GA 157a

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RUDOLF STEINER

VORTRÄGE

VORTRÄGE VOR MITGLIEDERN
DER ANTHROPOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

Schicksalsbildung
und Leben nach dem Tode

Sieben Vorträge, gehalten in Berlin
vom 16. November bis 21. Dezember 1915

GA 157a

1981

Inhaltsverzeichnis


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ERSTER VORTRAG Berlin, 16. November 1915

Da ich nach langer Abwesenheit zu meiner tiefen Befriedigung wie­derum in Ihrer Mitte sein darf, so möchte ich die drei Vorträge die­ser Woche vor allen Dingen dazu verwenden, unsere Blicke hinzuwenden auf Erkenntnisse der geistigen Welt, die in einem näheren oder entfernteren Zusammenhang stehen mit demjenigen, was uns ja aus den bedeutsamen, tief einschneidenden Zeitereignissen so sehr beschäftigen und berühren muß. Nicht zunächst auf diese Zeit­ereignisse selber soll der Blick geworfen werden, sondern auf dasje­nige, was wohl in allen Seelen, in allen Empfindungen mit diesen Zeitereignissen wie Rätselfragen, wie bange Fragen an Menschen- und Weltenschicksal zusammenhängt: Auf jenes weitere Schicksal der Menschenseele, welchem die Menschenseele unterliegt auf demjenigen Felde des Weltendaseins, dem der Blick der Geisteswis­senschaft ja auch zugewendet ist und das sich nicht erschöpft mit dem irdischen, dem materiellen Dasein, darauf soll der Blick gewen­det werden. So nahe, meine lieben Freunde, liegt es uns ja in dieser Zeit, anzuklopfen an die Pforte, durch die das Menschenwesen dringt, wenn es diesen irdischen Leib in irgendeiner Form verläßt. Zu dem hin drängt es uns, zu dem das Menschenwesen aufblicken kann, wenn es einen höheren Trost, eine tiefere Kraftquelle braucht, als der Trost sein kann, der nur vom materiellen Leben kommt, als die Kraftquellen sein können, die nur innerhalb des materiellen Le­bens liegen. Wie tausendfältig klopft die Stimme der geistigen Welt in unserer Zeit an unsere Herzen, auch solcher Menschen, die ja oft­mals mit ihren Herzen nicht eindringen wollen in die geistige Welt, obwohl diese Herzen auch für jene Menschen die Fenster sind in die geistige Welt hinaus. Wie deutlich klopft so tausendfältig diese geistige Welt in unserer Zeit an diese Fenster, und wie muß es uns naheliegen, wiederum einmal von einem besonderen Gesichtspunkte aus zusammenzufassen mancherlei, was wir wissen können über diese geistige Welt.

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Eine geistige Welt wird derjenige bald zugeben müssen, der über die engsten Vorurteile des Materialismus hinausgekommen ist, und engbegrenzte Vorurteile des Materialismus möchte ich die nennen, aus denen heraus das Dasein einer geistigen Welt überhaupt abge­leugnet wird. Etwas weiter ist ja schon der Blick derjenigen Men­schen, die diese geistige Welt nicht ableugnen, sondern nur behaup­ten, man könne mit menschlichen Mitteln von dieser geistigen Welt nichts wissen. Wie gesagt, wenn man nicht auf dem ganz beschränk­ten materialistischen Standpunkt der ersteren Art steht und durch das menschliche Leben so weit gereift ist - und man kann bald so weit reifen -, eine geistige Welt - wenn man schon ihre Erkennbar­keit leugnen wollte - wenigstens zuzugeben, so wird man daran denken müssen, daß das Wissen, das man sich aneignen kann, und die Lebensresultate, die man erzielen kann durch die gewöhnliche materielle Welt, geringfügig sind gegenüber dem, was sich als ein weiter Reichtum ausbreitet in der geistigen Welt, die hinter der physisch-sinnlichen liegt.

Gewiß, es gibt in unserer Zeit engherzige materialistische Seelen, welche das ganze menschliche Wesen in so enge Grenzen fassen wollen, daß man den Menschen anzusehen habe als nur ein wenig höher entwickelt als das Tier, aber ganz im Sinne der tierischen Ent­wickelung liegend. Gewiß, es gibt solche Menschen. Aber sie wer­den wohl immer weniger werden, denn, wie wir oftmals gesehen ha­ben, schon die gewöhnliche Wissenschaft läßt diese Vorurteile nicht aufkommen. Und wenn man nur einmal anfängt zuzugestehen, daß im Menschenwesen noch etwas ist, was über das äußerlich Natürli­che hinausragt, dann wird einem sehr bald eine Erkenntnis darüber aufgehen können, wie geringfügig, wie engbegrenzt dasjenige ist, was die physische, sinnliche Welt umfaßt, gegenüber dem Großen, Gewaltigen, das die ganze Welt umfaßt. Und wenn man dann auf den Menschen selber sieht, wenn man sich bewußt wird dessen, was im Menschen lebt und leben kann, so kann man doch nicht anders als sagen: So weit auch die geistige Welt reicht, so groß auch ihr Reichtum ist, der Mensch ist eine Art Mikrokosmos in sich. Man möge es für noch so unbekannt halten: in sein Wesen reicht herein

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der ganze Reichtum der geistigen Welt. Wie gesagt, mag für das sinnliche Anschauen jene Tiefe der Seele noch so verborgen sein, in die die tieferen Partien der geistigen Welt hineinreichen, sie reichen hinein in das menschliche Wesen. Der Mensch ist nicht nur, wie das sein physischer Leib ist, ein Zusammenwirken äußerer physischer Kräfte und Substanzen, der Mensch ist ein Ergebnis der ganzen Welt, ein wirklicher Mikrokosmos. Und vieles, was wir treiben, vie­les, was wir aufsuchten, war ja dazu bestimmt, uns im einzelnen klarzumachen, inwiefern der Mensch ein Ergebnis der geistigen Welt ist, inwiefern in ihm wirklich zu suchen sind nicht nur die Kräfte dieser Erde, sondern die aller Himmel, könnte man sagen.

Wenn man aber nur einmal erfaßt wird von diesem Gedanken, dann wird einem auch klar, daß man ja mit dem gewöhnlichen Wis­sen von dem Menschen im Grunde das allerwenigste weiß. Mit die­sem gewöhnlichen Wissen weiß man einiges über die Gesetze der Natur, man erwirbt sich dieses Wissen zwischen Geburt und Tod. Aber man wird eben nur durch ein klein wenig Vertiefung in die Geisteswissenschaft - nicht einmal, indem man ihr Bekenner ist, sondern nur, indem man Lebensrätsel aufwirft - schon erkennen, daß man, wenn man den Menschen erkennen will, an etwas ganz an-deres noch sich wenden muß als an das bißchen äußere Wissen, das man erwerben kann zwischen Geburt und Tod durch die äußeren Mittel des Leibes, durch die äußeren Sinne und den Verstand, der an das Gehirn gebunden ist.

Nun, meine lieben Freunde, verbinden wir diesen Gedanken mit einem anderen, mit dem Gedanken, der sozusagen wie ein roter Fa­den durch alle unsere Betrachtungen geht: mit dem Gedanken der wiederholten Erdenleben. Was denen, die sich ein wenig beschäftigt haben mit unseren Anschauungen, bei diesem Gedanken der wie­derholten Erdenleben zunächst am meisten auffallen muß, das ist, daß die Zeit, die wir hier zubringen zwischen Geburt und Tod, ver­hältnismäßig kurz ist gegenüber der Zeit, die wir in der geistigen Welt zwischen dem Tod und einer neuen Geburt zubringen. Von den verschiedensten Gesichtspunkten aus haben wir besprochen, daß in der Regel diese Zeit, die der Mensch zu durchleben hat zwischen

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dem Tod und einer neuen Geburt, viel, viel länger ist als die verhältnismäßig kurze Zeit zwischen Geburt und Tod hier im physi­schen Leben.

Es besteht zwischen den beiden Gedanken, die ich eben äußerte, ein Zusammenhang: das wenige, das wir uns hier erwerben an Wis­sen und Lebensfrüchten zwischen Geburt und Tod, das steht zu dem geistigen Reichtum der Welten, mit denen der Mensch zusam­menhängt, ungefähr in demselben Verhältnis wie die kurze Zeit zwischen Geburt und Tod zu der langen Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Denn in der Tat, das wird Ihnen hervorge­hen aus manchen Betrachtungen, die wir gepflogen haben, daß es ja die Aufgabe der Menschenseele ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, sich ganz andere Erkenntnisse und Kräfte anzueig­nen, als die Erkenntnisse und Kräfte sind, die man sich hier im phy­sischen Leben aneignet. Wirklich, man kann sagen, meine lieben Freunde, wenn wir so hereintreten in das physische Erdenleben, wenn wir aus der geistigen Welt kommen und einverkörpert werden in den Leib, den uns die Vererbungslinie gibt von unseren Ahnen her, dann gehört es zu unserer Aufgabe, alle die Kräfte und alle die feinen Verzweigungen dieser Kräfte zu haben, die wir brauchen, um diesen unseren Leib durchzuorganisieren.

Sehen Sie, unser Leib, so wie wir ihn bekommen, wird uns von unseren Eltern geboren. Aber mit diesem Leibe verbindet sich un­ser geistig-seelisches Wesen, das eine lange Zeit vorher durchge­macht hat in der geistigen Welt zwischen Tod und neuer Geburt. Könnte man sehen - wenn es überhaupt berechtigt wäre, die Hypo­these auch nur einen Augenblick in Erwägung zu ziehen -, was die­ses äußere Menschenwesen werden kann nur durch die Kräfte der Vererbung, die Kräfte, die der Substanz eigen sind, die von den El­tern uns übergeben werden, dann würden wir sehen, daß mit diesen Kräften der Mensch nicht werden kann der, der er ist. Wir müssen in diese Kräfte, die unser äußeres physisches Dasein darstellen, in diese Substanzen und Organgliederungen, in die Form, die wir von den Eltern bekommen, hineingießen dasjenige, was wir als Seele mitbringen, und es aus dem Abstrakten zu dieser individuellen Persönlichkeit

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machen, die wir sind. Wie gesagt, es ist eine törichte Hy­pothese, aber man kann sie aufstellen, um sich etwas klarzumachen: Denken wir uns einmal, was entstehen würde, wenn Sie alle nur von Ihren Eltern geboren sein könnten? Wir sehen dabei von Karma ab, sehen davon ab, daß wir natürlich in bestimmte Familien hineinge­boren werden, wir sehen nur auf die physische Vererbung. Da wür­den Sie alle gleich sein als Menschen, da würden Sie nur den allge­meinen physischen Menschencharakter haben! Daß Sie ein ganz be­stimmter individueller Mensch sind, daß soundsoviele individuelle Menschen hier vor uns sitzen, das rührt davon her, daß die allge­meine Menschheitsschablone bis in die feinste Gliederung auszise-liert ist von der geistigen Individualität, die aus der geistigen Welt kommt und untertaucht in dasjenige, was von Vater und Mutter ge­geben wird. Dazu muß man ebenso, wie man Finger haben muß, um einen Gegenstand der physischen Welt zu ergreifen, und wie man eben den Gegenstand sehen muß, um ihn zu ergreifen, wie man dazu Organe haben und auch gelernt haben muß, etwas zu ergreifen - das Kind kann ja nicht einen Gegenstand ergreifen, es muß es erst lernen -, so muß man gelernt haben, sich anzuschließen all den ein­zelnen Organen, die unseren Organismus physisch bilden.

Nicht wahr, wir haben «im allgemeinen» Ohren, aber wir hören in individueller Weise. Wir haben «im allgemeinen» Augen, aber wir sehen in individueller Weise. Für die äußeren Organe ist es noch am wenigsten wahrnehmbar, für das innere Verhalten des Menschen aber, da fällt es schon stärker auf. Deshalb müssen wir unser Gei­stig-Seelisches hineinschieben in alle diese ganz allgemein gehalte­nen Organe, wir müssen das ganz individuell gestalten, müssen die Kräfte, die innerlich-geistig-seelischen Handgriffe kennen, um das, was wir als Ohren, Nase, Augen, Gehirn, um all das, was wir als Ver-erbungsorgane erhalten haben, individuell zu gestalten. Das heißt, wir müssen, wenn wir in die physische Welt durch die Geburt ein­treten, Kenntnisse haben, und nicht nur Kenntnisse, sondern prak­tische Möglichkeiten der Anwendung dieses ganzen Wunderbaues des Menschen, von dem wir so wenig durch äußere Wissenschaft wirklich wissen. Wir müssen zum Beispiel den ganzen feinen Bau

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des Gehirns innerlich kennen, weil wir ihn innerlich durchorgani­sieren müssen. Und alle diese geistig-seelischen Handgriffe, alles dieses, was uns möglich macht, überhaupt in einem Menschenleibe zwischen Geburt und Tod ein Mensch zu sein, all das müssen wir uns erwerben. Genau wie wir uns Geschicklichkeiten im Leben er­werben müssen, so müssen wir uns die Fähigkeit, im physischen Le­ben ein Mensch sein zu können, zwischen dem Tod und einer neuen Geburt erwerben.

Das müssen wir ins Auge fassen, meine lieben Freunde, das muß uns ganz klar sein. Und wir werden uns dann auch einen Begriff ma­chen können, was wir alles durch bloß physisches Wissen vom Men­schen nicht erkennen und was wir erkennen müssen durch jenes an­dere Wissen, das wir uns praktisch anzueignen haben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Aber wir wissen: Dasjenige, was wir uns aneignen zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, das ist ja aufgebaut auf alledem, was wir uns in den früheren Erdenleben an­geeignet haben. Und so, wie geregelt ist in einer gewissen Weise un­ser physisches Leben hier zwischen Geburt und Tod, so ist auch in einer gewissen Weise geregelt unser Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Nicht wahr, wir treten in das physische Leben herein, man möchte sagen halb schlafend, träumend, als kleines Kind. Wir können zunächst nicht ein Gedächtnis entwickeln, wir lernen erst, ein Gedächtnis zu entwickeln. Wenn wir aber genauer zusehen, finden wir, daß in der Zeit, bis wir das Gedächtnis entwik­keln, gewisse Anpassungen an die äußere Welt erworben werden. Das Kind krabbelt zuerst und lernt dann erst greifen. Da werden ge­wisse Dinge erworben, systematisch erworben. Aber es wird vieles gelernt in dieser Zeit, viel mehr, als man gewöhnlich beobachtet. Dann wiederum ist jede einzelne Lebensepoche so verlaufend, daß das Spätere sich auf Früherem aufbaut. Das Menschenleben ist also auch hier zwischen Geburt und Tod in seinem Verlaufe aufgebaut, nicht nur in seinem körperlichen Bau. Ebenso geregelt ist das Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Und da brauchen wir uns nur ein­zelnes vor die Seele zu rücken, das wir längst kennen, so werden wir gewahr werden, wie geregelt dieses Leben ist.

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Sehen Sie, das haben wir ja öfter betont, wir brauchen hier zu un­serem seelischen Leben im physischen Dasein eine Vorstellung un­seres Ich, die nicht abreißt, nachdem sie einmal geknüpft worden ist im zweiten, dritten, vierten Lebensjahr, an den Zeitpunkt, bis zu dem wir uns zurückerinnern. Bei Menschen, bei denen gewisserma­ßen dieser Ich-Faden abreißt, findet eine Störung des seelischen Gleichgewichts statt. Es gibt solche Menschen, ich habe es schon öf­ters erwähnt, aber das, was solche Menschen haben, ist immer eine schwere Seelenkrankheit. Es kommt vor, daß ein Mensch plötzlich herausgerissen wird aus dem Zusammenhang seines Ich. Er erinnert sich nicht an sein früheres Leben, das er gelebt hat. Er geht, sagen wir, zum Bahnhof, kauft sich ein Billett nach irgendeinem Ort. Sein Verstand funktioniert ganz ordentlich. Bei allen Übergangsstationen macht er alles Nötige ganz vernünftig. Aber er erinnert sich nicht an das, was vorher war. Sein inneres Leben ist nur ausgebreitet bis zu einem Punkte, wo er sich entschlossen hat, sich ein Billett zu kaufen und die Reise zu machen. Er reist in der Welt herum, sein Verstand ist ganz in Ordnung. Dann kommt ein Augenblick, wo er weiß: er ist «er». Vorher war sein Seelenleben gedächtnismäßig ausgelöscht. Der Verstand kann in Ordnung sein, das Gedächtnis ist ausgelöscht. Dann ist das Ich eben zerrissen, und der Mensch unterliegt einer schweren Seelenkrankheit.

Ich habe selbst einen Bekannten gehabt, der in einer verhältnis­mäßig hohen Stellung plötzlich von einer solchen Krankheit befal­len wurde. Er bekam plötzlich den Drang, nachdem er alles verges­sen hatte, was er selber war, herumzureisen. Er reiste, wie wir sagen würden, blindlings in der Welt herum von einem Ort zum andern und fand sich wiederum hier in Berlin in einem Asyl für Obdach­lose. Da kam er wiederum darauf: Du bist der, der du bist! Die Zwi­schenzeit war zwar ganz verständig gewesen, aber hing nicht zusam­men mit dem übrigen Leben. Dann überfiel ihn ein zweites Mal die­se Krankheit; da hat er dann freiwillig den Tod gesucht, in dem Be­wußtsein, in dem das Gedächtnis mit dem Ich noch ausgeschaltet war.

Nun, sehen Sie, so wie in diesem Leben zwischen Geburt und Tod das Ich ein kontinuierlicher Faden sein muß, und in keinem

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Augenblick während des Tageslebens abgerissen werden darf diese Möglichkeit, sich an alles das zu erinnern, was verlaufen ist seit dem Zeitpunkt in der Kindheit, an den man sich zurückerinnert, so muß es auch sein in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Da müssen wir auch immer die Möglichkeit haben, unser Ich zu bewah­ren. Nun, diese Möglichkeit wird uns gegeben, und sie wird uns da­durch gegeben, daß die ersten Zeiten nach dem Tode eben so ver­laufen, wie wir es öfter beschrieben haben. Die allererste Zeit nach dem Tode verläuft ja so, daß man wie in einem großen Tableau sein eben abgelaufenes Leben vor sich hat. Man umfaßt durch Tage hin­durch, aber immer so, daß das Ganze da ist, gewissermaßen auf ein­mal sein bisheriges Leben. Man hat es wie in einem großen Pan­orama vor sich. Wenn man allerdings genauer zusieht, dann stellt sich heraus, daß diese Tage mit ihrem Rückblick auf das verflossene Leben sozusagen schon mit einer gewissen Nuance der Beobach­tung behaftet sind. Man sieht gewissermaßen das Leben in diesen Tagen von dem Gesichtspunkte des Ich aus, man sieht besonders alles dasjenige, woran unser Ich beteiligt war. Ich will sagen, man sieht die Beziehungen, die man zu einem Menschen gehabt hat, aber man sieht diese Beziehungen zu dem Menschen in einem sol­chen Zusammenhange, daß man gewahr wird, welche Früchte für einen selbst diese Beziehung zu dem Menschen getragen hat. Man sieht also die Sache nicht ganz objektiv, sondern man sieht all das, was Früchte für einen selber getragen hat. Man sieht sich überall im Mittelpunkt drinnen. Und das ist unendlich notwendig, denn von diesen Tagen, wo man so alles sieht, was fruchtbar für einen gewor­den ist, geht aus jene innere Stärke und Kraft, die man braucht im ganzen Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, um nun da den Ich-Gedanken festhalten zu können. Denn man verdankt die Kraft, das Ich festhalten zu können zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, diesem Anschauen des letzten Lebens; von dem geht diese Kraft eigentlich aus. Und insbesondere, meine lieben Freunde - ich muß das noch einmal betonen, wenn ich es auch hier schon gesagt habe -,insbesondere ist da der Moment des Sterbens von außerordentlicher Bedeutung.

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Der Tod ist etwas, was am allermeisten zwei total voneinander verschiedene Seiten hat. Der Tod von hier aus, von der physischen Welt aus gesehen, hat gewiß viele trostlose Seiten, viele schmerz­liche Seiten. Aber es ist wirklich so, daß man von hier aus den Tod von der einen Seite nur ansieht; wenn man aber gestorben ist, sieht man ihn von der anderen. Da ist er das befriedigendste, vollkom­menste Ereignis, das man überhaupt erlebt, denn er ist da lebendige Tatsache. Während er hier ein Beweis dafür ist, auch für unsere Empfindung, für unser Gefühl, wie hinfällig, wie vergänglich das physische Leben des Menschen ist, ist der Tod, angeblickt von der geistigen Welt aus, gerade ein Beweis dafür, daß immerdar der Geist den Sieg über alles Ungeistige davonträgt, daß immerdar der Geist das Leben ist, das unvergängliche, das nie versiegende Leben. Er ist gerade ein Beweis dafür, daß es keinen Tod gibt in Wirklichkeit, daß der Tod eine Maja, ein Schein ist. Darin liegt auch der große Unter­schied zwischen dem Leben von dem Tode bis zu einer neuen Ge­burt und dem Leben hier von der Geburt bis zum Tode.

Denn sehen Sie, kein Mensch kann sich mit gewöhnlichen phy­sischen Erkenntnismitteln an seine eigene Geburt erinnern. Die ei­gene Geburt kann niemand aus der Erfahrung beweisen, weil er sie nicht gesehen hat. Die Geburt ist etwas, das vor dem Menschenauge hier im physischen Leben nicht stehen kann. Die Geburt liegt vor der Zeit, an die man sich erinnert. Und die Geburt steht nie da. Der Tod aber - und dadurch unterscheidet er sich von der Geburt in sei­ner Bedeutung nach dem Tode - steht immer als das größte, bedeu­tendste, lebendigste, vollkommenste Ereignis vor dem geistigen Auge in der Zeit zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Denn der Tod ist eben das, wovon wir unser Ich-Bewußtsein nach dem Tode haben. Und ebenso wie es uns hier in unserem physischen Le­ben unmöglich ist, uns an unsere Geburt zu erinnern, ebenso not­wendig und selbstverständlich ist es in der ganzen Zeit, die wir in der geistigen Welt verbringen, in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt, daß immer der Moment, wo der Geist sich losringt von dem Leibe, vor unserem geistig-seelischen Blick steht. Denn aus diesem Tode heraus fließt uns eben im Zusammenhang mit

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dem, was wir hier erlebt haben, die Kraft, die wir brauchen, um uns als Ich zu fühlen. Man möchte sagen: könnten wir nicht sterben, so könnten wir ein geistiges Ich überhaupt nicht erleben. Denn daß wir ein geistiges Ich erleben, verdanken wir dem Umstande, daß wir physisch sterben können. So also liegt die Sache für unser Ich. Die­ses Ich wird gestärkt und gekräftigt dadurch, daß wir die ersten Tage, in denen wir noch im Ätherleibe sind, nach dem Tode erle­ben. Dann wird dieser Ätherleib abgelegt, und wir erleben rücklau­fend das Leben, das wir den Durchgang der Menschenseele durch die Seelenwelt nennen können, ein Leben, das nun schon länger dauert als das kurze, nur Tage andauernde Leben, das unmittelbar auf den physischen Tod folgt.

Nun ist die Meinung sehr verbreitet, daß derjenige, der in die gei­stige Welt hineinsehen kann, sogleich alles überschaut. Ich habe das schon oft korrigiert. Nichts macht so bescheiden, als das wirkliche Hineinsehen in die geistige Welt. Denn man kann lange hineinse­hen, aber das Erforschen der einzelnen Tatsachen der geistigen Welt, das ist eben in der geistigen Welt mit den Kräften der geisti­gen Welt eine wirklich lange, lange Arbeit, und es ist ein Vorurteil, wenn man glaubt, daß derjenige, der in die geistige Welt hinein­sieht, nun gleich über alles Auskunft geben könne. Und gerade so, wie hier in der physischen Welt nach und nach die Dinge erforscht werden, von Epoche zu Epoche, so ist das auch für das geistige Le­ben so, daß nach und nach die Dinge erforscht werden. Aber gerade - und jetzt möchte ich auf einen Punkt eingehen, der doch der ei­nen oder anderen hier sitzenden Seele wichtig sein muß -, gerade die absolute Zusammenstimmung der einzelnen geistigen Tatsa­chen, wenn man sie so nach und nach erforscht, wie sie sich immer wieder und wiederum herausstellen von neuem, die kann auch dem­jenigen, der noch nicht in die geistige Welt hineinsieht, ein Beweis der Berechtigung desjenigen sein, was in ehrlichem Forschen errun­gen wird aus der geistigen Welt. In meiner «Geheimwissenschaft» habe ich schon bestimmte Zeiten angegeben, wie lange die einzel­nen Abschnitte in dem Leben zwischen Tod und neuer Geburt dau­ern. aus verschiedenen Gesichtspunkten heraus. Nun gibt es aber

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noch einen anderen Gesichtspunkt, den ich jetzt anführen möchte und den ich in meiner «Geheimwissenschaft» noch nicht angeführt habe, aus einem einfachen Grunde, den ich Ihnen nicht verhehlen möchte, damit Sie auch daraus entnehmen können, daß hier in ehr­licher, aufrichtiger Weise Geisteswissenschaft getrieben wird: aus dem einfachen Grunde, weil ich es dazumal noch nicht gewußt habe, sondern es erst nachher erforschen konnte. Es ergibt sich nämlich ein gewisser Zusammenhang zwischen dem Leben, das als geistiges Leben hier auf dem physischen Plan entfaltet werden kann, und dem geistigen Leben zwischen dem Tod und einer neuen Geburt.

Sie wissen ja, daß wir unser Leben hier als physisches Leben ver­bringen in Wachen und Schlafen, daß wir einerseits ein volles Be­wußtsein haben im Wachzustand und daß dann für den normalen Menschen ein unbewußter Zustand verläuft in der Zeit zwischen Einschlafen und Aufwachen. Sie wissen auch aus dem, was ausein­andergesetzt worden ist in «Wie erlangt man Erkenntnisse der höhe­ren Welten?», daß dieses Schlafesleben durchstrahlt werden kann von Bewußtsein, daß man hineinschauen kann in dasjenige, was zwi­schen dem Einschlafen und Aufwachen geschieht. Wenn man nun dazu gelangt, immer mehr und mehr kennenzulernen das Leben, das der Mensch hier zwischen Geburt und Tod verbringt im Schlafe, da lernt man ja wirklich einen ungeheuren Reichtum des Lebens kennen. Ein ungeheurer Reichtum des Menschenlebens verfließt eben für das normale menschliche Dasein in diesem unbewußten Zustande zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Da geht ungeheuer viel vor. Und dasjenige, was sehr bald auffällt in diesem Schlafesleben, das ist das, daß dieses Schlafesleben ein ungeheuer viel aktiveres Leben ist als das Leben vom Aufwachen bis zum Ein­schlafen.

Wir sind ja während des Schlafens in unserem Ich und Astral­leibe und haben sozusagen außer uns liegen unseren physischen Leib und den Ätherleib. Nun gewiß, auch dieses äußere Leben ist ein aktives Leben, bei manchen Menschen ja sogar ein sehr aktives Leben. Es kommt einem nämlich so aktiv vor, weil wir alle die Passivitäten, die in diesem äußeren Leben sind, eigentlich gar nicht so

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sehr in Erwägung ziehen. Wirklich, wenn alles aus unserer Initiative hervorgehen müßte, was das äußere Leben trägt, dann würden wir uns sehr verwundern, wie anders es vor sich gehen würde. Denken Sie einmal: Sie stehen jeden Morgen auf. Sie kommen kaum zu dem Entschluß, aufzustehen, Sie tun es aus Gewohnheit. Und Sie kom­men wirklich nicht zu einer genaueren Erkenntnis dessen, was das heißt, daß man so zusammenhängt mit der ganzen Welteinrichtung, daß man in gewissen Zeiten in dem einen und anderen Zustand sein Leben zubringen muß, daß das in entsprechender Weise pendeln muß - ja, wo wäre solche Überlegung, das verläuft ganz gewohn­heitsmäßig. Und nun versuchen Sie einmal zu überlegen, wie vieles so verläuft, daß wir gewissermaßen als Automaten durch das Leben gehen. Dann kommen Sie darauf, zu erkennen, daß ungeheuer viel Passives ist im Leben zwischen dem Aufwachen und dem Einschla­fen, aber viel Aktives in dem Leben zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Da ist völlige Aktivität, ungeheure Aktivität. Inter­essant ist, daß Menschen, die verhältnismäßig träge sind im äußeren Leben zwischen dem Aufwachen und dem Einschlafen, gerade die geschäftigsten sind zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. Da ist der Mensch ungeheuer tätig, nur im normalen Leben weiß er es nicht. Und wenn man genauer hineinsieht in das, was die Seele - also Ich und Astralleib - da treibt, so ist diese Tätigkeit wirklich mit dem ganzen Dasein des Menschen innig zusammenhängend.

Wenn wir so durch das Leben schreiten, nehmen wir ja bewußt außerordentlich wenig von diesem Leben mit. Wir verarbeiten das Leben, so wie es äußerlich an uns herankommt, durchaus nicht voll­ständig. Ich möchte ein naheliegendes Beispiel nehmen. Sehen Sie, jetzt hören Sie sich diesen Vortrag an, der, sagen wir, eine Stunde dauert. Ja, wirklich ohne irgend jemandem nahetreten zu wollen von den lieben Freunden, die hier sitzen, darf ich sagen: Es wäre möglich, ungeheuer viel mehr in den Worten dieses Vortrages zu hören, als die einzelnen verehrten Freunde hören, die hier sitzen. Denn es wäre möglich, viel mehr zu hören, als ich selber weiß von dem, was ich sagen kann. Aber Sie werden - dieses soll nur gesagt werden, um das andere zu betonen - nach Hause gehen, Sie werden

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sich ins Bett legen und schlafen und morgen früh aufwachen. Und in der Zeit zwischen dem Einschlafen und Aufwachen werden Sie

- allerdings ganz unbewußt für das normale Bewußtsein - vieles von dem, was Sie jetzt gar nicht in der Lage sind zu hören, verarbeiten. Sie verarbeiten es ungeheuer genau in Ihrem nächsten Schlafe, und vielleicht auch noch in den anderen Nächten verarbeiten Sie es. Man sieht die Seele in einer ganz anderen Weise zwischen Einschla­fen und Aufwachen das verarbeiten, was aufgenommen wird. Und selbst wenn das vorkäme, daß jemand sehr unaufmerksam zugehört hätte, aber nur etwas hingebungsvoll wäre, so würde er schon durch das Hingebungsvolle doch mit seiner Seele verbinden dasjenige, was in dem Vortrag an geistigen Potenzen, an geistigen Impulsen liegt. Und das würde dann während des Schlafes verarbeitet, wie wir es brauchen, nicht nur für das nächste Leben bis zum Tode, sondern über den Tod hinaus.

So verarbeiten wir das ganze Leben, wie es verläuft im Wachzu­stande, vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Alles, was wir den Tag über erleben, das verarbeiten wir während der Nacht, so daß wir so­zusagen Lehren daraus ziehen, wie wir es brauchen für unser ganzes folgendes Leben über den Tod hinaus, bis in die nächste Inkarria­tion hinein. Wir sind unsere eigenen prophetischen Verarbeiter un­seres Lebens, wenn wir in Schlaf versinken. Dieses Schlafleben ist ein tief Rätselvolles, weil es viel inniger zusammenhängt mit dem, was wir erleben, als es mit dem äußeren Bewußtsein zusammenhän­gen kann. Aber wir verarbeiten das alles unter dem Gesichtspunkte seiner Fruchtbarkeit für das folgende Leben. Was wir aus uns ma­chen können dadurch, daß wir das erfahren haben, darauf geht un­sere Arbeit in der Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwa­chen. Wenn wir in der Seele energischer, mächtiger werden oder wenn wir uns Vorwürfe zu machen haben -: wir verarbeiten das, was wir auf diese Art erleben, so, daß es Lebensfrucht wird. Sie sehen daraus, meine lieben Freunde, daß dieses Leben zwischen dem Ein­schlafen und Aufwachen wirklich ungeheuer bedeutungsvoll ist, daß es tief einschneidet in das ganze Menschenrätsel.

Nun kommt dem Geistesforscher eines Tages die Intention - ja,

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man kann wohl sagen, die Absicht kommt dem Geistesforscher ei­nes Tages -, nun einmal dieses Leben des Schlafes zu vergleichen mit einem anderen Leben, mit einem außersinnlichen Leben. Und da verfällt er dann darauf, es zu vergleichen mit den Tagen, die fol­gen auf das Lebenstableau' im Kamaloka. Und siehe da, meine lie­ben Freunde - aber es ergibt sich das eben erst dem Blick der For­schung -, während man sich hier im Leben gedächtnismäßig erin­nert an all das, was man im Tagesleben erlebt hat, nach dem Tode, nachdem der Moment vorbei ist, bis zu dem das Lebenstableau ge­dauert hat, da bekommt man ein Gedächtnis für alle seine Nächte. Und das ist ein wichtiges Geheimnis, das einem aufgeht. Man erin­nert sich an alles Nachtleben. Dieser Rückgang stellt sich so dar, daß man wirklich von der letzten Nacht, die man hier verbracht hat im Leben, zur vorhergehenden und so immer weiter zurücklebt. Man erlebt da das ganze Leben wieder zurück, aber so, wie man es ange­schaut hat von der Nachtseite aus. Also alles das, was man über das Leben unbewußt gedacht und geforscht hat, erlebt man wiederum im rücklaufenden Gedächtnis. Man geht sein Leben wirklich durch, aber nicht von der Tagseite aus.

Wie lange kann das ungefähr dauern? Nun, denken Sie sich, daß man ungefähr ein Drittel seines Lebens verschläft. Es gibt Men­schen, die schlafen natürlich noch viel länger, aber im Durchschnitt ist es doch ein Drittel des Lebens, das man verschläft. Deshalb dau­ert auch der Rückgang ungefähr ein Drittel des verbrachten Erdenlebens, weil man die Nächte durchlebt. Denken Sie, wie wunderbar das zusammenstimmt mit den anderen Gesichtspunkten, die sich ergeben. Wir haben immer gesagt, daß das Kamaloka-Leben unge­fähr ein Drittel dauert der Lebensdauer. Wenn man aber das vorher Gesagte in Betracht zieht, dann sieht man ein, daß es wiederum ein Drittel sein muß. So stimmen die Dinge zusammen! Alle einzelnen Dinge stimmen immer wieder zusammen. Das ist das Wunderbare bei der Geistesforschung: Man lernt eine Tatsache kennen, und ist sie bestimmt, so lernt man sie von einer anderen Seite kennen. Es ist so, wie wenn man auf einen Berg steigt: Da hat man eine Aus­sicht einmal von der einen Seite und dann von einer anderen Seite.

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Trotz der Verschiedenheit wird das Wesentliche immer zusammen­stimmen. So können wir hier sagen: Im Erdenleben zwischen Ge­burt und Tod durchlebt man das Leben so, daß es einem immer ab­gerissen wird, daß es einem immer unterbrochen wird durch das Nachtleben, und man erinnert sich an das Tagesleben, an die Dinge, die man im Tagesleben erlebt hat. Aber in dem Nachtleben hat man sich in anderer Weise mit diesen Dingen beschäftigt, man hat sie, wie gesagt, nur verarbeitet. An das, woran man sich im physischen Leben nicht erinnern kann, daran erinnert man sich aber während des Kamaloka-Lebens. Das ist nun ein wichtiger Zusammenhang, und daraus werden Sie manches begreifen, was vielleicht sonst nicht so ohne weiteres zu begreifen ist.

Sehen Sie, insbesondere in unserer jetzigen Zeit gehen ja sehr viele, verhältnismäßig junge Menschen durch die Pforte des Todes hindurch. Ich habe schon von vielen Gesichtspunkten aus gesagt, was das für eine Bedeutung hat für das gesamte Leben des Men­schen. Aber sehen wir zunächst nur auf die beiden Abschnitte, die wir jetzt charakterisiert haben - auf anderes werden wir noch kom­men in diesen Tagen -, auf das Leben, das nur Tage dauert, im Ätherleib, wo man das Lebenstableau vor sich hat, und dann auf das Leben der Seele in der Seelenwelt. Indem man nachtweise das vor­hergehende Erdenleben durchschreitet, wird man leicht einsehen können, warum der Geistesforscher sagen muß: Schon diese beiden Abschnitte des Lebens zwischen Tod und neuer Geburt sind anders für einen Menschen, der verhältnismäßig früh durch die Pforte des Todes gegangen ist, als für einen, der erst spät durch sie hindurchge­gangen ist. Das geht uns ja nahe, weil jetzt so viele Menschen in ver­hältnismäßig frühem Alter durch die Pforte des Todes gehen.

Sehen Sie, es ist ja so, daß wirklich die einzelnen Abschnitte, die ich angegeben habe für das physische Leben, für dieses Leben eine große Bedeutung haben. Ich habe die Lebensabschnitte angegeben:

den ersten bis zum siebenten Jahre, bis zum Zahnwechsel, dann bis zum vierzehnten Jahre, zur Geschlechtsreife, dann bis zum ein­undzwanzigsten Jahre und so weiter, von sieben zu sieben Jahren. Und wenn Sie das ernst nehmen, was in diesen Unterscheidungen

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des dahinfließenden Lebens liegt, so ist uns ja das fünfunddreißigste Jahr ein wichtiger Lebensabschnitt. Bis dahin sind wir sozusagen in einer Art von Vorbereitung, während wir später die Vorbereitung beendet haben und das Leben mehr aufbauen auf Grundlage dessen, was bis zum fünfunddreißigsten Jahr vorbereitet wurde. Dieses fünf­unddreißigste Lebensjahr hat eine sehr große Bedeutung. Bis dahin dauert zwar nicht gerade das körperliche, aber das seelische Wachs­tum bei einem Menschen, der nun wirklich seelisch wächst. Dann muß entschieden betont werden, daß manches von dem, was Reife-zustand des Lebens ist, erst nach dem fünfunddreißigsten Lebens­jahr gewonnen werden kann. Nun, wenn wir aber dieses fünfund­dreißigste Lebensjahr von einem anderen Gesichtpunkte betrachten, dann wird es uns noch bedeutsamer erscheinen. Sehen Sie, wenn wir diese siebenjährigen Lebensepochen uns vor die Seele führen, haben wir zunächst bis zum siebenten Jahre die Ausbildung des physischen Leibes, bis zum vierzehnten Jahre die Ausbildung des Ätherleibes. Vom vierzehnten bis zum einundzwanzigsten Jahr glie­dert sich, gestaltet sich aus dasjenige, was wir den Astralleib nennen, dann die Empfindungsseele bis zum achtundzwanzigsten Lebens­jahr, die Verstandes- oder Gemütsseele bis zum fünfunddreißigsten Jahr, und dann weiter die Bewußtseinsseele bis zum zweiundvierzig­sten Jahr. Und dann kommen wir zum Geistselbst' was eine Art Zu­rückentwickelung an dem Astralleib ist, und so weiter. Die weiteren Lebensepochen verlaufen nicht in siebenjährigen Perioden, sondern unregelmäßig. Da wird es in der Zukunft erst zu einer Regelmäßig­keit kommen. Abgesehen von dem, was die Erziehung sündigt, geht es aber bis zum fünfunddreißigsten Jahr mit einer ziemlichen Regel­mäßigkeit.

Nun, auffallen kann einem dasjenige, was die tiefere Bedeutung dieser ganzen Lebensentwickelung ist, namentlich dann, wenn man Menschen betrachtet, die da sterben in diesen verschiedenen Le­bensaltern. Nehmen wir an - dies sei zunächst beispielsweise ange­führt -, wir verfolgen die Seele eines elf-, zwölf-, dreizehnjährigen Mädchens oder Knaben, eine Seele, die also elf-, zwölf-, dreizehn-jährig durch die Pforte des Todes gegangen ist. Nach dem, was ich

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schon ausgeführt habe, liegt ja in einem solchen Falle das vor, daß der Ätherleib - er hätte ja in der Theorie noch die ganzen folgenden Jahre versorgen können - unverbrauchte Kräfte in sich hat. Aber auch im übrigen liegt das vor, daß der Mensch ja eigentlich während des ganzen Lebens zwischen Geburt und Tod sich vorbereitet für den Tod. Er bereitet sich wirklich vor für den Tod, denn eigentlich besteht unser ganzes Leben darin, eine Vorbereitung für den Tod zu sein insofern, als wir ja fortwährend arbeiten an der Zerstörung des Leibes. Könnten wir ihn nicht zerstören, so könnten wir es über­haupt zu keiner Vollkommenheit bringen, denn diese Vollkommen­heit erkaufen wir sozusagen mit einer Zerstörung des äußeren phy­sischen Leibes. Wenn nun der Mensch dreizehnjährig durch die Pforte des Todes geht, so leistet er eine ganz lange Zerstörungsar­beit nicht, die er eigentlich hätte leisten können. Er macht nicht mit das, was er hätte mitmachen können. Das drückt sich in einer merk­würdigen Weise aus.

Wenn wir eine solche Seele verfolgen, so finden wir sie in der geistigen Welt in einer bestimmten Zeit zwischen dem Tod und ei­ner neuen Geburt verhältnismäßig sehr bald in einer, ich möchte sa­gen, höchst bemerkenswerten Gesellschaft: Wir finden sie mitten unter denjenigen Seelen, die sich vorbereiten für ein nächstes Leben so, daß sie schon bald auf diese Erde herunterkommen müssen, also unter Seelen, die sich bald verkörpern. Unter denen leben dann sol­che Seelen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind im elften, zwölften, dreizehnten, vierzehnten Jahre, die werden da hineinver­setzt. Und wenn man sich genauer umsieht in diesen Zusammen­hängen, da stellt es sich eigentümlicherweise heraus, daß diese See­len, die nun bald in ihr Erdenleben heruntergehen, das brauchen, was ihnen diese anderen Seelen hinauftragen können von der Erde, um sich ihrerseits wiederum an Kraft zu erstarken, die sie brauchen, um sich zu verleiblichen. Also die jugendlichen Seelen bilden eine starke Hilfe für diejenigen Seelen, die nun bald herunterkommen müssen auf die Erde.

Solche Hilfe, wie unter normalen Verhältnissen junge Kinder, die ganz normal waren, das heißt kein hervorragendes geistiges Leben

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hatten, sondern nur aufgeweckte Kinder waren, solche Hilfe, wie die leisten, kann man zum Beispiel nicht mehr leisten, wenn man im späteren Alter stirbt. Da hat man auch seine Aufgabe. Jeder muß sich seinem Karma fügen und soll nicht denken: Ich möchte in diesem oder jenem Lebensalter sterben; sondern man stirbt in dem Alter, in dem einen das Karma sterben läßt. Solche Hilfe, die man leisten kann als Seele für jene Seelen, die da erwarten ihre In­karnation, kann man also nicht mehr leisten, wenn man im späteren Lebensalter stirbt. Das hängt damit zusammen, daß man in der er­sten Lebenshälfte in einer gewissen Weise der geistigen Welt noch nähersteht als in der zweiten Lebenshälfte. In einer anderen Weise ist es wieder nicht der Fall; aber in einer gewissen Weise steht man der geistigen Welt näher in der ersten Lebenshälfte. Das ganze Le­ben verläuft nämlich so, daß, je länger man im physischen Leibe lebt, man sich desto mehr von der geistigen Welt entfernt. Ein Kind von einem Jahr steht der geistigen Welt noch sehr nahe. Es verläßt den physischen Plan und ist schnell drinnen in der geistigen Welt. Noch bis zum vierzehnten Jahr ist es so; da ist man so im physi­schen Leibe drinnen, daß man leicht in die Welt der Seelen kom­men kann, die bald wiederum ihre Inkarnation suchen. Das bedingt, daß ein Sterben in sehr jugendlichem Alter damit verbunden ist, schon bei dem Tableau, das man da durchlebt, anderes zu erleben, als der erlebt, welcher in späterem Alter stirbt. Und da ist das fünfund­dreißigste Lebensjahr eine wichtige Grenze.

Wenn man vor dem fünfunddreißig sten Lebensjahr stirbt, dann erlebt man zunächst das Lebenstableau, dann geht man das Leben durch die Nächte zurück. Aber während dieser Rückschau auf das vergangene Leben sieht man wie von «hinter dem Spiegel>, wie wenn man durch das Lebenstableau durchsehen würde, die geistige Welt, die man verlassen hat, indem man geboren worden ist. Die Perspektive geht noch hin auf die geistige Welt. Hat man das fünf­unddreißigste Lebensjahr überschritten, so ist das ganz anders. Man sieht nicht so hinein, wie man selber drinnen war, bevor man gebo­ren worden ist. Das ist etwas von dem, was einem jetzt gerade so be­sonders auffällt, wo so viele Menschen jung sterben. Denn dieses

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«Die geistige Welt noch hinten sehen>, das hat noch eine gewisse Bedeutung bis zum 35. Lebensjahr. Nach dem vierzehnten bis seeh-zehnten Lebensjahr ist es allerdings kein solch direktes Sehen mehr, aber von da ab bis zum fünfunddreißigsten Lebensjahr, wenn da ge­storben wird, da ist es so, als ob in dem Lebenstableau, dem Rück­blick, sich noch überall drinnen spiegeln würde das geistige Leben. Also wenn man ganz als Kind stirbt, sieht man eigentlich nicht viel von einem durchlebten Leben; da sieht man fast ganz gleich in die geistige Welt hinein. Wenn man als dreizehnjähriges Kind stirbt, so hat man schon einen Rückblick, aber dahinter liegt die geistige Welt. Man hat sie noch klar, die geistige Welt. Stirbt man noch spä­ter, so hat man sie zwar nicht unmittelbar, aber sie ist in dem enthal­ten, was man als eigenes Leben sieht. Man hängt also noch zusam­men mit demjenigen, aus dem man herausgekommen ist, bis zum fünfunddreißigsten Jahr, so daß der, welcher vor dem fünfunddrei­ßigsten Jahr stirbt, wirklich schon in diesen ersten Lebensabschnit­ten, die er da durchlebt in den Tagen, in denen er das Lebenstableau sieht, dann wiederum bei dem Rückgang durch die Seelenwelt, ei­gentlich durch dieses Erleben in eine Art Heimat, die er mit der Ge­burt verlassen hat, recht unmittelbar wiederum hineinkommt. Er hat unmittelbar das Erlebnis: Du kommst hinein in eine Welt, aus der du herausgetreten bist. Das ist von einer ungeheuren Wichtig­keit, denn jeder, der so stirbt, wird unmittelbar, wie Sie sehen, von einer gewissen Seite her leichter in die geistige Welt versetzt als ei­ner, der später stirbt. Er trägt also aus dem Rückblick, den er hat nach dem Tode, in sein nächstes Leben zwischen Geburt und Tod ungeheuer viel Spirituelles, ungeheuer viel Geistiges hinein. Und die vielen, die in unserer jetzigen Zeit früh sterben, die werden auch von diesem Gesichtspunkte aus wichtige Träger der geistigen Wahr­heiten und geistigen Erkenntnisse sein, wenn sie in einer nächsten Inkarnation wiederum herunterkommen auf die Erde.

So sieht man, wie der ungeheure Schmerz, der sich ausgießt über die Welt, doch notwendig ist für den gesamten Verlauf des Daseins. Denn das Blut, das jetzt fließt, wird das Symbolum sein für eine ge­wisse Erfrischung des spirituellen Lebens in einer gewissen Zukunft,

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die der gesamten Entwickelung der Menschheit notwendig ist. Denn anders werden die Seelen, die jetzt so früh durch die Pforte des Todes gehen, herunterkommen, die meisten werden an­ders herunterkommen, als sie heruntergekommen wären, wenn sie im materiellen Dasein bis an die äußerste Grenze des Lebens ge­kommen und dann gestorben wären. Auch das ist Weisheit der Welt, daß jetzt eine Anzahl von Seelen hinweggerufen werden, da­mit sie schon in dem Rückblicke und Rückerleben tiefe geistige Ge­heimnisse auf eine dem Irdischen verwandte Art schauen können. Das ist auch Weisheit der Welt, damit diese Seelen dann erfüllt wer­den können mit dem, was sie stärker schauen, wenn sie es noch ein­mal schauen, gestärkt werden durch das kürzere irdische Leben, das sie durchgemacht haben.

Das ist wirkliche Weisheit der Welt. Und so muß man sagen, daß vieles von dem, was uns mit Recht tief schmerzt, wenn wir den Blick bloß darauf richten können vom Gesichtspunkte des irdischen Daseins aus, daß vieles davon uns seinen versöhnenden Anblick zeigt, wenn wir es vom Gesichtspunkte des geistigen Ansehauens betrachten können. Nun, so ist es mit dem ganzen Leben. Gewiß, meine lieben Freunde, der irdische Schmerz kann durch eine solche Betrachtung ja zunächst nicht vermindert werden. Er muß auch durehlebt werden. Denn das ist eben die Bedingung dafür, daß er wiederum ausgeglichen werden kann. Hätten wir ihn nicht erlebt in der physischen Welt, so könnte er nicht ausgeglichen werden. Aber wenn wir auch leiden müssen über vieles in der physischen Welt, so gibt es doch auch Augenblicke, in denen wir uns versetzen können auf die Standpunkte des Geistigen. Dann werden wir gar manches, was von niederen Gesichtspunkten aus uns sehmerzvoll erscheinen muß, eben erkennen als einen Tribut, der gebracht werden muß den höheren geistigen Welten mit ihren Weisheiten, damit nicht in ein­seitiger, sondern in allseitiger Weise die Entwickelung der ganzen Welt und des Mensehendaseins vorwärtsgehen kann.

Das Versöhnende für manchen Schmerz muß eben erst errungen werden, und dazu muß der Schmerz erst durchgemacht werden. Er­sparen kann uns ja die Geisteswissenschaft gewiß den Schmerz

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nicht, aber sie kann uns lehren, ihn hinzutragen auf den Altar des Daseins und den Ausgleich zu suchen, und die Weisheit der Welt anzuerkennen trotz allem Schmerz, den sie um höherer Ziele willen verursachen muß. Das ist das, was uns als eine wichtige Wegzehrung für das ganze menschliche Dasein Geisteswissenschaft eben geben kann. So dürfen wir auch von diesem Gesichtspunkte aus, ich möchte sagen, so recht aus den Empfindungen, die uns die Geistes­wissenschaft geben kann, hinbliekend auf die auch schmerzvollen Ereignisse unserer Zeit, eben sagen, was wir oftmals hier sagten:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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ZWEITER VORTRAG Berlin, 18. November 1915

Als erstes obliegt mir die schwere, traurige Pflicht, Ihnen die Nach­richt zu überbringen, daß zu denjenigen, die wir heute schon zu den Sphärenmenschen zu rechnen haben, auch unsere liebe Freundin, die Leiterin der Münchener Loge, Fräulein Stinde, gehört. Sie hat gestern abend diesen physischen Plan verlassen. Es ist keine Mög­lichkeit, in den ersten Augenblicken über diesen für unsere Gesell­schaft so außerordentlich schweren, bedeutungsvollen Verlust zu sprechen, ich will nur ganz wenige Worte über dieses für uns so schmerzliche, bedeutsame Ereignis im Beginne der heutigen Be­trachtungen zu Ihnen sprechen.

