein muß.

Wenn wir das ins Auge fassen, was wir gestern ausgeführt haben, so wissen wir, daß in uns, ich möchte sagen, in unserer Menschenwesenheit auf verborgene Art dasjenige vorhanden ist, was in der Saturnzeit zuerst in uns verpflanzt worden ist: die erste Anlage der physischen Leiblich­keit. Das was die alte Saturnentwickelung an uns getan hat, das ist heute nicht mehr irgendwo innerhalb unserer äußeren Welt anzutreffen. Diese alte Saturnentwickelung ist in urferner Vergangenheit einmal heraufge-zogen, ist wiederum vergangen, hat Eigentümlichkeiten, Kräfte gehabt, die wir heute, wenn wir um uns herumblicken, zunächst vergeblich suchen. Denn auch, wenn wir zu den Sternen aufschauen in den Weltenraum hinaus, finden wir heute zunächst nicht das, was innerhalb der alten Saturnentwickelung herrschend war.

Es ist ja, nachdem diese alte Saturnentwickelung abgedämmert war, die Sonnenentwickelung und dann die Mondenentwickelung gekom­men. Heute leben wir innerhalb der Erdenentwickelung. Drei Entwicke­lungsperioden sind vergangen. Das, was ihre Eigentümlichkeiten waren, ist mitvergangen, ist jetzt nicht mehr, ich möchte sagen, in unserem Blickfelde. Nur unter den verborgenen, unter den okkulten Wirkungen, die die Welt durchwallen, können wir das finden, was Eigentümlichkeit der alten Saturnentwickelung war. Wir können noch die Kräfte gewissermaßen entdecken, die dazumal an unserem physischen Leibe gearbeitet haben.

Wenn Sie sich erinnern an das, was in meiner «Geheimwissenschaft im Umriß» dargestellt ist, so werden Sie wissen, daß damals tätig war ein Zusammenwirken der Geister des Willens und der Geister der Persön­lichkeit. Dieses Zusammenwirken ist auch heute noch da, aber, wie gesagt, wir können es nicht im äußeren Blickfelde finden. Wir finden es, wenn wir in das hineinblicken, was wir unser persönliches Schicksal nennen. Unser persönliches Schicksal wird ja so gewoben, daß in den

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aufeinanderfolgenden Inkarnationen das, was uns trifft, wie Ursache und Wirkung zusammenhängt. Und was da wirksam ist in unserem persönli­chen Schicksalsstrom, das sind keine Kräfte, die der äußere Naturwis­senschafter untersuchen kann. Denn er wird unter den Kräften, die er auf dem Gebiete der Physik, Chemie, Biologie, Physiologie und so weiter entdeckt, nichts finden, was hervorruft jenen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der in unserem persönlichen Karma zum Aus­druck kommt. Die Gesetze, die da walten, entziehen sich der physikali­schen Beobachtung. Aber sie entziehen sich auch der historischen Beob­achtung, derjenigen Beobachtung, die die sogenannten Kulturwissen­schafter materialistischer Färbung heute pflegen. Wie man untersucht, was im geschichtlichen Werden vor sich geht, wie man heute Geschichte schreibt, von den persischen, ägyptischen, griechischen und römischen Zeiten bis in unsere Gegenwart, das enthält Gesetze, die nichts zu tun haben mit jenen Kräften, die in unserem Karma wirksam sind. Daher kommt der Historiker, der heutige Kulturwissenschafter materialisti­scher Färbung auch nicht auf die Gesetze, die abhängen von dem persönlichen Karma der Menschen.

Die Geschichte wird so betrachtet wie ein fortlaufender Strom, und es wird zum Beispiel ganz außer acht gelassen, inwiefern das geschichtliche Werden davon abhängt, daß, sagen wir, Menschenseelen, die Persönlich­keiten waren in der alten Römerzeit, heute wiederum vorhanden sind, daß sie teilnehmen an den Ereignissen, die um uns herum sind, und so teilnehmen, daß die Art, wie sie heute teilnehmen, aus ihrem persönli­chen Karma fließt. Das wird ausgeschaltet bei dem Historiker materiali­stischer Färbung.

Also wenn wir suchen, was noch vorhanden ist an Kräften, die, ich möchte sagen, die Naturkräfte der alten Saturnentwickelung waren, so müssen wir zu der Gesetzmäßigkeit unseres persönlichen Karmas gehen. Erst wenn wir lernen, den Kosmos, der in unserem Blickfelde ist, nicht bloß zu betrachten, sondern zu lesen das, was in ihm ist, dann bekom­men wir einen Einblick, wie in dem, was um uns herum ist, noch immer die alten Saturngesetze in einer gewissen Weise wirksam sind.

Wenn wir die Anordnung und Ausstrahlung der zwölf Tierkreiszei­chen wie eine kosmische Schrift ins Auge fassen, wenn wir ins Auge

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fassen, welche Kräfteausstrahlungen sich hineinergießen in das Men­schenleben von Widder, Stier, Zwillingen und so weiter, dann denken wir im Sinne derjenigen Kräfte, die Saturnkräfte waren. Und wenn wir versuchen, das persönliche Karma in Zusammenhang zu bringen mit den Konstellationen, die sich auf diese Tierkreiszeichen beziehen, dann leben wir ungefähr in der Sphäre der Weltbetrachtung, die angewendet werden müßte auf die Gesetze der alten Saturnepoche.

Es ist also zurückgeblieben gewissermaßen nichts, was man sehen kann, sondern etwas Unsichtbares, was aber noch aus den Zeichen des Kosmos. zu deuten ist. Derjenige, der glauben würde, der Widder, der Stier, die Zwillinge machen sein Schicksal, der würde in demselben Irrtume leben wie derjenige, der durch einen gewissen Gesetzesparagra­phen verurteilt wird und nun auf diesen Gesetzesparagraphen einen besonderen Haß bekäme und glaubte, daß der ihn ins Gefängnis geschickt habe. So wenig ein einzelner Gesetzesparagraph - das, was auf dem weißen Blatt als Druckschrift steht - einen Menschen verurteilen kann, so wenig kann der Widder, der Stier oder die Zwillinge das Schicksal bewirken. Aber lesen kann man dasjenige aus der Sternen-schrift, was aus dem Kosmos heraus mit dem Menschenschicksal zusam­menhängt. Wir können also sagen: Das, was so aus der Sternenschrift folgt, ist ein Rest der alten Saturnentwickelung, ist die alte Saturnentwik­kelung, rein geistig geworden, nur ihre Zeichen zurücklassend in der Sternenschrift des Kosmos.

Wenn wir von der alten Saturnentwickelung fortschreiten zur Mon­denentwickelung, dann müssen wir uns klarmachen, daß wir auch zunächst von der Mondenentwickelung so unmiuelbar - ich sage:

zunächst, so unmittelbar - nichts in unserem Blickfelde haben, das uns umgibt. Das, was äußere Naturwirkungen sind, enthält zunächst in der Hauptsache keine Kräfte, die etwa gleichkämen den Kräften der alten Mondenentwickelung. Auch die Kräfte der alten Mondenentwickelung haben sich gewissermaßen ins Verborgene zurückgezogen, aber sie sind noch nicht in demselben Grade geistig geworden wie die alten Saturnge-setze. Die alten Saturngesetze sind so geistig geworden, daß wir sie in den Gesetzen unseres persönlichen Schicksals, also ich möchte sagen, ganz außerhalb des Raumes und der Zeit nur erforschen können. Wenn

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wir das Menschenleben im ganzen betrachten, so finden wir heute noch diese alten Saturngesetze, finden noch das, was wir, wenn wir dem Menschen entgegentreten in der physischen Welt, nicht sehen können.

Wir haben gesagt: Wenn wir dem Menschen in der physischen Welt entgegentreten, haben wir den physischen Leib als Rest der alten Saturn­entwickelung, den Ätherleib als Rest der alten Sonnenentwickelung, den Astralleib als Rest der alten Mondenentwickelung, und das Ich. Und eigentlich nur die Verkörperung dieses Ich sehen wir nicht als Rest, wenn wir den Menschen äußerlich anschauen, wenn wir seine Gestalt betrachten. Die Gesetze also, die waltend und wirksam sind, indem das Ich sich den Menschen gestaltet, sich verkörpert, sind die Erdengesetze. Und schon die Gesetze des astralischen Leibes, die Gesetze der Monden­entwickelung, haben sich zurückgezogen, sind nicht mehr äußerlich wirksam. Aber sie sind so, daß wir, wenn wir dem Menschen gegenüber-treten, sagen werden: Du, Mensch, bist, wie du mir gegenübertrittst als materieller Mensch, eine Verkörperung des Ich. Aber tief im Hinter­grunde deines Wesens liegt dein unsichtbares, persönliches Schicksal. -Wie dieses unsichtbare, persönliche Schicksal bestimmt ist, so walten in ihm die alten Saturngesetze Da appellieren wir schon an etwas ganz Geistiges, wenn wir von der Verkörperung des Ich, also von den Erdengesetzen, auf die alten Saturngesetze hinblicken. Nicht etwas so Geistiges ist es, wenn wir von dem, was vor uns steht im Menschen, hinblicken auf das, was in ihm von den alten Mondengesetzen noch waltet. Aber auch das hat sich zurückgezogen von der äußeren Welt-wirksamkeit, auch das ist nicht so unmittelbar sozusagen unter den Wirkungskräften des Erdendaseins.

Wo müssen wir es suchen, was von der alten Mondenwirksamkeit zurückgeblieben ist? Wir müssen es suchen geschützt und eingebettet, verhüllt vom Erdendasein. Denn es ist wirksam in der Zeit bevor der Mensch durch seine physische Geburt ins Erdendasein tritt, es ist wirksam bevor der äußere, physische Lichtstrahl in sein Auge dringen kann, es ist wirksam bevor er den ersten Atemzug begonnen hat. Es ist wirksam von der Empfängnis bis zur Geburt, wirksam im Embryonal­leben, aber nicht wirksam - das bitte ich ausdrücklich zu beachten - in dem, was sich zum äußeren physischen Menschen entwickelt von der

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Eizelle aus, also in dem, was von der Eizelle aus wächst, durch fortwäh­rende Zellteilung größer und größer wird - da sind die Erdengesetze drinnen -, sondern wirksam in dem, was nur in der Mutter vorhanden ist und abstirbt während der Embryonalentwickelung, um sich mit der Geburt zu verlieren und in den Tod überzugehen. In dem, was da die Mutter umhüllt und für die Ernährung des Erdenmenschen sorgt, solange er noch nicht geboren ist, was einhüllt den werdenden Menschen und dann von ihm abfällt: in dem walten die alten Mondengesetze. Und mit dem hängt zusammen dasjenige, was über das einzelne Menschenle­ben hinausgeht, was einen Zusammenhang schafft zwischen dem einzel­nen Menschen und seinen Vorfahren, was sich einschließt in den Begriff der Vererbung.

So sehen wir allerdings dasjenige noch wirksam, was während der alten Mondenentwickelung da war, aber nicht in der äußeren Welt. In der äußeren Welt wirkt es nur gleichsam als Absterbendes im Menschen-werden. Es wird überwunden, sobald der Mensch seinen ersten, wirksa­men Atemzug für sein Erdenleben tut.

Will man die Gesetze des alten Mondenseins studieren, rein physiolo­gisch, nicht heliseherisch, so würde es heute keinen anderen Weg geben

- wenigstens für einen Teil dieser Gesetze der alten Mondenwirksam­keit -, als die Gesetze zu studieren, die wirksam sind in den Hüllen, die den menschlichen Embryo umgeben, bevor er seinen ersten Atemzug tut, die ihn umhüllen und ernähren. Was da eingeschlossen ist im Leibe der Mutter, was da gedeihen kann während der Erdenentwickelung nur unter der schützenden Hülle des Mutterleibes, das war ganz Natur während der alten Mondenentwickelung, das erfüllte das ganze Blickfeld während der alten Mondenentwickelung.

So ersterben nicht nur die Wesen, insofern sie eine Hüllennatur haben, sondern so ersterben ganze Typen von Naturgesetzlichkeiten und sind bloß noch in ihren Resten vorhanden in den folgenden Zeiten.

Nun werden Sie die Frage aufwerfen müssen: Wie ist es denn mit dem, was von der Sonne herrührt? - Betrachten wir das gestrige Schema. Wir haben gesehen, daß durch all die Komplikationen, die hier eintreten, wir es zu tun haben bei dem vollständigen Menschen mit seinem physischen Leibe, Ätherleibe, Astralleibe, Ich; Ätherleib, Astralleib, Ich; Astralleib,

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Ich; und mit dem Ich selber. Im Grunde genommen ist alles das, was hier oben ist (über der Abgrenzung), der verborgene Teil der Menschenna­tur. Wenn wir die in der physischen Leibesanlage wirksamen Gesetze studieren wollen, müssen wir hinblicken auf das, was im Menschen schicksalbestimmende Gesetze, übersinnliche, schicksalbestimmende Gesetze sind. Wenn wir hinschauen auf das, was im Astralleibe waltet und seine Verkörperung findet im physischen Leibe, dann haben wir nicht so Geistiges, nicht so Übersinnliches, aber wir haben ein sich vom Sinnlichen ins Übersinnliche Auflösendes. Denn das, was da abfällt von dem menschlichen Embryo, das wird immer, ich möchte sagen, atomisti­scher und atomistischer, je mehr der Mensch zur Geburt heranreift; es geht materiell seiner Auflösung entgegen. Und in demselben Maße, in dem es materiell seiner Auflösung entgegengeht, wird es geistiger und geistiger, denn was sich da angliedert an den Menschen als astralischer Leib und ätherischer Leib, das entsteht durch die Vergeistigung dieser abfallenden Teile der Hüllen, der embryonalen Hüllen.

Nun könnte die Frage entstehen: Wie ist es denn nun aber mit dem Sonnenteile? Können wir irgendwo in der Welt finden den Sonnenteil? -Auch dieser Sonnenteil entzieht sich der sinnlichen Beobachtung. Wäh­rend das, was wir Karma nennen, das persönliche Schicksal, ich möchte sagen, der Saturnteil des Menschen, in hochgeistigen Regionen liegt, brauchen wir, wie wir gesehen haben, beim Mondenteil nicht so hoch hinaufzusteigen, denn wir finden ihn noch im Sinnlichen verhüllt. Beim Sonnenteil brauchen wir auch nicht so hoch hinaufzusteigen wie beim

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Saturnteile. Er ist gleichsam noch ergreifbar, dieser Sonnenteil (,es Menschen, aber er wird nicht leicht erkannt. Ergreifbar ist er, aber er ist nicht leicht zu erkennen.

Ich möchte ein Beispiel anführen für etwas, wo Sie den Sonnenteil, der wirksam ist, noch erkennen können, wenn auch nur verhüllt auf ihn aufmerksam gemacht werden kann. Diejenigen der lieben Freunde, welche sich bekannt gemacht haben mit meinem Buche in der neuen Auflage «Die Rätsel der Philosophie, im Umriß dargestellt)), werden gefunden haben, daß unterschieden worden sind vier Epochen der philosophischen Entwickelung. Eine erste Epoche, die etwa währt - ich habe sie überschrieben «Die Weltanschauungen der griechischen Den­ker» - vom Jahre 800, das ist rund genommen, oder 600 vor Christus bis zu Christi Geburt, also bis in die Zeit der Entstehung des Christentums; eine zweite Epoche, welche währt von der Entstehung des Christentums bis etwa 800 bis 900 Jahre nach Christo, also bis zu der Zeit des Johannes Scotus Erigena; dann eine Zeit, welche ich genannt habe «Die Weltan­schauungen im Mittelalter», eine dritte Epoche, die etwa dauert vom Jahre 800 oder 900 bis zum 16. Jahrhundert nach Christo; und eine vierte Epoche vom 16. Jahrhundert bis auf weiteres. Wir sind grade drinnen in dieser Epoche. Sieben- bis achthundertjährige Epochen in der Philosophiegeschichte sind angegeben worden, so wie ich sie darstellen konnte in diesem Buche für die noch ganz von der Geisteswissenschaft unberührte Welt.

Es sollte etwas gegeben werden, was anregen kann, wenigstens einmal die geistige Struktur dieser Epochen auf sich wirken zu lassen. Das Eigentümliche der ersten Epoche besteht darinnen, daß der Übergang gefunden wird aus einem sehr merkwürdigen alten Denken zu dem, was man nennen kann das Leben des Gedankens im alten Griechenland. Unsere Zeit ist ja wirklich noch nicht sehr weit in dem Verstehen solcher Unterschiede wie desjenigen zwischen dem Gedankenleben unserer Zeit und dem Gedankenleben des alten Griechenlands. Unser grobklotziges Denken meint, der Gedanke habe in einem alten griechischen Kopf so gelebt, wie der Gedanke in einem jetzigen Kopfe lebt. In Sokrates, in Plato und auch in Aristoteles lebte der Gedanke in ganz anderer Weise als in einem modernen Menschen, und dieses Gedankenleben ist im 7.

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oder 6. Jahrhundert vor der christlichen Zeitrechnung im Grunde erst erwacht. Vorher gab es nicht so recht ein eigentliches Gedankenleben. So wie es in meinem Buche dargestellt ist, kann man von einem Anfange, von einer Geburt des Gedankenlebens in dieser Zeit des alten Griechen­lands sprechen.

Die kuriosesten Vorstellungen hat man gefaßt über die ersten griechi­schen Philosophen, über jene großen Philosophengestalten Thales, Ana­xagoras, Anaximenes und so weiter, indem man zum Beispiel hingewie­sen hat darauf, daß Thales die Welt aus dem Wasser entstehen ließ, Anaximenes aus der Luft, Heraklit aus dem Feuer. Ich habe darauf hingewiesen, daß diese alten Philosophen ihre Philosophien noch aus dem menschlichen Temperamente hervorgehen ließen, daß diese Lehren nicht auf Spekulation beruhten, sondern daß Thales das Wasser als den Urgrund der Dinge hinstellte, weil er von wässerigem Temperamente war, daß Heraklit die Feuerphilosophie fand, weil er von feurigem Temperamente war und so weiter. Das finden Sie im einzelnen nachge­wiesen in meinem Buche.

Dann kommt das eigentliche Gedankenleben. Und noch in der Epo­che, die hier geschildert ist, ist dieses Gedankenleben anders als das heutige Gedankenleben, wesentlich anders als das heutige Gedankenle­ben. Der griechische Denker zieht nicht den Gedanken aus dem Grunde seiner Seele herauf, sondern bei ihm offenbart sich der Gedanke, wie sich für den heutigen Menschen der äußere Ton oder die Farbe offenbart. Der Grieche nimmt den Gedanken wahr; von außen her nimmt er ihn wahr, und wir mussen, wenn wir von der griechischen Philosophie sprechen, nicht von einem solchen Denken sprechen, wie heute gedacht wird, sondern von Gedankenwahrnehmung. Also in der ersten Epoche haben wir es zu tun mit Gedankenwahrnehmung. Plato und Aristoteles denken nicht so, wie ein heutiger Philosoph denkt, sondern sie denken so, wie man heute anschaut, wie man heute wahrnimmt. Sie blicken gleichsam in die Welt hinein und nehmen die Gedanken, die sie uns erzählen in ihren Philosophien, so wahr, wie man eine Symphonie wahrnimmt. Sie sind Gedankenwahrnehmer. Die Welt offenbart ihnen ein Gedankenwerk: das ist das Wesentliche der griechischen Denker. Und in bezug auf diese Wahrnehmung des Gedankenwerkes der Welt

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bringen es die griechischen Denker zu einer hohen, zu einer höchsten Vollendung.

Wenn heute die Philosophen glauben, das schon verstanden zu haben, was Plato und Aristoteles wie eine große Weltsymphonie von Gedanken wahrgenommen haben, so rührt dies nur von einer kindischen Einstel­lung der gegenwärtigen Philosophen her. Das, was Aristoteles als Entele­chie, was er als Seelenglieder der Menschennatur - Ästhetikon, Orekti­kon, Kinetikon und so weiter - darlegt, vollständig zu begreifen, dazu werden die modernen Philosophen noch lange Wege machen müssen. Jenes innere Gedankenarbeiten, wo man die Gedanken aus sich heraus­holt, wo man subjektive Anstrengungen machen muß, um zu denken, das gab es in Griechenland noch gar nicht. Ganz unsinnig ist es, zu glauben, daß Plato gedacht hat; er hat Gedanken wahrgenommen. Daß Aristoteles im heutigen Sinne schon gedacht hätte, ist ein Unsinn; er hat Gedanken wahrgenommen.

Wie das eigentlich ist, kann der moderne Mensch sich kaum denken> weil er sich gar keine Vorstellung macht von der wirklichen Entwicke­lung. Er bekommt eine leichte Gänsehaut, wenn man ihm sagt, Plato und Aristoteles haben gar nicht gedacht im modernen Sinne; und dennoch ist es so. Damit das Denken im modernen Sinne überhaupt Platz greifen konnte in der modernen Menschenseele, mußte ein Impuls konunen, der das Innerste dieser Menschenseele erfaßte, ein Impuls, der nichts zu tun hat mit der Gedankensymphonie in der Umwelt des Menschen, sondern der ins innerste Wesen des Menschen hineingreift. Dieser Impuls kam von dem Mysterium von Golgatha. Daher geht geradezu bis zu Christus diese philosophische Epoche.

In der zweiten Epoche haben wir es zwar schon mit einem Denken zu tun, aber mit einem Denken, das eigentlich noch kein eigenes Denken der Menschen ist, das durch einen Impuls, der von der geistigen Welt kommt, angeregt ist. Gehen Sie durch die Gedankensysteme all der Philosophen dieser zweiten Epoche, so werden Sie überall finden, wie der christliche Impuls darinnen waltet bis zu Scotus Erigena herauf. Es ist, man möchte sagen, etwas ausgeflossen von Christus selber, was den ersten Antrieb, Gedanken von innen heraus zu erzeugen, in dem Men­schen hervorbringt. Das gibt der patristischen Philosophie, der Philosophie

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der Kirchenväter, der Philosophie des Augustinus, der Philosophie herauf bis zu Scotus Erigena das Gepräge, die Physiognomie. So daß wir sagen können: Jetzt haben wir es nicht mehr mit Gedankenwahrneh­mung zu tun, sondern mit vom Geiste angeregter Gedankeninspiration.

Wieder anders wird es in der dritten Epoche, wo dieser innere Impuls, der vom Christentum ausgeht, beginnt von den Menschen selber erfaßt zu werden. Der Mensch wird jetzt, in dieser dritten Epoche, gewahr, daß er es ja ist, der denkt. Plato und Aristoteles haben noch nicht gedacht. Die konnten daher ebensowenig zweifeln, daß der Gedanke eine volle, objektive Gültigkeit habe, wie der Mensch zweifeln kann daran, daß, wenn er Grün am Baume sieht, das Grün wirklich volle, objektive Gültigkeit hat.

In der zweiten Epoche, da war es der intensive Glaube an den Christus-Impuls, der dem erwachenden Denken Sicherheit gegeben hat. Aber jetzt begann die Epoche, wo die Menschenseele anfing zu sagen:

Ja, du bist es doch eigentlich selbst, der denkt, die Gedanken steigen aus dir heraus. - Der Christus-Impuls verblaßte allmählich, der Mensch wurde gewahr, die Gedanken steigen aus ihm heraus, und er kam zu der Frage: Machst du dir vielleicht Gedanken, die gar nichts zu tun haben mit dem, was draußen ist? Könnte nicht vielleicht die objektive Außen­welt nichts zu tun haben mit deinen Gedanken?

Denken Sie sich den großen Unterschied gegenüber dem Denken des Plato und Aristoteles! Plato und Aristoteles nahmen Gedanken wahr; da konnten sie nicht zweifeln, daß die Gedanken draußen sind. Jetzt, in der dritten Epoche, wurden sich die Menschen bewußt: Man erzeugt selber den Gedanken, und sie begannen zu fragen: Ja, was haben denn die Gedanken mit dem objektiven Sein draußen zu tun? - Und nun entstand das Bedürfnis, dem Denken Sicherheit zu geben, wie man sagte, das Denken zu beweisen. Erst in dieser Epoche konnte zum Beispiel Anselm von Canterbury daran denken, einen Beweis für die Gültigkeit der Idee Gottes zu schaffen. Das wäre früher völliger Unsinn gewesen in dem griechischen Denken, aus dem Grunde, weil man da die Gedanken gesehen hat. Wie soll man zweifeln, daß Gott existiert, wenn man so sieht, außen, die Gedanken der Gottheit, wie man draußen sieht die Grünheit des Baumes? Der Zweifel begann erst in der dritten Epoche, als

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man sich klar wurde, daß man selbst es ist, der denkt. Es entstand das Bedürfnis, zu beweisen, nachzudenken über den Zusammenhang dessen, was man denkt, mit dem, was da draußen ist. Und das ist im wesentli­chen die Epoche der Scholastik: das Gewahrwerden der Subjektivität des Denkens.

Wenn Sie das ganze Gedankengebäude des Thomas von Aquino nehmen, so steht es in dieser Epoche drinnen, ist ganz von dieser Epoche beherrscht. Überall ist das Bewußtsein vorhanden: die Begriffe werden im Inneren erzeugt, die Begriffe werden so zusammengefügt, wie die Gesetze der Subjektivität sind. Also muß man eine Stütze finden dafür, daß das, was in dem Inneren erzeugt wird, auch äußerlich vorhanden ist. Es wird noch zunächst appelliert an die überlieferte Dogmatik, aber man ist nicht mehr in solcher Weise verknüpft mit dem Christus-Impulse, wie es in der zweiten Epoche der Philosophie-Entwickelung der Fall war.

Dann kommt die vierte Entwickelungsperiode, das freie Walten des Gedankens im Inneren, ein noch weiteres Emanzipieren des Gedankens von der äußeren Gedankenwahrnehmung, jenes freie Gedankenschaffen im Inneren, das so großartig hervortritt in den Gedankengebäuden des Giordano Bruno, Spinoza, des Cartesius und der Folgenden, Leibniz und so weiter. Wenn wir diese Gedankengebäude verfolgen, so merken wir an ihnen, daß sie ganz aus dem Inneren heraus geschaffen sind. Und überall finden wir das intensive Bedürfnis dieser Denker, Gründe dafür anzugeben, daß das, was sie im Inneren schaffen, auch wirklich eine äußere Gültigkeit habe. Spinoza schafft ein wunderbares Ideengebäude. Die Frage entsteht aber: Ja, ist das alles bloß drinnen im menschlichen Geiste geschaffen, oder hat es eine Bedeutung da draußen in der Welt? Giordano Bruno, Leibniz schaffen die Monade. Die Monade soll etwas Reales sein. Wie kommt dasjenige, was die Menschen ausdenken als Monade, dazu, da draußen in der Welt etwas Reales zu sein? Alle Fragen, die seit dem 16., 17. Jahrhundert heraufgekommen sind, stehen noch immer unter dem Eindruck dieses Strebens, das freie Gedanken-schaffen in Einklang zu bringen mit dem Weltendasein draußen. Der Mensch fühlt sich vereinsamt, verlassen von der Welt in seinem freien Gedankenschaffen. Da stehen wir noch jetzt mitten darinnen.

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Was ist denn aber das Ganze jetzt hier? (Siehe Schema.) Wenn wir zurückgehen in die Gedankenwahrnehmung, wie sie war bei den alten griechischen Philosophen,. dann müssen wir sagen: Das philosophische Denken im alten Griechenland wirkt so, daß - trotzdem im allgemeinen im alten Griechenland die Zeit der Verstandes- oder Gemütsseele ist -dieses alte Denken noch ein Wahrnehmungsdenken ist, tief beeinflußt noch ist von der Empfindungsseele, sogar noch von dem Empfindungs-leibe, dem astralischen Leibe. Es haftet noch an dem Äußeren.

Das Denken des Thales, der ersten Philosophen, war noch beeinflußt von dem Ätherleibe. Das Temperament sitzt im Ätherleibe und aus dem Temperament heraus schaffen sie ihre Wasser-, Luft-, Feuerphiloso­phien; so daß man sagen kann: der Philosophie des Empfindungsleibes

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geht eine Philosophie des Ätherlei bes voraus. - Dann kommen wir in die christliche Zeit hinein. Der christliche Impuls dringt in die Empfin-dungsseele. Die Philosophie wird innerlich erlebt, innerlich empfunden, aber in Zusammenhang mit dem, was man glauben, was man fühlen kann; es sind da die Einflüsse der Empfindungsseele vorhanden.

In der dritten Epoche, in der Epoche der Scholastik, da haben wir als das wesentliche Element des philosophischen Werdens die Verstandes- oder Gemütsseele.

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Sie sehen, das philosophische Werden geht einen anderen Gang als die allgemeine Menschheitsentwickelung. Und jetzt erst, seit dem 16. Jahrhundert, haben wir allerdings die Philosophie zusammenfallend mit dem, was auch sonst allgemeine Menschheitsent­wickelung ist: da haben wir den freien Gedanken in der Bewußtseins-seele waltend. Das großartigste Beispiel, wie der freie Gedanke von der Abstraktion des Seins bis in die höchste Geistigkeit hinauf waltet, wie ein Gedankenorganismus, ganz von der Welt ausgehend, nur in sich selber waltet, das ist die Philosophie Hegeis: der nur im Bewußtsein lebende Gedanke.

Wenn Sie das hier verfolgen, so ist es allerdings der Teil, den ich nicht in meinem Buche darstellen konnte für die Außenwelt; aber es liegt darinnen. Und wenn Sie die Beschreibungen lesen, die von den einzelnen Epochen gegeben werden, so werden Sie, wenn Sie ordentliche Anthro­posophen sind, sehr klar auf das hingewiesen werden, was ich hier links (siehe Schema) angeschrieben habe. Es entwickelt sich alles etwa so, wie sich der Mensch selber entwickelt: vom Ätherleib zum Empfindungs-leibe, zur Empfindungsseele, zur Verstandesseele, zur Bewußtseinsseele. Wir verfolgen einen Gang, wie den Gang der Menschheitsentwickelung, aber anders geordnet. Es ist nicht der Gang der Menschheitsentwicke­lung, es ist etwas anderes. Wesen entwickeln sich, und die benützen die menschlichen Kräfte in der Empfindungsseele, in der Verstandesseele und so weiter. Durch den Menschen und sein Arbeiten gehen andere Wesen hindurch mit anderen Gesetzen, als die Gesetze des Menschen­werdens sind.

Sehen Sie, das sind Wirksamkeiten der Sonnengesetze. Da brauchen wir nicht in solch übersinnliche Regionen hinaufzusteigen, wie wenn wir das persönliche Schicksal untersuchen. Von dem, was als Rest der Sonnengesetze hier zu suchen ist, davon sehen wir ein Beispiel in der philosophischen Entwickelung der Menschheit.

Wir haben gestern, als entsprechend dem Ätherleibe, hierher Angeloi zu schreiben gehabt.

Solche Angeloi entwickeln sich. Und während die Menschen glauben selber zu philosophieren, wirken in ihnen, indem sie die Sonnenentwik­kelung in sich tragen - das heißt das, was als Sonnenentwickelung in

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ihrem physischen Leibe veranlagt war und auch in ihrem Ätherleibe wirkt -, die Gesetze des Sonnendaseins. Und die Gesetze des Sonnen-daseins, von Epoche zu Epoche wirkend, sie wirken so, daß die Philoso­phie so wird, wie sie eben ist. Weil es Sonnengesetze sind, kann in ihnen auch der Christus, das Sonnenwesen, eingreifen in der zweiten Epoche. Es wird vorbereitet durch die erste Epoche, und dann greift der Chri­stus, das Sonnenwesen, in der zweiten Epoche ein.

Sie sehen, wie sich alles zusammenschließt; Aber indem der Christus, das Sonnenwesen, eingreift, kommt er in Zusammenhang mit einer Entwickelung, die nicht die menschliche Entwickelung ist, nicht die menschliche Erdenentwickelung, sondern eigentlich Sonnenentwicke­lung innerhalb des Erdendaseins.

Sonnenentwickelung innerhalb des Erdendaseins! Denken Sie sich einmal, wozu wir da in dieser Betrachtung eigentlich kommen. Wir betrachten den Gang der philosophischen Entwickelung, betrachten den Lauf des philosophischen Denkens seit der alten griechischen Zeit, und wir sagen uns, wenn wir das alles vor uns hinstellen, wie das philosophi­sche Denken von Philosoph zu Philosoph sich entwickelt hat: Da sind

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wirksam darinnen nicht Erdengesetze, sondern Sonnengesetze. Die Gesetze, die dazumal sich abgespielt haben zwischen den Geistern der Weisheit und den Erzengeln, treten in dem philosophischen Weisheits-streben auf der Erde wiederum zutage. Lesen Sie nach in der «Geheim-wissenschaft», wie während der Sonnenentwickelung die Geister der Weisheit eingreifen. Jetzt wiederholen sie dieses Eingreifen während der Erdenentwickelung, nicht in der neuen, sondern in den Resten der alten Sonnenentwickelung. Und indem der Mensch nicht bemerkt, daß in der philosophischen Entwickelung die Geister der Weisheit sein Gemüt durchpulsen, entwickelt er seine Philosophie. Das alte Sonnendasein lebt in der philosophischen Entwickelung. Es lebt wirklich und wahrhaftig darinnen. Dadurch aber, daß das die alte Sonnenentwickelung ist, lebt auch herein damit etwas Zurückgebliebenes, etwas, was mit der alten Sonnenentwickelung zusammenhängt.

Die Menschen, von Generation zu Generation gehend, entwickeln sich als äußere menschliche Persönlichkeiten in der Erdenentwickelung. Aber jetzt geht eine philosophische Entwickelung da hindurch, von Thales bis auf unsere heutige Zeit: da geht die Sonnenentwickelung hinein. Das gibt Anlaß, daß Wesenheiten, die zurückgebileben sind, benützen können die Kräfte der philosophischen Entwickelung, um ihr altes Sonnendasein weiterzuführen, Wesen, die zurückgeblieben sind während der alten Sonnenzeit, die dazumal versäumt haben, die Entwik­kelung durchzumachen, die man durchmachen kann in seinem Äther-leib, Empfindungsleib und in der Empfindungsseele, im Zusammenwir­ken von Geistern der Weisheit und Archangeloi. Diese Geister, die ihre Entwickelung während der Sonnenzeit versäumt haben, die können die menschliche philosophische Entwickelung benützen, um als Parasiten in der menschlichen Entwickelung darinnen zu sein. Das sind ahrimanische Geister!

Ahrimanische Geister unterliegen der Verlockung, in das, was die Menschen philosophisch erstreben, parasitisch hineinzukriechen und ihr eigenes Dasein dadurch zu pflegen. So können sich die Menschen philosophisch entwickeln, sind aber zugleich mit dieser philosophischen Entwickelung ausgesetzt ahrimanischen Geistern, mephistophelischen Geistern.

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Sie wissen, daß Ahriman und Luzifer schädliche Geister sind, solange man ihrer nicht gewahr wird, solange sie gleichsam im Verborgenen wirken. Solange sie nicht so heraustreten, daß die Menschen sich ihnen im Geiste Auge in Auge gegenüberstellen, sind Ahriman und Luzifer schädliche Geister, schädlich in dieser oder jener Weise. Nehmen wir an, ein Philosoph tritt auf und entwickelt den Gedanken, und zwar den Gedanken, insofern man ihn im bloßen Erdensein erfassen kann. Dann entwickelt er den Gedanken so, wie er leben kann durch das Instrument der irdischen Vernunft. Das ist der Hegelsche Gedanke! Er ist reiner Gedanke, aber nur ein Gedanke, wie er gefaßt werden kann mit dem Werkzeug des physischen Leibes, der aber abstirbt mit dem Tode.

Hegel hat das Tiefste gedacht, was gedacht werden kann im Erdenle­ben, was aber in seiner Konfiguration mit dem Tode abstirbt. Und Hegels Tragik besteht darinnen: er hat nicht bemerkt, daß er den Geist in der Logik, in der Natur, im Seelenleben erfaßt, aber nur denjenigen Geist, der in der Form des Gedankens existiert, der aber nicht mitgeht, wenn wir durch den Tod gehen. Um dieses klar vor die Seele zu stellen, hätte er sich sagen müssen: Wenn ich glauben könnte, daß das, was durch das Denken hindurchgeht, was ich also denke vom abstrakten Sein durch die Logik, durch die Naturgedanken, durch die Seelengedanken und herauf bis zur Philosophie, wenn ich glauben könnte, daß das mich hinter die Kulissen des Daseins führt, dann wäre ich von Mephistopheles verlockt!

Das hat ein anderer wahrgenommen, das hat Goethe wahrgenommen, und das hat er in seinem «Faust» dargestellt: den Kampf des denkenden Menschen mit Mephistopheles, mit Ahriman. Und in dieser vierten Epoche der philosophischen Entwickelung sehen wir, wie in die Sonnen-entwickelung hineinragt Ahriman und wie man in klarer Weise sich diesem Ahriman gegenüberzustellen hat, indem man seine Wesenheit wirklich erkennend erfaßt.

Deshalb stehen wir heute an einer Wende auch des äußeren philoso­phischen Denkens, deshalb muß dieses philosophische Denken, um nicht den Verlockungen des Ahriman zu verfallen, um nicht mephisto­phelische Weisheit zu sein, hinter diese Wesenheit kommen, muß sie erfassen, muß einmünden in die Geisteswissenschaft.

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Lesen Sie nach die beiden Kapitel, welche dem Schlußkapitel des zweiten Bandes meiner «Rätsel der Philosophie» vorangehen, wo ich die Weltanschauungen darzustellen versuchte, die draußen als philosophi­sche Weltanschauungen existieren, um dann das Schlußkapitel hinzuzu­fügen «Skizzenhaft dargestellter Ausblick auf eine Anthroposophie». Da werden Sie sehen, wie die Philosophie heute im freien, emanzi­pierten Gedankenleben zwar darstellt etwas, was heraufgeht bis in die Bewußtseinsseele, wie sie aber innerhalb dieses Lebens in der Bewußt­seinsseele erfassen muß das, was vom Geistselbst kommt - zunächst philosophisch -, da sonst die Philosophie in die Dekadenz verfallen, sich auflösen müßte.

So sehen Sie wenigstens ein Beispiel des Hereinwirkens der Sonnen-entwickelung in das menschliche Erdenleben. Ich sagte, man kann diese Sonnengesetze erhaschen, indem man den Werdegang der Philosophie studiert, aber man erkennt nicht immer, daß darinnen die Sonnengesetze wirksam sind. Die Geisteswissenschaft hat das zu erkennen. Denken Sie nur einmal, daß in Wahrheit sich eine Wesenheit entwickelt, die nach und nach dieselben Glieder ansetzt wie der Mensch selber.

Wenn man noch weiter zurückgehen würde in den alten Zeiten, so würde man finden, daß nicht nur der Ätherleib, sondern auch der physische Leib Veranlasser war von Weltanschauungsimpulsen. Es ist schwierig, jene Zeit, die hinter das 12. bis 14. Jahrhundert vor Christi Geburt zurückgeht, die also vor Homer liegt, klarzumachen in ihren Eigentümlichkeiten, denn sie geht ja hinter alle Geschichte zurück. Da aber entwickelt sich etwas, was nun nicht Mensch ist, so wie der Mensch auf der Erde lebt.

In der Geschichte lebt etwas, was durch den Ätherleib, durch den Empfindungsleib und so weiter geht: eine wirkliche, reale Wesenheit Ich habe in meinem Buche gesagt: In der griechischen Zeit wird der Gedanke geboren. Aber in der neueren Zeit kommt der Gedanke wirklich zum Selbstbewußtsein in der Bewußtseinsseele. Der Gedanke ist ein selbsteigen wirksames Wesen. Dieses letzte konnte natürlich nicht gesagt werden in einem exoterischen, für die ganze äußere Welt bestimmten Buch. Der Anthroposoph wird es aber finden, wenn er das Buch sinnend liest und merkt, was eigentlich das Beherrschende der

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Darstellung gewesen ist, was aber nicht hineingetragen ist, sondern sich eben aus der Sache selbst ergibt.

Sie sehen daraus, daß viele, viele Umwandlungsimpulse in bezug auf das geistige Leben in unserer Zeit sich geltend machen. Denn wir haben hier etwas sich weiter entwickeln sehen, was wie ein Mensch ist, nur daß es eine längere Lebensdauer als der einzelne Mensch hat. Der einzelne Mensch lebt auf dem physischen Plane: sieben Jahre entwickelt er den physischen Leib, sieben Jahre den Ätherleib, sieben Jahre den Empfin­dungsleib und so weiter. Und das Wesen, das sich als Philosophie entwickelt - wir nennen es mit dem abstrakten Namen «Philosophie» -, das lebt im Ätherleibe 700 Jahre, im Empfindungsleibe 700 bis 800 Jahre - die Zeit ist ja nur approximativ -, in der Empfindungsseele 700 bis 800 Jahre, in der Gemüts- oder Verstandesseele 700 bis 800 Jahre und wiederum in der Bewußtseinsseele 700 bis 800 Jahre. Ein Wesen entwik­kelt sich herauf, von dem wir sagen können: Blicken wir auf die allerersten Anfänge der griechischen Philosophie, dann hat dieses Wesen gerade die Entwickelungsstufe erlangt, die beim Menschen der Geschlechtsreife entspricht: geradeso ist es als Wesen wie der Mensch, wenn er sein 14. bis 16. Jahr erreicht hat. Dann lebt es herauf bis zu der Zeit, wo der Mensch das erlebt, was er vom 14. bis zum 21. Jahre erlebt: das ist die Zeit der griechischen Philosophie, des griechischen Denkens. Dann kommt die Zeit der nächsten sieben Jahre, was der Mensch vom 21. bis 28. Jahre erlebt: der Christus-Impuls geht hinein in die philoso­phische Entwickelung. Dann kommt die Zeit von Scotus Erigena bis in die neuere Zeit hinauf: dieses Wesen entwickelt in den nächsten 700 bis 800 Jahren dasjenige, was der Mensch entwickelt im Alter vom 28. bis zum 35. Jahre. Und jetzt leben wir in der Entwickelung dessen, was der Mensch in seiner Bewußtseinsseele erlebt: wir erleben die Bewußtseins-seele der Philosophie, des philosophischen Gedankens. Die Philosophie ist tatsächlich in die Vierzigerjahre gekommen, nur daß sie ein Wesen ist, das eine viel längere Lebensdauer hat. Was bei dem Menschen ein Jahr ist, das ist bei diesem philosophischen Wesen ein Jahrhundert. Da sehen wir durch die Geschichte ein Wesen hindurch walten, für das ein Jahrhundert ein Jahr ist. Man nimmt es nur nicht wahr; dieses Wesen entwickelt sich eben mit Sonnengesetzlichkeit.

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Und dahinter liegt dann erst dasjenige, was noch übersinnlicher ist als dieses Wesen, das sich wie ein Mensch entwickelt, nur eben wie ein Mensch, bei dem ein Jahr wie ein Jahrhundert lang ist: hinter diesem steht ein Wesen, welches sich so entwickelt, daß sein äußerer Ausdruck unser persönliches Schicksal ist, wie wir dieses tragen durch noch längere Zeiträume, von Verkörperung zu Verkörperung. In diesem leben sich die unser äußeres Schicksal regelnden Geister aus, für die eine noch längere Lebensdauer vorhanden ist als für jene, von denen wir sagen müssen, daß für sie ein Jahrhundert gleich einem Jahre ist.

So sehen Sie, wie wir da hineinblicken gleichsam in Schichtungen von Wesenheiten, und wie wir, wenn wir nur wollen, sogar, ich möchte sagen, die Biographie eines Wesens schreiben könnten, das um so viel höher steht als der Mensch in bezug auf Geistigkeit, wie ein Jahrhundert länger ist als ein Jahr.

Versucht ist einmal worden, die Biographie eines solchen Wesens zu schreiben, das seine Geschlechtsreife zur Zeit des Thales hatte, zur Zeit des Anaxagoras, und jetzt zum Gebrauche seines Selbstbewußtseins gekommen ist, das seit dem 16. Jahrhundert gleichsam in die Vierziger-jahre getreten ist: die Biographie dieses Wesens ergab eine Geschichte der Philosophie.

Daraus ersehen Sie aber zugleich, wie wirklich die Geisteswissenschaft das, was sonst abstrakt ist, lebendig macht, richtig belebt. Was für trockenes Gestrüpp ist zuweilen das, was man sonst «Geschichte der Philosophie» nennt! Und was wird aus dieser Geschichte der Philoso­phie, wenn man weiß, sie ist die Biographie eines Wesens, das da hineinverwoben ist in unser Dasein, nur daß es sich statt mit Erdengeset­zen mit Sonnengesetzen entwickelt!

Solches wollte ich noch hinzufügen zu allem, was ich Ihnen in diesen Zeiten gesagt habe über die Lebenskräfte, die uns aufgehen, wenn wir die Geisteswissenschaft nicht wie eine Theorie betrachten, sondern wenn wir in ihr suchen die Führerschaft zum Lebendigen. Und wir finden das Lebendige eben durch die Geisteswissenschaft. Dasjenige, was so unle­bendig ist, so strohern wie die Geschichte der Philosophie oftmals ist, das wird, wenn wir uns. der Führung der Geisteswissenschaft anver­trauen, so daß uns aus dem Nebel der Geschichte der Philosophie ein

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Wesen entgegentritt, zu dem wir aufschauen wie zu einer Göttin, die herabsteigt aus göttlichen Wolkenhöhen, die wir jung sehen in alten Zeiten, die wir heranwachsen sehen, allerdings mit der Langsamkeit, daß ein Jahrhundert einem Jahre des Menschenlebens entspricht. Aber lebendig wird das alles. Die Sonne geht uns auf, wie die Sonne innerhalb des Erdendaseins selber. Denn so wie die Sonne aufgeht auf dem physischen Plan, so sehen wir die alte Sonne noch hereinstrahlen in die Erdenwelt in einem Wesen, das eine längere Lebensdauer hat wie der Mensch. Wie wir das Werden eines Menschen auf dem physischen Plan von der Geburt bis zum Tode verfolgen, so verfolgen wir das philoso­phische Werden, indem wir ein Wesen in ihm schauen.

Wenn wir so anschauen das, was uns die Anthroposophie sein kann, dann kommen wir dazu, in dieser Anthroposophie zu schauen eine wirkliche Führerin nicht nur zur Erkenntnis, sondern eine Führerin zu lebendigen Wesen, die uns umgeben, ohne daß wir von ihnen etwas wissen.

Ja, meine lieben Freunde, so etwas erfühlte auch Christian Morgen­stern. Und indem er solches fühlte, fühlte in dem Tiefsten seines Seelenwesens, konnte er aufzeichnen - unser Freund Christian Morgen­stern - eine schöne Empfindung, die so recht eine anthroposophische Empfindung ist, die zeigt, wie eine Seele sich aussprechen kann, welche im tiefsten Inneren sich eins weiß mit unserer Anthroposophie, nicht bloß als mit etwas, was uns Erkenntnis über dieses oder jenes gibt, sondern als etwas, was uns belebt. Ein wunderbares Beispiel für ein solches Sich-Belebenlassen von der Anthroposophie ist das, was wir in dem schönen Gedichte «Luzifer» unseres Christian Morgenstern finden, in jenem Gedichte, das, ich möchte sagen, in bezug auf die Empfindung so ganz in dem Hauche lebt, von dem man etwas fühlt, wenn man so, wie es heute versucht worden ist anzudeuten, den Übergang findet von der Darstellung der Idee in der Anthroposophie zu dem Ergreifen lebendiger Wesenheiten.

Ich will mein Licht vor eurem Licht verschließen,

ich will euch nicht, ihr sollt mich nicht genießen,

bevor ich nicht ein Eigenlicht geworden.

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So bring ich wohl das Böse zur Erscheinung,

als Geist der Sonderheit und der Verneinung,

doch neue Welt erschafft mein Geisterorden.

Aus Widerspruch zum unbeirrten Wesen,

aus Irr-tum soll ein Götterstamm genesen,

der sich aus sich - und nicht aus euch - entscheidet.

Der nicht von Anbeginn in Wahrheit wandelt,

der sich die Wahrheit leidend erst erhandelt,

der sich die Wahrheit handelnd erst erleidet.

Wenn Sie die Empfindung dieses Gedichtes so nehmen, daß Sie dabei bedenken, wie lebendig werden kann das, was in der Anthroposophie theoretisch verstanden wird, so daß man gleichsam durch unsere Gei­steswissenschaft anfassen kann die Wesen, die aus dem dunklen Abgrunde des Seins an uns herantreten, wenn Sie dieses Gedicht so nehmen, wie Sie angeregt werden können durch die Empfindungen, die ich durch den heutigen Vortrag anregen wollte, dann werden Sie sehen, daß diese Gestalt des Luzifer wirklich in wunderbarer Weise empfun­den, gestaltet ist. Damit ist ein Musterbeispiel gegeben, wie dasjenige, was die Anthroposophie an uns heranbringt, in uns lebendig werden kann, unsere ganze Seele ergreifen kann.

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DRITTER VORTRAG Dornach, 30. Januar 1915

Im Grunde genommen geht aus den mannigfaltigen Betrachtungen, die wir nun im Laufe der Zeit hier angestellt haben, doch hervor, daß wirkliche, echte Kunst zuletzt zurückgeht auf die Geheimnisse der Initiation. Wir haben das ja an verschiedenen speziellen Beispielen, wenigstens schon hinweisend, erörtert. Große Kunstepochen, solche Kunstepochen, in denen über die Menschheit hinleuchtende künstleri­sche Taten geschehen, ziehen ihre künstlerischen Quellen immer wieder und wiederum aus der Initiation heraus. Damit ist darauf hingewiesen, wie die Kunst das spirituelle Leben hereinbringt ins physische Leben. Die Initiation eröffnet dem Menschen die Möglichkeit, fortzuschreiten von dem physischen Plan in die geistigen Welten hinein, und was dann in den geistigen Welten erfahren, erlebt werden kann, mehr oder weniger bewußt, das wird von wahrer Kunst heruntergetragen in die physischen Formen, durch die sich die Kunst zum Ausdruck bringt.

Nun wird man den ganzen Zusammenhang, der hiermit gemeint ist, doch erst so recht durchschauen, wenn man darauf Rücksicht nimmt, daß die letzten Jahrhunderte der Menschheitsentwickelung wirklich vieles zugedeckt haben, unsichtbar, unwahrnehmbar gemacht haben für die weitaus meisten Menschen, was vor selbst fünf, sechs, sieben Jahr­hunderten noch durchaus nicht in demselben Grade ein Geheimnis war, wie es heute für diejenigen, die sich Kulturmenschen nennen, ein Ge­heimnis ist.

Um auf eine bedeutsame Tatsache hinzuweisen, sei das Beispiel eines ja wirklich über die Zeiten hinleuchtenden Kunstwerkes gewählt, der «Göttlichen Komödie» Dantes. Wer wird, wenn er wirklich die «Göttli­che Komödie» auf sich wirken läßt, nicht den spirituellen Zug walten sehen durch dasjenige, was Dante zum Ausdruck gebracht hat! Heute wird man gerne geneigt sein, wenn es sich darum handelt, zu sagen, wie Dante zu den grandiosen Bildern seines Gedichtes gekommen ist, das Wort «Phantasie» zu gebrauchen und sich zufrieden geben damit, daß man sagt: Nun ja, in Dante hat eben die künstlerische Phantasie gewirkt.

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- Selbstverständlich soll nicht geleugnet werden, daß in Dante die künstlerische Phantasie gewirkt hat. Aber selbst historisch, äußerlich historisch ware es unrichtig, wenn man glauben wollte, daß Dante, so wie aus dem Nichts heraus, aus der Phantasie sein ganzes grandioses Gedicht geschaffen hätte.

Dante hatte einen Lehrer und Freund, Brunetto Latini, und ich denke, man wird aus dem, was wir gleich werden zu sagen haben, erkennen, daß Brunetto Latini im wahrhaften Sinne ein Initiierter genannt werden kann. Wenn wir damit also den Zusammenhang eines nach den Verhält­nissen seiner Zeit Initiierten mit Dante haben, so haben wir ja den Zusammenhang, den wir gerade gegenüber unseren Anschauungen aufs gründlichste betonen müssen.

Eines wußte die damalige Zeit: daß man den Weg durch die Wiederge­burt des Menschen gehen müsse, wenn man hinter die Geheimnisse des Daseins kommen will. Und das war vor allen Dingen in der damaligen Zeit noch unbedingt lebendig, daß der Weg zur Welterkenntnis durch die Selbsterkenntnis führt. Nur darf man diese Selbsterkenntnis nicht so oberflächlich betrachten, wie man heute oftmals von Selbsterkenntnis spricht. Wer glaubt nicht in der Lage zu sein, über sich selbst etwas zu wissen! Ich möchte durch ein kleines Beispiel einleitend Ihnen zum Bewußtsein bringen, wie schwierig Selbsterkenntnis schon in den aller­elementarsten Dingen ist, wie wenig der Mensch eigentlich geneigt ist, auf das wirklich loszugehen, was man Selbsterkenntnis nennen kann.

Ich habe hier ein Buch von einem ganz berühmten Philosophen der Gegenwart, ein Buch von Dr. Ernst Mach, der eine ganze Reihe für die Gegenwart durchaus charakteristischer Werke geschrieben hat. Er macht gleich auf Seite 3 seiner «Analyse der Empfindungen» eine Anmerkung, wo er über den Zusammenhang des Physischen mit dem Psychischen spricht, eine Anmerkung, die ganz charakteristisch ist. Er sagt: «Als junger Mensch erblickte ich einmal auf der Straße ein mir höchst unangenehmes, widerwärtiges Gesicht im Profil. Ich erschrak nicht wenig, als ich erkannte, daß es mein eigenes sei, welches ich an einer Spiegelniederlage vorbeigehend durch zwei gegen einander geneigte Spiegel wahrgenommen hatte.»

Also er ging, und sein Karma trug ihn vorbei an einer Spiegelniederlage,

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wo zwei Spiegel so geneigt waren, daß er sich selbst sehen konnte. Und da sah er dieses ihm unangenehme Gesicht, von dem er dann entdeckte, daß es sein eigenes sei. Also selbst in bezug auf dieses Äußerlichste ist es nicht ganz leicht, auch nur die elementarste Selbst­erkenntnis zu gewinnen.

Aber noch eine andere Anmerkung macht der Betreffende. Er wird Universitätsprofessor und hat sich so eine Anschauung gebildet, wie ein höherer Schulmeister aussieht. «Vor nicht langer Zeit stieg ich nach einer anstrengenden nächtlichen Eisenbahnfahrt sehr ermüdet in einen Omni­bus, eben als von der anderen Seite auch ein Mann hereinkam. , dachte ich. Ich war es selbst, denn mir gegenüber hing ein großer Spiegel.» Und nun fügt er erklärend hinzu: «Der Klassenhabitus war mir also viel geläufiger als mein Spezialhabitus.» Er hatte sich die Vorstellung gebildet von einem Schulmeister, und das wußte er, daß der, der da hereinstieg, so aussah wie ein herabgekommener Schulmeister. Erst hinterher entdeckte er, daß er es selber war.

Das ist ein schönes Beispiel für die oft recht mangelnde Selbsterkennt­nis, selbst in bezug auf die äußere Gestalt; aber mit der seelischen Selbsterkenntnis geht es noch schwieriger. Dennoch ist ja diese individu­ell-persönliche Selbsterkenntnis nichts anderes als der allerelementarste Anfang, der Anfang jenes Weges, der durch den Menschen hindurch in die weiten, universellen Geheimnisse des Daseins führt.

Wenn wir äußerlich auf dem physischen Plan die Welt betrachten, so haben wir ja innerhalb dieser physischen Welt wirklich nur alles dasje­nige, was zum alleräußersten Wesen des Menschen gehört, nämlich zum Gefüge des physischen Menschenleibes. Wir können sagen: Wenn wir die weite Umgebung, die wir überschauen können auf dem physischen Horizont, ins Auge fassen, dann haben wir da alles dasjenige, was verwandt ist unserem äußeren physischen Menschenleib. Wir müssen uns klar sein, daß das nur ein Teil unserer Gesamtwesenheit ist, daß dahinter der Ätherleib liegt. Aber was alles ähnlich dem Ätherleib in der Umgebung des Menschen ist, das ahnt ja der Mensch zunächst nicht; noch weniger ahnt er, was ähnlich ist seinem Astralleib, was ähnlich ist seinem Ich.

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Der Mensch muß, weil er ja zunächst hier auf der Erde für sich selbst das einzige Beispiel ist, welches ihm aus der geistigen Welt Dokumente herträgt, er muß durch diese seine eigenen Dokumente durchgehen, er muß durch sich hindurchgehen! Das haben alle diejenigen, die etwas von der Initiation erlebt haben, gewußt; das hat auch Brunetto Latini ge­wußt.

Nun ist bei ihm, bei diesem Lehrer und Freund Dantes, besonders charakteristisch, daß - was sehr häufig ist - durch ein besonderes Ereignis ausgelöst wird dasjenige, was man Initiation nennt. Im Grunde genommen erwartet eigentlich ein jeder, der sich auf den Pfad der Geisteswissenschaft begibt, daß über kurz oder lang für ihn die Tore der geistigen Welten sich öffnen werden. Sie werden es auch. Es kann ja allerdings vorkommen und kommt oftmals vor, daß das Hineingehen in die geistige Welt allmählich erfolgt, daß wir langsam hineinwachsen in die geistige Welt; aber sehr häufig ist es auch so, daß durch eine Art plötzlichen Ereignisses, wie durch eine Art Lebensschock, der über uns hereinbricht, die geistige Welt uns geöffnet wird. Und so erzählt denn Brunetto Latini selber, wie er als Gesandter zum Beherrscher Kastiliens geschickt worden war, wie er wieder zurückkehrte, wie er auf dem Wege erfuhr, daß aus Florenz seine Partei, die Welfische Partei, vertrieben worden war, daß Florenz sich vollständig verändert hatte während seiner Abwesenheit. Das brachte ihn in Verwirrung. Mit solcher Verwirrung der äußeren, für die physische Welt geeigneten Seelenverfassung ist oftmals das verbunden; was den Anfangspunkt bildet für das Herein­kommen in die geistige Welt.

Er erzählt weiter, wie er infolge der Verwirrung statt nach Hause in einen benachbarten Wald hineingeritten ist, ganz besinnungslos, wie er nachher in der Erinnerung glauben muß. Als er zur Besinnung kam, war es ihm ganz eigentümlich: da sah er nicht die gewöhnliche Welt des physischen Planes um sich herum, sondern da sah er etwas wie einen mächtigen Berg vor sich. Er kam nicht zur Besinnung in dem Bewußt­sein, das zunächst der physischen Welt gegenübersteht, sondern er kam zum Bewußtsein gegenüber einer ganz anderen Welt, als diejenige war, die ihn physisch umgab. Ein mächtiger Berg. Die Dinge waren aber so, daß sie kamen und gingen, entstanden und wieder vergingen. Und an der

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Seite dieses Berges stand eine Frau, nach deren Befehlen dasjenige, was entstand, entstand, und dasjenige, was verging, verging.

Die Gesetzmäßigkeit des natürlichen Geschehens sah Brunetto Latini in der Form einer Imagination. Die ganzen Naturgesetze und ihre Gesetzmäßigkeit, die schaffende, webende, wesende Natur kamen ihm vor in der Imagination in der Gestalt einer Frau, die die Befehle gab, wie da die Dinge entstehen und vergehen sollten.

Wir sehen, wir leben in der Zeit des 13., 14. Jahrhunderts, wir leben in der Zeit, in welcher die naturwissenschaftliche Denkweise nach und nach heranrückt. Dasjenige, was man später abstrakt die Naturgesetz­lichkeit nannte, wovon man sich später durchaus nicht hat vorstellen wollen, daß etwas Wesenhaftes dahinter ist, das sah Brunetto Latini in Form der Imagination von einer Frau, aus deren Geiste, wie in einem diese von ihm auch imaginierte Natur beherrschenden Worte, dasjenige hervorging, was später in abstrakter Form als Naturgesetzmäßigkeit empfunden wurde. Diese Frau sagte ihm dann - so erzählt er -, er solle seine Seelenkräfte vertiefen, dann werde er immer tiefer in sich hinein­kommen. - Und nun ist es interessant, wie sie, gleichsam ihre Kraft über ihn ausstrahlend, ihm die Möglichkeit gibt, immer tiefer in sich hinein-zukommen. Es ist das Untertauchen in die eigene Wesenheit Und die Reihenfolge, die er angibt, ist wirklich für gewisse Verhältnisse die richtige Reihenfolge der Initiation.

Das erste, sagt er, was er nun kennenlernte, das waren die Seelen-kräfte. Also indem man da in sich untertaucht, lernt man das, was einem ja sonst unbewußt bleibt, wirklich kennen: die eigenen Seelenkräfte. Und dieses Erkennen der eigenen Seelenkräfte, das ist ja allerdings etwas, was leicht der Mensch, wenn er wirklich an sie herankommt, flieht. Denn es ist schon wirklich oftmals so, daß uns diese Seelenkräfte, wenn wir sie wahrnehmen, unsympathisch vorkommen, daß wir uns sagen:

Was für eine unsympathische Seele ist das! - Und das will man dann nicht. Gerade so, wie es dem guten Professor gegangen war, als er seine eigene Gestalt gesehen hat und sie ihm recht unangenehm vorkam. Man will sie nicht sehen! Denn innerhalb dieses Chores von Seelenkräften sieht man so manches, was man an sich hat, was man sich durchaus im gewöhnlichen Leben nicht zuschreibt. Aber man sieht es in einer Weise,

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daß es an der Gesamtheit unseres Wesens arbeitet, an der Erhöhung, aber auch an der Verringerung unseres Wesens, daß es uns wertvoller oder weniger wertvoll macht für das Gesamtdasein des Universums.

Also wir steigen da zuerst herein in die Seelenkräfte. Die nächste Stufe, die man dann erlebt, ist diejenige der vier Temperamente. Wie wir da zusammengewoben sind aus dem cholerischen, melancholischen, sanguinischen, phlegmatischen Temperament, und wie dieses Zusam­menweben tiefer unten liegt als die Seelenkräfte, das wird zunächst klar. Und erst wenn man durch die Temperamente gegangen ist, kommt man zu dem, was man im okkulten Sinne die fünf Sinne nennen kann. Denn so wie der Mensch zunächst von diesen fünf Sinnen spricht, ist es ja nur, wie er sie von außen kennt. Er kennt sie ja nur von außen, diese fünf Sinne. Innerlich kann man die Sinne nur kennenlernen, wenn man durch die Temperamente heruntergestiegen ist in tiefere Regionen des eigenen Selbstes. Dann sieht man die Augen, die Ohren, die anderen Sinne von innen, das heißt, man erlebt zum Beispiel seine eigenen Augen, seine eigenen Ohren, sie ausfüllend von innen. Sie müssen sich, sagen wir, folgendes vorstellen: Statt daß Sie hier hereingehen durch diese Tür in diesen Saal und hier die Gegenstände und Personen wahrnehmen, die schon darinnen sind, so kommen Sie, wenn Sie dieses Hinuntersteigen­in-sich-Selbst durchmachen, in die Region, sagen wir, Ihrer Augen oder Ohren. Innerhalb dieser Region nehmen Sie wahr, wie von innen heraus die Kräfte arbeiten, um das Sehen und das Hören zustande zu bringen. Sie nehmen eine ganz komplizierte Welt wahr, eine Welt, von der ein Mensch, der nur den äußeren physischen Plan kennt, keine Ahnung hat.

Gewiß wird mancher sagen: Nun ja, aber imponieren wird mir doch nicht diese Welt der Augen und Ohren! Die Welt des physischen Planes, die ich um mich habe, ist groß, aber die Welt der Augen und Ohren ist klein; da schaue ich in eine kleine Welt hinein. - Das aber ist eine Maja! Was Sie überschauen, wenn Sie in Ihrem eigenen Ohre drinnen sind, wenn Sie in Ihrem eigenen Auge drinnen sind, ist viel größer, viel voller als die äußere physische Welt; da haben Sie eine viel reichere Welt um sich herum.

Und dann erst, wenn man durch diese Region durchgegangen ist, kommt man in die Region der vier Elemente. Wir haben ja von all diesen

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Eigentümlichkeiten der einzelnen Elemente auch gesprochen. Dann erst fühlt man sich darinnen im Erdigen, im Wässerigen, Luftförmigen und Wärmeartigen.

# Bild s. 54

So wie der Mensch seine Sinne kennt, kennt er sie von außen, aber hier lernt er sie von innen kennen. Also er geht hier mit dem Bewußtsein von innen in das Auge hinein, durchbricht dann das Auge, und so durch das Auge brechend, kommt er in die vier Elemente hinein. Er kann auch durch das Ohr durchbrechen oder durch den Geschmackssinn. Von diesen Elementen ist der Mensch fortwährend umgeben, aber er weiß doch nicht, wie sie innerlich sind. Wie sie innerlich sind, das kann man nicht sehen mit den äußeren Sinnesorganen; da muß man zuerst aus diesen Sinnesorganen herauskommen, aber von innen, muß sie dann wieder wie durch Tore verlassen, muß hinaussteigen durch seine Augen und seine Ohren. Da schlüpft man also durch das Auge durch, schlüpft durch das Ohr durch und kommt dann in die Region der Elemente hinein. Dadurch lernt man kennen, was in dieser Region der Elemente selber als Geistiges lebt: also die verschiedenen Arten von Naturgeistern und diejenigen Wesenheiten, die zu den an die Menschen zunächst angrenzenden Hierarchien gehören.

Dann kommt man weiter, kommt in die Region der sieben Planeten hinein. Da ist man schon weiter draußen, da lernt man schon dasjenige kennen, was schöpferisch mit uns verbunden ist im großen Universum. Und dann hat man, wie es immer genannt worden ist, Okeanos, den Ozean, zu durchschreiten.

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Seelenkräfte

vier Temperamente

fünf Sinne

vier Elemente

sieben Planeten

Ozean

Dieses Durchschreiten des Ozeans bedeutet das Folgende: Man kann an die Planeten noch herankommen, wenn man, ich möchte sagen, mit dem letzten Teil seines Seelenwesens im Physischen noch drinnen ist. Aber wenn man so durch die Tore der Sinne hinausgeht, durch die Elemente und die Planeten hindurch, dann muß man zuletzt selbst die letzten Reste von seinem Seelenwesen nachziehen, so daß man bewußt in den Zustand hineinkommt, in dem man sonst nur im Schlafe ist. Wenn man so mit den Planeten ist, ist man noch immer gleichsam mit einem Stück seines Seelenwesens im Leibe drinnen (siehe Zeichnung). Zieht man dies noch heraus, dann kommt einem das so vor, als ob man durchschwim­men würde den universellen Ozean des geistigen Daseins.

# Bild s. 55

Dies alles unternimmt nun Brunetto Latini; er erzählt, wie er jeden dieser Schritte unternommen hat auf das Geheiß der Frau, die ihm in seiner imaginativen Erkenntnis erscheint. Dann ermahnt ihn die Frau, er solle weitergehen. Diese Ermahnung trifft ihn aber in einem besonderen Augenblick, und das ist sehr charakteristisch.

Also bedenken Sie: Der Mann reitet, weil er perplex ist über dasjenige, was in seiner Vaterstadt geschehen ist, in einen Wald, kommt zu einer

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Besinnung, die ihn aber nicht in die physische Welt führt, sondern durch alle diese Regionen durch. Dann tritt für ihn der Moment ein, wo er

- jetzt nicht durch einen Zufall, wie man so sagt, sondern durch die Aufforderung der Frau - sich in dem Wald drinnen erblickt. Also nachdem er das alles durchgemacht hat, nachdem er hindurchgestiegen ist durch die Seelenkräfte und die Temperamente, durch die Sinne geschritten ist in die elementare Welt, dort schon reiches, geistiges Leben wahrgenommen hat, nachdem er die sieben Planeten wahrgenommen hat, durch die sieben Planeten hindurch die höheren Hierarchien, wie sie Kreis an Kreis geschlossen haben, dann sich gefühlt hat, nicht wie auf festem Grunde, sondern wie den Ozean durchschwimmend, wacht er auf in der physischen Welt.

Und dies ist das außerordentlich Wichtige, das wir auch wiedererken­nen bei allen diesen Inltlationsvorgängen: daß die Betreffenden einen Kreislauf durchmachen, daß sie zurückkommen in die physische Welt.

Brunetto Latini fühlt sich, nachdem er das alles durchlebt hat, wieder in seinem Walde. Jetzt ist er von dem, was ihn physisch umgibt, wirklich umgeben. Gleich darauf steht die Frau wieder da, aber so, daß er jetzt den physischen.Wald um sich hat, und sie sagt ihm, er solle nun nach der rechten Seite reiten. Und da gibt sie ihm Anweisung, wie er kommt zur Philosophie, zu den vier menschlichen Tugenden, und zur Erkenntnis des Gottes der Liebe.

Merken Sie, was da Bedeutsames dahinterliegt! Der Mensch der Gegenwart wird ohne weiteres sagen: Philosophie, na, das kenne ich, ich habe die ganze Geschichte der Philosophie studiert, weiß was Philoso­phie ist, was sie lehrt. Vier Tugenden: Plato hat sie genannt Weisheit, Mut, Gleichgewicht oder Mäßigkeit, Gerechtigkeit. Nun, und der Gott der Liebe, wer kennt ihn nicht? - man braucht nur die vier Evangelien zu lesen! Kurz, der Mensch der Gegenwart kennt das alles. Das ist aber das Charakteristische mit Bezug auf die geistige Erkenntnis: man fängt an zu sehen, daß man das alles nicht kennt, daß man erst hindurchgehen muß durch das Begreifen der geistigen Welt und dann zurückkommen muß zu dem, was die physische Welt gibt, und dann erst die physische Welt begreifen kann.

Also Brunetto Latini würde, wenn er jetzt aufstehen würde, und es

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würde zu ihm ein sehr gelehrter Herr der Gegenwart kommen, nehmen wir an, ein ganz berühmter Professor der Philosophie, und er würde sagen: Ich kenne die ganze Philosophie -, da würde Brunetto Latini antworten: Ja, gewiß kennst du sie, aber in Wahrheit weißt du gar nichts von ihr. Du mußt zunächst kennenlernen das Aussehen der übersinnli­chen Welten, mußt wissen, wie es in den übersinnlichen Welten beschaf­fen ist; dann kommst du zurück zur Philosophie, und dann ist sie für dich etwas ganz Neues, dann erst wirst du anfangen, eine Ahnung zu haben von dem, was du jetzt glaubst ganz genau zu wissen.

Man könnte dieselbe Sache auch noch anders beschreiben. Nicht wahr, wer würde es nicht absurd finden, wenn man sagen würde: ein ganz berühmter philosophischer Kopf schreibt ein philosophisches Buch, aber er versteht es nicht. Das muß er doch verstehen, nicht wahr? Wenn er ein philosophisches Buch schreibt, wie sollte er das nicht verstehen, was er selber geschrieben hat! Ja, aber es ist buchstäblich wahr, daß er das Buch geschrieben haben kann und doch nichts davon zu verstehen braucht, was er geschrieben hat. Es ist heute gar nicht schwie­rig, ein Buch zu schreiben: sie schreiben sich von selber. Die Dinge, nicht wahr, die man nachsagen gelernt hat, die komponiert man zusam­men, aber man braucht deshalb nicht einzudringen in den tieferen Sinn der Sache. Das ist das Gewaltige, das uns bei Brunetto Latini entgegen­tritt, daß er durch geistiges Erkennen dasjenige kennenlernen will, was die anderen durch äußeres Studium kennenlernen, und daß er erst, nachdem er hindurchgegangen ist durch die geistige Welt, dann wie­derum antrifft das, was die anderen zu haben glauben von der physi­schen Welt her: die Erkenntnis der Philosophie, die Erkenntnis der vier Tugenden und die Erkenntnis des Gottes der Liebe.

Ich möchte gerne, daß dies, was ich mit den letzten Auseinanderset­zungen meine, ganz verstanden werde, meine lieben Freunde! Gewiß, eine bestimmte Art von Kenntnis der Dinge ist schon zu erlangen, auch ohne geistiges Erkennen; aber die Dinge erscheinen in einem ganz neuen Lichte, erscheinen als etwas ganz anderes, wenn man sich zuerst bekannt gemacht hat mit dem, was hinter der physischen Welt liegt. Und so sehen wir gerade an dem Beispiel des Zusammenhanges des Brunetto Latini mit Dante, das ich nur aus diesem Grunde angeführt habe, wie

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äußeres künstlerisches Schaffen zusammenhängt mit der Initiation, so sehen wir, wie in der Tat das große Kunstwerk Dantes zusammenhängt mit der Initiation. Dante hätte zu seiner eigentümlichen Art, sich zur geistigen Welt zu stellen, nicht kommen können, wenn er nicht Brunetto Latini zum Freund und Lehrer gehabt hätte, der ihn hinaufgezogen hat in die geistige Welt.