Fräulein Stinde gehört ja zu denjenigen, die wohl in den weite­sten Kreisen unserer Freunde, ich möchte sagen, wie selbstverständ­lich bekannt sind. Sie gehört zu denen, welche unsere Sache im Al­lertiefsten ihres Herzens ergriffen haben, sich ganz mit unserer Sa­che identifiziert haben. In ihrem und ihrer Freundin, der Gräfin Kalckreuth, Haus konnte ich ja im Jahre 1903 die ersten intimen Vorträge über unsere Sache, die ich in München zu halten hatte, ge­ben. Und man darf sagen: Von diesem ersten Mal an, da uns Fräu­lein Stinde nähertrat, verband sie nicht nur ihre ganze Persönlich­keit, sondern ihre ganze, auch so wertvolle, so ausgezeichnete, so tief in die Waagschale fallende Arbeitskraft mit unserer Sache. Sie ver­ließ ja dasjenige, was ihr vorher als ein künstlerischer Beruf teuer war, um sich ganz und einzig, mit ihrer ganzen Kraft, in den Dienst unserer Sache zu stellen. Und sie hat in einer selten objektiven, in einer ganz unpersönlichen Weise seit jener Zeit intensiv für diese unsere Sache im engeren Kreise und im weiteren Kreise gewirkt. Für München war sie ja die Seele unseres ganzen Wirkens. Und sie war eine solche Seele, von der man sagen konnte, daß sie durch die inneren Qualitäten ihres Wesens die allerbeste Garantie dafür abgab, daß an diesem Orte unsere Sache in der allerbesten Weise sich ent­wickeln könne. Sie wissen ja, meine lieben Freunde, es hatten die

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Aufführungen der Mysterienspiele und all dasjenige, was damit ver­bunden war für München, den dort für uns tätigen Persönlichkeiten eine ganze Reihe von Jahren hindurch eine riesige Arbeitslast aufer­legt. Dieser Arbeitslast unterwarf sich Fräulein Stinde mit ihrer Freundin in der allerintensivsten Weise, und vor allen Dingen darf gesagt werden, in der allerverständnisvollsten Weise, in einer Weise, die ganz herausgeboren war aus dem innersten Wesen unserer Sa­che, aus dem Wollen, das nun selber aus diesem inneren Wesen un­serer Sache herausgeboren werden kann. Und man darf ja vielleicht auch andeuten, daß die intensive Arbeit, welche Fräulein Stinde ge­leistet hat, wirklich ihre Lebenskraft in den letzten Jahren sehr stark verzehrt hat. So daß man wirklich sich gestehen muß: Diese wert­volle, vielleicht etwas zu schnell in den letzten Jahren aufgezehrte Lebenskraft war in der schönsten, in der tief-befriedigendsten Weise unserer Sache gewidmet. Und es ist wohl unter denen, welche Fräu­lein Stinde näher kannten, niemand, der sich des Eindruckes je ganz erwehren konnte, daß gerade diese Persönlichkeit zu unseren aller-besten Arbeitern gehörte. Es ist gewiß, meine lieben Freunde, man­ches auch in der Tätigkeit von Fräulein Stinde da oder dort mißver­standen worden, und es steht zu hoffen, daß auch diejenigen unserer Freunde und Anhänger, welche das Wirken Fräulein Stindes durch Vorurteil verkannt haben, nachträglich das Sonnenhaft-Kraftvolle, das von dieser Persönlichkeit ausgegangen ist, voll anerkennen wer­den. Und jene, die aus unserem weiteren Kreise beobachten konn­ten, was Fräulein Stinde für unsere Sache tat, sie werden ihr ja mit allen denen, die ihr nähergestanden haben, das allertreueste Anden­ken bewahren. Wie wir ja gerade von ihr sicher sein können, daß wir das Wort ganz besonders betonen dürfen, welches in diesen Tagen ja öfters ausgesprochen werden mußte in Anknüpfung an den Ab­gang vom physischen Plane mancher unserer Freunde - es darf ge­rade im Hinblick auf Fräulein Stinde bei dem vielen Angefochten-werden und bei der Gegnerschaft, die unsere Sache in der Welt hat, dieses Wort betont werden: Wir, die wir ja treu und ehrlich zu den geistigen Welten uns bekennen, zählen jene, die nur die Form ihres Daseins gewechselt haben, die aber als Seelen treu mit uns vereint

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sind, trotzdem sie durch die Pforte des Todes gegangen sind, zu un­seren wichtigsten, bedeutungsvollsten Mitarbeitern. Jene Schleier, die noch vielfach diejenigen umgeben, die im physischen Leibe ver­körpert sind, die fallen ja nach und nach ab, und die Seelen dieser unserer teuren Toten wirken - dessen sind wir gewiß - mitten unter uns. Und wir brauchen, meine lieben Freunde, gerade solche Hilfe. Wir brauchen solche Hilfe, die nicht mehr angefochten wird vom physischen Plane aus, solche Hilfe, die auch keine Rücksicht mehr zu nehmen hat in bezug auf die Hemmnisse des physischen Planes. Und wenn wir den tiefen, ernsthaftesten Glauben an das Fortkom­men unserer Sache in der Weltkultur haben, so ist es mit darum, daß wir uns voll bewußt sind, daß diejenigen, die einmal zu uns ge­hört haben, auch dann, wenn sie mit geistigen Mitteln aus der geisti­gen Welt unter uns wirken, unsere besten Kräfte sind. Manchmal wird das Vertrauen, das wir in unsere Sache brauchen, sich erhärten müssen daran, daß wir wissen: Wir danken unseren toten Freunden, daß sie mitten unter uns sind und daß wir mit ihren Kräften vereint die Arbeit für die geistige Weltenkultur leisten können, die uns obliegt.

In diesem Sinne nur wollte ich mit ein paar Worten heute schon dieses schmerzliche Ereignis berühren und nur noch sagen, daß die Kremation am nächsten Montag um 1 Uhr in Ulm stattfinden wird.

Ich möchte nun fortfahren in den Betrachtungen, die wir vorge­stern begonnen haben. Nicht wahr, solche Zeiten wie die unsrige, in denen so mannigfaltig das Rätsel des Todes an die Menschenseele herantritt - wir haben es schon vorgestern betont -, die mahnen ganz besonders daran, nachzufragen, welche Klarheit der Mensch gewinnen kann über die geistigen Welten. Zeiten, in denen die Menschheit so schweren Prüfungen ausgesetzt ist, wie die gegenwär­tige ist, sie sind ja geradezu dazu geschaffen, die Menschenseele die Richtung dahin nehmen zu lassen, wo die Fragen ihr aufgehen nach den Wesenheiten der geistigen Welten. Denn wer, meine lieben Freunde, möchte nicht an jeder Stelle in dem, was heute innerhalb eines großen Teiles der Kulturwelt geschieht, das große Lebensrätsel aufgehen sehen? Und wer möchte nicht ahnen, daß große Zusam­menhänge

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verborgen sind hinter solchen Ereignissen, wie sie heute in unserer weiteren Umgebung leben und die Menschenseelen, die Menschenherzen durchzucken mit Schmerz, mit Leid, aber auch mit Hoffnung und mit Zuversicht?

Gewiß, wer mit einem nur kurzreichenden Blicke die Weltener­eignisse anschaut, der wird solche umfangreichen Ereignisse nach dem nächsten beurteilen, das ihnen vorangegangen ist und das ih­nen folgen kann. Wer aber nur auch äußerlich, ohne in irgend etwas Esoterisches einzugehen, den Gang der Weltenereignisse anblickt und frühere Zeiten mit gegenwärtigen Zeiten vergleicht, der wird sich bewußt werden können, wie unendlich viel zusammenhängen kann, sagen wir, mit dem, was sich in einer ganz anderen Art als die Wirkungen nachher in der Welt nunmehr abspielt. Es sind jetzt viele Menschen, die sagen, die gegenwärtigen kriegerischen Ereig­nisse seien bloßes Ergebnis äußerer politischer Gegensätze, Gegen­sätze der einzelnen Nationen, der einzelnen Völker. Gewiß ist das wahr. Und nicht darum handelt es sich, im engeren Sinne irgend et­was einzuwenden gegen die Wahrheit einer solchen Auffassung. Aber wenn Sie zum Beispiel im Beginne des mittelalterlichen Le­bens die Kämpfe nehmen, die sich abgespielt haben zwischen den in Mitteleuropa und den in Südeuropa lebenden, vor allen Dingen das Römische Reich einnehmenden Völkerschaften, so kann man auch sagen, diese Kämpfe, dje sich da abgespielt haben in Form von politischen Kämpfen, gingen hervor aus politischen Gegensätzen, die da bestanden haben, hatten ihre Ursachen in diesen unmittelbar naheliegenden Gegensätzen. Aber nun sind diese Kämpfe abgelau­fen. Sie haben gewisse Konfigurationen des ganzen europäischen Lebens hervorgerufen. Wenn Sie nur ein wenig die Geschichte auf­schlagen und sich ansehen, was dazumal geschehen ist durch die Kämpfe der mitteleuropäischen Völkerschaften mit, sagen wir, den Völkerschaften des Römerreiches, so werden Sie sich sagen: Es ist aus einer älteren Konfiguration der europäischen Welt eine spätere Konfiguration dieser europäischen Welt entstanden. Aber wenn man ganz würdigen will, um was es sich dabei handelt, dann muß man die ganze nachfolgende Geschichte ins Auge fassen. Denn

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diese nachfolgende Geschichte, wie sie sich abgespielt hat in Eu­ropa, sie hätte sich nicht so abspielen können, wie sie sich abgespielt hat, hätten nicht die Kämpfe dazumal gerade den Ausgang genom­men, den sie genommen haben.

Und was gehört alles zu dieser europäischen Geschichte? Die ganze Art und Weise, wie sich das Christentum in Europa ausge­breitet und eingelebt hat, gehört dazu! Und wenn Sie sich die tiefe­ren Zusammenhänge anschauen, so können Sie sich sagen: Mit al­lem, was in den folgenden Jahrhunderten geschehen ist, liegt die Sa­che so, daß dieses durch Jahrhunderte Geschehene wie mit seiner Ursache zusammenhing mit den damaligen Kämpfen. Das heißt, mit den Ereignissen, auf die wir hingedeutet haben, hängt zusam­men die ganze spätere Konfiguration der europäischen Welt, bis in die geistigen Verhältnisse hinein. Und betrachten Sie das nur in sei­nem ganzen Schwergewicht, so daß Sie sich sagen: dadurch, wie sich nun das Christentum in Europa ausbreitete, wie es seine Gestalt an­genommen hat dadurch, daß die jungen germanischen Völker gegen die altgewordenen römischen Völker ihre Jugendkraft vereinigt ha­ben mit dem, was als eine reifste Frucht, als die christliche Verkün­digung in die Menschheit hineinfloß, dadurch ist eine gewisse euro­päische Atmosphäre geschaffen worden, in die die folgenden Seelen hineinversetzt worden sind.

Also wie die Seelen gelebt haben in folgenden Jahrhunderten, wie die Seelen in den folgenden Jahrhunderten geworden sind, das hängt zusammen mit diesen Ereignissen. Wenn daher ein Mensch damals gesagt hätte: Nun, was ist das weiter? Es ist ein politischer Gegensatz der Völker zwischen Süd- und Mitteleuropa -, so würde er recht gehabt haben. Aber derjenige, der gesagt hätte: Sieh hin, die Konfiguration der geistigen Kultur aller folgenden Jahrhunderte nimmt ihren Ausgang von dem, was hier geschieht -, so hätte der auch recht gehabt, und er hätte in weiterem Sinne recht gehabt. Da­mit, daß man von irgend etwas die naheliegenden Ursachen auffin­det, daß man sagt, was die nächstliegenden Gegensätze sind, hat man nicht die ganze Schwere des Ereignisses getroffen. Die Dinge dieser Welt hängen aufs innigste zusammen. Und wenn wir innerlich

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Stärkung brauchen, um sozusagen die rechte Kraft zu finden für das Vertreten unserer Sache, dann brauchen wir uns nur zu er­innern, daß in einem wahrhaft noch kleineren Zirkel, als der uns­rige einer ist, zusammengesessen haben diejenigen, die im Beginne der christlichen Verkündigung die große Weltwahrheit des Chri­stentums vertreten haben. Ich habe schon öfter diesen Vergleich gebraucht, aber wir wollen ihn auch heute noch einmal anwen­den.

Es gab eine Zeit, die können wir geradezu so beschreiben: Wir sehen das alte Römische Reich. Wir sehen es leben ganz und gar in der Atmosphäre der alten heidnischen Weltanschauung. Wir sehen dieses Reich mit seinen Menschen, die gewissermaßen die obere Schichte bilden. Da unten, wahrhaftig noch mehr unten als unser heute ist, wirklich im gewöhnlichen Sinne , in den Katakomben unter der Erde, sehen wir die ersten, an Zahl spärli­chen Christen, mit dem, was ganz fremd ist der Weltkultur oben, aber was sie so in ihren Herzen tragen, daß die Kraft, mit der sie es tragen, eben weltumschaffend ist. Und, meine lieben Freunde, wenn wir uns diese Katakomben vergegenwärtigen: da unten in den Kata­komben, mit ihren Gedanken nach dem Christus-Impuls hin ge­richtet, sehen wir die ersten Christen, und oben über ihren Köpfen die Römer - Sie wissen ja, wie die mit den ersten Christen verfahren sind, ich brauche es Ihnen nicht zu erzählen. Und wenn Sie sich ein paar Jahrhunderte danach das Bild vor die Seele malen, wie anders sieht es aus! Hinweggefegt ist das, was oben war, und hinaufgedrun­gen von unten nach oben ist das, was verachtet unten im Verborge­nen war. Gewiß, die Zeiten und die Formen, in denen so etwas ge­schieht, ändern sich, aber das Wesentliche bleibt. Von denjenigen, die heute die äußere Wissenschaftskultur, die äußere geistige Kultur vertreten, wenn es auch nicht örtlich und wörtlich zu nehmen ist, kann auch gesagt werden, sie fühlen sich , und sie nennen das, was getrieben wird in unseren Reihen, eine Weltanschauung von ein paar Sektierern, ein paar unnormalen Köpfen. Aber derje­nige, der wirklich in das Wesen dieser unserer Weltanschauung ein­dringt und der sich vor allen Dingen damit durchdringt, er darf die

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Zuversicht haben, daß auch hier einmal das Unten das Oben sein wird. Und da können sich dann schon die Gedanken zusammen­schließen, die Gedanken der umgestalteten Welt, die aus der so schweren Zeit unserer Tage hervorgehen wird, sich anschließend an das, was im Geistigen die Menschheit ergreifen muß. Denn es gibt kaum eine größere Ähnlichkeit im geschichtlichen Werden als die Ähnlichkeit zwischen unserer Zeit und derjenigen, die sich abge­spielt hat, als die alte römische Kultur noch oben und das Christen­tum, von wenigen getreuen Seelen vertreten, noch unten war.

Aufmerksam machen möchte ich darauf, wenn ich auch nicht durch ein allzu genaues, pedantisches Hinweisen auf diese Dinge unsere Empfindungen, die in diesen Tagen weit sein sollen, zu stark verengen will, daß gerade dieses gut ist, wenn wir uns so unser Zeit­alter und das Rom vom ersten Aufgange des Christentums wie als Bilder für unsere Imagination vor die Seele halten.

Nun, meine lieben Freunde, viele, die heute dem, was wir Gei­steswissenschaft nennen, entgegentreten, müssen ja zweifellos das ganz Andersartige desjenigen empfinden, was Geisteswissenschaft vertreten muß, gegenüber dem, was sonst allgemein unter den heute benannten Menschen vertreten wird. Aber auch da brau­chen wir nur darauf zu blicken, wenn wir dies in rechter Weise ver­stehen wollen, wie doch ganz andersartig die erste Verkündigung des Christentums war gegenüber demjenigen, was bei den damals normal Genannten, etwa den Römern, gang und gäbe war. Mit ei­nem solchen Gedanken muß man sich vertraut machen, wenn im­mer wieder und wiederum uns entgegnet wird, daß man ja mit den Mitteln, die berechtigte Erkenntnismittel sind, solche Welten nicht erreichen könne wie die, von denen hier die Rede ist. Aber wir müs­sen auch wirklich die intimere Arbeit in unseren Zweigen so auffas­sen, daß wir uns sagen: Dieses Leben in unseren Zweigen ist als sol­ches nicht nutzlos. Es ist nicht gleichgültig gegenüber unserer Sache selbst, daß wir in solchen Zweigen zusammenkommen und immer wieder nicht nur die Bekanntschaft mit den theoretischen Ergebnis­sen unserer Lehre erneuern - darauf kommt es nicht an -, sondern auch das warme Fühlen und Empfinden für die konkreten Dinge

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und Wesenheiten der geistigen Welt. Dadurch gewöhnen wir uns hinein in die Art und Weise des seelischen Empfindens und Füh­lens, die es uns allerdings möglich machen, geistige Wahrheiten an­ders hinzunehmen als diejenigen, die unvorbereitet sind. Es muß schon in unseren Zweigabenden zuweilen etwas aus den höheren, späteren Partien der geistigen Erkenntnis gesagt werden, man kann nicht immer wieder vom Anfang anfangen. Aber es muß auch dieses Vertrautsein mit dem Zweigleben dem größten Teil der Seelen un­serer Freunde die Möglichkeit gewähren, solche Dinge, wie ich sie vorgestern angedeutet habe, die besondere Art der Bewahrheitung unserer geistigen Erkenntnis, in sich aufzunehmen.

Man kann diese Dinge nicht in derselben Weise bewahrheiten, wie man die äußeren Dinge bewahrheitet: indem man die Leute mit den Augen darauf stößt. Aber derjenige, der eine Empfindung hat für so etwas, wie ich es das letztemal angedeutet habe, der wird, wenn er auch nicht selbst in die geistigen Welten hineinschaut, füh­len, wie durch das Sich-gegenseitig-Stützen der geistigen Wahrhei­ten der Wahrheitswert erhöht wird. Deshalb will ich noch einmal darauf aufmerksam machen, wie es so sehr bedeutsam ist, wie auf der einen Seite durch jahrelanges Beobachten ein gewisser Gesichts­punkt herausgekommen ist, daß ein Drittel der Zeit unseres Lebens zwischen Geburt und Tod wiederum nacherlebt wird nach dem Tode, und nunmehr ein ganz anderer Gesichtspunkt aufgefunden wird: der Gesichtspunkt, daß wir eigentlich das Schlafesleben in ei­ner besonderen Form durchleben während dieser Zeit, die wir das Kamaloka nennen, und daß diese Zeit auch ein Drittel des Lebens auf dem physischen Plan ergibt. Diese beiden Gesichtspunkte sind ganz unabhängig voneinander, von verschiedenen Ausgangspunkten aus gefunden worden. Und so haben wir auch bei anderen Gelegen­heiten schon gezeigt, wie man von drei oder vier Gesichtspunkten aus immer zu demselben kommt. Da stützen sich die Wahrheiten gegenseitig. Dafür, meine lieben Freunde, muß man sich auch ein Gefühl erwerben! Und davon kann das dann ausgehen, wovon ich sagen möchte, daß es etwas gibt wie ein natürliches elementares Wahrheitsgefühl für diese geistigen Erkenntnisse. An das muß ich ja

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oft appellieren, sonst könnte ich nicht spätere, höhere Wahrheiten an den einzelnen Zweigabenden aussprechen.

Wir haben vorgestern darauf aufmerksam gemacht, daß der rechte Zusammenhalt unseres Ich-Bewußtseins zwischen dem Tod und einer neuen Geburt gleichsam angefacht wird durch jene pan­oramamäßige Überschau, die wir über das letzte Erdenleben haben nach dem Tode. Wir überschauen da unser Leben gleichsam in ei­nem Lebenstableau. Machen Sie sich nur ganz klar, was das eigent­lich ist, was man da schaut. Wir sind gewohnt, hier auf dem physi­schen Plan als Menschen gewissermaßen in einer Art Mittelpunkt unseres Welthorizontes zu stehen und im Umkreis die Welt zu se­hen, die auf unsere Sinne einen Eindruck macht. Wir überschauen den Horizont, der auf uns einen Eindruck machen kann. Wir schauen nicht in uns hinein in diesem normalen Leben auf dem physischen Plan, sondern wir schauen aus uns heraus. Nun ist es wichtig, daß wir, wenn wir uns einen Begriff aneignen wollen von dem unmittelbar auf den Tod folgenden Leben, gleich darauf auf­merksam werden, daß nun dieser Blick auf das Lebenspanorama so­fort anders ist als dasjenige, was wir an Wahrnehmung gewohnt sind für den physischen Plan. Auf dem physischen Plan, da sehen wir aus uns heraus; wir sehen die Welt als unsere Umgebung. Da sind wir, wir schauen aus uns heraus, wir schauen nicht in uns herein. Da ha­ben wir nun unmittelbar nach dem Tode ein paar Tage, wo unser Blickfeld ausgefüllt ist von dem, was wir zwischen Geburt und Tod erlebt haben. Da blicken wir hin von dem Umkreise aus auf das Zentrum. Wir blicken auf unser eigenes Leben, auf den zeitlichen Verlauf unseres eigenen Lebens. Während wir sonst sagen: Da sind wir, und da ist alles übrige, haben wir unmittelbar nach dem Tode gleich das Bewußtsein: Diesen Unterschied zwischen uns und der Welt gibt es nicht, sondern wir schauen vom Umkreis auf unser Le­ben hin, und das ist für diese paar Tage unsere Welt. So wie man im gewöhnlichen Wahrnehmen auf dem physischen Plane Berge, Häu­ser, Flüsse, Bäume und so weiter sieht, so sieht man dasjenige, was man durchlebt hat im Leben von einem gewissen persönlichen Ge­sichtspunkte aus, als seine nun unmittelbare Welt. Und daß man das

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sieht, das gibt den Ausgangspunkt für die Erhaltung des Ich nun durch das ganze Leben zwischen Tod und neuer Geburt. Das stärkt und kräftigt die Seele so, daß sie zwischen Tod und neuer Geburt immer weiß: Ich bin ein Ich!

Hier im physischen Leben fühlen wir unser Ich dadurch - ich habe das ja schon oft angedeutet -, daß wir in einer gewissen Bezie­hung zu unserer Körperlichkeit stehen. Sehen Sie, wenn Sie genau auf den Traum achten, so werden Sie sich sagen: im Traume haben Sie kein deutliches Gefühl des Ich, sondern oft ein Gefühl des Los­getrenntseins. Das kommt davon her, daß der Mensch hier auf dem physischen Plan sein Ich eigentlich nur fühlt durch die Berührung mit seinem Leibe. In grober Weise können Sie sich das etwa so ver­gegenwärtigen: Sie gehen so mit dem Finger durch die Luft - da ist nichts! Sie gehen weiter - da ist immer noch nichts. Indem Sie aber anstoßen, wissen Sie von sich. Sie werden sich gewahr, indem Sie anstoßen. Und so wird auch das Gewahrwerden unseres Ich herbei-geführt. Nicht das Ich selbst - das Ich ist eine Wesenheit -, aber das Ich-Bewußtsein, das Bewußtsein vom Ich. Der Gegenstoß macht uns aufmerksam auf unser Selbst. Also im physischen Leben sind wir ich-bewußt dadurch, daß wir in einem physischen Leibe leben. Dafür haben wir den physischen Leib bekommen. Im Leben zwi­schen Tod und neuer Geburt haben wir ein Ich-Bewußtsein da­durch, daß wir die Kräfte bekommen haben, die ausgehen von der Anschauung des letzten Lebens. Wir stoßen gewissermaßen an das­jenige, was uns die Raumeswelt gibt, und gewinnen dadurch unser Ich-Bewußtsein für das Leben zwischen Geburt und Tod. Wir sto­ßen an das, was wir selbst erlebt haben zwischen Geburt und Tod im letzten Leben, und haben dadurch unser Ich-Bewußtsein für das Le­ben zwischen Tod und neuer Geburt.

Nun folgt das ganz andere Leben, das ein Drittel an Zeit ein­nimmt von dem Leben zwischen Geburt und Tod, das man so oft das Kamaloka-Leben nennt. Da ist es so, daß eine Erweiterung un­serer Anschauung eintritt. Während in den ersten Tagen unsere An­schauung eigentlich nur auf uns selbst, auf das verflossene Leben, nicht auf die Persönlichkeit hin gerichtet ist, ist das in der nächsten

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Zeit nun ganz anders. Gewiß, die Kraft, sich nun als Ich zu wissen, die bleibt. Aber nun tritt - Sie können das, was ich jetzt zusammen­fasse, sich selbst zusammensuchen aus einzelnen Büchern und Zyk­len - etwas ganz Eigenartiges ein: Das, woran der Mensch eben erst sich gewöhnen muß, weil die ganze Anschauungsweise der Welt eine ganz andere ist als die hier auf dem physischen Plan. Es besteht ein großer Teil dessen, was der Mensch nach dem Tode durchzuma­chen hat, in dem Sichhineingewöhnen in eine andere Anschauungs­weise. Hier erblicken wir um uns herum die Natur. Das, was wir hier in der physischen Welt als Natur anblicken, das ist ja ganz und gar nicht vorhanden in der Welt, die unsere Welt ist zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Dafür, wie wir hier die Natur sehen, haben wir eben unsere physischen Augen, Ohren, unseren ganzen physischen Wahrnehmungsapparat. Und mit anderen Wahrneh­mungsorganen kann diese Natur, so wie sie ist in ihrer Farbenfülle und sonstigen Eigenschaften, nicht wahrgenommen werden. Des­halb werden wir mit einem physischen Leibe ausgestattet, damit wir die Natur wahrnehmen können. Nach dem Tode ist an Stelle des­sen, was hier als Natur um uns ist, die geistige Welt um uns, die wir beschreiben als die Welt der Hierarchien, eine Welt von lauter We­senheiten, eine Welt von lauter Seelen. Nicht Materie oder Substanz oder Gegenstände, die Farbe haben, sondern lauter Wesen. Das ist das Wesentliche, worauf es ankommt. Daher ist selbstverständlich die Überraschung am größten für diejenigen Seelen, die hier im physischen Leben den Geist ableugnen. Denn diejenigen, die den Geist ableugnen und gar nichts davon glauben, die werden in eine Welt versetzt, die sie eben abgeleugnet haben, die ihnen gänzlich unbekannt ist. Sie müssen zwangsweise in einer Welt leben, von der sie eigentlich gewollt haben, daß sie nicht da sei.

Wir sind also umringt von Geistumgebung, von lauter Wesen, von lauter Seelen. Und nach und nach prägt sich heraus, gestaltet sich heraus aus dieser allgemeinen Seelenwelt - überall sind Seelen, die wir zunächst nicht kennen; wir wissen: da sind lauter Seelen, aber wir kennen sie nicht im einzelnen -, tritt heraus nach und nach die einzelne Seele bestimmter, konkreter, und es treten heraus namentlich

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in dieser Zeit die Seelen der Menschen, mit denen wir ge­lebt haben hier auf dem physischen Plane. Wir lernen erkennen, in­dem wir der Fülle von Seelen, unter denen wir da sind, gegenüber-treten: diese Seele ist der, eine andere Seele ist ein anderer. Wir ma­chen Bekanntschaft mit diesen Seelen. Zunächst müssen wir uns bekanntmachen damit, daß die ganze Art und Weise, wie man dann zur Welt steht zwischen Tod und neuer Geburt, doch eine wesent­lich andere ist, auch noch in anderer Beziehung als angedeutet, als die Art und Weise, in der man zur Welt steht hier auf dem physi­schen Plan. Hier nennen wir die Welt außer uns. Nach dem Tode haben wir wirklich das Bewußtsein, daß die Welt in uns ist. Es sieht aus wie ein paradoxer Vergleich, aber es ist doch so: Denken Sie sich einmal, Sie würden für einen Moment hier auf der Erde sich ganz verflüchtigen, Sie würden in Dunst aufgehen. Diese Dunst­wolke, die Sie selber sind, verbreitet sich mehr und mehr, und sie bleibt erst stehen - nehmen wir für einen Augenblick das Firma­ment wie eine Wesenheit - als Firmament, da, , wie man so sagt. Sie fühlen sich dann als dieses Firmament und schauen nun alles drinnen, so daß Sie mit dem Bewußtsein draußen stehen und die Welt im Innern sehen. Wir fühlen uns so, daß alles, was auftritt, innerlich auftritt. So wie ein Schmerz hier in uns auftritt, so treten nach dem Tode die We­sen in uns auf als Innenerlebnis. Das bewirkt ja das unendlich In­time der Erlebnisse zwischen Tod und neuer Geburt, das Verbun­densein mit ihnen, daß man sie als Innenerlebnis eigentlich zuerst hat. Aber da gibt es einen gewissen Unterschied. Sehen Sie, von solch einer Seele, die man anfängt zu erkennen, wie ich es beschrie­ben habe, von der kann man zunächst wissen: Sie ist da; aber sie hat nicht Gestalt, sie ist noch nicht wahrnehmbar. Um sie wahrnehmbar zu machen, muß man eine innere Tätigkeit verrichten, die etwa fol­gendes darstellt. Man denke sich ins Geistige übersetzt: Ich fühle et­was hinter mir, was ich nicht sehe, so daß ich mir also die Vorstel­lung mache, es ist da, aber ich muß eine Tätigkeit verrichten, um diese Vorstellung zu bekommen. Ich möchte sagen, es ist zu verglei­chen damit, daß ich mir nach dem Abtasten von einem Gegenstand

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eine Zeichnung mache. Also innere Tätigkeit ist notwendig, damit die Imagination auftritt. Ich weiß: das Wesen ist da, aber die Imagi­nation muß ich erst schaffen, indem ich mit dem Wesen mich in­nerlich verbinde. Das ist die eine Art, wie man Seelen wahrnehmen kann. Die andere Art ist so, daß man diese innere Tätigkeit nicht so hervorragend stark verrichtet, sondern daß sie sich selber macht. Sie tritt auf, ohne daß man viel dazu zu tun hat. Es ist so, wie wenn man hier etwas anschaut, aber natürlich ins Geistige übersetzt. Und die­ser Unterschied kann zwischen zwei Seelen vorhanden sein: Von der einen Seele bekommt man eine Anschauung dadurch, daß man viel mittut; von der anderen Seele dadurch, daß einem die Imagina­tion sich von selbst gibt: man braucht nur aufmerksam zu sein. So muß man diesen Unterschied angeben. Denn wenn Sie mit einer Seele so bekannt werden, daß Sie mehr Tätigkeit brauchen, so ist das eine Seele, die verstorben ist. Und eine Seele, die sich mehr von selbst ergibt, ist eine solche, die hier auf der Erde verkörpert ist im physischen Leibe. Diese Unterschiede sind eben wirklich auch da. Der Mensch steht - mit Ausnahmen, die wir ja auch einmal erwäh­nen können - nach dem Tode sowohl in Verbindung mit solchen Seelen, die verstorben sind, wie mit den Seelen, die noch hier auf der Erde sind. Und der Unterschied liegt in der Art und Weise, wie man selbst tätig oder passiv sein muß, in welcher Weise die Imagi­nation von der Seele, der man gegenübertritt, entsteht.

Nun gibt es einen Begriff, eine Eigenschaft, über die wir schon verschiedentlich gesprochen haben, die wir aber noch einmal zu­sammenfassen wollen für dieses ganze Leben, das ein Drittel der Zeit des verflossenen Erdenlebens einnimmt und das wir gewohnt sind, das Kamaloka-Leben zu nennen. Wenn Sie hier auf der Erde leben und Sie einer pufft, so wissen Sie es, Sie nehmen das wahr, Sie sagen, er hat mich gepufft. Und es ist in der Regel anders, das Erleb­nis, wenn Sie einer pufft, als wenn Sie einen anderen puffen. Und wenn Sie von jemandem etwas gesagt bekommen, so ist das Erleb­nis hier anders, als wenn Sie etwas sagen. Ganz umgekehrt ist es in dem Kamaloka-Leben, in dem man zurücklebt diese Zeit zwischen Geburt und Tod. Da ist es nun so - lassen Sie mich dieses grobe

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Beispiel anwenden -: wenn man jemandem einen Puff gegeben hat im Leben, so empfindet man das, was er an dem Puff empfunden hat. Wenn man jemanden verletzt hat durch ein Wort, so macht man durch die Empfindung, die er durchgemacht hat. Man erlebt also aus den Seelen der anderen heraus. Mit anderen Worten, man erlebt die Wirkungen, die man durch seine eigenen Taten erreicht hat, man erlebt bei diesem Zurückgehen alles dasjenige, was die an­deren Menschen hier während unseres Lebens zwischen Geburt und Tod durch uns erlebt haben. Wenn Sie mit so und so viel hun­dert Menschen hier zwischen Geburt und Tod gelebt haben, so ha­ben ja diese vielen hundert Menschen durch Sie etwas erlebt. Aber hier im physischen Leben können Sie nicht das fühlen, was die an­deren fühlen und erleben durch Sie, sondern Sie erleben nur dasje­nige, was Sie selbst durch die anderen erleben. Nach dem Tode ist es umgekehrt. Und das ist das Wesentliche, daß wir bei dem Rück­gang alles erleben, was die anderen durch uns erlebt haben. Also die Wirkungen des letzten Erdendaseins, die machen wir durch. Und es liegt wirklich die Aufgabe dieser Jahre darin, daß wir diese Wirkun­gen durchmachen.

Nun, indem wir diese Wirkungen durchmachen, wird das Erleb­nis dieser Wirkungen in uns zu Kräften. Das geschieht auf die fol­gende Weise. Nehmen Sie an, ich habe einem Menschen eine Belei­digung zugefügt. Er hat dadurch Bitterkeit empfunden. Diese Bitter­keit mache ich nun durch während der Kamaloka-Zeit, die erlebe ich als eigenes Erlebnis. Ja, indem ich sie nun erlebe, macht sich in mir die Kraft geltend, die als Gegenkraft gelten muß, das heißt in­dem ich diese Bitterkeit durchlebe, nehme ich in mich die Kraft auf, diese Bitterkeit wegzuschaffen aus der Welt. So nehme ich alle Wirkungen meiner Taten wahr und nehme dadurch auf die Kraft, sie wegzuschaffen. Und ich nehme während der Zeit, die ein Drittel des verflossenen Erdenlebens dauert, in mich alle die Kräfte auf, die man ausdrücken kann als die intensive Begierde in uns, in der jetzt entkörperten Seele alles wegzuschaffen, was die Vervollkommnung stört, weil es die Seele zurückwirft in der Entwickelung.

Wenn Sie sich das durchdenken, so werden Sie sehen, daß man

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sich selber das Karma macht, das heißt, daß man in sich diesen Wunsch hat, so zu werden, daß das ausgelöscht werden kann, was man für auslöschenswert hält. Es wird also das Karma vorbereitet gerade in dieser Zeit. Wir einverleiben unserer Seele die Kraft, die wir aufnehmen müssen zwischen Tod und neuer Geburt, um in der nächsten Inkarnation die Konfiguration unseres Lebens herbeizu­führen, die wir als die richtige ansehen können. Ich möchte sagen, das ist die Technik des Karma-Schaffens. Man muß sich, um diese Dinge recht zu verstehen - nicht theoretisch, sondern so, daß sie tief in unsere Gefühls- und Willenskraft hineingehen -, klar sein, daß die ganze Gefühlsrichtung des Toten eine ganz andere wird, als die des Lebenden ist. Der Lebende wird unendlich leicht sagen kön­nen: Ich bedaure diesen oder jenen Toten, daß er durchmachen muß das oder jenes, wofür er vielleicht nichts kann! Sie können an­nehmen, irgend jemand hat einem anderen schwere Verletzungen zugefügt, kann aber nichts dafür. Nun bedauern Sie vielleicht den Toten. Das ist unangemessen; denn der Tote will nichts sehnlicher, als daß die Kraft sich in ihm entwickele, wodurch er das ausgleichen kann. Das ist gerade das, was er als sein Gutes ansieht. Sie würden ihm anwünschen, daß er dasjenige nicht erreicht, was er sehnlichst erreichen will. Dazu muß er aber das alles durchmachen. Denn das Positive entwickelt sich am Negativen. An dem Einsehen dessen, was man angerichtet hat, entwickelt man die Kräfte, es auszuglei­chen.

So kann man sagen: Am Ende dieses Kamaloka-Abschnittes hat man nach dem Wiedererleben des letzten Lebens schon bestimmt, wie man in der nächsten Inkarnation in dieses Dasein wieder eintre­ten will, wie man da und dort mit dem und jenem Menschen zu­sammensein will, damit man dieses oder jenes ausgleichen kann. Im wesentlichen bestimmt man da das Karmische für das Leben, in das man eintritt.

Für die nächste Zeit ist es so, daß wir uns aus der geistigen Welt heraus die Kräfte aneignen, durch die wir den Menschen im allge­meinen formen können, durch die wir einen für unsere Individuali­tät geeigneten Leib uns schaffen können. Zuerst haben wir den Plan

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unseres Karma. Nun müssen wir erst den Menschen dazu gestalten. Das bedarf einer viel längeren Zeit noch, aber das folgt dann darauf. Daraus können Sie aber ersehen, daß das Wesentliche der Kama­loka-Zeit eben darin liegt, daß uns die Möglichkeit geboten wird, unsere nächste Inkarnation in moralischer Weise in der richtigen Art vorzubereiten. Nun müssen wir uns klar sein, daß immer jede folgende Inkarnation abhängt von der früheren Inkarnation. Wir se­hen ja, wie sie vorbereitet wird, die folgende Inkarnation. Und wir sehen, daß die ganze Art des Lebens eines Menschen abhängt von der Art, wie er sein früheres Leben durchlebt hat. Daß das der Frei­heit widerspreche - ich werde darauf noch zurückkommen -, das ist ein Einwand, der von Menschen, die die Sache nicht durchdrungen haben, gemacht wird; aber es widerspricht nicht der Freiheit.

Wenn wir so die einzelnen Menschen im Leben betrachten, so finden wir, daß sie tausendfältig verschieden sind; soviel überhaupt Menschen sind auf der Erde, so verschieden sind sie. Aber man kann Kategorien unterscheiden. Es gibt Menschen, welche so wir­ken, daß man von ihrer frühesten Jugend an sieht: Dieser Mensch ist zu diesem oder jenem ganz besonders geeignet. Nicht wahr, es gibt solche Menschen. In der Kindheit schon kann man sagen, sie werden das oder jenes vollbringen. Sie stoßen sich gleichsam in die­ses Dasein herein, sie haben Aktivität. Sie haben eine bestimmte Aufgabe und entwickeln Kraft dazu. Andere Menschen finden wir, die haben für vieles Interesse, sie haben aber nicht solche ausgespro­chene Richtung auf irgend etwas hin. Sie nehmen viel auf. Sie kom­men vielleicht sogar später im Leben zu einer bestimmten Aufgabe, die ihnen nicht ganz entspricht; sie hätten vielleicht eine andere in ahnlicher Weise vollführen können.

Kurz, die Menschen sind in bezug auf die Art und Weise, wie sie im Leben wirken, voneinander recht verschieden, und das macht ja eigentlich das Leben möglich. Es gibt zum Beispiel Menschen, die treten im Leben auf, und es liegt ihnen nicht, ich möchte sagen, in äußeren Taten viel zu wirken; aber sie brauchen nur das oder jenes Wort zu sagen, so hat das eine Wirkung auf die Menschen. Sie wir­ken mehr durch ihr Innerliches. Andere Menschen wirken mehr

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durch ihr Äußeres. Das hängt innig zusammen mit der Art und Weise, wie man in der vorhergehenden Inkarnation durch das Le­ben gegangen ist. Es gibt Menschen, die sterben jung, sagen wir vor dem fünfunddreißigsten Jahr, um diese Grenze zu haben. Solche-Menschen sind durch diesen Tod in einer ganz anderen Lage als diejenigen Menschen, die nach dem fünfunddreißigsten Lebensjahre sterben. Stirbt man vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr, so ist es so, daß man noch nähersteht der Welt, aus der man bei der Geburt herausgekommen ist. Und das fünfunddreißigste Lebensjahr ist eine wichtige Grenze. Da überschreitet man gleichsam eine Brücke. Da zieht sich die Welt, aus der man herausgegangen ist, zurück, und man gebiert mehr aus dem Innern heraus eine neue geistige Welt. Das ist wichtig, daß wir das unterscheiden. Und nun stirbt ein Mensch vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr. Wird er dann wie­derverkörpert, so wächst ihm in einer gewissen Weise die Kraft zu, die er nicht verwendet hat in der Lebenszeit, die auf das fünfund­dreißigste Lebensjahr folgen würde. Solche Menschen, die in einer Inkarnation vor dem fünfunddreißigsten Jahr durch den Tod gehen und dadurch für diese Inkarnation die Kräfte sparen, die sonst auf­gebraucht worden wären, wenn sie fünfzig, sechzig, siebzig Jahre alt geworden wären, bei denen summiert sich diese Kraft, die sie da er­spart haben, mit den Kräften, mit denen sie sich in die nächste In­karnation einverleiben, und dadurch werden solche Seelen in Lei­bern geboren, durch die sie imstande sind, zumeist in ihrer Jugend, mit starken Eindrücken dem Leben entgegenzutreten.

Mit anderen Worten, wenn solche Seelen, die in der vorherge­henden Inkarnation vor dem fünfunddreißigsten Jahr gestorben sind, sich wieder inkarnieren, so macht alles auf sie einen starken Eindruck. Es entrüstet sie etwas stark, sie freuen sich stark, sie ha­ben lebhafte Empfindungen, und es drängt sie rasch zu Willensim-pulsen. Das sind solche Menschen, die dann stark in das Leben hin­eingestellt werden, die ihre Mission bekommen. Man stirbt nicht umsonst vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr, sondern man wird dann hineingestellt in das Leben in einer ganz bestimmten Weise. Wenn man aber nach dem fünfunddreißigsten Jahr stirbt - die

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Dinge kreuzen sich miteinander, es kann das Sterben vor dem fünf­unddreißigsten Jahr noch etwas anderes bringen, es sind nur Bei­spiele, es muß nicht so sein -, so kann das dazu führen, daß man im nächsten Leben von den Dingen der Weltumgebung nicht so starke Einflüsse bekommt. Man kann sich nicht rasch begeistern, man kann nicht rasch entrüstet sein. Man macht sich langsamer, aber in­timer mit den Dingen bekannt und wächst dadurch in der nächsten Inkarnation in ein solches Leben hinein, durch das man mehr durch die Innerlichkeit wirkt, ohne so bestimmt hingeführt zu werden zu einer bestimmten Lebensaufgabe. Man wird im Leben stehen so, daß man eine andere Aufgabe vielleicht lieber hätte, aber dazu ver­wendet werden kann, etwas Besonderes auszuführen, vielleicht gar gegen seinen Willen. Weil man durch die vorhergehende Erdenin­karnation sich dazu geeignet gemacht hat, feiner zu wirken, ist man brauchbar in weiterem Umfange.

Wird zum Beispiel ein Mensch - ich habe diesen Fall schon frü­her erwähnt - in sehr früher Jugend durch die Pforte des Todes ge­führt, sagen wir im elften, zwölften, dreizehnten Lebensjahr, so hat er eine kurze Kamaloka-Zeit, aber er steht noch sehr nahe der Welt, die er verlassen hat bei der physischen Geburt. Da stellt sich alles anders heraus. Wenn man eben dies in seinem Karma hat, dann folgt auf ein solches Leben, das mit dem zwölften Jahre schon ge­schlossen hat, auch schon eine Rückschau in den ersten Tagen nach dem Tode, aber man hat sie in einer solchen Weise, daß sie mehr von außen an einen herantritt, während man, wenn man im fünfzig­sten, sechzigsten, siebzigsten Jahr stirbt, selber viel mehr dazu tun muß, um die Rückschau zu bekommen. Man bekommt sie durch ei­gene Aktivität. Und dadurch, daß man dieses Leben nach dem Tode in verschiedener Weise zu durchleben hat, dadurch werden die Menschen in verschiedener Weise für ein nächstes Leben vorberei­tet. Es kann sein, daß man in einem Leben besonders aktiv ist. Würde man als eine besonders aktive Natur früh hinweggerafft aus dem Leben, so würde das eintreten, daß man im nächsten Leben durch sein Karma bestimmt wäre, hineingestellt zu werden mit ei­ner ganz bestimmten Lebensaufgabe, die man dann auch unbedingt

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durchführt. Man ist wie prädestiniert. Ist man aber in einem Leben ganz besonders aktiv und lebt man bis in ein späteres Alter hinein, dann verinnerlichen sich diese Kräfte. Dann hat man im nächsten Leben eine kompliziertere Aufgabe. Die äußere Aktivität tritt dann zurück, und es tritt gerade die Notwendigkeit an die Seele, innere Aktivität zu entwickeln.

So kompliziert ist das Leben des Menschen, wie es sich eben von Inkarnation zu Inkarnation entwickelt. Wir werden diese Betrach­tungen dann übermorgen fortsetzen. Jetzt möchte ich nur eben schließen damit, daß ich Ihnen sage: Wenn Sie nun einer solchen Zeit gegenüberstehen, wie die unsrige ist, in der in verhältnismäßig kurzer Zeit ausnahmsweise viele Menschen in abnormer Weise durch den Tod geführt werden, dann bereitet sich dadurch etwas ganz Abnormes vor. Und das muß sich einmal vorbereiten. Sie se­hen jedes Jahr, wie die Zeit der Blüten stoßweise in die Welt kommt. Wenn Sie zurückblicken in die Geschichte, so können Sie sagen: auch da treten stoßweise die Blüten auf. Eine große Blütezeit war die Zeit von Lessing, Herder, Schiller, Fichte, Goethe. Es ist, als seien alle genialen Menschen wie auf einem Haufen beisammen. Dann hört es wieder auf, und so geht die Welt stoßweise fort. Man spricht ja von solch stoßweisem Auftreten der Genies; dann geht es wieder anders. Da haben wir auf geistigem Gebiet stoßweise ein Aufblühen, ein besonderes Sprießen. Nun sehen wir in unseren Ta­gen stoßweise auf physischem Gebiet ein Sterben. Da haben Sie wiederum zwei Dinge, die Sie als Bilder nebeneinanderstellen kön­nen und die ungeheuer vielsagend als Bilder sind. Großes physi­sches Sterben, das ist der Same für späteres bedeutsames geistiges Aufblühen. Die Dinge haben alle zwei Seiten. Von diesem Gesichts­punkte aus sagen wir uns eben, immer wieder und wiederum Kraft und Trost suchend, aber auch in unseren Hoffnungen Zuversicht uns erringend, im Zusammenhang mit unserer Zeit und gerade aus dem Bewußtsein unserer Geisteswissenschaft heraus:

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Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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DRITTER VORTRAG Berlin, 20. November 1915

Wir haben die Tage, die wir jetzt hier zusammensein konnten, dazu verwendet, um nach der einen oder nach der anderen Seite Lichter zu werfen auf den Zusammenhang der Leben der Menschen hier auf dem physischen Plan und der Leben, die zugebracht werden zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und auch einiges über den Zusammenhang der einzelnen aufeinanderfolgenden Erdenle­ben, die der Mensch durchmacht. Sie haben gesehen, daß wenn ver­sucht wird, genauer ins einzelne dieser Verhältnisse einzugehen, die Untersuchung allerdings kompliziert wird, aber sie wird dann im Grunde genommen erst recht fruchtbar, da uns erst eine solche, ins einzelne gehende Untersuchung gewissermaßen über Einzelheiten auch der Lebensfragen und Lebensrätsel manchen Aufschluß geben kann. Wir wollen in einer solchen Betrachtung etwas fortfahren, müssen dazu allerdings heute damit beginnen, ein wenig einzuge­hen auf die Gliederung des Menschen, die wir ja kennen, die wir aber wiederholentlich besprechen wollen im Hinblick auf solche Eigenschaften, die uns für die folgende Betrachtung wichtig sein werden.

Nun, meine lieben Freunde, so wie wir als Menschen hier auf der Erde leben, so leben wir ja, wie Sie aus den verschiedenen Zyklen, Vorträgen und Büchern wissen, in einer ganz bestimmten Epoche der Erdenentwickelung. Und wir haben ja entnehmen können aus dem ganzen Geist unserer Betrachtungen, daß es einen inneren Sinn hat, eine gewisse innere Bedeutung hat, daß wir unsere Seele hindurchtragen durch diese verschiedenen Epochen der Erdenent­wickelung. Aus den Darstellungen, die gegeben worden sind, wer­den Sie schon ersehen haben, wie nicht nur das äußere, sondern das ganze Leben des Menschen hier auf der Erde selbstverständlich ver­schieden ist nach den verschiedenen Epochen. Anders war das ganze Leben der Seele schon - wir wollen zunächst ja nur auf das Leben der Seele sehen -, wenn wir nur die nachatlantischen Epochen

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betrachten, in der altindischen, anders in der urpersischen, an­ders in der ägyptisch-chaldäischen, anders in der griechisch-lateini­schen, anders in unserer Zeit. Durch alle diese Epochen trugen wir unsere Seelen hindurch. In allen diesen Epochen suchten unsere Seelen, die meisten Menschen wiederholt in einer Epoche, Körper, welche der Seele ermöglichen, die Welt so aufzunehmen, wie man gerade mit den Kräften einer solchen Epoche die Welt aufnehmen kann.

Wenn Sie sich erinnern, was gesagt worden ist über die Eigen­tümlichkeiten des Seelenlebens in den einzelnen Epochen, so wer­den Sie noch einen genaueren Einblick gewinnen können. Sehen wir uns zum Beispiel das Leben in der ersten nachatlantischen Epo­che an, so finden wir, daß die menschliche Seele vorzugsweise wäh­rend des Erdenlebens damit beschäftigt ist, die Wechselwirkung ih­res eigenen Wesens mit dem Ätherleib auszuwirken, also sozusagen dasjenige so recht zu erleben, was erlebt werdeN kann, wenn man hauptsächlich hier im Erdenleben in Wechselwirkung steht als Seele mit dem Ätherleibe. Dann in der zweiten nachatlantischen Epoche lebte die Seele alles das aus, was ausgelebt werden kann, wenn man so recht in Wechselwirkung steht mit dem Astralleibe. In der dritten nachatlantischen Kulturperiode lebte die Seele alles das aus, was ausgelebt werden kann durch die Wechselwirkung mit der Empfindungsseele; in der vierten Kulturperiode lebte die Seele aus die Wechselwirkung mit der Verstandes- oder Gemütsseele, und in unserer Zeit wird ausgelebt alles das, was ausgelebt werden kann, wenn man in Wechselwirkung steht mit der Bewußtseinsseele. Je nachdem die Seele, die sich in diesen einzelnen Epochen bewegte in diesen Gliedern der menschlichen Natur, dieses oder jenes er­lebte, rückte sie im allgemeinen Weltenfortschritt weiter. Es ist grundverschieden dasjenige, was man in diesen verschiedenen Epo­chen an Verhältnissen der eigenen Seele zur ganzen Welt erlebt. Davon muß man sich ja schon eine Vorstellung machen können nach dem, was bisher gegeben ist. Nun, in unserer Zeit lebt man also in der Bewußtseinsseele, und die ganze Kultur unserer fünften Kulturperiode besteht ja darinnen, daß die ganze menschliche Seele,

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das ganze menschliche Ich zur Welt solche Beziehungen anknüpft, die durch das Verhältnis zur Bewußtseinsseele gegeben sind. Was man erleben kann, wenn man in die Bewußtseinsseele seine Kraft hineinschickt, das erlebt man in unserer Epoche.

Nun können wir aber auch die ganze Sache von einem anderen Gesichtspunkt fassen. Wodurch geschieht es denn im allgemeinen kosmischen Zusammenhange, daß man in der Bewußtseinsseele lebt? Man lebt ja natürlich als Mensch nicht nur in der Bewußtseins-seele, sondern auch in anderen Gliedern der menschlichen Natur. Im engeren Sinne bilden wir in unserer Zeit die Fähigkeiten, die die Menschheit jetzt gerade ausbildet, vorzugsweise dadurch aus, daß wir mit unserem Ich auf dem Umwege durch die Bewußtseinsseele so recht in der Organisation unseres physischen Leibes hier leben zwischen Geburt und Tod. Der Grieche in der vierten nachatlanti­schen Epoche lebte noch nicht so stark in Abhängigkeit von seinem physischen Leibe wie wir. Der Grieche lebte im Leibe selber noch auf eine innerliche Art. Das bewirkte, daß er in der Verstandes- oder Gemütsseele arbeitete. Dadurch war er in der Lage, seinen physi­schen Leib in ganz anderer Weise auszufüllen, als wir es können. Der Grieche zum Beispiel hatte von jeder Handbewegung eine viel stärkere innere Gefühlsnuance als der heutige Mensch. Auf diese Dinge kann keine äußere Wissenschaft eingehen, aber sie sind vor­handen. Der Grieche fühlte, wenn er einen Arm bog, wie die einzel­nen Muskeln anschwollen, wie sich ein Winkel bildete. Dadurch war der Grieche als Bildhauer in der Lage, ganz anders zu schaffen. Der heutige Bildhauer arbeitet nach dem Modell. Er schaut das Mo­dell an und arbeitet danach. Nicht so der Grieche. Er hatte ein inne­res Gefühl von der Form des Armes, der Physiognomie und so wei­ter. Das war bei ihm inneres Erleben. Jetzt ist der Mensch in gewis­ser Weise herausgerissen aus dem, was er erleben kann im physi­schen Leibe, wenn er in der Bewußtseinsseele lebt. Er ist zwar gleichsam tiefer in seinen physischen Leib hereingegangen, er ist näher verwandt geworden damit, als es der Grieche sein konnte, aber dadurch auch ist er für all dasjenige, was der physische Leib gibt, unempfindlich geworden. Er bedient sich der Organe des physischen

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Leibes in einem höheren Sinne als der Grieche. Der Grie­che konnte gewisse Farbennuancen nicht sehen, wie wir sie heute sehen, weil er noch nicht so im physischen Leibe drinnensteckte wie wir heute. Wenn Sie bei Homer nachlesen, so können Sie se­hen, wie wenig Farben er anführt. Das ändert sich also in dieser Weise. Der Mensch macht sich verwandter mit seinem physischen Leibe, aber damit spürt er auch sein Inneres nicht so im physischen Leibe. Man müßte vielmehr sagen, er spürt am physischen Leibe nicht mehr sein Inneres, er stößt mehr nach der Außenwelt. Kurz, es ist ein Ringen mit den Fähigkeiten des physischen Leibes, wäh­rend es im Griechentum vielmehr ein Ringen mit der Form war. So daß wir sagen können: Wir bilden die Bewußtseinsseele gerade da­durch, daß wir mit unserem Ich eine gewissermaßen innere Ver­wandtschaft mit dem physischen Leibe eingehen, daß wir uns so recht in den physischen Leib hineinstemmen. Dadurch ist die Zeit gekommen, in der man nicht mehr viel weiß von den spirituellen Vorgängen und Dingen, die Zeit des Materialismus, weil man sich so sehr hineingestoßen hat in den physischen Leib.

Nun liegt aber natürlich im physischen Leibe wiederum der Ätherleib. Der Grieche wußte viel mehr noch von seinem Äther­leibe. Er spürte, wenn auch nur in einem leisen Anklang, wie der Ätherleib immer nachklingt den physischen Bewegungen des Lei­bes. Er verspürte noch, daß nicht bloß die physische Hand sich be­wegt, sondern daß die Ätherhand sich mitbewegt und zugrunde liegt der physischen Bewegung. Das also ist verlorengegangen. Nun hat der Mensch aber, während er in dieser Griechenzeit war, das al­les so durchgemacht, daß er viel intensiver sich in seinem Äther-leibe fühlte als jetzt. Das ist ihm nicht verlorengegangen. Wir haben das ja alle durchgemacht als Seelen, das steckt in unserem Ätherleib darinnen. Das steckt alles darinnen in konservierten Gedanken. Und wenn wir aus der Welt, in der wir sind zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, heraustreten, so lassen wir wie in einem Vergessen zurück alles dasjenige, was wir eigentlich vorher recht gut in unse­rem Ätherleibe haben beherrschen können. Indem wir jetzt so tief in unseren physischen Leib hineinstoßen, lassen wir das zurück, was

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wir uns in der Griechenzeit erworben haben. Sie sehen daraus schon, daß unser Ätherleib eigentlich sehr vieles enthält, wovon der Mensch jetzt nur kein Bewußtsein hat. Der Mensch entwickelt sein Bewußtsein jetzt hauptsächlich im physischen Leibe. Dadurch deckt er zu dasjenige, was in seinem Ätherleibe ist. Wäre dem Menschen all das Wissen von der inneren, menschlichen Organisation, das er in seinen Ätherleib hineingeheimnißt hat, bewußt, so würde er un­endlich viel mehr wissen als jetzt. Denn dieser Ätherleib hat sich eine gewisse Vollkommenheit erworben, die größer ist, als der Mensch sich jetzt bewußt ist. Überhaupt ist in bezug auf den Äther-leib vieles zurückgedrängt, weil wir ihn eben nicht in der entspre­chenden Weise zum Bewußtsein bringen; wir wissen vieles nicht von diesem Ätherleibe.

Unter anderem arbeitet im Ätherleib, wie Sie wissen, wiederum der Astralleib. Alles dasjenige, was der Ätherleib so arbeitet, muß natürlich durchdrungen gedacht werden vom Astralleibe. Wenn man alles das plötzlich heraufbringen könnte, was der Ätherleib ent­hält, so würde man unendlich viel gescheiter sein, als man es in der jetzigen Epoche ist, wo man eben mit seinem physischen Leibe kämpft. Denn dieser Ätherleib enthält zum Beispiel - natürlich ist der Astralleib daran beteiligt - unendlich viele Weisheitsschätze. Die sind unten in unserer Seele, in dem Ätherleibe. Da sind vor al­len Dingen eine Menge von Geschicklichkeiten, eine Menge von Wissensstoff. Zum Beispiel in bezug auf Geometrie: Ich habe schon einmal hier ausgesprochen, wie viel Sie unbewußt von Geometrie wissen. Es ist dies wirklich eine Wahrheit; denn wenn Sie Geome­trie kennenlernen, so können Sie sie nicht außen von den Dingen her kennenlernen, sondern es holt sie der Mensch herauf, indem er das, was im Ätherleib ist, zum Bewußtsein bringt. Wenn er äußerlich Figuren aufzeichnet, so dienen sie nur als eine Anregung. Wenn ich ein Dreieck aufzeichne, von dem ich weiß, daß es 180 Grad hat, so weiß ich das aus dem Ätherleibe. Daß man die Figur aufzeichnet, das ist nur eine Spekulation auf die menschliche Faulheit. In Wahr­heit wissen Sie alles, was Sie an Geometrie lernen können, unbe­wußt; das steckt da unten in den Tiefen des unbewußten Seelenlebens.

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Überhaupt, man glaubt gar nicht, wie gescheit man ist in den unterbewußten Seelentiefen. Wenn man es nur wüßte! Das Unheil der menschlichen Entwickelung liegt nicht darin, daß die Menschen wenig Weisheit in sich haben, sondern darin, daß sie die Weisheit nicht heraufholen können aus der eigenen Seele. Alle erzieherische Entwickelung beruht darauf, daß man die verborgene Weisheit her­aufholt aus den Tiefen der Seele. Nun würden wir aber, wenn wir diese Dinge nicht so heraufholen müßten, doch unsere Entwicke­lung nicht fördern können, wie wir sie fördern sollen. Sehen Sie, wenn wir nicht zum physischen Leibe ein solches Verhältnis be­kommen würden, wie wir es jetzt bekommen haben, so würden wir als furchtbar gescheite Kinder geboren werden, und es würde gar nicht viel kosten, verhältnismäßig früh dasjenige, was im Ätherleibe steckt, heraufzuholen. Aber der Mensch würde dann viel zu wenig Mühe darauf verwenden, die Weisheit zu erlangen. Dadurch würde sie zu wenig sein Eigentum sein, er würde zu sehr ein Abklatsch sein der Weisheit. Die persönliche Aneignung erfolgt dadurch, daß wir ein solches Verhältnis zum physischen Leibe haben wie jetzt in der fünften Kulturperiode. Diese persönliche Aneignung macht erst, daß das Wissen zu unserem eigenen Wissen wird, und dann ha­ben wir es für uns, wenn wir es auf diese Weise heraufholen. Das gilt in bezug auf den Ätherleib.

Mit Bezug auf den Astralleib gilt aber noch etwas ganz anderes, da gilt das Folgende: Wenn wir alle Einzelheiten heraufholen könn­ten, die im Astralleibe liegen, alles, was der Astralleib weiß, dann wäre das eigentlich für unser gegenwärtiges Leben kein Gewinn. Denn wir würden dadurch wirklich wie Automaten innerhalb der Menschheit leben. Unser Astralleib weiß zum Beispiel in der Tat -nicht unser Bewußtsein, aber der Astralleib - wie er als Astralleib zu all den einzelnen Menschen steht, mit denen er sich im Leben be­gegnet. Unser Astralleib hat ein solches Bewußtsein. So daß, wenn wir könnten - derjenige, der es will, kann es nicht, und derjenige, der es kann, macht es nicht, weil das zur Ausbildung eines okkulten Egoismus schlimmster Art führen würde -, aber wenn man alles das, was der Astralleib weiß, bewußt machen könnte, so würde man

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zum Beispiel genau wissen: Mit dieser oder jener Persönlichkeit er­wirkst du dir Unannehmlichkeiten, mit dieser oder jener wirst du Freundlichkeiten erleben. Solches Wissen würde das Leben natür­lich ganz verändern, aber für unser gegenwärtiges irdisches Verhält­nis nicht im günstigen Sinne. Nun könnte ich noch viel erzählen, was der Astralleib weiß, aber der übt unbewußt sein Wissen auch schon aus, nur ein Wissen, das wirklich im Zusammenhange des Menschenlebens wenig beachtet wird.

Nehmen Sie einmal an, ein Mensch kommt durch ein Unglück um. Das erscheint uns so, nicht wahr, wenn wir das gewöhnliche Menschenleben betrachten, daß dieses Unglück den Menschen ge­troffen hat. Denn ein Unglück sucht der Mensch, so wie sein gegen­wärtiges Bewußtsein beschaffen ist> nicht. Würde man den Astral­leib prüfen, so würde man kein Unglück finden, das der Mensch, in­sofern er in dem Astralleibe ist, nicht sucht. Was da notwendig ist für das gewöhnliche Bewußtsein, das ist aus freier innerer Wahl ge­sucht vom Astralleibe. Das ist so gewollt, richtig gewollt vom Astral­leibe. Selbst wenn man von einem Eisenbahnzuge überfahren wird, ist das von dem Astralleibe eigentlich für den ganzen Lebenszusam­menhang in Erwägung gezogen, es ist nicht etwas, was bloß zugesto­ßen ist.

Also nicht nur, daß wir unseren Zusammenhang mit den übrigen Menschen in unserem Astralleibe haben als Weisheit, wir haben auch wirklich unseren Zusammenhang mit dem ganzen äußeren Le­ben, mit dem, was sich als Naturereignisse oder sonstige soziale Er­eignisse abspielt, in die wir verwickelt sind. Was uns da verschlossen ist und sein soll, ist gut, sonst würden wir nichts lernen für die wei­tere Entwickelung. Aber im Astralleibe ist ein wirklicher Gedanke vorhanden, das heißt eine Art von Wissen für alles dasjenige, was unser Wesen in Zusammenhang zeigt mit den Ereignissen und Menschenelementen, in die hinein wir verwickelt sind. Die Men­schen, sage ich, achten das im gewöhnlichen Leben eigentlich ziem­lich wenig. Denn wenn uns irgend etwas zustößt, von dem man sagt, , dann betrachtet man in der Regel dasjenige, was uns da zugestoßen ist, nur danach, daß es uns eben zugestoßen

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ist. Man zieht wirklich nicht in Erwägung, was geschehen wäre, wenn einem das nicht gerade zugestoßen wäre. Ich will einen ekla­tanten Fall herausgreifen. Ein Mensch wird verwundet in einem Au­genblick seines Lebens. Nicht wahr, im gewöhnlichen Leben denkt man: Nun, er ist verwundet worden. - Da schließt man ab. Was aber geschehen wäre, wenn der Mensch nicht verwundet worden wäre, darauf sieht man nicht. Denn, nicht wahr, durch eine Verwundung ändert sich das ganze Leben, alles Folgende geschieht anders. Aber der Astralleib durchschaut den ganzen Zusammenhang, indem er vor der Verwundung steht. Man kann sagen, der Astralleib ist hell­sehend.

Und das wahre Ich, das noch tiefer im Unterbewußtsein ruht, das wir im Tiefsten haben, das ist noch hellsehender, viel hellsehender. Nicht wahr, Sie sind sich ja klar darüber, meine lieben Freunde, daß wir unseren physischen Leib schon auf dem alten Saturn gebildet haben, daß wir unseren Ätherleib auf der Sonne gebildet haben und daß wir unseren Astralleib auf dem alten Mond gebildet haben. Un­ser Ich ist das Baby unter den menschlichen Gliedern, es ist am jüngsten. Dieses Ich wird so, wie jetzt der physische Leib gebil­det ist, erst auf dem Vulkan gebildet sein, also nachdem die Jupiter­Entwickelung und die Venus-Entwickelung vorüber sein wird. Aber dieses Ich ruht zugleich im Schoße der geistigen Welt. Dann, während der Vulkanzeit, wird ein ungeheures Wissen von dem Zusammenhang des Lebens von dem Ich ausstrahlen. Aber dieses Wissen ist schon jetzt in uns, und die Jupiter- und Venus-Ent­wickelung wird darin bestehen, daß die Fähigkeit dazu heraufgeholt wird.

Wir erblicken also, indem wir auf diesen Untergrund des Seelen­lebens blicken, in einer wunderbaren Weise unseren Zusammen­hang mit der geistigen Welt. Uns Menschen ist ja im normalen Menschenleben zunächst nur das gegeben, was wir empfangen, in­dem das Ich sich spiegelt im physischen Leibe. Aber dahinter ruht ein weit ausgebreitetes Erdenwissen, das im Ätherleibe ist. Dahinter ruht wiederum ein hellsichtiges Wissen, das im Astralleibe schon ist, und ein noch hellsichtigeres Wissen, das im wahren Ich ist.

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Diese Dinge sich vorher zu überlegen, ist gut, bevor man auf das eingeht, was ich nun eigentlich besprechen will.

Nehmen wir den Fall, der uns ja jetzt in so tausendfältiger Weise so tief zur Seele spricht, den Fall: Ein Mensch wir im jugendlichen Alter, wie es jetzt oft geschieht, auf dem Kriegsschauplatz durch die Pforte des Todes geführt. Sehen Sie, was da eintritt, das ist, daß in ganz anderer Weise die tieferliegenden Glieder der menschlichen Natur, Ätherleib, Astralleib und Ich, aus dem Zusammenhang mit dem physischen Leibe gerissen werden, als wenn der Mensch alt ge­worden ist und langsam in seinem Bette stirbt. Ein schnelleres Tren­nen von dem physischen Leibe findet da oftmals statt. Ich habe schon gesprochen von dem Prophetischen des Ätherleibes. Wir ha­ben gesagt, daß selbst in den Bildern des Traumes - der ja dadurch entsteht, daß sich der Astralleib nach dem Ätherleibe hinneigt und daß der Ätherleib gespiegelt bekommt dasjenige, was der Astralleib erlebt -, wenn wir diese Bilder in gewisser Weise auslegen könnten, etwas von prophetischer Art liegt, was uns auf unser künftiges Leben hinweist.

Für denjenigen, der nun als Geistesforscher diese Dinge zu erfor­schen hat, entsteht aus solchen Erwägungen heraus eine wichtige Frage. Man muß sich allerdings die Frage zunächst einmal vorlegen, aber dann ist dieses Vorlegen der Frage eine Art Leitung zu der Antwort hin, die sich dann aus der hellsichtigen Beobachtung erge­ben muß. Man sagt sich zum Beispiel: Der Mensch ist ja doch be­stimmt, hier auf der Erde, wenn das Leben normal abläuft, das Pa­triarchenalter zu erreichen, das Leben langsam aufzubrauchen. Da­für ist sein Ätherleib und sein Astralleib und sein Ich eingerichtet. Das kann im normalen Lebensablauf geschehen. Nun wird plötzlich durch eine Kugel, die den Menschen trifft, der ganze Zusammen­hang gestört. Damit aber wird eine Fähigkeit, zum Beispiel die Fä­higkeit des Ätherleibes - ich will jetzt die Betrachtung auf den ein­zelnen Menschen richten -, die Kraft, die nun durch das ganze Le­ben hindurch hätte wie prophetisch wirken können, die den Men­schen hätte hindurchführen können durch viele Lebensverhältnisse noch, herausgerissen aus dem Leben; sie wird getrennt von dem

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physischen Plan. Nehmen Sie an, die Kugel hätte nicht getroffen -wir können die Hypothese stellen und absehen davon, daß es ja selbstverständlich Karma ist -, dann würde der Mensch diese Kraft nach und nach verbraucht haben in seinem Ätherleibe, vielleicht durch viele Jahre hindurch. Diese Kraft ist trotzdem in seinem See­leninnern da; sie ist , diese Kraft. Daß sie da ist, das sieht man schon, wenn nun ein solcher Mensch, den eine Kugel ge­troffen hat, auf sein Lebenstableau zurückblickt, zurückblickt im Ätherleibe. Ich habe es schon angedeutet: Dieses Lebenstableau hat einen ganz anderen Charakter. Es hat den Charakter, als ob es von der Außenwelt herankomme, nicht so sehr von der Innenwelt er­zeugt werden müßte. Kurz, diese Energie, diese Kraft, die da abge­schnitten wird, die ist im Menschen. Und die Beobachtung ergibt auch, daß sie da ist, daß sie verändert das ganze folgende Leben nach dem Tode. Ebenso ist es mit der Kraft, die im Astralleibe ist. Die würde ja auch verwendet worden sein während des ganzen Lebens. Die ist auch noch da. Kurz, der Mensch tritt ganz anders durch die Pforte des Todes, wenn er gewaltsam aus dem physischen Leben herausgerissen wird, wenn er etwa durch eine Kugel getroffen wird und dadurch das Leben verläßt, als wenn er langsam im Bette ge­storben wäre.

Nun entsteht die große Frage für den Geistesforscher: Was be­deutet das denn eigentlich? Was bedeutet es für eine Epoche, daß der Mensch durch dasjenige, was ich angeführt habe, eigentlich et­was ganz anderes hineinbringt in die geistige Welt, als er hineinbringt, wenn er das Leben ausgelebt hat? Für eine solche Epoche, wie die ist, in der wir leben, ist das von unendlich großer Bedeutung, denn vieles von der Art des Geschilderten wird in die geistige Welt hineingetragen. Was bedeutet denn das für die geistige Welt? Das ist eine ungeheuer bedeutungsvolle Frage. - Wenn man sich ein we­nig ansieht das Verhältnis der geistigen Welt zur physischen Welt, wie Sie es nachlesen können in dem Wiener Zyklus: , dann kommt das näher, was man so lange nicht glauben kann, was sich aber der geistigen Forschung ganz klar darstellt: daß

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sich wirklich alle Begriffe und Vorstellungen ändern, wenn man in die geistige Welt kommt. Und so ist es nicht nur, wenn man durch Initiation hineinkommt in die geistige Welt, sondern so ist es auch bei dem Durchgang durch den Tod.

Sehen Sie, hier entwickelt sich eigentlich die Menschheit im Grunde immer mehr und mehr nach einer bestimmten Richtung, man kann sagen> des sogenannten Seinsbegriffes. Und heute ist schon ein gewaltiges Versenktsein in die Vorliebe für den Seinsbe­griff vorhanden. Was meine ich eigentlich mit dem Seinsbegriff, mit dem Begriff des Seins? Nun, es läßt ja heute kaum einer noch etwas gelten, was sich nicht gibt als ein . Wenn irgendeiner kommt, der nicht von etwas spricht, was handgreiflich ist, so wird er für einen Phantasten gehalten. Die Menschen gehen umher und reden von dem , und demgegenüber ist ein bloßer Gedanke nichts. Es gibt heute unzählige Menschen, die achten den Gedanken deshalb nicht, weil sie nicht von ihm angebissen werden können. bedeutet für sie: man bekommt knüppeldick dasjenige, was wahrge­nommen wird. Man hat nichts dazu zu tun, daß irgend etwas ist, son­dern es gibt sich als seiend. Und was nicht in dieser Weise sich als seiend gibt, das wollen die Menschen immer weniger gelten lassen.

In der Entwickelung der geistigen Welt ist das Umgekehrte der Fall. Dasjenige, was seiend ist, was einen Eindruck macht wie physi­sche Gegenstände, das ist für den Menschen im Geistigen etwas Feindliches, etwas Störendes, etwas, wovon er weiß, daß es zum Nichtigen gehört, daß es verurteilt ist, in das Nichtige zu verschwin­den. Und kommt man so ohne weiteres in ein geistiges Gebiet, wo nicht sehr weit entwickelte Seelen sind, Seelen, die also, ich möchte sagen, für den Geist noch ebenso naiv sind, wie viele Seelen für die Erde naiv sind, so findet man für die verstorbenen Seelen dort das entgegengesetzte Urteil. Etwas> worauf sie Wert legen, das darf nicht , wie man hier auf der Erde von spricht. Dasjenige, was hier Sein ist, das ist nicht wertvoll für diese Seelen. Im geistigen Le­ben ist es ja so, daß man lauter geistigen Wesen gegenübersteht. Die wirken auf einen. Die muß man erst zur Anschauung bringen. Es ist da so: Man steht in der geistigen Welt; hinter einem stehen Seelen

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der geistigen Hierarchien, Angeloi, Archangeloi und so weiter. Man weiß, sie sind da. Aber wenn sie für einen da sein sollen, so muß man sie erst auferwecken zu dem, was man hier das Sein nennt. Das, was in der geistigen Welt auf einen wirkt, das muß man zur Imagi­nierung bringen. Was nichterwecktes Sein ist, wozu man nichts tut, was so knüppeldick einfach vorhanden ist, das ist dort nicht wertvol­les Sein.

Hier auf der Erde steht man und ist umgeben von der Natur, und die geistige Welt, zu der muß man sich erheben, die ist nicht so ohne weiteres da. Es kostet keine besondere Mühe, die Natur um sich zu haben. Sie ergibt sich von selbst als ein Sein. Deshalb lieben es die Materialisten, die Natur um sich zu haben. Die ist aber nicht mehr da in der geistigen Welt. Es ist nichts da in der geistigen Welt, als was man sich immer erarbeitet. Da muß man immerfort tätig sein. Das, was da ist, das ist die andere Welt, die Welt, die man ver­lassen hat; auf die blickt man immer hin als auf eine seiende Welt:

diese Welt, die das Vergängliche in sich trägt, die fortwährend kämpft mit dem Nichtigen.

Wenn für einen Augenblick die Sache so wäre, daß die Welt, wel­che die Materialisten lieben, verschwinden würde, daß die Men­schen nichts wissen würden von ihrem Leibe, daß sie sich die Imagi­nation erst schaffen müßten, wenn sie nichts von dem Tisch wissen würden, bis sie ihn sich selbst denkend erschaffen würden, dafür aber die geistige Welt sehen würden, so hätten sie für das Leben hier, was sie dort haben in der geistigen Welt. In der geistigen Welt ist die Welt eben nur durch die eigene Tätigkeit zur Anschauung zu bringen. Die jenseitige Welt, also unser Diesseits, ist dort immer da. Während hier der Himmel verborgen ist und nur die Welt, die um uns ist, immer da ist, ist dort die Welt eigentlich verborgen, wenn man sie nicht tätig erst zur eigenen Anschauung bringt. Das Jen­seits, unser Diesseits, das ist eine Welt, an die man nicht bloß glau­ben kann, sondern von der man wissen kann unmittelbar. Aber das, was diese unsere Welt hier, vom Gesichtspunkte der anderen Welt betrachtet, ich möchte sagen, fatal macht, das ist, daß sie mit dem Sein durchdrungen ist. Das stört, daß diese Welt mit dem Sein

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durchdrungen ist, wirklich, das stört. Wenn viele sagen: Ich wollte schon an eine geistige Welt glauben, wenn ich sie nur hier sehen könnte!, so kann man das vergleichen mit dem, was die Seelen in der geistigen Welt sagen: Ja, diese fortwährend da unten vorhandene physische Welt, man wollte sie schon ertragen, wenn sie nur nicht fortwährend ; wenn sie nur nicht das Sein so aufdringlich in sich hätte. Man kann gar nicht hinunterschauen auf die Erde, ohne daß sie in allen ihren Punkten das furchtbare hat.

Und wenn hier jemand praktischer Materialist ist und nicht an Ideale glauben kann, dann liebt er nur das Sein. Aber damit nicht sich die Gesinnung von dem bloßen knüppeldicken Sein hier aus-breite, erstehen immer von Zeit zu Zeit die Idealisten, die die Men­schen an die Kraft der Ideale und ihre Wirksamkeit im geschichtli­chen Fortschritt glauben machen. Diese Ideale des Sittlichen, des Schönen, des Religiösen, sie werden hineingetragen in die Welt. Ge­wiß, die grobklotzigen Materialisten, die geben nichts darauf; höch­stens tun sie sie ab mit ein paar Worten. Es wird das, was nicht knüppeldick im materiellen Sinne seiend ist, gerade als das Wert­volle des Lebens auf den physischen Plan hereingetragen. Und wenn man von einem höheren menschlichen Gesichtspunkte aus die Entwickelung der Menschheit über die Erde betrachtet, so sagt man sich: Gewiß, die Natur ist groß, ist bedeutend; sie ist . Aber was wäre dieses ganze menschliche Leben, wenn nur die seiende Natur wäre - und wäre sie noch so schön -, wenn der Mensch nicht Ideale haben könnte, wenn er nicht ängesporut werden könnte, nicht von dem Seienden, sondern von dem Sein-Sollenden des sitt­lichen, des religiösen, des künstlerischen, des pädagogischen Le­bens? Das Nicht-Seiende, möchte ich sagen, das hereindringt aus ei­ner geistigen Welt als die Ideale der Menschheit - das Nicht-Seiende, aber Sein-Sollende, das macht das Leben erst wertvoll. Das empfindet jeder gut, der nicht ganz im Sumpfe des Materialismus untergegangen ist. Und so erscheinen die, die im Laufe der Ge­schichte auftreten und im besonderen Sinne Träger der Ideale sind, als diejenigen, die das seiende Leben aus dem Sein-Sollenden erst wertvoll machen,

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Und für den Geistesforscher stellt sich nun heraus: Von der gei­stigen Welt sieht man in einer ähnlichen Weise zurück auf das irdi­sche Leben, aber so, daß man als höhere Seele Verlangen trägt da­nach, daß nicht alles auf dieser Erde bloß ; daß es unter dem, was auf die Erde getreten ist, auch etwas gibt, was nicht im eminen-testen Sinne nach Erdenart . Es muß etwas beigemischt sein dem Erdensein, was nicht im gewöhnlichen Erdensinne ist. Und dies stellt sich heraus, ich möchte sagen, als etwas unendlich Bedeu­tungsvolles, wenn es sich dem Geistesforscher ergibt, bei denjenigen Leben, die veranlagt waren für ein langes Leben und gewaltsam ab­geschnitten worden sind, so daß wir einen Teil eines solchen Lebens haben, der vom jenseitigen Standpunkte aus angesehen eigentlich für das Sein bestimmt war und dieses Sein nicht ausgelebt hat. Neh­men wir an, ein Mensch hat, statt bis zum siebzigsten, achtzigsten Jahre nach seinen Lebenskräften, nur bis zum fünfundzwanzigsten, sechsundzwanzigsten Jahre in der Welt gelebt. Dann wurde er, sa­gen wir, von einer Kugel getroffen. Seine Glieder der Menschenna­tur wurden plötzlich auseinandergelöst. Der Ätherleib, der Astral­leib und das Ich hätten noch lange die Gabe entwickeln können, den physischen Leib zu erhalten. Das, was da noch hätte folgen kön­nen nach dem Schusse, das ist für das Erdendasein bestimmt gewe­sen; es ist nicht im Sein aufgegangen. Das nimmt sich aber von jen­seits aus gesehen so aus, daß man sieht: Da unten ist nicht bloß Seiendes, da unten ist dem Erdensein auch etwas beigemischt, was zum Sein bestimmt ist, aber nicht das Sein durchlebt hat, Sein, das bloß der Anlage nach vorhanden ist. Auch Sein-Sollendes im gewis­sen Sinne. Daher sind diejenigen, die ihr Leben also früh endigen durch eine äußere Veranlassung, indem sie durch die Todespforte gehen, für die geistige Welt in einem ähnlichen Sinne - nur in ei­nem ähnlichen Sinne, nicht im gleichen Sinne - geistige Boten wie die Idealisten, die hier auf die Erde kommen, um dem Seienden das Sein-Sollende beizumischen. So steigen herauf diejenigen, die früh durch die Pforte des Todes gegangen sind, um dem Himmel Kunde zu bringen, daß da unten auf der Erde auch Sein-Sollendes, nicht bloß Seiendes ist.

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Es ist eine unendlich tiefe, bedeutsame Entdeckung, die man machen kann, wenn man auf dieses Kapitel der Geistesforschung kommt, indem man kennenlernt jene dem Himmel zugekehrten Idealisten, die Idealisten werden dadurch, daß sie hier auf der Erde in der angedeuteten Weise durch die Pforte des Todes gehen. Und solch einen Gedanken wirklich mit unserer Seele zu vereinigen, es geziemt uns das in der jetzigen Zeit sehr wohl.

Betritt man eben die Gefilde des geistigen Lebens, so ist es nötig, daß neben denjenigen, die dort sozusagen ihre Aufgabe im geistigen Leben verrichten, auch solche sind, die hinweisen auf die Erde, so daß sie eigentlich etwas in die Erdenentwickelung hineinverwoben haben, aber es früher herausgenommen haben, als es der Anlage nach hätte heraufgebracht werden sollen. Daher kann man auch sa­gen: Diejenigen, die also durch die Pforte des Todes gehen, sie wer­den in vieler Beziehung für die Menschenseelen der geistigen Welt diejenigen, die an das Hohe des Erdenlebens glauben lassen, die glauben lassen im Jenseits, daß das Erdenleben wirklich auch Geisti­ges als Wertvolles in sich enthält. Sie nehmen dort eine ähnliche Stellung ein wie die Idealisten hier auf der Erde.

Wir müssen uns ja schon einmal bekanntmachen damit, daß wir uns die Menschen, indem sie weiterleben in der geistigen Welt, nicht so vorstellen dürfen, wie sie zuletzt hier gewesen sind. Die tri­viale Vorstellung, die sich die Menschen machen, zum Beispiel, daß die, die als Kinder sterben, weiterleben als Kinder, ist selbstver­ständlich nicht richtig. Die Gestalt, die die Toten zuletzt hatten, kann bildhaft in der Imagination so erscheinen; das ist aber nicht die Gestalt, sondern der Ausdruck. Es kann ein Kind sterben, aber das Menschenwesen, das in dem Kinde verkörpert war, kann eine sehr entwickelte Seele sein und fortleben nach dem Tode als eine sehr hoch entwickelte Seele. Das habe ich schon oft erwähnt.

Nun aber sehen wir, daß in die geistige Welt etwas hinaufgetra­gen wird, was als ein mit dem irdischen Sein verbundenes und doch nicht in demselben aufgehendes, ein gleichsam jenseitiges Sein­Sollendes ist. Das wirkt in der Entwickelung, welche die Menschen-seele nun wiederum zwischen dem Tode und einer neuen Geburt

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durchmacht, mit. Menschen, die durch die Todespforte gegangen sind, sieht man dann das Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt so durchmachen, daß sie gewissermaßen das mensch­liche der Erde in einem viel reicheren, viel umfänglicheren Sinne jenseits zur Vorstellung bringen, als man es zur Vorstellung bringen kann, wenn man ein normales Erdenleben ausgelebt hat. Nicht wahr, das soll nichts darüber entscheiden, was dem Menschen vor­gezeichnet ist durch das Karma. Wenn man alt wird, es ist Karma. Wenn man jung stirbt, es ist Karma. Aber gerade so, wie man sich nicht willkürlich auf der Erde zu dieser oder jener Individualität ma­chen kann nach dem diesseitigen Bewußtsein, so kann man auch nicht bestimmen vom Erdenbewußtsein aus, wie sich dieses Leben zwischen dem Tode und einer neuen Geburt gestalten soll. Wenn man also gewaltsam vom physischen Dasein in die geistige Welt hinaufgeht, so hat man ein viel intensiveres Anschauen, imaginativ, von allem Menschlichen, als man es hat, wenn man eben auf eine andere Weise in die geistige Welt eingetreten ist.

Man kann sagen: Diejenigen Menschen, die also durch die Pforte des Todes gehen, die stehen während ihres Lebens zwischen Tod und neuer Geburt insbesondere demjenigen nahe, was auf der Erde geschieht im Sinne des Allgemein-Menschlichen. Man kann das se­hen, wenn man Menschen prüft, die etwas ganz besonders Wichti­ges in irgendeinem Abschnitt ihres Lebens tun, so daß es darauf an­kommt, daß dieser Mensch das Betreffende tut. Sagen wir, ein Mensch tut im neunundvierzigsten Jahre etwas - es ist das selbstver­ständlich nur nach okkulter Anschauung zu sehen -, was ungeheuer bedeutsam nach irgendeiner Richtung hin ist. Das prüft man zu­rück. Dann findet man den Menschen in einer früheren Verkörpe­rung so, daß er dazumal vielleicht gerade in seinem neunundvierzig­sten Lebensjahr eines mehr oder weniger gewaltsamen Todes ge­storben ist. Das heißt, er hat dadurch eben diesen starken Zusam­menhang mit der ideellen Entwickelung auf der Erde hier erlangt, daß er das aufgenommen hat, dieses Sein-Sollende für die geistige Welt. Dadurch hat er die starke Kraft gehabt, daß er einverleibt hat seinem ganzen seelischen Wesen, das Bestimmte gerade in einem

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bestimmten Jahre zu vollbringen. Man kann auch daraus wieder er­sehen - ich habe das letztemal ja darüber gesprochen -, daß Men­schen, welche namentlich durch ihren Willen mancherlei zu bewir­ken haben, die also mehr für die allgemeine Menschheit leben, in ir­gendeiner Weise solch sein-sollendes Leben mit hinaufgenommen haben in irgendeiner früheren Inkarnation.

Es ist ja besonders schwierig, wenn man sich das Leben im Gei­stigen nur so vorstellen will wie ein etwas verdünntes irdisches Le­ben, sich mit dieser Vorstellung auszusöhnen, die man vom geisti­gen Leben erlangt: daß hier das physische Leben fortwährend be­kannt ist von selbst; daß jenseits das Leben ist, das unbekannt ist; und daß auch davon das Gegenteil gilt im geistigen Leben. Man pflegt sich nicht gleich richtig vorzustellen, daß eigentlich, wenn man nicht etwas dazu tut, alles dunkel und finster ist im geistigen Leben, daß man alles erst zum Licht heraufholen muß und daß alles, was diesseits ist> von jenseits aus sichtbar ist - jenseits, das aber un­ser Diesseits ist -, und daß das Bedeutungsvolle, das beigemischt ist, in einem Sein-Sollenden besteht. Dies ist eine Vorstellung, die man sich erwerben muß, wenn man in richtiger Weise den Zusammen­hang des physischen Lebens mit dem geistigen Leben einsehen will.

Ich sagte: Es ist wirklich ganz gut in unserer Zeit, sich mit sol­chen Vorstellungen bekanntzumachen. Denn die schmerzbewegte Seele frägt sich so sehr häufig heute: Warum müssen denn so viele Menschen im blühendsten Lebensalter in die geistige Welt abgeru­fen werden? Warum können sie ihr Leben hier nicht ausbilden? Und so sonderbar es klingt - wie gesagt, die geistigen Wahrheiten sind ja zuweilen etwas, was grausam scheinen kann -, so ist es doch wahr: In die geistige Welt muß die Möglichkeit hineingetragen wer­den, auf die Erde so zu blicken, daß diese Erde selber vom Geiste durchdrungen werden kann. Würden alle Menschen ihr normales Lebensalter erreichen, kein Mensch als Märtyrer, kein Mensch im frühen Alter sich zu opfern in der Lage sein, dann würde die Erde von drüben als dem wertlosen Sein verfallen aussehen. Das, was der Erde hier beigemischt ist an Ideellem, ist aber auch zu gleicher Zeit dasjenige, was immerzu aus dem Vergangenen ein besseres Zukünftiges

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hervorbringt. Und das hängt auch zusammen mit diesem, was da hingeopfert wird. Ein Mensch, der mit sechsundzwanzig Jahren sein ganzes folgendes Leben opfert, der gibt dieses ganze folgende Leben, das er sonst an seine äußere Arbeit gewendet hätte, dem Fortschrittsprozeß der Menschheit. Es lebt weiter. In dem, was jetzt an Fortschrittskräften da ist, lebt das, was Menschen hingeopfert ha­ben an Leben, die sie hätten hier noch durchleben können. Die Er­denentwickelung braucht die Lebensopfer. Da kann man sehen, wie das, was sonst in unserem materialistischen Zeitalter eigentlich nur mehr ein abstrakter Begriff ist, wie das unendlich konkret wird.

Noch in einem anderen Sinne, als ich es im Juli hier entwickelte, können wir sagen: Nicht nur diese Ätherleiber wirken sozusagen im ganzen Zusammenhang des Menschheitsfortschrittes, sondern auch die Arbeit der früh durch den Tod Gegangenen. Die Arbeit dieser Individualitäten ist eine solche, daß wir sagen können: Wer sind denn diejenigen, die vorzugsweise für das Allgemeine der Mensch­heit arbeiten, die sich allgemeine Aufgaben stellen in späteren In­karnationen? Es sind diejenigen, die in einer früheren Inkarnation in irgendeiner Weise einen Opfertod durchgemacht haben. Die hin­gebungsvollen, dem Geistigen hier auf der Erde zugeneigten Natu­ren, die verdanken das ihrem ein Martyrium zu nennenden Leben in einer vorhergehenden Inkarnation. Die Erde könnte nicht fort­schreiten, wenn sich nicht Menschen opfern würden.

Und wenn man dies bedenkt, meine lieben Freunde, dann kann man von der Gegenwart in die Zukunft einen Blick tun. So unend­lich viele werden jetzt geopfert, opfern sich. So schmerzlich dieses ist, von den persönlichen Gesichtspunkten aus betrachtet, so kann man sich damit versöhnen, wenn man es vom Gesichtspunkte der Weisheit der Welt betrachtet. Ebensoviel, als jetzt geopfert wird, wird der Zukunft an Fortschrittskräften gegeben. Die Menschheit braucht solche Fortschrittskräfte. Man bedenkt das heute noch nicht in genügendem Sinne, aber man wird es bedenken, wenn nicht ein­mal Jahrhunderte, sondern genügend viele Jahrzehnte über die ma­terialistische Entwickelung der Menschheit hingeflossen sind. Der Materialismus wird in rasender Eile seine Konsequenzen ziehen. Innerlich

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war der Höhepunkt des Materialismus im neunzehnten Jahrhundert, aber die Menschen würden versinken im Materialis­mus, wenn nicht eine Umkehr gegeben wird. Diese Umkehr, sie soll gegeben werden durch die Geisteswissenschaft. Aber sie kann nur dadurch gegeben werden, daß starke Kräfte arbeiten, daß wirklich das Ideelle in das Erdenleben hineingearbeitet werde. Viele, die jetzt abgerufen werden, werden dazu dienen, daß die Erde nicht verfällt dem Materialismus, daß der Materialismus nicht allein herrschen wird.

Lesen Sie es, meine lieben Freunde, in dem Vortragszyklus über die Apokalypse, wo es nur in großen Zügen angedeutet worden ist, nach, und machen Sie sich daraus einen Begriff, wie viele Früchte des Opfertodes die Erde in der Zukunft brauchen wird, damit sie vom Versinken im Materialismus und dem, was damit verbunden ist, Streit, Haß, Feindschaft, wenigstens soweit erlöst wird, als sie er­löst werden muß, damit sie ihren weiteren Weg im Kosmos durch­machen kann. Es ist schon so, daß solche Zeiten wie die unserige mehr als andere dazu auffordern, nicht nur zu denken an das, was geschieht, sondern auch zu denken an die Früchte dessen, was ge­schieht. Und diese Früchte können wir nur erkennen, wenn wir die zwei Seiten des Weltendaseins ins Auge fassen, diese zwei Seiten, die uns zeigen, daß wir wirklich zwei völlig verschiedene Pole des Lebens durchmachen, hier zwischen der Geburt und dem Tode, und dort zwischen dem Tode und einer neuen Geburt. Hier sind wir in gewissem Sinne mit unserem innersten Wesen passiv und müssen arbeiten, wahrhaftig so, daß es vielen viel zu viel wird, wenn wir zur Anschauung einer geistigen Welt uns aufschwingen wollen. Dort ist es notwendig, daß wir aktiv sind, tätig sind, um das, in dem wir sind, um die unmittelbar gegenwärtige Welt in unserer An­schauung zu haben. Dagegen haben wir immer, wie eine Mahnung, die Welt drunten vor uns.

Hier herein in diese irdische Welt tragen die Idealisten das, was das Sein-Sollende ist, was das Seiende wertvoll macht. In die Welt, in die die Menschen gehen durch die Pforte des Todes, in die dieje­nigen eintreten, die ihr Leben ausgelebt haben, um in regelmäßigem

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Gang das irdische Leben fortzuführen, treten auch jene ein, die mehr oder weniger früh als Märtyrer sterben, und sind dort die Zeu­gen davon, daß da unten nicht bloß Materielles, nicht bloß dem Nichtigen, dem Vergänglichen Verfallenes ist, sondern daß beige­mischt ist dieser Erde auch das, was da zurückbehalten diejenigen, die ein Leben nicht voll auslebten, sondern denen es gewaltsam zer­stört worden ist.

Man muß schon solche Dinge nicht nur verstandesmäßig neh­men, sondern tief mit seiner Empfindung durchdringen, dann klärt sich einem manches auf. Es sind gewiß viele Rätsel in der Gegen­wart enthalten, aber einige davon klären sich auf, wenn man also das Schmerzliche, was geschieht, im Zusammenhang mit der großen Weisheit der Welt betrachtet.

Auch das ist wiederum ein Kapitel, das uns, wenn wir das eben Ausgesprochene auf unsere Zeit anwenden, die wichtige Wahrheit verkörpern kann:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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VIERTER VORTRAG Berlin, 7. Dezember 1915

Geisteswissenschaft soll uns ja auf allen Gebieten den Zusammen­hang zeigen zwischen den geistigen Welten und den Welten, die wir, während wir in unserem Erdenleibe sind, wahrnehmen durch unsere Sinne, die wir zu verstehen suchen durch die Gedanken un­seres Verstandes. Nun haben wir uns durch einige Betrachtungen hindurch beschäftigt insbesondere mit den Zusammenhängen, die da bestehen zwischen dem Leben, das der Mensch als Seele führt zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, und dem Leben, das er hier im physischen Leibe verkörpert führt. Wir halten ja immer den Gedanken fest, daß der Mensch, solange er hier innerhalb des physischen Leibes lebt, seine Gedanken nach der Sphäre richtet, die er zu durchleben hat zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Wir halten den Gedanken fest nach dieser Sphäre gerichtet, nicht um eine bloße Neugierde zu befriedigen, sondern weil wir uns durch unsere geisteswissenschaftlichen Betrachtungen haben überzeugen können, daß das Hineindringen der Gedanken jener ande­ren Welt in diese Welt auch beiträgt zu dem, was diese Welt hier an erhöhenden, an durchkraftenden Gedanken für Wirken, Denken, Empfinden und so weiter sich erringen kann. Wir müssen an dem Gedanken festhalten, daß sich viele Geheimnisse des Lebens nur auflösen lassen, wenn man den Mut hat, an das Rätsel des Todes, wie man es nennen kann, heranzutreten. Nun können wir heute, um von einem ganz besonderen Gesichtspunkte aus wiederum den Zusammenhang der geistigen Welt mit der sinnlichen hier vor un­ser Seelenauge treten zu lassen, von einer trivialen Betrachtung, die allerdings vieles an tiefgehenden Empfindungen einschließt, aus­gehen.

Wir gehen aus von der Tatsache, die wir ja oftmals besprochen haben, wie der Mensch durch die Pforte des Todes schreitet. Ich sage, wir gehen aus von etwas, was alltäglich ist, was aber doch mit tiefgehenden und den Menschen in seiner tiefsten Seele ergreifenden

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Erlebnissen zusammenhängt. Wenn wir einem Menschen hier in der physischen Welt gegenüberstehen, machen wir uns die Ge­danken, die uns mit ihm verbinden können, wir bilden ihm gegen­über unsere Empfindungen, unsere Gefühle von Sympathie, von Antipathie aus, wir stehen ihm mehr oder weniger freundschaftlich oder mehr oder weniger ablehnend gegenüber, kurz, wir bilden uns hier in der physischen Welt ein gewisses Verhältnis aus zu einem anderen Menschen. Dieses Verhältnis kann durch die Bande des Blutes gegeben sein, es kann sich auch erst durch die im Leben zu­tagetretende Wahlverwandtschaft zur Geltung bringen. Das alles­wird gefaßt werden können unter dem, was in diesem Augenblicke mit Wenn nun der Mensch, mit dem uns irgendwelche Bande zu­sammengehalten haben, hinweggeht von der physischen Welt und durch die Pforte des Todes tritt, so bleibt uns von diesem Menschen zunächst die Erinnerung zurück, das heißt eine Summe von Emp­findungen, Gedanken, die wir aus dem Verhältnis zu ihm in uns rege gemacht haben, die wir in uns belebt haben. Und in einer ganz anderen Weise leben von jetzt an, da der Mensch durch die Pforte des Todes von uns hinweggegangen ist, die Empfindungen, die Vor­stellungen, die Gedanken, die uns mit ihm verbinden, als sie früher, da er noch mit uns den physischen Plan bewohnt hat, lebten. Als er mit uns den physischen Plan bewohnt hat, wußten wir, daß jederzeit zu dem, was wir uns in unserer Seele im Verhältnis zu ihm ausgebil­det haben, die äußere physische Realität hinzutreten kann, daß wir mit unseren inneren Erlebnissen der äußeren physischen Realität gegenübertreten können. Wir müssen auch jederzeit gewärtig sein, daß der Mensch durch irgendeine neue Art, sich darzuleben, die Empfindungen, die Gefühle, die wir bisher für ihn gehabt haben, in der einen oder in der anderen Richtung verändert. Wir denken oft­mals nicht an den radikalen Unterschied, der auftritt, wenn plötz­lich, oder auch nicht plötzlich, der Augenblick eintritt, wo wir fort­an nur noch die Erinnerung an den betreffenden Menschen in unse­rer Seele tragen können, wo wir wissen können: unseren Augen wird er nicht mehr erscheinen, unsere Hand wird er nicht mehr ergreifen.

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Das Bild, das wir von ihm gebildet haben, bleibt im wesent­lichen dasjenige, was wir uns schon gebildet haben. Es ist etwas ganz Radikales, das in dem Verhältnis zweier Menschen eintritt. Wie ge­sagt, es ist etwas, was trivial für den Gedanken klingt, was aber tief eingreifend ist in unser Innenleben, in dem einzelnen Falle, wo es eintritt: die Tatsache, daß Erinnerung uns wird eine Menschenseele, die bisher durch ihre physische Verkörperung auf uns von außen her einen Eindruck gemacht hat.

Aber vergleichen wir nun diese Erinnerung mit anderen Erinne­rungen, die wir uns sonst aus unseren Erlebnissen bilden. Wir leben ja zu einem großen Teile unser physisches Leben in Erinnerungen aus. Wir wissen von dem, was wir erlebt haben. Sagen wir zum Bei­spiel, wir wissen von Ereignissen, die an uns vorübergezogen sind, von denen wir Gedanken behalten haben, wir wissen, daß wir uns durch diese Gedanken an verflossene Zeiten wenden können, in de­nen die betreffenden Ereignisse stattgefunden haben. Überblicken-wir nun aber dasjenige, was wir so in dem größten Teile unserer Er­innerungen haben - ich sage, in dem größten Teile unserer Erinne­rungen -, so tragen wir in Gedanken etwas in uns, was nicht mehr da ist: verflossene Ereignisse, Ereignisse, deren Wirklichkeit wir nicht mehr in der äußeren Welt antreffen können, die der Vergan­genheit angehören.

Ganz anders ist vor unserem seelischen Auge, wenn wir das Gei­stige der Geisteswissenschaft aufgenommen haben, dasjenige, was wir Erinnerung an einen Verstorbenen nennen müssen, Erinnerung an eine Seele, die durch die Pforte des Todes gegangen ist. Ganz an­ders ist das. Da tragen wir Gedanken in uns, aber für diese Gedan­ken ist etwas Wirkliches da, allerdings nicht in der uns zugänglichen äußeren, physischen Welt, aber in der geistigen Welt. Dasjenige, worauf sich diese Gedanken beziehen, das ist da, obzwar es nicht in die Sphäre unserer Sichtbarkeit eintreten kann. Das ist eine ganz an­dere Erinnerungsvorstellung als eine Erinnerungsvorstellung an et­was, was hier in der physischen Welt vergangen ist. Wenn wir die Tatsache, die hier vorliegt, im Verhältnis zu der gesamten Welt ein­mal betrachten wollen, so können wir sagen: Wir tragen in unserer

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Seele Gedanken an eine Wesenheit, die in der geistigen Welt ist. Nun wissen wir - und insbesondere muß uns das klargeworden sein aus Betrachtungen, die wir an den letzten drei Abenden, die wir hier zusammensein konnten, gehalten haben -, daß nicht nur die Sehn­suchten der Seelen, die hier verkörpert sind, hinaufgehen nach den geistigen Welten, sondern daß auch das Bewußtsein der Seelen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, die nun leben in der Welt zwischen Tod und neuer Geburt, sich heruntererstreckt auf dasjenige, was hier in der physischen Welt vorgeht. Wir können uns sagen: Diejenigen Seelen, die entkörpert in der geistigen Welt le­ben, bekommen von der physischen Welt hier dasjenige in ihr Be­wußtsein herauf, was sie vermöge ihrer geistigen Anschauung und ihres geistigen Herabsehens eben wahrnehmen können. Ich habe in einer der letzten Betrachtungen angedeutet, wie Seelen, die noch hier im physischen Leibe verkörpert leben, wahrgenommen werden von den sogenannten toten Seelen, im Gegensatz zu der Wahrneh­mung, die sie von Seelen haben, die wie sie leben in der Zeit zwi­schen Tod und neuer Geburt. Ich habe ausgeführt, wie die Seelen, die in der geistigen Welt leben, um eine Wahrnehmung zu haben, immer tätig sein müssen, wie sie zum Beispiel wissen: Jetzt ist eine andere Seele in deiner Nähe -, wie sie aber, um sie anzuschauen, in­nerlich tätig sein müssen. Sie müssen sich gleichsam das Bild kon­struieren, das Bild entsteht nicht von selbst, wie es hier in der physi­schen Welt entsteht. Man hat in der geistigen Welt zuerst den Ge­danken des Nun ist aber doch ein bedeutsamer Unterschied in der Bildkon­struktion in bezug auf diejenigen Seelen, die auch schon in der gei­stigen Welt sind, und solche, die noch hier auf der Erde im physi­schen Leibe verkörpert sind. Während der Mensch im Leben zwi­schen Tod und neuer Geburt das Bild einer Seele, die auch schon in der geistigen Welt ist, ganz und gar aus sich heraus erzeugen muß, während er da ganz und gar tätig sein muß, fühlt er sich bei einer Seele, welche noch hier auf der Erde lebt, mehr passiv - das Bild

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kommt ihm mehr entgegen. Also die Tätigkeit ist eine geringere bei einer Seele, die noch hier auf Erden lebt, als bei einer Seele, die auch schon entkörpert ist, die innere Anstrengung ist eine gerin­gere. Dadurch drückt sich eben der Unterschied aus für diejenigen, die zwischen dem Tod und einer neuen Geburt leben. Wenn Sie das nehmen, so werden Sie sich sagen: Wenn sich die Seele, nachdem sie durch die Pforte des Todes gegangen ist, in die geistige Welt so hineinlebt, hält sie nicht nur ihre Umschau über jene Wesen der hö­heren Hierarchien oder der Menschenseelen, die auch mit ihr in der geistigen Welt leben, sondern es taucht vor ihr auch die Welt der Seelen hier auf, namentlich derjenigen, zu denen sie Beziehung ge­habt hat hier, bevor sie durch die Pforte des Todes geschritten ist.