Jedes Zeitalter hat eine besondere Art, die geistige Welt zu suchen. Wir finden schon in den dem Danteschen Zeitalter vorangehenden Jahrhunderten immer wieder und wiederum bei den verschiedensten Initiierten jene Frau, von der auch Brunetto Latini spricht, jenes Hinein­geführtwerden in die geistige Welt durch diese Frau. Einzelne - und diese ganze Entwickelung geht ja zurück bis ins 7., 8. Jahrhundert -, einzelne nennen geradezu diese Frau «Natura», die lebendige, schaffende Natur. Alte Eingeweihte beschrieben diese Frau, die lebendige, schaf­fende Natur als die Beraterin des Nus, des die Welt durchschaffenden Verstandes, der die Welt als Nus durchsetzenden, weisheitsvollen Ver­nunft, und sie nennen diese Frau eine Verwandte der Urania. Während Nus draußen im Kosmos beraten wird von Urania, wird er in unseren Gegenden, unseren irdischen Gegenden beraten von der Natura. Und wenn man die ganze Sache durchschaut, so wird man zurückgeführt auf die andere Art, durch welche in viel älteren Zeiten die Eingeweihten gewissen Geheimnissen des Daseins nahezukommen versuchten, und dann finden wir in älteren Zeiten diese Frau wieder in Proserpina, in der Persephone, die der Mutter Demeter das Gewand webt. So verändern sich die Imaginationen im Verlaufe der Jahrhunderte, aber aus all diesen Imaginationen müssen wir entnehmen, daß das, was im fortlaufenden Strom der Menschheit gewirkt hat, eben die Geheimnisse der Initiation sind.

Um diesen Dingen recht nahezukommen, gehört allerdings dazu, daß man sich durchdringt mit dem lebendigen Gefühle, daß in allem, was in der Welt geschieht, nicht nur diejenigen Kräfte und Wesenhaftigkeiten wirksam sind, welche die äußeren Sinne und der äußere Verstand wahrnehmen können, sondern daß überall das Geistige wirksam ist. Wir müssen aber rechnen damit, daß dasjenige, was der Mensch heute, und schon seit langer Zeit, «geistige Entwickelung» nennt, ja nichts anderes

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ist als die Entwickelung jener Kräfte, die an die physische Leiblichkeit gebunden sind. Man nennt ja heute vielfach geistige Entwickelung die Entwickelung der Kräfte, die an die physische Leiblichkeit gebunden sind. Das hat sich nach und nach entwickelt. Wir wissen ja, daß in alten Zeiten Hellsehen als der normale menschliche Zustand vorhanden war. Dieses ist allmählich abgeflutet und abgedämmert, und das, was wir heute geistige Entwickelung nennen, ist etwas, was durchaus an den physischen Menschen gebunden ist.

In der Zeit des Mysteriums von Golgatha trat allerdings mit diesem Mysterium von Golgatha etwas in die menschliche Entwickelung ein, das groß, so gewaltig ist, daß es erst nach und nach ganz wird begriffen werden können. Was der Mensch bisher hatte, war eine Art Tradition. Mit dem Aufwand der letzten Reste atavistischer Hellseherkraft haben die Evangelienschreiber aufgezeichnet, was geschehen ist; aber das ist, wie gesagt, ein letzter Aufwand. Und jetzt fangen wir an, mit der neuerschlossenen Hellseherkraft die ersten Wahrheiten des Mysteriums von Golgatha wiederum zu begreifen. Wir müssen begreifen, daß die kommenden Zeiten tiefer und tiefer hineindringen werden in diese Ge­heimnisse des Mysteriums von Golgatha. Wir stehen durchaus erst am Anfang davon. Doch wir fangen eben an. Gewirkt hat der Impuls des Mysteriums von Golgatha aber seit jenem Zeitpunkt, seit dem das Christus-Leben durch die Erde durchgegangen ist. Hätten die Men­schen vom Christentum - ich habe das schon öfter betont - nur das­jenige gehabt, was sie einsehen können, dann hätten sie nicht viel vom Christentum gehabt. Hätte der Christus-Impuls nur durch dasjenige wirken können, was sie haben begreifen können, dann hätten sie in den verflossenen Jahrhunderten wirklich recht wenig von dem Christus gehabt.

Ich habe öfter zwei Beispiele angeführt - ich könnte viele anführen -, aus denen wir sehen, wie der Christus wirkt in der menschlichen Seele, in dem, was also durch die historische Entwickelung der Menschheit durchgeht, von dem die Menschen aber nichts wissen können. Denn wahrhaftig, das, was der Kaiser Konstantin gewußt hat vom Christus-Impuls, als er selbst sich zum Christentum bekehrt hat und das Chri­stentum zur Staatsreligion gemacht hat, war sicher herzlich wenig. Aber

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dadurch, daß Konstantin, der Sohn des Constantius Chiorus, des Blas­sen, den Sieg errungen hat über Maxentius, wurde in Rom der Anstoß zur Einführung des Christentums gegeben. Die ganze Einrichtung ist so, daß spezielle Kräfte zugrunde liegen, so daß überall dieser Christus-Impuls wirkt. Die Sibyllinischen Bücher wurden von Maxentius zu Rate gezogen. Sie gaben ihm die Auskunft - ich habe das zum Beispiel im Leipziger Zyklus vor einem Jahre erwähnt -, wie er es machen sollte gegenüber dem heranrückenden Heere des Konstantin. Aber auch einen Traum hatte er. Diesem Traum und den Sibyllinischen Büchern folgend, ging er mit dem Heer, das viermal stärker war als das Heer des Konstantin, aus der Stadt dem Konstantin entgegen, was nach allen Kriegsregeln ein Fehler war.

Konstantin träumte auch davon, daß er siegen würde, wenn er seinem Heere vorantragen lassen würde das Symbolum des Kreuzes Christi, was er auch tat. Nicht durch alle menschliche Weisheit, deren man da­mals hatte teilhaftig werden können, sondern durch Träume wurde alles entschieden. Aber durch die Träume hindurch wirkte etwas, was nicht begriffen werden konnte, was aber doch der lebendige Christus-Impuls war. Wirklich, es konnten die Menschen nicht verstehen, was in ihnen wirksam, tätig, lebendig wirkte, und was die Weltentwickelung weiter brachte, was dazumal dem europäischen Kontinent sein Antlitz gab.

Und wiederum finden wir eine Zeit, in welcher wir sehen können, wie die Menschen mit ihrer Vernunft, mit ihrem Verstand, auch mit ihrem Gefühlsvermögen sich herumzanken über allerlei Dogmen; Dogmen, die heute den Aufgeklärten recht sonderbar vorkommen: ob es richtig sei, die Kommunion unter einer oder unter zwei Gestalten zu nehmen und so weiter. Wir wissen, mit welcher Heftigkeit diese Streitigkeiten spiel­ten, die dann später im Hussitismus, bei Wiclif und so weiter, zum Austrag gekommen sind. Aber solche Streitigkeiten gab es immer. Sie sind ein Beweis dafür, wie wenig heranreichte der Verstand des Men­schen an dasjenige, was der Christus-Impuls wirklich war.

Wo aber kam in einem wichtigen Augenblick der Christus-Impuls wirklich zum Vorschein? Ich habe auch darauf öfter hingewiesen. In einem Hirtenmädchen, in der Jungfrau von Orleans kam er in einer Art

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Schau zum Vorschein. Und nun müssen wir uns klar sein, daß das eine Art Nachhilfe ist der übersinnlichen, der spirituellen Kräfte, die da hereinwirken in das Gefühl der Menschen in einer Zeit, wo sie noch nicht in die menschlichen Begriffe hereinwirken konnten.

Bei Jeanne d'Arc war die Sache ja ganz besonders interessant. Ihr Inneres war aufgeschlossen; aber nicht dasjenige war aufgeschlossen, was an den physischen Leib gebunden ist, sondern aufgeschlossen war das Wahrnehmen ihres ätherischen, ihres astralischen Wesens. Aber es war so aufgeschlossen, daß wir in der Tat ein Analogon bei ihr finden für die Initiation. Inwiefern?

Nun, erinnern Sie sich einmal, wie wir neulich in einem gehörigen Zeitpunkt hier zum Vortrage gebracht haben die Geschichte von Olaf Ästeson: wie Olaf Ästeson die Tage nach Weihnachten durchschlief und erst wieder aufwachte am Dreikönigstag, am 6. Januar. Wir haben daran gewisse Bemerkungen geknüpft: daß in der Jahreszeit, wo die äußeren physischen Sonnenstrahlen die geringste Kraft haben, die geistige Kraft, welche die Erde umhüllt, die größte ist. Deshalb ist das Weihnachtsfest mit großem Recht in die Zeit gelegt, in der physisch die größte Finsternis ist. In der Finsternis kommt die geistige Erleuchtung über die menschli­che Seele, die der Erleuchtung fähig ist. Deshalb wird uns die Legende von Olaf Ästeson erzählt: wie er gerade in der Zeit sein Seelisch-Inneres stimmt so, daß die Kräfte, die als geistig-spirituelle Lichtkräfte von der Sonne hineingehen in die Erdenaura in der Zeit, wo die äußere Sonnen-kraft am schwächsten ist, seine Seele ergreifen, und er wirklich bis in die Zeit des 6. Januar durchmacht dasjenige, was man nennen kann: ein Hereinschreiten in die geistige Welt.

Für eine große historische Mission soll die Jungfrau von Orleans angeregt werden. In ihrer Seele sollten die Impulse anwesend sein, die mit dem Christus-Impuls durch die Welt wallen und wogen. Die sollten darinnen sein in ihrer Seele. Wie konnten sie hineinkommen? Sie hätten hineinkommen können, wenn die Jungfrau von Orleans zu irgendeiner Zeit ihres Lebens etwas Ähnliches durchgemacht hätte wie Olaf Äste­son: wenn sie geschlafen hätte die dreizehn Tage nach Weihnachten und am 6. Januar aufgewacht wäre. Das hat sie allerdings nicht getan wie Olaf Ästeson; aber in gewissem Sinne hat sie in einem Schlafzustand

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durchgemacht diese Zeit, die der Initiation günstig ist, in den letzten dreizehn Tagen ihrer Embryonalzeit. Sie wurde von ihrer Mutter so getragen, daß sie durchmachte in den letzten dreizehn Tagen ihrer Embryonalzeit die Weihnachtszeit im Leibe ihrer Mutter, und daß sie am 6. Januar geboren wurde: denn das ist der Geburtstag der Jungfrau von Orleans. Das ist ein Hindurchgehen gerade durch diejenige Zeit, in der die geistigen Kräfte besonders stark in der Erdenaura walten.

Daher brauchen wir uns auch nicht zu verwundern, wenn die äußeren Dokumente es selbst feststellen, daß die Dorfbewohner an jenem 6. Januar 1412 durcheinandergerannt sind, gefühlt haben, daß etwas geschehen ist. Was denn eigentlich geschehen war an diesem 6. Januar, wußte man allerdings erst später, als die Jungfrau von Orleans ihre Mission auszuführen hatte. Für denjenigen, der die geistigen Zusammen­hänge durchschaut, bedeutet es etwas Ungeheures, daß in unserem Geburtskalender eingeschrieben steht, daß Jeanne d'Arc am 6. Januar geboren ist.

Die Zusammenhänge in der Welt sind eben tief, und der Mensch, der aufgeklärt ist, kann auch wissen - er braucht es ja nur nachzuschauen im Konversationslexikon -, wann die Jungfrau von Orleans geboren ist. Aber er weiß damit natürlich nur das Allerwenigste. Erst derjenige, der die Bedeutung des 6. Januar durch die Geisteswissenschaft kennt, lernt die ganze Bedeutung dieses Faktums erkennen.

So sehen wir selbst bei so weithin leuchtenden Tatsachen, wie man gleichsam hindurchgehen muß durch ein Begreifen der geistigen Angele­genheiten, wie man dann wiederum zurückkommen muß zu den irdi­schen Angelegenheiten und diese dann erst im vollen Sinne des Wortes verstehen kann.

Auch diese Betrachtung habe ich wiederum aus dem Grunde ange­stellt, um zu zeigen, daß wirklich dasjenige, was man heute gemeiniglich Geisteskultur nennt, alt geworden ist, dürr und trocken geworden ist, und wie derjenige, der irgend etwas begreift von den tieferen Impulsen, die durch die Welt- und Menschheitsentwickelung gehen, sich klar werden muß, daß wir vor einer Erneuerung stehen müssen, an der wir selber teilnehmen durch unser Begreifen, teilnehmen durch unsere Sehn­sucht nach der spirituellen Welt. Und je intensiver wir uns vorstellen,

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daß eine Erneuerung eintreten muß, desto besser werden wir auch die Möglichkeit finden, mitzuwirken an einer solchen Erneuerung.

Mit dem bloßen kleinlichen Verändern und Reformieren des Alten ist für die Zukunft nicht mehr gedient; es handelt sich um eine radikale Erneuerung desjenigen, was man menschliches Geistesleben nennen kann. Denn so verschieden dasjenige ist, was Geisteswissenschaft in unserem Sinne genannt wird, von dem, was heute in den weitesten Kreisen draußen über das geistige Leben gelehrt wird, so verschieden wird die Zukunftskultur von der Kultur der Gegenwart sein. Und wenn heute die Menschen leicht finden, daß dasjenige, was Geisteswissen­schaft treibt, eine Phantastik, vielleicht eine Narretei ist, so bedeutet das nichts Geringeres, als daß die Menschen der Gegenwart alles, was die Geisteskultur der Zukunft beherrschen wird, zugleich eine Phantasterei, eine Narretei nennen.

In solcher Zeit aber muß eine Wiedergeburt des menschlichen Seelen­lebens stattfinden. Da müssen sich alle Zweige des menschlichen Lebens in den Impuls dieser Erneuerung, dieser Wiedergeburt hineinleben. Da muß auch alles Künstlerische wiederum nahe an die Initiation heran­kommen. Und damit haben wir die Gründe angegeben, warum einmal versucht werden mußte, in unserem Dornacher Bau ein Anfangswerk zu schaffen, das bei allen seinen Unvollkommenheiten dennoch in allen seinen Einzelheiten zusammenhängt mit dem, was die Wissenschaft der Initiation für unsere Gegenwart zu sagen hat.

Nur dadurch, daß die Ergebnisse der Geisteswissenschaft lebendig in unseren Seelen werden und als lebendiges Ergebnis in der äußeren Form zum Ausdruck kommen, nur dadurch hat dasjenige, was in unserem Bau entsteht, seinen entsprechenden Wert, und wird ihn haben als Ausgangs­punkt, nicht als etwas, was schon vollendet ist. Man möchte wünschen, daß die Sache so angesehen wird und daß insbesondere in unserem Kreise intensiv das Bewußtsein vorhanden ist: Es besteht ein inniger Züsammenhang zwischen dem, was wir die Jahre hindurch uns aneignen wollten als Geisteswissenschaft, und dem, was in jeder Linie, in jeder Einzelheit unseres Baues enthalten ist. Dann, wenn wir selber von dieser Erkenntnis durchdrungen sind, werden wir durch unseren Bau der Welt dasjenige sagen können, was der Welt notwendigerweise gesagt werden

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muß. Und dann werden wir mit Befriedigung in die Zukunft sehen können, die aus den elementaren, primitiven Anfängen dieses Dornacher Baues heraus immer Vollkommeneres und Vollkommeneres - aber in seiner Art - wird zu schaffen haben.

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VIERTER VORTRAG Dornach, 2. Februar 1915

Es ist schon öfter bei unseren Auseinandersetzungen die Gelegenheit gewesen, darauf aufmerksam zu machen, daß derjenige, welcher das Leben und das Dasein wirklich verstehen will, nicht eigentlich sich auf den Satz berufen darf, daß das Leben und das Dasein etwas Einfaches sei. Auf die Kompliziertheit und das Mannigfaltige der Weltenharmonie, in welche der Mensch einverwoben ist, mußte öfter aufmerksam gemacht werden, schon aus dem Grunde, weil man ja immer wieder und wieder hört, daß die Leute sagen, die Wahrheit - und sie meinen damit gewöhnlich die Wahrheit über die allerhöchsten Dinge - müsse einfach sein. Und am liebsten haben es die Menschen, wenn ihnen jemand diese Wahrheit über die allerhöchsten Dinge so charakterisiert, daß man sie eigentlich nicht zu erlernen braucht, sondern daß man sie ohne alles Lernen, so wie durch sich selbst, einfach hat.

Jeder Mensch - ich habe das öfter gesagt - gibt zu, daß er eine Uhr nicht verstehen kann, wenn er nicht gelernt hat, das Ineinandergreifen der Räder und des sonstigen Mechanismus zu begreifen. Nur gegenüber der großen, herrlichen, gewaltigen Weltenschöpfung möchten die Men­schen gern, daß man sie verstehen kann, ohne sich irgendwie anzustren­gen. Nun ist im Grunde genommen die ganze Geisteswissenschaft dazu da, uns langsam und allmählich ein Verständnis zu gewähren von dem, was eigentlich der Sinn, die Bedeutung des Daseins und des Lebens ist.

Ich möchte heute ein Kleines hinzufügen zu den Dingen, die wir schon betrachtet haben; ich möchte dabei anknüpfen an uns geläufige Begriffe und Ideen, an Ideen, die wir öfter in uns aufgenommen haben. Ausgehen möchte ich davon, daß wir oftmals vom Standpunkte der Geisteswissenschaft aus die Worte gebrauchen müssen: Das äußere Dasein, in dem wir leben, ist eine Maja oder die Maja, die große Täuschung. - Ich habe betont: Nicht das kann unsere Anschauung innerhalb der abendländischen Weltanschauung sein, als ob alles, was uns umgibt, Täuschung wäre im Sinne davon, daß es unwahr wäre. Nicht die Welt als solche, die auf unsere Sinne einwirkt, die wir erfassen

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mit unserem Verstande, ist eine Maja; diese Welt ist in dem innersten Wesen wahrhafte Wirklichkeit. Aber die Art, wie sie der Mensch anschaut, wie sie dem Menschen erscheint, das macht die Welt zur Maja, das macht sie zur großen Täuschung. Und wenn wir durch unsere innere Seelenarbeit dahin kommen, zu dem, was uns die Sinne zeigen, zu dem, was uns unser Verstand sagt, die eigentlich tieferen Grundlagen zu fin­den, dann werden wir bald einsehen, inwiefern die äußere Welt als eine Täuschung aufgefaßt werden kann. Denn dann erscheint sie uns in ihrem wahren Lichte, erscheint sie uns in der Wahrheit, wenn wir sie überall zu ergänzen, zu durchdringen wissen mit dem, was uns gegenüber der ersten Betrachtung, die wir der Welt zuwenden, verborgen sein muß.

Das gibt dem Menschen gerade sein Wesen, seine Würde, seine Bestimmung, daß er vom Weltenall, vom Universum nicht wie ein unmündiges Kind behandelt wird, dem man die Wahrheit so ohne weiteres in den Schoß wirft, sondern daß vorausgesetzt wird, daß er sich durch seine eigene Arbeit, die Arbeit seines ganzen Lebens, die Wahrheit erarbeitet. Gewissermaßen rechnen die Weltenmächte auf unsere Mitar­beit beim Erringen der Wahrheit, sie rechnen auf unsere Freiheit, auf unsere Würde.

Nun ist das ganze Menschenleben, so wie es zunächst verläuft zwi­schen Geburt und Tod, eine Maja, eine Täuschung. Es muß dieses Menschenleben eine Täuschung sein aus dem Grunde, weil wir ja stets, wenn wir die Welt nur in bezug auf ihre äußeren physischen Dinge und Vorgänge betrachten, außer acht lassen die andere Seite der Welt und dieses Weltendaseins, soferne es den Menschen betrifft, außer acht lassen dasjenige, was der Mensch durchlebt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Nun möchte man gewiß sagen: Man versteht das Menschenleben zwischen der Geburt und dem Tode, wenn man es einfach betrachtet; wozu braucht man denn da die andere Seite, das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt? - Aber schon dieses ist eine ganz unrichtige Auffassung, einfach aus dem Grunde, weil das Leben zwi­schen der Geburt und dem Tode eine Spiegelung ist des Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Dasjenige, was wir durchlebt haben in dem Leben, das unserem jetzigen physischen Leben vorangegangen

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ist, spiegelt sich ab in dem Leben, das wir verbringen zwischen der Geburt und dem Tode.

Zum Verständnis dieser Spiegelung ist es notwendig, daß wir noch zwei Dinge ins Auge fassen. Das erste ist, daß wir gewisse Etappen, gewisse Hauptpunkte unseres Lebens zwischen der Geburt und dem Tode betrachten, und gerade untersuchen, inwiefern sich diese Punkte spiegeln, herausspiegeln aus dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Dann ist es notwendig, ins Auge zu fassen, daß das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt in viel intensiverem Maße verbunden ist mit den unbekannten Welten, von denen wir sprechen durch die Geisteswissenschaft: mit jenen Vorgängen, die sich vor unserer Erdenbildung auf dem abgespielt haben, was wir den alten Saturn, die alte Sonne und den alten Mond nennen. Diese Vorgänge auf dem Saturn, der Sonne und dem Monde sind viel mehr verbunden mit dem Leben, das wir durchleben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, als mit dem Leben, das wir durchleben zwischen der Geburt und dem Tode.

Wir können sogar so sagen: Das Leben zwischen dem Tode und der Geburt ist von allen Seiten her überall beeinflußt von jenen vergangenen Leben, die wir kennen als die vergangenen planetarischen Leben von Saturn, Sonne und Mond. Dasjenige, was das Saturn-, das Sonnen- und Mondenleben bewirken in unserem verborgenen Erdenleben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, spiegelt sich wiederum in dem Leben zwischen der Geburt und dem Tode, so daß das Leben zwischen der Geburt und dem Tode ein Spiegelbild dessen ist, was zwischen dem Tode und einer neuen Geburt vor sich geht, und das, was zwischen dem Tode und einer neuen Geburt vor sich geht, das wird direkt beeinflußt von dem, was sich auf dem alten Saturn, der alten Sonne und dem alten Monde abspielte.

Gewisse Hauptpunkte, gewisse Etappen unseres Erdenlebens müssen wir ins Auge fassen, wenn wir den Vorgang im einzelnen besser verste­hen wollen.

Das erste, was zum Erdenleben gehört, ist ja das, was wir im physi­schen Dasein des Menschen die Empfängnis nennen, auf welche das Embryonalleben des Menschen folgt. Dann erst erfolgt ja die Geburt des Menschen, sein Betreten des physischen Planes.

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Nun enthüllt sich der Geisteswissenschaft eine sehr eigentümliche Tatsache in bezug auf das Menschenleben. Eigentlich haben wir in unserem ganzen Menschenleben, insofern wir es im physischen Leibe verbringen, nur einen einzigen Vorgang, der durchaus zusammenhängt mit dem Erdenleben, der also gewissermaßen rein aus dem Erdenleben heraus erklärbar ist: und das ist die Empfängnis. Sonst nichts im menschlichen Leben als die Empfängnis hat im Grunde etwas zu tun mit dem Erdenleben unmittelbar, ausschließlich. Auf dieses Wort «aus­schließlich» bitte ich Wert zu legen. Dasjenige, was geschieht bei der Empfängnis, hat nichts zu tun mit dem Monden-, Sonnen- und Saturn­leben; sondern zu dem, was durch die Empfängnis geschieht, sind die Ursachen geschaffen innerhalb des Erdenlebens.

Weil die äußere Biologie, die äußere physische Wissenschaft vorzugs­weise sich mit dem Erdenleben nur befassen will, und von ihrem Gesichtspunkte aus alles, was auf das Monden-, Sonnen- und Saturn­leben geht, als Narrheit betrachtet, so kann diese äußere Wissenschaft Wahrheit im physischen Wortsinne nur über die Empfängnis finden. Daher finden wir auch, wenn wir solche Werke wie etwa die von Ernst Haeckel durchlesen, daß am allerausführlichsten behandelt wird das, was den Menschen zusammenstellt mit den Vorgängen in den anderen Organismen und daß man sich immer auf dasjenige verlegt, was mit der Empfängnis irgendwie zusammenhängt. Überlegen Sie sich das und vergleichen Sie es mit dem, was die äußere Wissenschaft zu sagen hat, und Sie werden es bewahrheitet finden. Es geht die physisch-wissen­schaftliche Betrachtung, wenn sie die Vorgänge im Menschen betrachtet, gewöhnlich zurück bis zu den einfachsten Zellenwesen. Solche Zellen-wesen, von deren Gestalt ja auch der Mensch ausgeht - er entwickelt sich ja auch aus der befruchteten Eizelle -, solche Zellenwesen hat es aber wirklich auf dem alten Saturn, der alten Sonne und dem alten Monde nicht gegeben. Diese finden sich nur auf der Erde, und auf der Erde findet eine solche Vereinigung von Zellen statt, auf die ein so großer Wert gelegt wird von der äußeren physischen Wissenschaft.

Diese besondere Stufe unseres Lebens ist nun nichts anderes als die Spiegelung eines wirklichen realen Vorganges, der vor der Empfängnis sich schon abspielt und der mit dem menschlichen Leben zusammenhängt.

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Wir sind selbstverständlich in den letzten Zeiten unseres Lebens zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, aber auch zu der Zeit, da wir physisch empfangen werden, in der geistigen Welt. Da geht immer etwas im geistigen Leben vor sich mit uns; und von dem, was da vor sich geht, ist die Empfängnis nichts anderes als ein Spiegelbild, eine Maja. Der wirkliche Vorgang spielt sich in der geistigen Welt ab, und dasje­nige, was sich in der physischen Welt abspielt, ist ein Spiegelbild, eine Maja. Dasjenige aber, was in der geistigen Welt geschieht, ist ein Vorgang, der sich abspielt zwischen der Sonne und der Erde, und zwar so, daß das weibliche Element dabei die Beeinflussung von der Sonne her, das männliche Element die Beeinflussung von der Erde her erfährt. Also es ist der Vorgang der Empfängnis die Spiegelung eines Zusammen-wirkens von der Sonne und der Erde.

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Dadurch allerdings wird dieser Vorgang, den die Menschen oftmals in ein die Menschheit so erniedrigendes Reich herunterdrücken, zu dem bedeutsamen Mysterium, zu der Spiegelung eines kosmischen Welten-vorganges. Interessant ist dabei noch, auf einige Details aufmerksam zu machen. In demjenigen, der sich dem Zeitpunkte nähert, da er die Erde wieder betreten soll, bildet sich seelenhaft die Vorstellung der Eltern, durch die er die Erde betritt. Wie er gerade zu dem einen Elternpaar hin getrieben wird, davon kann ein anderes Mal gesprochen werden, das hängt mit dem Karma des Menschen zusammen. Das aber, worauf ich heute aufmerksam machen will, das ist, daß derjenige, der zur Geburt schreitet, von dem, was auf der Erde physisch vorhanden ist, ein Bild, hauptsächlich zunächst von der Mutter, erhält. Also es schaut derjenige,

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der zur Geburt schreitet, vorzugsweise auf die Mutter herab. Von dem Vater erhält er - und ich bitte das ins Auge zu fassen, denn es ist eine sehr bedeutsame Erscheinung - ein Bild dadurch, daß die Mutter von dem Vater ein Bild in ihrer Seele trägt. Der Vater wird also gesehen durch das Bild, das die Mutter von dem Vater in ihrer Seele trägt.

Das ist natürlich etwas, ich möchte sagen, radikal ausgesprochen, aber es ist im wesentlichen das Richtige. Man kann ja über diese übersinnli­chen Vorgänge nur so sprechen, daß man sie im wesentlichen charakteri­siert. Damit Sie nicht eine allzu feste Vorstellung bekommen, möchte ich hinzufügen, daß allerdings dann zum Beispiel, wenn es sich darum handelt, daß die geistig-seelische Erbschaft von des Vaters Seite her eine besondere Rolle zu spielen hat, daß also besondere geistig-seelische Eigenschaften von dem Vater auf den Menschen, der geboren werden soll, übertragen werden sollen, auch ein direktes Bild des Vaters zustande kommen kann. In demselben Maße aber, wie das Bild des Vaters direkt zur Wahrnehmung kommt, schwächt sich das Bild der Mutter ab.

Die nächste Stufe des physischen Erdenlebens ist dann das Leben, das zwischen der Empfängnis und der Geburt zugebracht wird. Auch dieses Leben ist im wesentlichen - wir nennen es das Embryonalleben - die Spiegelung eines anderen Vorganges, der sich vor diesem zuerst genann­ten Vorgang in der geistigen Welt abspielt. Während also die Geburt im physischen Leben selbstverständlich auf die Empfängnis folgt, geht dasjenige, wovon die Geburt eine Spiegelung ist, voran jenem Sonnen­Erdenvorgange, von dem die Empfängnis eine Spiegelung ist.

Dieses Leben, das der Mensch zubringt zwischen der Empfängnis und der Geburt, ist schon ganz und gar nicht erklärbar aus den Verhältnissen, die sonst auf der Erde sind; und es erklären wollen aus den Kräften, aus den Gesetzen der Erde, ist einfach nichts anderes als ein ganz gewöhnli­cher Unsinn. Denn es ist eben die Spiegelung eines vorgeburtlichen Vorganges, und dieser vorgeburtliche Vorgang ist im wesentlichen beeinflußt von dem, was von dem vorirdischen Mond und von der vorirdischen Sonne geblieben ist. Es ist ein Vorgang, der sich zwischen der Sonne und dem Monde abspielt, also wesentlich ein überirdischer Vorgang.

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Die Kräfte, die da tätig sind, sind vorzugsweise diejenigen, welche spielen zwischen der Sonne und dem Monde. Die äußere Wissenschaft hat in ihrem Bewußtsein noch etwas bewahrt von dieser Tatsache, indem sie das Embryonalleben nach Mondmonaten zählt und davon spricht, daß es zehn Mondmonate in Anspruch nehme.

So aufgefaßt, haben wir zu berücksichtigen, daß wir in dem Leben, das wir verbringen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, einen realen, wirklichen Einfluß erfahren von der Sonne und dem Monde her, daß wir aber in dem Leben, das wir später physisch zubringen, zwischen der Empfängnis und der Geburt, abspiegeln diesen Vorgang, der ein Sonnen- und Mondenvorgang ist.

Beachten Sie, daß selbstverständlich hier das Wort spiegeln in einem etwas anderen als dem räumlichen Sinne gebraucht ist. Beim räumlichen Spiegeln hat man den Gegenstand und das Bild zugleich, aber hier hat man das, was der reale Vorgang ist, sich zutragend vor der Geburt; das, was sich spiegelt, spiegelt sich zeitlich später. Es ist also eine Maja eines übersinnlichen, vorgeburtlichen Vorganges.

Was wir dann ins Auge fassen müssen, ist zunächst die Zeit zwischen der Geburt und jenem oftmals erwähnten, wichtigen Zeitpunkte des Menschenlebens, wo wir beginnen, unser Ich-Bewußtsein zu entfalten, wo wir anfangen, in bewußter Weise zu uns «Ich» zu sagen. Wir können es das eigentliche Kindheitsleben nennen. Diese Zeit, die wir da zubrin­gen, die erste Kindheit - meinetwillen nenne man es das Säuglingsleben -ist wieder eine Spiegelung eines Vorganges, der nun noch weiter zurück­liegt im Geistigen. Der reale Vorgang, der sich spiegelt in der Zeit, wo wir anfangen zu lallen, ohne daß wir das Sprechen mit dem Ich-Bewußtsein

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in Beziehung bringen, ist eine Spiegelung eines vorgeburtli­chen Vorganges, der noch weiter in den Kosmos hinausreicht. Und zwar wirken da zusammen, wir können sagen, die Sonne und die gesamte Planetenwelt, welche zur Sonne gehört, also die Sonne und ihre Planeten rings um sie herum, mit Ausnahme des Mondes. Die Kräfte, die zwi­schen der Sonne und ihren Planeten spielen, wirken herein in unser Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und dieses, was da lange vor unserer Geburt entsteht, spiegelt sich in dem Leben, das wir in den allerersten Kindesjahren zubringen.

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Sie sehen daraus, daß das Kind in sein Leben hereinspielen hat die Spiegelung desjenigen, was noch mehr als der Mond von dem Irdischen abgelöst ist. Dies hat eine ungeheure, eine tief bedeutungsvolle, prakti­sche Konsequenz; es hat die Konsequenz, daß der Mensch nicht gestört werden darf in dieser Zeit seines Lebens in bezug auf das Empfangen der Kräfte, respektive in bezug auf die Verwertung der Kräfte, die er empfangen hat. Bedenken Sie nur einmal, was da eigentlich vorliegt. Vor unserer Geburt haben Kräfte aus dem Kosmos heraus auf uns gewirkt, die zwischen der Sonne und ihren Planeten spielen. Diese Kräfte sind in dem Kinde, das durch die Geburt gegangen ist und das Erdenleben betreten hat. Diese Kräfte wollen aus dem Kinde heraus. Diese Kräfte sind wirklich in dem Kinde. Insofern ist das Kind, wenn wir auf sein innerstes Wesen sehen, ein Himmelsbote, und die Kräfte wollen heraus. Wir können im Grunde genommen nichts anderes tun, als diesen Kräften die größtmögliche Gelegenheit geben, herauszukommen. Darin besteht im Grunde genommen alles, was wir zu tun haben bei der ersten

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Säuglingserziehung des Menschen: wir dürfen nicht stören die Kräfte, die herauskommen wollen.

Ich möchte sagen, ein Zug von demütiger Gesinnung geht aus von einer solchen Erkenntnis. Während der Mensch gewöhnlich glaubt, daß er dem Kinde ungeheuer viel sein kann, handelt es sich vor allen Dingen darum, daß er möglichst wenig stört dasjenige, was heraus will. Nicht als ob der erziehende Mensch dem Kinde nichts wäre. Er ist ihm schon etwas. Denn das, was da herauskommt - beachten Sie das wohl -, ist ja ein Spiegelbild, und diesem Spiegelbild müssen wir Realität verleihen als Erzieher; diesem Spiegelbild müssen wir Festigkeit geben.

Was wir tun als Erzieher, das läßt sich folgendermaßen vergleichen:

Wenn wir hier einen Gegenstand haben, und der spiegelt sich dort, so haben wir hier das Spiegelbild, und dann haben wir in das Spiegelbild etwas hineinzutragen, das es innerlich fester mache, als es ist als Bild.

# Bild s. 73

Der Mensch kommt in der Tat als Spiegelbild zur Welt, und er muß sich erwerben das Festmachen, das Realwerden dieser Spiegelung. Das ist eben seine Entwickelung zwischen der Geburt und dem Tode. Das, was heraus will, müssen wir möglichst wenig stören. Heraus kommen die Spiegelbilder der Vorgänge, die wir uns schon vor der Geburt aus dem Kosmos heraus erworben haben. Aber durch unser Einwirken müssen wir das, was da als Spiegelbild herauskommt, zur Realität befestigen, und insofern wir es zur falschen Realität befestigen, also korrigieren wollen, insofern können wir es stören. Aber es ist etwas Außerirdisches.

Jetzt können Sie die ungeheuer bedeutungsvolle Konsequenz einse­hen, die sich daraus ergibt. Angewiesen ist derjenige, der ein Kind aufziehen will, darauf, daß er in seiner eigenen Seele, die er so darlebt

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neben dem Kinde, übersinnliche Vorstellungen und Empfindungen hat; denn durch alles, was wir an bloß materiellen Vorstellungen, an bloß an das Materielle anknüpfenden Empfindungen an das Kind heranbringen, stören wir die Entwickelung des Kindes.

Oftmals wird gefragt: Was können wir am besten tun, um ein Kind aufzuziehen? Wie bei so vielen Sachen handelt es sich nicht so sehr darum, daß wir ein paar Grundsätze aufstellen, die wir in der Westenta­sche oder im Pompadour herumtragen, um uns darnach richten zu können; es handelt sich darum, daß wir bei uns selber anfangen, daß wir uns bemühen, einen Fond übersinnlicher Vorstellungen in uns zu tragen, daß wir von einer ins Übersinnliche gehenden Gesinnung und Empfin­dung durchdrungen sind. Denn diese wirken viel mehr als dasjenige, was wir nach äußerlichen Verstandesgrundsätzen und nach einer Verstandes-pädagogik bewirken können. Ein liebevolles Gemüt, das durchdrungen ist von der übersinnlichen Welt und dadurch alle Empfindungen vertieft, kommt dadurch auch in die Lage, ich möchte sagen - bitte das Wort nicht mißzuverstehen -, mit der Kindeserziehung einen gewissen Kultus zu treiben, der aber darin besteht, daß wir ein Wesen lieben, das uns aus der geistigen Welt geschickt worden ist, der in einer Vergeistigung der Kindesliebe besteht, in einem Durchdrungensein von dem Gefühl:

dadurch, daß wir dem Kinde die Hände reichen, können wir uns sagen:

Du reichst dem Kinde etwas durch die Hand, aber du mußt ihm ein Repräsentant sein derjenigen Kräfte, die nicht auf der Erde zu finden sind, sondern im Übersinnlichen.

Alles was man ausklügeln kann über mancherlei pädagogische Grund­sätze, wird ungeheuer wenig fruchten, solange die Wissenschaft auf materialistischen Bahnen wandelt. Erst dasjenige wird fruchtbar für die wirkliche Erziehung des Kindes sein können, was sich aus der Geistes­wissenschaft ergibt. Und das Wichtigste ist das, was wir aus uns selber machen. In der äußeren, materiellen Welt mögen wir viel wirken durch das, was wir tun; als Erzieher wirken wir viel mehr durch dasjenige, was wir sind. Ich bitte, das wohl zu beachten. Wir können geradezu als ein Motto, als eine Devise einer guten Pädagogik betrachten den Grundsatz:

Für die äußere materielle Welt wirkst du durch das, was du tust; als Erzieher wirkst du durch das, was du bist.

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Dann folgt die Zeit, in der wir das Knaben- oder Mädchenalter vollbringen, das Alter, in dem wir noch immer erzogen werden, in der Tat aber in einer anderen Weise erzogen werden als in der Zeit, während welcher wir Säuglinge sind. Das ist die weitere Etappe, die weitere Stufe, die wir betrachten wollen. Sie soll alles dasjenige umfassen von dem Zeitpunkte an, wo der Mensch anfängt, bewußt zu sich «Ich» zu sagen, bis zu dem Zeitpunkte, wo wir ihn entlassen dürfen aus der eigentlichen Erziehung, wo er frei in das Leben hinaustritt, dem Zeitpunkt, wo er sich als wohlerzogener oder ungezogener Mensch dem Strudel des Lebens zu übergeben hat.

Auch dies ist eine Spiegelung, äußerlich durchaus Maja, und zwar eine Spiegelung wiederum von Vorgängen, die vorher liegen. Die realen Wirklichkeiten liegen nun wieder zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Und zwar wirkt hier zusammen das vollständige Planetensy­stem von der Sonne bis hinauf zum Saturn, oder, wenn Sie nach der neueren Astronomie wollen, bis zum Neptun. Also das ganze Planeten­system wirkt hier zusammen mit dem gesamten Sternenhimmel, und was sich da abspielt zwischen dem Sternenhimmel und dem gesamten Plane­tensystem, das sind Kräfte, die in uns tätig sind in der Zeit, in der wir erzogen werden.

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So wenig begreift man die Realität des Menschen aus den bloßen Vorgängen auf der Erde, daß man diesen Menschen nur verstehen kann in bezug auf die Zeiten, wo er erzogen wird, wenn man sich klar ist

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darüber, daß da Kräfte in ihm spielen in dem Gesamtleben, die nicht auf der Erde sind, die nicht einmal im Planetensystem, sondern außerhalb des Umkreises der Planeten liegen und wirken im Zusammenspiel mit dem ganzen Sternenhimmel.

Haben wir ein Kind vor uns, das schon zu sich «Ich» sagt, das wir also in gewissem Sinne als einen Menschen ansprechen, so müssen wir uns klar sein darüber: in ihm wohnt etwas, was eine Spiegelung ist von etwas, das nicht nur außerhalb unserer Erde, sondern außerhalb unseres Planetensystems tätig ist.

Daher gilt natürlich viel mehr noch und in viel höherem Maße für die spätere Erziehung, was für die erste Kindeserziehung gesagt worden ist, nämlich der Satz: Eine gute Pädagogik wird es erst dann geben, wenn die Pädagogik aus der Geisteswissenschaft geschöpft sein wird, wenn der Lehrer durchdrungen ist davon, daß außerhalb des Planetensystems eine Welt vorhanden ist, die im Menschen sich entfaltet, und wenn er nicht nur theoretisch, sondern in seiner Empfindung und in seiner Gesin­nungsweise durchdrungen ist davon, wenn er selbst durchlebt hat die Wahrheit dieser überplanetarischen Welt. Die Tapserei eines solchen Lehrers kann oftmals besser sein als die ausgeklügelten pädagogischen Grundsätze eines materialistischen Lehrers. Denn das, was wir tapsen, was unsere Torheit vollbringt, das bessert sich im Laufe des Lebens. Nicht korrigiert sich im Laufe des Lebens aber das, was von uns aus geschieht durch das, was wir sind.

Es wäre zu wünschen, daß unter dem mancherlei, was die Geisteswis­senschaft metamorphosieren oder transforniieren soll, auch dieses wäre: man sollte immer mehr und mehr einsehen, daß diejenigen, die Lehrer und Erzieher werden wollen - im Grunde genommen also auch alle, die Eltern werden wollen -, darauf zu sehen haben, daß sie gute Erzieher werden durch Aufnahme spiritueller Vorstellungen, die sie in ihrer eigenen Seele ansammeln. Die meiste Arbeit hat man an sich selber vorzunehmen, wenn man ein guter Erzieher werden will. Und mehr kommt zum Beispiel beim Lehrer in Betracht, daß er in dem Lehrstoff, den er am nächsten Tage in der Schule durchnehmen will, mit seinem ganzen Herzen lebt, bevor er die Schule betritt, als daß er möglichst gute pädagogische Grundsätze hat, wie er das oder jenes machen soll. Nachdem

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er den Lehrstoff liebgewonnen hat, ihn geistig innerlich in Liebe geboren hat, kann er selbst tapsen in der Unterrichtsstunde - obwohl ich das nicht empfehlen will -, und er wird Besseres leisten als derjenige, der mit allen möglichen Grundsätzen die Schule betritt, in die sein Gehirn eingeschnürt ist wie in spanische Stiefel, und der alles weiß, wie man es am richtigsten macht.

Wir wissen, daß vorläufig noch in entgegengesetztem Sinne in der Welt verfahren wird. Diejenigen, die heute Erzieher sein sollen, die prüft man ja vor allen Dingen in bezug auf dasjenige, was sie wissen, was sie an inhaltlichem Wissen in sich aufgenommen haben. Fast möchte man ja schon sagen: man prüft sie über dasjenige, was sie in Büchern finden können, wovon es besser wäre, daß sie sich darüber eine Bibliothek anlegten. Man prüft am allermeisten über das, was man jederzeit in der Bibliothek nachschlagen kann, wenn man das Nachschlagen gelernt hat. Namentlich bei der Lehrerprüfung müßte die Hauptsache nicht dasje­nige sein, was der Betreffende, wenn er es braucht, leicht finden kann; auf das Wissen wäre weniger Wert zu legen, dagegen müßte jeder Lehrer angesehen werden daraufhin, wie er in seiner Gesinnung, in seiner Empfindung verbunden sein kann mit dem, was die Menschen sich als Erkenntnis, als Gefühl für die Entwickelung des ganzen Universums aneignen können. An dem Gefühl, das man gegenüber der Menschen-und Weltenentwickelung hat, sollte abgemessen werden, ob ein Mensch als Lehrer tauglich ist oder nicht. Dann würden allerdings diejenigen in ihrem Examen durchfallen, welche nur am meisten wissen, und diejeni-gen würden das Examen am besten bestehen, die im geistigen Sinne gute Menschen sind.

Dahin wird es auch zuletzt noch kommen. Das ist das, wohin wir zuletzt tendieren müssen: Ein Mensch, der kein guter Mensch ist, dessen Seele nicht dem geistigen Leben zugeneigt ist, würde künftig beim Lehrerexamen durchfallen, wenn er auch noch so viel weiß, wenn er auch alles im kleinen Finger hat, was man wissen muß heute.

So wird gerade hier sich das Feld eröffnen, auf dem weniger auf das Gehirnwissen Wert gelegt wird, sondern viel mehr auf die ganze Entfal­tung der Seele. Noch einmal sei es betont: Da kommt es nicht darauf an, daß wir wertvoll sind durch das, was wir im äußeren materiellen Felde

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bewirken, durch das, was wir tun; als Erzieher sind wir vor allem wertvoll durch dasjenige, was wir sind.

Nun handelt es sich darum, daß wir alles das beachten, was sich auf jenen realen Vorgang bezieht, der sich in der Empfängnis abspiegelt. Alles das gehört der Erde an. Aber insofern es vor der Geburt liegt, gehört es dem Zusammenwirken von Sonne und Erde an; es vollzieht sich in der Erdenaura. In der Erdenaura spielt sich vor der menschlichen Empfängnis ein bedeutungsvoller geistiger Vorgang ab, der sich dann wieder in der Empfängnis spiegelt. Dasjenige, was sich dann zwischen dem Zeitpunkte, der sich in der Geburt spiegelt und dem eben genannten Zeitpunkt abspielt, das ist, in der Realität, vor der Geburt ein Zusam­menwirken von Sonne und Mond, und dieses ist im wesentlichen eine Wiederholung der Vorgänge, die sich früher abgespielt haben während der alten Mondenzeit der Erde.

Also während des Embryonallebens spielt sich ab die Spiegelung eines realen Vorganges, und der reale Vorgang spielt sich vor der Geburt ab, und der ist wie eine Wiederholung der Vorgänge, die sich auf dem alten Mond abgespielt haben. Ebenso ist dasjenige, was sich abspielt in dem Vorgange, der widergespiegelt wird durch die Zeit zwischen dem Ende der Kindheit, dem Zeitpunkt, wo der Mensch zum bewußten Ich-sagen kommt, und dem Zeitpunkt der Geburt, eine Wiederholung der alten Sonnenwirkung. Dasjenige, was sich noch vorher abspielt, was sich in dem Erziehungszeitalter spiegelt, das ist eine Wiederholung der alten Saturnvorgänge der Erde.

Und nun gar, wenn wir als wohlerzogener oder ungezogener Mensch entlassen werden aus der Erziehung und frei in die Welt hinausgeschickt werden, was spiegeln sich denn dann für Vorgänge? Dann spiegeln sich Vorgänge, die noch vor der Saturnzeit liegen, dann spiegeln sich Vor­gänge in uns, die überhaupt nicht zur sichtbaren Welt gehören, nicht einmal so zur sichtbaren Welt gehören, daß sie ein Korrelat haben in den äußeren sichtbaren Sternen. Das Korrelat von dem, was wir bis zum Ende unserer Eziehung erleben, davon könnte man sagen, man sieht es doch noch. Die äußersten Sterne, die noch sichtbar sind, haben noch Beziehung dazu. Aber das, was wir dann noch erleben, was dann noch in uns gebildet werden kann, gehört gänzlich der unsichtbaren Welt an.

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Aus aller sichtbaren Welt werden wir entlassen, wenn wir unsere Erzie­hung wirklich vollendet haben.

Und da handelt es sich natürlich dann darum, daß wir unsere Seele bereichern oder schon bereichert haben durch dasjenige, was Wahrhei­ten der übersinnlichen Welten sind. Denn nur dadurch finden wir den Weg durch das Leben wirklich; sonst sind wir eine Puppe, ein Popanz, geführt von den Kräften, von denen geführt zu werden wir eigentlich nicht berufen sind. Der Mensch, der nach der Saturnspiegelung in seiner Entwickelung frei in die Welt entlassen ist, und der in seiner Seele keine Vorstellung hat von einer übersinnlichen Welt, der ist nicht in dem Elemente, zu dem er eigentlich berufen ist, sondern er wird mitgenom­men von den unsichtbaren Kräften, wie der Harlekin, die Marionette mitgenommen werden von den Kräften, welche in den Fäden, an denen man zieht, vorhanden sind.

Dasjenige in sich aufnehmen, was Geisteswissenschaft geben kann, das bedeutet Mensch werden, das bedeutet nicht Popanz, nicht Marionette, nicht Puppe der sinnlichen Welt bleiben, sondern zur Freiheit kommen, welche sozusagen das Element sein soll, in dem der Mensch wirkt und lebt sein Leben lang. Die Freiheit ist überhaupt nur zu verstehen aus solchen Begriffen heraus, welche nicht aus der sinnlichen Welt stammen. Denn mit allem, was wir aus der Sinnenwelt haben, können wir nicht frei werden. Das hatte ich im Auge, als ich meine «Philosophie der Freiheit» schrieb, wo ich betont habe - wie es sozusagen ohne die Vorstellungen der Geisteswissenschaft geschehen kann -, daß die Grundlagen der Ethik, der Sittenlehre bezeichnet werden müssen als moralische Phanta­sie; das heißt, sie müssen gefunden werden auf Grundlage der morali­schen Phantasie, obwohl man das natürlich nicht bloß als Phantasiebild betrachten darf, was sittlich ist, aber sie müssen gefunden werden durch die moralische Phantasie, durch dasjenige, was aus keiner Sinnenwelt heraus genommen werden kann. Das ganze Kapitel, das geschrieben worden ist über «die moralische Phantasie» ist eine Bekräftigung davon, daß der Mensch sein Leben hindurch, insofern er es in Freiheit zubrin­gen soll, sich in Zusammenhang wissen muß mit dem, was ihm kein aus der Sinnenwelt heraus genommenes Bild ist, sondern was in ihm frei aufsteigen muß, was er in sich trägt, was selbst über die sichtbaren Sterne

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erhaben ist, was er nicht aus der sinnlichen Welt schöpfen kann, was er einzig schöpfen kann durch innerliches, schöpferisches Verfahren. Das ist gemeint gewesen mit dem Kapitel über die moralische Phantasie.

Es war dies wieder eine Betrachtung, dazu bestimmt zu zeigen, wie mannigfaltig die Zusammenhänge sind, in die wir im Leben hineinge­stellt werden. Wie das Leben vor der Geburt vorbereitend ist für seine Spiegelung, so ist wieder die Spiegelung zwischen der Geburt und dem Tode vorbereitend für das geistige Leben, das nachher kommt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Je mehr wir hineintragen können aus diesem Leben in das Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, desto reicher kann die Entfaltung in diesem Leben sein. Denn selbst die Begriffe, die wir uns aneigenen müssen für jenes Leben, für die Wahrhei­ten zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, diese Begriffe müssen sehr verschieden sein von denjenigen, die wir uns für die irdische Maja, wenn wir sie verstehen wollen, aneignen müssen. Einige von jenen Begriffen, die wir uns aneignen müssen, finden Sie in dem Wiener Vortragszyklus von 1914 «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt». Da werden Sie finden, wie man sich neue Begriffe zum Verständnisse desjenigen aneignen muß, was als die andere Seite des menschlichen Lebens verfließt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Es ist manchmal recht schwierig, nach und nach die Begriffe und Ideen herauszuarbeiten, die man für dieses andersgeartete Leben braucht. Und Sie werden es gerade einem solchen Vortragszyklus, wenn Sie ihn durchlesen, anmerken, wie nach Ausdrücken gerungen wird, die einigermaßen diese ganz andersartigen Verhältnisse wieder­geben.

Insbesondere möchte ich in diesem Zeitpunkte, in dem in unser anthroposophisches Leben die Tode teurer Mitglieder hineinspielen, auf eines aufmerksam machen. Eine andere Rolle spielt im Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt der Zeitpunkt des Todes, als in unserem jetzigen Leben zwischen der Geburt und dem Tode der Zeit­punkt der Geburt. Der Zeitpunkt der Geburt ist derjenige Zeitpunkt, an den sich unter gewöhnlichen Verhältnissen des irdischen Lebens der Mensch nicht erinnert. Der Mensch erinnert sich nicht an seine Geburt im gewöhnlichen Leben. Der Zeitpunkt des Todes ist aber derjenige,

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welcher für das ganze Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt den allertiefsten Eindruck zurückläßt, der am meisten von allen erinnert wird, der immer dasteht gewissermaßen, aber in einer anderen Gestalt, als er angesehen wird von dieser Seite des Lebens aus. Von dieser Seite des Lebens aus erscheint der Tod als eine Auflösung, als etwas, wovor der Mensch leicht Furcht und Grauen hat. Von der anderen Seite erscheint der Tod als der lichtvollste Anfang des geistigen Erlebens, als dasjenige, was etwas Sonnenhaftes ausbreitet über das ganze spätere Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, was am meisten mit Freuden die Seele durchwärmt im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dasjenige, auf das immer wieder mit tiefer Sympathie zurückgeblickt wird. Das ist der Moment des Todes. Wenn wir ihn in irdischen Ausdrücken schildern wollen: Das Allererfreulichste, das Allerentzückendste im Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist, von der anderen Seite angesehen, der Moment des Todes.

Wenn wir uns die Vorstellung etwa aus der materialistischen Weltan­schauung heraus gebildet haben, daß der Mensch mit dem Tode das Bewußtsein verloren habe, wenn wir keine richtige Vorstellung gewin­nen können über diesen Fortgang des Bewußtseins - ich spreche das am heutigen Tage besonders aus, weil die Ursache, die Veranlassung dazu das Zusammenleben mit den lieben Toten ist, die in der letzten Zeit von uns gegangen sind -, wenn wir uns so schwer eine Vorstellung davon machen können, daß ein Bewußtsein über den Tod hinaus existiert, wenn man glaubt, das Bewußtsein verdunkelt sich - es scheint auch so, daß sich das Bewußtsein nach dem Tode verdunkelt -, dann müssen wir uns klar sein: Es ist nicht wahr, denn es ist das Bewußtsein ein überaus helles, und nur weil der Mensch noch ungewohnt ist, in der allerersten Zeit nach dem Tode in diesem übermäßig klaren Bewußtsein zu leben, tritt zunächst unmittelbar nach dem Tode etwas wie ein Schlafzustand ein.

Dieser Schlafzustand ist aber das Entgegengesetzte von dem Schlafzu­stande, den wir im gewöhnlichen Leben verbringen. Im gewöhnlichen Leben schlafen wir, weil das Bewußtsein herabgedämpft ist. Nach dem Tode sind wir in gewissem Sinne bewußtlos, weil das Bewußtsein zu stark, zu kräftig ist, weil wir ganz in Bewußtsein leben, und was wir

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brauchen in den ersten Tagen, ist ein Rineinleben in diesen übermäßigen Bewußtseinszustand. Wir müssen uns erst orientieren lernen in diesem übermäßigen Bewußtseinszustande. Wenn es uns dann gelingt, uns so weit darinnen zu orientieren, daß wir wie aus der Fülle der Weltgedan­ken heraus aufgehen fühlen: Das warst du! - in dem Augenblicke, wo wir zu unterscheiden anfangen aus der Fülle der Weltgedanken unser vergangenes Erdenleben, erleben wir in dieser Fülle des Bewußtseins darinnen den Moment, von dem wir sagen können: Wir wachen auf. -Wir werden vielleicht erweckt durch ein Ereignis, das besonders bedeut­sam in unser Erdenleben eingegriffen hat, das auch in die Ereignisse nach unserem Erdenleben eingreift.

Also es ist ein Sich-Gewöhnen an das übersinnliche Bewußtsein, an das Bewußtsein, das nicht auf der Grundlage und Stütze der physischen Welt aufgebaut ist, sondern das in sich selber wirkt. Das ist es, was wir «Aufwachen» nennen nach dem Tode. Man möchte sagen, dieses Auf­wachen besteht in einem Sich-Zurechttasten des Willens, der, wie Sie wissen und wie Sie aus dem angeführten Vortragszyklus ersehen kön­nen, nach dem Tode sich besonders entwickeln kann. Ich habe da gesprochen von dem gefühlsartigen Willen, von dem willensartigen Gefühl. Wenn dieses willensartige Gefühlsleben sich hineintastet in die übersinnliche Welt, wenn es den ersten Taster macht, dann ist das Aufwachen eingetreten.

Das sind die Dinge, über die wir, wenn die Ereignisse es gestatten, noch weiter reden wollen.

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FÜNFTER VORTRAG Dornach, 5. Februar 1915

Ich mochte jetzt, in der Zeit, in der uns der Tod so viel heimgesucht hat, einige geisteswissenschaftliche Fragen im Zusammenhang mit dem Pro­blem des Todes berühren, und zwar in der Weise, daß ich heute eine Art Einführung in diese Probleme geben werde, morgen des Nähern über manches, was mit dem Thema zusammenhängt, sprechen werde, und am Sonntag dann den Übergang finden werde von diesem Probleme auch zu allgemeineren Fragen der künstlerischen Auffassung des Lebens, was uns dann wiederum zu einigen Betrachtungen über unseren Bau zurück­führen wird.

Wir müssen, wenn wir jene Erlebnisse ins Auge fassen wollen, die mit dem Problem des Todes zusammenhängen, uns vor allen Dingen dar­über klar sein, daß der Mensch über seine eigentliche Wesenheit, dasje­nige, was in ihm waltet und webt, im Grunde genommen recht unwis­send ist. Nicht nur unwissend in bezug auf die tiefere Seite des eigenen verborgenen Daseins, sondern auch in bezug auf vielerlei, was in die alltäglichen Erlebnisse eigentlich recht bedeutungsvoll hereinspielt. Wir müssen ja durchaus uns klar sein darüber, daß wir uns eigentlich sozusagen mit den allerwichtigsten Erkenntnisorganen, die wir für die physische Welt haben, mit den Sinnen, fast ausschließlich nur von außen anschauen, und daß bei diesem Anschauen von außen in der Tat dasje­nige, was wir unsere Haut nennen können, uns abtrennt von der Anschauung unseres eigentlichen wahren menschlichen Wesens. Und sobald wir urteilen über unser wahres menschliches Wesen, sobald wir uns ein Bild machen wollen von diesem wahren menschlichen Wesen, müssen wir unseren Verstand, unser Vorstellungsvermögen anwenden. Dieser Verstand, dieses Vorstellungsvermögen aber ist im Laufe unse­rer Entwickelung, die wir vollbringen in dem physischen Leib, sehr stark beeinflußt, sowohl von ahrimanischer Seite her wie von luzi­ferischer Seite her, und alle diese Einflüsse, die von ahrimanischer und von luziferischer Seite auf unseren Verstand, insofern er an das Gehirn gebunden ist, ausgeübt werden, die sind geeignet, im höchsten

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Maße das Urteil zu trüben, das wir uns über uns selber machen. Es ist ja wirklich heute mit aller menschlichen Selbsterkenntnis so, wie

in dem äußersten Falle, den ich das vorige Mal während unserer Betrach­tung angeführt habe, mit jenem Universitätsprofessor, der selber erzählt, wie er als junger Mann über die Straße ging und plötzlich an sich herankommen sah einen jungen Menschen mit einem ihm furchtbar unsympathischen Gesicht, und wie er erschrak, als er sah, daß er sich selbst gesehen hatte durch die Zusammenstellung zweier Spiegel, die ihm seine eigene Physiognomie entgegenkommend zeigten; so daß man sieht, daß er also keine Ahnung hatte, wie er seiner äußeren Physiognomie nach, die ihm außerordentlich unsympathisch war, ausschaute. Wie er einen zweiten ähnlichen Fall von sich erzählt, ich habe es angeführt. Es steht aber wirklich nicht anders mit dem, was wir unsere genauere Selbsterkenntnis nennen. Dasjenige, was mit uns den Weg der Welten-wanderung antritt, wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, unser Ich, unser Astralleib, das entzieht sich ja der Betrachtung während unseres physischen Lebens; denn wenn wir aufwachen, so zeigt sich uns ja nicht dieses Ich und dieser Astralleib. Sie zeigen sich uns nicht in ihrer wahren Gestalt, sondern sie zeigen sich uns so, wie sie gespiegelt werden durch die Bilder, die der Ätherleib und der physische Leib von dem Ich und Astralleib entwerfen. Wir würden zwar zwischen dem Einschlafen und Aufwachen unser astralisches Wesen und unser Ich in der wahren Gestalt sehen können, wenn wir dann nicht in bewußtlosem Schlafzu­stand wären. Auch die Träume, wie sie im gewöhnlichen Leben sich abspielen, sind nur im mangelhaften Sinne wirkliche Ausleger unseres Wesens, weil sie ja Spiegelungen sind desjenigen, was sich in unserem Astralleib vollzieht aus unserem Atherleib heraus, und weil wir erst notwendig haben, die Sprache der Träume gewissermaßen zu verstehen, um die richtige Deutung zu vollziehen. Dann können wir ja allerdings, wenn wir die Sprache der Träume verstehen, aus den Traumvorgängen Erkenntnis gewinnen über unser wahres Wesen. Aber in unserem gewöhnlichen Leben sind wir gewöhnt, die Bilder des Traumes einfach hinzunehmen. Das aber ist nicht gescheiter, als wenn wir eine Schrift nicht wirklich lesen würden, sondern sie nach den Zeichen der Buchsta­ben nehmen, die Buchstaben beschreiben würden

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Dasjenige, was unser wahres Wesen ist, entzieht sich uns während unseres Lebens zwischen der Geburt und dem Tode. Wir müssen uns dabei klar sein, daß in unserem Astralleib und in unserem Ich alle jene Gefühle und alle jene Willensemotionen liegen, die uns zu unseren Handlungen, zu unseren Taten, aber auch zu unseren Urteilen, zu unseren Auffassungen über die Welt verleiten. Da, in den Tiefen unseres Wesens, wo unser Astralleib und unser wahres Ich sitzen, da haben wir eine ganze Welt von Emotionen, eine ganze Welt von Gefühlen, von Willensimpulsen. Dasjenige aber, was wir uns als unsere eigene Ansicht über diese unsere Emotionen, Willensimpulse und Gefühle im Alltagsle­ben bilden, das steht zumeist, wirklich zumeist, mit dem, was wir in Wahrheit im innersten unseres Wesens sind, in einem recht entfernten Zusammenhang.

Nehmen wir etwa das Folgende. Es kann im Leben durchaus vorkom­men, daß zwei Menschen sich gegenüberstehen, zwei Menschen längere Zeit miteinander leben, und daß durch die eigentümlichen Kräfte, wel­che aus dem Unbekannten des Astralleibes und des Ich der einen Person in den Astralleib und das Ich der anderen Person hineinspielen - diese Kräfte bleiben ja im Verborgenen -, daß aus diesen Kräften heraus die eine Person gegenüber der anderen geradezu ein Quälgelüste hat, eine Art Grausamkeitsbedürfnis. Es kann nun sein, daß diejenige Persönlich­keit, die ein solches Quälgelüste, ein solches Grausamkeitsbedürfnis hat, gar nichts ahnt von diesen Emotionen im Astralleib und Ich, und daß sie über diese Dinge, die sie vornimmt aus dem Grausamkeitstriebe heraus, sich eine ganze Summe von Vorstellungen aufbaut, welche die Handlun­gen von ganz anderen Gründen aus erklären, als aus dem Grausamkeits­trieb heraus. Es kann eine solche Persönlichkeit einem erzählen, daß sie aus diesem oder jenem Grunde gegenüber der anderen Persönlichkeit dies oder jenes getan hat. Diese Gründe können sehr scharfsinnig sein, und dennoch sind sie nicht da, um die Wahrheit auszudrücken. Denn die Begriffe, die wir uns im gewöhnlichen Leben über die Motive unserer eigenen Handlungen, ja sogar unserer eigenen Gefühle machen, die stehen, wie gesagt, oft in sehr, sehr entferntem Zusammenhang mit dem, was wirklich in unserem Inneren lebt und webt. Ja, es kann sein, daß die luziferische Macht die betreffende Persönlichkeit geradezu verhindert,

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richtig verhindert, sich klarzuwerden über ihr Grausamkeitsbedürfnis, über ihr Bedürfnis, der anderen Persönlichkeit alles mögliche zuzufügen, und daß unter dem Einfluß dieser luziferischen Macht all dasjenige, was diese Persönlichkeit redet über die Gründe ihres Handelns, nur da ist, um eine Decke, eine Maske zu breiten über dasjenige, was in der Seele wirklich vorhanden ist.

Die Gründe, die wir angeben im Bewußtsein, können oftmals gerade dazu bestimmt sein, vor uns zu verdecken, vor uns zu vertuschen dasjenige, was wirklich in der Seele lebt und webt. Oftmals tragen diese Gründe auch den Charakter, daß wir uns gegenüber uns selbst verteidi­gen wollen, denn wir würden uns so unsympathisch vorkommen wie jenem Professor seine eigene Physiognomie. So würden wir uns in der Seele unsympathisch vorkommen, wenn wir uns gestehen müßten, welche Triebe, welche Emotionen eigentlich in der Seele walten. Und weil wir notwendig haben, uns zu schützen vor dem Anblick unserer eigenen seelischen Wesenheit, so erfinden wir mit Hilfe Luzifers allerlei, das uns wirklich Schutz gewährt, Schutz gewährt dadurch, daß es uns betäubt über dasjenige, was wirklich in unserer Seele waltet. So wahr es ist, daß dasjenige, was in der äußeren Welt uns erscheint, durch die Eigenart unseres Vorstellungsvermögens uns zur Maja wird, so wahr ist es auch, daß dasjenige, was wir uns über uns selbst erzählen, zum allergrößten Teil im gewöhnlichen Leben eine Maja ist.

Insbesondere verleiten uns gewisse innere Triebe und Bedürfnisse unserer inneren Wesenheit, uns immer wieder und wieder über diese Wesenheit zu täuschen. Nehmen wir einmal an, eine Persönlichkeit sei eitel, leide an einer gewissen eitlen Großmannssucht. Es soll ja solche Persönlichkeiten in gar nicht geringer Anzahl in der Welt geben. Man gibt das zu. Würde man aber nicht in der eben geschilderten Weise eine Maske legen über das, was man in seiner Seele eigentlich trägt, so würde man noch viel mehr zugeben, daß es eitle Großmannssucht in vielen Seelen gibt, in vielen Seelen, die nichts, aber auch gar nichts davon ahnen

Solche Großmannssucht wünscht vieles; aber wenn ich sage «wünscht», so verstehen Sie mich wohl: dieser Wunsch kommt nicht zum Bewußtsein, dieser Wunsch bleibt ganz in den Untergründen. Solch eine Persönlichkeit kann wünschen, auf die eine oder auf die andere

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persönlichkeit einen gewissen beherrschenden Einfluß zu haben, aber weil sie sich gestehen müßte, daß aus diesem Trieb nach beherrschendem Einfluß über die andere Persönlichkeit eitle Großmannssucht spricht, deshalb gesteht sich diese betreffende Persönlichkeit das nicht. Nun hat sie, natürlich unbewußt, zu appellieren an jene Verführungskräfte, die Luzifer unausgesetzt auf die menschliche Seele auszuüben vermag. Und unter dem unbewußten Einfluß Luzifers kommt dann eine solche Per­sönlichkeit niemals dazu, sich zu sagen: Das, was in mir ist, was den Wunsch nach Beherrschung anderer in mir erzeugt, das ist eitle Groß­mannssucht. Das sagt sie sich nicht; dagegen erfindet sie sich oftmals unter dem Einfluß Luzifers ein ganzes System für die Erklärung ihrer Gefühle, die sie dunkel empfindet, aber deren wahren Charakter sie sich nicht gestehen will. So empfindet dieser Mensch gewisse Gefühle für diese oder jene Persönlichkeit, aber er kann sich nicht eingestehen, daß er diese Persönlichkeit eigentlich beherrschen will und nicht kann, weil sich diese vielleicht nicht beherrschen läßt. Da erfindet die Seele unter dem Einflusse Luzifers ein System. Sie erfindet das System, daß die betreffende Persönlichkeit etwas Böses gegen sie im Schilde führt, und malt sich die betreffenden Dinge, welche sie im Schilde führen soll, in Einzelheiten aus; sie fühlt sich verfolgt von dieser oder jener Persönlich­keit. Aber dieses ganze System von Urteilen und Begriffen ist eine Maske, ist nur dazu da, um dasjenige, was nicht herauf soll aus dem inneren Seelenleben, zu verdecken, zu verhüllen in eine Hülle, eine wirkliche Maja.

Ein Mann sagte mir einmal über eine Reihe seiner Handlungen, daß er diese Handlungen alle vornehme aus dem eisernsten Pflichtgefühl her­aus, aus einer unendlichen Hingabe an die Sache, die er zu vertreten habe. Ich hatte ihm zu erwidern: Dasjenige, was Sie als Meinung haben über die Motive Ihres Vorgehens, Ihres Handelns, das ist ganz und gar nicht maßgebend. Maßgebend für ein Urteil über das Verhalten eines Menschen ist allein die Wirklichkeit, nicht das, was er als Meinung über dieses sein Handeln hat. - Die Wirklichkeit aber zeigte in diesem Falle, daß die Ursache auch zu diesem Handeln der Trieb, der Hang war, nach einer bestimmten Richtung hin einen bestimmenden Einfluß zu gewin­nen. Ich sagte der betreffenden Persönlichkeit ganz offen: Während Sie

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glauben, unter dem eisernen Pflichtgefühl zu handeln, handeln Sie unter dem Triebe, unter dem egoistischen Drange, Einfluß zu gewinnen, und deuten diese Handlungsweise um in eine rein pflichtgemäße, in eine selbstlose. Sie tun das, was Sie tun, nicht aus dem Grunde, weil es so ist, sondern weil das Ihnen so gefällt, weil das Ihnen eine gewisse Wollust bereitet, also wiederum aus einem egoistischen Triebe heraus.

So kann äußerst kompliziert sein das, was in unserer Seele waltet und webt, und was unserer Meinung, unserer Vorstellung über uns selber auch nicht im entferntesten ähnlich ist. Das kann sehr, sehr kompliziert sein. Daß man solches wissen muß, wenn es sich darum handelt, in einer Welt von Wahrheit zu leben, nicht in einer Welt der Maja, das werden Sie von vorneherein zugeben, und daß es auch nötig ist, bisweilen solches in radikaler Weise auszusprechen. Die Gründe, die uns als wirkliche, als wahrhaftige Gründe zu unserem Handeln treiben, die können uns erst allmählich und langsam klar werden, wenn wir wirklich die geheimen Zusammenhänge des Menschen mit der Welt durch die Geisteswissenschaft erkennen lernen.

Nehmen wir einen ganz bestimmten Fall. Sie werden alle gehört haben, daß es solche Menschen in der Welt gibt, die man Schwätzer nennt. Sie werden alle gehört haben, daß es irgendwo in der Welt Menschen gibt, die Schwätzer genannt werden können. Wenn man solche Schwätzer frägt, warum sie in ihrem Kaffeeklatsche oder sonstwo zusammenkommen und so unendlich viel reden - sie sollen sogar oftmals viel mehr reden, als sie verantworten können -, wenn man solche Menschen frägt, wird man viele Gründe hören, warum sie dies oder jenes besprechen müssen. Man kann Menschen kennenlernen, denen man auf der Straße begegnet, wie sie da- oder dorthin eilen, um schnell dort anzukommen; und wenn man erfährt, was sie vorhaben, so sieht man, daß es oft nur der Drang ist, das eitelste, unnützeste, dümmste Geschwätz dort auszuführen. Wenn man solche Persönlichkeiten nach den Gründen fragt, so werden diese Gründe oftmals außerordentlich schön, nett, herrlich klingen, mindestens werden sie aber sehr geeignet sein, den wahren Sachverhalt eigentlich zu verhüllen. Nun wollen wir einmal auf diesen wahren Sachverhalt hindeuten.

Was geschieht denn, wenn wir schwätzen - wenn wir reden, geschieht

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selbstverständlich dasselbe -, was geschieht denn da? Nun, sehen Sie, da setzen wir durch unsere Atmungsorgane, durch unsere Sprachorgane, die Luft in eine den Formen der Worte entsprechende Bewegung. Wir erzeugen in uns jene physischen Wellen, und selbstverständlich auch die entsprechenden Ätherwellen, denn indem wir sprechen, geht ja immer in dem Atherleib etwas sehr Bedeutsames vor. Wir erzeugen physische Wellen, die Luftwellen, und dann die Atherwellen, die unseren Worten entsprechen, die unseren Worten Ausdruck verleihen. Stellen Sie sich das einmal ganz genau vor: Während Sie so sitzen - nein, Sie nicht, pardon! -während ein Mensch so sitzt und das Kaffeetäßchen vor ihm auf dem Tische steht, da setzt er einen ganzen inneren Organimus in Bewegung, jenen inneren Organismus, der da entspricht der Ausdrucksform, der äußeren physischen und ätherischen Ausdrucksform seiner Worte. Er hat da in der Tat etwas, was wellt und webt, in sich; das erzeugt er in sich, aber das verspürt er auch, das empfindet er. Dieses Sich-Bewegen des physischen und Ätherleibes empfindet er, weil der Astralleib und das Ich fortwährend daran stoßen. Der Astralleib stößt fortwährend an die Ätherwelle und wird die Ätherwelle gewahr, und das Ich stößt sogar fortwährend an die physische Welle der Luft, so daß Astralleib und Ich fortwährend, während wir sprechen, etwas berühren, etwas angreifen.

In diesem Berühren, in diesem Angreifen werden wir unseres Ich und unseres Astralleibes gewahr, und das ist das höchste Wohlgefühl des Menschen: wenn er sich selbst genießen kann. In diesem Berühren des Astralleibes und des Ich mit dem Ätherleib und dem physischen Leib geht in der Tat etwas Ähnliches vor, wie im kleinen, wenn das Kind an dem Bonbon schleckt, denn das Erfreuliche, Sympathische des Bonbon­schleckens besteht ja darin, daß der Astralleib sich berührt mit dem, was im physischen Leib vorgeht, und der Mensch so seiner selbst gewahr wird. Man wird ja seiner selbst gewahr in diesem Vorgang, man genießt sich selbst.

Selbstgenuß ist es in Wahrheit, zu dem diejenigen hineilen, die sich vor das Kaffeetäßchen hinsetzen, um so recht einmal eine Stunde, zwei Stunden zu verschwätzen. Selbstgenuß ist es also, was der Mensch da sucht.

Diese Dinge kann man nicht gewahr werden, wenn man nicht weiß,

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daß der Mensch eigentlich ein viergliedriges Wesen ist, und daß bei allen Betätigungen in der äußeren Welt alle vier Glieder mitbeschäftigt sind.