Es ist ja dieser bedeutsame Unterschied noch festzuhalten, daß, während hier der Mensch auf Erden im Grunde genommen das, was das Erdendasein ausmacht, immer um sich hat und nur im Geiste ergreifen kann - das «nur» ist natürlich sehr vergleichsweise nur zu nehmen - die «andere» Welt, so ist es, wenn die Seele in der geistigen Welt ist, gerade umgekehrt. Das, was sie dort von selbst sieht, das ist unsere Welt, die Welt, die von dort aus die jenseitige ist, während sie sich anstrengen muß, um die eigene Welt, in der sie dann ist, immer als Wahrnehmung zu haben, um sie sich immer zu konstruieren. Also dort ist das Diesseits dasjenige, was man sich immerfort erarbeiten muß, und das Jenseits ist dasjenige, was eigentlich immer sich wie von selbst ergibt. Nun aber tauchen innerhalb dieses Jenseits - was für uns Diesseits ist, von der anderen Seite gesehen aber das Jenseits - die Menschenseelen auf mit demjenigen, was in ihnen lebt, insbesondere diejenigen Menschenseelen, zu denen Beziehungen während der Erdenzeit angeknüpft worden sind. Diese Menschenseelen treten auf. Aber innerhalb, ich möchte sagen, dieses Meeres von geistigen Wahrnehmungen, die da von der anderen Welt hier an und in den Menschenseelen gemacht werden, treten zuweilen auf die Erinnerungen an diejenigen, die durch die Pforte des Todes gegangen sind. Stellen Sie sich das lebendig vor. Denken wir uns einmal hypothetisch, wir lebten in einem Zeitpunkte, in dem sich keine Seele irgendeines Toten erinnerte. Dann würden natürlich

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die Toten die Menschenseelen auch sehen, aber in diesen Menschenseelen würden keine Erinnerungen an die Toten leben. In dieses Meer, das sich den entkörperten Seelen darbietet, gehen nun hinein die Erinnerungen, die Erinnerungen an die Toten. Da leben sie drinnen. Das ist etwas, was durch den freien Willen der Men­schen und durch die Liebe der Menschen hier hinzukommt zu dem, was der Tote von der anderen Seite immer sehen kann. Das ist also etwas, was hinzukommt.

Sehen Sie, hier haben wir wieder einen Punkt, wo dem Geistes-forscher wichtige Fragen aufgehen, wo der Geistesforscher die Frage aufwerfen muß: Was geschieht für denjenigen, der durch die Pforte des Todes gegangen ist, dadurch, daß er nun eingebettet sieht in die flutenden Seelen hier in unserer Welt die Erinnerungen, die diese flutenden Seelen an die Toten haben, was geschieht dadurch, daß er diese Erinnerungen wahrnimmt? Es ist bei der Geistesforschung so, daß man, wenn einem eine solche Rätselfrage aufgeht, diese Rätsel-frage zuerst gründlich erleben muß. Man muß sich hineinleben. Wenn man nun anfängt zu spekulieren, wie die Lösung einer sol­chen Frage sein könnte, wie die Antwort sein könnte, dann kommt man sicher zunächst auf das Falsche. Denn das Anstrengen des ge­wöhnlichen, an das Gehirn gebundenen Verstandes, das gibt in der Regel durchaus keine Lösung. Man kann durch dasjenige, was in­nere Anstrengung ist, die Lösung nur vorbereiten. Die Lösungen von Rätselfragen, die sich auf die geistige Welt beziehen, ergeben sich wirklich so, daß sie herauskommen aus der geistigen Welt wie eine Begnadung. Man muß warten. Man kann eigentlich nichts an­deres tun, als in der Frage so recht leben, immer wieder und wie­derum die Frage durchmeditieren, die Frage mit allen Empfin­dungsqualitäten, die sie entwickeln kann, in der Seele aufleben las­sen und ruhig warten, bis man - der Ausdruck ist wirklich ganz richtig gebraucht - gewürdigt wird, aus der geistigen Welt heraus eine Antwort zu bekommen. Und die kommt einem in der Regel von einer ganz anderen Seite zu, als man eigentlich denkt. Es kommt aus der geistigen Welt heraus dann die Antwort im rechten Augenblick, das heißt im Augenblick, wo man die eigene Seele genügend

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präpariert hat, so daß sie die Antwort entgegennehmen kann. Daß es die rechte Antwort ist, ja das läßt sich nicht durch eine Theorie ausmachen, ebensowenig wie durch Theorie sich etwas über die physische Wirklichkeit ausmachen läßt. Das läßt sich nur durch das Erleben selber ausmachen. Diejenigen, die jede geistige Wirk­lichkeit immer nur ableugnen und sagen: das kann man nicht be­weisen, es muß alles bewiesen werden - denen möchte ich nur die Frage stellen, ob jemals schon ein Mensch in der physischen Welt das Dasein eines Walfisches hätte beweisen können, wenn dieser nicht gefunden worden wäre. Nichts kann man beweisen, was nicht in irgendeiner Weise in Wirklichkeit aufgezeigt werden muß. So muß man auch in der geistigen Welt dasjenige erleben, was Wirk­lichkeit ist.

Nun gewiß, dasjenige, was da eintritt in das Bewußtsein als Lö­sung, es stellt sich, je nachdem man sich zubereitet hat in der Seele, in der verschiedensten Weise dar. Auf mannigfache Weise kann sich die Wahrheit darstellen, aber sie ist doch als die Wahrheit zu erle­ben. Wenn man sich diese Rätselfrage, die ich eben jetzt hingestellt habe, so recht in der Seele leben läßt, da tritt auf, scheinbar von ei­ner ganz anderen Seite her, ein inneres Bild, welches, ich möchte sa­gen, den inneren Anspruch darauf macht, einem etwas zu geben uber die Lösung des betreffenden Rätsels. Da kann auftreten das Bild eines Menschen, der etwa sich photographieren läßt, der sein Porträt bilden läßt. Überhaupt tritt auf das Bild irgendeiner physi­schen Sache, eine Nachbildung dieser physischen Sache. Und zu­letzt tritt auf alles dasjenige, was man in den Bereich des Künstleri­schen und auch der künstlerischen Darstellung setzen kann. Wenn-Sie sich vorstellen, wie das physische Leben verläuft, so können Sie sich sagen, dieses physische Leben verläuft so, daß der Mensch den außeren Naturwesen und Naturereignissen gegenübersteht: die lau­fen ab. Ebenso laufen die menschlichen Angelegenheiten ab, dasje­nige, was der Mensch sorgt und webt für seine Bedürfnisse und so weiter, dasjenige, was ihm in der Geschichte abläuft. Aber darüber hinaus sucht der Mensch etwas, was im Grunde genommen nichts zu tun hat mit dem unmittelbar Notwendigen in der Welt. Die

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Menschenseele wird gewahr, daß, wenn nur die Natur und die Ge­schichte mit den menschlichen Bedürfnisbefriedigungen ablaufen würde, das Leben öde und kahl wäre. Der Mensch schafft über den Naturlauf und über den Bedürfnislauf hinaus etwas hier im physi­schen Dasein. Er bekommt das Bedürfnis, nicht bloß, sagen wir, ir­gendeine Landschaft zu sehen, sondern diese Landschaft auch nach­zubilden. Er richtet es im Leben so ein, daß jemand, der mit ihm in irgendeinem Zusammenhang steht, von ihm ein Bild bekommen kann und dergleichen mehr. Wir können, von da ausgehend, an das ganze Reich der Kunst denken, das der Mensch hier als eine höhere Wirklichkeit über die Wirklichkeit hinaus schafft zu der gewöhnli­chen Natur- und Geschichtswirklichkeit hinzu. Denken Sie, was alles nicht in der Welt wäre, wenn es keine Kunst gäbe, wenn die Kunst nicht hinzubringen würde zu dem, was, wir können sagen, von selbst da ist, dasjenige, was sie aus ihrem Quell zu geben ver­mag. Die Kunst schafft etwas, was durch Notwendigkeit nicht da zu sein brauchte. Wäre es nicht da, so könnte alles Naturnotwendige gleichwohl geschehen: Man könnte sich denken, daß ohne irgend­eine Nachbildung oder künstlerische Darstellung der Verlauf des Lebens vom Erdenanfang bis zum Erdenende ginge. Was alles die Menschen dann nicht hätten, das mag man sich ausmalen. Aber theoretisch möglich wäre es, daß unsere Erde gestraft wäre damit, daß sich auf ihr keine Kunst entwickeln könnte. Wir haben in der Kunst etwas über das Leben Hinausgehendes. Denken Sie sich alles das, was in der Kunst geschaffen ist, in der Welt stehend und die Menschen also durch die Welt gehend, dann haben Sie gewisserma­ßen zwei parallel laufende Prozesse: die Natur- und Geschichtsnot­wendigkeiten und dasjenige, was als künstlerische Strömung hinein­gestellt ist.

Sehen Sie, so wie die Kunst gewissermaßen eine geistige Welt hereinzaubert in die physische Wirklichkeit, so zaubert die Erinne­rung, die hier in der Seele Platz greift, eine andere Welt in die Welt derer, die durch die Pforte des Todes gegangen sind, herein. Für die Toten könnte die Welt ablaufen, ohne daß in den Seelen hier Erin­nerungen lebten, die aus Liebe, die aus allen menschlichen Verhältnissen

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geboren sind. Aber es würde dann für die Toten die Welt, die die ihre ist, so ablaufen, wie für uns eine Welt ablaufen würde, in der wir nichts finden könnten, was über die gewöhnliche Wirklichkeit hinausgeht. Das ist ein ungeheuer bedeutungsvoller Zusammen­hang, daß durch die Gedanken der Liebe, durch die Gedanken der Erinnerung, durch all das, was uns in dieser Weise in der Seele auf­geht im Zusammenhang mit denen, die nicht mehr in der physi­schen Welt sind, für die, die nicht in der physischen Welt sind, dort etwas Analoges geschaffen wird demjenigen, was hier das künstleri­sche Schaffen ist. Und so wie der Mensch das künstlerische Schaffen aus sich heraus in der physischen Welt hier vollbringen muß, aus dem Eigenen etwas hinzutun muß, so muß wiederum für diejenigen, die in der geistigen Welt sind, das Entgegengesetzte eintreten. Es muß ihnen von der anderen Welt entgegengebracht werden, von den Seelen, die hier zurückgeblieben sind, die hier noch verkörpert sind; von den Seelen, die sie mehr passiv sehen als diejenigen See­len, die schon mit ihnen in der geistigen Welt stehen. Was für uns Natur- und Geschichtsverlauf wären, die sich nur von selbst vollzie­hen, ohne Kunst, ohne all dasjenige, was der Mensch bildet über die unmittelbare Wirklichkeit hinaus, das wäre für die Toten eine Welt, in der nicht innerhalb der physischen Welt zurückgebliebene See­len lebten mit Erinnerungen.

Solche Dinge, sehen Sie, sie werden nicht gewußt innerhalb des physischen Lebens der Menschen. Man sagt so, sie werden nicht ge­wußt - Sie werden nicht gewußt von dem, was das gewöhnliche Be­wußtsein ist, aber von demjenigen, was tieferes unterbewußtes Be­wußtsein ist, werden diese Dinge gewußt, und das Leben wurde auch immer danach eingerichtet. Warum wurde Wert darauf gelegt von den menschlichen Gemeinschaften, daß Allerseelentage, Totentage und dergleichen gefeiert werden? Und derjenige, der nicht an einem allgemeinen Totentage teilnehmen kann, hat eben seine eige­nen Totentage. Warum ist das? Weil in dem unterbewußten Be­wußtsein der Menschen eben das lebt, was man nennen könnte ein dunkles Bewußtsein von dem, was in die Welt hineingestellt wird dadurch, daß die Erinnerungen an die Toten belebt werden, besonders

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belebt werden. Wenn die offene Seele des Geistesschauers an einem Allerseelentag oder an einem Totensonntag oder dergleichen dahin geht, wo viele Menschen erscheinen mit den Erinnerungen an die Toten, so nimmt sie wahr, daß da die Toten teilnehmen, und es ist für die Toten dann so, nur natürlich entsprechend verschieden gedacht, wie wenn hier auf dem physischen Erdenrund die Men­schen einen Dom besuchen und jene Formen schauen würden, die sie nicht schauen könnten, wenn nicht aus der künstlerischen Phan­tasie heraus zu dem physischen Dasein etwas hinzuerschaffen wor­den wäre, oder wenn sie eine Symphonie hören oder dergleichen. Es ist gewissermaßen das über das gewöhnliche Maß des Daseins hinaus Entstehende, das sich in all diesen Erinnerungen darbietet. Und wie sich die Kunst hineinstellt in den physisch-historischen Menschenverlauf, so stellen sich die Erinnerungen an die Toten her­ein in das Bild, das die Seelen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt von ihrer Welt aus bekommen. In solchen Gebräuchen, die sich bilden innerhalb der menschlichen Gemeinschaften, drückt sich eben jenes geheime Wissen aus, das die Seelen in ihren Unter­gründen haben, und mancher ehrwürdige Gebrauch hängt eben mit diesem unterbewußten Bewußtsein zusammen.

Wir stehen vor den Zusammenhängen des Lebens viel bewun­dernder noch, wenn wir sie durchdringen können mit dem, was uns die Geisteswissenschaft an die Hand gibt, als wenn wir sie nicht da­mit durchdringen können. Wenn der Tote in der Seele eines Men­schen, der mit ihm in einem Verhältnis hier gestanden hat, eine Er­innerung an sich antrifft, so ist es immer so, wie wenn ihm etwas entgegentreten würde, was ihm das Leben verschönt, was ihm das Leben erhöht. Und setzt sich hier für uns Schönheit aus demjenigen zusammen, was Kunst ist, so setzt sich für die Toten Schönheit zu­sammen aus demjenigen, was hinaufstrahlt aus den Herzen, den Seelen der an ihre Toten sich erinnernden Menschen.

Das ist auch ein Zusammenhang zwischen der Welt hier und der geistigen Welt dort. Und es ist dies ein solcher Gedanke, der eng zu­sammenhängt mit jenem anderen Gedanken, der aus vielem, vielem hervorgeht, was in der Geisteswissenschaft gepflogen werden kann,

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dem Gedanken von dem Wertvollen, dem Wichtigen des Erdenlebens. Geisteswissenschaft führt uns nicht dahin, die Erde mit alledem, was sie hervorbringen kann, zu verachten, sondern Geisteswissenschaft führt uns dahin, das physische Erdenleben als ein Glied zu betrachten innerhalb des gesamten Weltenlebens und als ein notwendiges Glied; als ein Glied, das auf das hin angelegt ist, was in der geistigen Welt wirkt und ohne das die geistige Welt nicht in ihrer Vollständigkeit erscheinen würde. Und wenn wir nunmehr unseren Blick sozusagen dahin wenden, daß aus unserer physischen Welt heraus die Schönheit für die Toten ersprießen muß, so schließt sich uns der Gedanke auf, daß diese Schönheit für die geistige Welt fehlen würde, wenn es nicht eine physische Welt geben könnte mit Menschenseelen, die im Leibe auch noch Gedanken, gefühlsdurchtränkte, empfindungsdurchwellte Gedanken entwickeln könnten an diejenigen, die nicht in der physischen Welt sind. Es bedeutete viel, meine lieben Freunde, wenn in alten Zeiten zum Beispiel ganze Volksstämme immer wieder und wiederum hingebungsvoll in ihren Festen an die großen Ahnen dachten, wenn sie vereinigten ihre Gefühle im Hinblick auf einen großen Ahn. Es bedeutete viel, wenn sie solche Gedenktage einrichteten, denn das war immer das Aufleuchten eines Schönen für die geistigen Welten, das heißt für die Seelen, die zwischen dem Tode und einer neuen Geburt standen. Und so wenig, nun, sagen wir, um milde zu sprechen, so wenig «unalbern» es wäre, wenn jemand besonderes Gefallen hier auf der Erde an seinem eigenen Bildnis, an seinem eigenen Porträt fände - das ist ja natürlich etwas Albernes, nicht wahr? -, so bedeutsam ist nun das Bild, das der Tote findet bei den hier Zurückgebliebenen von sich selber. Denn, meine lieben Freunde, das müssen wir festhalten: Unser Erdenmensch wird etwas ganz anderes für uns, wenn wir ihn, als Tote, vom Gesichtspunkte des Geistigen aus betrachten; das haben wir öfters betont. Hier sind wir innerhalb unserer Haut eingeschlossen, hier ist uns dasjenige, was wir als «wir», als «ich» bezeichnen, eben das innerhalb der Haut Eingeschlossene, was uns wert ist. Auch für den «selbstlosen» Menschen gilt das! Für die «ganz selbstlosen Menschen» gilt das vielleicht sogar um einen Grad mehr als

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für diejenigen, die sich weniger selbstlos dünken! Wert ist uns vor allen Dingen, was innerhalb dieser Haut eingeschlossen ist; dann kommt die übrige Welt. Wir blicken zu dieser übrigen Welt als zur Außenwelt. Das ist aber gerade das Bedeutungsvolle, daß wir, wenn wir aus unserem Körper draußen sind, mit der Außenwelt vereinigt werden; wir leben in dieser Außenwelt. Dieses Aufgehen, dieses Sich-Ausbreiten über die Außenwelt, ich habe es öfters beschrieben. Und dasjenige, was dann sich so zu uns verhält wie jetzt die Außenwelt, das ist das, was wir gerade hier zwischen Geburt und Tod für uns ausgelebt haben. Die Außenwelt wird, wir können sagen, gewissermaßen unsere Innenwelt; und das, was hier unsere Innenwelt ist, wird dann unsere Außenwelt. Daher diese bedeutsame Erfahrung, wie ich sie in meiner «Theosophie» berührte, beim Betreten des Geisterlandes: «Das bist du.»

Also unsere Innenwelt hier, die unser Ich umfaßt, auf die blicken wir dann hin, das ist die Außenwelt. Und da ist es so, daß jene Seele, die nun nicht in dieser Weise egoistisch sein kann, wie sie hier egoistisch ist, zurückblickt auf die Gedanken, die ihr entgegentreten als die Gedanken an sie. Das ist dasjenige, was wie eine Außenwelt ihr entgegentritt, was wirklich einverleibt sein darf in den Umfang dessen, was wir dann als das Schöne bezeichnen, als dasjenige, was uns erhebt, was uns dann erheben darf. Es kommt zu dem, was eine Außenwelt ist - nämlich die Erinnerung an das, was wir durchgemacht haben zwischen Geburt und Tod -, etwas hinzu, was nicht in diesem unserem Leben lebt, sondern was in anderen Seelen lebt, aber sich auf uns bezieht. Das ist wirklich das Hineinstellen eines über uns, das heißt über unsere Außenwelt Hinausgehenden, wie hier das Hineinstellen des Kunstwerkes etwas ist, was über die gewöhnliche, von selbst dastehende Wirklichkeit hinausgeht. So wenig «nett» es hier ist von dem Menschen, wenn er nicht nur in sich, sondern noch dazu in sein Bild verliebt ist, so selbstverständlich ist es dort, daß man zu dem, was in den Seelen, die zurückgeblieben sind, als Bild von einem auftritt und hinzukommt zu der anderen Erscheinung, die man von sich hat, daß man zu dem so steht, wie man hier etwa steht zu einem Landschaftsbild im Verhältnis zur Landschaft oder

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dergleichen. So ist es also, daß man, wenn einem diese Rätselfrage vor die Seele kommt, das Bild von dem Menschen und seinem Bild in den Seelen der Hinterbliebenen erhält und daß man von da aus den Weg findet zur Beantwortung einer solchen Rätselfrage. Das Spekulieren führt in der Regel zu nichts, sondern das Warten können, das geduldige Abwarten. Dasjenige, womit man sich bemühen soll, sind eigentlich mit Bezug auf die geistigen Welten die Fragen; die Antworten müssen sich durch Gnade, durch sich offenbarende Gnade der Menschenseele ergeben.

Ich habe im Verlaufe dieser Betrachtung eben darauf aufmerk­sam gemacht, wie die Menschen Einrichtungen treffen, Erinne­rungstage, Erinnerungsfeste im allgemeinen, die zusammenhängen mit einem tiefen, aber vom gewöhnlichen Bewußtsein nicht umfaß­ten Wissen. Das hängt damit zusammen, daß der Mensch überhaupt in den Untergründen seiner Seele ein dumpfes, umfassendes Wissen hat - ich habe hier schon wiederholt darauf aufmerksam gemacht -und daß er eigentlich das Wissen, das er mit seinem Bewußtsein umfaßt, herausholt aus seinem umfassenden Wissen. Ich habe dar­auf aufmerksam gemacht, wie gescheit wir eigentlich wären, wenn wir all das mit unserem Oberbewußtsein umfassen könnten, was un­ser astralischer Leib umfaßt. Aber dieser Astralleib, der geht auch in einem viel höheren Sinne wissend durch das Leben, als wir gewöhn­lich glauben. Wir schätzen dieses Wissen unseres Astralleibes nicht, weil wir eben nichts davon wissen; aber wir können uns wenigstens eine Vorstellung machen von diesem umfassenderen Wissen des Astralleibes, wenn wir uns das Folgende vor die Seele stellen:

Sehen Sie, wir leben so, wir können es ja sagen, gewissermaßen in den Tag hinein. Wir beurteilen die Ereignisse sehr wenig nach ih­rem Zusammenhange. Würden wir sie nach ihrem Zusammen-hange betrachten, so würde uns manches ganz, ganz anders erschei­nen. Denken Sie doch nur einmal, es kann passieren, nicht wahr, daß wir uns irgend etwas vornehmen: Wir nehmen uns am Morgen etwas vor, was wir am Abend ausführen wollen. Mittags passiert uns irgend etwas, was uns verhindert, die Sache am Abend auszuführen. Wir ärgern uns zuweilen gründlich, daß wir die Sache am Abend

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nicht ausführen können. Wir sind der Meinung, daß es viel schöner, viel richtiger gewesen wäre, wenn wir die Sache hätten ausführen können. Der Astralleib mit seinem umfassenderen, aber uns nicht zum Bewußtsein kommenden Wissen, der weiß das eben anders. Der Astralleib sieht in einem solchen Falle oftmals: Wenn du die Angelegenheit, die du dir für abends vorgenommen hast, ausführst, so kommst du in eine Lage, wo du vielleicht hinfällst und dir ein Bein brichst. Es kann ja durchaus im Bereich der Möglichkeiten lie­gen, daß wir dem gar nicht entgehen können; wenn wir abends das, was wir uns vorgenommen haben, ausführen, so gibt es eben eine Konstellation vorher, daß wir uns ein Bein brechen. Das wissen wir in unserem Oberbewußtsein nicht, aber der Astralleib durchschaut das, und er führt uns nun in eine solche Lage, durch die wir selber verhindern, daß das eintritt, was wir abends haben ausführen wollen. Daß das eingetreten ist, worüber wir so ärgerlich waren, das ist zu­weilen im Gesamtzusammenhang unseres Lebens außerordentlich weise. Aber das wird nicht aus dem Zufall herausgeboren, sondern es wird ganz aus der Weisheit unseres Astralleibes, die uns eigent­lich aus dem Oberbewußtsein heraus unbewußt bleibt, gemacht. Wenn wir einsehen könnten, warum wir manches tun und einiges nicht tun, vielleicht weil wir etwas anderes nicht tun könnten oder zu etwas anderem erst geführt werden, wenn wir das alles durch­schauen könnten, so würden wir immer einen Zusammenhang in unserem Leben sehen, der von einem Weiseren in uns ausgeht, als wir in unserem Oberbewußtsein sind.

Es ist schon in unserem Leben Zusammenhang, aber dieser Zu­sammenhang wird nicht in seiner ganzen Sphäre durchschaut. Und sobald wir uns richtig den Gedanken vor die Seele halten, wie wir eigentlich mit den geistigen Welten zusammenhängen, so wird uns die Sache schon klar. Über uns liegt ein Wesen, das im engeren Sinne zu uns gehört, ein Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, un­ser schützender Geist. Wir wenden uns sogar jetzt immer im Beginn unserer Betrachtungen an die schützenden Geister derjenigen, die draußen die großen Forderungen der Zeit unmittelbar zu erfüllen haben. Dieser schützende Geist sieht nun hinein in den Zusammenhang.

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Aus einem Gefühl heraus war das lange im Menschenbe­wußtsein rege, daß gewisse Zusammenhänge, die wir nicht über­schauen, von diesem schützenden Geist überschaut werden. Nun sind aber die Grenzen zwischen dem, was wir überschauen, und dem, was wir nicht überschauen mit unserem Bewußtsein, veränder­lich. Es gibt ja wirklich Menschen hier, die dadurch mit einer gewis­sen inneren Zufriedenheit durch das Leben gehen, daß sie das, was an sie herankommt, eben an sich herankommen lassen, weil sie an die waltende Weisheit glauben, weil sie durchdrungen sind davon, daß auch dasjenige, worüber man so leicht ärgerlich werden kann, vom Walten der Weisheit durchtränkt ist. Es ist ja manchmal schwer, wenn etwas passiert, was so recht gegen unsere Absichten geht, an die waltende Weisheit zu glauben. Aber darin besteht ge­rade einer derjenigen Impulse, die uns so recht in Zusammenhang mit den Wirkungen der geistigen Welt bringen, daß wir uns hinein­zufügen wissen in die waltende Weisheit, ohne bequem oder faul dadurch zu werden, ohne zu glauben, daß diese waltende Weisheit selbständig für uns handelt. Die Grenze ist also verschiebbar, und auch in bezug auf das Handeln, auf das Bilden von Absichten ist die Grenze verschiebbar. Da treten allerdings in das gewöhnliche Be­wußtsein Impulse herein, die etwas Intimes, Zartes haben. Wie oft, nicht wahr, kommt es, daß wir uns etwas vornehmen für einen spä­teren Zeitraum. Nun kommt irgend etwas, wir haben das Gefühl, wir müssen dies tun, was eigentlich verhindert das Spätere. Wir ha­ben das Gefühl, aus der sich bietenden Notwendigkeit heraus zu handeln und die Sache ja nicht unzart anfassen zu dürfen, denn wir wissen: Wenn wir sie unzart anfassen, dann zersplittert sie sich vor uns, dann zerstiebt sie. Wir haben neben dem, worauf wir unsere Freiheit richten, mehr oder weniger deutlich einen Menschen in uns, der sich durch das Leben durchtasten will und der glaubt, durch das, was er ertasten kann, viel mehr zu erreichen als durch dasjenige, was er mit seinen Begriffen ganz genau sich abzirkeln kann. Die Grenze ist verschiebbar.

Aber die Grenze ist zuweilen noch mehr verschiebbar, und da kommt ein Punkt in Betracht, der wirklich recht ins Auge gefaßt

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werden soll gegenüber dem praktischen Leben. Es gibt Menschen -und in gewisser Beziehung sind wir alle ergriffen von dem, was in solchen Menschen waltet -, die auch eine gewisse Sehnsucht, eine gewisse Begierde haben, sich ihr Leben zurechtzulegen, so zwischen den Zeilen des Lebens durchzugehen. Nehmen Sie einen auffallen­den Fall an: Sie kennen einen Menschen, der schließt mit einem an­deren Menschen Freundschaft. Sie sagen sich zunächst: Ich kann wirklich nicht recht begreifen, warum der mit diesem anderen Freundschaft schließt, es ist mir nicht durchsichtig, es herrscht keine rechte Beziehung zwischen diesen beiden Menschen, aber der tut alles, um an diesen Menschen heranzukommen. Man kann es nicht begreifen, und man merkt manchmal erst sehr lange nachher, warum das geschehen ist: Der Betreffende braucht diesen Menschen vielleicht erst viel später zu etwas. Er hat mit diesem Menschen Freundschaft geschlossen, nicht weil er an ihm etwas erlebt hat, was er gerne hatte, nicht um seiner selbst willen, sondern als Mittel für etwas, was erst später eintreten sollte. Er hat sich das Leben Dehnen Sie diesen Gedanken über das Leben aus, so werden Sie sehen, wie ungeheuer verbreitet das im Leben ist, daß sich die Men­schen vorher etwas zurechtlegen, das sie nicht so unmittelbar wol­len, wie sie es sich zurechtlegen, sondern von dem sie wollen, daß es so ist, weil sie es eigentlich erst in den Wirkungen gebrauchen wol­len. Man muß also sagen: Es gibt Menschen, welche in diesem Sich-Zurechtlegen-des-Lebens eine - wir können jetzt nicht sagen Weisheit, denn wir werden ein inneres Widerstreben haben, dies Weisheit zu nennen -, aber welche eine ungeheure Schlauheit ha­ben, eine ganz ungeheure Schlauheit, in früheren Stadien ihres Le­bens etwas zu tun, was ihnen nicht in diesen Stadien, sondern erst in nachherigen Stadien ihres Lebens irgendwie zugute kommen soll. Und wir haben dann das Gefühl: Ich hätte den Menschen eigentlich

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gar nicht für so schlau gehalten, denn wenn ich mit ihm zusammen-komme, wenn ich mit ihm Gedanken austausche, wenn ich mit ihm zusammenlebe, da ist er eigentlich viel dümmer, als er sein muß, wenn er sich das Leben so zurechtzimmert.

Sehen Sie, das kommt davon her, weil in der Tat dasjenige, was der Mensch im astralischen Leibe trägt, gescheiter sein kann als das, was er in seinem gewöhnlichen Bewußtsein trägt. Wenn der Mensch stark seinen Egoismus hinunterdrängt in das Unbewußte, wenn er nicht mit einer gewissen Ursprünglichkeit lebt, sondern wenn er so sehr seinen Egoismus, ich möchte sagen, überspringen läßt, dann er­greift sein Egoismus auch sein unterbewußtes Bewußtsein, und es lebt in ihm der Mensch, der in uns allen lebt, aber der uns sonst an-leitet, das Leben eben zu nehmen in elementarer, in unmittelbarer Weise: er leitet ihn dann an, das Leben zu deichseln, sich einzurich­ten, sich vorher die Bedingungen zu schaffen für ein Späteres. Da sehen wir walten den astralischen Leib mit seiner Gescheitheit. Aber wir sehen ihn jetzt durchtränkt, nicht von dem, was wir sonst im Leben walten sehen, sondern wir sehen von dem gewöhnlichen Bewußtsein den Egoismus hinuntergedrängt in das astralische Be­wußtsein, und wir sehen, daß der Mensch eigentlich mit viel mehr scheinbarer, wie wir dann sagen, <Überlegung» durch das Leben geht, als ihm nach seinem Bewußtsein eigentlich schon zukommt. Da liegen viele gefährliche Seiten für die Entwickelung der Men­schenseele, und sehr wichtig ist es, daß man sich dessen bewußt ist, daß man in dem Augenblick, wo man herantritt an dasjenige, was in uns sonst unbewußt wirkt, versucht, nicht zu stark mit seinem Ego­ismus heranzutreten. Deshalb muß auch immer wieder und wie­derum dieses Absehen von dem Egoismus für die Entwickelung nach der geistigen Welt hin betont werden.

Da, unter unserem gewöhnlichen Bewußtsein, waltet wirklich et­was, was durchsetzt sein kann vom Bewußtsein unseres schützenden Geistes aus der Hierarchie der Angeloi, und dann kommt eben das­jenige zustande, was uns manchmal vor dem gewöhnlichen Be­wußtsein der Menschen unbesonnen erscheinen lassen kann, was aber doch unter einer gewissen Regel steht, die ich in einem der

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Mysterien sehr einfach habe ausdrücken wollen dadurch, daß ich sagte oder durch eine Person sagen ließ: Die Herzen müssen oft­mals das Karma deuten. - Wenn man aber darüber hinausgeht, über dasjenige, was das Herz deutet im Karma, wenn man den Verstand walten läßt, so setzt sich diesem Verstand zuweilen eine starke Dosis von Egoismus bei. Oder aber es kann dieser Egoismus so darinnen walten, daß wir den Menschen schlauer finden, als er uns von sei­nem unmittelbaren Bewußtsein heraus erscheint. Dann hat er den Egoismus hinuntergedrängt in seinen astralischen Leib. Da kommt ihm etwas, jetzt nicht von den regulären Wesen aus der Hierarchie der Angeloi, sondern etwas Luziferisches in das Wirken der Seele hinein, etwas, was den Menschen eine weitere Sphäre umkreisen läßt, als er eigentlich bewußt umkreisen würde nach seiner entspre­chenden Entwickelungsstufe. Wir sehen, daß dasjenige, was so not­wendig ist zu betonen, gerade wenn man an die geisteswissenschaft­liche Entwickelung herantritt, wirklich etwas Zartes und Intimes ist; denn selbstverständlich sollen wir unser Bewußtsein erweitern, aber wir sollen uns unser Bewußtsein erweiternd auch immerzu bemü­hen, das Hindernis hinwegzuschaffen, das durch das Hinunterneh­men oder Hinaufnehmen - das ist ja ganz gleichgültig, das eine oder das andere - des Egoismus in eine tiefere oder höhere Bewußtseins-sphäre entsteht.

Sie können fragen:Ja, wie können wir denn das? Es ist gut sagen, man solle den Egoismus nicht aus seinem gewöhnlichen Be­wußtsein herausbringen. Wie kann man vermeiden, den Egoismus aus seinem gewöhnlichen Bewußtsein zu bringen? - Ja, sehen Sie, meine lieben Freunde, das kann man nicht durch Regeln, sondern das kann man nur dadurch, daß man seine Interessen erweitert. Wenn man seine Interessen erweitert, dann bekämpft man schon immer in irgendeiner Weise seinen Egoismus. Denn mit jedem neuen Interesse, das man gewinnt, geht man ein Stück aus sich her­aus. Deshalb wird Geisteswissenschaft durch uns so betrieben, wie sie betrieben wird, daß nicht immer nur Rücksicht genommen wird auf dasjenige, was die Menschen nun gerade aus ihrem Egoismus heraus gerne hören wollen, sondern daß wirklich die Interessen erweitert

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werden. werden. Wie oft wird immer wieder und wiederum die Frage gestellt: Warum sind die Bücher so unverständlich geschrieben? Könnte man sie nicht viel populärer schreiben? Und der eine oder andere macht Vorschläge, wie man recht, recht populär die Bücher schreiben könnte. Man muß sich eigentlich wehren dagegen, diese Popularität zu erreichen, denn sie erhöht nur den Egoismus. Wenn es gar so leicht ist, in die Geisteswissenschaft hineinzukommen, so kann eben jeder ohne Überwindung seines Egoismus hineinkommen. Aber in der Arbeit, die man geistig durchmachen muß, wenn man sich etwas anstrengt, muß man schon ein Stück von seinem Egoismus wegbringen, und so kommt man unegoistischer hinein in dasjenige, was man erreichen will durch die Geisteswissenschaft, wenn man sich etwas anstrengen muß, als wenn es ganz populär dargestellt wird. Wir haben es zum Beispiel erleben müssen, daß jemand auftrat, der sagte: Es gibt so viele Menschen, welche den ganzen Tag zu arbeiten haben. Wenn sich diese Menschen abends hinsetzen und die schweren Bücher lesen sollen, so kommen sie damit nicht zurecht. Denen sollte man doch ganz leicht lesbare Bücher liefern. - Darauf mußte man ihm sagen: Warum soll man diese Menschen verhindern, die wenige Zeit, die sie haben, dazu zu nehmen, die Bücher zu lesen, die mit voller Absicht aus den geistigen Bedingungen heraus geschrieben worden sind? Warum sollen sie diese Zeit verwenden, um Schriften zu lesen, die zwar bequem zu lesen sind, die aber, weil sie die Dinge trivialisieren, selbst wenn sie vielleicht dem Wortlaut nach dasselbe geben, dadurch, daß sie die Seelen nicht in dieselbe Lage versetzen, dennoch in das triviale Leben dasjenige herabzerren, was gerade herausführen soll aus dem trivialen Leben auch mit Bezug auf die Art und Weise, wie man es durchlebt in einer anderen Sphäre?

Das wird von ganz besonderer Wichtigkeit sein, daß man bei der Geisteswissenschaft nicht bloß das «Was», sondern das «Wie» ins Auge faßt, daß man sich wirklich allmählich bequemt, sich hineinzuleben in Vorstellungen über eine Welt, die nun einmal ganz anders ist als die gewöhnliche physische Welt, und daher auch sich angewöhnt, nach und nach, andere Vorstellungen sich zu bilden, als

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diejenigen sind, die man sich in so bequemer Weise aus der physischen Welt heraus gebildet hat. Und da möchte ich heute am Schlüsse noch eine Vorstellung erwägen, die wir bei der nächsten Betrachtung heute in acht Tagen wieder brauchen werden. Aber ich will sie schon heute erwägen, damit Sie sehen, daß man vielleicht sogar gut tut, sich neue Worte anzueignen für dasjenige, was in der geistigen Welt vor sich geht.

Für die Art und Weise, wie ein Mensch zwischen Geburt und Tod lebt, haben wir ein Wort, das etwas ausdrückt im Leben, ausdrückt in Anlehnung an dasjenige, was wir sehen: das Wort «altern». Wir sehen das Kind frisch, rund, das innere Leben durch die äußeren Formen fließend, wir sehen das Kind bis zu einem gewissen Jahre strotzend von innerem Leben, das sich in die äußere Form ergießt. Dann kommt die Zeit, wo das innere Leben nicht mehr so sich ergießt, wo wir Runzeln bekommen, wo es anders wird mit uns. Kurz, wir verfolgen dieses äußere Leben von der Geburt bis zum Tode nach der Art, wie sich uns der physische Leib darstellt in diesem Lebensverlauf. Das nennen wir altern aus dem ganz trivialen Grunde, weil unser physischer Leib jung ist, wenn wir geboren werden, und alt ist, wenn wir sterben.

Mit dem Ätherleib ist es ganz anders. Unser Ätherleib, wenn wir das Wort überhaupt anwenden wollen, ist durch die Kräfte, durch die er gebildet wird, alt, wenn er zur Geburt oder Empfängnis hingeleitet wird. Er ist alt, indem wir eben erst unser physisches Leben anfangen, da ist er ausgeprägt und ausziseliert, da hat er viele, viele innere Formungen - es sind Bewegungen, aber die sind innere Formungen. Die werden ihm genommen im Verlaufe des Lebens, aber dafür wird die Kraft, zu leben, erhöht, und er ist ein Kind, wenn wir alt sterben. Der Ätherleib macht gerade die umgekehrte Entwickelung durch als der physische Leib. Wenn wir vom physischen Leibe sagen «wir altern», müßten wir vom Ätherleibe sagen «wir jüngern», und es ist gut, diesen Ausdruck zu bilden: Wir «jüngern» in bezug auf unseren Ätherleib. Wir «jüngern» wirklich in bezug auf unseren Ätherleib, so daß wir diesen Ätherleib, wenn wir geboren werden, in seiner Kraft gerichtet haben auf all dasjenige, was eingeschlossen ist

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in der menschlichen Haut, während er, wenn wir in einem gewissen Alter durch die Pforte des Todes gehen, eine Art Verwandtschaft hat mit dem ganzen Kosmos. Er hat die Kräfte wieder zurückbekommen, die ihm genommen waren. In dem Augenblick, wo wir Kind waren, da war sein Zusammenhang mit dem Kosmos unterbrochen, da mußte er alle seine Kräfte in den einzigen Raum hineinsenden, der in der menschlichen Haut eingeschlossen ist, da war er auf einen Punkt der Welt gleichsam zusammengedrängt. Nun wird er wiederum frisch, nun wird er wiederum in den Kosmos immer mehr und mehr hineingestellt in demselben Maße, als der physische Leib altert. Wir können sagen - der Ausdruck ist natürlich sehr übertrieben Während wir fahl und runzelig werden, wird der Ätherleib pausbackig und ist wiederum ein Abbild der äußeren Kraft, der äußeren schaffenden, strotzenden Kraft, wie der physische Leib ein Ausdruck ist der äußeren strotzenden, schaffenden Kraft im Anfänge der Kindheit. Wir «jüngern» mit Bezug auf den Ätherleib. Und es wird schon die Notwendigkeit auch nach und nach kommen, geradezu Worte zu bilden, um die ganz andersartigen Verhältnisse der geistigen Welt wirklich auffassen zu können. Das ist wichtig, daß wir uns mit diesem radikalen Unterschied in der ganzen Anschauung der geistigen Welt gegenüber der physischen Welt bekanntmachen. An diesem Punkte wollen wir dann das nächste Mal unsere Betrachtungen anknüpfen.

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FÜNFTER VORTRAG Berlin, 14. Dezember 1915

Wir haben die letzten Betrachtungen hier von einem gewissen Ge­sichtspunkte her auf das Leben gerichtet, das hinter jenem verläuft, welches für den Menschen in der Alltäglichkeit oder in der gewöhn­lichen Wissenschaft abläuft in seinem ihm durch das Erdenwerk­zeug, durch das physische Werkzeug vermittelten physischen Be­wußtsein. Im Grunde genommen sind ja alle unsere Betrachtungen auf dieses Leben, das unter der Schwelle des gewöhnlichen Be­wußtseins verläuft, gewendet. Dennoch versuchen wir, wie das ja in der Geisteswissenschaft sein muß, von den verschiedensten Seiten her diesem Leben nahezukommen.

Während einem Gewißheit gegeben wird in bezug auf die äußere physisch-sinnliche Wirklichkeit einfach durch das Anschauen - der Mensch sagt: Ich weiß, daß etwas ist, wenn ich es gesehen habe -, wird eine Gewißheit über die geistigen Welten auch für denjenigen, der nicht durch besondere Übungen in sie aufzusteigen vermag, da­durch geschaffen, daß man sie von verschiedenen Seiten her be­leuchtet erhält. Durch diese Beleuchtungen von verschiedenen Sei­ten her, die dann zusammenstimmen, kann eine gewisse Gewißheit erlangt werden.

Ich habe insbesondere darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch in der Welt nicht nur durch dasjenige darinnensteht, was er so überschaut mit dem gewöhnlichen Bewußtsein, sondern daß un­ter der Schwelle des gewöhnlichen Bewußtseins ein Leben des Men­schen abläuft, welches nicht vom Bewußtsein umfaßt wird, welches allerdings erkennbar wird, wenn der Mensch, wie man sagt, durch die Pforte der Initiation schreitet, welches aber unbewußt bleibt für das gewöhnliche Menschenleben. Es geht mit dem Ganzen, das der Mensch ist, vieles in der Welt vor - so habe ich mich ausgedrückt -, und dasjenige, wovon man, indem man durch das Leben im physi­schen Leibe schreitet, weiß, ist nur ein Teil dessen, was eigentlich mit dem Menschen vorgeht. Und alles Bestreben, mit der geistigen

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Welt in einen Zusammenhang zu kommen, besteht darin, erwas hineinzuschauen in dieses Leben, das unter der Schwelle des ge­wöhnlichen Bewußtseins verläuft, das heißt durch eine Erweiterung dieses Bewußtseins die Schwelle zu überschreiten und hineinzu-schauen eben in das, worin wir ja in der Wirklichkeit stehen, was wir aber nicht mit dem gewöhnlichen Bewußtsein überschauen. Und so sagte ich, daß eine gewisse verschiebbare Schwelle ist zwischen dem gewöhnlichen Bewußtsein und demjenigen, was - und das Wort hat ja für uns eine bestimmte Geltung - Ich hatte das letzte Mal ein sehr naheliegendes Beispiel ange­führt. Der Mensch nimmt sich des Morgens früh etwas vor, das er am Abend ausführen will. Er lebt sozusagen in dem Gedanken, daß er dies am Abend ausführen werde. Mittags passiert irgend etwas, was ihn verhindert, die Sache am Abend auszuführen. Für das ge­wöhnliche Bewußtsein liegt da vielleicht eines jener Ereignisse vor, die man einen Zufall nennt. Sieht man aber tiefer in das Menschen­leben hinein, so entdeckt man in diesem sogenannten Zufall Weis­heit, aber eben eine Weisheit, die unter der Schwelle des Be­wußtseins liegt. Man kann eigentlich diese Weisheit mit dem ge­wöhnlichen Bewußtsein nicht durchschauen, aber man entdeckt in solchen Fällen sehr häufig, daß, wenn das Hindernis am Mittag nicht eingetreten wäre, der Mensch vielleicht in recht schlimme La­gen gebracht worden wäre dadurch, daß er am Abend das Betref­fende unternommen hätte. Ich sagte das letzte Mal, er hätte sich vielleicht am Abend ein Bein gebrochen oder dergleichen. Und so­wie man dann den Zusammenhang hat, entdeckt man, daß Weisheit liegt in dem ganzen Verlauf, daß die Seele selbst das Hindernis ge­sucht, herbeigeführt hat, aber mit Absichten, die unter der Schwelle des Bewußtseins liegen. Nun, das ist etwas, was ganz hart am ge­wöhnlichen Bewußtsein noch liegt, aber es weist hinunter in eine Region, der der Mensch angehört, der er angehört mit den verborge­nen Teilen seines Wesens, die, nachdem er den physischen Leib ab­gelegt hat, durch die Pforte des Todes schreiten. Es gehört jenem waltenden Bewußtsein an, von dem wir im öffentlichen Vortrag gesprochen

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haben als von einem Zuschauer unserer Willenshandlun­gen. Dieser Zuschauer ist wirklich immer da. Er lenkt und leitet uns, aber das gewöhnliche Bewußtsein weiß nichts von ihm. Vieles geht da vor, das sich zwischen die Ereignisse, die das gewöhnliche Bewußtsein überschaut, hineinstellt. Und da bereitet sich, wie sich das Lebewesen im Ei vorbereitet, namentlich in alledem, was da zwischen die Ereignisse des Lebens sich hineinstellt, in dem, was unter der Schwelle unseres Bewußtseins vorgeht, dasjenige vor, was wir sein werden, wenn wir durch die Pforte des Todes geschritten sind.

Nun müssen wir zusammenklingen lassen etwas, was wir in den letzten Betrachtungen vor unsere Seele geführt haben, mit mancher­lei, was uns noch wohlbekannt sein kann aus früheren Betrachtun­gen. Ich habe oftmals hingewiesen darauf, wie wichtig und wesent­lich für den Menschen, insofern er hier im physischen Bewußtsein steckt, das Gedächtnis ist, dieses Gedächtnis, das nicht zerrissen werden darf. Wir müssen bis zu einem gewissen Punkte unseres physischen Erlebens uns zurückennnern, wenigstens zurückerin­nern können, an den Zusammenhang unseres Lebens. Zerreißt die­ser Zusammenhang, können wir an bestimmte Ereignisse uns nicht erinnern,sodaß wir wenigstens das Bewußtsein haben, wir waren in der Zeit vorhanden, als diese Ereignisse da waren, so tritt eine be­denkliche Seelenkrankheit ein, auf die ich in den letzten Betrach­tungen hier hingewiesen habe. Dieses Erinnern, das gehört zu dem Erleben im physischen Bewußtsein hier. Aber dieses Erinnern ist zugleich in gewissem Sinne ein Schleier, der uns zudeckt diejenigen Ereignisse, die ich jetzt eigentlich meine und die hinter dem ge­wöhnlichen Bewußtsein stehen, die eben hinter jenem Schleier ste­hen, der von der fortlaufenden Erinnerung gewoben wird. Bedenken Sie nur einmal: Wir sind zuerst ein Kind; da durchlaufen wir ge­wisse Bewußtseinszeiten, an die wir uns nicht zurückerinnern. Dann kommt der Zeitpunkt, bis zu dem wir uns immer im späteren Le­ben zurückerinnern können. Da ist eine geschlossene Erinnerungs­reihe, da wissen wir unser Ich bis zu einem Zeitpunkt zurückzuer­fassen, der eben im zweiten, dritten, vierten Lebensjahr, bei manchen

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Menschen auch später, im gewöhnlichen Leben eintritt. Wenn wir so in uns zurückschauen, wenn wir in uns hineinschauen, dann trifft unser seelischer Blick zunächst auf diese Erinnerung, und inso­fern wir hier ein physischer Mensch sind, leben wir innerlich eigent­lich in diesen Erinnerungen. Wir könnten gar nicht von unserem Ich sprechen, wenn wir nicht in diesen Erinnerungen leben würden. Wer sich selbst betrachtet, erkennt dieses. Indem er in sich hinein-schaut, schaut er eigentlich in den Umfang seiner Erinnerungen hinein. Er blickt also gleichsam auf das Tableau seiner Erinnerun­gen. Wenn auch nicht alles in diesen Erinnerungen auftaucht, was wir erlebt haben, so wissen wir, es könnten Erinnerungen auftau­chen bis zu dem charakterisierten Zeitpunkte hin, und wir müssen sogar voraussetzen, daß wir mit unserem Ich wirklich bewußt bei all diesen Erinnerungen dabeigewesen sind und Erinnerungen haben behalten können. Wäre das nicht, so wäre der Zusammenhang unse­res Ich zerstört und eine Seelenkrankheit eingetreten. Aber hin­ter dem, was wir da in der Erinnerung bemerken, liegt gerade das­jenige, was mit dem Geistesauge gesehen, mit dem Geistesohr gehört wird. So daß es richtig ist, was ich schon im öffentlichen Vortrage angeführt habe: Die Kraft, die wir sonst zur Erinnerung brauchen, die verwenden wir, wenn wir in die geistige Welt hinein­schauen, eben zum Hineinschauen in die geistige Welt. Das bedingt nicht, daß man sein Gedächtnis verliert, wenn man sich das geistige Schauen erringt, aber es bedingt das, was ich charakterisiert habe im öffentlichen Vortrag, nämlich daß man nicht in derselben Weise erinnerungsmäßig lebt, nicht das, was man geistig erschaut, wirklich immer überblicken kann, sondern daß man es immer wieder und wiederum schauen muß und immer wieder aufs neue schauen muß.