Es kann noch etwas anderes vorliegen in verschiedener Weise. Wir haben aus dem eben angefülirten Schwatzbeispiel gesehen, wie der Mensch den Trieb hat, sich selbst zu genießen durch das Anstoßen seines Astralleibes und seines Ich an den Ätherleib und den physischen Leib. Aber der Mensch hat auch oftmals das Bedürfnis, mit seinem Astralleib bloß anzustoßen an den Ätherleib. Da muß der Ätherleib in einer gewissen Weise Bewegung erzeugen, innere Tätigkeit erzeugen, damit der Astralleib daran stoßen kann. Solche Dinge vollziehen sich noch viel mehr im Unterbewußten als andere Dinge. Es liegt ein Trieb im Men­schen, mit seinem Astralleib - dessen ist er sich ja nicht bewußt - an den Ätherleib anzustoßen. Bei den kuriosesten Sachen lebt sich dieser Trieb aus: Wir erleben es, daß der eine oder andere junge Mann - in der neueren Zeit soll es auch schon bei jungen Damen vorkommen -, daß der oder jener junge Mann nicht ruhen kann, bis er gedruckt ist. Das ist zuweilen ein ungeheuer wohliges Gefühl, sich gedruckt zu sehen, aber hauptsächlich ist es deshalb ein wohliges Gefühl, weil man bei diesem Sich-gedruckt-Sehen einer allerärgsten Illusion sich hingibt, nämlich der, daß man auch gelesen wird! Nun, das letztere ist ja nicht immer der Fall, daß man auch gelesen wird, wenn man gedruckt ist, aber man glaubt es zum mindesten, und das bereitet ein ungeheuer wohliges Gefühl. Und mancher junge Mann, und wie gesagt, auch manche junge Dame, sie können es nicht aushalten, sind immerfort beunruhigt, bis sie gedruckt sind. Was bedeutet das?

Ja, sehen Sie, das bedeutet, daß, wenn wir gedruckt sind und wirklich gelesen werden - was ja bekanntlich heutzutage nur in den seltensten Fällen geschieht -, dann gehen unsere Gedanken in andere Menschen über, dann leben unsere Gedanken in anderen Menschenseelen weiter. Aber diese Gedanken leben in den Ätherleibern der anderen Menschen. Bei uns selbst aber setzt sich der Gedanke fest: Das, was du selber in deinem Ätherleib als Gedanke hattest, das lebt jetzt draußen in der Welt. -Man hat das Gefühl, da draußen in der Welt, da leben unsere eigenen Gedanken. Wenn sie wirklich da draußen leben, wenn sie wirklich da draußen vorhanden sind, das heißt mit anderen Worten, wenn wirklich

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unser Gedrucktes auch gelesen wird, dann übt es einen Einfluß aus auf unseren eigenen Ätherleib, und dann stoßen wir an das, was da draußen in der Welt lebt. Indem es in unserem eigenen Ätherleib lebt, stoßen wir zusammen mit unserem eigenen Astralleib. Das ist ein ganz anderes Zusammenstoßen, als wenn wir nur mit unseren eigenen Gedanken zusammenstoßen; dazu hat ja der Mensch nicht immer die Kraft, weil diese Gedanken mit einer gewissen Energie geholt werden müssen aus der eigenen Wesenheit. Wenn aber die Gedanken draußen leben, wenn wir das Bewußtsein haben können: da draußen leben die Gedanken, die von dir stammen -, dann stößt unser Astralleib, wenigstens in unserem Glauben, zusammen mit dem, was von uns in der Außenwelt ist. Das ist aber ein eminenter Selbstgenuß. Dieser Selbstgenuß liegt aller Ruhmes-sucht, aller Sucht nach Bekanntwerden, aller Sucht nach Geltunghaben in der Welt zugrunde. Diesem Trieb nach Selbstgenuß liegt nichts anderes zugrunde als ein Bedürfnis, mit unserem Astralleib auf objektive Gedanken unseres Ätherleibes aufzustoßen und uns so selbst gewahr zu werden im Aufstoßen. Sie sehen, welch komplizierter Vorgang, ein Vorgang zwischen Astralleib und Ätherleib, zugrunde liegt bei dem, was eine gewisse Rolle spielt in der äußeren Welt.

Diese Dinge werden ja selbstverständlich nicht gesagt, um sie gleich­sam als Vogelscheuche der moralischen Menschheitsbeurteilung vor Ihre Seele hinzustellen. Das sollen sie gewiß nicht sein, denn alles das, was jetzt angeführt worden ist, gehört zu den ganz normalen Eigentümlich­keiten des Lebens. Es ist einfach selbstverständlich, daß, indem wir reden, wir uns auch selbst genießen, auch wenn das Reden nicht in Schwatzen besteht. Es ist auch ganz selbstverständlich, daß, wenn wir nicht aus Ruhmessucht, sondern weil wir uns verpflichtet fühlen, der Welt etwas zu sagen, etwas drucken lassen, wir auch an die Gedanken unseres Ätherleibes stoßen; dann ist derselbe Vorgang vorhanden. Man darf also nicht etwa den Schluß ziehen, daß man diese Vorgänge immer fliehen solle, daß man diese Vorgänge absolut immer als etwas Unmora­lisches anzusehen habe, denn ich meine all das nur symbolisch. Wenn der Mensch all dasjenige fliehen sollte, was von luziferischer und ahrima­nischer Seite auf ihn eindringt, so müßte er - ich meine das symbolisch -, sobald er das gewahr wird, aus seiner Haut fahren. Es ist ganz selbstverständlich,

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daß Luzifer und Ahriman keine anderen Wirksamkeiten auf uns ausüben als die, die auch vollberechtigte normale Wirksamkeiten im Menschenleben sind, nur daß Luzifer und Ahriman sie verstellt aus­führen, wie ich es ja in verschiedenen Vortragszyklen zum Aus­druck gebracht habe.

Wenn Sie sich aber das alles vor die Seele führen, dann werden Sie sehen, wie unendlich mannigfaltig, wie unendlich kompliziert jene Fäden sind im Leben, welche von Menschenseele zu Menschenseele spielen, und welche von der Menschenseele hinaus wiederum in die Welt spielen, wie unendlich kompliziert das alles ist. Aber zugleich werden Sie sich sagen, wie wenig, wie gar wenig der Mensch mit dem, was er wahrnimmt und vorstellt, über dies sein Verhältnis zum Menschen und zur Welt wirklich weiß. Was wir uns vorstellen von uns, es ist wirklich ein ganz kleiner Ausschnitt von dem, was wir erleben. Und diese Vorstellung ist zumeist eine Maja. Nur indem wir uns die Geisteswissen­schaft zu einem wirklichen Lebensgut, nicht zu einer Theorie machen, kommen wir eigentlich hinter die Maja, können wir uns einigermaßen aufklären über das, was im Grunde genommen fortwährend in uns spielt. Aber dadurch, daß wir nur einen kleinen, noch dazu meist unwahren Ausschnitt haben von dem Gewebe, in das wir eingesponnen sind in bezug auf die Welt, werden die Dinge ja nicht anders; die Dinge sind doch so, wie sie sind. Alle diese verborgenen Kräfte, dieses verbor­gene Gewebe von Menschenseele zu Menschenseele, von dem Menschen zu den verschiedenen Agenzien der Welt, all das ist da, all das spielt in jeder Minute des Schlafens und Wachens in die Menschenseele herein. Und wieviel zu tun ist, um zu einer wirklichen Erkenntnis der Men­schenwesenheit zu kommen, das werden Sie daraus ermessen.

Aber es gehört zu den Gefühlsnuancen, die wir brauchen, wenn wir richtig empfinden wollen über dasjenige, was nicht der irdischen Inkar-nation, sondern der Ewigkeit angehört, daß wir solche Betrachtungen anstellen, wie wir sie eben angestellt haben. Denn dadurch, daß wir solche Empfindungsnuancen uns verschaffen, werden wir gewahr, wor­auf die Konflikte, die im Leben auftreten, eigentlich beruhen. Diese Konflikte, die das Leben hereinbringt und die mit Recht Inhalt der Dichtung und der übrigen Kunst werden, diese Konflikte beruhen eben

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darauf, daß eine unbekannte, verborgene Welle der Zusammengehörig­keit ausgedehnt ist, in der wir schwimmen im Leben, und daß nur ein kleiner Ausschnitt zu unserem Bewußtsein kommt, und dieser Aus­schnitt zumeist noch schief ist.

Aber leben können wir nicht nach diesem kleinen Ausschnitt, leben müssen wir mit unserer ganzen Seele nach den großen, mannigfaltigen Verzweigungen, die im Leben sind. Und damit kommen die Konflikte. Wie soll der kleine Ausschnitt, der dann noch schief ist in vielen Fällen, wie soll der sich in ein richtiges Verhältnis stellen zum Menschenleben, wie soll der richtig verstehen, was eigentlich im Menschenleben vorliegt? Weil er es nicht kann, so kommt es vor, daß der Mensch mit dem Leben in Konflikt geraten muß. Aber da, wo die Wirklichkeit spielt, da spielt auch die Wahrheit. Die Wirklichkeit richtet sich nicht nach den Vorstel­lungen, die wir uns von dieser Wirklichkeit machen. Und in dem Augenblick, wo irgendwie Gelegenheit ist, daß die Wirklichkeit herein-spielt, da sehen wir auch in unzähligen Fällen, wie diese Wirklichkeit, ich möchte sagen, oftmals erbarmungslos unsere Vorstellungsmaj a korri­giert. Und diese Art der Korrektur, welche die Wirklichkeit unserer Vorstellungsmaja angedeihen läßt, die bietet die bedeutendsten Vor­würfe für die Kunst, für die Dichtung.

Ich möchte, gemäß dem Gedankengang der heutigen Betrachtung, jetzt von etwas Künstlerischem ausgehen, zunächst von etwas Dichteri­schem, um dann einzumünden in dem morgigen Vortrag in eine Betrach­tung über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt und dann am Sonntag im weiteren Sinn zu dem Künstlerischen, das mit unserem Bau zusammenhängt, kommen.

Ich möchte nicht von etwas beliebig Künstlerischem ausgehen, son­dern von etwas, das im eminentesten Sinne veranschaulicht dasjenige, was ich Ihnen als Erkenntnis der Wirklichkeit des geistigen Lebens darzustellen haben werde. Aber das Beispiel, das ich wähle, wähle ich aus dem Grunde, weil wirklich einmal in einem ausgezeichneten kleinen Kunstwerke die Wirklichkeit getroffen ist. Das kann nur der Okkultist beurteilen, ob das geschehen ist, weil wir an dem kleinen Kunstwerke sehen, wie da, wo der Mensch als Künstler in die tieferen Probleme des Lebens einzudringen versucht, er oftmals gar nicht anders kann als die

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okkulten Seiten des Lebens berühren, die in den Konflikten, von denen ich gesprochen habe, aus den Untergründen wellenartig heraufspielen in das Leben, das wir dann mit unserer Bewußtseinsmaja oftmals so wenig tief durchdringen.

Dasjenige, was künstlerisch-okkultistisch mir wichtig ist, das ist eigentlich erst am Schlusse einer Novelle enthalten, von der ich bloß wie von einem Beispiel sprechen will. Deshalb will ich den Anfang nur erzählend skizzieren und dann die Schlußworte vorlesen. Es handelt sich darum, nicht bloß von einer Dichtung zu sprechen, sondern von dieser Dichtung deshalb zu sprechen, weil hier ein Dichter einmal dasjenige, was sein könnte, nach wahrsten okkulten Gesetzen eben zur Darstellung gebracht hat.

Da die Novelle schon in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschrieben ist, so werden Sie aus den Tatsachen, die ich anzuführen habe, entnehmen, wie im menschlichen Bewußtsein eigentlich immer in einer gewissen Weise sich gespiegelt hat, sich vorbereitet hat dasjenige, wovon wir als Geisteswissenschaft sprechen, was in unsere Kulturbewe­gung der Erde notwendigerweise kommen muß, und wie das, was durch die Geisteswissenschaft zum volleren Bewußtsein kommen soll, sich wenigstens unbewußt in mancher Seele gespiegelt hat. Vielleicht hat eine solche Seele auch schon etwas davon gewußt, aber weil die Zeit nQch nicht reif war, sich nicht getraut, dieses Wissen in einer anderen Weise zum Ausdruck zu bringen als in der anspruchslosen Form der Dichtung. Verzeiht man doch in der Gegenwart viel eher, wenn jemand okkulte Tatsachen in Novellenform oder in Dichtüngsform vorbringt. Das ver­zeiht man auch im materialistischen Zeitalter viel eher, als wenn jemand direkt mit der Wahrheit auftritt und sagt, daß diese Dinge Realitäten sind. Wenn sie sich sagen können: Na, das ist ja nur erdichtet -, dann nehmen die Leute noch manchmal die Dinge hin.

Die Novelle enthält etwa das Folgende. Sie ist geschrieben, wie wenn eine der Personen, von denen die Novelle handelt, selber erzählen würde. Es ist eine sogenannte «Ich-Novelle». Der Betreffende erzählt, wie er befreundet ist mit Mademoiselle Manon de Gaussin - die Novelle spielt in Paris -, und wie er zu einer gewissen Zeit Tag für Tag verkehrt in dem Hause jener Mademoiselle de Gaussin, die eine gefeierte Sängerin

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ist. Er erzählt, wie er dort die verschiedensten Menschen, Bewunderer der betreffenden Herrin des Hauses kennenlernt, unter anderem auch einen Menschen, welcher im Grunde genommen immer da ist, wenn man in den Salon der Mademoiselle de Gaussin kommt. Aber derjenige, der das erzählt, was in der Novelle vorgeht, bemerkt, daß der Betref­fende mehr als bloß freundschaftliche Gefühle zu der Dame hat, und er wird auch gewahr, daß diese Gefühle nicht von der Sängerin erwidert werden. Und das, was sich da abspielt, abspielt in der mannigfaltigsten Weise, das ist eigentlich ein Konflikt, der dadurch entsteht, daß ein die Sängerin glühend Liebender da ist, dessen Liebe nicht erwidert wird, der aber auch nicht einfach abgestoßen wird, der eigentlich im Grund genommen immer mehr und mehr herangezogen wird, der dadurch aber immer mehr und mehr in Unruhe, in Aufregung hineinkommt.

Dies bemerkt derjenige, der da erzählt, was in der Novelle geschildert wird, der nicht der Autor der Novelle ist - es ist eine sogenannte «Ich-Novelle» -, und er meint es gut mit dem anderen. Man muß noch erwähnen, daß das eigentliche Ich der Novelle verlobt ist und sich in den nächsten Wochen verheiraten will, so daß ausgeschlossen ist, selbstver­ständlich, daß eine Eifersucht vorliegen würde. Das Ich der Novelle meint es gut mit dem anderen und stellt ihm eines Tages vor, wie die Dinge liegen. Dadurch werden dem anderen gleichsam die Augen geöff­net, und er fühlt sich gedrängt, eine Aussprache mit der Sängerin herbeizuführen. Diese Aussprache hat zur Folge, daß er das Haus verläßt und sich zurückzieht in eine Gegend außerhalb der Stadt. Aber trotzdem er versprochen hat, nicht mehr an diese Dame zu deriken, die Dame zu vergessen und sich mit allem möglichen anderen zu beschäfti­gen: er ist nicht mehr fähig dazu, ist nicht mehr fähig, aus dieser Unruhe herauszukommen. Die Gedanken spielen immer wieder und wieder, die während seiner Bekanntschaft mit der Dame gespielt haben. Er verläßt die Stadt und wohnt einige Zeit draußen. In dieser Zeit hat sich das Ich der Novelle vermählt, mußte dann eine Reise unternehmen. Auf dieser Reise trifft er den anderen, trifft ihn in einem furchtbaren Zustand in einem Hotel. Der andere erzählt - das kommt heraus, während sie sprechen -, wie er sich eben zurückgezogen hat von Paris, wie er eine Weile versucht hat, allein zu leben, wie er dann einen Ausritt unternahm

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nach außerhalb seines Gutes, wie er unglücklicherweise gerade die Reisegesellschaft der Dame, die auch außerhalb von Paris war, getroffen hat, wie alle Gefühle wieder aufgelebt sind, und wie er jetzt eigentlich mit zwei Revolvern herumgeht, um seinem Leben bei der ersten Gele­genheit ein Ende zu machen.

Das Ich der Novelle meint es mit diesem anderen noch immer gut und lädt ihn zu sich, dahin wo er sich ein Heim gegründet hat: er hofft, ihn auf andere Gedanken bringen zu können. Der Betreffende folgt der Einladung, die geeignet wäre, ihm ein sympathisches Milieu in dem gastlichen Hause zu gewähren. Er kann aber nicht zu sich kommen, er kommt vielmehr immer weiter und weiter herunter und ist endlich soweit, daß er den Selbstmord beschlossen hat. Die beiden Freunde sprechen miteinander, und das Ich der Novelle bringt es dahin, daß der andere wenigstens einen kleinen Aufschub gewährt. Das Ich der Novelle sagt, er müsse verreisen, und weil er nicht sagen wollte: Warte solange, bis ich zurückkomme - das würde der andere vielleicht nicht getan haben, er würde sich inzwischen erschossen haben -, nimmt er ihm ein für den anderen bindendes Versprechen ab. Er sagt: Schütze meine Frau, bis ich zurückkommen werde.

Er reist, nachdem der andere das Versprechen gegeben hat, nunmehr nach Paris, mit dem Gedanken, die Sängerin zu veranlassen, auf das Land hinauszukommen, damit irgend etwas geschehen könne, was den Freund aus der elenden Situation herausbringe. Er fährt also in die Stadt und kommt mit der Sängerin zurück aufs Land hinaus. Sie fahren zu dem Zaune des Landhauses des Ich der Novelle. In dem Moment, wo der Zaun es gestattet, bemerkt das Ich der Novelle, wie ein Mensch, der an dem Tore gestanden hatte, nun zurückgelaufen ist. Sie fahren weiter auf das Haus zu, da fällt ein Schuß. Der andere hat sein Versprechen gehalten, die Frau getreulich bewacht. Er hat aber einen Wächter aufge­stellt, der ihm sofort melden sollte, wenn der Reisende zurückkomme. Der sagt ihm: Jetzt kommt er zurück. - Da hat er sich erschossen.

So bringt das Ich der Novelle die Sängerin nun ins Haus, und von diesem Punkte an will ich Ihnen die Worte nun lesen.

« . . Am Abend erreichten wir das Schloß. Es fiel mir auf, daß, als

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ich in den Park einfuhr, ein Bauer, welcher uns erwartete, mit Blitzesschnelle auf das Schloß zulief und daß, als wir kaum die halbe Allee durchfahren, ein Schuß fiel. So sehr war ich indes von dem Gelingen meiner Unternehmung erfüllt, daß mir gar nicht in den Sinn kam, was er bedeute. Die Überraschung sollte mir nicht lange vorent­halten bleiben; wir fuhren vor, es kam niemand herbei; der Kutscher knallte, ich sprang heraus, die Gaussin mir nach; das erste, was wir hören, ist der Schrei der Kammerjungfer meiner Frau, welche toten-bleich auf uns zukommt und mit dem Ausruf: vor uns niedersank. Wir eilten nach dem Zimmer des Marquis, die Stube war voll Menschen, ich wies sie alle hinaus, schloß die Tür und stand mit Manon allein neben der Leiche des jungen Mannes, die auf der Erde lag. Sie sah ihn einige Momente starr an, darauf stieß sie einen Schrei aus, sank in die Knie und neben ihm zu Boden. Ohnmächtig ward sie nicht. Sie ergriff seine Hände, legte die ihren auf seine Stirn - er hatte die Wunde mitten in der Brust -, sah zu mir auf, zu ihm nieder und fing plötzlich mit lauter Stimme zu singen an. Das erfüllte mich mit Grausen; ich glaubte, sie wäre wahnsinnig geworden.

Unterdessen kam einer meiner Verwalter herbei, welcher etwas Arzneikunst verstand und gewöhnlich das Amt eines Doktors versah, wo nicht viel zu riskieren war. Nie werde ich den Todesschrecken vergessen, der sich auf seinem Gesichte malte, als er das Paar erblickte, den toten Marquis und die singende Gaussin daneben. Sie schwieg jetzt, stand auf, sah mich noch einmal lange an und verließ das Zimmer. Ich folgte ihr nach, um ihre Befehle entgegenzunehmen. Sie sagte: Ich führte sie in das erste beste, ließ ihre Kammerjungfer holen und eilte zu meiner Frau. Ich hörte zu meinem Glück, daß sie auf einem Spaziergange begriffen sei, ging ihr entgegen und teilte ihr das Geschehene mit. Da wir beide oft über den Marquis gesprochen und unter allen Möglich­keiten auch ein solches Ende sattsam erwogen hatten, war sie weniger erschrocken als betrübt. Ich geleitete sie zum Schlosse und gab wegen des Marquis meine Befehle. Die Leiche hatte man aufs Bett gelegt, sein Bedienter saß daneben und weinte bitterlich, indem er sprach: #SE161-098

wäre in den Park eingefahren, so steht mein Herr auf, macht ein Zeichen in das Buch, in dem er las, greift in die Tasche, gibt ihm einen Louisdor, nimmt die Pistole vom Tisch und geht in die andere Stube; keinen Augenblick, daß er die Tür hinter sich zugedrückt, so war er tot.> Ich machte mir Vorwürfe. Vielleicht hätte ich ihn retten können, wenn ich energischer aufgetreten wäre. Wäre die Gaussin zur rechten Zeit angekommen, so hätten wir dies Unglück vielleicht nicht erlebt. Auch dachte ich: Vielleicht hat ihn die Vorsehung vor etwas bewahren wollen, das noch schrecklicher war; denn wenn sich auch die Sängerin entschloß, ihn zu heiraten, und das glaube ich ihr, obgleich sie es mir erst hinterher versicherte, die Verhängnisse, welche ein solcher Schritt mit sich führen mußte, wären nicht ausgeblieben und hätten ein Elend im Gefolge haben können, gegen das alles andere erwünscht schien.

Ich ging zu ihr. Sie war gefaßt; man sah ihr, sozusagen, nicht viel an. Sie besprach mit mir die Seelenstimmung des Marquis und seine natürliche Anlage zu einem so traurigen Lebensende. Doch so gefaßt sie war, fühlte ich doch, daß die innerliche Erschütterung, die sie empfangen, sehr stark gewesen sei und fürchtete die Nachwirkung. Ich stellte sie meiner Frau vor, wir aßen zusammen und zogen uns zurück.

Am anderen Morgen ward mir die mit ihr vorgegangene Verände­rung auffallend. Sie sagte, sie befände sich wohl, ihr Aussehen hatte aber etwas so Abgespanntes, ihr Wesen etwas so Zerstörtes, daß der Augenschein ihre Behauptung Lügen strafte. Sie sprach davon, bald aufzubrechen und bat, ihr für die nächste Nacht ein anderes Zimmer anzuweisen. Dies geschah; wir brachten den Tag still hin und sie ging nicht eher zur Ruhe, als bis alle Anordnungen zur Abreise gemacht waren.

Am nächsten Tage kam sie nicht zum Frühstück. Die Kammerjung­fer bat mich, zu ihrer Herrin ans Bett zu kommen. Sie empfing mich mit einem matten Lächeln und war so bleich und hohiblickend, daß ich meine Überraschung nicht zu verbergen vermochte.

Lieber Freund, sagte sie, Sie finden mich übel aussehend und wollen es nicht Wort haben?

Finden Sie das nicht natürlich?

Ja, Sie sind immer der Gefühlvolle, Zurückhaltende. Aber es hilft hier kein Verstecken. Ich fühle den Tod in mir.

Beste Freundin! - rief ich entsetzt aus.

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Ich fühle ihn; denn ich habe seit zwei Nächten den Marquis gesehen. Wachend! Hier herantretend! - Er zieht mich nach sich!

Ich betrachtete sie mit Aufmerksamkeit. Es lag nichts Überspanntes in ihren Augen, nichts Wahnsinniges in ihrer Stimme.

Als ich ihn in seinem Blute liegen sah, fuhr sie fort, ward das Gefühl, dies Unglück verschuldet zu haben, so mächtig in mir, daß ich aufschrie, weil ich es nicht länger ertragen konnte. Mir war, als riefe mir Etwas unglaublich dringend ins Ohr: Du trägst die Schuld! Du hast ihn gemordet! Deshalb, nur um diese Stimme nicht zu hören, fing ich an zu singen, immer lauter und lauter, doch ich übertäubte die Stimme nicht. Ich höre sie immer und immer. Nachts konnte ich nicht schlafen, ich lag und sah mir die Schatten an, welche die Möbel im Lichte der Nachtlampe warfen. Da springt die Tür auf, es entstand nur ein feiner dunkler Streifen. Durch diesen schob sich wie ein papier-dünner Rauch der Marquis herein; er hatte die Augen geschlossen, er schwebte oder ging langsam auf mich zu, stand neben meinem Bette, leibhaftig wie Sie und mit geschlossenen Augen. Ich wollte ihn nicht ansehen, aber er zwang mich dazu, ich mußte die Augen auf ihn richten; da schlug er plötzlich die seinigen auf und sah mich an; das ertrug ich nicht, ich verlor die Besinnung. Vorige Nacht dasselbe Spiel. Ich ertrage es nicht lange mehr! Ich fühle, wie er mit seinen Augen das Leben aus mir saugt.

Ich suchte ihr die Erscheinung mit allen Gründen der Physik, Philosophie und Religion auszureden, sie blieb fest . . . Ich bin ent­schlossen abzureisen, sagte sie, vielleicht ist sein Schatten nur an dies Haus gebannt. Dagegen opponierte ich. Ich konnte sie nicht so allein reisen lassen und auch meine Frau nicht wieder verlassen, welche ihrer Niederkunft entgegensah. Ich machte ihr deshalb den Vorschlag, in das Haus meines Verwalters zu ziehen, und versprach, die nächste Nacht an ihrem Bette zu wachen. Dazu ließ sie sich endlich bereden, stand auf und wankte wie ein Schatten umher.

Am Abend, als sie sich niedergelegt hatte, rief mich die Kammer-jungfer zu ihr. Ich ließ einen Tisch mit Lichtern nahe an ihr Bett setzen, eine spanische Wand darum stellen und begann, nachdem ich einige Zeit mit ihr gesprochen, in einem Buche zu lesen. Sie schien zu schlafen, die Lichter brannten dunkel; ich putzte sie, trank etwas Wein und Wasser und sah die Tür an. Plötzlich - sie war von altem Holze und nicht fest - sprang sie auf; die Klinke mochte nicht recht

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gefaßt haben. Ich wollte leise hingehen, um sie lautlos zuzudrücken, als ich, mich nach Mademoiselle de Gaussin umwendend, sie aufrecht mit starren Augen im Bette sitzen sah. Sie streckte die Arme nach mir aus, klammerte sich an die meinigen und wies mit dem Finger gerade aus:

Da kommt er!

Es war durchaus nichts zu erblicken.

Wo? sagte ich.

Dort!

Ich machte mich von ihr los und trat an den Fleck.

Hier?

Kommen Sie, schrie sie auf, er steht vor Ihnen!

Ich war mit einem Sprunge neben ihr.

Halten Sie mir die Augen zu, ich kann es nicht ertragen! Da steht er! Er berührt Ihre Knie!

Ich drückte ihr beide Hände auf die Augen, sie atmete mit Anstren­gung, aber zu sehen war nichts.

Nach einer Weile schob sie die Hände zurück. Ich muß sehen, ob er noch da ist, sagte sie leise.

Es ist gar nichts hier, beste Freundin! antwortete ich und ließ sie los. Sie blickte umher.

Er ist wieder fort! Oh, wenn er noch einige Male so kommt, kann er es bald bequemer haben. Wir werden dann Arm in Arm durch die Türen schleichen.

Diese Idee machte mich schaudern. Sie legte sich zurück und erklärte, daß sie am nächsten Tage sicher abreisen und in ein Kloster gehen würde. Ich suchte ihr das auszüreden. Gehen Sie nach Paris, sagte ich, dort werden Sie vergessen . . .

Ich habe es verdient! unterbrach sie mich; ich habe es auch verdient, daß Sie mir einen solchen Vorschlag machen. Das vergesse ich nie­mals! Ihn vielleicht, wenn er mich zu quälen aufhörte, aber meine Schuld - das bleibt festgeschmiedet!

Ihre Schuld ist so gut wie keine, sagte ich. Daß er Sie liebte, war eine Fügung, daß Sie ihn nicht liebten, lag nicht in Ihrer Macht zu ändern; daß Sie ihn geheilt glaubten, war bei seiner Verstellung nur zu natürlich.

Oh, rief sie, kann eine Mutter sich jemals trösten, die ihr Kind ins Wasser fallen ließ? Meinen Sie, nur der böse Wille machte die Schuld

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aus? Könnte man da nicht alle Reue mit dem Gedanken an höhere Notwendigkeit fortspülen? Macht Gott uns schuldig, so will er auch, daß wir die Folgen tragen. Es ist gesagt, daß ich diese Ketten ewig werde rasseln hören.

Ich hatte meine Gründe bald erschöpft. Sie verließ das Schloß, ich begleitete sie nicht. Die Geburt eines Sohnes riß mich aus allen trüben Gedanken. Ich gab diesem glücklichen Ereignisse zu Ehren Feste; die Taufe, die erste Erziehung, die Sorge um meine Frau nahmen mich so vollständig in Anspruch, daß jeder es begreiflich finden wird, wenn ich nach dem unglücklichen schönen Wesen, an das ich freilich zu Zeiten dachte, keine Nachforschungen anstellte. Eines Tages erhielt ich ein Paket von Paris, das bei meinem dortigen Geschäftsführer unter meiner Adresse abgegeben war. Es enthielt ein Etui und einen Brief, beides versiegelt. Ich erbrach den letztern zuerst; er enthielt nur wenige Zeilen.

Liebster Freund!

Wenn Sie dies erhalten, bin ich nicht mehr. Ich wußte, daß mich der Marquis zu sich rufen würde. Kam er auch nicht mehr, meine Nächte zu stören, ich trug etwas in der Seele, das seine Stelle vertrat. Sagen Sie Ihrer Gemahlin, ich hätte mich an nichts so gern erinnert, als an ihre Güte gegen mich. Bewahren Sie Ihren Sohn vor meinesgleichen. Gönnen Sie beiliegendem Bilde ein ruhiges Plätzchen. Sie brauchen das Siegel nicht zu erbrechen. Zerstören mochte ich es nicht; in falsche Hände kommen sollte es nicht. Sehen Sie es an, so denken Sie, ich hätte doch vielleicht ein Herz gehabt.

Manon de Gaussin.

Ich öffnete das Etui und das unglückliche, mir zugleich als kürzlich verstorben gemeldete Mädchen strahlte mir mit allem Zauber entge­gen, welchen sie in ihren schönsten Tagen besaß. Die Tränen traten mir in die Augen und ich gedachte aller glücklichen Stunden, die ich in ihrem Hause verlebt hatte.»

Nun, wir haben hier eine ganz sachgemäße Schilderung, wie der Atherleib eines Verstorbenen einem anderen Menschen erscheint, eine ganz sachgemäße Schilderung. Unmittelbar nach dem Tode sah Manon

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de Gaussin den wandelnden Ätherleib des Verstorbenen. Von dieser Erscheinung - ich wollte Ihnen nur zeigen ihre Verarbeitung in einer Novelle schon aus den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts-, also von der Erscheinung des Ätherleibes eines Toten, und von dem, was wir von einer solchen Tatsache über die geheime, verborgene Beziehung, die zwischen Menschen walten kann, lernen können, wollen wir dann morgen zu weiteren Betrachtungen übergehen. Versuchen Sie zu fühlen, wie hinter dem, was in dem Maja-Ausschnitt in dem Bewußtsein der Manon de Gaussin zugegen war, ein weites Reich spielt, und wie aus diesem weiten Wellenreiche heraufkam in den Stunden, die sie unmittel­bar nach dem Tode des Marquis durchmachte, dasjenige, was sich als Begegnung mit dem Ätherleib des Verstorbenen abspielte.

Ja, dieser Ätherleib des Menschen, er steht in innigerer Beziehung zu dem, was die mannigfachen Verhältnisse sind, in die wir einverwoben sind in dem Weltall, als das, was wir von ihm in unserer Selbsterkenntnis und unserem Bewußtsein tragen.

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SECHSTER VORTRAG Dornach, 6. Februar 1915

Ich habe gestern die Erzählung von der Manon de Gaussin angeführt aus dem Grunde, weil in ihr wirklich enthalten ist eine sachgemäße Schilde­rung des Nachwirkens der Ätherorganisation, des Ätherleibes nach dem Tode. Selbstverständlich kann man nicht jede novellistisch-künstlerische Darstellung in einem solchen Zusammenhange anführen, weil natürlich der Darsteller sich die unsachlichsten Vorstellungen machen könnte, und man dann Unrichtiges anführen würde. Aber ich habe eben ein Beispiel gewählt, wo in einer wirklich sachgemäßen, also in einer dem objekti­ven Tatbestande entsprechenden Weise das Nachwirken eines solchen Ätherleibes geschildert wird.

Das ist auch gewissermaßen das erste, was der geisteswissenschaftli­chen Erkenntnis entgegentritt, daß, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, der Zusammenhang von Ätherleib, Astralleib und Ich sich herauslöst aus dem physischen Leibe, und daß dann gewisser­maßen ein Zwischenzustand eintritt, in dem auf der einen Seite der physische Leib da ist, und auf der anderen Seite noch zusammenhängend da sind: der Ätherleib, der Astralleib und das Ich.

Wir wissen ja, daß dann nach verhältnismäßig ganz kurzer Zeit der Ätherleib sich loslöst und das Ich mit dem Astralleibe die weitere Weltenwanderung in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, als zusammenhängend mit der menschlichen Individualität, durchzumachen hat.

Nun mussen wir uns klar sein darüber - ich habe das auch in der letzten Zeit öfter betont -, daß die Ätherorganisation, der Ätherleib etwas ist, was vorbestimmt ist, gewissermaßen das ganze maximale Lebensalter hindurch das menschliche Erdenleben zu versorgen. Ein Mensch, der ein hohes Alter erreicht, hat selbstverständlich noch ganz denselben Ätherleib, den er als Kind gehabt hat. Wenn nun der Mensch in einer Inkarnation frühzeitig den physischen Plan zu verlassen hat, so wie als Beispiel - das muß uns ja naheliegen - unser lieber Theo Faiss, und sich dann der Ätherleib abgetrennt hat von dem Astralleib und dem

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Ich, dann ist dieser Ätherleib in einem anderen Falle als bei einem Menschen, der ein gewisses Maximalalter erreicht hat, der die Kräfte dieses Ätherleibes durch Jahrzehnte seines irdischen Lebens hat verwen­den können. Die Kräfte, die im Ätherleibe noch sind, wenn der Mensch frühzeitig stirbt, würden, wenn nach seinem Karina der Mensch auf der Erde hätte bleiben können, ihre Verwendung gefunden haben im weite­ren Leben. Diese Verwendung besteht ja in einem fortwährenden Ver­brauch des Ätherleibes. Der Ätherleib, der sich also bei einem in frühem Alter Gestorbenen abtrennt, hat viel unverbrauchte Kräfte; die sind enthalten im Ätherleib. Es sind dies gewissermaßen Kräfte, die überge­gangen sind in die geistige Welt, die aber noch lange hätten versorgen können ein physisches Leben.

Diese Kräfte sind selbstverständlich nicht vernichtet, wenn ein Mensch durch die Pforte des Todes gegangen ist. Denn nichts - und viel weniger etwas in der geistigen Welt als in der physischen Welt - wird vernichtet. Alles, was an Kräften entsteht, verwandelt sich in andere Formen. Wir wissen ja, daß dieses Gesetz von der Erhaltung der Kraft in der physischen Wissenschaft seit dem Jahre 1842, wo es von Julius Robert Mayer zuerst aufgestellt worden ist, eine große Rolle spielt. Es ist überall wirksam, auch bei der einfachsten Erscheinung. Wenn man zum Beispiel mit der Hand über eine Fläche streicht, wendet man eine Kraft an. Diese Kraft geht nicht verloren; die Stelle wird warm. Es verwandelt sich die Kraft des Druckes, des Drückens und Streichens in Wärme. Keine Kraft geht verloren, die Kräfte verwandeln sich.

Ebensowenig geht eine Kraft in der geistigen Welt verloren. So daß wir sagen können: In die geistige Welt gehen über solche Kräfte des Ätherleibes, die von Frühverstorbenen herrühren und die nun gewisser­maßen, da sie nicht weiter verwendet werden zu einem irdischen Leben, verwendet werden zu alle dem, was in Betracht kommt für die menschli­che Individualität, die ja mit dem Ich und dem Astralleibe weiterlebt. Diese Kräfte, die sonst verbraucht werden würden für die irdische Individualität, finden ihre Verwendung im Geistigen, und zwar verblei­ben sie in der elementaren Welt, wie ja der Ätherleib überhaupt sich auflöst in der sogenannten Elementarwelt. Sie bilden in der elementaren Welt ein wirkliches Kraftreservoir, eine wirkliche Kraftquelle. Das ist

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schon eine sehr bedeutsame Erscheinung, denn sie beleuchtet uns den Zusammenhang zwischen der physischen Welt und der geistigen in einer konkreten Weise.

Es genügt nicht für eine wirkliche Erkenntnis, nur im Abstrakten sich vorzustellen, daß die physische Welt mit der geistigen zusammenhängt, und daß die geistige Welt hinter der physischen Welt ist. Das Geistige, das hinter der physischen Welt ist, ist gewissermaßen verschiedener Provenienz. Da ist verschiedenes in unserer geistigen Welt, die uns unmittelbar umgibt, was von solchen unverbrauchten Ätherleibern her­rührt. Solchen unverbrauchten Ätherleibern dankt insbesondere die für die physische menschliche Erdenentwickelung bedeutsame hellseheri­sche Kunst sehr vieles. Dasjenige, was solche Ätherleiber darstellen in der elementaren Welt, die unmittelbar hinter unserer physischen Welt liegt, das sind insbesondere für die hellseherischen und für die von der Geisteswissenschaft inspirierten Erkenntnisse bedeutsame Anregungen.

Fassen Sie das wohl auf. Gewissermaßen haben wir solchen Frühver­storbenen, wie unser Theo Faiss es ist, das zu danken, daß sie ihre Ätherleiber unserer elementarischen Welt gegeben haben und daß viele, viele spirituelle Einflüsse gerade von solchen Ätherleibern ausgehen können.

Ich glaube, ich brauche kaum zu bemerken, daß solche Einflüsse nur ausgehen können von solchen Seelen, die im Verlaufe eines wirklich naturgemäßen Karmas ihr Ende gefunden haben, niemals von irgend jemandem, der aus menschlichem Willen heraus, etwa durch Selbstmord, zu seinem Tode etwas beigetragen hat. Da verhält sich die Sache ganz anders, denn man vernichtet fruchtbare Kräfte des Ätherleibes durch die Entschlüsse, die aus jener Bewußtseinsmaja heraus, von der ich gestern gesprochen habe, kommen; und aus dieser kommen alle Entschlüsse heraus, welche in bezug auf den Tod noch im Erdenleben gefaßt werden können. Das ist, wie gesagt, nur eine Zwischenbemerkung.

Es ist zu sagen, daß solche Ätherleiber, wie sie eben jetzt gemeint worden sind, ganz besonders mit zugrunde liegen den spirituellen Anregungen, die wir haben können. So wird die spirituelle Bewegung, der wir dienen - wie wir das erkennen können -,in einer ganz hervorra­genden Weise zu danken haben für das, was ihr also gegeben werden

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kann von dieser Seite her. Ich brauche vielleicht auch darauf nicht hinzudeuten, wie bedeutsam unsere Erkenntnis bereichert werden kann in bezug auf die Liebe und Verehrung, die wir unseren Toten entgegen­bringen, dadurch daß wir solches wissen, daß wir unterscheiden lernen, wie wir jugendlichen Personen zu danken haben, und wie wir im reifen Alter Hingestorbenen zu danken haben, die aufgenommen haben in ihre Individualität dasjenige, was sonst unverbrauchte Kräfte des Ätherleibes sind.

Wenn jemand in einem höheren Alter stirbt - wir haben auch diesen Fall in den letzten Wochen durchmachen müssen -, so hat er in seinen Astralleib hineingenommen dasjenige, was sonst noch im Ätherleibe ist. Er hat gewissermaßen menschlich gemacht, was sonst kosmisch ist. Dadurch geht dann von ihm selbst, von seiner Individualität, die bedeut­same Anregung aus, von der ich gesprochen habe. Und er ist dadurch in der Weise ganz besonders wirksam, daß diese Anregung dann in die speziellen Menschenherzen auch derer aufgenommen wird, die dazu nicht von der Geisteswissenschaft oder vom Hellsehertum ausgehen, sondern die sich in ihrem Leben den gewöhnlichen Impulsen überlassen, daß auch diese Menschen in ihre Seelen aufgenommen erhalten dasje­nige, was so - weniger kosmisch und dafür mehr menschlich - herein-fließt in die spirituelle Welt, in die wir mit unserer Seele immer eingebet­tet sind.

Damit haben wir aber schon eines bezeichnet, was wir zu suchen haben in dem, was ich nennen möchte das Todesspektrum, diese ätheri­sche Organisation, welche zurückbleibt dann, wenn das Ich und der Astralleib sich lösen. Ich möchte sie das Todesspektrum nennen. In dem sind also solche Kräfte enthalten, wie ich sie eben charakterisiert habe, aber es ist in ihm auch noch manches andere enthalten. Um gewisserma­ßen zu studieren, was darinnen noch enthalten ist, müssen wir an solches anknüpfen, wie ich es gestern vor Ihre Seelen hinzustellen versuchte mit der Novelle.

Bedenken Sie, daß - wie ich Ihnen erzählt habe, und was nach dem ganzen Verlaufe der Handlung in der Novelle Ihnen ja ersichtlich sein wird - zwischen Manon de Gaussin und dem Manne, der sich dann erschossen hat, ein karmischer Zusammenhang besteht, der selbstverständlich

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das Ergebnis von früher miteinander verbrachten Erdenleben ist. Solch ein karmischer Zusammenhang besteht in allen dichterischen Kunstwerken. Sie beruhen eben darauf - und gerade die wirksamsten beruhen darauf -, daß solche karmischen Zusammenhänge, die sich aus früheren Erdenleben ergeben, nicht ganz ausgelebt werden. Die Manon de Gaussin steht gegenüber dem Manne, der sie liebt. Sie versteht seine Liebe nicht, sie sträubt sich aus ihrer Bewußtseinsmaja heraus gegen das volle Ausleben des Karma. Daraus entstehen jene Konflikte, die ganz besonders gut künstlerisch zu verwerten sind, weil sich aus der Bewußt­seinsmaja heraus die Menschen auflehnen gegen das, was karmisch vor­herbestimmt ist.

Selbstverständlich können sie es ja nicht wegschaffen! Ich will nicht damit sagen, daß man das Karma wegschaffen könne: es muß ja in einer nächsten Inkarnation ausgelebt werden. Dem Karma kann der Mensch selbstverständlich nicht entweichen, wenigstens in den allerseltensten Fällen, und in diesen muß das Karma transformiert werden. Aber es kann in einer Inkarnation sich die Seele gegen das volle Ausleben des Karma sträuben. Dann entstehen solche Dinge wie die, welche die Handlung dieser Novelle bilden. Dann geht der eine Mensch von dem physischen Plane weg, und das Karma hat sich nicht so gestaltet, wie es sich hätte gestalten sollen. Aber dieses «sollen» des Karma ist einge­schrieben in die Menschennatur. Es hätte sich eben sollen das Karma in einer gewissen Weise vollziehen. Wir können gewissermaßen dadurch, daß wir unser Karma in einer bestimmten Inkarnation nicht erkennen, dadurch, daß wir uns dagegen sträuben, dieses Karma verschieben auf eine spätere Inkarnation. Aber in uns war es doch, es war darinnen in uns. Aus dem einen Leben wischen wir dann gleichsam das Karma weg, weg aus den Geschehnissen des Lebens, die sich zwischen Geburt und Tod abspielen.

Und so ist aus dem Leben der Manon de Gaussin und desjenigen, der sie geliebt hat, dasjenige hinweggewischt, was sie erlebt hätten, wenn sie ihr Karma voll ausgelebt hätten. Das ist weggewischt aus den physischen Ereignissen des Lebens. Aber woraus es nicht weggewischt werden kann, woraus es nicht getilgt werden kann, das ist das Todesspektrum. Da bleibt es darinnen als Wille, als Wollung, möchte ich sagen, und dann

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kommt das zustande, daß nach dem Tode eines solchen Menschen dieses Todesspektrum dem Willen des unausgelebten Karma folgt. Wenn also die Manon de Gaussin Ruhe sucht und dies im entsprechenden Augen­blicke ist, dann kommt zu ihr das Todesspektrum, aus dem Grunde, weil in diesem Todesspektrum noch der Wille lebt, der die Verbindung der beiden hätte hervorrufen sollen. Das was häue geschehen sollen, aber nicht ausgeführt worden ist, das führt - so weit das ein solches Spektrum ausführen kann - das Todesspektrum aus.

Es ist also auch in dieser Beziehung der in dieser Novelle geschilderte Zusammenhang sachgemäß geschildert. So daß wir sagen können: außer dem, was wir schon angeführt haben, ist in diesem Todesspektrum noch enthalten das unausgelebte Karma; und es geschieht nach dem Tode von Menschen in der elementarischen Welt etwas, was wie ein bildlicher Ablauf des unausgelebten Karma ist. Dadurch haben wir es - fassen Sie das wohl - mit zweierlei zu tun. Wenn ein Mensch mit unausgelebtem Karma stirbt, so bleibt selbstverständlich für ihn die Notwendigkeit, in einer folgenden Inkarnation dieses unausgelebte Karma auszuleben. Das geschieht einmal in der Zukunft. Aber mit dem Todesspektrum geschieht etwas, was wie ein prophetisches Bild ist dessen, was sich einmal abspielen muß, was sich hätte abspielen sollen, aber sich noch nicht abgespielt hat. Man erlebt also unausgelebtes Schicksal, Karma, wenn man hellsehend das Todesspektrum betrachtet.

Man kann sagen, daß mit dem Ätherspektrum des Menschen nach dem Tode etwas vorgeht, was im Leben hätte vorgehen können, aber nicht vorgegangen ist. Also ein Bild von Vorgängen, die hätten Lebens­vorgänge werden können, kann in diesem Todesspektrum erlebt werden. Das ist ein sehr bedeutsamer esoterischer Zusammenhang. Dasjenige, was menschliche Individualität ist, geht ja fast unmittelbar nach dem Tode zu einer Art von kosmischem Dasein über, das Ich und der Astralleib, und hängt zusammen, eben noch durch Tage hindurch, mit dem Todesspektrum, dem Ätherleibe, so daß der unausgelebte Karma­wille der menschlichen Individualität tätig ist aus dem Kosmos herein in das Todesspektrum. Dann löst sich nach Tagen dasjenige, was den Sphären des Kosmos angehört, von dem, was seine eigentümliche, eigenartige Wesenheit durch den Zusammenhang mit dem physischen

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Menschen gehabt hat und was nur dadurch die Gestalt des physischen Menschen angenommen hat, daß es eben im physischen Menschenleibe eingeschlossen war. Das Ich und der Astralleib haben nicht diese physi­sche Menschengestalt; aber das Todesspektrum, der Ätherleib hat in gewisser Weise auch des Menschen physische Gestalt. Und es verliert dieses Todesspektrum erst im Verlaufe von Tagen diese menschliche Gestalt, denn wenn die Seele sich losgelöst hat von dem physischen Leibe, verliert sie diese menschliche Gestalt. Der physische Leib hat dieses Todesspektrum durch seine Kraft in seiner Gestalt erhalten; da es nun aber außerhalb desselben ist, nimmt es andere Gestalten an, die durch die äußeren Kräfte des Kosmos bedingt werden.

Es ist also gewissermaßen dadurch begreiflich, daß eine sachgemäße Schilderung das Herausgehen der menschlichen Individualität aus dem physischen Leibe, das mit dem Ätherleibe zusammen erfolgt, so darstel­len muß, als ob das Todesspektrum sich heraushebe gewissermaßen in der Form, die der physische Leib gehabt hat. Wenn also jemand den Moment des Sterbens sachgemäß schildern will, so wird er schildern, wie sich dieser Ätherleib heraushebt, gleichsam wolkenhaft heraushebt und im Herausheben noch die Gestalt des physischen Leibes zeigt mit seinen Armen und den anderen Gliedern, und wie dieses sich allmählich auflöst in die aus dem Kosmos hereinwirkenden, mehr spirituellen Kräfte. Das ist eine Transformation, eine Metamorphose, ein Übergang.

Die hellseherische Vorstellung wird uns aus dem Grunde schwierig, weil im physischen Leben der Mensch gebunden ist an Zeit und Raum, und zwar an diejenigen Formen von Zeit und Raum, die wir gerade im physischen Leibe zur Verfügung haben, nämlich den gewöhnlichen dreidimensionalen Raum und die eigentlich eindimensionale Zeit mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und so haben viele die Neigung, auch für die rein spirituellen Wahrnehmungen beizubehalten, was der dreidimensionale Raum und was die eindimensionale Zeit mit ihrer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist. Wir können schon von Zeit und Raum auch in bezug auf die spirituelle Welt sprechen, aber sie sind da wirklich anders. Das ist ja das Schwierige, daß man die Worte, die für die physische Welt gemacht sind, wirklich nur mangelhaft verwenden kann für die Darstellung der spirituellen Welt.

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Wenn man von Zeitvorstellungen spricht in der physischen Welt, so ist das Vergangene eben vergangen. Das Vergangene liegt hinter uns, und wir können es nur in der Erinnerung festhalten; in der unmittelbaren Anschauung können wir nur das Gegenwärtige vor uns haben. So ist es in der spirituellen Welt nicht. Schon in der elementaren Welt ist es nicht so, sondern das Vergangene kann da auch so vor uns stehen, wie in der physischen Welt ein Gegenwärtiges vor uns steht.

Also auf das, was vergangen ist, was sich zugetragen hat, was für den Verstand, für die physische Intellektualität nur in der Erinnerung festge­halten werden kann, worauf man nicht mehr hinschauen kann im äußeren Leben, auf das kann man hinschauen; wenn man die Pforte des Todes überschritten hat, kann man hinschauen von einem späteren Zeitpunkte auf einen früheren Zeitpunkt. Es ist dann gerade so, als ob man von einem späteren Zeitraume auf das, was physisch vergangen ist, wie auf ein Gegenwärtiges hinschaute, so wie man von diesem Punkt, wo ich stehe, physisch in die Ecke dort hinschauen kann. Das Vergangene ist wirklich da, steht tatsächlich lebendig vor uns, es umgibt uns.

Solch eine Anschauung wird insbesondere lebendig, wenn dasjenige geschieht, was vor ganz kurzer Zeit uns geschehen ist, wo wir eine liebe Freundin zur Bestattung zu geleiten hatten, und wo ihr erstes Ordnen der Bewußtseinsverhältnisse geschah unmittelbar in dem Momente, wo den physischen Leib die Verbrennung ergriff. In diesem Momente fing das Bewußtsein an, tätig zu sein. Wir hatten aber vorher, bevor der physische Leib der Verbrennung übergeben worden ist, die Totenfeier, und nun konnte beobachtet werden, wie die Tote lebendig vor sich hatte, so wie man im Raume etwas lebendig vor sich hat, diese Totenfeier.

Solche Dinge gehören allerdings zu demjenigen, was wir das Esote­rischste unserer Esoterik nennen können. Aber wir haben ja im Laufe vieler Jahre gestrebt danach, gewissermaßen die Möglichkeit uns zu erringen, so wie man von den gewöhnlichen Ereignissen des Tages spricht, unter uns auch sprechen zu können über solche geheimnisvollen Vorgänge. Und was wir sagen können, ist dieses: Es wird jedenfalls, wenn die jetzigen schweren Kriegszeiten vorüber sein werden, unser esoterisches Leben einen viel, viel energischeren und intimeren Charak­ter anzunehmen haben, als es jemals vorher gehabt hat. Es wird dann

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manches möglich sein, geradezu herausgefordert sein durch das Leid, durch das die Menschheit durchgegangen ist - ich meine nicht das einzelne Leid, das immer dem Egoismus entspringt, sondern das allge­meine Leid, durch das die Allgemeinheit durchgegangen ist -, durch dieses allgemeine Leid wird es möglich sein, vieles auch nach anderen Richtungen hin zu vertiefen, nach Richtungen hin, über die jetzt gerade geschwiegen werden muß, weil wir in einer allgemeinen Übergangszeit der Menschheit leben.

Fassen wir noch einmal gewissermaßen intimer ins Auge dieses Her-austreten der menschlichen Individualität, also des Ich und des astrali­schen Üeibes mit dem ätherischen Leibe, als ein Hervorgehen des dreigliedrigen Menschen aus dem physischen Leibe. Das ist ja ein Vorgang, der tagelang andauert, der seinen Anfang aber nimmt, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht. Dieser Vorgang zeigt also ganz besonders lebendig, wie in dem ätherischen Leibe des Menschen kosmische Kräfte sein können, zeigt aber auch, wie wir jetzt gesehen haben, gewissermaßen das unausgelebte Karma. Das ist ein Vorgang, der wirklich individuell verschieden ist für die verschiedenen Menschen, ein Vorgang, der nicht bei zwei Menschen der gleiche ist. Daher ist es auch so schwierig, diese Dinge zu schildern, weil sie wirklich nicht in zwei Fällen gleich sind, sondern überall verschieden sind.

Wenn wir diesen Vorgang ins Auge fassen, so ist es selbstverständlich, daß noch Verschiedenes andere - ich kann aber nicht alles auf einmal schildern - in diesem Todesspektrum enthalten ist. Aber wenn wir einmal zwei Eigenschaften haben, die in diesem Todesspektrum enthal­ten sind, so haben wir schon eine intimere Vorstellung, als wenn wir nut ein Wort, das Wort «Ätherleib», mit diesem Todesspektrum verbinden können. Unausgelebtes Karma ist in diesem Todesspektrum darinnen, und dadurch entsteht die Möglichkeit, gerade künstlerische Konflikte daraus zu gewinnen, dieses unausgelebte Karma in Zusammenhang zu bringen mit solchen Vorgängen nach dem Tode.

Ein rein exoterischer Künstler wird sich begnügen müssen, den Lebenskonflikt einfach hinzustellen und dann seine Menschen sterben zu lassen. Aber wenn, wie zum Beispiel bei Shakespeareschen Dichtun­gen, mit esoterischen Lebenszusammenhängen gerechnet wird - wie ich

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bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt habe, indem ich auf dasjenige hingewiesen habe, was hinter Shakespeare stand -, wenn gezeigt wird, wie die Dinge Zusammenhang haben mit tieferen Lebensgesetzen, wenn geschildert wird mit Berücksichtigung dessen, was hinter dem äußeren Vorgange steht, dann kommt das zustande, was wir zum Beispiel in dem Hamlet haben. Wir haben wahrhaftig recht viel unausgelebtes, sich verwandelndes Karma sich abspielen sehen in dem, was ausgeht von dem Geiste von Hamlets Vater. Da beginnt gewissermaßen schon der drama­tische Konflikt auch für die Hauptperson des Dramas, für Hamlet, durch das Eingreifen des unausgelebten Karma des Vaters.

Ein Künstler also, der den Zusammenhang der physischen Welt mit der geistigen Welt festzuhalten in der Lage ist, wird sich oftmals gedrängt fühlen, die Menschen nicht einfach so - wie der Monist es sich vorstellt und der Materialist - mit dem Tode hinfallen zu lassen, sondern anzudeuten, daß dieses Durchgehen durch den Tod ein Anfang zu neuen Ereignissen ist, zu Vorgängen, die noch konkreter sind als die konkreten Lebensvorgänge, die sich zwischen Geburt und Tod abspielen.

Um zu zeigen, wie die Kunst darnach streben kann, bereichert zu werden dadurch, daß sie das irdische Leben zum Ausgangspunkt ver­wendet für die Fortsetzung, die sich dann im geistigen Leben daran anschließt, habe ich zu Ihnen gesprochen von der Novelle, von der ich gestern auch ein Stück vorgelesen habe. Aber es ist überhaupt interessant zu beobachten, wie der Mensch darauf kommen kann, unausgelebtes Karma zu empfinden, wie der Mensch etwas schildern kann, was im eminentesten Sinne sich erfühlen läßt wie unausgelebtes Karma. Und hat er dann unausgelebtes Karma geschildert, da kann er sich natürlich gedrängt fühlen, am Ende seiner künstlerischen Schilderung bewußt darauf hinzuweisen, daß das unausgelebtes Karma ist. Und dann kann er sich gedrängt fühlen, gerade das darzustellen, wodurch dieses unausge-lebte Karma gleichsam elementarisch, in einer elementarisch realen Imagination sich auslebt, wenn wir das Leben in seiner Ganzheit und nicht bloß in seinem physischen Aspekte nehmen.

In dieser Beziehung möchte ich noch von einem anderen Kunstwerke sprechen, dessen Inhalt ich nur ganz kurz andeuten kann, noch viel kürzer, als das gestern der Fall war, weil es sich hier um einen zweibän­digen

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Roman handelt. Sie werden sehen, daß auch in diesen Schilderun­gen etwas von unausgelebtem Karma vorkommt. Ich werde so schnell wie möglich andeuten, inwiefern in diesem Kunstwerke unausgelebtes Karma zum Ausdrucke kommt.

Eine Mutter kommt mit ihrer Tochter aus Amerika nach Europa. Der Vater ist in Amerika vor längerer Zeit gestorben. Auf der Reise in Europa treffen sie einen Nachkömmling eines alten, in den formellen Traditionen festgewurzelten Adelsgeschlechtes. Die mannigfaltigsten Vorgänge spielen sich nun ab, wobei für den, der die Dinge in ihrem geistigen Zusammenhange beobachtet, sogleich klar wird, daß zwischen dem Manne, der in dem Kunstwerke Arthur genannt wird, und den beiden Damen, die der Mann einfach sieht auf der Straße, während sie ins Theater fahren, karmische Zusammenhänge walten. Diese karmi­schen Zusammenhänge führen dann auch zu den komplizierten Lebens-verhältnis sen, die sich da abspielen. Sie spielen sich so ab, daß wirklich in einem großen Kulturtableau der ganze Gegensatz der altgewordenen europäischen Kultur und der noch jungen amerikanischen Kultur geschildert wird. Mit einer eindringlichen Anschaulichkeit und hinge­benden Liebe wird der ganze Gegensatz der beiden Kulturen geschil­dert; deren Repräsentanten sind Emmy - so heißt die Tochter - und Arthur, der ihr entgegenläuft und sie furchtbar zu lieben anfängt. Es wird also der ganze Gegensatz in diesen beiden Seelen gespiegelt, und vieles spielt sich ab, was dem, der die geisteswissenschaftlichen Zusam­menhänge im Auge hat, sogleich erscheint als Folge des Karma, das zwischen den beiden spielt.

Gewissermaßen ist das äußere Milieu, mit dem man es in dem Zusam­menwirken amerikanischer und europäischer Lebensauffassung zu tun hat, etwas, was zusammenhängt mit der frischen, von historischen Traditionen unberührten Kultur Amerikas, und auf der anderen Seite mit der eingesulzten, ganz von Traditionen lebenden europäischen Kul­tur. In diesem ganzen Milieu lebt etwas, was sich spiegelt in den Seelen, und was Lebenskonflikte über Lebenskonflikte herbeiführt. Das führt dann auch zu dem letzten großen Lebenskonflikt, der darin besteht, daß Arthurs Vater, der gestorben ist, dem ein Gut gehörte, und der mit seinen ganzen Anschauungen in den alten Adelstraditionen noch darinnen

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stand, nun gewissermaßen mit seinem Gelde, oder vielmehr mit dem Schwinden seines Geldes herausgewachsen ist aus den alten Adelstradi­tionen - wie das heute in Europa so vielfach geschieht - und das Gut hat fallen lassen. Das Gut ist also verkauft worden, so daß Arthur um die Erbschaft dieses Gutes gekommen ist.

Nun spielt da in der edelsten Weise hinein, was nicht immer in dieser Weise der Fall ist, daß durch die Art, wie sich die amerikanischen Verhältnisse zu den europäischen stellen, eine kleine Aufbesserung geschieht. Mit ihrem Geld kann Emmy aushelfen, das heißt die Mutter, kann für Arthur das Gut zurückkaufen. Das geschieht auch, soll wenig­stens geschehen. Da ist aber noch so ein unklarer Sprößling, welcher dort geblieben ist; er weiß nicht recht, woher er gekommen ist, aber er treibt sich wie ein Vagabund so auf dem Gute herum. Es gehört ihm selbstverständlich nicht, aber in seinen, man möchte sagen, Wahnsinns­vorstellungen hat er den Gedanken, daß er da der Herr sei, und nun steigt ihm in den Kopf die Idee, daß das Gut ihm gehören sollte. Er findet von seinem Standpunkte aus, daß, indem dieses Gut wieder angekauft worden ist, ein Eingriff in seine Rechte geschehen sei; seine Rechte bestehen aber nur in einer Art dekadenten Wahnsinnsidee: er betrachtet sich als Herrn des längst einem reichen Bankier verpfändet gewesenen Gutes. Er treibt sich herum, wie man so geistig gestörte Menschen sich herumtreiben läßt, die nicht gerade gefährlich sind. Es spielt sich nun da ein Konflikt ab, der sich dadurch äußert, daß dieser Mensch wütend wird über den Ankauf des Gutes und daß er, da sich ihm die Gelegenheit dazu bietet, den Arthur wirklich auf dem Gute er­schießt.

Nun hat schon früher Emmy furchtbare Erlebnisse durchgemacht; sie muß auch noch das durchmachen, und infolgedessen entwickelt sich eine in ihrer Anlage vorhandene Krankheit - sie geht erst in die Zwanziger-jahre - weiter. Sie wird krank nach Montreux gebracht von ihrer Mutter und wird da, in Montreux, von einem außerordentlich sympathisch geschilderten Amerikaner gepflegt, einem Mr. Wilson und einigen ande­ren, die noch da sind. Es ist das gerade ein wunderbares Moment, ein ganz hervorragender Zug dieses Kunstwerkes, wie dieser Mr. Wilson geschildert wird. - Es lebt gleichsam ganz Nordamerika in ihm. Es ist

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dies in ganz wunderbarer Weise lebendig gemacht. Aber Emmy kann, trotzdem sie so gepflegt wird, auch von dem Arzte, der ihr noch in den Lebensweg tritt, der so gewissermaßen ein Nebenbuhler des Arthur ist, aber ein alter Freund von ihm, nicht geheilt werden. Sie stirbt in Montreux, und nun wird ihr Tod geschildert.

Beachten wir also aus dem geisteswissenschaftlichen Zusammenhange heraus, daß wir es hier im eigensten Sinne mit unausgelebtem Karma zu tun haben, mit einem überall in seinen Fäden abgerissenen Karma, das überall in Konflikte gekommen ist, in Konflikte, die hauptsächlich spielen zwischen Amerika und Europa, einem Karma, das dann einfach durch einen Flintenschuß zum Abschluß gekommen ist. Derjenige, der das empfindet, muß das Bedürfnis haben, wenn er nicht ein materiali­stisch gesinnter Mensch ist, sich zu fragen: Wo ist die Realität, wo kommt nun unmittelbar nach dem Tode dieses unausgelebte Karma hin, wo wird das weiterleben? Ich möchte sagen, von dieser Art und Weise des Weiterlebens von unausgelebtem Karma hat ein Mensch, der nicht Materialist ist, eine Empfindung: er muß also, wenn er Künstler ist, das Bedürfnis fühlen, eine Hindeutung darauf zu geben, und eine solche Hindeutung finden wir wirklich am Schlusse des Werkes.

Nur ein paar Zeilen brauche ich vorzulesen. Arthur ist also tot, erschossen. Mutter und Tochter reisen nach Montreux; Emmy ist län­gere Zeit krank, und in ihrem letzten Traum erscheint ihr Arthur. Aber sogleich wird einem klar, daß es sich hier nicht um ein bloßes Traumbild handelt, um einen Reminiszenztraum, sondern um ein wirkliches Her-eingreifen des realen Arthur in die physische Welt. Und nun wird der Moment des Todes so geschildert:

«Zwischen Mitternacht und Morgen glaubte sie zu erwachen.

Ihr erster Blick auf das Fenster, durch das matte Helligkeit ein-strömte, war frei und klar, und sie wußte, wo sie war. Auch ihre Mutter, die neben ihr schlief, hörte sie atmen. Noch einen Moment weiter aber, und mit einem Druck, den sie nie zuvor empfunden, befiel sie überwältigende Angst. Es waren nicht mehr jene einzelnen Gedanken, die sie in den letzten Tagen quälten, sondern als hielte eine Riesenhand alle Gebirge der Erde an einem dünnen Faden über ihr und jeden Moment könnten sich die Finger öffnen, die ihn hielten und

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die Masse herabstürzen, um ewige Zeiten auf ihr liegen zu bleiben. Sie irrte mit den Blicken umher in sich und außer sich, nach einem Schimmer von Licht suchend, nichts aber bot sich dar, der Schein des Fensters erloschen, der Atem ihrer Mutter nicht mehr hörbar, und erstickende Einsamkeit sie umgebend, als würde sie niemals wieder Lebendiges erreichen. Sie wollte rufen, aber sie konnte nicht, sie wollte sich rühren, aber kein Glied mehr gehorchte ihr. Ganz still war es, ganz finster, keine Gedanken selbst mehr möglich zu fassen in dieser furchtbar eintönigen Angst: die Erinnerung sogar ihr fortge­nommen - da ein Gedanke endlich zurückkehrend: Arthur!

Und wunderbar jetzt: es war, als hätte sich dieser eine Gedanke in einen Lichtpunkt verwandelt, der den Augen sichtbar wurde. Und in dem Maße, wie der Gedanke anwuchs zu grenzenloser Sehnsucht, wuchs dieses Licht, kam und dehnte sich aus, und plötzlich als spränge es auseinander und entfaltete sich und nähme Gestalt an -Arthur stand vor ihr! Sie sah ihn, sie erkannte ihn endlich. Er war es sicherlich selbst. Er lächelte und war dicht neben ihr. Sie sah nicht, ob er nackt sei, nicht ob er bekleidet sei: er aber war es, sie kannte ihn zu wohl, er selbst, kein Phantom nur, das seine Gestalt angenommen.

Er streckte ihr die Hand entgegen und sagte:

Niemals hatte seine Sprache so süß und lockend geklungen wie heute.

Mit aller Kraft, deren sie fähig war, suchte sie ihre Arme zu erheben ihm entgegen; aber sie vermochte es nicht.

Er kam noch näher und streckte die Hand näher auf sie zu:

sagte er noch einmal.

Emmy war, als müsse die Gewalt, mit der sie ein Wort wenigstens über die Lippen zu bringen versuchte, Berge zu verrücken imstande sein, nicht aber dies eine Wort zu sagen vermochte sie.

Arthur sah sie an und sie ihn. Nur die Möglichkeit jetzt, einen Finger zu bewegen, und sie hätte ihn berührt. Und nun das Furchtbar­ste: er schien zurückzuweichen wieder! sagte er zum dritten Male. Und sie im Gefühle, daß er zum letzten Male gesprochen, daß die furchtbare Finsternis wieder hereinbrechen werde auf seinen himmlischen Anblick, von einer Angst jetzt erfüllt, die sie zerriß, wie der Frost Bäume spaltet, machte den letzten Versuch, die Arme zu ihm zu erheben. Unmöglich aber die Schwere und Kälte zu überwin­den, die sie gefesselt hielten - da aber, wie eine Knospe platzt, aus der

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eine Blüte wächst vor unseren Augen, herauswachsend aus ihren Armen leuchtend andere Arme, glänzende andere Schultern aus ihren Schultern, und diese Arme sich hebend Arthurs Armen entgegen, und er mit seinen Händen ihre Hände fassend, und langsam zurückschwe­bend sie nach sich ziehend, und die ganze herrliche Gestalt mit ihnen, die sich erhob aus der Emmys.»

In wunderbarer Weise ist da geschildert der Moment des Sterbens, dieses Hervorgehen des Ätherleibes, der Übergang des Todesspektrums in das Kosmische. In diesem Todesspektrum, das geistig anschaulich geschildert ist in dem Herausgehen aus dem Leibe, ist wirklich enthalten der sich formende Lebenswille; im Ausdruck dieses Todesspektrums ist das unausgelebte Karma, das zwischen Arthur und Emmy unausgelebt blieb, enthalten.

Ich führe dieses Beispiel noch an, weil Sie bei der Novelle, die ich gestern erwähnte, haben sehen können, wie einseitig an die andere noch lebende Person das Todesspektrum heran kommt und Beziehungen entwickelt zu der noch lebenden Persönlichkeit. Hier haben wir es aber mit zwei rein spirituellen Entitäten zu tun, mit dem Ätherleib, der vorhanden ist von Arthur, der schon mannigfaltige Verwandlungen in der geistigen Welt durchgemacht hat, und dem sich heraushebenden Todesspektrum der Emmy. Also eine alte unausgelebte Beziehung, unausgelebtes Karma, zwischen dem Ätherleib des Arthur und dem Todesspektrum der Emmy, die eben erst in die geistige Welt übergeht, spielt sich da ab. Da spielt sich also in der geistigen Welt etwas ab, was sich im Leben nicht hat abspielen können, was unausgelebtes Karma ist.

Wir müssen gleichsam zu fassen versuchen, richtig zu fassen versu­chen dasjenige, was als die ersten Momente da ist, nachdem die mensch­liche Individualität durch die Pforte des Todes gegangen ist. Denn gewissermaßen löst sich ja das, was da auch als unausgelebtes Karma vorhanden ist, von der Individualität los. Die Individualität kann dieses unausgelebte Karma erst in späteren Inkarnationen ausleben. Das löst sich also los und wird auch kosmisch draußen; daraus werden kosmische Ereignisse. Und in manchem, was in den Wolken, auf den Bergen, mit den Quellen vor sich geht, was aber namentlich vor sich geht in unterbewußten seelischen Vorgängen der Menschen, die hier leben, da

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lebt sich dasjenige aus, was an unausgelebtem Karma herübergenommen ist in die geistige Welt, was wie ein Grundquell in diesem Todesspek­trum ist. Denn diese kosmischen Ereignisse spielen in das Menschenle­ben fortwährend herein, wir sind ganz von ihnen durchdrungen und durchwoben.

So müssen wir unterscheiden zwischen dem, was gewissermaßen, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet, kosmisch wird, und dem, was individuell bleibt. Im eminentesten Sinne kosmisch wird das, was vom physischen Leibe zurückbleibt. Das geht entweder lang­sam, bei der Erdenbestattung, oder schneller, bei der Feuerbestattung, über in die elementarische, mehr physisch-elementarische Erdenwelt; und es ist eine grobe materialistische Vorstellung, wenn man glaubt, daß das einfach darin verschwindet oder die Rolle spielt, wie sie die chemi­schen Elemente spielen. Das ist Unsinn, und wir werden morgen sehen, wie das in dem Planeten weiterlebt, wie das für den Planeten seine große Bedeutung hat. Das lebt im planetarischen Leben weiter.

Was der Chemiker weiß von dem, was aus dem physischen Leibe wird, das ist eben gar nichts. Denn die Erde hat ihren wichtigsten Bestand dadurch, daß Menschen auf ihr gelebt haben und gestorben sind, und das sind die wichtigsten Kräfte, die bleiben. Die Erde besteht auch von dem Physischen der verstorbenen Menschen. Da wird also etwas Kosmisches aus dem physischen Leibe heraus. Das andere wird kosmisch aus dem Ätherleibe heraus. Und ich versuchte heute anzudeu­ten, was aus der Ätheraura kosmisch wird. Das andere, was da bleibt von dem Ätherleib, das lebt als Individualität in der höheren spirituellen Welt weiter. Sie finden das in meiner «Theosophie» oder auch in der «Geheimwissenschaft im Umriß» näher ausgeführt. Das lebt nun als Individualität weiter, und darüber werde ich morgen noch etwas zu sagen haben. Klar müssen wir aber sein, daß das, was individuell weiterlebt, in neuen Verhältnissen zu leben beginnt, die sich wesentlich unterscheiden von den gewöhnlichen irdischen Verhältnissen.

Wenn Sie den Wiener Zyklus von dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt durchstudieren, werden Sie wenigstens einiges - man kann immer nur einiges schildern - davon verstehen können. Vor allen Dingen kann man diese Verhältnisse zwischen Tod und neuer Geburt

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nicht gut beurteilen, wenn man sich nicht daran gewöhnt hat, die Vorstellung in sich zu beleben, daß die Zeit, so wie sie für unsere physische Anschauung als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vor­handen ist, daß diese geradlinig fortlaufende Zeit wirklich eine physische Maja ist, daß wir tatsächlich eindringen mit dem Tode in eine andere Welt, wo das Vergangene nicht bloß für die Erinnerung vorhanden ist, sondern ein wirklich Gegenwärtiges ist, in der Umgebung da ist, wo der Mensch lebt unter Verhältnissen, die gewissermaßen sein Inneres nun als sein Äußeres zeigen, wo der Mensch so lebt, daß er in der Offenbarung, in der Anschauung sich unmittelbar darbietet mit seiner inneren, seeli­schen Wesenheit, mit jener Wesenheit, die sich gewissermaßen den Leib sowohl wie das physische Dasein hier in der physischen Inkarnation gestaltet hat zwischen Geburt und Tod.

Die Art, wie man sich erkennend zu verhalten hat zu dem, der durch die Pforte des Todes geschritten ist, ist nicht ein äußeres Anschauen, sondern ein inneres Miterleben seiner Erlebnisse. Diese Individualität ist auch schon voll da, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist, obwohl der Mensch erst - wie ich es schon angedeutet habe und wie ich morgen weiter ausführen werde - gewissermaßen sich in der Überfülle seines Bewußtseins orientieren muß. Aber das, was er ist, das, was sein Wesentliches ist, das ist da, wenn es auch noch nicht immer schon mit seinem Bewußtsein verknüpft ist. Es ist da, und so kann es angeschaut werden. Es kann gewissermaßen miterlebt werden, was der Mensch seiner Wesenheit nach ist.

Sehen Sie, ich habe mich bemüht, bei den irdisch traurigen Gelegen­heiten, die wir in der letzten Zeit durchzumachen hatten durch den Verlust lieber Freunde, ich habe mich bemüht, da wo ich zu sprechen hatte, aus den Seelen heraus zu sprechen, aus der Wesenheit der Betref­fenden. Ich will zunächst - morgen will ich über etwas anderes noch sprechen - von den drei zuletzt verstorbenen Freunden ein paar Andeu­tungen machen, soweit ich sie hier machen darf. Ich habe mich einzig und allein darum bemüht, aus diesen Seelen heraus zu sprechen, gewis­sermaßen mit diesen Seelen zu sprechen. Und wenn ich jetzt darauf wiederum zurückblicke, so muß ich finden, daß gute Gründe vorhanden waren, ganz besonders gute Gründe, in den drei Fällen ganz individuell

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verschieden zu sprechen - weil eben die Menschen individuell verschie­den sind -, und zwar in einer ganz eminenten Weise verschieden zu sprechen. Dies war, das gestehe ich ganz offen, nicht da in meinem Bewußtsein, als die Worte geprägt wurden. Es hat sich ganz aus der entsprechenden Situation heraus entwickelt, und am wahrsten entwik­keln sich ja die Worte, die für die Geisteswissenschaft geprägt werden sollen und auch für das, in dem wir darinnenstehen im Leben durch die Geisteswissenschaft, am besten und wahrsten entwickeln und prägen sich diese Worte, wenn sie, auch nicht im entferntesten, von irgendeinem Lebenswunsche mitgeprägt werden. Man muß sich ja, damit man über­haupt richtig und wahr schildern kann auf dem Gebiete der Geisteswis­senschaft, von jedem Wunsche, dies oder jenes so oder so zu prägen, ganz fernhalten. Man muß jeden Wunsch, daß dies oder jenes so oder so sein möchte, ganz fernhalten.

Wenn man in die Notwendigkeit versetzt ist, bei der Bestattung eines lieben Freundes zu sprechen, dann ist ja - wie es begreiflich erscheinen wird - ganz gewiß kein Lebenswunsch vorhanden, diese Worte zu sagen, die da gesagt werden. Sie werden ganz gewiß nicht aus irgendeinem Wunsche heraus gesagt, sondern aus der Notwendigkeit heraus. Denn es ist begreiflich, daß man einzig und allein wünschen möchte in jedem einzelnen Falle, daß man in der betreffenden Zeit diese Worte nicht zu sprechen hätte. Das ist etwas, was, ich möchte sagen, die Prägung der Worte noch ganz besonders fördert. Daher war es mir wirklich bedeut­sam - ich möchte das ganz anspruchslos sagen-, daß in dem ersten Falle, bei unserer lieben Frau Grosheintz, ich zu sprechen hatte eigentlich nur wie das Ausdrucksorgan für diese Seele selber.

Eine Seele, die durch ein langes Erdenleben gegangen war, die in den letzten Jahren ihres Erdenlebens in so energischer, so bedeutungsvoll energischer Weise alle Kräfte der Seele vereinigt hatte mit dem, was die Impulse der Geisteswissenschaft sind, sie vielleicht so vereinigt hatte, wie nur wenige unter uns in selbstloser Weise die Geisteswissenschaft vereinigen mit den eigenen Lebensimpulsen, eine solche Seele geht durch die Todespforte so hindurch, daß das, was sich ihr nicht als theoretische, sondern als unmittelbar praktische, in der Seele lebende Impulse durch die Geisteswissenschaft ergibt, da ist. Sie lebt das unmittelbar dar. Es ist

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da, selbst wenn die Seele noch nicht bis zu dem Grade erwacht ist, daß sie es schon wahrnimmt. Es ist da, es ist das Charakteristische in dem, was sich da loslöst. Und so werden Sie zugeben, daß in den Worten, die ich da zu sprechen hatte, wirklich das liegt, was ich nennen konnte: verwandelte Geisteswissenschaft, zum Willen, zum Gefühl gewordene Geisteswissenschaft, die so herauskommen mußte, weil eine solche Seele durch ein langes Erdenleben gegangen ist, und mit reifen Ätherkräften durch die Pforte des Todes gegangen ist. Es ist so, daß man gezwungen war, ganz aus dieser Seele heraus zu sprechen. Daher konnte nicht anders gesprochen werden in den Hauptworten, denn als ob die Seele selbst spräche, und so ist das geworden:

In Weltenweiten will ich tragen

Mein fühlend Herz, daß warm es werde

Im Feuer heil'gen Kräftewirkens;

In Weltgedanken will ich weben

Das eigne Denken, daß klar es werde

Im Licht des ew'gen Werde-Lebens;

In Seelengründe will ich tauchen

Ergeb'nes Sinnen, daß stark es werde

Für Menschenwirkens wahre Ziele;

In Gottes Ruhe streb' ich so

Mit Lebenskämpfen und mit Sorgen,

Mein Selbst zum höhern Selbst bereitend;

Nach arbeitfreud'gem Frieden trachtend,

Erahnend Welten-Sein im Eigensein,

Möcht' ich die Menschenpflicht erfüllen;

Erwartend leben darf ich dann

Entgegen meinem Seelensterne,

Der mir im Geistgebiet den Ort erteilt . .

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Das innerlich Bewegliche, Lebendige der Seele zeigt sich dadurch, daß das erste Mal, am Anfang der Feier, gesagt werden mußte: «Entgegen meinem Seelensterne», und am Schlusse der Feier: «Entgegen meinem Schicksalsterne.»

Es ist die Nähe, in der man sein muß demjenigen, der also durch die Todespforte gegangen ist, welche bewirkt, daß in dieser Art, charakteri­stisch für die besondere Weise des Seins der betreffenden Individualität nach dem Tode, solche Worte herauskommen müssen.

Ich möchte dasjenige, was ich über die beiden anderen Fälle noch zu sagen habe, im Zusammenhange mit dem, was ich sonst noch mitzuteilen habe, morgen sagen.

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SIEBENTER VORTRAG Dornach, 7. Februar 1915

Wir haben Betrachtungen angestellt über dasjenige, was man nennen kann das Problem des Todes, und wir haben angeknüpft an mancherlei ja auch in Schmerz getauchte Erlebnisse der letzten Zeit.

Zunächst möchte ich heute auf einiges Allgemeinere aufmerksam machen, was mit diesem Problem des Todes zusammenhängt und was erforscht werden kann durch die Mittel, die uns die Initiationserkenntnis eben an die Hand gibt. Man muß sich durchaus vorstellen, daß der Mensch, wenn er die Pforte des Todes durchschreitet, allerdings in eine für ihn ganz andere Welt kommt, als dies oftmals gedacht wird. Es ist ja ein begreiflicher Hang der menschlichen Natur, daß man sich das Reich jenseits des Todes, überhaupt das geistige Reich, in das wir eintreten durch die Pforte des Todes, ähnlich vorstellt wie das Reich der Sinne und des Verstandes, in dem wir sind zwischen der Geburt und dem Tode. Ich sage, es ist ein begreiflicher Hang, sich dieses Reich jenseitsn des Todes gewissermaßen wie eine Art von Fortsetzung des hiesigen Reiches vorzustellen; allein man irrt damit. Denn schwierig ist es schon, aus dem Schatz unserer Sprache heraus Worte zu finden, die es möglich machen, die Erlebnisse zwischen dem Tode und einer neuen Geburt auch nur einigermaßen hinlänglich zu charakterisieren. Ich habe ja öfter erwähnt, daß unsere Sprache für die physische Welt bereitet ist, und daß wir gewissermaßen unser Verhältnis zu den Worten verinnerlichen müssen, wenn wir die Worte fähig machen wollen, dasjenige auszudrücken, was jenseits des Todes ist.

Es ist ja auch die Art, wie diese Worte aus der Seele herauskommen, wenn die Seele charakterisieren soll irgend etwas, was jenseits des Todes liegt, eine ganz andere, als die Art ist, wie die Worte in der sinnlichen Welt und in der Verstandeswelt aus uns herauskommen. Es ist vielmehr diese Art, sich über die geistige Welt, ihre Wesenheiten und ihre Erscheinungen auszusprechen, ein Sich-Hingeben an diese geistige Welt und ein Sich-erteilen-Lassen der Worte.

Solche Worte, wie ich sie Ihnen gestern mitgeteilt habe mit Bezug auf

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unsere liebe Frau Grosheintz, werden nicht so gebildet, wie man Worte bildet, wenn man irgend etwas in der äußeren physischen Welt zum Ausdruck bringen will, sondern sie werden so gebildet, daß sie gleichsam in die eigene Seele hineingegossen werden von dem Wesen, um das es sich handelt, so daß das Wesen, um das es sich handelt, sie gibt, sie eingießt, daß wir nicht das Gefühl dann haben, wir drücken durch diese Worte irgend etwas aus, das wir anschauen; sondern wir haben durchaus das Gefühl: durch uns drückt sich etwas aus, etwas das uns gewisserma­ßen nur als sein Organ benützt, um sich auszudrücken, um sich im spirituellen Sprachausdruck zu objektivieren. Es ist also ein ganz anderer Vorgang, es ist ein Sich-Überlassen mit seiner Seele dem Wesen, mit dem man es zu tun hat, und ein solches Sich-Überlassen, daß dieses Wesen die Möglichkeit findet, mit unseren Werkzeugen seine eigene innere Art und seine eigenen innerlichen Erlebnisse auszusprechen. Es ist, wenn man das Wort prägt, nicht wie ein Anbequemen an etwas Äußeres, sondern wie eine Hingabe an das Wesen, um das es sich handelt, wie ein Zur­Verfügungstellen des Wortes an dieses Wesen, so daß dieses Wesen sich dann selber unseres Wortes bedienen kann.

Also es ist eine ganz andere Art, zur Objektivität sich zu stellen, als die Art hier ist, in der sinnlichen und Verstandeswelt. Daher gehört ja zu den allerersten Bedingungen, um ein richtiges Verhältnis zur geistigen Welt zu gewinnen, eine gewisse Beweglichkeit des Inneren, ein gewisses Anpassungsvermögen an die verschiedensten Individualitäten, eine fort-währende Möglichkeit, aus sich herauszugehen und in andere Individua­litäten sich hineinzubegeben. Man muß, wenn man wirklich mit einer gewissen Treffsicherheit - wenn ich mich des Wortes bedienen darf -zum Ausdruck bringen will, was in der übersinnlichen Welt ist und was in derselben lebt, wie es bei demjenigen ist, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, man muß vor allen Dingen gründlich geheilt sein von dem, was man den irdischen Ich-Wahn nennen kann; man muß dazu durchgedrungen sein, möglichst wenig an sich zu denken, möglichst wenig sich in den Mittelpunkt der Weltbetrachtung zu stellen. Wenn man einen starken Hang dazu hat, viel von sich zu sprechen, viel über sich nachzudenken, dann muß man diesen Hang überwinden, denn dieses Viel-über-sich-Sprechen, dieses Viel-über-sich-Nachdenken ist

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wirklich der schlechteste Weg zur Selbsterkenntnis. Wenn man den Hang hat, viel über sich zu sprechen, alle Dinge so zu beurteilen, daß man vor allen Dingen darauf bedacht ist, wie man sich selber hineinstellt in die Welt, was man der Welt bedeutet: wenn man diesen Hang hat, so ist man schlecht geeignet, sich in der geistigen Welt zurechtzufinden oder irgend etwas von der geistigen Welt zum Ausdruck zu bringen.

In spirituellem Sinne beschäftigt man sich am allermeisten mit sich, wenn man im irdischen Sinne am wenigsten sich mit sich selbst beschäf­tigt, im irdischen Sinne am wenigsten an sich denkt; denn das, was uns im irdischen Sinne am interessantesten ist - der Zusammenhang der Welt mit unserer eigenen Person -, das ist für die geistige Welt das Allerbe­deutungsloseste, das Allerunbedeutendste.

Daher werden wir immer finden können, daß uns der Weg in die wahre geistige Wirklichkeit hinein sehr schwer wird, wenn wir bei jeder Gelegenheit Veranlassung finden müssen, nach unserer inneren Veranla­gung, von uns zu sprechen, von dem, was durch uns selber geschehen soll, von dem, was wir eventuell der Welt wert sein könnten und dergleichen mehr.

Wenn wir diese Methode auf das alltägliche Leben anwenden, dann kommen wir selbst im alltäglichen Leben, das ja auch im Inneren beherrscht ist von geistigen Kräften und Impulsen, nicht zurecht. Da kann man die merkwürdigsten Zusainmenhänge finden. Ich habe Men­schen kennengen lernt, die viel klagen darüber, daß sie es am Morgen außerordentlich schwierig finden, aufzustehen, daß ihnen der Entschluß schwer wird, sich zu erheben. Ich habe sogar Menschen kennengelernt, die ruhig es gestanden haben: wenn nicht eine äußere Zwangslage vorhanden wäre, die sie dazu brächte aufzustehen, so würden sie über­haupt nicht aufstehen wollen.

Man kann immer einen inneren Zusammenhang finden zwischen dem ganzen Wesen des Menschenn und einem solchen Hang. Es werden in der Regel Menschen sein, die einem viel von sich erzählen, die viel davon erzählen, was ihnen sympathisch und antipathisch ist, die einem viel davon erzählen, was ihnen da oder dort begegnet ist zu ihrem Heile oder Unheile und dergleichen. Auf solche Zusammenhänge muß derjenige achten, der sich für ein wirklich objektives Erfassen der geistigen Welt

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vorbereiten will; denn wir müssen das Leben betrachten, wenn wir in die Wirklichkeit hineinkommen wollen. Und dessen können Sie versichert sein: wir sind als Menschen durch unsere natürlichen Anlagen in der Regel gegen nichts so feindlich gestimmt als gegen die Forderung, das Leben objektiv zu nehmen; wir sind zu nichts so sehr geneigt, als uns selbst mit zu großem Ernst und das äußere Leben mit zu geringem Ernst zu betrachten. Man ringt sich nur ganz allmählich durch zu Worten, die dann wirklich echte, gute Leitmotive des Lebens sein können, und gerade an großen Genies kann man oftmals sehen, wie sie viel durchma­chen, um dann ihre ganze Lebensweisheit in ein einziges Wort zu prägen. Das bedeutet dann ganz etwas anderes, als wenn es im gewöhnli­chen Tageslaufe von irgend jemandem ausgesprochen wird.

Ich habe einmal darauf aufmerksam gemacht - es war im Zusammen­hange mit den Vorträgen, die ich in Norrköping gehalten habe -, wie man leicht sagen kann das große eindringliche Wort des alten Johannes:

«Kinder, liebet einander.» Aber es bedeutet etwas ganz anderes, wenn es ein Narr, irgendein Geck in die Welt hinein sagt, als wenn es der Johannes gesagt hat am Ende eines reichen Lebens, in dem viel, viel durchgemacht worden ist hier auf der Erde.

Es kommt bei dem Worte nicht allein auf die Richtigkeit an, sondern auch darauf, aus welchen Untergründen der Seele heraus es gesagt wird, aus welchen Untergründen es entspringt. So hat sich auch Goethe durch ein reiches Leben zu einem schönen Worte durchgerungen, dessen tiefen Sinn man ergründen sollte; aber nicht so, daß man glaubt - indem man hindeutet auf dieses Wort-, in jeder Lebenslage könne man es verstehen. Um es so zu verstehen, ist es - ich möchte das paradoxe Wort prägen -viel zu einfach. Denn es so zu verstehen, ist jedem Kinde möglich. Aber wie es verstanden werden muß, wenn man es wie Goethe auf Grundlage einer reichen, einer überreichen Lebenserfahrung verstanden hat, ist es nicht jedem Kinde zu verstehen möglich. Ich meine das Wort: «Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden!» Die Zusammengehörigkeit dieser beiden Sätze - und darauf kommt es an - zeigt uns: Es gibt keine Selbsterkenntnis, die nicht zu einem Leben mit der Welt in Frieden wirklich führte.

Alle diese Dinge, ich möchte sie wirklich so ausführlich wie nur irgend

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möglich besprechen, weil sie viel wichtiger sind, als Sie zunächst glau­ben. Aber ich kann nur darauf hindeuten und vieles, gerade in bezug auf solche Sachen, Ihrer eigenen Meditation überlassen. Ich möchte immer­hin darauf hinweisen, da nach den Aussagen vieler es an Meditationsstoff fehle! Es fehlt wirklich nicht daran, wenn man nur den guten Willen hat, diejenigen Meditationsstoffe, die sich im Leben darbieten, sich von dem Leben als solche bieten zu lassen.

Nun wird derjenige, der durch die Pforte des Todes schreitet, unmit­telbar durch diese Tatsache abgebracht von all den Majaverhältnissen, in denen er lebt, in die er verstrickt ist hier, solange er in dem physischen Leibe weilt; er wird davon abgebracht, denn sie werden ihm ja durch sein Verkörpertsein im physischen Leibe aufgedrängt. Er wird vor allen Dingen abgebracht von sehr vielen Verrichtungen, die ihm sympathisch geworden sind im Leben zwischen der Geburt und dem Tode und die er selbstverständlich, da ihm der physische Leib fehlt, nach dem Tode nicht mehr ausführen kann. Die ganze Art des Lebens wird anders, das Verhältnis zur Welt wird ein völlig anderes, und Sie bekommen, wenn Sie durchmeditieren den Wiener Zyklus «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt» eine Vorstellung über die ganz andere Art, wie man sich zu der Welt zu stellen hat, wenn man sich richtige Begriffe und Ideen bilden will über dieses Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Man muß nur die Worte, die da versucht worden sind stammelnd zu prägen, ganz ausleben, sie recht innerlich zu durchleben suchen. Das ist bei solchen Dingen dringend nötig.

Ich habe bereits in diesen Tagen darauf aufmerksam gemacht, daß der Moment des Todes sich im Grunde nur äußerlich vergleichen läßt mit dem Momente der Geburt für das physische Menschenleben. Denn im alltäglichen Verlaufe des Lebens, wenn nicht eine hellsichtige Erkenntnis den Menschen unterstützt, erinnert sich der Mensch ja nicht zurück bis zu seiner Geburt im physischen Leibe. Durch die Fähigkeiten, die uns die Erde gibt, erinnern wir uns nicht daran zurück, wie, nicht einmal daran, daß wir geboren worden sind. Wenn es heute Menschen gibt, die da glauben, daß sie alles durch den Sinnenschein wissen, so denken sie eben nicht nach darüber, daß sie sogar das Anfagsereignis ihres Erden-lebens nicht durch den Sinnenschein erfahren können, sondern nur

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dadurch, daß man ihnen berichtet, daß sie geboren worden sind, und außerdem auf Grundlage einer oftmals nicht bewußten, aber doch unbewußt vorgenommenen Schlußfolgerung. Es gibt - wenn man nicht die heliseherischen Kräfte zu Hilfe nehmen will - nur diese beiden Methoden, sich davon zu überzeugen, daß man selber geboren worden ist: sich es erzählen zu lassen oder einen Schluß zu vollziehen, den Schluß: Andere Menschen werden geboren; ich bin den anderen Men­schen ähnlich; also werde ich auch einmal geboren worden sein. Eine richtige Schlußfolgerung. Und irgend etwas anderes, um zur Tatsache der eigenen Geburt mit irdischen Kräften vorzurücken, als sich davon erzählen zu lassen oder diesen Analogieschluß zu machen, eine andere Methode als diese zwei gibt es nicht für die Erdenfähigkeiten. So beginnt bereits mit der Bemühung, sich Aufklärung über die eigene Geburt zu verschaffen, die Aufklärung darüber, daß es nicht möglich ist, eine Grundlage für die Wahrheit im bloßen Sinnenschein zu finden.

Der Moment des Todes ist durchaus unähnlich dem Momente der Geburt, insofern als man in der geistigen Welt immer hinschauen kann auf den Moment des Todes, während man ja auf den Moment der Geburt mit den gewöhnlichen Fähigkeiten im physischen Leibe nicht hinschauen kann. Man kann immer in der geistigen Welt in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt auf den Moment des Todes hinschauen, von dem Augenblick an, wo man ihn sich zum ersten Mal zum Bewußtsein gebracht hat. Da steht er da, allerdings nicht etwa so, wie wir ihn sehen mit seinen Schrecken von dieser Seite des Lebens aus, sondern er steht da als ein wunderbar herrliches Ereignis des Lebens, als ein Hervorgehen der geistig-seelischen Wesenheit des Menschen aus der physisch-sinnlichen Umhüllung, er steht da als die Befreiung der Willens- und Gefühlsimpulse aus dem flutenden, aus dem objek­tiv flutenden Gedankenwesen.

Daß der Mensch nicht unmittelbar nach dem Tode imstande ist, diesen Moment des Todes gleich zu erschauen, das hängt damit zusammen, daß wir nun nicht zuwenig Bewußtsein haben, wenn der Tod eingetreten ist, sondern im Gegenteil, daß wir zuviel Bewußtsein haben. Erinnern Sie sich nur an dasjenige, was in den Wiener Vorträgen steht: daß wir uns hineinleben nicht in zuwenig Weisheit, sondern in zuviel Weisheit, in

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eine uns wie überflutende, unendliche, von überall an uns herandrin­gende Weisheit. Unweise zu sein ist uns unmöglich nach dem Tode. Diese Weisheit kommt über uns wie ein uns allseitig überflutendes Licht, und wir müssen im Gegenteil erst dahin gelangen, uns zu beschränken, uns in dem, worinnen wir anfangs nicht orientiert sind, zu orientieren. Also durch dieses Herabstimmen des ganz hochgestimmten Bewußtseins bis zu dem Grade von Bewußtheit,n den wir ertragen können nach unserer irdischen Vorbereitung bis zum Tode, durch dieses Herabstim­men kommen wir zu dem, was wir das Erwachen nennen können nach dem Tode.

Wir erwachen nach dem Tode, unmittelbar nach dem Tode, zu stark, und wir müssen erst dieses zu starke Erwachen herabmindern, herab-dämpfen bis zu dem Grade, der den Fähigkeiten entspricht, die wir uns zubereitet haben durch die Erfahrungen, die wir in den verschiedenen Erdeninkarnationen durchgemacht haben. So ist es ein Ringen, uns selbst zu behaupten in dem von allen Seiten über uns hereinbrechenden Bewußtsein.

Und nun kommt etwas, worinnen wir uns alle, nach dem Tode sowohl wie auch, wenn wir richtig in die Initiation eintreten wollen, gewisser­maßen erst von den Gewohnheiten des physisch-sinnlichen Lebens erholen müssen. Ich möchte, üm ganz verständlich zu sein, da an etwas anknüpfen. Als wir begonnen haben in Berlin, in einem recht kleinen Kreise, unsere geisteswissenschaftlich gehaltene Bewegung zu betreiben, haben sich uns zunächst die verschiedensten Menschen angeschlossen. Wir waren damals ein sehr kleiner Kreis. Eine Persönlichkeit aus diesem Kreise kam eines Tages, nicht lange nachdem wir angefangen hatten zu arbeiten, und erklärte, sie müsse wieder austreten, und zwar aus dem Grunde, weil sie eingesehen habe, daß wir nicht auf dem richtigen Wege seien: denn es käme nicht darauf an, daß man alle die Dinge suche, die wir suchten, sondern es käme darauf an, daß man die Einheit suche. Es war das etwas wie eine Idée fixe bei der entsprechenden Persönlichkeit. In einem längeren Gespräche entwickelte sie diese Idée fixe der Einheit, und dann ging sie fort von uns, um die Einheit zu suchen. Es glaubte diese Persönlichkeit durch dieses Suchen nach der Einheit, mit dieser Idée fixe der Einheit, gerade in das Übersinnliche hineinzukommen.

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Aber diese Idee der Einheit, die ist diejenige, die sich nur ergibt aus der letzten Abstraktion des äußeren physischen Lebens. Dieses Streben nach der Einheit ist nämlich das Allersinnlichste, wonach der Mensch streben kann. Man muß geheilt werden gerade von diesem Einheitsstreben, wenn man richtig stehen will in der geistigen Welt. Hier in der Sinnes-welt liegt es uns ja so nahe, zu sagen: Wir müssen die Einheit überall suchen, wir müssen aus der Vielheit, aus der Mannigfaltigkeit heraus die Einheit suchen. - Aber das ist etwas, was nur für die sinnlich-physische Welt hier Bedeutung hat. Denn treten wir durch die Pforte des Todes, dann haben wir nicht die Mannigfaltigkeit, sondern das, was als ein überflutendes Bewußtsein vor unsere Seele tritt: wir haben, wenn wir durch die Pforte des Todes getreten sind, nichts als Einheit um uns, immer wieder Einheit. Da kommt es dann darauf an, die Vielheit, die Mannigfaltigkeit richtig zu finden. Da müssen wir nichts anderes erstre­ben, als aus der Einheit heraus- und in die Vielheit hineinzukommen.

Nun möchte ich Ihnen eine richtig treffende Vorstellung davon geben, wie man in die Vielheit hineinkommt aus der Einheit. Nehmen Sie einmal an, man tritt durch die Pforte des Todes, tritt ein in diese Welt flutenden geistigen Weisheitslebens. In diese Welt tritt man ja zunächst ein, die uns anfangs betäubt, wenn wir in ihr aufgewacht sind. Wir wollen sie so charakterisieren, diese Welt, daß wir da das um uns flutende Licht als eine die Welt erfüllende Einheit haben; so erscheint sie uns. Nicht einmal uns selber unterscheiden wir darinnen. So sehr ist das eine Einheit, daß wir nicht einmal uns selber darinnen unterscheiden, daß wir selbst diese Unterscheidung nicht haben zwischen uns und der Welt; sondern wir gehören voll dazu zu der Welt. Alles ist eine Einheit.

Aber jetzt beantworten wir uns einmal eine Frage - und ich bitte Sie, über diese Antwort, die ich geben werde, nicht nur ein wenig, sondern recht viel nachzudenken -, jetzt beantworten wir uns eine Frage, die Frage: Was ist sie eigentlich, die Einheit, in die wir da aufgenommen werden? Denken Sie sich alle die Wesenheiten der höheren Hierarchien, von denen Ihnen ja neun, respektive zehn, wenn wir den Menschen dazu nehmen, bekannt sind. In jeder Hierarchie ist eine große Anzahl von Wesen. Die denken alle, es denkt ja nicht bloß der Mensch, es denken die Wesen aller dieser höheren Hierarchien. Also denken Sie sich diese

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ganze Summe von Wesenheiten, in die wir aufgenommen werden, wenn wir durch die Pforte des Todes geschritten sind. Die sind um uns herum. Durch die Todespforte schreitend, werden wir in die ganze Fülle der geistigen Wesenheiten aufgenommen. Wir nehmen sie zunächst nicht wahr, sind aber darinnen. Das, was uns zuerst umflutet, ist eben diese Einheit. Und was ist diese Einheit? Das sind die ineinander verschwim­menden Gedanken aller Hierarchien. Was alle Hierarchien zusammeri denken, diese Gedankenwelt der Hierarchien, ununterschieden, was der eine Hierarch denkt, was der andere Hierarch denkt: das alles ver­schwimmt in eine Einheit. In diese Gedanken der Hierarchien wachsen wir hinein. Das ist das uns umflutende Gedankenlichtwesen. Das ist diese Einheit. Also wir leben in den zu einer Einheit zusammenfließen­den Gedanken der Hierarchien. Da leben wir darinnen.

Und um was handelt es sich nun weiter in unserem Leben nach dem Tode? Darum handelt es sich, daß wir ein Verhältnis gewinnen zu den einzelnen Wesenheiten, die wir aus dem Gedankenmeere, in dem die Gedanken aller Hierarchien zusammenfließen, herausheben, und ein Verhältnis gewinnen zu den einzelnen Wesen, zu der Vielheit. Wir müssen nach dem Tode nicht nur zu der Einheit der flutenden Gedan­kenwesen der Hierarchien ein Verhältnis gewinnen, denn das ist uns gegeben; sondern wir müssen uns hindurcharbeiten so, daß wir ein Verhältnis bekommen zu den einzelnen Wesenheiten der Hierarchien. Wie bekommen wir das?

Zunächst überflutet uns dieses zusammenschwimmende, zusammen-fließende Meer der Gedanken der Hierarchien. Durch dasjenige, was wir uns nun im physischen Leibe erworben haben, bleibt bestehen an der Todespforte, auf die wir hinblicken, unser eigenes inneres Wesen, heraus sich erhebend aus der sinnlichen Umhüllung. Das gibt uns Willens­stärke, gefühlsartige Willensimpulse, willensartige Gefühlsimpulse. Die werden wir innerlich gewahr im Anschauen des Wesens, das aus dem Körper entsteigt, das wir nach dem Tode sind. Dadurch sind wir imstande, gleichsam unsere Willensstrahlen zu ziehen. Und wenn wir nun einen solchen Willensstrahl, den wir aus der Kraft des Todes schöpfen, der mit dem Tode geboren wird, hineinstrahlen in die Umwelt, dann löschen wir an einer bestimmten Stelle etwas in der Gedankenwelt

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aus. Und wenn wir ihn anderswo hinrichten, löschen wir an einer anderen Stelle etwas aus; so löschen wir an einer dritten, an einer vierten Stelle etwas aus, kurz, wir löschen an den verschiedensten Stellen durch unsere Willens­Impuiskräfte die uns umflutende Gedankenwelt aus. Und indem wir sie auslöschen, tritt in den Hohlräumen des flutenden Gedankenmeeres der Hierarchien, uns - wenn ich so sagen darf - der Gedankenhierarch entgegen, das Wesen, das dadrinnen lebt, in der geistigen Welt.

Während wir uns bemühen, hier in der physischen Welt, zu dem Dinge, das wir sehen, einen Gedanken hinzuzufinden, müssen wir in der geistigen Welt, weil uns der Gedanke in Hülle und Fülle zur Verfügung steht, den Gedanken auslöschen, wegschaffen; dann treten uns die Wesen entgegen. Wir müssen Herr werden über den Gedanken, dann treten uns die Wesen entgegen. Und diese Kraft, Herr zu werden über den Gedanken, den Gedanken gewissermaßen aus unserem Gesichts-felde herauszuwerfen, damit das Wesen uns entgegentritt im Meere der flutenden Gedankenwelt, diese Kraft erhalten wir dadurch, daß uns, als herrlicher Ausgangspunkt unseres geistigen Lebens nach dem Tode, der Anblick des Sterbens, des Todes selbst entgegentritt, der unser Lehrer wird im Auslöschen. Denn der Tod wird für uns nach dem Tode der Lehrer des Auslöschens, der Anreger jener Willenskräfte, durch die wir im flutenden Lichtmeere die Gedanken auslöschen müssen.

Damit ist hingewiesen auf die ganz andere Art, wie der Mensch steht zu seiner Umgebung nach und vor dem Tode. Wie er gewissermaßen da, wo er in der Sinneswelt darinnensteht, so verfahren muß, daß er sich hineinstellt, den Luftkreis um sich hat und dann warten muß, bis in den Luftkreis etwas hineinkommt. Dagegen muß er nach dem Tode so verfahren, daß er den Gedankenlichtkreis um sich hat und darinnen selber auslöschen muß dasjenige, was er in Gedanken im Gesichtsfelde hat, weil ihm erst dann die betreffenden Wesenheiten erscheinen. Denn mit Wesenheiten hat man es hier zu tun, wie ich es in der Schrift «Die Schwelle der geistigen Welt» angedeutet habe. So kommt man aus der Einheit in die Vielheit, in die Mannigfaltigkeit.

Der Monismus in dem Sinne, wie ihn viele meinen, ist nur eine irdische Weltanschauung, und er ist nur eine Fessel, wenn man durch die Pforte des Todes geschritten ist; denn da tritt im eminentesten Sinne

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sofort die Notwendigkeit des Monadismus ein, die Notwendigkeit, die Vielheit aufzusuchen. Die Einheit aufzusuchen ist eine letzte Fessel des sinnlichen, verstandlichen Lebens .

Was ist denn nun eigentlich dasjenige, was wir da vollziehen? Es ist eine Tätigkeit, durch die wir uns Platz schaffen, daß die Hierarchien an uns herantreten können. Wir schaffen uns Platz. Unser Wesen ist dann ja über die ganze Welt ausgebreitet - auf diese Dinge haben wir schon wiederholt hingedeutet. - Wir schaffen uns Platz, indem wir diese Hohl-stellen schaffen, so daß das, was objektiv ist, uns Post mortem, also nach dem Tode, erscheinen kann. Niemals kann uns etwas objektiv in der geistigen Welt erscheinen, wenn wir unser eigenes Wesen in die geistige Welt hineintragen. Nur dann können wir das andere erkennen in der geistigen Welt, wenn wir für die Stelle, wo das andere erscheinen will, unser eigenes Wesen, unsere eigene Wesenheit auslöschen, und das geschieht auf diese Weise.

Das ist, innerlich charakterisiert, der Prozeß, der nun auch nötig ist, wenn man herangelangen will an den Toten in der Weise, wie ich Ihnen das gestern am Schlusse des Vortrages dargestellt habe, wo das Bedürfnis vorhanden war, die Möglichkeit zu gewinnen, den Toten selber sprechen zu lassen, den Toten selber sich aussprechen zu lassen. Dann muß man versuchen, da wo der Tote ist, sich selber wegzuschaffen, sein eigenes Denken und sein Fühlen wegzuschaffen, und wo man das weggeschafft hat, da treten aus den Tiefen des Seins heraus die Impulse, die uns ohne unseren Willen die Worte in den Mund legen, die dann kommen müssen, wenn wir das objektive Wesen eines nicht im physischen Leibe verkör­perten Menschen ausdrücken wollen.

Sie sehen, daß dasjenige, was hier in der physischen Welt gewisserma­ßen am schwächsten ist im Menschen, der Wille und die Gefühlsimpulse - sie sind ja der schwächste Teil der menschlichen Seele in der physi­schen Welt und der unklarste -, daß dasjenige, über das wir am wenig­sten Herr sind, eine besondere Bedeutung gewinnt, um wahrzunehmen in der geistigen Welt. Dagegen ist das, was hier in der physischen Welt am allerstärksten ist, das Vorstellen - wir leben ja sogar am liebsten in unseren Illusionen und Vorstellungen, weil wir da am allermeisten Herr sein können -, es ist am schwächsten in der geistigen Welt.

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Mit Illusionen kann man in der geistigen Welt nicht viel anfangen, die verdecken einem noch die flutende Gedakenwesen-Einheit. Worauf es ankommt, ist nicht eine Ausbildung unseres Vorstellungslebens, sondern eine Ausbildung unseres Willens- und Gefühlslebens; und das ist ja das Wesentliche der Meditation. Bei der Meditation kommt es nicht darauf an, was wir vorstellen, sondern darauf - ich habe das immer wieder und wieder betont -, daß man vorstellt mit innerer Kraft. Auf die innere Energie, auf die Kraft, auf den Willen kommt es an, und auf das Fühlen und Empfinden während wir meditieren, also auf ein Willenselement, das wir im Meditieren entwickeln, und das wir stärker entwickeln, wenn wir uns so anstrengen müssen, wie wir uns bei einer Meditation anstren­gen sollen, aber geistig anstrengen sollen.

Am meisten feindlich entgegen steht dem wirklichen Fortschritt hin­ein in die geistige Welt die Sucht zu träumen, sich über die äußere Wirklichkeit Illusionen zu bilden, aus dem Grunde, weil wir dadurch unseren Willen immer schwächer und schwächer machen. Man macht den Willen am schwächsten, wenn man geradezu die Parasiten des Vorstellungslebens kultiviert, wenn man sich über alle möglichen äuße­ren Dinge Illusionen macht, wie überhaupt der Weg in die geistige Welt nicht dadurch beschritten wird, daß man sich vom Leben entfernt, sondern dadurch, daß man sich klar wird über die Dinge des Lebens. Nicht eine Verarmung des äußeren Lebens, sondern eine Bereicherung des Lebens muß uns in die geistige Welt hineinführen. Die Menschen möchten so gerne nicht durch Stärke, sondern durch Schwäche in die geistige Welt hineinwachsen. Schwäche ist es, wenn einen die äußere Welt, die Welt des äußeren Lebens nicht interessiert, wenn man die Goethesche Maxime nicht erfüllen kann: «Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden.»

Ich möchte darauf aufmerksam machen, bevor ich weiterschreite in diesen Betrachtungen über den Tod, daß in der Tat allen künstlerischen Betätigungen des Menschen zugrunde liegen muß ein Hineinspielen derjenigen Betätigungen der Seele, die notwendig sind für die Seele nach dem Tode. Es muß behufs künstlerischer Betätigung gerade das Willens-element durchdrungen werden von der spirituellen Welt und weniger das Anschauungselement. In unserer Zeit des Niederganges der Kunst,

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namentlich des künstlerischen Arbeitens, findet ja das Entgegengesetzte statt. In unserer Zeit des Niederganges auch der Weltauffassung wird gerade herausgearbeitet jenes Moment, das das Vorstellungsleben raffi­nierter macht. Daher werden in unserer Zeit die Künstler immer mehr abhängig von Modellen, von Vorbildern. Sie können unendlich wenig machen, wenn sie nicht Modelle, nicht Vorbilder haben. Daher wird in unserer Zeit es immer mehr und mehr stattfinden, daß sich die Künstler in der Kunst isolieren. Es kann aber niemals zu einer wirklichen Kunst kommen, wenn man sich in der Kunst isoliert; es ist das Gegenteil von dem, was werden soll.

Was geschieht denn, wenn zum Beispiel jemand einen Menschen künstlerisch gestaltet, malerisch oder plastisch, und er beschäftigt sich nicht mit den inneren Kräften, die diesen Menschen aufbauen, nicht mit dem Dynamischen, wenn er bloß herangeht und sich ein Modell nimmt und das Modell so behandelt, wie man im Anschauen die Dinge behan­delt? Dann entfernt er sich von dem eigentlichen Prinzip des künstleri­schen Schaffens. Der Anfang des Schaffens ist, daß man sich ein inneres, voluntaristisches Anschauen verschafft, daß man nicht von außen anschaut, sondern innerlich hineindringt und empfindet, wie da die Stirn sich wölbt, die Nase herauskommt und so weiter. Das ist es, um was es sich handelt.

Und so ist es auch insbesondere bei der Natur. Bei ihr handelt es sich um ein wirkliches Darinnenleben in den Betätigungen der Natur. Und da will ich Sie auf etwas aufmerksam machen, was der Mensch allerdings gleich erfährt, wenn er durch die Todespforte geschritten ist, was ihm aber hier in der physischen Welt ziemlich unbekannt bleibt.

Wenn wir malen, so malen wir vorzugsweise dasjenige, was sich, ich möchte sagen, über die Oberfläche der Dinge hinzieht. Wir malen Licht und Schatten, wir malen die Farben. Nun ist die äußere Natur mit Licht und Farben ausgestattet aus dem Grunde, weil sie Licht und Farbe nicht aufnimmt, sondern zurückwirft. Dort ist der Gegenstand, und der wirft uns Licht und Farbe zurück. Mineralien sind zum Beispiel dadurch Mineralien, daß sie Licht und Farbe in ihrem Inneren nicht aufnehmen, weil sie sie äußerlich abstoßen. Der Mensch mit seiner Seele lebt aber gerade in den Farben. Nach dem Tode zieht er darin sogleich ein, da

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weiß er sich sogleich in Licht und Farbe; aber hier weiß er sich nicht darinnen. Wenn der Landschaftsmaler vor die Natur tritt, so muß er etwas haben von dem, was zwischen ihm und der Landschaft ist; er muß darinnen aufgehen können, er muß gewissermaßen etwas hineinbringen in die physische Welt, was sich real erst verwirklicht, wenn der Mensch durch die Todespforte gegangen ist. Dieses gibt die Ähnlichkeit des künstlerischen Schaffens mit dem Darinnenstehen in der geistigen Welt, wenn auch das Durchpulst- und Durchsetztsein von der geistigen Welt für den Künstler zumeist unbewußt bleibt, und auch unbewußt bleibt die Notwendigkeit, daß etwas erweckt werde von diesem Durchpulst-werden von der geistigen Welt. Deshalb ist die Anlage unseres Baues ge­rade so gemacht, wie sie gemacht worden ist, weil man da, wie ich öfter aus einandergesetzt habe, gerade das, was nicht da ist, wird berücksichtigen müssen, nicht dasjenige, was da ist. Ich möchte sagen, gerade die Hohlformen, die ausgespart sind, wird man berücksichtigen müssen, nicht dasjenige, was da ist. Insofern ist auch durch diese ins Praktische gehende Ausgestaltung unserer geisteswissenschaftlichen Strömung ein Anfang gemacht, der gemacht werden muß in unserer jetzigen Kulturströmung. Sehen Sie, solche Hineinragungen der geistigen Welt in das menschli­che Leben, ich will sagen, durch das Todesspektrum, wie ich sie in den künstlerischen Produktionen von gestern und vorgestern vorgeführt habe, waren in gar nicht lange hinter uns liegender Zeit etwas Gewöhnli­ches. Heute ist es etwas Ungewöhnliches, und als Naturgabe wird das immer ungewöhnlicher werden. Es wird immer weniger als Naturgabe da sein. Aber je weniger der Mensch hier in dieser physischen Welt Beziehungen gestalten kann zu der geistigen Mannigfaltigkeit, desto gebundener wird er sein, wenn er durch die Pforte des Todes geschritten ist. Die Möglichkeit, jene Hohlformen zu schaffen, würde untergehen, wenn die Menschen ganz herauskommen würden aus den Beziehungen zu der geistigen Welt, wie es notwendig durch den äußeren Fortgang der Welterscheinungen geschehen müßte. Das alte Hellsehen muß ja nach und nach ganz verlorengehen. Könnten wir nicht durch die geisteswis­senschaftliche Entwickelung jenes Verhältnis zur geistigen Welt wieder herstellen, so verlöre der Mensch die Fähigkeit, nach dem Tode in der geistigen Welt zu leben, ein wirklich wesendes Wesen zu sein. Er würde

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durch dasjenige, was ihm immer bleibt, den Zurückblick auf das Leben, bei dem eben das Hinschauen auf den Tod etwas ganz Wesentliches ist, er würde durch dieses wie festgebannt, wie in ein Gefängnis eingesperrt werden.

Daher zeigt sich bei denen, die, wenn ich so sagen darf, geisteswissen­schaftlich gestärkt durch die Pforte des Todes gehen, daß sie nach dem Tode verhältnismäßig rasch die Freiheit gewinnen, die freie Betätigung in der geistigen Welt. Denken Sie nur einmal, wie das ungeheure Verknüpftsein mit dem, was die geisteswissenschaftlichen Impulse geben können, notwendig ist, um sogleich mit seinem Wesen so zu leben nach dem Tode, wie sich das zeigt in dem Falle, der beobachtet worden ist, wie es in den Worten liegt, die aus Frau Grosheintz' Seele gesprochen worden sind. Also es handelt sich darum, daß der Mensch durch die geisteswissenschaftliche Stärkung das ersetzt bekommt, was ihm früher die natürlichen Anlagen gegeben haben: zu dem Übersinnlichen, den spirituellen Erscheinungen ein Verhältnis zu gewinnen.

Wenn man rein aus natürlichen Anlagen heraus so etwas sehen kann, wie ein Todesspektrum - und die Leute in früheren Zeiten haben solche Todesspektren immer gesehen, man weiß das heute nur nicht mehr, denn das ist eine Fähigkeit, die verlorengegangen ist -, da sieht man dieses Todesspektrum durch das Abgetrenntsein seines Leibes; das befähigt einen dazu, die einzelnen, individuellen Erscheinungsformen zu sehen. Da schneidet man aus der Einheit diese einzelnen Erscheinungsformen heraus. Und darauf kommt es da an: auf dieses Herausschneiden aus der Einheit, daß man lernt dieses Herausschneiden. Aber die Möglichkeit, das Herausschneiden zu erlernen, geht mit dem atavistischen natürlichen Heilsehen ganz verloren, und es muß ersetzt werden durch ein Hinein­wachsen in die Geisteswissenschaft. Diese geisteswissenschaftliche Stär­kung wird es aber auch sein, durch welche die nötige Befähigung zum künstlerischen Schaffen auf jedem Gebiete in der Zukunft hervorgerufen wird. Der Plastiker, der Musiker, der Maler, der Dichter, sie werden nicht schaffen können, wenn sie sich nicht durchdringen mit dem, was die geisteswissenschaftliche Stärkung ihnen geben kann. Heute fürchtet man sich noch davor. Dieses Fürchten, das kommt dann zum Ausdruck, wenn ein Plastiker, ein Musiker, ein Maler, ein Dichter kommt und sagt:

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Ach, Geisteswissenschaft, das ist so etwas, da muß ich alles mögliche treiben und anstreben, das ertötet in mir die ursprüngliche künstlerische Schaffenskraft. - Das kann man überall hören; aber das ist nur eine Furcht vor der Kraft, die notwendig ist, wenn das Künstlertum den Menschen wirklich bleiben soll für die Zukunft. Die Menschen fürchten sich heute noch vor diesem, was in ihrem Inneren gerade als die stärkste Kraft auftreten muß. Zeiten werden kommen in der Entwickelung der Menschheit, wo heranreifen müssen die künstlerischen Fähigkeiten durch die geisteswissenschaftliche Stärkung.

Allerdings, jener Unfug wird dann nicht mehr so Platz greifen können wie heute, daß die Menschen aus dem Nichts heraus sich in einem möglichst frühen Jugendalter selber zu Künstlern ernennen und es dann nach ihrer eigenen Meinung auch sind. Sie glauben dann, es liege nur daran, daß die Welt sie nicht anerkennt, wenn dieses Künstlertum nicht zur Entfaltung kommt. Dieser Unfug wird nach und nach aufhören. Die Kunst der Zukunft wird eine Kunst der Reife sein, und man wird in einem verhältnismäßig späten Lebensalter erst die innere Reife fühlen, die zur künstlerischen Betätigung führt. Man wird nicht glauben, daß man im spateren Lebensalter nicht mehr die Kräfte haben kann, die Jugendkräfte, wie man ja oftmals sagt, die nötig sind, um künstlerisch zu schaffen; sondern man wird gerade finden, daß man durch Vertiefung und geisteswissenschaftliche Stärkung erst loslöst aus dem inneren Wesen die Kräfte, die zum künstlerischen Schaffen in Zukunft führen werden. Aber vor diesen Kräften fürchtet man sich heute noch, wie man sich vielfach fürchtet vor dem, was erst errungen werden muß. Daher haben viele Künstler oftmals eine heillose Angst vor diesem Herausholen ihres tieferen inneren Wesens, und wenn sie hören, daß es nicht der äußere irdische Mensch ist, sondern der höhere Mensch in ihnen, der künstlerisch schaffen soll, dann geraten sie in eine heillose Verwirrung. Man kann sich kaum eine heillosere Verwirrung denken als die, in welche ein Künstler der neueren Zeit gekommen ist, als er gewahr wurde, wie es der Genius im Inneren des Menschen ist, das, was der geistigen Welt angehört, was da eigentlich schafft im Künstler. Ein Künstler der neueren Zeit sprach die heillose Angst, die er vor dieser geistigen Welt hatte, ungefähr in folgenden Worte aus:

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«Die Genialität ist eine fürchterliche Krankheit. Jeder Schriftsteller trägt in seinem Herzen ein Ungeheuer, welches alle seine Gefühle, gleich nachdem sie geboren werden, frißt. Wer wird den Sieg davon­tragen - die Krankheit über den Menschen oder der Mensch über die Krankheit? Man muß ein wahrhaft großer Mensch sein, um seinen Charakter und sein Genie im Gleichgewicht zu halten. Ist der Dichter kein Gigant, hat er nicht die Kräfte eines Herkules, so muß er entweder sein Herz oder seine Begabung einbüßen.»

Man möchte eine Gänsehaut bekommen, aber eine seelische Gänsehaut, wenn solche Dinge ausgesprochen werden. Denn es ist nichts weiter als die heillose Angst vor dem im Menschen, was mit der geistigen Welt in Beziehung steht, die uns da entgegentritt. Und es ist ein sehr konsequenter Satz, trotzdem sich der Autor gar nicht bewußt ist, wie groß die Konsequenz war; denn daß er von Giganten und Herkules spricht, ist ungeheuer charakteristisch. Es ist bezeichnend, daß ihm gerade diese Worte in den Mund kommen oder in die Feder, könnte man sagen.

Also selbst die Ansicht konnte auftreten, daß der Mensch den Sieg davontragen muß durch dasjenige, was er im irdischen Leben ist - denn das liegt in diesen Worten -, während das wahrhafte Erkennen dahin gehen wird, daß der Genius im Menschen, der gesunde Genius, den Menschen durchdringen und ergreifen wird, ihn zu seinem Instrumente machen wird.

Ein anderer Künstler der neueren Zeit knüpft eigentümliche Worte an diese Sätze, die ich eben vorgelesen habe, höchst eigentümliche Worte. Er sagt: «Vergegenwärtigen wir uns doch den in der Aeneis beschriebe­nen tragischen Untergang Laokoons. Die Bürger Trojas sehen natürlich mit Grauen und Widerwillen, wie die riesengroßen Schlangen Laokoon und dessen Söhne erwürgen. Die Zuschauer empfinden Angst, Mitleid, und haben wohl auch den Wunsch, die Unglücklichen zu retten; wie sehr verschieden ihre seelischen Zustände auch sein mögen, so spielt doch der Willensmoment bei allen eine höchst wichtige Rolle . . . Man denke sich aber mitten in dieser erregten und erschütterten Menge einen Bildhauer, der die schreckliche Katastrophe, die sich vor seinen Augen abspielt, als Thema zu einem künftigen Kunstwerk betrachtet. Bei der allgemeinen Erregung unter den schreienden, rasenden, betenden Menschen

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bleibt er der ruhige Beobachter. Alle moralischen Instinkte wer­den in ihm in diesem Augenblick von der ästhetischen Wißbegier unterdrückt. »

Das soll notwendig sein, um ein künstlerisches Werk zu schaffen! Da sollen Menschen stehen, in tiefstem Mitleid, die keine Künstler sind, und nicht helfen können, und da soll der Tropf stehen, der Stumpfling, der keine Ahnung hat von dem Schmerz, den das alles erzeugt. Und dieser Stumpfling, der soll der richtige Künstler sein, der das darstellen kann, der so dasteht in seinem Stumpfsinn, nur um die Sache zu betrachten! So weit haben wir es gebracht in der Gegenwart, daß man sich getraut zu fordern: Ein Stumpfling den Erscheinungen des Lebens gegenüber solle der Künstler sein, damit er «objektiv» sein kann. Mitleid und Mitgefühl soll er aus dem Herzen reißen, ein stumpfsinniger Tropf werden, und dann erst kann er, nach diesen Worten, etwas so schildern, daß es die anderen Menschen mit Interesse erfüllt.

Man kann nicht schlimmer von den allerabscheulichsten ahrimani-schen Kräften erfaßt werden, als wenn man eine solche Anschauung über das Künstlertum zu entwickeln in der Lage ist. Das ist die Dekadenz unserer Zeit, erzeugt von der Furcht und Angst vor der geistigen Wirklichkeit: nicht zu wissen, daß, wenn man Künstler sein will, man mitfühlen muß die Ereignisse mit noch tieferem Mitleid, daß man noch tieferes Mitempfinden haben muß, und nur die Fähigkeit haben muß, in einem späteren Augenblicke aus diesem tiefen Miterleben dieselben Ereignisse objektiviert wieder anzuschauen, so daß wir sie lieben kön­nen, wie wir ein fremdes Wesen lieben können, und daß wir aus diesem noch tieferen Miterleben zu einem künstlerischen Schaffen kommen. So weit ist unsere Zeit gekommen in ihrer Perversität der Weltanschauung, daß das Gegenteil der Wahrheit als Summe von Weisheit in die Welt hinausposaunt wird. Und ich bin überzeugt davon, daß es unendlich viele Menschen gibt, die diesen Stumpfsinn sogar für geistreich halten, und die dieses Lob auf den künstlerischen Stumpfsinn für die endliche Entdeckung halten dessen, was Künstlertum eigentlich ist. So stehen wir darinnen in der Gegenwart und müssen suchen jenen Stützpunkt der geisteswissenschaftlichen Stärkung, der uns die Befähigung gibt, uns darinnen zu wissen in der Welt, in die der Mensch auch eintritt im

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natürlichen Gange der Ereignisse, wenn er durch die Pforte des Todes geht.

So kann uns die Kunst dem Tode verwandt erscheinen, das heißt, dem höheren Leben verwandt. Dem Tode verwandt sein, heißt: dem höheren Leben verwandt sein.

In vieler Beziehung müssen wir uns, um in die geistige Welt einzutre­ten, die Fähigkeit aneignen, zu anderen Vorstellungen und anderen Ideen zu kommen als diejenigen sind, die uns erfüllen müssen, um die Welt zu verstehen, die wir erleben zwischen der Geburt und dem Tode. Viel mehr müssen wir uns aufschwingen dazu, die Maja nicht nur so zu durchbrechen, daß wir gleichsam diese Maja überall sich gleich finden und glauben, wenn wir irgendwo durchkommen, dann sind wir schon in der geistigen Welt darinnen. An verschiedenen Stellen des Lebens ist die Maja verschieden dicht. Wenn wir verschiedenen Gebieten des Lebens gegenübertreten, so finden wir, daß die Maja verschieden dicht ist; sie ist aus verschiedenen Stoffen gewoben. Trotzdem sie Maja ist, ist sie an den verschiedenen Stellen des Lebens aus verschiedenen Stoffen gewoben.

Wir treten einem Kinde entgegen, wir lernen es in diesem physischen Dasein kennen, wir machen uns zunächst Vorstellungen über das Wesen des Kindes, die zusammengesetzt sind aus den Erfahrungen, die wir uns gebildet haben, je nachdem wie uns das Kind mit seiner Wesenheit im physischen Leibe entgegentritt. Wir könnten keinen größeren Fehler machen, als wenn wir ohne weiteres eine solche Vorstellung hineintragen würden in die geistige Welt, um real zu erkennen das betreffende Wesen, wenn es durch die Todespforte geschritten ist.

Wir haben ja selbst in letzter Zeit ein ganz ungeheuer ergreifendes karmisches Ereignis durchgemacht: in Theo Faiss. Wir stellen ihn uns falsch vor, wenn wir etwa einfach verlängern würden die Vorstellungen, die wir uns gemacht haben von dem Kinde nach dem, wie es uns in der physischen Welt entgegengetreten ist, und wenn wir diese Vorstellungen nur hinaus in die geistige Welt projizieren würden. Gerade in einem solchen Wesen können wir manchmal bald nach dem Tode die aller­größte Reife finden. Wir können verwoben finden die Kräfte, die das Kind hereingebracht hat in die physische Welt durch die Geburt, und die sich nicht ausgelebt haben in der physischen Welt. da das Karma es nicht

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zugelassen hat, wir können sie verwoben finden in die kosmischen Kräfte hinein, und wir können allmählich wahrnehmen, wie eine reife Seele, die sich durch den Tod hindurchgerungen hat zum kosmischen Dasein, nach und nach zum Sphärendasein heranwächst. Und wenn eine solche Seele ein Kind war in der letzten Inkarnation, so können wir wahrnehmen, wie sie verhältnismäßig rasch heranwächst, um zu dirigie­ren dasjenige, was dem Kosmos sich an Kräften einfügt. Dann lernen wir den Menschen nach dem Tode kennen, wie wenn er mit seiner eigenen Wesenheit dirigiert die Kräfte, die in seinem Todesspektrum sind, und die sich hineinverweben in den Kosmos. So wächst der Mensch hinein in jenes Schaffen, das man das Himmelsschaffen nennen kann. Dann verwächst sein willensartiges Gefühl, sein gefühlsmäßiges Willensim­puls-Element mit der Welt draußen. Wie wenn wir uns im physischen Leibe als Kind allmählich anpassen mit unseren Sinnesorganen an die äußere Welt, wie wir da ins Schauen hineinwachsen, so wachsen wir nach dem Tode ins Wesen hinein, ins Wesentliche; in die Willensentfal­tung wachsen wir hinein.

Und wenn wir solche Erscheinungen auf uns wirken lassen in echt geisteswissenschaftlichem Sinne, dann würden wir nach und nach mer­ken, wie die Maja des äußeren Lebens an den verschiedenen Stellen verschieden stark gewoben ist. Sie ist schwer zu durchdringen an solchen Stellen wie beim Tode eines ganz jungen Kindes, weil das meiste, was da äußere Erscheinung war, dasjenige stört, was an die Stelle treten muß, damit wir uns eine richtige Vorstellung machen von dem, was der Mensch nach dem Tode ist.

Es gibt dann aber auch Menschen, bei denen verhältnismäßig leicht zu durchdringen ist das Gewebe der Maja, weil die Wahrheit ihres Wesens sich tief hat einfügen können auch dem, was als Maja hier in der physischen Welt zwischen der Geburt und dem Tode bei ihnen lebt. Solche Menschen gibt es auch, Menschen, welche schöne Schätze geisti­gen inneren Reichtums bei ihrer Geburt hinuntertragen in die physische Welt, und die in der Lage sind, einzuverweben in die Art wie sie sind, das, was sie aus der geistigen Welt hinuntergetragen haben. Es sind diejenigen Menschenwesen, die wir um dessentwillen, was gleichsam die Schöpfer in ihrer Liebe aus ihnen gemacht haben, unendlich lieben

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müssen, bei denen wir oftmals nicht fragen, warum wir sie lieben, sondern bei denen uns die Liebe zu ihnen als eine Selbstverständlichkeit vorkommt. Solche Wesen sind gleichsam lebendige Zeugen der geistigen Welt, weil sie außerordentlich stark ähnlich sehen ihrem geistigen Wesen hier in der physischen Welt schon, und weil das Gewebe der Maja, allerdings durch die Liebe nur, aber durch diese recht bald, auseinander-gelegt werden kann, so daß man in die Tiefe der Seele dann hineinzu­schauen vermag.

Es gehört solchen Menschen gegenüber eine gewisse Zartheit, eine intime Zartheit dazu, sich zu ihnen zu stellen, weil sie viel, viel herunter-tragen von der geistigen Welt in das physische Dasein, und weil sie dann nach dem Tode gleichsam so dastehen, wie wenn sie lebendige Zeugen wären für die doch unendlich tief bedeutsame Tatsache, daß in allen Offenbarungen hier in dieser Welt auch die Impulse der geistigen Welt weiterleben. Erblicken wir solche Menschen nach dem Tode, so stellen sie sich uns so dar, wie wenn sie uns sagen wollten: So waren wir vorher, und daß wir so in tiefster, tiefster innerlicher Wahrheit waren, das bewahrheitet sich jetzt, da wir durch die Pforte des Todes geschritten sind. - So stehen sie da wie Glaubensapostel auch nach dem Tode, wie Apostel für den Glauben, der uns an das Leben, das wir hier in der physischen Welt verbringen, glauben läßt.

So steht auch da unsere hingestorbene Freundin Sihyl Colazza, steht da wie ein Apostel für den Glauben, daß die Welt, in der wir leben, durchdrungen ist von Geistigkeit. Und da haben wir zu erklären, warum gerade bei ihr das Eigentümliche eingetreten ist, daß im Anblick ihres geistigen Wesens bewahrheitet werden mußte dasjenige, was sie durch die Hülle des äußeren Lebens hindurch auch schon in der physischen Welt für jeden, der sie kennen und lieben lernte, darlebte. Daher der andere Ton in den Worten, die aus ihrer Seele heraus gesprochen werden mußten, weil das Individuelle gerade in dem lag, wovon ich jetzt gesprochen habe:

Und es durchseelte dieses Wesen

Deine Stimme, die beredt

Durch des Wortes Art mehr

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Als in dem Worte selbst

Offenbarte, was verborgen

In Deiner schönen Seele weset . . .

Merken Sie, daß die Darstellung der Vergangenheit, des Imperfektums übergeht in die Gegenwart, das Präsens, weil zusammenfloß der Anblick des Lebens im Leibe mit dem Anblick des Lebens nach dem Tode. Das drückt sich selbst im Worte aus. So notwendig fließt das Wort, das aus der geistigen Welt heraus geprägt werden muß. So daß gesagt werden muß: es durchseelte dieses Wesen deine Stimme, die beredt durch des Wortes Art mehr als in dem Worte selbst offenbarte, was verborgen in deiner Seele «weset», also nicht «wesete», sondern «weset», fortwirkt, da ist.

Doch das hingebender Liebe

Teilnahmsvoller Menschen

Sich wortlos voll enthüllte:

- man kann auch sagen «enthüllt» -

Dies Wesen, das von edler, stiller Schönheit

Der Welten-Seelen-Schöpfung

Empfänglichem Empfinden kündete.

- man kann auch sagen «verkündet» -. Es fließen da die beiden Zeiten zusammen .

Nun nehmen wir eine Seele, wie die unseres zu unserem Leide so jung verstorbenen Freundes Fritz Mitscher, eine Seele, welche dem, der sie kennenlernte, sich darlebte so, daß man ihr Wesen im schönsten Sinne des Wortes ausdrücken kann, wenn man ein Wort prägt, das abstrakt und trocken klingen kann, das aber wirklich dieses Wesen zum Aus­druck bringen kann, das Wort: ein objektiver Mensch. Fritz Mitscher war ein ganz objektiver Mensch. Die Momente, wo ein Fritz Mitscher von sich erzählt hätte, die hat es kaum gegeben. Wenn er von sich auch erzählt hat, so war das Von-sich-Erzählen im Grunde genommen nur

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scheinbar. Es war nur so, daß er seine Beziehungen zu dem oder zu jenem in der Außenwelt charakterisierte. Sein Ich stand fast gar nirgends, ich kann nicht sagen, im Mittelpunkte der Betrachtung, es stand nicht einmal am Horizonte der Betrachtung. Und es war charakteristisch bei ihm, daß er - wie es natürlich ist, wenn ein älterer Mann mit einem jüngeren Mann sich unterhält über allerlei Lebensratschläge, daß man das Gespräch auf ihn selbst bringt -, daß er dann, wenn er von sich reden sollte, in gewisser Weise einem sogar entschlüpfte und ablenkte von sich das Gespräch auf dasjenige, was er zu erleben hatte um sich herum, um es zu charakterisieren mit der Kunst, mit der er schon charakterisieren konnte, die er aus der Geisteswissenschaft gewonnen hatte. Er war also ein objektiver Mensch, ein Mensch der Objektivität. Er dachte nicht daran, was er der Welt bedeutet, er dachte nicht daran, wie sein Ich sich in die Welt hineinstellte. Er hatte im eminentesten Sinne überall nur sachliche Interessen, jene sachlichen Interessen, die sich so charakteri­stisch ausdrücken, wenn man so gar nicht bedacht ist auf die Art, wie sich solche sachlichen Interessen in die Welt hineinstellen.

Fritz Mitscher gehörte zu denjenigen Menschen, die von früh auf einen gleichen Eifer angewendet haben, irgend jemandem im vorüberge­henden Gespräche mit der äußersten Objektivität die ihm tiefsten Wahr­heiten zu entwickeln; er gehörte zu denjenigen Menschen, die immer denselben Eifer da anwenden, weil sie sich für die Sache und nicht für die Person und das Hereinstellen der eigenen Persönlichkeit in die Welt interessieren. Und wenn er vor einem Auditorium gesprochen hat, so war es das reinste, keuscheste Aufgehen in die Sache, niemals das Sich-Verlieren in die seelische Unkeuschheit des Über-sich-Sprechens. Das war so charakteristisch für ihn. Und das befähigte ihn ja auch in so eminentem Grade dazu, die Welt wirklich so aufzufassen, daß man durch das Medium der Idee, des Gedankens, der Vorstellung in die Welt hineinkommt, nicht aus ihr herauskommt, sondern in sie hineinkommt. Immer tiefer lebte er sich daher durch den Gedanken, durch die Idee, durch die Vorstellung in die Weltenzusammenhänge hinein: so lebte er mit der Welt zusammen, lebte mit seinem Ich - weil er so wenig davon sprach - eben so drinnen in den Dingen und nicht nur in seiner Haut darinnen.

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Solche Menschen sind es im Grunde genommen, die allein wirklich dasjenige verstehen, was Ideale in der Welt sind, was das Leben in Ideen und Idealen ist. Leben in den Ideen und Idealen ist ja nicht bloß: Ideen und Ideale haben - die kann man ja haben, sie sind im Leben so leicht zu pflücken wie Brombeeren -, aber darum handelt es sich nicht bloß, daß man Ideen und Ideale hat, sondern darum handelt es sich, daß man Ideen und Ideale in ihrer gedanklichen Reinheit hat, und das fliehen so unendlich viele Menschen. Vor dem Denken fliehen ja die Menschen in ganzen Scharen. Oh, meine lieben Freunde, man braucht nichts ande­res zu tun, als die Imagination vor seine Seele zu rufen, die reale Imagination vor seine Seele zu rufen des wirklich reinen Denkens, des Lebens im reinen Gedanken, in sinnlichkeitsfreien Gedanken und Ideen, diesen keuschen Quell des Seelendaseins hinzustellen, und dann ein­mal zu probieren, die Spektren der Menschen darum herum zu stellen, und man wird finden: in ganzen Scharen fliehen die Menschen vor die­sem keuschen Quell der sinnlichkeitsfreien Gedankenwelt. Oh, das ist etwas Nüchternes, Trockenes, das ist etwas, was einem die Liebe aus dem Herzen reißt, es ist etwas Kaltes, Eisiges -, sagen sie, und sie fliehen, fliehen in ganzen Scharen, und nur wenige, wenige blei­ben stehen, in seelischer Keuschheit. Das sind die wirklichen Philo­sophenseelen, das sind die für die Philosophie wirklich veranlag­ten Menschen. Zu ihnen gehören solche Naturen, wie Fritz Mitscher war.

Daher bildet sich bei solchen Naturen verhältnismäßig wie eine Selbst­verständlichkeit heraus, daß sie in Zusammenhänge hineinwachsen, auf die natürlichste Weise hineinwachsen, ich muß sogar besser sagen, daß sie sich durch ihr Karma in die Zusammenhänge hineintragen lassen. Gerade das war bei Fritz Mitscher im allerhöchsten Maße der Fall. Nirgends konnte man bemerken bei ihm, daß er sich an einen Platz hinstellen wollte aus einer Absicht heraus, aus einer im physischen Leibe gefaßten Absicht heraus. Überall war es so, daß er sich von dem Strome des Karma hinführen ließ zu den Aufgaben. Das ist wiederum die richtige Philosophennatur, die man eher etwas hinführen muß zu den Aufgaben, als daß sie aus einem egoistischen Willen heraus sich zu dieser oder jener Aufgabe drängen würde. Denn solche echten Philosophennaturen,

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die wissen in ihrem tiefen inneren Fühlen nur allzustark - und in ihren Impulsen -, daß man ja im Grunde wirklich reif zu einer Aufgabe niemals ist, und daß man eigentlich nur glauben kann, man wäre reif für eine Aufgabe, wenn man maßlos eitel ist, daß man eigentlich immer etwas vorausnimmt von dem, was man später erst leisten kann. Denn bloß, wenn man diese Gesinnung hat, dann verspürt man in seinem Leben etwas von dem, was die innere Berufung ist. Und es wird dann das Leben in gewisser Weise durchdrungen von dem: Erkenne dich! - Man lernt ja sich am besten erkennen, wenn man wenig von seinem Ich spricht und denkt. Dann wird das, was man wirkt und arbeitet für das Leben, durchdrungen von dem: Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden!

Es war dies die Devise des Fritz Mitscher. Solch ein Leben setzt sich dann in die geistige Welt hinein fort und bleibt dasjenige, was es war, nur daß aus dem Keim die Frucht in der geistigen Welt wird. Wir müssen dann absehen von jener Betrachtung, die ja unreal wäre, daß wir uns fragten: Was wäre aus solch einer Wesenheit geworden, wenn sie länger hätte bleiben können in der physischen Welt? Das ist eine unreale Betrachtung. Die reale Betrachtung führt uns gerade zu dem Großen, Wunderbaren, daß aufgenommen wird eine solche Seele in die geistigen Welten, und daß dasjenige, was sie nun in den geistigen Welten zu leisten berufen ist, sich zu dem, was sie hier durchlebt hat zwischen Geburt und Tod, verhält wie die Frucht der Pflanze zu dem Samen, so daß das hiesige Leben wirklich ein Samenleben für das geistige Leben nach dem Tode ist.

So müssen sich einem gerade bei einer Natur, welche in der Objektivi­tät lebt, wenn man sie nach dem Tode betrachtet, die Worte in die Seele hereinsenken, die diese Objektivität der Lebensauffassung charakterisie­ren, aber auch das Verhältnis zur umliegenden Welt: in der Welt drinnenstehen und mit der Wesenheit in der Welt drinnenstehen. So war es denn notwendig über Fritz Mitscher zu sprechen, wobei eben gerade dieser Unterschied zwischen dem Samen hier und der Pflanze, die sich weiter entwickelt dort, sich als das Charakteristische vor die Seele hinstellt. So erkläre ich mir, warum die Worte gerade so wurden, wie sie waren.

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Ein Verlust, der tief uns schmerzt,

So entschwindest Du dem Feld,

Wo des Geistes Erdenkeime

In dem Schoß des Seelenseins

Deinem Sphärensinne reiften . . .

Eine Hoffnung uns beglückend;

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Lautrer Wahrheitliebe Wesen

War Dein Sehnen urverwandt;

Aus dem Geisteslicht zu schaffen

War das ernste Lebensziel,

Dem Du rastlos nachgestrebt . . .

Eine Hoffnung uns beglückend;

So betratest Du das Feld,

Wo der Erde Geistesblüten

Durch die Kraft des Seelenseins

Sich dem Forschen zeigen möchten.

Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

Eine Hoffnung uns beglückend,

Ein Verlust, der tief uns schmerzt:

Laß uns hoffen, daß Du ferne-nah,

Unverloren unsrem Leben leuchtest,

Als ein Seelen-Stern im Geistbereich.

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So konnte denn Fritz Mitscher geradezu die Individualität sein, bei der ausgesprochen wurde dasjenige, was aber real und wirklich war bei vielen unserer toten Freunde bei ihrem Eintritt in die geistige Welt: Sie werden auf dem Felde des geistigen Lebens, das wir zu pflegen haben, unsere wirksamsten Mitarbeiter, sie werden diejenigen, zu denen wir mit besonderem Danke aufschauen, wenn wir an die Aufgaben der gegen­wärtigen und zukünftigen geistigen Entwickelung denken müssen, Auf­gaben, die sich nur schwierig und langsam werden realisieren lassen innerhalb unseres Erdenseins mit den Kräften bloß, die in physischen Leibern inkarniert sind. So erscheint es mir bei unseren durch die Pforte des Todes gehenden Freunden, wie wenn es überall am Platze gewesen wäre, ihnen, wie auch unserem Freunde Christian Morgenstern, mitzu­geben die Bitte, so bei uns zu bleiben, daß durch ihre Kräfte vieles getan werden kann in unserer geistigen Bewegung, was mit bloß irdischen Kräften eben nicht getan werden kann.

Gerade dieses mußte man als letzten Erdengruß an solche Individuali-täten richten, und deutlich ausgesprochen werden muß es ganz beson­ders bei unserem lieben Freunde Fritz Mitscher, der auch mit seiner Jugendkraft in der in diesen Tagen charakterisierten Weise unser starker Helfer sein wird, der wahrhafter Trost sein wird, Trost da, wo Trost nötig ist. Er ist oftmals nötig.

Es ist so mancherlei, was insbesondere in der letzten Zeit unseres Wir­kens und Schaffens und unseres Strebens uns so recht vor Augen führt, wie groß die Hemmnisse, die wirklich nicht eingebildeten Hemmnisse des physischen Planes sind, wie schwer sich die Vorurteile der Menschen entgegenstellen demjenigen, was bei uns geleistet werden muß, und in welch widerspruchsvoller Weise sie sich oftmals entgegenstellen.

Man braucht etwa nur ein solches Beispiel zu nehmen: Die Menschen draußen, außerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Strömung, schrei­ben Broschüren - dasjenige, was ich jetzt sage, ist wirklich nicht aus einem persönlichen Grunde gesagt, weil ich mich dabei nur als schwa­ches Instrument fühle der geistigen Bewegung, die uns zu tragen hat -, also die Menschen draußen schreiben Broschüren über Broschüren darüber, wie von unseren Anhängern alles, ohne geprüft zu werden, auf Treu und Glauben und auf Vertrauen hingenommen wird, wie gewissermaßen

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in unserem Kreise nichts vorhanden wäre, als der blinde Glaube. So charakterisiert man draußen unsere Bewegung: als wären alle bloß blindgläubige Tröpfe, die nur auf das Vertrauen hin, das sie haben, nachlaufen. Das draußen!