Ich habe oftmals gesagt: Wenn jemand wirklich aus der geistigen Welt heraus einen Vortrag hält, so kann er ihn nicht aus der Erinne­rung heraus halten, wie man über etwas anderes redet, sondern es muß immer aus der geistigen Welt neu geschöpft werden, es muß dasjenige, was im Denken lebt, immer wieder erzeugt werden. Der Geist, die Seele müssen tätig sein. müssen immer wieder neu erzeugen

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in einem solchen Falle. Wenn der geistig Schauende wirklich in die geistige Welt hineinsieht, so wird ihm dasjenige, was ihm sonst der Schleier der Erinnerung ist, zu einem durchsichtigen Schleier, zu etwas, durch das er hindurchsieht. Er sieht gleichsam durch die Kraft, die ihm sonst die Erinnerung bildet, hindurch und sieht da in die geistige Welt hinein. Wenn man streng und energisch seine Üb­ungen macht, so merkt man, daß, wenn man im gewöhnlichen Le­ben sein Denken braucht, indem man die Dinge, die Ereignisse der Welt auf sich wirken läßt, daß einen dann der Leib als ein physi­sches Instrument unterstützt, damit man die Dinge wirklich vorstel­len kann; und dann bleibt die Vorstellung, unterstützt durch die Tä­tigkeit des physischen Leibes, als Erinnerung in uns. Wenn man in die geistige Welt hineinkommt, muß man immer tätig sein, um die Vorstellung immer von neuem hervorzurufen. Eine unausgesetzte Tätigkeit beginnt, wenn man an dem Punkte ankommt, den ich im öffentlichen Vortrag charakterisiert habe, wenn man nun warten kann, bis die Geheimnisse der geistigen Welt sich eröffnen. Aber man muß mittun! Wie, wenn man etwas zeichnet, man immerzu mittun muß, um etwas durch die Zeichnung auszudrücken, so muß man, indem die geistige Welt sich enthüllt, die Imagination immer tätig miterzeugen. Sie erzeugt sich aus der objektiven Wirklichkeit heraus, aber man muß bei diesem Erzeugen der Vorstellungen da­beisein. Dann kommt man allerdings auf diese Weise zunächst hin­ein in etwas, was sich fortwährend abspielt mit dem Menschen, mit dem zwiefachen Menschen, den ich auch schon angedeutet habe, der in uns verborgen ist, der da lebt innerhalb unserer physischen Hülle und unter der Schwelle unseres gewöhnlichen physischen Be­wußtseins. An diesen Menschen knüpft man an. Da merkt man: Hier in der physischen Welt ist man so verknüpft mit der Welt, daß man auf einem festen Boden steht, so verknüpft, daß man andere Dinge der Außenwelt sieht, sich bewegt zwischen diesen anderen Dingen, daß man in ein gewisses Verhältnis zu Menschen kommt, denen man dieses oder jenes tut, von denen einem das oder jenes angetan wird. In der fortlaufenden Auffassung desjenigen, was wir so entwickeln, liegt dieses Leben, das wir mit dem gewöhnlichen

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Bewußtsein umfassen. Aber es liegt ein anderes Leben dem zu­grunde, eine Gesetzmäßigkeit, die wir mit diesem gewöhnlichen Be­wußtsein nicht überschauen, in die wir aber hineingestellt sind, wenn wir vom Einschlafen bis zum Aufwachen in unserem Ich und Astralleibe sind. Doch da ist unser Bewußtsein so herabgedämpft, daß wir mit den gewöhnlichen Sinnen nicht überschauen können, wie wir in einer Welt des Geistes stehen, die sich abspielt, die fort­während um uns herum lebt, aber die sich hineinverwebt als ein Unsinnlich-Unsichtbares in das Sinnlich-Sichtbare. Diese Welt müssen wir durchaus eben als eine geistige auffassen, wir müssen sie nicht denken gleichsam als ein Duplikat, als etwas bloß Feineres ge­genüber der physisch-sinnlichen Welt, sondern wir müssen sie den­ken als ein Geistiges.

Nun habe ich ja öfters darauf aufmerksam gemacht, welches die Gründe sind, daß gerade in unserer Zeit herausgeholt werden muß aus dem Borne aller menschlichen Erkenntnis dasjenige, was sich also, wie wir es treiben, auf die geistige Welt bezieht. Wahrhaftig, nicht nur aus der Tatsache, daß da Geistesforscher auftreten, die uber die geistige Welt zu erzählen haben, sondern aus dem ganzen Verlauf unseres Kulturlebens - ich habe von verschiedenen Ge­sichtspunkten darauf aufmerksam gemacht - ist zu ersehen, daß eine gewisse Sehnsucht der Menschen besteht, diese verborgene Seite des menschlichen Lebens wirklich an die Seelen herankom­men zu lassen, etwas von diesen verborgenen Seiten des Lebens zu wissen. Ich habe ja auch schon Erscheinungen im wissenschaftli­chen und im sonstigen Leben angeführt, die zeigen, wie diese Sehn­sucht lebt in der Gegenwart.

Ich möchte heute in unsere Betrachtung ein ganz besonderes Beispiel einfügen, aus dem wir ersehen können, daß es schon Men­schen gibt in unserer Zeit, die gewissermaßen rühren an diese Ge­heimnisse des Daseins, die etwas ahnen und wissen von diesen Ge­heimnissen des Daseins, die aber eben nicht wollen, aus Gründen, die ich nachher auch charakterisieren will, in der Weise eingehen auf diese Geheimnisse des Daseins, wie wir das durch unsere Gei­steswissenschaft versuchen. Wenn man diese Dinge so bespricht,

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daß man sie gewissermaßen so ein wenig in der Schwebe läßt, daß man den Leuten auch die Türe offen läßt: Nun, ihr braucht ja die Sache nicht zu glauben, ihr braucht nicht darüber zu denken, daß das eine wirkliche Welt ist! - dann kommt man mit diesen Dingen leichter an die Menschen heran. Und davon gibt es in unserer Zeit viele Beispiele. Ich habe sie angeführt. Ich will heute ein besonderes Beispiel noch anführen, gerade in bezug auf dieses Kapitel. Ich will einfügen in diese Betrachtung einige Bemerkungen über eine wirklich außerordentlich bedeutsame Novelle aus der deutschen Literatur der jüngsten Vergangenheit, ich möchte sagen, über eine Perle der deutschen Novellistik. In dieser Novelle, sie heißt «Hofrat Ey- senhardt», die wirklich eine der besten Novellen ist, die wir innerhalb der neueren deutschen Literatur haben, wird in einer ganz außerordentlich wunderbaren Weise eine, nur eine einzige Persönlichkeit charakterisiert, nämlich der Hofrat Eysenhardt selber. Dieser Hofrat Eysenhardt, der in Wien lebt - es wird sehr genau angegeben, wann er geboren ist: «Dr. Franz Ritter von Eysenhardt war einige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution von 1848 zu Wien geboren» - wird Jurist, später Vorsitzender des Landesgerichts; er wird einer der bedeutendsten Juristen seines Landes. Er ist gefürchtet bei denjenigen Menschen, die irgend etwas mit dem Gericht zu tun haben. Er ist beliebt bei denjenigen Menschen, die seine Vorgesetzten sind, denn er ist ein ganz ausgezeichneter Kriminalist. Er hat eine Dialektik, die imstande ist, jeden zu verurteilen, könnte man sagen, der nur irgendwie in seine Fangarme kommt. Er bringt jeden in ein Kreuzfeuer in den Verhören, und er weiß mit einer gewissen Anteil- losigkeit am menschlichen Leben sein - man kann in diesem Falle sagen sein «Objekt» - zu peinigen, so daß es sich verstrickt in alle möglichen Fallen, die ihm eben gelegt werden. Dabei ist der Hofrat Eysenhardt, so äußerlich im Leben, ein ganz merkwürdiger Mensch. Er hat nicht viel Begabung, sein Menschlich-Seelisches an andere Menschen anzuschließen. Er ist für das menschliche Leben eine Art Einsiedler. Er gibt sehr viel darauf, in einer gewissen Weise korrekt und tadellos im äußeren Leben dazustehen. Er ist kurz angebunden jedem Untergebenen gegenüber. Er ist freundlich nicht nur, sondern

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tief höflich jedem Vorgesetzten gegenüber. Ja, ich könnte Ih-nen noch viele Eigenschaften anführen; er ist das Muster eines Hofrates. Nun wollen wir nicht auf diese sonstigen Eigenschaften einge­hen - diese sind zum Beispiel wunderbar geschildert im Spiegel ei­ner Erzählung eines seiner Untergebenen in der Novelle -, wir wol­len aber gleich hinweisen darauf, daß er einmal ausersehen war, ei­nen bedeutungsvollen Prozeß zu führen gegen einen merkwürdigen Menschen, der Markus Freund heißt. Dieser Markus Freund hatte für ähnliche Vergehen geringerer Art als dasjenige, dessen er jetzt angeklagt war, schon Vorstrafen auf sich. Es stellte sich aber für den Untersuchungsrichter, der die Voruntersuchung machte, diesmal gar nicht die Möglichkeit heraus, es zu einer Verurteilung zu brin­gen. Aber der Hofrat Eysenhardt brachte es zu einer Verurteilung. Und in einem Schriftstück, das dann der Hofrat selber verfaßte, zu einem Zweck, den ich Ihnen gleich nennen werde, schildert er dann selber die Art und Weise, wie sich jener Markus Freund benommen hat während oder namentlich nach der Verurteilung. Also, ich will nur die Stelle lesen, wie sich der Markus Freund bei der Verurtei­lung benommen hatte:

«Sonst hatte dieser Mann, der überhaupt den für seine Rasse so charakteristischen Familiensinn besaß, eine ganz besondere Zärtlichkeit für eine jüngst geborene Enkelin, von der mit den Zellengenossen zu sprechen er nicht müde ward. Er konnte seine Freilassung, auf welche, obwohl schwerste Verdachtmomente gegen ihn vorlagen, er mit Sicherheit zu rechnen sich den Anschein gab, kaum erwarten, um das Kind wiederzusehen. Markus Freund leugnete hartnäckig und wußte in den Verhören vor dem Untersuchungsrichter jeden der ihn belastenden schwerwiegenden Umstände mit wahrhaft verblüffendem Scharfsinn so aufzuklären, daß der Untersuchungsrichter, ein sonst sehr tüchtiger, wenn auch über Gebühr weichherziger Mann, von Markus Freunds Unschuld vollkommen überzeugt war, als die Schlußverhandlung begann, deren Vorsitz die Person führte, auf welche diese Information sich bezieht.» - Der Hofrat Eysenhardt schreibt das selber, er schreibt in der dritten Person von sich. - «Obwohl Markus Freund auch in der Schlußverhandlung

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das Äußerste an Scharfsinn leistete und sein Verteidiger eine sehr schöne und rührende, von den Zeitungen nach Gebühr gepriesene Rede hielt, war der Ausgang des Prozesses doch dem vom Untersuchungsrichter und vielleicht vom Angeklagten selbst erwarteten genau entgegengesetzt. Herr Markus Freund wurde von den Geschworenen einstimmig schuldig gesprochen und, da meh­rere Vorstrafen und andere erschwerende Umstände vorlagen, zum höchsten Strafsatz von zwanzig Jahren schweren Kerkers verurteilt. Besagte Person» - also die besagte Person ist dieser Hofrat Eysen­hardt selber, das Äußerste an Scharfsinn leistete und sein Verteidiger eine sehr schöne und rührende, von den Zeitungen nach Gebühr gepriesene Rede hielt, war der Ausgang des Prozesses doch dem vom Untersuchungsrichter und vielleicht vom Angeklagten selbst erwarteten genau entgegengesetzt. Herr Markus Freund wurde von den Geschworenen einstimmig schuldig gesprochen und, da mehrere Vorstrafen und andere erschwerende Umstände vorlagen, zum höchsten Strafsatz von zwanzig Jahren schweren Kerkers verurteilt. Besagte Person» - also die besagte Person ist dieser Hofrat Eysenhardt selber, - «darf ohne Unbescheidenheit diesen Ausgang als einen der größten Triumphe ihrer vieljährigen kriminalistischen Praxis bezeichnen. Denn sicherlich hätten sich die Geschworenen durch die wahrhaft blendenden Sophismen des Markus Freund zu seinen Gunsten einnehmen lassen, obwohl die Volksstimmung damals Menschen seiner Rasse nicht eben günstig war, wenn nicht der Vorsitzende durch seine dem Angeklagten noch überlegene und doch der Fassungskraft der Geschworenen volkstümlich angepaßte Dialektik diese Sophismen in ein Nichts aufzulösen verstanden hätte. Die Wirkung der Verkündigung des Urteils auf den Angeklagten war eine derartige» - das erzählt also immer der Hofrat selber -, «daß gestählte und an solche Auftritte gewöhnte Nerven dazu gehörten, um sich dadurch nicht erschüttern und vielleicht an der Wahrheit und Gerechtigkeit des gefällten Urteils irre machen zu lassen. Zuerst stammelte Markus Freund einige unverständliche, wahrscheinlich hebräische Worte. Dann richtete der anscheinend kaum mittelgroße, gebeugte Mann sich auf, daß er wie groß aussah, die Lider, die seine Augen sonst fast zudeckten, hoben sich empor und ließen das von roten Äderchen durchzogene Weiß der rollenden Augäpfel sehen. Und aus dem verzerrten Munde zischte und geiferte in größter Schnelligkeit eine Reihe gegen den Vorsitzenden gerichteter Verwünschungen und Drohungen hervor, die in dem widerlichen Jargon, in welchem sie hervorgestoßen wurden, hier zu wiederholen, mit der Würde der Justiz kaum im Einklang stünde. Nur der erste Satz: ‹Herr Präsident, Sie wissen so gut wie ich selbst, daß ich unschuldig bin...› sei erwähnt und der letzte: ‹Es wird Ihnen

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heimgezahlt werden. Aug’ um Auge wird’s Ihnen heimgezahlt werden, warten Sie nur!» Was dazwischen lag, war überaus phantastischen Inhaltes und schien, wofern es überhaupt einen Sinn hatte, darauf hinauszulaufen, er, Markus Freund, habe den hohen Herrn Präsidenten bis auf die Nieren mit seinem Auge geprüft und gefunden, daß der hohe Herr Präsident, wenn er es auch jetzt noch nicht ahne, von einerlei Art sei wie er, der zertretene, aber diesmal unschuldige Markus Freund. Die Justizsoldaten taten alsbald ihre Pflicht, bändigten den Rasenden, dem der Präsident auf der Stelle wegen seines Exzesses die verdiente Disziplinarstrafe zuerkannte.Während die Soldaten, jeder einen der beiden fuchtelnden Arme festhaltend, den Verurteilten wegführten, schlug sein Wüten in Weinen und Schluchzen um. Noch auf dem Korridor vernahm man sein hohles Gewimmer: «Meine arme, arme Kleine, du wirst den Großpapa nie mehr sehen!» Die Herren Geschworenen waren durch diesen Vorfall ganz konsterniert und frugen durch ihren Obmann beim Präsidenten an, ob es nicht möglich sei, die Verhandlung sogleich wieder aufzunehmen. Sie hatten, bei mangelnder Gesetzeskenntnis, eben nicht genugsam Erfahrung, um zu wissen, daß derlei Ausbrüche häufiger bei sehr verstockten schuldigen Verbrechern vorkommen als bei unschuldig Verurteilten, die jedoch viel seltener sind als die romanhafte Phantasie des Publikums sich einbildet. Minder entschuldbar dürfte es sein, daß der oben erwähnte weichherzige Untersuchungsrichter, welcher der Schlußverhandlung nebst ihrem widerwärtigen Nachspiel beigewohnt hatte, zum Vorsitzenden beim Hinausgehen, leise den Kopf schüttelnd, die Worte zu sprechen sich herausnahm: «Herr Hofrat, ich beneide Sie nicht um Ihr Talent.›»

Nun war also der Markus Freund eingesperrt worden, und der Hofrat lebte zunächst weiter. Aber wie er weiterlebte und was nun geschah, das erzählt er nun auch in seiner Auseinandersetzung. Lange Zeit also, müssen wir uns vorstellen, ziemlich lange Zeit ist verflossen, und der Gefangene war festgesetzt worden. Nun geschah das Folgende:

«Ganz so wie die in Rede stehende Person» - also das ist der Hofrat

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selber, der das weiter erzählt - «in jenem Augenblicke ihn gesehen hatte, als er jene Flüche und Drohungen mit vor Wut entstelltem Gesicht gegen sie ausstieß, ganz so stand, als sie in der Nacht vom 18. auf den 19-März um zwei Uhr plötzlich unmotiviert aufwachte, der längst vergessene Markus Freund vor ihren Gedanken.»

Also der Hofrat wacht in der Nacht vom 18. auf den 19. März um zwei Uhr nachts plötzlich auf und hat den Eindruck, im Gedanken stünde ihm der Markus Freund vor der Seele.

«Und während besagte Person im Starrkrampf regungslos dalag, rekapitulierte ihre Phantasie blitzschnell das oben ausführlich Erzählte. Sie war sich dabei nicht deutlich bewußt, ob sie in den dazwischenliegenden Jahren niemals oder immer an diese Ereignisse gedacht hatte. Beides erschien ihr richtig in jenem Moment, da das Entsetzen ihr die Denkkraft lähmte.»

Also, er wacht auf, Hofrat Eysenhardt, mitten aus dem Schlafe heraus, muß an den Markus Freund denken, muß sich rekapitulieren dasjenige, was sich abgespielt hat, weiß nicht, ob er öfter oder gar nicht an die Sache gedacht hatte.

«Während gedachte Person so mit klopfenden Pulsen lag, und ihre alsbald auftauchende Absicht, das Licht auf dem Nachttisch anzuzünden, nicht auszuführen vermochte» - also er konnte die Hände nicht bewegen -, «war ihr, als poche etwas ganz leise an die Zimmertüre, oder vielmehr, es war mehr ein zaghaftes Scharren, als ob ein Hündchen um Einlaß bettele. Unwillkürlich stieß gedachte Person die Frage hervor: Wer ist da? Weder erfolgte eine Antwort, noch öffnete sich die Türe, aber gedachte Person hatte doch die deutliche Empfindung, als sei etwas hereingeschlüpft, und ein schwaches Knistern ging durch die Parketten, quer durch das Zimmer von der Türe zum Bett, als ob dieses unsichtbare Etwas näher käme und endlich dicht bei gedachter Person stehen bliebe. Wenigstens hatte diese das nicht genauer beschreibbare Gefühl fremder Anwesenheit, und zwar nicht etwa ein allgemeines, nicht bestimmt individualisiertes, sondern ihr war, als müsse das Etwas, das neben ihrem Bette stand, eben jener Markus Freund sein, dessen plötzlich aufzuckendes Erinnerungsbild sie soeben aus tiefem Schlafe aufgerissen

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hatte. Sie hatte sogar die Empfindung, als beuge sich das unsichtbare Etwas über ihr Gesicht. Sei es nun, daß gedachte Person inzwischen, ohne sich dessen bewußt zu sein, wieder einzuschlafen begonnen hatte und schon träumte, wobei bekanntlich nicht selten die Menschen, von denen man träumt, ineinander, ja sogar mit dem Träumenden selbst verschwimmen, sei es, daß gewisse überspannte Ideen Schopenhauers über die geheime Identität aller Individuen als Nachwirkung der Abendlektüre der letzten Tage sich in ihr regten, jedenfalls zuckte gedachter Person der sinnlose Gedanke durch den Kopf, daß sie selbst und jener Markus Freund im Grunde doch der nämliche Mensch sei, und wie zur Bestätigung dieser unsinnigen, jeder Logik widersprechenden Annahme wiederholte sie, ob nur rein innerlich oder hörbar und mit Bewegung ihrer Sprechorgane, weiß sie nicht, die oben zitierten Flüche und Drohungen jenes Markus Freund, so weit wie sie ihr noch erinnerlich waren, und zwar mit dem Entsetzen erregenden Gefühl, daß jene Flüche eben jetzt einzutreffen begonnen hätten. Falls gedachte Person, was nicht unmöglich ist, geschlafen und geträumt haben sollte, wachte sie unter diesem fürchterlichen Eindruck wieder auf und zündete das Licht an. Die Taschenuhr auf dem Nachtkästchen zeigte zehn Minuten nach zwei Uhr. Im Zimmer war alles wie sonst, obwohl Möbel, Wände und Bilder gedachter Person wie fremd erschienen und sie einiger Zeit und eines Trunkes Wasser bedurfte, um sich wieder einigermaßen in dem sie umgebenden Raum und in sich selbst zurechtzufinden.»

Also das erzählt er. Er erzählt: Zuerst im Gedanken hat er den Markus Freund vor sich. Dann hat er diese - sagen wir, diese Vision. Nun ließ aber das, so erzählt er weiter, einigen Eindruck in ihm zurück, einen Eindruck, der ihn zunächst veranlaßte, den Hofrat Eysenhardt, etwas bebend in das Landesgericht zu gehen und sich vorzunehmen, sich die Akten, die sich auf den Markus Freund beziehen sollten, noch einmal geben zu lassen. Er kam nie recht dazu. Aber es geschah etwas anderes. Hofrat Eysenhardt ist eigentlich immer ein ganz freigeistig gesinnter Mensch gewesen. Er erzählt nur, daß ihm dies passiert ist. Wir werden gleich sehen, warum er das erzählt.

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Ja, er findet es sogar etwas lächerlich und unwürdig, daß er etwas darauf gegeben hat:

«Umsonst hielt sich gedachte Person das Unwürdige und Lächerliche ihres Betragens vor. Ihre vormals eiserne Willenskraft war und blieb in dieser Hinsicht wie gelähmt. Sie reichte kaum mehr aus, um die inneren Martern, die sie mit sich herumtrug, den Kollegen und Untergebenen wenigstens einigermaßen zu verhehlen. Eines Vormittags glaubte gedachte Person aus einer Gruppe von richterlichen Funktionären, die in einem dunklen Korridor in lebhaftem Gespräch beisammenstanden, im Vorbeigehen den Namen «Markus Freund« zu vernehmen.»

Also, er war eines Tages in das Landesgericht gegangen - er hatte sich eigentlich nie getraut, diese Akten wieder vorzunehmen -, und er hört, daß im Korridor einige Leute sprechen, und im Vorbeigehen hört er den Namen Markus Freund.

«Da dieser Mensch und dieser Name ihr allmählig zur Zwangsidee geworden war, die ihr nirgends und niemals Ruhe ließ, hielt sie eine Selbsttäuschung für nicht ausgeschlossen» - also er glaubt sogar, er höre durch eine Selbsttäuschung den Namen Markus Freund -, «blieb stehen und fragte: «Von wem sprechen die Herren?» «Von Markus Freund, von Ihrem Markus Freund, Herr Hofrat, entsinnen Sie sich nicht mehr?» antwortete einer der Herren, der zufällig der weichherzige Untersuchungsrichter war, welcher damals jene übereilte Äußerung getan hatte. «Von Markus Freund? Was ist mit ihm?» Gedachter Person stand der Atem still. «Nun, gestorben ist er; Gott sei Dank, jetzt ist er erlöst, der arme Teufel», antwortete der Weichherzige. «Gestorben? Wann?» «Vor drei oder vier Wochen ungefähr», sagte der Gefragte. «Hier, Landesgerichtsrat N. muß es ja wissen.» «In der Nacht vom 18. auf den 19. März dieses Jahres um zwei Uhr», sagte der Landesgerichtsrat.»

Also, es wird uns erzählt: Hofrat Eysenhardt hatte den Markus Freund verurteilt. Er war längst eingesperrt. In der Nacht vom 18. auf den 19. März wacht er auf, hat ihn in Gedanken zuerst vor sich, hat dann die Vision seines Eintretens, bekommt eine heillose Angst, will sich die Akten geben lassen, läßt aber Wochen darüber vergehen.

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Endlich erlauscht er ein Gespräch, wodurch er erfährt, daß Markus Freund in derselben Minute gestorben ist, wo ihm erscheint, zuerst wie sich einschleichend wie ein Pudelchen, der verstorbene Markus Freund. Nun, um das Ganze zu verstehen, muß man zu dem schon Gesagten hinzunehmen den Schluß der Novelle. Denn der Schluß der Novelle zeigt, daß nun der Hofrat durch die Verhältnisse getrieben wird, und zwar durch Verhältnisse, von denen man gar nicht voraussetzen sollte, daß er dazu getrieben werden könnte -, daß er dazu getrieben wird, gerade als Vorsitzender eines ganz besonders wichtigen Spionageprozesses, in Zusammenhang zu kommen mit Persönlichkeiten, in welchem Zusammenhänge er, durch einen dunklen Instinkt geleitet, genau das Verbrechen begeht, wegen dessen er Markus Freund verurteilt hat. Er hatte also, als er durch seine Leidenschaftlichkeit später in dieses Verbrechen hereingerissen, dieses Verbrechen hinter sich hatte, Gelegenheit, sich jetzt in ganz besonderer Weise zu erinnern an dasjenige, was der Markus Freund gesprochen hat nach seiner Verurteilung: «Es wird Ihnen heimgezahlt werden, Auge um Auge, warten Sie nur. Auge um Auge wird es Ihnen heimgezahlt werden!»

Der Hofrat hatte also unter der Schwelle des Bewußtseins etwas erlebt, was zusammenhängt in der genugsam angedeuteten Weise mit seinen Handlungen in der vorhergehenden Zeit, was aber auch in einer merkwürdig geheimnisvollen Weise zusammenhängt mit der Erfüllung desjenigen, was der Verstorbene ihm angedroht hat. Ja, es hängt in einer noch tieferen Weise zusammen. Derjenige, der die Novelle geschrieben hat, schreibt in der Ichform, so, als ob ihm mancherlei erzählt worden wäre von diesem Hofrat Eysenhardt, und er erzählt, wie er ein Gespräch gehabt hat mit einem Untergebenen - es wurde das schon früher in dieser Novelle vorgeführt. Dieser Untergebene ist ein merkwürdig scharfsinniger, philosophisch angelegter Mensch, er sagt: Dieser Hofrat ist gerade deshalb so begabt, auf den Grund der Dinge zu gehen, weil er zu all diesen Dingen selber viel Anlage hat; und da dringt er am allertiefsten, wozu er seine besonderen Anlagen hat. Das wird in der Novelle erzählt. Nun ist interessant, daß ja der Gedanke auftaucht im Hofrat, in dieser Nacht

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um zwei Uhr, vom 18. auf den 19. März: Du bist so etwas wie eine Einheit mit diesem Markus Freund. Diese Einheit, dieses Zusam­menstecken der Bewußtseine, das kommt ihm da vor die Seele, er hat einen Durchblick auf einen Zusammenhang, der unter der Schwelle des gewöhnlichen Lebens liegt. Der wird ihm eröffnet. Er wird ihm selbstverständlich nicht eröffnet, wie er jedem eröffnet wird, aber er wird ihm eröffnet.

Nun ist interessant, daß der Dichter dieser Novelle alle Bausteine zusammengetragen hat, um die Handlung verständlich zu machen. Und da müssen wir denn auch noch vor unsere Seele stellen dasje­nige, was der Dichter anführt als vorangehend dieser Vision in der Nacht, die der Hofrat hatte. Der Hofrat war eigentlich ein robuster Mann. Wie gesagt, viele Eigenschaften ließen sich anführen, die ihn zeigen würden als einen zwar sich nicht seelisch ins Leben hinein-findenden Menschen, aber als einen Menschen, der mit einer gewis­sen Brutalität seinen Weg geht, und dem lag auch eine gewisse in­nere Gesundheit zugrunde. Nur wie durch ein äußeres Symptom wurde der Mann, der nie an sich irre geworden war, der immer von sich überzeugt war, an sich irre. Er entdeckte nämlich, daß ein Zahn locker geworden war und daß er ihn einfach mit den Fingern her­ausnehmen konnte. Da ging ihm der Gedanke durch den Kopf: Jetzt geht es abwärts mit dem Leben; jetzt fängt etwas an, abzu­bauen. Und der Gedanke ging ihm durch den Kopf: So verlierst du also Stück für Stück von deinem Organismus. Aber das wäre nicht das Schlimme gewesen, sondern das Schlimme war, daß er von diesem Augenblicke an - er merkte das nur nicht so - spintisierte über seinen eigenen Abbau, wie er nun wiederum in seinem eige­nen Brief schreibt, wo er sich wie eine dritte Person beschreibt -, das Schlimme war, daß sein Gedächtnis zurückging. Und weil ihm sein Gedächtnis eine solche Hilfe war bei allen Berufsarbeiten, die er in solcher Weise ausüben mußte und ausgeübt hatte, so bekam er eine gewisse Angst vor dem Leben. Und er merkte wirklich, wie er sich an gewisse Dinge nicht mehr erinnern konnte, an die er früher sich so leicht erinnert hatte, wie er früher alles so beisammen hatte.

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Denken Sie, wie interessant es ist, daß der Novellist zusammen-bringt diese Möglichkeit, ein ganz partielles Heilsehen zu haben, mit dem Herabgehen des Gedächtnisses! Dann wird das Gedächtnis wieder besser. Und dann kommt er dazu, dieses aufzuschreiben. Und er erinnert sich: Du warst so. Als Freigeist kann er nichts ande­res denken, als daß das ganz krankhafte Erscheinungen seien. Na, und da denkt er sich: Ich bin ja eigentlich vor der Gefahr, verrückt zu werden. Das liegt ja natürlich in der Natur des Freigeistes. Und er schämt sich, da jemand um Rat zu fragen. Deshalb will er seine Stellung dazu benützen, um in der dritten Person zu schreiben und es dann als ein Dokument, bei dem man nicht weiß, wer es ist, ir­gendeinem Irrenarzt vorzulegen, der ihm ein Urteil über diese ge­dachte Person gibt. Auf diese Weise will er herausbekommen, was der Irrenarzt denkt. Und dadurch kommt es heraus; dieses Doku­ment benützt der Novellist, um über das Seelenleben dieses Men­schen etwas mitzuteilen.

Sie sehen, wir haben hier ein sehr schönes künstlerisches Pro­dukt, das im Grunde wirklich auf solche Elemente hinweist, von de­nen man sprechen muß in der Geisteswissenschaft, gerade auf dieje­nigen Elemente, auf die man aus dem Zusammenhang zwischen dem Gedächtnis, zwischen der Erinnerungsfähigkeit und diesem Hineinschauen in die geistigen Welten, zu sprechen kommt. Sehr schön macht das der Novellist, daß er das Gedächtnis herabge­stimmt sein läßt in dem Augenblick, wo dann einige Fetzen, möchte man sagen, über diese geheimnisvollen Zusammenhänge hervor-kommen für den Betreffenden. Und merkwürdig, sehr merkwürdig ist die ganze Erzählung, indem sie Stück für Stück so verfaßt ist, daß man sieht, der Autor sagt sich: Es gibt solche Zusammenhänge hin­ter dem Leben. Aber er kleidet es in novellistische Form. Die No­velle ist sehr feinsinnig geschrieben, wie sie nur ein philosophischer Geist schreiben kann. Sie ist geschrieben von dem langjährigen Di­rektor des Hamburger Schauspielhauses, der dann Direktor des Wiener Burgtheaters wurde, Alfred Freiherr von Berger. Die Novelle gehört tatsächlich nicht nur zu dem weitaus Besten, was Berger ge­schrieben hat, sondern sie gehört wirklich zu den Perlen der deutschen

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novellistischen Literatur. Das sage ich selbstverständlich nicht aus dem Grunde, weil diese Novelle ein Thema enthält, das uns na­heliegt, sondern aus dem Grunde, weil wirklich nur ein feinsinniger Mensch eine so feinsinnige Beobachtung haben kann in einer scheinbar abnormen Sache. Rein vom künstlerischen Gesichts­punkte aus meine ich dasjenige, was ich über den Wert der Novelle sage. Diese Novelle ist wirklich so geschrieben, daß jeder, der sie liest, das Bewußtsein hat: Der Mann schreibt eine Novelle, aber er möchte eigentlich lieber eine Biographie des Hofrates Eysenhardt schreiben, denn er schreibt wirklich so, daß man nie ein anderes Ge­fühl bekommt, wenn man diese wunderbar realistische Schilderung liest, als daß der gute Berger einen Mann kennenlernte, der wirklich einen solchen Verlauf seines Lebens hatte. Nun muß man sagen: Wie nahe liegt einem Menschen, wie diesem Alfred Freiherr von Berger, wie nahe liegt es ihm, an die geistige Welt heranzutreten, durch Geisteswissenschaft wirklich diese Zusammenhänge kennen­zulernen! Wie unendlich bedeutungsvoll müßte es für diesen Berger gewesen sein, die Geisteswissenschaft so kennenzulernen, daß er sich zum Beispiel hätte sagen können: Dieser Hofrat, indem er den Markus Freund wie durchleuchtet und in diesem Falle unschuldig verurteilt hat, wie wird er nun zu leben haben in der Zeit, die un­mittelbar folgt auf das Durchgehen durch die Pforte des Todes, in dem, was wir das Kamaloka immer genannt haben? Ich habe gesagt: Da muß der Mensch leben in der Wirkung seiner Taten, in dem, was die Taten für eine Bedeutung haben in dem anderen, in bezug auf welchen sie ausgeführt werden. Was der Hofrat bei der Gerichts­verhandlung getan hat, daran hat er gewiß seine ungeheure Befriedi­gung gehabt, gerade an seiner großen Dialektik. Er hat seine große Befriedigung gehabt, die sich ja ausdrückte in dem Satze, daß er sagte: Er könne sich zum Verdienst anrechnen, gegen die Sophis­men des Angeklagten aufgekommen zu sein und zugleich eine Sprache gesprochen zu haben, die die Geschworenen zur Verurtei­lung gebracht hat, trotzdem sie gleich hinterher die Gerichtsver­handlung wieder aufgenommen hätten, als sie die Wirkung des Ur­teilsspruches auf den Angeklagten sahen. Das ist das eine, von seiten

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des Hofrates angesehen. Von seiten des Markus Freund angese­hen liegt die Sache so, daß wir sagen müssen: Wir sehen die Wir­kung des Urteilsspruches auf ihn. In dem muß ja - in dem, was Wir­kung auf die Seele des Markus Freund war -, der Hofrat im Kama­loka leben. Und ein Spiegelbild, ein Bild hiervon, eröffnet sich eben in dem Augenblick, wo Markus Freund durch die Pforte des Todes schreitet. So eröffnet sich ihm dieses Bild, daß er jetzt sieht: Er ist identisch, er ist eins mit diesem Markus Freund; er sieht sich in die­sen Markus Freund hinein, er fühlt sich in ihn hinein. Wir sehen: ei­nen Vorgeschmack des Kamaloka hat der Hofrat. Er hat ihn so stark, daß er nicht nur dasjenige, was da vorgegangen ist, jetzt erlebt, sondern daß sich in ihm nun weiter etwas anspinnt, was mit der ganzen Sache zusammenhängt, unter der Schwelle seines Be­wußtseins. Jeder einzelne Zug ist da von Bedeutung. Ich sagte Ih­nen, er hat das Gedächtnis eine Weile verloren gehabt, da hat sich ihm dieser Fetzen der geistigen Welt enthüllt. Aber jetzt kommt eine Zeit, wo er neuerdings mit einer großen natürlichen Gedächt­niskraft ausgestattet ist; das Gedächtnis ist bei ihm wieder herge­stellt, während er diesen Spionageprozeß führt. Aber gerade im Ver­lauf dieses Spionageprozesses wird er zu dem gleichen Verbrechen getrieben, wegen dem er den Markus Freund verurteilte durch seine Dialektik. Die Kraft, die früher aus dem Gedächtnis hervorging, hat sich verwandelt in die Kraft der Instinkte, und er wird jetzt getrie­ben. Er sieht jetzt nicht den Zusammenhang, der sich wiederum un­ter der Schwelle des Bewußtseins abspielt zwischen dem, was er jetzt tut, und demjenigen, was er Markus Freund zugeschrieben hat. Das führt dazu, daß der Hofrat Eysenhardt, als er sieht, was ihm pas­siert ist, dann gerade an dem Abend, der vorangeht der Schlußver­handlung des Prozesses, in dem er seinen höchsten Triumph feiern sollte, in sein Büro geht:

»In seinem Büro angekommen, dessen Schlüssel er bei sich trug, zündete Eysenhardt die zwei Kerzen auf dem Schreibtisch an, wusch sich vorerst Hände, Gesicht und Haar, dann vertauschte er seinen Zivilanzug mit seiner Amtsuniform und ging längere Zeit auf und ab. Hierauf öffnete er die oberste Seitenlade seines Schreibtisches

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und entnahm ihr nebst einem Päckchen Patronen einen neuen Revolver, den er wahrscheinlich in der ärgsten Zeit seiner Nervenzerrüttung gekauft hatte. Er lud sorgfältig alle Kammern, dann holte er aus dem Papierschrank einen Bogen Amtspapier und schrieb:

Im Namen seiner Majestät des Kaisers!

Ich habe ein schweres Verbrechen begangen und fühle mich un­würdig, fürderhin mein Amt auszuüben und überhaupt weiter zu le­ben. Ich habe selbst die härteste Strafe über mich verhängt und werde sie in der nächsten Minute mit eigener Hand an mir vollstrek­ken.

Eysenhardt

Wien, am 10.Juni 1901.

Schrift und Unterschrift verriet keine Spur auch nur leisesten Zitterns.»

Am nächsten Morgen wurde er tot aufgefunden.

Es ist ein ganz merkwürdiger Zusammenhang in der Novelle ge­schildert, und wir müssen sagen, daß der Verfasser ganz geeignet ge­wesen wäre, einzusehen, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem, was sich hier im gewöhnlichen Bewußtsein abspielt, und dem­jenigen, was unter der Schwelle des Bewußtseins vorgeht, das heißt die geistigen Ereignisse zu sehen, in die der Mensch hineinverstrickt ist. Nicht wahr, von außen sieht man eben nur das, was in der physi­schen Welt geschehen ist: daß der Hofrat den Markus Freund verur­teilt hat und so weiter. Wäre das nicht passiert gerade in dem Alter, in dem der Hofrat also brüchig werden konnte und das Gedächtnis verlor, so hätte er nicht diesen Fetzen der geistigen Welt gesehen. Er hätte sich ihm nicht erschlossen. Da wäre alles unterbewußt ge­blieben. Gerade eine solche Novelle wird ja sozusagen von dem Ge­sichtspunkte aus in die Welt geschickt: Ja, es gibt etwas hinter dem Leben, und es drängt sich in besonderen Fällen sehr klar auf. Aber will man den Menschen in konkreter Weise davon sprechen, dann ist ihnen das unangenehm. An solche Realität wirklich heranzutreten,

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ist ihnen unangenehm. Also erzählt man es ihnen als Novelle, da brauchen sie nicht daran zu glauben, da können sie sich dabei amüsieren; dann geht es.

Dasjenige, meine lieben Freunde, was die Menschen abhält von der geistigen Welt, das ist nun auch etwas, was sie nicht kennen. Nach zwei Richtungen hin geht ja sozusagen der Weg in die geistige Welt hinein. Nach der einen Richtung hin, indem wir, ich möchte sagen, den Schleier der Natur durchstoßen und aufsuchen dasjenige, was hinter den Erscheinungen der äußeren Natur liegt. Und nach der anderen Seite, indem wir den Schleier des eigenen Seelenlebens durchstoßen und suchen, was hinter dem eigenen Seelenleben liegt. Die gewöhnlichen Philosophien, die suchen gewiß auch hinter die Gründe des Daseins zu kommen, suchen die Weltenrätsel zu lösen. Aber, wie machen sie das? Nun, sie beobachten die Natur entweder unmittelbar oder durch Experimente, und dann denken sie nach. Aber indem man diese Begriffe, die man sich durch dieses Wissen aus der Natur erworben hat, durcheinanderpuddelt, und immer wie­der und wiederum durcheinanderpuddelt, und bald so, bald so ver­schränkt, kommt man zwar zu einer Philosophie, aber zu nichts, was mit der wahren Wirklichkeit draußen zusammenhängt. Durch Nachdenken desjenigen, was sich einem darbietet, kommt man nie hinter den Schleier des Daseins. Ich habe es im öffentlichen Vortrag dargestellt: Dasjenige, was unsere ewigen Kräfte sind, das ist tätig, indem es uns erst das Werkzeug herstellt, und mit dem Werkzeug kommen wir zu dem, was uns das bloße Bewußtsein gibt. Ja, aber wenn wir uns so das gewöhnliche Bewußtsein bilden, so müssen wir das Werkzeug benützen. Wenn wir dann in die Erfahrung des ge­wöhnlichen Bewußtseins eintreten, da ist alles schon fertig, was die ewigen Kräfte in uns machen. Nicht durch Nachdenken kommen wir hinter die Geheimnisse der Natur, sondern auf eine ganz andere Weise. Wenn wir durch Meditation, wie ich es im öffentlichen Vor­trag beschrieben habe, dahin kommen, daß wir uns im Denken er-starken und daß uns dann wie durch Gnade entgegenkommt die Of­fenbarung der geistigen Welt, dann schauen wir ganz anders die Na­tur an. 0, ganz anders! Und auch das Menschenleben schauen wir

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ganz anders an. Dann treten wir vor diese Natur auch hin, und ir­gendeinen Vorgang oder ein Ding oder ein Ereignis, das uns entge­gentritt, das fassen wir auf. Aber wir haben zugleich das Bewußtsein: Bevor du eigentlich die Rose angeschaut hast, ist schon etwas ge­schehen. Du siehst ja erst die Vorstellung, die Wahrnehmung, aber die Wahrnehmung hat sich erst gebildet. Darin steckt das Geistige, in dem Wahrnehmen; darin steckt die Erinnerung, die Erinnerung an ein Vordenken. Darin liegt das Geheimnis, auf das man kommt durch die Geistesforschung.

Nicht wahr, der Philosoph schaut die Rose an; dann philoso­phiert er durch Nachdenken. Derjenige, der hinter das Geheimnis der Rose kommen will, darf nicht nachdenken; da geschieht doch nichts. Sondern er schaut die Rose an und wird sich bewußt: Bevor sie ihm überhaupt zum sinnlichen Bewußtsein kommt, hat sich schon ein Prozeß abgespielt. Das erscheint ihm wie eine - ja, wie eine Erinnerung, die dem Anschauen vorangegangen ist. Dieses, daß sich uns etwas wie Erinnerung ergibt, wovon wir wissen: Das hast du getan, bevor du die sinnliche Anschauung gehabt hast -, das in bezug auf die äußere Natur Vordenken, das unbewußt bleibt und das dann heraufgeholt wird wie eine Erinnerung: das ist es, worauf es ankommt. Durch kein Nachdenken kommt man hinter die Ge­heimnisse der Natur, sondern durch Vordenken. Ebensowenig kommt man hinter die Geheimnisse desjenigen, was Inhalt der Seele ist, anders, als daß man zu jenem Zuschauer, von dem ich ge­sprochen habe, wirklich hinkommt. Sehen Sie, das sind die Wege, durch die wir heute in die geistige Welt hineindringen können.

Wenn Sie sich erinnern, daß in der Novelle dem Hofrat Eysen­hardt gerade ein Petzen der geistigen Welt zur Anschauung kommt, nachdem er den Abbau an sich wahrgenommen hat, so werden Sie darin eine eigentümliche Illustrierung finden desjenigen, was ich vorgetragen habe: Wenn man durch die Übung des Denkens dahin kommt, daß das Denken so weit erkraftet ist, daß man die geistige Welt sehen kann, dann kommt man zunächst auch in den Abbau hinein, in dasjenige, was mit dem Tode zusammenhängt. Die Mysti­ker aller Zeiten haben es ausgedrückt dadurch, daß sie sagten:

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«An die Pforte des Todes herankommen», das heißt an alles dasjenige, was sich im Menschenleben als Abbauendes darstellt. Und so kommen wir also darauf, wenn wir wirklich die Meditation bis zu dem Punkte getrieben haben, daß wir das Initiations-Ereignis erlangt haben: Du stehst an der Pforte des Todes; du weißt, da ist an dir etwas, was seit deiner Geburt oder Empfängnis an dir waltet, das sich dann zusammensummiert und zur Erscheinung des Todes, zur Wegneh- mung des physischen Leibes wird. Da sagt man sich: Aber das alles, was zum Tode führt, es ist herausgegangen aus der geistigen Welt. Was aus der geistigen Welt herausgegangen ist, es hat sich vereinigt mit dem, was durch die Vererbungssubstanz gekommen ist. Wir sehen den Menschen hier in der physischen Welt stehen und sagen uns: Was uns in seinem Antlitz entgegentritt, was uns durch seine Worte spricht, alles, was er als physischer Mensch tut, es ist der Ausdruck desjenigen, was sich durch seinen letzten Tod und durch seine letzte Geburt vorbereitet hat in der geistigen Welt. Da lebt sein Seelisches drinnen. Aber wir können aus dem ganzen Sinn der Auseinandersetzung entnehmen: Das, was von der Menschenseele lebt zwischen Tod und neuer Geburt, das zieht die Kräfte an aus der geistigen Welt, um in dieser Inkarnation zwischen Geburt und Tod an dem Menschen zu bilden, etwas zu bilden, was eben der Mensch ist. Und dann ist das wirklich so - wenn Sie sich erinnern, wie ich das im öffentlichen Vortrag dargestellt habe -: Indem in der Meditation im Denken der Wille erkraftet wird, kann erlebt werden, wie sich der Keim entwickelt, der nun wiederum durch die Pforte des Todes geht und sich vorbereitet in der geistigen Welt zu einer weiteren Inkarnation, so daß im Menschen dieser ewige Bildungsprozeß ist: Aus der geistigen Welt kommt heraus das Seelisch-Geistige, bildet sich diesen Menschen hier. In diesem Menschen entsteht, anfangs wie ein Punkt, dasjenige, was nun hier im Leben als der Keim entsteht, der wiederum durch die Pforte des Todes geht, um gleichsam die Entwickelung fortzusetzen. So daß, wenn wir den Menschen hier haben, das sich wirklich so zeigt: Wie er vor uns steht, so ist er aus der geistigen Welt heraus als Mensch geschaffen. Mit dem, was die Eltern geben können, vereinigte sich das, was aus der geistigen

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Welt heraus kam. Solange er in der geistigen Welt war, war er inmitten der geistigen Mächte, so wie er hier inmitten der Naturkräfte ist im physischen Leibe. Er war inmitten der geistigen Mächte, mit denen zusammen er sich vorbereitete auf diese Inkarnation. Es ist wirklich so, wenn wir den Menschen vor uns sehen in einer Inkarnation, wie ich es im zweiten Mysteriendrama, in «Die Prüfung der Seele» dargestellt habe: Ganze Götterwelten wirken, um den Menschen darzustellen; zwischen dem Tod und einer neuen Geburt wirken geistige Kräfte, um den Menschen in das Dasein hineinzustellen. Dieser Mensch hier ist das Ziel gewisser geistiger Kräfte, die zwischen Tod und neuer Geburt wirken.

Sehen Sie, das hat eine gewisse wissenschaftliche Richtung, aber eine geisteswissenschaftliche Richtung, immer gewußt und zum Ausdruck gebracht. Immer wieder und wiederum hat zum Beispiel ein bedeutender Mensch dies, was ich eben jetzt dargestellt habe, zum Ausdruck gebracht, indem er sagte: «Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes.» Er wollte sagen: Während wir in der geistigen Welt drinnen sind, mit der göttlichen Welt verwoben sind zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, bereiten wir uns zu unserer Leiblichkeit vor. Die ist das Ende der Wege Gottes. Er hat nur nicht dazufügen können den andern Satz: In der Leiblichkeit bereitet sich ein neuer Anfang vor, der dann wiederum durch den Tod hindurchgeht und zu einer neuen Inkarnation führt. Dieser Ausspruch: «Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes», bildet gewissermaßen sogar das Leitmotiv aller Werke, die ein sehr bedeutender Mensch vor jetzt fast hundert Jahren geschrieben hat, der immer wiederum darauf aufmerksam gemacht hat, daß das menschliche Wissen, die menschliche Erkenntnis Wege nehmen muß, um diese geistigen Zusammenhänge zu erkennen : Christoph Oetinger. Auch Oetinger wollte in seiner Art die Theosophie darstellen. Richard Rothe hat schöne Worte am Schluß der Vorrede zu einem Buche über Oetinger geschrieben. Er wollte zum Ausdruck bringen, daß in älteren Zeiten die Menschen spirituelle Wege gesucht haben, aber in ihrer Art, und daß die Zeit kommen werde und nicht mehr ferne liege, in welcher mit vollem wissenschaftlichem Bewußtsein ergriffen wird dasjenige,

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was man eigentlich immer gesucht hat. Rothe sagt: «Was die Theosophie eigentlich will, das ist bei den älteren Theosophen oft schwer zu erkennen. Und was die Hauptsache ist, wenn sie nur erst einmal eigentliche Wissenschaft geworden ist und also auch deutlich bestimmte Resultate abgesetzt hat, so werden diese schon nach und nach in die allgemeine Überzeugung übergehen... Doch dies ruht im Schoße der Zukunft, der wir nicht vorgreifen wollen.» So Richard Rothe, der Heidelberger Professor, über den Theosophen Christoph Oetinger, im November 1847.

Dasjenige, was gesucht wird durch die Geisteswissenschaft, hat es immer gegeben, nur in anderer Weise. Heute obliegt es dem Menschen, auf die Art es zu suchen, wie es eben in unserer Zeit gesucht werden muß. Und oft habe ich es ausgeführt: Das naturwissenschaftliche Denken ist heute an einen Punkt gekommen, wo aus der naturwissenschaftlichen Gesinnung gerade eine wissenschaftliche Form gesucht werden muß für dasjenige, was als Wissenschaft in der Theosophie aller Zeiten lebte. Und wenn nun Rothe als Herausgeber Oetingers sagt, daß dasjenige, was er meint, so anzusprechen ist: «Doch dies ruht im Schoße der Zukunft» - dasjenige, was im Jahre 1847 Zukunft war, es ist heute unbedingt zur Gegenwart er- reift. Wir stehen heute vor einer Zeit, wo wir nachweisen können - denn es war nur ein Beispiel, das ich heute vorgebracht habe mit der Novelle «Hofrat Eysenhardt» von Alfred von Berger -, daß die Menschenseelen wirklich reif sind, heranzukommen an die geistigen Wahrheiten, und daß sie nur nicht den Mut haben, wirklich diese geistigen Wahrheiten zu ergreifen.

Nach zwei Seiten hin, sagte ich, führt der Weg in die geistigen Welten hinein, indem hinter den Schleier der Natur geschaut wird. Warum schreiten die Menschen so schwer hinein, auch diejenigen, die sich angewöhnt haben, wissenschaftlich zu denken, und nur das wissenschaftliche Denken zu einer innerlichen Handhabe erheben müßten in der geschilderten Weise? Warum? Sie sagen, daß der Mensch Erkenntnisgrenzen hat: Ignorabimus! Und warum wollen sie nicht in die geistige Welt? Ja, das liegt eben schon hinter der Schwelle des Bewußtseins.