Innerhalb der Mauern sieht es manchmal mit diesem Vertrauen -wenn man auf dasjenige Vertrauen etwas gibt, das in den tieferen Seelengründen vorhanden ist und nicht bloß in den Worten, an der Oberfläche liegt - gar nicht so glänzend aus. So daß ein großer Wider­spruch vorhanden ist zwischen dem, wessen uns die Leute in ihren Broschüren anklagen, und dem, was in so reicher Überfülle innerhalb der Mauern unserer Gesellschaft vorhanden sein sollte. Es ist ein klaffen-der Widerspruch. Denn wenn es wirklich hat vorkommen können -ohne Kritik und vor allen Dingen ohne Bitterkeit sage ich das, was ich zu sagen habe, und ohne im allergeringsten eine Persönlichkeit treffen zu wollen -, wenn es hat vorkommen können, daß mit Rücksicht auf mancherlei, was ich im Herbste hier an dieser Stelle gesagt habe, hat geschrieben werden können: der Doktor Steiner vertrödelt seine okkul­ten Forschungen mit solchen Angelegenheiten, und unter Angelegenhei­ten ist hier dasjenige gemeint, was ich dazumal zur Sprache gebracht habe, er vertrödelt also seine okkulten Kräfte für solche Dinge, die dazumal ausgesprochen worden sind -, wenn das hat geschrieben wer­den können, dann ist das doch ein klarer Beweis dafür, daß jenes Vertrauen, dessen wir draußen in der Welt, als einzig bei uns herrschend angeklagt werden, wenn es auch vielfach in den oberen Bewußtseins-schichten als Maja vorhanden ist, doch in den tiefern Seelenkräften gar nicht so außerordentlich fest sitzt.

Schließlich wird dasjenige, was als Lehre hier vorgebracht wird, auf keine Autorität gegründet und niemals als Dogma zu glauben gefordert. Das ist gerade gesagt mit der Tendenz, daß es in allen Einzelheiten geprüft werde. Aber etwas wie sich zum Richter aufwerfen darüber, worauf ich selbst zu erstrecken habe meine okkulten Forschungen und worauf nicht, das ist eine Geistestyrannis, die im eminentesten Sinne nicht aus dem entspringt, was natürlich bis zu einem gewissen Grade vorhanden sein muß, nicht, um Geisteswissenschaft aufzunehmen, was aber vorhanden sein muß, ich möchte sagen, um der Gesellschaft willen.

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Es ist eine Geistesryrannis, die aus unterbewußtem Mangel an Vertrauen entspringt. Um Lehren entgegenzunehmen, braucht man kein Ver­trauen; aber um dem Geistesforscher nicht vorzuschreiben, was er aus der geistigen Welt aufzunehmen hat, sondern vorauszusetzen, daß der Vertreter der Geisteswissenschaft selbst weiß, was er zu tun hat und selber über dasjenige, was in das Gebiet seiner Forschungen fällt, entscheiden muß, dazu gehört ein Vertrauen, das ja auch der Bewegung niemals irgendwie unförderlich sein kann, weil es über den Kreis des Persönlichen nicht hinausgeht, weil es die Lehre nicht berührt. Aber es bezeichnet eine solche Tatsache - wie viele ähnliche Tatsachen es bezei-gen -, daß schon große Hemmnisse und Schwierigkeiten vorhanden sind, und daß es schon notwendig ist, daß wir immer weiter und weiter, fern von alle dem, was einem Wunsche des Wirkens ähnlich sieht, innerhalb unserer geistigen Bewegung das, was aus der Einsicht in die innere Notwendigkeit hervorgeht, als Pflicht tun. Diese Pflicht wird immer getan werden, wenn sie auch noch so sauer gemacht werden sollte, nach den gewöhnlichen Auffassungen des Lebens das Wort «sauer» genommen.

Aber gerade dann, wenn wir sehen, daß wir solchen teuren Toten geben dürfen etwas wie eine Art persönlichen Auftrag, mit uns zu sein durch ihre Kräfte, mit unseren Kräften zusammen zu wirken, dann entspringt für unsere Bewegung ein Gefühl von Sicherheit, das die physische Welt niemals geben könnte.

Und so fließt ein in unsere Bewegung, in dem Angedenken an unsere teuren Toten, in die Impulse selber etwas, was übersinnlich ist, was nicht bloß aus demjenigen entspringt, was wir hier manchmal gar nicht zur Beflügelung unseres Wirkens in der physischen Welt erleben können. Es entspringt sozusagen die Möglichkeit daraus, daß einfließt in die Maja unseres Gesellschaftswirkens Übersinnliches an Impulsen, daß wir uns sicher wissen, weil bei dem, was wir tun, nicht bloß das ist, was sich äußerlich auf dem physischen Plan vollzieht, sondern in diesem konkre­ten Sinn dabei ist auch dasjenige, was übersinnlich ist, da mit uns geblieben sind, wenn auch nicht im physischen Sein, unsere teueren Toten, so daß wir uns sicher wissen im Wirken, welches sich im Strome des geistigen Werdens drinnen empfindet.

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Höre unsrer Seelen Bitte,

Im Vertrau'n Dir nachgesandt:

Wir bedürfen hier zum Erdenwerk

Starker Kraft aus Geistes-Landen,

Die wir toten Freunden danken.

So sprechen wir real von unseren teuren Toten als von unseren Genos­sen, unseren Kameraden, unseren Mitarbeitern, als von denjenigen, deren Wesen unsichtbar unter uns waltet. So ergreifen wir in dieser Weise konkret das unsichtbare Wesen, geben in der sichtbaren Welt ein letztes Mal physisch dem Freunde die Hand und empfangen dann geistig, nach dem Tode, diese Hand aus der übersinnlichen Welt. Und in diesem Wechseln des Händedrucks sehen wir das Symbol für das Wirken innerhalb einer Gesellschaft, die nicht nur für die physische Welt sprechen soll, die hereinrufen soll zu ihrer Wirksamkeit auch die über­sinnlichen Welten. Solchem Wirken, solchem Arbeiten wollen wir eine Stätte bauen hier auf diesem Hügel. Möge für solches Wirken hier eine Stätte sein!

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ACHTER VORTRAG Dornach, 27. März 1915

Nachdem wir das letzte Mal, als wir uns hier versammeln konnten, Betrachtungen angestellt haben, die mehr an speziellere Erlebnisse anknüpften, wollen wir heute wiederum mehr ins Allgemeine der Gei­steswissenschaft einen Ausblick tun. Es wird ja gelegentlich dieser Osterbetrachtungen möglich sein, Mannigfaltiges, auch Spezielleres wie­derum zu besprechen, da wir die Betrachtungen von heute in der nächsten Woche fortsetzen werden.

Ausgehen möchte ich heute davon - was Sie alle im Grunde genom­men längst wissen -, daß alle geisteswissenschaftliche Betrachtung gewonnen wird dadurch, daß die Erkenntnisse erworben werden nicht mit der Hilfe der Werkzeuge des physischen Leibes, sondern dadurch, daß das Seelisch-Geistige freigemacht wird von dem physischen Werkzeuge und dadurch als Seelisch-Geistiges in unmittelbare Verbindung kommt mit den geistigen Welten. Diese unmittelbare Verbindung mit den geistigen Welten ist im gewöhnlichen Leben und im gewöhnlichen Erkennen dadurch unterbrochen, daß wir uns im wachenden Zustande immer der Werkzeuge unseres physischen Leibes bedienen müssen, wenn wir in ein Verhältnis zur Welt kommen wollen. Und im schlafen­den Zustande konzentriert sich all unser Wille auf unseren Zusammen­hang mit dem Leibe, so daß das Begehren nach dem Leibe wie ein Nebel sich ausbreitet in unserem Seelisch-Geistigen während des Schlafes und uns hindert, während des Schlafzustandes im gewöhnlichen Leben irgend etwas in den geistigen Welten, in denen wir ja darinnen sind, zu erleben.

Nun handelt es sich darum, daß der sich mit Geisteswissenschaft Beschäftigende wirklich genau einsieht den Wert der geisteswissen­schaftlichen Beschäftigung als solcher und das Verhältnis dieser geistes­wissenschaftlichen Beschäftigung zu dem persönlichen Streben, welches durch Meditation und Konzentration der Gedanken, Empfindungen und Willensimpulse oder sonst irgendwie, den Menschen hineinbringt in die geistige Welt. Denn darüber müssen wir uns vor allen Dingen klar

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sein, und das ist eine tiefe, bedeutungsvolle Wahrheit, daß jene Einheit­lichkeit, die uns gewissermaßen umringt in der gewöhnlichen Welt, nicht in derselben Art in der geistigen Welt vorhanden ist. Ich habe schon hingewiesen darauf, daß diese Einheitlichkeit in dem ganzen Gefüge des geistig-seelischen Menschen begründet ist. Wie streben doch die meisten Menschen danach, immer wieder und wieder zu fragen: Was ist die Einheit der Welt? - Wie finden sie sich erst befriedigt, wenn sie alles auf ein Prinzip zurückführen können!

In der Tat tritt uns die äußere physische Welt im eminenten Sinne als ein Ganzes, als ein einheitlich Gestaltetes entgegen, und diejenigen Menschen, welche gewissermaßen von dem Einheitsteufel ganz beherrscht sind, kommen zu allen möglichen Gedankenabstraktionen, indem sie suchen das einheitliche Prinzip der Welt.

Charakteristisch sind solche Persönlichkeiten, wie ein alter Herr, der mir einmal an einem Abend, als ich ihn wiedersah, entgegengetreten ist und mir mit der intensivsten Entdeckerfreude mitteilte: Jetzt habe er endlich ein einheitliches Prinzip gefunden, nach dem er alle Erscheinun­gen der Welt erklären könne. Dieses einheitliche Prinzip, so meinte er in seiner Entdeckerfreude, ließe sich mit zehn bis zwölf Worten sagen. Und er war so froh über diese Sache, daß er sagte: Den ganzen Kosmos kann ich jetzt erklären. - Hölle, Erde und Himmel wollte er erklären aus diesem Einheitsprinzip heraus.

Ich mußte vor kurzem an diese, vor vielen Jahren sich abspielende Episode wieder denken, als mir jemand schrieb, daß er dringend eine Unterredung mit mir haben müsse, weil er einen Menschen kennenge­lernt habe, der in der Lage sei, eine die Seele vollständig befriedigende Weltanschauung einem anderen in fünf Minuten beizubringen. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, daß für solche Unterredungen inner­halb einer ernst gemeinten geistigen Strömung keine Zeit vorhanden sein kann. Aber diejenigen Menschen, die also von dem Einheitsteufel, der zu gleicher Zeit immer eine Art Bequemlichkeitsteufel ist, besessen sind, die sind gerade in unserer Zeit besonders zahlreich.

Vor allen Dingen müssen wir demgegenüber im tiefsten Sinne das nehmen, was in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ausgedrückt ist, daß, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten,

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wir wirklich in ein dreifaches Erleben hineingeführt werden. Das habe ich in diesem Buche ganz besonders betont, daß die Seele wie dreigespalten wird; und indem die Seele die Schwelle der geisitgen Welt überschreitet, ist nichts mehr eigentlich vorhanden, was es einem mög­lich macht, an den Einheitsteufel, an diesen bequemen Einheitsteufel zu glauben.

Ja, wir fühlen selbst, daß wir, sobald wir die Schwelle der geistigen Welt überschreiten, mit unserem ganzen Wesen eigentlich in drei Welten eintreten, wirklich in drei Welten eintreten. Und wir müssen dies eigentlich nicht aus dem Auge verlieren, daß man nach dem Überschrei­ten der Schwelle der geistigen Welt das Erlebnis der drei Welten deutlich hat. Schon mit der ganzen Bildung unseres physischen Leibes gehören wir eigentlich drei Welten an. Ich möchte sagen: Zu diesem wunderba­ren Gebilde «Mensch», das uns da entgegentritt in der physischen Welt, ist wirklich das Zusammenwirken von drei Welten, die eine verhältnis­mäßig starke Unabhängigkeit voneinander haben, notwendig. Und wenn wir die Bildung unseres Hauptes betrachten, die Bildung all dessen betrachten, was zum Haupte gehört, dann müssen wir, selbst wenn wir nur vom physischen Haupte sprechen, uns klar sein darüber, daß die Bildekraft unseres Hauptes und auch die Wesenheiten, die in diesen Bildekräften wirkend und schaffend sind, einer ganz anderen Welt angehören als zum Beispiel die Bildekraft unserer Brust, die Bildekraft alles dessen, was zu unserem Herzen gehört, einschließlich der Arme und Hände. Es ist gewissermaßen, wie wenn die Bildekraft zu diesen materiellen Teilen des Menschen einer ganz anderen Welt angehören würde als die Bildekräfte unseres Hauptes. Und wiederum gehören die Unterleibsorgane und die Beine einer ganz anderen Welt an als die beiden anderen Glieder, die genannt worden sind.

Nun können Sie fragen: Was hat denn das alles für eine Bedeutung? Es hat eine große Bedeutung, weil im Grunde genommen der gegenwärtige Menschheitszyklus so ist, daß man reine, echte, wirklich wahre Ergeb­nisse der Geisteswissenschaft nur dadurch bekommt, daß unser Geistig­Seelisches herausgehoben wird aus dem Haupte. So daß gewissermaßen dies der hellseherische Aspekt eines Menschen ist, welcher geisteswis­senschaftliche Beobachtungen hervorzubringen hat, die heute der

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Menschheit in richtigem Sinne dienen können (siehe Zeichnung). Dieser hellsichtige Aspekt ist so zu betrachten, daß das Geistig-Seelische hier vorzugsweise herausgehoben wird, und daß dieses Geistig-Seelische gleichsam angeschlossen wird, wie durch einen spirituell elektrischen Anschluß, an die Kräfte des Kosmos. Also es muß alles, das Ich und der astralische Leib bis zum Atherleibe, herausgezogen werden. Dieses Herausziehen ist dann selbstverständlich verknüpft mit der Entwicke­lung der sogenannten Lotusblumen. Aber die Kräfte, welche die Lotus­blumen in Bewegung setzen, liegen in diesem herausgehobenen oder herauszuhebenden Teile des Geistig-Seelischen des Menschen.

Dies, was so erlangt wird, daß das Helisehen gewissermaßen ein Kopfhellsehen ist, das kann geisteswissenschaftliches Resultat in unserer Zeit sein; denn das dient der Menschheit, dieses kopfhellseherische Ergebnis. Von ganz anderer Art ist das hellseherische Ergebnis, das dadurch bewirkt wird, daß mehr das Geistig-Seelische der Organe des Herzens, der Arme und der Hände herausgehoben wird. Dieses Heraus­heben unterscheidet sich auch innerlich bedeutend von dem, was zustande kommt durch das, was ich nennen möchte das Kopfhellsehen. Das Herausheben aus dem materiellen Herzorgan wird mehr bewirkt durch die Meditation, die sich auf das Willensleben bezieht; es wird bewirkt durch die demütige Hingabe an den Weltenprozeß. Während

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das Kopfhellsehen mehr durch die Gedanken, vorstellungsmäßig, aber auch durch empfindungsmäßige Vorstellungen bewirkt wird.

Es ist im allgemeinen mit Bezug auf diese beiden Arten des Hellsehens so, daß im Grunde das Herzhellsehen oder das Brusthellsehen, in dem Grade, wie es sich entwickeln soll, mit dem Kopfhellsehen sich schon entwickelt. Es führt das Brusthellsehen mehr zur Willensentwickelung, zum Zusammenhang mit den Aktionen der geistigen Wesenheiten niede­rer Hierarchien, wie derjenigen, die in den verschiedenen Reichen der Erde verkörpert sind, während das Kopfhellsehen mehr zu dem Anschauen, dem Erkennen, dem Wahrnehmen in den wirklich dem Menschen zunächst wichtigeren höheren Welten führt; wichtigeren, höheren Welten in dem Sinne, daß das Wissen von diesen höheren Mächten zur Befriedigung gewisser Erkenntnisbedürfnisse notwendig ist, die immer mehr und mehr auftreten müssen in der gegenwärtigen Menschheit. Je mehr wir der Zukunft unserer Entwickelung auf der Erde entgegenrücken, desto weniger werden die Menschen, ohne daß ihr Seelenleben ausgedörrt wird, leben können, wenn sie nicht in ihre Erkenntnis aufnehmen können die Ergebnisse dieses Hellsehens.

Und wieder eine dritte Art von Hellsehen ist diejenige, die dadurch entsteht, daß aus dem übrigen Menschen gelockert wird, also herausge­hoben wird dasjenige, was man das Geistig-Seelische nennen kann. Da müßte ich (auf der Zeichnung S.158) da unten, gegen das Ende zu, das Herausrücken andeuten.

Wenn auch der Ausdruck nicht besonders ästhetisch ist, so darf ich aber doch vielleicht diese Art des Hellsehens das Bauchhellsehen nen­nen. So daß man wirklich unterscheiden kann: das Kopfhellsehen, das Brusthellsehen und das Bauchhellsehen.

Während das Kopfhellsehen für unseren Menschheitszyklus im emi­nentesten Sinne dahin führt, von dem Menschen unabhängige Ergebnisse zu gewinnen, führt das Bauchhellsehen dazu, vorzugsweise Ergebnisse zu gewinnen, welche zusammenhängen mit dem, was im Menschen selber vorgeht. Dasjenige, was im Menschen selber vorgeht, muß selbst­verständlich auch Gegenstand des Forschens sein, gibt es doch auch auf dem Gebiete des physischen Forschens die Anatomie und die Physiolo­gie, die sich mit alledem zu befassen haben. Es darf nicht die Meinung

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auftauchen, daß dieses Bauchhellsehen nicht einen gewissen Wert, im höchsten Sinne des Wortes, haben könnte. Selbstverständlich hat es seinen Wert. Aber klar muß man sich darüber sein, daß dieses Bauchhell­sehen nur wenig den Menschen unterrichten kann über dasjenige, was unpersönlich in den kosmischen Vorgängen sich abspielt, daß es im wesentlichen den Menschen unterrichtet über das, was in dem Men­schen, ich möchte sagen, innerhalb der Haut des Menschen vor sich geht.

Über andere Gegensätze zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen werde ich noch sprechen, aber in bezug auf das Moralisch-Ethische sind diese beiden Arten im Grunde genommen auch innerlich recht gut zu unterscheiden. Das Brusthellsehen steht dazwischen, zwischen Kopf­hellsehen und Bauchhellsehen. In bezug auf das Ethische ist verhältnis­mäßig am wichtigsten das Kopfhellsehen. Menschen, welche danach streben, in unpersönlicher Weise, in dem Sinne wie es angedeutet ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», zu einer Anschauung der höheren Welten zu kommen, Menschen, welche es sich

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nicht verdrießen lassen, diesen unbequemen, aber sicheren Weg zu gehen, die werden in bezug auf ihre Hellsichtigkeit auch etwas Unper­sönliches in sich entwickeln, vor allen Dingen ein höheres Interesse für die objektive Welterkenntnis, für dasjenige, was in der Welt des kosmi­schen und in der Welt des geschichtlichen Werdens vor sich geht.

Von dem Menschen selber wird dieses Kopfhellsehen vorzugsweise in dem Sinne sprechen, daß es aufmerksam macht, wie der Mensch sich hineinstellt in den kosmischen, in den geschichtlichen Werdegang des Lebens, aufmerksam macht darauf, was der Mensch im Ganzen des WeltenprQzesses ist, und es wird immer dasjenige, was herauskommt bei diesem Kopfhellsehen, einen unpersönlichen, ich möchte sagen, einen allgemein-wissenschaftlichen Charakter haben; es wird Mitteilungen enthalten, die Wichtigkeit haben - ich bitte das Wort wohl zu beachten -für alle Menschen, nicht nur für den einen oder den anderen.

Dasjenige, was Bauchhelisehen ist, das wird vorzugsweise durchdrun­gen sein von allen möglichen menschlichen Egoismen, wird überhaupt sehr leicht dazu verführen, daß sich der betreffende Hellseher viel mit sich, mit den okkulten Unterlagen seines eigenen Geschickes befaßt, mit den okkulten Unterlagen seines persönlichen Wertes und Charakters. Das ergibt sich wie eine selbstverständliche Neigung aus dem, was man das Bauchhellsehen nennt.

Nun tritt in bezug auf die anschauliche Natur zwischen den beiden Arten des Hellsehens ein starker Unterschied auf. Derjenige, der danach strebt, zunächst in dem Sinne, wie es gegeben ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?», mit seinem Seelisch-Geistigen frei zu werden von dem Wahrnehmungsapparat des Kopfes, der also gewis­sermaßen den geistig-seelischen Teil des Kopfes herauslockert aus dem physischen Werkzeuge und mit diesem geistig-seelischen Kopfteile sich hineinzuversetzen vermag in die geistige Welt, der wird es außerordent­lich schwer haben, aus bloß schattenhaft-hellseherischen Erlebnissen herauszukommen. Dieses Heraustreten aus dem Kopfe ist verbunden zunächst mit Erlebnissen, die wirklich nicht einmal die Farbe, die Gesättigtheit von lebhaften Erinnerungen haben, die also gewissermaßen innerlich sehr farblos auftreten, und erst wenn man in den Anstrengun­gen, die auf diesem Wege liegen, immer weiter und weiter dringt, stellt es

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sich heraus, daß der schattenhafte Charakter dieser Erlebnisse sich verliert, und daß gewissermaßen mit Farbigem und Tönendem die farblosen und schattenhaften Erlebnisse tingiert werden.

Denn der Prozeß, der sich da abspielt, ist der, daß wir herausrücken aus unserem Kopfe zunächst und wirklich in einer Welt darinnen sind, die wir sehr schwer haben zu bemerken. Dann, indem wir nach und nach, langsam uns erwerben die Möglichkeit, außerhalb unseres Kopfes zu leben, verstärken sich diese inneren Lebenskräfte, und die Folge

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davon ist, daß aus dem ganzen Umkreise der Welt die zuströmenden Kräfte zusammengezogen werden. Also denken Sie sich, aus dem ganzen Umkreise der Welt müssen die Kräfte zusammengezogen werden, und wenn wir aus dem Umkreise der Welt die ganzen Kräfte zusammenzie­hen, dann bekommen wir die Tingierung mit Farbigem und Tönendem. Denken Sie sich einmal, um sich das vorzustellen, Sie haben hier - a -eine Fläche, die sehr stark gefärbt ist, eine Kugelfläche. Und nun denken Sie sich diese Kugelfläche hinausgedehnt über eine große Fläche - b, c -, Da wird die Farbe viel blasser, und wenn wir sie noch weiter ausdehnen, so wird die Farbe immer blasser und blasser; wenn wir sie hereinbringen würden, so würden wir, wenn dies ein blasses Gelb ist, hier ein sehr gestärktes, gesättigtes Gelb bekommen, weil dieselbe Menge der Farb­punkte dann wieder mehr zusammenkonzentriert ist.

Nun steht das Kopfliellsehen dem ganzen Kosmos gegenüber, und über den ganzen Kosmos ist dasjenige ausgedehnt, was der Mensch erst zusammenkonzentrieren muß mit seinen Lebenskräften in das, was er selber ist hellseherisch seiner Wesenheit nach; so daß er wirklich nur im

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mühseligen Gang der inneren Entwickelung allinählich das Schattenhafte der Erlebnisse tingiert. Und dann, wenn man lange, lange sich Mühe gegeben hat, das allgemeine Erleben zu haben, das einem nur das Gefühl gibt, außerhalb seines Leibes zu sein, und wenn man dieses allgemeine Erleben lange gehabt hat und immer mehr ein Gefühl bekommen hat, ein intensiveres, aber noch nicht farbiges und tönendes, inneres Erleben zu haben, dann kommen allmählich die Gebiete aus dem Kosmos an das Kopfhellsehen heran.

Das ist eine Sache der langsamen, selbstlosen Entwickelung. Insbeson­dere muß gesagt werden, daß zu dieser Entwickelung unerläßlich ist das Studium der Geisteswissenschaft. Es muß immer wieder und wieder betont werden, daß die Geisteswissenschaft, wenn sie gegeben ist, wirklich verstanden werden kann. Man kann das nicht oft genug beto­nen, daß man kein Hellseher zu sein braucht, um Geisteswissenschaft zu verstehen. Selbstverständlich muß man Hellseher sein, um zu den Ergeb­nissen zu kommen; aber wenn sie einmal da sind, braucht man kein Hellseher zu sein.

Dieses Verständnis der Geisteswissenschaft muß vorangehen dem eigentlichen Schauen. Auch hier ist es so, daß man sagen kann: es ist der umgekehrte Weg von dem der richtige, der in der physisch-sinnlichen Welt der richtige ist. In der physisch-sinnlichen Welt haben wir zuerst die richtigen Anschauungen, dann gehen wir zum gedanklichen Betrach­ten über; wir bilden uns die wissenschaftlichen Urteile hinterher. Beim Aufsteigen in die geistige Welt ist es umgekehrt. Da müssen wir zuerst die Begriffe und Vorstellungen entwickeln, müssen uns anstrengen, um uns objektiv in die Geisteswissenschaft einzuleben; sonst können wir niemals sicher sein, daß irgendwelche Beobachtung in der geistigen Welt von uns im richtigen Sinne gedeutet wird. Da muß die Wissenschaft eben dem Schauen vorangehen. Und das ist es, was vielen so unendlich unbequem ist: daß sie die Geisteswissenschaft studieren sollen. Das nehmen viele als unbegreifliche Zumutung hin. Denn sie streben danach, Anschauungen zu haben in der geistigen Welt. Gewiß, die kann man relativ leicht haben; aber sie richtig zu deuten, dazu gehört, daß man wirklich objektiv, selbstlos sich in die Geisteswissenschaft einläßt, sich mit ihr durchdringt.

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Nun ist gerade das Umgekehrte der Fall bei dem, was man nennen kann das Bauchhellsehen. Da gehen wir aus von demjenigen Geistig­Seelischen, das zunächst gearbeitet hat an unserem Leiblich-Physischen. Denn all dem, was es in der Welt gibt, liegt ein Geistiges zugrunde. Wenn Sie, sagen wir, ein Stück Kohlrabi gegessen haben - wir sind ja meist Vegetarier - und es dann verarbeitet wird in unserem Organismus, so hat man es nicht bloß mit dem physisch-chemischen Prozeß zu tun, den der Magen mit seinen Kräften und Säften ausführt, sondern hinter dem allem ist der Ätherleib, der Astralleib und das Ich tätig. Alle diese Prozesse haben hinter sich geistig-spirituelle Prozesse. Es würde ganz falsch sein zu glauben, daß es materielle Prozesse gibt, die nicht einen spirituellen Prozeß hinter sich haben.

Denken Sie sich nun, Sie legen sich nach einem mehr oder weniger opulenten Mittagsmahle hin und werden hellsichtig, aber so hellsichtig, daß sich das Geistig-Seelische der Verdauungsorgane vor allen Dingen aus diesen Verdauungsorganen heraushebt. Dann leben Sie, während Ihr Magen und die übrigen Organe richtig verdauen, mit Ihrem Geistig-Seelischen im Geistig-Seelischen selber. Und während Ihnen sonst der spirituelle Prozeß unbewußt bleibt, der sich in Ihrem Atherleibe, Astral­leibe und Ich vollzieht, kommt er Ihnen, wenn Sie hellseherisch werden, zum Bewußtsein, und Sie können dann, indem Sie sich erleben in dem Geistig-Seelischen, all jenes Arbeiten und Bilden und Schaffen des Geistig-Seelischen an den Leibesgliedern während der Verdauung sehen; sehen, indem es sich hinausprojiziert in die Welt, und Ihnen, bildhaft sich spiegelnd, im äußeren Äther erscheint. Dann bekommen Sie, weil Sie jetzt nicht so sehr aus dem Kosmos anzuziehen haben die Farbe, sondern weil Sie den ganzen Prozeß konzentriert in Ihrer eigenen Haut sich abspielen haben, die allerschönsten hellseherischen Gebilde. So daß ein Wunderbares, das sich abspielt um Sie in den herrlichsten, lichtesten Farben- und Gestaltungsprozessen, nichts anderes zu sein braucht als der in den Geistesorganen des Menschen vor sich gehende Verdauungs-prozeß oder sonst ein im Leibe befindlicher Prozeß.

Dieses Hellsehen unterscheidet sich von dem anderen ganz besonders dadurch, daß während das andere Hellsehen von schattenhaften Gebil­den ausgeht und erst mühselig die Tingierung mit Farbe und Ton erhält,

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dieses schon ausgeht von dem Schönsten und Herrlichsten, das man sehen kann. Man kann es geradezu als ein Gesetz aussprechen: wenn das Hellsehen beginnt mit den herrlichsten Gebilden, insbesondere mit Farbengebilden, dann ist es ein Hellsehen, das sich bezieht auf Prozesse, die sich innerhalb des Persönlichen abspielen. Ich betone aber noch ausdrücklich, daß es für das Erforschen der geistigen Welt von großem Wert sein kann. Geradeso wie der Anatom und der Physiologe den Verdauungsprozeß und andere Prozesse untersuchen müssen, so hat es auch einen höchsten wissenschaftlichen Wert, auf diese Weise das hinter den menschlichen Prozessen stehende Geistige, das Spirituelle zu erfor­schen. Aber schlimm wäre es, wenn man sich irgendwelchen Täuschun­gen hingeben würde, wenn man sich Illusionen hingeben und die Dinge nicht in der richtigen Weise deuten würde.

Wenn man glauben würde, daß ein solches, ohne die entsprechende Vorbereitung auftretendes Hellsehen mehr geben könnte, als was sich im Menschen abspielt und sich hinausprojiziert in die objektive Welt, wenn man glauben würde, daß man gewissermaßen den regierenden Welten-mächten, den tonangebenden geistigen Kräften durch ein solches Hellse­hen näherkommen könnte, so würde man sich sehr täuschen. Ebensowe­nig wie man durch die Untersuchung der menschlichen Verdauung die Weltenrätsel lösen kann, ebensowenig kann man den Weltenrätseln und Geheimnissen dadurch näherkommen, daß man dieses Bauchhellsehen entwickelt.

Sie sehen also, wieviel dazugehört, sich in der Welt, in die wir eintreten durch das Freiwerden unserer geistig-seelischen Kräfte, wirklich richtig zu orientieren. Niemand sollte etwa durch die Erörterungen, die darüber gepflogen worden sind, einen Abscheu haben vor dem Bauchhellsehen. Aber jeder sollte sich klar sein darüber, wie sich ein solches Hellsehen verhält zu dem, was wirklich geistiges Hellsehen werden kann, und wie man fernhalten muß von aller äußeren Überschätzung dasjenige, was auf hellseherischem Wege so gewonnen wird, daß es nur einen persönlichen Inhalt haben kann. Erst dann, wenn man bei diesen Dingen, die auch persönlichen Inhalt haben, absehen kann von dem Persönlichen und sie so betrachten kann wie der Anatom, der Physiologe dasjenige betrachtet, was er durch die Sektion erlebt oder durch seine Untersuchungen erhält,

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erst wenn man da zur wissenschaftlichen Betrachtung übergeht, dann haben die Dinge einen besonderen Wert. Jedenfalls dürfen sich an diese Dinge nicht im entferntesten irgendwelche religiöse Gefühle anknüpfen; die können sich nur an die Ergebnisse des Kopfhellsehens anknüpfen. Und man wird dem anderen Hellsehen um so gerechter, je mehr man geradezu die Forderung stellt, daß seine Ergebnisse nur im wissenschaft­lich-objektiven Sinne behandelt werden, wie die Ergebnisse der Anato­mie, der Physiologie.

Nicht alles, was auf dem Wege des Hellsehens gefunden wird, ist - ich möchte diesen radikalen Satz aussprechen - anbetungswürdig; aber alles ist des Erlernens wert. Das ist es, was wir ins Auge fassen müssen. Ich sagte, für unseren Zyklus sei es ganz besonders wichtig, die Ergebnisse des Kopfhellsehens der allgemeinen geistigen Menschheitskultur einzu­verleiben; und das ist wirklich wichtig. Ich will heute in bezug auf diese Wichtigkeit eine Seite der Sache einmal erwähnen. Wir leben wirklich in einer Zeit, in welcher sich die Menschheit vorbereiten muß, allmählich über den bloßen philosophischen Idealismus hinauszukommen und ein­zulaufen in ein wirkliches Bewußtsein von den geistigen Welten, von der allgemeinen geistigen Welt, in der wir darinnen leben, wie wir in der physischen Welt darinnen leben.

Nun, gehen wir von einem Erlebnisse des Kopfhellsehens aus, das wir leicht verstehen werden, wenn wir uns ein wenig vertieft haben in die Dinge, die gesagt worden sind in dem Münchner Zyklus, der zuletzt gehalten worden ist, und die auch ausgeführt worden sind in meinem Buche «Die Schwelle der geistigen Welt». Ich habe da besonders erwähnt, daß unser Denken eine Umänderung erfährt in dem Augen­blicke, wo wir uns freimachen, besonders in bezug auf unsere Gedanken, von dem physischen Werkzeuge des Kopfes. Ich habe es damals grotesk ausgedrückt, indem ich gesagt habe: Wenn wir so frei werden, dann haben unsere Gedanken nicht mehr den Charakter, den sie haben im gewöhnlichen, alltäglichen Leben. Im gewöhnlichen, alltäglichen Erle­ben müssen wir das Gefühl haben - wenn wir nicht verrückt sind -, daß wir Herr sind über unsere Gedankenwelt, daß, wenn wir zwei Gedanken haben, wir es sind, die diese Gedanken verbinden oder trennen.

Wenn wir uns erinnern, sind wir uns bewußt: mit unserem Innenleben

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gehen wir von einem gegenwärtigen zu einem vergangenen Erlebnis über. Immer haben wir das Gefühl: wir sind es, die hinter dem Gewebe und Gewoge unserer Gedanken stehen. Das hört auf in dem Augen­blicke, wo wir im Kopfteil das Geistig-Seelische freiwerden lassen vom physischen Werkzeug, wo wir ein Denken entwickeln, das leibbefreit ist. Ich habe dazumal radikal gesagt: Es ist, wie wenn wir den Kopf in einen Ameisenhaufen hineingesteckt hätten, in dem alles zu quirlen anfängt. So fangen die Gedanken auch an, ein eigenes Leben zu entwickeln und durcheinanderzuspielen. Und wenn wir im gewöhnlichen Leben zwei Gedanken haben und sie verbinden, wie zum Beispiel die zwei Gedan­ken «Rose> und «rot>, so wissen wir, daß wir Herr sind in unserer Gedankenwelt, die Begriffe zu verbinden zu: «die Rose ist rot» und zu der Vorstellung «die rote Rose>. Das ist nicht so, wenn wir draußen sind außer dem Leibe. Da bekommen wir in die Gedanken Leben, das Eigenleben der Gedanken. Jeder Gedanke wird zu einem Wesen. Der eine Gedanke läuft zu dem anderen hin, ein anderer läuft von dem anderen fort.

Also die Gedankenwelt gewinnt ein Eigenleben. Warum gewinnt sie ein Eigenleben? Nun, was wir im gewöhnlichen Denken des Alltags erleben, das sind nur Bilder, nur Schatten von Gedanken. Sie können das schon in meinem Buche «Theosophie> nachlesen. Sobald wir das Den­ken leibfrei entwickeln, wird jeder Gedanke so wie eine Hülse, und in die Hülse hinein schlüpft ein elementares Wesen. Der Gedanke ist nicht mehr in unserer Gewalt: Wir lassen ihn, wie einen Fühler, hinausgehen in die Welt, und da schlüpft ein elementarisches Wesen hinein. Unsere Gedanken sind so von elementarischen Wesen gleichsam ausgefüllt, und das quirlt und braust, das webt und west in uns. So daß wir sagen können: Wenn wir unseren geistig-seelischen Teil des Kopfes in die geistige Welt hineinstecken - wir haben ihn nur dadurch draußen, daß wir im physischen Kopfe nicht darinnen sind -, wenn wir ihn so hineinstecken in die geistige Welt, dann erleben wir nicht mehr solche Gedanken, wie wir sie erleben in der physischen Welt, sondern wir erleben das Leben von Wesen. Wir stecken unseren Kopf eben, wie ich damals sagte, gleichsam in einen Ameisenhaufen hinein. Wir erleben das Leben von Wesen.

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So ist es im Grunde genommen bis hinauf zu den Wesenheiten der höchsten Hierarchien. Und wenn wir einen Engel, einen Erzengel, einen Geist der Persönlichkeit erleben wollen, so muß es so sein, daß wir in der geschilderten Weise unsere Gedanken ausstrecken. Das Wesen muß sich einhüllen in unsere Gedanken. Wir schicken unsere Gedanken aus, und das Wesen schlüpft hinein und bewegt sich darinnen. Wenn wir wahr­nehmen die Wesen auf der Venus oder auf dem Saturn, so ist es so, daß wir unsere Gedanken hinausschlüpfen lassen, und die Venus- und Saturnwesen hineinschlüpfen. Wir dürfen uns nicht fürchten davor, nicht mehr irdisch-menschliche Gedanken zu haben, sondern Hierar­chiengedanken. Wir müssen uns gewöhnen, mit unserem Kopfe in den höheren Hierarchien darinnen zu leben. Wir müssen uns sagen: unser Denken hört auf, und unser Kopf wird der Schauplatz des Wirkens der höheren Hierarchien.

Nun ist es so, daß in der Fichte-Schelling-Hegel-Philosophie der Gedanke bis zu seiner reinsten Gedankenklarheit gebracht worden ist im Beginn des 19. Jahrhunderts. Wozu sich der Gedanke aufschwingen kann, das ist in dieser Philosophie wirklich enthalten. Die Aufgabe, bis zu welcher der Gedanke gebracht werden kann, ist da gelöst. Der nächste Schritt aber ist der, daß der Gedanke aus sich herausgeht und man wirklich hineinkommt in das quirlende und webende Leben des Gedankens. So daß wir in der Zeit leben - man kann das sagen -, wo die Menschheit dazu berufen ist, wahrzunehmen die höheren Hierarchien. Hingenommen werden sollen wir von der Welt der höheren Hierar­chien, und abstreifen müssen wir die Furcht vor dem Verlieren der Gedanken an das Leben und Weben in den höheren Hierarchien.

Das 19. Jahrhundert war ganz ausgefüllt von dieser Furcht, von diesem Schrecken vor dem Leben in den höheren Hierarchien. Dahin haben es die Menschen gebracht, sie wußten es nicht, die Menschen, aber im Grunde genommen haben sie gebetet: Oh, du mein lieber Ahriman

- den Ahriman kannten sie nicht, daher hatte das Gebet einen anderen Inhalt-, mein lieber Ahriman, behüte mich davor, daß meine Gedanken beansprucht werden von dem Weben und Leben der höheren Hierar­chien; denn sonst könnte ich einmal in den Gedanken statt des Irdischen, was der Kopf ausspekuliert hat, irgendein Uranuswesen haben, ein

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Jupiter-, Sarurn-, ein Sonnenwesen, und dies könnte darinnen quirlen! -Sie werden sagen: So hat doch kein Mensch gedacht im 19. Jahrhun­dert. - Aber ich werde Ihnen doch den Beweis führen, daß Menschen so gedacht haben.

Ludwig Feuerbach, ein Philosoph des 19. Jahrhunderts, der ganz besonders bekämpft hat die Unsterblichkeitsidee, bekämpft hat jeden Glauben an eine übersinnliche Welt, weil er diesen Glauben für den Glauben phantastisch-mystischer Träumer hielt und ihn als schädlich für die ganze Menschheit betrachtete, dieser Ludwig Feuerbach hat in seinem Buche «Gedanken über Tod und Unsterblichkeit» folgende Sätze geschrieben. Ich bitte Sie, sich diese ganz besonders gut in die Seele zu schreiben:

«Der tätige, mit den Gegenständen des menschlichen Lebens beschäftigte Mensch hat keine Zeit, an den Tod zu denken, und folglich kein Bedürfnis der Unsterblichkeit; denkt er ja an den Tod, so erblickt er in ihm nur die Mahnung, das ihm zu Teil gewordene Lebenskapital weise anzulegen, die kostbare Zeit nicht an nichtwür­dige Dinge zu verschwenden, sondern nur auf Vollendung der Lebensaufgabe, die er sich gesetzt, zu verwenden.>

«Wenn der Mensch erst jenseits der Erde im Himmel auf Uranus oder Saturnus oder wo ihr sonst wollt seine Vollendung fände, so gäbe es keine Philosophie, keine Wissenschaft überhaupt. Statt daß allge­meine, abgezogene Wahrheiten und Wesenheiten Gegenstände unse­res Geistes wären, statt der Gedanken, Erkenntnisse, Begriffe, dieser rein geistigen Wesen und Objekte, die jetzt die Bewohner unseres Kopfes sind, wären dann unsere himmlischen Brüder, die Saturnus­und Uranuswesen die Bewohner unseres Kopfes. Statt Mathematik, Logik, Metaphysik hätten wir die genauesten Porträts der Himmels-bewohner. Jene himmlischen Wesen nämlich würden sich zwischen uns und die Gegenstände des Wissens und Denkens hinlagern, sie würden uns den Blick auf jene Objekte versperren, eine ewige voll­kommene Sonnenfinsternis in unserem Geiste bewirken.>

Die «Sonne> ist für Feuerbach: sein Gedanke.

Er hat also das ganze Bild davon, was da geschehen müßte. Er hat aber solch eine heillose Angst davor, daß er zu dem guten Ahriman betet, ihn

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doch davor zu bewahren, daß der Mensch hier dieses erlangen könnte. Er meint, dann würde keine Mathematik, keine Logik, sondern es würden Saturn- und Uranusbewohner in unserem Kopfe sein>

«Sie wären uns näher und verwandter, als Gedanken, Ideen, Begriffe, denn sie sind ja nicht rein geistige oder abstrakte Wesen wie diese, sondern sinnlich geistige Wesen, Wesen, die nur das Wesen der Einbildungskraft ausdrücken. Unser ganzer Geist wäre dann nur ein Traum, eine Vision der schöneren Zukunft. Derjenige daher, den die Schwere der Vernunft verhindert, auf der Oberfläche des unbegrenz­ten Oceans der Einbildung umherzuschwimmen, wird erkennen, daß in der Tiefe unseres Geistes, als in einer für sie irrespirablen Luft, das Lebenslicht der Engel und aller sonstigen ähnlichen himmlischen Wesen erlischt . . .»

Wenn diese Wesen also hineinkämen in die Gedanken, dann wäre unser Geist ein Traum -, schreibt Feuerbach. Er fühlt sich nur sicher im Gebiet der Gedanken; und sollte in diese Gedanken das Wesen der Engel und anderer himmlischer Wesen hineinkommen, dann fühlt er sich unsicher. Das ist das Gebet zu Ahriman: daß er die Menschheit behüten möge vor einer Erkenntnis der geistigen Welten. So geschrieben in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Ludwig Feuerbach, dem Gegner jeder spirituellen Weltanschauung. Was bedeutet das? Das bedeutet nichts anderes, als daß die Zeit reif ist, sich zu erheben zu den geistigen Welten; denn man braucht dasjenige, was der Mann da dar­stellt, nur ernst zu nehmen, so hat man >den Weg gefunden in die geistigen Welten hinein. Man braucht es nur nicht durch die Verbindung mit Ahriman zu bekämpfen. Sie sehen also - wenn ich mich so ausdrük­ken darf -: Am Himmel liegt es nicht, daß die Geisteswissenschaft in unsere Zeitkultur nicht eindringt, denn sie dringt selbst in die Köpfe ihrer Gegner ein. Sie will in die Welt herein. Am Himmel liegt es also nicht; die Götter geben den Menschen die Weisheit: die Geisteswissen­schaft kommt herein. Ebenso wie sich die Menschen gewehrt haben unter der Führung Ahrimans, so ist es an uns, uns nicht mehr zu wehren, sondern wirklich den Mut zu haben, mit der Geisteswissenschaft vollen, wahren Ernst zu machen.

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Das muß man sich sagen mit Bezug auf diese Entwickelung des 19. Jahrhunderts. Man muß sagen: Es ist wie in der geistigen Welt vorge­zeichnet, daß nach der idealistischen Zeit die spirituelle Zeit kommen solle, und es ist an den Menschen, ihren Sinn und ihr Gemüt zu öffnen, um diese geistige Welt aufzunehmen. Dasjenige, was im eminentesten Sinn eine solche materialistische Weltanschauung war, wie sie in Ludwig Feuerbach den charakteristischen, geistvollen und ungeheuer philoso­phisch begabten Vertreter gefunden hat, das ist wie ein Ansturm, ein Wehren gegen dasjenige, was in die Menschheit hineinkommen soll. Von oben herunter kommen die geistigen Kräfte. Von unten herauf müssen die Kräfte des Verstehens, die Kräfte des Erkennens auch wirklich kommen. Man kann sagen: es ist ein charakteristischer Ausdruck, den Ludwig Feuerbach für sich selber gefunden hat: Es müßte die Sonnen­finsternis der Seele beginnen, wenn die Gedanken anfangen würden, nicht mehr Gedanken zu sein, sondern wenn die Wesen von Uranus, Venus und Saturn und so weiter dahineinspielen würden, also die höheren Hierarchien. Eine Sonnenfinsternis des Geistes würde da kom­men. Eine heillose Furcht haben die Menschen davor gehabt. Aber diese Sonnenfinsternis des Geistes ist nicht bewirkt durch Himmelswesen; die wollen ja gerade ihr Licht in die Menschen bringen. Die Finsternis haben die Menschen bewirkt, indem sie mit Ahriman sich verbunden haben, und dadurch, daß sie eine Wolke der Furcht um sich herum aurisch ausgebreitet haben, haben sie ihre Attacken gegen das Herandringen der geistigen Welt zu vollführen gesucht. Dadurch ist es aber klar, daß die Verfinsterung von den Menschen ausgegangen ist, und man muß auch sagen, diese Verfinsterung hat die Menschen immer mehr und mehr ergriffen, diese Trübung eines freien, der Helligkeit des Geistes entge­gengehenden Erkennens.

Das ist es, was die Menschen selber sich bereitet haben, und so kann man sehen, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts eine gewisse Liebe, eine Sympathie für alle kurzen, unkonsequenten Gedanken aufgetreten ist, für alles das, was nicht zu Ende gedacht zu werden braucht. Für alles das ist eine Vorliebe, eine Sympathie aufgetreten, wofür man sich nicht endgültig Rechenschaft ablegen will. Ein unbefangenes, voraussetzungs-loses Erkennen und Denken liebte man immer weniger und weniger,

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und daher ist es nicht zu verwundern, wenn allmählich dieses Lieben des Nebulosen, des Unklaren, des gedanklich Nichtfertigen, sogar einen moralisch anfechtbaren Charakter im öffentlichen Leben angenommen hat. Indem aber dieser Charakter begünstigt wird, wird die Sympathie für das Gedankenleben stumpf, was dann auch übergeht in das allge­meine Verhalten. Dadurch wird ja eine Hauptgegenkraft gegen die nach allseitiger Klarheit ringende Geisteswissenschaft ganz besonders heraus­gestellt.

Die Geisteswissenschaft muß überall wirklich zu den konsequenten, zu den fertigen, nicht zu den halben Gedanken Sympathie und Liebe haben; sie muß nicht im Unklaren und Finstern stehenbleiben wollen, sondern überall nach dem gehen, was in der Weite Licht verbreitet, nicht bloß in der Enge ein Scheinlicht verbreitet. Und in dieser Beziehung werden wir vieles, vieles noch durchzukämpfen haben. Man kann gerade auf solchen Gebieten recht sonderbare Erfahrungen machen, wenn einen das Karma gerade im richtigen Moment zu diesen Erfahrungen bringt. Und das tut es ja. Sehen Sie, vor einigen Jahren konnten Sie in einer Zeitschrift, die sich «Hochland» nennt, einen Artikel lesen, der gegen unsere geisteswissenschaftliche Weltanschauung gerichtet war, der alles mögliche törichte Zeug gegen unsere Geisteswissenschaft anführte. Nun hat gerade dieser Artikel in der Zeitschrift «Hochland> einigen Staub aufgewirbelt. Er ist viel gelesen worden, und man hielt den Verfasser für einen besonders hervorragenden Philosophen, insbesondere da die Zeit­schrift «Hochland» auch alles getan hatte, um die Welt darauf hinzuwei­sen, daß sie in dem Dr. Lutos!awski, dem Schreiber dieses Artikels, einen tüchtigen Philosophen gewonnen habe, den sie ins Feld führen könne gegen die Geisteswissenschaft.

Nun hat sich aber in der letzten Zeit das Folgende zugetragen: Jener Dr. Lutoslawski hat an den Herausgeber des «Hochland>, an Karl Muth Briefe geschrieben, die demselben so wenig gefallen, daß er sagt: Bei uns

- also in seinem Lande - würden höchstens die Insassen von Irrenhäu­sern solch tolles Zeug schreiben, wie in diesen Briefen steht. - Und er veröffentlicht nun in den «Süddeutschen Monatsheften» die Ausführun­gen, die der Philosoph gemacht hat. Worauf sich diese beziehen, darauf wollen wir hier nicht eingehen, ich will nur auf die Tatsache aufmerksam

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machen, daß derselbe Mann, der das sagt, hinzufügen muß: Indem ich diesen Brief von Lutoslawski veröffentliche, dürfte es zweckmäßig sein, dessen persönliche Beziehungen kennenzulernen. - Nun gibt er über ihn merkwürdige biographische Aufschlüsse und veröffentlicht dann von ihm einen Brief, von dem er sagt, daß solche Auslassungen höchstens von einem von innerlichem Haß Erfüllten zu erwarten sind.

Also vor solchem Faktum kann man stehen, daß der Herausgeber der Zeitschrift «Hochland> denselben Mann, den er jetzt abschüttelt, gebraucht hat als Sturmbock gegen die geisteswissenschaftliche Weltan­schauung. Ich glaube nämlich, wenn einer einmal ein Narr genannt werden darf, dann hat man das Recht, ihn für einen Menschen zu halten, der auch in anderer Beziehung wie ein Narr redet. Und konsequent würde es von dem Herausgeber der Zeitschrift sein, wenn er nun sagen würde: Also, es folgt daraus, daß ich damals von einem so närrischen Kerl die Theosophie Dr. Steiners habe verurteilen lassen. - Davor wird er sich hüten. Man hat eben keine Sympathie für die wirkliche Konse­quenz, da wo die Konsequenz sich über das Leben ausbreiten soll.

Man bekommt aber durch solche Dinge nun auch ein Gefühl dafür, wo eigentlich zumeist die Ursprünge liegen derjenigen Kräfte, die sich der Theosophie, der Geisteswissenschaft entgegenstellen, so wie sie in echt wissenschaftlichem Sinn von uns gepflegt werden will.

Ich habe diese Erscheinung herausgehoben, weil sie mir das Karma gerade in den letzten Tagen zugeführt hat. Es ist ja merkwürdig, dieses Karma. Man geht an einer Buchhandlung vorbei. Jemand, der mit einem geht, der wahrscheinlich gar nicht einmal den Gedanken hat, daß da etwas Besonderes vorliegt, deutet mit dem Finger auf ein Heft im Schaufenster. Ich gehe in die Buchhandlung, kaufe mir das Heft, und darinnen steht das Zeug. Es gibt, auch schon für die gewöhnlichen Alltagserlehnisse, eine gute Führung des Karma. Aus dem Inhaltsver­zeichnis, das außen auf dem Heft steht, ist nicht ersichtlich, daß dieser Artikel darinnen ist, der den Verfasser in ein so merkwürdiges Licht stellt.

Und man könnte viele, viele solche Dinge jetzt vor Ihre Seelen führen. Aber Sie werden verstehen, daß im Zusammenhange mit dem, was ich soeben gesagt habe, wirklich die Verantwortung immer größer und

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größer wird, die jedem von uns auferlegt ist in bezug auf solche Dinge, wie er auch sonst darüber denken mag. Keiner hat nötig, auf irgendeine Autorität hin diese oder jene Gedanken zu haben, diese oder jene Urteile zu bilden. Über diesen Artikel könnte selbstverständlich jeder anders denken, ohne daß das Denken irgendwie eine besondere Richtung zu bekommen hat. Was nötig ist, das ist, daß unser Verantwortungsgefühl immer größer und größer wird und daß wir immer mehr und mehr sehen, daß wir alles tun müssen, um die Wege zu finden, wie die Geisteswissenschaft in die heutige Weltkultur eingeführt werden kann. Und manche von den Dingen, die geschehen sind in den letzten Zeiten im Zusammenhang mit den großen Weltereignissen, die machen es dringend notwendig, daß in der nächsten Zeit manches, was liegenge­blieben ist, wirklich zur Veröffentlichung kommt.

Das sind Dinge, die ich anführen wollte in unserer Betrachtung, um zu zeigen, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts die Gedanken durch Ahriman dazu Anlaß gaben, die geistige Welt hinwegzuleugnen, wie sie aber selbst in den Gedanken dieser sie Leugnenden gewirkt hat, weil es - an der Zeit ist. «Es ist an der Zeit»: dieses Wort aus Goethes Märchen ist da am Platze.

Das muß bestätigt werden in der nächsten Zeit.

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NEUNTER VORTRAG Dornach, 28. März 1915

Der heutige Abend soll einem Dichter gewidmet sein, der versuchte, in gewisse Geheimnisse des dichterischen Schaffens wieder mehr, bedeutsa­mer einzugreifen, als er glaubte, daß dieses von seiner Zeit geschehen war. Wir möchten hinweisen auf den Wiedererneuerer des Nibelungen-liedes, auf Wilhelm Jordan, der die Höhe seines Schaffens gehabt hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts und im Beginne des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, einen Dichter, von dem man wohl sagen kann, daß er namentlich in bezug auf sein Wollen, wie ja so viele ähnliche künstleri­sche Erscheinungen, wenig gewürdigt worden ist.

Wilhelm Jordan versuchte, mit dem Stoff des Nibelungenliedes zugleich wiederum heraufzuheben in die Dichtweise der Gegenwart die Art, ich möchte sagen, die Wesensart, die Kunstform des Nibelungenlie-des. Ich werde dann, wenn Frau Dr. Steiner einige Proben von Wilhelm Jordans Dichtungen vorgetragen haben wird, in einer Schlußbetrachtung des heutigen Abends auf den Wert und die Bedeutung dieser versuchten Erneuerung einer alten Dichtweise vom Standpunkt unserer geisteswis­senschaftlich-künstlerischen Weltanschauung einiges Licht zu werfen versuchen. Vorher wollen wir aber eben einige Proben vor unseren Seelen vorüberziehen lassen, die uns veranschaulichen sollen, wie Wil­helm Jordan aus der inneren Kraft der Sprache heraus die alte Dicht-weise zu erneuern strebte.

Wir wissen ja - denn wem sollte nicht bekannt sein der eigentliche Inhalt der Nibelungensage -, wie diese Nibelungensage zum Ausdruck bringt Menschenwesen, Menschentaten, Menschenfühlen und Men­schenwollen lang vergangener Zeiten. Inwiefern solches Menschenwe­sen, Menschenwollen und Menschentun gerade durch das Nibelungen­lied sich zum Ausdruck bringen will, davon werden wir eben nachher sprechen. Aber jeder von uns weiß ja, daß zwei Gestalten richtungge­bend im Nibelungenlied dastehen, zwei weibliche Gestalten, Kriemhilde aus dem Burgunderland und Brunhilde vom Isenstein, von weit drüben über dem Meere. Wir wissen, daß Kriemhilde vermählt werden sollte mit

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Siegfried vom Niederrhein, und wir wissen, daß diese Vermählung unter schwierigen Umständen vor sich geht. Wir wissen, daß Kriemhildens Bruder, Gunther, werben will um Brunhilde, daß Brunhilde aber schwer, schwer zu erringen ist, und Gunther ist nicht die Persönlichkeit, die Brunhilde erringen kann. Aber Gunther verspricht Siegfried vom Niederrhein, daß er ihm Kriemhilde zur Gattin geben wolle, wenn Siegfried ihm, Gunther, behilflich sein wurde in der Werbung um Brunhilde. Und Siegfried ist - davon werden wir noch später sprechen -der starke Held, der im Kampfe die schier unbezwingliche Brunhilde überwinden kann. Siegfried ist aber auch der, man möchte sagen, von okkulten Kräften umwobene Held, und dadurch kommt es zustande, daß, als im Kampfe Gunther sich erwerben soll Brunhilde, Siegfried, ihr unsichtbar gemacht durch okkulte Mittel, die Tarnkappe, ihm beistehen kann, und daß Siegfried es eigentlich ist, der Brunhilde überwinden kann. Und Gunther, der als der Überwinder gilt, weil man an seiner Seite Siegfried, den wirklichen Sieger nicht gesehen hat, kann Brunhilde heimführen nach Worms.

Und noch einmal ist es, daß Gunther zu kämpfen hat mit Brunhilde, als sie schon sein Weib ist. Aber wiederum muß Siegfried für ihn eintreten, und entwunden wird Brunhilden Ring und Gürtel durch Siegfried, während sie glauben muß, durch Gunther seien sie ihr entrun­gen worden. Das aber wird die Veranlassung dazu, daß heftigste Eifer­sucht ausbricht zwischen den beiden, zwischen Kriemhilde und Brun­hilde. Das alles ist ja so hinlänglich bekannt, daß ich es nicht im breiten zu erzählen brauche. Ich möchte sagen, es tritt ja auch im Nibelungen­lied uns klar und deutlich entgegen, wie nach und nach durch die Ereignisse Brunhilde immer eifersüchtiger und eifersüchtiger wird auf Kriemhilde, und wie das eine Art von Widerhall findet im Herzen der Kriemhilde. Wir sehen die Flamme der Rivalität der beiden weiblichen Persönlichkeiten drohend heraufziehen. Das aber kommt besonders zum Ausdruck, als Kriemhilde, im Besitz von Ring und Gürtel, dem Schmuck der Brunhilde, nun Brunhilden vorhält, und an diesem Besitz es erhärten kann, daß Siegfried, ihr Mann, der eigentliche Überwinder Brunhildens ist, und daß sie im Grunde genommen einen Schwächling als Gatten an ihrer Seite hat. Da geht der Gedanke in Brunhilde auf, daß

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Siegfried sterben müsse, weil er gewissermaßen sie verraten hat. Denn nimmermehr hätte er übergeben dürfen der Kriemhilde Ring und Gür­tel, nimmermehr hätte er verraten dürfen das Geheimnis, das nur zu walten hatte zwischen ihm, Siegfried, und Brunhilde.

Alles dies tritt uns ja auch im Nibelungenlied in einer gewissen Weise entgegen. Allein wenn wir das Nibelungenlied auf alle seine Motive hin verfolgen, so bleibt uns etwas unverständlich. Dieses Unverständliche wird sogleich verständlich, wenn wir uns das Nibelungenlied ergänzt denken durch das, was im Nibelungenlied nicht mehr ist, was uns aber künden alte Sagen aus grauerer Vorzeit noch als die war, in der das Nibelungenlied enstanden ist: wenn wir aufmerksam werden darauf, wie Brunhilde im Grunde die Repräsentantin ist einer alten Wesenheit, einer Walküre, wie sie gleichsam hineingestellt ist, diese Brunhilde, als eine später im Erdenleib weilende Verkörperung einer älteren mächtigen Wesenheit, einer Walkürenwesenheit, und wie das alles hineinwirkt in die Gegenwart. Wie gesagt, im Nibelungenlied ist es nicht ausgespro­chen, aber es ist der älteren Sage eigentümlich.

Wenn wir dies aus der älteren Sage dazunehmen, dann begreifen wir das dämonisch Eigenartige von Brunhilde, wir begreifen aber auch, daß sich in den Ereignissen des Nibelungenliedes Großes, Bedeutungsvolle­res abspielt als dasjenige, was sich im Grunde genommen zwischen Persönlichkeiten sonst als Persönliches im Erdenrund abspielen kann. Brunhilde erscheint uns dann schon so, als ob sie in einer späteren Verkörperung gleichsam weniger geworden wäre als das, was sie einmal war als Walküre, aber als wenn sie im Seelenhaften als Walküre hinein-brächte dasjenige, was sie zum dämonischen Wesen macht. Doch bei Siegfried erscheint uns etwas Ähnliches. Auch bei ihm möchten wir sagen: Wir wollen hinsehen, wie Siegfried verkorpert war in alter Zeit, in der er noch ein anderer Mensch war, von dessen Wesenheit er etwas hereingebracht hat in die Siegfried-Inkarnation. Dadurch war es ihm möglich, Brunhilde, die auch mehr ist als die im irdischen Leibe sich darlebende Brunhilde, zu überwinden. Dadurch aber steht Siegfried vor uns, wie wenn in ihm dasjenige, was den Mann zum Manne macht, die Sonnenkraft, in einer früheren Inkarnation mehr entwickelt war, als es in einer Persönlichkeit entwickelt werden konnte in jener Zeit, in der

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Siegfried als Siegfried lebte. Geradeso wie die Erdenmutterkraft in Brunhilde mehr lebte, als sie in einer Persönlichkeit, in einer weiblichen Persönlichkeit leben konnte in der Zeit, da Brunhilde eben als Brunhilde auftritt.

So stehen uns eigentlich die äußeren inkarnierten Seelen, die Persön­lichkeiten, wie rätselvolle Wesenheiten gegenüber. Und daher begreifen wir es, daß all dieses Rätselvolle, welches an viele alte Sagen und alte Kräfte anknüpft, die nicht im Nibelungenlied selbst enthalten sind, Wilhelm Jordan heraufholen wollte, als er darzustellen versuchte dasje­nige, was in den Ereignissen, nicht im Nibelungenlied selbst, aber in den Ereignissen des Nibelungenliedes lebt, und daß eine Eifersucht, die besteht zwischen Brunhilde mit der Walkürenseele und Kriemhilde, die im eminentesten Sinne als das Erdenweib ihrer Zeit hingestellt wird, besonders ausbricht nicht wie im Nibelungenlied, sondern anders bei Wilhelm Jordan, nämlich zur Zeit als ein Fest, ein Fest der Sonnenwende dargestellt wird für die damalige Zeit: als dargestellt wird, wie der Sonnengott Baldur überwunden wird von Hödur, wie er betrauert wird von Nanna, seiner Gattin, der er entschwunden ist aus dem Reich des Lichtes, um hinunterzusteigen durch den Tod, der verursacht ist durch Hödur, in das Reich der Hel. In Kriemhildens Seele selbst kann etwas wie eine Ahnung auftreten: So wie hier im Festspiel dargestellt wird, wie der alten Göttin entrissen ward der Sonnengott, so wird mir entrissen werden - sie weiß das erst in ahnender Seele - der Sonnenheld! Sie nennt ihn gewiß nicht den Sonnenhelden, aber das alles waltet im Unterbe­wußtsein dieser rätselvollen Persönlichkeit, die es vielleicht heraufgetra­gen hat aus Inkarnationen, in denen mehr noch in den Seelen waltete als in der späteren Zeit, in der die Seelen irdische Menschen wurden, welche auch die Zeit des Nibelungenliedes ist. Daher begreifen wir, daß die Leidenschaften bei Brunhilde und Kriemhilde ganz besonders auflodern, als das Spiel von dem alten Sonnengott vor ihnen sich abgespielt hat. Dann geschieht es, daß nachher beim Bade Kriemhilde der Brunhilde vorwirft, was sie vorzuwerfen hat, und in Brunhilde der Entschluß entsteht, Hagen, den Grimmen, dem sie sich anvertraut, zum Mörder zu machen des Siegfried, der sie verraten hat.

So sucht Wilhelm Jordan wiederum zu beleben dasjenige, was in alten

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Zeiten gelebt hat; aber er versucht es auch so zu beleben, daß in der Belebung waltet jenes wirkende Weben, welches in der Dichtung wirk­sam war, als noch die Menschenseele intimer mit der Sprache in Verbin­dung stand, als das in unserer Zeit der Fall ist; als noch die Menschen-seele ihr Wallen und Weben und Wirken und Wesen webend wogen fühlte, indem sie dieses Wallen und Wirken und Weben ausprägte in den Worten der Sprache. Und das Seltsame, wie es ist, wenn ein Dichter wiederum belebt dieses Mit-der-Sprache-Einssein, welches das Eigen­tümliche war des alten Verses, der alten Dichtkunst, das möchten wir mit ein paar Proben vor Ihre Seele führen. Aber nichts ist in diesen alten Versen von dem äußerlichen Synthetisieren des Endreimes, der das Verstandesmäßige hineinträgt in die künstlerische Gestaltung, der im Grunde doch immer etwas ist, was äußerlich architektonisch der Sprache zugebaut ist. Aus dem Organismus des Sprechens heraus entsprang dasjenige, was in alten Zeiten Verskunst war. Und seltsam klingt es schon dem heutigen Menschen, wenn wirklich Wert gelegt wird auf diese Verskunst. Und hebt man besonders heraus dieses innerliche aus der Seele kommende Verwobensein mit dem Weben der wirkenden Seele, dann erscheint es dem heutigen Menschen nicht mehr natürlich. Aber Wilhelm Jordan faßte den Mut, dies zu tun: herauszuholen jenes Innere des Wort-Anfangsreimes in der Alliteration, in unserer gar nicht der Alliteration so recht fähigen Sprache. Und wenn er selbst sein Nibelungenlied zur Rezitation brachte, so suchte er wiederum dieses ganz alte eigentümliche Wesen des Verses, des Alliterierens in Versen, vor das gegenwärtige Publikum zu bringen. Da hörte man heraus aus dem Sinn der Rede die Alliteration:

Wo nun rheinische Reben die weltberühmte

Feurige Milch für Männer mischen

Von Säften der Erde und Sonnenstrahlen,

Im Weichbild von Worms, da durfte weiland

Nicht Grabscheit noch Rechen den Grund berühren;

Denn da lag inmitten des weiten Maifelds

Auf sanfter Höhe der heilige Hain.

An seinem Rande, zum Rhein hin blickend,

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War jetzt gerichtet ein Schaugerüste,

Die stattliche Bühne zum Balderspiele.

Es ist heute schon kein Gefühl mehr vorhanden für dieses innere, innerste Verhältnis zur Sprache:

Wo nun rheinische Reben die weltberühmte...

Dieses, was ein altes Lied auslöste, das wollen wir nun vor uns hinstellen und zunächst hören, als eine Probe der Wiedererneuerung der Allitera­tion, das alte Balderlied.

. . . Als die sinkende Sonne den Strom der Sage,

Den smaragdenen Rhein, errötend im Scheiden,

Mit Geschmeiden umgoß von geschmolzenem Golde,

Da glitten bei Worms durch die glänzenden Wellen

Hinauf und hinabwärts zahlreiche Nachen

Und führten das Volk vom Festspiel heimwärts.

Dem geregelten Rauschen und Pochen der Ruder

Am Borde der Boote melodisch verbunden

Erklangen im Takt auch die klaren Töne

Menschlicher Kehlen: in mehreren Kähnen,

Die nah an einander hinunter schwammen,

Sangen die Leute das Lied von der Sehnsucht,

Die hinunter ins Nachtreich auch Nanna getrieben,

Als die Mistel gemordet ihren Gemahl.

Lauschend im Fenster des Fürstenpalastes

Lag Krimhilde und harrte des Gatten.

In banger Befürchtung bittersten Vorwurfs

Verlangte nun doch nach dem fernen Geliebten

Ihre sorgende Seele voll Sehnsucht und Schmerz.

Sie fühlte sich schuldig und ahnte des Schicksals

Nahenden Schritt. So vernahm sie, erschrocken

Und trüben Sinnes, den Trauergesang.

Während der Wohllaut der uralten Weise

Vom Rhein heraufklang, regten sich leise

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Ihre Lippen und ließen die Worte des Liedes, Welche sie kannte seit frühester Kindheit, Also hören ihr eigenes Ohr:

«O Balder, mein Buhle,

Wo bist du verborgen?

Vernimm doch, wie Nanna

Sich namenlos bangt.

Erscheine, du Schöner,

Und neige zu Nanna,

Liebkosend und küssend,

Den minnigen Mund.>

Da klingen von Klage

Die flammenden Fluren,

Von seufzenden Stimmen

Und Sterbegesang:

Die Blume verblühet,

Erblassend, entblättert;

Der Sommer entseelt sie

Mit sengendem Strahl.

Beim Leichenbegängnis

Des göttlichen Lenzes

Zerfällt sie und folgt ihm

In feurigen Tod.

«O Balder, mein Buhle,

Verlangende Liebe,

Unsägliche Sehnsucht

Verbrennt mir die Brust. »

Da tönt aus der Tiefe

Der Laut des Geliebten:

«Die Lichtwelt verließ ich,

Du suchst mich umsonst.»

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«O Balder, mein Buhle,

Wo bist du verborgen?

Gib Nachricht, wie Nanna

Dich liebend erlöst!»

«Nicht rufst du zurück mich

Aus Tiefen des Todes.

Was du liebst, mußt du lassen

Und das Leid nur ist lang.»

«O Balder, mein Buhle,

Dich deckt nun das Dunkel;

So nimm denn auch Nanna

Hinab in die Nacht!»

Das alte Hellsehen stirbt, verschwindet; der Mensch steht einsam, verlassen, und sucht nach dem Entschwundenen, sehnt sich darnach. Nanna, die Weltseele, sucht Baldur, den Sonnengott, der zu Hel gegan­gen ist ins Nifelland.

Es muß nun Hagen allmählich die Vorbereitungen dazu treffen, daß Siegfrieds Tod herbeigeführt werden kann. Das alles kann nicht geschil­dert werden, was da wunderschön nun aus der Sage und der eigenen Phantasie herausgeholt hat Wilhelm Jordan, um zu zeigen, in wie gewaltiger Weise Hagen vorbereitet Siegfrieds Tod. Allein darauf darf aufmerksam gemacht werden, daß zu diesen Vorbereitungen gehört das Anzünden eines Turmes. Dieser Feuerschein kommt durch das Fenster in das Gemach des Gunther hinein. Und nun wird in großartiger Weise von Wilhelm Jordan wiedererweckt, was eigentlich zusammenhängt mit etwas, was ich auch später, wenn die Zeit reicht, besprechen werde: es wird für uns etwas wieder erweckt von dem ganz eigenartigen alten Naturgefühl, von dem der heutige moderne Mensch keine Vorstellung mehr hat. In dem Scheine des Feuers entzündet sich das Gewissen des Menschen, der noch zusammenhängt mit dem, was draußen unmittel­bare Erscheinung ist, der sozusagen noch einen Anflug von der Erschei­nung der sich loslösenden Seele im Traumhaften hat und sich draußen mit den Naturgewalten vereinigen kann. Und wie das Schicksal über

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Siegfried heraufzieht, und wie ihm der Tod hineingewoben wird in sein Schicksal von den Nornen, das löst aus der Seele des Menschen, den es am meisten angeht, das alte Nornenlied aus, das Lied von den Schicksals-elementen:

War da drüben nicht längst das Feuer erloschen,

Der Rauch zerronnen? - Seht, es entringt sich

Den schwarzen Trümmern ein trüber Schwaden.

Schattenhaft steigt es im Schimmer der Sterne

Wie sturmgetriebene Traumgestalten.

Über den Rhein auf rauchigen Schwingen

Kommt es geschwebt. Drei graue Schwestern,

Riesengestalten, stehen jetzt rastend

Hoch in der Luft ob dem Herrscherpalaste.

Spindel und Spule, Webschiff und Weife,

Schärfstein und Schere halten die Hände.

Und sie spinnen und spulen und spannen die Fäden

Und weifen und weben und schärfen die Schere

Und modeln Gesang, so seelenzermalmend,

Daß, von Schauern des Todes geschüttelt, die tauben

Schläfer im Schloß im Traume schluchzen;

Denn ob auch die Ohren ahnungslos schlummern,

Es wacht das Gewissen im horchenden Herzen:

Der Neid hat die Netze

Des Fluches geflochten,

Das Haus ist entheiligt,

Die Hölle beherrscht's.

Die Schlange beschlich es,

Da wucherte weiter

Der Same der Sünde,

Die Goldesbegier.

Wohl bildet am Baume

Voll gärenden Giftes

Der liebende Lichtgott

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Ein reineres Reis;

Und kühnes Erkennen

Des Zieles der Zukunft

Bewahrte das Wunder

Auf Hinderbergs Höhn.

Umsonst! die Versucher

Verdarben auch diesen

Mit Hunger nach Golde,

Mit heißer Begier.

Da wurde der Wille

Zum Krampf nach der Krone,

Das Manneswort Meineid,

Die Treue Betrug.

Getrübt ist das Muster,

Und morgen zertrenne

Das Wundergewebe

Die Schere der Schuld.

Erschlagen sich Söhne

Desselben Geschlechtes,

Da schlürft schon der Säugling

Den Mord in der Milch.

Da blühn aus dem Blute

Die Ranken der Rache

Und stürzen zerstörend

Den Stamm in den Staub.

Nun müßt ihr euch morden

In rastlosem Rasen;

Die Tochter vertilge

Das Schlangengeschlecht.

Die Netze der Nornen

Umflochten mit Flüchen

Den Häschern der Hölle

Dies heillose Haus.

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Sein Prahlen und Prunken

Mit glänzendem Glücke

Bezahle nun zehnfach

Der Niblunge Not.

Und als dann Siegfried immer mehr und mehr entgegengeht seinem Todesschicksal, da ist es, daß er ebenfalls wiederum verwoben wird mit der Natur - wie gesagt, in alten Zeiten konnte in einer tragisch tragenden Weise noch ganz anders empfunden werden dieses Hellfühlen der Natur -, da ist es, daß Siegfried durch sein Hellfühlend-Werden in der Natur heranwallen sieht sein Schicksal. Aber verflochten, innig verfloch­ten mit dem ganzen Gang der Erdenentwickelung sieht Siegfried das Walten auch des Geschickes seiner eigenen Seele. Und es ist, wie wenn das Schicksal der Erdenseele in ihrem Weben und Wogen sich zusam­mendichtete in seinem im Augenblick hellseherisch werdenden Gemüte. Wie wenn durch das Auftreten einer Sonnenfinsternis, die in Siegfried das Gefühl des Hinschwindens der Sonnenkraft bewirkt, ihm zugleich das Hinschwinden der Sonnenkraft für die Erde überhaupt vor die Seele träte, in kommenden Zeiten des Erdenwinters, wo die innere Macht der Sonne hinsterben soll und das, was geistig aus der Sonne in die Menschen fließt, auch hinschwinden soll. Dieses fühlt Siegfried aufsteigen in dem eigenen Gemüte, als er seinem Schicksal entgegengeht. Und aus dem Betrachten der Sonnenfinsternis heraus entringt sich ihm der Hinblick auf das allmähliche Abglühen der Sonnenlohe im Weben und Walten des Kosmos und in dem Zusammensein dieses Webens und Waltens des Kosmos mit dem irdischen Weben und Walten. Und so sieht er denn gleichsam verglimmen die Glut der eigenen Seele, des eigenen Gemütes, in der hinsterbenden Sonnenkraft. Und ein altes Lied, gelernt in Island drüben, jenseits des Meeres, wo Brunhilde her ist, kommt ihm, der plötzlich hellseherisch wissend geworden, in den Sinn. Bange Ahnung legt sich ihm auf die Seele: es spiegelt ab im innigsten Zusammenhang mit dem Naturfühlen sein eigenstes Geschick.

. . . Der Held gehorchte

Und eilte nun einsam hinunter gen Abend.

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Und abendlich ward's auch in seinem Innern.

Ein trübes Ahnen traurigen Endes

Umzog mit Schatten sein sonniges Schicksal

Doch nachzugrübeln den grausigen Worten

Des irren Weibes und aus dem Wahnwitz

Der kranken Seele den Sinn zu sichten

Verwehrt' ihm andres: Abendlich ward es

Auch rings um ihn her. Aber hoch noch am Himmel

Strahlte die Sonne; auch nicht ein Streifchen

Verschwimmender Wolken sah er schweben,

So weit er blickte. Doch diese Bläue

Glich der des Stahles. Die Vögel verstummten,

Versteckten sich still in den Wipfeln der Stänime

Und bargen ihr Haupt im bunten Gefieder.

Nur die Schwalben noch schwirrten in ängstlichen Schwärmen,

Und wie Verzweiflung erklang ihr Gezwitscher.

Es huschte die Maus hervor aus dem Schlupfloch;

Der Marder beschlich die schläfrigen Vögel

Wie ein heimlicher Meuchler; häßliche Motten

Flogen empor und Fledermäuse;

Der kichernde Kauz und der ächzende Uhu

Jauchzten erfreut, so früh schon zu jagen.

Dunkler dämmert's und dennoch bleiben

Alle Dinge wundersam deutlich,

Ja, schärfer noch scheiden sich Schatten und Licht.

Doch eben im Schatten der schirmenden Linde

Zu seinen Füßen faßt er das Rätsel:

Wo das zitternde Licht durch die Lücken des Laubes

Den Rasen erreicht, da bildet es am Boden

Nicht Scheibchen wie sonst, nein, scharfe Sicheln.

Er schaut gen Himmel, - da flammt's wie ein Halbmond,

Noch immer zu blendend, ihn anzublicken.

Er späht umher, und siehe, dort spiegelt

Ein schwärzlicher Sumpf geschwächt und gesänftigt

Die Sonne deutlich in Sichelgestalt.

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Da erfaßte das Herz des furchtlosen Helden

Ein bekümmertes Ahnen kommenden Unheils,

Doch nicht mehr für sich. Wie zur Seele der Erde

Dehnte sich nun voll Nachtgedanken

Sein umdunkelter Geist. Die Götterdämm'rung,

Der zürnende Sturztag entstieg der Zukunft,

Und ein uraltes Lied, gelernt in Island,

Entrang sich laut den Lippen des Helden:

Auch da droben ist Drangsal

Und droht mit Vernichtung.

Auch am Himmel, so hör' ich,

Erloschen schon Lichter

Und die stolzesten Sterne

Erwartet Zerstörung.

Auch die Nacht wird einst nahen,

Der kein Morgen mehr nachfolgt;

Denn die Sonne wird siech

In kommenden Sommern.

Schon war einst ein Winter,

Der endlos währte,

Den lauere Lüfte

Niemals durchlenzten.

Wie von ewigem Eise

Die Alpen jetzt starren,

So lagen die Länder

Mit Gletschern belastet;

Denn die Sonne war siech

In vergangenen Sommern.

Und wiederum werden

Wird solch ein Winter,

Wo furchtbare Fröste

Dem Frühling folgen.

Ein Qualm verdunkelt

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Die Daseinsquelle

Bis sie kaum noch erkennbar

Wie Kohle glastet;

Denn die Sonne wird siech

Um die Sommerwende.

Da wälzt sich ein Walfisch

Durch Eisgewässer

Und schwingt seinen Schweif

Gen Süden schwimmend.

In der klirrenden Flut

Verklammen die Flossen,

Sein Puls erstarrt

Am Palmengestade;

Denn die Sonne ward siech,

Und nirgend ist Sommer.

Mit solchem Gesange wanderte Sigfrid

Einsam gen Abend, bis daß er endlich

Von fern gewahrte das Fürstenlager,

Wo, seltsam bestrahlt von der schwindenden Sonne,

Die Burgunden erschienen wie Geister und Schatten,

Die noch harren des Heiles im dämmernden Haine

Am pfadlosen Fuße der Felsen von Idha.

Dem Stoff, dessen Erneuerung Wilhelm Jordan im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf seine Weise wieder versuchte, diesem Stoff kom­men wir nur nahe, wenn wir uns überzeugt wissen, daß eigentlich der Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft notwendig ist, um überhaupt ein Verhältnis zu gewinnen zu dem, was in diesem auch inhaltlich so tiefen Stoff enthalten ist. Stoff und Sprache, sie gehören auch bei diesen Dingen vom geisteswissenschaftlichen Standpunkte aus zusammen, und so sei denn mit einigen Strichen heute auf Stoff und Sprache dieser Dinge hingedeutet.

Dasjenige, was in mittelalterlicher Vorzeit an Erinnerungen bedeutsa­mer Ereignisse in den Nibelungenversen gebracht worden ist, das war ja

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in einer Zeit, die dann darauf folgte und die in bezug auf den geistigen Inhalt eine ganz andere war als die frühere, man kann sagen, versunken und vergessen. Was uns heute erhebt, wenn wir uns in das Nibelungen­lied vertiefen, das war gewissermaßen nicht da für die Menschen des 16. und 17. Jahrhunderts; auch noch für die Menschen der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war es nicht da, wirklich nicht da. Vorher war es da, vorher bildete es, wenn es durch die Rezitatoren, wie es der Brauch war, vor das Volk gebracht wurde, den Inhalt von Erhebung zu der Größe und Bedeutung des menschlichen Wesens. Aber als Mitteleuropa von der Fremdherrschaft überschwemmt worden war, da war es das Schicksal des geistigen Lebens in diesem Mitteleuropa, daß vergessen werden mußte alles dasjenige, was gerade die einstmalige Größe ausgemacht hat. Nur so konnte es kommen, daß der Stoff des Nibelungenliedes erst wiedergefunden werden mußte aus einzelnen Handschriften. Und für viele große Schätze vergangener Zeiten, in denen so Bedeutsames lebt, gilt dies wirklich eigentümliche Schicksal, wie es gerade dem Schatze des Nibelungenliedes und der Nibelungensage beschieden war.

Was erscheint uns denn eigentlich in den Erzählungen dieses Nibelun­genliedes? Menschen treten vor uns hin, von denen wir sogleich, indem wir Bekanntschaft mit ihnen schließen durch das Nibelungenlied, wis­sen, daß eigentlich mehr in ihnen lebt, als was in dieser irdischen Hülle, in der sie ihre Lebenskämpfe und Lebenssorgen ausfechten, zu unmittel­barem Ausdruck, zur unmittelbaren Offenbarung kommen kann. Mehr lebt in all diesen Seelen, als der Körper zur äußerlichen Wirklichkeit bringen kann; und dies gilt in hohem Maße für Brunhilde, dies gilt in hohem Maße für Siegfried und auch noch in bestimmter Weise für Hagen; während wir bei Kriemhilde und Gunther schon sehen, wie sie Menschen sind, die durch das, was ihre Seelen sind, eher in ihre Zeit hineinpassen.

In Brunhilde und Siegfried sind Wesenheiten verkörpert, die eigent­lich gar nicht mehr hineinpassen in die Zeit, in der sie leben. Siegfried ist noch ein Sonnenheld, Brunhilde eine Walküre, eine Weltenmutter. Deshalb haben sie beide Verwandtes, und deshalb kann Brunhilde, die Walküre, auch nur durch Siegfried, den Sonnenhelden, überwunden werden. Kriemhilde und Gunther sind Wesenheiten, die mehr hineinpassen

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in die Zeit, in der sie leben, indem sie schon das alte Helisehen verloren haben. Brunhilde und Siegfried haben es zum Teil noch, auch Hagen noch bis zu einem gewissen Grade, aber Siegfried muß doch leben in dieser Zeit, Siegfried muß doch das Wesen seiner Seele in seiner Zeit darleben. So wie er es darlebt, so zeigt uns diese Seele für den geisteswissenschaftlichen Blick: sie war einmal in dem Körper eines uralten Eingeweihten, eines uralten Menschen in früheren Verkörperun­gen, der tief bekannt war mit den Eigentümlichkeiten der geistigen Welten. Und wenn wir die Brunhilde-Seele vom geisteswissenschaftli­chen Gesichtspunkte aus auf uns wirken lassen, diese Walkürenseele, so zeigt sie uns: das, was sie in sich schließt, ist etwas von Seelisch­Wesenhaftem, welches in uralten Zeiten den Menschen mit ihrem traum-haften heilseherischen Blick noch erscheinen konnte, was aber in den neueren Zeiten höchstens den Helden sichtbar werden kann, wenn sie, durch den Kämpfermut geführt, durch die Pforte des Todes eingehen ins Geisterreich, wo ihnen solche Seelen wie die Brunhilde-Seele als Walkü­renseelen begegnen.

Nun sind diese Menschen hereingestellt in die Welt des physischen Erdengeschehens. Daher lagert über diesen Seelen dasjenige, was sich vorbereiten kann allein als ein tragisches Geschick. Selbst im Kampfes-mut und Kampfesgewühl bereitet sich geistig vor das Leid, das Tragi­sche, die Klage, die das ganze Nibelungenlied durchweht und durch­zieht. Denn diese Seelen tragen etwas in sich, was in ihre unmittelbare Gegenwart nicht mehr sich voll hineinzustellen vermag. Man möchte sagen, in der unterbewußten Erinnerung dieser Seelen lebt etwas von vergangener Erdengröße, in diesen Seelen lebt vieles noch von alten atlantischen Zeiten her: so groß und gewaltig waren diese Seelen. Wie sich in solchen Seelen abspielen irdische Ereignisse, was da spielen kann an Treue zwischen solchen Seelen und an Verhängnis, das will ja gerade das Nibelungenlied darstellen, wie es so schön die älteren Sagen noch dargestellt haben bei solchen Persönlichkeiten, wie Siegfried eine ist.

Denken wir einmal, es wäre so, daß Siegfried in einer früheren Inkarnation eine Seele gewesen wäre: bekannt mit dem Weben der geistigen Welten, daß er gewaltig drinnengestanden wäre mit seinen Seelenkräften, seinem Seelischen, in den geistigen Welten und ihrem

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Weben. Und jetzt ist er geboren als Siegfried. Da taucht in seiner Seele auf etwas von jenen Kräften, die hinziehen zu dem, womit er einmal verwoben war, was jetzt nicht mehr als traumhaftes Hellsehen da ist, was jetzt verborgen ist in Untiefen des physischen Daseins. Da wird er hingetrieben zu dem, was er nicht mehr recht schauen kann, höchstens in besonders herausgerissenen Augenblicken. Da wird er hingetrieben zu Drachen und zu verzauberten Persönlichkeiten, und da wird das, was er nun nicht mehr schauen kann, verwoben mit dem Mut, der Kampfeslust, die in seinem Herzen lebt. Und eine Hornhaut wird ihm aus dem Drachenblute, weil er als Kraft dasjenige in sich trägt, was er einmal als Sinn des Schauens in sich gehabt hat. Unendlich Tiefes ist in diesem Stoff, unendlich Bedeutsames. Vor allen Dingen ist die ganze Erinnerung darin: Ja, es gab einmal eine hellsichtige, eine traumhaft-hellsichtige Menschheit, für deren Seelen offen lag ein Teil der übersinnlichen Welten, ihres Wirkens und Webens. Aber hinuntergesunken ist diese Kraft der Sonnenschau, diese Sonnenseherkraft, sie ist hinuntergesun­ken. Baldur ist hinuntergesunken, und Nanna, die Menschenseele, sie empfindet die Tragik des Versinkens der alten Sonnenseherkraft. -Versetzen wir uns so in die Stimmung, aus der der Nibelungenstoff gewoben ist, in die Trauer über das Versinken der alten Sonnenseher­kraft, in das Wissen: Jetzt ist sie höchstens noch in den Willenskräften vorhanden, diese Sonnenseherkraft, verwandelt in das Weben der Wil­lens kräfte!

Hohlheit, Professoritis des 19. Jahrhunderts, sie hat es zustande gebracht, daß verwandelt wurde diese tieftragische Stimmung von dem Versinken der alten Sonnenseherkraft für die Menschenseele einer späte­ren Zeit in das abstrakte Gleichnis von dem Hinuntersinken des Früh­lings in Baldur, und dergleichen mehr, wie all diese abstrakten, gelehr­ten, vertrackten, verkehrten Symbole, die aufgebracht worden sind von der Gelehrtheit, Verlehrtheit, Verkehrtheit, die malträtiert hat das Große, das Gewaltige, das da liegt in der Kunde von dem Herabsinken der alten traumhaften Sonnenseherkraft aus der Menschenseele. Wir müssen in Nanna die Menschenseele sehen, die trauert um Baldur, der mit ihr früher verbunden war als Sonnenseherkraft, und der jetzt unten weilt in Hels finsterm Reich, da in dem Menschen nur geblieben ist das

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Gold des Sinnenverstandes, das er auch nur suchen kann mit der an das Gehirn gebundenen Verstandeskraft und den Kräften der Erde, das heißt der Sinnenmaterie. Nur wenn wir 50 verstehen diese ganze Stim­mung, die durch den Nibelungenstoff geht, verstehen wir wirklich dasjenige, was in ihm lebt und webt. Dann verstehen wir auch, wie in den Ereignissen etwas geschaut werden kann wie ein Hereinragen desjenigen, was in uralten Zeiten gelebt hat und was nur nach-lebte in schwachem Nachklang in den Menschen der damaligen Gegen­wart.

So sehen wir, wie in den älteren Zeiten das, was durch Seherkraft heraufkam in die Menschenseele, sich verband mit dem, was durch Seherkraft in der anderen Menschenseele lebte; aber wir sehen auch, wie in Zeiten, in denen das nicht mehr sein kann, daß sich Seelen-Seherkraft mit Seelen-Seherkraft verbindet, die Menschen einander nicht mehr finden, die doch füreinander bestimmt scheinen, dadurch daß sie Seelen­kräfte, die einstmals gewaltige Seelenkräfte waren, wiederverkörpert haben, aber in einem Körper, der nicht voll zum Ausdruck bringt diese alten Seelen-Seherkräfte. Siegfried kann Brunhilde nicht finden. Sieg­fried freit Kriemhilde, die eigentlich hineingeboren ist in die Zeit der Gegenwart. Und Gunther, der hereingeboren ist in die Zeit der Gegenwart, der freit Brunhilde, die eigentlich eine Seele in sich trägt, die ausgerüstet ist mit den Kräften der alten Zeit, der Sonnenseherkraft der Seele. Und so kommen in der Zeit, die den Materialismus vorberei­tet, die Seelen durcheinander. Damit entwickelt sich ihr tragisches Geschick.

In dem Schicksal der Menschen spielt sich ab dasjenige, was überge­gangen ist von der alten durchseelten Seherzeit zu der neueren, bloß verständigen Sinnenzeit. Und wenn wir einmal in die Lage kommen werden, noch mehr heraufgeholt zu haben aus den Untergründen see­lisch-geistiger Wissenschaft, dann werden wir unendlich Tiefes finden gerade in solchen Stoffen, wie der Nibelungenstoff es ist. Es wird einmal heraufgeholt werden dasjenige, was lebt in diesen wunderbaren alten Sagen; heute kann nur, ich möchte sagen, mit ein paar Strichen hingedeutet werden auf den tiefen Inhalt des Nibelungenstoffes. Aber solch ein Geist wie Wilhelm Jordan hatte zwar nicht ein klares Bewußtsein

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denn Geisteswissenschaft gab es zu seiner Zeit noch nicht - von alledem, wovon ich eben gesprochen habe, aber eine Ahnung hatte er aus jener Zeit heraus, die ich Ihnen gestern auch andeutete, wo Ludwig Feuerbach in den vierziger Jahren, trotzdem er ein Gegner aller Spiritualität war, einen eminent spirituellen Gedanken faßte, um ihn zu bekämpfen. Die Götter geben alles, es handelt sich nur darum, wie die Menschen fähig sind, es aufzufassen. Aber Wilhelm Jordan hatte sich wirklich abgründig vertieft in das Wallen und Wogen und Weben und Strömen seiner Zeit. Er hatte ein ahnendes Gefühl in seinem abgründigen Sich-Vertiefen in das alles, und er suchte nun in seiner Weise wieder zu erneuern dasje­nige, was im Nibelungenlied lebt.

So schlimm war es ja nicht mehr wie in der Zeit des 17. und im Anfang des 18. Jahrhunderts, wo man in der Zeit des aufkeimenden Materialis­mus neben allem übrigen Spirituellen auch das Nibelungenlied vollstän­dig vergessen hatte, wo keiner etwas wußte davon und wo es so kommen mußte, daß ein tiefsinniger Schweizer, der Professor wurde am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin, Christoph Heinrich Müller, erst wiederum aufmerksam machte auf die ganze Größe und Bedeutung, die im Nibelungenstoff enthalten ist. Müller war es ja, der zuerst aus der Handschrift von Hohenems in Graubünden - zwei Handschriften hat er da gefunden - die ersten Schätze veröffentlichte unter dem Titel «Kriem­hildens Rache>. Da mußte wiederum aus der Vergessenheit herausgezo­gen werden dasjenige, was zur Erhebung unzähliger Seelen durch Jahr­hunderte gedient hat. Und als so der Schweizer Müller, der Professor in Berlin war, hinwies auf die große Bedeutung des Nibelungenliedes, da war es der Zögling Voltaires, Friedrich IL, der an diesen Schweizer Müller schrieb:

«Potsdam, 22. Januar 1784. Hochgelahrter, lieber Getreuer, Ihr urteilet viel zu vorteilhaft von denen Gedichten aus dem zwölften, dreizehnten und vierzehnten Säculo, deren Druck Ihr befördert habt und zur Beförderung der deutschen Sprache so brauchbar haltet. Meiner Einsicht nach sind solche nicht einen Schuß Pulver wert und verdienten nicht aus dem Staube der Vergangenheit gezogen zu wer­den. In Meiner Büchersammlung wenigstens würde Ich solches elen­des Zeug nicht dulden, sondern herausschmeißen. Das Mir davon

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eingesandte Exemplar mag dahero sein Schicksal in der dortigen großen Bibliothek abwarten. Viel Nachfrage aber verspricht demsel­ben nicht Euer sonst gnädiger König Friedrich>

Ich weiß nicht, ob es noch der Fall ist, aber unsere Zürcher Freunde werden es wissen: lange Zeit wurde dieser Brief unter Glas verwahrt in der Zürcher Bibliothek, so daß man ihn sehen konnte, wenn man in die Zürcher Bibliothek kam. Aber, wie gesagt, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging allmählich einigen der Sinn auf für die ganze Größe des Nibelungenstoffes. Und Wilhelm Jordan hatte nun das Bedürfnis, mit etwas die Zeit selbst aufzuwecken, in der der Nibelungenstoff leben konnte; denn diese Zeit war eine solche, in der man in ganz anderer Weise zur Sprache stand, als wir heute zur Sprache stehen. Und derje­nige, der etwa das Gefühl gehabt hat, daß in dem eigentümlich Alliterie­renden der Sprache, die Wilhelm Jordan wieder zu bilden suchte, etwas Unnatürliches lebe, der zeigt dadurch, daß er nicht mehr in sich beleben kann jenes alte intime Verhältnis zur Sprache, wo man noch wußte: es lebt etwas vom göttlichen Wort im Wirken der Sprache, wo der Mensch noch fühlte, wie dasjenige, was von dem Zusammenhang der Dinge in seinen Gedanken lebte, auch hinaus mußte in die Sprache, in das Weben und Leben und Wirken und Wesen der Sprache.

Allerdings, es ist unsere Zeit eine solche, in der der Materialismus alles, alles ergriffen hat, auch unser Verhältnis zur Sprache. Im gewöhnli­chen Sprechen wissen wir überhaupt nicht mehr, was einmal die Sprache war, wie sie herausfloß aus dem lebendigen Leben der Seele, wo die Seele intim verwoben war mit der Sprache. Wilhelm Jordan hatte noch eine Ahnung, daß mit der Sprache das Geistige verbunden sei. Die Sprache ist heute abstrakt geworden, sie besteht nurmehr aus Zeichen für das, was ausgedrückt werden soll. Das Geistige schwingt nicht mehr mit. Sie ist nicht mehr ein Hervorquillen des inneren Lebens, des Hauches des Menschen, des Atmens des Menschen. Wie die Hand ein Stück von mir ist, wie ich sie zur Geste forme, so empfand der Sprechende in der früheren Zeit im Weben und Leben des Wortes etwas wie eine Geste, wie eine Gebärde seines Luftmenschen, seines elementaren Menschen in sich. Dazu aber, daß solches der Fall sein konnte, mußte die Sprache

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reicher sein, reicher, als sie heute sein kann, wo sie zum Zeichen geworden ist, und wo die Seele nicht mehr fühlt den Zusammenhang zwischen den Lauten und den Gedanken.

Wir sagen heute ganz gedankenlos, selbstverständlich gedankenlos, «ein tapferer Held>. Wenn in seinem damaligen Leibe ein mittelalterli­cher Mensch auferstehen würde, und er würde hören, daß wir sagen «ein tapferer Held>, er würde nicht wissen sich zu halten vor Lachen, er würde sagen: Ein tapferer Held? - Was soll mir das? - denn er hat noch das Gefühl, daß «tapfer> heißen soll tapsen. Er würde sagen: Ein Nilpferd, einen Elefanten kann man tapfer nennen, aber doch nicht einen Helden! - Und nimmer würde er sich unterfangen haben, einen Helden groß zu nennen. Groß und klein waren ihm nur sinnliche Begriffe. Wir nennen unsere Helden groß, weil wir keinen Begriff mehr haben von dem, was das Wort ausdrückt, nämlich nur das sinnliche Ragen. Dafür aber hatten diese Menschen allerdings einen reicheren Schatz, einen wirklich reicheren Schatz für die Art, wie sie zum Beispiel einen Helden bezeichnen wollten. Ein Held war «balde>, das heißt kühn - etwa in unserer Sprache ausgedrückt -, und bei «balde>, da fühlte der mittelal­terliche Mensch noch das, was drinnen war. Oder ein Held war «streng>, ein strenger Held. Was würde der heutige Mensch sich darunter denken? Der mittelalterliche Mensch würde wissen, daß ein strenger Held gewal­tige Muskeln hat. «Streng> war der Ausdruck für die Gestalt des Helden in bezug auf seine Muskeln. Besonders lachen würde auch ein mittelal­terlicher Mensch, wenn man sagen würde: «Ein Held ist mutig.> Er würde sagen: Ja, was meinst du denn damit eigentlich? Ein mutiger Held, das ist einer, bei dem der Mut, das Gemut wegläuft, durchgeht, ein Mensch, der besonders leidenschaftlich ist. - Niemals würde man da gesagt haben «ein mutiger Held>. Aber sehen Sie, die Sprache war eben durchaus reicher, unendlich viel reicher, als sie heute ist an Worten. Viele Worte hat die Sprache verloren, denn jenes innerliche Verhältnis zur Sprache ist verlorengegangen. Nehmen wir nur ein Beispiel, ein ganz naheliegendes Beispiel - ich möchte Ihnen das mitteilen -, nehmen wir an, es hätte ein Mensch sagen wollen: «Die Männer waren auf der Warte der Pferde» oder «warteten der Pferde>. Da hätte er sagen können:

warun weros an wahtu wiggeo.

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Nun haben wir hier die Alliteration. Hätte aber einer zum Beispiel sagen wollen: «Der Mann war zu Hause unter dem Gesinde>, hätte er das sagen wollen, so hätte er, wenn er dabei auch diese Form für «Männer> angewendet hätte, kein Glück gehabt mit der Alliteration. Für diesen Satz: «Der Mann war in seinem Heim unter dem Gesinde>, da könnte man sagen:

Segg was in selda undar gisindun.

Man hat also die Möglichkeit, dieses «selda» als Heimat mit «segg> zu verbinden, womit man auch ausdrücken konnte «der Mann>. Oder man konnte wiederum zum Beispiel sagen: «Der Männer teuerster war

Dietrich»:

Degano dechisto Diotrihhe.

Man hatte also die Möglichkeit mehrere Formen zu finden, um auszu­drücken «Mann> und «Männer>. Das ist alles verlorengegangen, und wit müssen alle diese Sätze übersetzen in gleichförmiger Weise mit «Mann» und «Männer». Unsere Sprache hat ganz verloren das innere Verhältnis zu den Gedanken, zu dem Ausdrucke.

Wilhelm Jordan hat nun versucht, ein solches Verhältnis wieder herzustellen; und er hat getan, was er gekonnt hat. Allein er konnte natürlich nicht mehr dasjenige heraufbringen, was die alte Sprache hatte:

ein innerliches Verwobensein mit dem Sinn des lebendigen Gedanken-wesens in den Worten. Wie ist heute einer zufrieden, wenn er nur sagen kann: «Der Mann hat ein Heim» oder «der Mann hat ein Haus». So einfach würde der mittelalterliche Mensch nicht gesagt haben etwas, was in seiner Sprache bedeutete «Haus und Hof>. Oder er würde nicht leicht gesagt haben, dieser mittelalterliche Mensch: «Mit meinen Sinnen nehme ich irgend etwas wahr», sondern er hat gewollt dieses mit den Sinnen Wahrgenommene zerteilen, so daß es ihm konkreter, bestimmter, inhalt-voller, gesättigter entgegengetreten ist, wie wenn er etwa gesagt haben würde: «hugi endi herta». Beides, könnte man sagen, heißt: «Sinn und Sinn», weil dieser Unterschied zwischen hugi und herta abgeschwächt ist. Immer wieder fühlen Sie eine unendliche Inhaltsfülle in dieser alten Sprache.

Nun hat Wilhelm Jordan wenigstens etwas von diesem inneren Leben

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der Sprache noch heraufretten wollen. Und so entstand bei ihm der Kampf zwischen diesem Wollen und dem Abstraktgewordensein unse­rer modernen Sprache. Und er hat retten wollen dasjenige, was eben noch - und zwar einzig und allein in der deutschen Sprache - vorhanden ist von der Möglichkeit, diese alten Intimitäten in der Sprache zu retten. Heute wird der Mensch selbstverständlich versucht sein, so etwas wie die Zeilen, die ich Ihnen vorgelesen habe, sich vorzulesen sinngemäß, so daß das, was in den Zeilen steht, eben nur noch sprachliches Zeichen ist für den Sinn. Der größte Teil der europäischen Menschen hat ja über­haupt kein anderes Gefühl, als daß die Sprache Zeichen sei für den Sinn, und er wird befriedigt sein, wenn er hört:

Wo nun rheinische Reben die weltberühmte

Feurige Milch für Männer mischen

Von Säften der Erde und Sonnenstrahlen,

Im Weichbild von Worms, . . .

(gelesen ohne Betonung der Alliteration).

Gewiß, da benützt man die Sprache eben als Zeichen. Gibt es ja sogar heute schon Sprachen, die viele Silben abfallen lassen, weil die Sprache völlig zum Zeichen nur geworden ist, da nichts mehr lebt in dem Gesprochenen. Vor allen Dingen wird man niemals zum wahren leben­digen Prinzip der Kunst vordringen können, wenn man das Gefühl hat, daß die Sprache nur Zeichen ist, denn das kann ja höchstens für die Prosa ausreichen. Die Poesie verlangt, daß die Sprache innerlich gestaltet ist, und jetzt nicht bloß mechanisch durch den Endvers, sondern innerlich gestaltet ist, wie der lebendige Organismus gestaltet ist, durch Allitera­tion oder Assonanz. Wie sich der Mechanismus zum Leben verhält, so verhält sich der Endreim zu der Alliteration.

Wilhelm Jordan wollte dieses Wirken der Sprache noch wiedergeben; das, was herrührt aus der alten Seherzeit, das wollte er der Sprache geben. In der alten Seherzeit hätte man nicht so reden können wie heute in der materialistischen Zeit, wo man für das innere Weben der Sprache kein Gefühl mehr hat. In der alten Seherzeit hatte man die Sucht und Sehnsucht, wirklich auch in das Wesen des Wortes hineinzulegen das Licht, das im Gedanken lebt. Und davon hatte eine Ahnung Wilhelm

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Jordan. Insbesondere von seinem Bruder, mit dem ich befreundet war, habe ich oftmals gerade im Stile Wilhelm Jordans vorlesen gehört, und da war ganz besonders die Sehnsucht, hervorzuheben das alliterierende Wesen, hervorzuheben das Künstlerische gegenüber dem unkünstleri­schen, bloß verständnismäßig Sinnhaften.

Wo nun rheinische Reben die weltberühmte

Feurige Milch für Männer mischen

Von Säften der Erde und Sonnenstrahlen

Im Weichbild von Worms . . .

Ich kann mir denken, daß der heutige materialistische Verstandesmensch dies überhaupt für eine Spielerei ansieht. Seit dem Jahre 1907 arbeiten wir daran, daß wir eine für die moderne Deklamation notwendige Form finden, um zum Vortrag zu bringen dasjenige, was also aus alten Zeiten wieder auferstehen sollte. Der erste Versuch kam nicht zur Ausführung, den wir unternehmen wollten zur Zeit des Münchner Kongresses im Jahre 1907. Aber ich denke, das Mögliche und Unmögliche gegenüber der gegenwärtigen Sprache wird gerade bei dem heutigen Versuch vor Ihre Seelen getreten sein. Denn wir können nichts anderes sagen als: Das Unmögliche kann niemand leisten; und unsere Sprache ist so geworden, daß es unmöglich ist, in ihr im vollen Sinne das alles, was lebte in der alten Sonnenseherzeit, durch Alliteration etwa heraufzubringen. Und daß er es wollte, ist gewiß - man kann es sogar sagen - ein Irrtum des Wilhelm Jordan; es ist ein heldenhafter Versuch, aber auch in gewissem Sinne ein heldenhafter Irrtum. Aber was folgt daraus? Es folgt daraus, daß es nicht mehr möglich ist, wirklich das, was in alten Zeiten die Alliteration war, in alten Zeiten, die noch den unmittelbaren Nachklang hatten des traumhaften Hellsehens, zu beleben. Die Sprache ist materiell, ist abstrakt geworden. Aber Geisteswissenschaft wird ein neues künst­lerisches Schaffen heraufbringen, ein Schaffen mit inneren Sinnformen, wobei wir durch das unmittelbare Ergreifen wiederum des Spirituellen auch mitergreifen das Wort. Solche Versuche sind gemacht. Nehmen Sie das siebente Bild, das Bild des Geisterlandes in der «Pforte der Einwei­hung» und manches andere, wo wiederum der Versuch gemacht ist, gerade durch das Ergreifen des Geistigen auch hereinzukommen in das

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Sprachliche, wo versucht worden ist, solche Kunst wieder hereinzubringen in die Sprache, daß gewissermaßen das Geistige sich ausdrückt, mitschwingt in den Worten. Einzig in der deutschen Sprache ist es heute noch halbwegs möglich, das ausdrücken zu können.

Auch da haben wir ein Gebiet heute, durch das wir sehen, wie es vorgezeichnet ist im Entwickelungsgang der Menschheit, das Geistige so zu beleben, daß es stark sei, daß dieses Geistige nicht nur beim verstan­desmäßigen Sinn bleibe, sondern wiederum ergreifen könne die stärkere Gewalt des Wortes. Dann wird in der Rede wieder reimen und im Reime wieder reden dasjenige, was neue Rune geworden ist. Rune ist das unmittelbare Verwebtsein des Ausdruckes mit der Sache, so daß der Ausdruck nicht bloßes Zeichen ist. Wiederum haben wir hier ein Gebiet, wo sich uns die Notwendigkeit der geisteswissenschaftlichen Weltan­schauung für unsere Zeit in tiefem und auch in ernstem Sinne zum Ausdruck bringt. Möchten doch baldigst recht viele einsehen, daß noch auf gar, gar vielen Gebieten beobachtet werden kann, wie sehr das Leben der Menschheit verdorrt, wenn es nicht befruchtet wird von einem neuen Strahl der Spiritualität Denn dasjenige, was unter den Menschen lebt wie in einer physischen Aura, die Sprache selbst, ist abstrakt, materialistisch, ist verstandesmäßig geworden; und indem wir sprechen, nicht bloß indem wir denken, sind wir Materialisten geworden. Aber dasjenige, was schon Stroh geworden ist im Worte, so daß wir in «tapfer» nicht mehr das «tapsen» fühlen, das muß wiederum Seele gewinnen, Seele statt Mechanismus. Denn Mechanismus ist die Sprache geworden.

Die geisteswissenschaftliche Strömung muß auch der Sprache Seele einhauchen. Und dieses Ringen mit der Sprache, um ihr Seele einzuhau­chen, wir können es empfinden, wenn wir uns gerade vertiefen in solch künstlerisches Streben, wie es bei einem eminenten Weltanschauungs­menschen, bei Wilhelm Jordan, da war. Aber jenes Falsifikat, das man die Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts nennt, das wird ja über­haupt umgeschrieben werden müssen, wenn die Menschen einmal wahre Begriffe von dem, was eigentlich geschehen ist, werden erhalten wollen. Ganz andere Dichternamen wird man dann in den Literaturgeschichten lesen als diejenigen, welche ernannt worden sind zu großen Dichtern,

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währenddem echtes, ehrliches künstlerisches Streben, wie es auch Wil­helm Jordan in der Mitte des 19. Jahrhunderts in dem von ihm herausge­gebenen «Demiurgos» zeigt, von solchen Literatur-Hofräten, wie es der Herr Karl Rudolf von Gottschall war, in Grund und Boden getreten worden ist. Wer weiß heute davon, daß sich Wilhelm Jordan bemüht hat, in seinem «Demiurgos» darzustellen, wie Menschen hier auf Erden wandern, und dieses Erdenwallen der Menschen eigentlich ein Abbild ist von etwas, was überirdisch geschieht, so daß der Mensch, der da steht, ein Zeichen ist für etwas, was sich zugleich im Überirdischen abspielt! Wer weiß heute, daß eine solche Persönlichkeit, wie es Wilhelm Jordan war, mit so großen, gewaltigen Problemen gerungen hat in der Morgen­röte der neueren Zeit? Aber die Sonne der neueren Zeit, die Sonne der Geisteswissenschaft wird ganz anderes erwecken aus dem Strome des künstlerischen Lebens, als es die Falsifikate sind, welche uns heute in den Schulen und außer den Schulen als Literaturgeschichte kredenzt werden, in denen sich die neue materialistische Seele nur selbst spiegelt und das groß findet, bei dem sie sich, wie man so sagt, die Finger ablecken kann, weil sie es so ähnlich mit sich selbst findet.

Fühlen wir die Größe der Aufgabe des geisteswissenschaftlichen Denkens und geisteswissenschaftlichen Empfindens. Fühlen wir es an so etwas, daß wir uns zum Bewußtsein bringen, wenn wir Stroh reden statt der lebendigen Pflanze des Wortes, die einmal gesproßt und gesprießt hat zwischen den Seelen, die einander verstehen wollen. Leben, wirkli­ches Leben wird einfließen in den Strom des Daseins, wenn Geist aus der Geisteswissenschaft heraus die Menschen wiederum mit dem Sinn des Lebens durchdringen wird.

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ZEHNTER VORTRAG Dornach, 2. April 1915

Die Kirchen rufen ihre Gläubigen das Jahr hindurch zusammen durch Glockenklang. Der Glockenklang bezeichnet die Zeiten, wichtige Zeit­angaben, und er bezeichnet auch diejenigen Zeiten, in denen die Gläubi­gen zur Kirche gerufen werden. Dieser bedeutungsvolle Glockenklang, dieser Glockenzeitenklang hört auf in gewissen Kirchengemeinschaften in diesen Tagen, die da beginnen mit der Feier der Grablegung, des Opfertodes Christi, und er beginnt erst wiederum mit dem Feste der Auferstehung derjenigen Macht, von der wir als Macht, welche der Erde Sinn verleiht, innerhalb unserer geisteswissenschaftlichen Betrachtungen oft gesprochen haben. Die Zwischenzeit wird in ihrer Bedeutung gefeiert dadurch, daß gewissermaßen die Mißtöne der hölzernen Instrumente, welche in diesen Tagen gebraucht werden statt der Glocken, diesen bedeutungsvollen Glockenzeitenklang ersetzen sollen in der Zeit, in der die Seelen sich erinnern sollen, daß die Macht, welche der Erdenentwik­kelung Sinn verleiht, durch ihren Opfertod sich vereint hat mit den Tiefen des Daseins. Das Neuerklingen der Glocken am Feste der Aufer­stehung soll andeuten, wie die Glockenmusik geweiht und bedeutungs­voll gemacht werden soll durch diesen Sinn der Erde, und wie sie dann von diesem Sinn der Erde das ganze übrige, für das gläubige Bewußtsein durchchristete Jahr hindurch ertönen sollen, die Glocken mit ihrem bedeutungsvollen Zeitenklang.

Wir haben von den verschiedensten Seiten her uns zu nähern versucht dem Sinn und dem Wesen derjenigen Macht, die eingeflossen ist durch das Mysterium von Golgatha in die Impulse der Erdenentwickelung. Allein, Sie werden gesehen haben aus den verschiedenen Betrachtungen, daß jeder Weg der Seele zu dieser Macht hin doch eben nur einer der Wege sein kann, die immer einseitig gewissermaßen die Empfindungen, die Gefühle der Seele wachrufen, damit sie in würdiger Weise verständ­nisvoll empfangen können dasjenige, was sich offenbaren soll, wenn man den Christus-Namen ausspricht, dasjenige, was sich offenbaren soll, wenn man von dem Mysterium von Golgatha spricht. Wir werden heute

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versuchen, wiederum einen solchen Weg zu wählen. Es wird wiederum nur einer der Wege sein, denn nur durch die Zusammennahme vieler Wege, die zu dem Mysterium von Golgatha führen, kann man zu einem Verständnis desselben kommen, zu einem einigermaßen für die entspre­chende Zeit, in der man inkarniert ist, gehörigen Verständnis kommen. Da sei heute der Weg gewählt, der uns vor die Seele führen soll, wie gewissermaßen Völker, die noch nichts wußten von dem Mysterium von Golgatha, wie die Völker Europas dieses Mysterium von Golgatha empfangen mußten nach dem, was sie in ihrem Herzen, in ihrer Seele gleichsam wie eine Vorbereitung auf das Mysterium von Golgatha hin durchgemacht hatten.

Ich habe es schon angedeutet in einigen der vorigen Vorträge, wie verknüpft war mit der europäischen Entwickelung in einer bestimmten Zeit, ich möchte sagen, ein tragisches Naturgefühl, das radikal verschie­den ist von demjenigen Naturgefühl, das in den ersten christlichen Zeiten sich über die südlichen Länder Europas gerade aus dem Christen­tum heraus ausbreitete. Dieses letztere Naturgefühl war in gewisser Weise verbunden mit einer Art von Fliehen der Natur, mit einer Art Hinweggehen von der Natur. In diesen südlichen Ländern, in denen sich in griechische, in römische Kultur hinein das Christentum ausgebreitet hat, wurde der Begriff der Sünde, der Begriff der Schuld innig und intim verknüpft mit demjenigen, was man fühlt als einfließend in den Men­schen, in die Menschenseele von der Natur. Hinweg von der Natur in die Gefilde des geistigen Lebens, in die Gefilde, aus denen herunterge­stiegen ist der Christus, um der Menschheit die Erlösung, um der Erdenentwickelung Sinn zu bringen; sich freimachen von dem, was im Menschen nur natürlich ist, und sich hinwenden zu dem, was im Menschen heiligend, das heißt, von der Sünde der Natur heilend sein kann - das sind Worte, die etwa einigermaßen dieses erste christliche Naturgefühl ausdrücken können.

Von einem ganz anderen Naturgefühl war die keltisch-germanische Volkheit Europas innerlich beseligt, als sie das Christentum empfing. Ihr war es unmöglich, die Natur bloß zu fliehen, die Natur bloß zu verbinden mit dem Sünde- und Schuldbegriff. Ihnen, den europäischen Völkern, war die Natur durch lange, lange Jahrhunderte viel, viel zu

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bedeutungsvoll geworden, als daß sie sie bloß hätten fliehen können. Sie war ihnen etwas geworden, mit dem sie so zusammengewachsen waren, daß sie sich allerdings, als sie das Christentum empfingen, zu einer anderen Welt wenden konnten, als die Welt der Natur ist, aber sie konnten nicht so ohne weiteres nur sagen: Hinweg von der Natur! -Dieses «Hinweg von der Natur», dieses Hinschauen und Hinstreben in die Gefilde des Geistes verursachte ihnen Klagen und Schmerzen der Seele, verursachte ihnen Trübnis, indem immer im Hintergrund der Herrlichkeiten des Himmelreiches die Trauer war über dasjenige, was innerhalb der Naturgefilde verloren werden mußte. Und wenn man nach dem Grunde fragt, warum ein solches Gefühl auf dem Grunde der Seele war, dann findet man, daß die Art und Weise, wie diese Seelen mit der Natur verbunden waren in verhältnismäßig noch nicht weit hinter ihnen liegender Vergangenheit - einer Vergangenheit, die weit kürzere Zeit hinter ihnen lag, als das bei den orientalischen oder südlichen Völkern der Fall war -, noch in einem Nachklang vorhanden war. Es war, wie wenn in den Herzen, in den Seelen noch gelebt hätte etwas von all dem heiligen Wohlgefühl des Zusammenseins mit der Natur, des Zusammen-seins auch mit dem Göttlichen in der Natur. Und die Trauer, der Schmerz, die Klage, sie kamen davon, daß man fühlte: durch eine Notwendigkeit, durch eine eherne Weltennotwendigkeit war einem abhanden gekommen, was einen einstmals mit dem Heiligen, mit dem Göttlichen der Natur verbunden hatte. Es war nicht bloß ein Gefühl, daß die Natur mit Sünde und Schuld behaftet sei, es war vielmehr das Gefühl, daß man mit der Natur etwas einst unendlich Wertvolles verloren habe. Es war nicht das Gefühl, daß man sich wegwenden solle von der Natur, sondern es war vielmehr das trauernde Gefühl, daß sich etwas, was in der Natur heilig ist, selbst von dem Menschenherzen, der Menschenseele weggewendet habe, und daß man nun das, was man früher mit der Natur im Zusammenhang verehrte, auf andere Art durch Erhebung zum Mysterium von Golgatha erleben mußte.

Es war ein unendlich viel realeres, zugleich ein unendlich viel tragi­scheres Gefühl, welches das Christentum in diesen Gegenden empfing, als das in den Gegenden südwärts der Alpen und im Oriente der Fall sein konnte. Man macht sich durch nichts besser klar, welches der Sinn dieser

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alten Naturempfindungen war, als wenn man einen Blick wirft auf das, was ja gelten kann wie eine Art Vorempfindung des göttlichen Opferto-des Christi innerhalb der europäischen Völker, wenn man einen Blick wirft auf das, was der Tod Baldurs und Baldurs Versetzung in die Unterwelt, in die Welt der Hel, nach Niflheim bedeutet.

Ich habe es öfter angedeutet, daß es heute schwierig ist, wiederum wachzurufen in den Seelen all dasjenige, was zusammenhing mit dem Baldur-Mythos, mit dem Mythos dieser eigenartigen alten Sonnengott­heit, die von Nordeuropas Volkheit verehrt und angebetet wurde. Und es ist ja schwierig, in einer Zeit dieses klarzumachen, wo man glaubt, daß die menschliche Seele in der Zeit, in der es überhaupt eine Menschheits­entwickelung gibt, immer geradeso ausgesehen habe, immer genau sol­ches erlebt habe, wie sie heute aussieht und wie sie heute erlebt. Man muß sich schon aufschwingen zu dem Gedanken, daß in alten Zeiten der Seele noch weit, weit andere Erlebnisse möglich waren als diejenigen, die dann in späterer Zeit dieser Seele möglich waren, und daß dies zusam­menhängt mit einem Gesamterleben des natürlichen Daseins. Stellen Sie sich einmal wirklich vor, die Seele des Menschen hätte durch das alte Auge des Menschen anders hinausgesehen in die Natur, als sie heute sieht, wenn sie durch das heutige Auge in die Natur sieht, und hätte durch das alte Ohr anderes in der Natur gehört als sie heute hört, wenn sie in die Natur hinaushört. Und machen Sie sich den Ubergang so klar, indem Sie ein Gleichnis wählen, ein Gleichnis, das, wenn es auch etwas radikal gewählt ist, uns dennoch den Unterschied klarmachen kann. Sie sehen heute hinaus in die Natur durch Ihre Augen, sehen das Grün der Pflanzen, das Grün-Blau der Wälder, das Blau des Himmels, die bunte Mannigfaltigkeit der Blumendecke. Denken Sie sich, es träte eine Revo­lution im menschlichen Erdendasein durch eine eherne Notwendigkeit so ein, daß aufhören würde für die Menschen die Möglichkeit, Farben zu sehen, und daß die ganze Natur nur erscheinen würde grau in grau, daß Sie hinaufblicken würden zum Himmel und eine etwas andere Schattie­rung von Grau erblicken würden, als wenn Sie auf graue Wiesen sähen, daß Sie nur verschiedene Nuancen von Grau, Schwarz und Weiß sehen würden, wenn Sie auf die farbige Blumendecke blicken. Denken Sie, eine solche Revolution würde eintreten im Naturschauen der Menschen -

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und Sie haben einen Vergleich mit dem gegeben, was in der Tat eintrat in der Zeit, als hinunterschwand die Möglichkeit für die Menschen: zu schauen auf der ausgebreiteten Wiese all die mannigfaltigen elementari­schen Wesenheiten, die mit dem Wachsen und Weben und Wesen der Blumen und Blüten verbunden sind. Aufgehört hatte in der damaligen Zeit durch eine gewaltige Revolution im Naturschauen die Möglichkeit, hinaufzuschauen zu den Sternen und in den Sternen zu sehen die geistig-lebendigen Planetengeister, im Äther umwebend die Sterne.

Ich habe es oftmals betont: Zu den unwahrsten Aussprüchen gehört der, wenn man sagt, die Natur mache keine Sprünge. - Unwahr ist dieser Ausspruch, denn so wie ein Sprung ist vom grünen Blatt der Pflanze zum Blütenblatt, so war es ein gewaltiger Sprung in der Menschheitsent­wickelung, als von dem alten Hellsehen, wo man die Elementargeister weben und leben sah dort, wo man heute nur die bunte Blütendecke der Pflanzen ausgebreitet sieht, die Menschen eben übergingen zu dem späteren Anschauen. Ein gewaltiger Sprung war das! Und diejenigen Menschen, die Europas Volkheit ausmachten, die hatten in den Zeiten, die durchaus zusammenfallen mit der Zeit, in welcher sich im Orient schon abspielte das Mysterium von Golgatha, noch eine lebendige Empfindung, daß eine solche alte Schau einmal da war, daß die Vorfah­ren gelebt haben unter der Bedingung, daß sie sehen konnten die webenden Wesen auf Wiesen und in Wäldern und im unendlich ausge­spannten Sternenhimmel, und daß das alles verschwunden, verwest und verglommen sei. Ein Gefühl hatten sie, daß, wenn früher die Menschen das Auge hinaufrichteten zum nächtlichen Monde, dieser Mond nicht bloß in Form der hellen Sichel erschien, daß diese helle Sichel umgeben war von planetarischer lebendiger Geistigkeit, die der Menschenseele vieles sagte, und daß das hingeschwunden ist in den Zeiten, in denen man jetzt leben muß.

Wenn sich die Menschenseele fragte, was denn geschehen sei, daß die Natur also entgöttlicht ist, daß Finsternis sich ausbreitet da, wo früher geistiges Licht war, dann sagte derjenige, der das Volk leitete als Lenker:

Es hat einmal in der Götterwelt gegeben einen Baldur, der in sich vereinigte die Kraft des Sonnenlichtes. Aber Baldur hat wegen des Hasses der finsteren Elemente seinen Schauplatz, den er ausgebreitet

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hatte auf dem Menschen-Erdenhorizont, verlegen müssen zu Hel in die Unterwelt. Verschwunden ist die Schauekraft der alten Zeiten. Versun­ken ist der helle Sonnenschein, versunken ist der helle Schein der alten Götter, und der tote Schein des Sonnenlichtes glänzt nur zurück durch das Licht der Mondsichel. - Materiell ist die Welt geworden. Wie die trauernde Hinterlassene, die einmal mit dem Göttlichen vereint war und des Göttlichen Widerstrahl in alle Seelen hineinschickte, so erscheint die Natur, über die man klagt, über die man trauert, die man belegen wollte mit den Begriffen bloß von Sünde und Schuld. - Und so wurde die Empfindung erregt, die man haben konnte gegenüber dem Todesgang des alten Sonnengottes Baldur. Er ist nicht mehr da draußen um unsere Schauekräfte herum, der Gott Baldur, er ist in die Unterwelt gezogen, er hat uns die trauernde Natur zurückgelassen. Aber wohin ist er gezogen? Wo ist denn eigentlich in realer Wirklichkeit das Reich der HeI, jenes Reich der Finsternis, in das Baldur eingezogen ist? Wo ist es denn? Auch zu solchen Empfindungen wird sich, ich möchte sagen, unsere materiali­stische Zeit erst dadurch vorbereiten können, daß sie sich die entspre­chenden Begriffe aneignet.

Fragen wir uns einmal, was bedeutete es denn in uralten Zeiten, wenn man sagen konnte, sich hinauswendend gegen die Natur: Baldur ist da. -Was bedeutete denn das? Das bedeutete etwas wahrhaftig Reales, etwas, was diejenigen aber nicht verstehen werden, die da glauben, daß die Menschenbildung eben zu allen Zeiten gewesen ist wie heute. Wenn der Mensch in uralten Zeiten hinausging und auf der Wiese wahrnahm - er konnte es nicht immer, er konnte es nur zu gewissen Zeiten, aber da er es konnte zu gewissen Zeiten, da wußte er, daß sich ihm da jene belebenden Elementargeister zeigten, von denen ich gesprochen habe - wie war es denn, wenn der Mensch in gewissen Zeiten diese Elementargeister schauen konnte? Das war kein bloßes Hinschauen, das war nicht ein totes Empfangen eines Gesichtes, sondern das war verbunden mit einem lebendigen Gefühl, mit einer lebendigen Empfindung. Man ging durch die Wälder, man schaute die Geister, die Elementarwesen. Aber man schaute sie nicht bloß, ich möchte sagen, man trank ihr Wesen mit der Seele in sich, man fühlte ihren Hauch als einen geistig-seelischen Erfri­schungstrank, man fühlte in sich durch den Ätherleib hineinziehen den

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Atem, der ausging von den elementarischen Geistern, die man schaute im Wald und auf der Wiese. Sie machen einen jung - so konnte man empfinden, wenn man des Morgens hinausging und noch das Rückblei­bende der Morgendämmerung sie sichtbar machte, die Elementargeister des Waldes und der Wiese -, sie machen einen jung, sie verleihen einem Kraft! Und diese Kraft lebt dann in einem fort. Man war dabei, wenn man verjüngt in der elementarischen Natur war. Man war dabei. Was aber war mit all diesen verjüngenden Kräften geschehen? Aus der äußeren Welt waren sie verschwunden, man konnte nur mehr einen traurigen, halbbewußten Zusammenhang mit ihnen haben. Wo waren sie hingekommen? Sie wirkten weiter, aber sie wirkten weiter gewisserma­ßen im Unsichtbaren, im Unhörbaren; sie wirkten, aber sie wirkten auf die menschliche Natur so, daß der Mensch mit seinem Bewußtsein nicht mehr dabei war.

Und die Zeit kam, wo der Mensch, wenn er wissend wurde, sich sagen mußte: Da in meiner Natur, da wirken diese Kräfte, von denen ich früher nicht nur wissen konnte, daß sie im Dunkeln auf mich wirken, gegenüber denen ich vielmehr eine Schauekraft hatte, deren Einfließen aus der Außenwelt ich bemerken, ich wahrnehmen konnte. - In das Reich der HeI, in des Menschen eigene Finsternis, in des Menschen seelische Untergründe war der Gott Baldur eingezogen. Wo ist Baldur? Der Priester, der zu erklären hatte den Menschen das Geheimnis, wenn der Mensch frug: Wo ist Baldur? - er hatte zu sagen: Baldur ist nicht im Sichtbaren. Weil du als Mensch brauchtest jene Bildekräfte, jene verjün­genden Bildekräfte, die du früher halbwissend aufnehmen durftest, wirken sie jetzt ohne dein Wissen in deinem Inneren, damit du ihnen nichts nimmst durch dein Wissen. Weil du diese Kräfte in deinem Unsichtbaren brauchtest, ist Baldur aus dem Bereich des Sichtbaren verschwunden, hat sich zurückgezogen dahin, wo die Welt deines eigenen unterbewußten Inneren ist.

Dann kam über den Menschen die Stimmung, die man bezeichnen könnte mit den folgenden Worten: So also steh' ich als Mensch im Reich der Hel mit einem Teil meines Wesens. Nicht sehen kann ich, wie die Bildekräfte meines Lebens aus dem Reich der Hel eingreifen in mein Seelisch-Leibliches; der Gott Baldur ist in der Unterwelt, er ist bei der

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Hel, er wirkt im Unsichtbaren auf mich. Versunken und verflossen ist Baldurs Sonnenseherreich. - Das ist die Stimmung der Klage, der Trauer, die Schmerzen der Seele hervorrufen darf, denn das ist keine hinfällige egoistische Menschenklage, das ist Klage, die der Mensch im Zusammen­hang mit dem Kosmos empfindet. Das ist kosmische Klage, das ist kosmische Trauer, das ist kosmischer Schmerz.

Und nun kam die Kunde, daß dasjenige, was sich also zurückgezogen hat in das Reich der Hel, neubelebt ist durch eine andere Macht, durch die Macht, die man wiederfinden kann, wenn man tiefe Einblicke tut in das eigene Innere, wo hinein die alte Baldur-Macht ja verschwunden ist. Baldur ist im Reich der HeI, aber der Christus ist hinuntergestiegen in das Reich der Hel, in das Reich der eigenen unterbewußten Menschen­wesenheit; da belebt er den Baldur. Und wenn der Mensch sich genü­gend vertieft in das, was er im Laufe der Erdenentwickelung geworden ist, da findet er wiederum die verjüngende Bildekraft. Was du verloren hast, du findest es wieder, denn hinuntergestiegen in dein eigenes Reich der Finsternis ist der alte Baldur. Gefunden hat ihn da der Christus, wiederbelebt hat er dasjenige, was dir durch Baldur und seine Macht einmal geworden ist. - So konnte der Priester dem verkünden, der die tiefen Geheimnisse der Botschaft vom Mysterium von Golgatha in diesen Volksgebieten empfand.

Wie eine heilige Erinnerung an uralt heilige Zeiten erschien die Osterbotschaft, aber doch eine Erinnerung, die zugleich neues Leben gibt. Mußte man sich doch sagen: Jene Macht des alten Baldur war zu gering, um auszureichen für eine ganze menschliche Entwickelung. Eine höhere Macht mußte eintreten, um dasjenige den Menschen wieder zu geben, was sie verlieren mußten, was nur Baldur hatte. - So klang herein die Kunde von dem Christus in die Erinnerung von dem alten Baldur und seinem Tode, so klang herein die Auferstehung alter Herrlichkeit in der Menschenseele, in die sie durch Baldurs Tod hinuntergegangen Ist, die Macht, die jetzt neu auferweckt worden ist.

Man muß schon sich nähern demjenigen, was als Sinn der Erdenent­wickelung das Mysterium von Golgatha ist, dadurch, daß man sich fragt: Mit welchen Empfindungen, mit welchen Gefühlen kam die historische Menschheit dem historischen Christus entgegen? - Denn nicht darauf

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kommt es an, daß man einen abstrakten Begriff von dem Wesen des Christus oder des Mysteriums von Golgatha sich erwirbt, sondern darauf kommt es an, daß man für sich selbst die Frage zu beantworten vermag: Was alles kann jener Impuls beleben in den tiefsten Tiefen der menschlichen Seele, jener Impuls, der durch das Mysterium von Golga­tha gegangen ist?

Schauen wir es an, dieses Mysterium von Golgatha, wie es noch gefeiert wird von den einzelnen Religionsbekenntnissen der alten Welt. Am Karfreitag wird die Grablegung Christi gefeiert. Die Glocken verstummen, Stummheit breitet sich über die Erde aus. Derjenige, der in den Jahrhunderten gelebt hat, von denen ich spreche, der sagte sich: Stumm, klanglos ist die Welt geworden. Hinuntergestiegen ist der Christus in diejenigen Teile menschlichen Seelendaseins und kosmischen Daseins, in die Baldur hat hinuntersteigen müssen, weil seine Macht nicht ausgereicht hat zur vollständigen Erhebung der menschlichen Seele. Da ist er unten, unten in den geheimnisvollen Tiefen, in denen ich selbst stehe, wenn ich auf die unterbewußten Bildekräfte in meinem Inneren sehe. - Geheimnisvoll kann es das menschliche Herz durch schauern, wenn dieses menschliche Herz bedenkt: Hinweg aus dieser stummen Welt ist der Impuls von Golgatha gegangen. Unten ruht er, wo du auch bist. Warte, warte, und vereinigen wird er sich, dieser Impuls von Golgatha, in den geistigen Welten, denen deine Seele angehören darf, wenn sie den Weg in ihre eigenen Untergründe nur gehen will, mit Baldur. Baldur wird er beleben in diesen Tagen. Und in deinem Inneren, o Mensch, wirst du wiederfinden, was mit Baldurs Hinschwinden aus der Umwelt in deine eigenen Tiefen hinuntergeschwunden und verdäm­mert ist. Nehme auf, o Mensch, den lebenden Begriff des Christus, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, der nicht äußerlich deinem Auge, wohl aber deiner Seele wird wiedererstehen können, wenn sie sich ihres Inneren recht bewußt wird, vom Monde herab, aus der Sonne heraus - als jene elementare Kraft, jene die Seele belebende Bildekraft. Warte, warte, bis er aufersteht, der Wiedererwecker Baldurs. Eine Welt hast du einstmals gehabt; in dieser Welt brauchtest du nur deine Sinne hinauszurichten auf die umgebende Natur, und es floß dir ohne dein Zutun die belebende, beseelende Kraft aus dem Elementarischen

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dieser äußeren Natur entgegen. Ein Reich des Geistes durchwob alles natürliche Dasein, und du selbst lebtest, wenn du nur die richtigen Augenblicke dazu abwartetest, nicht nur in der geistlosen Natur; du lebtest in dem, was hinter der Natur ist, wovon sie nur der Ausdruck ist, du lebtest in dem Naturdasein. Jetzt findest du nicht mehr das Geistige in der Natur, du mußt es suchen durch vertiefende Belebung deines eigenen Inneren mit der Kraft, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Natur, du warst einmal ausdrucksvoll, oh, so ausdrucks­voll, daß durch deine Formen erschien des Menschen wahre, wahrhaftige Heimat. Sie hat Baldur mit sich genommen, sie ist nicht mehr da, ist in Regionen, die dein äußeres Schauen nicht überblickt. Aber es gibt dieses alte Reich, dessen Formenausdruck einmal die umgebende Natur war, es gibt dieses Reich noch. Du findest es nur nicht, wenn du den Weg der Natur allein gehst; du findest es, wenn du dich verbindest mit dem Impuls, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Nicht bloß sündhaft-schuldig ist die Natur, verlassen ist sie, verlassen ist sie von der Heimat, die man suchen muß, suchen muß, innerlich durchdrungen mit der Kraft des Christus.

Man könnte meinen, daß man noch etwas durchhörte in den christli­chen Zeiten von dem, was die Menschen also aufgenommen haben von dem alten Baldur-Tod in ihre Erinnerung, um es zu verbinden mit der Kunde von dem Mysterium von Golgatha. Es kommt einem vor, wie wenn erst nach und nach versunken und verklungen wäre der Ton der Klage, der Ton der Trauer gegenüber der Natur, wie er eben charakteri­siert worden ist. Gewiß, es dringt ein in die christliche Auffassung auch jene Stimmung, welche einzig und allein hinblickt zu dem sich opfernden Christus, einzig und allein aufblickt zu der himmlischen Heimat. Und es wird auch in dieser Volkheit Europas nach und nach die Stimmung vernehmlich, welche die Natur gleichsam wie das mindere Kind, nicht wie das verlassene Kind, anschaut. Aber wenn man hin­horcht nicht bloß auf den Sinn der Worte, sondern auf die Art, wie die Worte geprägt werden da, als schon im 8. Jahrhundert, im 9. Jahrhun­dert sich ausgebreitet hat über gewisse Gegenden Europas die Kunde von dem Mysterium von Golgatha, wenn man hinhorcht auf die Art, wie gesprochen wird davon, daß man in der irdischen Welt nicht die wahre

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Heimat der Menschenseele finden kann, dann kann man noch etwas von der alten tragischen Stimmung gegenüber der baldurlosen Natur empfin­den. Wie gesagt, man muß nur hinhören nicht bloß auf die Worte und auf den abstrakten Sinn der Worte, sondern auf die Art, wie durch die Worte durchklingt das, was über die Natur empfunden wird, und was empfunden wird über eine andere Heimat der menschlichen Seele, als die Natur jetzt sein kann.

Daß so etwas erklang auch noch, nachdem das Christentum sich ausgebreitet hat, nachdem die Menschen da waren, die das Christentum auszubreiten suchten in der Form, in der man es eben empfangen hatte aus dem Orient, das kann man wie gesagt aus den verschiedensten Kundgebungen des 8., des 9. Jahrhunderts ersehen, wenn man nur durch sie, durch diese Kundgebungen, hindurchhört, was empfunden wurde. Wir haben aus diesen Zeiten gewissermaßen europäisch gemachte Evan­gelien, und eines dieser europäisch gemachten Evangelien ist die soge­nannte «Evangelienharmonie» des Otfried, eines Mönches, der im Elsaß gelebt hat, der noch durch Hrabanus Maurus die Geheimnisse des Christentums gelernt hat, der dann versucht hat, in die Sprache seiner Heimat hineinzutragen dasjenige, was ihm das Evangelium, was ihm die Botschaft von dem Tode und der Auferstehung des Christus geworden war. Geboren ist Otfried in Weißenburg im Elsaß. In eine Sprache, die dazumal im Elsaß gesprochen worden ist, hat er übersetzt das, was ihm geworden war, in seine Empfindungen hinein, von dem Evangelium. Horen wir nur ein paar Proben desjenigen, was uns gerade in unserem heutigen Zusammenhang interessieren kann aus dieses elsässischen Mön­ches Christus-Botschaft aus dem 9. Jahrhundert, und versuchen wir, nicht den abstrakten Sinn der Worte nur zu hören, sondern versuchen wir durchzuhören durch die Worte dasjenige, was gerade als Trauer gegenüber der verlassenen Naturheimat des Menschen empfunden wer­den könnte. Deshalb will ich das in der damaligen Sprache zuerst mitteilen, und es dann, so gut es geht, in die neuere Sprache bringen.

Otfried 111,19-30:

Tharben wir nu lewes, liebes filu manages

joh thulten hiar nu noti bittero ziti.

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Nu birun wir momente mit seru hiar in lante

in managfalten wunton bi unseren sunton;

Arabeiti manego sint uns hiar jo garawo,

ni wollen heim wison wir wenegon weison.

Wolaga elilenti, harto bistu herti,

thu bist harto filu swar, thaz sagen ih thir in alawar.

Mit arabeitin wembent, thie heiminges tharbent;

Ih haben iz funtan in mir, ni fand ih liebes wiht in thir.

Ni fand in thir ih ander guat suntam mozagaz muat,

semagaz herza joh managfalta smerza.

Versuchen wir, so annähernd das wiederzugeben in der neueren Sprache:

Leiden und darben wir an sehr Vielem, das uns lieb war, Und dulden hier nun bittere Zeiten, Nun sind wir trauernd mit unserem Schmerz hier im Land

- er meint im Erdenland -In mannigfaltigem Bund durch unsere Sünden.

Arbeit - Arbeit heißt in früherer Sprache mehr «Sorge, Mühe» -, der Besorgungen viele sind uns jetzt bereitet,

Nichts können wir von der Heimat wissen, wir, die für Klagen werbend, verlassene Waisen.

Wehe, du fremdes Land - so spricht er die Erde an! - 0, wie bist du hart!

Du bist wahrlich recht schwer, das sage ich dir allerwärts. Mit Besorgnissen werbend - also wandelnd - sind die, die der Heimat nun entbehren.

Ich habe es empfunden an mir, nie fand ich Liebes etwas in dir, Nie fand in dir ich andres Gut, als zum Klagen reifen Sinn, Sorgenvolles Herz und mannigfaltig und viel Schmerz.

So klingt aus dieses Mönches Seele dasjenige, was empfunden wurde jetzt gegenüber der Natur. Und so empfand man gegenüber der Macht, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist.

Es ist heute selbst das schon schwierig, recht schwierig, das wieder auferstehen zu lassen, wie die großen Festeszeiten herausgehoben waren

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aus dem ganzen Horizont des Alltagslebens in den Zeiten, in denen man noch lebendigem empfunden hat, an was man sich zu erinnern habe als an Baldurs Tod, und was man, nachdem man durch die traurige Zeit der Verlassenschaft hindurchgegangen war, nunmehr empfangen hatte durch den, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. Man hatte gewissermaßen die ganze Bitternis des Todes erst erkannt, als aus der Erde Gefilden nicht mehr sprießten für das menschliche Anschauen die alten elementarischen Lebekräfte, als die Erde in ihren Formen selbst erschien wie fommend nur den Tod, den Tod, mit dem Baldur sich vereint hatte. Und jetzt empfand man, indem man hinstellte Karfreitag, Karsamstag bis zum Aufemstehungs-Ostersonntag, indem man hinstellte diesen Tod, den man erst in seiner Bitternis zu empfinden gelernt hatte, jetzt empfand man, daß er birgt die siegende Kraft des Lebens, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, und die immer wieder und wieder gehen soll durch des Menschen an diesen Tagen trauerfestlich gestimmte Seele, in der nach des Angelus Silesius Ausspruch selbst gefeiert werden soll der Todesgang des Christus und die Auferstehung dieses Christus.

Unendlich lebendiger war des Christus Todeskraft und Todesopfer in den Zeiten, in denen dieses Todesopfer, diese Todeskraft noch in Verbin­dung gebracht war mit dem hingestorbenen Baldur. In dem Asen Reich, hinunterschauend auf die Erde von Breidablick - so hieß die Burg des Baldum -, hinunterschauend auf die Erde wie das silberne Sonnen­Mondenlicht, so war er einst, Baldur, in seiner Kraft der Erde elementare Wesenschaft belebend. In finstere Tiefen war er gegangen, Karfreitag, Karsamstag, Karsamstagnacht. Hin richtete sich der Blick zu Baldurs neuem Todesmeich, aber wissend: da unten im Todesreich, da ruht dem Keim, der sich verbindet mit der Erde Entwickelungsimpulsen, und dem ein neues Leben bringen wird, wenn er aufersteht. Das ist der Tod, der empfunden wird in dem Pflanzenkeimeskraft, vermodert in den Tiefen dem Erde, der die neue Pflanze wieder hervorbringt.

Wie mächtige Gottesworte war die Kunde gekommen zu Menschen, die den Tod hatten begreifen gelernt an dem Schicksal ihres Baldur. Drei Tage lang konnten sie empfinden, wie zur Wirkung gekommen ist dasjenige, was Baldur getötet hat, was Baldur selbst nicht besiegen kann.

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Deshalb muß einzigartig die Empfindung sein, die unsere Seele belebt in der Weltenstummheit der drei Tage, von der wir umgeben sind. Einzig­artig muß diese Empfindung sein, so etwa muß sie sich ausdrücken, daß um dem Menschen Weiterentwickelung willen der Tod immer intensiver und intensivem auch in die Erdenentwickelung eingreifen mußte, daß finster und todesstumm um den Menschen herum werden mußte die einstmals paradieseshelle Natur, daß aber reift im Todesacker des Seins die ewig siegende Lebenskraft. So schauen wir sie an - diese drei Tage: Da ruht er unten, dem Christus, im todesdurchtränkten Abgrundmeiche des Seins. Da hinein verfolgen wir ihn, weil wir wissen, daß wir mit einem Teil unseres eigenen Wesens hineinreichen in diesen Abgrund des Weltendaseins, und weil wir wissen: hinauftragen werden wir den Teil von uns, dem da hinuntermeicht in den Abgrund des Todesweltenseins, nur, wenn wir uns verbinden mit dem, was sonst in uns allein der Tod sein würde, durch die Kraft, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist.

So steigen wir hinunter in die Tiefen und wissen, daß wir differenzie­ren müssen die Empfindungen, daß wir nicht gut tun, wenn wir uns nicht unsere differenzierten Empfindungen für gewisse Tage bewußt machen. Wir sollen vielmehr wissen lernen: Jetzt sind die Tage, wo sich die Seele verbinden muß mit dem, was sie lernen kann über den Tod, über den Tod, der es notwendig machte, der es in ehernem Notwendig­keit mit sich brachte, daß der Christus zu ihm hinunterstieg. Wir werden morgen hinwenden den Blick zu dem Mysterium von Golgatha von einem anderen Seite. Aber, wie gesagt, viele Wege führen hinauf auf den Gipfel, wo uns allmählich verständlich und immer verständlicher wird dem tiefe Sinn des Mystemiums von Golgatha. Er kann uns nur verständ­lich werden, wenn wir nicht bloß vor uns hinstellen den siegenden Christus, den einseitig siegenden Christus, sondern wenn wir auch hinstellen vor unsere Seele den sich mit dem Tod verbindenden Christus. Und was der Tod bedeutet für das ganze Menschenleben, es könnte uns vielleicht um ein Stückchen klarer werden, wenn wir uns vertieften in die Empfindungen, die man haben kann an dem Baldur-Mythos, an dem, was Baldum, was die durch die elementare Welt wirkende belebende Sonnenkraft ist, nachdem sie durch den Tod hindurchgegangen ist.

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Wenn man diese Empfindung in dem Seele noch belebt, diese Empfin­dung von dem Untergang Baldums, dadurch, daß man sich sagt: Wie müßten wir empfinden in einer zukünftigen Welt, in der wir uns erinnern: Götter waren da, sie haben einmal uns sehen lassen die umliegende Welt im farbigen Sinnenschein; grau in grau ist jetzt alles! -Daß das nicht so sein wird - und es würde so, wenn dem Christus nicht in die Welt gekommen wäre -, das wird die siegende Kraft des Christus bewirken. Was heute die Menschen noch nicht glauben, sie werden es einmal glauben: daß dasjenige, was heute nur wirken kann als Christus­Kraft in den menschlichen Herzen selbst, wirksam empfunden werden wird den ganzen Kosmos durchdringend, namentlich den irdischen Teil des Kosmos durchdringend, so weit diesem Kosmos den Menschen verjüngende, belebende Kraft gibt.

Heute wollen wir noch vor unsere Seelen rufen, wie berechtigt es ist gegenüber einer solchen Empfindung, die das menschliche Seelengefühl in Zusammenhang bringt mit dem kosmischen Christus, zu erwägen dasjenige, was das Evangelium verkündet auch von dem kosmischen Macht des Christus, wenn es anschaulich machen will, wie dem Christus eine universelle, kosmische Macht ist, wie er Wind und Wogen geboten hat. Gerade in diesem Anschauen des durch Wind und Wogen hindurch wirkenden Christus haben noch die Völker des 8. und 9. Jahrhunderts vieles empfunden. Sie sagten: Baldur war es ja, der machte, daß wir einstmals die wunderbar wirkende, wesende elementarische Welt sahen um uns herum. Baldur ist tot. Dem Christus aber hat die Macht, durch unsere Seelenkraft wieder zu erwecken - indem wir ihn aufnehmen in unsere Seelenkraft -, der Christus hat die Macht, wiederum aufzuwek­ken das, was durch Baldums Tod verloren ist. Wie Baldur erschien durch Wind und Wogen, so erscheint auch der Christus in Wind und Wogen. Es ist keine abstrakte Seelenkraft, es ist eine durch Wind und Wogen wirkende Kraft.