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Innerhalb des Bewußtseins führt man sogenannte logische Gründe dafür an, daß man nicht in die geistige Welt hineinkönne, logische Gründe, wie sie hinlänglich bekannt sind. Unter diesen lo­gischen Gründen liegt erst der wahre innere Grund: die Furcht vor der geistigen Welt. Die kommt nicht in das Bewußtsein herauf, aber die Furcht vor der geistigen Welt hält die Menschen ab, die unbe­wußte, unterbewußte Furcht. Würde man sich nur mit dem Dasein der unbewußten Furcht bekannt machen, und wie das alles, was man sich einredet, nur eine Maske ist für dasjenige, was in Wahrheit Furcht ist, man würde sehr vieles erkennen. Das ist das eine. Das an­dere ist: Sobald man in die geistige Welt hineinkommt, wird man erfaßt, so wie man selber die Gedanken erfaßt, von den Wesenheiten der höheren Hierarchien. Man wird gleichsam ein Gedanke in der geistigen Welt. Dagegen sträubt sich innerlich das Seelische. Es fürchtet sich davor, hingenommen zu werden von der geistigen Welt. Wiederum eine Art Furcht, eine Art ohnmächtiger Furcht da­vor, sich ergreifen zu lassen von der geistigen Welt, so wie man, wenn man durch die Geburt hineinkommt in die physische Welt, ergriffen wird von den physischen Kräften. Furcht nach außen und Scheu vor einer gewissen Ohnmacht im Ergriffenwerden von der gei­stigen Welt - das ist es, was die Menschen zurückhält von der gei­stigen Welt. Das ist es, warum sie, wie dieser Berger in seiner Novelle, manchmal so plätschern wollen in den Wellen der geistigen Welt, aber wollen, daß das, ich möchte sagen, unverbindlich sei, und nicht den Mut haben, wirklich heranzukommen an das Ergreifen der gei­stigen Welten, was wahrhaftig durch die Ihnen oftmals geschilder­ten inneren Experimente geschehen kann, wie das Ergreifen der Naturgeheimnisse durch die äußeren Experimente geschehen kann.

Wenn Sie zu dem, was ich gesagt habe, hinzunehmen dasjenige, was ich ausgeführt habe in einem der öffentlichen Vorträge über den Zusammenhang zwischen den genialischen Kräften, die auftre­ten im Leben, und zwischen den frühen Toden, die dadurch herbei­geführt werden, daß dem Menschen sein Leib genommen wird - ich sagte, durch eine Kugel oder auf andere Weise, zum Beispiel auf dem Schlachtfelde -, wenn Sie sich erinnern an dasjenige, was ich

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ausgeführt habe, daß, wenn Erfindungskräfte, geniale Kräfte im Menschen auftreten, diese die Wirkung sind jener Vorgänge, die ge­schehen, wenn dem Menschen sein physischer Leib abgenommen wird, dann haben Sie da auch etwas, was unter der Schwelle des Be­wußtseins bleibt. Aber es liegt in dem Mut, in der ganzen Art und Weise, wie der Mensch sich für eine große Zeiterscheinung aufop­fert, ein instinktiver Ausdruck für etwas, was unter der Schwelle des Bewußtseins liegt und so den Menschen nicht in seiner vollen Art zum Bewußtsein kommen kann. In unserer Zeit jedoch besteht der Impuls in der Menschheitsentwickelung, daß dasjenige, was unter der Schwelle des Bewußtseins liegt, bis zu einem gewissen Grade hinaufgetragen wird in dieses Bewußtsein, so daß der Mensch davon wissen könne. Und in diesem Sinne meine ich es immer, wenn ich darauf hinweise, daß gerade auch in den großen Ereignissen unserer Zeit, in all dem, was sich oberhalb [der Schwelle] des Bewußtseins abspielt, bedeutsame unterbewußte Vorgänge liegen und daß nie­mals erschöpft sein wird durch dasjenige, was der äußere Ge­schichtsforscher von diesen gegenwärtigen Ereignissen erfassen kann, was diese Ereignisse in den großen Zusammenhang der Menschheitsentwickelung hineinstellt. Mehr als jemals ist das Un­terbewußte beteiligt an demjenigen, was in unserer Gegenwart ge­schieht. Und deshalb darf gerade der Geistesforscher darauf hinwei­sen, wie eine künftige Zeit, um im richtigen Lichte des Weltzusam­menhanges unsere bedeutsamen geschichtlichen gegenwärtigen Er­eignisse zu schauen, auf den geistigen Untergrund hinweisen wird. Auch von diesem Gesichtspunkte aus stellt sich uns immer wieder und wiederum vor die Seele, was wir zum Schlusse der Betrachtung immer wieder gesagt haben:

Aus dem Mut der Kämpfer,
Aus dem Blut der Schlachten,
Aus dem Leid Verlassener,
Aus des Volkes Opfertaten
Wird erwachsen Geistesfrucht -
Lenken Seelen geistbewußt
Ihren Sinn ins Geisterreich.

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SECHSTER VORTRAG Berlin, 19. Dezember 1915

Wir gedenken des aus den Tiefen der Geheimnisse der Erdenent­wickelung heraus tönenden Spruches:

Offenbarung des Göttlichen in den Höhen des Seins,
und Friede den Menschen auf Erden,
die von einem guten Willen durchdrungen sind.

Und wir müssen insbesondere beim Herannahen der Weihenacht in diesem Jahr gedenken: Welche Empfindungen verbinden uns mit diesem Spruch und seinem tiefen Weltensinn? Jenem tiefen Wel­tensinn, den unzählige Menschen so empfinden, daß das Wort Friede durch ihn erklingt und tönt, das Wort Friede in einer Zeit, in welcher dieser Friede im weitesten Umkreis unser Erdensein mei­det. Wie gedenken wir in dieser Zeit der Weihnachtsworte?

Doch ein Gedanke ist es, der uns vielleicht im Zusammenhang mit diesem durch die Welt tönenden Wahrspruche in dieser Gegenwart noch tiefer berühren muß sogar als in andern Zeiten. Ein Ge­danke! Feindlich stehen sich die Völker gegenüber. Blut, viel Blut tränkt unsere Erde. Unzählige Tode haben wir um uns herum sehen müssen, fühlen müssen in dieser Zeit. Unendliches Leid webt um uns herum die Empfindungs- und Gefühlsatmosphäre. Haß und Abneigung durchschwirren den geistigen Raum und könnten leicht zeigen, wie ferne, ferne die Menschen in unserer Zeit noch sind von jener Liebe, von welcher verkünden wollte derjenige, dessen Geburt die Weihenacht feiert. Ein Gedanke aber tritt besonders hervor: Wir denken uns, wie Feind gegen Feind, Gegner gegen Gegner stehen kann, wie Menschen sich gegenseitig den Tod bringen können, und wie sie durch dieselbe Pforte des Todes gehen können mit dem Ge­danken an den göttlichen Lichtführer, den Christus Jesus. Wir ge­denken, wie über die Erde hin, über welche sich ausbreiten Krieg und Schmerzen und Uneinigkeit, einig sein können diejenigen, die

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sonst so uneinig sind, indem sie in ihrem tiefsten Herzen ihren Zu­sammenhang tragen mit dem, der in die Welt gegangen ist an jenem Tage, den wir in der Weihenacht festlich begehen. Wir denken, wie sich durch alle Feindschaft, durch alle Abneigung, durch allen Haß hindurch in die menschlichen Seelen allüberall eine Empfindung in diesen Zeiten drängen kann, drängen kann mitten aus Blut und Haß heraus: der Gedanke des innigen Verbundenseins mit dem einen, mit dem, der damit die Herzen geeint hat durch etwas, das höher ist als alles das, was die Menschen jemals auf der Erde wird trennen können. Und so ist dies doch ein Gedanke von unendlicher Größe, ein Gedanke von unendlicher Tiefe der Empfindung, der Gedanke an den Christus Jesus, der die Menschen eint, wie uneinig sie auch sein mögen in allem, was die Welt angeht.

Wenn wir den Gedanken in dieser Art fassen, dann werden wir ihn um so tiefer fassen wollen gerade in unserer Gegenwart. Denn dann werden wir ahnen, wieviel mit diesem Gedanken zusammen-hängt von dem, was groß und stark und gewaltig werden muß inner­halb der menschlichen Entwickelung, damit vieles in anderer Weise errungen werden kann von menschlichen Herzen, von menschli­chen Seelen, was jetzt noch auf so blutige Weise errungen werden muß.

Daß Er uns stark mache, daß Er uns kräftige, daß Er uns lehre, über die Erde hin, wirklich zu empfinden im wahrsten Sinne des Wortes über alles Trennende hin den Weihenachts-Weihespruch:

das ist das, was sich derjenige, der sich wirklich mit dem Christus Jesus verbunden fühlt, in der Weihenacht immer aufs neue geloben muß.

Es gibt innerhalb der Geschichte des Christentums eine Überlie­ferung, die wiederholt auftritt in den späteren Zeiten und in Ge­brauch war in gewissen christlichen Gegenden durch Jahrhunderte hindurch. In alten Zeiten schon wurden in verschiedensten Gegen­den, zumeist von den christlichen Kirchen aus, Darstellungen des Weihenachtsgeheimnisses den Gläubigen geboten. Gerade in diesen ältesten Zeiten wurde die Darstellung des Weihenachtsgeheimnis­ses begonnen mit einem Vorlesen, ja zuzeiten sogar mit einem Darstellen

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der Schöpfungsgeschichte, der Geschichte der Schöpfung, wie sie im Beginn der Bibel dargestellt wird. Es wurde zuerst darge­stellt, gerade um die Weihnachtszeit, wie aus den Tiefen des Welten­alls heraus das Weltenwort ertönt ist, wie aus dem Weltenwort her­aus nach und nach die Schöpfung entstand, wie Luzifer an den Menschen herangetreten ist, wie die Menschen dadurch auf eine an­dere Weise das Erdendasein begonnen haben, als das Dasein gewe­sen wäre, das ihnen ursprünglich vor dem Herantreten Luzifers be­stimmt war. Es wurde die ganze Versuchungsgeschichte von Adam und Eva vorgeführt und dann gezeigt, wie gleichsam der alten vor­testamentlichen Geschichte der Mensch einverleibt worden ist. Dann wurde erst im weiteren Verlauf hinzugesetzt, was mehr oder weniger ausführlich in Spielen dargestellt worden ist, die sich dann im 15., 16., 17., 18.Jahrhundert in mitteleuropäischen Gegenden zu solchen Spielen entwickelt haben, wie wir ein kleines davon jetzt eben gesehen haben.

Von dem, was aus einem unendlich großen Gedanken heraus am Weihnachts-Weihefest den Anfang des Alten Testamentes zusam­mengeschlossen hat mit der geheimnisvollen Geschichte des Myste­riums von Golgatha, was aus diesem Gedanken heraus die beiden heiligen Geschichten zusammengeschlossen hat, von dem ist nur wenig noch geblieben, nur sozusagen das eine in der Gegenwart, daß in unserem Kalender vor dem Eintritt des Weihnachtstages der Tag von Adam und Eva steht. Das hat in demselben Gedanken sei­nen Ursprung. Aber in älteren Zeiten wurde auch für die, welche aus tieferen Gedanken, aus tieferen Empfindungen oder einer tiefe­ren Erkenntnis heraus durch diejenigen, die ihre Lehrer waren, das Weihnachtsgeheimnis und das Geheimnis von Golgatha erfassen sollten, es wurde für die immer wiederum dargesteHt ein großer, ein umfassender symbolischer Gedanke: der Gedanke von dem Ur­sprung des Kreuzes. Der Gott, der den Menschen im Alten Testa­ment vorgeführt wird, gibt den Menschen, die durch Adam und Eva repräsentiert sind, das Gebot: Essen dürfen sie von allen Früchten des Gartens, nur nicht von den Früchten, die am Baume der Er­kenntnis des Guten und Bösen wachsen. Weil sie davon gegessen

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haben, wurden sie aus dem ursprünglichen Schauplatz ihres Seins vertrieben.

Der Baum aber - das wurde nun in der verschiedensten Weise dargestellt - kam auf irgendeine Art in die Geschlechterreihe, wel­che dann die ursprünglichen Geschlechter waren, aus denen auch die körperliche Hülle des Christus Jesus hervorgegangen ist. Und er kam so hin, daß - so wurde es in gewissen Zeiten dargestellt -, als Adam, der sündige Mensch, begraben worden ist, dieser Baum wie­derum aus seinem Grabe herauswuchs, der aus dem Paradiese ent­fernt worden war. So sehen wir den Gedanken angeregt: Adam ruht im Grabe, er, der Mensch, der durch die Sünde gegangen ist, er, der Mensch, der durch Luzifer verführt worden ist, ruht im Grabe, er hat sich mit dem Erdenleibe vereinigt. Aber aus seinem Grabe er-sprießt der Baum - der Baum, der jetzt herauswachsen kann aus der Erde, mit der Adams Leib vereinigt worden ist. Das Holz dieses Baumes geht weiter über auf die Geschlechter, zu denen auch Abra­ham gehört, zu denen David gehört. Und aus dem Holz dieses Bau­mes, der also im Paradiese gestanden hat, der wieder herausgewach-sen ist aus Adams Grab, aus dem Holze dieses Baumes wurde das Kreuz gemacht, an dem der Christus Jesus gehangen hat.

Das ist der Gedanke, der immer wieder denen, die aus tieferen Grundlagen heraus die Geheimnisse des Mysteriums von Golgatha verstehen sollten, von ihren Lehrern klargemacht wurde. Es hat ei­nen tiefen Sinn, daß in älteren Zeiten - und der Sinn wird es uns gleich zeigen, daß es auch für die Gegenwart noch gut ist - in sol­chen Bildern tiefe Gedanken zum Ausdruck kamen.

Wir haben uns bekanntgemacht mit jenem Gedanken des Myste­riums von Golgatha, der uns sagt: Das Wesen, das durch den Leib des Jesus gegangen ist, das hat, was es der Erde bringen kann, über die Erde ausgegossen, in die Erdenaura ergossen. Was der Christus in die Erde gebracht hat, ist seither mit der ganzen Leiblichkeit der Erde verbunden. Die Erde ist etwas anderes geworden seit dem My­sterium von Golgatha. In der Erdenaura lebt das, was der Christus aus himmlischen Höhen auf die Erde heruntergebracht hat. Wenn wir im Zusammenhang damit jenes alte Bild von dem Baume ins

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geistige Auge fassen, so zeigt uns dieses Bild den ganzen Zusam­menhang von einem höheren Gesichtspunkt aus: In den Menschen ist das luziferische Prinzip eingezogen, als der Mensch seinen Er­denanfang genommen hat. Der Mensch, so wie er nun ist, in seiner Vereinigung mit dem luziferischen Prinzip, gehört zu der Erde hinzu, er bildet einen Teil der Erde. Und wenn wir seinen Leib in die Erde hineinlegen, so ist dieser Leib nicht bloß das, als was ihn die Anatomie sieht, sondern dieser Leib ist zu gleicher Zeit die äu­ßere Abformung dessen, was innerhalb des Irdischen der Mensch auch in seiner Innenheit ist. Uns kann es aus der geistigen Wissen­schaft heraus klar sein, daß nicht nur das zu des Menschen Wesen­heit gehört, was durch die Pforte des Todes in die geistigen Welten eingeht, sondern daß der Mensch durch sein ganzes Wirken, durch seine ganzen Taten mit der Erde verbunden ist; wirklich gerade so verbunden ist, wie jene Geschehnisse mit der Erde verbunden sind, die der Geologe, der Mineraloge, der Zoologe und so weiter als zu­sammenhängend mit der Erde findet. Wenn der Mensch durch die Pforte des Todes geht, so ist ja nur für die menschliche Individuali­tät zunächst abgeschlossen, was ihn an die Erde bindet. Aber unsere äußere Form, wir übergeben sie in irgendeiner Art der Erde, sie geht in den Erdenleib ein. Sie trägt in sich die Ausprägung dessen, was die Erde dadurch geworden ist, daß Luzifer in die Erdenentwicke­lung eingetreten ist. Was der Mensch auf der Erde leistet, trägt das luziferische Prinzip in sich, der Mensch bringt dieses luziferische Prinzip in die Erdenaura hinein. Aus des Menschen Taten, aus des Menschen Wirksamkeiten entspringt, erblüht nicht nur das, was ursprünglich mit dem Menschen beabsichtigt war, aus des Men­schen Taten entspringt das, dem Luziferisches beigemischt ist. Das ist in der Erdenaura. Und wenn wir nun auf dem Grabe des von Luzifer verführten Menschen Adam den Baum sehen, der durch die luziferische Verführung etwas anderes geworden ist, als er ur­sprünglich war, den Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen, so sehen wir alles das, was der Mensch dadurch bewirkt hat, daß er den ursprünglichen Stand verlassen hat, daß er durch die luzi­ferische Verführung ein anderer geworden ist und dadurch etwas

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ihm vorher Nichtbestimmtes in die Erdenevolution hereingebracht hat.

Wir sehen den Baum herauswachsen aus dem, was der physische Leib für die Erde ist, was in seiner Erdenform abgeprägt worden ist, was den Menschen auf der Erde in einer niedrigeren Sphäre erschei­nen läßt, als er geworden wäre, wenn er nicht durch die luziferische Verführung hindurchgegangen wäre. Es wächst aus des Menschen ganzem Erdendasein etwas heraus, was durch die luziferische Ver­führung, Versuchung in die Menschheitsentwickelung hineinge-kommen ist. Indem wir die Erkenntnis suchen, suchen wir sie auf eine andere Art, als es uns ursprünglich vorbestimmt war. Das aber läßt erscheinen, daß das, was aus unseren Erdentaten herauswächst, anders ist, als es nach der Götter ursprünglichem Ratschluß sein könnte. Wir formen ein Erdendasein, das nicht so ist, wie es nach der Götter ursprünglichem Ratschluß für uns bestimmt war. Wir mischen dem ein anderes bei, von dem wir uns ganz bestimmte Vorstellungen machen müssen, wenn wir es richtig verstehen wol­len. Wir müssen uns sagen: Ich bin hereingesetzt in die Erdenent­wickelung. Was ich der Erdenentwickelung durch meine Taten gebe, das trägt Früchte. Das trägt Früchte der Erkenntnis, die mir dadurch geworden ist, daß mir die Erkenntnis des Guten und des Bösen auf der Erde zuteil geworden ist. Diese Erkenntnis lebt in der Entwickelung der Erde, diese Erkenntnis ist da. Aber indem ich diese Erkenntnis anschaue, wird sie mir zu etwas, was anders ist, als es hätte ursprünglich sein sollen. Sie wird mir zu etwas, was ich an­ders machen muß, wenn der Erde Ziel und der Erde Aufgabe er­reicht werden soll. Ich sehe aus meinen Erdentaten etwas hervorwachsen, was anders werden muß. Es wächst der Baum hervor, der das Kreuz des Erdendaseins wird, der Baum, der da dasjenige wird, zu dem der Mensch ein neues Verhältnis gewinnen muß - denn das alte Verhältnis läßt eben diesen Baum erwachsen. Der Baum des Kreuzes, jenes Kreuzes, das erwächst aus der luziferisch tingierten Erdenentwickelung, er wächst heraus aus Adams Grab, aus derjeni­gen Menschlichkeit, die Adam nach der Versuchung geworden ist. Der Baum der Erkenntnis muß zum Kreuzesstamm werden, weil

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mit dem richtig erkannten Baum der Erkenntnis, so wie er jetzt ist, der Mensch sich aufs neue verbinden muß, um der Erde Ziel und der Erde Aufgabe zu erreichen.

Fragen wir uns - und hier berühren wir ein bedeutsames Ge­heimnis der geistigen Wissenschaft -: Wie steht es denn eigentlich mit diesen Gliedern, die wir als die Glieder der menschlichen Natur kennengelernt haben? Nun, wir kennen als das zunächst höchste Glied der menschlichen Natur unser Ich. Wir lernen unser Ich aus­sprechen zu einer gewissen Zeit unseres Kindesalters. Wir gewin­nen ein Verhältnis zu diesem Ich von der Zeit an bis zu der wir uns in späteren Jahren zurückerinnern. Wir wissen es aus den verschie­densten geisteswissenschaftlichen Betrachtungen: bis zu dem Zeit­punkt hat das Ich selber formend und gestaltend an uns gewirkt, bis zu dem Moment, da wir ein bewußtes Verhältnis zu unserem Ich ha­ben. Beim Kind ist dieses Ich auch da, aber es wirkt in uns, es bildet in uns erst den Leib aus. Zunächst schafft es mit den übersinnlichen Kräften der geistigen Welt. Wenn wir durch die Empfängnis und die Geburt gegangen sind, schafft es sogar noch einige Zeit, die Jahre dauert, an unserem Leibe, bis wir unseren Leib als Werkzeug so haben, daß wir uns bewußt als ein Ich erfassen können. Es ist ein tiefes Geheimnis mit diesem Hineintreten des Ich in die menschli­che Leibesnatur verbunden. Wir fragen den Menschen, wenn er uns entgegentritt: Wie alt bist du? - Er gibt uns als sein Alter an die Jahre, die verflossen sind seit seiner Geburt. Wie gesagt, wir berüh­ren hier ein gewisses Geheimnis der Geisteswissenschaft, das uns im Laufe der nächsten Zeit immer klarer werden wird, das ich aber heute nur erwähnen will, gleichsam mitteilen will. Was uns der Mensch also als sein Alter angibt zu einer bestimmten Zeit seines Lebens, das bezieht sich auf seinen physischen Leib. Er sagt uns nichts anderes als: sein physischer Leib ist so und so lange in der Entwickelung gewesen seit seiner Geburt. Das Ich macht diese Ent­wickelung dieses physischen Leibes nicht mit. Das Ich bleibt stehen.

Und das ist das schwer zu fassende Geheimnis, daß das Ich ei­gentlich in dem Zeitpunkte. bis zu dem wir uns zurückerinnern, stehenbleibt.

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Es wird nicht mit dem Leibe geändert, es bleibt stehen. Gerade dadurch haben wir es immer vor uns, daß es uns, indem wir hinschauen, unsere Erlebnisse entgegenspiegelt. Das Ich macht un­sere Erdenwanderung nicht mit. Erst wenn wir durch die Pforte des Todes gegangen sind, müssen wir den Weg, den wir Kamaloka nen­nen, wiederum zurück machen bis zu unserer Geburt, um unser Ich wieder anzutreffen, und es dann auf unserer weiteren Wanderung mitzunehmen. Der Körper schiebt sich in den Jahren vor - das Ich bleibt zurück, das Ich bleibt stehen. Schwierig zu begreifen ist es aus dem Grunde, weil man sich nicht vorstellen kann, daß in der Zeit etwas stehenbleibt, während die Zeit weiterrückt. Aber es ist doch so. Das Ich bleibt stehen, und zwar bleibt es aus dem Grunde ste­hen, weil dieses Ich eigentlich sich nicht verbindet mit dem, was vom Erdendasein an den Menschen herankommt, sondern weil es verbunden bleibt mit denjenigen Kräften, die wir in der geistigen Welt die unsrigen nennen. Das Ich bleibt da, das Ich bleibt im Grunde in der Form, wie es uns verliehen ist, wie wir wissen, von den Geistern der Form. Dieses Ich wird in der geistigen Welt gehal­ten. Es muß in der geistigen Welt gehalten werden, sonst könnten wir niemals als Menschen während unserer Erdenentwickelung der Erde ursprüngliche Aufgabe und ursprüngliches Ziel wieder errei­chen. Was der Mensch hier auf der Erde durch seine Adamsnatur durchgemacht hat, wovon er eine Abprägung in das Grab trägt, wenn er als Adam stirbt, das ist haftend am physischen Leibe, Ätherleib und Astralleib, kommt von diesen. Das Ich wartet, wartet mit alledem, was in ihm ist, die ganze Zeit, die der Mensch auf der Erde durchmacht, sieht nur hin auf die weitere Entwickelung des Menschen - wie der Mensch es sich wieder holt, wenn er durch die Pforte des Todes gegangen ist, indem er den Weg zurück macht. Das heißt, wir bleiben - in einem gewissen Sinne ist das gemeint -mit unserem Ich gewissermaßen in der geistigen Welt zurück. Des­sen soll sich die Menschheit bewußt werden. Und sie konnte sich dessen nur dadurch bewußt werden, daß in einer gewissen Zeit aus jenen Welten, denen der Mensch angehört, aus den geistigen Wel­ten, der Christus herunterkam und sich in dem Leibe des Jesus vorbereitete,

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in der Weise, wie wir es wissen - doppelt -, das, was als Leib ihm auf der Erde dienen sollte.

Wenn wir uns recht verstehen, so schauen wir durch unser gan­zes Erdenleben hindurch immer auf unsere Kindheit hin. Da, in un­serer Kindheit, ist zurückgeblieben das, was gerade unser Geistiges ist. Wir schauen immer darauf hin, wenn wir die Sache richtig ver­stehen. Und dazu sollte die Menschheit erzogen werden, hinzuse­hen auf das, zu dem der Geist aus den Höhen sagen kann: «Lasset die Kindlein zu mir kommen!>, nicht den Menschen, der mit der Erde verbunden ist, sondern die Kindlein. Dazu sollte die Mensch­heit erzogen werden, indem ihr das Fest der Weihenacht gegeben worden ist, indem es hinzugefügt worden ist zu dem Mysterium von Golgatha, das sonst nur der Menschheit verliehen zu werden brauchte in bezug auf die drei letzten Jahre des Christus-Lebens, da der Christus in dem Leibe des Jesus von Nazareth war. Dieses Fest zeigt, wie der Christus sich den menschlichen Leib in der Kindheit vorbereitet hat. Das ist das, was der Weihnachtsempfindung zu­grunde liegen soll: zu wissen, wie der Mensch eigentlich immer ver­bunden geblieben ist durch das, was in seinem Wachstum zurück­bleibt, was in himmlischen Höhen bleibt, mit dem, was nun herein­kommt. In der Kindesgestalt soll der Mensch an das Menschlich-Göttliche, von dem er sich entfernt hat, indem er auf die Erde hin-abstieg, das aber wiederum zu ihm gekommen ist, an dieses Kindhafte in ihm sollte der Mensch erinnert werden. An denjenigen sollte er erinnert werden, der ihm das Kindhafte wiedergebracht hat. Es war nicht gerade leicht, aber gerade an der Art und Weise, wie sich dieses Weltenkindesfest, das Weihnachtsfest, in die mitteleuro­päischen Gegenden hereinentwickelt hat, gerade daran sieht man die wunderbar wirkende, tragende Kraft.

Was wir heute gesehen haben, war nur ein kleines der vielen Weihnachtspiele. Es ist aus den alten Zeiten, von der Art des Weih­nachtspieles, die ich ein wenig angedeutet habe, noch zurückgeblie­ben eine Anzahl der sogenannten Paradeisspiele, die man auch zu Weihnachten aufführte, wo wirklich die Schöpfungsgeschichte auf­geführt worden ist. Es ist zurückgeblieben dann die Verbindung mit

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dem Hirtenspiel, mit dem Spiel der drei Könige, die ihre Ge­schenke darbringen. Vieles, vieles von dem lebte in zahlreichen Spielen. Sie sind jetzt zum größten Teil verschwunden.

In der Mitte des 18.Jahrhunderts etwa beginnt die Zeit, wo sie in Bauerngegenden verschwinden. Aber wunderbar ist es zu sehen, wie sie gelebt haben. Jener Karl fuijus Schröer, von dem ich Ihnen schon öfters erzählt habe, hatte in westungarischen Gegenden in den fünf­ziger Jahren des vorigen Jahrhunderts solche Weihnachtspieie ge­sammelt, in der Preßburger Gegend herum, und weiter von Preß­burg nach Ungarn herunter. Andere haben in andern Gegenden sol­che Weihnachtspiele gesammelt, aber das, was dazumal Karl Julius Schröer auffinden konnte von den mit der Aufführung dieser Weih­nachtspiele verbundenen Gebräuchen, kann uns ganz besonders tief zu Herzen gehen. Diese Weihnachtspiele, sie waren da, handschrift­lich, in gewissen Familien des Dorfes und wurden als etwas ganz be­sonders Heiliges gehalten. Aufgeführt wurden sie in der Weise, daß man so eigentlich, wenn der Oktober herankam, schon daran dachte, man müsse diese Spiele zur Weihnachtszeit vor den Bauern des Ortes aufführen. Dann wurden die bravsten Burschen und Mäd­chen ausgesucht, und die hörten auf in dieser Zeit, in der sie began­nen sich vorzubereiten, Wein zu trinken, Alkoholisches zu trinken. Sie durften, was ja sonst in solchen Orten getan werden darf, nicht mehr raufen am Sonntag, sie durften nicht mehr andere Ausschrei­tungen begehen. Sie mußten wirklich, wie man sagte, «ein heiliges Leben führen>. Und so hatte man das Bewußtsein, daß eine gewisse moralische Stimmung der Seele dazugehörte bei denen, die sich in der Weihnachtszeit der Aufführung solcher Spiele widmen sollten. Nicht aus dem ganz gewöhnlichen Weltlichen heraus sollten solche Spiele aufgeführt werden.

Dann wurden sie aufgeführt mit aller Naivität, mit der Bauern so etwas aufführen können, aber es herrschte in der ganzen Auffüh­rung tiefster Ernst, unendlicher Ernst. Den Spielen, die dazumal Karl Julius Schröer, früher Weinhold und andere dann in den ver­schiedensten Gegenden gesammelt haben, ist überall dieser tiefe Ernst eigen, mit dem man sich dem Weihnachtsgeheimnis nahte.

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Aber das war nicht immer so. Und wir brauchen gar nicht weiter zu­rückzugehen als ein paar Jahrhunderte, da finden wir das anders, und da tritt uns etwas höchst Eigentümliches entgegen. Gerade die Art und Weise, wie sich diese Weihnachtspiele namentlich in mittel­europäischen Gegenden eingebürgert haben, wie sie entstanden und allmählich geworden sind, das zeigt uns, wie überwältigend gewirkt hat der Weihnachtsgedanke. Er wurde nicht etwa gleich so aufge­nommen, wie ich es jetzt geschildert habe: daß man mit heiliger Scheu, mit großem Ernst, mit einem Bewußtsein von der Bedeutung des Ereignisses, das in der Empfindung lebte, sich dem genaht hätte. O nein! In vielen Gegenden hat das zum Beispiel so begonnen, daß man eine Krippe aufgestellt hat vor irgendeinem Seitenaltar dieser oder jener Kirche - das war noch im 14., 15.Jahrhundert, aber es geht auch schon in frühere Zeiten zurück; man stellte eine Krippe auf, das heißt also einen Stall, darin Ochs und Eselein und das Kind­lein und zwei Puppen, die Joseph und Maria darstellten. So wurde zuerst mit naiver Plastik das getrieben. Dann wollte man mehr Le­ben hineinbringen, aber zunächst von der Geistlichkeit aus. Es zo­gen sich Priester an, der eine als Joseph, der andere als Maria, und die stellten das dar - statt der Puppen spielten sie das. In der ersten Zeit stellten sie die Sache sogar in der lateinischen Sprache dar, denn man hielt in der alten Kirche sehr viel darauf, da man, wie es scheint, einen sehr tiefen Sinn darin sah, daß diejenigen, die zu-schauten oder zuhörten, möglichst gar nichts von der Sache verstan­den, sondern nur die äußere Mimik sahen. Aber das ließen diese sich nicht mehr gefallen: sie wollten auch etwas verstehen von dem­jenigen, was ihnen da vorgeführt wurde. Und da ging man denn all­mählich dazu über, einige Teile daraus in die entsprechende Spra­che zu gießen, die gerade in den Gegenden gesprochen worden war. Doch endlich erwachte das Gefühl bei den Leuten, mitzumachen, das selbst zu erleben. Aber fremd war es ihnen, recht fremd war ih­nen die Sache doch noch. Man muß nur bedenken, daß etwa noch im 12., 13.Jahrhundert jene Vertrautheit mit den heiligen Geheim­nissen, zum Beispiel der Weihenacht, nicht da war, die wir heute als etwas Selbstverständliches glauben. Man muß bedenken, daß die

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Leute jahraus, jahrein die Messe hörten, zu Weihnacht auch die Messe, die um zwölf Uhr Mitternacht noch gehalten worden ist, aber daß sie nicht die Bibel vernahmen - die war nur für die Priester zum Lesen da -, daß sie nur einzelne Brocken von der heiligen Ge­schichte kannten. Und es war wirklich zugleich, um sie bekanntzu­machen mit dem, was einst vorgegangen war, daß man es ihnen in dieser Weise zunächst dramatisch durch die Priester vorführte. Sie lernten es erst auf diese Weise kennen.

Nun muß man etwas sagen, wovon man recht sehr bitten muß, es nicht mißzuverstehen. Aber es kann dargestellt werden, weil es der reinen geschichtlichen Wahrheit entspricht. Nicht daß etwa gleich aus irgendeiner Mysterienstimmung oder dergleichen der Anteil an diesen Weihnachtspielen hervorgegangen wäre, so war es nicht, son­dern die Begierde, teilzunehmen an dem, was ihnen dargestellt wor­den ist, näher dabeizusein, mitzutun, zu handeln: das brachte das Volk heran an die Sache. Und man mußte ihnen endlich zugeste­hen, etwas mitzutun. Man mußte es dem Volke verständlicher machen. Mit diesem Verständlichermachen ging es Schritt für Schritt. Zum Beispiel davon verstanden die Leute zuerst gar nichts, daß da in einem Krippchen das Kindelein liege. Das hatten sie nie gesehen, ein Kindelein in einem Krippelein. Ja, früher, wo sie nichts verstehen durften, da haben sie das hingenommen. Aber jetzt, wo sie dabei sein wollten, sollte ihnen das ganz verständlich sein. Da wurde ihnen nur eine Wiege hingestellt. Und es begann die Teil­nahme der Leute dann, indem sie an der Wiege vorbeigingen, jeder trat da auf und wiegte ein Weilchen das Kindelein; und ähnliche Teilnahme entwickelte sich. Es gab sogar Gegenden, in denen die Sache so vor sich ging, daß man zunächst ganz ernst begann und als das Kind da war, begannen alle einen ungeheuren Krakeel, und alle schrieen und deuteten mit Tanzen und Schreien ihre Freude an, die sie jetzt darüber empfanden, daß das Kindlein geboren ist. Es wurde durchaus in einer Stimmung aufgenommen, die hervorging aus der Sucht, sich zu bewegen, aus der Sucht, eine Geschichte zu erleben. Aber in der Geschichte steckte so Großes, so Gewaltiges, daß aus dieser ganz profanen Stimmung - es war anfangs eine profane Stimmung

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- sich nach und nach jene heilige Stimmung entwickelte, von der ich eben gesprochen habe. Die Sache selbst goß ihre Heiligkeit aus über eine Aufnahme, die durchaus anfangs nicht eine heilige ge­nannt werden konnte. Gerade im Mittelalter mußte die heilige Weihnachtsgeschichte die Menschen erst erobern. Und sie eroberte sie bis zu dem Grade, daß sie, während sie ihre Spiele aufführten, in einer so intensiven Weise sich moralisch vorbereiten wollten.

Was eroberte denn da die menschlichen Empfindungen, die menschliche Seele? Der Hinblick auf das Kind, der Hinblick auf dasjenige, was im Menschen heilig bleibt, während seine übrigen drei Leiber sich mit dem Erdenwerden verbinden. Mochte selbst in gewissen Gegenden und in gewissen Zeiten die Geschichte von Bethlehem groteske Formen annehmen, es lag in der menschlichen Natur, diesen heiligen Hinblick auf die Kindesnatur zu entwickeln, der mit dem zusammenhängt, was gleich in die christliche Entwik­kelung von Anfang an eintrat: das Bewußtsein, wie das, was im Men­schen stehenbleibt, wenn er seine Erdenentwickelung antritt, eine neue Verbindung eingehen muß mit dem, was sich mit dem Erden-menschen verbunden hat. So daß er der Erde übergibt das Holz, aus dem das Kreuz werden muß, mit dem er eine neue Verbindung ein­gehen muß.

In den älteren Zeiten der mitteleuropäischen christlichen Ent­wickelung war eigentlich nur der Ostergedanke volkstümlich. Und erst in der Weise, wie ich es geschildert habe, ist der Weihnachtsge­danke allmählich hinzugekommen. Denn das, was im «Heliand> oder ähnlichen Werken steht, das ist zwar von einzelnen gedichtet worden, aber durchaus nicht etwa volkstümlich geworden.

Das Volkstümliche der Weihenacht, das ist auf die Weise ent­standen, die ich eben geschildert habe, und die in wirklich großarti­ger Weise zeigt, wie der Gedanke der Verbindung mit dem Kindli­chen, dem reinen, echten Kindlichen, das in einer neuen Gestalt er­schienen ist in dem Jesuskind, sich die Menschen erobert hat. Wenn wir diese Gewalt des Gedankens damit zusammenbringen, daß die­ser Gedanke in den Seelen als der einzige zunächst in unserem Er­dendasein leben kann, der alle Menschen eint, so ist sie der rechte

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Christ-Gedanke. Und so wird der Christ-Gedanke in uns groß, so wird der Christ-Gedanke zu dem, was allmählich in uns erstarken muß, wenn die Erdenweiterentwickelung in der richtigen Weise ge­schehen soll. Bedenken wir doch, wie weit der Mensch im gegen­wärtigen Erdendasein noch entfernt ist von dem, was die Tiefen des Christus-Gedankens eigentlich in sich bergen.

In diesen Tagen - vielleicht werden Sie es gelesen haben - wird ein Buch herausgegeben von Ernst Haeckel: «Ewigkeit, Weltkriegs-gedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre.> Ein Buch von Ernst Haeckel ist ganz gewiß ein Buch, das aus ern­ster Wahrheitsliebe hervorgegangen ist, ganz gewiß ein Buch, in dem ernsteste Wahrheit gesucht wird. Was das Buch bringen soll, von dem verlautet etwa das Folgende: Es soll darauf hinweisen, was jetzt auf der Erde vorgeht, wie die Völker miteinander im Kriege, wie sie miteinander im Hasse leben, wie unzählige Tode sich uns je­den Tag ergeben. Alle diese Gedanken, die sich dem Menschen so schmerzlich aufdrängen, erwähnt auch Ernst Haeckel, selbstver­ständlich immer mit dem Hintergrund, die Welt so zu betrachten, wie er sie sehen kann von seinem Standpunkte aus - wir haben oft­mals davon gesprochen, denn man kann Haeckel, auch wenn man Geisteswissenschafter ist, als einen der größten Forscher anerken­nen -, von jenem Standpunkte aus, der, wie wir wissen, auch zu an­derem führen kann, der aber zu demjenigen ffihrt, was man in den neueren Phasen der Haeckelschen Entwickelung beobachten kann. Nun macht sich Haeckel Weltkriegsgedanken. Auch er sagt sich, wieviel Blut jetzt fließt, wieviel Tode uns jetzt umgeben. Und er fragt sich: Können da die Gedanken der Religion bestehen dane­ben? Kann man irgendwie glauben - so fragt Haeckel -, daß irgend­eine weise Vorsehung, ein gütiger Gott, die Welt regiert, wenn man sieht, daß täglich durch bloßen Zufall, wie er sagt, so viele Menschen ihr Leben enden, hinsterben durch gar keine solche Ursache, die nachweisbar in irgendeinem Zusammenhang stehen könnte mit irgendeiner weisen Weltenregierung, sondern durch den Zufall, wie er sagt, daß einen diese oder jene Kugel trifft, daß einer sich diesen oder jenen Unfall zuzieht? Haben demgegenüber alle diese Weisheitsgedanken,

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diese Vorsehungsgedanken einen Sinn? Müssen nicht gerade solche Ereignisse wie diese beweisen, daß der Mensch dabei stehenbleiben muß, daß er eben nichts anderes ist als das, was uns die äußerliche, materialistisch gedachte Entwickelungsge­schichte zeigt, und daß im Grunde nicht eine weise Vorsehung, son­dern der Zufall alles Erdensein regiert? Kann man demgegenüber einen andern religiösen Gedanken haben, meint Haeckel, als zu re­signieren, sich zu sagen: Man gibt eben seinen Leib hin und geht auf in dem ganzen All? - Aber wenn dieses All, frägt man weiter -Haeckel stellt diese Frage nicht mehr -, nichts anderes ist als das Spiel der Atome, läuft wirklich dieses Leben des Menschen in einen Sinn des Erdendaseins aus? Wie gesagt, Haeckel stellt diese Frage nicht mehr, aber er gibt in seinem Weihnachtsbuch eben die Ant­wort: Gerade solche Ereignisse, wie sie uns jetzt so schmerzlich be­rühren, gerade solche Ereignisse zeigen, daß man kein Recht hat zu glauben, eine gütige Vorsehung oder weise Weltenregierung oder ir­gend etwas dergleichen durchwebe und durchlebe die Welt. Also Resignation, Sich-Hineinfinden darein, daß es einmal so ist!

Auch ein Weihnachtsbuch! Ein Weihnachtsbuch, das sehr auf­richtig und ehrlich gemeint ist. Aber dieses Buch wird auf einem be­deutsamen Vorurteil beruhen. Es wird auf dem Vorurteil beruhen, daß man nicht auf geistige Art nach einem Sinn der Erde suchen darf, daß es der Menschheit untersagt ist, auf geistige Art nach ei­nem Sinn zu suchen! Wenn man nur den äußeren Verlauf der Ereig­nisse ansieht, so sieht man diesen Sinn nicht. Dann ist es so, wie Haeckel meint. Und bei dem, daß dieses Leben keinen Sinn hat, müsse es bleiben - so meint Haeckel. Es dürfe der Sinn nicht ge­sucht werden!

Wird nicht vielmehr der andere kommen und wird sagen: Wenn wir unsere gegenwärtigen Ereignisse nur immer so äußerlich anse­hen, wenn wir nur immer darauf hinweisen, daß unzählige Kugeln in der jetzigen Zeit die Menschen treffen, wir nur so hinsehen auf sie und sich kein Sinn ergibt, so zeigen sie uns gerade, daß wir die­sen Sinn tiefer suchen müssen. Sie zeigen uns, daß wir nicht einfach in dem, was jetzt unmittelbar auf der Erde sich abspielt, den Sinn

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suchen dürfen und glauben, daß diese Menschenseelen vergehen mit dem Leiblichen, sondern daß wir suchen müssen, was sie nun beginnen, wenn sie durch die Pforte des Todes gehen. Kurz, es kann ein anderer kommen, der da sagt: Gerade weil sich im Äußeren kein Sinn findet, muß der Sinn außer dem Äußeren gesucht werden, muß der Sinn im Übersinnlichen gesucht werden.

Ist es damit viel anders als mit derselben Sache auf einem ganz andern Gebiet? Haeckels Wissenschaft kann demjenigen, der so denkt, wie Haeckel heute denkt, zu einer Ablehnung jedes Sinnes des Erdendaseins werden. Sie kann dazu werden, daß man aus dem, was heute so schmerzlich geschieht, beweisen will, daß das Erdenle­ben als solches keinen Sinn hat. Aber wenn man sie in unserer Art erfaßt - wir haben das öfter getan -, dann wird gerade dieselbe Wis­senschaft der Ausgangspunkt, um zu zeigen, welch tiefer, großer Sinn in den Weltenerscheinungen von uns enträtselt werden kann. Aber dazu muß Geistiges in der Welt wirksam sein. Wir mussen uns mit Geistigem verbinden können. Weil die Menschen noch nicht verstehen, auf den Gebieten der Gelehrsamkeit jene Macht auf sich wirken zu lassen, die so wunderbar die Herzen, die Seelen erobert hat, daß aus einer geradezu profanen Auffassung eine heilige Auffas­sung entstand beim Hinschauen auf das Weihnachtsgeheimnis, weil die Gelehrten das noch nicht erfassen können, weil sie noch nicht den Christus-Impuls mit dem verbinden können, was sie in der äu­ßeren Welt sehen, ist es ihnen unmöglich, für die Erde einen Sinn, einen wirklichen Sinn zu finden.

Und so muß man sagen: Die Wissenschaft mit allen ihren großen Fortschritten, auf welche die Menschen heute mit Recht so stolz sind, ist durch sich selber nicht in der Lage, zu einer den Menschen befriedigenden Anschauung zu führen. Sie kann, indem sie ihre Wege geht, in derselben Weise zur Sinnlosigkeit wie zum Erden sinn führen, ganz so wie auf einem andern Gebiet. Nehmen wir diese in den letzten Jahrhunderten, insbesondere im 19.Jahrhundert und bis heute so stolz entwickelte äußere Wissenschaft mit all ihren wunderbaren Gesetzen, nehmen wir all dasjenige, was uns heute umgibt: Es ist von dieser Wissenschaft hervorgebracht. Wir brennen

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nicht mehr in derselben Weise wie Goethe noch sein Nachtlicht, wir brennen Licht und erleuchten unsere Räume in ganz anderer Weise. Und nehmen wir das alles, was heute aus unserer Wissenschaft in unseren Seelen lebt: durch die großen Fortschritte der Wissenschaft, auf welche die Menschheit mit Recht stolz ist, ist es entstanden. Aber diese selbe Wissenschaft, wie waltet sie? Sie waltet segensreich, wenn der Mensch Segensreiches entwickelt. Aber heute erzeugt sie, gerade weil sie eine so vollkommene Wissenschaft ist, die unbe­zwinglichen Mordinstrumente. Ihr Fortschritt dient der Zerstörung ebenso wie dem Aufbau. Geradeso wie auf der einen Seite die Wis­senschaft, zu der sich Haeckel bekennt, zu Sinn und Unsinn führen kann, so kann die Wissenschaft, die so Großes erreicht, dienen dem Aufbau, dienen der Zerstörung. Und wenn es nur auf diese Wissen­schaft ankäme, sie würde aus denselben Quellen heraus, aus denen sie aufbaut, immer Furchtbareres und Furchtbareres an Zerstörungswer­ken hervorbringen. Sie hat in sich nicht unmittelbar einen Impuls, der die Menschheit vorwärtsbringt. 0 wenn man das nur einmal einsehen könnte, man würde diese Wissenschaft in der richtigen Weise erst dann abschätzen können. Man würde erst dann wissen, daß in der Menschheitsentwickelung noch etwas anderes sein muß als das, was der Mensch durch diese Wissenschaft erreichen konnte!

Diese Wissenschaft - was ist sie? Sie ist in Wirklichkeit nichts anderes als der Baum, der aus dem Grabe Adams wächst, und die Zeit wird immer näherrücken, wo die Menschen erkennen werden, daß diese Wissenschaft der Baum ist, der aus dem Grabe Adams wächst. Und die Zeit wird heranrücken, wo die Menschen erkennen werden, daß dieser Baum zum Holze werden muß, der der Mensch­heit Kreuz ist, und der erst dann zum Segen führen kann, wenn das daran gekreuzigt wird, was sich in der richtigen Weise verbindet mit dem, was jenseits des Todes liegt, aber schon im Menschen hier lebt: das, zu dem wir hinschauen in der heiligen Weihenacht, wenn wir diese heilige Weihenacht in ihrem Geheimnis in der richtigen Weise empfinden, das, was auf kindliche Weise dargestellt werden kann, was aber die höchsten Geheimnisse birgt. Ist es denn nicht ei­gentlich wunderbar. daß in einfachster Art dem Volke gesagt werden

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kann: Hinein kam das, was durch das Menschenleben auf der Erde waltet, das, was eigentlich nicht über die Kindheit hinausge­hen darf! Verwandt ist es mit dem, zu dem der Mensch als einem Übersinnlichen gehört. Ist es nicht wunderbar, daß dieses im emi­nentesten Sinne Übersinnlich-Unsichtbare in so einfachem Bilde den Menschenseelen so nahe kommen konnte - den einfachen Menschenseelen?

Diejenigen, die gelehrt sind, werden auch noch erst den Weg machen müssen, den diese einfachen Menschenseelen gemacht ha­ben. Es gab auch eine Zeit, wo man nicht das Kind in der Wiege, nicht das Kind in der Krippe darstellte, sondern wo man das Kind schlafend am Kreuz dargestellt hat. Das Kind schlafend am Kreuz! Ein wunderbar tiefes Bild, den ganzen Gedanken zum Ausdruck bringend, den ich heute vor Ihren Seelen habe erstehen lassen wol­len.

Und ist dieser Gedanke nicht im Grunde genommen recht ein­fach zu sagen? Das ist er! Suchen wir einmal nach dem Ursprung derjenigen Impulse, die heute so furchtbar in der Welt sich gegen­überstehen! Wo urständen diese Impulse? Wo urständet alles das, was heute der Menschheit das Leben so schwer macht, wo urständet das? In alledem, was wir in der Welt erst von dem Zeitpunkte an werden, bis zu dem wir uns zurückerinnern können. Gehen wir hin­ter diesen Zeitpunkt zurück, gehen wir hin bis zu dem Zeitpunkte, da wir gerufen werden als die Kindlein, die in das Reich der Him­mel eintreten können. Da urständet es, da liegt in den Menschen­seelen nichts von dem, was heute in Streit und Hader ist. So einfach kann der Gedanke ausgesprochen werden. Aber geistig müssen wir heute darauf blicken, daß es in der menschlichen Seele solch ein Ur­ständiges gibt, das dennoch über alles Menschenstreiten, über alle Menschendisharmonie hinausgeht.

Wir haben oft gesprochen von den alten Mysterien, die in der menschlichen Natur das erwecken wollten, was den Menschen in das Übersinnliche hinaufschauen läßt, und wir haben davon gespro­chen, daß das Mysterium von Golgatha, für alle Menschen vernehm­lich, das übersinnliche Geheimnis auf den Schauplatz der Geschichte

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gestellt hat. Im Grunde genommen ist das, was uns mit dem wirklichen Christus-Gedanken verbindet, in uns dadurch da, wirklich dadurch da, daß wir doch Augenblicke in unserem Leben haben können, im wahren Sinne jetzt, nicht im bildlichen Sinne, wo wir trotz alledem, was wir in der äußeren Welt sind, lebendig ma­chen können - indem wir zurückgehen und uns zurückfühlen in den Kindesstandpunkt, indem wir hinschauen auf den Menschen, wie er sich entwickelt zwischen Geburt und Tod, indem wir das in uns empfinden können -, das, was wir da als Kind erhalten haben.

Ich habe letzten Donnerstag öffentlich vorgetragen über Johann Gottlieb Fichte. Ich hätte noch ein Wort sagen können - es hätte da­zumal nicht voll verständlich werden können -, welches Aufklärung über vieles gibt, was gerade in dieser, in eigentümlicher Weise from­men Gestalt lebte. Ich hätte sagen dürfen, warum er eigentlich so ganz besonders geworden ist, wie er geworden ist, und ich hätte sa­gen müssen: Weil er, trotzdem er alt geworden ist, sich, mehr als an­dere Menschen, von der Kindlichkeit erhalten hat. Es ist mehr in solchen Menschen von der Kindlichkeit als in andern Menschen. Sie werden weniger alt, solche Menschen! Wirklich, von jenem in der Kindheit Vorhandenen bleibt mehr in solchen Menschen als bei andern Menschen. Und das ist überhaupt das Geheimnis vieler gro­ßer Menschen, daß sie bis ins späteste Alter in gewisser Weise Kin­der bleiben können; noch wenn sie sterben, als Kinder sterben, na­türlich nur teilgemäß ausgedrückt, da man ja mit dem Leben zusam­men sein muß.

Zu dem in uns, was so als Kindlichkeit lebt, spricht das Weih­nachtsmysterium, spricht der Hinblick auf das göttliche Kind, das ausersehen worden ist, den Christus aufzunehmen; zu dem wir hin-blicken als zu dem, über dem schon der Christus schwebt, der in Wirklichkeit zu der Erde Heil durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist.