Und so möchte man auch noch etwas dumchhören, wenn man genau hinhorcht auf den Evangelientext des «Heliand», einem zweiten Evange­liendichtung neben der des Otfmied aus dem 9. Jahrhundert, wie da besonders empfunden, wenn auch nicht ausgesprochen wurde: Ja, da draußen in dem Natur lebte Baldur. - Gewiß, der Dichter des «Heliand»

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hat ihn längst abgetan, diesen Baldur. Er hatte auch nicht das Interesse, mit dem abstrakten Verstand diese Idee wieder unter sein Volk zu bringen. Sie sollte ja gerade ausgerottet werden. Aber in der Art, wie er prägt die Worte, wie er gerade herzlich wird da, wo er anschaulich machen kann, wie durch die Natur, durch Wind und Wogen hindurch-wirkt des Christus Kraft, da ist es einem, wie wenn man - wenn er selbst es auch nicht in sein Bewußtsein brachte - es in sein Bewußtsein bringen müsse: Ja, durch Wind und Wogen hat gewirkt die Kraft, die größer ist als Baldurs Kraft, die Kraft, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist. - Und so etwas empfindet man bei den Worten, mit denen er verkündet die Szene, wo dem Christus die Winde und die Wogen des Meeres, nach dem Evangelium, stillet. Das macht auf ihn einen besonde­ren Eindruck. Da wählt er, besonders als er die Seele in seiner mysti­schen Art hinwenden will auf das, was sie da empfinden kann gewisser­maßen in der Naturtätigkeit, in der Durchgöttlichung dem Natur durch Christus, da wählt er besondere Worte, wo des Christus Größe sich besonders in die Seele prägen kann, Worte, durch die des Christus ganz besondere Weltenmacht zur Seele sprechen kann.

«Da das Volk gesehen hat, wie der Christus den Winden geboten hat, den Meemeswogen geboten hat. . . » - hier drückt der «Heliand» beson­ders herzlich aus, was das Volk empfand gegenüber dieser Christus-Kraft, dieser Christus-Wesenheit, dieser Christus-Persönlichkeit, die durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist - ... . da begann das Volk unter sich, die Menge begann sich zu wundern, und es sprachen einige mit ihren Worten: Was das für ein mächtiger Mann wäre, daß ihm so der Wind wie die Wogen auf seine Worte gehorchen. Beide hören auf seine Botschaft. Da hatte sie des Gottes Kind - nämlich da hatte die Menschen -, des Gottes Kind behütet, herausbehütet aus dem Not. Das Schiffchen weitem schwamm, das hornerne Schiff; die Jünger kamen, die Leute kamen zu Lande, sagten: Gott sei gelobt! und verkündeten seine

- nämlich Gottes - Überkraft. »

So sagt dieser Dichter des «Heliand» in einer der ersten Verkündigun­gen, die von der Größe des Christus sprach, der heute in den Tiefen des Todesdaseins symbolisch liegt. Und damals klang das so:

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Aus 8, 30-38 des «Heliand»:

Thuo began that folc undar im,

werod, wundraian, endi suma mid imo wordun sprakun,

huilic that so mahtigro manno wari,

that im so thie wind endi thie wag wordu hordin,

bethiu is gibodskepies. Thuo habda sia that barn godes

ginerid fan theru nodi. Thie naco furthor scred,

hoh humnidscip; helithos quamun,

thia ludi, te lande, sagdun lof gode - sie sprachen: Gott sei das Lob! -maridun - das heißt: «märchenartig» sein, man könnte heute sagen: verkündeten - maridun is megincraft - verkündeten seine Über­kraft.

Also: die Leute, die da kamen zu Lande, verkündeten seine Überkraft! Thia ludi, te lande, sagdun lof gode, maridun is megincraft!

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ZWÖLFTER VORTRAG Dornach, 1. Mai 1915

Durch alle die Besprechungen, die in der letzten Zeit hier gepflogen worden sind, ging ein Grundzug. Dieser Grundzug enthielt den Ausdruck dafür, daß wir in unserer Gegenwart in der Tat innerhalb der ganzen Kulturentwickelung der Menschheit beobachten können die Notwendigkeit eines neuen Impulses, nämlich eines spirituellen Impul­ses, eines Impulses geistiger Erkenntnis.

Es sollte in diesen Vorträgen von den verschiedensten Gesichtspunk­ten aus eben gezeigt werden, daß gewissermaßen eine Zeit abgelaufen ist, die einen ganz bestimmten Charakter hatte, und daß eine neue Zeit beginnen muß. Die Zeit, die abgelaufen ist, ist gewissermaßen die Zeit der intensivsten materialistischen Denk- und Empfindungsweise, die Zeit, in welcher das materialistische Denken und Empfinden immer mehr und mehr durch Jahrhunderte hindurch Platz gegriffen hat im inneren Leben der Menschenseele. Aber ebenso wie das Pendel, wenn es nach der einen Seite ausgeschlagen hat, wiederum nach der anderen Seite, in der entgegengesetzten Richtung ausschlagen muß, so stehen wir vor einer Zeit, in welcher die Menschenseele wieder ergriffen werden muß von der Empfindung, daß in allem Sinnlichen, in allem Materiellen, geistige Impulse verborgen sind, geistige Kräfte verborgen sind, und die Geisteswissenschaft soll ja im wesentlichen vermitteln die Erkenntnis und das Erleben dieser geistigen Kräfte hinter den sinnlichen und materiellen Erscheinungen und Erlebnissen, der geistigen Kräfte, auf welche die Menschheit durch Jahrhunderte hindurch weniger Aufmerk­samkeit, weniger Interesse hat verwenden können.

Nun wissen wir alle, wie in unserer Zeit angeschwärzt, verketzert wird allein schon die Geltendmachung dessen, daß es der Menschenseele möglich ist, in geistige Welten hineinzutreten. Wir wissen, wie die mannigfaltigsten Faktoren des Lebens, bewußt oder unbewußt, sich gegen das Heraufkommen einer solchen Weltanschauungsströmung, wie es die geisteswissenschaftliche ist, wenden. Man könnte glauben, daß es in unserer Gegenwart ganz und gar absurd, töricht, phantastisch erscheinen

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würde, was die Geisteswissenschaft von sich aus zur Regelung des Lebens und seiner Tatsachen darbieten muß; wenn man aber auf dasje­nige eingeht, was immerhin, ich möchte sagen, auch jetzt schon einsich­tigere Menschen, aus etwas gründlicheren Lebensimpulsen heraus, gel­tend machen, so sieht das eben Geschilderte doch wieder anders aus.

Ich möchte Sie zuerst heute hinweisen darauf, daß bei einsichtigeren Menschen der Gegenwart doch nicht überall ein solches Verschließen vorhanden ist gegenüber dem, was die Geisteswissenschaft geltend machen will, obzwar das Verschließen gegen die Geisteswissenschaft wohl da ist, aber nicht so sehr das Verschließen gegen das, was die Geisteswissenschaft geltend macht. Viele, viele Beispiele nach dieser Richtung wären da anzuführen. Ich will ein charakteristisches Beispiel einmal herausheben heute, das sich bezieht auf einen immerhin bedeu­tenderen Philosophen der jüngst verflossenen Zeit, auf den vor nicht langer Zeit verstorbenen Otto Liebmann.

Die meisten von Ihnen werden den Namen Otto Liebmann gar nicht kennen, und das macht auch nichts. Aber ich möchte doch sagen, daß Otto Liebmann einer der scharfsinnigsten Zergliederer des menschlichen Gedankenlebens in der neueren Zeit gewesen ist, daß er dasjenige, was man Erkenntnistheorie nennen kann, nach allen Seiten hin durch­geackert hat, daß er sich überall die Frage vorgelegt hat: Was kann der menschliche Gedanke erfassen von der Wirklichkeit?

Eine kleine Stelle aus den philosophischen Schriften Otto Liebmanns möchte ich Ihnen vorlesen, weil sie charakteristisch ist für einen Mann, der sein ganzes Leben hindurch sich abgemüht hat, zu ergründen, was der menschliche Gedanke ist, was die Gegenwart von ihm zu sagen vermag, wenn er sich stützt auf alle wissenschaftlichen Ergebnisse dieser unserer Gegenwart. Da sagt also Otto Liebmann: Es könnte jemand auf den Gedanken verfallen, in dem Hühnerei stecke nicht bloß Eiweiß und Dotter, sondern außerdem ein unsichtbares Gespenst darinnen; dieses Gespenst vermaterialisiere sich, und wenn es mit seiner Materialisierung fertig ist, sprenge es die Eischale mit dem spitzen Schnabel, laufe auf die Körner zu und picke sie auf.

Zunächst, sagt er, könnte einem einfallen, daß in dem Ei ein Gespenst wäre und wenn dann die Fischale aufgepickt ist, käme das Gespenst

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heraus und könne die Körner aufpicken. Wie werden sich diejenigen äußern, die auf dem Standpunkte stehen, sich aus der gegenwärtigen Wissenschaft eine Weltanschauung aufzubauen? Die werden es folgen­dermaßen tun: Wenn einer sagt, im Hühnerei darinnen steckt ein Gespenst, so ist er eben ein Narr. - So werden die gescheiten Leute der Gegenwart sprechen. Nur wendet man das bloß auf diejenigen an, die sich Theosophen oder Anthroposophen nennen! Was sagt aber der Philosoph, der sich um die Zergliederung des menschlichen Denkens in der Gegenwart so viel Mühe gegeben hat? Er sagt: Gegen diese Behaup­tung läßt sich nichts anderes einwenden, als daß die Präposition «im» Unsinn ist, wenn sie im physischen Sinne gebraucht wird; im metaphysi­schen Sinne ist sie ganz richtig. Daß man mit der Vorstellung, das Gespenst sitzt räumlich darinnen, nichts anfangen kann, ist ganz richtig; aber wenn man sie metaphysisch versteht, so läßt sich gegen sie nichts einwenden. Es ist die Präposition nur nicht im gewöhnlichen Sinne zu gebrauchen.

Also die Tatsache liegt vor, daß ein Philosoph, der ein geistvolles Buch geschrieben hat «Analysis der Wirklichkeit» und ein Buch «Gedanken und Tatsachen» - im zweiten Heft 1899 der «Naturerkenntnis» steht dies von dem unsichtbaren Gespenst -, zugibt, daß man im Grunde genommen ganz auf dem Höhepunkte der heutigen Philosophie stehen kann und gar nicht anders kann, als zuzugeben, daß im Hühnerei darinnen wirklich ein unsichtbares Gespenst stecke.

Selbstverständlich würde Otto Liebmann nie sich herbeilassen, in der Geisteswissenschaft etwas Vernünftiges zu sehen. Man könnte die Frage aufwerfen: Warum tut er denn das nicht? Warum würde er oder jemand, der so denkt wie er, nicht herangehen und sich einmal diese Geisteswis­senschaft ansehen, um zu dem Urteil zu kommen: Ja, diese Geisteswis­senschaft will ja im Grunde genommen gar nichts anderes, als in Wirklichkeit konstatieren, daß dieses unsichtbare Gespenst im Hühnerei wirklich darinnen ist! - Auf den Namen kommt es ja nicht an; es würde eben bei uns Atherleib genannt werden, der wiederum von dem astrali­schen Leib durchsetzt ist. Der Geisteswissenschafter beschreibt eben, was da drinnen ist als unsichtbares Gespenst; der Geisteswissenschafter sagt also nichts anderes, als was die anderen sagen. Dennoch wird man

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sich nicht zur Geisteswissenschaft so leicht wenden. Man wird sie eine Narretei, eine Phantasterei schelten, trotzdem sie von der Wissenschaft und von der Gedankenarbeit der Gegenwart energisch gefordert wird.

Wie weit ist es nun von der Behauptung, daß im Hühnerei ein unsichtbares Gespenst steckt, zu der anderen, daß im menschlichen physischen Leib - die Anatomie und Physiologie untersuchen nur das Physische - auch etwas Unsichtbares darinnen steckt? Und wenn man sich hinweghelfen würde über die Anwendung der Präposition «im» -darauf kommt es dem Philosophen ja an -, dann wäre man schon daran, auf etwas hinzuweisen, wovon die Geisteswissenschaft sagt, daß es in dem Ätherleibe, dem Astralleibe und dem Ich besteht. Die Geisteswis­senschaft tut also nichts, wovon sich nicht streng nachweisen läßt, daß es wirklich gefordert wird von dem ganzen Gedanken- und Kulturprozesse der Gegenwart. Nur muß selbstverständlich die Geisteswissenschaft etwas weitergehen, denn bei der Ahnung kann es nicht bleiben: im Hühnerei steckt ein unsichtbares Gespenst -, insbesondere, wenn man damit zum Menschen übergeht. Da muß es klar sein, daß dasjenige, was unsichtbar im Menschen darinnen steckt, gewisse Eigenschaften, gewisse innere Wirklichkeitsfaktoren hat. Während man sich beim Hühnerei, ich möchte fast sagen, gespenstisch vorstellen kann: da steckt ein unbekann­tes Gespenst darinnen -, muß man, wenn man zum Menschen vorschrei­tet, sich klar sein, daß der Mensch, wenn er im physischen Leibe wohnt, Bewußtsein entwickelt, dadurch Bewußtsein entwickelt, daß der physi­sche Leib ein so komplizierter Apparat ist. Dadurch ahnt man, daß das, was man hier unsichtbares Gespenst genannt hat, doch gelten muß als etwas, was dem Sichtbaren zugrunde liegt. Wenn nun das Äußere schon Bewußt­sein hat, so muß man doch als selbstverständlich annehmen, daß auch das Innere Bewußtsein hat, daß man es nicht «bewußtlos» glauben kann.

Die Wissenschaft wird darauf hinführen, einzusehen so etwas wie dasjenige, was die Geisteswissenschaft annimmt: daß es in dem physi­schen Leibe einen geistigen Menschen gibt. Und die Art des Bewußtseins dieses geistigen Menschen ist es ja, auf die uns die Geisteswissenschaft hinweist.

Wir wissen heute schon, seit längerer Zeit schon, eine Antwort zu geben über die genauen Eigenschaften dieses dem Menschen zugrunde

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liegenden, unsichtbaren Gespenstes. Nehmen wir zunächst diese philo­sophischen Darbietungen der Gegenwart, so werden wir zugeben, es liegt auch dem Menschen ein unsichtbares Gespenst zugrunde. Wir fragen uns nun: Können wir über dieses unsichtbare Gespenst etwas wissen? - Jawohl; so wie der Mensch durch die sinnlichen Wahrneh­mungen und durch die Gedanken, die an das Gehirn gebunden sind, Erkenntnisse über die äußere Welt erwirbt, erweitert auch dieses Wissen sich: denn in dem Gespenste leben die Imaginationen, lebt dasjenige, was wir beschrieben haben als imaginative Erkenntnis. Wir würden sehen können: nicht nur dem Hühnerei liegt ein unsichtbares Gespenst zugrunde, sondern im Menschen steckt der ätherische Leib darinnen, der, wenn ihm die Möglichkeit gegeben wird - es ist dies in unseren Schriften schon ausgesprochen -, sich vom physischen Leibe frei macht und eine imaginative Erkenntnis entwickelt, eine Erkenntnis, die in Imaginationen in der Welt arbeitet, die in bewegten Imaginationen vor der Seele steht.

Es muß schon einmal die Frage vorgelegt werden: Worauf beruht es eigentlich, daß die Geisteswissenschaft heute so viele Gegner findet, trotzdem im Grunde die Leute, die sich selber nicht verstehen, auf das kommen und auf das hinweisen, was die Geisteswissenschaft sagt?

Meine lieben Freunde, da muß etwas gesagt werden, was, ich möchte sagen, gefährlich ist auszusprechen, jedenfalls nicht ungefährlich. Warum würde Otto Liebmann zweifellos, wenn er ein geisteswissen­schaftliches Buch in die Hand bekäme, sagen: Das ist mir zu töricht, zu närrisch -, während er doch sozusagen selber vor der Pforte der geistigen Welt steht? Warum lebt er in dieser sonderbaren Selbsttäuschung, daß er zwar vor der Pforte steht, aber wenn jemand kommt und ihm das Tor aufmachen will, sagen würde: Nein, da gehe ich nicht hinein. - Warum? Das ist doch nicht besonders vernünftig!

Manchmal erreicht man doch etwas durch Vergleiche, und deshalb möchte ich mit einem Vergleich die Frage beantworten: Warum gibt es unter den Besten der Gegenwart solche vor der Geisteswissenschaft zurückschreckende Menschen?

Ich möchte da ebenfalls auf etwas aufmerksam machen, worüber wir schon gesprochen haben: auf das, was ich schon gesagt habe über den

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Schlaf und die Ermüdung. Man redet heute vielfach darüber, wie es kommt, daß die Menschen schlafen müssen, und man sagt sich: weil sie ermüdet sind. So daß die Ermüdung im wesentlichen als die Ursache des Schlafes angesehen wird. So redet man heute vielfach. Nun weiß zwar jeder aus der gewöhnlichsten Erfahrung des Lebens, daß irgendein Rentier, der, sagen wir, aus Courtoisie einen schönen Vortrag besucht, oftmals, kaum nachdem der Vortrag begonnen hat, sogleich einschläft, auch wenn er nicht ermüdet ist, woraus jeder den Schluß ziehen könnte, daß die Ermüdung durchaus nicht die Ursache des Schlafes ist. Im Gegenteil, die Sache würde richtiger ausgedrückt werden, wenn wir nicht sagen würden: Wir schlafen, weil wir ermüdet sind -, sondern sagen würden: Wir fühlen uns ermüdet, weil wir schlafen wollen. - Das würde der richtigere Ausdruck sein.

Das Schlafen besteht nämlich im wesentlichen darin, daß der Mensch, indem er mit seinem Ich und seinem astralischen Leibe aus dem physi­schen Leibe und dem Ätherleibe herausgeht, seinen physischen Leib und seinen Ätherleib von außen genießt, man möchte sogar sagen, nicht nur genießt, sondern verdaut; während, wenn er im physischen Leib und im Ätherleib darinnen ist, er mit seinem Bewußtsein in der äußeren Welt lebt. Merken Sie wohl, was damit eigentlich gesagt ist. Sind wir außer­halb unseres physischen Leibes und Ätherleibes mit unserem Ich und unserem Astralleibe, so wenden wir allen Willen und alle Begehrlichkeit nach dem physischen Leibe und dem Ätherleibe hin, wir genießen und verdauen den physischen Leib und den Ätherleib von außen; während die äußere Welt Eindrücke macht auf uns, wenn wir im Ätherleibe und im physischen Leibe darinnen stecken.

Nun beruht alles, was in der Welt ist, auf Periodizität, geradeso wie es beim Pendel ist. Wenn das Pendel nach der einen Seite bis zu einem gewissen Punkte hinaufgegangen ist, so geht es wieder hinunter und auf der anderen Seite hinauf bis zu derselben Höhe, durch die Kraft, die es sich beim Herunterfallen erworben hat. So wie das Pendel nicht nur bis hierher gehen kann, sondern dann wieder zurück muß und hinauf bis zu dem Punkte, den es erreicht hatte bevor es heruntergegangen war, so sind Schlafen und Wachen einander entgegengesetzt. Im gröbsten Sinne läßt es sich so sagen.

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Nehmen wir an, wir haben vom Aufwachen bis zum Einschlafen uns interessiert für die äußere Welt und deren Ablauf. Dieses Aufnehmen der äußeren Welt war so, wie das Pendel nach der einen Seite ausschlägt. Wenn wir das, was äußere Welt ist, genügend aufgenommen haben, dann entwickelt sich durch die Übersättigung, durch das Genughaben von der äußeren Welt, das normale Bedürfnis, auch uns selber wieder zu genie­ßen, von uns selber den Genuß zu haben, den wir sonst in der äußeren Welt haben: wir schlafen ein. Und haben wir mit diesem Genuß genü­gend uns aus uns herausgepreßt, dann können wir auch wieder aufwa­chen. Es ist ein Hin- und Herschlagen, eine Periodizität, die, wie draußen im Mechanismus, regelmäßig ablaufen wird. Aber den Men­schen kann Luzifer und Ahriman wirklich herausheben aus dem ganzen Naturlaufe. So kann der Mensch, wenn er zu einem Vortrage oder zu einem Konzerte aus Courtoisie gegangen ist, nicht weil er zuhören will, herausgehen und kann sein Interesse ablenken. Er geht heraus und genießt sich, weil er sich interessanter findet als dasjenige, was äußerlich um ihn herum abläuft.

So kann man sehen: Derjenige, welcher in anormaler Weise in Schlaf verfällt, hat einfach kein Interesse an der Umwelt, an dem, was in der Umwelt vorgeht. Nichts anderes liegt aber vor bei solchen Menschen, von denen ich gesprochen habe, die eigentlich hingewiesen werden auf dasjenige, was die Geisteswissenschaft darbietet. Otto Liebmann ist auf geisteswissenschaftlichem Gebiete ein solcher Mann, wie der, welcher aus Courtoisie ein Konzert oder einen Vortrag besucht und gleich einschläft. Er geht hin, aber eigentlich will er doch nicht dasjenige aufnehmen, was darinnen geboten wird.

In einem höheren Stile kann man dasselbe sagen von Menschen wie Otto Liebmann. Sie kommen zur Philosophie, ins Land des Geistes durch Zusammenhänge, die in unserer Welt sind. Man schreibt eine Dissertation, ein Buch, dann wird man als Dozent auf das Gymnasium geschickt; man erweist sich als guter Denker und wird dann auf die Universität geschickt. Das Philosophische ist maskierte Weltcourtoisie. Man braucht nicht den inneren Ruf nach dem Lande des Geistes zu haben, Weltcourtoisie ist das. Man geht bis zum Tore, geht auch hinein, und schläft ein; schläft nicht gleich - wie der satte Rentier, der zum

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Konzert geführt wird, schläft, auch wenn er gar nicht ermüdet ist -, man schläft ein wie durch einen Mangel an Interesse für das Gegenstandsbe­wußtsein; aber man kann nicht aufwachen für das imaginative Bewußt­sein. Ist es einem unmöglich aufzuwachen für das imaginative Bewußt-sein, so schläft man sogleich ein in dem Augenblicke, wo etwas erzählt wird von der geistigen Welt. Mit anderen Worten: es ist den Leuten zu schwer, von der Geisteswissenschaft etwas aufzunehmen. Und es ist deshalb nicht so ganz ungefährlich das festzustellen, weil die Menschen nun sagen: Also seid Ihr diejenigen, die das betreiben, was anderen Menschen, bedeutenden Menschen so beschwerlich ist! - Wir werden aber, da wir uns der Schwierigkeit bewußt sind, nicht gerade hochmütig werden. Aber wir werden auch wissen, daß dasjenige, worin wir uns begegnen müssen, deshalb von der Welt bekämpft wird, weil die Men­schen sich nicht einlassen wollen auf so schwierige Sachen, eben weil sie ihnen zu schwierig sind.

Nun wollen wir noch etwas genauer auf die Schwierigkeiten achten, die da bestehen. Wir wollen darauf hinweisen, indem wir fragen: Worin besteht das gewöhnliche Denken der Menschen vom Aufwachen bis zum Einschlafen? Worin besteht es? Nun; der grobmaterialistische Denker meint: es besteht darinnen, daß der Mensch ein Gehirn mit außerordentlich feiner Struktur hat, daß in diesem Gehirn Prozesse vor sich gehen, und daß, weil diese Prozesse vor sich gehen, das Den­ken eintritt. Das Denken ist eine Konsequenz dieser Gehirtiprozesse -, meint er.

Ich habe Sie schon darauf aufmerksam gemacht, daß das so ist, wie wenn jemand sagte: Ich gehe über die Straße; da sind Fuß- und Räder-spuren. Woher sind diese Räderspuren gekommen? Die Erde unten, die hat das wohl gemacht, die Erde hat die Fuß- und Räderspuren selbst hervorgetrieben. - Logisch ganz auf derselben Stufe steht der, welcher denkt, das Gehirn macht durch sich selber solche Eindrücke. Ganz dasselbe ist es, wenn einer auf der Straße geht, auf der Straße allerlei Spuren sieht und dann sagt: Aha, da ist diese Erde da, die ist innerlich mit allerlei Kräften fein durchzogen, mit Kräften, die solche Spuren machen. - Ganz dasselbe ist es, wenn der Physiologe kommt und das menschliche Gehirn anschaut und darin alle möglichen Vorgänge konstatiert

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und sagt: Das macht alles das Gehirn. - So wenig diese Spuren am Erdboden bewirkt werden durch den Erdboden selber, sondern durch die Menschen und Wagen, die sich auf dem Wege fortbewegen, so wenig wird das, was der Anatom und der Physiologe entdecken, bewirkt durch das Gehirn, sondern vielmehr durch die Kräfte, die sich im Ätherleibe bewegen.

Dadurch werden Sie darauf kommen, worin die Täuschung des Mate­rialismus besteht. Es gibt nichts im alltäglichen Leben, was nicht auf das Gehirn einen Eindruck machte. Geradeso wie jeder Schritt einen Ein­druck in die Erde macht, und wie Sie nachweisen können, daß jeder Ihrer Schritte einen Eindruck erzeugt hat, so können Sie nachweisen, daß das, was da gewollt und gedacht wird, einen Eindruck, eine Wirkung auf das Gehirn ausübt. Aber das ist nur die Spur davon, das ist nur das, was zurückgelassen ist von dem Denken. Das Denken geht nämlich im Ätherleibe vor sich, und in Wahrheit ist alles das, was Sie als Denken empfinden, nichts als innere Tätigkeit des Ätherleibes. Solange wir im physischen Leibe sind, brauchen wir den physischen Leib für das Denken. Auch das ist sehr leicht einzusehen, warum der Materialist auf die Wahrheit nicht kommt. Der Materialist sagt: Um Gottes willen, da siehst du ja doch, daß du ein Gehirn haben mußt, sonst kannst du ja nicht denken! Also siehst du auch, daß dein Gehirn eigentlich das Denken macht. - Dieser Schluß ist gerade so gescheit, wie wenn einer sagte: Ich kann dir beweisen, daß diese Spur da auf dem Wege von dem Boden selber gemacht worden ist. Ich werde ein Stück von dem Boden wegräumen, und du wirst sehen, daß du ohne ihn nicht gehen kannst. -Der Boden ist notwendig; so ist es auch notwendig, daß wir ein Gehirn haben, damit wir im physischen Leibe denken können.

Es ist notwendig, daß man sich diese Dinge klarmacht, denn man lernt da erst erkennen, unter welchen ungeheuren Irrtümern das Denken der Gegenwart leidet, mit welcher Summe von Irrtümern sich dieses Denken der Gegenwart selber narrt, und wie eine Gesundung stattfinden muß durch jenes schwierigere Wissen, welches nicht etwa keine Rücksicht nimmt auf den physischen Leib: wenn wir mit dem physischen Leibe gehen, müssen wir den Boden unter unseren Füßen haben; wenn wir in der physischen Welt denken, so müssen wir eine Widerlage als Boden für

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das Denken haben: das Nervensystem. Wenn wir aber unsere Denkar­beit zurückverlegen in unseren astralischen Leib, dann wird für uns der Ätherleib dasselbe, was dann, wenn wir im Ätherleibe denken, der physische Leib ist.

Schreiten wir zum imaginativen Denken fort, dann denken wir im astralischen Leibe, und der ätherische Leib behält dann die Spuren, wie sonst, wenn im Ätherleibe gedacht wird, der physische Leib die Spuren behält. Und wenn wir nach dem Tode außerhalb des physischen Leibes sind und auch den Ätherleib abgelegt haben, wie das oftmals beschrieben worden ist, dann ist unsere Widerlage der äußere Lebensäther, dann schreiben wir dasjenige, was der Astralleib und später das Ich entwickelt, in den ganzen Weltenäther ein.

So also ist der Vorgang, den wir durchmachen bei dem, was man die erste Stufe der Initiation nennt. Dieser Vorgang ist der, daß wir unser Denken zurückverlegen - es bleibt nicht Denken, es ist nur die Tätigkeit des Denkens -, daß wir unser Denken zurückverlegen vom Ätherleib in den Astralleib, und die Aufbewahrung der Spuren, die früher dem physischen Leibe obgelegen hat, dem flüchtigeren Ätherleibe auferlegen. Das ist das Wesentliche des ersten Schrittes der Initiation: die Zurück-verlegung dieser Tätigkeit, die vorher der Ätherleib ausgeführt hat, auf den astralischen Leib.

So sehen wir, daß wir, während wir in imaginativen Erkenntnissen leben, uns gewissermaßen zurückziehen von dem physischen Leibe auf den Ätherleib, und dann keine weiteren Spuren in den physischen Leib eingraben. Dadurch geschieht es, daß für den, der diese ersten Schritte der Initiation durchmacht, dieser physische Leib, von dem er sich zurückzieht, objektiv wird, daß er ihn jetzt außerhalb seines astralischen Leibes und Ichs hat. Früher hat er darinnen gesteckt; jetzt ist er außerhalb. Er denkt, fühlt und will im astralischen Leibe. Den Ätherleib beeinflußt er, macht Spuren darin; aber den physischen Leib beeinflußt er nicht mehr, den sieht er jetzt wie etwas Äußeres.

Das ist gewissermaßen der normale Gang in bezug auf die ersten Schritte in der Initiation. Er spricht sich im subjektiven Erleben in einer ganz bestimmten Weise aus.

Nun will ich Ihnen zuerst durch eine Art schematischer Zeichnung

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# Bild s. 243

klarmachen, worin diese ersten Schritte der Initiation bestehen. Nehmen wir an, das sei das menschliche physische Haupt, so sei der Ätherleib um dieses menschliche physische Haupt herum. Wenn nun der Mensch anfängt, dasjenige zu entwickeln, wovon ich gesprochen habe, wenn er anfängt, imaginative Erkenntnisse zu entwickeln, dann vergrößert sich der Ätherleib in dieser Weise, und das Eigenartige ist dabei, daß natür­lich dem parallel gehen die Erscheinungen, die wir beschrieben haben als die Ausbildung der Lotusblumen. Der Mensch wächst gleichsam äthe­risch aus sich heraus, und das Eigentümliche ist, daß der Mensch, indem er ätherisch also aus sich herauswächst, außerhalb seines Leibes etwas ähnliches entwickelt, möchte ich sagen, wie eine Art Ätherherz.

Als physische Menschen haben wir unser physisches Herz, und wir wissen alle zu schätzen den Unterschied zwischen einem trockenen, abstrakten Menschen, der wie eine richtige Maschine seine Gedanken entwickelt, und einem Menschen, der mit seinem Herzen bei alledem ist, was er erlebt; ich meine, mit seinem physischen Herzen dabei ist. Diesen Unterschied wissen wir alle zu schätzen. Dem trockenen Schleicher, der mit seinem Herzen nicht ist bei dem, was er in der Seele erlebt, muten wir nicht viel zu in bezug auf wirkliche Welterkenntnis auf dem physi­schen Plan. Eine Art geistiges Herz, das außerhalb unseres physischen Leibes ist, bildet sich aus, parallel all den Erscheinungen, die ich beschrieben habe in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Wel­ten?», so wie sich das Blutnetz bildet und im Herzen sein Zentrum hat.

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Dieses Netz geht außerhalb des Leibes, und wir fühlen uns außerhalb des Leibes dann herzlich verbunden mit demjenigen, was wir geisteswis­senschaftlich erkennen. Nur muß man nicht verlangen, daß der Mensch sozusagen mit dem Herzen, das er im Leibe hat, bei dem geisteswissen­schaftlichen Erkennen dabei ist, sondern mit dem Herzen, das ihm außerhalb des Leibes wird; mit dem ist er herzlich bei dem, was er geisteswissenschaftlich erkennt.

Man kann gewiß auch sagen, wenn man so dasjenige durchliest, was auf dem Gebiete der Geisteswissenschaft geschrieben ist: Das ist wie­derum nun wissenschaftlich trocken, das ist Wissenschaft. Da muß man ja wieder lernen! Man muß schon sowieso genug im Leben lernen und nun soll man noch das, was die Geisteswissenschaft sagt, lernen! Da ist ja kein Herz darinnen. - Man wird das Herz schon darinnen entdecken, wenn man nur genügend tief hineingeht in die Dinge.

Gewiß, viele Leute sagen: Ach, die Theosophie muß darinnen beste­hen, daß der Mensch vor allen Dingen in seinem Ich eins wird mit der ganzen Welt. - Dieses «Einswerden», dieses «Entwickeln des Gottmen­schen im Menschen», diese «Auffindung des göttlichen Ich» und so weiter sind beliebte Phrasen von solchen, die Theosophen sein wollen, ohne die Theosophie zu kennen. Das alles entspringt nur daraus, daß man sich nicht einlassen will auf die Entwickelung von Herzenswärme, auch wenn man nicht mehr unterstützt wird durch die Lebenswärme des physischen Herzens. Geradeso wie Lichtenberg gesagt hat: «Wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen, und es klingt hohl, so muß nicht gerade das Buch daran Schuld sein», könnte man sagen: Wenn ein Mensch mit Geisteswissenschaft zusammenkommt, und er findet darin eben die Herzenswärme nicht, so muß ja nicht die Geisteswissenschaft daran Schuld sein. - Alles das, was ich jetzt als normalen Gang zum Hellsehertum beschrieben habe, besteht darinnen, daß der Mensch seinen Ätherleib, ja selbst auch die höheren Glieder der Organisation, heraushebt aus dem physischen Leibe, daß er sich ein Herz eingliedert außerhalb des Umfangs des physischen Leibes.

Worauf beruhen denn die gewöhnlichen Gedanken? Sehen Sie, solch ein Gedanke wird wirklich im Ätherleibe nur entwickelt; aber nun stößt er an den physischen Leib an, er macht überall im Gehirn darinnen

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Eindrücke. Wenn man das Wesentliche, worauf es ankommt bei dem Denken des Alltags, sich vor die Seele führt, so kann man sagen: Es beruht darauf, daß man denkt im Ätherleibe, und daß das Gedachte auf das Nervensystem des Gehirns fällt; es macht da Eindrücke, aber diese Eindrücke gehen nicht tief, sondern sie prallen zurück. Und dadurch spiegelt sich das Denken, dadurch kommt es uns zum Bewußtsein. Also ein Gedanke besteht zunächst darinnen, daß wir ihn in der Seele haben bis zum Ätherleibe hin; dann macht er einen Eindruck auf das physische Gehirn, da kann er aber nicht hinein und muß daher zurück. Diese zurückgeprallten Gedanken nehmen wir wahr. Und da kommt die Physiologie her und zeigt die Spuren, die im physischen Gehirn darin­nen entstanden sind.

Was wäre es denn nun, wenn der Gedanke nicht zurückprallte, sondern wenn er ins Gehirn hineinginge und darinnen bloß Prozesse verursachen würde? Wenn er nicht zurückprallte, könnten wir ihn nicht wahrnehmen; dann würde er ins Gehirn hineingehen und da einfach Prozesse verursachen. Es wäre denkbar, daß der Gedanke, statt zurück-geworfen zu werden, ins Gehirn hineinginge. Da würden wir kein Bewußtsein haben, denn das Bewußtsein entsteht erst, indem der Gedanke reflektiert wird.

Es gibt aber eine solche Tätigkeit der Seele, die in den Leib hineingeht:

das ist das Wollen. Das Wollen unterscheidet sich dadurch vom Denken, daß das Denken zurückprallt an der Leibesorganisation und im Spiegel-bilde wahrgenommen wird, das Wollen aber nicht. Bei ihm ist es so, daß es in die Leibesorganisation hineingeht, und es wird dann ein physischer Leibesprozeß hervorgerufen. Das bewirkt, daß wir gehen oder die Hände bewegen und so weiter. Das eigentliche Wollen entsteht auf ganz andere Weise als der Gedanke. Der entsteht dadurch, daß er zurück­prallt. Das Wollen aber geht in die Leibesorganisation hinein, wird nicht zurückgeworfen, sondern bewirkt in der Leibesorganisation bestimmte Prozesse.

Nun gibt es aber in einem Teile unserer Leibesorganisation doch noch die Möglichkeit, daß so etwas, was da untertaucht, wiederum zurück­prallt. Verfolgen Sie wohl dasjenige, was ich sagen werde. Bei unserem Gehirndenken geht das so vor sich, daß die Gedankentätigkeit sich

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entwickelt in dem ätherischen Gehirn, an dem physischen Nervensystem zurückprallt, und daß uns dadurch die Gedanken zum Bewußtsein kommen. Beim Hellsehen stoßen wir gleichsam das Gehirn zurück. Wir denken mit dem astralischen Leibe, und es wird uns schon das Denken zurückgeworfen durch den Ätherleib.

Hier (siehe Zeichnung I) ist Außenwelt, hier der physische Leib (beim Gehirndenken); hier beim Hellsehen die Außenwelt, dasjenige was wir verarbeiten mit dem astralischen Leibe (siehe Zeichnung II); den Äther-leib lassen wir das zurückwerfen, und den physischen Leib lassen wir ganz ausgeschaltet.

# Bild s. 246

Hier (siehe Zeichnung I), wenn wir wollen, taucht aber die Tätigkeit der Seele in den physischen Leib hinein. Daher, wenn wir gehen, die Hand bewegen, ist es die Seele, die das tut. Aber ihre Tätigkeit muß innere, organische, materielle Prozesse bewirken, und in denen lebt sich die Tätigkeit der Seele aus. Ich möchte sagen: der Wille besteht darinnen, daß die Tätigkeit der Seele erstirbt in der materiellen Betätigung im Leibe.

Fragen Sie sich jetzt: Wie leben wir eigentlich, wenn wir in unserem Denken leben? Ich möchte sagen, in unserem Denken leben wir hart an

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der Grenze der Ewigkeit. In dem Augenblicke, wo wir den physischen Leib ausschalten und von dem Ätherleibe unsere Gedanken zurück­strahlen lassen, leben wir in dem, was wir durch die Pforte des Todes tragen. Solange wir von dem physischen Leibe die Gedanken zurückstrahlen lassen, leben wir in dem, was zwischen der Geburt und dem Tode da ist. Wenn wir aber wollen, so gehört unser Wollen lediglich unserem physischen Leibe an. Unser physischer Leib ist da, damit er Tätigkeit entwickle. Während das Denken sozusagen schon an der Pforte der Ewigkeit steht, ist das Wollen für den physischen Leib gestiftet.

Erinnern Sie sich, daß ich in einem der Vorträge gesagt habe: Das Wollen ist das Baby, und wenn es älter wird, dann wird es zum Denken. Das stimmt überein mit dem, was wir heute von einem anderen Gesichtspunkte aus entwickeln können. Das Wollen ist in die Zeitlich­keit hineingebannt, und nur dadurch, daß der Mensch sich entwickelt, daß er immer weiser und weiser wird, immer mehr mit Gedanken sein Wollen durchdringt, erhebt er das, was geboren wird im Wollen, aus der Zeitlichkeit in die Sphäre der Ewigkeit hinauf, erlöst er sein Wollen aus seinem Leibe.

Aber in einem Teile seines Leibes ist etwas eingeschaltet: das unterge­ordnete Nervensystem, das Gangliensystem, das Bauchnervensystem; das Sonnengeflecht wird oftmals auch ein Teil desselben genannt. Dieses Nervensystem ist so, wie es sich jetzt im Menschen entwickelt, ein unvollkommenes Organ; es ist erst in den allerersten Anlagen vorhan­den. Später wird es sich weiter ausbilden. Aber geradeso wie man von einem Kinde weiß, daß es noch die Eigenschaften entwickeln kann, die man als Erwachsener entwickelt, so kann man wissen, daß dieses Ner­vensystem, das heute dazu dient, organische Tätigkeiten zu versorgen, sich noch entwickeln wird. Dieses Nervensystem, das neben dem eigent­lichen Gehirn und Rückenmarksystem und neben den in den Gliedma­ßen verzweigten Nerven hergeht, dieses Bauchnervensystem ist heute noch nicht so entwickelt, daß es dasjenige tun könnte, was es tun wird, wenn der Mensch einmal auf dem Jupiter sein wird. Da wird das Gehirn und das Rückenmark zurückgebildet sein, und das Bauchnervensystem wird eine ganz andere Ausbildung haben, als es heute hat. Dann wird es

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an der Oberfläche des Menschen gelagert sein. Denn alles das, was zuerst darinnen ist in dem Menschen, lagert sich später an der Oberfläche des Menschen ab.

Dafür aber benützen wir auch für das gewöhnliche Leben zwischen Geburt und Tod dieses Nervensystem nicht direkt, wir lassen es im Unterbewußten liegen. Aber es kann eintreten durch abnorme Verhält­nisse, daß dasjenige, was im menschlichen Willen und Begehrungsver-mögen liegt, hineingeht in den menschlichen Organismus, und daß es durch abnorme Verhältnisse, über die wir noch sprechen werden, zurückgeworfen wird vom Bauchnervensystem, so wie sonst der Gedanke vom Gehirn zurückgeworfen wird. Der Wille geht hinein ins Gangliensystem, aber, statt daß er Tätigkeit wird, wird er zurückgewor­fen von dem Gangliensystem, und es entsteht im Menschen etwas, was sonst im Gehirn entsteht. Es entsteht ein Prozeß im Menschen, den man auch so charakterisieren kann: Wenn Sie den Übergang vom gewöhnli­chen Wachzustande zum Hellsehen ins Auge fassen, so können Sie sehen, wie in uns im gewöhnlichen Nervensystem unser Denken, Fühlen und Wollen sich spiegeln - Fühlen und Wollen insofern sie Gedanken sind -, dasjenige aber, was Wollen ist, lassen wir untertauchen in die Organisation.

Im Hellsehen bilden wir uns - außerhalb des Leibesraumes sozu­sagen - damit aber auch ein gegenüber dem Gehirn höheres Organ. Wie unser gewöhnliches Gehirn mit unserem physischen Herzen zusammen­hängt, so hängt dasjenige, was draußen, im Astralleibe, als Gedanke sich entwickelt, mit diesem Ätherherzen zusammen. Das ist höheres Hell-sehen: Kopfhells ehen.

Aber es kann der Mensch auch den umgekehrten Weg machen. Er kann mit dem, was in dem «Baby» Wollen steckt, in die Organisation so hineingehen, daß das Wollen zu einem Denken wird, während er sonst das Denken zum Wollen gemacht hat. Das ist die tiefere Begründung von dem, was ich vor einiger Zeit hier angeführt habe als den Unter­schied zwischen Kopfhellsehen und Bauchhellsehen. Beim Kopfliellse­hen wird ein neues Ätherorgan gebildet, in dem man unabhängig wird von der Leibesorganisation. Beim Bauchhellsehen appelliert man an das Gangliensystem, appelliert man an dasjenige, was sonst unberücksichtigt

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bleibt. Daher sind die Ergebnisse des Bauchhellsehens flüchtiger als die gewöhnlichen Wacherlebnisse, sie haben keine Bedeutung für die Seelen, wenn diese durch die Pforte des Todes gehen. Alles was durch Kopfliell­sehen gewonnen ist, hat eine geistige, dauernde Bedeutung auch für die Seelen, welche durch die Pforte des Todes gegangen sind, hat mehr Bedeutung als das wache Tageserleben. Das, was durch Bauchhellsehen gewonnen wird, hat sogar eine noch geringere Bedeutung für das Leben nach dem Tode als das alltägliche wache Wissen. Jedes somnambule Hellsehen steht unter dem wachen Tagesbewußtsein, nicht darüber.

Dagegen spricht gar nicht, daß allerlei poetische und sonstige Eigen­schaften entwickelt werden können durch das Bauchhellsehen; weil in dem Augenblicke, wo dieses Bauchhellsehen eintritt, es wirklich die Ganglien sind, welche stets das Wollen in den physischen Leib hineinge­ben. Dadurch wird in den Ganglien die Tätigkeit des Ätherleibes zurückgehalten und strahlt zurück, und dadurch nimmt man dann wahr dasjenige, was man nicht durch das Gehirn wahrnehmen kann. Man kann dadurch Gedanken wahrnehmen, die man sonst durch das Gehirn nicht wahrnimmt; aber es bleibt doch eine untergeordnete Tätigkeit.

Sie sehen, daß man scharf unterscheiden kann zwischen dem, was man als Kopf- und was man als Bauchhellsehen bezeichnet. Nun können Sie fragen: Wie unterscheide ich, ob ich Kopfliellsehen oder Bauchheilsehen entwickele? - Man kann nur sagen: Kopfhellsehen wird sich immer dann bilden, wenn man in unserem Menschheits-Zeitenzyklus dieses HeIlse­hen wirklich sucht auf dem Wege, wie er angegeben wird, durch Meditation und Konzentration, und wenn man alles ausbildet, was sich auf dem Wege der Meditation und Konzentration ergibt. Das Bauchhell­sehen ist etwas, was sich nicht auf dem Wege der Meditation und der Konzentration ergibt. Das Bauchhellsehen beruht darauf, daß das Gan­gliensystem empfunden wird, und das kann durch die verschiedensten ab­normen Verhältnisse des Lebens geschehen. Es ist bequemer, Bauchhell­seher zu sein, weil es in gewissem Sinne von selbst kommt, während das Kopfhellsehen im strengsten Sinne des Wortes erworben werden muß.

Darum ist es das beste, sich nicht zu sagen, wenn ein Hellsehen von selbst auftritt, man sei ein gottbegnadeter Mensch, dem etwas gegeben wird, was er nicht erworben hat; denn da ist es das beste, mißtrauisch zu

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sein. Man kann an einzelnen Beispielen zeigen, wie Bauchheilsehen entstehen kann. Kopfliellsehen wird auf keine andere Weise entstehen, als indem man fleißig und regelmäßig durch Meditation und Konzentra­tion sich auf gewisse Stufen der Initiationsentwickelung bringt. Bezüg­lich des Bauchhellsehens will ich, weil es in einem etwas anderen Sinne als dies vorhin der Fall war, nicht ungefährlich ist, von diesen Dingen zu sprechen, einen der harmlosesten Fälle anführen, wodurch einer Bauch-hellseher werden kann.

Nehmen wir an, ein Mensch wächst unter solchen Bedingungen auf, daß sich in seiner Seele früh die Begierde entwickelt, sagen wir, im äußeren physischen Leben ein möglichst «hohes Tier» zu werden, wie Geheimrat, Hofrat, Staatsrat, wo es solche gibt. Nehmen wir also an, es wächst früh die Begierde: man will so ein Geheimer Hofrat oder Regierungsrat und so weiter werden. Daß man so etwas werden will, heißt: ehrgeizig sein. Dieser Ehrgeiz lebt in der Begierdennatur, kann brennen, furchtbar, in der Begierdennatur. Der Mensch macht sich nicht klar: Du willst Geheimer Hofrat werden; aber es brennt ihn seine Begierde, und er geht mit dieser brennenden Begierde durch die Welt und wächst heran mit seiner Begierde. Daher geschieht es, daß seine Begierde nicht immer regulär hineingeht in die physische Organisation. Etwas stört. Wenn einer Geheimer Hofrat wird, so wird er kein Bauch-hellseher. Wenn er aber Geheimer Hofrat werden will und es nicht wird und mit dem brennenden Ehrgeize durch die Welt geht, der an ihm frißt und frißt, dann kann er es werden. Diese Begierde muß aber sehr stark sein. Da unter uns niemand ist, der Geheimer Hofrat werden will, so kann ich das alles wohl sagen. Wenn diese Begierde frißt und frißt, dann bleibt sie stecken im Organismus, und dann gewöhnt sich das Ganglien­system daran, zurückzuwerfen die Begierde, und es ist möglich, mit den zurückgespiegelten Begierden so Hellseher zu werden. Dadurch ist es dann möglich, daß, wenn er zum Beispiel wohnt in Berlin in Schön­hauserallee 25, und ein anderer, der in Schönhauserallee 23 wohnt, Hofrat wird, er dieses Ereignis gerade durch das besonders ausgebildete Hellsehen wahrnimmt. Das rührt davon her, daß sein Gangliensystem besonders empfänglich gemacht worden ist durch die ihm innewoh­nende Begierde, Geheimer Hofrat zu werden. Und wenn ein anderer

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etwas anderes wird, was auch ungefähr in dieser Richtung liegt, so wird er gerade für solche Dinge ein feines, intensives Hellsehen entwickeln können.

Ein solches Helisehen entwickelt sich gewöhnlich auf einem bestimm­ten Gebiete. Da Sie wissen, daß es auch andere Begierden im Leben gibt, als die von mir harmlos gewählten, so werden Sie sehen, durch welche Begierden die verschiedenen Formen und Gebiete dieses Hellsehens geweckt werden können. Denn sie strömen im Organismus, diese Begierden, weil sie unbefriedigt bleiben im physischen Leben, während sie doch da sind. Sie werden also sehen, durch welche Begierden Bauchhellsehen gezüchtet werden kann; es wird immer durch Begierde gezüchtet, man sieht es nur nicht immer ein. In der brennenden Begierde, die zurückgespiegelt wird, spiegeln sich auch die Ereignisse, die dann wahrgenommen werden können im Ätherleibe. Sie haben jetzt einen genaueren Blick tun können in den tieferen Zusammenhang des Kopf- und des Bauchhellsehens. Wir brauchen diese Dinge, weil sie zusammenhängen mit dem, was ich morgen entwickeln werde.

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DREIZEHNTER VORTRAG Dornach, 2. Mai 1915

Ich habe gestern aufmerksam gemacht auf die Art und Weise, wie der Mensch auf der einen Seite mit den höheren Gliedern seiner Wesenheit, mit dem ätherischen Leibe, mit dem astralischen Leibe und dem Ich seinen physischen Leib verlassen kann, und wie er dann, wenn er seinen physischen Leib verläßt, die ersten Schritte in der Initiation macht und darauf kommt, daß dasjenige, was wir geistige Tätigkeit des Menschen nennen, nicht etwa erst da ist, wenn der Mensch in die Initiation eintritt, sondern im Grunde genommen im alltäglichen Leben schon immer vorhanden ist.

Wir haben besonders betonen müssen, daß die Tätigkeit, die uns durch die Gedanken zum Bewußtsein kommt, eigentlich verläuft im ätherischen Leibe des Menschen, und daß diese im ätherischen Leib verlaufende Tätigkeit, also die Tätigkeit, die dem Gedankenbilde zugrunde liegt, uns zum Bewußtsein kommt durch ihre Abspiegelung im physischen Leibe. Aber verrichtet wird sie im Seelisch-Geistigen, so daß der Mensch, wenn er in der physischen Welt darinnen steht und nur denkt - aber wirklich denkt -, eine geistige Tätigkeit verrichtet. Man kann sagen, daß sie ihm nur nicht zum Bewußtsein kommt als geistige Tätigkeit. So wie uns, wenn wir vor einem Spiegel stehen, nicht unser Gesicht, sondern dessen Abbild aus dem Spiegel heraus zum Bewußtsein kommt, so kommt uns im alltäglichen Leben nicht das Denken, sondern dessen Spiegelbild, als Gedankeninhalt, von dem physischen Leibesspie­gel zurückgestrahlt, zum Bewußtsein. Anders ist es beim Willen.

Also bedenken wir wohl: Dasjenige, was sich im Denken ausspricht, ist eine Tätigkeit, die eigentlich gar nicht in unseren physischen Organis­mus hineingeht, die ganz außerhalb unseres physischen Organismus verläuft, die nur zurückgespiegelt wird von unserem physischen Orga­nismus. Bedenken wir, daß wir als Menschen eigentlich immer in unserem geistig-seelischen Wesen sind. Wenn man es schematisch dar­stellen wollte, so könnte man es so darstellen:

Wenn das (a) das leibliche Wesen des Menschen darstellt, so verläuft

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das Denken in Wahrheit außerhalb des leiblichen Wesens des Menschen, und das, was wir als Gedanken wahrnehmen, wird zurückgeworfen. Also mit unserem Denken sind wir stets außerhalb unseres physischen Leibes, und da besteht im Grunde genommen die Geisteserkenntnis nur darinnen, daß wir das einsehen: wir sind mit unserem Denken außerhalb unseres physischen Leibes.

# Bild s. 253

Anders ist es mit dem, was wir als die Willenstätigkeit bezeichnen. Die geht wirklich in den physischen Leib (a) hinein. Das, was wir als

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Willenstätigkeit bezeichnen, geht überall in unseren physischen Leib hinein und bewirkt darinnen Prozesse, Vorgänge. Und die Wirkung dieser Vorgänge ist dasjenige, was als Bewegung durch den Willen beim Menschen zustande gebracht wird.

Wir können also sagen: indem wir als Mensch in der physischen Welt darinnenstehen, strahlt die Grundkraft des Willens aus der Geistigkeit in unseren Organismus hinein und verrichtet gewisse Tätigkeiten in dem Organismus, der innerhalb der Haut beschlossen ist. Wir sind also in der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode von den Willenskräften durchdrungen, während der Gedankeninhalt nicht innerhalb unseres Organismus vor sich geht, sondern außerhalb des Organismus. Daraus können Sie den Schluß ziehen, daß alles, was den Willen betrifft, innig zusammenhängt mit dem, was der Mensch in seiner physischen Existenz zwischen der Geburt und dem Tode durch seine Leibesorganisation ist. Der Wille hängt wirklich innig mit uns zusammen, und alle Äußerungen des Willens sind eng mit unserer Organisation, mit unserem physischen Menschenwesen, solange wir zwischen der Geburt und dem Tode stehen, verbunden. Davon rührt es her, daß das Denken wirklich einen gewissen Charakter des Losgelöstseins vom Menschen hat, einen gewis­sen selbständigen Charakter gegenüber dem Menschen, den der Wille niemals haben kann.

Versuchen Sie einmal gründlich nachzudenken über den großen Unterschied, der besteht im menschlichen Leben zwischen dem Denken und dem, was zum Willen gehört. Gerade die Geisteswissenschaft ist geeignet, von einem solchen Gesichtspunkte aus die allerintensivsten Streiflichter auf gewisse Rätselfragen des Lebens zu werfen. Sehen wir nicht alle, daß das, was wir so durch die Geisteswissenschaft erkennen können, im Grunde genommen im Leben vor uns steht wie Fragefor­men, die wir uns doch beantworten müssen?

Denken Sie einmal: es kommt doch vor, daß irgend jemand zu einem Rechtsanwalt geht mit irgendeiner Sache. Der Rechtsanwalt läßt sich die Sache erzählen, und er macht den Prozeß für den betreffenden Klienten. Der Rechtsanwalt wird alle möglichen scharfsinnigen Gründe hervorsu­chen, wird so scharfsinnig sein, als er nur sein kann, um den Prozeß für den betreffenden Klienten zu gewinnen; er wird alles dasjenige, was er

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an Verstand und Vernunft hat, zusammennehmen, um den Prozeß zu gewinnen.

Was würde geschehen sein - glauben Sie, das Leben wird Ihnen gewiß darüber Aufschluß geben -, wenn es dem Gegner gelungen wäre, ich möchte sagen, dem anderen den Rang abzulaufen, wenn der Gegner ein paar Stunden früher zu demselben Rechtsanwalt gekommen wäre? Es geschieht das, was ich hypothetisch da annehme, sehr oft. Der Rechtsan­walt würde sich den Fall des Gegners haben erzählen lassen und würde mit dem Scharfsinne, der ihm zur Verfügung steht, alle Gründe zur Verteidigung eben dieses anderen Klienten vorbringen, Gründe, die geeignet sind, den ersteren hineinzulegen, wie man sagen kann. Ich glaube nicht, daß jemand geneigt ist, in Abrede zu stellen, daß eine solche Hypothese Wirklichkeit sein könnte. Aber was beweist uns diese Annahme?

Sie beweist uns, wie wenig im Grunde genommen der Mensch zusam­menhängt mit dem, was sein Verstand und seine Vernunft ist, mit dem, was seine Denkkraft ist, da er sie in dem gleichen Falle sowohl in den Dienst des einen, als auch in den Dienst des anderen stellen kann. Vergleichen Sie, wie das anders ist bei alledem, wo die Willensnatur des Menschen in Betracht kommt, wo der Mensch mit seinen Gefühlen und Begierden engagiert ist bei einer Sache. Versuchen Sie sich klarzuma­chen, ob einem Menschen, der aus der Willensnatur heraus für eine Sache eintritt, das gleiche möglich wäre, wenn er in derselben Weise verführe. Wir würden im Gegenteil ihn geistig für nicht ganz gesund halten, wenn es so wäre. Mit dem Willen ist der Mensch intim verbun­den, ganz intim verbunden, weil das Wollen hereinstrahlt in den physi­schen Organismus und unmittelbar zur Persönlichkeit gehörende Pro­zesse auslöst im menschlichen physischen Organismus.

Also wir können sagen: gerade in diese Tatsachen des Lebens, die so rätselvoll vor unserer Seele stehen müssen, wenn wir über das Leben überhaupt nur nachdenken, leuchtet hinein, was wir durch die Geistes­wissenschaft gewinnen können. Immer tiefer und tiefer wird die Geistes­wissenschaft die Menschheit aufklären können über dasjenige, was im alltäglichen Leben geschieht, weil alles, was geschieht, abhängig ist von übersinnlichen Ursachen. Das Alleralltäglichste, was geschieht, ist so

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abhängig vom Übersinnlichen und kann nur erkannt werden, wenn wir zu den übersinnlichen Ursachen aufblicken können.

Nun aber setzen wir einmal den Fall, der Mensch tritt mit seiner Seele durch die Pforte des Todes. Da müssen wir uns fragen: Wie ist es nun mit der Denkkraft, wie mit der Willenskraft? - Nachdem der Tod eingetreten ist, kann die Denkkraft nicht von einem solchen Organismus zurückgespiegelt werden, wie wir ihn sonst an uns tragen zwischen der Geburt und dem Tode. Denn das ist das Bedeutsame dabei, daß dieser Organismus, alles dasjenige, was in uns vorhanden ist als innerhalb der Hautoberfläche liegend, nach dem Tode von uns abgeworfen wird. Also die Denkkraft kann nicht zurückgespiegelt werden von einem Organis­mus, aber auch innerliche Prozesse können nicht ausgelöst werden von einem Organismus, der, wenn man durch die Pforte des Todes getreten ist, nicht mehr da ist. Das aber, was die Denkkraft ist, bleibt vorhanden; geradeso wie der Mensch vorhanden bleibt, wenn er vor dem Spiegel vorübergeht, in der Zeit, wo er sich nicht mehr im Spiegel sehen kann. In der Zeit, wo er vor dem Spiegel vorübergeht, wird ihm sein Antlitz zurückgeworfen; wäre er früher vorübergegangen, so würde ihm sein Spiegelbild früher zurückgeworfen worden sein. Die Denkkraft spiegelt sich so lange, als wir im Leben, im Leben des Organismus stehen; sie ist aber auch dann da, wenn der Mensch den physischen Organismus verlassen hat.

Was tritt nun ein? Dasjenige, was Denkkraft ist, kann nicht in sich selbst wahrgenommen werden. So wenig als das Auge sich selber sehen kann, kann die Denkkraft sich selber wahrnehmen; sie muß von irgend etwas zurückgespiegelt werden. Der Leibesorganismus ist aber nicht mehr da. Wovon wird nun die Denkkraft, respektive dasjenige, was die Denkkraft in sich als Prozeß entwickelt, zurückgeworfen, wenn der Mensch seinen physischen Organismus abgelegt hat? Hier tritt etwas ein, was dem menschlichen physischen Verständnisse nicht ganz nahe liegt, was aber eingesehen werden muß, wenn wir wirklich das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt begreifen wollen. Begreifen kann man das durch die Lehren der Initiation. In der initiierten Erkennt­nis ist es wahrend des Leibeslebens schon so, daß der Mensch nicht in der Spiegelung seines Leibes erkennt, sondern außerhalb seines Leibes,

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daß er aus dem Leibe herausgeht und ohne den Leib erkennt, daß er also seinen Leibesspiegel ausschaltet. Da sieht derjenige, der solche Erkennt­nisse in sich ausbildet, wie das, was Denkkraft ist, nunmehr außerhalb des Leibes zum Bewußtsein kommt. Es kommt dadurch zum Bewußt­sein, daß die Spiegelung des Späteren bewirkt wird durch das Frühere.

Also merken Sie wohl: wenn derjenige, der initiiert ist, seinen Leib verläßt und außerhalb seines Leibes ist, dann nimmt er nicht dadurch wahr, daß ihm sein Leib etwas spiegelt, sondern er nimmt wahr dadurch, daß sich seine Denkkraft, die er jetzt aussendet, spiegelt an demjenigen, was er früher gedacht hat. Sie müssen sich also vorstellen: dasjenige, was früher gedacht worden ist, das spiegelt wieder zurück die durch das Denken entfalteten Kräfte, wenn diese Entfaltung außerhalb des Leibes geschieht.

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Also, ich kann es vielleicht noch genauer sagen: Nehmen wir an, irgend jemand tritt heute in den Zustand der Initiation. Wodurch kann er in diesem Zustande der Initiation durch seine Denkkraft etwas wahrnehmen? Dadurch, daß er mit seinen Denkkräften, die er aussendet, auftrifft auf das, was er zum Beispiel gestern gedacht hat. Das, was er gestern gedacht hat, bleibt in der allgemeinen Weltenchronik, die Sie kennen als die Akasha-Chronik, eingeschrieben, und das, was heute seine Denkkraft entwickelt, spiegelt sich in dem gestern Gedachten.

Daraus können Sie ersehen, daß das Bestreben eine Berechtigung haben muß, so stark wie möglich das gestern Gedachte zu machen, damit es wirklich richtig spiegeln kann. Und dieses wird bewirkt durch die

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strenge Konzentration der Gedanken und durch Meditationen verschie­dener Art, wie wir sie gelegentlich solcher Vorträge, die über die Erkenntnis höherer Welten gehalten worden sind, beschrieben haben. Da wird gleichsam der Gedanke, der sonst flüchtig bleibt, in dem Menschen so verdichtet, so verstärkt, daß der Mensch dann dazu kom­men kann, daß sich die Denkkraft spiegelt an den vorher verstärkt gemachten, verdichteten Gedanken.

Und so ist es auch beschaffen mit dem Bewußtsein, das die Menschen entwickeln nach dem Tode. Dasjenige, was der Mensch durchlebt hat zwischen der Geburt und dem Tode, das ist wohl eingeschrieben in die große Chronik der Zeit in geistiger Weise. Und so wie wir nicht hören können ohne Ohren hier in der physischen Welt, so können wir nicht wahrnehmen nach dem Tode, ohne daß da ist, in der Welt eingeschrie­ben, unser Leben mit alledem, was wir durchlebt haben zwischen der Geburt und dem Tode. Das ist der Spiegelungsapparat.

Ich habe schon einmal, in meinem letzten Wiener Zyklus, auf diese Tatsache aufmerksam gemacht. Unser Leben selber, das wir hier so führen zwischen der Geburt und dem Tode, wird zum Sinnesorgan für die höheren Welten. Sie sehen Ihr Auge nicht, Sie hören Ihr Ohr nicht, Sie sehen aber durch Ihr Auge und Sie hören durch Ihr Ohr. Wenn Sie von dem Auge etwas wahrnehmen wollen, so müssen Sie dies auf dem Wege der äußeren Wissenschaft tun. So ist es auch mit dem Ohr. Diejenigen Kräfte, die der Mensch entwickelt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, sind dazu veranlagt, immerdar zurückzustrahlen zu dem Erdenleben, das wir verlebt haben, durch dieses gespiegelt zu werden, um dann sich auszubreiten und wieder wahrgenommen zu werden von dem Menschen, der in dem Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt ist.

Daraus ersehen Sie, wie unsinnig es ist, von dem irdischen Leben nur so zu sprechen, als ob dieses irdische Leben eine Strafe oder irgend sonst etwas Überflüssiges in bezug auf das gesamte Leben des Menschen ist. Es ist durchaus notwendig, um wahrzunehmen, sozusagen Auge und Ohr zu haben zwischen Tod und neuer Geburt. In dieses irdische Leben muß sich der Mensch einfügen, weil es ihm zum Sinnesorgan wird in der geistigen Welt im Leben nach dem Tode.

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Die Schwierigkeit des Vorstellens besteht nun darin, daß wenn Sie sich ein Sinnesorgan denken, Sie sich etwas Räumliches vorstellen. Der Raum hört aber auf, sobald man durch die Pforte des Todes oder durch die Initiation geht. Der Raum hat nur Bedeutung für die sinnliche Welt. Dasjenige, was wir betreten, ist die Zeit, und so wie wir hier Raumes-ohren und Raumesaugen gebrauchen, so gebrauchen wir dort zeitliche Vorgänge. Das sind eben die Vorgänge, die sich zwischen der Geburt und dem Tode vollziehen, durch die zurückgestrahlt werden diejenigen, die wir nach dem Tode entwickeln. In dem Leben zwischen Geburt und Tod liegt alles vor uns wahrnehmbar im Raume. Nach dem Tode verläuft alles in der Zeit, während sonst alles für uns wahrnehmbar im Raume lebt.

Die besondere Schwierigkeit über die Dinge der Geisteswissenschaft zu sprechen, liegt darin, daß wir uns, sobald wir den Blick hinaufwenden in die geistigen Welten, wirklich die ganze Anschauung abgewöhnen müssen, die wir hier entwickeln für das Raumesdasein; daß wir uns ganz abgewöhnen müssen die Raumesanschauung und wissen müssen, daß es Raum da nicht gibt, daß alles in der Zeit verläuft, und daß sogar die Organe da zeitliche Vorgänge sind. Man muß nicht nur umlernen, wenn man sich hineinfinden will in die Ereignisse des geistigen Lebens, sondern man muß auch in der Weise sich ganz umwandeln, ummodellie-ren, umlebendigen, daß man sich eine ganz andere Vorstellungsart aneignet. Und darinnen besteht das Schwierige, auf das gestern hinge­wiesen worden ist und das viele so sehr scheuen, selbst wenn sie eine noch so scharfsinnige Philosophie für den physischen Plan betreiben. Die Leute hängen eben an der Raumesvorstellung und können sich nicht hineinfinden, in bezug auf die Vorstellungen, in ein Leben, das lediglich in der Zeit verläuft.

Ich weiß wohl, daß manche Seele da sein kann, die sich sagt: Aber ich kann mir gar nicht vorstellen, wenn ich mich in die geistige Welt hineinversetze, daß diese geistige Welt nicht räumlich ausgedehnt sein soll. - Gewiß, aber viel mehr als irgend etwas anderes ist notwendig, daß wir uns bemühen, gerade über die Vorstellungsarten des physischen Planes hinauszukommen, wenn wir in die geistige Welt hinein wollen. Wenn wir immer wieder und wieder alle höheren Welten nur nach dem

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Maßstabe, Musterbilde der physisch-räumlichen Welt vorstellen wollen, dann können wir wirkliche Gedanken über die höheren Welten doch nicht gewinnen, sondern höchstens bildhafte Gedanken.

So ist es mit Bezug auf das Denken. Das Denken also verläuft nach dem Tode so, daß es sich spiegelt an demjenigen, was wir durchlebt haben, an dem, was wir waren im physischen Erdenleben zwischen der Geburt und dem Tode. Diese Vorgänge, die wir da durchlebt haben, sind gewissermaßen unsere Augen und unsere Ohren nach dem Tode. Versu­chen Sie durch Meditationen sich nahezubringen, was der bedeutungs­volle Satz eigentlich enthält: Dein Leben zwischen der Geburt und dem Tode wird dir als Auge und Ohr eingesetzt sein, es wird dir diejenigen Organe geben, die du tragen wirst zwischen dem Tode und einer neuen Geburt.

Wie ist es nun aber mit dem, was Willenskräfte sind? Die Willens-kräfte, sie bewirken ja Lebensvorgänge in uns, die innerhalb der Gren­zen unseres Leibes liegen. Lebensvorgänge bewirken sie in uns. Der Leib ist nicht da, wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geschritten ist, aber die ganze geistige Umwelt ist da. So wahr der Wille mit seinen Kräften in den physischen Organismus hineinwirkt, so wahr will dieser Wille nach dem Tode überall aus dem Menschen heraus; er ergießt sich in die ganze Umwelt, umgekehrt als im physischen Leben, wo der Wille ja in den Menschen hinein wirkt. Sie bekommen eine Vorstellung von diesem Ergießen des Willens in die ganze Umwelt, wenn Sie darüber nachdenken, was Sie schon durch Meditation sich aneignen müssen an innerer Willenskultur, wenn Sie wirklich vorwärtskommen wollen auf dem Gebiete der geistigen Erkenntnis.

Derjenige Mensch, der sich begnügen will, die Welt bloß sinnlich zu erkennen, der sieht zum Beispiel eine blaue Farbe, sieht irgendwo eine blaue Fläche, oder er sieht irgendwo eine gelbe Fläche. Damit begnügt sich derjenige Mensch, der in der physischen Welt stehenbleiben will. Wir haben auch darüber schon gesprochen, wie wir, selbst bei einer wirklichen Kunstanschauung, über diese bloß sinnliche Auffassung der Sache hinauskommen mussen: wie wir zum Beispiel üben müssen, Blau so zu erleben, als ob unser Wille, unsere Gemütskraft, hineingelassen würde in den Raum, und als ob von uns entgegenstrahlen könnte in den

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Raum dem, was uns als Blau entgegenstrahlt, etwas wie wenn wir ein Hingebungsvolles empfinden, als ob wir uns in den Raum hineinergie­ßen könnten. Da strömt das eigene Wesen hinein, wo Blau ist, da fließt es fort. Da aber, wo Gelb ist, da will das eigene Wesen nicht hinein, das Willenswesen; da wird es zurückgestoßen. Da fühlt es, daß der Wille nicht durch kann und in sich selber zurückgestoßen wird.

Derjenige, der wirklich sich dazu vorbereiten will, die Kräfte seiner Seele zu entwickeln, die ihn in die geistige Welt hineinführen, der muß mit dem, was ich eben gesagt habe, etwas Reales in seinem Seelenleben verbinden können. Er muß zum Beispiel real verbinden die Tatsache, daß er hier eine blaue Fläche sieht damit daß er sagt: Die nimmt mich freundlich auf, die läßt meine Seele mit ihren Kräften in unbestimmte Fernen ziehen. Aber die Fläche hier, die gelbe, stößt mich zurück; da kommen die Kräfte meiner Seele gleichsam als Nadelstiche in meine eigene Seele zurück. - Aber so ist es mit alledem, was man sinnlich wahrnimmt. Alles hat solche Nuancen. Unser seelisches Willenswesen ergießt sich in die Welt, wird entweder zurückgestoßen oder kann sich ergießen über die Welt. Entwickelt kann das werden, indem man an Farben oder sonstigen Eindrücken der physischen Welt seine seelischen Kräfte schult. Wie man das kann, finden Sie geschildert in dem Buche «Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?».

Aber wenn man das entwickelt hat, wenn man weiß, wie es ist, wenn die Kräfte der Seele fortschwingen, blau werden - blau werden und fortschreiten ist ein und dasselbe, ist: sympathisch aufgenommen wer­den; gelb werden ist dasselbe wie zurückgestoßen werden, identisch mit Antipathie -, dann hat man diese Kräfte in sich. Sagen wir, man habe erfahren wie eine solche Seelennuance ist: sympathisch aufgenommen zu werden, und man stellt sich jetzt gar nicht einem physischen Wesen gegenüber, sondern es kann so sein, daß man ein geistiges Wesen, dem wir sympathisch sind, in sich einfließen läßt durch so entwickelte Seelenkräfte. Wir nehmen so die Wesen der oberen Hierarchien und der elementarischen Welt wahr.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben, ein Beispiel, das wirklich nicht anzüglich sein soll, sondern als ganz objektiv gefaßt gelten soll. Man braucht nicht bloß an dem Farbensinn Kräfte entwickeln; man kann an

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allem Seelenkräfte entwickeln. Denken Sie sich, man bemüht sich, in Selbsterkenntnis zu fühlen, wie sich das in der eigenen Seele ausnimmt, wenn man so recht dumm oder töricht ist. Im alltäglichen Leben geht man über solche Empfindungen hinweg, man bringt sie sich nicht zum Bewußtsein. Aber wenn man die Seele entwickeln will, muß man ein Gefühl haben davon, wie es sich innerlich erlebt, wenn man etwas recht Törichtes tut. Und da merkt man, daß, wenn man etwas Törichtes tut, solche Seelen-Willenskräfte ausstrahlen, und die können von etwas draußen zurückgeworfen werden. Aber sie werden so zurückgeworfen, daß, indem wir das Zurückwerfen verspüren, wir uns selbst verspottet, verhöhnt fühlen. Das ist ein eigentümliches Erlebnis. Gibt man acht, wenn man recht dumm ist, was da geistig um einen vorgeht, so fühlt man sich verhöhnt, geneckt; und nun kann man das Gefühl entwickeln, wie wenn man aus der geistigen Welt heraus geneckt würde. Geht man dann in eine Gegend, wo es Naturgeister gibt, die man als Gnomen bezeich­net, dann hat man die Kraft, sie wahrzunehmen. Man erwirbt sich die Kraft, sie wahrzunehmen nur, wenn man das Gefühl in sich entwickelt, das ich eben beschrieben habe. Die Gnomen benehmen sich so, daß sie necken, allerlei Gesten und Grimassen machen, einen auslachen und so weiter. Das kann man aber nur wahrnehmen, wenn man sich beim Dummsein beobachtet. Es handelt sich darum, daß wir durch diese Übungen intime Kräfte uns aneignen, daß wir selber mit dem Willen untertauchen in die Umwelt. Dann wird die ganze Umwelt belebt, wirklich belebt.

So kann man sagen: Während unser Leben zwischen der Geburt und dem Tode Organ, Wahrnehmungsorgan wird in unserem geistigen Organismus, den wir tragen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, wird unser Wille Teilnehmer an der ganzen geistigen Umge­bung, in der wir sind. So sehen wir, wie der Wille zurückstrahlt beim Initiierten, beim Gnomen-Sehen zum Beispiel, und beim Toten. Und wenn man Gnomen sieht, so ist das ein Beispiel dafür aus der elementari­schen Welt.

Denken Sie sich, daß es einen Philosophen gegeben hat, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Eindruck auf viele Menschen gemacht hat: Schopenhauer. Der hat auch, wie Sie wissen,

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einen großen Einfluß auf Nietzsche und Richard Wagner gehabt. Scho­penhauer hat - wie andere die Welt zurückführen auf andere Ursachen -die Welt zurückgeführt auf das, was er Vorstellung und Wille nennt. Er sagte: Vorstellung und Wille sind dasjenige, was der Welt zugrunde liegt.

Nun findet er aber, angefressen von Kantscher Denkweise, daß die Vorstellungen immer ein Traumgebilde bleiben, daß man durch die Vorstellungen niemals in die Wirklichkeit hineindringen kann. Nur durch den Willen kann man in die Wirklichkeit hineindringen, der Wille führt uns in die Realität der Dinge hinein. Nun philosophiert Schopen­hauer in eindrucksvoller Weise über Vorstellung und Wille. Er ist, wenn man so sagen darf, gar nicht einmal auf unebenem Wege. Aber nun ist er auch einer von denen, die ich verglichen habe mit den Leuten, die bis zum Tore gehen, aber am Tore stehenbleiben und nicht hinein wollen. Wenn man ihn nämlich beim Wort nimmt, die Welt sei Vorstellung und die Welt sei bloß Traumbild, dann kann man darauf verzichten, durch die Vorstellung die Welt zu erkennen, und man kann dann dazu überge­hen, die Vorstellungen in sich zu erkennen, mit der Vorstellung etwas zu machen in der eigenen Seele, das heißt: Meditieren, Konzentrieren. Hätte Schopenhauer einen Schritt weiter gemacht, so wäre er darauf gekommen sich zu sagen: Ich muß verzichten auf die Vorstellung! Wenn die Vorstellung nur ein Produkt meines Inneren ist, so muß ich sie innerlich verwenden. - Hätte Schopenhauer diesen Schritt gemacht, dann würde er fortgetrieben worden sein dazu, die Vorstellung zu kultivieren, sie zu Konzentration und Meditation zu verarbeiten.

Und wenn er sagt: Die Welt ist Wille -, ja, wenn er zu beschreiben anfängt, wie er das in der geistvollen Abhandlung über den «Willen in der Natur» tut, wenn er zu beschreiben anfängt den Willen in der Natur, so nimmt er seinen eigenen Satz nicht ernst. Wenn man den Willen beschreibt, dann nimmt man die Vorstellungen zur Hilfe, und denen hat er ja alle Erkenntniskraft abgesprochen. Daraus wird dann wirklich eine Münchhauseniade, die derjenigen gleicht, sich selber am Schopf zu fassen, um sich aus dem Sumpfe herauszuziehen. Was hätte er tun müssen, wenn er seinen eigenen Satz: Die Welt ist Wille - ernst genommen hätte? Er hätte sich dann sagen müssen: Also müßte man den Willen in die Welt hinausergießen. Man muß den Willen gebrauchen, um

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in die Dinge hineinzukriechen. Man muß untertauchen in die Welt, und den Willen hineinsenden in die Welt, so daß man die blaue Farbe nicht als Vorstellung nimmt, sondern versucht zu empfinden, wie der Wille untertaucht in sie; daß man seine Dummheit nicht nimmt als Vorstel­lung, sondern das nimmt, was man im Vorgange der eigenen Dummheit erleben kann.

Sie sehen wiederum: man kann so auf ein geistreiches Aperçu kom­men, auf ein Aperçu, das nur ernst genommen zu werden braucht. Wenn Schopenhauer weitergegangen wäre, dann hätte er sich sagen müssen:

Wenn die Vorstellung wirklich nur das von uns vorgestellte Bild ist, dann muß man sie in sich verarbeiten; wenn der Wille wirklich in den Dingen ist, dann muß man mit dem Willen in die Dinge untertauchen, nicht bloß beschreiben, wie der Wille in den Dingen ist.

Sie sehen wieder ein Beispiel dafür, wie ein bedeutsamer Philosoph des 19. Jahrhunderts die Menschen vor die Pforte der Einweihung, vor die Geisteswissenschaft bringt, und wie dieser Philosoph dann alles tut, um den Menschen dann diese Pforte zu verschließen. Wo man das Leben anfaßt, überall zeigt es sich, daß unsere Zeit reif ist, die Früchte der Geisteswissenschaft zu pflücken. Man muß nur wirklich die Dinge ernst, tief ernst nehmen. Vor allen Dingen muß man verstehen, die Leute beim Wort zu nehmen; denn die Geisteswissenschaft ist gar nicht darauf angewiesen, daß sie selber ihr Recht verteidigt. Das tun eigentlich die anderen, ihre Gegner, am allermeisten. Aber sie wissen es nicht, sie haben keine Ahnung davon.

Nehmen Sie eine gewisse Sorte Menschen, die es im 19. Jahrhundert so vielfach gegeben hat: die atomistischen Materialisten, diejenigen Menschen, die sich vorgestellt haben, allen Erscheinungen des Lebens liegen Bewegungen der Atome zugrunde, so daß sie sich vorgestellt haben, hinter all dieser sichtbaren und hörbaren Welt ist eine Welt der Atome in Bewegung, und durch diese Bewegung entstehen die Prozesse, die wir als den Schein, der da ist, wahrnehmen. Nichts Geistiges ist vorhanden, das Geistige ist bloß ein Produkt der Atombewegung. Atomwirkungen also allüberall.

Ja, wie entstehen denn die Gedanken von den Atomwirbeln? Hat sie jemand gesehen? Hat sie jemand durch seine Erlebnisse, durch seine

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Erfahrungen gefunden? Wäre das der Fall, dann wären sie nicht dasje­nige, was sie sein sollen: sie sollen ja hinter der Erfahrung stehen. Wenn sie eine Realität hätten, durch was müßten sie gefunden werden? Neh­men wir an, die Atombewegungen wären da. Der Verstand kann sie aus den Sinneswahrnehmungen nicht herausschälen. Was müßte der Mensch haben, damit er von dieser Atomwelt reden könnte? Hellsehen müßte er haben. Die ganze Atomwelt müßte ein Produkt des inneren Schauens, der Hellseherkraft sein. Und man kann nur den Leuten, die als Materiali­sten des 19. Jahrhunderts aufgetreten sind, sagen: Wir brauchen nicht zu beweisen, daß es Hellseher gibt, denn entweder müßt ihr von all euren Theorien schweigen oder ihr müßt zugeben, daß ihr Hellseher seid, um diese Dinge wahrzunehmen, wenigstens in dem Grade, daß ihr hinter der Sinnenwelt die Atome wahrnehmen könnt. Denn es hat keinen Sinn, von der materialistischen Atomwelt zu sprechen, wenn es nicht Hellse­herkräfte gibt. Wenn ihr eine Notwendigkeit findet, es müsse eine Atombewegung geben, dann beweist ihr uns, daß es Hellseher gibt.

So nimmt man die Leute ernst, obgleich sie sich selber nicht ernst nehmen, wenn sie so etwas sagen. Wenn man Schopenhauer ernst nimmt, so folgert man: Wenn du sagst, die Welt ist Wille, und das, was wir als Vorstellung haben, sind nur Bilder, so müßtest du in die Welt mit dem Willen hinunterdringen, und durch Meditation und Konzentration in das Denken hinunterdringen. Wir nehmen dich ernst; du nimmst dich aber nicht ernst. - So ist es im Grunde mit all den Dingen, die in dieser Richtung in Betracht kommen.

Darinnen liegt das tief Bedeutsame der geisteswissenschaftlichen Weltanschauung, daß sie dasjenige, was die anderen nicht ernst nehmen, uber das sie oberflächlich hinweggehen, ernst nimmt. Die Beweise sind immer bei dem Gegner der Geisteswissenschaft zu finden. Aber die Menschen merken gar nicht, daß sie mit ihren Behauptungen, mit dem, was sie denken, im Grunde genommen das, was sie denken, zugleich vernichten. Denn der materialistische Atomist und auch Schopenhauer vernichten dasjenige, was sie behaupten, durch ihre eigene Behauptung.

Schopenhauer vernichtet sein eigenes System mit der Behauptung:

Alles ist Wille und Vorstellung. - In dem Augenblicke aber, wo er nicht stehenbleiben will, muß er die Menschen zu der geisteswissenschaftlichen

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Entwickelung führen. Nicht wir machen die geisteswissenschaftli­che Weltanschauung. Wie macht sich in der Welt die geisteswissen­schaftliche Weltanschauung? Sie tritt herein, ist überall in der Welt da. Sie tritt durch unbekannte Pforten und Fenster in das Leben herein, und sie wird, auch wenn die anderen sie nicht ernstlich wahrnehmen, den Weg in das Kulturleben der Menschheit hinein finden.

Aber etwas anderes kann noch erkannt werden, wenn man wirklich durch solche Betrachtungen hingewiesen wird darauf, wie wenig tief die Menschen in ihre eigenen geistigen Prozesse hinuntersteigen, wie wenig die Menschen im tieferen Sinne sich selber ernst nehmen, selbst wenn sie geistvolle, tiefe Philosophen sind. Die Menschen weben gleichsam ein Vorstellungsgewebe; aber sie scheuen davor zurück, mit diesem Vorstel­lungsgewebe wirklich eine innere Lebensarbeit zu vollbringen, die sie weiterführt im Erleben desjenigen, was die Grundkräfte der Welt sind. So sehen wir, daß die Jahrhunderte, auf die gestern wieder hingedeutet worden ist, in denen die äußere Naturwissenschaft ihre großen Trium­phe gefeiert hat, zugleich diejenigen sind, die den Menschen in ein oberflächliches Denken hineingebracht haben. Je glorreicher die Ent­wickelung der Naturwissenschaft ist, desto oberflächlicher ist das in die Quellen des Daseins eindringende Forschen geworden.

Man kann sich an geradezu glänzend beweisenden Beispielen über diese Sache, die eben berührt worden ist, unterrichten. Nehmen wir einmal an, wir erleben es an einem Menschen, daß er, nachdem er eine Zeitlang sich nicht gekümmert hat um die geistige Welt, einen Umschwung erfährt, derart, daß er anfängt sich zu bekümmern um die geistige Welt, daß er die Sehnsucht bekommt, von der geistigen Welt etwas zu wissen. Nehmen wir an, wir erleben das, wenn wir hineinge­drungen sind in die Geisteswissenschaft. Was wird uns dann Bedürfnis sein, wenn wir erleben, wie ein Mensch, der sich nicht bekümmert hat um die geistige Welt, der im Alltäglichen dahingelebt hat und sich jetzt wie an einem Kreuzwege des Lebens befindet, sich nun der geistigen Welt zuwendet? Es wird uns interessieren, was in der Seele eines solchen Menschen vor sich gegangen ist. Wir werden so oft als möglich in die Seele eines solchen Menschen hineinzukommen versuchen, und uns wird es dann nützlich sein zu wissen, was hier oftmals betont worden ist, daß

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der Spruch, der so häufig angewendet wird «Die Natur macht keine Sprünge» total falsch ist. Die Natur macht überall Sprünge. Wenn das grüne Blatt sich verwandelt in das helle Blütenblatt, macht die Natur einen Sprung; und wenn sie den Menschen, der sich nicht um das Geistige gekümmert hat, so verändert, daß er sich bekümmert um die Geisteswissenschaft, so ist das etwas Ähnliches wie ein Sprung, und wir werden danach suchen, was dieses bewirkt hat. Wir werden über die verschiedenen geistigen Quellen, über die wir auch schon an diesem Orte gesprochen haben, einige Aufschlüsse gewinnen und sehen, wie ein solches vor sich gehen kann.

Wir werden uns dabei fragen: Wie alt war der Mensch? - Wir wissen, daß von sieben zu sieben Jahren immer Neues im Menschenwesen geboren wird. Vom siebenten Jahre ab der Ätherleib, vom vierzehnten Jahre ab der Astralleib und so weiter. Wir werden alles das, was wir über den ätherischen Leib und über den astralischen Leib wissen, zusammen­nehmen, und namentlich werden wir es innerlich und nicht äußerlich nehmen; dann werden wir manchen Aufschluß gewinnen können über das, was in einer solchen Menschenseele vorgeht.

Man kann auch anders vorgehen. Man kann Interesse gewinnen für die Tatsache, daß Menschen aus einem äußeren Leben plötzlich übergehen zu einem Leben, das sich interessiert für die geistigen Wahrheiten, für religiöse Vertiefungen. Ein Mann kann die Geisteswissenschaft für törichte Phantasterei halten, und wenn man nachforscht in ihm, was im Inneren der Seele vorgeht, kann man finden, was ihn dazu veranlaßt, sie für Narretei zu halten. Aber man kann dann folgendes tun: man schreibe, sagen wir, hundertzweiundneunzig oder noch mehr Briefe an Leute, von denen einem gesagt worden ist, daß sie eine solche Umwand­lung durchgemacht haben. Man schreibe nach einem ganzen Kontinente solche Briefe und lasse sich als Antwort aufschreiben, was bei ihnen vorgelegen hat, das die Umwandlung im Leben bewirkte. Da bekommt man die verschiedensten Antworten. Der eine schreibt: Als ich vierzehn Jahre alt war, hat mich mein Leben zu Exzessen geführt, mein Vater hat sich geärgert darüber und hat mich gründlich verhauen; und der hat mir eine Empfindung eingehauen für dasjenige, was die geistige Welt ist. -Die anderen behaupten: Ich habe einen Menschen sterben gesehen. -

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Nehmen Sie also an, man hätte hundertzweiundneunzig Briefe bekom­men und legte sie stoßweise übereinander. Man macht einen Stoß von den Briefen, in denen die Schreiber gesagt haben, daß sie aus Furcht vor dem Tode oder aus Furcht vor der Hölle solche Dinge aufgenommen haben; man macht einen zweiten Stoß, worin behauptet wird, daß sie gute Menschen gesehen oder sie nachgeahmt haben, einen dritten Stoß und so weiter. Bei solchen Stößen muß man oft leichtgeschürzt Dinge zusammenfassen. Dann macht man noch einen Stoß: für andere, egozen­trische Motive. Und jetzt bekommt man das Folgende: Diese hundert­zweiundneunzig Briefe hat man sortiert. Man hat abgezählt, wieviel Briefe auf jedem Stoße sind, und dann kann man, nach einer einfachen Rechnung, herausbringen, wieviel Prozent auf jeden der einzelnen Stöße entfallen. Da kann man herausbekommen zum Beispiel, daß vierzehn Prozent solche Umänderungen durchgemacht haben, die herrühren aus der Furcht vor dem Tode oder aus der Furcht vor der Hölle; sechs Prozent, die herrühren aus anderen egozentrischen Motiven; fünf Pro­zent, weil in ihnen durch irgend etwas altruistische Gefühle Platz gegriffen haben; siebzehn Prozent streben nach einem sittlichen Ideale -vermutlich solche, die mit der Gesellschaft für ethische Kultur zusam­mengehangen haben -, sechzehn Prozent durch Gewissensbisse, zehn Prozent durch Befolgung der Lehren bezüglich des Guten, dreizehn Prozent durch Nachahmung von anderen Menschen, die man als religiös befunden hat, neunzehn Prozent durch gesellschaftlichen Druck, Nöti­gung und so weiter.

Also man kann so vorgehen, daß man versucht, sich liebevoll zu versenken in eine Seele, die sich so bekannt hat, man kann versuchen, ihr Inneres zu erforschen; dazu braucht man die Geisteswissenschaft. Oder man macht es so, wie ich es eben beschrieben habe. Derjenige, der es so gemacht hat, ist ein gewisser Starbuck, und er hat daraufhin ein auf­sehenerregendes Buch geschrieben über solche Dinge. Das ist die aller­weitgehendste Veräußerlichung einer Sache, das ist das Gegenteil von dem, wovon man in der Geisteswissenschaft eine Empfindung haben muß. Die Geisteswissenschaft versucht überall, in das Innere der Dinge zu dringen. Die Tendenz, die gekommen ist durch den materialistischen Zeitcharakter, nimmt selbst das religiöse Leben schon so an, daß es die

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beliebte, berühmte Statistik darauf anwendet. Denn das ist unanfecht­bare Forschung, wie man uns klar und deutlich zeigt. Sie hat eine Eigenschaft, die diejenigen gerade lieben, die nicht in die Pforte der Geisteswissenschaft hineingehen wollen. Von ihr kann man wahrhaftig sagen: sie ist leicht, sehr leicht.

Wir haben es gestern schon betont, warum so viele an die Geisteswis­senschaft nicht herangehen wollen: sie ist ihnen zu schwer. Von dieser Statistik kann man sagen: sie ist leicht, wahrhaftig recht leicht. Nun, man treibt ja heute auch experimentelle Seelenwissenschaft. Ich müßte Ihnen vieles erzählen von dieser experimentellen Seelenwissenschaft, wenn ich Ihnen einen Begriff davon geben sollte. Experimentalpsychologie nennt man sie. Man verspricht sich äußerlich viel davon. Ich will nur den Anfang, den man gemacht hat mit Experimenten, einmal charakterisie­ren. Nehmen wir an, wir setzen zehn Kinder vor uns hin, und nun schreibt man vor diesen zehn Kindern, sagen wir, einen Satz auf: Durch An . . . er. . . man . . . vieles . . . Jetzt nimmt man die Uhr und sagt: Du, sage mir, wie du das liest. Das Kind weiß noch nichts, es denkt nach und endlich kommt es darauf: «Durch Anstrengung erreicht man vieles.» Und jetzt notiert man rasch, wieviel Zeit das Kind dazu gebraucht hat, um den Satz zu lesen. Man muß viele Sätze selbstverständlich haben, denn man hat Mühe, das zu lesen. Nach und nach wird das dann auch in kürzerer Zeit gemacht. Dann notiert man, wieviele Sekunden der eine, und wieviele Sekunden der zweite und so weiter brauchte, um so einen Satz zu ergänzen. Dann rechnet man bei den Kindern die Prozente aus und behandelt diese dann weiter statistisch. Man prüft so die Anpas­sungsfähigkeit an das Äußere und auch an manches andere. Diese Methode der Experimentalpsychologie trägt einen vornehmen Namen, sie heißt «Intelligenzprufung », wahrend die andere Methode heißt:

«Prüfung der religiösen Natur des Menschen auf experimentellem Wege. »

Sehen Sie, meine lieben Freunde, dasjenige, was ich Ihnen hier mit einigen Strichen vorführe, ist nichts, worüber man lachen kann, denn es gibt viel mehr Lehrkanzeln der Philosophie heute, wo man dieses als Zukunft der Seelenwissenschaft betrachtet, als es solche Lehrkanzeln der Philosophie gibt, die irgendwie auch nur im leisesten Maße ernst nehmen

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dasjenige, was, ich will nicht sagen, wir betreiben, sondern, was man früher, durch innere Beobachtung der Seele, gefunden hat. Experimen­tieren muß man heute.

Das sind Beispiele, wie man heute experimentiert, und das hat großen Anhang in der Welt. Dazu werden physikalische oder auch chemische Laboratorien eingerichtet; eine unendliche Literatur darüber gibt es. Ja man kann sogar das erleben, was ich nur als eine Episode erwähnen will; man kann erleben, daß ein Freund von uns, ein Vorsitzender eines unserer Zweige, eines unserer nördlichen Zweige, sich anschickte, für eine Universität eine Doktorabhandlung zu machen. Er bemühte sich selbstverständlich - man bemüht sich ja auch, wenn man zu Kindern spricht, ihrem Verständnisse entsprechend zu sprechen -, er bemühte sich, alles dasjenige, was er aus der Geisteswissenschaft gewonnen hatte, aus der Abhandlung draußen zu lassen. Das wurde alles herausgelassen. Aber nun hatte die Prüfung dieser Abhandlung ein Mann unter sich, der in diesen Dingen Fachmann war, der also alle diese Methoden sozusagen im kleinen Finger hatte. Der nahm die Abhandlung gar nicht an. Es ist das ein Fall, mit dem sich sogar der Storting beschäftigt hat. Der Mann, der Experimentalpsychologe ist, ist fest überzeugt davon, daß er auf dem wissenschaftlichen Boden der Gegenwart mit seiner Seelenwissenschaft steht, und daß diese die Zukunft haben wird.

Es soll gar nicht einmal irgend etwas Besonderes gesagt werden gegen diese Experimentalpsychologie. Denn warum sollte es nicht interessant sein, das auch einmal zu erfahren. Gewiß, das alles ist recht interessant, man kann das alles machen. Aber es kommt darauf an, wie man diese Dinge in das Leben hineinstellt, und ob man sie dazu benützt, um tot zu treten, was wirkliche Geisteswissenschaft ist, was wirkliche Erkenntnis der Seele ist. Immer wieder muß betont werden: nicht wir wollen es sein, die ablehnen, was von den Leuten getrieben wird, die ihrer Fähigkeit nach die Seele untersuchen, wie sie das Sinnliche untersuchen und die Registrierung vornehmen nach der Methode bei den hundertzweiund­neunzig Antworten. Es entspricht dieses zwar den Fähigkeiten der Menschen, aber in Erwägung müssen wir ziehen, in welche Welt sich heute die Geisteswissenschaft hineinstellt. Klar müssen wir uns darüber sein.

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Ich weiß sehr gut, daß Leute nun kommen können und sagen: Der hat wiederum furchtbar geschimpft auf die Experimentalpsychologie; er läßt kein gutes Haar an ihr! - Das mögen die Leute ebenso tun, wie sie es tun mögen, wenn sie sagen: Ihr habt hier um die Osterzeit den Goetheschen «Faust)> verschimpfiert und Goethe in Grund und Boden hinein kriti­siert! - Menschen, die nicht begreifen können, daß Charakterisieren etwas anderes ist, als das im äußerlichen Sinne geübte Kritisieren, die werden immer solche Dinge mißverstehen. Indem ich sie charakterisiere, will ich sie hineinstellen in das Gesamtgebiet des menschlichen Lebens. Die Geisteswissenschaft ist nicht dazu angetan, Kritik zu üben, und das, was gesagt worden ist, kann auch keine Kritik sein.

Christlich soll aber sein dasjenige, was solche Menschen, die keine Wissenschaftler sind, tun gegenüber dem, was wahre Geisteswissen­schaft ist.

Ein anderes ist es, einen klaren Blick zu haben. Und so kommt man, wenn man auf die Wissenschaft hinsieht, zu der Einsicht, wie sie, ich möchte sagen, das ganze menschliche Streben veräußerlicht, wie sie selbst in bezug auf religiöse Bekehrung nicht auf das Innere sieht, sondern von außen ansieht den Menschen.

Im praktischen Leben ist der Mensch nicht so sehr gläubig. Die Statistiken der Versicherungsgesellschaften - ich habe das schon ange­führt - rechnen aus, wann man ungefähr sterben wird. Ich will sagen, man kann ausrechnen für einen achtzehnjährigen Menschen, wann er ungefähr sterben wird, weil er einer Gruppe von Menschen angehört, unter denen so und so viele in gewissen Jahren sterben. Danach macht man die Versicherungsquoten, und die verteilt man dann ganz richtig. Da stimmt dann das ganz gut. Aber wenn die Menschen im gewöhnli­chen Leben sich vorbereiten wollten zum Tode in dem Jahre, für das die Versicherungsgesellschaft ihren wahrscheinlichen Tod ausgerechnet hat, so würde man sie für Narren halten. Das System entscheidet nichts für das Leben. Ebensowenig hat die Statistik etwas mit der Bekehrung zu tun.

In all diese Dinge muß man hineinsehen. Dadurch ringt man sich zu einem Gefühle durch, in dem die Intuitionserkenntnis darinnen ist. Von besonderer Schwierigkeit aber wird es sein, wirklich in die heutige

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Weltkultur hineinzubringen dasjenige, was, ich möchte sagen, der Gip­felpunkt unserer Geisteswissenschaft ist: die Christus-Erkenntnis. Chri­stus-Erkenntnis ist dasjenige, wozu uns, als Reinstes, Heiligstes und Höchstes, hinführt dasjenige, was wir in der Geisteswissenschaft haben. In vielen Vorträgen versuchte ich klarzumachen, wie gerade in unserer Zeit der durch das Mysterium von Golgatha in die Welt gekommene Christus-Impuls durch das Instrument der Geisteswissenschaft den menschlichen Seelen zugänglich gemacht werden muß. Auf den ver­schiedensten Wegen versuchte ich klarzumachen die Art und Weise, wie der Christus-Impuls gewirkt hat. Denken Sie nur an die Vorträge über die Jungfrau von Orleans, Konstantin und so weiter. Auf den verschie­densten Wegen versuchte ich klarzumachen, wie der Christus-Impuls in den verflossenen Jahrhunderten mehr ins Unbewußte hineingezogen worden ist, wie wir aber jetzt in einer Zeit leben, wo er viel bewußter in das menschliche Leben hineintreten muß, wo eine wirkliche Erkenntnis von dem Mysterium von Golgatha kommen muß. Nicht wird man dieses Mysterium von Golgatha erkennen lernen können, wenn man nicht solche Vorstellungen, wie sie berührt wurden bei der Osterfeier - von dem Christus im Zusammenhange mit dem Luzifer und Ahriman -, übernimmt und sie geisteswissenschaftlich durchdringt.

Wir leben in einer ungeheuer schweren Zeit, in einer Zeit der Schmer­zen und Leiden. Sie wissen ja, ich kann nicht über etwas diese Zeit Charakterisierendes sprechen, aus dem Grunde, den ich schon angeführt habe. Ich will das auch nicht; ich will von einer ganz anderen Seite her etwas berühren, was im Zusammenhange mit der heutigen Betrachtung steht.

Diese Zeit der Schmerzen und Leiden hat manches in den Menschen­seelen wachgerufen, und derjenige, der mitlebt diese Zeit, der sich bekümmert um das, was vorgeht, wird bemerken, daß in unserer Zeit nach einer Seite hin eine große Vertiefung der Menschenseelen eintritt, von Menschenseelen, die darinnenstehen in den gegenwärtigen Ereignis­sen und die früher ganz fern gestanden haben allem religiösen Leben, deren Empfinden und Fühlen recht materialistisch war. Man kann heute immer wieder und wieder in ihren brieflichen und sonstigen Kundge­bungen finden, wie sie durch das schmerzliche Darinnenstehen in den

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heutigen Zeitereignissen ihre religiösen Empfindungen wiedergefunden haben.

Das ist das Charakteristische, daß von Gott und von einer göttlichen Ordnung Leute zu reden anfangen, denen diese Worte früher nicht über die Lippen gekommen sind. Wirklich, in dieser Hinsicht erlebt man heute bei den Leuten, die in den Ereignissen darinnenstehen, eine unendliche religiöse Vertiefung.

Aber eine Tatsache hat man mit Recht hervorgehoben; sie ist ebenso klar wie dasjenige, was ich jetzt gesagt habe. Nehmen Sie das Charakteri­stische aus den Briefen, die von den Schlachtfeldern geschrieben worden sind und in denen man die eben charakterisierte Vertiefung des Gefühls finden kann: da sagen sie vieles über die Art, wie sie ihren Gott wiedergefunden haben, aber fast gar nichts - es haben dies nur wenige bemerkt -, fast gar nichts von Christus. Von Gott reden hört man, aber nichts von Christus.

Das ist eine sehr bedeutsame Tatsache. In der abstrakten Form der Gottes-Idee tritt in unserer Zeit des schweren Leides und der schweren Schmerzen an manchen ein religiöses Gefühl heran. Von einer ebensol­chen Vertiefung des Christus-Empfindens kann man fast nicht reden. Ich sage «fast». Natürlich kommt es an einzelnen Stellen vor; aber im großen und ganzen ist die Sache so, wie ich sie charakterisiert habe. Daraus aber können Sie sehen, wie unsere Zeit selbst da, wo es den Menschenseelen naheliegt, mit der geistigen Welt wieder Beziehung zu suchen, wie unsere Zeit es schwer hat, zu demjenigen hingeführt zu werden, was wir den Christus-Impuls das Mysterium von Golgatha nennen.

Dazu ist es notwendig, daß die menschliche Seele sich aufschwingt zu einer Vorstellung von der Gesamtheit der Menschheit. Dazu ist es notwendig, daß wir nicht bloß Gemeinschaft pflegen mit dem, was mit uns eine Zeitlang lebt, sondern daß wir unseren geistigen Blick hinwen­den zu allen Zeiten und Wesen, wie wir als Seelen durch verschiedene Erdenleben gegangen sind, durch verschiedene Zeiten gegangen sind. Dann steigt uns allmählich die gewaltige Notwendigkeit in der Seele auf, zu erkennen, wie eine absteigende und eine aufsteigende Entwickelung in der Menschheit vorhanden ist. Man muß sich mit der Menschheit in

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der Zeitenentwickelung eins fühlen, man muß zurückblicken zur Erden­Urentstehung, die aufsteigende und die absteigende Entwickelung ins Auge fassen, in deren Mitte das Mysterium von Golgatha steht, mit der gesamten Menschheit sich verbunden fühlen, sich verbunden fühlen mit dem Mysterium von Golgatha.

Dem räumlichen Kosmos steht die Menschenseele heute näher als dem zeitlichen Kosmos, demjenigen, was sich in der Aufeinanderfolge der Entwickelungs stadien entfaltet hat. Dazu aber werden wir geführt, wenn wir uns durch die Geisteswissenschaft einverleibt fühlen dem gesamten Entwickelungsgange der Menschheit. Denn dann können wir nicht anders als einsehen, daß ein solcher Punkt in der Menschheitsentwicke­lung vorhanden war, wo etwas herangetreten war an diese Menschheits­entwickelung, das nicht bloß durch menschliche Kraft hineinkommen konnte. Es mußte hereinkommen in die Menschheitsentwickelung dadurch, daß von der geistigen Welt selber, durch einen menschlichen Leib, ein Impuls in die Erdenentwickelung hineingedrungen ist, der vorhanden war im Beginne der christlichen Zeitrechnung. Es war eine Berührung des Himmels mit der Erde.

Hier rühren wir an etwas, was durch die Geisteswissenschaft dem religiösen Leben wird einverleibt werden müssen. Berührt wird hier, wie die Geisteswissenschaft sich in die Gefühle der Menschen wird hinein-senken müssen, damit diese Menschen in Zusammenhang kommen mit dem Mysterium von Golgatha und den Christus-Impuls in solcher Weise finden, daß sie ihn nicht nur für ihr unbestimmtes Fühlen, sondern auch für ihr klares Bewußtsein nicht mehr verlieren können. Die Geisteswissenschaft wird arbeiten. Wir haben die Notwendigkeit dieses Arbeitens erkannt und oftmals betont, und im Grunde genommen sitzen Sie alle da, um zu dokumentieren, daß Sie alle in dieser geistes-wissenschaftlichen Bewegung mit ganzem Herzen mitarbeiten wol­len. Und wenn in der Zukunft wieder schwere Zeiten über die Menschheit hereinbrechen werden, dann möge die Geisteswissenschaft schon die Gelegenheit gefunden haben, daß eine Vertiefung der Men­schenseelen verbunden sein kann nicht bloß mit dem abstrakten Gottes-Bewußtsein, sondern mit dem konkreten, historischen Christus-Bewußtsein.

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Es ist einmal die Zeit, in der ernste Empfindungen in uns angeregt werden können. Aber wir sollen es auch nicht vermeiden, solche ernsten, ich möchte sagen, heiligen Empfindungen in uns anzuregen. Dadurch sollten sich diejenigen, die in unserer geisteswissenschaftlichen Bewe­gung stehen, unterscheiden von den Menschen, die noch nicht durch ihr Karma dieser geisteswissenschaftlichen Bewegung nähergetreten sind, daß die Bekenner der Geisteswissenschaft alles, was in der Welt vorgeht, das Äußerlichste und das Tiefste, in gründlich ernster Weise ergreifen.

Bedenken Sie, wie wichtig es ist, im gewöhnlichen Leben einzusehen, daß wir mit unserem gewöhnlichen, an das Nervensystem gebundenen Verstand und unserer Vernunft eigentlich außerhalb desjenigen sind, was uns zumeist interessiert im gewöhnlichen physischen Erleben, und daß wir daher, so wie es da ist, wie es der oben hypothetisch angenommene Rechtsanwalt zustande bringt, uns eigentlich mit unserem Denken fremd sind, uns selbst fremd sind. Indem wir aber an die Geisteswissenschaft herantreten, gewinnen wir ein «außerleibliches» Herz, wie wir es gestern ausgeführt haben; es wird wieder mit Innigkeit und Seelenhaftigkeit durchdrungen dasjenige, was wir durchdenken. Wir können nur dadurch nach den verschiedenen Richtungen unseren an den Leib gebundenen Verstand und unsere Vernunft gebrauchen, daß wir nicht dasjenige hinaustragen, wodurch wir im Tiefsten verbunden sind mit den Sphären, in denen wir drinnenstehen mit unseren Denken. Durch die Geisteswissenschaft werden wir das hinaustragen, und wir werden mit dem, was wir denken, mit unserem Verstande und unserer Vernunft, Menschen der Wahrheit werden, wirklich Menschen der Wahrheit wer­den. Und das Leben braucht Menschen der Wahrheit. Dasjenige, was man sich bescheinen läßt von der Sonne der Geisteswissenschaft, das wächst mit uns zusammen, weil wir zusammenwachsen mit Wesen der höheren Hierarchien. Menschen der Wahrheit müssen wir werden durch die Geisteswissenschaft! Dann ist unser Denken nicht so beschaffen, daß wir es anwenden wie der Rechtsanwalt, von dem beide Parteien vertei­digt sein könnten. Menschen der Wahrheit werden wir, indem wir mit den geistigen Wahrheiten eins werden. Und indem wir die Möglichkeit finden, unseren Willen so aufzufassen, wie es heute charakterisiert worden ist, werden wir den Weg finden in das Innere der Dinge.

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Dadurch nicht, daß wir im Schopenhauerschen Sinne von dem Willen in der Natur reden, sondern dadurch, daß wir uns mit unserem Willen in die Dinge hineinleben und in den Dingen kraften.

Damit berühren wir aber etwas, was unserer Gegenwart so ungeheuer fehlt: das liebevolle Sich-Vertiefen in das Wesen der Dinge. Dieses fehlt unserer gegenwärtigen Zeit so ungeheuer. Ich möchte sagen: man muß es im Leben immer wieder eigentlich bitter erfahren, wie diese Neigung, den Willen hineinzuversenken in das Wesen der Dinge, den Menschen fehlt.

Wenn ich eine scheinbar unbedeutende Tatsache vor Ihnen hier vorbringe, eine Tatsache, die scheinbar wie eine persönliche Bemerkung aussieht, so betrachten Sie dies wahrhaft nicht in dem richtigen Sinne, wenn Sie glauben, daß ich eine persönliche Bemerkung machen will. Sie soll keine persönliche Bemerkung sein, sondern könnte unter Umstän­den bedeutungsvoll sein für manches, was so in der Auffassung herum-spukt, auch innerhalb unserer Kreise. Gewiß, es ist mir im höchsten Grade wenig sympathisch, solche Bemerkungen zu machen; und wür­den sie nur gemacht, gleichsam um auszudrücken, daß ich selber etwas überflüssig finde, so würden sie nicht gemacht werden. Aber allmählich muß sich, immer mehr und mehr, eine gewisse Anschauung, eine Empfindung verbreiten für das Ernste, das als ein tiefer Impuls unserer Bewegung jeden einzelnen unserer Bekenner durchdringen und beherr­schen soll. Es braucht sich deshalb niemand getroffen zu fühlen, wenn ich eine solche Bemerkung mache; sie wird nicht gemacht aus persönli­chen Gründen, sondern um wieder einmal hinzuweisen auf etwas, das, wenn man es durchdenkt, aufmerksam macht auf den Ernst, den man so gern mit unserer Bewegung verbunden wissen möchte. Denn gerade an diesem Orte, wo es möglich war, mit unserem Bau ein äußeres Zeichen aufzustellen, möchte man so sehr, daß die richtige Empfindung herrsche von dem, was unmittelbar gar nicht sagbar ist, was aber empfunden werden sollte von jedem einzelnen, der zu den Bekennern unserer Bewegung gehört.

Sehen Sie, es ist dazu gekommen - ich berühre diese Sache nicht gerne hier an diesem Orte -, nachdem ich versucht habe, in den ersten Monaten unserer schweren Zeit, dies oder jenes den Seelen nahe zu

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bringen, daß sich Dinge ereignet haben - ich will nur so sagen -, die es unbedingt notwendig machen, ein objektives, unserer Bewegung ange­messenes Wort über unsere Zeitereignisse gar nicht mehr zu sprechen. Daß dieses im Grunde schmerzlich ist, und daß es schmerzlich ist, eine solche Summe von Mißverständnissen pulsieren zu fühlen durch unsere Bewegung, das darf aufrichtig und ehrlich gestanden werden.

Ich berühre diese Dinge, weil sie zusammenhängen gerade mit derjeni­gen Frage, die heute gestreift werden mußte. Gestreift wurde die Frage, wie fremd wir uns im innersten Wesen bleiben mit unserem Denken, und warum das so ist. Es genügt nicht, wenn wir bloß in dieses Denken aufnehmen dasjenige, was herausquellen kann aus der geisteswissen­schaftlichen Anschauung. Wir müssen dasjenige, was aus der geisteswis­senschaftlichen Anschauung herausquillt, aufnehmen in dem Sinne, daß es in unseren Willen hineingeht. Aber dieser Wille - ich habe gesagt, wie er intim zusammenhängt mit dem, was in unserem Leibe pulsiert -, dieser Wille ist widerspenstiger als der Gedanke. Ein Teil der Geistes­wissenschaft, der in Gedanken aufgenommen werden kann, wird biswei­len recht wenig aufgenommen. Der Teil aber, der auch in den Willen hineingehen sollte, wird bis zu einem schlimmen Grade mißverstanden. Gerade ich mußte es schmerzlich erfahren: Während draußen in der Welt vom Autoritätsglauben geredet wird, der bei uns herrschen soll, ist hier vieles mißverstanden und mißausgelegt worden, da, wo es ein wenig darauf angekommen wäre, einzusehen, auf welch sorgfältig erworbenen Erkenntnissen dasjenige beruht, was vorgebracht wurde.

Nun, ich weiß nicht, aus welchem Grunde mir gestern zugegangen ist eine Broschüre, die geschrieben ist von einem gewissen C . . . . Sollte sie aber aus dem Kreise unserer anthroposophischen Freunde mir von Arlesheim zugeschickt sein, und vielleicht gar in der Absicht, damit ich sie lesen soll zu dem Zwecke, um zu sehen, was irgend jemand meinen kann über unsere heutigen Zeitereignisse, dann müßte ich - obgleich es bei diesem Beispiel nicht zuzutreffen braucht, bei anderen aber wohl -sagen: Ich würde, wenn diese Broschüre mir zugeschickt worden wäre zu dem Zwecke, daß ich Kenntnis nehmen sollte von dem, was einer denkt,

- - -

* Siehe den Hinweis S.287.

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in der Form, wie es in der Broschüre steht, hervorheben müssen, daß ich diese Übersendung deplaciert und unanständig finde. Ohne Kritik sage ich das. Ist sie geschickt worden, um ein Beispiel zu geben, wie einer die Geschichte fälscht, ist mir die Broschüre in dieser Absicht geschickt worden, so ist das allerdings etwas anderes. Aber nicht alles geschieht in dieser Absicht. So möchte ich annnüpfen an diese Broschüre, worin jemand über heutige Zeitereignisse Urteile fällt, die auf nichts anderem aufgebaut sind als auf frivolster Geschichtsfälschung.

Dasjenige, worüber wir hinauskommen müssen auf unserem Boden, das ist: Fälschung objektiver Tatsachen. Das ist aber gerade dasjenige, was in der Gegenwart in so ausgedehntem Maße gemacht wird. Derje­nige, der nichts weiß von den Dingen, die vOrangegangen sind, der Dinge behauptet, von denen man so leicht nachweisen kann geschicht­lich, wie falsch sie sind, wie jener Mister C . . .*, der sollte nicht zu Worte kommen dürfen da, wo ernste Dinge von ernsten Menschen auch nur gedacht werden.

Wenn ein solches Wort, meine lieben Freunde, gesprochen wird, so ist es, ich möchte sagen, als Exempel aufzufassen, wirklich nicht wegen dieser Einzelheit, die an sich höchst unbedeutend ist. Aber diese Einzel­heit ist ein Symptom, und wir sollen über solche Symptome nachdenken, damit wir hineinkommen, immer tiefer und tiefer, in das ganze Tiefe, das unsere geistige Bewegung durchdringen muß. Und diese unsere geistige Bewegung wird uns ganz besonders in die Seele hineinleuchten, wenn wir uns bekanntmachen mit dem, was selbst diejenigen heute noch nicht finden können, die aus bewegtem Herzen mitten darinnenstehen in den schwersten Zeitereignissen und nach den Werten der geistigen Welt suchen. Die Geisteswissenschaft muß uns nach und nach die Etappen aufbauen, die hinaufführen zu einem unverlierbaren Verständnisse des Mysteriums von Golgatha. Dieses Mysterium von Golgatha ist der Sinn der Erde. Und den Sinn der Erde zu verstehen, muß das höchste Streben sein dessen, der sich nach und nach in die Geisteswissenschaft hineinfindet.

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HINWEISE

Textgrundlage: Die Vorträge wurden hauptsächlich von Franz Seiler mitstenographiert.

Dem Druck liegen seine Klartextübertragungen zugrunde. Bei einigen Vorträgen konnten

Nachschriften anderer Stenographen zum Vergleich des Textes herangezogen werden.

Frühere Veröffentlichungen:

9. Januar 1915. Das Ich, von außen wahrnehmbar, als Sprache und Gesang, als schöpferi­sche Phantasie, als Innenerlebnis. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. Esoterische Betrachtung (Dornach 1935).

10. Januar 1915: Die Wahrnehmung des Gedankenwesens. Sonnenwirksamkeit in der Erdenentwickelung. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. Esoterische Betrachtung (Dornach 1935).

30. Januar 1915: Echte Kunst geht zurück auf die Geheimnisse der Initiation. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (Dornach

1938).

2. Februar 1915: Gebete für Mütter und Kinder. Das Leben zwischen der Geburt und dem Tode als Spiegelung des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt (Dornach 1962).

5., 6. und 7. Februar 1915: Vorträge I bis III in: Das Problem des Todes im Zusammenhang mit der künstlerischen Auffassung des Lebens. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. Geisteswissenschaft als Lebenserfassung (Dornach 1935).

27. März 1915: Meditation und Konzentration. Die drei Arten des Hellsehens. Wege der geistigen Erkenntnis (Dornach 1935).

28. März 1915: In: Christian Morgenstern, der Sieg des Lebens über den Tod. Esoterische Betrachtungen (Dornach 1935) und: Das innere Verhältnis der Sprache zu den Gedan­ken. Das Nibelungenlied und Wilhelm Jordan. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung (Dornach 1935).

2. und 3. April 1915: Der Baldur-Mythos und das Karfreitag-Mysterium. Vitaesophia. Betrachtungen aus der Lebensweisheit (Dornach 1968).

1. und 2. Mai 1915: Gehirndenken und Denkkraft als geistige Tätigkeit. Somnambules oder bewußt errungenes Hellsehen. Innere Willenskultur. Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung. Geisteswissenschaft als Lebenserfas­sung (Dornach 1935).

Werke Rudolf Steiners, welche in der Gesamtausgabe erschienen sind, werden in den Hinweisen mit Bibliographie-Nummer und Erscheinungsjahr der letzten Auflage angege­ben. Siehe auch die Übersicht am Schluß des Bandes.

Zu Seite.

11 Eine Anschauung. . . haben wir uns bereits angeeignet: Bezieht sich auf die

Mitgliedeivorträge, die Rudolf Steiner während der vorangegangenen Wochen in

Dornach gehalten hatte. Sie sind meistenteils herausgekommen in den Bänden

«Kunst im Lichte der Mysterienweisheit», Bibl.-Nr. 275, Gesamtausgabe Dornach

1966;« Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt», Bibl.­

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Nr.158, Gesamtausgabe Dornach 1970; »Okkultes Lesen und okkultes Hören«, Bibl.-Nr. 156, Gesamtausgabe Dornach 1967.

14 wie ich Ihnen schon auseinandergesetzt habe: Vor allem in dem Vortrag vom

4. Januar 1915, abgedruckt als 8. Vortrag in dem Band «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit», siehe vorigen Hinweis.

17 von dem ich öfter in diesen Vorträgen gesprochen habe: Siehe die drei im ersten Hinweis erwähnten Bände, vor allem Bibl.-Nr. 275 und 156.

24 im siebenten Bilde des ersten Mysteriendramas: «Vier Mysteriendramen«, Bibl.-Nr.

14, Gesamtausgabe Dornach 1962. Auch als Taschenbuch erschienen in zwei Bänden, tb-Nr. 607/608.

25 wie Jordan es versucht hat: Wilhelm Jordan, 1819-1904, deutscher Dichter aus Ostpreußen. Seine Hauptwerke sind die Epen «Demiurgos», und «Die Nibelun­gen«. Über das letztere wird im 8. Vortrag des vorliegenden Bandes ausführlich gesprochen.

wie ich es besprochen habe in den Vorträgen der letzten Zeit: Siehe den Vortrag vom i Januar 1915, abgedruckt in «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit», vgl. Hinweis zu S.11.

26 einige Worte unseres Freundes Christian Morgenstern: Der Dichter Christian Morgenstern, 1871-1914, begegnete Rudolf Steiner im Jahre 1908. In seiner «Autobiographischen Notiz« sagt er mit Bezug auf diese Begegnung: »Der Pfad war der Weg anthroposophischer Erkenntnisse, wie sie uns heute, in einziger Weise durch Rudolf Steiner veimittelt werden. - In dieser Persönlichkeit lebt ein großer spiritueller Forscher «ein ganz dem Dienste der Wahrheit gewidmetes Leben» vor uns und für uns dar. - Vor ihm darf auch der Unabhängigste sich von neuem besinnen und revidieren Der Gedichtband «Wir fanden einen Pfad«, dem das von Rudolf Steiner vorgelesene Gedicht entnommen ist, trägt die Widmung «Für Dr. Rudolf Steiner».

33 Johannes Scotus Erigena: Er gilt als ein Vorläufer der scholastischen Philosophie. Geboren wurde er um das Jahr 810 in Britannien. Karl der Kahle berief ihn nach Paris, wo er bis an sein Lebensende (um 877) wirkte.

34 die ersten griechischen Philosophen:

Thales aus Milet, 625-545 vor Chr. .

Anaxagoras aus Klazomenae in Kleinasien, aber in Athen wirkend, ca. 500428

vor Chr.

Anaximenes aus Milet, ca. 585-525 vor Chr.

Heraklit von Ephesus, ca. 540480 vor Chr.

Plato, 427-347 vor Chr.

Aristoteles, 384-322 vor Chr.

35 was er als Seelenglieder der Menschennatur darlegt: Diese Lehre ist enthalten in seiner Schrift «Über die Seele« (Peri Psyches).

37 Thomas von Aquino, 1227-1274.

Giordano Bruno, 1548-1600.

Baruch de Spinoza, 1632-1677.

Cartesius, René Descartes, 1596-1650.

Gottfried Wilhelm Leibniz, 1646-1716.

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45 die Biographie dieses Wesens ergab eine Geschichte der Philosophie: Gemeint ist das bereits auf Seite 33 erwähnte Buch «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umniß dargestellt«. Der erste Teil dieses Werks erschien schon im Jahre 1900 unter dem Titel «Welt- und Lebensanschauungen im 19. Jahrhundert«. Im Jahre 1914 kam es als zweibändiges Werk neu heraus, ergänzt durch eine Vorgeschichte über abendländische Philosophie und bis zur Gegenwart fortgesetzt. In der Gesamtausgabe erschien das Buch 1968 in einem Band, als Taschenbuch in zwei Bänden, tb-Nr. 610/611.

46 Christian Morgenstern: Siehe den Hinweis zu S.26. Das Gedicht »Lucifer» ist gleichfalls dem Band «Wir fanden einen Pfad« entnommen.

48 Wir haben das ja an verschiedenen speziellen Beispielen . . . erörtert: Siehe den Vortragsband «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit«, vgl. Hinweis zu S.11.

der »Göttlichen Komödie» Dantes. Die «Divina Commedia«, das Hauptwerk des großen italienischen Dichters Dante Alighieri, 1265-1321, wurde auch vielfach in die deutsche Sprache übersetzt. Eine der letzten Übertragungen erschien 1963 im Manesse-Verlag Zürich: «Die Göttliche Komödie«, ins Deutsche übertragen von Ida und Walther von Wartburg, kommentiert von Walther von Wartburg. 2. Auflage 1980.

49 Dante hatte einen Lehrer und Freund: Brunetto Latini, geboren zwischen 1210 und

1230, gestorben 1294, italienischer Staatsmann, Gelehrter und Dichter. Seine Hauptwerke sind «Li livres dou Trésor« (in französischer Sprache geschrieben) und «11 Tesoretto«, ins Deutsche übersetzt von Dora Baker (Stuttgart 1979). - Über seine Beziehungen zu Dante handelt die Dissertation von G. Hees, Hamburg 1952.

- Vergleiche hierüber auch den Vortrag vom 29. Dezember 1918 in «Wie kann die Menschheit den Christus wiederfinden? Das dreifache Schattendasein unserer Zeit und das neue Christus-Licht«, Bibl.-Nr. 187, Gesamtausgabe Dornach 1979; und den Vortrag vom 14. August 1924 in «Das Initiaten-Bewußtsein», Bibl.-Nr. 243, Gesamtausgabe Dornach 1969.

Ernst Mach, 1838-1916. Das erwähnte Buch «Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen» erschien im Jahre 1886.

59 Ich habe öfter zwei Beispiele angeführt: Siehe die Vortragszyklen «Okkulte Geschichte», Bibl.-Nr. 126, Gesamtausgabe Dornach 1975, 2. Vortrag; »Christus und die geistige Welt«, Bibl.-Nr. 149, Gesamtausgabe Dornach 1977, 5. und 6. Vortrag; «Menschenschicksale und Völkerschicksale. Schicksalsbildung und Leben nach dem Tode», Bibl.-Nr. 157, Gesamtausgabe Dornach 1960, 4. Vortrag.

60 Konstantin, der Sohn des Constantius Chlorus: Constantius Chlorus, 250-306, war, zusammen mit Galerius, Kaiser über den westlichen Teil des römischen Reichs. Nach seinem Tod wurde Konstantin, 274-337, zum Kaiser ausgerufen. Er mußte sich aber gegen mehrere Mitkaiser durchsetzen. Den mächtigsten von ihnen, Maxentius, besiegte er in der von Rudolf Steiner erwähnten Schlacht an der milvischen Brücke am 27. Oktober 312. Konstantin erhob im Jahre 324 das Christentum zur Staatsreligion.

ich habe das zum Beispiel im Leipziger Zyklus... erwähnt: Siehe den Vortrag vom

i Januar 1914, abgedruckt in dem Zyklus «Christus und die geistige Welt«, vgl.

den Hinweis zu S.59.

in der Jun gfrau von Orleans: Geboren am 6. Januar 1412 in Domremy an der Maas,

1431 als Ketzerin von den Engländern verbrannt.

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61 wie wir neulich i . . hier zum Vortrag gebracht haben: Siehe den 4. Vortrag im Zyklus »Kunst im Lichte der Mysterienweisheit» (vgli den ersten Hinweis dieses Bandes). An diesem Ort ist auch der gesamte Text des Traumliedes von Olaf Ästeson abgedruckt. Er wurde von Ingeborg Möller-Lindholm aus dem Altnor­wegischen ins Deutsche übertragen und von Rudolf Steiner in eigene Rhythmen gebracht. In dem genannten Band findet sich in den Hinweisen auch eine ausführli­che Darstellung davon, wie Rudolf Steiner mit dem Traumlied bekannt wurde und welche Äußerungen er über seinen Inhalt und seine Bedeutung getan hat. Der ursprüngliche Text ist unter dem Titel »Draumkvaedet» enthalten in der Sammlung »Norske Folkeviser», hg. von Thorwald Lammers, Kristiania 1910, bei Aschehoug & Co.

63 in unserem Dornacher Bau: Gemeint ist das Erste Goetheanum, zuerst Johannes-bau genannt, das nach Plänen Rudolf Steiners in Dornach gebaut wurde. Die Grundsteinlegung fand am 20. September 1913 statt. - In der Neujahrsnacht 1922/ 1923 wurde es durch Brandstiftung zerstört. An seiner Stelle wurde später, gleich­falls nach Plänen Rudolf Steiners, das zweite Goetheanum errichtet.

68 solche Werke wie etwa die von Ernst Haeckel: Die Hauptwerke von Ernst Haeckel, geb. 1834 in Potsdam, gest. 1919 in Jena, sind die folgenden: »Generelle Morpholo­gie» 1866, «Natürliche Schöpfungsgeschichte» 1868, und »Die Welträtsel» 1899.

80 in dem Wiener Vortragszyklus: »Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», Bibl.-Nr. 153, Gesamtausgabe Dornach 1978.

in diesem Zeitpunkte, in dem in unser anthroposophisches Leben die Tode teurer Mitglieder hineinspielen: Siehe den Band »Unsere Toten. Ansprachen, Gedenk­worte und Meditationssprüche 1906-1924», Bibl.-Nr. 261, Gesamtausgabe Dorn-ach 1963.

83 sowohl von ahrimanischer Seite her, wie von luziferischer Seite her: Über Ahriman und Luzifer als in der Menschheits- und Weltentwicklung wirkende Wesenheiten hat Rudolf Steiner in vielen Vorträgen gesprochen. Eine prägnante Schilderung ihrer Wirksamkeit findet sich in der Schrift »Die Schwelle der geistigen Welt», Bibl.-Nr. 17, Gesamtausgabe Dornach 1972.

84 mit jenem Universitätsprofessor.. Gemeint ist Ernst Mach, siehe Hinweis zu S.49

92 wie ich es ja in verschiedenen Vortragszyklen zum Ausdruck gebracht habe: Zum Beispiel in den Zyklen «Die Geheimnisse der Schwelle», Bibl.-Nr. 147, Gesamtaus­gabe Dornach 1969, und «Von der Initiation. Von Ewigkeit und Augenblick. Von Geisteslicht und Lebensdunkel«, Bibl.-Nr. 138, Gesamtausgabe Dornach 1959.

93 in einem ausgezeichneten kleinen Kunstwerke: Gemeint ist die Novelle »Die Sängerin« von Herman Grimm, dem Sohne und Neffen der bekannten Sprachfor­scher und Märchensammler Wilhelm und Jakob Grimm. Er lebte 1828-1901 und trat vor allem als Literatur- und Kulturhistoriker hervor. Die hier besprochene Erzählung erschien erstmals in dem Bande «Novellen«, der im Jahre 1862 heraus­kam. Die gesammelten Novellen Herman Grimms sind vom Zbinden Verlag, Basel, neu gedruckt worden (1966), in zwei Bändchen, mit einer Einführung von Wolfram Groddeck.

103 unser lieber Theo Faiss: Der Knabe war der Sohn eines in Dornach lebenden Mitgliedes der Anthroposophischen Gesellschaft. Er war siebenjährig durch einen

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umstürzenden Möbelwagen ums Leben gekommen, als er füt seine Eltern eine

Besorgung machen wollte. Siehe »Unsere Toten», a. a. 0., S.101.

104 Julius Robert Mayer: Heilbronn 1814-1878 ebenda. Arzt und Physiker.

110 eine liebe Freundin zur Bestattung: Sibyl Colazza, gestorben im Januar 1915. Die Trauerfeier in Zürich fand am 31. Januar statt. Siehe »Unsere Toten», a. a. 0., S.116-121.

111 f. wie ich bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt habe: Zum Beispiel im 6. Vortrag des Zyklus »Der Christus-Impuls und die Entwickelung des Ich-Bewußtseins», Bibl.-Nr. 116, Gesamtausgabe Dornach 1961; und im I Vortrag des Zyklus »Das Markus-Evangelium«, Bibl.-Nr. 139, Gesamtausgabe Dornach 1976.

112 Shakespeare, 1564-1616.

von einem anderen Kunstwerke: «Unüberwindliche Mächte«, Roman, erstmals erschienen 1867; 3. Auflage 1902 in 2 Bänden, Berlin 1902.

118 den Wiener Zyklus: Siehe Hinweis zu S.80.

120 bei unserer lieben Frau Grosheintz: Lina Grosheintz-Rohrer, gestorben im Januar

1915. Die Trauerfeier in Basel fand am 10. Januar statt. Siehe «Unsere Toten«, a. a. 0., S.108-115.

126 mit den Vorträgen, die ich in Norrköping gehalten habe: Gemeint sind die drei Vorträge, die Rudolf Steiner vom 28. bis 30. Mai 1912 unter dem Titel «Theosophi­sche Moral» gehalten hat. Sie erschienen innerhalb der Gesamtausgabe in dem Band Bibl.-Nr. 155, der 1960 unter dem Titel «Christus und die menschliche Seele» herauskam. Die betreffende Stelle befindet sich am Anfang des ersten Vortrages.

»Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden!»: Das Wort steht als letzter Vers der

8. Strophe in dem Gedicht «Zueignung«, das Goethe der ersten Gesamtausgabe

seiner Werke voranstellte.

127 Wiener Zyklus: Siehe Hinweis zu S.80.

139 Ein Künstler der neueren Zeit und Ein anderer Künstler der neueren Zeit: Konnten bisher nicht ermittelt werden.

141 Theo Faiss: Siehe Hinweis zu S.103.

143 unsere hingestorbene Freundin Sibyl Colazza: Siehe Hinweis zu S.1 10.

144 unseres so jung verstorbenen Freundes, Fritz Mitscher: Siehe »Unsere Toten»,

a. a. 0., S.122-129.

149 wie auch unserem Freunde Christian Morgenstern: Siehe Hinweis zu S.26.

156 die demütige Hingabe an den Weltenprozeß: In einem der Stenogramme steht statt «Weltenprozeß« «Atemprozeß« .

164 in dem Münchner Zyklus: »Die Geheimnisse der Schwelle«, Bibl.-Nr. 147, Gesamtausgabe Dornach 1969.

167 Ludwig Feuerbach, 1804-1872, Schüler Hegels, der sich später ganz von seinem Lehrer trennte und der materialistischen Philosophie zuwandte. Die beiden Zitate stammen aus dem Buche «Gedanken über Tod und Unsterblichkeit». Es erschien erstmals 1846 und enthielt eine Reihe von Aufsätzen und Dichtungen, die zum Teil auch schon früher veröffentlicht worden waren. Das erste Zitat findet sich in dem

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Aufsatz »Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie», im Kapi­tel »Subjektive Notwendigkeit des Unsterblichkeitsglaubens». Das zweite ist in dem Aufsatz »Todesgedanken» enthalten, in dem Kapitel »Der physische Grund des Todes». Dieser Aufsatz war schon einmal im Jahre 1830, allerdings anonym, veröffentlicht worden. Sein Inhalt bewirkte, daß nach Bekanntwerden des Verfas­sers, dieser an keiner Universität des damaligen Deutschland eine Anstellung finden konnte.

170 in einer Zeitschrift, die sich «Hochland» nennt: Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, gegtündet 1903, herausgegeben von Karl Muth, 1867-1944, einem katholisch-religiösen Schriftsteller, dessen Hauptwerk «Wieder­geburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis» 1903 erschienen ist. Im 12. Jahrgang (1915) findet sich im Märzheft ein Artikel mit dem Titel »Ein polnischer Messianist als Wahrsager der westlichen Zivilisation». Darin heißt es u. a.:

«Absonderliche Ideen mögen in den Träumen eines Dichters immer noch liebens­würdig und lebenswarm erscheinen. Wenn sie aber von einem reinen Fanatiker des Gedankens in pseudowissenschaftliche Systematik gezwängt werden, dann wirken sie nur noch dürr und abstoßend. Der ehemalige Krakauer, nun Genfer Dozent Wincenty Lutoslawski, dessen treffende Kritik der Steinerschen, sogenannten ,Geheimwissenschaft« den Hochlandlesern noch erinnerlich sein wird, ist leider selbst immer deutlicher dem gleichen Mißbrauch verfallen, den er damals dem bekannten Theosophen vorgeworfen hat: ,Was unter dem Namen einer Wissen­schaft auftritt, muß redlich die Quellen angeben, aus denen angebliche Wahrheiten stammen, und darf sich nicht auf persönliche Autorität oder Einweihung berufen.« Dabei beruft sich nun Lutoslawskl selbst in seinem Buche ,Volonté et Liberté' (1912), messianistische Mystik mit moderner Psychologie aufs absonderlichste mischend, auf Wahrheiten und Ansichten, die ,bis jetzt nur von einigen auserwähl­ten Wesen vorausgesehen« werden, und entwirft auf Grund dessen Zukunftsschil­derungen und Erziehungsprogramme, bei denen, gelinde gesprochen, nur der Wunsch der Vater des Gedankens ist.«

173 Wilhelm Jordan, 1819-1904. Aus Ostpreußen stammend, wurde bekannt durch seine große Dichtung «Demiurgos« (erschienen 1852-54) und vor allem durch das Epos «Die Nibelunge«, das in zwei Büchern, »Sigfridsage» (1868) und «Hilde­brants Heimkehr«« (1874), die alte Sage von Siegfrid und den Nibelungen neu erzählt. Die im folgenden angeführten, durch Frau Marie Steiner innerhalb des Vortrages rezitierten Stellen stammen durchwegs aus dem ersten Buch dieses Epos.

177 « Wo n«'n rheinische Reben»: Beginn des 20. Gesanges.

178 «Als die sinkende Sonne»: Ende des 20. Gesanges.

181 «War da drüben nicht längst das Feuer erloschen»: Ende des 21. Gesanges.

183 «Der Held gehorchte»: Aus dem letzten Teil des 23. Gesanges.

191 Christoph Heinrich Müller: Philologe und Historiker, geb. 1740 in Zürich, gest.

1807 daselbst. Er wirkte zeitweise in Berlin, wurde hauptsächlich bekannt durch die Herausgabe altdeutscher Dichtungen. 1782-1785 erschien seine «Sammlung deutscher Gedichte aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert». Die Ausgabe des Nibelungenliedes - die erste Gesamtausgabe des Werks - war Friedrich dem Großen gewidmet. Dieser verhielt sich zunächst freundlich aufmunternd. Erst im weiteren Verlauf von Müllers Arbeit verlor der König das Interesse dafür und schrieb am 22. Februar 1784 den erwähnten Brief.

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191 der Zögling Voltaires, Friedrich II.. Friedrich II., 1712-1786, seit 1740 König von Preußen, war stark beeindruckt von den aufklärerischen Gedanken Voltaires, 1694 bis 1778. Von 1750-1753 weilte der Philosoph, auf Einladung des Königs, an semem Hofe in Potsdam.

193 Nehmen wir nur ein Beispiel: Alle drei folgenden Wortlaute sind altdeutsch, stammen aber aus verschiedenen Dialekten der im 9. Jahrhundert in Deutschland gebrauchten Sprache. Der erste findet sich in der geistlichen Dichtung »Heliand» (,,,,ers 388 und 389), ist also altsächsisch (siehe auch Hinweis zu S.213); der dritte ist dem «Hildebrandslied» entnommen (,,,,ers 26), das in althochdeutscher Sprache abgefaßt ist. Der zweite Wortlaut scheint von Rudolf Steiner selbst aus Elementen der althochdeutschen und der altsächsischen Sprache zusammengesetzt worden zu sein, da er in der angeführten Form nicht überliefert ist.

196 Seit dem Jahre 1907 arbeiten wir daran: Näheres über diese Arbeit ist vor allem zu ersehen aus den beiden Bänden: Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers ««Methodik und Wesen der Sprachgestaltung«, Bibl.-Nr. 280, Gesamtausgabe Dornach 1964, und Rudolf Steiner und Marie Steiner-von Sivers «Die Kunst der Rezitation und Deklamation«, Bibl.-Nr. 281, Gesamtausgabe Dornach 1967.

das Bild des Geisterlandes in der «Pforte der Einweihung». Die Pforte der Einweihung«« heißt das erste von vier Mysteriendramen, die Rudolf Steiner geschrieben hat und die zuerst in München, später am Goetheanum in Dornach aufgeführt wurden. Sie sind erschienen als Bibl.-Nr. 14 der Gesamtausgabe, Dornach 1964, ferner als Taschenbuch (tb-Nr. 607/608) in 2 Bänden. Das erwähnte Bild ist das siebte des ersten Dramas.

198 in dem von ihm herausgegebenen «Demiurgos»: Siehe Hinweis zu S.173.

wie es der Herr Karl Rudolf von Gottschall war: Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Kritiker und Literaturhistoriker, 1823-1909.

200 in einigen der vorigen Vorträge: Vor allem im 9. Vortrag dieses Bandes (28. März

1915). Ferner auch im 4. Vortrag von «Kunst im Lichte der Mysterienweisheit», a. a. 0., (31. Dezember 1914).

203 Ich habe es oftmals betont: Zum Beispiel im 9. Vortrag des Bandes «Ergebnisse der Geistesforschung« (Bibl.-Nr. 62, Gesamtausgabe Dornach 1960). Der Ausspruch «Natura non facit saltus» - «Die Natur macht keine Sprünge«, findet sich zuerst bei Fournier »Variétés historiques et littéraires», 1613; dann bei Leibniz in seinen «Nouveaux essais«, 1704; und schließlich bei Linne in der »Philosophia botanica«, 1751.

209 «Evangelienharniionie» des Otfried: Über sein Leben ist sehr wenig bekannt:

Geboren um 800 in der Gegend des Klosters Weißenburg im Unterelsaß, zwischen 820 und 830 Schüler des Hrabanus Maurus im Kloster Fulda, dann als Mönch im Kloster Weißenburg wirkend. Seine «Evangelienharmonie», die erste größere deutsche Dichtung in Reimen, muß er in der Zeit zwischen 863 und 871 geschrie­ben haben. Die Mundart ist südrheinfränkisch.

Hrabanus Maurus: Geboren um 780, gestorben 856 in Mainz. Er wirkte von 822 bis 842 als Abt des Klosters Fulda, seit 847 als Erzbischof von Mainz. Er gilt als großer Förderer der Gelehrsamkeit und des Christentums in Deutschland; man nennt ihn den «Lehrer Deutschlands».

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211 nt'cb des Angelus Siesius Ausspruch: Johann Scheffler, genannt Angelus Silesius, lebte von 1624-1677. Sein Hauptwerk heißt «Cherubinischer Wandersmann. Geistreiche Sinn- und Schlußreime». Die Andeutung Rudolf Steiners bezieht sich wohl auf Verse wie die folgenden:

»Des Herren Christi Tod hilft dir nicht eh, mein Christ.

Bis auch du selbst für Ihn in Ihm gestorben bist.» (Aus dem 2. Buch.) »Die Auferstehung ist im Geiste schon geschehn:

Wenn du dich läßt entwirkt von deinen Sünden sehn.« (Aus dem 4. Buch.)

213 «Heliand«: Altsächsisches, christliches Epos in Stabreimen, welches Leben und Lehre des Heiland (altsächsisch Heiland) darstellt. Es entstand um 830. Sein Verfasser ist nicht bekannt, man weiß jedoch, daß er zu Hrabanus Maurus, wie Otfried, in Beziehung stand.

228 Michelangelo, 1475-1564.

was Herman Grimm so schön gesehen hat: Siehe Hinweis zu S.93. Die Ausführun­gen über das Jüngste Gericht von Michelangelo finden sich im 12. Kapitel (3. bis 7. Teil) seines Hauptwerkes »Leben Michelangelos«, erschienen in zwei Bänden

1860 bis 1863, einer großen kulturhistorischen Darstellung des ganzen Zeitalters der Renaissance.

229 Ludwig Feuerbach, 1804-1872; David Friedrich Strauß, 1808-1874. Über beide Denker spricht Rudolf Steiner ausführlich in seinem Werk »Die Rätsel der Philoso­. phie« (Bibl.-Nr. 18) in dem Kapitel »Die radikalen Weltanschauungen», Gesamt­ausgabe Dornach 1968.

230 vor einigen Tagen . . . sagen du'fte: In einer Ansprache vom 28. März, die Rudolf Steiner hielt zur ersten Wiederkehr des Todestages von Christian Morgenstern. Vergleiche auch den Hinweis zu S.26.

234 Otto Liebmann, deutscher Philosoph, 1840-1912, Professor in Straßburg und Jena. Die zitierte Stelle findet sich in seinem Werk «Gedanken und Tatsachen, philoso­phische Abhandlungen, Aphorismen und Studien», im 2. Heft, 5. Abteilung, erschienen i 899.

244 wie Lichtenberg gesagt hat: Georg Christoph Lichtenberg, 1742 - 1799, «Aphoris­men«, posthum 1901 herausgegeben von Albert Leitzmann. Das Zitat lautet wörtlich: «Wenn ein Buch und ein Kopf zusammenstoßen, und es klingt hohl, ist das allemal im Buch?«

248 Was ich vor einiger Zeit hier angeführt habe: Siehe den 8. Vortrag dieses Bandes, vom 27. März 1915.

von der Leibesorganisation: Im Stenogramm und in der früheren Ausgabe dieses Vortrages ging nach dem Wort »Leibesorganisation» der Satz noch weiter mit den Worten «in dem man darinnen steht, schon im Leben». Vermutlich liegt hier ein Hör- oder Schreibfehler vor. Aus dem Zusammenhang des Ganzen kann man vermuten, daß der Satz etwa so gesagt wurde: «. i . Ätherorgan gebildet, in dem man unabhängig wird von der Leibesorganisation, in dem man (oder: durch das man) im Geistigen darinnen steht, schon während des Lebens.«

258 in meinem letzten Wiener Zyklus. Siehe Hinweis zu S.80.

260 Wir haben auch darüber schon gesprochen: Im Vortrag vom i Januar 1915, abgedruckt in « Kunst im Lichte der Mysterienweisheit», siehe Hinweis zu S.11.

262 Schopenhauer, I 788-1860. Sein Hauptwerk «Die Welt als Wille und Vorstellung» erschien 1843. Die im folgenden erwähnte Schrift «Über den Willen in der Natur« erschien 1835.

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264 die atomistischen Materialisten: Über die hier angeführte Theorie von den Atombe­wegungen als der einzigen wahren Wirklichkeit schrieb Rudolf Steiner schon im Jahre 1890 einen Aufsatz mit dem Titel »Die Atomistik und ihre Widerlegung». Er wurde 1941 in den Veröffentlichungen aus dem literarischen Frühwerk, Band IV, Heft 19 erstmals abgedruckt, dann wieder in den «Beiträgen zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe», Nr.63, 1978. Innerhalb der Gesamtausgabe soll er in den Band «Entwürfe und Fragmente« eingereiht werden. - In diesem Aufsatz nennt Rudolf Steiner als einen Vertreter der materialistisch-atomistischen Weltanschauung Hugo Magnus, einen Ophthalmologen und Medizinalhistoriker, der von 1842-1907 gelebt hat.

267 Die Natur macht keine Sprünge: Siehe Hinweis zu S.203.

268 Geselischaft für ethische Kultur: Die Ziele dieser aus Amerika stam"nenden Gesell-schaft und seine Ansichten über sie hat Rudolf Steiner eingehend im 17. Kapitel von »Mein Lebensgang« dargestellt. Der deutsche Zweig der Gesellschaft wurde auf Anregung von W. Foerster und Georg v. Gizycki im Jahre 1892 in Berlin begründet.

ein gewisser Starbuck: Edwin Diller Starbuck, amerikanischer Religionspsycho.­loge, Professor in Palo Alto bei San Francisco und in Jowa. Sein Werk «The Psychology of Religion« erschien 1899; eine deutsche Übersetzung desselben 1909. Die von Rudolf Steiner geschilderte statistische Forschungsmethode wird in dem 2. Kapitel (deutsche Ausgabe S.21-28) auseinandergesetzt.

270 Storting: Das norwegische Parlament.

271 den Goetbeschen «Faust« verschimpfiert: Gemeint ist der Vortrag vom 4. April

1915 (abgedruckt in «Geisteswissenschaftliche Erläuterungen zu Goethes Faust«,

Band I. Bibl.-Nr. 272, Gesamtausgabe Dornach 1967), in dem Rudolf Steiner auf

eine gewisse Uneinheitlichkeit im Aufbau des «Faust» hinwies, die mit der Größe

des Themas zusammenhängt.

272 die Vorträge über die Jungfrau von Orleans, Konstantin: Vergleiche den dritten

Vortrag dieses Bandes und die Hinweise zu S.60.

bei der Oste'feier: Gemeint ist die Osterveranstaltung vom 4. April 1915, bei der

Szenen aus Goethes «Faust « dargestellt wurden, an welche Rudolf Steiner in der

darauf folgenden Ansprache anknüpfte. Siehe Hinweis zu S.271.

aus dem Grunde, den ich schon angeführt habe: Marie Steiner bemerkte dazu in der

ersten Ausgabe dieses Vortrages im Jahre 1935: »Anspielung auf chauvinistische

Emotionen während der Kriegizeit.«

277 daß sich Dinge ereignet haben: Siehe den vorangehenden Hinweis. von einem gewissen . Im Stenogramm steht an dieser Stelle der offenbar abgekürzte Name «Church». In einer nur notizenartigen, nicht stenographischen Nachschrift des Vortrages ist der Name mit Churchill ausgeschrieben. Es könnte sich durchaus um Winston Churchill (1874-1965) handeln. Er war zur damaligen Zeit Lord der Admiralität im Kriegskabinett. Es erschien von ihm u. a. im Jahre 1915 eine Broschüre mit dem Titel »Die Kriegführung zur See«, auch in deutscher Sprache. Sie enthielt je eine im Parlament gehaltene Rede von ihm und von dem damaligen Premierminister Herbert Asquith. In Churchills Rede kommen einige Stellen vor, auf die sich die Bemerkungen Rudolf Steiners beziehen könnten.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.