Machen wir uns das nur bewußt: Wenn wir die Abprägung unse­res höheren Menschen, wenn wir unseren physischen Leib der Erde übergeben, so ist das nicht ein bloß physischer Vorgang. Da geht auch etwas geistig vor. Aber dieses Geistige geht nur dadurch in der

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richtigen Weise vor, daß hineingeflossen ist in die Erdenaura die Christus-Wesenheit, die durch das Mysterium von Golgatha gegan­gen ist. Wir sehen dasjenige, was diese ganze Erde ist, nicht in ihrer Vollständigkeit, wenn wir nicht seit dem Mysterium von Golgatha verbunden mit der Erde den Christus sehen, jenen Christus, an dem wir vorbeigehen können wie an allem Übersinnlichen, wenn wir uns nur im materialistischen Sinne ausgerüstet fühlen; an dem wir aber nicht vorbeigehen können, wenn die Erde für uns einen wirklichen, einen wahren Sinn haben soll. Daher liegt alles daran, daß wir im­stande sind, das in uns zu erwecken, was uns den Ausblick in die geistige Welt eröffnet.

Machen wir für uns die Weihnachtsfeier zu dem, was sie insbe­sondere für uns sein soll: zu einer Feier, die nicht bloß der Vergan­genheit dient, zu einer Feier, die auch der Zukunft dienen soll, jener Zukunft, die da die Geburt des geistigen Lebens für die ganze Menschheit nach und nach bringen soll. Wir aber wollen uns ver­binden mit der prophetischen Empfindung, mit dem prophetischen Vorgefühl, daß solches Geborenwerden des geistigen Lebens ge­bracht werden muß der Menschheit, daß hinwirken muß über die Menschheitszukunft eine große Weihenacht, ein Geborenwerden desjenigen, was in den Gedanken der Menschen der Erde Sinn gibt. Jenen Sinn, den objektiv die Erde dadurch erhalten hat, daß sich die Christus-Wesenheit mit der Erdenaura durch das Mysterium von Golgatha verbunden hat. Denken wir in der Weihenacht daran, wie aus der Tiefe der Finsternis heraus das Licht in die Menschenent­wickelung einziehen muß, das Licht des geistigen Lebens. Vergehen mußte jenes alte Licht des geistigen Lebens, das vor dem Mysterium von Golgatha, nach und nach verglimmend, da war, und das wieder­erstehen muß, wiedergeboren werden muß nach dem Mysterium von Golgatha durch das Bewußtsein in der Menschenseele: daß diese Menschenseele zusammenhängt mit dem, was der Christus der Erde durch das Mysterium von Golgatha geworden ist.

Wenn es immer mehr und mehr Menschen geben wird, die in ei­nem solchen geisteswissenschaftlichen Sinne die Weihnacht aufzu­fassen wissen, dann wird diese Weihnacht eine Kraft in den

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Menschenherzen und Menschenseelen entwickeln, die ihren Sinn hat in allen Zeiten: in den Zeiten, in denen sich die Menschen den Glücksgefühlen, aber auch in den Zeiten, in denen sich die Men­schen jenem Schmerzgefühl hingeben müssen, das uns heute durch­dringen muß, wenn wir an das große Elend der Zeit denken.

Wie das Aufschauen zum Geistigen der Erde Sinn gibt, einer hat es mit schönen Worten ausgesprochen, die ich Ihnen heute noch vorbringen will:

Was meinem Auge diese Kraft gegeben,
Daß alle Mißgestalt ihm ist zerronnen,
Daß ihm die Nächte werden heitre Sonnen,
Unordnung Ordnung und Verwesung Leben?

Was durch der Zeit, des Raums verworrnes Weben,
Mich sicher leitet hin zum ewgen Bronnen
Des Schönen, Wahren, Guten und der Wonnen,
Und drin vernichtend eintaucht all mein Streben?

Das ist's: seit in Urania's Aug', die tiefe,
Sich selber klare, blaue, stille, reine
Lichtflamm', ich selber still hineingesehen;

Seitdem ruht dieses Aug' mir in der Tiefe
Und ist in meinem Sein, - das ewig Eine,
Lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen.

Und in einer zweiten kleinen Dichtung:

Nichts ist, denn Gott, und Gott ist nichts, denn Leben,
Du weißest, ich mit dir weiß im Verein;
Doch wie vermöchte Wissen dazusein,
Wenn es nicht Wissen wär' von Gottes Leben!

«Wie gern', ach! wollt' ich diesem hin mich geben,
Allein wo find ich's? Fließt es irgend ein
Ins Wissen, so verwandelt's sich in Schein,
Mit ihm vermischt, von seiner Hüll' umgeben.»

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Gar klar die Hülle sich vor dir erhebet,
Dein Ich ist sie, es sterbe, was vernichtbar,
Und fortan lebt nur Gott in deinem Streben.

Durchschaue, was dies Streben überlebet,
So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar,
Und unverschleiert siehst du göttlich Leben.

Allerdings, die Menschen wissen nicht immer, was sie gerade mit denjenigen machen sollen, die also sie hinweisen zum Schauen des Geistigen, das der Erde Sinn gib. Nicht nur die Materialisten wissen das nicht. Die andern, die glauben, keine Materialisten zu sein, weil sie immer «Gott, Gott, Gott> oder «Herr, Herr, Herr> sagen, auch die wissen oftmals gerade aus diesen Führern zum Geistigen nicht das Rechte zu machen! Denn, was hätte man können machen mit ei­nem Menschen, der da sagt: Nichts ist, denn Gott! Alles ist Gott! Überall, überall ist Gott! - Der suchte Gott in allem, der da sagte:

Durchschaue, was dies Streben überlebet,
So wird die Hülle dir als Hülle sichtbar,
Und unverschleiert siehst du göttlich Leben!

Ihn, der überall göttlich Leben sehen will, ihn konnte man ankla­gen, daß er die Welt nicht zuläßt, daß er die Welt ableugnet - einen Weltleugner konnte man ihn nennen! Seine Zeitgenossen haben ihn einen Gottesleugner genannt und ihn deshalb von der Hoch­schule fortgejagt. Denn die Worte, die ich Ihnen vorgelesen habe, sind von Johann Gottlieb Fichte. Gerade er ist ein Beispiel dafür, wie - wenn es fortlebt in der menschlichen Seele durch das Erden sein hindurch, was in dem Mysterium von Golgatha, was aber im Zusammenhang mit diesem Mysterium von Golgatha im Weih­nachtsgeheimnis als Impuls an Tönen der Seele angeschlagen wer­den kann - ein Weg damit eröffnet ist, auf dem wir jenes Be­wußtsein finden können, in dem zusammenfließt unser eigenes Ich mit dem Erden Ich, denn dieses Erden-Ich ist der Christus, durch das wir entwickeln etwas vom Menschen. das immer größer und

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größer werden muß, wenn die Erde jener Entwickelung entgegenge­hen soll, für die sie bestimmt war von Anbeginn.

So wollen wir insbesondere aus dem Geiste unserer Geist-Er­kenntnis heraus in diesem auch heute wiederum dargelegten Sinne den Weihnachtsgedanken in uns zum Impuls werden lassen, wollen versuchen, dadurch, daß wir zu diesem Weihnachtsgedanken hin­aufschauen, aus dem, was um uns herum vorgeht, nicht Unsinnig­keit der Erdenentwickelung zu schauen, sondern auch in Leid und Schmerz, auch in Streit und Haß etwas zu schauen, was zuletzt der Menschheit vorwärtshilft, die Menschheit wirklich auch um ein Stück vorwärtsbringt.

Wichtiger als nach den Ursachen zu suchen, die ohnedies aus dem Parteistreit heraus so leicht verdeckt werden können, wichtiger als nach den Ursachen zu suchen für das, was heute geschieht, ist es, nach den möglichen Wirkungen hinzurichten den Blick, nach jenen Wirkungen hin, die wir uns vorstellen müssen als heilsam, als heil­bringend für die Menschheit.

Diejenige Nation, dasjenige Volk wird das Rechte treffen, wel­ches in der Lage sein wird, aus dem, was aus dem blutgetränkten Boden heraus aufzusprießen vermag, der Zukunft ein der Mensch­heit Heilsames zu gestalten. Aber ein der Menschheit Heilsames wird nur entstehen, wenn die Menschen den Weg zu den geistigen Welten hin finden; wenn die Menschen nicht vergessen, daß es nicht nur eine zeitliche, daß es geben muß eine immer dauernde Weihenacht, ein immer dauerndes Geborenwerden des Göttlich-Geistigen in dem physischen Erdenmenschen.

Diese Heiligkeit des Gedankens wollen wir insbesondere heute in unsere Seele einschließen, wollen sie behalten über die Zeit, die sich um Weihnacht herum gruppiert, und die uns auch in ihrem äu­ßeren Verlauf ein Symbolum sein kann für die Lichtentwickelung. Finsternis, Erdenfinsternis im höchsten Maße, wie sie hier auf der Erde sein kann, wird jetzt sein in diesen Tagen, in dieser Jahreszeit. Aber wenn die Erde in dieser tiefsten äußeren Finsternis lebt - wir wissen, die Erdseele erlebt ihr Licht, sie beginnt zu wachen im höchsten Maße.

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An die Weihnachtszeit schließt sich die geistige Wachezeit an, und mit dieser geistigen Wachezeit sollte sich das Andenken an das geistige Erwachen durch den Christus Jesus für die Erdenentwicke­lung verbinden. Daher die Einsetzung des Weihenachts-Weihe­festes gerade in dieser Zeit.

Wir wollen in diesem kosmischen und zugleich irdisch-morali­schen Sinne den Weihnachtsgedanken mit unserer Seele verbinden und dann gestärkt, gekräftigt gerade mit diesem Weihegedanken, so wie wir es können, auf alles das hinschauen, das Rechte wünschend für den Fortgang der Ereignisse, aber auch für den Fortgang dessen das Richtige wünschend, was sich in den Taten der Gegenwart ent­wickelt.

Und indem wir das, was wir gerade aus diesem Weihnachtsfest an Stärkung in uns aufnehmen können, gleich beginnen in unseren Seelen rege zu machen, sehen wir nochmals hin zu den schützen­den Geistern derjenigen, die auf schwerer Stätte draußen einzutre­ten haben für die großen Zeitereignisse:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Daß mit Eurer Macht geeint
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht!

Und für diejenigen, die in dieser Zeit der schweren Menschenauf­gaben schon durch die Pforte des Todes gegangen sind infolge der großen Anforderungen unserer Gegenwart, seien die Worte noch einmal in der folgenden Form gesagt:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe
Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen,

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Daß mit Eurer Macht geeint
Unsre Bitte helfend strahle
Den Seelen, die sie liebend sucht!

Und der Geist, der durch das Mysterium von Golgatha gegangen ist, der Geist, der sich zu der Erde Heil und Fortschritt angekündigt hat in dem, was die Menschen immer mehr und mehr auch im Weih­nachtsmysterium verstehen werden, Er sei mit Euch und Euren schweren Pflichten!

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SIEBENTER VORTRAG Berlin, 21. Dezember 1915

Wir wollen heute damit beginnen, ein nordisches Gedicht vorzutra­gen, das wir ja vor einiger Zeit schon einmal auch in diesem Zweige vorgebracht haben. Es ist der ganze Inhalt dieser Dichtung zusam­menhängend mit der Weihnacht und der sich an sie anschließenden Zeit. Das Gedicht handelt von dem sagenhaften Olaf Åsteson und enthält die Tatsache, daß jener Olaf Åsteson, eine sagenhafte Per­sönlichkeit, die dreizehn Tage, die sich anschließen an Weihnacht und mit dem Erscheinungstage Christi endigen, in ein er ganz be­sonderen Weise zugebracht hat. Und wir werden damit erinnert daran, wie innerhalb der Volkssagenwelt die Anschauung lebt von früher in der Menschheit vorhandenem primitivem Hellsehen. Der Inhalt ist ja im wesentlichen der, daß Olaf Åsteson in der Weih­nachtsnacht an die Kirchentüre kommt, daß er dann in eine Art schlafähnlichen Zustand kommt und nun in den sogenannten drei­zehn Nächten die Geheimnisse der geistigen Welt durchlebt in sei­ner Art, wie er sie durchleben kann als ein einfaches primitives Na­turkind.

Wir wissen, daß diese Tage, in denen gewissermaßen von außen die äußerste physische Finsternis auf der Erde waltet, wo das gering­ste Sprossen und Sprießen der Vegetation stattfindet, wo gewisser­maßen äußerlich alles stillesteht im physischen Dasein der Erde, daß da die Erdseele aufwacht, daß sie da gerade als Erdseele ihren vollen Wachzustand hat. Wenn nun die Menschenseele zusammenfließt in ihrem geistigen Wesenskern mit dem, was da der Geist der Erde durchlebt, dann kann der Menschenseele, wenn sie in sich noch die primitiven Naturzustände hat, aufgehen ein Schauen der geistigen Welt, das sich die Menschheit wird allmählich wieder erringen müs­sen durch ihr Hineinstreben in diese geistige Welt. Und so sehen wir denn, wie dieser Olaf Ästeson durchlebt im Grunde dasjenige, was wir wiederum herausholen aus der geistigen Welt. Denn ob die­ser Brooksvalin, und wir Kamaloka oder Seelenwelt und geistige

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Welt sagen, ob wir andere Bilder gebrauchen, als in der Sage von Olaf Åsteson gebraucht werden, darauf kommt es nicht an. Darauf kommt es an, daß wir einsehen, daß die Menschheit ausgegangen ist in ihrer Seelenentwickelung von einem ursprünglichen, primitiven Hellsehen, von einem Verbundensein mit der geistigen Welt, daß dieses aber verlorengehen mußte, damit sich die Menschheit je­nes Denken, jenes bewußte Darinnenstehen in der Welt aneignen konnte, durch das sie durchgehen muß, aus dem heraus sie aber nun wiederum entwickeln muß ein höheres Anschauen der geistigen Welt. Ich möchte sagen, dieselbe geistige Welt ist es, die das primi­tive Hellsehen verlassen hat, in die das entwickelte Schauen sich wiederum hineinlebt. Aber der Mensch hat einen Zustand durchge­macht, durch den er sich anders in diese geistige Welt hineinlebt.

Nun ist es wichtig, eine Empfindung davon zu entwickeln, daß wirklich mit der Verwandlung des Erdenzustandes im Laufe des Jahres verknüpft ist ein inneres geistig-seelisches Werden der gei­stig-seelischen Wesenheit, die mit der Erde so verbunden ist, wie die Seele des Menschen verbunden ist mit der physischen Wesen­heit des Menschen. Und wer die Erde für dasjenige hält, für das sie die Geologen ausgeben, wofür sie die sonstigen Naturwissenschaften heute in ihrer materialistischen Gesinnung gerne ausgeben möch­ten, der kennt von der Erde so viel, als irgendein Mensch von einem anderen Menschen kennt, von dem man ihm ein Modell in Papier-maché gibt, ohne daß dieses angefüllt ist mit demjenigen, was die Seele eben in die äußere Natur des Menschen hineingießt. Wirklich nur ein Papiermaché-Abdruck ist dasjenige, was uns die äußere Na­turwissenschaft von der Erde gibt. Und wer sich nicht bewußt zu sein vermag, daß zwischen dem Winter- und dem Sommerzustande der Erde ein seelischer Unterschied ist, der ist wie einer, der nicht einen Unterschied zwischen Wachen und Schlafen sieht. Die gro­ßen Wesenheiten der Natur, in denen wir darinnenleben, die ma­chen ebenso geistige Verwandlungszustände durch wie der Mensch selber, der ein mikrokosmischer Abdruck des großen Makrokosmos ist. Und darauf beruht es auch, daß wirklich das Miterleben, auch das geistige Miterleben mit der Natur. eine gewisse Bedeutung hat.

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Und derjenige, der aufbringen kann ein Bewußtsein davon, daß ge­rade in diesen dreizehn Nächten mit der Erdseele etwas vorgeht, das man mitmachen kann, der wird einen der Wege haben, durch den man sich immer mehr und mehr in die geistigen Welten hineinle­ben kann.

Das Gefühl für dieses Miterleben desjenigen, was im großen Weltendasein gelebt wird, das ist der heutigen Menschheit verloren­gegangen. Es kennt der Mensch kaum viel mehr noch von dem Un­terschied zwischen Winter und Sommer, als daß man im Winter die Lampe früher anstecken muß als im Sommer, daß es im Winter kalt ist und im Sommer warm. Daß in früheren Zeiten wirklich die Men­schen ein Miterleben gehabt haben mit der Natur, das sich darin ausdrückte, daß sie erzählten, wenn auch in bildlicher Weise, von Wesenheiten, die, während die Schneeflocken fallen, durch das Land ziehen, die, während der Sturm braust, durch die Gegend ge­hen. In seinem tiefsten Sinne versteht das der heutige materialisti­sche Sinn des Menschen nicht mehr. Im tiefsten Sinne kann der Mensch wiederum zusammenwachsen damit, wenn er seinen Blick richtet auf dasjenige, was noch alte Sagen erzählen, insbesondere so tiefe Sagen, wie die Olaf-Åsteson-Sage ist, die in so schöner Weise veranschaulicht, wie ein einfacher, primitiver Mensch hineinwächst bei physischer Bewußtlosigkeit in das helle Licht der geistigen An­schauung. Wir wollen diese Sage jetzt einmal vor unsere Seele zie­hen lassen, die Sage, die gelebt hat in älteren Jahrhunderten, die ver­lorengegangen ist und die aus den Volkserinnerungen wieder aufge­zeichnet worden ist. Es ist eine der schönsten Sagen des Nordens, weil sie in wunderbarer Art von tiefen Weltgeheimnissen spricht, insofern es Weltgeheimnisse sind, durch welche die Menschenseele mit der Weltseele zusammenhängt.

(Es folgte die Rezitation von: »Das Traumlied vom Olaf Åsteson», siehe Seite 173)

Da wir heute noch zusammensein können, meine lieben Freunde, so dürfen wir vielleicht einiges besprechen, das dem einen

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oder anderen nützlich sein kann, wenn er mancherlei von dem überblickt, was wir im Laufe der Jahre uns geisteswissenschaftlich erworben haben.

Wir wissen ja - es ist in den öffentlichen Vorträgen in der letzten Zeit auch betont worden -, daß zugrunde liegt demjenigen, was als das Äußere des Menschen für äußere Sinne sichtbar ist, ein geistiger Wesenskern des Menschen, der gewissermaßen aus zwei Gliedern sich zusammensetzt. Das eine Glied haben wir kennengelernt als dasjenige, was vor das geistige Auge tritt, wenn dieses geistige Auge die Erfahrung macht, die man gewöhnlich bezeichnet als «vor die Pforte des Todes treten»; das andere Glied des Innenlebens tritt vor die menschliche Seele, wenn der Mensch gewahr wird, wie zu all seinen Willenserlebnissen ein innerer Zuschauer da ist, ein Zu­schauer, der eben immer vorhanden ist. So daß wir sagen können:

Das menschliche Denken, wenn wir es vertiefen durch die Medita­tion, zeigt, daß im Menschen innerhalb seines eigentlichen geistigen Wesenskernes immer etwas vorhanden ist, was in bezug auf den äu­ßeren physischen Leib mitwirkt an dem Abbau des menschlichen Organismus, an jenem Abbau, der zuletzt in den Tod ausläuft. Wir wissen aus diesen Betrachtungen, die da angestellt worden sind, daß die eigentliche Kraft des Denkens nicht liegt in etwas Aufbauen dem, sondern in etwas gewissermaßen Abbauendem. Dadurch, daß wir sterben können, daß wir unseren Organismus im Laufe des Le­bens zwischen Geburt und Tod so entwickeln, daß er sich auflösen kann, verteilen kann in die Weltenelemente, sind wir in der Lage, uns das Organ zu schaffen, durch das wir die edelste Blüte des phy­sischen Menschendaseins entwickeln, das Denken. Aber im Innern des menschlichen Lebens, dieses Lebens zwischen Geburt und Tod, ist wie eine Art Lebenskeim für die Zukunft, wie ein Lebenskeim, der besonders geeignet ist, durch die Pforte des Todes zu schreiten, dasjenige vorhanden, was in der Willensströmung sich entwickelt und eben als der charakterisierte Zuschauer beobachtet werden kann.

Wie gesagt, es muß immer wieder und wiederum wiederholt wer­den, daß dasjenige, was da das geistige Schauen vor die Seele des

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Menschen bringt, nicht etwas ist, was sich erst durch das geistige Schauen entwickelt, sondern was immer vorhanden ist, immer da ist, und was die Menschen, in unserem gegenwärtigen Zeitalter na­mentlich, nur nicht sehen sollen; man darf schon sagen: nicht sehen sollen. Denn die Entwickelung des geistigen Lebens hat namentlich in den letzten Jahrzehnten einen solchen Fortgang genommen, daß, wer sich so recht überläßt demjenigen, was man heute im materiali­stischen Zeitalter das «geistige Leben> nennt, sich gerade einen Schleier breitet über dasjenige, was im Innern des Menschen lebt. Diejenigen Begriffe und Ideen werden in unserem gegenwärtigen Zeitalter am meisten entwickelt, die am stärksten verbergen dasje­nige, was geistig im Menschen vorhanden ist. Wir dürfen schon ein­mal, um uns in der rechten Weise zu stärken für unsere besondere Aufgabe, insofern wir in der Geisteswissenschaft stehen, gerade in bedeutungsvoller Jahreszeit auf die ganz besonders finstere Seite des heutigen Geisteslebens hinweisen, die ja auch vorhanden sein muß, wie die Finsternis in der äußeren Natur vorhanden sein muß, aber die man eben wahrnehmen muß, deren Dasein man sich zum Be­wußtsein bringen muß. Wir durchleben gewissermaßen eine finstere Kulturzeit in bezug auf das geistige Leben. Wir haben nicht not­wendig, immer wiederum darauf aufmerksam zu machen, daß wir die großen Errungenschaften, auf welche die Menschheit dieses fin­steren Zeitalters so stolz ist, wohl zu würdigen wissen; aber dabei bleibt doch in bezug auf die geistigen Angelegenheiten die Sache bestehen, daß die Begriffe und Ideen, die in unserer Zeit geschaffen werden, gerade für diejenigen, die sich am eifrigsten in diese Be­griffe hineinversetzen, am meisten verhüllen dasjenige, was in der Seele des Menschen lebt. Und so darf denn auch das Folgende er­wahnt werden:

Besonders stolz ist unser Zeitalter auf sein klares Denken, das es sich angeeignet haben will durch die bedeutsame wissenschaftliche Schulung. Besonders stolz, sage ich, ist unser Zeitalter. Allerdings nicht so stolz, daß das etwa zur Folge hätte, daß jetzt alle Menschen recht viel denken wollten. Nein, das hat es nicht im Gefolge, son­dern es hat im Gefolge, daß die Menschen sagen: Nun ja, in unse­rem

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Zeitalter, da muß man viel denken, wenn man etwas wissen will über die geistige Welt. Selber darüber etwas zu denken ist jedoch schwer. Aber die Theologen, die tun das, die denken darüber nach! Also, da unser Zeitalter ein sehr fortgeschrittenes ist, das ja erhaben ist über das finstere Zeitalter des Autoritätsglaubens, so muß man hinhören auf diejenigen, die über geistige Dinge denken können, auf die Theologen. Und fortgeschritten ist unser Zeitalter in bezug auf die Rechtsbegriffe, die Begriffe, was recht und unrecht ist, was gut und böse ist. Unser Zeitalter ist das Zeitalter des Denkens. Aber, daß diese Vorstellung so weit hinaus ist über den Autoritäts­glauben, das hat nicht dazu geführt, daß jeder sich dem unterziehen will, tiefer nachzudenken über Recht oder Unrecht, sondern dar­über denken die Juristen. Und weil wir schon einmal über das Zeit­alter des Autoritätsglaubens hinaus sind, muß man es den aufgeklär­ten Juristen überlassen, zu denken über das, was gut und böse, was recht und unrecht ist. Und in bezug auf körperliche Verhältnisse, auf körperliche Heilungen: Weil man da erst recht nicht weiß, was zuträglich oder unzuträglich sein könnte in diesem Zeitalter, das so frei sein will von Autoritätsglauben, geht man zu den Ärzten. Das könnte auf allen Gebieten ausgeführt werden. Gerade viele Anlagen hat ja unser Zeitalter nicht, zu verzweifeln etwa wie Faust, in der Art:

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie!
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh' ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor...

Es befolgt davon nur das eine, daß es eigentlich nichts von dem wis­sen will, woran der Faust irregeworden ist, aber um so mehr wissen will, wovon andere alles klar wissen auf den verschiedensten Gebie­ten, wo man über Wohl und Wehe des Menschen entscheiden will.

Auf unser Denken ist unser Zeitalter so ungeheuer stolz, so stolz, daß diejenigen, die es dahin gebracht haben, sagen wir, gar einmal

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etwas Philosophisches zu lesen in ihrem Leben - nun, ich will mich nicht so weit versteigen, daß sie Kant gelesen haben, sondern viel­leicht irgendeinen Auszug aus Kant -, sich klar darüber sind, daß derjenige, der irgend etwas im Sinne der Geisteswissenschaft über die geistigen Welten behauptet, sich versündigt gegen das unwider­ruflich Festgestellte des Kantianismus. Wird doch oft gesagt, es habe das ganze neun zehnte Jahrhundert gearbeitet, dieses menschli­che Denken zu entwickeln, dieses menschliche Denken in kriti­scher Weise zu untersuchen. Und «kritische Denker> nennen sich heute viele, die nur ein wenig von diesen Dingen vernommen ha­ben. So gibt es zum Beispiel heute Menschen, die sagen, der Mensch habe Grenzen der Erkenntnis, weil er ja die äußere Welt durch seine Sinne wahrnehme; aber die Sinne könnten doch nur dasjenige geben, was sie eben in sich erzeugen, also nehme der Mensch die Welt wahr, wie sie auf seine Sinne wirkt, und könne da­her nicht hinter die Dinge der Welt kommen, denn er könne die Grenze seiner Sinne niemals überschreiten: Bilder nur der Wirklich­keit könne der Mensch bekommen! Und viele sagen ja gerade aus der Tiefe ihrer Philosophie heraus, die Menschenseele habe nur Bil­der der Welt, und daher könne sie niemals zum «Ding an sich» in ir­gendeiner Weise kommen, man könne dasjenige, was wir durch un­sere Sinne haben, durch unsere Augen, Ohren und so weiter, nur mit Spiegelbildern vergleichen. - Gewiß, wenn ein Spiegel da ist und Bilder entwirft, das Bild eines Menschen, das Bild eines zweiten Menschen, und wir schauen die Bilder an, so haben wir eine Bilder-welt. Nun kommen die Philosophen und sagen: So wie der Mensch, der einen zweiten Menschen nicht direkt ansieht, sondern im Spie­gelbild, eine Bilderwelt hat, wie der nicht das «Ding an sich» der Menschen ansieht, sondern die Bilder, so hat man eigentlich von der ganzen äußeren Welt nur die Bilder. Indem die Licht- und Farben-strahlen in unser Auge, die Luftwellen in unser Ohr fallen: Bilder, alles Bilder! - Das hat das kritische Zeitalter ergeben, daß der Mensch in seiner Seele nur Bilder entwirft und daher niemals durch die Bilder hindurch an das »Ding an sich> kommen kann. Unendli­cher Scharfsinn - im Ernste sage ich das jetzt - ist von philosophischer

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Seite im neunzehnten Jahrhundert aufgebracht worden, um zu beweisen, daß der Mensch nur Bilder hat und nicht an das «Ding an sich> kommen kann. Woher rührt denn eigentlich diese kritische Resignation, dieses Daraufbestehen, daß es zu, wie man sagt, «Er­kenntnisgrenzen> führt, wenn man also die Bildernatur unseres An­schauens enthüllt? Das rührt davon her, weil in vieler Beziehung das Denken unserer Zeit, in unserem aufgeklärten Zeitalter, ein ver­wahrlostes Denken geworden ist, ein kurzsinniges Denken, ein Denken, das in der pedantischsten Weise sich einen Begriff aufwirft und nicht über diesen Begriff hinauskommen kann, diesen Begriff wie einen hölzernen Hampelmann sich vorhält, und das, was dieser hölzerne Hampelmann nicht gibt, nicht mehr finden kann. Es ist ja, man kann sagen, fast unglaublich, wie sehr das Denken in unserer Zeit sich verhärtet, sich verholzt hat.

Ich will Ihnen die ganze Geschichte mit dieser Bildnatur unserer Weltanschauung und dem, was das sogenannte kritische Denken, das fortgeschrittene Denken, gemacht hat, einmal gerade aus dem Vergleich mit dem Spiegelbild klarmachen. Das ist nämlich ganz richtig, wovon die Leute ausgehen, daß die Welt, so wie sie der Mensch hier im Sinnendasein hat, nur dadurch da ist, daß sie Ein­druck auf ihn macht, Bilder in seiner Seele entwirft, und es ist gut, daß die Menschheit durch die kritische Philosophie, durch den Kantianismus, auf die Sache gekommen ist. Wir können also durch­aus sagen: Die Bilder, die wir haben von der Außenwelt, sind so, daß wir sie vergleichen können mit den Spiegelbildern: Da haben wir ei­nen Spiegel, zwei Menschen stehen davor, wir schauen aber nicht die Menschen an, sondern die Bilder. So haben wir Bilder von der Welt durch das, was unsere Seele als Bilder von der Welt entwirft, wir haben Bilder, die wir vergleichen mit zwei Menschen, deren Spiegelabbild wir anschauen. Aber nur jemand, der nie Menschen gesehen hätte, nur Bilder, der würde philosophieren können: «Ich kenne nichts von den Menschen, sondern nur die toten Spiegelbil­der.> So schließen aber die kritischen Philosophen. Sie bleiben da­bei stehen. Sie würden sich sogleich in sich selbst widerlegt finden, wenn sie von ihrem Hampelmann des Denkens ein klein wenig

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weiterkommen könnten, aus dem toten Denken in das lebendige Denken. Denn wenn ich vor dem Spiegel stehe, und da stehen zwei Menschen im Spiegel drinnen, und ich sehe, daß der eine Mensch dem andern eine ordentliche Ohrfeige herunterhaut, so daß der an­dere sogar blutet, dann wurde ich ein Tor sein, wenn ich sagte: Das eine Spiegelbild hat das andere geschlagen. - Da sehe ich nicht mehr bloß das Spiegelbild, sondern durch das Bild sehe ich reale Vorgänge. Ich habe nichts als das Bild, aber ich sehe einen höchst realen Vorgang durch das Spiegelbild hindurch. Und ein Narr wäre ich, wenn ich glaubte, das wäre nur im Spiegelbild vorgegangen. Das heißt, die kritische Philosophie faßt den einen Gedanken: Wir ha­ben es mit Bildern zu tun -, aber nicht mehr den andern Gedanken, daß diese Bilder etwas zum Ausdruck bringen, daß darinnen etwas lebt. Und wenn man diese Bilder erfaßt in lebendiger Art, dann gibt das mehr als die Bilder, dann weist es hin auf das, was das «Ding an sich» ist, was die reale Außenwelt ist.

Kann man da noch sagen, daß die Leute denken können, die solch eine «kritische» Philosophie geben? Das Denken ist, in einem gewissen hohen Grade, ein verwahrlostes in unserer Zeit. Es ist wirklich ein verwahrlostes. Aber man ist bei dem Kritizismus des Denkens stehengeblieben. Ich habe öfter erwähnt, daß dieser Kriti­zismus, diese kritische Philosophie in unserer Kultur sogar vorge­schritten ist und daß ein Mann in ehrlichem Streben - «ehrenwerte Männer» sind sie alle, ehrlich ist das Streben durchaus - zu einer «Kritik der Sprache» gekommen ist: Fritz Mauthner hat eine «Kritik der Sprache» geschrieben, drei dicke Bände, und noch ein philoso­phisches Wörterbuch von diesem Standpunkte aus, das zwei noch viel dickere Bände hat. Und eine ganze journalistische Leithamme­lei ist hinter dem Journalisten Fritz Mauthner her und hält das selbstverständlich für ein großes Werk. Und in unserer Zeit, in der ja der Autoritätsglaube «keine Bedeutung» hat, halten sehr viele, die gerade auf jenem Parteistandpunkte stehen - wie die Zeitungen, de­ren Journalist Fritz Mauthner war - das für ein bedeutendes Werk; denn «es gibt ja heute keinen Autoritätsglauben».

Nun, sehen Sie, Mauthner kommt dazu, zu erklären, daß der

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Mensch sich Substantive bildet, Adjektive bildet, aber die bedeuten alle nichts Wirkliches. In der äußeren Welt erlebe man nicht, was die Worte bedeuten. Man lebe sich so hinein in die Worte, daß man eigentlich nicht seine Gedanken und Seelenbilder habe, sondern ei­gentlich nur Worte, Worte, Worte. - Der Mensch finde sich in die Sprache hinein, die Sprache gebe den Wortvorrat. Und weil er ge­wöhnt sei, sich an die Sprache zu halten, komme der Mensch nur zu den Zeichen der Dinge, die im Worte gegeben sind. - Das soll nun etwas ganz Bedeutsames sein. Und wenn man die drei Bände von Mauthner durchliest - wenn Sie einmal etwas angestellt haben, was Ihre Seele sich selber vorwirft, meine lieben Freunde, dann ist es eine gute Strafe für Sie, wenn Sie sich dazu verurteilen, wenigstens die Hälfte dieser Bände zu lesen -, dann findet man, daß ihr Verfas­ser im höchsten Grade davon überzeugt ist - ja, man kann es nicht anders ausdrücken -, gescheiter zu sein als die gescheitesten ande­ren Leute des Zeitalters. Immer ist ja der, der gerade an seinem Bu­che sitzt, gescheiter als die anderen, selbstverständlich!

So ist Fritz Mauthner endlich dahintergekommen, wie der Mensch immer nur Zeichen hat. Er ist sogar zu noch mehr gekom­men. Sehen Sie, er ist dazu gekommen, folgendes zu sagen: Der Mensch hat Augen, Ohren, einen Gefühlssinn - nun, eine Anzahl von Sinnen hat halt der Mensch. Ja, aber der Mensch könnte zum Beispiel, so meint Fritz Mauthner, nicht nur Augen und Ohren und Gefühlssinn und Geruchssinn haben, sondern noch ganz andere Sinne. Er könnte zum Beispiel noch einen Sinn außer dem Auge ha­ben. Dann würde er, so wie er durch die Augen Bilder wahrnimmt, mit den anderen Sinnen ganz anders die Welt wahrnehmen. Also würde es noch vieles geben, was es für den jetzigen Menschen nicht gibt. Und jetzt fühlt sich der kritische Denker sogar ein wenig my­stisch beseelt und sagt: Der unermeßliche Reichtum der Welt, der wird uns also nur durch unsere Sinne gegeben. Und er nennt diese Sinne «Zufallssinne», weil er meint, es sei ein welthistorischer Zu­fall, daß wir just diese Sinne haben. Hätten wir andere Sinne, so würde die Welt anders ausschauen. Also tut man am besten, zu sa­gen, wir haben Zufallssinne. Also eine Zufallswelt! Aber die Welt ist

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unermeßlich. - Es klingt schön! Einer derjenigen, die hinter Fritz Mauthner herlaufen, hat eine Broschüre geschrieben: «Skepsis und Mystik.» In dieser Broschüre wird ganz besonders darauf aufmerk­sam gemacht, wie man nun aus der Tiefe seiner Seele heraus ja sogar Mystiker werden dürfe, wenn man nicht mehr an dasjenige glaube, was die Zufalissinne geben können. Da finden wir einen schönen Satz; auf Seite 12 des Buches, da heißt es:

«Die Welt strömt auf uns zu, mit den paar armseligen Löchern unserer Zufallssinne nehmen wir auf, was wir fassen können, und kleben es an unseren alten Wortvorrat fest, da wir nichts anderes ha­ben, womit wir es halten können. Die Welt strömt aber weiter, auch unsere Sprache strömt weiter, nur nicht in derselben Richtung, son­dern nach den Zufällen der Sprachgeschichte, für die sich Gesetze nicht aufstellen lassen.>

Auch eine Weltanschauung! Was will sie? Sie sagt: Die Welt ist unermeßlich, aber wir haben so eine Anzahl Zufallssinne, da strömt die Welt ein. Was machen wir mit dem, was da einströmt? Was ma­chen wir damit, nach dem Zufallsgerede dieses Herrn? Wir erinnern uns an das, was die Herren Gedächtnis nennen, hängen das an, kle­ben das an, an die Worte, die wir aus der Sprache übermittelt erhal­ten haben, und die Sprache strömt ihrerseits wiederum weiter. Wir reden also über dasjenige in den Wortzeichen, was uns durch die Zufallssinne von dem unermeßlichen Weltendasein hereingeströmt ist. - Ein scharfsinniges Denken! Ich sage das wiederum im Ernst, meine lieben Freunde: es ist ein scharfsinniges Denken. Man muß in unserer Zeit immerhin ein gescheiter Mensch sein, um so etwas zu denken. Und man kann schon sagen von diesen Leuten, nicht nur sind sie ehrliche Leute - ehrenwert sind sie alle -, sondern: sie sind bedeutende Denker. Aber sie sind verstrickt mit dem Denken, das das Denken unseres Zeitalters ist, und sie haben keinen Willen, aus diesem Denken herauszukommen.

Ich habe mir eine Art «Weihnachtstrauer» - Freude kann man nicht sagen, es ist eine Weihnachtstrauer geworden - dadurch ge­macht, daß ich wiederum aus diesem Zusammenhang heraus ein­zelne dieser Sachen anschauen mußte, und ich habe mir einen Gedanken

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aufgeschrieben, der ganz genau nach dem Muster dieses Denkers geformt ist, der da das beschrieben hat, was ich eben vorge­lesen habe. Schauen wir es uns noch einmal an:

«Die Welt strömt auf uns zu, mit den paar armseligen Löchern unserer Zufallssinne nehmen wir auf, was wir fassen können, und kleben es an unseren alten Wortvorrat fest, da wir nichts anderes ha­ben, womit wir es halten können. Die Welt strömt aber weiter, auch unsere Sprache strömt weiter, nur nicht in derselben Richtung, son­dern nach den Zufällen der Sprachgeschichte, für die sich Gesetze nicht aufstellen lassen.»

Ich habe den Gedanken auf einen anderen Gegenstand angewen­det, genau denselben Gedanken, dieselbe Gedankenform; da ergibt sich das Folgende: «Goethes Genialität strömt auf das Papier, mit den paar armseligen Formen seiner Zufallsbuchstaben nimmt das Papier auf, was es fassen kann, und läßt sich aufdrucken, was es auf­nehmen kann nach dem alten Buchstabenvorrat, da nichts anderes da ist, wodurch ihm etwas aufgedruckt werden kann. Goethes Ge­nialität strömt aber auch weiter, auch der Schriftausdruck auf dem Papier strömt weiter, nur nicht in derselben Richtung, sondern nach den Zufällen, in denen sich Buchstaben gruppieren können, für die sich Gesetze nicht aufstellen lassen.» - Es ist ganz genau derselbe Gedanke, ich habe bei jedem Wort genau achtgegeben, es ist der­selbe Gedanke! Wenn jemand behauptet: Die unermeßliche Welt strömt auf uns zu, wir nehmen sie auf mit den paar Zufallssinnen, wie wir es eben können, kleben sie an unseren Wortvorrat an; die Welt strömt weiter, die Sprache strömt in einer anderen Richtung, nach den Zufällen der Sprachgeschichte, und so verfließe das menschliche Erkennen - so ist das eben genau derselbe Gedanke, wie wenn jemand sagt: Goethes Genialität fließt durch die 23 Zu­fallsbuchstaben, weil das Papier eben nur dadurch die Sache aufneh­men kann; aber Goethes Genialität ist doch niemals dadrinnen, sie ist unermeßlich! Die Zufallsbuchstaben können das nicht aufneh­men, sie strömen weiter. Dasjenige, was da auf dem Papier ist, strömt auch weiter und gruppiert sich nun nach den Bildungen, in denen sich die Buchstaben gruppieren können und deren Gesetze

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man nicht erkennen kann. - Wenn nun die sehr gescheiten Herren schließen aus solchen Voraussetzungen: Also ist dasjenige, was wir in die Welt hereinbekommen, eben das Ergebnis von Zufallssinnen, und man kann nicht kommen auf dasjenige, was eigentlich der Welt im Innersten zugrunde liegt, dann ist das genau so, wie wenn je­mand darüber nachdenkt, wie eigentlich jemals ein Mensch das auf­nehmen kann, was eigentlich in Goethes Genialität gelebt hat. Denn es ist doch klar: Es ist ja nichts da von dieser Genialität als die Grup­pierung von 23 Zufallsbuchstaben; es ist nichts anderes da! Genau denselben Gedanken haben diese Herren, sie werden es nur nicht gewahr. Und so viel Wert es hat, wenn jemand sagt: Nichts, nichts, nichts kann jemals ein Mensch wissen von Goethes Genialität, denn siehst du denn nicht, daß nichts von ihr auf dich fließen kann? Du kannst ja nichts anderes haben, als was die verschiedene Gruppie­rung von 23 Zufallszeichen gibt - so viel Sinn dieses hätte, so viel Sinn hat das Gerede, das diese Herren vollbringen über Möglichkeit oder Nichtmöglichkeit des Welt-Erkennens. Genau so viel Sinn hat dieses ganze Denken - nicht das Denken der Tröpfe, sondern das Denken derjenigen, die heute wirklich die gescheiten Menschen sind, die nur nicht hinauswollen aus dem Denken unseres Zeit­alters.

Die Sache hat aber wirklich noch eine andere Seite. Wir müssen uns klar sein darüber: Dieses Denken, das uns da an einem solchen Beispiel entgegentritt, wo es Grenzen der Erkenntnis feststellt, die­ses Denken ist unser Denken im gegenwärtigen Zeitalter. Dieses Denken herrscht heute, es lebt überall. Und ob Sie heute dieses oder jenes noch so tief scheinende philosophische Buch lesen, das oftmals große Welträtsel lösen - oder verhüllen - will, oder ob Sie in der Zeitung lesen, überall regiert dieses Denken. Die Art und Weise dieses Denkens regiert. Sie regiert auch die Welt. Sie schlürft der Mensch heute mit seinem Morgenkaffee ein - nicht gerade heute allerdings, weil Meinungen heute in den Zeitungen nicht ste­hen dürfen, aber sonst, wenn Meinungen in den Zeitungen stehen dürfen. Er schlürft sie ein, es erscheinen ja mehr und mehr Tages­zeitungen, in denen Meinungen drinnenstehen. Aber auch im ganzen

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Gewebe unseres sozialen Zusammenlebens lebt diese Art des Denkens. Ich habe es an der philosophischen Entwickelung klarzulegen versucht, dieses Denken, aber man könnte es klarlegen in den Gedanken, die sich die Menschen machen über alle möglichen Le­bensverhältnisse: in allem, worüber die Menschen nachdenken, lebt dieses Denken heute. Und daß es lebt, das ist die Ursache davon, daß die Menschen nicht den Willen entwickeln können, das wirk­lich zu empfinden, was zum Beispiel Geisteswissenschaft geben will. Denn unverständlich ist es nicht für ein Denken, das ein wirkliches Denken ist. Aber selbstverständlich muß dasjenige, was Geisteswis­senschaft geben kann, immer unverständlich bleiben für Menschen, die, sagen wir also, nach dem Schnitt von Fritz Mauthner kon­struiert sind. Aber nach diesem Schnitt ist eben die Mehrzahl der Menschen heute konstruiert. Dieses Denken lebt in unserer zeitge­nössischen Wissenschaft wirklich ganz und gar drinnen. Damit wird nichts gesagt gegen die Bedeutung und die großen Errungenschaf­ten dieser Wissenschaft; aber darauf kommt es nicht an, sondern darauf kommt es an, wie das Seelische in unserer Zeit, in unserer ganzen Kultur lebt. Unserer Zeit fehlt ganz und gar die Möglichkeit, mit ihren Gedanken beweglich zu sein, wirklich zu folgen dem, dem man eben folgen muß, wenn diese Gedanken begreifen sollen dasje­nige, was die Geisteswissenschaft mitzuteilen hat.

Nun können wir uns aber fragen: Wie kommt es denn, daß zum Beispiel ein solches Buch geschrieben werden kann wie das, was ich hier vor mir habe: «Skepsis und Mystik» von Gustav Landauer, ein Buch, das von Selbstgefälligkeit nur so trieft. Man trieft selber, wenn man es gelesen hat, möchte ich sagen, von der ganzen Stimmung der Selbstgefälligkeit, die da drinnen ist, wie man trieft, wenn man Mauthners «Sprachkritik> gelesen hat oder Artikel aus dem «Philo­sophischen Wörterbuch». Wie kommt denn das? Wie es kommt, das erfährt man nicht, wenn man das Denken verfolgt. Ich kann mir sehr gescheite Menschen denken, die solch ein Buch in die Hand bekommen, es durchlesen und sagen: Das ist ein grundgescheiter Mensch! Sie haben recht, und Mauthner ist auch ein gescheiter Mensch. Daran liegt es nicht, denn Gescheitheit drückt sich ja dadurch

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aus, daß man in einer gewissen logischen Weise die Begriffe, die man sich bilden kann, eben bildet, auseinanderquasselt, und wie­der bildet in irgendeiner Weise. Daran liegt es nicht. Man kann auf diesem oder jenem Gebiet eine große Gescheitheit haben, eine ganz richtige Gescheitheit, aber wenn man in das Leben hereinkommt, das getragen wird von dem Bewußtsein geistiger Erkenntnis, dann entwickelt sich mit jedem Schritt ein gewisses Verhältnis zur Welt so, daß man das Gefühl hat: Du mußt immer weiter und weiter. Mit jedem Tag mußt du deine Begriffe vervollkommnen. Zu dem Glau­ben mußt du dich entwickeln, daß du mit deinen Begriffen immer weiterkommen kannst. Bei dem, der ein solches Buch geschrieben hat, hat man das Gefühl, daß er in dieser Weise gescheit ist: Der 21. Dezember 1915. Ich bin gescheit und ich habe mir durch meine Gescheitheit etwas ganz Bestimmtes errungen. Das schreibe ich

jetzt in ein Buch hinein. Das, was ich jetzt bin, das schreibe ich in ein Buch, denn ich bin gescheit am 21. Dezember 1915! Das Buch wird dann fertig werden und gibt meine Gescheitheit wieder! - Die­ses Gefühl hat man, wenn man ein wirklich Erkennender ist, nie. Sondern man hat das Gefühl eines fortwährenden Werdens, einer fortwährenden Notwendigkeit, alle Begriffe zu läutern, hinaufzuentwickeln. Und in der Regel hat man dann nicht das Gefühl: Am 21. Dezember 1915, da bin ich gescheit; jetzt schreibe ich ein Buch, das meine Gescheitheit eingegeben hat; das wird dann fertig sein nach Monaten oder Jahren - sondern hat man ein Buch geschrie­ben, blickt man wahrhaftig nicht zurück auf die Gescheitheit, die man hatte, als man anfing, das Buch zu schreiben, sondern man hat durch das Buch das Gefühl bekommen: Wie wenig hast du eigent­lich mit der Sache geleistet und wie nötig hast du gerade, durch das, was du da hingeschrieben hast, dich weiter zu entwickeln. Dieses Sich-auf-den-Weg-der-Erkenntnis-Begeben, dieses stetige innere Arbeiten, das kennt das materialistische Zeitalter fast gar nicht mehr, es glaubt es vielfach zu kennen, es kennt es aber nicht mehr wirklich. Und, sehen Sie, der tiefste Grund ist der, den man eben in die Worte fassen kann: Diese Leute sind so unbändig eitel. Ich sagte: es trieft solch ein Buch, es trieft eigentlich von Eitelkeit. Gescheit

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ist das Buch, aber ungeheuer eitel. Jenes Selbstbescheiden, jene Demut, die sich einem solchen Erkenntniswege ergibt, wie eben dargelegt, sie fehlen da ganz. Sie sind überhaupt nicht da, wenn man sich am 21. Dezember 1915 die Gescheitheit bedin­gungslos zuspricht. Sie kann nicht da sein, diese Demut.

Nun werden Sie sagen: Ja, die Leute wären doch dumm, wenn sie sich für gescheit halten würden. - Mit dem Oberbewußtsein tun sie es auch nicht, aber im Unterbewußtsein tun sie es doch. Sie ler­nen eben nie unterscheiden zwischen dem, was als Wahres sich be­lebt im Unterbewußtsein, und dem, was sie sich im Oberbewußtsein vormachen. Und so ist es die luziferische Natur des Menschen, die eigentlich die heutige Menschheit dazu treibt, klug sein zu wollen, auf einem bestimmten Standpunkt der Kiugheit zu stehen und von da aus alle Dinge überschauen zu können, über alle Dinge etwa ur­teilen zu können. Aber wenn man diesen Luzifer in sich trägt, dann wird man, indem man mit diesem Luzifer die äußere Welt über­schaut, zu Ahriman hingeführt und sieht diese äußere Welt für un­ser Zeitalter ganz selbstverständlich materialistisch. Dann, wenn man mit Luzifer im Leibe beginnt die Welt anzuschauen, dann trifft man, wenn man sie anschaut, Ahriman. Denn die beiden suchen einander in dem menschlichen Umgang mit dieser Welt. Daher kommt ein solches Denken, das so grundeitel ist, nicht einmal dazu, sich das Folgende überlegen zu können: Wenn ich ein Wort gebrau­che, hat man selbstverständlich nur ein Zeichen für dasjenige, was das Wort bedeutet. - Mauthner hat die grandiose Entdeckung ge­macht, daß es Substantive nicht gibt. Es gibt keine! Sie sind keine Wirklichkeit, selbstverständlich nicht! Nicht wahr, wir fassen ge­wisse Erscheinungen, die wir einen Moment erstarrt denken, auf, und nennen die mit einem Substantiv. Gewiß, Substantive sind keine Wirklichkeit; Adjektive auch nicht. Ganz selbstverständlich nicht. Das ist alles wahr. Aber wenn ich nun ein Substantiv und Ad­jektiv zusammenfasse, wenn ich die Sprache in Fluß bringe, dann drückt sie Realität, Wirklichkeiten aus. Dann geht das Bild inner­halb der Bildnatur, in dem, daß es eben Bild ist, über sich selber hin­aus. Alle einzelnen Worte sind keine Wirklichkeit, aber wir sprechen

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ja nicht in einzelnen Worten, sondern wir sprechen ja in Wort-zusammenhängen. Und in ihnen haben wir ein unmittelbares Drin­nenstehen in der Wirklichkeit. Drei Bände mußten heute geschrie­ben werden, und ein zweibändiges Wörterbuch noch dazu, um den Menschen alle diese Dinge mit Gedanken unendlicher Gescheitheit vorzutragen, die einfach hinwegsehen darüber, daß, weil einzelne Worte nur Zeichen sind, die Verbindung nicht etwas bloß Bezeich­nendes ist, sondern in der Realität drinnensteht. Unendliche Weis­heit, unendliche Gescheitheit wird heute aufgebracht, um die aller­größten Torheiten zu «beweisen>, wie man sagt.

Daß nun schließlich in einer Kritik der Sprache, selbst in einer Kritik des Denkens, Torheiten sich darleben, das wäre ja nicht be­sonders schlimm. Aber dasselbe Denken, das sich in diesen Torhei­ten auslebt, in diesen sehr klugen, sehr gescheiten Torheiten, das lebt in allem übrigen Denken, das die gegenwärtige Menschheit hat. Und wenn wir die Aufgabe, die innerhalb unserer geistigen Bewe­gung steckt, ergreifen wollen, so gehört wirklich dazu, sich bewußt zu werden, daß diejenigen, die Geisteswissenschafter sein wollen, dahin kommen, ihr Zeitalter in der richtigen Weise zu sehen, wirk­lich sich zu ihrem Zeitalter in der richtigen Weise zu stellen. So daß wirklich, ich möchte sagen, zu dem Praktischen unserer geisteswis­senschaftlichen Weltanschauungsströmung es schon einmal dazuge­hört, daß wir versuchen, über das Denken, das sich so charakteri­siert, wie wir es heute gesehen haben, hinauszukommen, nicht mit-zugehen mit diesem Denken, sondern daß wir versuchen, das Den­ken wiederum einmal anders zu nehmen. Wir werden geradezu kin­derleicht, meine lieben Freunde, zum Verständnis der Geisteswis­senschaft kommen, wenn wir nur diejenigen Hindernisse aus dem Wege räumen, die durch das erstarrte, das versteinte Denken in das geistige Kulturleben der Gegenwart hereingekommen sind. Allem gegenüber sollten wir daher jenen Autoritätsglauben, der heute un­ter der Maske der Autoritätsfreiheit auftritt, gründlich einmal in un­serer eigenen Seele beseitigen. Das gehört zu dem praktischen Drin­nenleben in unserer Geisteswissenschaft. Und es wird immer not­wendiger werden, daß es wenigstens einzelne Menschen gibt, die

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den Tatbestand, den man also, wie ich heute tat, charakterisieren kann, wirklich durchschauen, und nicht nur durchschauen, sondern ihn auf Schritt und Tritt im Leben ernst nehmen. Darauf kommt es an. Man braucht ja das nicht äußerlich zur Schau zu tragen, aber es ist vieles getan, wenn es einmal eine Anzahl von Menschen gibt, die also, wie es folgt aus diesen Auseinandersetzungen, sich gerade auf ihren Posten im Leben so hinzustellen wissen.

Wir können an einem bestimmten Gebiete sehen, wie geradezu, ich möchte sagen, kategorisch unser Zeitalter verlangt, daß wir wie­derum zu einer Belebung des Denkens kommen. Stellen wir nur kurz etwas vor unsere Seelen hin, was wir oftmals ausführlich vor diese Seelen hingestellt haben: Im Beginne unserer Zeitrechnung ging diejenige Wesenheit, die wir oft charakterisiert haben, die Chri­stus-Wesenheit, durch das Leben eines menschlichen Organismus hindurch und vereinigte sich mit der Erdenaura. Dadurch wurde der Erde, nachdem sie ihren Sinn durch die luziferische Verführung verloren hatte, in ihrer Weiterentwickelung eigentlich erst der rechte Sinn gegeben. Das Ereignis von Golgatha hat sich abgespielt. Sehernaturen, die aber zum größten Teil Sehernaturen im alten Stile waren, haben als Evangelisten dieses Ereignis aufgezeichnet. Paulus, dem auf eine andere Art die Sehernatur aufgegangen ist - wir haben auch das charakterisiert -, Paulus, der durch dasjenige, was man das Ereignis von Damaskus nennt, geistig den Christus geschaut hat, den er so lange geleugnet hatte, als er nur auf dem physischen Plan von ihm hörte, er hat das Mysterium von Golgatha aufgezeichnet. Aus diesen Aufzeichnungen heraus haben eine Anzahl von Men­schen die Verbindung ihrer Seele mit diesem Christus-Ereignis ge­funden. Durch diese Verbindung mit dem Christus-Ereignis bei ein­zelnen Menschen breitete sich das Christentum aus. Zuerst war es unterirdisch vorhanden, so daß wirklich das Bild immer wieder vor unsere Seele treten kann: Im alten Rom, unten unter der Erde, hal­ten Christen, diejenigen, die schon das Mysterium von Golgatha mit der Seele begriffen haben, ihren Gottesdienst ab. Droben geht dasje­nige vor, was auf der Höhe der Zeit steht, was der eigentliche Inhalt der Zeitkultur ist. Einige Jahrhunderte vergehen. Dasjenige, was unten

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in den Katakomben vor sich gegangen ist, verborgen, verachtet, das erfüllt die Welt. Und dasjenige, was Zeitinhalt war, die alte rö­mische Geisteskultur, verschwindet. Das Christentum breitet sich aus. Aber die Zeit ist heute herangekommen, wo die Menschen an­gefangen haben zu denken, wo sie gescheit geworden sind, wo sie autoritätsfrei geworden sind. Denker sind aufgetreten, die die Evan­gelien geprüft haben: ehrliche Denker, gescheite Denker. «Ehren­werte Männer» sind sie alle. Sie sind dahintergekommen, daß keine historischen Zeugnisse in den Evangelien vorliegen. Sie haben diese Evangelien durch Jahrzehnte hindurch mit ernster kritischer Arbeit durchstudiert. Sie sind darauf gekommen, daß in den Evangelien keine wirklichen geschichtlichen Zeugnisse vorliegen, daß der Chri­stus Jesus jemals gelebt hat. Nichts ist einzuwenden gegen die kriti­sche Arbeit. Fleißig ist sie. Wer sie kennt, weiß von ihrem Fleiße; wer sie kennt, weiß von ihrer Gescheitheit. Man hat keinen Grund, sie leichten Herzens zu verachten, diese kritische Weisheit. Aber was liegt denn eigentlich in Wirklichkeit vor? Das liegt vor, daß die Menschen gar nicht sehen, worauf es im Grunde ankommt. So be­quem hat es der Christus Jesus den Menschen nicht machen wollen, daß hinterher Historiker auftreten können, die so bequem das Da­sein des Christus auf der Erde nachweisen können, wie das Dasein Friedrichs des Großen nachzuweisen ist. So bequem hat es der Chri­stus den Menschen nicht machen wollen - auch nicht machen sol­len. So wahr es ist, daß diese kritische Arbeit über die Evangelien ge­scheit und fleißig ist, so wahr ist es auch, daß eben auf diese Weise gar nicht das Dasein des Christus bewiesen werden soll, denn das wäre ein materialistischer Beweis. Bei allem, was man auf äußere Weise beweist, ist Ahriman mit im Spiel. Aber Ahriman soll nie bei dem Christus-Beweise im Spiele sein; daher gibt es keine histori­schen Beweise. Daher wird die Menschheit erkennen müssen: Der Christus muß, trotzdem er auf der Erde gelebt hat, durch inneres Er­kennen gefunden werden, nicht durch historische Urkunden. Das Christus-Ereignis muß an den Menschen kommen auf geistige Weise, da darf sich nichts von materialistischem Wahrheitsforschen hineinmischen. Es darf sich nichts Materialistisches hineinmischen.

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Das wichtigste Ereignis für die Erdenentwickelung wird niemals auf materialistische Weise bewiesen werden können, gleichsam weil durch die Weltgeschichte den Menschen gesagt werden soll: Eure materialistischen Beweise, dasjenige, was ihr überhaupt in dem ma­terialistischen Zeitalter noch als Beweise gelten lassen wollt, das gilt nur für dasjenige, was im Felde der Materie vorhanden ist. Für das Geistige sollt und dürft ihr keine materialistischen Beweise haben. Da dürfen sogar diejenigen recht haben, die auch die historischen Urkunden zerfasern. Gerade mit Bezug auf das Christus-Ereignis muß in unserem Zeitalter verstanden werden, daß man zu dem Christus nur hinkommen kann auf geistige Art. Niemals wird man ihn in Wirklichkeit auf äußere Art finden. Man kann es sich sagen lassen, daß er existiert, aber wirklich finden kann man den Christus nur auf geistige Art. Das ist wichtig zu bedenken, daß in dem Christus-Ereignis ein Ereignis da ist, über das alle diejenigen im Mißverständnis leben müssen, die keine geistige Erkenntnis zulas­sen wollen.

Es ist merkwürdig: Wenn man das ausspricht, was ich jetzt aus­gesprochen habe, daß der Christus auf geistige Weise erkannt wer­den kann - auch dasjenige, was historisch ist, auf geistige Weise er­kannt werden kann -, dann zerbrechen sich gewisse Leute darüber den Kopf, daß das ja eigentlich gar nicht möglich sei, und wenn es einer sage, so könne es nicht wahr sein! - Ich habe das wiederholt ausgesprochen. Nun, unsere verehrten anthroposophischen Mitglie­der sind noch so, daß sie da oder dort an ungehörigem Orte man­ches durchsickern lassen, weil sie das noch immer nicht im Herzen tragen und nicht in die rechte Gesinnung gießen, was sie im Herzen haben. Da drang es zu einem Manne durch, an den es in einer be­sonderen Form herangebracht wurde, ich hätte einmal gesagt - es ist dies zwar eine persönliche Bemerkung, aber vielleicht darf ja ein­mal eine persönliche Bemerkung gemacht werden -: Persönlich sei ich gar nicht von der Bibel ausgegangen mit Bezug auf meine Ju­gendentwickelung, sondern ich sei von der Naturwissenschaft aus­gegangen, und ich betrachte es als von besonderer Wichtigkeit, daß ich diesen Geistesgang genommen habe und eigentlich von der inneren

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Wahrheit desjenigen, was in der Bibel steht, überzeugt war, bevor ich sie gelesen hatte; daß ich klar war darüber, als ich dann äu­ßerlich die Bibel gelesen habe, daß ich also in mir die Probe ge­macht habe, daß man auf geistige Weise den Inhalt der Bibel finden könne, bevor man ihn nachträglich auf äußerliche Weise findet.

Es hat dies persönlichen Charakter, aber es kann zur Illustration dienen. Nun, das kam in ungeziemender Weise an einen Mann heran, der nicht verstehen kann, daß es so etwas gibt, denn er ist, verzeihen Sie, Theologe. Er konnte das nicht verstehen. Da wollte er in einem Vortrage seinen Zuhörern die Sache klarmachen, und er tat es auf folgende Weise: Er las in einem Buch, daß ich einmal Mi­nistrantendienste geleistet habe. Ministranten, das sind also Meß­knaben, Knaben, die bei der Messe Handreichungen machen. Da sagte er sich: Wer das getan hat, der kann ja unmöglich gar nicht die Bibel kennengelernt haben. Steiner übersieht eben, daß er da ja ge­nau die Bibel kennengelernt hat. Später kamen ihm diese Sachen dann nur von dem Bibelkennen her. - Ja, diese Sache hat aber Häk­chen, man kann sagen Haken. Erstens ist die ganze Geschichte nicht wahr, aber das geniert ja heute die Leute nicht, etwas als tat­sächlich zu behaupten, was nicht wahr ist. Zweitens lernt man ja als Ministrant bei der Messe niemals die Bibel, sondern das Meßbuch; das hat nichts zu tun mit der Bibel. Aber das Wichtige ist, daß man eben berücksichtigt: Dieser Mann kann sich gar nicht vorstellen, daß es ein geistiges Verhältnis gibt. Er kann sich nur vorstellen, daß man mit den Buchstaben, und hängend an Buchstaben, zu dem Gei­stigen hinkommt. Es ist sehr wichtig, daß wir solche Dinge wissen, aber praktisch wissen. Denn nicht eher wird unsere geistige Bewe­gung gedeihen können, bis wir wirklich, nicht bloß äußerlich, son­dern bis ins Innerste unseres seelischen Markes hinein, den Mut fin­den, für all das einzutreten, was mit dem ganzen Sinne und der Be­deutung unserer Weltanschauung zusammenhängt. Und man kann sagen, mit Bezug auf dieses Verbundensein mit der geistigen Welt ist wirklich ein Tiefstand eingetreten, gerade in unserem Zeitalter. Am wenigsten fühlen sich heute gerade diejenigen Menschen, die sich für die aufgeklärtesten halten, mit der geistigen Welt verbunden.

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Das soll nicht als Vorwurf oder als Kritik gesagt werden, son­dern das soll als Tatsache verzeichnet sein. Daher wird es ganz be­sonders in unserer Zeit auch wichtig sein, ein inneres Verständnis für solche bedeutsamen Weltsymbole zu beleben, wie sie uns ent­gegentreten in alledem - es sind ja reale Symbole, keine bloßen Symbole -, was zum Beispiel das Weihnachtsmysterium umgibt. Denn dieses Weihnachtsmysterium, das kann tief, tief sich verbin­den mit der menschlichen Natur, ohne daß es sich durch den Buch­staben, durch das Lernen verbindet. Da müssen wir allerdings dann das Weihnachtsmysterium in jeder Lebenslage lebendig machen können, insbesondere in unserer eigenen Seele lebendig machen können.

Wir schauen hin, indem wir das Weihnachtsmysterium vor unse­rer Seele erwecken, und sagen uns: Es erinnert uns die Weihenacht an das Herabsteigen des Christus Jesus auf den Erdenplan, an die Wiedergeburt desjenigen in dem Menschen, was verlorengegangen ist durch die luziferische Versuchung. Diese Wiedergeburt ge­schieht in verschiedenen Stufen. Eine Stufe davon ist diejenige, in­nerhalb der wir stehen. Wiedergeboren soll werden dasjenige, was zur Weiterentwickelung verlorengehen mußte, wiedergeboren soll werden das Sich-Vereinigtfühlen des menschlichen Herzens mit der geistigen Welt; es soll geboren werden der Christus in uns - das ist nur ein anderes Wort dafür. Gerade das, was wir wollen, was wir im­mer anstreben, das hängt innig zusammen mit diesem Weihnachts-mysterium. Und wir sollen schon dieses Weihnachtsmysterium nicht bloß so ansehen, daß wir an einem oder an zwei Tagen des Jahres unseren Weihnachtsbaum aufstellen und ihn anschauen und da allerlei Erbauliches in uns aufnehmen, sondern wir sollen es se­hen, wie es wirklich durch unser ganzes Dasein hindurch uns er­scheinen kann in allem, was uns umgibt.

Wie ein Symbolum möchte ich zum Schlusse etwas hinstellen, was ein bedeutender, lang verstorbener Dichter gerade aus Empfin­dungen von Weihnachten heraus geschrieben hat.

«Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten

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und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Trau­rige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben. Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen ünsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht. Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der Heilige Abend, der darauf folgende Tag der Heilige Tag und die dazwischen liegende Nacht die Weihnacht. Die katholische Kirche begeht den Christtag als den Tag der Geburt des Heilandes mit ihrer allergröß­ten kirchlichen Feier, in den meisten Gegenden wird schon die Mit­ternachtsstunde als die Geburtsstunde des Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille, finstere, winterliche Mitternachtluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln, wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen, be­leuchteten Fenstern emporragt.>

Was das Christfest für die Kinder ist, beschreibt er weiter. Dann beschreibt er, wie in einem abgelegenen alten Dorfe ein Schuster lebt, der sich eine Frau holt aus dem benachbarten Dorfe, nicht aus dem eigenen Dorfe; wie die Kinder dieses Schusterpaares Weih­nachten kennenlernen, eben wie Kinder es kennenlernen: eigent­lich nur dadurch, daß man ihnen sagt, der Heilige Christ hat ihnen diese oder jene Geschenke gebracht. Und wenn sie genügend müde sind von den Geschenken, so legen sie sich an diesem Tage beson­ders ermüdet zu Bett und hören dann nicht die Mitternachtsglocke. Die Kinder haben also noch nicht die Mitternachtsglocken gehört.

Die Kinder besuchen öfters das Nachbardorf. Als sie so weit her­angewachsen sind, daß sie alleine gehen können, besuchen sie die Großmutter im Nachbardorf. Die Großmutter hat die Kinder ganz besonders gern, wie es ja öfter vorkommt, daß die Großeltern die Kinder noch lieber haben als Vater und Mutter. Daher sieht die

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Großmutter die Kinder sehr gerne bei sich gerade da, als sie schon zu schwach ist, auszugehen. An einem Weihnachtsabend, der sich als schöner Weihnachtsabend ankündet, werden die Kinder zur Großmutter geschickt. Die Kinder gehen hinüber am Vormittag, nachmittags sollten sie zurückkehren, wie das ja auf dem Lande möglich ist, von Dorf zu Dorf, um dann eben am Abend zu Hause den Christbaum zu finden. Aber der Tag läßt sich anders an, als er veranlagt war. Die Kinder kommen in einen furchtbaren Schnee-sturm hinein. Sie irren über die Berge. Sie kommen vom Wege ab, kommen in eine ganz unwegsame Gegend, in einen furchtbaren Schneesturm.

Es wird sehr schön beschrieben, was da die Kinder durchma­chen; wie sie ein Naturgeschehnis vor sich haben in der Nacht. Es wird wünschenswert sein, daß ich Ihnen diese Stelle vorlese, denn man kann sie nicht so schön nacherzählen, wie sie da geschildert wird; es kommt eigentlich auf jedes Wort an. Die Kinder sind ge­rade auf eine Eisfläche gekommen. Im Gletscher sind sie drinnen. Sie hören hinter sich das Krachen der Gletscher in der Nacht. Sie können sich denken, was das für einen Eindruck auf die Kinder macht. - Da fließt die Erzählung weiter:

«Auch für die Augen begann sich etwas zu entwickeln. Wie die Kinder so saßen, erblühte am Himmel vor ihnen ein bleiches Licht mitten unter den Sternen und spannte einen schwachen Bogen durch dieselben. Es hatte einen grünlichen Schimmer, der sich sachte nach unten zog. Aber der Bogen wurde immer heller und heller, bis sich die Sterne vor ihm zurückzogen und erblaßten. Auch in andere Gegenden des Himmels sandte er einen Schein, der schimmergrün, sachte und lebendig unter die Sterne floß. Dann standen Garben verschiedenen Lichtes auf der Höhe des Bogens wie Zacken einer Krone und brannten. Es floß helle durch die benach­barten Himmelsgegenden, es sprühte leise und ging in sanftem Zucken durch lange Räume. Hatte sich nun der Gewitterstoff des Himmels durch den unerhörten Schneefall so gespannt, daß er in diesen stummen, herrlichen Strömen des Lichtes ausfloß, oder war es eine andere Ursache der unergründlichen Natur: nach und nach

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wurde er schwächer und immer schwächer, die Garben erloschen zuerst, bis es allmählich und unmerklich immer geringer wurde, und wieder nichts am Himmel war als die tausend und tausend ein­fachen Sterne.>

Die Kinder saßen so die Nacht durch. Sie hörten nichts von ei­nem Glockenklange von unten. Sie haben nur Schnee und Eis um sich, und die Sterne und die nächtliche Erscheinung über sich, im Gebirge, von der sie bis dahin nichts gehört hatten. - Die Nacht ver­geht. Man war besorgt um die Kinder. Das ganze Dorf wurde ausge-schickt, die Kinder zu suchen. Man fand die Kinder und brachte sie nach Hause. Ich will alles übrige übergehen, will nur sagen, daß die Kinder fast erstarrt waren vor Kälte, daß sie ins Bett gebracht wur­den, und es wurde ihnen gesagt, daß sie ihre Weihnachtsgeschenke bekommen würden. Die Mutter ging zu den Kindern hinein. Das wird so erzählt:

«Die Kinder waren von dem Getriebe betäubt. Sie hatten noch etwas zu essen bekommen, und man hatte sie in das Bett gebracht. Spät gegen Abend, da sie sich ein wenig erholt hatten, da einige Nachbarn und Freunde sich in der Stube eingefunden hatten und dort von dem Ereignisse redeten, die Mutter aber in der Kammer an dem Bettchen Sannas saß und sie streichelte, sagte das Mädchen:

«Mutter, ich hab' heute nachts, als wir auf dem Berge saßen, den hei-ligen Christ gesehen.«>

Es ist eine wunderschöne Darstellung. Die Kinder waren aufge­wachsen ohne irgendeine Belehrung über das Weihnachtsfest; sie mußten die Weihenacht gerade in einer so furchtbaren Situation zu­bringen, oben auf den Bergen, in Schnee und Eis, nur die Sterne über sich, und diese Naturerscheinung. Sie werden aufgefunden, nach Haus gebracht, und das Mädchen sagt: «Mutter, ich habe heute nacht den heiligen Christ gesehen!» - Gesehen! Gesehen! Sie hat ihn gesehen! - so sagt sie.

Es ist schon ein tiefer Sinn darin, wenn gesagt wird - was wir ja auch im Zusammenhang unserer Geisteswissenschaft schon oft be­tont haben -, daß wir den Christus nicht nur da finden können, wo wir ihn finden in der Entwickelung der Erdenzeit, historisch hineingestellt

171

im Beginn unserer Zeitrechnung, da wo der Kultus ihn uns zeigt, sondern daß wir ihn finden können überall, gerade wenn wir in den ernstesten Augenblicken des Lebens der Welt gegenüberge­stellt sind! Wir können den Christus schon finden. Und auch wir, ich möchte sagen, wir Geistesschüler können ihn finden, wenn wir nur genügend davon überzeugt sind, daß ja all unser Streben darauf hingehen muß, daß ein Geistiges wieder in der Menschheitsentwik­kelung geboren werde und daß dieses Geistige, das da durch beson­dere Betätigung der menschlichen Seelen und Herzen geboren wer­den muß, daß das auf Grundlage desjenigen geschehe, was der Er­denentwickelung geboren ist dadurch, daß das Mysterium von Gol­gatha sich vollzogen hat. Das ist etwas, was wir aufnehmen wollen in dieser Zeit. Können Sie, meine lieben Freunde, in den Tagen, von denen wir heute gesprochen haben und die jetzt nahen, ein richtiges inneres Gefühl finden von dem Werden und Weben des äußeren Erdendaseins, in seiner Ähnlichkeit mit dem Schlafen und Wachen des Menschen, können Sie ein tieferes Miterfühlen des äußeren Ge­schehens erleben, dann werden Sie immer mehr und mehr die Wahrheit des Wortes empfinden: «Der Christus ist da!> Wie er selbst gesagt hat: «Ich bleibe bei euch, bis an das Ende der Erdenzeiten!»

Und er ist immer zu finden, wenn man ihn nur sucht. Das soll der Gedanke sein, der uns stärkt, der uns kräftigt gerade an dem in unserem Sinne gehaltenen Weihnachtsfest. Nehmen wir ihn auf, diesen Gedanken, und versuchen wir, mit diesem Gedanken dasje­nige zu finden, was wir ja als den eigentlichen Gehalt, die eigentli­che Tiefe unseres geisteswissenschaftlichen Strebens ansehen müs­sen. Verwenden wir damit unsere Zeit, gerade eine so gestärkte Seele dazu, um uns im richtigen Sinne zu dieser Zeit zu stellen, wie wir es jetzt wiederum machen wollen, indem wir von der allgemei­nen Betrachtung, die wir über die geistige Welt angestellt haben, mit dem Gefühl, das uns aus dieser Betrachtung werden kann, un­sere Seele stärkend, nun hinblicken zu den Geistern derjenigen, die auf den großen Feldern der Ereignisse stehen:

172

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe,
Eurer Hut vertrauten Erdenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsere Bitte helfend strahle,
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und für diejenigen, die schon durch die Pforte des Todes gegangen sind:

Geister Eurer Seelen, wirkende Wächter,
Eure Schwingen mögen bringen
Unserer Seelen bittende Liebe,
Eurer Hut vertrauten Sphärenmenschen,
Daß, mit Eurer Macht geeint,
Unsere Bitte helfend strahle,
Den Seelen, die sie liebend sucht.

Und der Geist, an den wir uns gerade erinnern wollten in diesen Ta­gen, der Geist, dessen Wesen wir in unser eigenes Wesen in Demut und Hingebung aufnehmen wollen, der Geist, von dem uns veran­schaulicht wird, wie er sich für sein Erdendasein bestimmt hat durch das Weihnachts-Weihefest, der Geist, der dann durch das My­sterium von Golgatha gegangen ist, der sei mit Euch und Euren schweren Pflichten.

173

Das Traumlied vom Olaf Åsteson

I.


So höre meinen Sang!
Ich will dir singen
Von einem flinken Jüngling:

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

II.


Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Ein starker Schlaf umfing ihn bald,
Und nicht konnt' er erwachen,
Bevor am dreizehnten Tag
Das Volk zur Kirche ging.

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

Er ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Er hat geschlafen gar lange!
Erwachen konnt' er nicht,
Bevor am dreizehnten Tag
Der Vogel spreitet die Flügel!

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

174

Nicht konnte erwachen Olaf,
Bevor am dreizehnten Tag
Die Sonne über den Bergen glänzte.
Dann sattelt' er sein flinkes Pferd,
Und eilig ritt er zu der Kirche.

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

Schon stand der Priester
Am Altar lesend die Messe,
Als an dem Kirchentore
Sich Olaf setzte, zu künden
Von vieler Träume Inhalt,
Die in dem langen Schlafe
Die Seele ihm erfüllten.

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

Und junge und auch alte Leute,
Sie lauschten achtsam der Worte,
Die Olaf sprach von seinen Träumen.

Es war das Olaf Åsteson,
Der einst so lange schlief.
Von ihm will ich dir singen.

175
III.


«Ich ging zur Ruh' am Weihnachtsabend.
Ein starker Schlaf umfing mich bald;
Und nicht konnt' ich erwachen,
Bevor am dreizehnten Tag
Das Volk zur Kirche ging.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe
Und in den Meeresgrund geworfen,
Und wer mir folgen will,
Ihn kann nicht Heiterkeit befallen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Erhoben ward ich in Wolkenhöhe
Gestoßen dann in trübe Sümpfe,
Erschauend der Hölle Schrecken
Und auch des Himmels Licht.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Und fahren mußt' ich in Erdentiefen,
Wo furchtbar rauschen Götterströme.
Zu schauen nicht vermocht' ich sie,
Doch hören konnte ich das Rauschen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

176

Es wiehert' nicht mein schwarzes Pferd,
Und meine Hunde bellten nicht,
Es sang auch nicht der Morgenvogel,
Es war ein einzig Wunder überall.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Befahren mußt' ich im Geisterland
Der Dornenheide weites Feld,
Zerrissen ward mir mein Scharlachmantel
Und auch die Nägel meiner Füße.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich kam an die Gjallarbrücke.
In höchsten Windeshöhen hänget diese,
Mit rotem Gold ist sie beschlagen
Und Nägel mit scharfen Spitzen hat sie.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Es schlug mich die Geisterschlange,
Es biß mich der Geisterhund,
Der Stier, er stand in Weges Mitte.
Das sind der Brücke drei Geschöpfe.
Sie sind von furchtbar böser Art.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Gar bissig ist der Hund,
Und stechen will die Schlange,

177

Der Stier, er dräut gewaltig!
Sie lassen keinen über die Brücke,
Der Wahrheit nicht will ehren!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Ich bin gewandelt über die Brücke,
Die schmal ist und schwindelerregend.
In Sümpfen mußt' ich waten ...
Sie liegen nun hinter mir!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

In Sümpfen mußt' ich waten,
Sie schienen bodenlos dem Fuß.
Als ich die Brücke überschritt,
Da fühlt' ich im Munde Erde
Wie Tote, die in Gräbern liegen.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

An Wasser kam ich dann,
In welchen wie blaue Flammen
Die Eismassen hell erglänzten...
Und Gott, er lenkte meinen Sinn,
Daß ich die Gegend mied.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Zum Winterpfad lenkt' ich die Schritte.
Zur Rechten konnt' ich ihn sehn:

178

Ich schaute wie in das Paradies,
Das weithin leuchtend strahlte.

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

Und Gottes hohe Mutter,
Ich sah sie dort im Glanze!
Nach Brooksvalin zu fahren,
So hieß sie mich, kündend,
Daß Seelen dort gerichtet werden!

Der Mond schien hell
Und weithin dehnten sich die Wege.

IV.


In andern Welten weilte ich
Durch vieler Nächte Längen;
Und Gott nur kann es wissen,
Wie viel der Seelennot ich sah -

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Ich konnte schauen einen jungen Mann,
Er hatte einen Knaben hingemordet:
Nun mußte er ihn ewig tragen
Auf seinen eignen Armen!
Er stand im Schlamme so tief

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

179

Einen alten Mann auch sah ich,
Er trug einen Mantel wie von Blei;
So ward gestraft, daß er
Im Geize auf der Erde lebte,

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen

Und Männer tauchten auf,
Die feurige Stoffe trugen;
Unredlichkeit lastet
Auf ihren armen Seelen

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Auch Kinder konnt' ich schauen,
Die Kohlengluten unter ihren Füßen hatten;
Den Eltern taten sie im Leben Böses,
Das traf gar schwer ihre Geister

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Und jenem Hause zu nahen,
Es ward mir auferlegt,
Wo Hexen Arbeit leisten sollten
Im Blute, das sie im Leben erzürnt,

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Von Norden her, in wilden Scharen,
Da kamen geritten böse Geister,
Vom Höllenfürsten geleitet.

180

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Was aus dem Norden kam,
Das schien vor allem böse:
Voran ritt er, der Höllenfürst,
Auf seinem schwarzen Rosse

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Doch aus dem Süden kamen
In hehrer Ruhe andre Scharen.
Es ritt voran Sankt Michael
An Jesu Christi Seite

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

Die Seelen, die sündenbeladen,
Sie mußten angstvoll zittern!
Die Tränen rannen in Strömen
Als böser Taten Folgen

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

In Hoheit stand da Michael
Und wog die Menschenseelen
Auf seiner Sündenwaage,
Und richtend stand dabei
Der Weltenrichter Jesus Christ

In Brooksvalin, wo Seelen
Dem Weltgerichte unterstehen.

181
V.


Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Schuhe gibt;
Er braucht nicht mit nackten Füßen
Zu wandeln im Dornenfeld.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Brot gereicht!
Ihn können nicht verletzen
Die Hunde in jener Welt.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Korn gereicht!
Ihm kann nicht drohen
Das scharfe Horn des Stieres,
Wenn er die Gjallarbrücke überschreiten muß.

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.

Wie selig ist, wer im Erdenleben
Den Armen Kleider reicht!
Ihn können nicht erfrieren
Die Eisesmassen in Brooksvalin.

182

Da spricht der Waage Zunge,
Und Weltenwahrheit
Ertönt im Geistesstand.»

VI.


Und junge und auch alte Leute,
Sie lauschten achtsam der Worte,
Die Olaf sprach von seinen Träumen.
Du schliefest ja gar lange ...
Erwache nun, o Olaf Åsteson!

183

HINWEISE

Die Vorträge dieses Bandes sind alle in Berlin gehalten, dem Ort, von dem Rudolf Stei-ners Wirken für die Geisteswissenschaft seit Beginn des Jahrhunderts ausgegangen war, und der im übrigen bis 1914 sein Wohnsitz war. Der Berliner Zweig ist darum auch der älteste und blieb der einzige, den Rudolf und Marie Steiner bis zur Neubegründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft 1923 selber leiteten. Von 1914 an verla­gerte sich Rudolf Steiner's Haupttätigkeit durch den Bau des ersten Goetheanum immer stärker nach Dornach bei Basel, von wo aus er in der Folgezeit zu seinen Vortragsreisen, hauptsächlich nach Deutschland, fuhr. - Im November des zweiten Kriegsjahres begann eine solche Reise in Berlin, wo er zunächst die drei ersten der hier abgedruckten Vorträge für Zweigmitglieder hielt, und führte über Ulm, Stuttgart und München, wo arn 17. No­vember die langjährige Mitarbeiterin und Zweigleiterin Sophie Stinde gestorben war, wieder nach Berlin zurück. Dort verbrachte er den Dezember bis Weihnachten, hielt fünf grofle öffentliche Vorträge im Architektenhaus und die vier letzten Mirgliedervorträge dieses Bandes.

Die öffentlichen Vorträge sind abgedruckt in Aus mitteleuropäisehem Geistesleben, GA Bibl.-Nr. 65. Der Mitgliedervortrag vom 19. Dezember, dem vierten Advent, wurde erstmals in dieser Auflage mit in den vorliegenden Band aufgenommen, da er chronolo­gisch in diesen Berliner Zusammenhang gehört. Dafl er 1919 bei der Erstausgabe als Zy­klus 40 nicht mit abgedruckt wurde, erklärt sich sowohl aus der Tatsache, dafl es sich um einen thematisch herausgehobenen Weihnachtsvortrag, im Anschlufl an die Aufführung eines Krippenspieles, handelt, als auch daraus, dafl er bereits seit 1916 als Einzelveröffent­lichung vorlag. In dieser Form ist er auch immer wieder erschienen, zuletzt Dornach 1977. Innerhalb der Gesamtausgabe behält er auflerdem seinen bisherigen Ort in «Die geistige Vereinigung der Menschheit durch den Christus-Impuls. GA Bibl.-Nr. 165.

Textunterlagn: Stenographiert wurden die Vorträge von dem Kölner Zweigmitglied Frau Hedda Rummel, die letzten vier Vorträge jedoch auch von Frau Helene Finckh, Dornach. Der Klartext wurde aber wohl, zumindest teilweise, in Zusammenarbeit herge­stellt. Vorhanden sind nur noch die Zweitstenogramme von H. Finckh.

Der Titel des Bandes, sowie die Titel der einzelnen Vorträge stammen von Marie Stei­ner, die die Erstausgabe als grofiformatigen Manuskriptdruck 1919 besorgte. Die zweite Auflage 1960 besorgte Robert Friedenthal. Für die dritte Auflage 1981 wurde der Text neu durchgesehen, das Inhaltsverzeichnis erstellt und die Hinweise ergänzt.

Werke Rudolf Steiners welche innerhalb der Gesamtausgabe (GA) erschienen sind,wer-den in den Hinweisen mit der Bibliographie-Nummer angegeben. Siehe auch die Uber­sicht am Schlufl des Bandes.

Zu Seite:

15 Von den verschiedensten Gesichtspunkten aus haben wir gesprochen [über das Leben zwischen Tod und neuer Geburt]: Siehe die Berliner Vorträge vom 5. November

1912 bis 1.April 1913 «Das Leben zwischen dem Tode und der neuen Geburt im Verhältnis zu den kosmischen Tatsachen., GA Bibl.-Nr. 141 ; sowie Wien, 6. bis 14. April 1914 «Inneres Wesen des Menschen und Leben zwischen Tod und neuer Geburt», GA Bibl.-Nr. 153.

184

Zu Seite:

22 Rudolf Steiner, «Die Geheimwissnschaft im Umriß» (1910), GA Bibl.-Nr. 13: siehe das Kapitel «Schlaf und Tod..

23 Rudolf Steiner, «Wie erlangt man Erkenntnisse ater höhnen Welten?» (1904/05), GA Bibl.-Nr. 10; siehe das Kapitel «Die Erlangung der Kontinuität des Be­wußtseins».

27 Ich habe schon von vieten Gesichtspunkten aus gesagt... (Bedeutung der Tode vieter junger Mnschen': Siehe die Berliner Vorträge des ersten Kriegsjahres «Men­schenschicksale und Völkerschicksale», GA Bibl.-Nr. 157.

Ich habe die Lebensabschnitte angegeben [Jahrsiebte]: Siehe Rudolf Steiner, «Die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkte der Geisteswissenschaft» (1907), als Einzelausgabe und in «Luzifer-Gnosis. Grundlegende Aufsitze 1903-1908», GA Bibl.-Nr. 34.

34 Sophie Stinut, 1853-1915, und Gräfi in Pauline von Kakkenuth, Leiterinnen des Hauptzweiges in München und seit 1907 hauptverantwortlich tätig bei der Durchführung der Festspielveranstaltungen in München. - Siehe Rudolf Stei-ners Ansprache zur Kremation von Sophie Stinde und seine Gedenkworte in München und Dornach in «Unsere Toten. Ansprachen, Gedenkworte und Me­ditationsspriiche» (1906-1924), GA Bibl.-Nr. 261.

39 schon ofter diesn Vergleich (zwischen den Katakombenchristen und geisteswissn­schaftlichen Kreisen der Gegnwart]: Siehe z.B. am Schluß des Vortrages vom 1 1.Juni 1908 in «Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen« (Berlin 1908), GA Bibl.-Nr. 102.

43 zwischen Tod und neuer Geburt haben wir ein Ich-Bewußtsein dadurch. ...i Vgl. zu diesen Ausführungen Rudolf Steiner' Vortrag vom 2. Mal 1915 in Dornach, in «Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstierischer Weltan­schauung«, GA Bibl.-Nr. 161.

44 Sie können das... sich selbst zusammnsuchen aus einzelnen Bichern und Zyklen: Siehe die Hinweise zu Seite 15 und 22.

46 mit Ausnahmen, die wir ja auch einmal erwähnen können: Rudolf Steiner sprach z.B. über gewisse Intentionen westiicher Logen, Seelen Verstorbener ganz im Ir­dischen zu halten und ihren Zwecken dienstbar zu machen, am 18. November 1917 in «Individuelle Geistwesen und ihr Wirken in der Seele des Menschen«, GA Bibl.-Nr. 178.

54 [wir leben] in einer ganz bestimmten Epoche der Erdenentwickelung: Vgl. Rudolf Steiner, «Die Geheimwissenschaft im Umriß« (1910), GA Bibl.-Nr. 13, das Kapi­tel «Die Weltentwickelung und der Mensch«; dsgl. «Die Apoltalypse des Johan­nes« (Nürnberg 1908), GA Bibl.-Nr. 104.

62 Ich habe schon gesprochen von dem P«opbetischn der Atberleibes: Siehe den Vor­trag vom 22.Juni 1915 in «Menschenschicksale und Völkerschicksale« (Berlin 1914/15), GA Bibl.-Nr. 157.

63 in dem Wiener Zyklus: «Inneres Wesen der Menschen...»: Siehe den Hinweis zu S.15.

185

Zu Seite:

71 Noch in einem anderen Sinne als ich es im Juli hier entwickelte..., nicht nur diese Atherleiber wirken..., sondern auch die Arbeit der früh durch den Tod Gegange­nen: In dem Berliner Vortrag am 6. Juli 1915 ist davon nicht die Rede; diese Äu­flerung könnte sich auf die Ausführungen vom 16. November 1915, siehe 5. 27 ff. in diesem Band, beziehen.

72 in dem Vortragszyklus über die Apokalypse: Rudolf Steiner, «Die Apokalypse des Johannes» (Nürnberg 1908), GA Bibl.-Nr. 104.

77 Ich hahe in einer der letzten Betrachtungen angedeutet... (Wahrnehmungen der Verstorbenen]: Siehe den 2.Vortrag in diesem Band, S.42/43.

81 so wie die Kunst gewissermaßen eine geistige Welt hereinzauhert in die physische Wirklichkeit so zaubert die Erinnerung...: Vgl. auch Rudolf Steiner' Vortrag Stuttgart, 22. November 1915, in «Die geistigen Hintergründe des Ersten Welt­krieges« (Stuttgart 1914-1918, 1921), GA Bibl.-Nr. 174b.

85 diese bedeutsame Erfahrung, wie ich sie in meiner «Theosophie« berührte: Siehe das Kapitel «Der Geist im Geisterland nach dem Tode« in Rudolf Steiner, «Theoso­phie« (1904), GA Bibl.-Nr. 9.

91/92 in einem meiner Mysterien...: Die Herzen müssn oftmals das Karma deuten: Theodora zu Strader in dem Mysteriendrama «Der Hüter der Schwelle«, 4. Bild, in «Vier Mysteriendramen« (1910/13) GA Bibl.-Nr. 14.

92 11. Zeile: unegoistischer: Im Stenogramm unleserliches Wort.

93 Der Atherleib macht gerade die umgekehrte Entwickelung durch als der physische Leib: Vgl. die ausführlichere Darstellung in dem Vortrag Dornach, 5. September 1915 in «Zufall, Notwendigkeit und Vorsehung. Imaginative Erkenntnis und Vorgänge nach dem Tode«, GA Bibl.-Nr. 163.

94 [Ende des Vortrages]: Der immer am Schluß eines Vortrages wihrend der Kriegszeit gesprochene Spruch fehlt auch im Stenogramm.

97 [jenem Bewußtsein] von dem wir im öffntlichen Vortrag gesprochen haben als von einem Zuschauer unserer Wiltenshandlungen: Am 3. Dezember 1915 «Die ewi­gen Kräfte der Menschenseele» und am 10. Dezember 1915 «Menschenseele und Menschengeist«, beide in «Aus mitteleuropäischem Geistesleben» (Berlin 1915/16), GA Bibl.-Nr. 65

Zerreißt dieser Zusammenhang. ..., so tritt eine birrnklicbe Seelenkrankbeit ein, auf die ich in den letzten Betrachtungen hier hingewiesen habe: Siehe den ersten Vor­trag in diesem Band vom 16. November 1915.

98 was ich schon im öffentlichen Vortrage angeführt habe (Erinnerung und Hellse­hen]: Am 3. Dezember 1915, siehe den Hinweis zu S.97.

100 Ich habe ja auch schon Erscheinungen im wissenschaftlichen und sonstigen Leben angeführt...: Siehe z.B. Berlin, 26.Januar 1915, über O. Binswanger; Berlin, 22. Juni 1915, über R.W. Emerson, beide in «Menschenschicksale und Völker­schicksale», GA Bibl.-Nr. 157; sowie in den angeführten öffendichen Vorträgen in Berlin vom 3. und 10. Dezember 1915 (siehe den Hinweis zu S.97).

101/110 Alfred Freiherr von Berger, Hofrat Eysenhardt: Wien o.J.

186

Zu Seite:

117 Gänze Götterwelteen wirken, um den Mnschen darzustellen: Rudolf Steiner, «Die Prüfung der Seele», Felix Balde zu Capesius, 5. Bild, in «Vier Mysteriendramen» (1910/13), GA BibI.~Nr. 14.

Leiblichkeit ist das Ende aer lvege Gottes: Bei Friedrich Christoph Oetinger,

1702-1782, steht in «Biblisches Wörterbuch» unter «Leib»: «Die Leiblichkeit ist das Ende der Werke Gottes.» Bereits zu Lebzeiten Oetingers wurde der Satz zi­tiert in der For«n »Die Leiblichkeit ist das Ende der Wege Gottes». So auch Rothe in dem von Rudolf Steiner herangezogenen Werk von Carl August Au­berlen, «Die Theosophie Friedrich Christoph Oetingers nach ihren Grundzü­gen«, Tübingen 1847.

118 ältere Theosophen: U.a. Jakob Böhme, 1575-1624, Johann Albrecht Bengel, 1687-1752, Johann Scheffler (Angelus Silesius), 1624-1677; vgl. Rudolf Steiner, «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» (1901), GA Bibl.-Nr. 7.

1687-1752, Johann Scheffler (Angelus Silesias)» 1624-1677; vgl. Rudolf Steiner, «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens und ihr Verhältnis zur modernen Weltanschauung» (1901), GA Bibl.-Nr. 7.

Sie sagen, daß der Mensch Erkenntnisgrcnzen hat: Ignorabismus!: Bezieht sich zwar auf die kantische Tradition überhaupt, insbesondene aber auf die Rede des Physiologen Emil Du Bois-Reymond «Über die Grenzen des Naturerkennens», Leipzig 1872.

119 was ich ausgeführt hahe in einem der öffentlichen Vorträge über den Zusammen­hang zwischen den gen ialischen Kräften... und den frühen Toden: Am 3. Dezem­her 1915, siehe den Hinweis zu S.97.

121 Offenbarung des Gottlichen . Diese einleitenden Gedenkworte werden bei die­sem Vortrag in ihrer intensivierenden Abwandlung mit abgedruckt.

123 die sich . . . in mitteleuropäischen Gegenden zu solehen Spielen entwickelt haben:

Siehe «Weihnachtspiele aus altem Volkstum - Die Oberuferer Spiele», Sonder­druck aus GA Bibl.-Nr. 43; sowie «Ansprachen zu den Weihnachtspielen aus al­tem Volkstum», GA Bibl.-Nr. 274.

ein umfassender symbolischer Gedanke: der Gedanke uon den« Ursprung des Kreu­zes: Siehe Rudolf Steiner, «Die Tempellegende und die Goldene Legende», GA Bibl.-Nr. 93, besonders den Vortrag vom 29. Mai 1905; sowie «Bilder okkulter Siegel und Säulen. Der Münchner Kongreß Pfingsten 1907 und seine Auswir­kungen«, GA Bibl.-Nr. 284/285, den Sonderhinweis zur «Goldenen Legende» und zu den beiden Säulen, S.185 ff.

127 Wir wissen...: bis zu dem Zeitpunkt hat das Ich selber formend und gestalteend an uns gewirkt Siehe z.B. den Vortrag Zürich, 25. Februar 1911 «Die Arbeit des Ich am Kinde. Ein Beitrag zum Verständnis der Christus-Wesenheit« in «Die Mission der neuen Geistesoffenbarung« (an versch. Orten 1911), GA Bibl.­Nr.127.

Zunächst schafft es (zusammen mit den] übersinnlichen Kräften...: Text unvoll­ständig überliefert.

128 das Ich..., wie es uns verliehen ist wie wir wissen, von den Geister»' der Form:

Siehe Rudolf Steiner, «Die Geheimwissenschaft im Umriß» (1910), GA Bibl.­Nr.13, das Kapitel «Die Weltentwickelung und der Mensch».

187

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128 in dem Leibe des Jesus vorbereitete, in der Weise, wie wir es wissen - doppelte: Siehe Rudolf Steiner, «Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit« (1911), GA Bibl.-Nr.15.

129 «Lasset die Kindlein zu mir kommen»: Matth. 19,14; Mark. 10,14; Luk. 18,16.

130 Karl Julius Schröer 1825-1900, Germanist, Professor an der Technischen Hoch­schule in Wien, Lehrer und väterlicher Freund Rudolf Steiner'. Siehe »Mein Le­bensgang» (1923-1925), GA Bibl.-Nr.28; ferner «Briefe, Band 1(1881-1891)», GA Bibl.-Nr. 38; und «Vom Menschenrätsel« (1916), GA Bibl.-Nr. 20; «Methodi­sche Grundlagen der Anthroposophie 1884-1901«, GA Bibl.-Nr. 30 (Register).

Karl Weinhold, 1823-1901, Germanist; siehe «Weihnachtspiele und Volkslieder aus Süddeutschland und Schlesien«, 1853.

133 «Heliand«: Altsächsische Evangelienharmonie in Stabreimen, entstanden um

830. Vgl. Rudolf Steiner, «Der Baldur-Mythos und das Karfreitags-Mysterium«, Dornach, 2. und 3.April 1915, abgedruckt in «Wege der geistigen Erkenntnis und der Erneuerung künstlerischer Weltanschauung«, GA Bibl.-Nr. 161.

134 Ernst Haeckel, 1834-1919; Ewigkeit. Weltkriegsgedanken über Leben und Tod, Religion und Entwicklungslehre, Berlin 1915.

wir haben oftmals davon gesprochen, denn man kann Haeckel... als einen der größten Forscher anerkennen: Siehe z. B. Rudolf Steiner' Vortrag Berlin, 5. Okto­ber 1905: «Haeckel, die Welträtsel und die Theosophie» in »Die Welträtsel und die Anthroposophie«, GA Bibl.-Nr. 54; vgl. auch «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt» (1914), GA Bibl.-Nr. 18.

139 öffentlich vorgetragen über Johann Gottlieh Fichte: Berlin, 16. Dii'zember 1915 «Fichtes Geist mitten unter uns» in «Aus mitteleuropäischem Geistesleben»« GA Bibl.-Nr. 65.

141 «Was meinem Auge diese Kraft gegeben... und »Nichts ist, denn Gott...»: Siehe Fichtes Werke, hg. von I. H. Fichte, Berlin 1845-1846, 8. Band, Seite 461ff., zwei Sonette.

146 ein nordisches Gedicht..., das wir ja vor einiger Zeit schon einmal auch in dieuni

Zweige vorgebracht haben: Am 31. Dezember 1914 »Weltenneujahr - Das Traumlied vom Olaf Åsteson«, (Einzelausgabe)« innerhalb der Gesamtausgabe in «Der Zusammenhang des Menschen mit der elementarischen Welt«, Bibl.­Nr.158.

148 Rezitation von: «Das Traumlied vom Olaf Asteson»: Im allgemeinen rezitierte Marie Steiner-von Siver' in den Vorträgen; aus der Nachschrift geht es jedoch nicht hervor, so daß nicht sicher ist, ob Rudolf Steiner hier selber rezitierte.

151 Habe nun, ach! Philosophie...: Faust 1, Vers 354 ff.

152 Das hat das kritische Zeitalter ergeben, daß der Mensch in seiner Seele nur Bilder entwirft...: Vgl. Rudolf Steiner, «Die Rätsel der Philosophie in ihrer Geschichte als Umriß dargestellt« (1914), GA Bibl.-Nr. 18, besonders das Kapitel: «Das Zeit­alter Kants und Goethes».

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154 Fritz Mauthner, 1849-1923« Beitaige zu einer Kaitik der Sprache, 3 Bände, Stuttgsrt 1901-1903; Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kai­tik der Sprache, 2 Bände, München und Leipzig 1910 und 1911.

155 Und er nennt diese Sinne «Zufallssinne«. ..: F. Mautliner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3. Band (3.Aufl. Leipzig 1923), S.526; «Unsere Sinne gar haben wir als Zufalissinne kennengelernt, als Zufallsbreschen, welche die Wirklichkeits-weit in die zufällige Organisation des menschlichen Individuums gestoßen hat; und wir haben keine Gewähr dafür« ob der Magneteisenstein mit seinem hoch­entwickelten Sinn für die Elektrizität in seiner Art das Weltgeheimnis nicht bes­ser miterlebe, als wir es tun können mit unseren sehenden Augen und hörenden Ohren.«

156 Gustav Landauer Skepsis und Mystik, Berlin 1903.

163 das Ereignis von Damaskus: Apostelgeschichte 9,3-6.

164 Sie sind darauf gekommen, daß in den Evangelien keine wirklichen geschichtlichen Zeugnisse vorliegen: Siehe z. B. Adolf Harnack, Das Wesen des Christentums, Leipzig 1901.

166 Da wollte er in einem Vortrage seinen Zuhörern die Sache klarmachen: Baselland­schaftliche Zeitung, 83.Jg., Nr.292 vom 10. Dezember 1915: Vortrag von Pfarrer E. Riggenbach, Arlesheim, im Landratssa«le zu Liestal «Die Anthroposophen-Kolonie in Dornach».

167 «Unsere Kirche friert verschiedene Feste; welehe zum Herzen dringen...» (und fol­gende Zitate): Aus Adalbert Stifters Novelle «Bergkristall«. 171 «Ich bleibe hei euch, bis an das Ende der Erdenzeiten«: Matth. 28,20.

Literatur

Literaturangaben zum Werk Rudolf Steiners folgen, wenn nicht anders angegeben, der Rudolf Steiner Gesamtausgabe (GA), Rudolf Steiner Verlag, Dornach/Schweiz Email: verlag@steinerverlag.com URL: www.steinerverlag.com.
Freie Werkausgaben gibt es auf steiner.wiki, bdn-steiner.ru, archive.org und im Rudolf Steiner Online Archiv.
Eine textkritische Ausgabe grundlegender Schriften Rudolf Steiners bietet die Kritische Ausgabe (SKA) (Hrsg. Christian Clement): steinerkritischeausgabe.com
Die Rudolf Steiner Ausgaben basieren auf Klartextnachschriften, die dem gesprochenen Wort Rudolf Steiners so nah wie möglich kommen.
Hilfreiche Werkzeuge zur Orientierung in Steiners Gesamtwerk sind Christian Karls kostenlos online verfügbares Handbuch zum Werk Rudolf Steiners und Urs Schwendeners Nachschlagewerk Anthroposophie unter weitestgehender Verwendung des Originalwortlautes Rudolf Steiners.